Kriminologie in der Zivilgesellschaft: Wissenschaftsdiskurse und die britische Öffentlichkeit, 1830-1945 9783486755152, 9783486704884

Why do people become criminals? What causes delinquent behavior? Such questions occupy experts as well as the general pu

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German Pages 525 [526] Year 2013

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Table of contents :
Vorwort
1. Einleitung
1.1. Fragestellung und Erkenntnisinteresse
1.2. Zum Forschungsstand: Wissen und Macht
1.3. Die Protagonisten der Diskurse: zur Quellenlage
1.4. Zum Ansatz der Studie: Wissenschaft und Zivilgesellschaft
1.5. Zum Aufbau der Studie
2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform (1830–1895)
2.1. „Improvement by numbers“: Statistische Gesellschaften in England
2.2. Statistische Forschung und Kriminalität
2.3. Statistische Gesellschaften und staatliche Verwaltungen
2.4. Der teilnehmende Beobachter: Henry Mayhew und die Anfänge der empirischen Sozialforschung in England
2.5 Innovative Sozialpolitik durch professionelle Expertise: Die National Association for the Promotion of Social Sciences
2.6. Vertrauen in die wissenschaftliche Methode: Charles Booths Life and Labour of the People in London
2.7. Bilanz und Ausblick: Philanthropische Kriminologie – alte Impulse und neue Methoden
3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900)
3.1. Morels Theorie der Degeneration
3.2. Die Gründung der Medico-Psychological Association
3.3. George Wilson und Bruce Thomson: „Crime is hereditary“
3.4. Henry Maudsley: Moralisches Irresein
3.5. David Nicolson: Der geistesschwache Straftäter
3.6. „Criminals are not lunatics“: Die Strategien der psychiatrischen\Profession
3.7. Die Erfindung der Präventivpsychiatrie
3.8. Der Gladstone Report (1895) und die Sicherungsverwahrung
3.9. Bilanz und Ausblick: Psychiatrische Deutungshoheit und der Alltag im Gefängnis
3.10. Exkurs: Internationale Diskussionen und nationale Debatten: England und die internationale Kongresskultur zu Strafrecht und Gefängnisreform
4. Eugenik und die Frage nach Anlage und Umwelt (1860–1930)
4.1. Gentleman scientist: Francis Galton und das Geheimnis der Vererbung
4.2. Politik und Methode: composite photography
4.3. Daktyloskopie
4.4. Differentielle Fertilität und Vererbung
4.5. Die Eugenics Education Society
4.6. Eugenik und Kriminalität
4.7. Zur wissenschaftlichen Kritik eines sozialpolitischen Programms
4.8. Bilanz und Ausblick: Regeneration versus Degeneration
5. Biometrie, Mendelsche Gesetze und die Frage nach dem Status von Experten: Charles Gorings The English Convict (1900–1935)
5.1. Die Intention der Studie
5.2. Zur Entstehungsgeschichte der Studie
5.3. Evolution by Jumps: Die Kontroverse zwischen Biometrikern und Mendelianern
5.4. „Cher Maître“: Charles Goring und Karl Pearson
5.5. Charles Goring – The English Convict (1913)
5.6. „More Lombrosian than Lombroso“: Gorings Befürworter
5.7. „Data for speculations“: Gorings Kritiker
5.8. Die Prison Commission und die Sterilisation von Straftätern
5.9. Bilanz und Ausblick: Experten, Expertise und der Staat
6. Die Neue Psychologie (1890–1945)
6.1 Die Vermessung der Intelligenz
6.2 Anthropologie als Sozialpsychologie: Modelle geglückter Anpassung
6.3. Das überforderte Ich: shell shock
6.4. Jugenddelinquenz und Bewährungsstrafe
6.5. William Healy – The Individual Delinquent (1915)
6.6. Die British Psychological Society
6.7. Cyril Burt – The Young Delinquent (1925)
6.8. Die Neue Psychologie und Kriminalität: Theorien, Modelle, Konzepte
6.9. Psychoanalyse und Kriminalität: der Minoritätsdiskurs
6.10. Interdisziplinäre Zusammenarbeit
6.11. Das Institute for the Scientific Treatment of Delinquency (ISTD)
6.12. Child-Guidance-Kliniken
6.13. Zur Anschlussfähigkeit psychologischer Kriminalitätskonzepte
6.14. John Bowlby – Forty-four Juvenile Thieves (1944)
6.15. Bilanz und Ausblick: Wandel und Lernfähigkeit von Psychiatrie und Psychologie
7. Adjusting to democracy: Wissenschaft und Zivilgesellschaft
7.1. „The rounded rational citizen“: der politische Diskurs
7.2. „The man in the street“: der wissenschaftliche Diskurs
7.3. Bilanz und Ausblick: „The handmaid, not the mistress of society“. Zu den Aushandlungsprozessen zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft
8. Quellen- und Literaturverzeichnis
8.1. Ungedruckte Quellen
8.2. Gedruckte Quellen
8.3. Zeitgenössische Literatur
8.4. Literatur
9. Register
9.1. Sachregister
9.2. Ortsregister
9.3. Namensregister
Abkürzungsverzeichnis
Abstract
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Kriminologie in der Zivilgesellschaft: Wissenschaftsdiskurse und die britische Öffentlichkeit, 1830-1945
 9783486755152, 9783486704884

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Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London Publications of the German Historical Institute London

Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London Herausgegeben von Andreas Gestrich Band 73

Publications of the German Historical Institute London Edited by Andreas Gestrich Volume 73

Oldenbourg Verlag München 2014

Sabine Freitag

Kriminologie in der Zivilgesellschaft Wissenschaftsdiskurse und die britische ­Öffentlichkeit, 1830–1945

Oldenbourg Verlag München 2014

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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

1.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5.

Fragestellung und Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Forschungsstand: Wissen und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Protagonisten der Diskurse: zur Quellenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Ansatz der Studie: Wissenschaft und Zivilgesellschaft . . . . . . . . . Zum Aufbau der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



1 5 13 25 40

2.

Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform (1830–1895) . .

45

2.1. 2.2. 2.3. 2.4.

„Improvement by numbers“: Statistische Gesellschaften in England . 45 Statistische Forschung und Kriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Statistische Gesellschaften und staatliche Verwaltungen . . . . . . . . . . . . 70 Der teilnehmende Beobachter: Henry Mayhew und die Anfänge der empirischen Sozialforschung in England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2.5 Innovative Sozialpolitik durch professionelle Expertise: Die National Association for the Promotion of Social Sciences . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 2.6. Vertrauen in die wissenschaftliche Methode: Charles Booths Life and Labour of the People in London . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2.7. Bilanz und Ausblick: Philanthropische Kriminologie − alte Impulse und neue Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3.

3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 3.6.

Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) . . . . . . . . . . . . . . . . 123

Morels Theorie der Degeneration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gründung der Medico-Psychological Association . . . . . . . . . . . . . George Wilson und Bruce Thomson: „Crime is hereditary“ . . . . . . . . Henry Maudsley: Moralisches Irresein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . David Nicolson: Der geistesschwache Straftäter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Criminals are not lunatics“: Die Strategien der psychiatrischen Profession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7. Die Erfindung der Präventivpsychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8. Der Gladstone Report (1895) und die Sicherungsverwahrung . . . . . . . 3.9. Bilanz und Ausblick: Psychiatrische Deutungshoheit und der Alltag im Gefängnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.10. Exkurs: Internationale Diskussionen und nationale Debatten: England und die internationale Kongresskultur zu Strafrecht und Gefängnisreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



123 128 130 136 144

148 160 164 178

181

VI   Inhalt 4.

Eugenik und die Frage nach Anlage und Umwelt (1860–1930) . . . . . . 191

4.1. Gentleman scientist: Francis Galton und das Geheimnis der Vererbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Politik und Methode: composite photography . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Daktyloskopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Differentielle Fertilität und Vererbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5. Die Eugenics Education Society . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6. Eugenik und Kriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7. Zur wissenschaftlichen Kritik eines sozialpolitischen Programms . . . . 4.8. Bilanz und Ausblick: Regeneration versus Degeneration . . . . . . . . . . . 5.

6.1 6.2 6.3. 6.4. 6.5. 6.6. 6.7. 6.8.

191 197 202 205 209 214 218 229

Biometrie, Mendelsche Gesetze und die Frage nach dem Status von Experten: Charles Gorings The English Convict (1900–1935) . . . . . . . . 233

5.1. Die Intention der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Zur Entstehungsgeschichte der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Evolution by Jumps: Die Kontroverse zwischen Biometrikern und Mendelianern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4. „Cher Maître“: Charles Goring und Karl Pearson . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5. Charles Goring − The English Convict (1913) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6. „More Lombrosian than Lombroso“: Gorings Befürworter . . . . . . . . . 5.7. „Data for speculations“: Gorings Kritiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8. Die Prison Commission und die Sterilisation von Straftätern . . . . . . . 5.9. Bilanz und Ausblick: Experten, Expertise und der Staat . . . . . . . . . . . . 6.



233 236

238 245 247 259 262 267 275

Die Neue Psychologie (1890–1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Die Vermessung der Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anthropologie als Sozialpsychologie: Modelle geglückter Anpassung . Das überforderte Ich: shell shock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jugenddelinquenz und Bewährungsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . William Healy – The Individual Delinquent (1915) . . . . . . . . . . . . . . . . Die British Psychological Society . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cyril Burt – The Young Delinquent (1925) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Neue Psychologie und Kriminalität: Theorien, Modelle, Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.9. Psychoanalyse und Kriminalität: der Minoritätsdiskurs . . . . . . . . . . . . 6.10. Interdisziplinäre Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.11. Das Institute for the Scientific Treatment of Delinquency (ISTD) . . . 6.12. Child-Guidance-Kliniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.13. Zur Anschlussfähigkeit psychologischer Kriminalitätskonzepte . . . . . .



283 289 292 308 324 338 343



352 367 376 378 383 393

Inhalt   VII

6.14. John Bowlby – Forty-four Juvenile Thieves (1944) . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 6.15. Bilanz und Ausblick: Wandel und Lernfähigkeit von Psychiatrie und Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 7.

Adjusting to democracy: Wissenschaft und Zivilgesellschaft . . . . . . . . . 425

7.1. „The rounded rational citizen“: der politische Diskurs . . . . . . . . . . . . . 425 7.2. „The man in the street“: der wissenschaftliche Diskurs . . . . . . . . . . . . 436 7.3. Bilanz und Ausblick: „The handmaid, not the mistress of society“. Zu den Aushandlungsprozessen zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 8.

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455

8.1. 8.2. 8.3. 8.4.

Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitgenössische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9.

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495



455 455 457 472

9.1. Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 9.2. Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 9.3. Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515

Für Elena und Niklas

“There must be discussion, to show how experience is to be inter­ preted … the only way in which a human being can make some approach to knowing the whole of a subject, is by hearing what can be said about it by persons of every variety of opinion, and study­ ing all modes in which it can be looked at by every character of mind. … The steady habit of correcting and completing his own opinion by collating it with those of others, … is the only stable foundation for a just reliance on it.” John Stuart Mill, On Liberty (1859)1

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 2009/10 von der Philo­ sophischen Fakultät der Universität zu Köln als Habilitationsschrift angenommen. Für die Drucklegung wurde sie gekürzt und leicht überarbeitet. Mein ganz beson­ derer Dank gilt Margit Szöllösi-Janze (München), die die Arbeit nicht nur betreut und ihr Entstehen in allen Phasen engagiert begleitet hat, sondern einen nicht unwesentlichen Anteil daran hat, dass sie überhaupt geschrieben wurde. HansPeter Ullmann (Köln), Norbert Finzsch (Köln) und Hans-Peter Haferkamp (Köln) sowie Jürgen Martschukat (Erfurt) sei dafür gedankt, dass sie während der Vor­ lesungszeit als Gutachter zur Verfügung standen. Von ihren Anregungen und Kommentaren habe ich in vielfältiger Weise profitiert und versucht, einiges davon in die Drucklegung einfließen zu lassen. Fehler und Unzulänglichkeiten dieses Buches aber bleiben allein in der Verantwortung der Autorin. Nach der Forschung ist vor der Forschung, und so erscheint dieses Buch in der Rückschau von über drei Jahren seit der Fertigstellung des ersten Manuskriptes eher als Einladung zu weiteren Untersuchungen zum Verhältnis von Wissenschaft, Zivilgesellschaft und demokratischen Strukturen, die hier nicht umfassend ausgeführt werden konn­ ten. Umfangreiche Teile der Arbeit sind innerhalb des von der DFG geförderten Schwerpunktprogramms „Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Deutschland im internationalen Vergleich“ entstanden, das von Rüdiger vom Bruch (Berlin) koor­ diniert wurde. Die im Rahmen dieses Programms organisierten, interdisziplinär ausgerichteten Tagungen und Konferenzen waren im besten Sinne John Stuart Mills Foren des Austausches und der offenen Diskussion. Zu einer ständigen Dis­ kussions- und Ansprechpartnerin wurde dabei Désirée Schauz (München). Auch Monika Löscher (Wien), Sylvia Kesper-Biermann (München), Petra Overath (Berlin) und Richard Wetzell (Washington) danke ich für viele anregende Gesprä­ che und Diskussionen in den vergangenen Jahren. Bei Andreas Fahrmeir (Frank­ furt) möchte ich mich nicht nur, aber vor allem für die kritische Durchsicht des Manuskriptes und bei Gabriele Annas (Frankfurt) für all die Aufmunterungen 1 John Stuart

Mill, On Liberty and Other Essays, Oxford/New York 1992, S. 25.

X   Vorwort

bedanken, die mich – gerade zur rechten Zeit – in kritischen Momenten erreich­ ten. Peter Wende (Frankfurt) und Lothar Kettenacker (München) haben auf ihre je eigene Weise dazu beigetragen, dass sich mein Amerikainteresse immer stärker in ein Großbritannieninteresse verwandelte. Für Hilfe und Unterstützung bei der Quellen- und Literaturrecherche bin ich dem großartigen Bibliotheksteam der London School of Economics verpflichtet. Studierende, die sich hier auf Prüfun­ gen vorbereiten, mögen das anders sehen, aber für mich bleibt die LSE Bibliothek ein fast magischer Ort. Hinzu kam die unvergessliche Gastfreundschaft von Wal­ traud Schelkle (London) und Peter Busch (London). Dem wissenschaftlichen Bei­ rat des DHI London und seinem Direktor, Andreas Gestrich, danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London. Jane Rafferty und Markus Mößlang vom DHI waren mein per­ sönliches Dream-Team bei der Realisierung der Drucklegung. Julia Schreiner vom Oldenbourg Wissenschaftsverlag in München danke ich herzlich für die profes­ sionelle verlegerische Betreuung.

Bamberg, im Oktober 2013 

Sabine Freitag

1. Einleitung 1.1. Fragestellung und Erkenntnisinteresse „Ideas […] have their intellectual climate. Theories of crime causation in the nineteenth century did not develop in isolation or in a vacuum. Their cultural setting included advancements in biology, in medicine, in psychiatry, in psychology, and in sociology.“1 Als in den 1930er Jahren der amerikanische Soziologe Arthur Fink die Entwicklung von Kriminalitätstheorien und die Entwicklung der Kriminologie als Wissenschaft in den USA historisch untersuchte, war es für ihn nicht schwierig nachzuweisen, dass sich die unterschiedlichen Erklärungen für abweichendes und kriminelles Verhalten dem Aufstieg bestimmter Disziplinen verdankte, die wissenschaftliche oder quasi-wissenschaftliche Erklärungen für den Menschen, für seinen Körper und für sein Verhalten anboten. Schwieriger, und von Fink selbst nicht eingelöst, war hingegen der Nachweis, auf welche Weise jenes cultural setting,2 von dem die Wissenschaften nur einen Teil darstellten, da­ rüber verfügte, welche Theorien über Kriminalitätsgenese und Verbrecherkonstitution Deutungshoheit beanspruchen konnten und sich gesellschaftlich durchsetzten und welche nicht. Denn unter historischer Langzeitperspektive ließen sich zunächst einmal nur bestimmte Konjunkturen ausmachen.3 Fink selbst glaubte 1938, dass Psychologie und Soziologie als Leitdisziplinen die biologischen Kriminalitätserklärungen abgelöst hätten. Schaut man hingegen in wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Publikationen der vergangenen Jahre, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass gegenwärtig unter dem wachsenden Einfluss der Hirnforschung ein neues Zeitalter der Biologisierung des Täters und damit des Verbrechens heraufzieht.4 Die Frage, die sich hier aufdrängt, wäre also nicht nur, wie plausibel die Theorien der Hirnforschung erscheinen, sondern auch, warum ihnen heute wieder eine solche Prominenz eingeräumt wird.

1

Arthur E. Fink, Causes of Crime. Biological Theories in the United States, 1800–1915, Philadelphia 1938, S. 240. 2 Fink, Causes of Crime, S. 250, übernimmt hier die Formulierung aus Bernard J. Stern, Social Factors in Medical Progress, New York 1927. 3 Bezogen auf die Argumente der Strafpraxis vgl. z. B. Kevin Downing und William Forsythe, The Reform of Offenders in England, 1830–1995: A Circular Debate, in: Criminal Justice History 18 (2003), S. 145–162. 4 Siehe z. B. Hans J. Markowitsch und Werner Siefer, Tatort Gehirn. Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens, Frankfurt am Main 2007; dazu die Titelgeschichte im Focus (Nr. 41, 8. Oktober 2007): Tatort Gehirn. Warum Menschen zu Verbrechern werden, S. 104– 114; Titelgeschichte in Der Spiegel (Nr. 31, 30. 7. 2007), Das Böse im Guten. Die Biologie von Moral und Unmoral, S. 108–123; zur aktuellen Diskussion zwischen Hirnforschern, Psycho­ logen und Juristen (Amstetten Fall), Der Spiegel (Nr. 19, 5. 5. 2008), Von Menschen und Monstern, S. 64–74; Titelgeschichte in Bild der Wissenschaft 3 (2005), Hirnforschung: Die Wurzeln des Bösen, S. 56–76; Titelgeschichte in Gehirn & Geist 9 (2006), Tatort Gehirn. Forscher ergründen die Ursachen von aggressivem Verhalten, S. 44–53.

2   1. Einleitung In den vergangenen Jahren ist eine Reihe von Arbeiten zur deutschen Kriminologiegeschichte erschienen.5 Trotz ihrer unterschiedlichen Einschätzung, in welchem Maße sich die Kriminologie als eigenständige Wissenschaftsdisziplin überhaupt durchsetzen konnte,6 ist allen Arbeiten gemeinsam, dass sie sich primär auf die Analyse einer akademisch geprägten Debatte konzentrierten, die besonders stark von den Entwicklungen der Psychiatrie beeinflusst wurde. Unterschiedliche Theorie-Konjunkturen und der weitere Rahmen eines cultural setting wurden kaum in den Blick genommen. Im Vergleich zu Deutschland, aber auch Frankreich oder Italien, fehlte in England das, was man eine akademische Strafrechtsbzw. genauer Kriminalwissenschaft nennen könnte.7 Bis in die 1930er Jahre gab es hier – mit Ausnahme vereinzelter Vorlesungen zum Thema Crime and Insanity an einigen Universitäten – weder eigene akademische Institutionen, die sich wissenschaftlich mit kriminologischen Fragen beschäftigten, noch existierten fachspezifische Publikationsorgane, die sich als Primärquellen für eine historische Analyse und Interpretation anböten. Auch die juristische Profession, deren praxis­ orientierte Ausbildung an den Inns of Court sich vornehmlich auf die Vermittlung notwendiger Kompetenzen für Rechtsprechung und Verteidigung konzentrierte, dominierte nicht die Diskussionen über die Genese von Kriminalität, ihre Gründe und Ursachen. Sie orientierte sich am common law, das durch neue Gesetze des parlamentarisch verabschiedeten statute law erweitert wurde. Zudem trug der hohe Laienanteil in der englischen Rechtsprechung dazu bei, dass das Problem von Kriminalität und Kriminalitätsbekämpfung keine bloße Angelegenheit von Experten blieb, sondern in einen zivilgesellschaftlichen Kontext hinein5

Siehe u. a. Richard Wetzell, Inventing the Criminal. A History of German Criminology, 1880–1945, Chapel Hill und London 2000; Silviana Galassi, Kriminologie im Deutschen Kaiserreich. Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung, Stuttgart 2004; Peter Becker, Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis, Göttingen 2002; Christian Müller, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform in Deutschland, 1871–1933, Göttingen 2004; Imanuel Baumann, Dem Verderben auf der Spur. Eine Geschichte der Kriminologie und Kriminalpolitik in Deutschland 1880 bis 1980, Göttingen 2006; zur Entwicklung der ­Gefängniskunde, Thomas Nutz, Strafanstalt als Besserungsmaschine. Reformdiskurs und ­Gefängniswissenschaft 1775–1848, München 2001; Lars Hendrick Riemer, Das Netzwerk der „Gefängnisfreunde“ (1830–1872). Karl Josef Anton Mittermaiers Briefwechsel mit europäischen Strafvollzugsexperten, Frankfurt am Main 2004; zu den allgemeinen Forschungstrends siehe Désirée Schauz und Sabine Freitag, Verbrecher im Visier der Experten, in: dies. (Hrsg.), Verbrecher im Visier der Experten. Kriminalpolitik zwischen Wissenschaft und Praxis im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 2007, S. 9–32 (mit weiteren Literaturangaben); zur internationalen Perspektive: Peter Becker und Richard F. Wetzell (Hrsg.), Criminals and Their Scientists. The History of Criminology in International Perspective, Cambridge und Washington D.C. 2006. 6 Die Schwierigkeit liegt nach wie vor in der genauen Bestimmung des Gegenstandsbereiches der Kriminologie, vgl. aus juristischer Perspektive Ulrich Eisenberg, Kriminologie, 5. neubearb. Aufl. München 2000, S. 1 f. 7 David Garland, Of Crimes and Criminals: The Development of Criminology in Britain, in: Mike Maguire, Rod Morgan und Robert Reiner (Hrsg.), The Oxford Handbook of Crimin­ ology, Oxford 21997, S. 11–56, hier S. 44: „In Britian, before the mid-1930s, criminology as a university-based, academic discipline simply did not exist.“

1.1. Fragestellung und Erkenntnisinteresse   3

getragen wurde. Doch sind dadurch englische Debatten über Kriminalität weniger wissenschaftlich geführt worden, weil ihnen ein akademischer Rahmen fehlte, weil England, wie der Prison Commissioner Sir Evelyn Ruggles-Brise 1924 vor dem Internationalen Gefängniskongress erklärte, im Vergleich zum Kontinent nicht mit einer „school of criminology“8 aufwarten konnte? Bedeutet das Fehlen einer akademischen Kriminalwissenschaft und entsprechender wissenschaftlicher ‚Institutionalisierungen‘,9 dass es bis in die 1930er Jahre keine oder doch nur sehr bescheidene wissenschaftliche Debatten über Kriminalitätsgenese und Verbrecherkonstitution gab? Dies, so möchte die vorliegende Arbeit zeigen, war keineswegs der Fall. Besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte auch in England ein Verwissenschaftlichungsprozess ein, der auf die Kriminalitätsdebatten ausstrahlte. Allerdings waren hier sowohl die Rahmenbedingungen der Auseinandersetzungen als auch die Räume, in denen sie geführt wurden, anders als auf dem Kontinent. Bestimmt durch das, was Paul Vinogradoff als „craving for a scientific treatment of the problem of social life“10 bezeichnet hat, waren Kriminalitätsdebatten zunächst besonders eng gekoppelt an Diskussionen über Armut und Verarmung, über beunruhigende Abwanderungsbewegungen vom Land in die Stadt, über Slumbildung und die Frage nach den Lebensumständen der rasch wachsenden Unterschichten. Gerade die Nähe zu sozialen Fragen hat die Teilnahme philanthropischer Zirkel an diesen Debatten geradezu heraufbeschworen. Die Tat­ sache, dass in England die Debatten über Kriminalitätsursachen und ihre Bekämpfung durch zahlreiche Vereine und Gesellschaften öffentlich zugänglicher waren und mithin populärer geführt wurden, ist, so eine These der Arbeit, kein Indikator für ihre vermeintlich defizitäre Wissenschaftlichkeit. Vielmehr handelte   8 Evelyn

Ruggles-Brise, Prison Reform at Home and Abroad. A Short History of the Inter­ national Movement Since the London Congress (1872), London 1924, S. 16.   9 Für den deutschsprachigen Raum waren folgende Foren wichtig: die ab 1882 von Franz von Liszt (Jurist) herausgegebene Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft; an seinem Lehrstuhl war auch das von ihm gegründete Kriminalistische Seminar angesiedelt (zunächst in Marburg, dann in Halle, schließlich in Berlin), das eine eigene Schriftenreihe initiierte. Das erste deutsche Fachblatt für Kriminologie war die 1897 vom Gefängnisarzt Walter Wenge herausgegebene Zeitschrift für Criminal-Anthropologie, Gefängniswissenschaft und Prostitutionswesen, die allerdings nur sechs Auflagen erlebte. Ab Herbst 1898 erschien das von dem österreichischen Juristen (und Mitherausgeber von Wenges Zeitschrift) Hans Gross herausgegebene Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik. Gross richtete in Graz ebenfalls ein Kriminalistisches Seminar ein, das sowohl strafrechtliche Lehre als auch kriminologische Forschung betrieb. Nach Gross’ Tod 1915 erfolgte die Umbenennung der Zeitschrift in Archiv für Kriminologie: „Mit dem Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik“ trat die Kriminologie im deutschsprachigen Raum definitiv in ihre institutionelle Phase“, betont Galassi, Kriminologie im deutschen Kaiserreich, S. 255; 1904 gründete der Psychiater Gustav Aschaffenburg seine Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform, ein Periodikum, das sich, so Galassi, eher als Ergänzung zum Archiv verstand und eher aktuelle kriminalpolitische Fragen in den Vordergrund rückte (ebd. S. 254). 10 Paul Vinogradoff, The Teaching of Sir Henry Maine (1904), S. 11; hier zit. nach Leon Radzinowisz und Roger Hood, The Emergence of Penal Policy (A History of English Criminal Law and Its Administration from 1750, Bd. 5), London 1986, S. 30.

4   1. Einleitung es sich um die spezifischen Diskussionsforen einer auf dem Weg zur Massendemokratie fortschreitenden Zivilgesellschaft, die die Diskussion solcher Fragen nicht engen Expertenzirkeln überließ, sondern sich, auf ihre eigene Urteilsfähigkeit gestützt, den souveränen Umgang mit neuen Wissensbeständen selbst zutraute. Das Verhältnis zwischen denen, die Wissen über Kriminalität herstellten, und denen, die dieses Wissen rezipierten, war in England keineswegs von Exklusivität geprägt. Laien der Gefängnisreformbewegung eigneten sich nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse über Kriminalitätsgenese und Verbrecherkonstitution an, sondern sie beteiligten sich als Mitglieder von statistischen Vereinen oder durch ihre Mitarbeit an empirischen Sozialstudien auch an der Produktion wissenschaftlichen Wissens. Die Arbeit geht deshalb der Frage nach: In welchen Räumen wurde das von Zeitgenossen als wissenschaftlich eingestufte Wissen über Kriminalität hergestellt? Wer war an der Produktion solchen Wissens beteiligt? Welche Kreise diskutierten über die Kompatibilität des neuen Wissens mit den gesellschaftlichen Normen? Auf welche Weise funktionierte das Wechselspiel zwischen der Hervorbringung des Wissens und seiner gesellschaftlich relevanten Deutung in den Aushandlungsprozessen der Experten, Praktiker, Laien, Politiker, Sozialreformer und Philanthropen? Welchen Einfluss hatten die verschiedenen Diskursteilnehmer auf die Ausprägung von Paradigmen und Deutungsmustern? Und schließlich: Was sagen diese Aushandlungsprozesse über das Verhältnis von Wissenschaft und Zivilgesellschaft aus? Die vorliegende Studie über die Pluralität englischer Kriminalitätsdiskurse, die aus der Partizipation von „many able and eminent persons, for the most part unconnected with the legal, or official, classes“11 entstand, soll klären helfen, was in der Wissenschaftsgeschichte inzwischen als Aushandlungsprozesses zwischen Wissenschaft und Gesellschaft modelliert wird. Längst ist man hier von der Vorstellung einer einseitigen, linearen Wissensvermittlung von oben nach unten, von den exklusiven Zirkeln der Wissensproduzenten zu den unkritischen Rezipienten abgerückt.12 Erst in den wechselseitigen Aushandlungsprozessen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft wird über die gesellschaftliche Annahme oder Verwerfung wissenschaftlicher Wissensbestände entschieden. Doch wie hat man sich solche Aushandlungsprozesse konkret vorzustellen, was sind ihre Determinanten? Wie strahlten die Grundsatzdiskussionen verschiedener Disziplinen auf die Kriminalitätsdiskurse aus und, umgekehrt, welche der von ihnen angewendeten Methoden wurden von welchen Teilen der Öffentlichkeit akzeptiert, welche erschienen fragwürdig oder dem Untersuchungsgegenstand Kriminalität nicht angemessen? Veränderte sich das in diesen Aushandlungsprozessen verhandelte Wissen? Wurde es modifiziert – wenn ja, wodurch? Lassen sich Affinitäten zwischen be11 Ruggles-Brise,

Prison Reform, S. 16. wird die Diskussion inzwischen durch die von Mitchell G. Ash angeregte Frage nach Wissenschaft und Gesellschaft „als Ressourcen füreinander“; zum aktuellen Diskussionsstand mit ausführlicher Bibliographie siehe die Einleitung von Sybilla Nikolov und Arne Schirrmacher, in: dies. (Hrsg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander. Stu­ dien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2007, S. 4–36.

12 Erweitert

1.2. Zum Forschungsstand: Wissen und Macht   5

stimmten gesellschaftlichen Gruppierungen und bestimmten Erklärungsansätzen ausmachen? In welchem Maße war die gesellschaftliche Akzeptanz von ‚wissenschaftlichem Wissen‘ über Kriminalität abhängig von dessen Kompatibilität nicht nur mit den bestehenden Normen gesellschaftlicher Ordnung, der local moral order,13 sondern möglicherweise auch mit längerfristigen politischen Entwicklungen, an denen alle Betroffenen beteiligt waren, nämlich am kollektiven Versuch, sich zur Demokratie zu befähigen?

1.2. Zum Forschungsstand: Wissen und Macht Michel Foucault hat Wissensstrategien als Grundlage moderner Strafpolitik beschrieben. Seine Thesen über die Geburt des Gefängnisses und das komplexe Wechselspiel von Wissen und Macht haben auch in der Forschung zur englischen penal policy und penal reform reiche und anregende Kontroversen ausgelöst. Der von Foucault im ersten Teil von Überwachen und Strafen diagnostizierte Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Verhältnissen, praktizierten Strafformen und anerkannten Strafzwecken dient Michael Ignatieff in seiner 1978 erschienenen Studie A Just Measure of Pain dazu, den Aufstieg des Gefängnisses in Großbritannien mit der neuen kapitalistischen Ordnung in Verbindung zu bringen. Obgleich Ignatieff die reformerischen Elemente in der Entwicklung des englischen Strafvollzugs nicht gänzlich beiseiteschiebt, schließt er sich doch im Wesentlichen Foucaults Interpretation an, indem auch er auf das sich in England etablierende, klassenbasierte System der Kontrolle und Disziplinierung verweist. Die durch verschiedene Disziplinartechniken in den englischen Arbeitshäusern vermittelten Werte der Mittelschicht wie Fleiß, Ausdauer, Zuverlässigkeit, Anpassung dienten der Herstellung einer funktionstüchtigen Arbeiterschaft als Ressource für eine ökonomisch aufstrebende industrielle Führungselite.14 13 Der

Begriff wird verwendet von Daniel Siemens, Metropole und Verbrechen. Die Gerichtsreportagen in Berlin, Paris und Chicago, 1919–1933 (Transatlantische Historische Studien, Bd. 32), Stuttgart 2007, S. 49. 14 Michael Ignatieff, A Just Measure of Pain: The Penitentiary in the Industrial Revolution, 1750–1850, New York 1978. 1983 hat Ignatieff kritisch gegen sich selbst eingewendet, dass die historische Vergangenheit komplexer sei, als Foucault sie beschrieben habe, und sich weder die Theorie nahtlos in der Legislative fortsetze noch die Legislative ohne Brüche die Realität von Gefängnissen und Krankenhäusern präge: „It appears […] that the revolution in punishment was not the generalised triumph of Weberian rationalisation which the revisionist ­account suggested. Foucault’s work (and my own as well) remained captive of that Weberian equation of the ancien régime with the customary, the traditional and the particularistic, and of the modern with the rational, the disciplined, the impersonal and the bureaucratic.“ Michael Ignatieff, State, Civil Society and Total Institutions: A Critique of Recent Social Histories of Punishment, in: Stanley Cohen und Andrew Scull (Hrsg.), Social Control and the State: Historical and Comparative Essays, Oxford 1983, S. 72–98, hier S. 83; zu dieser Diskussion auch Victor Bailey, The Fabrication of Deviance: ‚Dangerous Classes‘ and ‚Criminal Classes‘ in Victorian England, in: John Rule und Robert Malcolmson (Hrsg.), Protest and Survival: Essays for E.P. Thompson, London 1993, S. 221–256.

6   1. Einleitung Doch Foucaults Analyse bleibt nicht bei der Entwicklung von Arbeitshäusern stehen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts konstatiert er einen Bedeutungsschwund der Arbeit als Strafmittel, aus dem Zwangshaus wird das Gefängnis, das internierte Subjekt wird durch Isolierung auf sich selbst und seine Schuld zurückgeworfen. Die Strafe setzt nun präventiv ein und zielt auf die therapeutisch zu erzielende Normalisierung des Delinquenten. Die eigentliche Herausforderung Foucaults für die Geschichtswissenschaft besteht darin, dass er mit seiner Geschichte des Strafens ganz entschieden auf Distanz geht zu allen neuzeitlichen Humanisierungs- und Fortschrittsnarrativen. Er bezweifelt die angebliche Vermenschlichung des Strafvollzugs. Es sei dabei vielmehr um Effizienzsteigerung und eine, wie ­Andreas Hetzel es formuliert, „Immunisierung der Macht gegenüber Effekten der Reversibilität“15 gegangen. Eingekleidet in den „Diskurs des Herzens“16 hätten selbst Gefängnisreformer im Grunde (unbewusst) über „eine fehlerhafte Ökonomie der Macht“17 verhandelt und sich dadurch zu Komplizen der Kontrolltechnokratie gemacht. Aber nicht nur die Besserungsagenten werden nach Foucault unbewusst zu Komplizen der Macht. Auch das Wissen selbst, das über den ­Menschen in den vorzugsweise abgeschlossenen Disziplinierungsräumen wie dem ­Gefängnis und – dessen Organisationsform übernehmend – dem Krankenhaus, der Kaserne, der Schule, dem Asyl und der Fabrik fast unter Laborbedingungen gewonnen wird, wird nicht mehr um seiner selbst willen angestrebt, sondern offenbart sich als Wille zur Macht. Foucault sieht einen engen und direkten Zusammenhang zwischen der „Technik der Internierung“18 und der Formierung der Humanwissenschaften. An der wechselseitigen Voraussetzung und Ergänzung von institutionellen Maßnahmen und wissenschaftlich-empirischer Forschung setzt die 1985 erschienene Studie von David Garland Punishment and Social Welfare an. In Anlehnung an Max Webers Modernisierungstheorie und beeindruckt von den Ambivalenzen des Fortschritts, die Foucault freigelegt hat, macht Garland den Beginn eines ­modernen Strafsystems in England erst in der Zeit zwischen 1895 und 1914 aus.19 Die Datierung knüpft er an das Auftreten neuer Wissensbestände. Erst in dieser Phase hätten unter dem Einfluss kontinentaler positivistischer Kriminologie und heimischer eugenischer Theorie die Einteilung und Behandlung von Strafgefangenen einen deutlichen Wandel erfahren, der bis in die jüngste Zeit den moder15 Andreas

Hetzel, Michel Foucault: Überwachen und Strafen (1975) – Der Wille zum Wissen (1976), in: Gerhard Gamm, Andreas Hetzel und Markus Lilienthal (Hrsg.), Hauptwerke der Sozialphilosophie, Stuttgart 2001, S. 195–223, hier S. 207. 16 Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main 81989, S. 115. 17 Ebd., S. 101. 18 Reiner Ruffing, Michel Foucault, Paderborn 2008, S. 64. 19 David Garland, Punishment and Welfare: A History of Penal Strategies, Aldershot 1985, bes. Kap. 1; zum Einfluss Max Webers auf Foucault, an den Garland selbst anknüpft, siehe Henner Hess, Einleitung. David Garlands ‚Culture of Control‘ und die deutsche Kritische Kriminologie, in: Ders, Lars Ostermeier und Bettina Paul (Hrsg.), Kontrollkulturen. Texte zur Kriminalpolitik im Anschluss an David Garland (Kriminologisches Journal 39, 9. Beiheft) Weinheim 2007, S. 6–22.

1.2. Zum Forschungsstand: Wissen und Macht   7

nen Strafvollzug geprägt habe.20 Cesare Lombrosos L’uomo delinquente21 von 1876 interpretiert Garland als Gründungstext der positivistischen Kriminologie, der dazu beigetragen habe, das exklusive Abschreckungssystem des Viktorianischen Zeitalters durch ein System zu ersetzen, das eher darauf ausgerichtet gewesen sei, Delinquenz vorzubeugen, zu behandeln und zu eliminieren.22 In den medizinisch-psychiatrischen Debatten bis zur Jahrhundertwende hätte sich eine Verschiebung der Legitimation staatlichen Eingreifens abgezeichnet. In dieser Phase, die sich durch das bemerkenswerte Auftreten von Diskursen der Kontrolle ausgezeichnet habe, sei die landläufige Symmetrie zwischen „legal forms and ­penal control“ aufgebrochen worden. Obgleich diese Diskurse hoch divers und unter sich nicht selten widersprüchlich gewesen seien, sei ihnen doch ein allgemeines Programm der Intervention (penal welfarism) gemeinsam gewesen, „based not on a legal philosophy but upon a positive knowledge of (human) objects and the techniques which would transform them. Individually and collectively these discourses provided disciplinary resources as well as ‚scientific‘ legitimation for a transformation and extension of the penal apparatus.“23 In seiner Arbeit Reconstructing the Criminal24 aus dem Jahr 1990 kritisiert Martin Wiener Garlands einseitige Interpretation und dessen starke Betonung der Rolle der Humanwissenschaften und tritt selbst mit dem Anspruch auf, die Rolle von Kultur und gesellschaftlichen Werten bei der Formierung einer penal policy in England sichtbar zu machen. Doch auch sein Buch endet in gewisser Weise mit einer Medikalisierungsthese.25 In seiner Darstellung geraten die Jahre nach 1880 20 In

seinem Buch Culture of Control sieht Garland diesen penal welfarism vor allem durch die veränderte Wahrnehmung der Mittelschichten an sein Ende gekommen, siehe David Garland, The Culture of Control. Crime and Social Order in Contemporary Society, Chicago 2001 (dt. Übersetzung, ders., Kultur der Kontrolle. Verbrechensbekämpfung und soziale Ordnung in der Gegenwart, Frankfurt am Main 2008). Garland konstatiert einen aktuellen Wandel staatlicher Strafpraxis von Generalprävention und Wiedereingliederung von Straftätern in die Gesellschaft zu vorbeugenden Kontrollen (rationales Management von Kriminalitätsrisiken) und die Anwendung harter und ausgrenzender Sanktionen (punitive Segregation von Kriminellen). In der vorliegenden Studie geht es um den Kontext der historischen Entwicklung dieses penal welfarism, den Garland in seinen frühen Arbeiten unter dem Einfluss Foucaults eher kritisch beurteilte, vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen vor allem in Amerika und England nun aber als historische Leistung der Zivilgesellschaft anerkennt; eine erste Relativierung seiner ursprünglichen, an Foucault orientierten Thesen befindet sich in David Garland, Of Crimes and Criminals: The Development of Criminology in Britain, in: Mike Maguire, Rod Morgan und Robert Reiner (Hrsg.), The Oxford Handbook of Criminology, Oxford 21997, S. 11–56. 21 Cesare Lombroso, L’Uomo Delinquente. Studiato in Rapporto all’Antropologia, alla Medi­ cina legale ed alle discipline carcerarie, Mailand 1876. 22 Vgl. Garland, Of Crimes and Criminals, S. 37–42. 23 David Garland, The Birth of the Welfare Sanction, in: The British Journal of Law and ­Society 8 (1981), S. 29–45, hier S. 38. 24 Martin Wiener, Reconstructing the Criminal: Culture, Law and Policy in England, 1830– 1914, Cambridge 1990. 25 Roger Smith hat den Begriff medicalisation als einer der Ersten auf den Prozess bezogen, in dem „events previously the subject of moral judgement have become the object of medical practice. This change is usually linked to a sociology of professional medical interests, though

8   1. Einleitung – also die Jahre, die in der Forschung oft als Take-off-Phase eines beschleunigten Verwissenschaftlichungsprozesses gewertet werden26 – zur Verlustgeschichte in das Vertrauen individueller Verantwortung und zur Aufstiegsgeschichte naturwissenschaftlich begründeter, deterministischer Kriminalitätskonzepte, die besonders in den Diskussionen um mental und physical deficiency zum Ausdruck gekommen seien: „The more rooted criminality or other deviance was perceived to be in the sphere of nature, the less power the deviant himself was assumed to have over his own deviance.“27 Durch die unter dem Einfluss der Naturwissenschaften verschobene Wahrnehmung seien Selbstverantwortung und Schuldprinzip ins Wanken geraten, das staatliche Strafmonopol in Frage gestellt worden. Den Zusammenhang zwischen neuen Wissensformen und Machtstrategien diagnostiziert auch Wiener. Ähnlich wie Garland führt er die neuen, in den Kriminalitätsdebatten verhandelten images von Kriminellen auf den Einfluss einer positivistisch orientierten Kriminologie zurück, mit der sich neue Formen der gesellschaftlicher Disziplinierung legitimieren lassen. Es habe sich ein neuer Sinn für die Möglichkeiten entwickelt „of joining the developing human sciences with the instrumentalities of an expanding state to remake deviants according to the prescripitions of experts“, während sich zugleich „social authority“ auf eine „scientific basis“ habe gründen können.28 Dabei wandelte sich der Kriminelle vom starken, autonomen Subjekt zum schwachen, in seiner Eigenverantwortlichkeit eingeschränkten Patienten. Victor Baileys 1987 erschienene Arbeit über Delinquency and Citizenship: Reclaiming the Young Offender und William Forsythes Studie über Penal Discipline, Reformatory Projects and the English Prison Commission aus dem Jahr 1991 formulieren in vielerlei Hinsicht Kritik an Garlands und indirekt auch an Wieners Thesen.29 Beide Arbeiten gehen zeitlich über den Ersten Weltkrieg hinaus und analysieren nicht nur die Argumente der am Gefängnisreformdiskurs beteiligten Personen genauer, sondern untersuchen auch das tatsächliche Ausmaß der Veränit should also be correlated with secularisation, scientific naturalism and the rise of the social sciences.“ Roger Smith, Trial by Medicine. Insanity and Responsibility in Victorian Trials, Edinburgh 1981, S. 32. 26 Zu den Indikatoren einer modernen Wissenschaftslandschaft zählen disziplinäre Ausdifferenzierung und der Beginn der Großforschung, siehe Margit Szöllösi-Janze, Die institutionelle Umgestaltung der Wissenschaftslandschaft im Übergang vom späten Kaiserreich zur Weimarer Republik, in: Rüdiger vom Bruch und Brigitte Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschafts­politik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 60–74; Heinz Schott, Zur Biologisierung des Menschen, in: vom Bruch und Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften, S. 99–108. 27 Wiener, Reconstructing the Criminal, S. 230. 28 Ebd. S. 381. 29 Victor Bailey, Delinquency and Citizenship: Reclaiming the Young Offender, 1914–1948, Oxford 1987; William J. Forsythe, Penal Discipline, Reformatory Projects and the English Prison Commission, 1895–1939, Exeter 1991; zur Kritik siehe Victor Bailey, English Prisons, Penal Culture, and the Abatement of Imprisonment, 1895–1922, in: Journal of British Studies 36 (1997), S. 285–324; William Forsythe, The Garland Thesis and the Origins of Modern English Prison Discipline: 1835–1939, in: The Howard Journal 34 (1995), S. 259–273.

1.2. Zum Forschungsstand: Wissen und Macht   9

derungen und Neuerungen im englischen Strafvollzug und in alternativen Erziehungseinrichtungen, z. B. für jugendliche Straftäter (borstals). Sie kommen zu dem Ergebnis, dass sich die von Garland behaupteten Strukturveränderungen keineswegs so einseitig und so dramatisch in Richtung einer Medikalisierung des Straftäters entwickelt hätten. Garland und Wiener hätten nicht nur den Einfluss des aufsteigenden Positivismus überschätzt, sie hätten es dadurch auch versäumt, die Begründungszusammenhänge anderer Diskurse in den Blick zu nehmen, die sich zum Teil medizinischen oder psychiatrischen Ansätzen in den Weg gestellt, zum Teil sogar den öffentlichen Diskurs in weitaus größerem Maße beherrscht hätten. Baileys und Forsythes Kritik mündet schließlich in dem Hinweis auf die Komplexität der Vorgänge, die sich gerade in England nach 1900 im Verlauf eines decentering of the prison ergeben habe: „These years are simply not intelligible in terms solely of an emerging positivism or medicalism.“30 Bailey selbst verortet die intellektuellen Auslöser des Wandels der englischen Strafpraxis nicht in einer positivistischen Kriminologie, sondern eher in den geistigen Strömungen eines radikalen humanitarianism, eines philosophischen Idealismus im Geiste des Oxforder Moralphilosophen Thomas Hill Green und eines „ethischen Sozialismus“, wie er von Mitgliedern der Independent Labour Party vertreten worden sei.31 Diese geistigen Strömungen seien in den entscheidenden Jahren eine erfolgreiche Koalition eingegangen und ihre Vertreter hätten, an entscheidenden Stellen im civil service oder öffentlichkeitswirksam in Vereinen und Verbänden platziert, die Reformen durchgesetzt, die sich in den 1920er und 1930er Jahren beobachten ließen. Auch Forsythe interpretiert die Arbeit der von ihm untersuchten englischen Prison Commission als eine von humanitären Überlegungen geleitete: „Overall in England the inter war years witnessed a significant growth in the liberal ameliorative approach to prisoners. Advocates of this, furthermore, managed to retain their advantage despite such set backs as the Dartmoor Riot which, like most prison riots, gave temporary encouragement to their opponents.“32 Mit dieser Einschätzung nähert sich Forsythe wieder den Ergebnissen von Leon Radzinowicz und Roger Hood an, die in ihrer 1986 erschienenen, von Foucault gänzlich unbeeindruckten Rechts- und Gefängnisgeschichte Emergence of Penal Policy einen „very optimistic approach towards crime and its control“33 in den englischen Zwischenkriegsjahren ausmachen. Bailey hat darüber hinaus schon vor Forsythe nachgewiesen, dass die Neuerungen und Verbes­ serungen in der Behandlung jugendlicher Straftäter den sozialreformerischen ­Anstrengungen von Männern wie Alexander Paterson, Prison Commissioner von 1922 bis 1947, zu verdanken waren, einem ehemaligen Sozialarbeiter, der gerade nicht bzw. noch nicht jenen neuen Verwaltungs- und Kontrolltechnokraten ver-

30 Bailey, 31 Ebd.

English Prisons, Penal Culture, S. 293.

32 Forsythe, 33 Siehe

Penal Discipline, S. 246. Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 778.

10   1. Einleitung körperte, den Max Weber als Träger des staatlichen Modernisierungsprozesses identifiziert.34 Betrachtet man die unterschiedlichen Bewertungen der historischen Entwicklung der englischen Kriminal- und Strafpolitik seit dem 19. Jahrhundert, so scheint es nicht verwunderlich, dass sie letztlich alle um die Frage kreisen: ­„Humanitarianism or Control?“35 Gerade weil England als Ursprungsland der Gefängnis­reformbewegung stets eine umfangreiche Beteiligung zahlreicher Philanthropen und Sozialreformer an den Aushandlungsdebatten über Kriminalität aufzuweisen hatte, erscheint die Frage, wie deren Einsatz beurteilt werden sollte, zentral für das Verständnis der englischen Entwicklungen. Zugleich ist nicht zu leugnen, dass sich auch in England wachsende Sozialkontrolle durch den Staat, der zunehmend soziale Aufgaben übernahm, beobachten lässt. Auch in seiner Strafpolitik wurde seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts immer mehr experimentiert, reglementiert und therapiert, dazu angeregt und angeleitet durch die sich entwickelnden und um Statusausbau bemühten Humanwissenschaften, besonders im medizinisch-psychiatrischen Bereich. Bislang ist die Vorstellung einer Komplizenschaft von Wissen und Macht dabei kaum in Frage gestellt worden, vielleicht auch deshalb, weil Foucault relativ eingängig ihr symbiotisches Verhältnis beschrieben hat. Die Aufwertung der menschlichen Freiheit in der Aufklärung hätte umgehend, so sein Argument, eine verfeinerte Disziplinierungstechnik notwendig gemacht, weil auf der Suche nach dem autonomen, selbstbestimmten Subjekt die Humanwissenschaften immer nur ein abhängiges, determiniertes, von Leidenschaften und Instinkten getriebenes, unberechenbares und irrationales menschliches Wesen hätten ausfindig machen können. Laut Foucault hat sich dabei die Frage aufgedrängt, wie man mit einem solchen Subjekt politisch verfahren sollte. Anders als in der deutschen Forschung, wo sich bereits mehrere Arbeiten mit der Entwicklung kriminologischen Wissens, das sich schließlich zur Kriminologie als Wissenschaft verdichtete, beschäftigt haben,36 fehlen solche Arbeiten über die englische Entwicklung. Schwierig und bislang nicht geklärt ist dabei die Frage, welche Rolle den neuen Humanwissenschaften eigentlich tatsächlich in den von vielen unterschiedlichen Akteuren (Experten, Laien, Praktikern, Politikern, Beamten) getragenen Aushandlungsprozessen über Kriminalität und Normalität im englischen Reformprozess zukam. In 34 Zu

Paterson siehe Bailey, Delinquency, S. 195 f.; ders., English Prisons, Penal Culture, S. 300. Nach Aussagen des Sozial- und Gefängnisreformers Stephen Hobhouse war der Prison Commissioner Alexander Paterson „the guiding and most beneficent spirit of that powerful body, revolutionising a large part of prison treatment by substituting educational methods for the rigid and stupid punitive regime.“ Stephen Hobhouse, Forty Years and an Epilogue: An Autobiography, London 1951, S. 178–179. 35 So lautete das Thema einer von Martin Wiener organisierten Konferenz: ders. (Hrsg.), Humanitarianism or Control? A Symposium on Aspects of Nineteenth Century Social Reform in Britain and America, in: Rice University Studies 67 (1981). 36 Siehe Anm. 5; besonders bei Wetzell (Inventing the Criminal) und Becker (Verderbnis und ­Entartung) geht es vor allem um wissenschaftsimmanente Sichtweisen, die untersucht werden.

1.2. Zum Forschungsstand: Wissen und Macht   11

der englischen Kriminalitätsforschung findet sich dazu bislang wenig. Weder bei Forsythe und Bailey, noch bei Radzinowisz und Hood stehen die Ausarbeitung und Analyse des in verschiedenen Disziplinen entwickelten ‚neuen Wissens‘ über Kriminalität und Straftäter und sein Einfluss auf die englische Strafpolitik im Vordergrund. Forsythe verweist am Ende seines Buches nur ganz allgemein auf die Entwicklungen der human sciences, die sich in den Zwischenkriegsjahren durch den Versuch ausgezeichnet hätten, „to integrate the environmental and constitutional explanations of the formation of attitude and conduct“.37 Und Bailey belässt es in seiner Studie bei einer kurzen Darstellung des psychologischen Konzeptes von Cyril Burt, der als educational psychologist in den zwanziger und dreißiger Jahren in England großen Einfluss auf die Erklärung jugendlicher Delinquenz und daraus abgeleiteter Therapieformen hatte.38 Einzig Garland konstruiert eine Art positivistische Kriminologie durch die geschickte Kombination aus Zitaten italienischer Kriminologen und ihren wenigen englischen Anhängern wie Havelock Ellis oder Alfred Tredgold. Er vermag es aber keineswegs, den Stellenwert dieser Theorien in England überzeugend darzulegen. Weder waren sie hier entstanden, noch wurden sie ausreichend breit rezipiert. Bei der Eugenik sah das anders aus. Sie ging ganz wesentlich auf die Forschungen Francis Galtons, Charles Darwins Cousin, zurück und hatte, zumindest zeitweise, breitere öffentliche Resonanz gefunden. Garland, der sich auf den positivistischeugenischen Diskurs als wissenschaftlichen Stichwortgeber für die Neuerungen in der penal policy konzentriert, gelangt dabei ohne Schwierigkeiten zum Entwurf einer wachsenden culture of control, denn fraglos repräsentieren eugenische Ansätze am deutlichsten den Wunsch nach staatlicher Intervention in Form von Kontrolle, Eingriff, Separierung und Ausgrenzung, mithin den Bereich der Foucaultschen ‚Biopolitik‘, die nicht mehr auf die Disziplinierung einzelner Körper, sondern auf die Führung der Bevölkerung zielt.39 Nur drei Arbeiten haben bislang die konkrete Entwicklung kriminologischen Wissens in England zum Thema gemacht, allerdings – den deutschen Studien vergleichbar – ausschließlich mit Blick auf den medizinisch-psychiatrischen Be-

37 Siehe

Forsythe, Penal Discipline, S. 155. Bailey, Delinquency, S. 13–17. 39 Zum Begriff der ‚Biopolitik‘, die nicht mehr auf staatliche Bevormundung und Bestrafung abzielt, sondern auf eine vor allem gesundheitliche Wohlfahrt der Bevölkerung, in die diese selbst aktiv miteingebunden werden soll, siehe Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität, Bd. I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesungen am Collège de France 1977–1978, Frankfurt am Main 2004; ders., Geschichte der Gouvernementalität, Bd. II: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesungen am Collège de France 1978–1979, Frankfurt am Main 2004; ders., Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974–1975), Frankfurt am Main 2003, S. 413–420; ders., In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–1976), Frankfurt am Main 1999, S. 295–300; siehe dazu auch Pasquale Pasquinto, Criminology. The Birth of a Special Knowledge, in: Graham Burchell, Colin Gordon und Peter Miller (Hrsg.), The Foucault Effect. Studies in Governmentality, London 1991, S. 235–250, bes. S. 242. 38 Vgl.

12   1. Einleitung reich. Joe Sims Studie über Medical Power in Prisons von 199040 und Stephen Watsons unveröffentlichte Dissertation The Moral Imbecile: A Study of the Relations Between Penal Practice and Psychiatric Knowledge of the Habitual Criminal41 analysieren die Produktion von Wissen über den Delinquenten durch Gefängnisärzte im Spannungsfeld von institutionellen Sachzwängen (Aufrechterhaltung der Disziplin, Isolierung von Simulanten, Separierung von geistig kranken Straf­ tätern)42 und den Direktiven staatlicher Bürokratie. Die jüngste Arbeit, die sich der Entwicklung kriminologischen Wissens in England‘ widmet, ist die 2004 erschienene Untersuchung Les Visages de la criminalité: à la recherche d’un crimineltype scientifique en Angleterre, 1860–1914 von Neil Davie, die ein Jahr später in englischer Übersetzung unter dem Titel Tracing the Criminal mit dem viel versprechenden Untertitel The Rise of Scientific Criminology in Britain, 1860–1918 erschien.43 Auch Davie beschränkt sich auf die Analyse der medizinisch-psychiatrischen Diskurse: Phrenologie, Psychiatrie und Eugenik bezeichnen die Gegenstandsbereiche seiner Studie. Wie Sim und Watson macht er deutlich, wie intensiv die kriminologischen Debatten über die Täterkonstitution von englischen und schottischen Gefängnisärzten geführt wurden, erklärt aber die Ablehnung euge­ nischer Ansätze durch die Psychiater vor allem mit den vested interests ihrer ­Profession, die an die Erfolge ihrer Kollegen aus dem national health movement ­anknüpfen wollten. Deterministische Theorien über den Verbrecher hätten das Selbstverständnis der Profession verletzt und gleichzeitig ihre professionellen Wirkungsmöglichkeiten eingeschränkt. Der These von Davie ist durchaus zuzustimmen, aber sie greift zu kurz. Indem Davie nur den psychiatrischen Diskurs und dessen immanente Überlegungen in den Blick nimmt, bringt er sich um die Möglichkeit zu zeigen, wie im Kampf um 40 Joe Sim, Medical

Power in Prisons. The Prison Medical Service in England 1774–1989, Milton Keynes und Philadelphia 1990. 41 Stephen Watson, The Moral Imbecile: A Study of the Relations Between Penal Practice and Psychiatric Knowledge of the Habitual Criminal [unveröff. Ph.D.], University of Lancaster, 1988; siehe auch ders., Malingerers, the ‚Weakminded‘ Criminal and the ‚Moral Imbecile‘: How the English Prison Medical Officer Became an Expert in Mental Deficiency, 1880–1930, in: Michael Clarke und Catherine Crawford (Hrsg.), Legal Medicine in History, Cambridge 1994, S. 223–241; ders., Applying Foucault. Some Problems Encountered in the Application of Foucault’s Methods to the History of Medicine in Prisons, in: Colin Jones und Roy Porter (Hrsg.), Reassessing Foucault: Power, Medicine and the Body (1994), London [Nachdruck] 2006, S. 132–151. 42 Müller, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat, verfolgt den gleichen Ansatz, die Arbeiten von Sim und Watson erwähnt er allerdings nicht. 43 Neil Davie, Les Visages de la criminalité: à la recherche d’un criminel-type scientifique en Angleterre, 1860–1914, Paris 2004; engl. Übers.: Neil Davie, Tracing the Criminal. The Rise of Scientific Criminology in Britain, 1860–1918, Oxford 2005; siehe auch ders., Criminal Man Revisited? Continuity and Change in British Criminology, c. 1865–1918, in: Journal of Victorian Culture 8 (2003), S. 1-32; ders., A ‚Criminal Type‘ in All but Name: British Prison Medical Officers and the ‚Anthropological‘ Approach to the Study of Crime (c. 1865–1895), in: Victorian Review 29 (2003), S. 1–27; ders., ‚Entre le fou et le sauvage‘: les théories scientifiques du criminel en Angleterre (1850–1914), in: Michael Prum (Hrsg.), Corps étrangers, Paris 2002, S. 129–161.

1.3. Die Protagonisten der Diskurse: zur Quellenlage   13

die Deutungshoheit der verschiedenen Ansätze sich jene Theorien und Konzepte durchsetzten, die sich mit vorherrschenden politischen, sozialen und selbst noch religiösen Überzeugungen als kompatibel erwiesen. Nicht die wissenschaftsimmanente Glaubwürdigkeit des Ansatzes war dabei entscheidend, sondern seine Fähigkeit, bestimmte politische und gesellschaftliche Erwartungen zu treffen. Um genau diese Kompatibilität aber sichtbar zu machen, ist eine Erweiterung der Untersuchungsbasis und des Untersuchungszeitraums notwendig, denn nicht nur in Gefängnissen und Psychiatrien ist kriminologisches Wissen entstanden, sondern auch in statistischen Gesellschaften, Militärkrankenhäusern oder privaten psychoanalytischen Instituten. Die Tatsache, dass auch in England viele Mediziner und Psychiater im Kriminalitätsdiskurs Deutungshoheit beanspruchten, sollte nicht vorschnell dazu verleiten, von einer vollständigen Verwissenschaftlichung der Diskurse auszugehen. Auch gilt es, sich eine gewisse Skepsis gegenüber dem oft behaupteten, auf den ersten Blick so plausibel erscheinenden Paradigmenwechsel zu bewahren, der – angeblich durch den Aufstieg der Naturwissenschaften eingeläutet – eine deutliche Verschiebung der Grundlagen des Strafrechts von der Tat zum Täter bewirkt habe.

1.3. Die Protagonisten der Diskurse: zur Quellenlage Die aktive Debattenkultur und die Vielzahl wissenschaftlicher und sozialreformerischer Kriminalitätsdiskurse in England spiegeln sich in der Pluralität der für die Studie herangezogenen Quellen wider. Auch wenn Foucaults Machtanalyse ohne die Benennung von Akteuren auskommt, eine historische Untersuchung wie die vorliegende muss die Protagonisten, ihre Diskursräume und ihre möglichen Grenzüberschreitungen konkret benennen.44 Für die staatlichen Aushandlungsprozesse über Kriminalität sind die Akten des Innenministeriums zentral. Da bis vor wenigen Jahren in Großbritannien kein eigenständiges Justizministerium existierte,45 waren im Untersuchungszeitraum – nach einer Aufstellung aus dem Jahr 1913 – innerhalb des Home Office vier verschiedene Abteilungen mit rechtlichen Fragen, Fragen der Strafpraxis und des Polizeidienstes betraut.46 Das Innenministerium publizierte jährliche criminal 44 Siehe

auch Désirée Schauz, Strafen als moralische Besserung. Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge 1777–1933, München 2008, S. 28–29. 45 Der erste britische Justizminister (zugleich Lordkanzler) wurde Jack Straw (Juni 2007–Mai 2010). 46 Die Abteilungen für Strafrechtsangelegenheiten im Home Office waren: Division C (bestehend aus einem assistant secretary, einem senior clerk und zwei junior clerks), zuständig für „prerogative of mercy except re sentences of penal servitude and preventive detention; extradition; prisons; probation except re children under 16; criminal lunatics; police, county and borough; disturbances and riots; coroners; production of prisoners; colonial prisoners’ ­removal; salaries and fees of justices’ clerks and clerks of the peace; other matters relating to criminal justice“; Division D (gleiche Personalzusammensetzung wie in Division C), zuständig für „reformatory and industrial schools; children – protection, cruelty, probation etc.; chil-

14   1. Einleitung statistics, wobei die den Tabellen und Auflistungen vorangestellten Einleitungen von besonderem Interesse waren, da sie Auskunft darüber gaben, wie von offizieller Seite aus bestimmte Kriminalitätsbewegungen und -erscheinungsformen wahrgenommen und beurteilt wurden. Zu den wichtigen Regierungsquellen zählen auch die einflussreichen Berichte parlamentarischer Untersuchungsausschüsse und -kommissionen. Hier ist besonders von Interesse, wer von den Untersuchungsgremien als Experte in kriminologischen Fragen angehört wurde bzw. als Gutachter fungierte und welche Empfehlungen von den Kommissionen ausgingen, wie diese begründet und welche davon umgesetzt wurden. Die jedermann zugänglichen Berichte wurden in den Zeitschriften der Reformgesellschaften und in der Times ausführlich kommentiert. Sie beeinflussten die Haltung der Mittelund Oberschichten zur Kriminalität in nicht unerheblichem Maße. Spezifische Debatten des britischen Unterhauses wurden für die Studie ebenfalls herangezogen, besonders wenn es sich um Debatten über eine Änderung in der Strafgesetzgebung handelte. Den vielleicht größten Anteil an den Diskussionen über die Ursachen von ­Kriminalität auf staatlicher Seite hatten allerdings nicht die Verwaltungsbeamten des Innenministeriums, sondern die Mitglieder der Prison Commission.47 Dieses Gremium wurde 1877 mit dem Ziel geschaffen, die Verwaltung von bis dahin in England und Wales kommunal geführten local prisons mit den sogenannten ­convict prisons, die seit 1850 einem staatlichen, aus vier Mitgliedern bestehenden Board of Directors of Convict Prisons unterstellt waren, zu vereinheitlichen.48 Die convict prisons (den deutschen Zuchthäusern vergleichbar) waren für ‚Schwerverbrecher‘ als Ersatz für das Deportationssystem49 eingerichtet worden, das ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr an Bedeutung verlor und schließlich ganz eingestellt wurde. 1877 wurde die Verwaltung der local prisons offiziell an das Innenministerium übertragen und eine permanente Kommission mit madren’s courts; employment of children; probation officers; white slave traffic; obscene publications“; Division E (gleiche Personalzusammensetzung wie Division C), verantwortlich u. a. für „prerogative of mercy re sentences of penal servitude and preventive detention, including petitions, licences, revocations and forfeiture of licence and administration of convicts’ property“; Division F (bestehend aus einem assistant secretary, einem senior clerk, einem junior clerk), zuständig u. a. für „metropolitan police; metropolitan police courts; minor police questions not assigned elsewhere; asylums and lunatics“ u. a. m.; siehe Tabelle HO 45/11095/ B27590/2, The National Archives in Kew (TNA); abgedruckt auch in Jill Pellow, The Home Office, 1848–1914. From Clerks to Bureaucrats, London 1982, Appendix C. 47 Die Unterlagen der Prison Commission befinden sich unter der Signatur PCOM in The National Archives in Kew (TNA), ebenso wie die Akten des Innenministeriums unter HO (Home Office). 48 Zur Übernahme der local prisons und der Schaffung der Prison Commission siehe McConville, History of English Prison Administration, S. 468–482; bei den local prisons handelte es sich um Gefängnisse in den einzelnen Grafschaften (counties) und Verwaltungsdistrikten (boroughs), deren Verwaltung bis 1877 den kommunalen Behörden unterstand. Zu den convict prisons siehe auch Rose, Struggle for Penal Reform, S. 3–6, zu den local prisons ebd. S. 6–13, und Séan McConville, English Local Prisons, 1860–1900. Next Only to Death, London und New York 1995. 49 Es wurde aber die Bezeichnung der Verurteilung zu penal servitude beibehalten.

1.3. Die Protagonisten der Diskurse: zur Quellenlage   15

ximal fünf Mitgliedern eingerichtet, das Board of Commissioners.50 Als Mitglieder wurden in erster Linie Mitarbeiter des civil service ausgewählt, die alle schon Erfahrung in der Verwaltung besaßen. Bei den der Kommission zugestellten Schriftleitern handelte es sich um ehemalige Gefängnisgouverneure, also um Strafvollzugsbeamte, die mit der Verwaltungspraxis von Gefängnissen vertraut waren.51 Der Vorsitzende des Board of Directors of Convict Prisons wurde gleichzeitig zum Vorsitzenden des neuen Board of Commissioners ernannt, eine Regelung, die im Prison Act von 1898 dann auch gesetzlich festgeschrieben wurde. Obwohl jedes der beiden Gremien weiterhin einen eigenen rechtlichen Status besaß und für eine eigene Klasse von Gefangenen (local/convict) zuständig war, führte die gemeinsame Kommissionsarbeit faktisch zu einer Verschmelzung der Gre­ mien. Als eine solche einheitliche Verwaltungsinstitution wurde die Prison Commission in der Öffentlichkeit auch wahrgenommen.52 Die Prison Commission unterstand dem Innenminister, der wiederum dem Parlament gegenüber für alle seine Verwaltungsabteilungen verantwortlich war. Spannungen zwischen Home Office und Prison Commission ergaben sich nicht nur aufgrund von Kompetenzstreitigkeiten in Einzelfällen,53 sondern auch aufgrund einer gewissen Theorie­ feindlichkeit des Home Office. Während sich die Beamten des Innenministeriums selten auf kriminologische Grundsatzdebatten einließen, zeigten sich einige Mitglieder der Prison Commission sehr an den kontinentaleuropäischen, vor allem aber an den amerikanischen Entwicklungen auf dem Gebiet des Strafvollzugs und der Präventionspolitik und ihren wissenschaftlichen Begründungen interessiert. Ab 1895 nahmen Mitglieder der Prison Commission regelmäßig an den Internationalen Gefängniskongressen teil, während sie sowohl den kriminalanthropologischen Kongressen der Italienischen Schule als auch der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (IKV) fern blieben.54 Der 1895 zum Vorsitzenden der Prison Commission berufene Evelyn RugglesBrise war bestrebt, sein Gremium zu einer modernen, effizienten und professio50 Zu

den folgenden Informationen siehe Evelyn Ruggles-Brise, The English Prison System, London 1921, S. 18–19; Forsythe, Penal Discipline, S. 40 f. und S. 153. 51 Edward Clayton arbeitete von 1895–1908, Basil Thomson von 1908–1913 als secretary in der Prison Commission, siehe Forsythe, Penal Discipline, S. 41. 52 Seit dem Prevention of Crime Act von 1908 erstreckte sich die Verwaltung der Prison Commission auf vier Bereiche: die lokalen Gefängnisse, die Zuchthäuser, die speziellen Einrichtungen für jugendliche Straftäter zwischen 16 und 21 (borstals) und das speziell für die Erfordernisse der Sicherungsverwahrung neu gebaute Gefängnis Camp Hill auf der Isle of Wight. 53 Forsythe führt in seinem Buch (Penal Discipline, S. 35–37) eine ganze Reihe von Beispielen für die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Home Office und Prison Commission auf, u. a. die Entlassung zweier Gefängnisaufseher in Warwick durch den Prison Commissioner RugglesBrise, nachdem diese einen Strafgefangenen unter ihrer Bewachung auf ein Bier mit in den öffentlichen Pub genommen hatten. Der damalige Home Secretary Winston Churchill protestierte gegen die seiner Meinung nach zu drastische Strafe und bestand darauf, dass Personalfragen durch ihn entschieden werden müssten. Ruggles-Brise wiederum rechtfertigte sein Vorgehen mit dem Verweis, dass die Prison Commission „by long custom and for administrative convenience“ in solchen Fällen entscheide und als „the interpreters of [the Home Secretary’s] pleasure“ auftrete und handle; zit. nach Forsythe, Penal Discipline, S. 37. 54 Siehe dazu ausführlicher den Exkurs 3.10. in dieser Arbeit.

16   1. Einleitung nellen Verwaltungseinheit auszubauen. Seit 1898 gehörte – nicht zuletzt aufgrund des Drucks medizinischer Organisationen wie der British Medical Association – immer ein ausgebildeter Mediziner der fünfköpfigen Kommission an. Nach 1910 musste dieser Medical Commissioner zuvor bereits als Medical Inspector of Prisons, also als staatlich angestellter Gefängnisinspektor des Innenministeriums, Erfahrungen im Strafvollzug gesammelt haben.55 Nach 1921 wurden vom Medical Commissioner vor allem Erfahrungen in der Gefängnispsychiatrie erwartet, von einem weiteren Mitglied Erfahrungen in der aktiven Sozialarbeit.56 Der Medical Commissioner fungierte allgemein als Ansprechpartner für die medizinische ­Belegschaft der einzelnen Gefängnisse und zugleich als Berichterstatter, der die ­Prison Commission und das Home Office über alle Angelegenheiten informierte, die die körperliche und geistige Verfassung der Gefängnisinsassen betrafen. Unterstützt wurde er bei dieser Aufgabe von einem Team von Gefängnisinspektoren, die seit 1877 ebenfalls zu den staatlichen Mitarbeitern zählten. Sie galten als die ­eigentlichen Verbindungsmänner zwischen Zentrale und Peripherie, da sie auch ­dafür Sorge tragen mussten, dass die Empfehlungen und Regelvorschriften der Prison Commission vor Ort in den Gefängnissen tatsächlich umgesetzt wurden. Auf Druck von Frauenorganisationen und vor dem Hintergrund inhaftierter Suffragetten wurde Dr. Mary Gordon, eine in der Harley Street praktizierende Ärztin, 1908 als erste Lady Inspector of Prisons berufen. Gordon unterbrach ihren Dienst nur während des Ersten Weltkrieges, um in einem Militärlazarett in Frankreich zu arbeiten. Nach dem Krieg nahm sie ihre Inspektorentätigkeit wieder auf.57 55 Die

Gefängnisinspektoren gab es seit der Verabschiedung des Act for effecting greater Uniformity of Practice in the Government of the Several Prisons in England and Wales (5 und 6 Will. IV C. 38) 1835, allerdings zunächst noch als „a body of advisers and watchdogs in respect of the local prisons administered by the county and borough magistrates“, Forsythe, Penal Discipline, S. 41; siehe dazu McConville, A History of Prison Administration, S. 170–186; Thomas Nutz, Strafanstalt als Besserungsmaschine. Reformdiskurs und Gefängniswissenschaft, 1775–1848, München 2001, S. 279 f. Die Inspektoren bereisten und besuchten die Anstalten und erstellten für die lokale Verwaltung Berichte, zugleich übernahmen sie beratende Funktionen und machten die Gefängnisleitung mit neueren Erkenntnissen der „Gefängniskunde“ vertraut. Ihre Arbeit galt der Aufdeckung von Missständen sowie der Durchsetzung einheitlicher Verwaltungsformen. In England wurde u. a. William Crawford, vormaliger Sekretär der Society for the Improvement of Prison Discipline, zum Inspektor ernannt. Als Be­ fürworter des Einzelhaftsystems gelang es ihm und seinen Kollegen, die lokalen Behörden zu entsprechenden Umbauten ihrer Gefängnisse zu veranlassen, durch die, wie Thomas Nutz in Anlehnung an Séan McConville schreibt, „eine mit keinem anderen Staat vergleichbare Einheitlichkeit des Haftsystems erreicht werden konnte.“ (Nutz, Strafanstalt, S, 280). Tatsächlich blieb der Streit über die großen Unterschiede in den lokalen Strafanstalten Englands und Wales aber noch bis in die 1920er Jahre virulent. Aus diesem Grund wurden auch die Inspektoren 1877 zwar offiziell dem Innenministerium unterstellt, als Mitarbeiter aber der Prison Commission zugeordnet. Zum Modelgefängnis Pentonville, das das Einzelhaftsystem am rigorosesten repräsentierte und nach dessen Vorbild 54 neue Gefängnisse mit über 11 000 Einzelzellen errichtet wurden, siehe Nutz, Strafanstalt als Besserungsmaschine, S. 195–207. 56 Siehe dazu C. Edward Troup, The Home Office, London 1925, S. 117; Troup war Permanent Under-Secretary im Innenministerium (vgl. Wiener, Reconstructing the Criminal, S. 381). 57 Zu Mary Louisa Gordons Berufung und Tätigkeit siehe Forsythe, Penal Discipline, S. 36 f., S. 41; Gordon hatte Kontakt zur führenden Frauenrechtlerin Emmeline Pethwick-Lawrence.

1.3. Die Protagonisten der Diskurse: zur Quellenlage   17

Die Prison Commissioners gaben jährliche reports heraus (Reports of the Commissioners of Prisons and the Directors of Convict Prisons), in deren Anhang sich auch die Gutachten von Gefängnisärzten oder die Berichte von Gefängnisdirektoren befanden. Viele Mitglieder der Prison Commission waren darüber hinaus publizistisch tätig (z. B. Edmund du Cane, Evelyn Ruggles-Brise, Harold Scott, Bryan Horatio Donkin, William Norwood East, Alexander Paterson, Lionel Fox, Basil Thomson u. a.). Ihre Vorträge, Monographien, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel lieferten für die vorliegende Studie wichtige Anhaltspunkte zur Einstellung von Regierungsbeamten. Mit dem Gefängnissystem verbunden ist auch die zweite Quellengruppe, die für die vorliegende Untersuchung von zentraler Bedeutung ist. Kriminologische Debatten wurden in Großbritannien besonders von im öffentlichen Dienst tätigen Gefängnisärzten und -psychiatern geführt. Die meisten von ihnen waren aber nicht nur Beamte, sondern zugleich Mitglieder privat organisierter Berufsvereinigungen (z. B. British Medical Association, Medico-Psychological Association of Great Britain and Ireland)58, die nicht nur als Pressuregroup Druck auf Regierung und staatliche Verwaltung ausübten, sondern ihre Arbeit zugleich als eine gemeinnützige verstanden und einer breiteren Öffentlichkeit vermitteln wollten. Als Foren der medizinisch-psychiatrischen Diskurse fungierten neben den einzelnen Monographien der Gefängnisärzte und -psychiater vor allem ihre Beiträge in Fachzeitschriften wie The Journal of Mental Science, The Lancet, The British Me­ dical Journal, The British Journal of Psychology und The British Journal of Medical Psychology. Der größte Quellenkorpus, der der vorliegenden Studie zugrunde liegt, repräsentiert Teile einer engagierten britischen Öffentlichkeit, die sich mit den Fragen von Kriminalität und kriminellem Verhalten auseinandersetzte.59 Da es in dieser Studie in erster Linie um die Aushandlungsprozesse zwischen Wissenschaft und Gesellschaft geht, in die sich der Staat immer wieder einschaltete, konzentriert sich die Auswertung besonders auf solche Diskursräume, die so etwas wie ‚Schnittmengen‘ aus beiden Bereichen bilden, d. h. autonome öffentliche Vereinigungen waren, die sich nach eigenem Verständnis dem Problem von Kriminalität und Verbrecherkonstitution wissenschaftlich nähern wollten, sich dabei aber zugleich in der Rolle des zivilgesellschaftlichen Dienstleisters für das Gemeinwohl gesehen haben.60 Zu diesen Vereinen, die im Laufe der Studie an entsprechender Stelle ausführlicher vorgestellt werden, gehören die Statistical Society of London (gegr. Als 1914 Scotland Yard Pethick-Lawrences Wohnung durchsuchte, wurden auch Briefe von Gordon gefunden, die man an das Home Office weiter leitete; Gordon gehörte zu den radikalen Gefängniskritikern, siehe dies., Penal Discipline, London 1922, und die Besprechung des Buches in The Howard Journal 2 (1922), S. 86–87. 58 Die Medico-Legal Society wurde relativ spät gegründet und beschäftigte sich primär mit Rechtsfragen und weniger mit wissenschaftlichen Grundlagen; für die vorliegende Arbeit ­waren ihre Verhandlungen zu spezifisch. 59 Zum Konzept der Teilöffentlichkeiten siehe Jörg Requate, Öffentlichkeit und Medien als ­Gegenstände historischer Analyse, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 5–32. 60 Zum Begriff der Zivilgesellschaft siehe Kap. 1.4.

18   1. Einleitung 1834), die Medico-Psychological Association of Great Britain and Ireland (gegr. 1841), die British Medical Association (gegr. 1856), die National Association for the Promotion of Social Sciences (kurz Social Science Association, gegr. 1857), die British Psychological Society (gegr. 1901/1906), die Sociological Society (gegr. 1904), die Eugenics Education Society (gegr. 1907) und die British Psycho-Analytical Society (gegr. 1919). Beiträge ihrer Mitglieder in Jahresberichten, Fachzeitschriften sowie Monographien, Tagungs- und Konferenzbände werden hier auf das Thema Kriminalität hin befragt und ausgewertet. Diese wissenschaftlich orientierten Gesellschaften, bei denen das Thema Kriminalitätsgenese und Straftäterkonstitution nur einen Schwerpunkt unter einer ganzen Reihe anderer bildete, wurden flankiert von den eigentlichen Gefängnisund Strafrechtsreformgesellschaften. Obwohl sich die Mitglieder dieser Gesellschaften nicht unbedingt selbst als Produzenten eines neuen kriminologischen Wissens verstanden, galten sie in der Öffentlichkeit aufgrund ihrer praktischen Erfahrungen – sei es im Umgang mit Strafgefangenen oder selbst als Strafgefangene61 – als Experten. Für die vorliegende Untersuchung sind die wichtigsten Gesellschaften die Howard Association (gegr. 1866), die Humanitarian League (gegr. 1891) und die Penal Reform League (gegr. 1907). Die Howard Association wurde 1866 von William Tallack, einem Quäker, in Anlehnung an die Arbeit des englischen Gefängnisreformers John Howard gegründet.62 Tallack hatte bis 1857 als Lehrer gearbeitet, kündigte dann aber seine Stelle und begab sich auf Reisen, u. a. in die Vereinigten Staaten, wo er zahlreiche Gefängnisse besichtigte. Nach England zurückgekehrt, engagierte er sich zunächst in der Society for the Abolition of Capital Punishment und war an den verschiedenen Gesetzentwürfen zur Abschaffung der Todesstrafe beteiligt.63 Erreichen konnte die Gesellschaft allerdings nur die Abschaffung öffentlicher Hinrichtungen (1868) und eine Verurteilung nach dem Schweregrad (degree of murder), ­wodurch die Zahl der zum Tode Verurteilten abnahm.64 Erst nach dem Ersten Weltkrieg gab es dann neue Kampagnen gegen die Todesstrafe.65 61 Militante

Suffragetten, Kriegsdienstverweigerer (conscientious objectors) während des Ersten Weltkriegs und irische Nationalisten bzw. Separatisten hatten alle Erfahrungen in englischen Gefängnissen gesammelt. 62 Zur Geschichte der Howard Association und William Tallack (1831–1908) siehe Gordon Rose, The Struggle for Penal Reform, London 1961; Arthur Robert Lee Gardner, The Howard League and Its Parents. Part 1: The Howard Association, in: The Howard Journal 1 (1928), S. 230–236; ders., The Howard League and Its Parents. Part 2: The Howard Association after 1901 and the Penal Reform League, in: The Howard Journal 3 (1/1930), S. 36–42. 63 Vgl. dazu Rose, Struggle for Penal Reform, S. 25–28; es gab insgesamt sechs solcher Eingaben von Seiten der Society: 1869, 1872, 1873, 1877, 1878 und 1881 (ebd. S. 28). 64 Siehe dazu Seán McConville, Civilizing Punishment: The End of the Public Execution in England, in: Journal of British Studies 33 (1994), S. 257–282; unter kulturgeschichtlicher Perspektive V.A.C. Gatrell, The Hanging Tree. Execution and the English People 1770–1868, Oxford 1994, bes. S. 589–611 (Kap. 1868: Ending the Spectacle). 65 Diese neue Bewegung war vor allem mit dem Namen Eric Roy Calvert (1898–1933) verbunden, der Mitglied der Howard League war, siehe ders., Capital Punishment in the Twentieth Century, London und New York 1927; vgl. auch Maurice Hamblin Smith, The Shame of Cap-

1.3. Die Protagonisten der Diskurse: zur Quellenlage   19

Für die Howard Association war die Abschaffung der Todesstrafe nur eines unter vielen anderen Anliegen.66 Darunter fielen „1. The more humane treatment of prioners; 2. Disuse of degrading punishments [z. B. treadmill, S.F.]; 3. The abolition of prolonged cellular isolation; 4. Establishment of adult reformatories; 5. Adoption of the Probation system; 6. Establishment of Children’s Courts, that children may not besuffered to come into the environment of crime; 6. Allowance of Time for Payment of Fines; 8. Preventive Detention for habitual and confirmed criminals.“67 Bis zum Ersten Weltkrieg wurden die meisten dieser Forderungen durch den Gesetzgeber erfüllt.68 Durch den Prison Act von 1898 wurde hard ­labour (u. a. das Laufen auf einer Tretmühle) abgeschafft. Der Probation of Offend­ ers Act von 1907 führte die Bewährungsstrafe ein; auf den Children’s Act von 1908 ging die Etablierung von Jugendgerichten, auf den Prevention of Crime Act aus dem gleichen Jahr die Schaffung der Sicherungsverwahrung für Gewohnheitsverbrecher zurück; 1914 schaffte der Criminal Justice Administration Act Gefängnisstrafen unter fünf Tagen ab und erlaubte einen größeren Zeitraum für die Zahlung von Geldstrafen (fines), wodurch die Zahl der aufgrund ihrer Zahlungsunfähigkeit Inhaftierten drastisch reduziert wurde.69 Das starke Absinken der englischen Gefängnispopulation vor dem Ersten Weltkrieg ging nicht auf einen Rückgang der Straftaten, sondern auf einen veränderten gesetzlichen Umgang mit diesen Straftaten zurück. In den ersten 35 Jahren bestimmte William Tallack nahezu im Alleingang die Geschicke der Gesellschaft. Erst nach seinem Ausscheiden, 1901, erfuhr sie eine deutliche Säkularisierung und Professionalisierung. Während Tallack bis auf ­seine privat unternommenen Gefängnisinspektionen keinerlei direkte Erfahrung mit Strafgefangenen besaß,70 kamen seine Nachfolger alle aus dem Umfeld von Gerichtsarbeit und Bewährungshilfe. Thomas Holmes, Geschäftsführer von 1906–1916,71 betreute als police court missioner Menschen, die auf ihren Geital Punishment, in: The Penal Reformer. Published Quarterly by the Howard League for Penal Reform 1 (1934), S. 6–7. 1930 wurde ein Select Committee on Capital Punishment einberufen, das allerdings nicht die generelle Abschaffung der Todesstrafe empfahl; unter den Mitgliedern der Howard Association gab es unterschiedliche Auffassungen zur Todesstrafe. Ihre Ablehnung war keine Voraussetzung für die Mitgliedschaft, wie dies häufig in den Fußnoten der Publikationen betont wurde, siehe dazu Rose, Struggle for Penal Reform, S. 28, Anm. 39. 66 „Object of the Howard Association – To promote Efficient Methods for the Prevention and Treatment of Crime and Juvenile Delinquency“, hier zit. nach Cecil Leeson, The Child and the War. Being notes on Juvenile Delinquency, London 1917 [Report published for the Howard Association], S. 1. 67 Zit. nach Leeson, The Child and the War, S. 1; zu den frühen „Objects“ siehe auch Arthur Gordon Rose, Some Influences on English Penal Reform, 1895–1921, in: Sociological Review 47 (1955), S. 25–46, hier S. 32 f. 68 Zu den folgenden Angaben vgl. Bailey, English Prisons, Penal Culture, S. 289 f. 69 Siehe Gardner in The Howard Journal (1930), S. 39. 70 Vgl. Rose, Struggle for Penal Reform, S. 42: „He was forced to rely upon communications from prison warders or chaplains which he had no means of checking.“ 71 Der Quäker Edward Grubb vertrat die Stelle des Geschäftsführers (secretary) von 1901 bis 1904, danach war die Stelle bis zu Holmes Übernahme 1906 zwei Jahre vakant, siehe Gardner in The Howard Journal (1930), S. 36; Wiener, Reconstructing the Criminal, S. 345.

20   1. Einleitung richtsprozess warteten. „The difference between Mr. Tallack and Mr. Holmes“, so hieß es 1930 im Howard Journal, „was the difference between the old and the new learning in their respective attitudes towards human nature. Mr. Tallack believed before he observed; Mr. Holmes had a belief founded on minute observation. It was the difference between the methods of the moralist and the man of scientific difference.“72 Holmes verstand sich als Vermittler zwischen gefängniskundlichem und kriminologischem Wissen, publizierte mehrere Bücher und hielt Vorträge. Holmes Nachfolger Cecil Leeson, der die Howard Association von 1916 bis 1919 leitete, gehörte zu den ersten professionell ausgebildeten, säku­ laren Bewährungshelfern in Birmingham.73 Aufgrund seiner Ausbildung und Tätigkeit kritisierte Leeson, der 1914 seine Diplomarbeit in social studies über The Probation System veröffentlichte, die missionarischen Intentionen der christlichen Gefangenenfürsorge, die immer noch auf moralische Besserung und Bekehrung des sündigen Straftäters setzten.74 Für die Howard Association stand nach 1914 dagegen eine aufgeklärte und säkularisierte Jugend- und Bewährungsarbeit im Vordergrund. Entsprechend änderte sich ihre Zielsetzung: „1. Better application of the Probation of Offenders Act; 2. Establishment of a proper system for the training, appointment, supervision and payment of Probation Offi­ cers; 3. Establishment of specialised prisons suitable to the age and capacity of prisons; 4. Establishment of Juvenile Court Clinics“.75 Für den Einfluss medizinischer und psychiatrischer Diskussionen spricht, dass sich die Howard Association sowohl mit Fragen der Behandlung von geistig und körperlich defizitären Strafgefangenen beschäftigte, für die spezielle Einrichtungen und therapeutische Zentren gefordert wurden, als auch generell mit Fragen über die Wirkung des Gefängnisses auf die psychische Verfassung der Insassen. 1921 fusionierte die Howard Association mit der Penal Reform League (s. u.) zur heute noch einflussreichen Howard League for Penal Reform. Die Leitung der fusionierten Gesellschaft übernahm die Friedensrichterin (Justice of the Peace, J.P.) Margery Fry,76 während Cecil Leeson den Vorsitz der 1920 gegründeten Magistrates Asso-

72 Gardner

in The Howard Journal (1930), S. 36. dazu Rose, Some Influences, S. 33; siehe auch Cecil Leeson, The Probation System, London 1914; Gardner in The Howard Journal (1930), S. 39 f. 74 Siehe dazu auch William McWilliams, The Mission Transformed: Professionalisation of Probation Between the Wars, in: The Howard Journal 24 (1985), S. 257–274; die Church of England Temperance Society stellte durch ihre Police Court Mission die meisten christlichen Bewährungshelfer; siehe auch Kap. 6.4. 75 „What the Howard Association Hopes to Achieve“ (1917), hier zit. nach Leeson, The Child and the War, S. 2; u. a. „Establishment of State Industrial Schools, Reformatories, and Borstal Institutions for physically defective offenders; better classification of prisoners; medical rather than penal treatment for epileptic and mentally defective offenders; adoption of the Indeterminate Sentence, and Parole System“ (ebd.); zur Diskussion über die Sicherungsverwahrung (preventive detention) siehe Kap. 3.8. 76 Margery Fry leitete die Howard Association bis 1926, danach übernahm sie die Leitung des Sommerville College in Oxford, blieb aber weiterhin Vorsitzende des Komitees der Howard Association, siehe Gardner in The Howard Journal (1930), S. 41. 73 Siehe

1.3. Die Protagonisten der Diskurse: zur Quellenlage   21

ciation übernahm,77 die zunächst finanziell von der Howard Association unterstützt wurde. „The object of The Howard Journal and The Howard League“, hieß es 1921 in der Erklärung zur Fusion, „is to effect such an alteration in criminal jurisprudence that its basis and purpose shall be to ‚improve the prisoner‘, not wholly, nor even chiefly, for the prisoner’s sake, but because we hold that no system of treating crime is a safe system unless it aims at protecting the community by reclaiming the offender.“78 Die Humanitarian League wurde 1891 vom sozialistischen Pazifisten Henry Salt gegründet.79 Salt war Master of Eton College, bevor er sich auf ein Landgut in Surrey zurückzog, um sich humanitären Aufgaben zu widmen.80 Seine Liga war keine primär religiös motivierte Bewegung, sondern eher eine Protestbewegung gegen die repressiven Konventionen des spätviktorianischen Zeitalters.81 Eine Reihe progressiver Intellektueller zählte zu ihren Mitgliedern, darunter George Bernard Shaw, Edward Carpenter, Havelock Ellis und der Gefängniskaplan und Kriminologe William Douglas Morrison. Anders als William Tallack, dem es vor allem um die Durchsetzung von Einzelreformen ging, verfolgten die Reformer der Humanitarian League einen grundsätzlichen Wandel des Strafzwecks. Auf der Basis rational begründbarer ethischer Prinzipien sollte nicht mehr Abschreckung oder Vergeltung, sondern einzig die Reformierung des Strafgefangenen als „Strafzweck“ anerkannt werden. Dabei plädierten sie für eine „more scientific view of crime“.82 Gefängnisse in ihrer herkömmlichen Art wurden von den Mitgliedern der Humanitarian League abgelehnt, sie forderten stattdessen ihre Umrüstung in „industrial asylums“, in denen die Strafgefangenen zu „Bürgern“ ausgebildet werden sollten.83 1896 wurde innerhalb der Liga ein eigenes Criminal Law and Prisons Department geschaffen, das sich für die Abschaffung körperlicher Strafen und der Todesstrafe, für das Einstellen von Grausamkeiten jeglicher Art gegen Menschen und Tiere und für faire Gerichts-

77 Die

1920 gegründete Magistrates Association war der Verband der Laienrichter (magistrates), sie verhandelte in erster Linie praktische Fragen der Profession; die 1913 gegründete National Association of Probation Officers (NAPO) repräsentierte die Gruppe staatlicher Bewährungshelfer. 78 The Howard Journal 1 (Oktober 1921), S. 1. 79 Zum Folgenden siehe bes. Bailey, English Prisons, S. 305 f. 80 Zur Geschichte der Humanitarian League siehe Rose, Struggle for Penal Reform, S. 56 f.; Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Reform, S. 697, Anm. 38; Garland, Punishment and Welfare, S. 109; Wiener, Reconstructing the Criminal, S. 335; auch die von der Liga he­ rausgegeben Zeitschrift (ab 1895) Humanity, (ab 1900) Humane Review, (ab 1902) The ­Humanitarian; zum Gründer Henry Salt siehe Henry S. Salt, Seventy Years among Savages, London 1921; George Hendrick, Henry Salt: Humanitarian Reformer and Man of Letters, Urbana/Ill. 1977; Dan Weinbren, Against All Cruelty: The Humanitarian League, 1891–1919, in: History Workshop Journal 38 (1994), S. 92–95. 81 Zur Humanitarian League siehe Rose, Some Influences, S. 28–30. 82 Vgl. Edward Carpenter, Prisons, Police and Punishment. An Inquiry into the Causes and Treatment of Crime and Criminals, London 1905, S. 120; Bailey, English Prisons, S. 307. 83 Carpenter, Prisons, Police and Punishment, S. 61–77; ders., England’s Ideal and Other Papers on Social Subjects, London 1887, S. 1–22; siehe auch Kap. 7.

22   1. Einleitung prozesse einsetzte:84 „Avoiding politics and economics, as enough debated elsewhere“, erklärte die Liga ihr Programm, „we shall therefore endeavour to represent, more fully than has hitherto been done, what we may perhaps venture to call the higher ethics – the ethics of humaneness […] Among the subjects dealt with will be […] the criminal law and prison system, capital and corporal ­punishments, the municiplations of hospitals and the […] amelioration of ­treatment of animals (as in vivisection, blood-sports, the fur and feather trade &&)“.85 Zu den theoretisch profiliertesten Mitgliedern des kriminologischen Diskurses der Humanitarian League zählten Havelock Ellis und William Douglas Morrison. Der Mediziner und spätere Sexualforscher Ellis, einer der ganz wenigen Engländer, die an den internationalen kriminalanthropologischen Kongressen teilnah­ men,86 versuchte mit seiner 1890 publizierten Arbeit The Criminal die englische Gesellschaft mit Lombrosos Denken vertraut zu machen. Kriminalität war für ihn in erster Linie eine Krankheit, die es individuell zu behandeln und zu kurieren galt. Vorübergehend ‚flirtete‘ auch der Gefängnisgeistliche von Wandsworth, William Douglas Morrison,87 mit kriminalanthropologischen Ansätzen und verteidigte eine streng deterministisch ausgerichtete Sicht auf Delinquenz und Kriminalität. Durch diesen ‚wissenschaftlichen‘ Bezug versprach er sich anfangs bessere Chancen für die Verwirklichung grundlegender Gefängnisreformen. In den von Morrison herausgegebenen Criminological Series erschienen Werke von Lombroso88 – wenn auch keine Übersetzung von L’uomo delinquente –, Enrico Ferri und Morrisons eigene Arbeiten über Crime and Its Causes (1891) und Juvenile Delinquency (1896). Morrisons Positivismus verschwand allerdings bald, nachdem ihm die Unvereinbarkeit von deterministischen Ansätzen mit den Vorstellungen einer Reformierung des Straftäters klar wurde. Als Kenner der kriminologischen Debatten hielt der anglikanische Reverend auch Vorträge in der Statistical Society und war Autor des ersten und – so lässt sich vorwegnehmen – lange Zeit einzigen Beitrags über Crime and Criminals in der Sociological Review der Sociological Society. Die Initiative zur Gründung der Penal Reform League 1907 ging zum einen auf eine kleine Gruppe militanter englischer Suffragetten zurück, die durch ihre eigene Inhaftierung Erfahrungen mit dem englischen Gefängnissystem gesammelt hatten, zum anderen auf eine neue christlich-evangelikale Erweckungsbewe84 Siehe

Rose, Struggle for Penal Reform, S. 56 f.; Garland, Punishment and Welfare, S. 109; Wiener, Reconstructing the Criminal, S. 335. 85 Humanitarian League, Introductory, April 1900, S. 1 f. 86 Siehe dazu ausführlicher den Exkurs dieser Arbeit (Kap. 3.10). 87 Zu Morrison siehe Gerald D. Robin, William Douglas Morrison (1852–1943), in: Hermann Mannheim (Hrsg.), Pioneers in Criminology, 2. erw. Aufl. Montclair/New Jersey 1973, S. 341—360; Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 86–88; Bailey, English Prisons, S. 307. Morrison wurde in Canada geboren und arbeitete von 1882 bis 1908 als Prison Chaplain (Church of England) im Gefängnis von Wandsworth in London. 88 Vgl. Cesare Lombroso und William Ferrero, The Female Offender, London 1895 (Einführung von William Douglas Morrison).

1.3. Die Protagonisten der Diskurse: zur Quellenlage   23

gung.89 Die Penal Reform League, so schreibt Arthur Gardner, „was from its very inception tinged with that emancipated mental outlook which at the time was not calculated to impress the Home Office authorities in a favourable fashion“.90 Die Liga setzte sich für die Rückgewinnung des Straftäters durch ein erzieherisches und therapeutisches Gefängniskonzept ein und versuchte besonders die Öffentlichkeit auf die negativen psychischen Effekte auf Geist und Seele von Strafgefangenen aufmerksam zu machen.91 Ihre Ziele waren: „(1) To obtain and circulate accurate information concerning criminals and their treatment; (2) To promote a sound public opinion on the subject; (3) To help to bring about a more complete and effective co-operation between the public and public servants for the reclamation of criminals by a curative and educative system.“92 Ähnlich wie der Gründer der Humanitarian League, Henry Salt, und wie Edward Carpenter war auch der Geschäftsführer der Penal Reform League, Captain Arthur St. John, durch die pazifistischen Schriften Tolstois beeinflusst worden, der das Gute in jedem Menschen betonte.93 Geboren in Indien schlug St. John zunächst die in seiner Familie übliche militärische Laufbahn ein und diente in mehreren britischen Regimentern, bevor er in der Leitung der kleinen, mit wenig finanziellen Mitteln ausgestatteten Penal Reform League seine eigentliche Lebensaufgabe fand. Wie William Douglas Morrison war Arthur St. John ein Kenner der internationalen kriminologischen Literatur, die er häufig in verschiedenen Journalen und Zeitschriften rezensierte. St. John scheute sich auch nicht, mit Deputationen direkt im Home Office vorstellig zu werden und gegen die Zustände in englischen Gefängnissen zu protestieren. Wie William Douglas Morrison und Margery Fry gehörte er einem 1919 ins Leben gerufenen Prison System Enquiry Committee an, das einen genauen Zustandsbericht zur aktuellen Lage britischer Gefängnisse verfasste und dabei mit Kritik nicht zurückhielt.94 Allen genannten Organisationen war gemeinsam, dass sie als non-governmental organisations (NGOs) Druck auf staatliche Institutionen, auf Parlament und Ver89 Nach

Estelle Sylvia Pankhurst (1882–1960) entstand die Idee zu dieser Liga 1907 während eines Frühstückstreffens zu Ehren von Mrs. Despard, die gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war, siehe Estelle Sylvia Pankhurst, The Suffragette Movement. An Intimate Account of Persons and Ideals, London 1931, S. 255; zur League siehe auch Bailey, English Prisons, Penal Culture, S. 308; Rose, Some Influences, S. 32 f. 90 Gardner in The Howard Journal (1930), S. 40. 91 Siehe zum Beispiel Arthur St. John, The Prison Regime, London 1913; als allgemeines Ziel formulierte die Liga: „To interest the public in the right treatment of criminals; and to promote effective measure for their cure and rehabilitation, and for the prevention of crime“, The Penal Reform League. Monthly Record2 (1910), S. 1. 92 Zit. nach Gardner in The Howard Journal (1930), S. 40. 93 Zum Einfluss Tolstois siehe Rose, Some Influences on English Penal Reform, S. 25–30. 94 Aus dieser Untersuchung ging der Band Stephen Hobhouse und Archibald Fenner ­Brockway (Hrsg.), English Prisons To-Day, London 1922, hervor; Stephen Hobhouse war der Neffe von Beatrice Webb, Archibald Fenner Brockway Sozialist und Mitglied der Howard Association; bereits früher war eine Studie über Geschichte der lokalen Gefängnisse erschienen: Sidney Webb und Beatrice Webb, English Prisons Under Local Government, 1689–1835, London 1919.

24   1. Einleitung waltung ausübten. Sie finanzierten Konferenzen und die Publikation von Journalen, Pamphleten, Büchern und Zeitschriften, die sie u. a. an interessierte Laien – darunter viele Laienrichter – versandten. Der Beitrag dieser ‚Humanitaristen‘ zum Wandel des englischen Strafvollzugs, darin ist Bailey zuzustimmen,95 sollte nicht unterschätzt werden, denn die von ihnen betriebene Lobbyarbeit setzte sowohl Prison Commission als auch Home Office enorm unter Druck. Dennoch stellt sich die Frage, welche Rolle diesen Gefängnis- und Strafrechtsreformgesellschaften in den Aushandlungsprozessen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zukam, in denen es primär um die Anerkennung wissenschaftlich fundierter kriminologischer Theorien und Konzepte ging. Auch wenn viele Gefängnisreformer als Experten auf dem Gebiet des Strafvollzugs betrachtet wurden, die einen wichtigen Beitrag zur Gefängniskunde oder Gefängniswissenschaft leisteten, so zählten sie doch nicht – Ausnahmen gab es freilich auch hier – zu den primären Produzenten kriminologischen Wissens, die die Erforschung der Ursachen von Kriminalität und kriminellem Verhalten mit wissenschaftlichen Methoden verfolgten. Die Bedeutung der Gefängnis- und Strafsrechtsreformgesellschaften liegt in einem anderen Bereich. Es war besonders die internationale Vernetzung vieler ihrer Mitglieder, die dazu beitrug, dass in England nicht nur die heimische, sondern auch die kontinentaleuropäische, besonders aber die amerikanische kriminologische Literatur rezipiert und einem breiteren Publikum über ein umfangreiches Rezensionswesen vorgestellt wurde. Da viele Gefängnisreformer zunehmend auf der Suche nach wissenschaftlichen Theorien und Konzepten waren, die die eigene Arbeit und die eigenen Ziele effektiv unterstützen konnten, fungierten sie in den Aushandlungsprozessen oft als kritische Kommentatoren der neueren Entwicklungen auf dem Gebiet der Kriminologie. Zugleich wurden sie durch ihre Öffentlichkeitsarbeit zu den eigentlichen Distribuenten kriminologischer Theorien. Bereits 1911 informierte Arthur St. John zum Beispiel in einem Zeitschriftenbeitrag über kriminalpolitische Entwicklungen in den USA über die Forschungen des Arztes Dr. William Healy, dessen Juvenile Psychopathic Institute er in Chicago besucht hatte.96 Erst vier Jahre später, 1915, erschien die dazu gehörige Studie The Individual Delinquent auf dem amerikanischen Buchmarkt.97 Die von den Gesellschaften herausgegebenen Zeitschriften, Monographien, Jahresberichte, Konferenz- und Tagungsbände sowie die Rezensionen einzelner Mitglieder (z. B. William Tallack, Thomas Holmes, Cecil Leeson, Arthur St. John, William Douglas Morrison, Havelock Ellis, William Clarke Hall, Leo Page u. a.), die vor allem in den Zeitschriften der wissenschaftlichen Gesellschaften erschienen (z. B. Sociological Review, Eugenics Review, Journal of Mental Science), werden für 95 Bailey,

English Prisons, S. 308.

96 Siehe Arthur St. John, Crime

and Eugenics in America, in: Eugenics Review 3 (1911), S. 118– 130. Trotz des Titels und des Publikationsorgans war St. John kein Eugeniker und auch kein Mitglied der Eugenischen Gesellschaft. Die Arbeit von Healy dürfte Eugeniker weniger interessiert haben, dafür aber andere, von St. John vorgestellte Schultypen, z. B. die New Jersey Training School for Feeble-minded Girls and Boys at Vineland, New Jersey. 97 Siehe dazu Kap. 6.5. dieser Arbeit.

1.4. Zum Ansatz der Studie: Wissenschaft und Zivilgesellschaft   25

die vorliegende Studie deshalb vor allem unter dem Aspekt der Rezeption, Interpretation und Distribution kriminologischer Theorien und Konzepte ausgewertet.

1.4. Zum Ansatz der Studie: Wissenschaft und ­Zivilgesellschaft Betrachtet man die Pluralität und Heterogenität englischer Kriminalitätsdiskurse, eben jene Partizipation von „many able and eminent persons, for the most part unconnected with the legal, or official, classes“,98 so stellt sich die Frage, mit welchem analytischen Instrumentarium sich die Wechselbeziehungen unterschied­ licher Diskurs- und Handlungsebenen von Gesellschaft, Wissenschaft und Staat am besten erforschen lassen. Ginge es primär um das Nachzeichnen wissenschaftsimmanenter Entwicklungen, dann könnte der Begriff der Medikalisierung – wie bislang häufig eingesetzt, aber inzwischen nicht nur von der englischen, sondern auch von der deutschen Kriminalitätsforschung stark relativiert99 – als theoretischer Ordnungsbegriff nach wie vor dienen. Es steht außer Frage, dass die Orientierung an bestimmten Professionalisierungs-, Rationalisierungs- und Disziplinierungstrategien, die mit dem Begriff Medikalisierung verbunden werden, in der Analyse historischer Kriminalitätsdiskurse immer noch hilfreich und sinnvoll ist.100 Doch sollte die Medikalisierungsthese nicht den Blick auf jene exoterischen   98 Ruggles-Brise,

Prison Reform, S. 16. dazu Schauz und Freitag, Verbrecher im Visier der Experten, S. 18–20; während ­Richard Wetzell (Inventing the Criminal) und Peter Becker (Verderbnis und Entartung) noch ein deutliches Anwachsen medizinischer Dominanz in der deutschen Kriminologie ausmachen, haben Sylviana Galassi (Kriminologie im Kaiserreich), Christian Müller (Verbrechensbekämpfung) und in gewisser Weise auch Imanuel Baumann (Verbrechen) die ­Medikalisierungsthese auf unterschiedliche Weise relativiert. Galassi vertritt in ihrer Kriminologiegeschichte die These einer eingeschränkten Medikalisierung, da die psychiatrischen Erklärungsmodelle gegenüber den konkreten kriminalpolitischen Zielen nachrangig behandelt und insbesondere der strafrechtswissenschaftlichen Argumentation untergeordnet worden seien. Müllers partielle Revision resultiert dagegen aus einer Analyse der Anstaltspraxis. Er verweist auf die konkreten institutionellen Handlungszwänge, die den Vorstoß der Psychiater auf das strafrechtlich definierte Gebiet motivierten und deren medizinische Definition von Kriminellen mitbestimmten. Dem Selbstverständnis der psychiatrischen Anstalten als Heilanstalten entsprechend forderten Mediziner gesonderte institutionelle Lösungen für kriminelle Geisteskranke. Die Praxis dieser neu eingerichteten „Irrenabteilungen“ lässt sich deshalb noch lange nicht als eine Form der Medikalisierung bezeichnen, da die Überweisung in diese Einrichtungen mehrheitlich nicht aufgrund einer medizinischen Diagnose, sondern durch den Wunsch der Gefängnisverwaltung bestimmt wurde, unangepasste Querulanten abzuschieben. Baumann schließlich hebt das ständige Oszillieren zwischen den Faktoren Anlage und Umwelt in den kriminologischen Diskursen hervor. In Anbetracht dieses Wechselspiels steht immer noch die Beantwortung der Frage aus, welcher Stellenwert den kriminalsoziologischen und –statistischen Interpretationen in den deutschen Reformdebatten zukam. 100 Vgl. dazu auch Müller, Verbrechensbekämpfung, S. 20: Theoretische Konzepte sollten dabei allerdings „nicht als apriorische Erklärungen, sondern als heuristische Hilfsmittel benutzt werden, um Leitfragen zu gewinnen und die empirischen Befunde zu ordnen.“   99 Siehe

26   1. Einleitung Argumente und Konstellationen verstellen, die in den Aushandlungsprozessen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ebenfalls zum Tragen kommen und möglicherweise mit darüber entscheiden, ob neue wissenschaftliche Wissensbestände gesellschaftlich angenommen oder aber verworfen werden.101 Geht es nicht nur um eine Analyse der wissenschaftlichen Beiträge zur Deutung von abweichendem Verhalten und einer daraus resultierenden Formulierung kriminalpolitischer Strategien, dann stellt sich im Kontext der gesellschaftlichen Einbettung wissenschaftlicher Kriminalitätsdiskurse die Frage, wie sich der Verwissenschaftlichungsprozess selbst gestaltet, d. h., wodurch er initiiert und in Gang gehalten wird. Worin lagen, so ist in einer historischen Studie zu fragen, die Probleme und Grenzen des Verwissenschaftlichungsprozesses, worin lag aber auch sein mögliches politisches Potential, und zwar nicht unbedingt im Sinne einer Komplizenschaft mit der Macht, sondern im Sinne einer Beförderung egalitärer, nicht-fanatischer Vorstellungen vom Menschen (z. B. der Kriminelle als gewöhnlicher man in the street) und der Überzeugung, dass Wissenschaft als demokratische Kraft eine Rolle in der Emanzipation der Gesellschaft spielen könnte.

Civil Society Nimmt man die Spezifika der englischen Diskursräume in den Blick, fällt sogleich auf, dass die wichtigsten Anstöße zu den Debatten über Kriminalität nicht von einer akademischen Strafrechts- und Kriminalwissenschaft, sondern von der Gesellschaft gegeben wurden. Deshalb kann für Großbritannien die Kategorie der Zivilgesellschaft als heuristischer Leitbegriff dienen. Gerade weil auch wissenschaftliche Kriminalitätsdiskurse in Großbritannien von einer Vielzahl unterschiedlichster Akteure getragen und in einer Vielzahl unterschiedlicher Diskursräume ausgetragen wurden, statt sich auf universitäre oder akademische Räume zu beschränken, bietet sich das Konzept der Zivilgesellschaft für eine Studie über die Aushandlungsprozesse zwischen Staat, Wissenschaft und Gesellschaft an. Es kann zu einer genaueren Bestimmung jener Öffentlichkeiten oder auch Teilöffentlichkeiten102 beitragen, die sich besonders in England als Reformgesellschaften und autonome Assoziationen mit wissenschaftlichem Anspruch dem Pro­ blem der Kriminalitätsgenese und Verbrecherkonstitution nähern wollten. Die Studie kann damit zugleich auf zivilgesellschaftliche Elemente und Momente aufmerksam machen, die sich in wissenschaftlichen Debatten über Kriminalität wiederfinden lassen. Nicht nur neuere empirisch-historische Studien haben inzwischen in solchen Assoziationen den Ursprungs- und Kernbereich zivilgesell-

101 Sie

dazu Ulrike Felt u. a., Wissenschaftsforschung. Eine Einführung, Frankfurt am Main und New York 1995, bes. S. 20–21, S. 62–65 und S. 116–117; auch Bruno Latour, Der Blutkreislauf der Wissenschaft. Joliots wissenschaftliche Intelligenz als Beispiel, in: ders. (Hrsg.), Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 96–136. 102 Zum Konzept der Teilöffentlichkeiten siehe Requate, Öffentlichkeit, S. 5–32.

1.4. Zum Ansatz der Studie: Wissenschaft und Zivilgesellschaft   27

schaftlichen Handelns ausgemacht,103 auch in sozialwissenschaftlichen Studien sind sie als ‚Kristallisationskerne‘ von Zivilgesellschaft in den Blick genommen worden.104 Um deutlich zu machen, auf welche Weise die vorliegende Studie Zivilgesellschaft als „Leitbegriff zur Deutung der Vergangenheit“105 in Anspruch nehmen möchte, ist es hilfreich, kurz an die in der Forschung verhandelten Konzeptionalisierungen und ihre Traditionslinien, an die „Vieldeutigkeit“ und „Funktionsviel­ falt“106 dieses schillernden und nicht selten unscharfen Begriffes zu erinnern.107 In der soziologischen, politikwissenschaftlichen und historischen Forschungsliteratur finden sich in erster Linie drei unterschiedliche Konzeptionalisierungen: räumliche (bereichslogische), normative (interaktions- und handlungslogische) und schließlich relativistische (historisierende) Konzepte. In Anlehnung an die Traditionen der Aufklärung108 bestimmen bereichslogische Konzeptionen Zivilgesellschaft in erster Linie mit Hilfe eines räumlichen Modells als autonomen Bereich zwischen Staat, Markt und Privatsphäre, der sich

103 Beispiele

finden sich in Frank Trentmann (Hrsg.), Paradoxes of Civil Society. New Perspectives on Modern German and British History, New York und Oxford 2000. 104 Vgl. z. B. Robert Putnam und die sogenannten Neo-Tocquevileans, Robert D. Putnam, Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy, Princeton 1993; besonders sein noch vor dem 11. September 2001 erschienenes Buch: ders., Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community, New York 2000. 105 Ralph Jessen und Sven Reichardt, Einleitung, in: Ralph Jessen, Sven Reichardt und Ansgar Klein (Hrsg.), Zivilgesellschaft als Geschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2004, S. 7–27, hier S. 7. 106 Dieter Gosewinkel, Zivilgesellschaft – eine Erschließung des Themas von seinen Grenzen her, Discussion Paper Nr. SP IV 2003–5005, Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung 2003, S. 1–31, hier S. 1. 107 Zum Folgenden vgl. Gosewinkel, Zivilgesellschaft – Erschließung des Themas, S. 3–7; Arnd Bauerkämper, Die Praxis der Zivilgesellschaft. Akteure und ihr Handeln in historisch-sozialwissenschaftlicher Perspektive, in: ders. (Hrsg.), Die Praxis der Zivilgesellschaft. Akteure, Handeln und Strukturen im internationalen Vergleich, Frankfurt am Main 2003, S. 7–30; Hans-Joachim Lauth, Zivilgesellschaft als Konzept und die Suche nach ihren Akteuren, in: Bauerkämper (Hrsg.), Die Praxis der Zivilgesellschaft, S. 31–54, bes. S. 35–40, Jürgen Kocka, Nachwort: Zivilgesellschaft. Begriff und Ergebnisse der historischen Forschung, in: Bauerkämper (Hrsg.), Die Praxis der Zivilgesellschaft, S. 429–439; Jürgen Kocka, Zivilgesellschaft als historisches Projekt: Moderne europäische Geschichtsforschung in vergleichender Absicht, in: Christof Dipper, Lutz Klinkhammer und Alexander Nützenadel (Hrsg.), Europäische Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder, Berlin 2000, S. 475–484; Jürgen Kocka, Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen, in: Manfred Hildermeier, Jürgen Kocka und Christoph Conrad (Hrsg.), Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Geschichte, Chancen, Frankfurt am Main 2000, S. 13–39; Günter Frankenberg, National, Supranational, Global. Ambivalenzen zivilgesellschaftlicher Praxis, in: Kritische Justiz 37 (2004), S. 21–37. 108 Einen guten, knappen Überblick über die historische Entwicklung des Begriffs gibt Thomas H. Broman, Introduction: Some Preliminary Considerations on Science and Civil Society, in: Osiris 17 (2002), S. 1–21, hier S. 7–11 (u. a. Ferguson, Locke, Rousseau, Montesquieu, Smith, Tocqueville); zur historischen Entwicklung freiwilliger Assoziationen in Großbritannien siehe Jeremy Kendall und Martin Knapp, The Voluntary Sector in the UK, Manchester und New York 1996, bes. S. 28–60 (History of the Voluntary Sector in the UK).

28   1. Einleitung durch eine eigene, spezifische Handlungslogik auszeichnet.109 Diesen Bereich, darüber besteht Einigkeit unter den Theoretikern der Zivilgesellschaft, kennzeichnet ein besonders hohes Maß an freiwilliger gesellschaftlicher Selbstorganisation, wie sie z. B. in Vereinen, Assoziationen, sozialen Bewegungen, den sogenannten ­non-govermental organisations (NGOs) oder voluntary societies, zum Ausdruck kommt.110 Debatten über bereichslogische Argumente betreffen vor allem unterschiedliche Auffassungen über die ‚Art‘ und den „Grad der Abgrenzung von Zivilgesellschaft“111 gegenüber Staat, Wirtschaft, Privatsphäre, also die Frage, wie strikt die Staatsferne als wesentliches Kennzeichen von Zivilgesellschaft definiert oder angenommen werden soll. Während Politikwissenschaftler wie Jean Cohen und Andrew Arato diese strikte Trennung vom Staat – „a sphere other than and even opposed to the state“ – als „common core“112 der Zivilgesellschaft verteidigt haben, gehen Jeffrey Alexander und andere von einer nur relativen Autonomie der Zivilgesellschaft gegenüber ‚angrenzenden‘ sozialen Sphären aus: „This kind of civil community can never exist as such, it can only exit ‚to one degree or another‘. One reason is that it is always interconnected with, and interpenetrated by, other more or less differentiated spheres which have their own criteria of justice and their own system of rewards. There is no reason to privilege any of these non-civil spheres over any other. The economy, the state, religion, science, the family – each differentiated sphere of activity is a defining characteristic of modern and post-modern societies […] I would suggest that we acknowledge social differentiation both as a fact and a process and that we study the boundary relationships between its spheres.“113 Im Verhältnis zum Staat erweist sich die Annahme einer strikten Trennung beider Bereiche als besonders problematisch, weil sie die Frage der Autonomie der Zivilgesellschaft als ein ihr wesentliches Merkmal berührt. Der Staat kann nicht nur als Widerpart zur Zivilgesellschaft (Absolutismus, Diktaturen) gedacht werden oder real auftreten, sondern auch (in Demokratien) als ihr Verbündeter, ­indem er die Bedingungen der Möglichkeit zivilgesellschaftlichen Handelns erst

109 In

soziologischer und politikwissenschaftlicher Literatur wird dieser Bereich oft mit dem Dritten Sektor gleichgesetzt oder der Dritte Sektor zumindest als Teilbereich der Zivilgesellschaft aufgefasst, vgl. dazu Ansgar Klein, Der Diskurs der Zivilgesellschaft. Politische Hintergründe und demokratietheoretische Folgerungen, Opladen 2001, bes. S. 145, Anm. 18; zur bürgerlichen Gesellschaft in der Rechtsphilosophie Hegels als Ausgangspunkte der Zivilgesellschaftsdebatte, siehe ebd. S. 295–309. 110 Vgl. dazu Klein, Diskurs der Zivilgesellschaft, S. 311–314; Gosewinkel, Zivilgesellschaft – Erschließung des Themas, S. 3; Bauerkämper, Praxis der Zivilgesellschaft, S. 9; Lauth, Zivilgesellschaft als Konzept, S. 38. 111 Gosewinkel, Zivilgesellschaft – Erschließung des Themas, S. 3 f. 112 Beide Zitate: Jean L. Cohen und Andrew Arato, Civil Society and Political Theory, Cambridge/Mass. und London 1992, S. 74; zu Hegels Synthese ebd. S. 91–105. 113 Jeffrey C. Alexander, Introduction. Civil Societies I, II, III: Constructing an Empirical Concept from Normative Controversies and Historical Transformations, in: ders. (Hrsg.), Real Civil Society. Dilemmas of Institutionalization, London 1998, S. 1–19, hier S. 7 f., Hervorhebung S.F.

1.4. Zum Ansatz der Studie: Wissenschaft und Zivilgesellschaft   29

herstellt bzw. rechtlich absichert.114 Unterschiedlichste Konstellationen sind hier denkbar: Was geschieht z. B. mit der Autonomie von zivilgesellschaftlichen Organisationen, wenn alle oder einige ihrer Akteure in den Staat inkorporiert werden? In welcher Weise verändert sich ein Staat, der aus Gründen eigener Legitimität zivilgesellschaftliche Anliegen zu seinen eigenen Aufgaben erhebt? In einer historischen Analyse wie der vorliegenden muss auf die variablen Grenzen zwischen Zivilgesellschaft und Staat, die von den jeweils am Aushandlungsprozess beteiligten Akteuren in konkreten Handlungskonstellationen situationsbedingt bestimmt werden, besonders geachtet werden.115 Schließlich, so lässt sich argumentieren, hofften und hoffen nicht wenige zivilgesellschaftlich organisierte Vereinigungen auf die Durchsetzung und Sicherung (durch Verrechtlichung) ihrer Forderungen mit Hilfe des Staates. Historische Untersuchungen, wie auch die vorliegende, können aufzeigen, dass zivilgesellschaftlich orientierte Akteure ihre eigene Tätigkeit als eine zur Durchsetzung und Stabilisierung von Demokratie beitragende Funktion betrachtet haben und dabei – sich selbst in der Vermittlerfunktion zwischen Staat und Gesellschaft begreifend – die strikte Exklusivität der bereichslogischen Unterscheidungen in ‚realen‘ Fällen oftmals überwunden haben. Die normativen Bestimmungen oder interaktionsbezogenen Definitionen von Zivilgesellschaft betonen besonders die Qualität der spezifischen sozialen Prak­ tiken, d. h. die besonderen Umgangs- und Kommunikationsformen, die den Bereich Zivilgesellschaft kennzeichnen. So hat z. B. Ute Hasenöhrl als Kernmerk­male eines zivilgesellschaftlichen Handlungsmodus den spezifischen Umgang mit Konflikten, diskursiv ausgetragene Problemlösungen, Öffentlichkeitsorientierung, die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme und die Ausrichtung auf einen „überpartikularen“ Zweck aufgeführt.116 Bereits Alexis de Tocqueville, der die amerikanischen Assoziationen und Vereine als Ort der praktischen Einübung in demokratische Verfahrensweisen beschrieben und damit ihre Sozialisierungsfunktion hervorgehoben hat, begriff diese Kennzeichen als wesentlich für eine zivilgesellschaftliche Organisation und als eine wichtige Voraussetzung für die wachsende Demokratisierung der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung in Amerika.117 Theoretiker des Kommunitarismus haben solche Überlegungen wei114 Vgl.

dazu Gosewinkel, Zivilgesellschaft – Erschließung des Themas, S. 9 f. dazu Bauerkämper, Praxis der Zivilgesellschaft, S. 9. 116 Vgl. dazu Ute Hassenöhrl, Zivilgesellschaft und Protest. Zur Geschichte der Umweltbewegungen in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1945 und 1980 am Beispiel Bayerns, Discussion Paper Nr. SP IV 2003–506, Berlin: Wissenschaftszentrum für Sozialforschung 2003, hier zitiert nach Gosewinkel, Zivilgesellschaft – Erschließung des Themas, S. 13. 117 Siehe dazu Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 2 Bde, Zürich 1987, Erster Teil, Über den politischen Verein (Assoziation) in den Vereinigten Staaten, S. 279–291, besonders aber auch die Abschnitte im Zweiten Teil über den „Einfluss der Demokratie auf das Gefühlsleben der Amerikaner“, S. 143–240; eine kritische Auseinandersetzung mit Tocquevilles Annahmen findet sich in Stefan-Ludwig Hoffmann, Civil Society and Democracy in Nineteenth Century Europe: Entanglements, Variations, Conflicts, Discussion Paper Nr. SP IV 2005–405, Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung 2005, S. 1–32, bes. S. 2–6 (Tocqueville as Analyst of the Human Soul in the Age of Democracy); eine frühere Version des Artikels findet sich in: ders., Democracy and Associations: Towards a Trans­ 115 Vgl.

30   1. Einleitung terentwickelt und theoretisch begründet.118 Das Problem der Verwendung eines solcherart normativ konstruierten Idealtyps von Zivilgesellschaft in historischen Arbeiten, der die überzeitliche Qualität der darin zum Ausdruck kommenden sozialen Praktiken betont, liegt darin, dass normative Erwartungen in den zu untersuchenden historischen Kontext hineingelesen werden und damit das Idealmodell selbst konstitutiv wird für den Nachweis von ‚Zivilität‘. Es bildet dann nämlich den Maßstab für einen Vergleich, mit dem die Defizite des untersuchten Bereichs festgestellt und beurteilt werden. Von diesem Problem sind auch Modelle nicht ausgenommen, die bereichs- und interaktionsbezogene Definitionen von Zivilgesellschaft kombinieren,119 indem sie die spezifischen Modi sozialen Handelns und Kommunizierens, die Zivilgesellschaften kennzeichnen, mit der Bestimmung eines Bereichs zwischen Staat, Wirtschaft und Privatsphäre als dem Ort ihrer Ausübung verbinden.120 Dieter Gosewinkel hat nun eine diskursgeschichtliche, relativistische Konzep­ tion von Zivilgesellschaft vorgeschlagen.121 Ein historisierender Zugang würde die dem Konzept Zivilgesellschaft immanenten Normen „relativ zu ihrer Zeit und ­damit als wandelbar“122 zu begreifen versuchen, indem er diese normativen Elemente selbst als „zentrales Movens, Agens und Programm in den Diskursen und Praktiken der Akteure von Zivilgesellschaft“123 ausmacht. Zu fragen wäre, auf welche Weise normative Elemente und Werthaltungen nicht nur im Selbstverständnis, sondern auch in den Handlungen der Akteure zum Ausdruck kommen. Kurz: an welchen normativen Elementen sich die Akteure selbst orientieren und wie diese in einem bestimmten historischen Kontext zum motivierenden Programm von Zivilgesellschaft werden. national Perspective“, in: Journal of Modern History 75 (2003), S. 269–299; Hoffmann verweist zurecht darauf, dass nicht jede freiwillige Assoziation zivilgesellschaftliche Kriterien erfüllt und von ihnen sogar anti-demokratische Effekte erzeugt werden können (vgl. ebd., S. 26 f.). Dass zivilgesellschaftliches Handeln Demokratie anderseits fördern kann, bestätigen dagegen die historischen Untersuchungen in Nancy Bermeo und Philipp Nord (Hrsg.), Civil Society before Democracy: Lessons from Nineteenth-Century Europe, Lanham/Md 2000, darin bes. Pilipp Nord, Introduction, S. XIII–XXXIII; Nancy Bermeo, Civil Society after ­Democracy. Some Conclusions, S. 237–260. 118 Zum Beispiel Michael Walzer und Robert D. Putnam. 119 So verbindet z. B. Jürgen Kocka Interaktionsmodi und Interaktionsbereiche zu einem spe­ zifischen Typus sozialen Handelns, vgl. Jürgen Kocka, Zivilgesellschaft in historischer Perspektive, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 16 (2003), Heft 2, S. 29–37, bes. S. 32 f. 120 Nach Jürgen Kocka weisen diese Bereiche eine besondere ‚Verdichtung‘ der spezifisch zivilgesellschaftlichen Formen der Interaktion auf, nur hier erweisen sie sich als dominant, während sie in anderen Bereichen (Staat, Markt) zwar auch angetroffen werden, aber nicht in gleicher Weise zum Tragen kommen. Letztlich bewahrt aber auch das ‚kombinierte Konzept‘ den Charakter von Zivilgesellschaft als ‚Utopie‘, eines noch nicht erfüllten Projekts; vgl. Kocka, Zivilgesellschaft in historischer Perspektive, S. 33; auch Gosewinkel, Zivilgesellschaft – Erschließung des Themas, S. 5. 121 Vgl. zum Folgenden ebd., S. 6 f. 122 Ebd. S. 6. 123 Ebd.

1.4. Zum Ansatz der Studie: Wissenschaft und Zivilgesellschaft   31

Doch auch ein relativistisches, historisierendes Konzept kann, so scheint es, l­lein schon aus begriffslogischen Gründen, nicht gänzlich auf die Bestimmung der im Konzept Zivilgesellschaft immanent angelegten Normen, die „essential attributes of civil society“,124 verzichten, weil dieses Konzept sonst als analytische ­Kategorie zur Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Zivilgesellschaft nicht taugen würde. ‚Zivilität‘ muss deshalb als nicht verhandelbare, konstitutive ­Verhaltensnorm von Zivilgesellschaft angenommen werden, die sich durch drei Strukturelemente auszeichnet: die Freiwilligkeit der Selbstorganisation,125 die wertorientierte Ausrichtung zivilgesellschaftlicher Bestrebungen auf das Gemeinwohl (res publica126) und die auf Verständigung ausgerichtete Diskussionskultur. Mit Blick auf die Gemeinwohlausrichtung sollte dabei der von Michael Walzer geäußerte Einwand berücksichtigt werden, wonach zivilgesellschaftliche Akteure normativ überfrachtet würden, „wenn man ihnen stets eine altruistische Gemeinwohlorientierung unterstellen würde“. Es sei für die Konzeption von Zivilgesellschaft vollkommen ausreichend, wenn die Akteure tendenziell bereit seien, „gemeinschaftsbezogene Aufgaben zu übernehmen.“127 In diesem Sinne verbindet die vorliegende Studie ein normativ minimalistisch definiertes Zivilgesellschaftskonzept mit einem relativistischen Ansatz. Nur die unverzichtbaren, zentralen Merkmale zivilgesellschaftlicher Praxis – Selbstorganisation, verständigungsorientierte Kommunikation, tendenzielle Gemeinwohlorientierung – werden bei der Analyse des historischen Kontextes von Kriminalitätsdiskursen in England vorausgesetzt, während alle weiteren inhaltlichen Bestimmungen, sowohl die qualitativen normativen Merkmale des zivilgesellschaftlichen Handelns als auch die je nach Kontext inhaltlich variierenden Bestimmungen des Gemeinwohls, als akteurs- und situationsabhängig gedacht und deshalb historisiert und kontextua­ lisiert werden. Zur Orientierung sollen dabei die von John A. Hall genannten Bedingungen dienen, die sich in seinen Untersuchungen zur Entstehung von ­Zivilität innerhalb einer Gesellschaft als relevant herausgestellt haben, und zwar soziale Lernfähigkeit und politische Begabung: „The most promising line in argument about the creation of civility in society, that is, the shared valuation of non124 Guido

Hausmann und Manfred Hettling, Artikel Civil Society, in: Encyclopedia of European Social History, Bd. 2, Detroit u. a. 2001, S. 489–497, hier S. 489. 125 Zur handlungsorientierten Perspektive siehe Günter Frankenberg, Die Verfassung der Republik: Autorität und Solidarität in der Zivilgesellschaft, Frankfurt am Main 1997, S. 55. 126 Siehe dazu Lauth, Zivilgesellschaft als Konzept, S. 38; siehe aber auch kritisch zur Verwendung des Gemeinwohlbegriffs als einem qualitativen normativen Kennzeichen zivilgesellschaftlichen Handels Ute Hasenöhrl, Zivilgesellschaft, Gemeinwohl und Kollektivgüter, Discussion Paper Nr. SP IV 2005–401, Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung 2005, S. 1–38; da die Füllung des Gemeinwohlbegriffs selbst so stark vom zeitlichen und personellen Rahmen abhängt, in dem er verwendet wird, plädiert Hasenöhrl für eine „strenge Historisierung und Kontextualisierung“ des Begriffs für die wissenschaftliche Analyse, zeigt aber zugleich die Grenzen einer akteurs- und situationsabhängigen Gemeinwohldefinition, wenn sie im Allgemeinen bleibt und keine Konkretisierung erfährt. 127 Beide Zitate nach Lauth, Zivilgesellschaft als Konzept, S. 39, der sich auf Michael Walzer, Was heißt zivile Gesellschaft? in: ders., Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie, Frankfurt am Main 1996, S. 64–97, bezieht.

32   1. Einleitung fanatical, non-enthusiastic politics as something positive, is one that depends […] upon historical conjuncture – making the creation of civil society an achievement of social learning and political skill rather than the result of some absolute fate determined by benign social evolution.“128

Wissenschaft und Zivilgesellschaft Während das komplexe Verhältnis von Zivilgesellschaft und Wissenschaft in der Zivilgesellschaftsforschung noch gar nicht in den Blick genommen wurde,129 begnügen sich auch viele wissenschaftshistorische Untersuchungen bislang mit einer einfachen Dichotomie von Wissenschaft und Gesellschaft bzw. Öffentlichkeit,130 wobei sich die analytischen Probleme vor allem aus der Suche nach einer angemessenen Beschreibung des Verhältnisses beider Bereiche zueinander, mithin der Frage nach der Art und Weise ihrer Austausch- und Aushandlungsbeziehungen ergeben.131 Dabei lässt sich Wissenschaft, zumal in bereichslogischen Konzepten, zunächst einmal ohne große Schwierigkeiten als ein wie Staat, Markt und Privatsphäre von Zivilgesellschaft getrennter, autonomer Bereich mit eigener Handlungslogik benennen. Nicht zuletzt Wissenschaftshistoriker und Soziologen wie Robert K. Merton und Niklas Luhmann haben nachdrücklich darauf verwiesen, wie sehr Wissenschaft als ein autonomer Bereich gedacht werden müsse, der von bestimmten Formen der Wissensproduktion und damit von einer spezifischen Form von Wissenskultur geprägt werde und deshalb unter keine der anderen Sphären subsumiert werden könne.132 Ähnlich wie im Verhältnis von Zivilgesellschaft und Staat ergibt sich aber auch im Verhältnis von Zivilgesellschaft und Wissenschaft die Frage nach Abgrenzung 128 John A. Hall, Reflections

on the Making of Civility in Society, in: Frank Trentmann (Hrsg.), Paradoxes of Civil Society. New Perspectives on Modern German and British History, 2. überarb. Aufl. New York und Oxford 2004, S. 47–57, hier S. 53, Hervorhebung S.F.; Hall bezieht sich hier auf die Studie von Ernest Gellner, Conditions of Liberty, London 1994, in der dieser die erzielte (Religions-)Toleranz nach den langen Religionskriege im Europa des 17. Jahrhunderts als Ergebnis eines solchen ‚Zusammentreffens‘ interpretiert. 129 Die klassischen Bereiche Staat, Markt, Privatsphäre sind Ausgangspunkt bei Jessen, Gosewinkel, Klein, u. a. 130 Die erste Konferenz zum Thema „Science and Civil Society“ fand im Jahr 2000 in Madison/ Wisconsin statt; Vorträge dieser Konferenz erschienen 2002 in der Zeitschrift Osiris: a reaseach journal devoted to the history of science and its cultural influences 17 (2002), publiziert von der amerikanischen History of Science Society; darin: Thomas H. Broman, Introduction. Some Preliminary Considerations of Science and Civil Society, S. 1–21, und Cecilia Applegate, The ‚Creative Possibilities of Science‘ in Civil Society and Public Life: A Commentary, S. 351–359. 131 Vgl. z. B. Sybilla Nikolov und Arne Schirrmacher (Hrsg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander. Studien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2007. 132 Vgl. dazu Robert K. Merton, The Sociology of Science: Theoretical and Empirical Investigations (hrsg. von Norman W. Storer), Chicago 1973; Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990, bes. Kap. Wissenschaft als System, S. 271–361; siehe auch Joseph Ben-David, The Profession of Science and its Powers, in: Minerva 10 (1972), S. 362–383.

1.4. Zum Ansatz der Studie: Wissenschaft und Zivilgesellschaft   33

bzw. Grenzüberschreitung der Sphären, nicht nur von Zivilgesellschaft und Wissenschaft, sondern auch von Wissenschaft und Staat und von Wissenschaft und Markt. Es lassen sich ja durchaus Wissenschaftler oder Wissenschaftsvereinigungen finden, die auch als Akteure in einem zivilgesellschaftlichen Kontext in ­Erscheinung treten oder die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Arbeit der Ver­ folgung zivilgesellschaftlicher Ziele zur Verfügung stellen. Auch existieren Konstellationen, in denen im Staatsdienst angestellte Wissenschaftler zugleich als Interessenvertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen auftreten. Und schließlich gibt es Situationen, in denen ein bestimmtes wissenschaftliches Wissen erst innerhalb eines zivilgesellschaftlichen Rahmens überhaupt produziert wird, d. h. sein Entstehen einem zivilgesellschaftlichen Kontext verdankt. Was, so müsste sich hier die Frage anschließen, ist mit Produzenten von wissenschaftlichem Wissen, die gar nicht dem wissenschaftlichen Sektor, wohl aber dem zivilgesellschaftlichen angehören? Die Vermutung liegt nahe, dass die gesellschaftliche Stellung und Anerkennung von Wissenschaftlern, nichtwissenschaftlichen Experten und spezialisierten Laien, sozusagen deren gesellschaftliche Verankerung, auch etwas über die Beschaffenheit der Gesellschaft selbst auszusagen vermag, über ihre Bereitschaft unterschiedliche Wissensformen zuzulassen und anzuerkennen. Die Annahme autonomer Bereiche mit unterschiedlichen Handlungslogiken sollte nicht bedeuten, so hat Hans-Joachim Lauth zu Recht eingewendet, dass Akteure der privaten, wirtschaftlichen, staatlichen oder – so ist hier hinzuzufügen – wissenschaftlichen Bereiche per se aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen sind. Sobald Akteure aus diesen Bereichen „zivilgesellschaftliche Funktionen wahrnehmen, sind sie in dieser Rolle Mitglied der Zivilgesellschaft […] Ausschlaggebend ist die funktionale Bestimmung der Rolle, die eingenommen wird.“133 Das von Lauth vorgeschlagene funktionale Rollenkonzepts erlaubt historischen Analysen nicht nur, unterschiedliche und sich wandelnde Akteure zivilgesellschaftlicher Diskurse zu identifizieren, sondern auch den „Grad der Intensität ihrer zivilgesellschaftlichen Involvierung (im jeweiligen Kontext) zu erfassen.“134 Ein weiterer Vorteil dieses Konzeptes liegt darin, dass es ganz auf ein a priori festgelegtes Akteursprofil verzichten kann, das sich an Kategorien wie Klasse, Rasse, Geschlecht oder Konfessionalität orientieren würde.135 133 Lauth, Zivilgesellschaft als Konzept, S. 39. 134 Ebd. 135 Dass die bürgerliche Gesellschaft nicht mit

Zivilgesellschaft gleichgesetzt werden kann, hat die neuere Forschung deutlich gemacht, siehe Kocka, Nachwort: Zivilgesellschaft. Begriffe und Ergebnisse der historischen Forschung, in: Bauerkämper (Hrsg.), Die Praxis der Zivilgesellschaft, S. 429–439, hier S. 436; zum Bereich Familie und Zivilgesellschaft siehe GunillaFriederike Budde, Das Öffentliche des Privaten. Die Familie als zivilgesellschaftliche Kerninstitution, in: Bauerkämper (Hrsg.), Die Praxis der Zivilgesellschaft, S. 57–75; zu Arbeiterschaft und Zivilgesellschaft siehe Jörn Grünewald, Arbeiter als die „anderen Akteure“ der Zivilgesellschaft. Die Übertragung von Zivilisiertheit an die europäische Peripherie während der Epoche der Russischen Revolution, in: Bauerkämper (Hrsg.), Die Praxis der Zivilgesellschaft, S. 161–187; Jürgen Schmidt, Zivilgesellschaft und nicht-bürgerliche Trägerschichten. Das Beispiel der frühen deutschen Arbeiterbewegung (ca. 1830–1880), Discussion Paper Nr. SP IV 2004–502, Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung 2004, S. 1–51.

34   1. Einleitung Gabriella Rosen hat in ihrem Versuch, das Verhältnis von Wissenschaft und Zivilgesellschaft für historische Analysen konzeptionell fruchtbar zu machen, auf die gleiche Form von Rationalität verwiesen, die zivilgesellschaftliches Engagement und wissenschaftliche Forschung auszeichne.136 In den Konzepten von Zivilgesellschaft spiele diese Rationalität als Grundlage für Toleranz und Pluralismus, die unterschiedliche Personen und ganze Gruppen zum Erreichen gemeinschaftlicher Zwecke zu verbinden vermöge, eine zentrale Rolle.137 Aufgrund dieser Rationalität konstituiere sich Zivilgesellschaft gerade in deutlicher Abkehr von Formen des Fanatismus.138 Wissenschaft ihrerseits sei nichts anderes als der deutlichste Ausdruck der gleichen Form von Rationalität. Die Hochachtung, die heutzutage von modernen Gesellschaften den Wissenschaften entgegengebracht werde, sei ein Indiz für die Anerkennung einer Rationalität, die Zivilgesellschaft und Wissenschaft miteinander teilten.139 Die Frage, die sich hier aufdrängt, lautet allerdings: Erschöpft sich zivilgesellschaftliche Rationalität in wissenschaftlicher Rationalität? Reicht wissenschaft­ liche Rationalität für zivilgesellschaftliche Begründungszusammenhänge aus? Müssen die Formen der Wahrheitsfindung in Zivilgesellschaften nicht komplexer gedacht werden, gerade weil die Ausrichtung auf das Gemeinwohl andere ‚Rationalitäten‘ (politische, praktische, ethische) mit ins Spiel bringt? Erscheint es nicht plausibler anzunehmen, dass wissenschaftliche Rationalität nur eine von vielen Rationalitäten darstellt, die zivilgesellschaftliche Praktiken bestimmen können? Einer historischen Analyse zivilgesellschaftlicher Kontexte käme unter dieser Annahme die Aufgabe zu, die im je spezifischen historischen Kontext wirksamen, mitunter auch im Konflikt miteinander befindlichen Rationalitäten des zivilgesellschaftlichen Diskurses und umgekehrt auch die im wissenschaftlichen Kontext operierenden zivilgesellschaftlichen Rationalitäten aufzuschlüsseln. Bei der Analyse vergangener Kriminalitätsdiskurse geht es dann darum zu untersuchen, ­welche Rationalitäten die Diskurse dominierten und was die aus einer solchen Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse wiederum über das Verhältnis von Zivil­ 136 Vgl.

Gabriella Rosen, Science and Civil Society: Lessons from an Organization at the Border­land, Discussion Paper Nr. SP IV 2003–501, Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für ­Sozialforschung 2003, S. 1–46, hier S. 3–6. 137 Zur Diskussion darüber, ob die ‚Huldigung der westeuropäischen Rationalität‘ selbst ein ideologisches Moment (Ethno- bzw. Eurozentrismus) in sich birgt, da sie andere, außer­ europäische Rationalitäten abwertet oder nicht anerkennt, siehe Rosen, Science and Civil Society, S. 4. 138 Vgl. dazu auch Hall, Reflections on the Making of Civility in Society, S. 54: „One element at work [in the conception of civil society, S.F.] is an opposition to the fanatical insistence that there is only one way to the truth. In this sense, civil society has about it a measure of relativism, for it asserts that difference is unavoidable, indeed desirable for those who insist that the ends of life are diverse.“ Die Idee, dass Zivilgesellschaften zwar durch Fanatismus bedroht werden, sich selbst aber durch Nicht-Fanatismus auszeichnen müssen, hat Dominique Colas, Civil Society and Fanaticism, Standford 1997, anschaulich entwickelt. 139 Siehe Rosen, Science and Civil Society, S. 5, wobei es hier zunächst keine Rolle spielt, in welchem Bereich (Philosophie oder naturwissenschaftliches Experiment) diese Vernunft bzw. Rationalität zur Anwendung kommt.

1.4. Zum Ansatz der Studie: Wissenschaft und Zivilgesellschaft   35

gesellschaft und Wissenschaft aussagen. Dabei sollte auch bedacht werden, dass Zivilgesellschaft nicht a priori als ein durch und durch säkularisierter Bereich betrachtet werden muss. Gerade in England haben sich evangelikale, non-konformistische Bewegungen nicht selten als die wichtigsten Impulsgeber für soziale Reformen herausgestellt. Hier lässt sich Philanthropie nicht nur als ein zentrales Element der Zivilgesellschaft nachweisen, sie war darüber hinaus, wie im zweiten Kapitel dieser Studie argumentiert wird, sogar konstitutiv für die Anfänge einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Kriminalität in England. Historische Untersuchungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Zivilgesellschaft sind nicht selten mit einem methodologischen Problem konfrontiert. Während es für die meisten modernen wissenschaftstheoretischen Untersuchungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft bzw. Öffentlichkeit kein Pro­ blem darstellt, den Bereich der Wissenschaft abzugrenzen140 – er ist sozusagen immer schon etabliert, bevor die Untersuchung beginnt –, stehen historische ­Studien zum Verhältnis von Wissenschaft und (Zivil-)gesellschaft und damit zum Verwissenschaftlichungsprozess vor der Schwierigkeit, dass das, was untersucht werden soll, noch gar nicht existiert bzw. erst im Entstehen begriffen und deshalb noch nicht in aller Deutlichkeit zu fassen ist. Da es in der vorliegenden Studie um die Rekonstruktion der Entwicklung tragfähiger Kriminalitätskonzepte innerhalb eines zivilgesellschaftlichen Rahmens geht, gilt für die Bestimmung des wissenschaftlichen Bereiches das Gleiche, was auch für die Bestimmung der konkreten Inhalte des Gemeinwohls im jeweiligen historischen Kontext gilt: Sie muss einer strengen Historisierung und Kontextualisierung unterworfen werden. Nicht ein wie auch immer a priori definiertes Wissenschaftsverständnis soll der Untersuchung den Weg leiten,141 sondern die Bedingungen der Entstehung von Wissenschaftsvorstellungen im jeweiligen zeitgenössischen Kontext selbst müssen in den Blick genommen werden. Durch die Rekonstruktion des in einem spezifischen historischen Kontext entwickelten bzw. vorherrschenden Wissenschaftsverständnisses innerhalb der zu untersuchenden zeitgenössischen Kriminalitätsdiskurse soll demonstriert werden, wie sehr sich die Bestimmung dessen, was Wissenschaft sein sollte, was sie zu leisten vermochte und in welche Dienste sie gestellt wurde, selbst einer spezifischen historischen Konstellation verdankte und damit historischem Wandel unterworfen war. Zu fragen ist dann, inwieweit diese historischen Konstellationen nicht nur von wissenschaftsimmanenten Logiken, sondern auch von zivilgesellschaftlichen bestimmt wurden. Mit Blick auf die Diskursräume wissenschaftlicher Kriminalitätsdebatten in Großbritannien lässt sich eine erste Ver140 Dies

gilt besonders für naturwissenschaftliche Wissenschaftsbereiche (z. B. Gentechnik), vgl. z. B. Renate Mayntz, Friedhelm Neidhardt, Peter Weingart und Ulrich Wengenroth (Hrsg.), Wissensproduktion und Wissenstransfer. Wissen im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, Bielefeld 2008. 141 Diesen Weg beschreitet z. B. Sylviana Gallassi in ihrer Arbeit zur Kriminologie im deutschen Kaiserreich, indem sie ‚moderne‘ Wissenschaftsmerkmale (z. B. Institutionalisierung) der Untersuchung voranstellt, vgl. den Abschnitt über Verwissenschaftlichung in Galassi, Kriminologie im Deutschen Kaiserreich, S. 16–24.

36   1. Einleitung mutung dahingehend formulieren, dass sich hier Wissenschaft in einem stärkeren Maße als zum Beispiel in Deutschland als ein selbstverständlicher Bestandteil der Zivilgesellschaft erweist, und zwar deshalb, weil Wissenschaft offensichtlich in Bereiche Einzug hält, in denen es in erster Linie um den konkreten sozialen Wandel und gar nicht so sehr um akademische Wissenschaft geht.

Zivilgesellschaft und Foucault Die Kategorie der Macht wird in der Regel in der Theorie der Zivilgesellschaft nicht mit verhandelt. Normativ zeichnet sich die Zivilgesellschaft durch Machtferne aus oder durch ihre Strategien, Macht zu neutralisieren.142 In bereichslogischen Ansätzen wird Macht außerhalb der Zivilgesellschaft lokalisiert und eher dem staatlichen Bereich zugeordnet. In interaktionslogischen Modellen, die wenigstens theoretisch von der Möglichkeit ‚herrschaftsfreier Diskurse‘143 in der zivil­gesellschaftlichen Sphäre ausgehen müssen, bleibt Macht von den sie be­ stimmenden Handlungsmodi konsequent ausgeschlossen. Doch gerade an der Kategorie Macht lassen sich die Ambivalenzen und „Schattenseiten“144 zivilgesellschaftlicher Konzepte aufzeigen, denn Machtansprüche und Machtkonflikte sind in allen sozialen Verhältnissen anzutreffen. Philanthropische und sozialreformerische, mithin zivilgesellschaftliche Bereiche, wie sie in der vorliegenden Arbeit eine Rolle spielen, sind keine machtfreien Zonen, schon ihre Entstehung verdankt sich bestimmten Herrschaftsverhältnissen, und die in ihnen ausgetragenen Diskurse schaffen neue oder reproduzieren vorhandene Machtstrukturen. Streng genommen kann jede Kommunikation zwischen Menschen als Machtausübung interpretiert werden, jede Gruppe (es muss ja keineswegs ein einzelner Herrscher sein, der im herkömmlichen Sinne Macht besitzt) konstituiert für sich ihre eigenen Machtverhältnisse, d. h. Beziehungen zu sich und den anderen. Für eine Untersuchung über Kriminalitätsdiskurse stellt sich dann die Frage: Wer generierte und dominierte das Thema Kriminalität in den Aushandlungsprozessen? Wer formulierte – möglicherweise auf Kosten anderer – die Aufgaben und Erwartungen einer Zivilgesellschaft im Hinblick auf kriminalpolitische Ziele? Welches Menschenbild wurde von wem favorisiert und gegen wen verteidigt? Konfrontiert mit den Ambivalenzen, die sich aus der „Diskrepanz von universellem Anspruch und partikularer Realität“,145 aus Problemen der Inklusion und

142 Vgl.

Ulrich Rödel, Günter Frankenberg und Helmut Dubiel, Die demokratische Frage, Frankfurt am Main 1989. 143 Zu den Annahmen einer ‚idealen Sprechsituation‘ siehe Jürgen Habermas, Rationalitätsund Sprachtheorie, Frankfurt am Main 2009, Kap. 5, S. 259–269; auch ders., Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: ders. und Niklas Lumann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung, Frankfurt am Main 1975, bes. S. 114–141. 144 Gosewinkel, Zivilgesellschaft – Erschließung des Themas, S. 15. 145 Ebd. S. 21.

1.4. Zum Ansatz der Studie: Wissenschaft und Zivilgesellschaft   37

Exklusion im Konzept der Zivilgesellschaft ergeben,146 gewinnen Foucaults Machtanalysen selbstredend wieder an Gewicht. In Foucaults Konzept der Gouvernementalität bezeichnen auch zivilgesellschaftliche Bereiche letztlich nur Orte, an denen moderne Machttechnologien generiert werden.147 Staatsfern agierend geht es hier nicht mehr um eine Fremdlenkung der Bürger durch den Staat, sondern um die Etablierung eines Systems von Selbstregulierung und Selbstregierung von Gruppen, die auf dieser Ebene effizienter und direkter das Verhalten ihrer eigenen Mitglieder regulieren und normieren können. Wenn Macht aber selbst produktiv ist, dann lässt sich Zivilgesellschaft zumindest als ein Ort bezeichnen, an dem möglicherweise mehr als im Vergleich zu anderen Orten Machtverhältnisse selbst thematisiert werden, ja, im Grunde über nichts anders verhandelt wird als über das politische und soziale Selbstverständnis ihrer Mitglieder und die Grundlagen der von ihnen akzeptierten Wertevorstellungen und Verhaltensnormen. Das Sich-Aneignen von wissenschaftlichen Kriminalitätsdiskursen durch zivilgesellschaftlich organisierte Gruppen lässt sich dann als Moment des Bestrebens beschreiben, Mitbestimmung und Mitsprache zu erlangen, vielleicht sogar in der Absicht, nicht exklusiv, sondern im Gegenteil inklusiv in dem Sinne zu wirken, dass sich die Kreise der an diesen Aushandlungsprozessen Beteiligten immer mehr ausweiten. In späteren Jahren hat sich Foucault selbst auf die Suche nach möglichen Haltungen und Techniken gemacht, mit deren Hilfe sich Subjekte dem allseitigen Reguliert-Werden entziehen können.148 In Konzepten wie der ‚Sorge um sich‘ und der ‚Ästhetik der Existenz‘ entwirft er einen Bereich aktiver Selbstbildung durch Hinwendung des Subjektes zu sich selbst, die es ihm ermöglichen sollen, eine positive innere Freiheit zu entwickeln.149 Diese innere Freiheit dient dem souveränen Umgang mit eigenen Wünschen, Begierden und Antrieben, der lang146 Kriterien

der Zugehörigkeit definieren zugleich Kriterien des Ausschlusses; zum Problem der Inklusion/Exklusion siehe z. B. Jessen und Reichardt, Einleitung, S. 12–13. 147 Vgl. dazu die Analyse von Cohen und Arato, Civil Society, S. 255–298; Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke, Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologie, in: dies. (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt am Main 2000, S. 7–40, hier bes. S. 27–28, Susanne Krasmann, Gouvernementalität: Zur Kontinuität der Foucaultschen Analytik der Oberfläche, in: Jürgen Martschukat (Hrsg.), Geschichte schreiben mit Foucault, Frankfurt am Main und New York 2002, S. 79–95; Norbert Finzsch, Gouvernementalität, der Moynihan-Report und die Wel­fare Queen im Cadillac, in: Martschukat (Hrsg.), Geschichte schreiben mit Foucault, S. 257–282, bes. S. 258–260 (II: Was besagt der Terminus Gouvernementalität); Jürgen Martschukat, Feste Bande lose schnüren. „Gouvernementalität“ als analytische Perspektive auf Geschichte, in: Zeithistorische Forschungen 3 (2006/2), S. 277–283. 148 Gemeint sind die letzten beiden Bände von Sexualität und Wahrheit (Der Gebrauch der Lüste, Die Sorge um Sich), die rund acht Jahre nach Überwachen und Strafen und Der Wille zum Wissen erschienen; zu den Zweifeln des späten Foucault siehe Hans Joas und Wolfgang Knöbl, Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen, Frankfurt am Main 2004, S. 496–508, hier S. 506. 149 Zum Folgenden siehe Achim Volkers, Wissen und Bildung bei Foucault. Aufklärung zwischen Wissenschaft und ethisch-ästhetischen Bildungsprozessen, Wiesbaden 2008, S. 101– 148 [=Kap. Bildung durch Selbstsorge].

38   1. Einleitung fristig in eine Art „Meisterschaft in der Ausübung der eigenen Fähigkeiten“150 münden soll. Prinzipiell werden diese Selbstbildungs- und Erziehungsprozesse zur Lebensaufgabe. Foucault konzeptualisiert diese Selbstsorge konsequent nicht als eine innerliche Suche nach Wahrheit – es geht hier gerade nicht um moralische Anforderungen an das Individuum – sondern als eine pragmatische „Bemächtigung“151 des eigenen Lebens, als eine Art praktische Wiederaneignung. Die wichtigste Voraussetzung dabei ist, dass die hierfür angewendeten Techniken und Praktiken absolut freiwillig gewählt sind. Diese Freiwilligkeit ist ein Kernmerkmal seines Konstrukts: „Die freie Wahl ist hier strikt gegen alle Arten moralischer Sollsätze gedacht. Zwar wird mit der Selbstsorge eine Vervollkommnung des Subjektes angestrebt, nur ist diese nicht als moralisch gefordertes Ziel ge­ meint.“152 Die Selbstsorge muss zwangsläufig als isolierte Haltung und Technik gedacht werden, denn sie muss die Sorge um andere oder den angemessenen Umgang mit ihnen ausschließen, um nicht gegen ihre eigene Voraussetzung zu verstoßen. In dem Moment, wo sich das Subjekt auf andere bezieht, würde sich nach Foucaults Machtkonzeption automatisch wieder ein normativer Zustand herstellen, die wechselseitige Bezugnahme würde wieder die bekannten Beeinflussungs- und Konditionierungsmechanismen (Machtdispositiv) offenbaren.153 Obgleich sich Foucault besonders für das interessiert, was Veränderung bewirkt, also politisch ist, kann das Konzept der Selbstsorge schon aufgrund dieser logischen Vorausbestimmung das Problem nicht lösen, als autonomer Selbstzweck betrieben zu werden und gleichzeitig politisch relevant zu sein.154 Wie kommt aber in die bloße Selbstveränderung als pragmatische Technik ein politischer Anspruch? Es wird deutlich, dass das ohne Bezug auf ein anderes Subjekt oder mehrere nicht geht. Auch für Foucault ist es letztlich unbefriedigend, sich die aktiven freiwilligen Bildungsprozesse des Subjektes als isolierte Handlungen oder Techniken zu denken, auch wenn damit die innere Freiheit des Subjektes gewonnen werden könnte. Er selbst beschreibt auch, wie in der späthellenistischen Kultur die Sorge um sich, die Pflege und Bildung von Körper und Geist immer mehr an bestimmte Praktiken bzw. besonders an Gemeinschaften gebunden werden, für die vor allem eine egalitäre Einstellung der Mitglieder zueinander kennzeichnend ist. Jedem, auch Frauen und Sklaven, wird in diesen Gemeinschaften das Recht zugesprochen, sich um sich selbst zu kümmern, d. h. unabhängig von Wohlstand und ­Status aktive Selbstbildung zu betreiben.155 Die Wirkung dieses sozialen Raumes scheint bedeutsamer als der vollzogene Ritus selbst. Die Freiwilligkeit des Zusammenkommens, die aktive Lernbereitschaft aller Mitglieder und die egalitäre Hal150 Ebd.,

S. 129. S. 138. 152 Ebd., S. 138. 153 Vgl. ebd., S. 148. 154 Vgl. dazu ebd., S. 138. 155 Ebd., S. 132–133; Volkers bezieht sich hier auf Michel Foucault, Die Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt am Main 2004, S. 150. 151 Ebd.,

1.4. Zum Ansatz der Studie: Wissenschaft und Zivilgesellschaft   39

tung aller Versammelten zueinander können aber für ein kommunikatives Klima stehen, das dem in dieser Arbeit verwendeten zivilgesellschaftlichen Konzept sehr nahe kommt. Die Freiwilligkeit des durch die Mitglieder konstituierten Raums ermöglicht sowohl neue Formen des gleichberechtigten Umgangs miteinander als auch die intensive zwanglose Reflexion auf die eigenen Voraussetzungen und ­Motive. Der Übergang zur Handlung mit Blick auf ein gemeinsames Wohl ist dann gewollte reine Selbstsetzung. Das Sträuben von Mitgliedern zivilgesellschaftlicher Vereinigungen gegen eine zu große Vereinnahmung durch die Interessen Dritter kommt in ihrer kollektiven diskursiven Praxis zum Ausdruck. Mehr als in anderen Bereichen und Räumen besteht hier die Möglichkeit, dass neue Wissensbestände selbst zur Disposition gestellt werden können, dass es darüber heftige Auseinandersetzungen gibt, weil sie das Selbstverständnis der Diskursteilnehmer bedrohen oder in Frage stellen. Durch die Schaffung neuer Wissensbestände entstehen immer wieder neue Diskursräume, in denen Mitglieder einer Gemeinschaft oder Gesellschaft darüber verhandeln, was sie eigentlich unter Normalität und abweichendem Verhalten verstehen wollen – und welche Aufgaben der Selbstbildung sie den einzelnen Mitgliedern anheimstellen. In der Auseinandersetzung über Kriminalität und ihre Ursachen sowie die Frage der Sanktionspraxis geht es für eine Gesellschaft nicht nur darum, wie Emile Durkheim hervorgehoben hat,156 sich der eigenen Werte und Normen zu versichern, es geht nicht einmal explizit um Strafe oder Disziplinierung, sondern zunächst um eine Art Bestandsaufnahme, um eine möglichst zutreffende Beschreibung des eigenen gesellschaftlichen Zustands. Dabei kommt der Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Erklärungskonzepten zur Kriminalitätsgenese besondere Bedeutung zu, denn sie setzt bei den am Diskurs beteiligten Akteuren einen selbstreflexiven Prozess in Gang, in dessen Verlauf die gesellschaftlichen Normen und Werte kritisch oder affirmativ thematisiert werden. Mit anderen Worten: Wissenschaftliche Kriminalitätsdiskurse fordern diejenigen zum reflexiven Lernen heraus, die sich diese Kriminalitätsdiskurse aneignen und zu nutzen beabsichtigen. In einem solchen, durch die Ergebnisse der Wissenschaften selbst angestoßenen Prozess des kritischen Explizierens und Thematisierens können sowohl wissenschaftliche Aussagen abgelehnt als auch gesellschaftliche Werte plötzlich selbst zur Disposition gestellt werden. Kriminalitätsdiskurse in ­einer Zivilgesellschaft vermeiden also die beiden Extreme einer blinden Wissenschaftsgläubigkeit und einer populistischen Wissenschaftsstürmerei. Vielmehr thematisieren sie in der Auseinandersetzung mit der Wissenschaft stets auch ihre eigenen normativen Grundlagen ebenso wie ihr Verhältnis zur Wissenschaft selbst. Dies lässt sich allerdings nur in einer relativ souveränen Zivilgesellschaft denken, die in einem Staat verankert ist, der ihr die Möglichkeit unbeschränkten 156 Durkheims

Reflexionen über Kriminalität finden sich in der Ausgabe: Émile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt am Main 41999, S. 68–69, 156–164; vgl. auch ders., Kriminalität als normales Phänomen, in: Fritz Sack und René König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, Frankfurt am Main 21974, S. 3–8.

40   1. Einleitung zivilgesellschaftlichen Austausches gewährleistet und der womöglich selbst ein Interesse an den Ergebnissen der zivilgesellschaftlichen Debatten hat, und zwar nicht nur, um neue Ideen für ein besseres oder geschickteres Regieren zu erhalten, sondern im Bewusstsein, dass hier die Grundlagen der eigenen Legitimität liegen. Was nun aber die Aktionen und Handlungen zivilgesellschaftlicher Formationen betrifft, so erklärte der ‚späte‘ Foucault schließlich selbst auf einer Pressekonferenz in Paris Anfang der achtziger Jahre in Zusammenhang mit den humanitären Initiativen von Nicht-Regierungs-Organisationen in Krisen- und Katastrophengebieten,157 dass es die erste Aufgabe von NGOs sei, gegen Machtmissbrauch aufzubegehren, Menschenrechte einzuklagen und Opfer zu schützen.158 Und er begründete dies mit der notwendigen Selbstsetzung solcher Organisationen als ‚Recht privater Individuen‘: Wer hat uns beauftragt? Niemand. Und das genau macht unser Recht aus.“ […] Es ist eine Pflicht dieser internationalen Bürgerschaft, stets in den Augen und den Ohren der Regierungen die Unglücke der Menschen geltend zu machen […]. Ich begründe ein absolutes Recht, sich zu erheben und sich an diejenigen zu wenden, die die Macht innehaben. […] Amnesty International, Terre des Hommes, Médecins du Monde sind Initiativen, die dieses neue Recht geschaffen haben: das Recht der privaten Individuen, wirksam in den Bereich der Politiken […] einzugreifen. Der Wille der Individuen muss sich in eine Wirklichkeit eintragen, für die die Regierungen sich das Monopol reservieren wollten.159

1.5. Zum Aufbau der Studie Im Kontext dieser Arbeit bezeichnet ‚England‘ primär England und Wales als eines einheitlichen Verwaltungs- und Rechtsprechungsbereichs. In Schottland und Irland gab es davon abweichende Strukturen, z. B. auch eine eigene Prison Commission for Scotland. Auf internationalen Kongressen repräsentierten Mitglieder dieser Verwaltungen aber zusammen mit ihren englischen und walisischen Kollegen Großbritannien. Das Parlament in Westminster war wiederum im Untersuchungszeitraum für die Politik des gesamten Landes zuständig. Auch die meisten privaten Organisationen, wie z. B. die Medico-Psychological Association, operierten landesweit und zählten Mitglieder aus allen Landesteilen zu ihrer Vereinigung. 157 So

löste z. B. die französische Île-de-Lumière 1979 die deutsche Cap Anamur ab, nachdem deren Fahrten kurzzeitig untersagt wurden (auch aufgrund von Asyldebatten im deutschen Bundestag). Später wurde mit der Cap Anamur II ein neues deutsches Schiff für die Fahrten ausgerüstet. Für die Hinweise auf das Problem der vietnamesischen boat-people (1975–1983) und Foucaults öffentliches Bekenntnis zu den NGOs danke ich Maximilian Buschmann. 158 Siehe Michel Foucault, Den Regierungen gegenüber die Rechte der Menschen, in: Christoph Menke und Francesca Raimondi (Hrsg.), Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Frankfurt am Main 2011, S. 159–160; Original Ders., Face aux gouvernements, les droits de l’homme, in: Libération Nr. 967 (30. 6.–1. 7. 1984), S. 22; auch in: Ders., Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Bd. IV (1980– 88), Frankfurt am Main 2005, S. 873–875. 159 Ders., Den Regierungen gegenüber, S. 159 f.

1.5. Zum Aufbau der Studie   41

Es gab lediglich verschiedene Geschäftsstellen ein und derselben Organisation, die aber alle auf den gemeinsamen Konferenzen vertreten waren und in gemeinsamen Organen publizierten.160 Für die vorliegende Studie wurde bewusst ein längerer Untersuchungszeitraum gewählt, er erstreckt sich von 1830 bis 1945. Dirk Blasius hat in seiner Geschichte der deutschen Psychiatrie zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass nur das Aufzeigen langfristiger Wissenschaftstraditionen dazu beitragen könnte, mitunter kurzfristige Erscheinungsformen bestimmter Forschungsrichtungen besser deuten und einschätzen zu können. Im Falle Deutschlands sei es nicht besonders schwierig, das Abwenden vom Individuum und die Hinwendung zur Eugenik zu dokumentieren, viel schwieriger sei hingegen die Beantwortung der Frage, ob Eugenik eine konsequente Weiterentwicklung der deutschen psychiatrischen Tradition darstelle, d. h. ob ihre Entwicklung sozusagen immanent in dieser Tradition angelegt gewesen sei oder aber nicht.161 Über die englische Eugenik zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat Donald MacKenzie festgehalten: „Environmentalism at least partially162 triumphed over eugenics. To say why this happened would be dangerously close to recounting the history of twentieth century Britain.“163 In gewisser Weise stellt die vorliegende Arbeit den Versuch dar, der Geschichte dieses ausgeprägten Umwelt- und Milieugedankens in Großbritannien, der auch in den Kriminalitätsdebatten eine tragende Rolle spielte, auf die Spur zu kommen. Die wissenschaftlichen Ursprünge dieses environmentalism liegen aber nicht, wie MacKenzie vermutet hat, im 20. Jahrhundert, sie müssen im 19. Jahrhundert gesucht werden.164 Die einzelnen Kapitel folgen weitgehend chronologisch der Herausbildung spezifischer Diskursräume, in denen kriminologisches Wissen entstanden bzw. diskursiv formiert wurde. Aus systematischen Gründen sind sie einzelnen Disziplinen zugeordnet (Statistik/empirische Sozialforschung/Sozialreform; Medizin/ Psychiatrie; Eugenik; Biometrie/korrelative Statistik; Psychologie/Psychoanalyse), deren spezifisches Wissen als konstitutiv für die Kriminalitätsdebatten betrachtet werden, wobei sich zahlreiche Überschneidungen und Berührungspunkte zwischen ihnen gezeigt haben. Zwei wissenschaftshistorisch bedeutsame Entwicklungen in der Kriminalitätstheorie – die Einführung der Kriminalstatistik als einem wichtigen Konstruktionsmedium durch die zivilgesellschaftlich organisierte Sta­ 160 Die

Medico-Psychological Association of Great Britain and Ireland hatte z. B. eine SouthEastern, South-Western, North and Midland, Scottish und Irish Division. 161 Vgl. Dirk Blasius, Psychiatrie in der Zeit des Nationalsozialismus, Sudhoffs Archiv 75 (1991), S. 90–105. 162 McKenzie meint mit „partially“ hier die Entwicklung einer seriösen Genforschung, die anfänglich mit der Geschichte der Eugenik verbunden war. 163 Donald Mackenzie, Sociobiologies in Competition: The Biometrician-Mendelian Debate, in: Charles Webster (Hrsg.), Biologie, Medicine and Society, 1840–1940, Cambridge 1981, S. 243–288, hier S. 276. 164 Philosophisch beginnt diese Tradition selbstverständlich früher u. a. in der schottischen und englischen Aufklärung, vgl. z. B. die Begründung des Empirismus und die frühe ‚Milieu­ theorie‘ bei David Hume, An Enquiry Concerning Human Understanding (1748).

42   1. Einleitung tistical Society of London (1834) und die Bindungstheorie des an einer staatlichen Child Guidance Clinic arbeitenden Arztes John Bowlbys (1944) – bilden die Eckpfeiler des Untersuchungszeitraums. Obgleich in einer wissenschaftshistorischen Untersuchung wie der vorliegenden politische Zäsuren eine untergeordnete Rolle spielen, bildet der Erste Weltkrieg hier eine Ausnahme. Aufgrund seines für die Entwicklung psychiatrischer bzw. neuer psychologischer Kriminalitätskonzepte in England konstitutiven Charakters erfährt er eine ausführlichere Behandlung. Alle Kapitel untersuchen zunächst die ‚Räume‘ (z. B. Reformgesellschaften, wissenschaftliche Vereine, Gefängnisse, private Labors, Kongresse, Militärhospitäler) und die konkreten Praktiken der Wissensherstellung über Kriminalität. Sie fragen nach den Akteuren, die an ihnen beteiligt waren, und auch danach, auf welche Weise die dabei verwendeten, von den Zeitgenossen als wissenschaftlich eingestuften Untersuchungsmethoden (z. B. Fragebogen, Statistik, psychiatrische Differentialdiagnostik, anthropometrische Vermessung, Einzelfallstudien) selbst auf die Ergebnisse bzw. die Konstruktion des Erkenntnisgegenstandes eingewirkt haben. Wie bereits ausgeführt, sollen zur Beurteilung des wissenschaftlichen Gehalts der Kriminalitätsdiskurse nicht die Kriterien eines modernen Wissenschaftsverständnisses als Maßstab angelegt, sondern das jeweilige zeitgenössische Wissenschaftsverständnis herausgearbeitet werden. Für die vorliegende Studie bedeutet dies, dass nicht nur die unterschiedlichen Räume der Wissensproduktion über Kriminalität und Verbrecherkonstitution aufgesucht und die dort verhandelten Konzepte vorgestellt werden, sondern im Versuch der Kontextualisierung dieser Debatten mitunter auch die enge Bahnen reiner Kriminalitätsdebatten verlassen werden, um einen Blick auf den jeweiligen Etablierungsprozess der verhandelten Disziplin und der mit ihr verbundenen Methodenstreitigkeiten zu werfen. Aus diesem Grund wird deshalb nicht auf jeder der folgenden Seiten von Verbrechen und Verbrechern die Rede sein. Wer z. B. die Reaktionen auf die englische Großstudie The English Convict von 1913 richtig beurteilen möchte, der sollte auch etwas über die erbittert geführte Kontroverse zwischen Anhängern der biometrischen Schule und den Anhängern der Mendelschen Vererbungslehre wissen. Wer verstehen will, warum die Psychologie in ihrer spezifisch englischen Ausprägung nach dem Ersten Weltkrieg eine so prominente Rolle in kriminalpolitischen Diskussionen spielte, der kommt nicht umhin, sich nicht nur mit der Entwicklung der englischen Anthropologie zur Sozialpsychologie und einer von ihr entwickelten spezifischen Instinkttheorie auseinander zu setzen, sondern auch mit dem Umdenken der somatisch orientierten Psychiatrie durch die Konfrontation mit dem Phänomen des shell shock im Ersten Weltkrieg. Da sich die Kontextualisierung der Kriminalitätsdiskurse nicht in den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen der Disziplinen um ihre Deutungshoheit erschöpft, versuchen die einzelnen Kapitel an konkreten Beispielen zu zeigen, wie mit den kriminologischen Wissensbeständen politisch und zivilgesellschaftlich verfahren wurde und in welchen Bereichen sie Relevanz besaßen. Da kriminologisches Denken und kriminalpolitische Ansätze eng miteinander verbunden sind,

1.5. Zum Aufbau der Studie   43

werden diejenigen Umsetzungen vorgestellt, die als Resultate der wissenschaftlich inspirierten Kriminalitätsdebatten gewertet werden können (z. B. Strafgesetzänderungen, Änderungen der Sanktionspraxis, Schaffung neuer Institutionen).165 Umgekehrt werden aber auch diejenigen politischen und sozialen Bedingungen in den Blick genommen, die das Bedürfnis nach neuem kriminologischem Wissen erst haben entstehen lassen. So hat in England das Gefängnis als ‚Labor‘166, als Produktionsstätte von Wissen über Straftäter und ihr Verhalten, genau in dem Moment und Maße abgenommen, wie es politisch um 1900 durch die Einführung alternativer Strafformen an Bedeutung einbüßte.167 Der massive Rückgang von Haftstrafen,168 die Einführung von Bewährungs- und Geldstrafen und der Ausbau von Erziehungsanstalten für jugendliche Straftäter (borstals) riefen das Bedürfnis nach einem anderen, neuen Wissen über menschliches Fehlverhalten hervor, das besser von einer in Entstehung begriffenen educational psychology befriedigt werden konnte als von den Ergebnissen der biostatistischen Großstudie über englische Schwerverbrecher The English Convict von 1913. In ihrem jeweiligen Kontext gehen alle Kapitel der Frage nach, ob und inwieweit die Anerkennung oder Ablehnung der kriminologischen Theorien von ihrer Kompatibilität mit politischen Zielen und zivilgesellschaftlichen Selbstbildern ­abhing. Wer verteidigte bestimmte Normen und Werte, wer hatte ein Interesse an 165 Die

vorliegende Studie ist allerdings weder als Rechtsgeschichte noch als Geschichte der englischen Sanktionspraxis (z. B. Gefängnisgeschichte) angelegt. Dazu liegt eine Reihe guter Arbeiten vor, von deren Ergebnissen die Arbeit in Bezug auf die eigene Fragestellung profitieren konnte. Für die materiellen Grundlagen und den Wandel des englischen Strafrechts ist die am Institute for Criminology in Cambridge entstandene Arbeit von Radzinowicz und Hood Emergence of Penal Policy nach wie vor zentral; wichtige Arbeiten zur Geschichte des englischen Strafvollzugs sind u. a.: Seán McConville, A History of English Prison Administration, 1750–1850, London 1981; ders., English Local Prisons, 1860–1900: Next only to Death, London und New York 1995; William J. Forsythe, Penal Discipline, Reformatory Projects and the English Prison Commission, 1895–1930, Exeter 1991; Victor Bailey, Delinquency and Citizenship: Reclaiming the Young Offender, 1914–1948, Oxford 1987; Ursula R.Q. Henriques, The Rise and Decline of the Separate System of Prison Discipline, in: Past and Present 54 (1972), S. 61–92; Victor Bailey (Hrsg.), Policing and Punishment in Nineteenth Century Britain, London 1981; Randall McGowen, The Well-Ordered Prison: England, 1780–1865, in: Norval Morris und David J. Rothman (Hrsg.), The Oxford History of the Prison. The Practice of Punishment in Western Society, New York und Oxford 1998, S. 71–99; Seán McConville, The Victorian Prison: England, 1865–1965, in: Morris u. a. (Hrsg.), The Oxford History of Prison, S. 117–150, im Anhang beider Beiträge befindet sich eine ausführliche Bibliographie. 166 Zu Foucault siehe unter Kap. 1.2. zum Forschungsstand. 167 Siehe dazu Bailey, English Prisons, Penal Culture, S. 285–324. 168 Vgl. dazu Wiener, Reconstructing the Criminal, S. 380, der sich auf den Report of the Commissioners of Prisons and the Directors of Convict Prisons for the Year 1934 bezieht: 1934 war die Zahl der jährlichen Gefängnisinsassen um mehr als 2/3 des Standes von 1910 gesunken, die Zahl der Gefängnisse hatte sich halbiert, ebenso wie die Gesamtzahl der Gefängnispopulation. Bewährungsstrafe für Jugendliche ersetzte deren Inhaftierung, während die Zahl ihrer Verurteilungen konstant blieb, ging die Einweisung in Erziehungs- und Korrekturanstalten bereits in den 1920er Jahren um 2/3 zurück, so dass zwischen 30 und 40 solcher Institutionen geschlossen wurden. Als Therapiezentren erlebten einige von ihnen in den 1930er Jahren ein gewisses Comeback. Die Vorkriegszahlen wurden aber nie mehr erreicht.

44   1. Einleitung neuen Interpretationen, wo setzte ein Umdenken ein, worin lagen die Gründe für diese Veränderungen? Jedes Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung seiner Ergebnisse ab und versucht diese zu anderen Forschungsergebnissen in Beziehung zu setzen. Das abschließende 7. Kapitel verbindet die Ergebnisse der staatlichen, wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Kriminalitätsdiskurse mit Großbritan­ niens zentralem innenpolitischen Anliegen im Untersuchungszeitraum: einem Programm des adjusting to democracy.169 Der britische Historiker Rodney Lowe hat mit diesem Begriff die Arbeit des britischen Ministry of Labour nach dem Ersten Weltkrieg beschrieben. Er bezeichnet den Versuch, sich an die Bedingungen einer wachsenden Massendemokratie anzupassen, die durch die Verabschiedung mehrerer Wahlrechtsreformen und eine deutlich erweiterte Wählerschaft geschaffen wurden. Es sei dadurch, so Lowes Argument, eine neue politische Landschaft entstanden, die nach neuen Formen gesellschaftlicher Organisation verlangt habe. In diesem Sinne deutet das letzte Kapitel die englischen Kriminalitätsdiskurse im Untersuchungszeitraum als einen Teil längerfristiger Aushandlungsprozesse, in denen es um die Richtung, die Form und die Größenordnung der Anpassungsleistungen von Bürgern und Staat gleichermaßen ging, die für die Sicherung von Freiheit für unabdingbar gehalten wurden. Zugleich versucht es die Frage zu beantworten, welche Rolle den Wissenschaften in diesem Prozess des adjusting to democracy zukam, und welche Bestimmungen sich daraus für das Verhältnis von Wissenschaft und Zivilgesellschaft ergeben haben.

169 Rodney

Lowe, Adjusting to Democracy: The Role of the Ministry of Labour in British Pol­ itics, 1916–1939, Oxford 1986.

2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform (1830–1895) 2.1. „Improvement by numbers“: Statistische ­Gesellschaften in England Im August 1833 reiste der belgische Statistiker Adolphe Quetelet ins englische Cambridge.1 Er war einer Einladung der zwei Jahre zuvor gegründeten British Association for the Advancement of Science (BAAS) gefolgt, die sich für die För­ derung und Popularisierung der Naturwissenschaften einsetzte, nachdem Zeit­ genossen bereits den Untergang der englischen Wissenschaft beklagt hatten.2 Als Astronom und Mathematiker besaß Quetelet einen über die Grenzen seines klei­ nen Heimatlandes hinausgehenden Namen. Zwar existierte auch in England und Wales bereits seit dem 17. Jahrhundert eine eigene statistische Tradition, doch diese zählte zum Bereich der politischen Arithmetik und beschäftigte sich mit den für die britische Verwaltung zentralen Fragen der Demographie.3 Die Mitglieder der BAAS wollten dagegen nun dezidiert etwas über die von Quetelet jüngst 1

Zu Lambert-Adolphe Jacques Quetelets (1796–1874) Besuch in Cambridge und der Gründ­ ung der Statistical Society of London siehe Michael J. Cullen, The Statistical Movement in Early Victorian Britain. The Foundations of Empirical Social Research, Hassocks 1975, S. 77– 90, bes. S. 78–80; auch Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 50; zu Quetelets Einfluss auf die Entwicklung der Kriminalstatistik vor allem in Frankreich siehe Piers Beirne, Adolphe Quetelet and the Origins of Positivist Criminology, in: The American Journal of Sociology 92 (1987), S. 1140–1169; ders., The Rise of Positivist Criminology: Adolphe Quete­ let’s „Social Mechanics of Crime“, in: ders., Inventing Criminology. Essays on the Rise of Homo Criminalis, New York 1993, S. 65–110. 2 Den Niedergang beklagte u. a. Charles Babbage, Lucasian Professor of Mathematics in Cam­ bridge, in seinen Reflections on the Decline of Science in England and on Some of Its Causes, London 1830, S. 5; siehe dazu auch: On the Decline of Science in England, in: The ­Athenaeum, 8. Januar 1831, S. 25; zur zeitgenössischen Diskussion über die Vernachlässigung der Wissen­ schaft vor 1830 in England, die zugleich ein Kennzeichen für das wachsende Interesse an Wissenschaft war, siehe George A. Foote, The Place of Science in the British Reform Move­ ment 1830–1850, in: Isis 42 (1951), S. 192–208, hier S. 192–196 [auch Kritik an der Royal So­ ciety]; aufschlussreich auch Dorothy Porter, Charles Babbage and George Birkbeck: Science, Reform and Radicalism, in: Roberta Bivins und John V. Pickstone (Hrsg.), Medicine, Madness and Social History. Essays in Honour of Roy Porter, Basingstoke und New York 2007, S. 58– 69. 3 Zur Entwicklung dieser britischen Statistik, die ihren Ausgang von der Analyse von Mortali­ tätsraten nahm (für demographische Berechnungen der Verwaltung), gibt es eine umfangrei­ che Literatur; ihre Anfänge sind vor allem mit den Namen John Graunt (1620–1674) und Sir William Petty (1623–1687) verbunden, siehe E.S. Pearson (Hrsg.), The History of Statistics in the 17th and 18th Centuries Against the Changing Background of Intellectual, Scientific and Religious Thought. Lectures by Karl Pearson given at the University College London during the academic sessions 1921–1933, London 1978; zur demographischen Statistik auch Hervé Le Bras, The Nature of Demography, Princeton und Oxford 2008; ders., Naissance de la Mor­ talité. L’origine politique de la démographie, Paris 2000; für den Hinweis auf Le Bras danke ich Norbert Finzsch.

46   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform ­ nternommenen Analysen französischer Kriminal- und Justizstatistiken hören. u Quetelets Besuch in Cambridge und die vom ihm angeregte, ein Jahr später er­ folgte Gründung der Statistical Society of London sollten weitreichende Folgen für die beginnende wissenschaftliche Annäherung an das Problem der Kriminali­ tät in England haben.4 Quetelets Arbeiten und die zeitgleich unabhängig davon durchgeführten statis­ tischen Analysen des französischen Rechtsanwaltes André-Michel Guerry legten den Grundstein für das Studium der Kriminalität in ihrem sozialen Kontext, in­ dem sie ein eigenes wissenschaftliche Objekt definierten und eine eigene Methode entwickelten, um dieses Objekt zu erforschen.5 Ausgangspunkt ihrer Arbeiten wa­ ren die 1827 zum ersten Mal veröffentlichten Zahlen des Compte Général de l’Administration de la Justice Criminelle en France, einer Art Tätigkeitsnachweis der französischen Justiz. Diese verdeutlichten eindrucksvoll, was nationale Krimi­ nal- und Justizstatistiken für die Verwaltungen des modernen Staates zu leisten vermochten und führten nicht zuletzt den Engländern ihre diesbezüglichen Un­ zulänglichkeiten vor Augen.6 Es war Sir Robert Peel, Vater der 1829 ins Leben ge­ rufenen Metropolitan Police, der als einer der ersten im britischen Unterhaus auf die Qualitäten dieser Statistiken aufmerksam machte.7 Guerry hatte sich Anfang der 1830er Jahre mit der Frage beschäftigt, ob sich ein Zusammenhang zwischen spezifischen Straftaten, darunter Selbstmord, und bestimmten sozialen Faktoren ausmachen lasse. Dabei hatte er eine erstaunliche Entdeckung gemacht: Offenbar erhöhte sich die Verbrechensrate in Bezirken (départements) mit besserem Bildungsstand.8 Genau dieses Ergebnis war es aber, das wenige Jahre später zahlreiche Untersuchungen englischer Statistiker bzw. So­ zialreformer auf den Plan rief, um Guerrys Behauptungen gezielt zu entkräften. Aus Quetelets Analysen ging dagegen hervor, dass sich trotz der unendlichen Va­ rianz an Umständen und persönlichen Dispositionen, welche den Einzelnen zu kriminellen Handlungen verleiten mochten, eine bemerkenswerte Regelmäßigkeit und Uniformität von Jahr zu Jahr, von Region zu Region, von Jahreszeit zu Jah­ 4

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7 8

Noch im Jubiläumsjahr ihres 50jährigen Bestehens feierte die Statistische Gesellschaft „the venerable Quetelet“ als „guiding star, […] whose expansive genius, high mathematical attain­ ment, and sedulous application of his great powers and industry to the development of the theory and the illustration of statistical science, entitle him to the highest place among its early teachers.“ Rawson W. Rawson, Presidential Address, in: Jubilee Volume of the Statistical Society, London 1885, S. 1–12, hier S. 4 f.; Prinz Albert war Ehrenmitglied der Gesellschaft, siehe ebd. S. 4 f. Wem dabei mehr Einfluss zukommt, ist in der Forschung umstritten, Quetelet gilt als visionä­ rere Kraft, siehe Andreas Fleiter, Die Kalkulation des Rückfalls. Zur kriminalstatistischen Konstruktion sozialer und individueller Risiken im langen 19. Jahrhundert, in: Schauz und Freitag (Hrsg.), Verbrecher im Visier der Experten, S. 169–195, hier bes. S. 172 f.; ausführlich zu Quetelet und Guerry: Beirne, Inventing Criminology, Kap. 3: The Rise of Positivist Crimi­ nology: Adolphe Quetelet’s „Social Mechanics of Crime“, S. 65–110, und Kap. 4: The Social Cartography of Crime: A.M. Guerry’s Statistique Morale (1833), S. 111–142. Zum Folgenden vgl. Radinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 50 f. Ebd., S. 93. André-Michel Guerry, Essai sur la statistique morale de la France, Paris 1833, S. 51.

2.1. „Improvement by numbers“  47

reszeit beobachten ließ, die sich auch auf bestimmte Verbrechensarten, das Alter, Geschlecht und die Beschäftigung der Straftäter erstreckte. Quetelet entwickelte aus dieser Erkenntnis seine „physique sociale“,9 mit deren Hilfe die Handlungen der Bevölkerung als Indikator für deren moralischen Zustand gelesen werden sollten. Aus der festgestellten Regelmäßigkeit ließen sich Voraussagen über die Größenordnung künftiger krimineller Handlungen ableiten, die Quetelet zu der berühmten Aussage veranlasste: „We can count in advance how many individuals will soil their hands with the blood of their fellows, how many will be swindlers, how many poisoners, almost as we can number in advance the births and deaths that will take place […] Here is a budget which we meet with a frightful regular­ ity – it is that of prisons, convict stations, and the scaffold.“10 Der Wissenschaftshistoriker Theodore Porter hat darauf aufmerksam gemacht, dass Quetelet als Astronom vor allem mit physikalischen und mechanischen Ge­ setzen vertraut war, deren Struktur er nun auf die Gesellschaft als ein mechani­ sches Regelwerk übertrug.11 Solche Vorstellungen evozierten sofort die Frage nach der Möglichkeit eines freien menschlichen Willens und Eigenverantwortlichkeit. Wenn menschliche Handlungen letztlich ähnlichen kausalen Gesetzen unterwor­ fen waren wie physikalischen, war das Individuum dann nicht eher ein durch ­soziale Faktoren durch und durch determiniertes Wesen? Für Quetelet schien es jedenfalls ausgemacht, dass jede Gesellschaft durch die ihr je eigene Beschaffen­ heit und Organisation bestimmte Verbrecher- und Verbrechenstypen hervorbrin­ ge.12 Doch aus sozialen Gesetzmäßigkeiten einen Determinismus menschlichen Handelns abzuleiten, lag Quetelet und Guerry gleichermaßen fern. Keiner der beiden Wissenschaftler hatte ein Interesse daran, die Vorstellung des freien Wil­ lens und damit eines rechtsverantwortlichen Subjektes abzuschaffen. Eindeutig waren Quetelets Aussagen diesbezüglich allerdings nicht. Er begnügte sich mit dem Hinweis, dass es sich bei statistischen Daten um kollektive Resultate und nicht um individuelle Fakten handle und die Tendenz zu kriminellen Handlun­ gen zwar durch soziale Faktoren bestimmt werde, daraus aber nicht folge, dass individuelle Handlungen stets in gleicher Weise ausschließlich davon bestimmt würden. Doch selbst wenn die Frage des freien Willens nicht im Zentrum des In­ teresses der frühen Kriminalstatistiker stand, die Konstruktion einer ‚sozialen Physik‘ ließ wenig Raum für die sichtbaren Äußerungen und Einwirkungen eines freien Willens, zumal Quetelet auch behauptet hatte, die Wirkung des freien   9 Adolphe

Quetelet, Sur l’homme et le développement de ses facultés ou Essai de physique sociale, 2 Bde, Paris 1835, S. 165, S. 249; zur Rolle Quetelets in der Entwicklung der Statistik siehe Stephen M. Stigler, The History of Statistics. The Measurement of Uncertainty before 1900, Cambridge/Mass. 1986, S. 161–220; Alain Desrosières, Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin u. a. 2005, S. 84–88. 10 Zit. nach der englischen Übersetzung in Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 51. 11 Theodore Porter, The Rise of Statistical Thinking, 1820–1900, Princeton 1986, Kap. 2: Quetelet and the Numerical Regularities of Society, S. 41–54, hier S. 43. 12 Hier zit. nach der englischen Übersetzung in Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 51.

48   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform ­ illens bewege sich in engen Bahnen und spiele bei sozialen Phänomenen nur W die Rolle eines zufälligen Agenten.13 Obgleich in England die Nützlichkeit sorgfältiger Kriminal- und Justizstatisti­ ken auch in Regierungs- und Parlamentskreisen durchaus erkannt wurde, blieb ihre Förderung, Entwicklung und Anwendung doch nahezu vollständig dem ­Engagement von Privatpersonen überlassen, die gelichwohl durch beste Kontakte zu Westminister und Whitehall dafür Sorge trugen, dass ihr Anliegen dort nicht in Vergessenheit geriet.14 Im September 1833 gründeten in Manchester lokale Honoratioren die erste Statistical Society.15 Im März 1834 wurde eine Londoner Gesellschaft ins Leben gerufen, deren Beirat, führend darunter der Mathematiker Charles Babbage, nach Einschätzung des amerikanischen Soziologen Philip Ab­ rams dem Unterkomitee eines Whig-Kabinetts glich.16 Tatsächlich übte die Statis­ tik als neue Methode und Wissenschaft vor allem auf die fortschrittlichen Kräfte des Landes eine große Anziehungskraft aus. Bei ihnen handelte es sich weder um Radikale noch um Konservative, wie Michael Cullen betont, sondern eher um Männer der liberalen Mitte in mittlerem Alter, die zum Establishment zählten und reformerische Ansätze verfolgten, dabei aber keineswegs nur utilitaristisch ausgerichtet schienen.17 Der Entschluss zu Gründung unabhängiger statistischer Gesellschaften ging auf die Unzufriedenheit einiger BAAS Mitglieder über die schwache Stellung der Statistik innerhalb ihrer eigenen Vereinigung zurück.18 Streit gab es nicht nur über die Frage, ob es sich bei der Statistik überhaupt um eine Wissenschaft oder doch nur um eine Methode handele, sondern vor allem darüber, ob es ratsam sei, eine Sektion innerhalb der BAAS zu gründen, die nicht frei gehalten werden kön­ ne von politischen Kontroversen, die mit ihren Ergebnissen zwangsläufig verbun­ den sein würden. Jack Morrell und Arnold Thackray haben durch die minutiöse Rekonstruktion der Gründungsphase der British Association for the Advance­ ment of Science19 nachgewiesen, wie sehr die Definition von science als eines 13 Quetelet

hat in einem Vorwort zur englischen Ausgabe seines Hauptwerkes unterstrichen, dass er zwar die Willensfreiheit des Menschen anerkenne, aber ebenso deren durch Gott be­ stimmte Grenzen siehe Adolphe Quetelet, A Treatise on Man and the Development of His Faculties, Edinburgh 1842, S. vii–viii. In seiner Physique sociale wies er darauf hin, dass bei Massenuntersuchungen notwendigerweise der freie Wille aus dem Blickfeld gerate (Quetelet, Sur l’homme, Bd. 2, S. 325–331); zur Verantwortung der Gesellschaft für das Verbrechen siehe ders., Sur l’homme, Bd. 1, S. 10, S. 98; zur Frage der Willensfreiheit bei Quetelet siehe auch Beirne, Quetelet, S. 1161–1163. 14 Siehe dazu Frederic J. Mouat, History of the Statistical Society, in: Jubilee Volume of the Statistical Society, London 1885, S. 14–71; Philipp Abrams, The Origins of British Sociology, Chicago und London 1968, S. 15. 15 Zur Manchester Statistical Society siehe das 8. Kapitel in Cullen, Statistical Movement, S. 105–117; diese Gesellschaft betrieb die meiste empirische Sozialforschung. 16 Abrams, Origins, S. 15. 17 Cullen, Statistical Movement, S. 81 f. 18 Mouat, History of the Statistical Society, S. 15; ab 1833 gab es ein permanentes Statistik-Ko­ mitee mit Babbage als Sekretär und Malthus und Quetelet als Mitglieder. 19 Jack Morell und Arnold Thackray, Gentlemen of Science. The Early Years of the British Association for the Advancement of Science, Oxford 1981, S. 267: Der Name der Gesellschaft

2.1. „Improvement by numbers“  49

wertfreien, neutralen und objektiven Unterfangens durch das Bestreben ihrer führenden Mitglieder bestimmt wurde, Konflikte und politische Divergenzen aus der Organisation heraus zu halten. Nur wenn Wissenschaft von Politik und Theo­ logie strikt getrennt werde, könnten die Mitglieder widerstreitender sozialer und religiöser Gruppierungen für das gemeinsame Ziel einer (Natur-) Wissenschafts­ förderung gewonnen werden.20 Besonders in den Diskussionen über die Einrichtung einer eigenen StatistikSektion innerhalb der BAAS trat dieses Bemühen deutlich zutage. Adam Sedge­ wick, der wegen eines Organisationsfehlers im Vorfeld der Cambridger Tagung die Bildung einer solchen Sektion nicht mehr hatte verhindern können, fühlte sich veranlasst, gleich in seiner Eröffnungsrede eine Warnung an die Adresse der Statistiker zu richten: Wissenschaft und Politik seien fundamental verschieden. Während in den physikalischen Wissenschaften (physical sciences) sich die menschliche Leidenschaft dem Primat von Experiment und Beobachtung unter­ ordnen müsse, beschäftige sich die Politik, der die Statistik in gewisser Weise zu­ arbeiten würde, ständig mit Fragen der menschlichen Unbeständigkeit und ihrer Beherrschbarkeit. Sobald sich die Statistiker in den Dschungel der Politik begeben würden, sei es mit der Eintracht unter den Wissenschaften vorbei.21 Aus dieser Abwehrhaltung heraus ergab sich für Sedgewick eine konsequente Definition von Wissenschaft: „By science, then, I understand the consideration of all subjects, whether of a pure or mixed nature, capable of being reduced to meas­ urement and calculation. All things comprehended under the categories of space, time, and number properly belong to our investigations.“22 Nach dieser später popularisierten Bestimmung von Wissenschaft, die Theorie, Mathematik und De­ duktion unter Einschluss von Beobachtung betonte, kamen nicht mehr alle Un­ tersuchungsobjekte für die British Association in Frage: In der von der Mehrheit ihrer Mitglieder propagierten Hierarchie der Wissenschaften führte die Sektion A (physical and mathematical sciences) als Flaggschiff die Vereinigung an.23 Ausge­ schlossen wurden dagegen Disziplinen wie Erziehung (education) oder Phrenolo­ gie, beschränkt zugelassen Medizin und Technik. Statistik sollte nach Möglichkeit auf die Präsentation von Zahlen reduziert werden. Die Statistiker sollten ihre bezog sich auf Francis Bacons Advancement of Learning, die Methodologie aus seinem Novum Organum, allerdings um Newton ergänzt, und das Programm aus seinem New Atlantis. 20 Siehe Morell und Thackray, Gentlemen of Science, bes. das 5. Kap. „Ideologies of Science“, S. 223–296, ebd. S. 224: „The ideological categories into which natural knowledge was then cast remain familiar today: science as value-free and objective knowledge; science as the key to economic and technological progress; science as the firm fruit of proper method; science as an available, visible, and desirable cultural ressource.“ 21 Beide Zitate: Adam Sedgwick, Speech of 28 June 1833; hier zit. nach Morell und Thackray, Gentlemen of Science, S. 292; zum Kontext siehe ebd. S. 249 f.; auch Mouat, History of the Statistical Society, S. 15. 22 Adam Sedgwick, Report of the British Association for the Advancement of Science 1833, S. xxviii; hier zit. nach Morell und Thackray, Gentlemen of Science, S. 267. 23 Zur Hierarchie der Wissenschaften siehe Morell und Thackray, Gentlemen of Science, S. 267; in die Sektion A flossen auch die meisten research funds der Regierung, vgl. ebd., S. 273.

50   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform ­ rbeit darauf beschränken festzuhalten, was tatsächlich existierte, und nicht, was A existieren könnte, wenn man tatkräftig einschreite.24 Weil viele Statistiker aber das eine vom anderen nicht zu trennen bereit waren, sondern ihre Wissenschaft sehr wohl als politisches Instrument für Reformen ein­ zusetzen gedachten, gründeten einige Mitglieder der BAAS ihre eigene Statistische Gesellschaft. Von Anfang an war in England der Ausbau der Statistik mit dem Im­ puls zur Sozialreform verbunden. Auch die statistische Sektion F der BAAS florier­ te genau aus diesem Grund und wurde im Laufe der Jahre so populär, dass an ihre Abschaffung nicht mehr zu denken war. Obwohl die BAAS daran festhielt, keine Meinungen zu publizieren, und deshalb von den in der Sektion F gehaltenen Vor­ träge nur die Tabellen und Zahlen in ihren reports abdruckte, nicht aber die daraus gezogenen sozialpolitischen Schlüsse und Empfehlungen,25 wurden die Zuhörer in Scharen gerade dann von den jährlichen Konferenzen angezogen, wenn es z. B. um die Analyse von Armut, Kriminalität oder Erziehungs- und ­Bildungsfragen ging. Vorträge wie die von Reverend Thomas Chalmers über die ­Anwendung von Statis­ tik in den moralischen und ökonomischen Wissenschaften mussten in Kirchen verlegt werden, um Raum für die Zuhörerschaft zu schaffen.26 Im Gegensatz zu den Mitgliedern der Sektion G (Technik, Ingenieurwesen, Mechanik), die den materiellen Fortschritt durch Wissenschaft zum Wohle der Menschheit ohne politische Debatten eindrucksvoll vor Augen führen konnten, standen viele Mitglieder der Statistik-Sektion F diesem Fortschritt eher skeptisch gegenüber und beschäftigten sich vor allem mit seinen negativen Folgen, z. B. den schlechten Arbeitsbedingungen derjenigen, die in den Fabriken und Manufaktu­ ren an diesem Fortschritt tatkräftig mitgewirkten. Die unbequeme Wahrheit blieb, so schreiben Morrell und Thakray, dass in sozialen Fragen Fakten und Werte stets verbunden blieben: „[T]the statistics Section existed as the political dog beneath the Baconian skin of the Association’s professed ideology of social science.“27 Die privaten statistischen Gesellschaften florierten aus dem gleichen Grund wie die Sektion F der BAAS. Schon beim zweiten Jahrestreffen 1835 zählte die Londoner Gesellschaft über 400 Mitglieder.28 Unter ihnen befanden sich einige Mathematiker, doch der Großteil setzte sich aus Peers, Politikern, Regierungsbe­ 24 Ebd.,

S. 292. dazu ebd., S. 296; die vollständigen Beiträge wurden deshalb oft nachträglich im Journal der Statistischen Gesellschaft London abgedruckt. 26 Siehe Morell und Thackray, Gentlemen of Science, S. 294 f.; als ein von Malthus beeinfluss­ ter christlicher Ökonom hatte Reverend Thomas Chalmers (1780–1847) auf die englische und auch amerikanische ‚wissenschaftliche Philanthropie‘ starken Einfluss, siehe dazu Eileen Janes Yeo, Social Surveys in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, in: Theodore M. ­Porter und Dorothy Ross (Hrsg.), The Cambridge History of Science, Bd. 7: The Modern Social ­Sciences, Cambridge 2003, S. 83–99, hier S. 90; vgl. auch Thomas Chalmers, On the Suffi­ ciency of the Parochial System, without a Poor Rate, for a Right Management of the Poor, Glasgow 1824. 27 Morell und Thackray, Gentlemen of Science, S. 296. 28 Siehe Cullen, Statistical Movement, S. 87; auch Mouat, History of the Statistical Society, S. 39. 25 Vgl.

2.1. „Improvement by numbers“  51

amten, Ökonomen, Medizinern und Geistlichen zusammen.29 Aufgabe der neuen Gesellschaft war es, solche Fakten zu zusammenzustellen und zu veröffentlichen, die die Bedingungen und Aussichten der gegenwärtigen Gesellschaft illustrieren konnten.30 In der ersten Ausgabe des ab 1838 publizierten Journal of the Statistical Society hieß es, die Statistik sei nicht nur ein Instrument, prädestiniert zur Analy­ se sozialer Phänomene, sondern auch eine Wissenschaft, die danach trachte, aus gut etablierten Fakten allgemeine Regeln abzuleiten, die die Menschheit interes­ siere müsse. Sie halte sich nicht mit Spekulationen auf, sondern ziele auf ‚Wahr­ heit‘ (truth).31 Es waren also die mit ihrer Hilfe den sozialen Beziehungen und Interaktionen abgelauschten Gesetzmäßigkeiten, welche die Statistik selbst zur Wissenschaft erheben sollten. Zeugnisse für diese Hoffnung gab es viele. Lord Stanley wiederholte sie als Präsident der Sektion F der BAAS 1856 in Cheltenham, als er auf die Natur der statistischen Wissenschaften verwies: „[I]in dealing with MAN in the aggregate, results may be calculated with the precision and accuracy of a mathematical problem.“32 Das Auffinden sozialer Gesetzmäßigkeiten durch numerische Analysen sollte nicht als reiner Selbstzweck zelebriert werden. Es sollte Kommunen und Wohltä­ tigkeitsorganisationen in die Lage versetzen, die Lebensbedingungen der Bevölke­ rung im Sinne eines „common good of all“33 zu gestalten. Philip Abrams hat sich in seiner Arbeit über die Entwicklung der englischen Soziologie darüber verwun­ dert gezeigt, mit welcher Selbstverständlichkeit die Mitglieder der statistischen Gesellschaften Statistik mit Sozialstatistik gleichsetzten. Doch diese Selbstver­ ständlichkeit, so soll argumentiert werden, war Teil einer zeitgenössischen Kultur. Auf sie wird an späterer Stelle noch ausführlicher eingegangen.34 Im instrumen­ talisierten Zugriff auf Statistik für eine effiziente Sozialreform kam nicht unbe­ dingt reiner Altruismus zum Ausdruck. Das Interesse vieler Mitglieder bestand lediglich darin, politisch nützliche Informationen über eine sich rasant verän­ dernde Gesellschaft zu erwerben und auf diese Weise mögliche Faktoren sozialer Unruhe und Instabilität frühzeitig auszumachen. Am wissenschaftlich sicher weit­ aus ambitionierteren Vorhaben, mathematische Methoden weiter zu entwickeln, lag ihnen dagegen weniger. Es ist deshalb kein Zufall, dass der einzige Preis, den die Londoner Statistische Gesellschaft vergab, nach dem englischen Gefängnisreformer John Howard be­ nannt wurde. Die Howard Bronze Medal sollte stets an solche Forscher verliehen werden, die im Sinne Howards sozialen Fragen mit statistischen Mitteln nach­ 29 Siehe

Abrams, Origins, S. 14. nach Mouat, History of the Statistical Society, S. 16. 31 Introduction, in: Journal of the Statistical Society of London 1 (1838), S. 3, im Folgenden JSSL. 32 Lord Stanley, Opening Address to Section F: Economic Science and Statistics, British Asso­ ciation for the Advancement of Science, 26th Meeting Cheltenham, 1856, in: Journal of the Statistical Society of London 19 (1856), S. 305–310, hier S. 305, Hervorhebung im Original. 33 Mouat, History of the Statistical Society, S. 55. 34 Siehe dazu Kap. 2.7. 30 Zit.

52   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform gingen. Der auf private Kosten durch ganz Europa gereiste Philanthrop Howard stand für die Anfänge einer Quantifizierung umfangreicher Informationen über zahlreiche Gefängnisse im In- und Ausland. Seine kritischen Zustandsberichte, untermauert durch die Präsentation systematisierter Daten, hatte eine Gefängnis­ reformbewegung ins Leben gerufen, die bald europaweit als Vorbild fungierte. Howard hatte demonstriert, auf welche Weise Statistik als Instument im Kampf gegen soziale Probleme eingesetzt werden konnte. Sie half, seinen Argumenten Authentizität und Objektivität zu verleihen. Mit der Medaille wollte die Gesell­ schaft keinen Mathematiker, also keinen statistician, sondern einen statist wie Howard auszeichnen.35

2.2. Statistische Forschung und Kriminalität Die Gemeinwohlorientierung der Mitglieder hatte Anteil daran, dass es sich bei den meisten Beiträge zum Thema Kriminalität im Journal der Londoner Gesell­ schaft um Bestandteile weiter gefasster Diskussionen über die Folgen von Indust­ rialisierung und Verstädterung, Verarmung und Armut handelte.36 Medizinisch ausgebildete Mitglieder – darunter auch die engagierten und weitgehend selbst­ ständig agierenden staatlichen Verwaltungsbeamten Edwin Chadwick,37 William Farr38 und William Guy39 – analysierten mit Hilfe des Zahlenmaterials des Gen­ eral Register Office40 nicht nur Heiratsverhalten und Sterberaten in verschiedenen 35 Siehe

dazu Jubilee Volume, S. 34, auch ebd. S. 15: „Howard as a true statist“; zu John Howard siehe Nutz, Strafanstalt als Besserungsmaschine, S. 23–31; Sabine Freitag, „Society is the Super-­Criminal“. Philanthropie, Statistik und die Debatten über die Ursachen von Kriminali­ tät in England (1834–1932), in: Schauz und Freitag (Hrsg.), Verbrecher im Visier der Exper­ ten, S. 139–167, hier S. 144–145. 36 Mouat, History of the Statistical Society, S. 24. 37 Der Staatsbeamte Edwin Chadwick (1800–1890) forderte neutrale, staatliche Untersuchungs­ einrichtungen, die soziale Fakten und Daten sammeln sollten, damit auf ihrer Grundlage eine effizientere Gesetzgebung möglich wurde. Seinem Engagement war es zu verdanken, dass zwischen 1832 und 1846 über 100 Royal Commissions u. a. die Zustände von Kinder- oder Frauenarbeit in den verschiedenen Industriezweigen und die hygienischen Bedingungen zahl­ reicher Städten untersuchten, vgl. Eileen Janes Yeo, Social Surveys in the Eighteenth and ­Nineteenth Centuries, in: Theodore M. Porter und Dorothy Ross (Hrsg.), The Cambridge History of Science, Bd. 7: The Modern Social Sciences, Cambridge 2003, S. 83–99, hier S. 92; dies., The Contest for Social Science: Relations and Representations of Gender and Class, London 1996, S. 76–78. 38 William Farr (1807–1883), Statistiker, Beamter des General Register Office (siehe Anm. 40), Schatzmeister, Vize-Präsident und Präsident der Statistical Society of London; zu Farr siehe John M. Eyler, Victorian Social Medicine. The Ideas and Methods of William Farr, London 1979; Kurzinformationen zu Farr auch in Glass, Development of Population Statistics. 39 William A. Guy (1807–1883), Professor of Forensic Medicine and Hygiene, King’s College, London; Vizepräsident der Statistischen Gesellschaft, siehe Journal of the Statistical So­ ciety 33 (1870), S. 433. 40 Das General Register Office war die staatliche Nachfolge-Behörde eines Systems von Gemein­ de- bzw. Kirchenverzeichnissen, die Geburt, Heirat und Tod seit Mitte des 17. Jahrhunderts registriert hatten; zur Entstehung des General Register Office (GRO) siehe Cullen, Statistical

2.2. Statistische Forschung und Kriminalität   53

Regionen oder Klassen, sondern kalkulierten auch die Beziehungen unterschied­ licher Faktoren zueinander, z. B. zwischen Preisschwankungen oder Unterneh­ mensexpansionen auf der einen Seite und sanitären Bedingungen, Beschäfti­ gungsmobilität, Einkommen oder Bildung auf der anderen. Die Tendenz dieser Arbeiten sei es gewesen, so resümiert Abrams, mit immer größerer Klarheit auf­ zuzeigen, wie Lebenschancen durch soziale Strukturen bestimmt wurden.41 Im Durchschnitt wurden von der Statistischen Gesellschaft zehn Originalbei­ träge pro Jahr veröffentlicht, die sich auf vier Schwerpunkte verteilten: ­economical, political, medical und moral and intellectual statistics.42 Unter letztgenannter Kate­ gorie subsummierten sich die Beiträge zur Kriminalität. Allein in den ersten 20 Bänden des Journals lassen sich 22 Beiträge zu diesem Themenkreis finden.43 Da die Sozialstatistik nicht ohne ein bestimmtes Vor- oder Alltagswissen auskam, konzentrierten sich die Autoren wenig überraschend auf diejenigen sozialen Fak­ toren, von denen allgemein angenommen wurde, dass sie eng mit der Genese von Kriminalität und dem Steigen oder Fallen von Kriminalitätsraten verbunden ­waren. Bereits 1828 hatte ein Parlamentskomittee, das sich mit Kriminalitätsur­ sachen beschäftigte, eine Liste ganz ohne statistische Berechnungen zusammenge­ stellt: „[I]ncrease in population, cheapness of liquors, neglect of children by their parents, want of employment, absence of suitable provision for juvenile delin­ quents, defective prisons, discipline, and police, and an improvement in the art of crime faster than the art of detection.“44 Genau in diesem Rahmen bewegten sich nun auch die ersten statistischen Analysen zu den Ursachen von Kriminalität.

Kriminalität und Bildung Es war, wie bereits erwähnt, Guerrys berühmter Essai sur la Statistique Morale de la France von 1833, der mit Hilfe schraffierter Karten und Histogramme45 aus der Movement, Kap. 2, S. 29–43; Simon R.S. Szreter, The GRO and the Public Health Movement in Britain, 1837–1914, in: Social History of Medicine 4 (1991), S. 435–463; Lawrence Goldman, Statistics and the Science of Society in Early Victorian Britain: An Intellectual Context for the General Register Office, in: Social History of Medicine 4 (1991), S. 415–34; zur Profes­ sionalisierung des civil service siehe Jill Pellow, The Home Office 1848–1914. From Clerks to Bureaucrats, London 1982; in Glass, The Development of Population Statistics, ist das Gesetz zur Einrichtung der neuen Registrierstelle (GRO) für allgemeine demographische Daten als Faksimile abgedruckt, siehe An Act for registering Births, Deaths, and Marriages in England [17th August 1836], [6th & 7th Gulielmi IV. (= George IV.) Cap. 86], darin wird auch die Ernennung eines Registrar General of Births, Deaths, and Marriages in England festgelegt. Ein jährlicher Bericht sollte künftig dem Parlament vorgelegt werden. Interessanterweise befinden sich in dieser von Glass zusammengestellten Materialiensammlung zur Entwicklung der De­ mographie in England und Wales auch kirchliche Protestschreiben, die sich gegen die staatli­ che Verwaltung solcher Informationen aussprechen. 41 Abrams, Origins, S. 17. 42 Vgl. Mouat, History of the Statistical Society, S. 16, S. 20; Cullen, Statistical Movement, S. 86. 43 Vgl. Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 95. 44 Transactions 1868 [1869], S. 357 f. 45 Neben Quetelet, der seit 1829 schraffierte Karten einsetzte, verwendete auch Guerry solche in seinem Essai sur la Statistique Morale de la France (1833) und in seiner Statistique Morale de

54   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform Verteilung von Kriminalität und Bildung die Erkenntnis gezogen hatte, dass bes­ sere Bildung nicht zwangsläufig zu einer Verringerung krimineller Straftaten füh­ re.46 Es sei folglich ein Irrtum zu glauben, wie es in der Buchbesprechung der Westminister Review hieß, dass das bloße Vermitteln von Fähigkeiten wie Schrei­ ben, Lesen und Rechnen zu einer merklichen Abnahme von Kriminalität bei­ trage.47 Reine Schulbildung und das Anwachsen von „weltlichem Wissen“, so der Tenor der Besprechung, habe zwar Einfluss auf den Intellekt, nicht aber auf die Moral eines Volkes. Letztere sei aber maßgebend für das gesetzeskonforme Ver­ halten der Bevölkerung. Bildung, so auch die Meinung einiger Polizeikräfte und Gefängnisverwalter, ändere bestenfalls den Charakter der Straftaten, aber nicht den Charakter des Straftäters.48 Es überrascht wenig, dass besonders christlich motivierte Philanthropen gegen diese Auffassung ihre Überzeugung ins Feld führten, dass gerade Erziehung und Bildung die Aufgabe zukomme, christliche Gebote zu vermitteln und dadurch zu moralischem Verhalten beizutragen. Aber auch die Gruppe derjenigen, die sich für den Ausbau eines säkularen öffentlichen Schulsystems einsetzten, argumen­ tierten, dass bessere Schulbildung langfristig zu einer Reduzierung krimineller Straftaten führe, ohne allerdings auf den Unterschied zwischen Moral und Intel­ lekt näher einzugehen.49 Was aber bis Anfang der 1830er Jahre bestenfalls als ­Ansichten und persönliche Überzeugungen im Umlauf war, dem versuchten nun Statistiker mit Hilfe numerischer Analysen wissenschaftlich auf den Grund zu ge­ hen. l’Angleterre Comparee avec la Statistique Morale de la France (1860); in England wurde das Neuartige dieser Karten sofort zur Kenntnis genommen, siehe die Besprechung von Guerrys Werk in Westminster Review 18 (1833), S. 353: „A peculiarity in recent works of this kind is the addition of pictorial illustrations. Maps showing the distribution of crime and education have been used by the author [Guerry], by his coadjutor Balbi, by Quetelet, Dupin, and oth­ ers.“ Zu den Karten siehe auch Yale Levin und Alfred Lindesmith, English Ecology and Criminology of the Past Century, in: Journal of Criminal Law and Criminology 27 (1937), S. 801–816, hier S. 815, Anm. 23. 46 Ausführlich zu Guerrys Essay und seinem karthographischen Verfahren siehe Piers Beirne, The Social Cartography of Crime: A.M. Guerry’s Statistique Morale (1833), in: ders., Inven­ ting Criminology, S. 111–142. 47 Anonym, Guerry on the Statistics of Crime in France, in: Westminster Review 18 (1833), S. 353–366, hier S. 359. 48 Vertreten wurde diese Meinung besonders von Personen, die sich aus beruflichen Gründen mit dem ‚Berufsverbrecher‘, dem professional oder habitual criminal, beschäftigten, z. B. der Journalist Henry Mayhew (siehe Kap. 2.4.), der Prison Commissioner Edmund Du Cane und der Leiter des Criminal Investigation Department bei Scotland Yard, Sir Robert Anderson, siehe dazu Sabine Freitag, „A Perverse Determinaton to Break the Law“. Dealing with the Habitual Offender, in: Domink Geppert und Robert Gerwarth (Hrsg.), Wilhelmine Germany and Edwardian Britain: Essays on Cultural Affinity, Oxford 2008, S. 219–245, hier S. 223–226. 49 Diese nüchterne Haltung kam auch in der Erklärung des Parlamentsabgeordneten W.E. For­ ster während der Debatten über die Elementary Education Bill (1870) zum Ausdruck: „I know well that knowledge is not virtue […] but we all know that want of education […] often leads to vice […] do we not know child after child […] growing up to probable crime […] because badly taught or utterly taught?“ Elementary Education Bill, Erste Lesung, 17. Februar 1870, hier zit. nach Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 56.

2.2. Statistische Forschung und Kriminalität   55

Als einer der Ersten nahm sich 1835 William R. Greg, Mitglied der Manchester Statistical Society, des Problems auf einer Tagung der BAAS an.50 Greg versuchte sich an den gleichen Zahlen wie Guerry, und auf den ersten Blick schien tatsäch­ lich alles für eine direkte Verbindung zwischen hohem Bildungsgrad (gemessen an der Anzahl der vorhandenen Schulen und der unterrichteten Schüler) und ­hohen Kriminalitätsraten zu sprechen. Aber Greg differenzierte anders: Er konnte nachweisen, dass in den französischen départements mit dem höchsten Bildungs­ grad Gewaltverbrechen am seltensten vorkamen und der auffällige Kriminalitäts­ überschuss in erster Linie durch Eigentumsdelikte und andere kleine Straftaten verursacht wurde, die als Begleiterscheinungen wohlhabender Regionen betrach­ tet werden müssten. Es bedeute aber nicht, dass die Straftaten von besser ausge­ bildeten Personen begangen würden. Im Gegenteil: Nach Gregs Einschätzung wurden 81% dieser Eigentumsdelikte von Menschen mit geringer oder gar keiner Bildung verübt. An dieses Ergebnis knüpfte im gleichen Jahr der Regierungsbeamte des Board of Trade George Richardson Porter in einem Vortrag vor der Statistical Society an.51 Porter sah vor allem in Eigentumsdelikten die Folgen einer fortschreitenden Zivilisation. Er konzentrierte sich in seiner Auswertung auf den Bildungsgrad der Straftäter selbst, für die es in den französischen Statistiken Zahlen gab, und bezog, anders als Guerry, mehrere Jahre in seine Untersuchung mit ein. In den vier bil­ dungsstärksten Departments sah er einen klaren Nachteil für diejenigen, die auf der allgemeinen, bereits relativ hohen Bildungsskala ganz weit unten einzuordnen waren. Sie hatten nicht die gleichen Chancen wie diejenigen, die ihre Bildung zum sozialen Aufstieg und damit zum materiellen Wohlstand nutzen konnten. Porters Argumente liefen darauf hinaus, dass in einer gebildeten Gemeinschaft die Ungebildeten bei der Arbeitssuche besonders benachteiligt seien und deshalb ein größerer Prozentsatz zwangsläufig in Kriminalität abdrifte – ein Argument, dem die eigentliche Karriere noch bevorstand.52 Ein Jahr nach seinem ersten Vortrag wiederholte Porter seine Interpretation vor der neu gegründeten Central Society of Education, einer politisch streitbaren, anti-klerikalen Vereinigung, die sich für ein freies nationales Schulsystem einsetz­ te. Diese Vereinigung hatte, ähnlich wie das Education-Komitee, das sich 1836 aus Protest gegen seine Ablehnung innerhalb der BAAS als autonome Vereinigung aus Statistikern der Sektion F gebildet hatte,53 ein wesentliches Interesse daran, Guer­ rys Argumentation zu entkräften. Porter brachte sein Bestreben ohne Umschweife auf den Punkt: „To what purpose do we charge ourselves with the labour of im­ 50 Zu

William R. Greg siehe Cullen, Statistical Movement, S. 140. Richardson Porter, On the Connexion between Crime and Ignorance, as exhibited in Criminal Calendars, in: JSSL 1 (1835), S. 97–103; zu Porter siehe Abrams, Origins, S. 13. 52 Siehe George Richardson Porter, The Progress of Nation, in Its Various Social and Eco­ nomical Relations, from the Beginning of the Nineteenth Century to the Present Time, Bd. 2, London 1843; auch sein Beitrag The Influence of Education, Shown by Facts Recorded in the Criminal Tables for 1845 and 1846, in: JSSL 10 (1847), S. 316–344. 53 Siehe dazu Morell und Thackray, Gentlemen of Science, S. 281. 51 George

56   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform parting instruction to the ignorant, if we do not hope by that means to render them wiser and better, and therefore happier beings?“54 Wenn Guerry Recht hät­ te, dann bliebe das Bemühen vieler Pädagogen und Erzieher ein frommer Wunsch. Porter selbst wollte dies nicht hinnehmen: Wenn Erziehung und Bildung Krimi­ nalität nicht zu verhindern vermochten, dann durfte dies nicht dem Erziehungs­ gedanken selbst angelastet werden, sondern verwies bestenfalls auf ein falsches Erziehungskonzept, das es zu revidieren galt.55 Die gleiche Meinung vertrat einer der führenden Statistiker und spätere Präsi­ dent der Londoner Statistischen Gesellschaft Rawson W. Rawson. Auch er kon­ zentrierte sich auf den Bildungsstand der Straftäter, machte dabei aber jetzt Ge­ brauch von den englischen und walisischen Justiz- und Gefängnisstatistiken, die Samuel Redgrave, ein Beamter des Board of Trade, seit 1834 zusammenführte und systematisierte.56 Ausgehend von einem anspruchsvollen education-Begriff, der nicht einfach mechanische Instruktion meinte, sondern gezieltes moralisches und intellektuelles Training umfassen sollte, fand Rawson die Einteilung des Bil­ dungsstandes der Straftäter in den englischen Kriminalitätsstatistiken völlig un­ zureichend.57 Sie seien grob und ungenau und meist nur nach rascher subjektiver Einschätzung vorgenommen worden. In diesen Statistiken waren Straftäter in vier Kategorien eingeteilt: Eine erste Gruppe, die weder schreiben noch lesen konnte; eine zweite, die entweder nur eines oder beides sehr unvollkommen beherrschte; dann eine dritte Gruppe, die beides relativ gut meisterte, und schließlich eine vierte Gruppe, die eine sehr gute Schulbildung erhalten hatte. Die Oberflächlich­ keit dieser Einteilung hinderte Rawson indes nicht daran, die Zahlen für seine Analysen zu nutzen. Er war ein Beispiel dafür, wie sich den eigenen Interessen entsprechend mit Zahlen jonglieren ließ. Als er für das Jahr 1836 einen überpro­ portional großen Anteil der vierten Gruppe an den verübten Straftaten ausmach­ te, ignorierte er dieses Jahr komplett und konzentrierte sich stattdessen auf die Analyse der Jahre 1837–1839. Danach fielen 90% der verurteilten Straftäter in die beiden ersten Kategorien, die keine Erziehung mit positivem Einfluss auf ihre geistige Entwicklung erfahren hatten. Rawson ging es vor allem darum zu zeigen, dass Bildung wesentlich dazu bei­ trug, menschliche Leidenschaften zu zügeln und besser zu beherrschen. Bildung (education) ermögliche es dem Menschen, so sein Argument, seine Gedanken und Handlungen zu kontrollieren.58 Dieser prominente Gedanke der Aufklärung, in England besonders durch John Locke popularisiert, blieb trotz des Aufkommens 54 George

Richardson Porter, Statistics of Crime and Education in France, in: First Publica­ tion of the Central Society of Education (1837), S. 317; hier zit. nach Cullen, Statistical Movement, S. 141. 55 Porter, Progress, S. 325. 56 Zu den staatlichen Statistiken, Samuel Redgrave und das General Registrar Office siehe aus­ führlicher Kap. 2.3. 57 Rawson W. Rawson, An Enquiry into the Condition of Criminal Offenders in England and Wales, with Respect to Education; or, Statistics of Education among Criminals and General Population in England and other Countries, in: JSSL 3 (1841), S. 331–352, bes. S. 331. 58 Vgl. dazu ebd. S. 333 f.

2.2. Statistische Forschung und Kriminalität   57

der Evolutionsbiologie in England stets prominent. Er lässt sich noch bei den englischen Entwicklungspsychologen der 1920er und 30er Jahre wiederfinden. Obgleich Rawsons Rhetorik eher an eine Predigt erinnerte, ging der Anspruch seiner Untersuchung doch weit über eine moralische Zuschreibung hinaus, denn er schrieb Versagen nicht mehr dem Einzelnen zu, sondern den diesen Einzelnen umgebenden Umständen. Rawson hielt es nämlich für kurzsichtig und falsch, wenn der Gesetzgeber ein sozialverträgliches und gesetzestreues Verhalten von Menschen erwarte, die in Umständen aufwuchsen, die ein moralisches Verhalten im Grunde unmöglich machten.59 Was eine Verbesserung im sanitären Bereich für die körperliche Gesundheit und Leistungsfähigkeit erbringen sollte, das soll­ ten Erziehung und Bildung im geistigen und sittlichen Bereich leisten. So gesehen gehörten Abwasserkanäle und Schulen zum gleichen Präventionsprogramm der Reformer.60 Um den Nachweis sinkender Kriminalitätsraten durch den Ausbau staatlicher Erziehungseinrichtungen ging es auch in einer Studie von Joseph Fletcher,61 der ebenfalls englische und nicht französische Kriminalitätsstatistiken zugrunde legte. Im Gegensatz zu Guerry kam Flechter zu dem Ergebnis, dass die größte Abnahme an kriminellen Straftaten in solchen Distrikten von England und Wales zu beob­ achten seien, in denen die Schulbildung am weitesten vorangeschritten war.62 Fletcher, Anwalt und ehrenamtlicher Geschäftsführer (honorary secretary) der Statistischen Gesellschaft, war ein profilierter Statistiker, der Ende der 1840er ­Jahre die Diskussion über die Beziehung zwischen Kriminalität und Bildung mit ­langen, umfangreichen Essays dominierte. Deren weite Zirkulation stellte er durch ihren Abdruck im Journal der Statistischen Gesellschaft, dessen Herausgeber er

59 Ebd.,

S. 351. Statistical Movement, S. 142; Unterstützung erfuhr Rawson von Francis G.R. Neison, der für England und Wales das tat, was Guerry für die französischen Départments unternom­ men hatte: den Schulbildungsstand in ausgesuchten Distrikten mit den dort verzeichneten Kriminalitätsraten zu korrelieren. Für ihn gab es einen klaren Zusammenhang zwischen nied­ rigem allgemeinem Bildungsniveau und hohen Verurteilungsraten. Neisons Antwort war ein­ deutig: „Crime and ignorance are constant companions.“ Das Bildungsniveau wurde berech­ net aus der Anzahl der Personen von Hundert, die nicht schreiben konnten und deshalb die Heiratsurkunde mit einem Kreuz versehen hatten. Kriminalitätsraten wurden gemessen an der Zahl der zur Anklage gebrachten Verfahren der Quarter und Assizes Session auf je 10 000 Einwohner, siehe dazu F.G.R. Neison, Statistics of Crime in England and Wales, for the Years 1834–1844, in: JSSL 11 (1848), S. 140–165, hier S. 146. 61 Joseph Fletcher war „an ideal statistician, having in a singular degree the power of grasping facts and realizing their relative significance.“ Dictionary of National Biography, Bd. 7, S. 315–316; Fletcher war neben seiner Arbeit als Anwalt (barrister) Mitglied einer Reihe von Kommissionen, u. a. der Kommission über Kinderarbeit (children’s employment). 1844 wurde er einer der ersten Schulinspektoren seiner Majestät. Er war Honorary Secretary der Statisti­ cal Society und der Herausgeber ihres Journals. Yale Levin und Alfred Lindesmith sehen in ihm einen bedeutenden Pionier der ecological studies innerhalb der Kriminologie, siehe dazu Levin und Lindesmith, English Ecology, S. 812–814. 62 Joseph Fetcher, Moral and Educational Statistics of England and Wales, in: JSSL 12 (1849), S. 151–176; S. 189–335, Ergebnisse S. 151, 154. 60 Cullen,

58   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform war, sicher.63 Seine Ergebnisse fasste er in einem 1850 publizierten Buch Summary of Moral Statistics in England and Wales zusammen.64 Fletcher war kein Vertreter einer einfachen Gleichung zwischen Bildung und Kriminalität. Er warnte sowohl vor der Annahme, das Fehlen von Bildung sei in direkter Weise für Kriminalität verantwortlich zu machen, als auch vor der Er­ wartung, das Anheben elementarer Bildung (Lesen, Schreiben, Rechnen) führe automatisch zum Absinken von Kriminalitätstraten.65 Die Tatsache, dass es einen Überschuss an Ungebildeten in den Gefängnissen gab, habe keine Aussagekraft, bis man beweisen könne, dass das Analphabetentum unter der Gefängnispopula­ tion prozentual tatsächlich wesentlich höher liege als in der gesamten Bevölke­ rung.66 Tatsächlich unternahm Fletcher dann einen solchen Vergleich, indem er den allgemeinen Bildungsstand – ermittelt aus der Anzahl der Heiratsurkunden, die von Männern und Frauen nur mit einem Kreuz ‚unterschrieben‘ waren67 – mit dem Bildungsstand der Gefängnispopulation in Beziehung setzte. Während im gleichen Jahr im Durchschnitt 67 von 100 Männern und 51 von 100 Frauen in den untersuchten Bezirken ihre Urkunde mit eigenem Namen unterzeichnen konnten, waren es im Gefängnis nur 31 von 100 Männern und 35 von 100 Frauen, die dazu in der Lage waren. Wie Fletcher schließlich diese Ergebnisse deutete, weist ihn als einen der ersten Vertreter jener ecological criminology aus, die über 80 Jahre später von amerikanischen Soziologen als neuen kriminologischen An­ satz wiederentdeckt wurde.68 Genau wie Rawson machte Fletcher zahlreiche un­ günstige Umwelteinflüsse für das Bildungsdefizit der Straftäter verantwortlich.69 Für ihn wuchs der Begriff education in diesen Debatten bald über seine enge ­Bestimmung des Erwerbs bestimmter Fertigkeiten hinaus und beschrieb die Tota­ lität aller äußeren Einflüsse auf das Individuum.70 Fletcher, der der Industrialisierung gegenüber nicht prinzipiell negativ einge­ stellt war, gehörte zu den ersten, die den Zusammenhang zwischen education und dem neuen, durch die Industrialisierung hervorgebrachten Menschentyp, der auch politisch immer mehr an Bedeutung gewinnen sollte, in Verbindung brach­ te. Der Erwerb einer „höheren Intelligenz“ durch die mittellosen Massen sollte nicht nur ihrer eigenen Wohlfahrt dienen, er bildete auch den entscheidenden 63 Cullen,

Statistical Movement, S. 142. Fletcher, Summary of the Moral Statistics of England and Wales, 1850; im folgenden Jahr veröffentlichte Fletcher eine Arbeit über Education: National, Voluntary and Free (Lon­ don 1851) und 1852 The Farm School-System of the Continent and Its Applicability to the Present Reformatory Education of Pauper and Criminal Children in England and Wales (Lon­ don 1852). 65 Joseph Fletcher, Progress of Crime in the United Kingdom; abstracted from the Criminal Returns for 1842, and the Prison Returns for the Year ended at Michaelmas, 1841, in: JSSL 6 (1843), S. 218–240, hier S. 232. 66 Ebd., S. 232. 67 Ebd., S. 233. 68 Vgl. dazu Levin und Lindesmith, English Ecology, S. 801–816. 69 Fletcher, Progress of Crime, S. 233. 70 Vgl. Cullen, Statistical Movement, S. 142. 64 Joseph

2.2. Statistische Forschung und Kriminalität   59

Faktor für sozialen Frieden und gesellschaftliche Stabilität. Die Chartistenunru­ hen Ende der 1830er und Anfang der 1840er Jahre hatten Fletcher wie viele seiner aus der bürgerlichen Mittelschicht stammenden Kollegen davon überzeugt, dass in einer Massengesellschaft, in der sich die ‚bildungsarmen‘ und am allgemeinen Wohlstand nicht partizipierenden Gruppen zusammenschließen konnten, die ­Gefahr bestand, dass sich politische Unruhen und Aufstände aus ihrem lokalen Kontext lösen und zu nationalen Konflikten auswachsen könnten. Deshalb sei es höchste Zeit, die Schulung dieser Gruppen voranzubringen und zu fördern. Fletchers Bildungsappell war das Ergebnis der politischen Beunruhigung, Sorge und Angst seiner gesellschaftlichen Klasse.71 Was Erziehung und Bildung also zu­ nächst leisten sollten – darin war der Verweis auf die Verbindung von fehlender Schulbildung und hohen Kriminalitätsraten instrumentell –, war der Versuch, eine ganze Klasse zum Wertesystem einer anderen, nämlich der leistungsorien­ tierten Mittelklasse zu konvertieren. Neben den wirtschaftlichen Vorteilen, die sich Fletcher durch den Anstieg des allgemeinen Bildungsniveaus für Technik und Handel versprach, war es vor allem die Aussicht auf eine sowohl wirtschaftlich als auch politisch erstrebenswerte Gemeinschaft von „good labourers, good fathers, good subjects“.72 Sie verschaffte education auch innerhalb der Kriminalitätsde­ batten als Heilmittel eine Prominenz, die sich, so wird zu zeigen sein, nach der Jahrhundertwende und besonders nach dem Ersten Weltkrieg in England noch einmal problemlos steigern ließ. „Greater diffusion of instruction“, so lautete ­Fletchers aus drei umfangreichen Arbeiten hervorgegangenes Ergebnis, „is seen to be the concomitant of every promising figure“.73 Von dieser Erwartung unberührt blieb die Tatsache, dass es ‚wissenschaftlich‘ noch gar nicht gelungen war, einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Krimi­ nalität und Bildung nachzuweisen. An Kritikern mangelte es folglich auch nicht. Samuel Redgrave, der für die Bearbeitung der staatlichen Kriminal- und Justizak­ ten zuständig war, sah sich jedenfalls nicht in der Lage, aus dem von ihm zusam­ mengestellten Datenmaterial einen solchen Zusammenhang herzustellen.74 Und Jelinger Symons, einer der fähigsten Schulinspektoren Ihrer Majestät, zeigte sich ebenfalls skeptisch gegenüber der Vorstellung, Bildung reduziere Kriminalität. Er 71 Auch

andere, z. B. James Phillips Kay im Jahr 1838, hatten ähnliche Gedanken geäußert. Bil­ dung müsse eingesetzt werden als „the rearing of hardy and intelligent working men, whose character and habits shall afford the largest amount of security to the property and order of the community“. James Philipps Kay, On the Establishment of Pauper Schools, Part 1, in: JSSL 1 (1838), S. 23; hier zit. nach Cullen, Statistical Movement, S. 145. 72 Ebd., S. 142/43. „This is the authentic voice of the statistical movement giving full expression to the ideology of improvement“ (S. 143). 73 Fletcher, Moral and Educational Statistics of England and Wales, in: JSSL 10 (1847), S. 193– 233; siehe auch Fletchers unter gleichem Titel veröffentlichte Beiträge in: JSSL 11 (1848), S. 344–365; JSSL 12 (1849), S. 151–176, S. 188–335. 74 Vgl. Samuel Redgrave, Criminal Tables for the Year 1845 – England and Wales, in: JSSL 9 (1846), S. 177–239, bes. S. 183, seine Zahlen seien ein „additional proof that […] instruction is unconnected with the causes which lead to crime“; zu Redgraves Arbeit ausführlicher Kap. 2.3.

60   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform vermochte jedenfalls im Anstieg alphabetisierter Strafgefangener Ende der 1840er Jahre nur das im Grunde negative Ergebnis einer mechanischen Schulausbildung zu erblicken. Bei diesen Gefängnisinsassen handele es sich, so seine Einschätzung, um solche, „who have received that smattering of mechnical teaching which feeds pride, empowers vice, and increases crime.“75 Die kritische Haltung, die sich zu den Ergebnissen vieler dieser Studien ein­ nehmen ließ, war wenig überraschend. Die zugrunde gelegten Daten – für den Bildungsstand z. B. die Zahl der Schulen pro Einwohnerzahl, die Häufigkeit der mit einem Kreuz gekennzeichneten Heiratsurkunden oder die Zahl der ange­ klagten Straftäter, die einfach als ‚ungebildet‘ registriert worden waren – zeich­ nete ein hoher Grad an Subjektivität und willkürlicher Kategorisierung aus. Zu­ dem war es äußerst schwierig, den Anteil der religiös-moralischen Erziehung innerhalb der allgemeinen Schulausbildung kenntlich zu machen und ihre je ­eigenen ‚Wirkungen‘ adäquat zu erfassen. Der Prominenz des Erziehungsge­ dankens, der nicht nur in statistischen Untersuchungen zu finden war,76 tat dies keinen Abbruch. Selbst Charles Dickens, spätestens mit seiner Figur des Mr. Gradgrind in Hard Times als scharfer Kritiker der utilitaristischen Faktenhuberei ausgewiesen, war nichts­destotrotz ein überzeugter Anhänger der Auffassung, dass Bildung Kriminalität einschränken könnte.77 Von der Prominenz des Erzie­ hungsgedankens innerhalb der Kriminalitätsdebatten profitierten jedenfalls vor allem die englischen Gefängnisreformgesellschaften, die education zum zentralen Begriff ihrer Reformprogramme ausbauten. Ihnen fiel es zu, diesem Begriff mit neuen Konzepten Leben einzuhauchen, denn, von wenigen Ausnahmen abgese­ hen, äußerten sich Statistiker eher selten darüber, was gute Bildung inhaltlich eigentlich auszeichnen sollte.

Industrialisierung und Urbanisierung Die Gründung der Statistischen Gesellschaften ging auf das Bedürfnis zurück, den Industrialisierungsprozess und seine negativen Begleiterscheinungen mit wis­ senschaftlich profunden Mitteln näher aufschlüsseln und erklären zu können. Nicht erst Henry Mayhew, der in den 1850er Jahren als ‚teilnehmender Beobach­ ter‘ über die Zustände in den Slums des Londoner East Ends in Zeitungsartikeln berichtete,78 oder William Booth, der als Gründer der Heilsarmee zehn Jahre nach 75 Jelinger Symons

(attrib.), Crime and Criminals, in: The Law Magazine 10 (1849), S. 204–282, hier S. 265; zit nach Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 58. 76 Siehe dazu Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 55, Anm. 18, mit einer umfangreichen Literaturliste zum Thema, die nicht dem statistischen Umfeld zuzurechnen ist. 77 Vgl. Charles Dickens, Crime and Education, in: Daily News, 4. Februar 1846; zu Dickens Auffassung über die Wirksamkeit von Bildung siehe Philip Collins, Dickens and Education, London 1963, S. 70–73; zu Dickens Haltung zur Statistik siehe neuerdings auch Bernard ­Cohen, The Triumph of Numbers: How Counting Shaped Modern Life, New York und Lon­ don 2005. 78 Zu Henry Mayhew und seiner teilnehmenden Beobachtung vgl. Kap. 2.4.

2.2. Statistische Forschung und Kriminalität   61

ihm damit begann, dort missionarisch tätig zu werden, haben die beunruhigen­ den Konsequenzen beengter und überfüllter Wohnverhältnisse den Zeitgenossen vor Augen geführt.79 Theorien wie die von Thomas Malthus über die Verfügbar­ keit und Regulierung von Lebensressourcen wie Nahrungsmittel und Wohn­ raum80 schärften das Bewusstsein für die wachsenden Probleme, die sich aus sol­ chen unüberschaubaren Agglomeraten ergaben. 1840 hatte ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss die Vermutung ausgesprochen, dass diese zunehmende innerstädtische Verdichtung des Lebensraums den Charakter dort lebender Men­ schen negativ beeinflusse, ihn zwangsläufig „erniedrige“.81 Dabei erlebte man 1840 gerade einmal den Beginn dieses Prozesses. Lebte 1831 nur ein Viertel der Bevölkerung von England und Wales in Städten mit über 20 000 Einwohnern, so hatte sich ihre Zahl 20 Jahre später, 1851, bereits auf ein Drittel erhöht. 40 Jahre später, 1891, lebte schließlich über die Hälfte der Bevölkerung in Städten mit und weit über 20 000 Einwohnern. Große Städte wie Manchester, Liverpool, Birming­ ham oder Leeds zeigten dabei den rasantesten Zuwachs.82 Doch war die Stadt gegenüber ländlichen Regionen tatsächlich ein der Krimi­ nalität günstigeres Terrain? George Richardson Porter, der in seinem The Progress of the Nation die Kriminalitätsraten bäuerlicher und industriell geprägter Graf­ schaften verglich, bezweifelte einen solchen Zusammenhang.83 Auch Rawson W. Rawson konnte aufgrund eigener Untersuchungen einen solchen Unterschied nicht eindeutig ausmachen, verwies aber darauf, dass, wenn in den untersuchten Grafschaften, egal ob agrarisch oder industriell geprägt, große Städte anzutreffen seien, die Ansammlung großer Menschenmassen in überfüllten Städten mehr als alles andere die Bedingung für das Begehen von Straftaten schaffe. Eine genauere Bestimmung dieser Gründe („whatever they may be“) blieb er allerdings schul­ dig.84 79 Siehe

dazu William Booth, In Darkest England and the Way out, London 1890. Bereits ein Jahr später erschien die 5. Auflage des Werkes. 80 Siehe Thomas Malthus, An Essay on the Principle of Population as It Affects the Future Im­ provement of Society, with Remarks on the Speculations of Mr. Godwin, M. Condorcet, and Other Writers., London 1798; ders., An Essay on the Principle of Population; or, a View of its Past and Present Effects on Human Happiness; with an Enquiry into our Prospects Respect­ ing the Future Removal or Mitigation of the Evils Which it Occasions,, London 1803. 81 Eileen Janes Yeo hat die hinter dem „Housing“-Problem der Statistiker liegenden Vermutun­ gen zusammengefasst: „They [the surveys, S.F.] emphasized facts about housing that they ­believed had implications for moral order, like the number of rooms, number of beds, and number of people in them. British investigators, like the French, thought that overcrowding and confusion, particularly in sleeping arrangements, which ,indiscriminately‘ mixed sex, age, and family groups, were a potent index of disorder.“ Yeo, Social Surveys, S. 89. 82 Die Angaben, auch zur Untersuchungskommission von 1840, sind entnommen aus Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 69, Anm. 62. 83 Porter, Progress of Nation, Bd. 2, S. 196 f. 84 Rawson, Enquiry, S. 344. Vielfach galt nicht das Manufakturwesen oder der factory factor als verursachendes Moment, sondern das Zusammenspiel aller unvermeidlichen Begleiterschei­ nungen, die das Leben in einem industriellen Bezirk kennzeichneten; siehe dazu auch Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 71, Anm. 67 mit umfangreicher Literatur zu diesem Thema, darunter allerdings nur wenige Schriften von Statistikern.

62   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform Joseph Fletcher fragte sich hingegen, warum Verstädterung als Zeichen fort­ schreitender Zivilisation eigentlich immer als inkompatibel mit einem entspre­ chenden moralischen Fortschritt der Bevölkerung angesehen werden sollte. Er jedenfalls zeigte sich optimistisch, denn der größte Anstieg an Kriminalitätsraten war nicht in den Städten des Nordens und Südens zu verzeichnen, sondern in den Regionen, die im Modernisierungsprozess das Schlusslicht bildeten. Nach Flet­ chers Interpretation lagen die Einflüsse der „aggregation“ und die Einflüsse der „education“ in den Großstädten im Wettstreit, und er war sich sicher, dass ein ausgebautes Schulsystem früher oder später den Sieg davon tragen würde. Den Anstieg von Kriminalität in den Städten führte er nicht auf die niedergelassene und sesshafte Bevölkerung an sich zurück, sondern „to the tendency for denser population to assemble the demoralised, rather than to breed an excess of demoralization.“85 Erneut erschien hier der Umweltgedanke wesentlich ausge­ prägter als die Vorstellung, die sich gegen Ende des Jahrhunderts temporär großer Popularität erfreute, Slums seien reale Brutstätten einer kriminellen Klasse.86 Eine der interessantesten Analysen zum Problem von Kriminalität und Ver­ städterung stellte Francis Neison auf der Jahrestagung der Sektion F der BAAS im September 1846 in Southampton vor. Er verglich nicht agrarische und industria­ lisierte Grafschaften miteinander, sondern ähnlich strukturierte Grafschaften − manufacturing und mining counties − und deren Kriminalitätsraten. Vier ver­ schiedene Zonen ließen sich unterscheiden: die Minendistrikte im Norden, die Baumwolle und Wolle verarbeitenden Distrikte, die Baumwolle, Wolle, Seide und Leinen verarbeitenden Zonen und schließlich solche, die Eisenwaren, Steingut und Glas produzierten.87 Neison stellte große Schwankungen zwischen den ein­ zelnen, ähnlich oder sogar gleich strukturierten Regionen fest. Die Kriminalitäts­ raten einiger Distrikte überschritten den errechneten Durchschnittswert mit bis zu 33 Prozent, andere unterliefen diesen Wert mit bis zu 52 Prozent. Da Neison keine auffälligen äußeren Unterschiede in den einzelnen, stark in ihren Raten ab­ weichenden Regionen ausmachen konnte, zog er schließlich, wie Fletcher, den Bildungsgrad in seine Untersuchungen mit ein, wieder ermittelt an der Art, wie Heiratsurkunden unterzeichnet wurden.88 Die Kriminalitätsraten zeigten jetzt eine deutliche Abhängigkeit vom Bildungsstand des jeweiligen Distrikts. Für Nei­ son war dieses Ergebnis das überzeugendste Argument für selbst noch die kleins­ ten Anstrengungen in Richtung Bildung und Ausbildung.89 Die Abhängigkeit von 85 Joseph

Fetcher, Moral and Educational Statistics, S. 171, Hervorhebung im Original. frühe Studie über die Vorteile des Lebens in einer gut organisierten kleineren Fabrikstadt ist W. Felkin, An Account of the Situation of a Portion of the Labouring Classes in the Town­ ship of Hyde, Cheshire, in: JSSL 1 (1838), S. 416–420; auch John Glyde, Localities of Crime in Suffolk, in: JSSL 19 (1856), S. 102–106, worin die These vertreten wird, dass „ towns […] con­ tain elements of moral progress, nowhere else to be found“. 87 Francis G.P. Neison, Statistics of Crime in England and Wales for the Years 1842, 1843, and 1844. Read before the Statistical Section of the British Association at Southampton, 15th Sep­ tember, 1846, in: JSSL 9 (1846), S. 223–239. 88 Ebd., S. 236. 89 Ebd., S. 235 f., Tabelle auf S. 236. 86 Eine

2.2. Statistische Forschung und Kriminalität   63

diesem Faktor schien ihm so evident, dass er davon überzeugt war, einem sehr mächtigen Faktor90 in der Kriminalitätsgenese bestimmt und damit so etwas wie ein Gesetz gefunden zu haben.91

Alkohol Noch bevor Ärzte in den späten 1860er Jahren besonders in Zusammenhang mit den Debatten über die Vererbungsmechanismen krankhafter Dispositionen das Problem Alkohol zu einem medizinischen Problem machten, galt der Zusammen­ hang zwischen Alkoholmissbrauch und der Ausübung krimineller Handlungen, besonders Gewaltverbrechen, in der Öffentlichkeit als ausgemacht.92 Eine Flut von Büchern, Ratgebern, Pamphleten und Vorträgen zeugen vom zeitgenössi­ schen Primat des Alkohols als dem Kriminalität erzeugenden Faktor schlechthin.93 Dass sich in Großbritannien zwischen 1834 und 1899 allein sechs Parlaments­ kommissionen mit Fragen des öffentlichen Alkoholausschanks beschäftigten, ver­ deutlicht, wie sehr es sich bei der Alkoholfrage um eine für die Nation zentrale Angelegenheit handelte.94 Der statistische Nachweis eines direkten Zusammenhangs zwischen Alkohol­ konsum und kriminellen Handlungen war indes schwierig; zu entsprechenden Zahlen gelangten die meisten Autoren nur mit Hilfe wackeliger Methoden.95 An­ erkannte Statistiker wie Leone Levi, Ökonomieprofessor am King’s College in London, der die negativen Auswirkungen von übermäßigem Alkoholgenuss nicht verleugnete, blieben diesbezüglich skeptisch und konnten in den ansteigenden Verurteilungszahlen wegen Trunkenheit keinen direkten Beweis für einen Zusam­ menhang zwischen Kriminalität und Alkoholkonsum, sondern bestenfalls eine höhere gesellschaftliche Aversion gegen solche Formen von Straftaten erkennen.96 In der Öffentlichkeit herrschte selbst noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Überzeugung vor, dass bis zu Dreiviertel aller Straftaten dem Alkoholmissbrauch zuzuschreiben sei.97

90 Ebd.,

S. 236 f. dazu Radzinoicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 58; auch Joseph Fletcher, Moral and Educational Statistics of England and Wales, in: JSSL 11 (1848), S. 344–365. 92 Siehe dazu Hasso Spode, Die Macht der Trunkenheit. Kultur- und Sozialgeschichte des Alko­ hols in Deutschland, Opladen 1992, bes. Kap. VII. Die „Alkoholfrage“ im Kaiserreich; Brian Harrison, Drink and the Victorians: The Temperance Question in England, 1815–1872, Keele 1994; Alfred Heggen, Alkohol und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Berlin 1988. 93 Siehe Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 62, Anm. 40, mit umfangreicher zeitgenössischer Bibliographie zum Thema Alkohol; siehe auch Harrison, Drink and the Vic­ torians, hier. S. 41–45. 94 Siehe Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 61; es ging in erster Linie um Zulassungsfragen und Ausschank-Lizenzen. 95 Vgl. ebd., S. 62. 96 Third Report from the Select Committee of the House of Lords on Intemperance (1877), hier zit. nach Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 61, Anm. 39. 97 Vgl. dazu ebd., S. 62 f. 91 Vgl.

64   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform Einer der prominentesten Statistiker, der sich mit den Auswirkungen von Alko­ holkonsum auf kriminelles Verhalten beschäftigte, war Reverend John Clay.98 Mit seinen Beiträgen zu den Veranstaltungen der Sektion F der BAAS und Vorträgen vor der Statistical Society versuchte er nachzuweisen, auf welch eklatante Weise Alkoholkonsum zum Anstieg der Kriminalitätsraten beitrug. Seine Verfahren ­glichen denen von Neison und Fletcher: Er untersuchte wirtschaftlich und sozial vergleichbare Grafschaften wie Cornwall und Monmouthshire. Beide wurden als mining districts eingestuft, besaßen etwa eine gleich große Anzahl an Bildungsein­ richtungen pro 1000 Einwohner und eine ähnlich große Zahl an Kirchen. Den­ noch wies Monmouth eine vier Mal höhere Kriminalitätsrate als Cornwall auf, die sich Clay nur mit dem vierfachen Aufkommen an Pubs und beerhouses in Monmouth erklären konnte. Für ihn folgte daraus aber noch eine weitere Er­ kenntnis: „[T]hat our present system of popular education is of little or no effi­ cacy in saving the industrial classes from the moral dangers created by those drinking houses“.99 Clay verurteilte die herkömmlichen mechanischen Bildungs­ methoden, die zwar die Fertigkeiten im Lesen und Schreiben vermittelten, nicht aber die Intelligenz förderten.100 Anders als viele seiner Kollegen unterbreitete er sogar konkrete Vorschläge, wie die Schulbildung verbessert werden könnte, ­plädierte für mehr Unterricht in natural history, für die Einstellung männlicher Lehrer und für mehr praktischen Unterricht.101 Auch Clays Interpretationen mündeten also einmal mehr in dem Appell, mehr Sorgfalt auf die Erziehung und Bildung zu verwenden. Ansonsten trugen statisti­ sche Untersuchungen wenig zur Aufklärung der genauen Natur der Beziehung zwischen Alkohol und Kriminalität bei. Mal wurde diese Beziehung als direkte, mal als indirekte oder dann auch nur als annähernde (proximate cause) bezeich­ net, ohne dass sie dadurch an Präzision gewonnen hätte. Was sich allerdings im Laufe der Jahre in Zusammenhang mit Alkohol immer stärker abzeichnete, waren zwei eher sachliche und nüchterne Standpunkte, die beide die Vorstellung unge­ brochener individueller Schuld oder Lasterhaftigkeit relativierten. Der erste ging davon aus, dass der weit verbreitete Alkoholkonsum in den ärmeren Schichten nicht die Ursache, sondern die Folge schlechter sozialer Umstände und eines Mangels an alternativen Freizeitbeschäftigungen war. Ganz in diesem Sinne argu­ mentierte Leone Levi: Trunkenheit verstärke die Gründe, sei aber selten die

  98 Reverend

John Clay (1796–1858), Kaplan in der Erziehungsanstalt von Preston, war einer der engagiertesten und beständigsten Sammler von Kriminalstatistiken. Seine jährlichen Be­ richte fanden eine große Leserschaft und wurden sogar in andere Sprachen übersetzt, siehe ebd., S. 67, Anm. 53.   99 John Clay, On the Relation Between Crime, Popular Instruction, Attendance on Religious Worship, and Beer-houses. Read Before the Statistical Society, 18th November 1856, in: JSSL 20 (1857), S. 22–32, hier S. 22 f.; Clay wusste allerdings um die unterschiedlichen und ab­ weichenden Registrierungsverfahren in den verschiedenen Landesteilen. 100 Ebd., S. 25. 101 Ebd., S. 26, Anm.*.

2.2. Statistische Forschung und Kriminalität   65

­ rimär operierende Ursache für kriminelles Verhalten.102 Eine zweite, allmählich p Raum greifende Auffassung demonstrierte gegen Ende des 19. Jahrhunderts den wachsenden Einfluss medizinischer Experten: Gewohnheitstrinker, so konnte man immer häufiger lesen, seien schwerkranke Menschen, die keine Strafe, wohl aber Behandlung und Therapie notwendig machten.103

Armut und Verarmung Ähnlich wie der Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Kriminalität dem Alltagswissen vertraut und unumstößlich wahr erschien, so verhielt es sich auch mit der Beziehung zwischen ökonomischen Krisen und schwankenden Kriminali­ tätszyklen. Nach Auffassung ausländischer Beobachter ließ sich dieses Wechsel­ spiel sogar besonders deutlich an England demonstrieren, das zwischen 1835 und 1850 von klar erkennbaren, leicht auch von den Zeitgenossen identifizierbaren ökonomischen Krisen heimgesucht worden war. Die guten und schlechten öko­ nomischen Jahre wurden mit den Zahlen der zur Anklage gebrachten Kriminal­ verfahren korreliert. Danach gab es einen ganz offensichtlichen Zusammenhang zwischen den Jahren 1839 und 1842, in denen die Chartistenunruhen ihren Hö­ hepunkt erreichten und den Anklageverfahren, deren Zahlen im gleichen Zeit­ raum überdurchschnittlich hoch lagen.104 Joseph Fletcher bestätigte diesen allge­ mein vermuteten Zusammenhang in seinen Beiträgen für die Statistische Gesell­ schaft, legte aber auf einen Unterschied großen Wert: Seine Analysen legten den Schluss nahe, dass nach der Verbesserung der ökonomischen Situation zwar auch die Kriminalität zurückging, diese sich allerdings nie mehr auf dem Stand ein­ pendelte, den sie vor der Krise eingenommen hatte, sondern darüber blieb.105 Aus anderen zeitgenössischen Untersuchungen ging hervor, dass bei schlechter Wirt­ schaftslage Gewaltverbrechen nicht anstiegen, wohl aber Straftaten wie Einbruch, Raub, Betrug, Aufwiegelung und Aufruhr,106 also die typische Beschaffungskrimi­ nalität, die Zunahme betrügerischer Tätigkeiten und schließlich Unruhen.

102 Siehe

Leone Levi, A Survey of Indictable and Summary Jurisdiction Offences in England and Wales, from 1857 to 1876, in: JSSL 43 (1880), S. 423–461, hier S. 433. 103 Siehe dazu ausführlich das 9. Kapitel Habitual Drunkard, in: Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 288–315. Auch das Gladstone Komitee erklärte 1895: „The physical craving for drink is a disease which requires medical treatment not provided by the present prison system. […] Special medical treatment should be applied to them, and they should be dealt with as patients rather than criminals.“ Gladstone Report (1895), S. 32 (§ 86 Habitual Drunkards). Auch in Deutschland entdecken Ärzte Alkohol als Krankheit, vgl. Paul Weindling, Hygienepolitik als sozialintegrative Strategie im späten Kaiserreich, in: Alfons Laibisch und Reinhard Spree, Medizinische Deutungsmacht im sozialen Wandel des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Bonn 1989, S. 41. 104 Vgl. z. B. Whitworth Russel, Abstract of the Statistics of Crime in England and Wales, from 1839 to 1843, in: JSSL 10 (1847), S. 38–61. 105 Joseph Fletcher, Moral and Educational Statistics of England and Wales, in: JSSL 12 (1849), S. 167. 106 Thomas Pint, Crime in England, London 1851, S. 61–83.

66   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform Eindeutig konnten aber auch diese Beziehungen durch die Statistik nicht etab­ liert werden. Wirtschaftswachstum und private Prosperität waren anscheinend nicht nur für sinkende Kriminalitätsraten verantwortlich, sie konnten auch um­ gekehrt Kriminalität erzeugen, indem sie neue Möglichkeiten und Anreize zu ­kriminellem Verhalten schufen. Reverend John Clay versuchte durch eigene Ana­ lysen nachzuweisen, dass in Zeiten ökonomischer Krisen die Zugänge in den ­Gefängnissen sehr niedrig lagen, während sie sich in wirtschaftlich guten Jahren, in denen die Nachfrage an Arbeit stieg, aber durch die verfügbaren Arbeitskräfte nicht gedeckt werden konnte, fast verdoppelten. „[W]e are forced to the unple­ asant conclusion that the ‚dangerous class‘, the corrupting dregs of the people, are stimulated into renewed activity by the warmth of prosperity.“107 Clay argumen­ tierte, dass ganz offensichtlich eine Erhöhung der Löhne in wirtschaftlich guten Zeiten mit einer Erhöhung von Trunksucht einhergehe.108 Clays Ergebnisse riefen die Einwände anderer Statistiker hervor. Der eher zu­ rückhaltende Leone Levi änderte Clays Interpretation dahingehend, dass bei wachsender Prosperität zwar anfangs die Kriminalität steige, auf diesen Anstieg aber bald eine Abnahme folge. Diese sei dadurch begründet, dass der Impuls zum großzügigen Geld auszugeben sich schnell erschöpfe und dann Zurückhaltung und Besonnenheit an seine Stelle trete.109 Nichtsdestotrotz, Clays Behauptung eines komplexen, multikausalen Zusam­ menhangs zwischen Lasterhaftigkeit, Alkoholkonsum, dem Anstieg von Gewalt­ verbrechen mit wirtschaftlicher Prosperität und dem Anstieg von Beschaffungs­ kriminalität in Zeiten wirtschaftlicher Depression wurde 1906 auch vom Home Office vertreten: „Broadly speaking crimes against the person and crimes against property are affected in reverse ways […] In good times drunkenness and crimes of violence tend to increase and thefts to diminish; when […] employment shrinks the opposite state of things occurs.“110 Die Kriminalitätsstatistiken von 1906 legten also einen ähnlichen Schluss nahe wie den, den Clay rund fünfzig Jahre zuvor gezogen hatte. Eine weitere Differenzierung in der Interpretation von trade cycles und crime nahmen die Statistiker des Home Office selbst vor. Sie gingen von der Annahme 107 John

Clay, On the Effect of Good or Bad Times on Committals to Prisons. Part II, Read Before Section F, Economic Science and Statistics, of the British Association for the Ad­ vancement of Science at Dublin, August 1857, in: JSSL 20 (1857), S. 378–388, hier S. 387; Hervorhebung im Original. 108 Ebd., S. 387; Clay blieb sich aber bewusst, wie schwierig die Bestimmung von allgemeiner „prosperity“ war; so konnten die Jahre 1844 und 1845 für industriell geprägte Distrikte als „prosperous“ gelten, während landwirtschaftlich geprägte Grafschaften Jahre der ökonomi­ schen Krise erlebten (ebd., S. 383); zu den Gegnern und Befürwortern seiner Untersuchung, siehe Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 67, Anm. 53. 109 Leone Levi, Wages and Earnings of the Working Classes: Report to Sir Arthur Bass, M.P. (1885), S. 35–36; Leone Levi, Progress of Morals in England During the Last Twenty-Five Years, in: Transactions of the Manchester Statistical Society (1883–84), S. 67–93, bes. S. 78, beides zit. nach Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 67, Anm. 54. 110 Introduction to the Criminal Statistics for the Year 1906, Parliamentary Papers (1908), Cd. 3929, S. 12.

2.2. Statistische Forschung und Kriminalität   67

aus, dass ein Einfluss dieser ökonomischen Krisen nur auf die moralisch Schwa­ chen nachweisbar sei, die ohnehin schon am Rande einer kriminellen Existenz lebten und wenig Selbstdisziplin aufbrachten. Folglich seien die registrierbaren Schwankungen nur von dieser Gruppe verursacht. Dies konnte zumindest die Tatsache erklären, warum sich nicht alle Armen generell unter wachsendem öko­ nomischem Druck zu strafbaren Handlungen verleiten ließen. Deshalb galt Ar­ mut und Bedürftigkeit auch nur als eine mögliche, aber nicht zwangsläufige Ursa­ che von Kriminalität.111 Der Einfluss schwankender ökonomischer Zyklen auf das Verhalten besonders der ärmeren Bevölkerung wurde dadurch zwar anerkannt, der Einzelne blieb aber dennoch in der Verantwortung, denn seine Unfähigkeit vorzusorgen, Weitsicht zu demonstrieren, Stress zu ertragen, diese persönlichen Schwächen wurden ihm weiterhin zugerechnet.112

The Element of Age: Jugenddelinquenz Zeitgenossen des frühen viktorianischen Zeitalters haben, so schreibt Martin Wie­ ner in seinem Buch Reconstructing the Criminal, Jugendkriminalität als relativ neue, problematische Erscheinung wahrgenommen und sie mit dem raschen Wachstum von Bevölkerung und Städten in Verbindung gebracht. Mit diesem Wachstum verbunden war ein Anstieg der Zahl von Jugendlichen, die neuen For­ men lohnabhängiger Arbeit nachgingen und dadurch den ökonomischen Schwan­ kungen und veränderten Ausbildungsbedingungen stark ausgesetzt waren.113 Ohne Zweifel waren es die Statistiker, die diese Entwicklung mit aussagekräftigen Zahlen am eindrucksvollsten zu demonstrieren vermochten. Dabei formulierten sie erstmals eine bis heute in der Kriminologie akzeptierte Einsicht: Dass es ein bestimmtes Alter gibt, in dem die – vorzugsweise männliche – kriminelle Energie am deutlichsten zu Tage tritt. Rawson W. Rawson, Geschäftsführer (secretary) der Londoner Statistischen Gesellschaft, war davon überzeugt, dass gerade so, wie Newton universale Gesetze entdeckt hatte, die die physische Welt regierten, auch moralische Phänomene in gleicher Weise von bestimmten Gesetzen bestimmt 111 Diese

offizielle Meinung findet sich in: Introduction to the Criminal Statistics for the Year 1908, Parliamentary Papers (1910), Cd. 5096, S. 11: „the inefficients and other hangers-on the fringe of industry“ (W.J. Farrant). H.B. Simpson wiederholte ein Jahr später diese Auffas­ sung: „Poverty is no doubt an extenuation of dishonesty, but it cannot be regarded as a suf­ ficient excuse for it, unless we disregard the many thousands who contrive to remain honest in circumstances of extreme penury“, Introduction to the Criminal Statistics for the Year 1909, Parliamentary Papers (1911), Cd. 5473, S. 13. 112 Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 68. 113 Wiener, Reconstructing, S. 17 f.; Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 138; das späte 18. Jahrhundert registrierte einen beschleunigten Bevölkerungszuwachs und die Abnahme des Durchschnittsalters der Bevölkerung. 1821 war fast die Hälfte der Bevölke­ rung unter 20 Jahren, siehe John Springhall, Coming of Age: Adolescence in ­Britain, 1860– 1960, Dublin 1986, S. 65; im späten 17. Jahrhundert hatten Kinder zwischen 5 und 14 Jahren kaum mehr als ein 1/6 der Bevölkerung ausgemacht, in den 1820er stellten sie rund ein Viertel der Bevölkerung, vgl. dazu Edward Anthony Wrigley, The Population History of England 1541–1871: A Reconstruction, Cambridge 1981, S. 528 f.

68   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform und kontrolliert würden. Rawson machte bereits 1839 darauf aufmerksam, dass die Korrelation von Alter und bestimmten Straftaten wie ein fundamentales Ge­ setz der Kriminalität funktionierte. Kriminelle Aktivitäten begannen in jungen Jahren und erreichten ihren Höhepunkte im Alter zwischen 16 und 25. Diebstahl war dabei die am häufigsten auftretende Straftat.114 Auch ein anders prominentes Mitglied der Gesellschaft, Joseph Fletcher, verwies darauf, dass über die Hälfte aller verurteilten Straftäter unter 25 Jahren sei.115 Auch Francis Neison vermutete 1846 in einem Vortrag vor der Statistischen Gesellschaft mit dieser Korrelation einem wirklichen Gesetz auf die Spur gekom­ men zu sein.116 Aus seiner Analyse von Kriminalitätsraten dreier aufeinander fol­ gender Jahre ging deutlich hervor, dass Straftaten auffällig häufig im Alter zwi­ schen 20 und 25 Jahren begangen wurden. Diese Altersgruppe lag mit ihren Straf­ taten um über 60 Prozent über den Zahlen sowohl der jüngeren Altersgruppe (15-20 Jahre) als auch derjenigen Altersgruppen, die über 25 Jahre alt waren.117 Aber Neison konnte noch etwas anderes demonstrieren: einen deutlichen ge­ schlechtsspezifischen Zusammenhang von kriminellen Straftaten. Er machte fünf Mal häufiger Straftaten in der männlichen Bevölkerung als in der weiblichen aus. Während eine von 336 männlichen Personen straffällig wurde, lag die Rate bei Frauen bei eins zu 1581.118 Neison folgerte daraus, dass die Tendenz zu kriminel­ len Handlungen je nach Geschlecht und Alter zu einem bestimmten Zeitpunkt als immer gleich und damit als berechenbar angenommen werden müsse, also tat­ sächlich eine Art Gesetz darstelle.119 Wenn eine Grafschaft höhere Kriminalitäts­ raten verzeichne, dann konnte das darauf zurückzuführen sein, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt von den Mitgliedern einer Altersgruppe, die statistisch be­ sonders häufig zu kriminellen Handlungen neigten, überproportional viele auf­ wies.120 Die Berücksichtigung des Altersfaktors war für Neison ein so zentraler Bestandteil jeder Ermittlung zur relativen Höhe von Kriminalitätsraten, dass er jede Untersuchung, die den Altersfaktor nicht berücksichtigte, für wertlos hielt, gerade wenn es darum ging, verschiedene Regionen zu vergleichen.121 Wie seine Kollegen sozialreformerisch orientiert, war auch Neison davon über­ zeugt, dass er mit seinen Hinweisen auf den Altersfaktor die Wichtigkeit und Nützlichkeit der Statistik für den Gesetzgeber eindrucksvoll demonstriert habe.122 Rechtsprechung und Gesetzgebung könnten nun auf eine neue, fundierte Grund­ lage gestellt werden, deren Legitimation durch die Berufung auf statistische Er­ gebnisse eine neue Qualität gewinnen würde. Auf lange Sicht beeindruckte die 114 Siehe

dazu May, Innocence and Experience, S. 104. JSSL 4 (1843), S. 236. 116 Neison, Statistics (1846), S. 223–239. 117 Ebd., S. 224. 118 Ebd. 119 Ebd. 120 Neison, Statistics (1846), S. 225. 121 Vgl. ebd. 122 Vgl. ebd., S. 226. 115 Siehe

2.2. Statistische Forschung und Kriminalität   69

Sprache der Zahlen sowohl die englische Rechtsprechung als auch die englische Gesetzgebung. Jugendkriminalität von heute, darin stimmten Regierung, Parla­ ment, Justiz und Prison Commission mit den Statistikern und Sozialreformern spätestens seit den 1880er Jahren überein, war die professionelle Gewohnheits­ kriminalität von morgen. Das gemeinsame Bestreben, einer solchen Entwicklung Einhalt zu gebieten, mündete in die Schaffung zahlreicher Einrichtungen für straffällige oder gefährdete Jugendliche, darunter die zunächst privat organisier­ ten und geleiteten, dann vom Staat mitfinanzierten und kontrollierten reformatory und industrial schools123 und die später vor allem vom englischen Prison Commissioner Sir Evelyn Ruggles-Brise geschaffenen borstals, spezielle Erzie­ hungsanstalten für delinquente Jugendliche zwischen 16 und 21 Jahren.124 Die Erklärungsmodelle für Jugendkriminalität wurden im Laufe des Jahrhunderts im­ mer komplexer und anspruchsvoller. Damit verbunden zeigte sich beständig die Vorstellung, dass Eltern, selbst Produkte elterlicher Vernachlässigung, ihrerseits nicht in der Lage seien, Kinder angemessen zu versorgen und zu erziehen.125 In besonderer Weise eigneten sich die Leiter der Besserungsanstalten für Ju­ gendliche, wie z. B. Mary Carpenter, die statistische Methode an. In Listen einge­ tragen wurden alle verfügbaren Informationen über die Kinder: ob sie Halb- oder Vollwaisen waren, ob sie schreiben und lesen konnten, wie erfolgreich sie sich nach der Entlassung aus den Heimen behauptet hatten, ob sie rückfällig wurden, nach Canada verschifft wurden, welche Straftaten sie verübt hatten und in wel­ chem Alter. Die statistische Zusammenstellung dieser Informationen diente meh­ reren Zwecken: zum einen sollten die hohen Zahlen der straffälligen Kinder den Bedarf an weiteren reformatories demonstrieren, zum anderen sollten gerade die Zahlen der erfolgreich entlassenen Kinder beweisen, dass sie in solchen Einrich­ tungen besser aufgehoben waren als im Gefängnis.126

123 In

reformatory schools wurden delinquente Kinder und Jugendliche eingewiesen, die nicht ins Gefängnis kommen sollten, in industrial schools schwer erziehbare oder unkontrollierba­ re Kinder, die durch die Einübung von Ehrlichkeit, Disziplin, Fleiß resozialisiert werden soll­ ten, siehe Nikolas S. Rose, The Psychological Complex: Psychology, Politics, and Society in England, 1869–1939, London 1985, S. 167–168; 1858 gab es insgesamt 45 reformatories; 1861 insgesamt 19 industrial schools, vgl. Maurice Bridgeland, Pioneer Work with Maladjusted Children. A Study of the Development of Therapeutic Education, London 1971, S. 65. 124 Vgl. dazu z. B. Dietrich Oberwittler, Von der Strafe zur Erziehung? Jugendkriminalpolitik in England und Deutschland (1850–1920), Frankfurt am Main 2000; auch Kap. 6.4. 125 „The fact that more than one-half of the criminals who pass through our courts and occupy our gaols, are young persons under 25 years of age“, so Joseph Fletcher bereits 1843, „seems to indicate that there is a population constantly being brought up to crime; the offspring of outcasts; of deceased, or dissolute and neglectful parents; and of those increasing classes, who, more or less at war with society, can scarcely teach their children to be at peace with themselves and others“, Fletcher, Progress of Crime, S. 236. 126 Mary Carpenter, On the Importance of Statistics to the Reformatory Movement, with Re­ turns from Female Reformatories, and Remarks on Them, in: JSSL 20 (1857), S. 33–40; in die gleiche Richtung geht der Beitrag von A.K. M’Callum, Juvenile Delinquency – Its Principal Causes and Proposed Cure, as adopted in the Glasgow Reformatory Schools, in: JSSL 18 (1855), S. 356–363.

70   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform

2.3. Statistische Gesellschaften und staatliche ­Verwaltungen Welchen Einfluss hatte die privat organisierte Arbeit der Statistischen Gesellschaf­ ten auf den staatlichen Umgang mit und die Deutung von Kriminalität? Wie kann man sich eine Einflussnahme vorstellen? In England waren es ohne Zweifel die engagierten Mitstreiter der statistischen Sektionen und Gesellschaften, die auf den Ausbau und die Weiterentwicklung staatlicher Kriminal- und Justizstatistiken durch Eingaben und Resolutionen an das Innenministerium drängten. Als Ver­ mittler zwischen den Gesellschaften und der staatlichen Verwaltung fungierten eine Reihe relativ autonom arbeitender Verwaltungsangestellter (Farr, Chadwick, Guy, Porter u. a.).127 Als Mitglieder durch eigene Beiträge auf den Veranstaltun­ gen der statistischen Gesellschaften vertreten, setzten sie sich im Home Office für den Ausbau statistischer Abteilungen ein. Doch zunächst tat sich Whitehall mit außerparlamentarischen Empfehlungen schwer, und mancher bedenkenswerte Vorschlag, wie etwa die Schaffung einer zentralen statistischen Kommission für das Vereinigte Königreich und das Em­ pire, die alle wissenswerten Daten erfassen und ständig anpassen sollte, fand vor­ schnell mit dem schlichten Vermerk des „put away“ im Archiv der Staatsverwal­ tung sein Ende.128 Dabei stand spätestens mit dem Bekanntwerden der neuen französischen Kriminalstatistiken außer Frage, dass die englischen staatlichen Kriminal- und Justizakten dringend einer gründlichen Reform bedurften. Zwar existierten schon seit einigen Jahrzehnten staatliche Aufzeichnungen über die Zahl der Strafverfahren und verurteilten Straftäter, aber diese waren, wie Radzi­ nowisz und Hood ausgeführt haben „dreary, repetitive and monotonous, with no introduction of any kind to help to give a broader view of the condition of crime.“129 In den 1820er Jahren ging das Innenministerium zu einer etwas syste­ matischeren Sammlung über. Ab 1827 erschienen annual summary statements, die auf gerade einmal zehn Seiten die zur Anklage gekommenen Strafverfahren er­ fassten.130 Sie blieben aber – wie lange Zeit auch in Deutschland131 – reine Tätig­ 127 Zur

britischen Statistik und öffentlichen Gesundheit siehe Desrosières, Die Politik der gro­ ßen Zahlen, S. 186–193. 128 Siehe Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 101; zur Hoffnung auf die Schaffung einer Central Statistical Commission für das Vereinigte Königreich und das Em­ pire siehe Rawson W. Rawson, Presidential Address, S. 11; auch Mouat, History of the Sta­ tistical Society, S. 53: „[W]e are still without a well organized central system of collecting, collating, and digesting masses of figures prior to publication, so as to render the results deducible immediately available for practical application.“ Die Empfehlungen wurden ans Home Office weitergeleitet, aber nicht umgesetzt. 129 Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 92. 130 Mouat, History of the Statistical Society, S. 48; auch Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 93. 131 Siehe Fleiter, Kalkulation des Rückfalls, in: Schauz und Freitag (Hrsg.), Verbrecher im Vi­ sier der Experten, S. 169–195, hier S. 169–170, mit ausführlicher Bibliographie zur deutschen Kriminalstatistik; Helmut Graf, Die deutsche Kriminalstatistik. Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1975.

2.3. Statistische Gesellschaften und staatliche Verwaltungen   71

keitsnachweise der englischen Justiz, die die Zahl der geführten Prozesse und da­ mit die Funktion der Rechtsprechung dokumentierten. Erst die Einrichtung des Statistical Department des Board of Trade 1832 mar­ kierte den Beginn einer neuen Ära in der systematischen Erfassung von Daten, die für das britische Empire und seine Handelsbeziehungen von Bedeutung wa­ ren. Die Anstrengungen, die im Innenministerium unternommen wurden, um mit der internationalen Entwicklung auf dem Gebiet der Kriminalstatistiken Schritt zu halten, blieben allerdings weiterhin bescheiden. Erst 1834, im Grün­ dungsjahr der Statistical Society, gab es mit der Berufung eines clerk, Samuel Red­ grave, einen gewissen Fortschritt zu verbuchen. Redgrave, der mit dem Sammeln und Zusammenstellen von Justiz- und Gefängnisdaten betraut wurde, vermochte es immerhin, 75 Straftaten, die bislang separat aufgeführt worden waren, unter sechs weit gefasste Kategorien anzuordnen, ein Ordnungsprinzip, das trotz spä­ terer Modernisierungsversuche bis heute Bestand hat.132 Diese Vereinfachung er­ möglichte eine bessere Handhabung der unzähligen disparaten Informationen. Redgraves System erfasste einige Informationen über das Alter, Geschlecht und den Bildungsgrad des Straftäters und führte die Verteilungsraten von Kriminalität in ländlichen und industrialisierten Regionen separat auf. Es waren, wie bereits gezeigt, diese Daten, von denen Männer wie Fletcher, Levi, Neison oder Rawson in den 1840ern Gebrauch machten.133 1849 wurden diese Erhebungen allerdings wieder zurückgefahren, sehr zum Bedauern der Lon­ doner Statistical Society. Deren Mitglieder hatten in den späten 30er Jahren einen Fragebogen entwickelt, der großen Wert auf genau diese Informationen gelegt hatte.134 Das Formular war an Polizei-, Justiz- und Gefängnisverwaltungen des Landes verschickt worden, doch die Behörden sahen sich außer Stande, einen sol­ chen Fragebogen adäquat und mit gleichbleibender Beständigkeit auszufüllen. Es waren vor allem praktische Überlegungen, die sie daran hinderten. Der Aufwand wurde als zu hoch eingestuft, außerdem bereitete eine Kategorie wie die des Tat­ motivs Schwierigkeiten in ihrer Erfassung. Das größte Hindernis aber war, dass in den staatlichen Verwaltungsstellen keine wissenschaftlichen Ambitionen verfolgt wurden. In den nächsten Jahren waren es tatsächlich eher ‚Amateurstatistiker‘ wie 132 Vgl.

dazu Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 94, Anm. 12, bei diesen Kategorien handelt es sich um: 1. Offences against the Person; 2. Offences against Property committed with violence; 3. Offences against Property without Violence; 4. Malicious Of­ fences against property; 5. Forgery and Offences against the Currency; 6. Other Offences not included in above classes; vgl. dazu auch Fletcher, Progress of Crime, S. 219: „This classifi­ cation, abstractly considered, is far from perfect; but it is perhaps the best which can be adopted for the information comprised under it.“ Auch: Criminal Tables for the Year 1845 – England and Wales, made by Mr. Redgrave, of the Home Office, who compiled and pre­ pared the Tables, in: JSSL 9 (1846), S. 177–183, bes. S. 179 f., wo erläutert wird, was unter die einzelnen Kategorien fällt. 133 Siehe Kap. 2.2. dieser Arbeit. 134 Vgl. W.M. Tartt, Report on Criminal Returns, in: JSSL 20 (1857), S. 365–377, hier S. 365, Anm. ++, Bezug wird genommen auf den Report of the Committee on Improved Forms of Returns, abgedruckt in: JSSL 1 (1839); siehe auch Abrams, Origins, S. 18.

72   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform Reverend John Clay, der diesen Fragebogen zur Grundlage seiner eigenen Analy­ sen in den 1850er Jahren machte und Reverend Henry Lettsom Elliot, der in den 1860er Jahren die Wiederbelebung dieses Fragebogens für eine empirische Sozial­ forschung dringend anmahnte.135 Trotzdem erwies sich die Arbeit der Statistical Society als nicht vergeblich. Wie später auch die relativ große Gruppe der englischen Gefängnisreformer brachten die Mitglieder der Statistischen Gesellschaften durch ihre Teilnahme an interna­ tionalen Konferenzen viele Anregungen mit zurück auf die Insel.136 Der auf dem ersten internationalen Statistiker-Kongress in Brüssel 1853 aufgestellte Minimal­ katalog,137 der alle Kriterien enthalten sollte, die eine gute Kriminalstatistik aus­ zeichneten, fand schließlich durch die Vermittlung einiger englischer Statistiker im Home Office Gehör.138 So hatte Leone Levi als Redner auf dem zweiten inter­ nationalen Statistiker-Kongress 1855 in Paris die Unzulänglichkeiten der engli­ schen Kriminalstatistiken öffentlich kritisiert. Besonders bei den Gefängnisstatis­ tiken gäbe es noch großen Nachholbedarf, nicht nur in Bezug auf die allgemein aufzunehmenden Informationen, sondern auch was ihre Vereinheitlichung beträ­ fe. Daten über die Arbeit der Polizeigerichte und der Friedensrichter lagen über­ haupt keine vor, d. h. es konnte keinerlei Zusammenhang zwischen registrierten Straftaten und Straftätern hergestellt werden.139 Auch in der British Association kam Bewegung auf. Ein Jahr nach dem Pariser Auftritt von Levi plädierte das Komitee der Sektion F (Economic Science and Statistics) der BAAS auf ihrer Jahrestagung in Cheltenham für die Abfassung eines Berichts On the Present Mode of Framing our Criminal Returns, and on the Best Means of Improving them; having due regard to the recorded experience of the French 135 Siehe

dazu Henry Lettsom Elliot, What are the Principal Causes of Crime, Considered from a Social Point of View?, in: Transactions 1868 [1869], S. 324–337. 136 Der Internationale Statistische Kongress (ISK) fand zwischen 1853 und 1878 statt, u. a. in Brüssel (1853: Eröffnung), Paris (1855), Wien (1857), London (1860), Berlin (1863), Florenz (1868), St. Petersburgh (1872), Budapest (1876), Paris (1878: nur noch Sitzung der Perma­ nenzkommission), siehe Hans-Jürgen Collmann, Internationale Kriminalstatistik. Ge­ schichtliche Entwicklung und gegenwärtiger Stand, Stuttgart 1973, S. 12–21; zum Problem internationaler Vergleiche siehe auch Daniel Schmidt, Zahl und Verbrechen. Kriminalitäts­ statistiken im internationalen Dialog, in: Sylvia Kesper-Biermann und Petra Overath (Hrsg.), Die Internationalisierung von Strafrechtswissenschaft und Kriminalpolitik (1870–1930). Deutschland im Vergleich, Berlin 2007, S. 140–166. 137 Auch in London wurde 1860 ein Kongress abgehalten, allerdings konnte das Ziel, sich auf einen gemeinsamen internationalen Standard festzulegen, um Vergleiche überhaupt mög­ lich zu machen, aufgrund unterschiedlicher Rechtssysteme, Straftatbestandsdefinitionen und Registrierverfahren nicht erreicht werden, siehe Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 96; zu den Hintergründen des Scheiterns auch Collmann, Internationale Kriminalstatistik, S. 19–21. 138 Enthalten sein sollten die Zahl der Straftaten, die Straftaten, die nicht verfolgt wurden, sol­ che, die zur Anzeige gebracht wurden, Alter und Geschlecht des/der Straftäter/in, und das Ergebnis des Strafverfahrens in allen Einzelheiten, darüber hinaus Angaben über Geburts­ ort, Ausbildung, Beruf des Straftäters, die Gründe, die vermutlich zur Tat geführt haben, die dafür wichtigen Umstände u. a. m., siehe Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal ­Policy, S. 96. 139 Leone Levi in: JSSL 19 (1856), S. 5; hier zit. nach Tartt, Report on Criminal Returns, S. 365.

2.3. Statistische Gesellschaften und staatliche Verwaltungen   73

and Prussian Governments.140 Das Komitee nahm einige der Verbesserungsvor­ schläge vorweg, die zu diesem Zeitpunkt bereits im Home Office, unter Druck geraten durch eine von Levi instruierte Rede Lord Broughams im Oberhaus über judicial statistics und die Einrichtung eines neuen statistical department im Home Office, diskutiert wurden.141 Die neue offizielle Statistikserie erschien 1857 zum ersten Mal. Aufgeteilt in drei Sektionen – Police, Constabulary und Criminal Proceedings and Prisons – um­ fasste sie jetzt 133 Seiten.142 Aufgeführt waren darin die Zahlen aller bekannt ge­ wordenen Straftaten, die von der Polizei erfasst worden waren, also nicht nur ­solche, die zur Anklage gebracht worden waren. Daneben wurde ein regulärer Zensus eingeführt, der das erfassen sollte, was als die criminal classes at large ­beschrieben wurde und im Grunde die Einteilung der praktischen Polizeiarbeit wiedergab: 1. „known thieves and depredators“, 2. „receivers of stolen goods“, 3. „prostitutes“, 4. „suspected persons“ und 5. „vagrants and tramps“. Jede Klasse wurde eingeteilt in eine Altersgruppe unter und über 16 Jahren, um, wie der Kommentar darlegte, das ständige Nachwachsen von Straftätern in den jeweiligen Gruppen deutlich zu machen.143 Die umfangreicheren Polizeidaten hielt man den Justizdaten gegenüber für überlegen, weil sie an das tatsächliche Aufkommen von Straftaten näher herankamen. Zu Recht haben Radzinowisz und Hood auf den Prozess aufmerksam gemacht, der durch die Bevorzugung der Polizeidaten in Gang kam: die Schaffung einer kriminellen Klasse, auf die sich vorzugsweise die Ermittlungsarbeit der Polizei konzentrierte und deren Existenz bald für selbstver­ ständlich genommen wurde. Obgleich England das letzte europäische Land war, dass Polizeikräfte einrichtete, war es doch zugleich das erste und vielleicht sogar das einzige Land, das den operativen Begriffen der Polizeiarbeit für den Aufbau ihrer eigenen Kriminalstatistiken einen so prominenten Platz eingeräumte. Die polizeilichen Definitionen der kriminellen Klassen wanderten in die staatlichen Kriminalstatistiken ein und blieben dort ohne große Unterscheidungen über ei­ nen sehr langen Zeitraum stehen.144 Ähnlich wie später durch verfeinerte Rück­ fallstatistiken das Bild des Gewohnheitsverbrechers konstruiert wurde,145 so trug eine von der praktischen Polizeiarbeit beeinflusste Justizstatistik und die von der Polizei übernommene Klassifizierung der criminal classes dazu bei, dass sich die diesen Klassen zugeschriebenen Attribute ‚materialisierten‘. Über die Dialektik der praktischen Polizeiarbeit, die ein besonderes Interesse an einer (Stereo-)Typo­ 140 Ebd.,

S. 365. dazu Ebd. S. 365; auch Stanley, Opening Address, S. 305–310, der ebenfalls seine An­ sprache dazu benutzte, um auf die schlechten Kriminalstatistiken aufmerksam zu machen und auf Lord Broughams Vorschläge einging (S. 309). 142 Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 98; zum genauen Kompilationspro­ zess der unterschiedlichen Daten, aus denen dann Samuel Redgrave die Tables of Criminal Offences und die Judicial Statistics zusammenfasste, siehe ausführlich Tartt, Report on Cri­ minal Returns, S. 367 f. 143 Hier zit. nach Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 98. 144 Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 98 f. 145 Siehe Freitag, A Perverse Determination to Break the Law, S. 219–245. 141 Siehe

74   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform logisierung der kriminellen Klassen hatte und deshalb solche schuf, weil sie leich­ ter zu identifizieren waren und damit wiederum die Effizienz der Polizeiarbeit bestätigen konnten, haben Clive Emsley, Peter Becker, Patrick Wagner und Jens Jäger aufschlussreich gearbeitet.146 Die neuen Kriminalstatistiken, deren Einleitung von sechs auf rund 40 Seiten erweitert worden war, wurden in der Öffentlichkeit mit Befriedigung zur Kennt­ nis genommen. Der Inquirer des Economist zeigte sich davon überzeugt, dass diese Statistiken das Wissen über Kriminalität vollkommen revolutionieren würden.147 Auch W.M. Tartt, Mitglied der Londoner Statistical Society, glaubte mit den ­neuen Statistiken den Anfang zum Besserem gemacht, warnte aber davor, nicht unüber­ legt weitere Rubriken, Kategorien und damit zu viele Informationen hinzuzufü­ gen, sondern nun erst einmal ihre praktischen Auswirkungen auf die Gesetzge­ bung und die sozialen Verbesserungen abzuwarten.148 Ihm ging es nicht mehr um ein Anwachsen der Daten, sondern um die Schaffung einer modernen Kriminal­ politik, die sich auf ein überschaubares Angebot an Informationen stützen sollte, um vernünftige Maßnahmen ergreifen und legitimieren zu können. In dem Maße, wie die staatlichen Kriminalstatistiken den Vorstellungen der Statistiker zuneh­ mend entsprachen, nahmen die Beiträge über Kriminalität im Programm der Londoner Statistischen Gesellschaft ab. Auch starben mit George R. Porter und Joseph Fletcher Anfang der 1850er Jahre zwei federführende Protagonisten des statistischen Kriminalitätsdiskurses. Es waren nicht wissenschaftsinterne, sondern vor allem politische Entwicklun­ gen, die die einflussreiche Stellung der Statistik im letzten Viertel des 19. Jahrhun­ derts ins Wanken brachten. Damit gerieten zugleich die Kriminalstatistiken auf den Prüfstand. Die Krisenstimmung der 1880er Jahre mit ihren politischen Unru­ hen, wirtschaftlichen Schwankungen, Streiks und wachsenden Klassenantagonis­ men149 löste wissenschaftliche Debatten über die Brauchbarkeit numerischer Analysen aus, weil sie heftige Zweifel am nationalen Fortschritt aufkommen ließ. Statistiker mussten sich angesichts des Ausmaßes und der Stärke solcher uner­ warteter Entwicklungen fragen lassen, ob nicht nur die diagnostische, sondern auch die in Aussicht gestellte prognostische Kraft der Statistik versagt habe. Im 146 Clive

Emsley, Crime, Police, & Penal Policy. European Experiences 1750–1940, Oxford 2007; ders, Crime and Society in England, 1750–1900, London und New York ²1997; Patrick Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Hamburg 1996; Peter ­Becker, Dem Täter auf der Spur. Eine Geschichte der Kriminalistik, Darmstadt 2005; Jens Jäger, Verfolgung durch Verwaltung. Internationales Verbrechen und internationale Polizei­ kooperation 1880–1933, Konstanz 2006. 147 The Economist (anonym, Inquirer), Statistics of the Extent of Crime in England and Wales I, Bd. 17 (1859), S. 1457–1459, hier S. 1458, zit. nach Radzinowicz und Hood, The Emergence of Penal Policy, S. 99. 148 Tartt, Report on Criminal Returns, S. 372. 149 Vgl. dazu Eric Hobsbawm, Age of Capital 1848–1878, London 1991, S. 354: „[T]he age of ‚liberal triumph‘ gave way to economic depression in the 1870s, and was followed by a ­period of rising class tension.“

2.3. Statistische Gesellschaften und staatliche Verwaltungen   75

einsetzenden Reflexionsprozess über Standort und Leistungsfähigkeit der Statistik offenbarten sich bei den Mitgliedern der Londoner Statistical Society zwei kont­ räre Einstellungen, die sie, wie später die Sociological Society, zu spalten drohten. Diejenigen Mitglieder, die besonders an einer theoretischen Weiterentwicklung der Statistik interessiert waren, wollten ihre Wissenschaft nicht in den Dienst ge­ genwärtiger politischer Debatten gestellt sehen und sich stattdessen auf die Ver­ besserung und Verfeinerung statistischer Methoden konzentrieren.150 Ihre Forde­ rung lautete deshalb: Ausbau der Theorie, um den wissenschaftlichen Status der Statistik glaubhaft untermauern zu können.151 Andere Mitglieder hingegen hatten weiterhin vor allem die Brauchbarkeit sta­ tistischer Analysen im Kampf um soziale Reformen im Auge und vertraten die Auffassung, dass in der Öffentlichkeit und auf staatlicher Seite gerade ihre Nütz­ lichkeit noch nicht ausreichend zur Kenntnis genommen werde.152 Sie forderten deshalb noch mehr angewandte Statistik.153 Wichtige Fragen zu Kriminalität, Ge­ sundheit, Erziehung, so ihr Argument, könnten nur mit Hilfe akkumulierter, pe­ riodisch durchgeführter Datensammlungen auf einer vereinheitlichten Grundlage befriedigend geklärt und beantwortet werden. Gerade der Mangel an verläss­lichen Sozialdaten werde sich in der gegenwärtigen politischen Lage negativ auswirken, denn letztlich lasse sich staatliches Eingreifen einzig auf der Grundlage gesicher­ ter Erkenntnisse legitimieren. Statistische Erhebungen seien die einzige Möglich­ keit, überhaupt adäquate Informationen über diejenigen zu erhalten, die sich po­ litisch immer stärker zu Wort meldeten. Diese Statistiker gaben sich selbstbewusst – nicht die Wissenschaft brauche den Staat, wohl aber der Staat die Wissen­ schaft.154 Allerdings war eine gute Sozialstatistik auch eine Kostenfrage. Bis in die 1880er Jahre hatte sich die Statistische Gesellschaft ausschließlich durch private Mittel finanziert.155 Nun hofften einige ihrer Mitglieder, den günstigen Augenblick der 150 Der

Mediziner William Guy war der führende Vertreter dieser Position. Bereits 1873 hatte er in einem Vortrag die Auffassung vertreten, die Statistische Gesellschaft solle ein Zentrum ernster wissenschaftlicher Forschung werden, das dann seine Dienste auch jenen anbieten könne, denen es besonders um praktische Reformen zu tun sei, vgl. Beitrag von William Guy in: JSSL 36 (1873), S. 45; auch Mouat, History of the Statistical Society, S. 44. 151 Aus diesem Grund publizierte der Jubiläumsband von 1885, der eigentlich eher dazu ange­ tan war, von den Erfolgen der Gesellschaft in der sozialpolitischen Gesetzgebung Zeugnis abzulegen, gleich vier neue Beiträge zu Theoriefragen, darunter die wegweisenden Aufsätze von Francis Y. Edgeworth, Methods of Statistics, in: Jubilee Volume of the Statistical So­ ciety, London 1885, S. 181–217; und Francis Galton, A Common Error in Statistics. The Application of a Graphic Method to Fallible Measures, in: Jubilee Volume of the Statistical Society, London 1885, S. 262–265, S. 266–271 (Diskussion). Die Verfeinerung von Wahr­ scheinlichkeitsberechnungen und die Ermittlung von Fehlerkoeffizienten belebten in der Tat die theoretische Diskussion. 152 Abrams, Origins, S. 25. 153 Mouat, History of the Statistical Society, S. 23. 154 Ebd., S. 36, S. 43. 155 Jubilee Volume of the Statistical Society, S. 2. Das hatte schon der Präsident der Gesells­ chaft, Sir Rawson W. Rawson, betont, „[L]ike the majority of similar bodies existing in this country […] founded, and maintained, independent of any official recognition or support.“

76   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform politischen Krise zu nutzen, um durch den Verweis auf die Brauchbarkeit der Sta­ tistik als neuer ‚empirischer Staatskunde‘156 staatliche Stellen zu einer wenigstens teilweisen Kostenbeteiligung zu bewegen. Dies gelang zwar nicht, doch wurde der Gesellschaft zwei Jahre nach den Jubiläumsfeierlichkeiten, 1887, eine öffentliche Anerkennung durch die Verleihung der Royal Charter zuteil. Ursprünglich von Charles II für „original research in pure science and physical research“157 einge­ führt, hatte ihre Vergabe eine stete Erweiterung erfahren und erhöhte nun das Prestige der Gesellschaft durch die Zuteilung einiger Privilegien und finanzieller Entlastungen. Die im Gegenzug vom Staat diktierten Auflagen betrafen den Nach­ weis ihrer Gemeinnützigkeit. Die Royal Statistical Society existiert bis heute. Die von den Statistikern geführten Debatten über die Brauchbarkeit ihrer Dis­ ziplin erreichten Whitehall mit geringer Verzögerung. Ein 1892 eigens zur Prü­ fung staatlicher Kriminalstatistiken einberufenes Departmental Committee kam in seinem allerdings erst 1895 veröffentlichen Abschlussbericht zu dem Ergebnis, dass englische Kriminalstatistiken tatsächlich vielen kontinentaleuropäischen, be­ sonders den französischen, unterlegen seien. An ihrer Wichtigkeit und Nützlich­ keit zweifelte indes niemand. Zur Abhilfe von Schwachpunkten gab das Komitee eher technische Empfehlungen, die die Standardisierung der Methoden gewähr­ leisten und das akkurate Sammeln von großen Datenmengen verbessern sollten. Das Komitee sprach sich aber entschieden gegen den Ausbau noch umfangreiche­ rer Datensammlungen mit individuellen Details zu den einzelnen Straftätern mit der Begründung aus, diese Informationen hätten keine „deductions of practical utility“158 hervorgebracht. Die von Beamten des Home Office besetzte Kommission distanzierte sich da­ mit deutlich von den Hoffnungen der am Ende des 19. Jahrhunderts aufkommen­ 156 Vgl.

dazu auch William Farr, Inaugural Presidential Address, 21st November 1871, in: JSSL (1871), S. 409–423. Farr, langjähriger Leiter des General Register Office, verwies aus Anlass der Übernahme der Präsidentschaft der Statistical Society auf die folgenreiche Beziehung zwischen Statistik und Verwaltung: „Statistics underlies politics; it is, in fact, in its essence the science of politics without party colouring; it embraces all the affairs in which govern­ ments, municipalities, local boards, and vestries are concerned.“ Für Zeitgenossen zeichnete diese Praxisnähe Statistik gegenüber einer als zu abstrakt-theoretisch empfundenen politi­ schen Ökonomie aus. Lord Farrer machte in den 1890er Jahren eine „great revolt against political economy“ aus, ein Aufbegehren gegen eine „science which in our youth we were taught to accept almost as a revelation.“ Farrer erinnerte an Malthus’ Bevölkerungstheorien und den Mechanismus von Angebot und Nachfrage. Tatsächlich aber gebe es inzwischen nicht nur mehr Nahrung als Menschen, sondern diese Menschen vermehrten sich auch nicht in der von Malthus vorausgesagten Ratio. Es sei nicht verwunderlich, dass die poli­ tische Ökonomie nun Gefahr laufe, „of being swallowed up by the somewhat amorphous entity which claims the title of Sociology or Social Science.“ Siehe Lord Farrer, Inaugural Address, The Relations between Morals, Economics, and Science: Session 1894/95, in: JSSL 57 (1894), S. 595–596. 157 Mouat, History of the Statistical Society, S. 56. 158 Report of the Departmental Committee appointed to revise the Criminal Portion of the Ju­ dicial Statistics, in: Criminal Statistics for the Year 1893, Parliamentary Papers (1895), C. 7725, Bd. 108, S. 5–68; siehe insgesamt dazu Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 103–107, bes. S. 106.

2.3. Statistische Gesellschaften und staatliche Verwaltungen   77

den und vor allem in britischen psychiatrischen Kreisen diskutierten Kriminalan­ thropologie, die sich zur Aufschlüsselung der Kriminalitätsgenese ganz auf die Konstitution des Straftäters konzentrierte und sich gerade von medizinischen Untersuchungen und individuellen Befragungen Aufklärung versprachen.159 Der Mehraufwand, den solche Untersuchungen und Befragungen bedeuteten, stand für die Beamten des Home Office in keinem Verhältnis zum Nutzen, den sie da­ raus für ihre praktische Verwaltungsarbeit gewinnen konnten. Die englische Kommission hielt stattdessen an der Vorstellung fest, man müsse zur Aufklärung des Entstehungsprozesses von Kriminalität das Augenmerk besonders auf ihre lo­ kale bzw. geographische Verteilung richten und auf „particular classes of crime“ achten. Diese Informationen seien eher dazu geeignet, „to assist in the right ap­ preciation of its causes and conditions, and of the possible means by which it may be held in check, than any other statistical information that can be accurately obtained.“160 Kriminalpolitisch erschienen die analysierbaren ökonomischen und geographi­ schen Schwankungen und Unterschiede in Zusammenhang mit Kriminalität wichtiger und brauchbarer als die Analyse individueller Straftäter auf der Suche nach einer spezifischen Täterkonstitution. Die staatlichen Stellen konzentrierten sich jedenfalls primär auf jene Umweltfaktoren, die sich durch reformerisches Eingreifen ändern ließen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde deshalb die geographische Verteilung von Kriminalität in England und Wales in die Statisti­ ken aufgenommen. Ihre Interpretation blieb allerdings nach Auffassung von Leon Radzinowicz und Roger Hood „stereotyped and superficial“.161 Dass die Seehäfen in Bezug auf Kriminalitätsraten alle anderen Regionen weit hinter sich ließen, schrieb man der „transitory population“ zu. Dies war keine große Überraschung, ebenso wenig die Erkenntnis, dass Eigentumsdelikte in urbanen Zentren höher zu Buche schlugen als in ländlichen Regionen und mit der Bevölkerungsdichte zu­ nahmen.162 Kriminalitätsstatistiken ließen weder inhaltliche Aussagen über das kriminelle Milieu zu, noch konnten sie etwas über die Beschaffenheit des Straftäters aussa­ gen. Was sie aufzeigen konnten, waren Korrelationen, die zuvor nur vage ange­ nommen worden waren, nun aber durch den Verweis auf mathematische Berech­ nungen scheinbar objektiv bestätigt wurden. Ganz sicher trugen die Sozialstatisti­ ken dazu bei, die Zuschreibungen individuellen Versagens abzuschwächen und auf überindividuelle Faktoren zu verweisen, die Kriminalität bedingen konnten. 159 Vgl.

dazu die beiden folgenden Kap. 3 und 4. of the Departmental Committee appointed to revise the Criminal Portion of the ­Judicial Statistics, S. 40. 161 Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 72; die Kategorien waren: metropolis (London), mining counties, manufacturing towns, seaports, pleasure towns, und drei Typen von agricultural counties. 162 Zu diesen Angaben siehe Introduction to the Criminal Statistics for the Year 1893, Parliamentary Papers (1895), Cd. 7725, S. 82–92; Introduction for the Criminal Statistics for the Year 1894, Parliamentary Papers (1896), C. 8072, S. 22–25; Introduction for the Criminal Statistics for the Year 1898, Parliamentary Papers (1900), Bd. 103, Cd. 123, S. 32 f. 160 Report

78   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform Was aber die Beschreibung des kriminellen Milieus und den Straftäter selbst be­ traf, so bedurfte es anderer Methoden, um darüber Aufschlüsse zu erlangen. Es war ein Journalist, der sich in den 1850er Jahren dieser praktischen Aufgabe an­ nehmen sollte.

2.4. Der teilnehmende Beobachter: Henry Mayhew und die Anfänge der empirischen Sozialforschung in England Die vielen populären Ausgaben, die von Henry Mayhews London Labour and the London Poor existieren, sprechen für die Beliebtheit seiner detailfreudigen und journalistisch brillanten Darstellung der Londoner Unterschichten in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Darüber wird leicht vergessen, dass Mayhew als der wich­ tigste Sozialforscher der mittleren viktorianischen Epoche gelten darf.163 Mayhew steht für die Entwicklung einer eigenen Methode, die den Gewinn neuer und ­andersgearteter Erkenntnisse über die Unterschichten in Aussicht stellte, als sie Statistiker zu liefern imstande waren. Orientiert an naturwissenschaftlichen Ver­ fahren versuchte er sich an einer Systematik krimineller Tätigkeiten, die den ­Beginn empirischer Sozialforschung in England markiert. Als Sohn eines Londoner Anwalts hatte Mayhew früh literarische Ambitionen entwickelt und schon in jungen Jahren Novellen und Theaterstücke verfasst. In den 1840er Jahren wurde er zunächst als Gründer und kurzzeitiger Herausgeber des Satiremagazins Punch bekannt. Nach seinem Wechsel als Journalist zum Morning Chronicle begann er im Oktober 1849 mit einer Artikelserie, die als eine vollständige und detaillierte Beschreibung der moralischen, intellektuellen, mate­ riellen und physischen Zustände der ärmeren Bevölkerung angekündigt wurde.164 Diese Serie bildete die Grundlage der ersten beiden Bände seiner umfangreichen Dokumentation über Life and Labour of the People of London, die dann bis 1864 auf vier Bände anwuchs.165 Aus seiner Zusammenarbeit mit John Binny, einem 163 Zu

Henry Mayhews (1812–1887) Biographie siehe Anne Humphery, Travels into the Poor Man’s Country, Atlanta 1977; zu der Briefserie im Morning Chronicle siehe E.P. Thompson und Eileen Yeo (Hrsg.), The Unknown Mayhew, London 1973, darin E.P. Thompson, May­ hew and the Morning Chronicle, S. 1–50; Eileen Yeo, Mayhew as a Social Investigator, S. 51– 95; David Englander, Henry Mayhew and the Criminal Classes of Victorian England, in: Criminal Justice History 17 (2002), S. 87–108; Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 78; zu seinem Untersuchungsstil siehe Raymond A. Kent, A History of British ­Empirical Sociology, London 1981, S. 43–51; zu Mayhews Interviewtechnik siehe James ­Bennett, Oral History and Delinquency: The Rhetoric of Criminology, Chicago 1981 (bes. Kap. 1 und 2); kritisch zum Poverty-Begriff bei Mayhew siehe Gertrude Himmelfarb, The Culture of Poverty, in: Harold James Dyos und Michael Wolff (Hrsg.), The Victorian City: Images and Realities, Bd. 2, London 1973, S. 707–736, und Karel Williams, From Pauperism to Poverty, London 1981, S. 237–277. 164 Henry Mayhew, London Labour and the London Poor. Selections Made and Introduced by Victor Neuburg, London 1985, S. XIX (im Folgenden zit. als Ausgabe „1985“). 165 Henry Mayhew, London Labour and the London Poor: A Cyclopedia of the Conditions and Earnings of Those That Will Work, Those That Cannot Work, and Those That Will Not Work, 4 Bde, London 1864 und 1865; die ersten beiden Bände erschienen 1851 und 1852.

2.4. Der teilnehmende Beobachter   79

Kollegen beim Morning Chronicle, ging 1862 parallel dazu der Band Criminal ­ risons of London and Scenes of Prison Lives hervor.166 Zusammen mit dem vier­ P ten Band der Life and Labour-Serie widmete sich dieses Buch ausschließlich ­denen, ‚that will not work‘. Beide Publikationen versorgten die Öffentlichkeit mit überreichem Anschauungsmaterial zu einer Vielzahl krimineller Tätigkeiten und zu den Praktiken des englischen Strafvollzugs.167 Auch Mayhew bekannte, von einem sozialen Impuls angetrieben zu werden. Er lege seine Ergebnisse in dem Wunsch vor, die Bedingungen der ausgebeuteten sozialen Außenseiter zu verbessern, indem er über ihre Lebensumstände Bericht erstatte.168 Was hier wie philanthropische Rhetorik klang, war es indes im her­ kömmlichen Sinne nicht. Gegen eine evangelikale Wohltätigkeit nahm Mayhew eine äußerst kritische Haltung ein. Nicht nur deren Moralisieren, auch deren Tä­ tigkeit hielt er in Anbetracht der Größe des sozialen Elends für völlig unangemes­ sen. Herkömmliche Wohlfahrt, so sein Einwand, schaffe zu große Abhängigkeiten. Außerdem legten Philanthropen einen übertrieben großen pädagogischen Ehr­ geiz an den Tag.169 Mayhews Antwort auf evangelikale Wohltätigkeit war eine, seiner Auffassung nach, besser mit wissenschaftlichen Mitteln versuchte Auseinandersetzung mit Armut und Kriminalität. Als einer der ersten konzipierte er diese Auseinanderset­ zung auch als kritisches Gegenprogramm zur orthodoxen politischen Ökonomie. Mayhew kritisierte deren Realitätsferne, da sie sich mit den negativen Auswirkun­ gen einer wachsenden industriellen Marktwirtschaft einzig rein theoretisch be­ fasse. Von den politischen Ökonomen seiner Zeit sprach er als einer Sekte von Sozialphilosophen, die in einer Art Elfenbeinturm über Dinge reflektierten, von denen sie eigentlich keine rechte Ahnung hatten, besonders nicht von den Bedin­ gungen der industriellen Arbeiterklasse. Was dabei herauskomme, sei „PseudoWissenschaft“.170 Mayhews Arbeit schlug den entgegengesetzten Weg ein, sozusagen von unten kommend und mitten ins Leben hinein. Sein Bemühen bestand darin eine Ge­ schichte zu präsentieren, die von den Menschen selbst erzählt wurde und alle De­ tails umfassten, die ihre Arbeit, ihr Einkommen, ihre Lebensumstände betraf.171 Warum Mayhew seine Arbeit als eine wissenschaftliche begriff, wird deutlich, wenn man sich seine diesbezüglichen Reflexionen in der Einleitung zum vierten Band von Life and Labour, der sich ausschließlich vice und crime widmet, genauer 166 Henry

Mayhew und John Binny, Criminal Prisons of London and Scenes of Prison Lifes, London 1862; dieser Band war aus der monatlichen Serie „The Great World of London“ im Daily Chronicle hervorgegangen. 167 Siehe dazu auch Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 78, Anm. 78. 168 Mayhew, London Labour (1985), S. 447. 169 Ebd., S. XVIII; zu Mayhews Ablehnung religiös motivierter Wohlfahrtsarbeit siehe auch E.P. Thompson, The Political Education of Henry Mayhew, in: Victorian Studies 11 (1967), S. 41– 62, bes. S. 51. 170 Henry Mayhew, Low Wages: Their Causes, Consequences and Remedies, London 1851, S. 126. 171 Vgl. dazu Levin und Lindesmith, English Ecology, S. 806.

80   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform anschaut. Hier beschäftigt er sich mit der Frage, auf welche Weise aus bloßen Fak­ ten wahres Wissen werde. Fakten allein boten ihm noch keinerlei Erkenntnis, es musste die Tätigkeit des Vergleichens und Unterscheidens hinzukommen, mithin ein systematisierender Umgang mit den Fakten stattfinden.172 Erst aus dem Vergleich konnten nach Mayhews Ansicht Verallgemeinerungen formuliert werden, erst daraus konnte eine Theorie entstehen. Diese mochte falsch oder fehlerhaft sein, aber „facts without theory or generalization cannot possibly teach us at all. What the process of digestion is to food, that of general­ izing is to fact […] Contrary to the vulgar notion, theory, that is to say, theory in its true Baconian sense, is not opposed to fact, but consists rather of a large col­ lection of facts; it is not true of this or that thing alone, but of all things belong­ ing to the same class – in a word, it consists not of one fact but an infinity.“173 Mayhew erwies sich damit als Verfechter eines induktiven Verfahrens als Voraus­ setzung dafür, dass neue Erkenntnisse überhaupt gewonnen werden konnten. Während die Deduktion von den Prinzipien zu den Fakten fortschreite, so May­ hew, schreite Induktion von den Fakten zu den Prinzipien zurück. Die erste erklä­ re, die zweite untersuche, die erste appliziere allgemeine Regeln auf ein bestimm­ tes Phänomen, die zweite klassifiziere einzelne Phänomene, so dass man am Ende auf eine allgemeine Regel schließen könne: „The deductive method is the mode of using knowledge, and the inductive method the mode of acquiring it.“174 Da es Mayhew um den Erwerb ganz neuer Erkenntnisse über die Lebensum­ stände der unteren Schichten ging, kam für ihn selbstredend nur eine induktive Vorgehensweise in Frage, d. h. er musste so viele Fakten in so vielen Beziehungen wie möglich erfassen.175 Folglich enthielt, auch in Anlehnung an die statistische Bewegung, der mit Binney herausgegebene Band über The Criminal Prisons of London neben detaillierten, literarisch anspruchsvollen Beschreibungen der Lon­ doner Gefängnisse und ihrer Insassen, die auf eigene Beobachtungen der beiden Autoren zurückgingen, auch eine Fülle von Statistiken und erhellenden Beobach­ tungen über Themen wie Jugenddelinquenz, die Entwicklung von jugendlichen Straftätern zu Gewohnheitsverbrechern, Rückfallquoten, weibliche Kriminalität, die Konzentration bestimmter Kriminalitätsarten in bestimmten Bezirken inner­ halb Londons und in bestimmten Grafschaften von England und Wales, die Klas­ sifikation von Kriminalität und Kriminelle, die Evaluation von Polizeistatistiken, Reflektionen über die Methoden der Gefängnisverwaltung und Gefängnisdiszip­ lin, und die Rolle der Familie und der unmittelbaren Umgebung als Bedingungen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Einige der statistischen Ta­ bellen und Karten berücksichtigten England und Wales nach Grafschaften, andere verglichen Städte oder Regionen miteinander, wieder andere analysierten Städte in Bezug auf die Größe der Bevölkerung, die Dichte der Bebauung und der Wohn­ 172 Mayhew,

London Labour (1985), S. 447 f. S. 449, Hervorhebung im Original. 174 Ebd., Hervorhebung im Original. 175 Ebd. 173 Ebd.,

2.4. Der teilnehmende Beobachter   81

situation, die Straßenlage, die Verteilung des Steueraufkommens oder die geogra­ phische Lage berufsgeprägter Viertel, z. B. Chancery Lane für die Juristen.176 Doch die eigentliche Neuheit war die Art und Weise, wie Mayhews selbst die für ihn so wichtigen Fakten im großen Stil für die Life and Labour-Dokumenta­ tion erwarb. Er betrieb sieben Jahre lang, unterstützt von mehreren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, genuine Feldforschung. Direkte Beobachtung, Interviews, Lebensgeschichten, Treffen mit jungen Dieben, entlassenen Sträflingen, Besuche von Bordellen und Gefängnissen, das Sammeln von Informationen unterschied­ lichster Personenkreise, alles galt ihm als vitale und legitime Informationsquel­ len.177 Mayhew interviewte nicht nur Diebe, Einbrecher und Betrüger, er befragte auch Polizisten der Metropolitan Police und Ärzte in Krankhäusern, analysierte die Zahlen des Registrar General und wertete die Erfahrungsberichte von Mitglie­ dern verschiedener Wohlfahrtsorganisationen aus, die in Londoner Slums arbei­ teten.178 Was das Ausmaß und die Durchführung seines Projektes betraf, so hatte Mayhew keinen vergleichbaren Vorgänger. Mit seinem unorthodoxen Verfahren schuf er die empirische Sozialforschung und schlüpfte selbst dabei in die – später so bezeichnete – Rolle des teilnehmenden Beobachters. Er begründete damit eine Tradition, die sowohl die englische Anthropologie als auch die city- und social survey-Bewegung der 1920er Jahre inspirierte.179 Naturwissenschaftliche Verfahren vor Augen und um wissenschaftliche Syste­ matik bemüht, reflektierte Mayhew ausführlich über die Frage, welche Eintei­ lungskriterien ihm für eine soziale Klassifikation menschlicher Tätigkeiten zur Verfügung standen. Zwar konnten wie bei der Entwicklung von Theorien falsche oder fehlerhafte Klassifikationen vorgenommen werden, aber so schwierig und gefährlich Klassifikationen sein mochten, so wichtig erschienen sie Mayhew doch für die Wissenschaft.180 Für sein Großprojekt wählte er bezeichnenderweise den sehr bürgerlichen Begriff der ‚Arbeit‘ als zentrales Einteilungskriterium und un­ terschied in einem ersten Schritt – angelehnt an biologische Konzepte – solche Individuen, die von eigener Arbeit ihren Lebensunterhalt bestritten, und solche, die ihre Existenz durch die Anstrengung anderer aufrecht erhielten, also „autobious or allobious.“181 Daraus ergab sich eine Einteilung in vier Gruppen: „1. Those that will work, 2. Those that cannot work, 3. Those that will not work und 4. Those that need not work“182 Zu denen, die nicht arbeiten konnten, zählten Geisteskranke oder körperlich gebrechliche oder kranke Personen. Zu denen, die aufgrund eines „moralischen Defektes“183 nicht arbeiten wollten, zählten: „the 176 Siehe

dazu besonders Levin und Lindesmith, English Ecology, S. 806 f.; auch Mayhew setzte Karten und Tabellen ein, verglich Kriminalitätsraten verschiedener Grafschaften miteinan­ der und mit einem errechneten Durchschnitt, analysierte Altersverteilung u. a. m. 177 Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 78. 178 Mayhew, London Labour (1985), S. 473. 179 Siehe dazu Kap. 6.2. 180 Mayhew, London Labour (1985), S. 452. 181 Ebd., S. 450, Hervorhebung im Original. 182 Ebd., S. 451; die vierte Gruppe („Those that need not work“) umfasste die Aristokratie. 183 Ebd., Hervorhebung im Original.

82   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform indolent, vagrant, the professional mendicant, and the criminal.“184 Der Unter­ suchung dieser Gruppe widmete er den vierten Band der Life and Labour-Doku­ mentation, die, wie es Mayhew nannte, als ‚Naturgeschichte des Gewerbefleißes und der Faulheit Großbritanniens im 19. Jahrhundert‘ angelegt war und der Aufklärung über die Physik und Ökonomie von Verbrechen und Vergehen die­ nen sollte.185 Trotz der anerkannten Schwierigkeiten, völlig unterschiedliche Arbeitsformen wissenschaftlich zu klassifizieren, ordnete Mayhew die mit Hilfe direkter Beob­ achtung und Hunderten von Befragungen gesammelten Informationen von ­Dieben, Bettlern, Betrügern, Schwindlern, Prostituierten, Hehlern, Zuhältern und Einbrechern in ein elaboriertes System unterschiedlicher krimineller Tätigkeiten ein, das an die Taxonomie von Naturforschern und Enzyklopädisten des 18. Jahr­ hunderts erinnerte. Die Lebensgeschichte seiner Interviewpartner wurde aufge­ nommen, ihr Habitus beschrieben, ihr modus operandi erläutert, ihre geographi­ sche Zuordnung zu bestimmten Bezirken der Stadt, in denen sie lebten oder ihre Straftaten verübten, vorgenommen.186 In der Öffentlichkeit wurde Mayhews Vor­ gehen bewundert und gefeiert. Das Studium von Kriminellen in ihrem eigenen Lebensraum und außerhalb von Institutionen wie dem Gefängnis, das eine künst­ liche Umgebung darstellte, wurde von Zeitgenossen als etwas ganz Neuartiges wahrgenommen. Viele erhofften sich von einer solchen Untersuchung mehr Auf­ schlüsse über das unbekannte Wesen der lower classes als durch die gelehrten Ab­ handlungen wissenschaftlicher Vereine. In einem zeitgenössischen Artikel über professional thieves kam diese Einstellung zum Ausdruck: Thieving, considered as an art, is only just beginning to be understood in this country; […] Crime will never be cured until its origin and career are thoroughly understood […] Would that the professional thieves would be induced to come forward and candidly tell us all about it. We will never fully understand them until they explain themselves. Police, prison discipline, fence, masters, penal servitude, on each of these subjects a conference of old thieves, earnest and outs­ poken, would speedily teach the public more than they can ever learn from associations for the promotion of social science, parliamentary committees, government commissioners, prison in­ spectors and police reports. Believing that we cannot understand people of any class or charac­ ter unless we go among them, see them in their open hours of unreserved communication, and hear what they have to say for themselves.187

Worin bestanden Mayhews wesentliche Erkenntnisse? Kriminalität, so seine zent­ rale Aussage, war das Ergebnis einer (noch) nicht vollzogenen Anpassung. Die kriminelle Klasse ließ sich offensichtlich nicht in eine settled industrial society in­ tegrieren, nicht weil sie, wie später Cesare Lombroso und andere behaupten wer­ 184 Ebd.

185 Ebd.,

S. 452; vgl. auch Davie, Tracing the Criminal, S. 49. als ein Dutzend Selbstbeschreibungen und Narrative von professionellen Gewohn­ heitsverbrechern bereicherten in Ich-Erzählung das Kaleidoskop der Londoner Unterwelt, siehe Mayhew, London Labour (1985), S. 496–499. 187 Cornhill Magazine 6 (1862), S. 640–653, zit. nach Levin und Lindesmith, English Ecology, S. 808, Anm. 9. Der Artikel stammte von einem Geistlichen, der sich selbst rühmte, in der Vergangenheit keine Gelegenheit versäumt zu haben, um sich mit „the origin, character, acts and habits of professional thieves“ bekannt zu machen. 186 Mehr

2.4. Der teilnehmende Beobachter   83

den, konstitutionell auf einer früheren Stufe der Menschheitsentwicklung stehen geblieben war, also atavistische Wesen verkörperte, sondern weil ihre Lebensform einem unsteten Nomadenleben glich, das Nichtsesshaftigkeit zur Regel machte: „Of the thousand millions of human beings that are said to constitute the popu­ lation of the entire globe, there are – socially, morally, and perhaps even physi­ cally considered – but two distinct and broadly marked races, viz., the wanderers and the settlers – the vagabond and the citizen – the nomadic and the civilised tribes.“188 Was sich, wie Neil Davie interpretiert hat,189 als Anleihe an anthropo­ logische Studien und damit rassistische Überlegungen liest, war von Mayhew nicht intendiert. Zwar sprach er tatsächlich innerhalb seiner Arbeitsklassifikatio­ nen von Gruppen von Parasiten, die sich auf Kosten anderer am Leben erhielten. Doch Kriminalität begriff Mayhew vor allem als ein Problem, das sich aus der Struktur des Zivilisationsprozesses selbst ergab. Das Vorhandensein von Wande­ rern und Siedlern zeige nur, dass Kriminelle jenen Teil der Gesellschaft verkör­ perten, der sich noch nicht an zivilisierte Sesshaftigkeit gewöhnt habe.190 In den Prisons of London schrieben Mayhew und Binney sogar dezidiert gegen populistische Vorstellungen von physiognomisch erkennbaren Verbrechertypen und gegen deren biologische Determiniertheit an: „But crime, we repeat, is an ef­ fect with which the shape of the head and the form of the features appear to have no connection whatever. […] Again we say that the great mass of crime in this country is committed by those who have been bred and born to thebusiness, and who make a regular trade of it, living as systematically by robbery or cheating as others do by commerce at the exercise of intellectual or manual labour.“191­ „[B]red red and born“ meinte nicht eine erbliche Vorbelastung, sondern krimi­ nelles Verhalten als erlerntes Verhalten, das sich als Folge aus dem Hineingebore­ nen-Werden in ein kriminelles Milieu und in ärmliche Verhältnisse fast zwangs­ läufig ergab, in dem Betteln und Stehlen an der Tagesordnung waren. Kinder und Jugendliche, die keine elterliche Kontrolle erfuhren, nicht zur Schule gingen, sich selbst überlassen blieben, waren extrem anfällig für die in diesem Milieu tolerier­ ten Verhaltensweisen. Weil sich aber aus diesen kindlichen und jugendlichen ­Delinquenten die Gewohnheitskriminellen von morgen rekrutierten, sah Mayhew als einzige effektive Kriminalitätsbekämpfung den Versuch an, diese frühen kri­ minellen Karrieren zu verhindern und damit den ‚Nachschub‘ an professionellen Kriminellen zu unterbinden. Die wichtigste und zugleich folgenreichste Unterscheidung, die Mayhew in sei­ ner Systematisierung traf, war die zwischen dem professional criminal, der eine habituelle Disposition zur Arbeit aufwies und kriminelle Unternehmungen als ­reguläres Mittel zum Erwerb seines Lebensunterhaltes einsetzte, und dem casual 188 Mayhew,

London Labour, Bd. 1, London 1851, S. 1; hier zit. nach Davie, Tracing the Crimi­ nal, S. 44. 189 Vgl. Davie, Tracing the Criminal, S. 42. 190 Vgl. auch Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 81. 191 Mayhew und Binny, Criminal Prisons of London, S. 411, hier zit. nach Levin und Lindesmith, English Ecology, S. 811.

84   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform offender, der aus einem zufälligen Grund dazu kam, erwachsen aus dem temporä­ ren Druck der Umstände.192 Mayhew unterschied professionelle oder Gewohn­ heitsverbrecher weiter in solche, die sich das, was sie benötigten, von anderen nahmen (z. B. Diebe, Einbrecher), und jene, die das, was sie wollten, von anderen bekamen (z. B. Zuhälter, Hehler). Weitere Sub-Unterscheidungen nahmen dann die auch von der Polizei bevorzugte Unterscheidung der Verbrechergruppen nach dem jeweiligen Modus Operandi vor.193 Achtzig Prozent aller zur Anklage ge­ brachten Straftaten, so nahm Mayhew an, wurden von Gewohnheitsverbrechern verübt.194 Mayhews Klassifizierung in professionelle und Gelegenheitskriminelle stellte ein Ordnungssystem vor, dass dem Bedürfnis der leistungsorientierten und ver­ unsicherten Mittelschicht nach klarer Beschreibung und Zuordnung der krimi­ nellen Klasse sehr entgegen kam. Allerdings, so gibt Radzinowicz zu bedenken, sei Mayhew offensichtlich ein Sklave seiner eigenen Klassifikationen geworden, denn seine Kategorien für Kriminelle hätten sich in künstliche Abstraktionen verfes­ tigt.195 Vor allem die Vorstellung einer professionellen Klasse von Dieben mit lu­ krativen Geschäften entsprach wohl kaum der Wirklichkeit, wurde aber als Stim­ mungsbild in den Medien anhaltend beschworen.196 Das Bild eines erfolgreichen, ganz in einem professionellen kriminellen Lebenswandel aufgehenden Täters ­erschien plausibel, weil es die Negativschablone für einen Lebensstil abgab, dem sich die aufstrebende professional middle class selbst verschrieben hatte: einem aus eigener Leistung durch Erziehung, Bildung, Training und Expertise zum Wohl­ stand aufsteigenden bürgerlichen Professionellen, der um politische Mitsprache kämpfte.197 Bei seinen bürgerlichen Zeitgenossen konnte Mayhew mit seinen Anleihen an wirtschaftliche Überlegungen und dem Konzept klassischer Arbeitsteilung auf Verständnis hoffen. Für William Pare, Autor eines Vortrags mit dem bezeichnen­ den Titel A Plan for the Suppression of the Predatory Classes von 1862, war Krimi­ nalität eine Geschäftsangelegenheit, die Adam Smiths Prinzip der Arbeitsteilung verkörpere.198 Auch der Gefängnisreformer Matthew Davenport Hill hatte unter Zugrundelegung von Polizeidaten, die auch Mayhew als Grundlage dienten und in denen von „habitual depredators“ die Rede war, betont, dass die Größe der Eigentums­delikte ein Beweis für die Existenz einer Klasse von Personen sei, die Kriminalität durchaus als Beruf und Berufung auffasse und keineswegs durch zu­ 192 Zur

Unterscheidung von casual und professional criminal siehe Mayhew, London Labour Bd. 4, London 1862, S. 28–35 (Neuausgabe Dover 1968). 193 Vgl. Davie, Tracing the Criminal, S. 43. 194 Vgl. Radzinovicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 81–82; Mayhew bezog sich dabei auf Zahlen des Constabulary Commissioners Report von 1839, der allerdings noch keinerlei Unterscheidung in Gewohnheits- und Gelegenheitsverbrecher vornahm. 195 Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 82. 196 Siehe Freitag, A Perverse Determination, S. 223–226. 197 Siehe Harold Perkin, The Rise of Professional Society. England since 1880, London 1989. 198 William Pare, A Plan for the Suppression of the Predatory Classes, in: Transactions 1862 [1863], S. 473–487, hier S. 480.

2.5. Innovative Sozialpolitik durch professionelle ­Expertise   85

fällige Verführungen oder kurzfristige Leidenschaften zu kriminellen Handlungen verleitet würden.199 Mayhews Kriminalitäts-Taxonomie hatte ein Wesen geschaf­ fen, das die verbesserten Rückfallstatistiken nach 1880 auf ihre Weise erneut kon­ struieren würden: den Gewohnheitsverbrecher.

2.5. Innovative Sozialpolitik durch professionelle ­Expertise: Die National Association for the Promotion of Social Sciences Die Statistiker waren auf dem Zenith ihres Einflusses, als am 29. Juli 1857 in Lon­ don die National Association for the Promotion of Social Sciences gegründet wurde. Treibende Kraft hinter diesem Projekt war Lord Brougham, der als Lord Chancellor (von 1830-1834) die erste große Reform Bill 1832 durch das House of Lords gebracht hatte und auch nach seiner politischen Karriere eine zentrale ­Figur in außerparlamentarischen Sozialreformprojekten blieb.200 Mit der Grün­ dung der Gesellschaft verfolgte er nach eigenen Aussagen die Absicht, so weit wie möglich alle Leute zusammenzubringen, die gegenwärtig mit der sittlichen Ver­ besserung der Menschen zu tun hatten.201 Es wurde kein Geheimnis daraus ge­ macht, dass die British Association for the Advancement of Science mit ihren ver­ schiedenen Sektionen als organisatorisches Vorbild diente.202 Als Geschäftsführer (general secretary) der Gesellschaft fungierte der Rechtsanwalt George Woodyatt Hastings. 1856 war auf der Jahrestagung der BAAS in Cheltenham zunächst der Versuch unternommen worden, eine eigene law and jurisprudence-Sektion inner­ halb der BAAS zu etablieren.203 Aber ähnlich wie seinerzeit die Statistische Sek­ tion F in die British Association nur gegen große Widerstände und mit Beschrän­ kungen etabliert werden konnte, weil sie angeblich die Naturwissenschaften kom­ promittierte, wurde diese Sektionsgründung durch den heftigen Widerstand der Naturwissenschaftler gänzlich vereitelt. Die Social Science Association, wie sie bald allgemein genannt wurde, war als offenes Diskussionsforum konzipiert, das alle Aspekte einer innovativen Sozialpoli­ tik zur Sprache bringen sollte. Lawrence Goldman, der die erste umfassende Arbeit über die Gesellschaft verfasst hat, hat auf den besonderen Kontext ihrer Entstehung hingewiesen. In einer Zeit, in der sich die Regierungspolitik vornehmlich mit au­ 199 Vgl. Select

Committee on Criminal and Destitute Juveniles (1852), Bd. 7, Appendix 9, S. 463– 466, zit. in Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 76. 200 Henry Peter Brougham, 1st Baron Brougham and Vaux (1778–1868) gelang es nicht nur li­ berale, sondern auch moderat konservative Abgeordnete für die Gründung der NAPSS zu gewinnen; vgl. dazu Lawrence Goldman, Science, Reform, and Politics in Victorian Britain. The Social Science Association 1857–1886, Cambridge 2002, S. 30. 201 Minutes of a Private Meeting Held at Lord Brougham’s Residence, 4 Grafton Street, Bind St., on Wednesday the 29th Day of July, G.W. Hastings Collection, Leeds; zit. nach Goldman, Science, S. 29; 202 Zit. nach Goldman, Science, S. 29 [Hastings collection Leeds]. 203 Vgl. dazu ebd., S. 51 f.

86   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform ßenpolitischen Fragen beschäftigt und darüber innenpolitische Reformen vernach­ lässigt habe, und zugleich in einer Zeit, in der sich eine noch stark aristokratisch geprägte, unreformierte Bürokratie dieser Fragen nur ad hoc und unter wachsen­ dem Druck angenommen hätte, sei die Gründung einer solchen Organisation fast als Notwendigkeit erschienen.204 Ihre Funktion als außerparlamentarisches Bera­ tungsgremium, das die legislative Verankerung neuer, vor allem sozialer Reformen als ihre Aufgabe betrachtete, wurde von Anfang an klar formuliert. In der Eröff­ nungsansprache betonte Lord Brougham, Ziel der SSA sei es, die Gesetzgebung zu unterstützen, indem man Maßnahmen entwickeln, erklären und ihre Einführung oder Annahme in die staatlichen Verwaltungen empfehlen wolle.205 Genaugenom­ men sollte es um die Einführung von „scientific principles into the administration of civil affairs“206 gehen. Die vielen persönlichen Kontakte und Verbindungen, die zwischen den Mitgliedern der SSA und dem Parlament bzw. den staatlichen Ver­ waltungen existierten, garantierten diesem Vorhaben einigen Erfolg.207 In der Statistical Society und der Social Science Association gab es viele Dop­ pelmitgliedschaften: 18 Peers, 28 Unterhausabgeordnete, Autoren wie John Stuart Mill, John Ruskin, Charles Kingsley und Politiker wie John Russel und William Gladstone bildeten Teil einer beeindruckenden Mitgliederliste viktorianischer ­Intellektueller, ergänzt durch Verwaltungsangestellte und Statistiker wie Edwin Chadwick, William Farr, John Simon und James Kay-Shuttleworth.208 In einer Zeit, in der die Entwicklung und Formulierung sozialpolitischer Programme noch keine Angelegenheit von Parteien war, eröffneten die jährlich von der Social Sci­ ence Association organisierten, von Tausenden von Zuhörern besuchten Kongres­ se ein Diskussionsforum für drängende innenpolitischen Fragen.209 204 Siehe

Goldman, Science, S. 14. Transactions of the National Association for the Promotion of Social Science (1857): Inaugural Addresses and Select Papers, London 1858, S. 23; siehe auch Abrams, Ori­ gins, S. 47. 206 Transactions 1857 (1858), S. 315; die erste Jahreszahl steht für das Veranstaltungsjahr, die zweite Jahreszahl in eckigen Klammern bezeichnet das Publikationsjahr. 207 Zum großen Einfluss der NAPSS siehe Goldman, Science, S. 262–265; Goldman kann dezi­ diert die Formulierung verschiedener Gesetze auf ihre Ausarbeitung in der Social Science Association zurückführen (vgl. ebd., S. 3). Auf den Druck der NAPSS ging die Berufung der Royal Sanitary Commission von 1869–70 zurück, die Reformen im öffentlichen Gesund­ heitswesen Anfang der siebziger Jahre einleitete, die im Public Health Act von 1875 gesetzlich verankert wurden. Nach vielen Diskussionen über die Reformziele im Strafvollzug hatte die NAPSS auch maßgeblichen Einfluss auf die Verabschiedung des Habitual Criminals Act von 1869 und des Prevention of Crime Act von 1871; zur Einschätzung siehe auch Sociological Review 6 (1913), S. 161–163. 208 Goldman, Science, S. 2; James Kay Shuttleworth war Cholera-Doktor und Mitglied der Manchester Statistical Society. Seine 1832 erschienene Studie The Moral and Physical Con­ ditions of the Working Classes Employed in the Cotton Manufacture in Manchester half mit, den Focus lokaler Untersuchungen über den Zustand der Arbeiter nicht auf die Zentren der Schwerindustrie zu beschränken, siehe Yeo, Social Surveys, S. 89. 209 Zur noch unreformierten Bürokratie und dem Bedarf externer Expertise siehe Goldman, Science, S. 14–15; Richard Jones, Administrators in Education before 1870. Patronage, So­ cial Position and Role, in: Gillian Sutherland (Hrsg.), Studies in the Growth of Nineteenth Century Government, London 1972, S. 110–138; auch Roy M. MacLeod, Introduction, in: 205 Siehe

2.5. Innovative Sozialpolitik durch professionelle ­Expertise   87

Als Dachorganisation vereinigte die Social Science Association zahlreiche klei­ nere Reformgruppen unter sich. Zu den zentralen Gründungsmitgliedern gehör­ ten drei Organisationen: die Law Amendment Society, die National Reformatory Union (NRU) und eine Gruppe, die sich für die Verabschiedung des Married Women’s Property Act einsetzte.210 Das Anliegen der Law Amendment Society war eine gründliche Reform des englischen Rechtssystems.211 Seit 1846 hatte sich ­innerhalb dieser Gesellschaft ein eigenes Strafrechtskomittee gebildet, das sich ­besonders mit strafrechtsphilosophischen Theorien auseinandersetzte. Erstes Er­ gebnis war 1847 die Publikation Draft Report on the Principles of Punishment des Gefängnisreformers Matthew Davenport Hill.212 Hill schlug darin u. a. spezielle Einrichtungen für jugendliche Straftäter vor, um den kontaminierenden Kontakt mit erwachsenen Straftätern in herkömmlichen Gefängnissen zu unterbinden. In gewisser Weise wurde dieses Buch zur ‚Bibel‘ einer neuen Gefängnis-Reformbe­ wegung, die in den späten 1840er Jahren eine Gründungswelle neuer reformatories in Gang setzte. Die bekanntesten Leiter solcher Erziehungsanstalten in den unterschiedlichen Regionen des Landes – darunter Mary Carpenter, Joseph Stur­ ge, Thomas Barwick Lloyd-Baker und Charles Bowyer Adderley, der spätere Lord Norton213 – formierten sich zur National Reformatory Union (NRU). Aufgrund personeller und publizistischer Verbindungen – Davenport, Hastings und Broug­ ham waren Mitglieder sowohl der Law Amendment Society als auch der National Reformatory Union, die aufgrund des Mangels an einer eigenen Zeitschrift ihre Anliegen im Law Amendment Journal publizierte – lag es nahe, dass beide Gesell­ schaften den Kern der neuen Social Science Association bilden würden und da­ durch sowohl die Reform des englischen Justiz- und Strafvollzugsystems als auch Fragen nach Kriminalitätsursachen und ihre Bekämpfung zu den zentralen De­ batten innerhalb der Gesellschaft machen würden.214 Besonders die National Reformatory Union benutzte die Social Science Associ­ ation als Forum für die Propagierung und Popularisierung ihrer Anliegen.215 Ders. (Hrsg.), Government and Expertise. Specialists, Administrators and Professionals, 1860–1919, Cambridge 1988, bes. S. 15–16. 210 Dabei handelte es sich um ein wichtiges Gesetz, das Frauen zusichern sollte, ihr Vermögen auch nach der Heirat, besonders aber im Falle der Scheidung behalten zu können, siehe Goldman, Science, S. 46. 211 Ebd., S. 33; zu ihren Mitgliedern und den Anliegen, siehe ebd., S. 34 f. 212 Die SSA feierte Davenport als „justly esteemed a foremost authority upon the whole subject of prison discipline“, siehe Transactions 1857 (1858), S. 70; Matthew Davenport Hill, Draft Report on the Principles of Punishment. Presented to the Committee on Criminal Law Appointed by the Law Amendment Society in December 1846, London 1847. 213 Goldman, Science, S. 42–43; zu den reformatories siehe auch Oberwittler, Von der Strafe, S. 105–122. 214 Vor dem Hintergrund der moral panic von 1856 (Grund war die Einstellung des Deporta­ tionssystems, vgl. Anm. 321 in diesem Kapitel) hatte Hastings sogar vorgeschlagen, eine „­Association for Promoting the Amendment of the Law, the Reformation of Offenders and the Prevention of Crime“ zu gründen, siehe Goldman, Science, S. 52. 215 Vgl. dazu die programmatische Rede von George Woodyatt Hastings, Objects and Action of the National Reformatory Union, in: Transactions 1857 (1858), S. 336–338.

88   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform Mary Carpenter, die 1851 ihr Buch über die Reformatory Schools for the Perishing and Dangerous Classes veröffentlicht hatte,216 hielt zwischen 1857 und 1876 allein 36 Beiträge auf den Veranstaltungen der Social Science Association, wobei sie stets äußere Umstände für Jugenddelinquenz verantwortlich machte. Vererbte physi­ sche oder mentale Dispositionen spielten in ihren Überlegungen überhaupt keine Rolle.217 Es ist keine ganz neue Erkenntnis, dass besonders gebildete Frauen durch voluntary work auf lokaler, aber auch auf nationaler Ebene Einfluss gewinnen konnten.218 Vereine wie die SSA boten ihnen die Möglichkeit eines öffentlichen Aktionsraums, in dem sie sich zu einem Zeitpunkt, da das Frauenwahlrecht noch in weiter Ferne lag, in demokratische Verfahrensweisen und Organisationsformen einüben konnten. Weibliche Sensibilität, so die vor allem bürgerliche Zuschrei­ bung von geschlechtsspezifischen Eigenschaften, eignete sich besonders gut für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Es überrascht deshalb wenig, dass neben der traditionellen Wohltätigkeit die Kinder- und Jugendarbeit zum bevor­ zugten Tätigkeitsbereich von sozial engagierten Frauen im 19. Jahrhundert wur­ de. Frauen lieferten in der Social Science Association zwar keine Beiträge in der causes of crime-Sektion, wohl aber in der reformatory- und in der education-Sek­ tion, in denen Behandlungs- und Erziehungsfragen diskutiert wurden. Die Diskussionen über alternative und effiziente Strafformen und -methoden waren auch eingebettet in den Kontext nationaler Debatten über die Einstellung der Deportation von Schwerverbrechern nach Übersee, die seit 1840 diskutiert und in den 1850er Jahren stufenweise realisiert wurde.219 Da man seine Kriminel­ len künftig nicht mehr los werden könne, müsse man sie reformieren, lautete 1856 die Antwort Lord Stanleys auf die einschneidende Veränderung im briti­ schen Strafsystem.220 Zwei Jahre später, auf dem zweiten Kongress der Social Sci­ 216 Mary

Carpenter, Reformatory Schools for the Perishing and Dangerous Classes and for the Prevention of Juvenile Delinquency, London 1851; 1853 erschien ihr Buch Juvenile Delinquents, their Condition and Treatment. 217 Siehe dazu Goldman, Science, S. 145; zu Mary Carpenter siehe ausführlich Bridgeland, Pio­ neer Work, S. 58–65; auch Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 165: „In Mary Carpenter’s view the causes of youthful crime were entirely social and environmen­ tal“; zur endgültigen Gründung der NRU siehe Goldman, Science, S. 44–45. 218 Siehe dazu Frank Prochaska, Women and Philanthropy in Nineteenth-Century England, Oxford 1980; ders., Women in English Philanthropy 1790–1830, in: International Review of Social History 19 (1974), bes. S. 428, S. 442; ders., The Voluntary Impulse. Philanthropy in Modern Britain, London und Boston 1988, bes. S. 74; eine der aufschlussreichsten Arbeiten zu diesem Thema ist Eileen Janes Yeo, The Contest for Social Science. Relations and Repre­ sentations of Gender and Class, London 1996. 219 Ursula R.Q. Henriques, Before the Welfare State. Social Administration in Early Industrial Britain, London 1979, S. 180; endgültig eingestellt wurde die Deportation 1867, fast zeit­ gleich mit der Einstellung öffentlicher Hinrichtungen (1868), die ins Innere der Gefängnisse verlegt wurden, siehe dazu V.A.C. Gatrell, The Hanging Tree – Execution and the English People 1770–1868, Oxford 1996, Epilogue „Ending the Spectacle“, S. 589–611; zum schritt­ weisen Rückgang der Deportation siehe auch den Abschnitt „The decline of transportation“, in: McConville, A History of English Prison Administration, S. 187–197. 220 Lord Stanley, Inaugural Address, Report of the First Provincial Meeting of the National Reformatory Union, London 1856, S. 12, S. 14, hier zit. nach Goldman, Science, S. 40.

2.5. Innovative Sozialpolitik durch professionelle ­Expertise   89

ence Association in Liverpool, gab auch Lord John Russell dieser Strafzweckalter­ native statt: It has become a necessity for us to consume our own crime, and not to send it forth to con­ taminate other parts of the world. Hence it is a problem of the deepest interest to us to ascertain in what manner the thousands of criminals who we used to send to Australia can be most ef­ fectually punished, for the sake of example, and most effectually reformed for their own sake and that of the commu­nity.221

Die Reformierung von Straftätern als eines möglichen Strafzwecks neben Ab­ schreckung und Vergeltung wurde fortan – und das ist nicht unerheblich für die weitere Entwicklung der Reformidee und des zivilgesellschaftlichen Selbstver­ ständnisses – stets in Verbindung mit der Sicherheit und Wohlfahrt der größeren Kommune gesehen. Zugleich erlebte die Erziehungs- und Bildungsidee, promi­ nent unterstützt schon in Statistikerkreisen, eine erneute Aufwertung als probates Mittel im Kampf gegen Kriminalität. Von der National Reformatory Union als eines Expertenforums erwarteten nicht zuletzt die teilnehmenden Politiker brauchbare Antworten auf die Frage, wie eine solche Reformierung von Straftä­ tern aussehen und vor allem, wie sie funktionieren sollte. Aus diesem Grund nah­ men eher technische Debatten über verschiedene Gefängnissysteme, die Vorzüge und Notwendigkeit der unbestimmten Haft, die Errichtung sogenannter Über­ gangsheime (refuges) oder die Erziehungsstile in den industrial schools und reformatories breitesten Raum ein. Effektive Reformkonzepte konnten aber nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn zuvor genauere Kenntnisse über die Kriminali­ tätsursachen gesammelt und ausgewertet worden waren. Dies war die Stunde der kriminologischen Debatten. Entsprechend der Berufsgruppen und Interessen ihrer Mitglieder teilten sich die Konferenzen der SSA in 5 Sektionen auf: Jurisprudence and the Amendment of the Law, Education, Public Health, Economy and Trade sowie Art. In den ersten Jahren des Bestehens der Gesellschaft existierte noch eine, von Mitgliedern der NRU dominierte separate Sektion punishment and reformation. Diese wurde aber 1863 als repression of crime-Sektion in die Jurisprudenz-Gruppe eingegliedert.222 Die Umbenennung stand für die Erweiterung der verhandelten Themen: Nicht mehr ausschließlich Fragen der Gefängniskunde und moralischen Täterreformie­ rung standen im Mittelpunkt, sondern zunehmend Fragen nach den Ursachen von Kriminalität allgemein. Die repression of crime-Sektion behandelte drei Un­ tersuchungsfelder: a) causes and prevention of crime, b) punishment and prison discipline und c) reformation and refuges. Zu den Teilnehmern dieser Sektionen gehörten neben den Mitglieder der NRU vor allem Juristen (Queen’s counsellors, barristers und solicitors), Mitglieder der Rechtssprechung (magistrates, Justice of 221 John Russell, Opening Address, in: Transactions 1857 (1858), S. 13. 222 Die beiden anderen Sektionen in der Jurisprudence-Abteilung waren

die International Law Section und die Municipal Law Section; im November 1863 erhielt die SSA die Bibliothek der Law Amendment Society, damit fehlte aber jetzt ein spezielles Forum für rechtliche Fragen, siehe Goldman, Science, S. 87: „Yet the loss of a specific forum for legal questions may have hastened the decline of professional and national interest in it, a feature of the late 1870s and 1880s“; eine versuchte Übernahme der Statistical Society 1864 kam nicht zustande.

90   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform the Peace), Polizeibeamte, Sozialarbeiter, Gefängnisgeistliche, -ärzte und -verwal­ ter, Mitarbeiter der reformatories und industrial schools, aber auch Professoren wie der Jurist James Fitzjames Stephen und Autoren wie John Stuart Mill. Pragma­ tisch und programmatisch formulierte einer der einflussreichsten Gefängnisre­ former der Jahrhundertmitte, Thomas Barwick Lloyd Baker, das Bestreben der repression of crime-Sektion: „The end of our endeavours I take to be the reduction of crime throughout England to the minimum quantity possible.“223 Um dieses Ziel zu erreichen, sollte sich die Arbeit der Reformer auf zwei Schwerpunkte kon­ zentrieren: „[W]e must carefully count our means – not merely of mental refor­ mation of the individuals submitted to us, but of the physical removal of tempta­ tions from the external mass.“224 Charakterbildung und die Beseitigung negativer Umwelteinflüsse gehörten für die Reformer zusammen.

Kultivierung des Gemeinsinns durch Sozialdisziplinierung? Auf der Suche nach kriminogenen Faktoren unterschieden sich die Beiträge der Social Science Association nicht wesentlich von denen der Statistical Society. Im Gegenteil, in den 1850er Jahren ließ sich gerade an den Diskussionen innerhalb der SSA beobachten, welchen Einfluss die Statistiker ausübten und wie erfolgreich das Zusammenspiel von Alltagserfahrungen und numerischen Analysen funktio­ nierte. Stärker noch als in der Statistical Society wurde hier der Zusammenhang zwischen mangelnder Bildung und Kriminalität betont, wenig überraschend viel­ leicht, da die SSA auch über eine eigene education-Sektion verfügte, in der sich Pädagogen aus unterschiedlichen Erziehungsinstitutionen engagierten, die ein persönliches Interesse am Ausbau eines öffentlichen Erziehungssystems hatten. Auch von den Mitgliedern der Social Science Association wurde Erziehung als brauchbarstes Mittel zur Entwicklung des Gemeinsinns angeführt.225 Henry May, Direktor des schottischen Gefängnisses in Perth, vertrat die Ansicht, dass Erzie­ hung – und damit gleichgesetzt Reformierung – mehr war als die Vermittlung von Inhalten und technische Instruktion. In ihr sollte ein neues Verhältnis zur eigenen Gemeinschaft erworben werden, das mit dem Respekt vor den Rechten der anderen einher ging.226 Auch der Zusammenhang zwischen Gewaltkriminali­ 223 Thomas

Barwick Lloyd Baker, On the Possible Extirpation of Regular Crime, in: Transac­ tions 1857 (1858), S. 271. 224 Baker, Extirpation, S. 272. 225 Serjeant Pulling, What Legislation is Necessary for the repression of Crimes of Violence?, in: Transactions 1876 (1877), S. 346 f. (Wife-beating): „It is remarkable that among the lower classes the prevalence of crimes of violence can be distinctly traced to those quarters where ignorance most prevails […] it would be easily shown how direct the effect of edu­cation is in restraining brutality […] The spread of education tends not only to abate the savage ele­ ment in the person educated, but to create a tone of feeling among the whole community, aiding more effectually than anything else in altogether discountenancing acts of brutality.“ Ebd., S. 347, Hervorhebung S.F. 226 Vgl. Henry May [Governor of the General Prison for Scotland at Perth], The Treatment of Habitual Criminals, in: Transactions 1879 (1880), S. 333.

2.5. Innovative Sozialpolitik durch professionelle ­Expertise   91

tät und geringer Bildung wurde auf den Konferenzen der SSA thematisiert. Auf­ schlussreiche Ausführungen kamen dabei häufig von den ‚praktischen Experten‘, in diesem Fall einem Polizisten: „[I]t may be safely accepted as a general rule, that in inverse proportion to the cultivation of the mind is the tendency to bruta­ lity.“227 Alkoholmissbrauch wurde in der Social Science Association ebenfalls zu den großen Ursachen kriminellen Verhaltens gezählt. Aber ebenso wie in der Statisti­ cal Society war die Behandlung des Themas nahezu frei von den fanatischen Atta­ cken religiöser Eiferer, obgleich eine Temperenz-Fraktion innerhalb der SSA exis­ tierte. Die Berufung auf wissenschaftliche Untersuchungsmethoden und die um Sachlichkeit bemühte Einschätzung erfahrener Wohlfahrtsarbeiter und -arbeite­ rinnen nahmen den Diskussionen die starke emotionale Färbung. Ein Beispiel für die eher nüchterne Haltung vieler Mitglieder gegenüber dem Problem Alkohol war Reverend Henry Lettsom Elliot, Kaplan des Birmingham Borough Prison, der aufgrund einer eigenen Untersuchung und Befragung von 1000 Strafgefangenen davor warnte, Alkohol als direkte Ursache von Kriminalität zu überschätzen. Er selbst konnte höchstens 10 Prozent der von ihm untersuchten Fälle direkt auf Alkoholmissbrauch als primärer Ursache zurückführen: „I am inclined to think that its influence as a direct cause of crime has been much exaggerated.“228 Nicht wenige Mitglieder führten einen übermäßigen Alkoholkonsum eher auf die ent­ würdigenden Lebensumstände der unteren Schichten zurück. Bei älteren Frauen brachte Reverend Ashton Wells zunehmenden Alkoholkonsum mit den Enttäu­ schungen des Lebens in Verbindung.229 Nach Meinung von Richard Monckton Milnes, dem späteren Lord Houghton, half Alkohol den verzweifelten Klassen, ihre Misere zu vergessen. Ohne Alkohol würden sie möglicherweise stärker zu Revolten neigen.230 Mochte indes Alkohol auch Randale verursachen, große Re­ volutionen waren – zur Beruhigung der Mitglieder der SSA – von seiner Wirkung nicht zu erwarten. Die Verbindung von öffentlichem Alkoholausschank und Ge­ waltverbrechen wie Totschlag im Affekt wurde akzeptiert, zugleich aber wurde betont, dass diese Straftaten statistisch nicht ins Gewicht fielen.231 Auch die Beiträge der Social Science Association demonstrierten, dass Krimi­ nalitätsdiskurse ohne die Armutsdebatten und damit ohne die Auseinanderset­ zung mit den großen sozialen Fragen des viktorianischen Zeitalters nicht denkbar waren. Ein diesbezügliches Credo formulierte Polizei-Sergeant Thomas Beggs: „I shall take it that crime and pauperism have one common origin, and require modifications of the same general treatment.“232 Beggs hatte nicht nur Beschaf­ 227 Pulling, What

Legislation is Necessary, S. 346. Principal Causes, S. 324–337, hier S. 332. 229 Ashton Wells, Crime in Women, in: Transactions 1876 (1877), S. 374. 230 Richard Monckton Miles [später Lord Houghton], The Punishment and Reformation of Criminals (Address), in: Transactions 1859 (1860), S. 87–105, hier S. 103–104. 231 Chandos Leigh, Crimes of Violence, in: Transactions 1876 (1877), S. 352. 232 Thomas Beggs, What are the Causes of Crime, in: Transactions 1868 (1869), S. 338–348, hier S. 340. 228 Elliot,

92   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform fungskriminalität aus schierer Not vor Augen, sondern auch ungleiche soziale Lebens­chancen, die sich für Menschen aus den ärmeren Schichten aufgrund des Mangels an adäquater Versorgung und einem beschränkten Bildungszugang be­ sonders auf dem Arbeitsmarkt ergaben.233 Es war nicht die materielle Not allein, die kriminelles Verhalten fördern konnte. Hinzu trat der durch diese materielle Not ausgelöste soziale Stressfaktor. Die bloß materielle Entlastung durch Almosen der Wohlfahrtsverbände beseitigte dieses Problem nach Ansicht von Reverend ­Elliot nicht,234 ebenso wenig wie die hohe Bevölkerungsdichte in den Armenvier­ teln, die, so wurde unterstellt, unsittliches Verhalten geradezu heraufbeschwor.235 Die Vergnügungs- und Unterhaltungsangebote der Großstädte und die von Ma­ nufakturarbeit geprägten Industrieregionen galten zusätzlich als der Entwicklung von Kriminalität förderliche Faktoren. Die Verführung der unwissenden und un­ schuldigen Jugend war dabei ein Topos, der häufig beschworen wurde.236 Durch die veränderten Arbeitsverhältnisse frühzeitig finanziell unabhängig geworden, könnten sich Jungen und Mädchen leichter der elterlichen Kontrolle entziehen und würden anfälliger für Verführungen aller Art, so das Argument.237 Es war Matthew Davenport Hill, der vor der Untersuchungskommission über kriminelle und mittellose Jugendliche auf diesen wichtigen Punkt in Zusammenhang mit den neuartigen städtischen Verhältnissen hinwies: die Auflösung sozialer Bezie­ hungen und eine damit verbundene Abnahme sozialer Kontrolle: I think it will not require any long train of reflection to show that in small towns there must be a sort of natural police, of a very wholesome kind, operating upon the conduct of every indi­ vidual, who lives, as it were, under the public eye. But in a large town, he lives, as it were, in ab­ solute obscurity; and we know that large towns are sought by way of refuge, because of that obscurity, which, to a certain extent, gives impunity.238

Landflucht und Verstädterung, die Anonymität moderner Großstädte hatten aber noch eine andere bedrohliche Entwicklung in Gang gesetzt: die allmähliche Tren­ nung der Klassen. Dadurch, dass Arme und Reiche in den Städten geographisch immer weiter auseinander rückten, funktioniere der ‚gesunde‘ Einfluss der höhe­ 233 „A

poverty-stricken district is generally a criminal district“, Elliot, Principal Causes, S. 334. S. 334. 235 Siehe Jelinger C. Symons [H.M. school inspector], Crime and Density of Population, in: Transactions 1857 (1858), S. 265–270, hier S. 269; ebenso Arthur Kinnaird [Mitglied des Unterhauses], in: Transactions 1860 (1861), S. 110–126, bes. S. 119; die Vorstellung von städ­ tischen Armenvierteln als Brutstätten von Kriminalität verband sich für die meisten Mitglie­ der der SSA mit dem generellen Problem von Urbanisierung und Verstädterung, siehe auch Reverend Thomas Carter, The Crimes of Liverpool, in: Transactions 1858 (1859), S. 345– 349; J.T. Danson, Some Characteristics of a great Maritime Town; having especial Reference to the Criminal Tendencies of Its Population, in: Transactions 1858 (1859), S. 364–368; auch Sir Walter Crofton, Female Convicts, and Our Efforts to Amend Them, in: Transactions 1866 (1867), S. 238: „It is from our large and wealthy towns that a large majority of the in­ mates of our refuge come.“ 236 Elliot, Principal Causes, S. 331. 237 Ebd., S. 331; siehe dazu auch Kap. 6.4. 238 Mathew Davenport Hill, Evidence before Select Committee on Criminal and Destitute Ju­ veniles, Report of the Select Committee on Criminal and Destitute Juveniles (1852), S. 33; hier zit. nach Levin und Lindesmith, English Ecology, S. 804–805. 234 Ebd.,

2.5. Innovative Sozialpolitik durch professionelle ­Expertise   93

ren, gebildeten Klassen auf die Unterschichten nicht mehr, weil sich nur noch die gleichen Schichten in unterschiedlichen Vierteln der Stadt zusammenfänden.239 Städtische Kontakte waren unverbindlicher, zufälliger. Dadurch drohten sich alte Solidargemeinschaften aufzulösen. Eine Organisation wie die Social Science Association blieb auch von medizini­ schen Diskursen, die sich mit dem Problem der Kriminalität, mit pathologischen Straftätern und dem Problem des ‚moralischen Schwachsinns‘ verstärkt seit den 1860er Jahren beschäftigten, nicht unberührt.240 Reverend Elliot führte 1868 in seinem Vortrag über The Principal Causes of Crime from a Social Point of View in der von ihm erstellten Hierarchie der Kriminalitätsursachen als letzten Faktor auch „physical causes“ auf. Damit waren aber weniger rein körperliche Gebre­ chen und Defizite gemeint als vielmehr manifeste Charaktereigenschaften wie „bad temper, wantonness, and incapacity for work.“ Elliot ging davon aus, dass der Einfluss solcher „natural predispositions in causing crime is apt to be very much underrated.“241 Er subsummierte unter die Eigenschaft des schlechten Na­ turells oder Gemüts, das neben Alkohol fast immer bei körperlichen Übergriffen eine Rolle spielte, verschiedene mentale Dispositionen: Malice, an exaggerated sense of wrongs, envy, jealousy, inability to bear disappointment, these are qualities which may be classed under the general name of bad temper, and lead to some of the most serious offences against the person which appear on the calender at the assizes and sessions. The degree of the moral responsibility of persons acting under strong natural propen­ sities is very difficult to determine.242

Die Frage der Zurechnungsfähigkeit von Personen mit bestimmten mentalen Dis­ positionen knüpfte an zeitgenössische, besonders psychiatrische und juristische Diskussionen an.243 Gerade die Aufnahme solcher Gründe – „in speaking of cau­ ses of crime it is impossible to overlook the operation of physical qualities which predispose to and […] lead to crime“,244 erklärte Elliot – zeigt, wie innerhalb der SSA von moralisch-sittlichen Argumentationen traditionellen Zuschnitts deutlich Abstand genommen wurde. Die Zuschreibung von Eigenverantwortung wurde von Elliot, der nicht Jurist, sondern Geistlicher war, nicht angetastet, aber er ­problematisierte die schwierige Einschätzung moralischer Verantwortung von In­ dividuen, die ganz offensichtlich durch körperliche und geistige Defizite in ihrem

239 Hill,

Evidence, S. 33; hier zit. nach Levin und Lindesmith, English Ecology, S. 804–805. den medizinisch-psychiatrischen Diskursen siehe das 3. Kapitel dieser Arbeit. Zu den medizinischen Diskussionen in der Statistical Society siehe z. B. William A. Guy, The Rela­ tion of Insanity to Crime, in: JSSL (1869), S. 159–191; Guy plädierte für die Unterbringung geisteskranker Straftäter in Irrenhäusern und forderte dabei gleichzeitig den Ausbau des Asylwesens. „The time has come for us to take a large and comprehensive view of the crimi­ nal and dangerous classes […] We want more lunatic asylums“ (in JSSL 38 (1875), S. 477); Zahlen zur Exekution von Mördern in England siehe die Angaben von Porter und Redgrave in: JSSL 38 (1875), S. 463 f. 241 Alle Zitate: Elliot, Principal Causes, S. 335. 242 Ebd., S. 335. 243 Siehe dazu das 3. Kapitel dieser Arbeit. 244 Elliot, Principal Causes, in: Transactions 1868 [1869], S. 336. 240 Zu

94   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform freien Handeln beschränkt waren. Völlig richtig fand er es dabei, dass „extenua­ ting circumstances“,245 mildernde Umstände, in die Überlegungen der Strafzu­ messung einfließen müssten.246 Hätte man erst einmal gesicherte Aussagen über die Ursachen von Kriminalität und die Größenordnung ihres Einflusses gewon­ nen, dann müssten sich diese Erkenntnisse notwendigerweise auf die Rechtspre­ chung auswirken: „Complete insanity, and complete ignorance of right and wrong, exempt from punishment altogether“, befand Elliot, an die zeitgenössische Debatte über moral insanity anknüpfend.247 Aber auch die auf ungünstige Um­ weltfaktoren zurückführbaren körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen konnten nicht dem Straftäter als ‚selbstverschuldet‘ zugerechnet werden. Bereits zehn Jahre zuvor hatte auch Reverend Burt solche Überlegungen formuliert: Defective mental capacity, and defective education, make an offender so far an object for pity […] but the penal elements of the treatment cannot be properly made use of to correct these moral defects. […] Neither can the external causes of crime be legitimately met by penal sever­ ities. You ought not to punish a man for what is not of himself. Distress, bad parents, being thrown undepraved among depraving companions, are conditions which also make all who are involved in them objects for pity.248

Konzepte sozialer Interaktion: Jugenddelinquenz Mangel an Erziehung und Bildung, Alkohol, Armut, Verstädterung, körperliche Defizite – was den Kanon möglicher Kriminalitätsfaktoren betraf, so gab es keine großen Differenzen zwischen Statistical Society und Social Science Association. Worin sich die Beiträge der Social Science Association allerdings unterschieden, war in vielen Fällen ihre Konzentration auf defekte Sozialbeziehungen, die in die­ ser Form nicht zum Untersuchungsgegenstand von Statistikern gemacht werden konnten. Während Statistiker in erster Linie materielle, äußere Faktoren mitein­ ander in Beziehung setzten, erklärten einige Mitglieder der SSA solche materiel­ len Bedingungen für sekundär. Zentral erschien ihnen die soziale Interaktion. So groß auch die Versuchungen, etwa durch Alkohol, sein mochten, Thomas Bar­ wick Llyod Baker kam zu dem Schluß: „I am inclined to believe, […] that there is no temptation half so fatal to boys as that of the companionship of a clever, prac­ tised, habitual thief.“249 Auch Reverend Elliot hielt den Einfluss einer Peergroup auf Heranwachsende für den alles entscheidenden Faktor: „Bad Company is the master-cause of crime.“250 Was von Baker und Elliot hier zum ersten Mal bewusst als Kriminalitätsfaktor benannt wurde, sollte im 20. Jahrhundert als theory of differential association in 245 Ebd. 246 Ebd.

247 Siehe

dazu ausführlicher Kap. 3.4. J.T. Burt (Kaplan des Birmingham Prison), On the Adaptation of Punishment to the Causes of Crime, in: Transactions 1857 [1858], S. 315–327, hier S: 318, Hervorhebung S.F. 249 Baker, Extirpation, S. 272. 250 Elliot, Principal Causes, S. 328. 248 Reverend

2.5. Innovative Sozialpolitik durch professionelle ­Expertise   95

den Kriminologiehandbüchern erfolgreich firmieren.251 Dieser Ansatz geht von Kriminalität als einem erlernten Verhalten aus und konzentriert sich auf die Ana­ lyse der sozialen Interaktionen von Straftätern, wobei die Beziehungen zu Eltern, Lehrern und Freunden im Mittelpunkt stehen.252 Nicht nur das Vorhandensein dieser Beziehungen, sondern auch deren Verlust oder Beschränkung, z. B. durch die Scheidung der Eltern oder ihren frühen Tod, werden als wichtig eingestuft. Genau diese Faktoren führte auch Reverend Elliot 1868 ins Feld.253 Für Reverend Ashton Wells war dieser Zusammenhang ebenfalls eindeutig: „Parental misma­ nagement is a productive cause of crime. Children badly brought up easily be­ come juvenile thieves.“254 Im Gegensatz zu den modernen Theorien kamen die Gefängnisgeistlichen des 19. Jahrhunderts allerdings noch ganz ohne Anleihen an eine moderne Psychologie aus. Das blieb den Entwicklungen des frühen 20. Jahr­ hunderts vorbehalten. Seit den Tagen des englischen Gefängnisreformers John Howard spielte soziale Interaktion im vielzitierten Topos des Gefängnisses als Schule des Verbrechens eine große Rolle. Auch hier kam die Vorstellung von Kriminalität als eines erlern­ ten Verhaltens und der Entwicklung von Nachwuchskriminellen durch den kon­ taminierenden Kontakt der Jugendlichen mit abgebrühten alten Gewohnheitsver­ brechern in den Gefängnissen zum Tragen. Aus diesem immer wieder bemühten Topos, der sowohl den Erziehungs- als auch den Umweltgedanken voraussetzte, bezog die Gefängnisreformbewegung ihren Antrieb.255 Die Kritik an den beste­ henden Straf- und Gefängniseinrichtungen wurde primär mit Blick auf diesen Topos hin formuliert und zeitigte 1854 mit der Verabschiedung des Youthful ­Offender Act einen ersten Erfolg für die Reformer. Das Gesetz bestätigte die Arbeit in den privat geführten reformatories, indem es den zuständigen Richtern und 251 Siehe

dazu Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 76, Anm. 84; entwickelt wurde die Theorie von Edwin H. Sutherland, Principles of Criminology, Philadelphia 41947, S. 5–9. 252 Die Theorie der differentiellen Kontakte geht davon aus, dass eine kriminelle Handlung be­ gangen wird, wenn eine ihr günstige Situation vorliegt – günstig im Sinne der Person, die die Situation definiert. Grundannahmen sind u. a.: „1. Kriminelles Verhalten ist gelerntes Ver­ halten und wird nicht vererbt; 2. Kriminelles Verhalten wird in Interaktion mit anderen Per­ sonen in einem Kommunikationsprozeß gelernt. Diese Kommunikation ist in vieler Hin­ sicht verbal, schließt aber auch die ‚Kommunikation durch Gesten‘ ein; 3. Kriminelles Ver­ halten wird hauptsächlich in intimen persönlichen Gruppen gelernt. Das bedeutet, dass die unpersönlichen Kommunikationsmittel wie Filme und Zeitungen eine relativ unwichtige Rolle bei der Entstehung kriminellen Verhaltens spielen.“ siehe E.H. Sutherland, Die Theo­ rie der differentiellen Kontakte, in: Fritz Sack und René König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, Frankfurt am Main 21974, S. 395–399, hier S. 396–397; zur Theorie der differenziellen Asso­ ziation siehe auch Heike Jung, Kriminalsoziologie, Baden-Baden 2005, S. 71–72; Eisenberg, Kriminologie, S. 28 f. 253 Vgl. Elliot, Principal Causes, S. 330. 254 Reverend Ashton Wells, Crime in Women; Its Sources and Treatment, in: Transactions 1876 [1877], S. 374. 255 Zum Topos vom Gefängnis als ‚Schule des Verbrechens‘, siehe Nutz, Strafanstalt, S. 157; über die zyklische Wiederholung immer gleicher Argumente auch Michel Foucault, Überwa­ chen und Strafen, Frankfurt am Main 1994, S. 346–348.

96   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform magistrates freistellte, jugendliche Straftäter statt im Gefängnis in diesen Erzie­ hungsanstalten unterzubringen, allerdings nur in solche, die durch das Innenmi­ nisterium ein Zertifikat erhalten hatten. Mit dem Beginn der finanziellen Beteili­ gung des Staates an diesen Einrichtungen erfolgte zugleich der Beginn staatlicher Kontrolle durch seine Inspektoren.256 Das Gesetz selbst war aber mehr als die Anerkennung bestimmter Erziehungs­ praktiken durch den Gesetzgeber, es war die Durchsetzung eines neuen Kind­ heitskonzeptes, das den besonderen Status von Kindern und Jugendlichen gegen­ über Erwachsenen und ihre von Erwachsenen verschiedenen Bedürfnisse aner­ kannte.257 Akzeptiert wurde, dass sich Kinder und Jugendliche noch im Stadium der Entwicklung befanden: Sie waren formbar, beeinflussbar und in hohem Gra­ de davon abhängig, was und vor allem wem sie ausgesetzt waren.258 Als zu diesen Fragen die NRU zwei Konferenzen in den Jahren 1851 und 1853 in Birmingham veranstaltete, nahmen an der ersten ungefähr 50, an der zweiten bereits über drei­ tausend Personen teil.259 Die Wurzeln dieses neuen Kindheitskonzeptes lagen in der Aufklärung. John Lockes Schrift Some Thoughts Concerning Education von 1693 – allein bis 1764 erlebte das Werk 20 Auflagen260 – hatte hier eine zentrale Rolle gespielt. Seine sensationalist psychology ging davon aus, dass der menschliche Geist bei der ­Geburt einer unbeschriebenen Tafel glich (blank slate), einer Tabula rasa.261 Ihre Inhalte erhielt sie durch den Einfluss der äußeren Wirklichkeit auf die Sinnes­ rezeptoren, die geistige Eindrücke erzeugten, die sich in Ideen verwandelten und 256 Vgl.

Bridgeland, Pioneer Work, S. 56, S. 59. 257 Vgl. dazu Margaret May, Innocence and Experience:

The Evolution of the Concept of Juve­ nile Delinquency in the Mid-Nineteenth Century, in: Victorian Studies 17 (1973), S. 7–30; zur Feminisierung des Kindes im 19. Jahrhundert siehe Carolyn Steedman, Strange Dis­ locations: Childhood and the Idea of Human Interiority, 1780–1930, London 1995; einen Überblick über die Entwicklung amerikanischer und britischer soziologischer Perspektiven auf Jugenddelinquenz siehe Geoffrey Pearson, Youth, Crime and Society, in: Mike Maguire, Rod Morgan und Robert Reiner (Hrsg.), The Oxford Handbook of Criminology, Oxford 1994, S. 1161–1206. 258 An dieser Entwicklung hatte auch Mary Carpenter großen Anteil, die lange vor John Bowlby (siehe Kap. 6.14.) die Wichtigkeit der emotionalen Beziehung zwischen Eltern und Kind er­ kannte und auf die emotionale Gestörtheit des ‚affectionless‘ oder ‚frozen‘ child aufmerksam machte. Sie darauf bestand, dass pädagogische Arbeit vor allen Dingen bedeuten müsse, ein Kind wieder in eine „true position of childhood“ zu versetzen, siehe Bridgeland, Pioneer Work, S. 62. 259 Siehe dazu Goldman, Science, S. 43. 260 Siehe James L. Axtell (Hrsg.), The Educational Writings of John Locke, Cambridge 1968, S. 98 f. 261 Siehe dazu mit weiterführender Literatur: Jürgen Overhoff und Hanno Schmidt, John Lo­ cke (1632–1704) und der europäische Philanthropismus. Neue pädagogische Modelle nach englischem Vorbild im Zeitalter der Aufklärung, in: Die Entdeckung der Kindheit. Das eng­ lische Kinderporträt und seine europäische Nachfolge, Katalog zur Ausstellung im Städel Museum Frankfurt am Main 2007, S. 59–73; zu Lockes „sensationalist psychology“ siehe auch Jan Goldstein, Bringing the Psyche into Scientific Focus, in: Theodore M. Porter und Dorothy Ross (Hrsg.), The Cambridge History of Science, Bd. 7: The Modern Social Sci­ ences, Cambridge 2003, S. 131–148, hier S. 133–136.

2.5. Innovative Sozialpolitik durch professionelle ­Expertise   97

als solche wiederum eine unendliche Vielzahl an Kombinationen ermöglichten. Da der kindliche Geist als unendlich modellierbar und als äußerst empfänglich für alle äußeren Reize gedacht wurde, war es eine Konsequenz der Locke’schen Pädagogik, den Eltern zu raten, den Einfluss auf die Kindern so zu steuern, dass sie möglichst viel selbst mit diesen zusammen waren, um den Einfluss des Haus­ personals so klein wie möglich zu halten. Locke setzte auf das Einüben konkreter Regeln durch das korrekte Verhalten und Vorbild der Eltern (habituation). Mit zunehmender Popularisierung dieser Ideen änderten sich langfristig die Struktur und Funktion der Familie und das Verhältnis ihrer Mitglieder zueinander.262 An Locke orientiert entwickelte John Stuart Mill, der als Kind einzig von sei­ nem Vater unterrichtet worden war,263 eine eigene Psychologie, die besagte, dass nahezu jeder alles lernen könne, vorausgesetzt, er treffe auf ein entsprechendes stimulierendes Umfeld (environment). Ideen und Eindrücke von außen würden, so nahm Mill, der prominentes Mitglied der SSA war, an, in das Bewusstsein ­eines Individuums eintreten und dort miteinander verbunden werden. Fast alles aber hing von einem angemessenen äußeren Umfeld ab.264 Doch trotz der im Grunde schon ‚angedachten‘ Ideen von Kindheit als einer von Erwachsenen grundverschiedenen Lebens- und Entwicklungsphase wurden bis in die 1820er Jahre hinein jugendliche Straftäter noch dem gleichen Strafregime, darunter Todes­strafe und Deportation, ausgesetzt wie Erwachsene.265 Das neue Gesetz von 1854, auch als „Magna Charta of the neglected child“266 bezeichnet, trug nun der veränderten Einstellung zu Kindern Rechnung. Der Reform- und Er­ ziehungsgedanke als Strafzweck trat gleichberechtigt neben Abschreckung und Vergeltung. Wenn Verhalten in erster Linie von äußeren Einwirkungen und von Erziehung bestimmt wurde, dann sprach nichts gegen die Möglichkeit, durch entsprechende äußere Einwirkungen eine Veränderung des Verhaltens bewirken zu können:267 „[W]e should, we might almost say never find a boy even on his second convic­ 262 Vgl.

Goldstein, Bringing the Psyche into Scientific Focus, S. 135: „By making babies access­ ible to adult cuddling and caresses, the demise of swaddling encouraged in eighteenth-­ century England the precocious development of a new kind of the nuclear family dedicated to the cultivation of affectionate ties.“ 263 John Stuart Mill (1806–1873) hat dieser Erziehung die ersten drei Kapitel seiner Autobiogra­ phie gewidmet, siehe John Stuart Mill, Autobiography, hrsg. von John M. Robson, London 1989; James Mill (1773–1836) hat nach heutiger Einschätzung den Traum verfolgt, den intel­ lektuellen, politischen und moralischen Erben seiner selbst zu erzeugen, siehe dazu Bruce Mazlish, James and John Stuart Mill: Father and Son in the Nineteenth Century (1975); auch Chandak Sengoopta, ‚One of the Best-Known Identity Crises in History‘? John Stuart Mill’s Mental Crisis and its Meanings, in: Roberta Bivins und John V. Pickstone (Hrsg.), Medince, Madness and Social History. Essays in Honour of Roy Porter, Basingstoke und New York 2007, S. 173–181, bes. S. 175 f. 264 Zu Mills Psychologie siehe Nicholas Wright Gillham, A Life of Sir Francis Galton: From African Exploration to the Birth of Eugenics, Oxford 2001, S. 228 f. 265 Vgl. dazu May, Innocence and Experience, S. 7–10. 266 Siehe Goldman, Science, S. 43. 267 Siehe dazu Ignatieff, A Just Measure of Pain, S. 213.

98   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform tion a hardened or a practised thief“268 unterstrich Llyod Baker seine berechtigte Hoffnung auf die Reformierbarkeit von Jugendlichen. Er habe jeden Grund an­ zunehmen, dass die Schaffung entsprechender Einrichtungen für Jugendliche langfristig immer stärker dazu beitragen werde, dass sie nicht in kriminelle ­Gewohnheiten hineinwachsen.269 Es gab nicht nur Korrekturmöglichkeiten für bereits straffällig gewordene Jugendliche, frühzeitig angewendet, konnte Erzie­ hung ­kriminelle Karrieren verhindern. Kriminalität müsse kontrolliert und thera­ piert werden bevor sie in den Zustand chronischer Gewohnheit übergehe, erklärte auch der katholische Gefängnisgeistliche James Nugent 1876 vor der SSA und wies den Weg in die moderne Kinderpädagogik: Man müsse durch erzieherische Maßnahmen Kindern und Jugendlichen nicht nur Fleiß vermitteln, sondern in ihnen auch Selbstrespekt und Selbstvertrauen stärken.270 Rund siebzig Jahre be­ vor die Arbeit von Maria Montessori von englischen Gefängnis- und Bildungs­ reformern gefeiert werden sollte,271 weil die italienische Ärztin ihrer Auffassung nach durch das Konzept kindgerechten Spielens und Lernens zur Herstellung auto­nomer Bürger beitrug, verteidigte Joseph Hubbard, Honorary Secretary to the Liverpool Industrial Ragged Schools,272 die spezifisch kindliche Auseinander­ setzung mit der materiellen Welt und das spielerische Erlernen von Fertigkeiten, weil sie nicht nur körperliche Fähigkeiten, sondern auch soziale Kompetenzen förderten und der Entwicklung einer autonomen Persönlichkeit dienten.273 Autonomie und Selbstbestimmung, aber auch Selbstrespekt und Respekt vor anderen, das waren Qualitäten, die offensichtlich künftige Bürger auszeichnen sollten, die in Verhältnissen lebensfähig waren, die mehr und mehr von den pro­ fessionellen Mittelschichten bestimmt werden sollten. Der Appell für mehr und bessere Bildung war deshalb vor allem eine politische Forderung ersten Ranges, die theoretisch nicht zuletzt durch John Stuart Mill begründet wurde. Für ihn bestand der Wert eines Staates aus dem Wert seiner Bürger, die ihn zusammensetzten: [A] State which postpones the interests of their [the State’s individuals, S.F.] mental expansion and elevation […], a State which dwarfs its men, in order that they may be more docile instru­ ments in its hands even for beneficial purposes – will find that with small men no great thing can really be accomplished; and that the perfection of machinery to which it has sacrificed every­ thing, will in the end avail it nothing, for want of vital power which, in order that the ­machine might work more smoothly, it has preferred to banish.274 268 Baker,

Extirpation, S. 273. S. 277. 270 James Nugent (Roman Catholic Chaplain to the Liverpool Borough Goal), Incorrigible Women. What Are We to Do With Them?, in: Transactions 1876 [1877], S. 375. 271 Siehe dazu ausführlicher Kap. 6.13 und Kap. 7.2. 272 Ragged Schools waren kostenlose Armen-Schulen, oft genau dort angesiedelt, wo die größte Not herrschte; zu den Förderern dieser Schulen gehörten u. a. Charles Dickens, Mary Car­ penter, Dr Barnardo, Lord Shaftesbury; als sich 1851 die Ragged School Union gründete, existierten ca. 60 solcher Schulen in England und Wales, siehe Bridgeland, Pioneer Work, S. 55–57. 273 Joseph Hubback, Prevention of Crime. How Children Are to Be Protected Against the Temp­ tation of Crime, in: Transactions 1858 (1859), S. 348 f. 274 Mill, On Liberty, S. 128, Hervorhebung im Original. 269 Ebd.,

2.6. Vertrauen in die wissenschaftliche Methode   99

Die Forderung nach Ausbau von Bildungsmöglichkeiten und damit nach verbes­ serten Bildungschancen blieb aber immer an die Voraussetzung geknüpft, dass Menschen erziehbare, veränderbare Wesen waren und auf kindliche Entwicklung Einfluss genommen werden konnte. Pädagogik und environmentalism275 wurden zu einem untrennbaren Paar, auch wenn die praktische Umsetzung in den Erzie­ hungs- und Korrekturanstalten des Landes meilenweit hinter der optimistischen Rhetorik der Reformer zurück blieb.

2.6. Vertrauen in die wissenschaftliche Methode: Charles Booths Life and Labour of the People in London Obgleich es nach Henry Mayhews Untersuchungen in den 1850er und 1860er Jahren zahlreiche Versuche geben hatte, die ‚kriminelle Klasse‘ mit systematischen Methoden deutlicher zu bestimmen, reichte keiner dieser Versuche an die durch Massendaten gestützte Untersuchung von Charles Booth heran. Der wohlhaben­ de Schiffsreeder, zusammen mit seinem Bruder Alfred Gründer und Vorsitzender einer Dampfschifffahrtsgesellschaft in Liverpool,276 begann 1886, ein Jahr nach der Auflösung der Social Science Association,277 seine Untersuchung über die Le­ bensbedingungen und Beschäftigungsverhältnisse der Einwohner des Londoner Stadtteils Tower Hamlets. Bereits 1887 trug er seine ersten Ergebnisse in der ­Royal Statistical Society vor, wobei er besonders Arbeitslosigkeit und Niedriglöhne für die schlechten Lebensbedingungen und die hohe Kriminalität in diesem Stadtteil verantwortlich machte. Einwände gegen die von ihm angeführten sozioökonomi­ schen Gründe und die geäußerte Vermutung, ob es nicht doch persönliches Ver­ sagen sei, was Menschen kriminell werden lasse,278 veranlassten Booth, seine Un­ 275 Environmentalism

wird heute in erster Linie im ökologischen Sinne als Umweltschutz ver­ standen (protection of the natural world), meint im vorliegenden Zusammenhang aber die zweite englische Bedeutung, dass ein environmentalist eine Person ist, „who considers that environment, as opposed to heredity, has the primary influence on the development of a person or group.“ The New Oxford Dictionary of English (1998), S. 617. 276 Zu Charles Booth (1840–1916) siehe T.S. Simey und M.B. Simey, Charles Booth: Social Scien­ tist, London 1960; Dictionary of National Biography 25 (1912–1921), S. 48–50; auch die Charles Booth Online Archives der LSE: www.booth.lse.ac.uk/(15. 3. 2013), Booth war Uni­ tarier mit liberalen bis radikalen Ansichten; zum Eindruck der Studie auf die Zeitgenossen siehe Gillham, Francis Galton, S. 3; aus zeitgenössischer Sicht Beatrice Webb, My Appren­ ticeship, 2 Bde, Harmondsworth 1938, S. 294–298. 277 1885 löste sich die National Association for the Promotion of Social Sciences auf. Der ge­ meinsame Kontext einer synthetischen, kooperierenden Wissenschaftslandschaft begann sich aufzulösen; die Ausdifferenzierung einzelner Disziplinen und ein sich professionalisie­ render civil service, dessen Bedarf an außerparlamentarischer Expertise zurückging, waren die Gründe dafür. 278 Charles Booth, The Inhabitants of Tower Hamlets (School Board Division), their Con­ dition and Occupation, in: Journal of the Royal Statistical Society 30 (1887, part II), S. 39; siehe dazu auch Ross I. McKibbin, Social Class and Social Observation in Edwardian Eng­ land, in: Transactions of the Royal Historical Society 28 (1978), S. 175; Ernest Peter Hennock, Poverty and Social Theory in England: The Experience of the Eighteen-Eighties, in: Social History 1 (1976), S. 67–91.

100   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform tersuchung auf das gesamte Londoner East End und schließlich auf ganz London auszuweiten. Mit Hilfe von acht von ihm finanzierten Mitarbeitern, darunter auch Beatrice Potter, die spätere Beatrice Webb,279 systematisierte und analysierte Booth die In­ formationen der School Board Visitors, jener Inspektoren, die seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht in England 1870 Aufzeichnungen über jede Straße, jedes Haus und jede Familie sammelten, in denen Kinder im schulpflichtigen Alter leb­ ten. Diese Informationen basierten auf Haus-zu-Haus-Befragungen, die immer wieder aktualisiert werden mussten, weil es eine hohe Fluktuation der Familien von einem Distrikt in einen anderen gab. Persönlich beteiligte sich Booth an kei­ ner dieser Befragungen und verlangte auch keine zusätzlichen Informationen von den School Board Visitors, da er die eigene Untersuchung nicht durch gezielte Fra­ gen beeinflussen und in eine bestimmte Richtung lenken wollte. Als die umfang­ reichen Ergebnisse schließlich in einem zehnbändigen Werk vorlagen, konnte er nicht nur behaupten, dass die Fakten ohne Voreingenommenheit oder Befangen­ heit gesammelt und von seiner Seite aus präsentiert worden waren,280 sondern auch darauf verweisen, dass bereits das Basismaterial von 46 Notizbüchern mit einem Verzeichnis von 3400 Straßen ein unschätzbares Konvolut an Informatio­ nen bereitstellte: „They have been referred to again and again at each state of our work“.281 1889 beeindruckte die Publikation des ersten Bandes die Öffentlichkeit so sehr, dass Booth zum Präsidenten der Royal Statistical Society ernannt wurde. Die Behauptung, seine Absicht sei dann erfüllt, wenn die von ihm präsentierten statistischen Daten dem Sozialreformer dabei helfen könnten, die richtigen Heil­ mittel für die existierenden Übel zu finden und die Anwendung falscher Heilmit­ tel zu verhindern,282 passte gut zur Tradition der Statistischen Gesellschaft als ­einer wissenschaftlichen Vereinigung mit sozialem Anspruch. Booth selbst ver­ körperte eine neue Art von modernem Sozialreformer, wie Beatrice Webb sich erinnerte: „Charles Booth was, within my circle of friends, perhaps the most per­ fect embodiment of […] the mid-Victorian time-spirit – the union of faith in the scientific method with the transference of the emotion of self-sacrificing service from God to man.“283 Booths vielbändige Untersuchung war in seiner Art die wirklich erste Groß­ studie, die mit Hilfe statistischer Massendaten, aber auch der Präsentation von Fallstudien bestimmte Faktoren in Beziehung setzte, zum Beispiel Armut zu Arbeits­losigkeit, Einkommenshöhe, Familiengröße und Wohnverhältnissen. Ähn­ 279 Das

ganze 5. Kapitel der Erinnerungen von Beatrice Webb, My Apprenticeship, Bd. 2, S. 263– 305, ist Charles Booth und seiner Untersuchung gewidmet. 280 Charles Booth (Hrsg.), Life and Labour of the People in London, Bd. 1: East London (1889), hier zit. nach 2. Aufl. London 1898, S. 4; ders., Life and Labour of the People in Lon­ don, 2. Aufl. London 1892–97, 9 Bde.; ders., Life and Labour of the People in London, 3. Aufl. London 1902–03, 17 Bde. 281 Booth, Life and Labour, Bd. 1, S. 24 f. 282 Ebd., S. 6. 283 Webb, My Apprenticeship, Bd. 2, S. 268.

2.6. Vertrauen in die wissenschaftliche Methode   101

lich wie Mayhew diente dem leistungsorientierten Unternehmer Booth das Ar­ beitsverhältnis (employment) als Einteilungskriterium für die Bewohner der von ihm untersuchten Stadtteile. Acht Gruppen unterschied Booth in seiner Klassifi­ kation, Kriminelle befanden sich vorzugsweise, aber keineswegs ausschließlich, in der untersten Gruppe A, die sich aus einigen Gelegenheitsarbeitern, Straßenver­ käufern, Faulenzern, Nichtstuern, Kriminellen und Halb-Kriminellen zusammen­ setzte.284 Diese unterste Gruppe seiner Skala, in der zwar hohe Arbeitslosigkeit oder Gelegenheitsarbeit die Regel, aber keineswegs alle Kriminellen Gewohnheits­ verbrecher waren, machte nach Booths Berechnungen allerdings nur 1,25 Prozent der Londoner Bevölkerung aus. Sie führte das Leben von ‚Wilden‘ (savages), in extremer Armut, ohne Wohnsitz oder in schmutzigen überfüllten Räumen.285 Immerhin standen dieser kleinen Gruppe A zwei mit insgesamt 45 Prozent sehr große Gruppen B und C gegenüber, die über ein regelmäßiges Einkommen ver­ fügten und nur wenig kriminelle Elemente aufwiesen. Während Gruppe A weit unterhalb der Armutsgrenze lebte, weil es die unberechenbaren Einkommensver­ hältnisse nicht einmal erlaubten, wenigstens von der Hand in den Mund zu leben, konnten Gruppe B und C zwar auch keinerlei Rücklagen bilden, weil es keine überschüssigen Einnahmen gab, waren aber doch aufgrund des zwar äußerst ge­ ringen, aber doch regelmäßigen Einkommens in der Lage, ihre Existenz relativ autonom zu bestreiten.286 Booth war davon überzeugt, dass die festgestellte geringe Größe von Gruppe A dazu beitragen würde, mit dem Angstgespenst der von Presse und Polizei ge­ schürten Vorstellung der dangerous classes aufzuräumen: „The hordes of barba­r­ ians of whom we have heard, who, issuing from their slums, will one day over­ whelm modern civilization, do not exist. There are barbarians, but they are a handful, a small and decreasing percentage: a disgrace but not a danger.“287 Booth teilte den Optimismus des public health movement,288 dass durch äußere Eingriffe, durch Abriss und Sanierung von Slums und bessere Bildungschancen für die un­ teren Schichten die Lage dieser Gruppe verbessert werden könnte, auch wenn er nicht jedes Individuum aus Gruppe A für reformfähig hielt. Für diese hielt er die Abschiebung in Arbeitskolonien immer noch für sinnvoll, während durch die ­stetige Verbesserung der äußeren Umstände die meisten Erscheinungstypen der Gruppe A bald aufhören würden zu existieren. Booths Analyse widersprach der durch englische Medien verbreiteten und von den besitzenden Klassen bereitwillig akzeptierten Vorstellung einer stetig wach­ senden oder gar geschlossenen kriminellen Klasse. Zugleich erschwerten es seine 284 Booth,

Life and Labour, Bd. 1, S. 37. A war vor allem durch ihre Unproduktivität gekennzeichnet: „[T]hey render no use­ ful service, they create no wealth; more often they destroy it. They degrade whatever they touch and as individuals are perhaps incapable of improvement.“ Ebd., S. 38. 286 Zu Booths poverty-line und die zeitgenössische Interpretation siehe Harold Perkins, The Rise of Professional Society. England since 1880, London und New York 1990, S. 32 f. 287 Booth, Life and Labour, Bd. 1, S. 39, Hervorhebung S.F. 288 Siehe dazu auch Kap. 3.7. 285 Klasse

102   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform Ergebnisse, Kriminalität nur als Phänomen eines persönlichen Versagens zu be­ schreiben, da viele Verarmte und Gelegenheitskriminelle in seiner Studie eher als Opfer konjunktureller Schwankungen erschienen.289 Als Benjamin Seebohm Rowntree einige Jahre nach Booth eine ebenfalls durch private Mittel finanzierte, ähnlich aufgebaute Studie über Armut in York veröffentlichte,290 ließ sich an der öffentlichen Resonanz, die auch diese Publikation erfuhr, ablesen, wie sehr die „fashion for numbers“291 ein Umdenken in Bezug auf Kriminalität und Armut möglich gemacht hatte. Auf diese Untersuchungen wurde in den folgenden Jah­ ren ständig Bezug genommen und sozialpolitische Forderungen mit ihnen be­ gründet. Ihren Erfolg und Einfluss erklärte ein Zeitgenosse damit, dass sie als „re­ sults of pertinacious enquiry into the facts of industrial life“292 angesehen werden würden. Dabei war Booths große methodologische Innovation gar nicht die numerische Analyse (in der Tat besaßen nur ein Drittel der Bände von Life and Labour tatsäch­ lich quantitativen Wert), sondern die Entdeckung und Nutzung von Haus-zuHaus-Befragungen als neue empirische Methode sowie die Auswertung von Fall­ studien, wie sie Statistiker in den 1830er Jahren entwickelt und dann nicht weiter verfolgt hatten.293 Booths und Rowntrees Studien eröffneten neben einer Reihe weiterer privater Untersuchungen294 auch eine Serie offizieller Regierungsstudien, die in den sogenannten Blue Books publiziert wurden.295 Sie alle waren in großem Umfang quantitativer Natur und werteten externe soziale und ökonomische Fak­ toren als Ursache für Armut, Arbeitslosigkeit oder Kriminalität auf, während sie gleichzeitig Vorstellungen von persönlicher Laster- oder Sündhaftigkeit abschwäch­ ten. Auch hier übernahm die staatliche Verwaltung Anregungen aus privaten Zir­ keln, die eigene wissenschaftliche Methoden entwickelt und eingesetzt hatten. Der ursprüngliche philanthropische Impuls solcher Unternehmungen desavouierte in den Augen der Zeitgenossen dabei weder die Methode noch die Ergebnisse. Im Gegenteil, die Tatsache, dass Männer wie John Macdonell, der zeitweilig für das Home Office unbezahlt die Herausgabe der Kriminalstatistiken ­betreute, diese Kri­ minalstatistiken als zu oberflächlich kritisierten, war Booths Einfluss geschuldet. Macdonell fand die in den Kriminalstatistiken aufgeführten Vergleiche zwischen 289 Vgl.

dazu auch Abrams, Origins, S. 23–24. „The achievement of Booth and Rowntree was to produce figures which revealed the structural connections of poverty as well as its extent. In tying poverty to unemployment, wage rates, and housing conditions and in suggesting that these and not personal viciousness or intemperance were the consequential links they force­ fully introduced questions of principle on the basis of impeccable statistics.“ 290 Benjamin Seebohm Rowntree, Poverty: A Study of Town Life, London 1900. 291 McKibbin, Social Class, S. 175. 292 Benjamin Kirkman Gray, Philanthropy and the State, or Social Politics, hrsg. von Eleanor Kirkman Gray und Leigh Hutchins, London 1908, S. 17. 293 Siehe dazu Abrams, Origins, S. 24; ebd. S. 20: „The social survey in the form used by Booth was pioneered in the 1830’s.“ 294 Siehe dazu auch das Kap. 6.4. 295 Dazu zählt auch der berühmte Report of the Inter-Departmental Committee on Physical De­ terioration in drei Bänden, Parliamentary Papers (1904), Cd. 2175, allgemein zur Flut an Blue Books vgl. Abrams, Origins, S. 136–143.

2.6. Vertrauen in die wissenschaftliche Methode   103

den großen englischen Städten zu grob, um der Vielfältigkeit der Distrikte und der geographisch unterschiedlichen Kriminalitätsverteilungen innerhalb der Städte Rechnung zu tragen. Konsequenterweise forderte er deshalb: „For many practical purposes the dossier of particular parishes and even streets is needed. Only thus will the connection between crime and overcrowding, disease, ignorance, and want of opportunities of innocent recreation be established.“296 Dass Macdonell die ­statistische Erfassung kleiner Bezirke bis hin zu einzelnen Straßen für so wichtig ­erachtete, hatte ohne Zweifel mit den beeindruckenden Ergebnissen von Booths Großstudie zu tun. Und dahinter stand ein reformerischer Anspruch. Das Engagement staatlicher Verwaltungen in Bezug auf den Ausbau und die Nutzung sozialstatistischer Daten hatte allerdings seine Grenzen. Wie Roger David­ son in seiner Studie über Whitehall und die Arbeiterfrage mit Blick auf den ­Gebrauch offizieller Arbeitsstatistiken gezeigt hat, weigerten sich Regierungsange­ stellte in der statistischen Abteilung des Board of Trade hartnäckig, die Fehlerhaf­ tigkeit und Unvollständigkeit ihrer Datenlage zuzugeben oder diese vor der Hin­ tergrund neu verfügbarer, vollständigerer Datenserien oder neuerer statistischer Verfahren zu modifizieren. Auch erlaubte es ihre Ausbildung nicht, das Potential quantitativer Methoden zu erfassen. Es gab so gut wie keine Versuche, die statis­ tisch gewonnen Informationen im Sinne einer innovativen Sozialpolitik zu nut­ zen. Es ging in erster Linie darum, politische Unruhen zu vermeiden und recht­ zeitig Gegenmaßnahmen einzuleiten. Der Einsatz von und die Berufung auf sta­ tistisches Material diente primär der Reputation der jeweiligen Abteilung und dem Nachweis professionellen Arbeitens, nicht einer tiefergreifenden Analyse der ökonomischen Variablen, die für Arbeitsunruhen und Arbeitslosenzyklen eine Rolle spielen konnten:297 „It was essentially a reactive and reactionary empiricism engendered by the ‚crisis‘ perceptions of the governing classes. […] They reflected a concern with the competitive needs of industry rather than the social needs of the working classes; a concern with the cost and efficiency of Labour as a factor of production rather than its welfare rights of citizenship. […] Investigations were clearly not designed to establish any normative welfare values of income and con­ sumption with which existing levels of working-class remuneration and expend­ iture might be compared.“298 Was für die ökonomischen Statistiken galt, dürfte auch für die Kriminalstatis­ tiken in gewisser Weise der Fall gewesen sein: ihr innovatives Potential zur Ein­ 296 John

Macdonell, Introduction to the Criminal Statistics for the Year 1905, Parliamentary Papers (1907), Cd. 3315, S. 1–69, hier S. 63; ders., Introduction to the Criminal Statistics for the Year 1899, Parliamentary Papers (1901), Cd. 659, S. 72–85; zu Sir John Macdonell (1845–1921) siehe Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 107, Anm. 58. Macdonell war auch ein ausgesprochener Kenner der internationalen kriminologischen Li­ teratur; seit 1901 war er Professor für Vergleichendes Recht am University College in Lon­ don; vgl. Dictionary of National Biography 25 (1912–1921), S. 355 f. 297 So die These von Roger Davidson, Whitehall and the Labour Problem in late-Victorian and Edwardian Britain. A Study in Official Statistics and Social Control, London et al. 1985, bes. S. 234–251. 298 Ebd., S. 256 f.

104   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform leitung von Reformen wurde eingedämmt durch ihre Nutzung als Mittel zur ­effizienteren Sozialkontrolle.

2.7. Bilanz und Ausblick: Philanthropische Kriminologie – alte Impulse und neue Methoden Die Einführung und Förderung der Statistik in England verdankte sich maßgeb­ lich dem freiwilligen Engagement privater Philanthropen und Sozialreformer und ihrem Bedürfnis, soziale Probleme besser diagnostizieren und Mittel zu ihrer Be­ kämpfung finden zu können.299 Ihnen galt Sozialstatistik als „mighty instrument of reform“.300 Effiziente Reformkonzepte ließen sich nur, so die Überzeugung, auf der Grundlage eines umfangreichem social knowledge entwickeln, das sie selbst herzustellen bereit waren. Sozialreformer und Amateurstatistiker schlüpften in die Rolle von Wissensproduzenten. Von Anfang an gab es eine besondere Affinität zwischen Philanthropie und Statistik, weil statistische Erhebungen und social ­surveys, deren Ergebnisse ja auch wieder als sortierte und systematisierte Massen­ daten tabellarisch oder graphisch präsentiert werden konnten, besonders amateur­ freundliche Methoden waren. Sozialstatistik benötigte nicht so sehr das mathema­ tische Genie als vielmehr den oder die eifrige/n Datensammler/in in großer Zahl. Der Staat ließ sich, so wurde gezeigt, zu einer Verbesserung und Modifizierung seiner Kriminalstatistiken erst durch die Kritik und den Druck der statistischen Gesellschaften bewegen. Die Vermittlung erfolgte zum Teil durch die eigenen staatlichen Verwaltungsangestellten, die als Privatpersonen zugleich Mitglieder der Statistischen Gesellschaft waren. Viele Mitglieder brachten Anregungen und Ideen von den internationalen Statistiker-Kongressen mit zurück auf die Insel.301 Auch Quetelets Besuch in Cambridge ging auf das Engagement eines privaten Vereins zurück, der den Austausch mit ausländischen Wissenschaftlern ausdrück­ lich als eine seiner wichtigsten Aufgaben betrachtete.302 Hinsichtlich der Bereit­ schaft staatlicher Behörden, private Empfehlungen in ihre eigenen Kriminalitäts­ statistiken umzusetzen, gab es allerdings Grenzen. Auf detaillierte Psychogramme ließen sich die entsprechenden Stellen im Innenministerium nicht ein. Quantita­ tive Großstudien wie die von Booth inspirierten hingegen Kommissionen, die sich mit sozialen Fragen beschäftigten. Ergebnisse quantitativer Studien wurden in den Kommissionsberichten berücksichtigt, die zugleich als Vorlagen neuer Ge­ setzentwürfe dienen konnten (Blue Books). 299 Siehe

dazu auch Theodore M. Porter, Natural Science and Social Theory, in: Robert Cecil Olby (Hrsg.), Companion to the History of Modern Science, London 1990, S. 1024–1043, hier S. 1027. 300 Gray, Philanthropy, S. 14. 301 So z. B. Leone Levi, Resumé of the Second Session of the International Statistical Congress held at Paris, September, 1855, in: Quarterly Journal of the Statistical Society (March 1856). 302 Quetelets Besuch in Cambridge ging auf die Einladung von William Whewell zurück, siehe Foote, Places of Science, S. 199.

2.7. Bilanz und Ausblick   105

In der historischen Kriminalitätsforschung sind die Diskussionen der Statisti­ schen Gesellschaft und der Social Science Association bislang nur vereinzelt zur Illustration zeitgenössischer Meinungen über Kriminalität herangezogen worden. Genug sei über den „moral and ameliorative approach“ dieser Beiträge gesagt worden, so befinden Radzinowicz und Hood, um ihren eklektischen Charakter zu erfassen.303 Die Nähe zur Politik und das philanthropische Bestreben der Mitglie­ der, effiziente Sozialreformen zu entwickeln, haben auch Soziologen wie Philipp Adams und Perry Anderson dazu verleitet, den wissenschaftlichen Anspruch die­ ser Gesellschaften zu übersehen bzw. in Abrede zu stellen. Abrams argumentiert, dass in England die Konzentration auf Sozialreform die Entwicklung einer theo­ retisch fundierten Soziologie verhindert habe: Investigation of social conditions did not itself produce a new understanding of society – only a greater concern and a greater sense of the urgency of administrative and legislative action […] Focusing persistently on the distribution of individual circumstances, the statisticians found it hard to break through to a perception of poverty as a product of social structure.304

Nach Abrams Einschätzung wurden die durchaus vorhandenen sozialwissen­ schaftlichen Talente von Edwin Chadwick, William Farr oder Joseph Fletcher ver­ schwendet, indem ihre Anstrengungen von sozialer Forschung und Analyse weg und auf Verwaltung, Parteipolitik und die ein oder andere institutionelle Neue­ rung hingelenkt worden sei:305 „[T]he performance of administrative and intelli­ gence functions for government soaked up energies which might have gone to­ ward sociology had such opportunity not been there.“306 Die staatliche Verwal­ tung nahm also nach Abrams den Raum ein, der sonst der Entwicklung einer neuen, theoretisch fundierten Soziologie zur Verfügung gestanden hätte. Ähnlich argumentiert Perry Anderson.307 Er interpretiert besonders die Aktivitäten der Social Science Association als Beispiel für einen naiven Empirismus, der die theo­ retische Weiterentwicklung der Sozialwissenschaften vereitelt hätte. Kurz: die ­Geschichte beider Vereine sei bestenfalls Bestandteil einer Geschichte der Sozial­ reform, nicht aber einer Geschichte der britischen Soziologie. Zunächst ist unschwer zu erkennen, dass solche Einwände nur dann formuliert werden können, wenn ein bestimmtes Entwicklungsmodell von Soziologie als Wissenschaft zum Vergleich dient, z. B. Emile Durkheims Arbeiten in Frankreich oder Max Webers Untersuchungen in Deutschland.308 Den englischen Verhältnis­ 303 Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 84. 304 Abrams, Origins, S. 27, S. 44; diese Haltung sei „critical in frustrating

the growth of sociology in the mid-nineteenth century“ gewesen. 305 Ebd., S. 148 f. 306 Ebd., S. 4 f. 307 Perry Anderson, Components of the National Culture, in: New Left Review 50 (1968), S. 3–57, bes. S. 7–9. 308 Wobei nach Hans Joas eigentlich erst Talcott Parsons (1902–1979) in seiner Schrift The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with Special Reference to a group of recent European Writers (1937) den Gehalt der Durkheimschen und Weberschen Schriften zum Kernbestandteil soziologischen Denkens erklärt und damit systematisiert habe, vgl. Hans Joas und Wolfgang Knöbl, Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen, Frankfurt am Main 2004, S. 39 f., hier S. 40.

106   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform sen wird man mit einem solchen Vergleich aber nicht gerecht werden können. Abrams und Anderson verkennen die spezifische intellektuelle Kultur des viktori­ anischen Zeitalters, in dem Wissenschaft und Reform mit großer Selbstverständ­ lichkeit Hand in Hand gingen. Abrams Unterscheidung in „academism“ und „ameliorism“ sei, so wendet Lawrence Goldman ein, eine falsche Antithese, denn sie leugne die selbstverständliche Einheit von Wissenschaft und Praxis in der Aus­ einandersetzung mit den sozialen Problemen der Zeit.309 Für die Mitglieder der Gesellschaften, aber auch für private Forscher wie Mayhew, Booth oder Seebohm Rowntree gab es keine Dichotomie zwischen Sozialreform und Sozialtheorie, kei­ nen Widerspruch zwischen den Forderungen nach sozialer Verbesserung und der wissenschaftlichen Erfassung sozialer Probleme. Sie näherten sich mit den von ihnen als wissenschaftlich qualifizierten Methoden sozialen Problemen an und formulierten aus den mit Hilfe dieser Methoden gewonnenen Erkenntnissen Empfehlungen für eine neue public policy. Es gibt eine Reihe von Argumenten, die aufzeigen können, warum Philanthro­ pie und Sozialreform Wissenschaft im England des 19. Jahrhunderts nicht diskre­ ditierte, sondern im Rahmen der genannten Vereine und privaten Initiativen tat­ sächlich von frühen sozialwissenschaftlichen Ansätzen zu einer englischen Krimi­ nologie gesprochen werden kann. Da ist zunächst die Tatsache, dass sich weder die Statistical Society noch die Social Science Association ins Schema traditionel­ ler Wohlfahrtsvereine einordnen lassen wollten. Das Gemeinwohl definierten ­viele Mitglieder nicht als schlichte Verteilungsgerechtigkeit materieller Güter, son­ dern als Förderung staatlicher Verwaltungseffizienz. Die Nähe zur Administration wurde von ihnen bewusst gesucht und gepflegt.310 Freilich kam hier auch das ­Bestreben einer neuen Mittelschicht zum Ausdruck, sich mithilfe eigener Profes­ sionalisierung politisch mehr Gehör zu verschaffen.311 Die Reformer argumen­ tierten, dass moralische Ermahnung und herkömmliche Wohlfahrt angesichts des Ausmaßes sozialen Elends nichts mehr ausrichten könne. Sie erblicken in Wohl­ tätigkeit kein probates Mittel mehr, um soziale Missstände zu beseitigen, wovon wiederum auch die Stabilität ihrer eigenen Lage abhing.312 Erfolgversprechender 309 Goldman,

Science, S. 318–319; siehe auch Brian Fay, Social Theory and Political Practice, London 1975, S. 39–45; zu einer früheren Version von Goldmans Argument siehe ders., A Peculiarity of the English? The Social Science Association and the Absence of Sociology in Nineteenth-Century Britain, in: Past and Present 114 (1987), S. 133–171; und die dazu ge­ hörige Debatte: ders., Social Science, Social Reform and Sociology: A Reply, in: Past and Present 121 (1988), S. 209–219. 310 Anders als Abrams hat deshalb Brian Fay die Ursprünge der sozialwissenschaftlichen Tradi­ tion in England in der Mitte des 19. Jahrhunderts gerade in dem Wunsch ausgemacht „to replace arbitrary administration based on birth and status with systematic governance based on competence and objectivity.“ Fay, Social Theory, S. 28 f. 311 Harold Perkins datiert den Beginn der professional society auf die 1880er Jahre. Nimmt man allerdings die Wissenschaftsfreundlichkeit dieser Schichten zum Ausgangspunkt, so lässt sich deren Professionalisierungsbestreben durch Bildung und Wissenschaftlichkeit durchaus früher verorten. 312 Zur Beständigkeit einer solch moralisch-religiösen Haltung im Umgang mit Strafgefangenen am Beispiel der Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft siehe Désirée Schauz, Stra­

2.7. Bilanz und Ausblick   107

erschien ihnen nur die wissenschaftliche Annäherung an die soziale Problematik, mit detaillierter Erfassung von Fakten und einer gründlichen Informationsverar­ beitung. Sich als wissenschaftliche Vereinigung mit gemeinnütziger Orientierung zu etablieren fiel der Statistical Society dabei aufgrund ihrer Nähe zur Mathema­ tik leichter, aber auch die Social Science Association legte ein großes Bemühen an den Tag, sich deutlich von einer bloß sentimentalen und unweigerlich moralisie­ renden Philanthropie zu distanzieren.313 Dass die Rhetorik vieler Beiträge immer noch an ermahnende Predigten erinnerte, war sicherlich der Tatsache geschuldet, dass viele Geistliche an den Diskussionen in beiden Vereinigungen teilnahmen. Dennoch kam gerade in ihren Beiträgen auch deutlich etwas Neues zum Vor­ schein: das Bedürfnis, soziales Wissen zu produzieren, und das Bestreben, dem Phänomen Kriminalität ‚soziologisch‘ und nicht mehr ‚moralisch‘ auf den Grund zu gehen. Philipp Abrams argumentiert dagegen, dass die von den beiden Vereinen ana­ lysierten sozialen Probleme schnell in moralische übersetzt worden seien. Es sei nicht Armut als strukturelles Problem, sondern Armut im Kontext von Trunken­ heit, Prostitution, Kriminalität, Abhängigkeit, kurz als Hindernis für die morali­ sche Entwicklung des Individuums untersucht, verhandelt und thematisiert wor­ den.314 In dem Moment, in dem die moralisierende Perspektive die Oberhand gewonnen habe, sei ein klarer Fokus auf Individuen und weniger auf soziale Strukturen auszumachen.315 Davon kann aber gerade in den untersuchten Debat­ ten über die Ursachen von Kriminalität keine Rede sein. Besonders in den Beiträ­ gen der Statistischen Gesellschaft ging es in erster Linie um die Untersuchung von Aggregaten, von analysierbaren Massenphänomenen, um die Herstellung von Korrelationen. Aus den Analysen von Francis Neison, Joseph Fletcher oder Wil­ liam Farr in den 1840er und 1850er Jahren, aber auch aus den einfachen Interak­ tionsmodellen von Elliott gingen die ersten ‚modernen‘ kriminalsoziologischen Theorien hervor. Dabei stand nicht die individuelle Zuschreibung von Schuld und Versagen im Mittelpunkt. Thematisiert wurden, z. B. in den Debatten über die negativen Folgen einer fortschreitenden Industrialisierung und Urbanisie­ rung, vor allem die überindividuellen Faktoren, deren Einfluss sich der Einzelne nur begrenzt entziehen konnte. Was hier kritisch reflektiert wurde, war nicht so sehr die Frage von Kriminalität als Problem des individuellen Kriminellen, son­ dern als gesamtgesellschaftliches Problem. Die von den Sozialreformern einge­ setzten sozialstatistischen Verfahren orientierten sich dabei an den induktiven Verfahren der Naturwissenschaften. Eine wissenschaftlich anmutende Quantifi­ zierung gab nach Auffassung der Zeitgenossen nicht nur neutral und sachlich über das Ausmaß sozialer Missstände Auskunft, sie wurde auch als eine objektive

fen als moralische Besserung. Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge (1777–1933), Mün­ chen 2008. 313 Vgl. Z. B. Beggs, Causes of Crime, in: Transactions 1868 (1869), S. 339. 314 Vgl. Abrams, Origins, S. 37 f. 315 Vgl. ebd., S. 38.

108   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform Analyse der Ursachen von Kriminalität selbst gewertet. Über diese Analyse wurde aus Alltagswissen wissenschaftliches Wissen, denn nun wurden die landläufig als kriminalitätsverursachend angenommenen Faktoren in ein quantitatives Verhält­ nis zueinander gesetzt. Auch wenn die Methoden oft noch wackelig waren und die Systematik sicher in vielen Fällen zu wünschen übrig ließ: Die Beiträge der Statistical Society, der Social Science Association und Booths Untersuchungen haben zur Entwicklung neuer kriminologischer Ansätze beigetragen, die als Vorläufer späterer, moderner Kriminalitätskonzeptionen gelten dürfen. Fletchers ecological approach oder ­Elliots differential association haben Straftheorien um neue Elemente bereichert. Wenn ein ungünstiges soziales Umfeld und mangelhafte Bildung und Erziehung Fakto­ ren in der Kriminalitätsgenese waren, dann musste dies beim Strafzweck berück­ sichtigt werden. Neben Abschreckung und Vergeltung trat die Reformierung des Straftäters, und zwar nicht mehr ausschließlich als moralisch-sittliche Verbesse­ rung im Sinne eines bekehrten Sünders, sondern gerade aufgrund des sachlichen ‚wissenschaftlichen‘ Nachweises dieser Faktoren im Sinne der Herstellung eines rationalen Bürgers, der sozialverträglich und integrierbar sein sollte. Dieser sollte bestimmte Fähigkeiten erlernen, um ein autonomes, und das heißt von öffent­ lichen Unterstützungen unabhängiges Leben führen zu können. Wenn überindi­ viduelle Faktoren nachweislich für kriminelles Verhalten verantwortlich gemacht werden konnten, dann lag in dieser Tatsache zugleich ein Appell an die Gesell­ schaft, für die Rückführung des Straftäters in die Gesellschaft Sorge zu tragen, weil die Vorteile für den Straftäter letztlich auch die Vorteile der Gesellschaft sein würden. Reformierung hieß dabei nicht Milde oder Nachsichtigkeit. Gerade die Sozialund Gefängnisreformer der National Reformatory Union und in noch größerer Zahl die Teilnehmer der repression of crime-Sektion der Social Science Association setzten sich dezidiert gegen den stets vorhandenen Generalverdacht einer falsch verstandenen und in gewisser Weise rührseligen Philanthropie zur Wehr.316 Das Ziel der Reformierung rechtfertigte ihrer Ansicht nach eine rigorose disziplina­ rische Behandlung des Straftäters.317 Das Neue ‚gegenüber älteren Strafmodellen und -konzepten war hier, wie Martin Wiener zu Recht bemerkt hat, die vitale Unterscheidung nicht zwischen Strenge und Milde, sondern zwischen einer Stren­ ge, die einen reformerischen Zweck verfolgte, und einer Härte, die nutzlos und steril blieb.318 Die Reformierung als Strafzweck kam aber ohne den Bildungs- und Erzie­ hungsgedanken nicht aus. Es gab hier einen zwingenden logischen Zusammen­ 316 Siehe

z. B. Serjeant Cox [Deputy-Assistant Judge of Middlesex], What is the Primary Pur­ pose of Punishment – to Deter or to Reform? in: Transactions 1872 (1873), S. 207: „mistaken and somewhat maudlin philanthropy.“ 317 Insofern trifft die Feststellung Foucaults nach einer zunehmenden, intensiven Behandlung und Therapierung des Straftäters im 19. Jahrhundert auch auf England zu, siehe Foucault, Überwachen und Strafen. 318 Wiener, Reconstructing the Criminal, S. 116.

2.7. Bilanz und Ausblick   109

hang: Erfolg konnte die Reformierung nur versprechen, wenn sie als prinzipiell möglich gedacht wurde, d. h. wenn der Straftäter als eine für Veränderungen zu­ gängliche und für Erziehungsmaßnahmen empfängliche Person angesehen wur­ de. Das schloss die Vorstellung des Straftäters als einer durch ihre körperliche oder mentale Konstitution in ihrem Handeln absolut determinierten Person aus. Die National Reformatory Union gab deshalb konsequenterweise bereits in den 1850er Jahren entgegen einem öffentlichen Trend, der nach dem Ende des Depor­ tationssystems von einer wachsenden Angst vor einer im Lande verbliebenen un­ verbesserlichen kriminellen Klasse319 geprägt war, ihre Unterscheidung zwischen jugendlichen und erwachsenen Straftätern auf und vertrat die Auffassung der prinzipiellen Reformierbarkeit aller Straftäter.320 Während die öffentliche Vor­ stellung der Unreformierbarkeit erwachsender Straftäter durch mehrere Wellen ‚moralischer Paniken‘321 in den 1850er und 1860er Jahren immer neue Nahrung erhielt, nutzte die National Reformatory Union die Konferenzen der Social ­Science Association für die Popularisierung der Idee, dass Abschreckung und Vergeltung keine geeigneten Strafzwecke mehr sein könnten. Das Credo der Bewegung hat Mathew Davenport Hill früh formuliert: „Punishment when it means pain ­administered […] for retribution, or for retaliation, is in its essence hostile to reformation, because hostile to education and development.“322 Die auch durch die Medien produzierte Panikstimmung verschärfte zwar die Diskrepanz zwi­ 319 Vgl.

Goldman, Science, S. 43. dazu Ebd., S. 40. 321 Von insgesamt drei solcher ‚moralischen Paniken‘ ist immer wieder in der Literatur über Kriminalität im viktorianischen England die Rede. Die erste und zugleich diejenige, die von den Zeitgenossen sofort wahrgenommen wurde (siehe Law Amendment Journal 2 (1856/57), S. 2), entstand unmittelbar als Reaktion auf die Einstellung des Deportationssystems und seines Ersatzes durch die Strafe der penal servitude für Schwerverbrecher. Die Einführung des sogenannten ticket-of-leave-Systems, verankert im Penal Servitude Act von 1853, erlaub­ te die Entlassung eines Strafgefangenen vor Ablauf seiner Strafe wegen guter Führung, wo­ bei er noch eine Zeit lang polizeilicher Aufsicht unterstellt war, die allerdings nicht beson­ ders gut funktionierte (siehe Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 250). Zu Angst und Panik hatte dieses Gesetz im Winterhalbjahr 1856/57 geführt, weil zu diesem Zeitpunkt die ersten ticket-of-leave-Männer entlassen wurden. Die zweite Welle moralischer Panik im Winterhalbjahr 1861/62 wurde durch eine besonders von den Zeitungen hochge­ spielte Serie von Überfällen auf offener Straße, die alle diesen ticket-of-leave Ex-Strafgefan­ genen zugerechnet wurden (tatsächlich geht man heute davon aus, das es sich wahrschein­ lich um aus dem Krim-Krieg zurückgekehrte Soldaten gehandelt hat). Die Medien produ­ zierten künstliche Bilder von finsteren Verbrechertypen, die ihr Opfer von hinten anschlichen, um es zunächst bis zur Bewusstlosigkeit zu strangulieren und dann auszurauben. Eine dritte moralische Panik ähnlicher Art vermutet Lawrence Goldman mit guten Argumenten für das Winterhalbjahr 1868/69, denn die auffällige Verschärfung der Strafgesetzgebung und die wachsende Prominenz biologistischer Argumente (siehe dazu das 2. Kapitel dieser Arbeit) sprechen für eine solche öffentliche Verunsicherung. Zu den moralischen Paniken siehe ­Jennifer Davis, The London Garotting Panic in 1862: A Moral Panic and the Creation of a Criminal Class in mid-Victorian England, in: V.A.C. Gatrell et al. (Hrsg.), Crime and the Law. The Social History of Crime in Western Europe since 1500, London 1980, S. 190–213; Bailey, Fabrication of Deviance, S. 221–256; Goldman, Science, S. 45 f. 322 Matthew Davenport Hill, hier zit. nach Goldman, Science, S. 43. 320 Siehe

110   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform schen der ‚öffentlichen Meinung‘ und der Meinung der Vereinsmitglieder über die kriminelle Klasse, sorgte aber doch zugleich dafür, dass sich diese wissen­ schaftlich orientierten Organisationen als nüchterne, unsentimentale, wissen­ schaftlich legitimierte Foren profilieren konnten, die in gleicher Weise das Krimi­ nalitätsproblem behandelt sehen wollten. Insgesamt vermochten gerade ihre Ver­ handlungen durch den ‚wissenschaftlichen Anspruch‘ einen relativ sachlichen Ton in die Kriminalitätsdebatten hineinzutragen.

Wissenschaftsverständnis der Sozialreformer Sowohl bei den Mitgliedern der Gesellschaften als auch den privaten Sozialfor­ schern ließ sich ein ausgeprägtes Methodenbewusstsein feststellen. Wissenschaft, das hatten die Auseinandersetzungen der Statistiker mit der British Association gezeigt, zeichnete sich vor allem durch eine distinkte Methode aus. Dabei kam es weniger auf die Wissensinhalte als vielmehr auf die Art und Weise des Erkennt­ nisgewinns an, auf den „mode of knowing“, wie ein Zeitgenosse betonte.323 An die Stelle von Mutmaßung und Vorurteil sollte Ordnung, Präzision, Systematik treten. Wissenschaft sei, so Morrell und Thackray, vor allem als Methodologie aufgefasst worden, als modus operandi, definiert durch die systematische und ge­ ordnete Aneignung eines Untersuchungsobjektes.324 An diesem Wissenschaftsverständnis orientierten sich die Mitglieder der Ge­ sellschaften. Mochten die gewählten Untersuchungsmethoden auch noch relativ schlicht erscheinen, einige ließen bereits deutlich Ansätze zur empirischen Sozial­ forschung erkennen. Während die Statistical Society eigene Untersuchungen för­ derte, gab die Social Science Association kaum eigene Studien in Auftrag und ver­ ließ sich eher auf die Präsentation der Ergebnisse ihrer Experten. Sie trug damit aber in einem nicht unerheblichen Maße zur Verbreitung der Erkenntnisse bei. In den Diskussionen über angemessene Methoden wurden nicht selten Analogien zur Biologie gesucht. Reverend W.N. Molesworth schlug 1858 vor, eine verglei­ chende Soziologie nach dem Prinzip der vergleichenden Anatomie aufzubauen, die von den einfachsten Strukturen zu den kompliziertesten und am höchsten entwickelten fortfuhr und auf diese Weise Naturgesetzen auf die Spur kommen sollte, die Gesellschaften regulierten.325 Auch Reverend Elliot bemühte den Ver­ gleich der Gesellschaft mit einem politischen Organismus, dessen Funktion durch Kriminalität als moralischer Krankheit gefährdet werde.326 Mit Blick auf Präven­ tion müssten die Ursachen dieser Krankheit studiert und „wissenschaftlich“ be­ handelt werden.327 Das Studium der Kriminalitätsursachen unterscheide sich da­ 323 Mark

Pattison, Suggestions on Academical Organisation with Special Reference to Oxford, Edinburgh 1868, S. 266, hier zit. nach Goldman, Science, S. 314. 324 Morell und Thackray, Gentlemen of Science, S. 348. 325 Reverend W.N. Molesworth, Suggestions for the Institution of a New Social Science, Under the Name of Comparative Sociology, in: Transactions 1858 (1859), S. 697. 326 Elliot, Principal Causes, S. 324. 327 Ebd., S. 324 f.

2.7. Bilanz und Ausblick   111

bei wesentlich von der bloßen Reform des Strafvollzugs.328 Was Lord John Russel 1858 in seiner Ansprache vor der SSA als methodisches Vorgehen empfohlen und der Journalist Henry Mayhew bereits praktiziert hatte, empfahl 1868 auch Elliot mit Nachdruck − das induktive Verfahren: If the study of crime in its origin, development, and treatment, is to be dignified by the name of a science, we must be content in this, as in other branches of accurate investigation, to let the­ ories follow upon facts; and the first step towards arriving at sound conclusions is to agree upon a common basis for inquiry, in order that the labour of each inquirer may help to swell the common stock of knowledge, and that the comparison of many observations may ultimately furnish reliable information as to the sources of the evil which it is desired to lessen, if not to eradicate.329

Elliot hoffte auf die Wiederbelebung des 1838 von der Statistical Society entwor­ fenen detaillierten Fragebogens, der u. a. Informationen über Tatmotive enthalten sollte. Unter der Federführung der Social Science Association hielt er dieses Pro­ jekt für dringend geboten, seine Wichtigkeit könne nicht überschätzt werden.330 Neben der Standardisierung der Erfassungsmethoden, um Fehlerquellen zu mini­ mieren, war besonders die Quantität der gesammelten Fakten für die Aussage­ kraft der Ergebnisse entscheidend. Für deren Sammlung bedurfte es aber vieler Mitarbeiter. Die Untersuchungen von Fletcher, Clay, Elliot, Mayhew demonstrierten, wie stark die Anfänge einer englischen ‚Kriminalsoziologie‘ von positivistischem Den­ ken geprägt waren. Der starke Bezug zum Empirismus zeigte sich in der Verpflich­ tung, die Naturwissenschaften als Modell auch auf die Sozialwissenschaften zu übertragen. Daran knüpfte sich die Hoffnung, man könne in gleicher Weise sozi­ alwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten entdecken. Mit der wahrnehmbaren tech­ nischen und materiellen Verbesserung als Folge naturwissenschaftlicher Anwen­ dung wurde die Hoffnung verbunden, sozialer Fortschritt sei in ähnlicher Weise zu erzielen, wenn nur ein ähnlich zuverlässiges methodisches Instrumentarium zur Verfügung stünde wie in den Naturwissenschaften. Der Positivismus in den social sciences des 19. Jahrhunderts bezeichnete also nicht nur den überall anzu­ treffenden Glauben, dass soziales Wissen assimiliert und nach dem Modell der Naturwissenschaften organisiert werden könnte, sondern auch die damit verbun­ dene Vorstellung, dass dieser Positivismus, richtig verstanden und synthetisiert, unweigerlich eine Basis für soziale Reformen bereitstellen würde. Der von den Mitgliedern der Statistical Society und der Social Science Association praktizierte Positivismus implizierte keine Trennung zwischen dem Sammeln und Sichten so­ zialer Daten auf der einen und der Entwicklung soziologischer Theorien auf der anderen Seite. Letztere würden sich zwangsläufig aus ersteren ergeben. Untersu­ che und zähle, so lautete die Aufforderung an alle Interessierten, die sich nach ­eigenem Verständnis wissenschaftlich einem sozialen Phänomen nähern wollten, und – so die Verheißung – die wesentlichen Beziehungen zwischen sozialen Phä­ 328 Ebd.,

S. 325. S. 324–337, Hervorhebung S.F. 330 Ebd., S. 325. 329 Ebd.,

112   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform nomenen würden von sich aus sichtbar werden.331 Wissenschaft und Sozialreform waren auf eine ungebrochene, selbstverständliche Weise miteinander verbunden.

Von Laien und Experten – Science to all In den wissenschaftlichen Vereinigungen konnten auch Laien und Amateure in die Rolle des Wissenschaftlers und Experten schlüpfen. Lawrence Goldman hat die Verpflichtung der Mitglieder der Social Science Association auf ein Wertesys­ tem rund um Wissenschaft, Professionalität und Expertise332 hervorgehoben und betont, wie selbstverständlich die Statistical Society und die Social Science Associ­ ation den Zeitgenossen als Expertenforen galten. Der Expertenbegriff wird aller­ dings von ihm nicht weiter untersucht. Doch wer galt den Zeitgenossen als Ex­ perte und wodurch zeichnete er sich aus? Was lässt sich generell von den Mitglie­ dern solcher Vereinigungen in Bezug auf ihr eigenes Selbstverständnis sagen? Alle Mitglieder vereinte zunächst zweierlei: Die Überzeugung, dass die Lösung sozialer Probleme oberste Priorität habe, und der Glaube, dass nur eine wissen­ schaftliche Auseinandersetzung zur Lösung dieser Probleme beitragen und des­ halb die Expertenforen, wie die von ihnen gegründeten Vereine, den regierenden Klassen etwas anbieten könnten. Hastings hatte in seiner Eröffnungsrede der So­ cial Science Association betont, wie sehr soziales Wissen auf die Zusammenarbeit vieler und verschiedener Bereiche angewiesen sei. Man erhoffe sich aus der Syn­ these und Kooperation zahlreicher unterschiedlicher Experten Aufschlüsse und Erkenntnisse, die einzelne Gelehrte allein nicht entwickeln könnten. Ganz in die­ sem Sinne fand deshalb keine Selektion der Beiträge in den von der SSA heraus­ gegebenen Transactions statt. Von außen betrachtet konnte allerdings dadurch der Eindruck bunter Vielfalt entstehen. Expertise, etymologisch von experience abgeleitet, galt den viktorianischen Zeit­ genossen als unverzichtbar. Nach Theodore Porter wurde im 19. Jahrhundert ein Experte viel eher als jemand betrachtet, der bestimmte Dinge tat, als eine Person, der diese Dinge formal studiert hatte. In Bildungskategorien wurde Expertise eher durch eine praktische Ausbildung erworben als durch eine wissenschaftliche Schulung.333 Auch für die Zuhörerschaft der beiden wissenschaftlichen Gesell­ schaften zeichnete sich ein Experte weniger durch seine Zugehörigkeit zu einer akademischen Institution aus als vielmehr durch seine langjährige praktische Be­ rufserfahrung, z. B. als Gefängnisleiter, Gefängnisgeistlicher, als Anwalt oder Poli­ zist. Das in diesen Tätigkeiten erworbene Wissen galt vielen als entscheidende Voraussetzung, um über eine Sache ‚sachverständig‘ urteilen zu können. Trotz­ dem haben viele Mitglieder, deren langjährige Berufserfahrung sie in den Augen der Zuhörer bereits als Fachmänner auswies, zusätzlich versucht, ihre praktischen 331 Siehe

dazu Lord Brougham and Vaux, Inaugural Address, in: Transactions 1857 (1858), S. 10–27. 332 Goldman, Science, S. 4. 333 Theodore Porter, Statistical Utopianism in an Age of Aristocratic Efficiency, in: Osiris 17 (2002), S. 210–227, hier S. 219.

2.7. Bilanz und Ausblick   113

Erfahrungen durch die Anwendung einer geeigneten Systematik zu ergänzen und ihre Erkenntnisse dadurch auf eine neue Legitimationsgrundlage zu stellen. Wenn Wissenschaft in erster Linie Methode war, die sich durch Systematik und Ordnung auszeichnete, dann war es die Statistik selbst, die suggerierte, dass jeder, der mit ihr umging, selbst zum Wissenschaftler werden konnte. Die Zeitgenossen haben das durchaus so verstanden. Lord Stanley, der später maßgeblich an der Gründung der Social Science Association mitwirkte, unterstrich 1856 die Ama­ teurfreundlichkeit der Statistik. Der Fortschritt der Statistik leide nicht unter den Verzögerungen anderer Wissenschaften wie etwa der Mathematik, denn sie sei weniger auf ‚Genies‘ angewiesen. In der Mathematik zähle nicht die Anzahl der vorhandenen Mathematiker, sondern die Qualität des Intellekts, die am Werke sei. Dies sei der Grund, warum große Fortschritte in der Mathematik so selten seien. Viele durchschnittliche Mathematiker könnten eben einen einzigen Mann wie Newton nicht ersetzen. Im Falle der Statistik läge die Sache aber anders: Hier zähle durchaus die Anzahl jener, die sich mit ihr beschäftigten. Der Erfolg statisti­ scher Untersuchungen hänge nicht so sehr von einzelnen Genies ab, als vielmehr vom beständigen und kooperativen Fleiß vieler Geister, die ein gewisses Training für die Aufgaben durchlaufen hätten.334 Statistik benötigte also nicht nur große Datenmengen, sie benötigte vor allen Dingen viele Mitarbeiter, die diese Daten sammeln und systematisieren konnten. Dazu berechtigt und begabt konnten sich viele fühlen.335 In diesem Konzept von Wissenschaft lag implizit eine demokratische Aufforderung, die Überzeugung, dass im Grunde jeder Wissenschaft betreiben konnte. Dass das durchaus eine gängige Vorstellung war, zeigt auch die Behauptung des Biologen und späteren DarwinApologeten Thomas Henry Huxley, der 1854 in St Martin’s Hall seinem Audito­ rium erklärte, Wissenschaft sei nichts anderes als geschulter und orga­nisierter common sense. Der Wissenschaftler wende lediglich skrupulöser jene Methoden an, die alle Menschen jederzeit aus Gewohnheit achtlos anwenden würden.336 In diesem Sinne konnten sich alle Mitglieder, die mit Vorträgen auf den Sekti­ onen der Statistical Society und der Social Science Society vertreten waren, durch ihr Bemühen um Systematik als Wissenschaftler betrachten. Dabei hat die Attrak­ 334 Alle

Zitate: Stanley, Opening Address, S. 307. Ähnliches hatte der Naturwissenschaftler Wil­ liam Whewell 1833 vor der British Association mit Blick auf jene engagierten Laien-Biolo­ gen und Naturforscher formuliert. Durch das Sammeln und Aufzeichnen von Daten würden sie einen wertvollen Beitrag zur Wissenschaft leisten, mochte ihr Talent auch bescheiden, ihr Fleiß hingegen groß sein. Whewell betonte allerdings, dass die empirische Arbeit durch ­theoretische Ansichten und Aufarbeitung geleitet werden müsse, also Sache der Experten bleibe. Fakten, wenn klassifiziert und mit Theorie verbunden, würden erst zu Wissen, vgl. Morell und Thackray, Gentlemen of Science, S. 270 f.; genau diese Auffassung findet sich dann auch bei Henry Mayhew wieder, siehe Kap. 2.4. 335 Vgl. auch das Editorial in Biometrika (1901), S. 6: „[T]hat a guild of qualified collectors and workers may be gradually formed to whom appeal may be made for collecting, counting and observing. There are many men and women […] glad to assist with collecting-box, camera or pencil.“ 336 Thomas Henry Huxley, On the Educational Value of the Natural Sciences (1854), in: ders., Collected Essays, Bd. 3, London 1893, S. 45 f.; Hervorhebung im Original.

114   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform tivität der Statistik den educated non-specialist nicht dazu verleitet, eine allzu ­naive Haltung gegenüber dem eigenen Tun einzunehmen. Nicht nur Lord Stanley ­benannte Fehlerquellen und Irrtümer in statistischen Untersuchungen,337 auch ­Reverend William Douglas Morrison, der sich um die Verwissenschaftlichung der Kriminalitätsdebatten durch die englische Herausgabe ausländischer Abhandlun­ gen zur Kriminalität sehr verdient machte, erläuterte 1896 der Statistischen Ge­ sellschaft die Schwächen und Grenzen von Kriminalstatistiken.338 Überhaupt brachte die positivistische Haltung vieler Sozialreformer einen neu­ en Typus von Gefängnisgeistlichen hervor, der sich bewusst wissenschaftlich dem Problem Kriminalität nähern wollte. Viele anglikanische Gefängnisgeistliche zeig­ ten sich gegenüber neuen Erklärungsmethoden überaus aufgeschlossen und lern­ fähig. Traditionell waren Gefängnisseelsorger für die moralische Besserung der Strafgefangenen zuständig. Ihr direkter Kontakt mit den Strafgefangenen begrün­ dete zugleich ihren Expertenstatus. Doch einige wollten es nicht dabei bewenden lassen, als erfahrener Praktiker zu gelten und widmeten sich deshalb verstärkt sta­ tistischen Untersuchungen, in denen sich ein Professionalisierungsbestreben be­ merkbar machte. Männer wie der eifrige Datensammler und Kriminalstatistiker Reverend John Clay haben Charles Dickens zwar dazu veranlasst, diesem Typus des in Statistik involvierten Geistlichen in der Figur des Thomas Gradgrind ein karikierendes literarisches Denkmal zu setzen. Doch Clay selbst ließ sich durch die Figur eines eher unsympathischen Faktenhubers nicht verunsichern, sondern verteidigte seine statistischen Analysen gegenüber Mary Carpenter in einem Brief. Dieser macht deutlich, wie stark unter vielen Gefängnisgeistlichen die Ansicht vorherrschte, mit statistischen Erhebungen dem Problem wirklich auf die Spur zu kommen: „I see that Mr. Dickens, in Hard Times, has a laugh at my ‚tabular state­ ments‘, and at my credulity. He is not the only man I have met who prefers to rely on his own theories and fancies rather than on well-ascertained facts.“339 Auch Clays Kollege Reverend Henry Lettsom Elliot wollte sich bewusst der Kriminalitäts­problematik nicht mehr ausschließlich auf religiösem oder philoso­ phischem Wege nähern, sondern zog die ‚praktische‘Annäherung „from a social point of view“ vor.340 Obgleich kein Jurist, interpretierte Elliot Kriminalität pri­ mär als Verletzung oder Überschreitung gesellschaftlicher Regeln und Normen341 337 Stanley,

Opening Address, S. 308 nannte u. a. quantitativ nicht ausreichendes Datenmate­ rial, das Ignorieren oder Nichtberücksichtigen (bzw. Unterdrücken) von Fehlerquellen oder Erscheinungen, die nicht ins Untersuchungsschema passen. 338 William Douglas Morrison, The Interpretation of Criminal Statistics, read before the ­Royal Statistical Society, 15th December 1896, in: Journal of the Royal Statistical Society 60 (1897), S. 1–21. 339 John Clay an Mary Carpenter, 25. August 1854, hier zit. nach Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 95. 340 Elliot, Principal Causes, S. 326; social meint hier tatsächlich den konkreten, äußeren, ‚sozia­ len‘ Blickwinkel. 341 Ebd.; diese nüchterne, vom Staatsaufbau und der Sicherung seiner Funktionsfähigkeit her gedachte Auffassung wurde von vielen civil-service-Angehörigen, darunter Mediziner wie William C. Sullivan, geteilt, siehe dazu Kap. 4 dieser Arbeit.

2.7. Bilanz und Ausblick   115

und bemühte sich um eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Systemati­ sierung und Klassifizierung von Kriminalitätsursachen.342 Wie Clay demonstrier­ te er dabei ein großes Vertrauen in Zahlen. Seine lokale Untersuchung von 1000 Strafgefangenen, die er nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und täglich besucht und interviewt hatte, ergab eine neue Rangordnung von Kriminalitätsursachen, die für ihn einen objektiven Sachverhalt verkörperte. Würde seine Klassifizierung als Ausgangspunkt für das Auffinden sozialer Gesetzmäßigkeiten in der Recht­ sprechung Berücksichtigung finden, dann könnte sich daraus, so seine Überzeu­ gung, auch eine Reduzierung von Straftaten ergeben.343 Elliots Kollege Reverend J.T. Burt schließlich sah in einer wissenschaftlichen Systematik das probateste Mittel zur Kriminalitätsbekämpfung: „Rules, however, for determining in all cases to what demoralizing influence the crime of an individual offender is to be at­ tributed must be elaborated by systematized observation, which I respectfully rec­ ommend to be set on foot. I am aware, indeed, that most crimes, if not all, result from a cumulation of causes.“344 Leon Radzinowicz und Roger Hood kritisieren solche Systematisierungs- und Hierarchisierungsversuche als Spielerei und naiven Optimismus einzelner Philanthropen,345 ohne den darin zum Ausdruck kom­ menden wissenschaftlichen Versuch zu würdigen, eine Systematik zu erarbeiten, die naturwissenschaftlichen Ordnungen ähnlich sein sollte und sachlich analy­ siert werden konnte. Auch bedenken sie nicht, dass sich hier in gewisser Weise eine spezifische Wissenskultur etablierte, die den bislang unabhängig und isoliert arbeitenden gentlemen scientists Foren bot. In Bezug auf das Untersuchungsobjekt Mensch erwiesen sich Sozialstatistiker und empirische Sozialforscher als durchaus lernfähig. Konfrontiert mit der auf­ kommenden Evolutionsbiologie setzte unter ihnen eine kritische Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen ihrer eigenen Methoden und der durch sie ge­ wonnenen Erkenntnisse ein. Mehr und mehr schwand die Hoffnung, dass sich menschliches Verhalten mit der Gewissheit naturwissenschaftlicher Gesetzmäßig­ keiten beschreiben oder sogar vorhersagen lassen würde.346 Richard Mockton Milnes, inzwischen Lord Houghton, Vize-Präsident der Statistical Society und zu­ gleich neuer Präsident der Social Science Association, zeigte sich bereits 1873 diesbezüglich skeptisch. Seine Zweifel bezogen sich nicht nur auf das Untersu­ chungsobjekt Mensch, sondern auf den Menschen als einem untersuchenden Forscher. Der Sozialwissenschaftler sei eben auch immer Teil des setting, in dem die Untersuchungen stattfänden. Anders als der Naturwissenschaftler sei er mit der Schwierigkeit konfrontiert, 342 Elliot,

Principal Causes, S. 326: „the classification of causes of crime in general.“ ebd., S. 337. 344 Burt, Adaptation, in: Transactions 1857 (1858), S. 318. 345 Siehe Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 84. 346 James Kay Shuttleworth hatte 1866 die SSA noch daran erinnert, dass sie doch auf der Idee gegründet worden sei, „that the growth of civilisation proceeds according to laws, the investi­ gation of which is as much a matter of science as are the physical laws which govern the mater­ ial world.“ Ders., On Economy and Trade, in: Transactions 1866 (1867), S. 84–112, hier S. 84. 343 Vgl.

116   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform not to deal with numbers operating under conditions of absolute certainty, or with processes following the unvarying laws of external nature. His factors are living men, creatures of appetites, passions, hopes, fears, and all the other incidents of temperament and will. The very laws and insti­ tutions to which they are subject, are in great part of their own formation, and partake of the mutability of their nature and of the uncertainty of their destiny; their very powers of obser­ vation are limited by the conditions of the society in which, at any given moment, they happen to be placed, and affected by all the influences they profess to criticise or examine.347

Der Traum von Quetelets physique sociale war gegen Ende des 19. Jahrhunderts bereits ausgeträumt. Menschliche Triebe, Instinkte, Gefühle – gerade Darwins Evolutionstheorie hatte Zweifel an der Autonomie des menschlichen Willens ge­ schürt und das Menschenbild des viktorianischen Zeitalters verändert.348 Doch auch wenn spätestens ab den 1880er Jahren die Hoffnung auf das Auffinden von naturwissenschaftlichen oder mathematischen Gesetzmäßigkeiten in menschli­ chem Verhalten zunehmend schwand, so verlor die Sozialstatistik und die prakti­ schen Sozialwissenschaften doch genau in diesem Moment der Kritik und Krise nicht an Bedeutung. Sozialreformer wie Houghton beharrten darauf, dass, wenn exakte Verhaltensgesetzmäßigkeiten schon nicht auffindbar seien, diese prakti­ schen Wissenschaften doch immerhin Aussagen über bestimmte Korrelationen, über eine Vielzahl von Zusammenhängen und Bezügen, die in der Kriminalitäts­ genese eine Rolle spielten, möglich machen würden. Mochten die Untersuchungs­ objekte, jene creatures of appetites, auch ein bisschen unberechenbarer werden, ‚akkumulierte Fakten‘ erschienen ihm trotzdem die einzige zuverlässige und legi­ time Möglichkeit, brauchbare Anhaltspunkte über menschliches Verhalten zu ge­ winnen. An die so gewonnenen Erkenntnisse bleibe, so Houghton, Sozialreform stets anschlussfähig: „Yes, after all, the practical Social Science will ever consist in making the best we can of the materials before us“.349 Schließlich, das blieb die Hoffnung der Reformer, sollten Erziehung und Bil­ dung es möglich machen, das blinde Walten der Natur im Menschen in aufge­ klärtes, autonomes Handeln zu übersetzten: „Civilisation, acting through educa­ tion, must increase the number of motive forces in the intelligence and conscious­ ness of the individual, so as to liberate him more and more from that dominion of one passion or one idea which endangers his moral liberty, and which, in its ulti­ mate form, is insanity in the man and fanatic fury in society.“350 Sozialreformer wie Houghton dachten sich Menschen als Wesen, die in graduellen Abstufungen von ihrer biologischen Existenz abhängig waren. In dem Maße wie Bildung und Selbstreflexion Individuen in die Lage versetzten, ihre biologische Abhängigkeit 347 Lord

Houghton [Vice-President of the Statistical Society], Opening Address of the Presi­ dent of the Social Science Congress, Norwich, October 1873, in: JSSL 36 (1873), S. 502–528, hier S. 502, Hervorhebung S.F. 348 Vgl. ebd., S. 504 den Einwand gegen Herbert Spencers biologistische fundierte Gesellschaft­ stheorie: „[T]he human element with which even Mr. Spencer has to deal, is no such æther as that in which suns rest and planets move, or even as that terrestrial atmosphere whose composition we can analyse, and whose very storms we are learning to subject to law.“ 349 Ebd., S. 504. 350 Ebd., S. 503 f., Hervorhebung S.F.

2.7. Bilanz und Ausblick   117

zu meistern und zu verringern, indem sie lernten, Leidenschaften und Triebe zu zügeln und zu kontrollieren, nahm die Freiheit des Individuums und seine mora­ lische Urteilskraft zu. Aber diese persönlichen Leistungen des Individuums muss­ ten flankiert werden durch gesellschaftliche Anstrengungen, die an den äußeren Verhältnissen ansetzten. Houghton plädierte deshalb für eine neue Verteilungs­ gerechtigkeit: „a larger distribution of wealth“, „the elevation of labour“ und „the more just relation of classes“.351

Wissensvermittlung durch Vereine Wie gezeigt, entwickelte sich die frühe englische Kriminalsoziologie innerhalb ei­ nes gemeinwohlorientierten, mithin zivilgesellschaft organisierten Bereichs. Die populären und durchaus massenwirksam agierenden wissenschaftlichen Vereini­ gungen leisteten Vermittlungs- und Aufklärungsarbeit, indem sie neue Foren des Austausches schufen und dabei deutlich weniger exklusiv und weitaus offener als die traditionsreiche Royal Society verfuhren. Von der individuellen Patronage ein­ zelner Wissenschaftler abgesehen, deren Forschungen für die britische Marine oder das britische Militär von Bedeutung waren,352 existierte im 19. Jahrhundert keine gezielte staatliche Wissenschaftsförderung. Vor 1850 wurden die wichtigsten sozi­ alwissenschaftlichen Beiträge von Mitgliedern der drei alten Professionen produ­ ziert: von Ärzten, Juristen und Geistlichen. Diese arbeiteten unabhängig und selb­ ständig, und – von ihrem normalen Arbeitskontext abgesehen – ohne institutio­ nelle Einbindung.353 Den einzigen Anschluss boten nun Vereinigungen wie die British Association, die Statistical Society oder die Social Science Association. Sie ermöglichten die Präsentation von und die Diskussion über neue Forschungs­ ergebnisse. In unabhängigen Vereinigungen dieser Art spiegelte sich für manche Zeitgenossen sogar der britische Nationalcharakter besonders gut wider: „In Sci­ ence, as well as in almost everything else, our national genius inclines us to prefer voluntary associations of private persons to organizations of any kind dependent on the state.“354 Selbst Wissenschaftler wie der Astronom George Biddell Airy, der in den Genuss einer kleinen staatlichen Pension kam, schätzte zwar die dadurch gewonnene Unabhängigkeit, blieb aber davon überzeugt, „that in all cases the ini­ tiative of science will be left to individuals or to independent associations.“355 In Zeiten eines wachsenden Expertise-Bedarfs stellte sich für die ruling classes allerdings das Problem, auf welche Weise sie trotz des Mangels an staatlicher Wis­ 351 Ebd.,

S. 503–504. von Wissenschaft und staatlicher Verwaltung vor 1850, siehe Foote, Place of Science, S. 200–201; so erhielt der Astronom George Biddell Airy eine staatliche Unterstüt­ zung, weil seine Forschungen der Royal Navy dienten, ebd. S. 204; zur Kritik an der Royal Society of London in den 1830er Jahren siehe ebd., S. 196–200. 353 Goldman, Science, S. 298. 354 George Biddell Airy, Report of the British Association for the Advancement of Science (1851), S. 51, hier zit. nach Foote, Place of Science, S. 204. 355 Ebd. 352 Zum Verhältnis

118   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform senschaftsförderung an der Wissensproduktion der leistungsorientierten Mittel­ klasse partizipieren und diese für sich instrumentalisieren konnten, ohne dabei allzu große politische Zugeständnisse machen zu müssen. Umgekehrt beschäftig­ te die in der Mehrzahl bürgerlichen Wissensproduzenten die Frage, auf welche Weise sie ihrer eigenen Expertise Einfluss sichern und damit den Ausbau ihres Status vorantreiben konnten. Die Antwort auf beide Problembereiche lag in der Praxis der Vereine. Auf deren Tagungen fand nicht nur ein Austausch zwischen Fachleuten untereinander und ein Austausch zwischen Fachleuten und Öffent­ lichkeit statt, sondern auch ein solcher zwischen Fachleuten und Politikern. Auf den Veranstaltungen der wissenschaftlichen Vereine informierten sich Regie­ rungsvertreter und Parlamentsabgeordnete über die wachsenden Erwartungen einer expandierenden Wählerschaft.356 Zugleich profitierten diese politischen Vertreter von einer Expertise, die selbst durch staatliche Wissenschaftsförderung herzustellen noch ein paar Jahrzehnte auf sich warten lassen würde. Bürgerliche Berufsgruppen konnten sich wiederum auf den Konferenzen dem civil service und der Regierung mit ihren Expertisen annähern und damit ihre ei­ gene Position verbessern. Daneben verfolgten sie aber noch eine weitere Strategie: Sie verstanden die Vereine auch als Bildungsanstalten für jene neuen Klassen, die zunehmend in die politische Partizipation durch Wahlbeteiligung eingebunden wurden, denen es aber an politischer Erfahrung und Bildung mangelte. Man habe sich eben auch, so Lawrence Goldman, in der Rolle eines Dienstleisters für die politische Gemeinschaft gesehen: „seeking to enlighten the electorate in the pub­ lic interest and to secure the place of expertise in a plural, mass society.“357 Das Bestreben eines adjusting to democracy, das es im Laufe dieser Arbeit weiter zu verfolgen gilt, zeigte hier seine ersten Ansätze. Dieser doppelte Anspruch, sich mit der eigenen Expertise dem Staat und dem civil service zu empfehlen und zugleich Bildungsarbeit für die Öffentlichkeit zu betreiben, die zur politischen Stabilität beitragen sollte, lässt sich, wie im Fortgang dieser Arbeit gezeigt werden soll, noch bis in die 1930er Jahre verfolgen. Als Foren des Austausches vermochten die wissenschaftlich orientierten Verei­ ne unterschiedliche Klassen, unterschiedliche Konfessionen und unterschiedliche Geschlechter zu integrieren. Während adlige Vertreter in der Regel eine Präsi­ dentschaft auf Zeit in einer der Organisationen übernahmen, waren es die Mit­ glieder der Mittelschicht, die die Aufgaben des Geschäftsführers (secretary) oder Schatzmeisters innehatten. Die professionelle Expertise kam überwiegend aus dem bürgerlichen Milieu. Ärzte, Juristen und Geistliche spielten eine prominente Rolle, aber auch Polizisten, Pädagogen und staatliche Verwaltungsangestellte.358 Die wissenschaftliche Ausrichtung der Vereine und ihre Orientierung auf soziale Fragen und Gemeinwohl ließen religiöse Differenzen in den Hintergrund treten, 356 So

der interessante Gedanke bei Goldman, Science, S. 373. S. 281. 358 Vgl. dazu Brian Harrison, Philanthropy and the Victorians, in: ders., Peaceable Kingdom. Stability and Change in Modern Britain, Oxford 1982, S. 217–259, hier bes. S. 230 f. 357 Ebd.,

2.7. Bilanz und Ausblick   119

auch Nonkonformisten und Katholiken waren auf den Tagungen und Konferen­ zen vertreten.359 Gebildeten Frauen wie Mary Carpenter ermöglichten sie ein ­öffentliches Diskussionsforum über pädagogische und gefängnisreformerische Fragen. Doch obwohl der pädagogisch-philanthropische Sektor das bevorzugte Betätigungsfeld von Frauen im 19. Jahrhundert war, auf den ihnen eine öffent­ liche Tätigkeit erlaubt war, war es dann vor allem die Amateurfreundlichkeit der Statistik, die Frauen in größerer Zahl zu empirischen Sozialforscherinnen machte und ihnen damit einen ersten Zugang zu wissenschaftlichen Verfahrensweisen und empirischen Methoden bot.360 Frauen gehörten nicht zu den professionellen Statistikern der staatlichen Verwaltung und nicht zu den mathematisch ambitio­ nierten Theoretikern, wohl aber zu jenen, die am Sammeln von Informationen durch Interviews, Haus-zu-Haus-Befragungen, Fragebogenaktionen beteiligt wa­ ren. Sowohl Henry Mayhew als auch Charles Booth, die beide ihr Wissen nicht im Labor produzierten, beschäftigten Mitarbeiterinnen, die sowohl mit dem Kolla­ tionieren des Datenmaterials als auch mit seiner Auswertung betraut wurden. ­Beatrice Webb, die an Booths Großstudie mitgewirkt hatte, hob in ihren Erinne­ rungen hervor, wie sehr die Zusammenarbeit mit ihm ihre eigene Wahl bestimmt habe, ein social investigator zu werden.361

Kriminalsoziologische Forschung ohne akademische ­Soziologie Die in Großbritannien favorisierte sozialstatistische Methode hat in einem erhebli­ chen Maße zur Bestimmung des Untersuchungsobjektes Kriminalität beigetragen. Aus der quantifizierenden Bestandsaufnahme sozialen Elends erwuchs die Ein­ sicht, dass ein Großteil der kriminalitätsverursachenden Zustände nicht auf per­ sönliches, individuelles Versagen zurückgeführt werden konnte, sondern auf den Einfluss überindividueller, allgemeiner sozialer und ökonomischer Faktoren. Die Suche nach den Ursachen von Kriminalität habe sich, so der Ökonom und Sozial­ reformer Kirkman Gray rückblickend, vom Charakter des Individuums auf die Umstände verlagert, unter denen dieser Charakter gebildet wurde.362 Zwar bedeu­ tet dies nicht, dass die Idee menschlicher Verantwortung und damit verbunden der 359 Siehe

z. B. Reverend James Nugent [Roman Catholic Chaplain to the Liverpool Borough Goal], in: Transactions 1876 [1877], S. 375; je nach Konfession des Strafgefangenen übernah­ men katholische oder protestantische Geistliche die Seelsorge; seit Verabschiedung des Cath­ olic Emancipation Act von 1829 war es Katholiken zumindest rechtlich möglich, als Parlaments­ abgeordnete gewählt zu werden oder als Mitarbeiter im öffentlichen Dienst zu arbeiten. 360 Die Tätigkeit empirischer Sozialforscherinnen ist im angelsächsischen Kontext selbstver­ ständlicher, vgl. dazu Yeo, Social Surveys, bes. S. 96–98 (Women and Social Survey) „Women took an important role in the Anglo-American ‚science of the poor‘, not least in the Charity Organisation Society, founded in 1869, which perfected the investigative method of case­ work and later helped to establish professional training in social work.“ (ebd., S. 90); zur Charity Organisation Society siehe ausführlicher Kap. 6, Anm. 200. 361 Siehe dazu Beatrice Webb, My Apprenticeship, Bd. 2, S. 305. 362 Gray, Philanthropy, S. 16 f.

120   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform Strafanspruch des Staates in Frage gestellt wurde, aber ins Blickfeld der Reformer rückten doch stärker die den menschlichen Charakter bedingenden, konstituieren­ den äußeren Kräfte. Sie favorisierten einen ausgeprägten environmentalism.363 Wenn kriminelle Handlungen auch und vor allem das Ergebnis überindividueller Umstände und Milieus waren, dann verband sich für sie damit die Erkenntnis, dass für die Aufhebung oder Beseitigung solchen Elends und die Schaffung der für die Entwicklung eines sozialverträglichen Charakters günstigen Bedingungen nicht das Individuum alleine, sondern die ganze Gesellschaft in die Pflicht genommen werden müsste. Kriminalität erschien nicht mehr nur als das Problem eines einzel­ nen Straftäters, Kriminalität wurde zum Problem der Gesellschaft. Wachsende Wissensbestände und social knowledge hatten nicht nur Einfluss auf die inhaltlichen Festlegungen und Definitionen von Kriminalität, sie hatten auch Einfluss auf die Verhältnisbestimmung von Einzelnem (Straftäter) und Gesell­ schaft. „The advance […] of human knowledge has intensified the general con­ viction that even the apparently innocent action of an individual may injuriously affect the welfare of the whole community“, betont der Rechtsgelehrte und ­Zeitgenosse Kirkman Grays Albert Venn Dicey 1905 in seinem Buch The Relation between Law and Public Opinion in England. Dicey fährt fort: „Almost every add­ ition […] to that sort of knowledge, which is commonly called science, adds to the close sense of the interdependence of all human interests.“364 Das durch neues Wissen geschärfte Bewusstsein für menschliche Abhängigkeiten, an dem die ­Statistische Gesellschaft und die SSA durch ihre Arbeit Anteil hatten, blieb auch Bestandteil künftiger Kriminalitätsdebatten besonders in sozialreformerischen Kreisen. Es bildete stets, wie noch zu zeigen sein wird, das Gegengewicht zu ­kriminalanthroplogischen Konzepten, die in erster Linie an der Täterkonstitution ansetzten und deterministische Erklärungen bereitstellten. Soziologie dagegen, so Geoffrey Hawthorn, „was virtually absent in England as an intellectual and academically distinctive pursuit because it was virtually every­ where present as part of the general liberal and liberal-socialist consciousness.“365 Die Nähe der frühen social sciences in England zur Sozialreform hat dazu geführt, dass eher die Auswirkungen einer industriellen Marktwirtschaft und -gesellschaft zum Untersuchungsgegenstand gemacht wurden als die Entwicklung großer Ge­ sellschaftstheorien (anders als in Deutschland oder Italien war die britische Na­ tion aber auch längst etabliert). Statt großer Gesellschaftsentwürfe habe man sich im 19. Jahrhundert in Großbritannien, so John Peel, vorzugsweise über „the ­refinements of civic order“366 Gedanken gemacht. Im Mittelpunkt des Interesses 363 Siehe

dazu Anm. 274 in diesem Kapitel. Venn Dicey, Lectures on the Relation Between Law and Public Opinion in England during the Nineteenth Century (1905), New Brunswick/NJ 1981 [Reprint der 2. Aufl. Lon­ don 1914], S. 55 f., Hervorhebung S.F. 365 Geoffrey Hawthorn, Enlightenment and Despair: A History of Sociology, Cambridge 1976, S. 176. 366 Vgl. John David Yeadon Peel, Herbert Spencer. The Evolution of a Sociologist, London 1971, S. 240; hier zit. nach Goldman, Science, S. 302. 364 Albert

2.7. Bilanz und Ausblick   121

hätten dabei zunehmend die sozialen Anpassungsleistungen an neue politische Umstände und die Klärung der Frage, wie demokratiefähige Bürger erzeugt wer­ den konnten, gestanden. Das Thema Kriminalität und ihre Bekämpfung nahm dabei eine zentrale Stellung ein, und die sozialwissenschaftlich orientierten Verei­ ne waren nicht nur Aufklärungsorgane, sondern glichen politischen Arenen, in denen über diese Anpassungsprozesse und -leistungen öffentlich nachgedacht wurde.367 Die britische Soziologie, die sich 1904 mit der Gründung der Sociological Soci­ ety institutionalisierte, vermochte es bis in die späten 1930er Jahre hinein nicht, die kriminalsoziologischen und kriminalstatistischen Ansätze aus der Sozial­ reform zur eigenen Profilierung zu nutzen. Anders als in Frankreich, wo durch Emile Durkheim das Thema Kriminalität für die Etablierung der Soziologie als wissenschaftliche Disziplin eine wichtige Rolle spielte, gewann die ab 1908 von der Gesellschaft herausgegebene Sociological Review – lange Zeit das zentrale Zeit­ schriftenorgan der britischen akademischer Soziologie –368 der Thematik erstaun­ lich wenig ab. Nach programmatischen Aufsätzen zum Thema Kriminalität sucht man in ihr vergeblich. Zwar begann gleich die erste Ausgabe der Sociological Review mit einem Artikel über The Criminal Problem, aber der Autor dieses Beitrags war William Douglas Morrison, Mitglied der Humantarian League und wissen­ schaftlich orientierter Gefängnisgeistlicher der jüngeren Generation, der hier nichts weiter vornahm als eine Bestandsaufnahme der landläufigen Auffassungen über Kriminalität und die detaillierte Beschreibung des englischen Rechts- und Strafvollzugssystems.369 Zu disparat waren die verschiedenen Ansätze der zunächst kleinen Gruppe akademischer Soziologen, und zu disparat erschienen auch die entsprechenden Publikationen: „There is no agreement among sociologists“, so bemerkte Shap­ land H. Swinny nach fünfzehnjährigem Bestehen der Sociological Society 1919 kritisch an, „as to general principles. […] A new method, a separate science is necessary.“370 Über Jahrzehnte waren die Mitglieder der Sociological Society ­damit beschäftigt, in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung zu anderen Wissensfeldern (Eugenik, Biologie, Psychoanalyse)371 ihre eigenen Inhalte zu ­finden.372 Während Sozialreformer die Nähe zur Soziologie stets begrüssten, 367 Zu

den egalitären und demokratischen Aspekten wissenschaftlicher Sozialreform siehe auch D. Rueschemeyer und T. Skocpol, Conclusion, in: dies. (Hrsg.), States, Social Knowledge, and the Origins of Modern Social Politics, Princeton 1996, S. 296–310. 368 Siehe dazu Harris, Political Thought, S. 130. 369 William Douglas Morrison, The Criminal Problem, in: Sociological Review 1 (1908), S. 34–47. 370 Shapland Hugh Swinny, Sociology: Its Successes and its Failures, in: Sociological Review 11 (1919), S. 1–10, hier S. 4 f., S. 7. 371 Siehe dazu die Kap. 4 und Kap. 6. 372 Die Pluralität der Themen und Schwerpunkte in der Sociological Review bedeutete nicht, dass es nicht einzelne hervorragende Soziologen gab, z. B. Patrick Geddes (1854–1932) (town planning und civic survey movement) oder Leonard Hobhouse (1864–1929), siehe dazu J.R. Halliway, The Sociological Movement, the Sociological Society and the Genesis of Academ­ ic Sociology in Britain, in: Sociological Review 16 (1986), S. 377–398.

122   2. Statistik, empirische Sozialforschung und Sozialreform empfanden Soziologen ihre Nähe zu den Sozialreformern als belastend: „[W]e suffer from the occupation of the field to a large extent by men, sometimes with­ out training in science and often devotees of particular social reforms. Without them it is difficult to keep a Sociological Society in existence, with them it is ­difficult to keep it sociological.“373 Nichtsdestotrotz, das Verdienst der spezifisch britischen ‚wissenschaftlichen Sozial­reform‘ bestand darin, dass in Großbritannien Milieutheorien als Gegen­ gewicht zu den aufkommenden biologistischen Erklärungsversuchen von Krimi­ nalität durchgängig erhalten blieben: soziale und ökonomische Umstände, ge­ schlechts- und altersspezifische Zusammenhänge, Familiensituation und Peer­ group wurden als Faktoren in den Blick genommen und sollten unter entsprechenden politischen Konjunkturen immer wieder an Prominenz gewin­ nen.

373 Swinny, logical

Sociology, S. 9; zu Shapland H. Swinny (1857–1923) siehe den Nachruf in SocioReview 15 (1923), S. 274–277 (von S.K. Ratcliffe).

3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) 3.1. Morels Theorie der Degeneration Bis vor einigen Jahren begannen moderne Kriminologiegeschichten, viele von Rechtshistorikern verfasst, mit dem Erscheinen von Cesare Lombrosos L’uomo delinquente im Jahr 1876 und der von ihm begründeten Kriminalanthropologie.1 Es war Lombrosos eigener Anspruch, eine dezidiert neue (natur)wissenschaftliche Disziplin geschaffen zu haben, mit der er sich selbst zum Gründungsvater einer positivistischen Kriminologie stilisierte.2 Lombrosos ‚geborener Verbrecher‘, ein atavistischer Menschentypus, dessen Disposition zu kriminellem Verhalten an­ geblich an äußeren Merkmalen ablesbar war, erschien im gerade vereinigten Ita­ lien besonders attraktiv, wo im Zuge der Migrationsbewegungen aus dem Süden in den Norden das Bedürfnis vorherrschte, Fremde besser einschätzen und gleich­ zeitig Italiens Rückständigkeit im europäischen Vergleich erklären zu können.3 Doch Lombrosos Werk entstand nicht in einem wissenschaftlichen Vakuum. Schon vor ihm hatte es Versuche gegeben, den Ursachen von kriminellem oder abweichendem Verhalten mit wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden auf die Spur zu kommen und dabei die Täterkonstitution in den Mittelpunkt zu rücken.4 1

Cesare Lombroso, L’uomo delinquente. Studiato in rapporto all’antropologia, alla medicina legale ed alle discipline carcerarie, Mailand 1876. 2 Zu Lombroso und seine Kriminalanthropologie siehe Daniel Pick, Faces of Degeneration. A European Disorder, c. 1848–c. 1918, Cambridge ²1999, S. 109–152; Davie, Tracing the Crimi­ nal, S. 125–177; Marvin E. Wolfgang, Cesare Lombroso (1835–1909), in: Hermann Mann­ heim (Hrsg.), Pioneers in Criminology, 2. erw. Aufl. Montclair/N.J. 1972, S. 232–291; Peter Becker, Physiognomie des Bösen. Cesare Lombrosos Bemühungen um eine präventive Ent­ zifferung des Kriminellen, in: Claudia Schmölders (Hrsg.), Der exzentrische Blick. Gespräche über Physiognomik, Berlin 1996, S. 163–186; einen guten Überblick über Lombrosos Wirken gibt auch Rainer Brönner, Evolution und Verbrechen, in: Darwin und Darwinismus. Eine Ausstellung zur Kultur- und Naturgeschichte. Deutsches Hygiene-Museum Dresden, Berlin 1994, S. 128–133; Mary Gibson, Born to Crime: Cesare Lombroso and the Origins of Biolo­ gical Criminality, Westport./Conn. 2002; dies., Cesare Lombroso and Italian Criminology. Theory and Politics, in: Becker und Wetzell (Hrsg.), Criminals and their Scientists, S. 137–158; Mariacarla Gadebusch-Bondio, Die Rezeption der kriminalanthropologischen Theorien von Cesare Lombrosos in Deutschland 1880–1914, Husum 1995; dies., From the „Atavistic“ to the „Inferior“ Criminal Type: The Impact of the Lombrosian Theory of the Born Criminal on German Psychiatry, in: Becker und Wetzell (Hrsg.), Criminals and their Scientists, S. 183– 205; David G. Horn, The Criminal Body. Lombroso and the Anatomy of Deviance, New York u. a. 2003; ders., Making Criminologists. Tools, Techniques, and the Production of Scientific Authority, in: Becker und Wetzell (Hrsg.), Criminals and their Scientists, S. 317–336; Delia Frigessi, Cesare Lombroso, Turin 2003. 3 Zur Einbindung von Lombrosos Atavismus-Konzept in den historischen Kontext der Eini­ gung Italiens siehe Pick, Faces of Degeneration. A European Disorder, Kap. 2: Lombroso’s Criminal Science, S. 109–152. 4 Zu den englischen Vorläufern Lombrosos gibt es bislang nur kurze Erwähnungen, siehe ­Cleobis Hector Sirinaga Jayewardene, English Precursors of Lombroso, in: British Journal

124   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) Lombroso selbst konnte sich auf eine ganze Reihe europäischer Publikationen, vor allem aus der französischen Psychiatrie, stützen, die von Versuchen zeugen, die vielfältigen Formen abweichenden und krankhaften Verhaltens auf eine so­ matische Grundlage zu stellen.5 Zunächst kamen die wichtigsten Anregungen aus Frankreich. Eine der einflussreichsten französischen Publikationen, die früh nach somati­ schen Ursachen von Kriminalität fragte, war der 1857 erschienene Traité des dégénérescences des französischen Arztes und Psychiaters Bénédict Augustin Morel.6 Morel hatte 1856 als médecin en chef seinen Dienst in der Irrenanstalt von SaintYon in der Nähe von Rouen angetreten. Mit Interesse und Besorgnis registrierte der überzeugte Katholik die prekären Lebensumstände der Bevölkerung von Rou­ en durch die Auswirkungen einer fortschreitenden Industrialisierung, die durch wachsende Armut, unhygienische Lebensbedingungen, Unterernährung und hohe Säuglingssterblichkeit gekennzeichnet waren. Vor allem in den Arbeitsbedingun­ gen der Männer, die in den Kupferminen und Färbereien der Region permanent giftigen Substanzen und verpesteter Luft ausgesetzt waren, sah Morel die Ursache für den schlechten Gesundheitszustand der unteren Schichten. Er wisse sehr wohl, so schrieb Morel 1857 in der Einleitung seines Hauptwerkes, zu welchen Leistun­ gen der menschliche Körper und Geist fähig sei, wenn es darum gehe, sich gegen widrige Umwelteinflüsse zu behaupten. Doch sei die Stärke des Menschen diesbe­ züglich auch begrenzt. Trotz aller Fortschritte in den Wissenschaften sei es doch unmöglich zu verhindern, dass der Mensch durch schlechte Arbeitsbedingungen of Criminology 4 (1963), S. 164–170; Garland, Crime and Criminals, S. 34–35; Wiener, Re­ constructing the Criminal, S. 232–240; Davie, Tracing the Criminal, S. 67–123; vgl. auch Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 8–11. 5 Zu den frühen französischen Werken, die sich mit den physischen, intellektuellen und mora­ lischen Eigenschaften von Schwerverbrechern und der Frage von Vererbung beschäftigten, gehört die Arbeit des Chefarztes am Hospital für Straftäter in Toulon, Hubert Lauvergne, Les Forças, Grenoble 1841, und die Arbeit von Prosper Lucas, Traité philosophique et physiolo­ gique de l’hérédité naturelle dans les états de santé et de maladie du système nerveux, avec l’application méthodique des lois de la procréation au traitement général des affections dont elle est le principe. Ouvrage où la question est considérée dans ses rapports avec les lois ­primordiales, les théories de la génération, les causes déterminantes de la sexualité, les modi­ fications acquises de la nature originelle des êtres, et les diverses formes de névropathie et d’aliénation mentale, 2 Bände, Paris 1847–1850; diese Arbeit, die Darwin 1856 las und in The Origin of Species (1859) als beste Arbeit über Vererbung bezeichnete, beschreibt, wie sich ­körperlicher Verfall über Generationen fortsetzen kann; zu Lucas‘ Einfluss auf Darwin siehe Rocardo Noguera-Solano und Rosaura Ruiz-Guriérrez, Darwin and Inheritance. The In­ fluence of Prosper Lucas, in: Journal of the History of Biology 42 (2009), S. 685–714; zu den französischen Einflüssen vor Lombroso siehe auch Havelock Ellis, The Study of the Crimi­ nal, in: The Journal of Mental Science 34 (1890), S. 1–15, hier S. 4. 6 Bénédict Augustin Morel (1809–1873), Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l’espèce humaine, Paris 1857, und der dazugehörige Atlas (Paris 1857); zu Ent­ wicklung des Degenerationsbegriffs siehe Pick, Faces of Degeneration, S. 44–50 (zu Morel); Ruth Harris, Murders and Madness. Medicine, Law, and Society in the Fin de Siècle, Oxford 1989, bes. S. 51–64; zur ‚Degeneration‘ in verschiedenen wissenschaftlichen, intellektuellen und künstlerischen Bereichen siehe Edward J. Chamberlain und Sander L. Gilman (Hrsg.), Degeneration: The Dark Side of Progress, New York 1985.

3.1. Morels Theorie der Degeneration   125

transformiert werde. Füge man zu diesen allgemeinen schlechten Bedingungen noch den demoralisierenden Einfluss von Armut, Bildungsmangel Alkoholmiss­ brauch, sexuelle Ausschweifungen und unzureichende Ernährung hinzu, so ­könne man eine Idee von der Komplexität der Umstände gewinnen, die dazu beitragen würden, das Temperament der ärmeren Klassen zum Schlechteren hin zu verän­ dern.7 Kriminelle und geistig Zurückgebliebene boten Morel reiches Anschauungs­ material für auffälliges und abweichendes Verhalten. Obgleich sein primäres Inte­ resse nicht darin bestand, Kriminelle generell als pathologische, degenerierte Ty­ pen zu beschreiben, schuf er doch die Grundlage für eine medizinisch begründete Kriminalanthropologie, die Lombroso mit großer Sicherheit beeinflusste, auch wenn der italienische Arzt den französischen Psychiater namentlich in seinen Schriften nie erwähnte.8 Die von Morel vorgenommene somatische Zuschreibung ermöglichte zunächst die Aufwertung der Psychiatrie als wissenschaftliche Disziplin. Morel beschrieb den Degenerationsprozess als krankhafte Abweichung von einem von Gott ge­ schaffenen, ursprünglichen Menschentypus, den er durch Adam verkörpert sah.9 Wenn die Hauptfunktionen des tierischen oder menschlichen Organismus durch schädigende Einflüsse – darunter fielen nicht nur Gifte wie Kupfer und Blei oder Rauschmittel wie Drogen und Alkohol, sondern auch ‚soziale‘ Faktoren wie Man­ gel- und Unterernährung und schlechte hygienische Bedingungen – dauerhaft gestört würden, dann würden sich Schädigungen in seiner psychophysischen Konstitution bemerkbar machen. Morels Konzept einer Destabilisierung des menschlichen Organismus zeigte deutliche Anleihen an zeitgenössische physio­ logische Konzepte von erfolgreicher bzw. erfolgloser körperlicher Anpassung an eine schädliche oder schädigende Umwelt. Wurden die äußeren Einflüsse zu stark, unterlag der Organismus und reagierte mit Krankheit.10 Der Prozess der möglichen erblichen Weitergabe solcher degenerierten Eigen­ schaften wurde von Morel nicht weiter untersucht. Er vermutete aber, dass nicht spezifische Erscheinungsformen, sondern nur allgemeine pathologische Disposi­   7 Vgl. Morel, Traité

des dégénérescences, S. vii; zu Morel siehe auch Eric Heilmann, Die Bertil­ lonnage und ‚die Stigmata der Entartung‘, in: Kriminologisches Journal 16 (1994), S. 36–46, hier: S. 36–37; Wetzell, Inventing, S. 46 f.   8 Zur Nichterwähnung Morels in Lombrosos Schriften siehe Eric T. Carlson, Medicine and Degeneration: Theory and Praxis, in: Chamberlain und Gilman (Hrsg.), Degeneration, S. 135; George Mora, One Hundred Years from Lombroso’s First Essay ‚Genius and Insanity‘, in: American Journal of Psychiatry 121 (1964), S. 562–571.   9 Ruth Harris hat den interessanten Gedanken geäußert, dass die meisten französischen Psych­ iater der Dritten Republik Morel in seinen christlichen Implikationen – biologische Degene­ ration als neuer Sündenfall – nicht folgten, dass aber die enge Verbindung von wissenschaft­ licher und religiöser Sprache in Morels Formulierungen die Theorie auch für Laien leichter zugänglich gemacht habe, weil sie eine wissenschaftliche Antwort auf die Frage angeboten habe, wie Erbsünde möglich, d. h. wie die Sünde der Väter auf die Söhne übertragen werden könne, vgl. Harris, Murder, S. 54. 10 Siehe dazu ebd., S. 55. Ablagerungen von Kupferspuren im Körper von Bergwerksarbeitern oder die Auswirkungen von Alkohol bis hin zum delirium tremens waren Morels Beispiele.

126   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) tionen vererbt würden. Damit bestätigte er letztlich nur eine alltägliche Wahrneh­ mung. Morel glaubte an eine graduelle Zunahme der regressiven Effekte von Ge­ neration zu Generation: Aus dem nervösen Zustand einer degenerierten Familie ginge die zweite Generation schon als neurotisch hervor, die dritte zeige psychoti­ sche Züge und die vierte schließlich könne als schwachsinnig gelten und sei ste­ ril.11 Dass spätestens die vierte Generation fortpflanzungsunfähig war, deutete auf die ‚Selbstheilungskräfte‘ der Natur hin, die das Bestreben zeigten, schädliche Ele­ mente zu eliminieren. Morels „law of anticipation“12 sollte indes nicht zur Selbst­ genügsamkeit verleiten, denn durch die fortschreitende Industrialisierung und eine sich rasch ändernde Umwelt beschleunigten sich auch die Degenerationspro­ zesse. Generell hielt Morel diesen Prozess aber für umkehrbar bzw. für beeinfluss­ bar. Gemischte Ehen aus gesunden und degenerierten Familien konnten zu einer Verbesserung führen, aber auch die Verbesserung sozialer Bedingungen, ­besonders im sanitären Bereich, hielt er für dringend geboten und erfolgversprechend.13 Degeneration war das Prinzip, das Morel auch dabei half, die vielfältigen For­ men geistiger Erkrankungen in einen systematischen Zusammenhang zu stellen. Bei ihnen handelte es sich seiner Auffassung nach nicht mehr um distinkte Krank­ heitsbilder mit je unterschiedlichen Ursachen, die es dem beschreibenden und klassifizierenden Verfahren der Psychiatrie gemäß in ein elaboriertes System ein­ zelner Krankheitsgruppen einzuordnen galt, sondern Morel interpretierte alle Manifestationen geistiger Erkrankung als sichtbare Zeichen eines einzigen, dahin­ ter liegenden pathologischen Degenerationsprozesses. Ein Krankheitsbild konnte durch erbliche Übertragung – Morel ging in Anlehnung an Lamarck von der Ver­ erbung erworbener Eigenschaften aus – zu anderen Krankheitsbildern führen.14 Für den Psychiater wurden degenerierte Personen durch eine Asymmetrie des Körpers sichtbar wie Schädelverformung, Klumpfuß, Hasenscharte, Schielen, Kleinwüchsigkeit, Skrufulose, unter- oder überentwickelte Genitalien, aber auch durch die Einschränkung sensorischer und motorischer Fähigkeiten, z. B. Sprach­ probleme wie Stottern oder Stammeln. Die Asymmetrie des Körpers führe dazu, so schrieb Morel, dass sich der Anblick des oder der Degenerierten für den Be­ trachter als höchst unerfreulich gestalte und in ihm Abwehr und Abneigung er­ zeuge.15 Morels Ausführungen waren, wie Edward Chamberlain hervorhebt, „one of the first attempts to delineate the relationship between abnormal mental states and

11 Die

Aufzählung findet sich bei Wetzell, Inventing, S. 47. bezeichnet von Michael Abdy Collins, The Law and the Present Position of Psychiatry. The Presidential Address delivered at the Ninety-Fifth Annual Meeting of the Royal MedicoPsychological Association, Folkestone, July 1, 1936, in: The Journal of Mental Science 82 (1936), S. 483. 13 Wetzell, Inventing, S. 47. 14 Harris, Murder, S. 55. 15 Siehe dazu ebd., S. 72. 12 So

3.1. Morels Theorie der Degeneration   127

progress of a degenerate environmental and hereditary determinism.“16 Die Wir­ kung einer so gedachten Kausalbeziehung war beträchtlich. Es gab eine Reihe von Gründen, warum Morels Theorie besonders auf Psychiater große Anziehungs­ kraft ausübte. Da war zunächst der Vorteil, dass die Degenerationstheorie die ­vielen Formen geistiger Erkrankungen mit klar erkennbaren physischen Zeichen verband und dadurch Geisteskrankheiten wenigstens ansatzweise somatischen Krankheiten mit klar diagnostizierbaren Symptomen ähnlich wurden. Hinzu kam, dass die Theorie auch eine Erklärung zur Weitergabe von Geisteskrankhei­ ten anbot, weil sie den Wechsel verschiedener Krankheitserscheinungen über mehrere Generationen einer Familie in einen Zusammenhang stellen konnte. Die Vorstellung einer erblich bedingten Übertragung, die durch bestimmte Umwelt­ einflüsse verzögert oder beschleunigt werden konnte, ließ die Idee hygienischer Intervention und sozialer Wohlfahrtsprogramme wachsen. Morels Theorie werte­ te die medizinische Rolle im Kampf gegen die ‚Gebrechen der Zivilisation‘ auf und damit auch die Rolle von Psychiatern, die sich um eine genauere Standortbe­ stimmung ihrer Disziplin innerhalb der medizinischen Profession bemühten. In­ dem die Psychiatrie dazu überging, Geisteskrankheiten zu ‚somatisieren‘ und zu ‚materialisieren‘, wurde sie ins medizinische Boot geholt, sie wurde Wissenschaft. Das Prinzip der morbiden Vererbung mentaler Störungen ermöglichte es ihr, sich in die Debatten über erbliche Übertragung und Neurophysiologie einzuschalten. Psychiater konnten als Wissensproduzenten auftreten und zum Gewinn wissen­ schaftlicher Erkenntnisse beitragen. Die wichtigste Aufgabe von Medizin und Psy­ chatrie hinsichtlich gefürchteter Degenerationsprozesse wurde Prävention, eine massive moralische und sanitäre Intervention, wie Ruth Harris schreibt, um ge­ fährliche Individuen zu isolieren und die gefährdete Bevölkerung zu studieren.17 Wenn Morel von Zivilisationskrankheiten sprach, die für die Produktion von geistigen Störungen verantwortlich gemacht werden mussten, dann wiederholte er im Grunde nur zeitgenössische Wahrnehmungen, die nun aber eine naturwis­ senschaftliche Beschreibung erfuhren. In einem hochindustrialisierten Land wie England drängten sich die negativen Folgen eines solchen Wachstums, wie das vorangegangene Kapitel gezeigt hat, in gewisser Weise noch stärker auf als in Frankreich. Tatsächlich war aber noch nicht ausgemacht, ob eine wirkliche kausa­ le Beziehung zwischen der Art der industriellen Arbeit, den miserablen Lebensbe­ dingungen, der Mangelernährung und Unterversorgung in den urbanen Zentren und dem scheinbar wachsenden Auftreten temporärer oder dauerhafter geistiger Erkrankungen existierte. Diese Beziehung erschien aber so plausibel, dass sie mehr und mehr zur Tatsache mutierte.18 Zwei Jahre nach Morels Dégénérescences erschien 1859 Darwins The Origin of Species. In der französischen, aber auch in der englischen Psychiatrie ließ sich in 16 J.

Edward Chamberlain, Images of Degeneration: Turnings and Transformations, in: Cham­ berlain und Sander (Hrsg.), Degeneration, S. 265. 17 Harris, Murder, S. 76. 18 Vgl. Harris, Murder, S. 59.

128   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) den folgenden Jahren ein gesteigertes Interesse an menschlichen Instinkten, Trie­ ben, Emotionen wahrnehmen, an den willkürlichen, reflexhaften, unkontrollier­ ten, archaischen Vermögen des Menschen. Wenn der Mensch ein Naturwesen war, das sich über verschiedene Stufen zur heutigen Art entwickelte hatte, dann schien es auch denkbar, dass eine frühere Stufe wieder auftreten konnte, dass der Zivili­ sierte einen Rückfall erlebte oder durch einen Stillstand seiner Entwicklung auf einer niedrigeren Stufe stehen blieb. Entwicklungsgeschichtlich erfüllten Triebe und Instinkte eine wichtige Funktion für das Überleben der Gattung. Typisch für die Synthese aus Morel und Darwin war die Arbeit des französischen Psychiaters Prosper Despine, der 1868 eine Psychologie Naturelle veröffentlichte.19 Despine ließ die physische Konstitution des Kriminellen zunächst außer Acht und konzen­ trierte sich auf dessen psychische Natur. Dabei versuchte er zu beweisen, dass das, was später als ‚Instinkt-Krimineller‘ beschrieben werden sollte, eine psychische Anomalie, eine Störung oder Unterentwicklung des emotionalen Vermögens dar­ stellte.20 Mit dieser emotionalen Anomalie sei ein Mangel an moralischer Sensibi­ lität und das Fehlen jeglichen Reuegefühls verbunden; er sei ‚moralisch verrückt‘.21 Für Despine war der Kriminelle nicht notwendigerweise ein Geistesgestörter oder Irrer, denn seine intellektuellen Fähigkeiten waren nicht immer in Mitleidenschaft gezogen. Aber die emotionale Anomalie ließ sich nicht durch intellektuelle Förde­ rung heilen. Galt bis dahin das Interesse der Psychiatrie dem intellektuellen Ver­ mögen des Patienten, wurde durch Despine der Untersuchungsbereich nun auf das emotionale Vermögen ausgedehnt.22

3.2. Die Gründung der Medico-Psychological Association Um das Umfeld der Debatten, in denen sich die ersten psychiatrischen Theorien über die Beschaffenheit von Straftätern in England entwickelten, angemessen analysieren zu können, ist es aufschlussreich, einen Blick auf die Gründung der britischen Medico-Psychological Association zu werfen. Diese Gesellschaft setzte sich für die professionellen Interessen britischer Psychiater ein.23 Wie bei der Sta­ tistical Society of London und der Social Science Association ging auch die Grün­ dung der Medico-Psycholoigical Association auf eine Privatinitiative zurück. Im Juni 1841 sandte Dr. Samuel Hitch, medical officer im Gloucester County Asylum, ein Zirkular an alle Mediziner, die in öffentlichen Irrenanstalten arbeiteten. In 19 Prosper

Despine, La psychologie naturelle (Étude sur les facultés intellectuelles et morales dans leur état naturel et dans leurs manifestations anormales chez les aliénés et les criminels, 3 Bde, Paris 1868; zu Despine, siehe Jan Verplaetse, Prosper Despine’s Psychologie naturelle, in: History of Psychiatry 30 (2002), S. 153–175. 20 Vgl. dazu Ellis, The Study, 5. 21 Ebd. 22 Zu späteren Wiederaufnahme des Interesses an den Störungen des emotionalen Vermögens in den 1920er Jahren siehe Kap. 6.3. und 6.7. dieser Arbeit. 23 Die Gesellschaft umfasste auch schottische Mitglieder, eine Zweigstelle befand sich in Edin­ burgh.

3.2. Die Gründung der Medico-Psychological Association   129

diesem Rundschreiben hob der die Dringlichkeit einer eigenen Fachvereinigung hervor, da nur Irrenanstalten die wahren Schulen für ‚mentale Pathologien‘ sein könnten und regelmäßige Treffen der darin arbeitenden Mitarbeiter zum Er­ fahrungs- und Meinungsaustausch von großer Wichtigkeit seien.24 Im Haus von Dr. Hitch wurde daraufhin am 27. Juli 1841 die Association of Medical Officers of Hospitals for the Insane gegründet. Unter den Gründungsmitgliedern befanden sich prominente Mediziner wie James Pritchard, der später einer der ersten Com­ missioner in Lunacy wurde, und Dr. (später Sir) Charles Hastings, der 1832 die Provincial Medical and Surgical Association gegründet hatte, aus der 1856 die einflussreiche British Medical Association hervorging. 1844 beschloss das Gre­ mium der neuen Gesellschaft die Herausgabe einer eigenen Fachzeitschrift, die aber erst 1853 unter dem Titel The Asylum Journal erscheinen sollte. Zwei Jahre später wurde das Journal in The Asylum Journal of Mental Science umbenannt, und 1858, um das breite Spektrum der Zeitschrift zu betonen, erhielt es seinen endgültigen und dauerhaften Namen: The Journal of Mental Science. Hier wurden in den nächsten Jahrzehnten die wichtigsten Beiträge zur Kriminalitätspsycho­ logie und -psychiatrie publiziert, flankiert durch Beiträge des oftmals gleichen Autorenstamms in den medizinischen Fachzeitschriften The Lancet und British Medical Journal. Auch die Gesellschaft selbst änderte ihren Namen mehrfach. 1865 wurde sie in Medico-Psychological Association umbenannt, 1887 schließlich in Medico-Psychological Association of Great Britain and Ireland.25 Die Gesell­ schaft verstand sich als Plattform für Fachleute, die sich über Krankheitsbilder, Klassifizierungsfragen und Therapieansätze austauschen wollten. Zugleich be­ trachtete sie ihre Arbeit auch als Vermittlung zwischen Wissenschaft und Öffent­ lichkeit, um gegen das allgemeine Desinteresse und die Unkenntnisse in der ­Öffentlichkeit an zuarbeiten, die in Bezug auf psychiatrische Anstalten und ihre Patienten vorherrschten.26 Dr. John Charles Bucknill, leitender Arzt im Devon County Asylum, Autor ei­ nes 1859 erschienenen Standardwerkes zur Psychiatrie27 und erster Herausgeber

24 Zirkularschreiben

von Dr. Samuel Hitch, Medical Officer, Gloucester County Asylum, zit. in: Collins, The Law, S. 479. 25 1853 hieß sie The Association of Medical Officers of Asylums and Hospitals for the Insane und 1926, nach der Verleihung der Royal Charter, schließlich The Royal Medico-Psychological Association. Die Royal Charter datiert vom 13. März 1926, vgl. Collins, The Law, S. 479. 26 Noch 1936 bemerkte der neu gewählte Präsident der Medico-Psychological Association in Bezug auf die englische Öffentlichkeit: „There is very little endeavour to obtain acquaintance with conditions prevailing in mental hospitals“ und „There is a great misunderstanding of what patients are like and of the nature of mental disorders.“ Collins, The Law, S. 481 f. 27 J. Charles Bucknill und D. Harringon Tuke, A Manual of Psychological Medicine, London 1859; ein gründliche Studie über das Devon County Asylum und Exminster Asylum auf der Grundlage einer umfangreichen Aktenüberlieferung ist Joseph Melling und Bill Forsythe, The Politics of Madness. The State, Insanity and Society in England, 1845–1914, London und New York 2006. Die Autoren gehen besonders der Frage nach, welche familiären und profes­ sionellen Netzwerke für die Einlieferung und Behandlung von Geistesgestörten eine Rolle spielten.

130   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) des Journal of Mental Science, erläuterte im Editorial, warum man sich im Titel der Zeitschrift für „mental science“ und nicht für „psychiatry“ entschieden habe, obgleich der Begriff mental science doch gewöhnlich dem Bereich der Philosophie und Metaphysik zugeordnet werde. Man wolle dagegen ‚praktische‘ mentale Wis­ senschaft betreiben, die sich zur Metaphysik ungefähr so verhalte wie angewandte Mathematik zu den reinen Wissenschaften: Es gehe nicht um intellektuelle Turn­ übungen, sondern um den Gewinn von praktischen Resultaten, die von größter Nützlichkeit für die Wohlfahrt der Menschheit seien. Man bediene sich metaphy­ sischen Wissens bestenfalls in der Art, wie ein Mechaniker sich mathematischer Formeln bediene. Eine so verstandene „mental science“ sei eine soziale Wissen­ schaft, denn mentale Physiologie und Pathologie, mit ihren Untersuchungen zu „insanity, education and crime“ und allem, was geistige Gesundheit bedinge oder Krankheit verursache, leiste einen wertvollen sozialen Beitrag für die Gesellschaft. Deshalb seien die in der Vereinigung vertretenen Mediziner (physicians) von der Aufgabe beseelt, für die geistige Gesundheit ihrer Mitmenschen Sorge zu tragen.28 Auch die Medico-Psychological Association, der viele im Staatsdienst angestellte Psychiater angehörten, legitimierte ihre Gründung unter anderem durch den Hinweis auf ihre Gemeinnützigkeit. Die eigene Wissenschaft, so hoffte man, wer­ de sich als hilfreiches Instrument im Dienste der Gesellschaft erweisen.

3.3. George Wilson und Bruce Thomson: „Crime is ­hereditary“ Seit der Verabschiedung des Prison Act von 1865, der die regelmäßige eingehende medizinische Untersuchung von Strafgefangenen in britischen Gefängnissen obli­ gatorisch machte, hatten Gefängnisärzte in kürzester Zeit umfangreiche anthro­ pometrische Daten gesammelt, deren Auswertung denjenigen Gefängnisärzten überlassen blieb, die über einen gewissen wissenschaftlichen Ehrgeiz verfügten. 1869, im gleichen Jahr, in dem das britische Parlament seinen ersten Habitual Criminals Act verabschiedete,29 präsentierte der englische Gefängnisarzt George 28 Alle

Zitate: John Charles Bucknill, Editorial, abgedruckt in jeder Ausgabe des Journal of Mental Science (Umschlagseite), hier zit. nach der Ausgabe Journal of Mental Science 34 (1888), S. 158. 29 Der Entwurf und die Verabschiedung dieses Gesetzes muss als unmittelbare Reaktion auf die moralischen Paniken gewertet werden, die die britische Öffentlichkeit über die ticket-of-leaveMänner erfasst hatten (siehe dazu ausführlich Kap. 2, Anm. 321); der Habitual Criminal Act von 1869 sah die polizeiliche Überwachung von Strafgefangenen für sieben Jahre durch die Polizei nach Verbüßung ihrer Haftstrafen vor; bei Verdacht auf Rückfälligkeit lag die Beweis­ last der Unschuld beim ehemaligen Strafgefangenen; der Gesetzentwurf hatte darüber hinaus eine siebenjährige Haftstrafe nach dreimaliger Verurteilung vorgesehen; einzelne ‚Schwach­ stellen‘ des Gesetzes von 1869 wurden 1871 durch die Verabschiedung des Prevention of Crime Act ausgebessert: so wurde die monatliche Meldung entlassener Straftäter auf der Polizeistati­ on obligatorisch; zu den Schwierigkeiten der praktischen Umsetzung der Gesetze siehe Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 253–261.

3.3. George Wilson und Bruce Thomson: „Crime is ­hereditary“   131

Wilson vom Invalid Prison in Woking seine Ergebnisse auf der Jahrestagung der British Association for the Advancement of Science. Es war der Auftakt zu einer physiologisch-organischen Annäherung an den Straftäter durch englische Ge­ fängnisärzte, die Morels Degenerationstheorie und die Vorstellung von sichtbaren physischen Zeichen von Straftätern zugrunde legte. Die von Wilson vorgenom­ mene Untersuchung von 464 Gefangenen hatte ergeben, dass die Schädel von Schwerverbrechern Zeichen einer markanten Unterentwicklung aufwiesen: „The cranial deficiency is associated with real physical deterioration. Forty per cent of all the convicts are invalids, more or less, and that percentage is largely increased in the professional thief classes.“30 Der Zusammenhang zwischen Kriminalität und somatischer Schädigung, die Wilsons Arbeit nahelegte, waren auch für den schottischen Gefängnisarzt James Bruce Thomson zentral. Thompson war seit 1858 Resident Surgeon im Schotti­ schen Staatsgefängnis in Perth. Ein Jahr nach Wilsons Vortrag publizierte er im Journal of Mental Science seine Untersuchungsergebnisse von 5000 Gefangenen in zwei Aufsätzen über „The Hereditary Nature of Crime“ und „The Psychology of Criminals“.31 Noch Jahrzehnte später galten beide Abhandlungen als Pionier­ arbeiten auf dem Gebiet der englischen Kriminalitätsforschung, und Thomson, trotz seiner Generalisierungen, als Wegbereiter der englischen Kriminologie.32 Wie viele Autoren, die ihm in der Debatte über Kriminalitätsursachen noch fol­ gen würden, begründete der schottische Arzt seinen Deutungsanspruch mit ­seiner langjährigen, über 18 Jahre umfassenden beruflichen Erfahrung mit Straf­ gefangenen in Perth.33 Seine Kenntnisse hatte er durch Besuche anderer großer Strafanstalten in Schottland, Irland und England erweitert und verfeinert.34 Mental science, wie Thomson sie verstand, bedeutete die Materialisierung ­psychischer Vorgänge, die Aufklärung der „relations of the material framework to the mental manifestations“, das Verhältnis von „the physical to the psychical“.35 Neben Morels Degenerationstheorie verarbeitete Thomson auch Despines ‚mora­ lische Defekte‘ in leicht veränderter Form.36 Seine Ausführungen verstärkten den Eindruck, als handele es sich bei Kriminellen um eine distinkte, von Normal­ bürgern durch deutliche Demarkationslinien getrennte Klasse mit manifesten, 30 Vortrag

von Dr. George Wilson, The Moral Imbecility of Habitual Criminals as exemplified by cranial measurements, Jahrestreffen der British Association for the Advancement of ­Science in Exeter 1869, hier zit. nach Ellis, The Study, S. 6; Wilson wird auch erwähnt bei Wiener, Reconstructing, S. 233. 31 James Bruce Thomson, The Hereditary Nature of Crime, in: The Journal of Mental Science 15 (1870), S. 487–498; ders., The Psychology of Criminals, in: The Journal of Mental Science 15 (1870), S. 321–350; zur Erwähnung Morels siehe ebd., S. 327 und S. 336. 32 Siehe Ellis, The Study, S. 6–7; J.H. Lyell, A Pioneer in Criminology: Notes on the Work of James Bruce Thomson of Perth, in: The Journal of Mental Science 59 (1913), S. 364–371. 33 Vgl. Thomson, Hereditary Nature, S. 487, S. 492; ders., Psychology, S. 322. 34 Vgl. Thomson, Hereditary Nature, S. 491. 35 Thomson, Psychology, S. 326. 36 Die Bezüge zu Morel siehe bei Thomson, Psychology, S. 327 und S. 336; zu Despine ebd., S. 324 f.

132   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) erkennbaren Stigmata: „a class sui generis“.37 Die von Thomson beschriebenen Lebensräume von Kriminellen erinnerten an die ungesunden Heimstätten der Minenarbeiter Morels. Dessen Degenerationstheorie wurde von Thomson längst als Tatsache behandelt:38 „[I]n the midst of foul air and filthy lairs they associate and propagate a criminal population. They degenerate into a set of demi-civilized savages, who in hordes prey upon society […]. Their moral disease comes ab ovo. They are born into crime, as well as reared, nurtured, and instructed in it.“39 Wie Morel vertrat auch Thomson die Ansicht, dass erworbene Eigenschaften an die nächste Generation weitergegeben werden konnten. Die von ihm präsen­ tierten Fallbeispiele – nur Fakten und Beispiele bildeten für ihn die wahre Basis (true foundation) wissenschaftlicher Forschung40 – schienen alle dazu geeignet, auch Morels Annahme der Veränderlichkeit von Krankheitsbildern im Verlauf der Generationen bestätigen zu können. Ihnen kam hier explizierende Funktion zu. In der Vererbung morbider Dispositionen konnten sich, so Thomsons Behaup­ tung, Kriminalität und Geisteskrankheit als Erscheinungsformen abwechseln: [F]ive children from an insane mother and a drunken father, one was suicidal, two suffered imprisonment, a daughter became insane, the other imbecile. […] Such cases explain how a class of criminals propagate […] not only a class of criminals, but a community of men and women low in intelligence, and being originally weak in mind, lapsing in large numbers into insanity.41

Thomsons Beschreibung von Kriminellen als einer eigenen Sippe, die von Gene­ ration zu Generation degenerierte und eines „low type of physique indicating a deteriorated character which gives a family likeness to them all“,42 bediente ein gewisse Plausibilität, die auch ohne genaue Kenntnis des Vererbungsmechanis­ mus auskam. An die Behauptung einer gesonderten kriminellen Klasse ließ sich relativ leicht die Behauptung ihrer Unterscheidung durch sichtbare körperliche Kennzeichen anschließen.43 So wie Arbeits- und Lebensumstände des französischen Minenar­ beiters physische Spuren hinterließen44 – Morels Beispiele ließen sich ja noch besser auf England übertragen –, so waren diese Spuren auch beim Kriminellen sichtbar anzutreffen: [W]e know none whose typical features and caste are so notable as those of the criminal popu­ lation. They are a low class, and their physique shews it so plainly […] The common thief, or robber, or garrotter […] have all a set of coarse, angular, clumsy, stupid features and dirty com­ plexion. The women are all ugly in form and face and action […] and all have a sinister and repulsive expression in look and mine.45 37 Vgl. dazu

auch Thomsons zweiten Aufsatz, Psychology, S. 326–332, Hervorhebung im Original. z. B. Thomson, Psychology, S. 329. 39 Thomson, Hereditary Nature, S. 489, Hervorhebung im Original. 40 Thomson, Psychology, S. 325. 41 Ebd., S. 336. 42 Ebd., S. 327. 43 Thomson, Hereditary Nature, S. 489: „this criminal class is marked by peculiar physical and mental characteristics.“ 44 Thomson, Psychology, S. 330. 45 Thomson, Hereditary Nature, S. 489 f. 38 Vgl.

3.3. George Wilson und Bruce Thomson: „Crime is ­hereditary“   133

Die äußeren Kennzeichen der kriminellen Klasse riefen im Betrachter also eine ähnliche spontane Abneigung hervor, wie Morel sie bereits beschrieben hatte. Wichtiger war aber Thomsons zentrale Schlussfolgerung, die Körper, Geist und moralisches Verhalten in einen Zusammenhang stellte: „From such physical char­ acteristics we naturally expect low psychical characteristics. Physical degener­ ation must beget mental and moral depravity.“46 Thomson war Chirurg und die  Ergebnisse seiner Obduktionen an verstorbenen Gefängnisinsassen bestätig­ ten die Annahme eines fortschreitenden Degenerationsprozesses innerhalb der ­kriminellen Population.47 Die Obduktionen offenbarten sichtbare Zeichen der Degeneration, denn es gab kaum ein Organ, das keine Schädigungen aufwies. Thomson sah in den Erkrankungen den Beweis für die minderwertige Beschaf­ fenheit der Straf­täter.48 Aber nicht nur durch die körperlichen Zeichen eines fortschreitenden Verfalls ließen sich Kriminelle von Nicht-Kriminellen unterscheiden, sondern auch durch Verhaltensstörungen wie leichte Irritierbarkeit und Aggressivität, hohe Gewaltbe­ reitschaft und Resistenz gegen Behandlung und Therapie.49 Als Gefängnisarzt musste Thomson stets auch die Frage im Blick behalten, wie sich die Umstände der Inhaftierung und die Gefängnisdisziplin auf den psychischen Zustand der In­ sassen auswirkten. Er vertrat die Meinung, dass die überdurchschnittlich hohe Zahl an Schwachsinnigen im Gefängnis nicht auf die Haftbedingungen zurückzu­ führen sei, sondern in der Konstitution des Kriminellen begründet liege. Das mühselige und langsame Lernen und Begreifen der Gefängnisinsassen war für ihn ein direkter Beweis für ihre sehr niedrige Intelligenz, die sich für den schottischen Arzt auch daran ablesen ließ, dass er unter tausend Straftätern nicht einen einzi­ gen mit einem ästhetischem Talent angetroffen habe.50 Dass dies möglicherweise auch etwas mit Bildung und Sozialisierung zu tun haben könnte, schien für Thomson keine bedenkenswerte Erklärungsalternative. Stattdessen glaubte er die erbliche Natur von Kriminalität durch die bloß nu­ merische Analyse zahlreicher Familienverhältnisse (family histories) ausreichend belegt: „moral depravity is transmitted hereditarily through their families“.51 Thomson scheint sich hier direkt auf eine frühe Publikation von Francis Galton gestützt zu haben, der durch die Analyse von Familienstammbäumen die Erblich­ keit von Intelligenz nachzuweisen versuchte.52 In diesem Zusammenhang kam auch die Lamarcksche Annahme einer möglichen Vererbung erworbener Eigen­ schaften zum Tragen. Kriminalität war Thomson zufolge auch etwas, das man 46 Ebd.,

S. 491. S. 492; siehe auch ders., Psychology, S. 330: die Feststellung des krankhaften Verfalls na­ hezu jedes Organs von Straftätern unter dreißig Jahren bei Obduktionen: „almost every vital organ of the body being more or less diseased, few dying of one disease but generally, ‚worn out‘ by a complete degeneration of all organs.“ 48 Ebd., S. 330. 49 Ebd., S. 329. 50 Ebd., S. 332. 51 Thomson, Hereditary Nature, S. 496. 52 Francis Galton, Hereditary Genius, London 1869; dazu ausführlich Kap. 4. 47 Ebd.,

134   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) ‚erwerben‘ und folglich weitergeben konnte. Aber der schottische Gefängnisarzt interessierte sich dabei weniger für die individuelle kriminelle Biographie als viel­ mehr für das Entstehen einer kriminellen Klasse als Massenphänomen: „The ana­ logy of what happens by habits of training among some of the lower animals, proves that class habits must necessarily be transmitted to the different classes of society.“53 Thomson übernahm Morels Annahme, dass es einen Übergang von physischen zu psychischen Erkrankungen gebe und dass verschiedene Geistes­ krankheiten im Wechsel mit kriminellem Verhalten auftreten könne.54 Die hohen Rückfallquoten und die fehlende Reue der meisten Straftäter wertete Thomson als Indiz für die Unheilbarkeit der Krankheit Kriminalität.55 Die sozialen und politischen Implikationen, die in einer positivistischen Krimi­ nalanthropologie angelegt waren und Thomson Jahre vor Lombrosos Publikation vorstellte, legten bestimmte Empfehlungen nahe. Thomsons Ratschläge trugen frühe eugenische Züge: Er hielt es für notwendig, die kriminelle Kaste aufzubre­ chen, um dort ein „interbreeding“ zu verhindern. Außerdem sprach er sich für die Wiedereinführung der Deportation aus und, falls das nicht möglich war, für lange Haftstrafen von Gewohnheitsverbrechern.56 Begründet wurden die vorge­ schlagenen Maßnahmen mit Darwins Theorie der natürlichen Auslese: „The less­ on lies in the laws of natural selection so well set forth by Mr. Darwin. […] Why, then, should incorrigible criminals, at the healthy, vigorous period of life, be at large; why should they go into prison for short periods only, to be sent out again in renovated health, to propagate a race so low in physical organization?“57 Die möglichst frühzeitige Umerziehung jugendlicher Straftäter hielt Thomson zwar für nicht ganz aussichtslos, er warnte aber zugleich davor, dass selbst diese Ju­ gendlichen geneigt seien, in ihre ererbten Tendenzen zurückzufallen.58 Denn das stand für Thomson am Ende außer Frage: „that in by far the greatest proportion of offences crime is hereditary.“59 In den frühen 1870er Jahren begrüßten die wichtigsten medizinischen Zeit­ schriften die biologistischen Erklärungsansätze für Kriminalität. Aufbereitet durch die ersten Studien von Francis Galton, der die evolutionären Vererbungsprozesse auf menschliche Verhältnisse übertrug,60 fügten sich die Bausteine einer Mensch­ heitsentwicklung von primitiven in höher entwickelte Stadien und die Vererbung somatischer Defekte zu einer plausiblen Theorie. Thomsons Beitrag übte großen 53 Thomson,

Hereditary Nature, S. 492, auch S. 493: „Habits got by training are transmitted to the offspring of certain breeds of dogs as their very nature.“ 54 Vgl. ebd., S. 495. „One of the leading characters in the natural history of hereditary depravity is the singular transmutation from physical to psychical diseases; and to diversities of these diseases, interchanging often with crime.“ 55 Ebd., S. 498: „we cannot raise the negro character beyond a certain stage of improvement“; ders., Psychology, S. 343. 56 Seit Mitte der fünfziger Jahre als Strafform abgeschafft. 57 Thomson, Psychology, S. 331. 58 Thomson, Hereditary Nature, S. 498. 59 Ebd., S. 488. 60 Siehe dazu Kap. 4.

3.3. George Wilson und Bruce Thomson: „Crime is ­hereditary“   135

Einfluss aus, besonders seine Obduktionsberichte – die Obduktion als bestätigen­ des naturwissenschaftliches Experiment – wurden mehrfach zitiert. So schrieb der mehr als 30 Jahre als medical officer in verschiedenen Gefängnissen für Schwerverbrecher (convict prisons) tätige John Cambell in seiner 1884 erschie­ nenen Autobiograpie über Gewohnheitsverbrecher: „Mental deficiency is by no means uncommon among habitual criminals, and prevails in many different forms […] The physiognomy, as well as the conformation of the skull, is often remarkable; and the result of many post-mortem examinations has proved that the brains of prisoners weigh less than the average, and that a large brain is an exception.“61 Dass Thomsons Behauptungen als Tatsachen akzeptiert wurden, demonstrierte auch ein Beitrag im Lancet vom Januar 1873, der zugleich einen deutlichen Bezug zu Darwin erkennen ließ: If among any body of the community hereditary transmission of physical and moral attributes is conspicuous, it is among the population which fills our gaols. Look at its general physique. Imperfect cranial development […] amounting almost to a retrogression in the direction of the brutes, is apparent in the mass of its members. Intellectually and morally they are imbecile […] and the will reduced to its elementary form of desire. In the struggle for existence, they herd together, deriving constant accessions from the degenerate of the classes immediately above them, and perpetuating themselves amid conditions most favourable to the reproduction of their like. This is not theory. […] Forty years’ experience of the county prison at Perth enabled Dr. Bruce Thomson to confirm this observation, and suggest means for removing, or at least modifying, the evil to which it points.62

Ruth Harris und Daniel Pick haben in Zusammenhang mit Morels Degenerati­ onstheorie in Frankreich die These aufgestellt, dass deren Attraktivität besonders darin bestanden habe, dass sie eine ‚Theorie der Masse‘, eine crowd-Theorie, im­ pliziert habe.63 Die Erfahrung einer unbekannten und vielleicht unberechenbaren Unterschicht, durch Bevölkerungswachstum und Zuzug in die Städte angeschwol­ len und sichtbar geworden, die ihr Dasein in den urbanen Zentren unter unvor­ stellbaren Umständen fristete, habe in der öffentlichen Wahrnehmung zu einer wachsenden Beunruhigung geführt. Die aufstrebende Mittelschicht und die Aris­ tokratie besaßen über diese Menschen so gut wie keine Kenntnisse, und die Dege­ nerationstheorie lieferte Anhaltspunkte, wie man sich diese Wesen und ihre An­ dersartigkeit erklären konnte. In England, der führenden Industrienation Europas, war die Furcht vor den ‚unbekannten‘ Slumbewohnern besonders ausgeprägt. Die Angst, Opfer eines ­kriminellen Übergriffes zu werden, war in den Städten besonders groß. Die Stadt, 61 John

Campbell, Thirty Years Experience of a Medical Officer in the English Convict Service, London 1884, S. 130–133, Hervorhebung im Original; siehe auch die Erwähnung eines frühe­ ren Berichts von Dr. John Campbell als Medical Officer im Broadmoor Lunatic Asylum in einem Vortrag des Prison Commissioners Edmund Du Cane vor der Social Science Associ­ ation, ders., Address on Repression of Crime, in: Transactions 1875 [1876], S. 271–308: „As I have often observed a great amount of brain disease, particularly in the case of incorrigible convicts […] I may also observe that the brains of the criminal class are smaller than those of ordinary adults.“ (ebd., S. 305). 62 The Lancet, 18. Januar 1873, S. 102, hier zit. nach Sim, Medical Power, S. 55. 63 Vgl. dazu Pick, Faces of Degeneration; Harris, Murder.

136   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) so glaubte man, übte auf Kriminelle eine besonders große Anziehungskraft aus: Sie bot nicht nur besonders viele Möglichkeiten für räuberische und diebische Aktivitäten, sie bot auch reichlich Raum zum schnellen Untertauchen. Dass es sich bei den verarmten Massen im schmutzigen Labyrinth des Londoner East Ends um eine degenerierte Klasse handelte, war für die bürgerlichen und adligen Zeitgenossen des Londoner West Ends eine plausible Annahme. Thomson be­ diente diese Vorstellung ohne große Schwierigkeiten, wenn er von der ‚Pest der Gesellschaft‘ in den großen Städten wie London oder Glasgow sprach.64 Noch 1910 beschwor Richard F. Quinton, der über 30 Jahre u. a. als assistant surgeon im convict prison von Portsmouth tätig gewesen war und sich rühmte, von Kriminel­ len mehr als ein „arm-chair knowledge“65 zu besitzen, das Bild der undurch­ schaubaren, dem bürgerlichen Denken fremden kriminellen Klasse: „The habits and ways of the criminal class are frequently inscrutable, and invariably unlike those of normally constituted people.“66 In Morels Degenerationstheorie kam eine frühe Zivilisationskritik zum Aus­ druck. Losgelöst vom medizinischen Kontext und instrumentalisiert für einen politischen Kontext konnte sie große Popularität erlangen, weil sie eine wissen­ schaftliche Sprache für eher unbestimmte soziale Ängste bereitstellte. Erfahrun­ gen politischer Instabilität und wachsender sozialer Verteilungskämpfe wurden versichernd in eine medizinische Sprache übersetzt.67 Allerdings war die Rede von den dangerous classes und ihrer angeblichen Degeneration ähnlich unspezi­ fisch wie die statistischen Erhebungen, die immer nur allgemeine Trends, nie aber einen individuellen Fall vor Augen führten. Gerade die Psychiatrie schien hier be­ sonders in die Pflicht genommen, um diesen Mangel zu beheben.

3.4. Henry Maudsley: Moralisches Irresein Während George Wilson und Bruce Thomson als Gefängnisärzte im Staatsdienst angestellt waren, war Henry Maudsley, den Thomson als einen der besten Psycho­ logen der Gegenwart feierte,68 ein unabhängig arbeitender Wissenschaftler, dem zudem seine private Praxis, die er neben seiner Tätigkeit am West London Hospi­

64 Vgl.

Thomson, Psychology, S. 328; vgl. auch Illustrated London News (1870), No. 1568, in der der Bischof von Exeter auf seine eigenen Statistiken verweisend erklärte; dass „5/6 of the pauperism of England was hereditary, one chief cause of this, no doubt, being the low haunts and polluted hovels they live in, depressing and destroying the vital energy essential for active life and labour.“ Zit. nach Thomson, Psychology, S. 334. 65 Richard Frith Quinton, Crime and Criminals, 1876–1910, London 1910, S. 225. 66 Quinton, Crime, 1910, S. xi: „Some defect or weak spot in character is constantly found to accompany criminality. Want of self-restraint, lack of moral principle, callousness of tem­ perament, selfishness, idle habits – these are formidable obstacles to reformatory effort which too often prove insurmountable.“ 67 Siehe dazu Harris, Murder, S. 78. 68 Thomson, Psychology, S. 323.

3.4. Henry Maudsley: Moralisches Irresein   137

tal in Hammersmith führte, zu beachtlichem Wohlstand verholfen hatte.69 Von 1862 bis 1878 war er Herausgeber des Journal of Mental Science und 1871 Präsi­ dent der Medico-Psychological Society. 1869 übernahm er eine Professur für Medical Jurisprudence am University College in London, die er bis 1878 innehatte.70 Seine Publikationen, die auch ins Deutsche übersetzt wurden, und seine Vorträge beeinflussten die öffentliche Wahrnehmung und Meinungsbildung über den Zu­ sammenhang von crime, madness und moral insanity – ein für die Standort­ bestimmung der Psychiatrie innerhalb der englischen Rechtsprechung wichtiges Konzept – beträchtlich. Weniger genuiner Forscher, war Maudsley vor allem ein hervorragender Eklektiker, der Überlegungen anderer Autoren in seine eigenen Argumente gut einzubauen verstand. Besonders stark hatten ihn Darwins Schrif­ ten beeinflusst.71 Für den jungen Havelock Ellis verkörperte Maudsley einen dis­ tinguierten Pionier der englischen Kriminalanthropologie und begabten Popula­ risier.72 In Büchern wie The Physiology and Pathology of the Mind (1867) und Responsibility in Mental Disease (1872), beide Publikationen wurden auch ins Deutsche übersetzt, entwarf Maudsley ein Bild des Kriminellen, das sich von Thomsons nicht wesentlich unterschied.73 In der Rezension eines Buches über weiblichen Strafvollzug aus dem Jahr 1863 – Maudsley selbst hatte nie als Gefängnispsychia­ ter gearbeitet − nutzte er die Gelegenheit zu allgemeinen Feststellungen über Kri­ minelle und ihre Beschaffenheit. Sie verrieten den Einfluss von Morels Degenera­ tionstheorie, aber auch von Darwins Evolutionstheorie: We have, in point of fact, to deal, if not strictly with a degenerate species, certainly with a degen­ erate variety of the human race; […] A criminal, like any other fact in nature, is not independ­ ent of his antecedents and the conditions of his development. If he is born of vicious parents

69 In

seinem Testament stiftete er £ 30 000 für die Errichtung eines Hospitals für „the early treat­ ment of curable mental illness and for research and teaching in psychiatry.“ siehe Trevor Turner, Henry Maudsley: Psychiatrist, Philosopher, and Entrepreneur, in: W.F. Bynum und Roy Porter und Michael Shephard (Hrsg.), The Anatomy of Madness. Essays in the History of Psychiatry, Bd. 3, London 1988, S. 151–189, hier S. 153. 70 Zu Henry Maudsley (1835–1918) siehe die Nachrufe in The Journal of Mental Science 64 (1918), S. 117–123 (von George Savage); S. 227–230; British Medical Journal, 2. 2. 1918, S. 161–162; The Lancet, 2. 2. 1918, S. 193–194; Journal of Nervous and Mental Diseases 48 (1918), S. 95–96; Lewis J. Aubrey, Henry Maudsley: His Work and Influence, 25th Maudsley Lecture, in: The Journal of Mental Science 97 (1951), S. 259–277; zu seinen kriminologischen Theorien: Peter Scott, Henry Maudsley (1835–1918), in: Mannheim (Hrsg.), Pioneers of Criminology, S. 208–231; Pick, Faces of Degeneration, S. 203–216. 71 Zu Darwins Einfluss auf Maudsley siehe den Nachruf von Savage in The Journal of Mental Science 64 (1918), S. 120; Scott, Henry Maudsley, S. 209; vor allem Turner, Henry Maudsley, S. 166, der nachweist, dass sowohl Darwin Maudsley als auch Maudsley Darwin zitierte. 72 Ellis, The Study, S. 6. 73 Der ersten Auflage von The Physiology and Pathology of the Mind folgte innerhalb eines Jahres die zweite (London 1868), eine französische Übersetzung erschien 1870; die deutschen Über­ setzungen erschienen nur einige Jahre später: Henry Maudsley, Die Physiologie und Patholo­ gie der Seele. Nach des Originals zweiter Auflage deutsch bearbeitet, Würzburg 1870; ders., Die Zurechnungsfähigkeit der Geisteskranken, Leipzig 1875.

138   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) […] and if his education has been the education of scoundrelism in the midst of the dangerous classes, it would surely be strange if he were not a scoundrel.74

Dem Bedürfnis der Zeit entsprechend, versuchte sich auch Maudsley an einer ge­ naueren Bestimmung der dangerous classes. Doch auch er kam über eine deuten­ de Beschreibung des Aussehens und Verhaltens von Kriminellen, die er mit der Theorie einer erblichen Weitergabe sowohl physischer als auch psychischer Eigen­ schaften sowie der Weitergabe erworbener Eigenschaften von Eltern auf ihre Nachkommen in Sinne Lamarcks verband, nicht hinaus. Als Fachmann für medizinische Aspekte in der englischen Rechtsprechung sah Maudsley die große Aufgabe der Psychiatrie in der Bekämpfung von Kriminalität durch Aufklärung ihrer Ursachen, d. h. durch Aufklärung jener Faktoren, die für die Persönlichkeitsentwicklung eine Rolle spielten. Maudsley, der Wahrheit nur durch Wissenschaft repräsentiert sah, setzte ganz auf den naturwissenschaftlichen Weg der Erkenntnis.75 Um den Ursachen von Kriminalität auf die Spur zu kom­ men, müsste man sich auf die ‚Physiologie der Seele‘ konzentrieren, wie es die deutsche Übersetzung seines Buches nahelegte.76 Maudsley meinte damit tatsäch­ lich die physiologische Untersuchung geistiger Tätigkeiten. Was immer man auch über das eigentliche Wesen des Geistes und seiner Unabhängigkeit von der Mate­ rie denken möge, so befand Maudsley, könne man sich doch damit einverstanden erklären, dass seine Manifestationen ausschließlich durch das Gehirn erfolgten und durch seinen Zustand betroffen wären: „Insanity is, in fact, disorder of brain producing disorder of mind.“77 Beobachtung und Induktion waren die methodischen Verfahren, derer sich die Psychiatrie als Wissenschaft bedienen sollte.78 Mit ihrer Hilfe galt es, dem Ur­ sprung des moralischen Gefühls und den Gründen seiner Degeneration auf die Spur zu kommen.79 Wenn menschliche Handlungen Gesetzmäßigkeiten folgten, 74 Henry

Maudsley, Female Life in Prison. By a Prison Matron (Review), in: The Journal of Mental Science 9 (1863), S. 69–86, hier S. 73, Hervorhebung S.F. 75 Siehe dazu Maudsley, Female Life, S. 74: „It must be admitted that, until quite recently, our mode of dealing with crime has been as unphilosophical as our mode of dealing with disease; it has been concerned mainly with what is often an incurable result, in place of being directed to prevent it by doing away with the conditions of its production“. 76 Zitiert wird im Folgenden nach den beiden Ausgaben Henry Maudsley, The Physiology and Pathology of the Mind, London 1867; ders., Responsibility in Mental Disease, London 41885. 77 Ebd., S. 15. 78 Ebd., S. 34 f.: „It must be received as a scientific axiom that there is no study to which the ­inductive method of research is not applicable; every attempt to prohibit such research by authority of any kind must be withstood and repelled with the utmost energy as a deadly at­ tack upon the fundamental principle of scientific inquiry. With a better knowledge of crime, we may not come to the practice of treating criminals as we now treat insane persons, but it is probable that we shall come to other and more tolerant sentiments, and that a less hostile feeling towards them, derived from a better knowledge of defective organization, will beget an indulgence at any rate towards all doubtful cases inhabiting the borderland between insanity and crime.“ Zu Morel ebd., S. 59: Morel „who has traced and set forth in an instructive man­ ner the course of human degeneracy in the production of morbid varieties of the human kind.“ Zu Prichard ebd., S. 59, S. 64. 79 Vgl. Maudsley, Responsibility, S. 34: „the origin of the moral sentiments, laws of their devel­ opment, and the causes, course and varieties of moral degeneracy.“

3.4. Henry Maudsley: Moralisches Irresein   139

die durch Vererbung und Erziehung bestimmt wurden, dann galt es diese Mecha­ nismen aufzuklären, indem untersucht wurde, wie Vererbung und Erziehung wirkten. Mit Blick auf den Vererbungsmechanismus kam Maudsley aber nicht über die Feststellung von Thomson hinaus,80 dass Verbrecher oftmals kriminellen Familien entstammten.81 Ererbte Instinkte könnten durch Training (instruction) so verfestigt werden, dass Veränderung und Reformierung nahezu ausgeschlossen seien. Bei Erziehung dachte Maudsley nicht primär an die Weitergabe traditionel­ ler Werte oder Normvorstellungen, sondern vor allem an eine Schulung der ange­ borenen Intelligenz, die wiederum für die Ausbildung des Charakters wichtig sei.82 Die Förderung angeborener Fähigkeiten erfahre aber durch die Natur, res­ pektive die physische und psychische Organisation des Einzelnen, ihre Grenzen: „A true re-formation would be the re-forming of the individual nature; and how can that which has been forming through generations be re-formed within the term of a single life? Can the Ethiopian change his skin or the Leopard his spots?“83 Maudsley war sich der Tragweite dieser Behauptung bewusst. Von ei­ nem moralischen Standpunkt aus, so betonte er, sei es vollkommen gerechtfertigt und auch richtig, die Reformierung des Kriminellen anzustreben, aber vom wissen­schaftlichen Standpunkt aus halte er das Unterfangen für eine extrem ent­ mutigende Aufgabe und, von einem wirtschaftlichen Standpunkt aus, für extrem ­unprofitabel.84

Verminderte Zurechnungsfähigkeit: moral insanity Wie alle Psychiater um Systematisierung bemüht, unterschied Maudsley drei ­verschiedene Typen von geisteskranken Straftätern: zunächst solche, die vor der Aufnahme ins Gefängnis bereits geisteskrank waren, die Symptome eines „degen­ erating mind“85 erkennen ließen und als gänzlich unverantwortlich betrachtet werden mussten. Dann solche, die durch die Umstände ihrer Geburt und ihrer Erziehung so in die Kriminalität hineingewachsen waren, dass diese ihnen zur zweiten Natur geworden war. Für solche „manufactured criminals“86 sollten je nach Umstand verschiedene Grade der Verantwortlichkeit festgestellt werden. Bei der dritten Gruppe handelte es sich schließlich um solche, die erst im Gefängnis geisteskrank geworden waren, „having been helped on to madness by the system enforced.“87 Maudsley hielt eine solche ‚Flucht‘ in die Krankheit für die geschei­ 80 Vgl.

dazu ebd., S. 30–32, wo er sich auf Thomson als wissenschaftliche Autorität und dessen Ergebnisse beruft: „We may accept then the authority of those who have studied criminals, that there is a class of them marked by defective physical and mental organization.“ Ebd., S. 32. 81 Maudsley, Responsibility, S. 29. 82 Siehe dazu ebd., S. 20. 83 Ebd., S. 33. 84 Siehe Maudsley, Female Criminals, S. 83. 85 Ebd., S. 80. 86 Ebd., S. 81. 87 Ebd.

140   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) terte Anpassung an die ungewohnte neue Umgebung des Gefängnisses. Ansons­ ten warnte er aber davor, generell Kriminalität mit Geisteskrankheit in eins zu setzen. Kriminellem Verhalten konnte auch kompensatorische Kraft zukommen. Maudsley interpretierte die häufig wiederkehrenden gewalttätigen Ausbrüche der Gefängnisinsassen, so schwierig und lästig sie für das Gefängnispersonal sein mochten, als Rettungsversuche einzelner Strafgefangener,88 sich dem Verrückt­ werden zu entziehen. Den gleichen Gedanken formulierte er zehn Jahre später noch einmal in ähnlicher Weise: „Crime is a sort of outlet in which their unsound tendencies are discharged; they would go mad if they were not criminals, and they do not go mad because they are criminals.“89 Maudsleys eigentliches Verdienst bestand in der Popularisierung eines Konzep­ tes, das eine zentrale Rolle in der Auseinandersetzung zwischen Juristen und Me­ dizinern um die Zurechnungsfähigkeit von Straftätern spielte. Von der Anerken­ nung des Konzepts eines ‚moralischen Irresein‘ versprach er sich eine langfristige Aufwertung seiner eigenen Profession. Die Theorie ging auf den Psychiater Dr. James Cowles Prichard zurück,90 der mit der moral insanity eine selbständige Krankheitsform beschrieb, die sich auf das gestörte Gefühlsvermögen einer Per­ son bezog und durch große psychische und physische Erschütterungen (z. B. Pa­ ralyse, Epilepsie, emotionale Traumata u. a. m.) ausgelöst werden konnte.91 Der Begriff moral war unglücklich gewählt, denn Prichard meinte damit nicht den Begriff ‚moralisch‘, sondern ‚emotional‘.92 Andere Psychiater knüpften an dieses Konzept an. So ging Prosper Despine, den auch Thomson ausführlich zitiert hat­ te, von einer Dreiteilung menschlicher Veranlagungen aus, neben das physische und intellektuelle Vermögen trat die moralische bzw. emotionale Natur des Men­ schen als eigenes Vermögen, das von Gefühlen und Instinkten bestimmt wurde.93 So wie man körperliche und geistige Gebrechen haben konnte, so konnte man auch ‚moralische‘ Defekte besitzen, die in einem gestörten Gefühlshaushalt zum Ausdruck kamen, ohne dass intellektuelle Fähigkeiten davon beeinträchtigt wer­ den mussten. Prichard hatte diese Idee schon lange vor der Publikation von Dar­ wins Evolutionstheorie verfolgt, aber Darwin verlieh diesem emotionalen Vermö­ gen – angesiedelt im evolutionsgeschichtlich ältesten Bereich des Gehirns – einen 88 Ebd.

89 Maudsley,

Responsibility, S. 32. Cowles Prichard, A Treatise on Insanity and Other Disorders affecting the Mind, Lon­ don 1835; siehe auch ders., The Different Forms of Insanity in Relation to Jurisprudence, London 1842. 91 Prichard wiederum hatte das Konzept manie sans délire des französischen Psychiaters Philip­ pe Pinel (1745–1826) übernommen, siehe Philippe Pinel, Traité medico-philosophique sur l’aliénation mentale, ou la manie, Paris 1801 (engl. Übers. D. David, A Treatise on Insanity, London 1806), vgl. Nigel Walker und Sarah McCabe, Crime and Insanity in England, Bd. 2, Edinburgh 1973, S. 207–208; Grünhut, Penal Reform, S. 431–435; zur französischen Psychiat­ rie siehe Jan Goldstein, Console and Classify: The French Psychiatric Profession in the Nine­ teenth Century, Cambridge 1987, bes. Kap. 3. 92 Dazu Grünhut, Penal Reform, S. 431. 93 Zur Übernahme des Modells von Despine durch Thomson siehe Thomson, Psychology, S. 324 f. 90 James

3.4. Henry Maudsley: Moralisches Irresein   141

natürlichen Ort: Instinkte, Triebe, Gefühle erfüllten evolutionsgeschichtlich not­ wendige Aufgaben, sie dienten dem Überleben der Gattung. In seinem Buch The Physiology and Pathology of the Mind aus dem Jahr 1867 beschrieb Maudsley das ‚moralische Irresein‘94 als eine Form mentaler Störung, die bei Abwesenheit der klassischen Symptome wie Halluzinationen oder Wahn­ ideen in einem krankhaft veränderten Zustand jener ‚Seelenfähigkeit‘ bestehe, wel­ che die Gefühle und damit das Wollen in Mitleidenschaft ziehe. Von dieser Störung der Gefühle, Affekte und Neigungen bleibe der Intellekt weitgehend unberührt, d. h. der Kranke könne die Beziehungen ihm äußerer Objekte und Ereignisse rich­ tig beurteilen. Sobald aber sein eigenes Ich ins Spiel käme oder er einen Bezug zu sich selbst herstellen müsse, zeigten sich fehlerhafte Wahrnehmungen und falsche Einschätzungen. Selbstwahrnehmung und Selbstbeobachtung seien gestört.95 Da Maudsley in den Gefühlen die zentrale Antriebskraft des Menschen zum Handeln sah und diese für fundamentaler hielt als das intellektuelle Erkennen, konnte er ein solches Krankheitsbild, bei dem der ansonsten unbeschadete Ver­ stand (die intellektuellen Fähigkeiten) keine entsprechende Kontrolle mehr aus­ übte, als medizinische Erklärung für abweichendes oder krankhaftes Verhalten ins Spiel bringen. In einem Vortrag vor der British Association for the Advancement of Science erläuterte er diesen Zusammenhang: The feelings mirror the real nature of the individual; it is from their depths that the impulses of action spring; the function of the intellect being to guide and control. Consequently when there is perversion of the affective life, there will be morbid action […] and the intellect is unable to check or control the morbid manifestations, just as when there is disease of the spinal cord, there may be convulsive movement, of which there is consciousness, but which the will cannot restrain.96

Ein solcher Kranker könne in der Tat das Bewusstsein von Recht und Unrecht besitzen, aber die Krankheit schwäche seine Willenskraft (power of volition), ja, sie könne diese völlig aufheben ohne das Bewusstsein in Mitleidenschaft zu ziehen.97 Für Maudsley lag kein Widerspruch darin, dass der gänzliche Mangel an mora­ lischem Gefühl auch mit einer hohen Intelligenz gepaart sein konnte.98 Die ­Abschwächung oder Vernichtung des moralischen Gefühls konnte durch Verlet­ zungen des Gehirns oder durch andere Krankheiten, die das Gehirn in Mitleiden­ schaft zogen, hervorgerufen werden.99 94 So

der Begriff in der deutschen Übersetzung; zum Folgenden Maudsley, Physiology, S. 311–319. auch Thomson, Psychology, S. 326. 96 Henry Maudsley zit. nach David Nicolson, The Morbid Psychology of Criminals, in: The Journal of Mental Science 19 (1875), S. 225–250, hier S. 235. 97 Maudsley, Physiology, S. 319. 98 Vgl. Maudsley, Responsibility, S. 58: „it sometimes happens there is a remarkably acute intel­ lect with no trace of moral feeling.“ 99 Das moralische Gefühl selbst hielt Maudsley nicht für etwas Angeborenes, sondern für etwas Erworbenes; da er aber an die Weitergabe erworbene Eigenschaften glaubte, war dieses Gefühl doch in gewisser Weise erblich bedingt, siehe Maudsley, Responsibility, S. 60; in seinem Buch Body and Mind. An Inquiry into their Connection and Mutual Influence (1870) behauptete er schließlich, dass sich die Empfindung, welche Handlungen gut oder böse seien, fortpflanze und schließlich zu einer instinktiven Haltung werde. 95 Siehe

142   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) Warum war der Nachweis einer Krankheit wie die der moral insanity für Psychi­ ater so entscheidend? Ganz offensichtlich deshalb, weil damit ein Krankheitsbild beschrieben werden konnte, bei dem die betroffene Person zwar zwischen Recht und Unrecht, Richtig und Falsch unterscheiden konnte, weil ihr intellektuelles Ver­ mögen nicht beeinträchtigt war, aber aufgrund einer krankhaften Störung des emotionalen Vermögens, die eine Willensschwächung nach sich zog, nicht in der Lage war, entsprechend zu handeln. Seit dem McNaughten-Fall aus dem Jahr 1843100 sah die englische Rechtsprechung vor, dass auf Unzurechnungsfähigkeit nur dann plädiert werden konnte, wenn die entsprechende Person nachweislich zum Zeitpunkt der Tat nicht in der Lage gewesen war, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, d. h. keine Vorstellung von der Unrechtmäßigkeit der eigenen Handlung besessen hatte. Vielen Psychiatern ging es um eine Erweiterung und Än­ derung dieser Festlegung. Es sollten auch solche Fälle anerkannt werden, in denen der- oder diejenige zwar wusste, dass die Tat unrechtmäßig und strafbar war, also zwischen Richtig und Falsch unterscheiden konnte, aber der eigenen Impulse nicht Herr werden konnte und folglich unter Zwang handelte. Unter ­solchen Umständen – Psychiater wurden nicht müde, als Beleg für die Existenz dieser Krankheit Fall­ beispiel an Fallbeispiel zu reihen – sollte ebenfalls auf Un­zurechnungsfähigkeit ­plädiert werden können. Da es sich aber um ein hochkomplexes Krankheitsbild handelte, war klar, dass seine Feststellung nur erfahrenen Psychiatern möglich sein würde. Es müsse sich, so plädierte Maudsley, allmählich durchsetzen, „that the de­ cision of its nature [insanity, S.F.] must be guided by the knowledge of those who have made it their study; and every one will see the ­absurdity of the pretensions of lawyers to make a medical diagnosis of insanity without medical aid.“101 100 Die

beste Zusammenfassung des Falles findet sich in Walker, Crime and Insanity in Eng­ land, Bd. 1, Kap. 5: M’Naghten Case and the Rules, S. 84–103; zu den unterschiedlichen Schreibweisen des Namens (McNaughten, Mcnaghten etc.), siehe ebd., S. 102; zum Fall: 1843 erschoss Daniel McNaughten den Sekretär des britischen Innenministers Sir Robert Peel auf offener Straße, weil McNaughten diesen mit dem Politiker selbst verwechselte, von dem er sich verfolgt glaubte. Kurz vor der Tat hatte McNaughten jedoch einen ganz gewöhnlichen Kaufvertrag abgeschlossen und sich dabei vernünftig und rational verhalten, d. h. keine An­ zeichen von Verwirrung gezeigt. McNaughten wurde aufgrund von Geisteskrankheit freige­ sprochen und in eine Irrenanstalt eingewiesen. Am Freispruch entzündete sich heftige Kritik in der Öffentlichkeit. Den Fall nahm das House of Lords zum Anlass, um den Richtern eine Reihe von abstrakten Fragen vorzulegen, die die gesetzlichen Bestimmungen über die Aner­ kennung von Irrsinn feststellen sollten. Die Antworten dieser Kommission wurden Bestand­ teil des englischen Rechts in Form der sogenannten McNaughten-Regeln. Erfolgreiche Ver­ teidigung aufgrund von Geisteskrankheit war demnach nur möglich, wenn nachgewiesen werden konnte, dass der Täter zur Tatzeit nicht die Natur und die Folgen seiner Tat erken­ nen konnte und nicht in der Lage war, zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden, d. h. wenn die Verteidung auf ‚Irrsinn‘ plädierte, musste bestimmt (cleary proved) dargetan wer­ den: „that at the time of committing the act the party accused was labouring under such a defect of reason from disease of the mind as not to know the nature and quality of the act he was doing, or, if he did know it, that he did not know he was doing what was wrong.“ (Originalwortlaut zit. nach Maudsley, Responsibility, S. 95); zur Bedeutung des McNaugh­ ten Falls für die Polizei siehe Sir Basil Thomson, The Story of Scotland Yard, New York 1936, Kap. 11: The Mcnaghten Case, S. 115–117. 101 Maudsley, Responsibility, S. 77.

3.4. Henry Maudsley: Moralisches Irresein   143

Schon Bruce Thomson hatte vermerkt, dass sogar innerhalb der medizinischen Profession ein Krankheitsbild wie das der moral insanity erst langsam und mit Vorbehalten akzeptiert werde. Unter Juristen treffe man diesbezüglich nur auf Ablehnung.102 Maudsley verwies auf die Meinung eines Lordkanzlers, der sich über die üble Gewohnheit (evil habit) echauffiert habe, Geisteserkrankungen prinzipiell als „physical disease“103 einzustufen. Maudsley hingegen hielt genau dieses Vorgehen, Geisteserkrankungen und daraus resultierendes abweichendes Verhalten auf eine physiologische Grundlage zu stellen, für die große Chance der Psychiatrie, sich als ernsthafte Wissenschaft zu etablieren und Deutungshoheit zu beanspruchen. Die Psychiatrie könne dazu beitragen, die englische Rechtspre­ chung und zugleich den Strafvollzug auf eine neue Grundlage zu stellen: No fear therefore of the practical ill consequences to society need deter us from looking on criminals as the unfortunate victims of a vicious organization and a bad education. But what in this age it would seem right that we should do, is to get rid of the angry feeling of retaliation which may be at the bottom of any judicial punishment, and of all penal measures that may be inspired by such feeling.104

Maudsley lehnte sich mit seinem später vielzitierten Wort von der „tyranny of an unhappy organization“105 weit aus dem Fenster. Man identifizierte ihn künftig – nicht ganz zu Unrecht – als materialistischen Fürsprecher einer ‚positiven‘ Psychiatrie,106 deren Bestreben es sei, alles zu entschuldigen, indem sie die Zu­ rechnungsfähigkeit von Kriminellen generell in Frage stelle. Das stimmte indes nicht genau, denn Maudsley, wie später andere Psychiater auch, plädierte für ein System gradueller Abstufungen von Zurechnungsfähigkeit bzw. Unzurechnungs­ fähigkeit, was im Gericht auf die Möglichkeit verminderter Zurechnungsfähig­ keit hinauslaufen sollte. Die von Maudsley beschriebenen „various degrees of moral power between the highest energy of a well-fashioned will and the com­ plete absence of moral sense“107 zeigten dabei erstaunliche Ähnlichkeiten mit einem Menschenbild, das auch Sozialreformern wie Lord Houghton nicht fremd war.108 102 Siehe

Thomson, Psychology, S. 322. 103 Maudsley, Responsibility, S. 77. 104 Ebd.,

S. 27 f., Hervorhebung S.F.; Maudsleys Glaube an einen kausalen Zusammenhang zwischen Hirnbeschaffenheit und Verhalten kommt auch in der folgenden Passage zum Aus­ druck: „It is certain, however, that lunatics and criminals are as much manufactured articles as are steamengines and calico-printing machines, only the processes of the organic manu­ factory are so complex that we are not able to follow them. They are neither accidents nor anomalies in the universe, but come by law and testify to causality; and it is the business of science to find out what the causes are and by what laws they work.“ (ebd., S. 28). 105 Maudsley, Physiology, S. 316; in der deutschen Übersetzung ist von der „Knechtschaft einer unglücklichen Organisation“ die Rede (ebd., S. 332). 106 Vgl. z. B. den Diskussionsbeitrag von Dr. McPherson in The Journal of Mental Science 41 (1895), S. 441: „we should not be carried away by the materialistic tone of such men as Dr. Maudsley.“ 107 Vgl. Maudsley, Responsibility, S. 33 f.; auch „There are, as natural phenomena, manifold ­gradations of understanding from the highest intellect to the lowest idiocy;“ (ebd., S. 33). 108 Siehe dazu Kap. 2.9. dieser Arbeit.

144   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900)

3.5. David Nicolson: Der geistesschwache Straftäter In den Jahren zwischen 1873 und 1875 erschien im Journal of Mental Science eine umfangreiche Artikelserie über The Morbid Psychology of Criminals, verfasst vom senior medical officer des convict prison von Portland, David Nicolson.109 Neben Thomson und Maudsley war Nicolson die dritte große Figur im frühen engli­ schen Psychiatrie-Diskurs über die Konstitution von Straftätern. Diese dem Um­ fang eines Buches gleichkommende Artikelserie hielt Havelock Ellis 1890 für den letzten wissenschaftlichen Originalbeitrag zum Studium des Kriminellen in Eng­ land.110 Nicolsons Beitrag konzentrierte sich auf psychologische Verhaltensfragen. Sein Interesse galt der Analyse und Klassifikation des auffälligen Benehmens von Straf­ tätern im künstlichen Raum des Gefängnisses, ihrer emotionalen Instabilität, ih­ rer Neigung zu Wahnvorstellungen, ihrer aggressiven Ausbrüche, ihrer fehlenden oder beschränkten sensorischen Fähigkeiten und – bei vielen – ihrer unterdurch­ schnittlichen Intelligenz bzw. ihres offensichtlichen Schwachsinns. Auch wenn Gleichbehandlung und Uniformität im Gefängnisalltag angestrebt wurden, für die Arbeit der Gefängnisärzte war die Aufklärung der Ursachen solchen Verhal­ tens von zentraler Bedeutung. Von ihr hing ab, ob der Straftäter als fit for punishment eingeschätzt werden konnte, ob er als Simulant eingestuft wurde, ob er in eine Irrenanstalt verlegt werden musste und schließlich ob er sich für bestimmte Arbeiten eignete oder nicht. Nicolson verstand seine Abhandlung als Beitrag zur Kriminalpsychologie, nicht zur Kriminalanthropologie. In Anlehnung an Mayhew nahm er zunächst eine Unterscheidung in Gelegenheitsverbrecher (accidental, occasional criminal) und Gewohnheitsverbrecher (habitual criminal) vor, eine Unterscheidung, die be­ sonders in der deutschen Strafrechtsreformbewegung ein paar Jahre später eine prominente Rolle spielen sollte.111 Der mentale Zustand von Gelegenheitsver­ brechern unterschied sich Nicolson zufolge nicht vom gesetzestreuen Durch­ schnittsbürger.112 Dem Gewohnheitsverbrecher hingegen bescheinigte er, zu­ nächst offensichtlich ganz in der Tradition von Thomson und Maudsley stehend, eine auffallende, davon abweichende Physiognomie, mit rauen und unregelmäßi­ gen Gesichtszügen und der Nähe zum tierischen Ausdruck. Seine wiederholten Straftaten würden darauf schließen lassen, dass seine Sozialinstinkte und -sympa­ 109 David

Nicolson, The Morbid Psychology of Criminals, in: The Journal of Mental Science 19 (1873), S. 222–232; S. 398–409; 20 (1874), S. 20–37; S. 167–185; S. 527–551; 21 (1875), S. 18– 31; S. 225–250. 110 Ellis, The Study, S. 7; zu Havelock Ellis (1859–1939) siehe Chris Nottingham, The Pursuit of Serenity: Havelock Ellis and the New Politics, Amsterdam 1999; Lesley A. Hall, ‚Arrows of Desire‘: British Sexual Utopians and the Politics of Health, in: Roberta Bivins und John V. Pickstone (Hrsg.), Medicine, Madness and Social History. Essays in Honour of Roy Porter, Basingstoke und New York 2007, S. 129–138, bes. S. 133 f. 111 Siehe Franz von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht (1882), in: ders., Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, 1. Bd., Berlin 1905, S. 126–179, bes. S. 163–174. 112 Nicolson, Morbid Psychology (1873), S. 224.

3.5. David Nicolson: Der geistesschwache Straftäter   145

thien verkümmert seien, auch in Bezug auf moralische Empfindungen könne deshalb von diesem Typus nicht viel erwartet werden.113 Lege man Darwins Defi­ nition eines moralischen Wesens zugrunde, „who is capable of comparing his past and future actions or motives, and of approving or disapproving of them“,114 dann fiele der Gewohnheitsverbrecher deutlich aus dieser Kategorie heraus. Obgleich es zunächst so aussah, als wiederhole Nicolson die Ansicht vom ­somatisch bedingten geisteskranken Verbrecher, äußerte er bereits 1873 einige ­Bedenken gegen eine „brainular theory of crime“,115 mit der die individuelle Ver­ antwortlichkeit beiseite geschafft werde. Nicolson wusste, dass deterministische Ansätze von der englischen Rechtsprechung nicht akzeptiert wurden, und steuer­ te bewusst dagegen. Seine Kritik richtete sich vor allem gegen die von Thomson vorgelegten Zahlen.116 Er selbst hatte in einer früheren Untersuchung zwar nach­ gewiesen, dass neun Prozent der Sterbefälle im Gefängnis auf Krankheiten des Gehirns und des Nervensystems zurückgeführt werden konnten und damit die zweithäufigste Todesursache innerhalb der Gefängnispopulation darstellten.117 Da es sich aber bei Strafgefangenen um eine besondere soziale Selektion handelte, erschien ihm dieser Prozentsatz nicht wirklich besorgniserregend. Die Diskussion über Zahlen, ihr Herauf- und Herunterkorrigieren, so kleinlich und unscheinbar sie sich in diesem frühen Kontext noch ausnahm, entwickelte sich im Laufe der Zeit innerhalb der Debatten über soziale Verbesserungen oder eugenische Maßnahmen zu einer brisanten politischen Frage zwischen Justiz, staatlicher Verwaltung, Psychiatern und Psychologen. War der Befund, dass fünf Prozent aller Straftäter als schwachsinnig eingestuft werden mussten, eine hohe oder niedrige Rate? Und was war mit den übrigen 95 Prozent nicht schwachsinni­ ger Täter? Die Einschätzung dieser Frage entschied darüber, ob künftig Kriminal­ politik und Strafpraxis fast ausschließlich auf ‚kranke Elemente‘ gerichtet werden sollte, oder ob der sozialreformerischen Gegenbewegung Beachtung geschenkt wurde, die zu Recht betonte, dass die medizinischen Erkenntnisse über schwach­ sinnige Straftäter kaum etwas dazu beitragen könnte, die 95 Prozent normaler Straftäter zu verstehen. Nicolsons besonderes Interesse galt einer Gruppe von Strafgefangenen, deren geistige Verfasstheit es zwar nicht zuließ, sie als geisteskrank einzustufen, deren impulsive Ausbrüche aber trotzdem auf große geistige Defizite schließen ließ. Diese Gruppe sei, so Nicolson, unfähig, aus Erfahrung zu lernen, sie könne auch nicht über die Folgen ihrer eigenen Handlungen ausreichend reflektieren.118 Der 113 Ebd.;

zur Anknüpfung an das Konzept des gestörten social instinct bei Kriminellen siehe Kapitel 6.8. 114 Charles Darwin, Descent of Man; hier zit. nach Nicolson, Morbid Psychology (1873), S. 224. 115 Nicolson, Morbid Psychology (1873), S. 225. 116 Ebd., S. 228. 117 David Nicolson, Statistics of Mortality among Prisoners, in: British and Foreign Medical Chirugical Review (July 1872), ein Hinweis auf diesen Beitrag findet sich in: Nicolson, Morbid Psychology (1873), S. 228. 118 Ebd., S. 404 f.

146   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) ‚schwache Sinn‘ (feeble mind) sei dabei nicht das eigentliche Problem, es sei der damit verbundene Mangel an Sozialverträglichkeit und Sozialkompetenz. Was Unterbringung und Behandlung dieser Klasse von Straftätern betreffe, so sei es offensichtlich, dass Strafe und Disziplin bei ihnen nicht in üblicher Weise die ge­ wünschte Wirkung erzielen könnten, da diese Gruppe von Straftätern gegenüber körperlichen Schmerzen eine auffällige Gleichgültigkeit an den Tag lege.119 Der gleichzeitig damit verbundene Mangel an Aufnahme-, Merk- und Verarbeitungs­ fähigkeit dürfe dem Einzelnen aber nicht als Schuld zugerechnet werden, auch wenn darin die Ursache für ihren „state of moral weakness“ liege.120 Was Nicolson hier formulierte, nämlich den wissenschaftlichen Versuch einer für die praktische Klassifizierung und Behandlung im Gefängnis wesentlichen und notwendigen Bestimmung des weak-minded criminal, war der Beginn einer Debatte innerhalb der zunächst überschaubaren Gruppe von Psychiatern, Ge­ fängnisbeamten und der Prison Commission, die 30 Jahre später in die nationa­ len Debatten über mental deficiency einmündete und noch nach der Verabschie­ dung des Mental Deficiency Act von 1913121 Psychiatrie, Psychologie, Administra­ tion, Sozialreform und Eugenik außerordentlich beschäftigte. In der öffentlichen Anerkennung jener feinen graduellen Abstufungen zwischen geistiger Gesundheit und anerkannter Geisteskrankheit, im Verweis auf die vielfältigen Erscheinungs­ formen von mentalen Defiziten, Persönlichkeitsstörungen und kleineren Abnor­ mitäten gelang es der Psychiatrie mit Hilfe der Gefängnispsychiatrie nicht nur ihren Zuständigkeitsbereich zu erweitern, sondern zugleich die Disziplin zu pro­ filieren. Der Begriff des weak-minded criminal122 war dabei in der praktischen Gefäng­ nisverwaltung schon seit langem in Gebrauch und diente als Kriterium für die 119 Ebd., S. 405. 120 Ebd. 121 Die beste Analyse

zur Entwicklung des Mental Deficiency Act und seiner Befürworter und Gegner findet sich in Mathew Thomson, The Problem of Mental Deficiency. Eugenics, De­ mocracy, and Social Policy in Britain c. 1870–1959, Oxford 1998, S. 37–51; generell ging es im Mental Deficiency Act um care and control „in whose cases there exists from birth or from an early age mental defectiveness, not amounting to imbecility“; Mental Deficiency Act 1913 (3&4 Geo. 5, c. 28). Personen dieser Kategorie, sofern sie für sich oder andere eine Gefahr darstellten oder sich nicht selbst versorgen konnten, sollten in staatlichen Einrichtungen un­ tergebracht werden können. Feeble-minded oder mentally deficient offenders sollten vom Ge­ fängnis in solche Institutionen verlegt werden. Das Gesetz nahm auf keine spezielle Verer­ bungtheorie Bezug, die von Eugenikern in diesem Kontext geforderten Sterilisationen wur­ den durch das Parlament verhindert; vgl. dazu auch Kap. 10 (Eugenics infiltrates the Penal Law: The Feeble-Minded Offender) in Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 316–338; zwei zeitgenössische Analysen aus der Sicht von Gefängnisärzten sind Bryan Donkin, Occasional Notes on the Mental Deficiency Act, in: The Journal of Mental Science 62 (1916), S. 469–485; und William C. Sullivan, Crime and Mental Deficiency, in: The Lan­ cet 2 (15. Oktober 1921), S. 787–791. 122 Weak-minded oder das etwas spätere feeble-minded wird in der Regel mit ‚schwachsinnig‘ übersetzt, allerdings ist dann im Deutschen nicht der Unterschied zum Begriff imbecile (der ebenfalls mit ‚schwachsinnig‘ übersetzt wird, auch: bödsinnig, imbezil) erkennbar. Man soll­ te deshalb die Erklärung des New Oxford Dictionary of English im Gedächtnis behalten, das weak-minded mit „lacking determination, emotional strength, or intellectual capacity“

3.5. David Nicolson: Der geistesschwache Straftäter   147

spezielle Unterbringung und Behandlung bestimmter Strafgefangener, die nicht der herkömmlichen Gefängnisdisziplin unterworfen werden konnten. 1873 war es Nicolsons Verdienst, diesen allgemein gebräuchlichen, wenig reflektierten Be­ griff zum ersten Mal genauer zu beleuchten. Er zitierte zu diesem Zweck den aus langjähriger Erfahrung hervorgegangenen Bericht von Dr. Robert Gover, dem medical officer des Millbank Gefängnisses in London: „the term ‚weak-minded‘, as we use it in the convict service, is very comprehensive, and includes every variety and every degree of mental affectation short of that which would justify a certifi­ cate of insanity.“123 Manche der als weak-minded klassifizierten Straftäter seien lediglich „dull and slow“ und bräuchten entsprechend lange, um etwas zu begrei­ fen. Andere besäßen durchaus Verstand und seien in der Lage, richtige Schlussfol­ gerungen zu ziehen. Gebe man ihnen ausreichend Zeit, dann könnten sie sogar danach handeln. Ihre Langsamkeit stelle aber die Geduld der Gefängniswärter auf eine harte Probe. Solche Männer, so erklärte Gover, mochten gute und beständige Farmarbeiter sein. Wanderten sie aber in die Städte ab, dann hätten sie keine Chance gegen ihre gewitzteren Konkurrenten: „Like ‚unready‘ men generally, they are always at a disadvantage, and their fate must depend very much upon those into whose hands they fall.“124 Die Vorstellung städtischer Überforderung und Konkurrenz, gepaart mit kons­ titutioneller Unterlegenheit, machte hier deutliche Anleihen an die Vorstellung des von Herbert Spencer geprägten Begriffes des survival of the fittest. Nach Gover ließ sich der Zustand eines weak-minded criminal am besten mit dem einer „men­ tal instability“125 umschreiben, wobei auch er an der Vorstellung von graduellen Übergängen von leichteren zu schwereren Fällen festhielt.126 Während allerdings der geistesschwache Kriminelle (weak-minded) einer einfachen Konversation fol­ gen und zwei Dinge miteinander vergleichen und Schlüsse daraus ziehen konnte, war der schwachsinnige Kriminelle (imbecile) dazu nicht in der Lage. Doch auch der weak-minded criminal folgte primär seinen Impulsen und zeigte sich als ­Sklave seiner animalischen Tiebe, die er rational nicht kontrollieren konnte. Zur praktischen Klassifizierung schlug Nicolson, angelehnt an Maudsley und an die Arbeiten des deutschen Psychiaters Wilhelm Griesinger,127 die Unterschei­ dung des weak-minded criminal in zwei Gruppen vor: Es gab solche mit einer umschreibt, während imbecile eine „stupid person“ meint, einen „idiot“. Weak-mindedness meint also eine weitaus schwächere Form von imbecility und ist wesentlich unterschieden von echter Geisteskrankheit (insanity). 123 Robert Gover (medical officer, Millbank Prison), Report zit. in: Nicolson, Morbid Psychol­ ogy (1875), S. 539. 124 Gover, Report, S. 539. 125 Ebd. 126 Ebd., S. 540. 127 Nicolson, Morbid Psychology (1875), S. 236; seine englischen Gewährsmänner waren ­Henry Maudsley, Harrington Tuke und Charles Bucknill, als einzigen deutschen Psychiater führte er Wilhelm Griesinger auf, siehe ders., Die Pathologie und Therapie der psychischen Krank­ heiten, Stuttgart 1845 (engl. Übers. durch C. Lockhart Robertson und J. Rutherford; ders., Mental Pathology and Therapeutics, London 1867).

148   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) emotionalen insanity und solche, deren Intellekt in Mitleidenschaft gezogen war. Nur bei den Erstgenannten glaubte Nicolson die Ursache durch Vererbung be­ dingt, erkennbar an einer „original defective constitution of mind.“128 Bei der zweiten Gruppe handelte es sich um eine Geistesschwäche, die zu Lebzeiten er­ worben wurde. Daneben gab es temporäre mentale Erkrankungen, die nur ein­ mal im Leben auftraten und heilbar waren. Wichtig war es indes, dass aufgrund der unterschiedlich beschaffenen und veranlagten Straftätergruppen innerhalb des Gefängnisses bei der Feststellung der Zurechnungsfähigkeit ein ärmlicher In­ tellekt und der Mangel eines gesunden Zusammenspiels zwischen instintivem, emotionalem und höherem, regulativem Vermögen in Rechnung gestellt werden mussten.129 Wie Maudsley plädierte Nicolson für die Anerkennung eines Stufen­ systems der Zurechnungsfähigkeit: „We have, therefore […] to fall back upon degrees of responsibility: and to recognise a partial responsibility and a partial irresponsibility according as we have degrees of mental health and derange­ ment.“130

3.6. „Criminals are not lunatics“: Strategien der ­psychiatrischen Profession 1878, zwei Jahre nach dem Erscheinen von Cesare Lombrosos L’uomo delinquente, beschäftigte sich der führende Gefängnispsychiater David Nicolson nicht mehr mit Fragen der Straftäterkonstitution, sondern mit Fragen der Zurechnungsfähig­ keit.131 Hier ließen sich jetzt in zunehmendem Maße kritische Einwände gegen eine Biologisierung des Täters finden. Nicolson war inzwischen zum stellvertre­ tenden Leiter des staatlichen Criminal Lunatic Asylum in Broadmoor aufgestie­ gen, einer Einrichtung ausschließlich für geisteskranke Straftäter, die dem ambiti­ onierten Arzt nun in einem weitaus größeren Umfang das Studium von Geistes­ krankheit und Kriminalität ermöglichte. In seinem neuen Beitrag ging es Nicolson konkret um den Ausbau psychiatrischer Kompetenzen im Gerichtssaal. Er be­ schwerte sich darüber, dass die gründliche medizinische Untersuchung eines An­ geklagten, die Wichtigkeit dieser Maßnahme, unter Juristen noch nicht ausrei­ chend anerkannt sei.132 Er berief sich dabei auf den Wunsch der Öffentlichkeit, alles über einen Fall zu erfahren, bevor eine Jury darüber ein Urteil fälle. Durch ihre Ausbildung und ihre Lebenserfahrung seien aber nur Mediziner in der Lage, eine angemessene Einschätzung über den Delinquenten abzugeben. 128 Nicolson,

Morbid Psychology (1875), S. 547. dazu ebd. S. 240 f. 130 Ebd., S. 241; über vorgetäuschte Geisteskrankheit und Simulanten hatte Nicolson bereits pu­ bliziert, ders., „Feigned Insanity, with Cases“, vgl. The Journal of Mental Science 16 (1870), der Aufsatz wird erwähnt in Journal of Mental Science 21 (1875), S. 242. 131 David Nicolson, The Measure of Individual and Social Responsibility in Criminal Cases. In Two Chapters, in: The Journal of Mental Science 24 (1878), S. 1–25, S. 249–273. 132 Nicolson, Measure (1878), S. 7. 129 Vgl.

3.6. „Criminals are not lunatics“   149

Den Aufhänger solcher Klagen, dass von medizinischer Expertise im Gerichts­ saal noch nicht ausreichend Gebrauch gemacht werde, bildeten stets die Mc­ Naughten-Regeln. Gegen sie wandten Psychiater ein, dass knowledge of right and wrong kein ausreichendes Kriterium für die Zurechnungsfähigkeit einer Person darstelle. Es gebe Fälle, so argumentierten sie, in denen dieses Wissen vorhanden sei, obgleich der Delinquent als vollkommen geisteskrank eingestuft werden müs­ se.133 Da Nicolson Beamter im öffentlichen Dienst war, wusste er aber um den schwierigen Balanceakt zwischen Rechtsprechung und Medizin. Bemüht arbeitete er vorsorglich dem juristischen Generalverdacht entgegen, wonach das einzige Bestreben der Psychiater darin bestehe, alle und jeden für unzurechnungsfähig zu erklären: If we reject, as fallacious and insufficient, the theory that a knowledge of right and wrong is a test of criminal responsibility, we must also guard ourselves against the opposite extreme, which would have us believe that criminals are but lunatics after all, seeing that they are but the victims of an ancestral destiny revealing itself in the operations of a tyrannous mental organisation.134

Mit der ‚tyrannischen Organisation‘ kritisierte Nicolson ganz offensichtlich Maudsleys materialistischen Übereifer. Aber noch stärker übte er jetzt erneut ­Kritik an den generalisierenden Behauptungen Bruce Thomsons, die voreilig, irre­führend und falsch seien.135 Die Kritik schloss erneut die von Thomson ange­ führten Zahlen ein, die nicht denen von Nicolson entsprachen.136 Dabei sollte nicht in Abrede gestellt werden, dass es die von Thomson beschriebene Gruppe defekter Charaktere gab: Die zentrale Frage lautete aber, in welchem Verhältnis: „In the English convict prisons from 3 to 4 per cent. of the population are insane, epileptic or of such weak mind as to unfit them for full prison discipline.“137 Er­ neut korrigierte Nicolson die Zahlen deutlich nach unten. Es sei lächerlich und gefährlich, wenn man diese Zahlen, selbst wenn man sie verdreifache, als Beweis dafür nehme, dass Geisteskrankheit in jeder Form ein wesentliches Kennzeichen von Straftätern sei, man also in unangemessener Weise Kriminalität in die Nähe von Geisteskrankheit rücke. Bis zu einem bestimmten Punkt seien solche Zahlen nützlich – etwa wenn es um therapeutische Ansätze oder praktische Fragen im Gefängnisalltag ginge – aber der Tendenz, dem Kriminellen Geisteskrankheit ge­ nerell als Merkmal zu unterstellen, müsse entschieden entgegen getreten werden. Wenn anerkannte Wissenschaftler, Autoritäten in Medizin und Psychologie, diese Generalisierungen zuließen, sei es an der Zeit, Einspruch zu erheben.138 Nicolsons Versuch, Psychiater und ihre Expertise zu positionieren, ging also mit einer Absage an radikale kriminalanthropologische bzw. psychiatrische Theo­ rien einher. Er warnte vor dem politischen Missbrauch falscher Generalisierun­ gen: „[M]y experience of criminals and lunatics compels me to reject the theory 133 Ebd., 134 Ebd.,

S. 14. S. 17.

136 Ebd.,

S. 18.

135 Ebd. 137 Ebd.

138 Nicolson,

Measure (1878), S. 18.

150   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) that even in a restricted sense criminals are lunatics, and that crime is a form of insanity.“139 Krankheit und Kriminalität gelte es strikt zu trennen. 1888 fühlte sich plötzlich auch Henry Maudsley dazu gedrängt, öffentlich eini­ ge Dinge in Bezug auf die von ihm selbst entworfene Formel von ‚Kriminalität und Irrsinn‘ richtig zustellen: There is a growing disposition in some quarters to look on every criminal as an unsound person having a special neurosis; to discover diagnostic evidence of the criminal nature in the conform­ ation of the head and face, and in a defective structure of brain; and to demand in consequence that criminals should not be punished as responsible, but treated as diseased, beings.140

Zu diesen Verallgemeinerungen ging jetzt auch Maudsley auf Distanz. Gleich­ zeitig versuchte er ebenfalls, dem Generalverdacht entgegenzuarbeiten, Psychiater wollten stets auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren. Die Diskussion um Lombrosos Entdeckungen hatte durch die in den 1880er Jahren beginnenden internationalen kriminalanthropologischen Kongresse weite Resonanz gefunden.141 Obgleich nur ein ganz kleiner Kreis von Engländern, da­ runter Havelock Ellis, überhaupt an diesen Kongressen teilnahm, waren die dorti­ gen Diskussionen auf der Insel doch hinreichend, wenn auch nicht allzu gründ­ lich bekannt.142 Maudsleys Kritik bezog sich aber nur zum Teil auf die Arbeiten des italienischen Arztes, es waren eher die Forschungsarbeiten seines Lands­ mannes Francis Galton, der in den 1880er Jahren nicht nur weiter zur Vererbung von Intelligenz forschte, sondern als Anthropologe gleichzeitig mit der Katalogi­ sierung äußerer Kennzeichen verschiedener menschlicher Rassen beschäftigt war. Durch die Entwicklung der sogenannten composite photography versuchte er, zwecks Auffindung effizienter Identifikationsmethoden spezifische physiognomi­ sche Merkmale von Kriminellen durch Massenvergleich zu isolieren und zu kata­ logisieren.143 Maudsley formulierte seinen Protest im Interesse der echten und wahren Psychologie, der nicht daran gelegen sein könne, ein Wissen vorzutäu­ schen, „which it is far from possessing and by unwarrantable claims to authority based upon such pretensions.“144 Geradezu bescheiden verwies er nun auf Zeit und Gelegenheit, also Faktoren äußerer Umstände, die eine so große Rolle beim Ausführen von Straftaten spielten. Daran knüpfte Maudsley Nicolsons Unter­ scheidung von occasional/accidental und natural/essential criminal an. Der Ge­ 139 Ebd.

140 Henry

Maudsley, Remarks on Crime and Criminals, in: The Journal of Mental Science 34 (1888), S. 159–167. 141 Zu den internationalen Kongressen und die geringe Beteiligung von Engländern an ihnen siehe den Exkurs Kap. 3.10. im Anschluss an dieses Kapitel. 142 Zur geringen Beteiligung von Engländern an den kriminalanthropologischen Kongressen siehe Sabine Freitag, Reichweite und Grenzen einer Internationalisierung öffentlicher De­ batten über Verbrechen und Strafe in England, ca. 1850–1935, in: Sylvia Kesper-Biermann und Petra Overath (Hrsg.), Die Internationalisierung von Strafrechtswissenschaft und Kri­ minalpolitik (1870–1930). Deutschland im Vergleich, Berlin 2007, S. 140–166, hier S. 142– 147. 143 Siehe dazu Kapitel 4.2. 144 Maudsley, Remarks (1888), S. 159.

3.6. „Criminals are not lunatics“   151

legenheitskriminelle sei vom Durchschnittsbürger nicht zu unterscheiden. Im ­essential criminal sah er hingegen einen Kriminellen mit einer defekten mentalen Organisation intellektueller oder moralischer Natur.145 Seine Straftaten positio­ nierte Maudsley zwischen die quasi unbewussten Taten des Epileptikers und den bewussten, freiwillig begangenen Taten des professionellen Straftäters, dem keine krankhafte Disposition unterstellt wurde. Am Konzept der moral insanity hielt er hingegen fest. Die Schädigung des moralischen respektive des emotionalen Ver­ mögens musste nicht unbedingt mit einer Schädigung des intellektuellen Vermö­ gens einhergehen. Sein Fazit lautete deshalb: „There is no general criminal consti­ tution predisposing to and […] excusing crime“ und „there are no theories of criminal anthropology so well-grounded and exact as to justify their introduction into a revised criminal law.“146 Der letzte Punkt war entscheidend. Auch Psychiatern ging es nicht um die ­Abschaffung der Strafe.147 Während eines Vortrags über Criminal Responsibility in Relation to Insanity auf der Jahrestagung der British Medical Association im ­August 1895 beschwerte sich Maudsley sogar über die zunehmende Praxis, einen Straftäter nicht einmal mehr anzuklagen, sondern gleich, ohne Verfahren, in eine Irrenanstalt einzuliefern nur auf der Grundlage mehrerer medizinischer Gutach­ ten.148 Maudsley konnte jedenfalls für das Misstrauen von Rechtsanwälten und Richtern Verständnis aufbringen, wenn Mediziner versuchten, „to make crime insanity.“149 Um eine Ausdifferenzierung von Krankheitsbildern bemüht, betonte er erneut, dass man die unendlich vielen Abstufungen von Irrsinn im Blick behal­ ten müsse, und dass diesen Stufen auch entsprechende Stufen von Zurechnungs­ fähigkeit zugesprochen werden müssten. Noch deutlicher als Maudsley vollzog dann im gleichen Jahr David Nicolson seine Abkehr von kriminalanthropologischen Ansätzen hin zu einem starken ­environmentalism.150 Seine vor der Medico-Psychological Association gehaltene Presidential Address war eine offene Absage an die Italienische Schule:151 „I am not prepared to say that I think there would necessarily be any material diffe­ rence. I believe the lower-class child would be taught to adapt itself to the higher level of its surroundings, just as the better-born child would run the risk of ­becoming criminal-minded or criminal under the influences and training that 145 Ebd.,

S. 161. S. 165. 147 Vgl. ebd., S. 165: „But that is not sufficient reason why society should not punish crime.“ 148 Henry Maudsley, Criminal Responsibility in Relation to Insanity. Psychological Section, British Medical Association. August 1, 1895, in: The Journal of Mental Science 41 (1895), S. 657–674. 149 Maudsley, Criminal Responsibility, S. 661. 150 Auch hier wieder environmentalism nicht im Sinne des Umweltschutzes, sondern als Konzept, wonach die Umwelt im Gegensatz zur Anlage (heredity) den primären Einfluss auf Personen oder Gruppen ausübt, vgl. The New Oxford Dictionary of English (1998), S. 617. 151 David Nicolson, Crime, Criminals, and Criminal Lunatics. Presidential Address delivered at the Fifty-fourth Annual Meeting of the Medico-Psychological Association, July 25–26, 1895, in: The Journal of Mental Science 41 (1895), S. 567–591. 146 Ebd.,

152   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) attach to its existing conditions of life.“152 Nicolson versuchte gezielt, die ‚Anlage­ diskussion‘ zugunsten einer ‚Umweltdiskussion‘ zu verschieben und darauf zu verweisen, was Kriminalstatistiken zu verraten schienen, nämlich „how very large­ ly the offence of the mere criminal connects itself, and has to do with the earning of a livelihood for the criminal himself and his family.“153 Nicolson degradierte deterministische Kriminalitätstheorien zur bloßen Mode­ erscheinung, die in England kaum aufgegriffen worden seien. Hauptkritikpunkt war das methodische Vorgehen der italienischen Kriminalanthropologen. Man habe Hypothesen an einer kleinen Probandengruppe zu belegen versucht und da­ raus dann die großen Schlussfolgerungen gezogen. Eine solche Kriminalanthro­ pologie sei aber vollkommen unzureichend, da sie lediglich die Geschichte einiger Krimineller mit außergewöhnlichen Besonderheiten auf Kriminelle allgemein ex­ trapoliert habe.154 Ihre Ergebnisse hielt Nicolson weder für authentisch noch für wissenschaftlich seriös: I object to the criminological method because it is not only useless, but misleading, to us when we seek to apply it in detail in individual cases. I hope that the day will never come when, in our official examination into the mental condition of suspected persons, or persons lying in prison upon a criminal charge, we as medical men will be expected to produce our craniometer for the head measurements, and to place reliance upon statistical information as to the colour, size, or shape of any organ.155

Die Nützlichkeit anthropometrischer Messungen zur Identifizierung von Rück­ falltätern für Scotland Yard wollte Nicolson nicht in Abrede stellen, als technisches Hilfsmittel zollte er ihnen Anerkennung.156 Aber zur Einschätzung eines Krimi­ nellen, seiner Motive, seines Charakters, seiner Umstände, trügen die Messungen nichts bei. Hätte man nichts außer den Daten seiner Vermessung, dann könne man weder Hoffnung auf die Verbesserung der ganzen Klasse durch Bildung noch auf die Reformierung des Individuums hegen.157 Nicolson unterstrich damit die sozialpolitischen Konsequenzen, die sich aus einer strikt und ausschließlich zur Anwendung gebrachten Kriminalanthropologie ergeben hätten. Für seine Profes­ sion bedeutete sie Reduzierung und Beschränkung der eigenen Möglichkeiten, für Sozialreformer das Ende ihrer Tätigkeit.

Erweiterte Arbeitsfelder Nicolsons Ansprache entfachte unter den Mitgliedern der Medico-Psychological Association eine lebhafte Diskussion. Keinem war entgangen, dass sich die aktuel­ len öffentlichen Diskussionen am Ende des Jahrhunderts längst auf die Frage von nature oder nurture zugespitzt hatten, jenem von Francis Galton formulierten 152 Nicolson,

Crime, Criminals, S. 577. S. 587. 154 Ebd., S. 587. 155 Ebd., S. 580. 156 Ebd. 157 Ebd., S. 581. 153 Ebd.,

3.6. „Criminals are not lunatics“   153

Gegensatz von Anlage- und Umwelteinflüssen auf die physische und psychische Entwicklung des Menschen.158 Alle Mitglieder waren sich über die mögliche Ins­ trumentalisierung solcher Theorien im Klaren. Dr. William Orange, der ehemalige Leiter von Broadmoor und Vorgänger von Nicolson, optierte für die angemessene Berücksichtigung beider Faktoren in der Genese von kriminellem Handeln: „How much crime may be due to training and how much to natural propensity – training as compared with the germ we all bring into the world with us – both have to be considered and each has its influence.“159 Die Erwähnung des Begriffs germ deutet darauf hin, dass August Weismanns 1892 erschienene Arbeit zur Keimplasmatheorie, möglicherweise durch die öffentlichen Vorlesungen von Karl Pearson, bereits rezipiert worden war, die die Lamarcksche Theorie einer Vererbung erworbener Eigenschaften für unmöglich erklärte.160 Für Orange war es keine Frage, dass es Unterschiede in den natürlichen Fähigkeiten von Individuen gab. Deshalb plädierte er – ein Vor­ schlag, der wenige Jahre später auf öffentlichem Druck hin zur Bildung der Royal Commission for the Care and Control of the Feeble Minded führte – für die Früherkennung geistig zurückgebliebener Kinder durch Schuluntersuchungen. Deren Unvermögen, sich den Herausforderungen des Lebens adäquat stellen zu können, würde sich in einem frühen Stadium bereits erkennen lassen.“161 Um den jugendlichen Straftätern von morgen vorzubeugen, müsse mit entsprechen­ dem Training und mit Erziehungsmaßnahmen gegengesteuert werden. Obgleich Orange von der Vererbung menschlicher Intelligenz überzeugt war, glaubte er mit Blick auf Kriminalität doch wesentlich an einen Einfluss der Umwelt und die Möglichkeiten präventiver Maßnahmen: „Circumstances“, so erklärte er, „have much to do with this matter.“162 Dr. Thomas Smith Clouston, Chefarzt am Royal Edinburgh Asylum for the ­Insane und der von allen anwesenden Psychiatern überzeugteste Lombrosianer,163 war Nicolsons Wende zu einem starken environmentalism nicht entgangen. Er zeigte sich, ob zynisch oder affirmativ lässt sich in diesem Kontext nicht mit ­Sicherheit sagen, über den ‚Optimismus‘ erfreut, den offensichtlich die meisten 158 Zu

Galtons Unterscheidung von nature und nurture siehe Kapitel 4.1. von Dr. William Orange in The Journal of Mental Science 41 (1895), S. 589. 160 Vgl. August Weismann, Die Continuität des Keimplasmas als Grundlage einer Theorie der Vererbung, Jena 1885; Weismann nahm an, dass das im Zellkern vorhandene Keimplasma unverändert weitergegeben wird, während die normalen Körperzellen (Soma) veränderbar sind; in England nahm Karl Pearson in einer seiner öffentlichen Vorlesungen am University College London im Jahr 1891 auf Weismann Bezug, siehe Karl Pearson, Grammar of Sci­ ence, London 1892, S. 26 (21900). 161 Siehe den Diskussionsbeitrag von Dr. William Orange in The Journal of Mental Science 41 (1895), S. 589; Orange war von 1870 bis 1885 Superintendent im Broadmoor Lunatic Asylum für geisteskranke Straftäter, also Nicolsons direkter Vorgänger. 162 Ebd., S. 589. 163 Vgl. Thomas Smith Clouston, Clinical Lectures on Mental Diseases, London 1883 (61904); ders., The Hygiene of Mind, London 1906 (81926); ders., Unsoundness of Mind, London 1911. 159 Diskussionsbeitrag

154   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) Mitglieder bei dieser Diskussion zeigten, er könne sich an Zeiten erinnern, in de­ nen dies nicht so gewesen sei.164 Die Ergebnisse der kriminalanthropologischen Schule und die mögliche Verbindung zwischen einem defekten Gehirn und Kri­ minalität wollte Clouston indes nicht vorschnell preisgeben: „No doubt most of us who have looked through the books of Lombroso and Havelock Ellis and oth­ ers are inclined to admit that it is a little overdone by some of our continental brethren, but to say that the mass of criminals in this country are merely criminals by want of opportunity of doing good, by want of education, and not by their or­ ganization, is absolutely contrary to the results of psychological investigation for the last fifty years.“165 Im Gefängnis von Edinburgh hätte er es jedenfalls eindeu­ tig mit einer degenerierten Ansammlung menschlicher Wesen zu tun gehabt.166 Nichtsdestotrotz, für die Gesellschaft allgemein und für die eigene Profession im Besonderen begrüßte Clouston Nicolsons Vorstoß. Von dieser optimistischen Haltung werde die Profession profitieren: „It enables every one of us to think more hopefully of our fellow creatures.“167 Clouston hatte damit das zentrale ­Anliegen von Nicolsons Vortrag auf den Punkt gebracht. Environmentalism er­ möglichte beides: etwas zur Aufklärung der Umstände krimineller Handlungen beizutragen und Aussagen über das Milieu der unteren Schichten generell zu ma­ chen und zugleich einen optimistischen, reformerischen Zugriff auf die Probleme dieses Milieus zu propagieren. Dr. Conolly Norman, vormaliger Präsident der Medico-Psychological Associa­ tion und Herausgeber ihres Journals, stimmte Nicolsons Haltung vorbehaltos zu. Jeder Versuch, der die Infantilitäten der Kriminalanthropologie aufdecke, müsse begrüßt werden. Nicolsons Vortrag habe den Mitgliedern einen großen Dienst erwiesen.168 Mehr oder weniger alle Mitglieder der Gesellschaft seien mit den jüngsten kontinentaleuropäischen Publikationen zur Kriminalanthropologie ver­ traut, und man könne nicht genug vor den verfehlten wissenschaftlichen Metho­ den und den aus ihnen abgeleiteten politischen Konsequenzen warnen: If a man has not a perfectly-chiselled ear or a Grecian nose, if he has learned, when a boy, to tattoo169 his arms, he is hopeless. Everything that evolution, culture, training and education can do for him is of no avail, for behold his nose is a little crooked and the lobe of his ears is adher­ ent to his cheek! It is really astounding the vogue that this puerile nonsense has obtained, and I think, Sir, that the Association is indebted to you inasmuch as, with extreme and characteristic moderation, you have touched upon this subject, not happily in as strong a language as I have indulged in, for I have given up the cares of office and its responsibilities, but in that calm and

164 Diskussionsbeitrag

von Thomas Smith Clouston in The Journal of Mental Science 41 (1895), S. 589. 165 Ebd, Hervorhebung S.F. 166 Ebd. 167 Ebd. 168 Diskussionsbeitrag von Dr. Conolly Norman in The Journal of Mental Science 41 (1895), S. 589. 169 Lombroso und Raffaele Garofalo hatten die vielen Tattoos von Gefängnisinsassen als Beweis für deren Schmerz-Unempfindlichkeit, also verminderte sensorische Fähigkeiten gewertet, vgl. Horn, Tools, Techniques, S. 330.

3.6. „Criminals are not lunatics“   155 robust way that I hope will be always characteristic of the mode in which Englishmen will ­engage on these questions.170

Der Verweis auf Nicolsons Stellung als Anghöriger des civil service war nicht un­ begründet. Zudem befand sich unter den Zuhörern auch der Vorsitzende der Pri­ son Commission und Nicolsons Vorgesetzter Edmund du Cane. Interessanterwei­ se erklärte nun du Cane, der sich in den späten 1870er Jahren vor der Social Sci­ ence Association als Anhänger kriminalanthropologischer Ansätze zu erkennen gegeben hatte,171 dass die Kriminalanthropologie und ihre Vorstellungen vom ge­ borenen Verbrecher die Öffentlichkeit in die Irre führten. Ebenso wenig hielt er nun auch von der Idee, dass Kriminalität „a special quality of the mind“172 sei, und erklärte vor der Versammlung kategorisch: „It has nothing to do with it.“173 Wie lässt sich die deutliche Abkehr der psychiatrischen Profession in England, besonders der Mehrzahl der Gefängnisärzte als zentrale Träger des frühen wissen­ schaftlichen Diskurses, von den radikalen kriminalanthropologischen Theorien italienischer Provenienz erklären? Trotz eigener früher englischer und schottischer Ansätze zu einer Biologisierung des Täters – durch Morels Degenerations- und Darwins Evolutionstheorie auf den Weg gebracht – wurden diese spätestens mit dem Erscheinen von Lombrosos L’uomo delinquente im Jahr 1876 zurückgenom­ men bzw. immer stärker relativiert.174 Nach 1890 und dem Erscheinen von Have­ lock Ellis’ The Criminal, einer Art englischer Zusammenfassung von Lombrosos Theorien, wurde die Kritik noch deutlicher und erlebte 1895 ihren vorläufigen Höhepunkt. Statt mit Lombroso die Naturalisierung der Gefängnispsychiatrie weiter voranzutreiben und auf diesem Wege die Aufwertung der Psychiatrie zu erzielen, begannen jetzt englische und schottische Psychiater und Gefängnisärzte die Grenzen ihrer eigenen Disziplin zu thematisieren und vor der eigenen Selbst­ 170 Diskussionsbeitrag

von Dr. Conolly Norman in The Journal of Mental Science 41 (1895), S. 589 f. 171 Vgl. zu du Canes, Flirt‘ mit der Kriminalanthropologie siehe ders., Address on Repression of Crime, S. 303–304; zu Edmund du Cane rigoroser Gefängnisverwaltung siehe Sean McConville, English Local Prisons, 1860–1900: Next Only to Death, London 1995, Kap. 4–10; auch Edmund Du Cane, The Punishment and Prevention of Crime, London 1885; Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 527 f., S. 572; Forsythe, Penal Discipline, S. 19–30. 172 Diskussionsbeitrag von Edmund Du Cane in The Journal of Mental Science 4(1895), S. 588. 173 Ebd. 174 Eine englische Übersetzung von Lombrosos L’uomo delinquente ist nicht erschienen; engli­ sche Übersetzungen lagen vor von Cesare Lombroso und William Ferrero, The Female Offender, London 1895, und von Cesare Lombroso, Crime. Its Causes and Remedies. With an Introduction by Maurice Parmelee, London 1911; erschienen ist auch ein Aufsatz von Lombroso in englischer Sprache: ders., Atavism and Evolution, in: Contemporary Review 63 (1895), S. 48-ff; Lombrosos Theorien wurden in England besonders durch Havelock Ellis (1859–1939) (Havelock Ellis., The Criminal, London 1890) vermittelt und, so Piers Beirne, auch durch die Publikationen von Maurice Parmelee (1882–1969), z. B. ders., The Princi­ ples of Anthropology and Sociology in their Relations to Criminal Procedure, New York 1908; ders., Criminology, New York 1918; siehe Piers Beirne, Heredity versus Environment: A Reconsideration of Charles Goring’s The English Convict (1913), in: British Journal of Criminology 28 (1988), S. 315–339.

156   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) überschätzung zu warnen. Besonders das Einlenken des berühmten und interna­ tional anerkannten Maudsley löste bei einigen Zeitgenossen großes Erstaunen aus.175 Wissenschaftsimmanente Gründe, d. h. neue wissenschaftliche Erkenntnis­ se in der Psychiatrie, lagen zu diesem Zeitpunkt nicht vor, konnten also auch ihn nicht zu einer Revision seines materialistischen Standpunkts gezwungen haben. Doch warum jetzt diese deutliche Distanzierung? Neben professionsinternen dürften vor allem politische Überlegungen dazu beigetragen haben, dass die eng­ lische Gefängnispsychiatrie nach ihrem anfänglichen ‚Flirt‘ mit deterministischen Ansätzen rasch auf einen moderateren environmentalistischen Kurs einschwenkte, der besonders auf die sozialen Faktoren in der Genese von Kriminalität verwies. Ein zentrales Problem der Psychiatrie bestand darin, dass ihre Krankheitsbilder der Eindeutigkeit entbehrten, wie sie in der allgemeinen Medizin anzutreffen war.176 Die Annäherung an die Medizin, die ‚Naturalisierung‘ der Psychiatrie, wie sie bei Wilson, Thomson, Maudsley und auch beim jungen Nicolson zum Aus­ druck kam, bildete zunächst den Versuch, die öffentliche Anerkennung der Psych­ iatrie als seriöse Wissenschaft voranzubringen. Während sich die Medizin im Zuge der wachsenden Konsolidierung der Naturwissenschaften als dominantes Erklärungsparadigma für die natürliche Welt selbst zu konsolidieren vermochte, war dies für die Psychiatrie nicht in gleicher Weise möglich. Viele Psychiater der jüngeren Generation erkannten das immer deutlicher. „What do we mean by ­disease?“ fragte 1895 der schottische Psychiater George Robertson in einem Vor­ trag über den Begriff der Zurechnungsfähigkeit in Recht und Medizin und er­ klärte: „As there is no rigid boundary between health and disease it is well to recognize at once that it is impossible to define insanity from the medical point of view with absolute accuracy.“177 Alles, was die britische Psychiatrie schließlich vermochte und worauf sie sich letztlich auch beschränkte, war die diagnostische Beschreibung von Krankheitsbildern und ihre Klassifizierung (Differentialdiag­ nostik). Was die internen Gründe der psychiatrischen Profession in der Rückschau be­ traf, so mochte um 1870 ein nicht zu unterschätzender Originalitäts- und Profi­ lierungsdruck bei der Entwicklung und Propagierung deterministischer Krimina­ litätskonzepte vorgeherrscht haben. Mit Blick auf die britische Psychiatrie gab ein Rezensent 1873 im Journal of Mental Science zu bedenken: „Competition is so ­severe, and the ranks of the profession [psychiatry, S.F.] so overcrowded, that a 175 Nachdem

Havelock Ellis Maudsley in seiner Arbeit wenige Zeilen zuvor noch als „distin­ guished pioneer of criminal anthropology“ vorgestellt hatte, stellte er in einer Fußnote fest: „In recent utterances Dr. Maudsley seems to ignore, or to treat with indifference, the results of criminal anthropology.“ Ellis, The Study, S. 6. 176 Siehe dazu Roy Porter, Madness. A Brief History, Oxford 2002, darin Kap. 6: The Rise of Psychiatry, S. 123–155.; auch ders. (Hrsg.), The Cambridge History of Medicine, Cambridge 2006, darin Kap. 8: Mental Illness, S. 238–259. 177 George M. Robertson, Sanity or Insanity? A Brief Account of the Legal and Medical Views of Insanity, and some practical Difficulties (Read at a Meeting of the Scotch Division of the Association at Glasgow, March 14, 1895), in: The Journal of Mental Science 41 (1895), S. 433–440, hier S. 436.

3.6. „Criminals are not lunatics“   157

certain class of our professional brethen have no other way of keeping themselves before the public than writing windy books and essays.“178 Selbst Henry Mauds­ ley, dessen Publikationen zu den absatzstärksten der psychiatrischen Branche zählten, machte die unsichere Stellung der Psychiatrie und die Mechanismen des Wissenschaftsbetriebs dafür verantwortlich, dass besonders in der Psychiatrie fie­ berhaft nach neuen Ansätzen gesucht werde, um damit auch die Öffentlichkeit zu beeindrucken. Dadurch liefe sie aber Gefahr, durch allzu spektakuläre oder radi­ kale Theorien ihre wissenschaftliche Glaubwürdigkeit einzubüßen. Sich selbst hatte Maudsley bei seiner Kritik wohl weniger im Auge179 als Popularisierungs­ strategen wie Havelock Ellis, Mitglied der Humanitarian League, der Lombrosos Theorien in England zu mehr Ansehen verhelfen und mit ihrer Hilfe eine neue Reformwelle auslösen wollte. „Science on the platform is very apt to run into de­ moralization“, kritisierte Maudsley und fuhr fort: [T]he performers are under strong temptation to play to the gallery and so to burlesque science. To say that there is a criminal nature which is degenerate in one thing, a true thing; but to go on to say that all criminals are degenerate and bear on them the stigmata of degeneracy is another and, I believe, quite a false thing. I do not see for myself why crime should necessarily be degen­ eracy.180

David Garland äußert die Vermutung, dass die Integration vieler Mediziner und Psychiater in den Staatsdienst gegen Ende des Jahrhunderts gewährleistet habe, dass Gefängnisärzte und -psychiater nicht zu radikalen Theorien neigten, weil sie stets mit der Notwendigkeit konfrontiert gewesen seien, ihre eigenen Ansprüche und Vorschläge mit den Anforderungen der staatlichen Gefängnisverwaltung, vor allem aber mit den Anforderungen der unabhängigen Gerichte in Einklang zu bringen. Garland spricht in diesen Zusammenhang von einem Modus Vivendi, der sich zwischen Psychiatrie und Rechtsprechung etabliert habe, um Konflikte zu minimieren, nachdem letztere signalisiert habe, dass sie nicht gewillt sei, den deterministischen kriminalanthropologischen Erklärungen gegenüber den her­ kömmlichen und die englische Rechtsprechung bestimmenden Auffassungen von Verantwortung und freiem Willen einen größeren Stellenwert einzuräumen.181 Garland selbst führt für diese Vermutung keinerlei Belege an. Tatsächlich lassen sich aber bei sorgfältiger Recherche zahlreiche Hinweise dafür finden, wie sehr gerade Psychiater über die Formen ihrer Kooperation mit der Rechtsprechung

178 H.K. Rusden, The Treatment of

Criminals in Relation to Science. Besprechung von R.W.B.W. in: The Journal of Mental Science 18 (1873), S. 122–130. 179 Tatsächlich galt Mausley als uneitel, vgl. dazu den Nachruf von George Savage in The Journal of Mental Science 64 (1918). 180 Maudsley, Criminal Responsibility, S. 662. 181 Siehe Garland, Crimes and Criminals, S. 35. Wie bestimmt englische Juristen an der Vor­ stellung eines selbstverantwortlichen Individuums festgehalten haben, obgleich sie weniger Berührungsängste mit der Psychiatrie hatten als Garland annimmt, hat jüngst Martin ­Wiener in einem Artikel dargelegt, siehe Martin Wiener, Murderers and „Reasonable Men“: The „Criminology“ of the Victorian Judiciary, in: Peter Becker und Richard F. Wetzell (Hrsg.), Criminals and their Scientists, S. 43–60.

158   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) nachgedacht haben. Solche Reflektionen finden sich fast immer in Zusammen­ hang mit der Diskussion über die McNaughten-Regeln.182 Es ist bereits davon die Rede gewesen, dass die Etablierung eines Krankheits­ bildes wie das der moral insanity von den Psychiatern vorangetrieben wurde, um den McNaughten-Passus zu erweitern und damit der psychiatrischen Expertise in Gerichtsverhandlungen in Zukunft mehr Gewicht zu verleihen. Als Nicolson 1878 in seinen Beiträgen über die Zurechnungsfähigkeit mit Thomsons biologistischen Generalisierungen abrechnete, tat er dies unter anderem mit der Begründung, solche Theorien würden die Hoffnung auf eine harmonische Zusammenarbeit mit Richtern und Anwälten zunichtemachen, denn diese würden argwöhnisch und ablehnend auf Theorien reagieren, die ihre eigenen Kompetenzen einschränk­ ten.183 Zum Zeitpunkt seiner zweiten Artikelserie konnte Nicolson tatsächlich die nicht unbegründete Hoffnung hegen, dass in naher Zukunft eine entsprechende Gesetzesänderung der McNaughten-Regeln verabschiedet werden würde. 1874 war bereits ein erster Gesetzentwurf im Unterhaus eingebracht worden, der eine Änderung des bestehenden Prinzips dahingehend forderte, dass ein Mensch unter bestimmten Umständen als nicht zurechnungsfähig gelten sollte, der zum Zeit­ punkt seiner Straftat zwar zwischen Recht und Unrecht unterscheiden konnte, aber durch eine Störung seines emotionalen Vermögens, das eine Störung des Willens bewirkte, nicht danach handeln konnte. Dieser Gesetzentwurf, ausgear­ beitet und durch Kommentare unterstützt von dem wohl bekanntesten englischen Rechtsgelehrten seiner Zeit, Sir James Fitzjames Stephen,184 sah die Einführung eines neuen Elementes vor: „the absence of the power of self-control“.185 Fehlen­ de Selbstkontrolle führe dazu, dass der Wille von unwiderstechlichen Impulsen leicht übermannt werden könne. In den 1880er Jahren hatten sich sogar einige einflussreiche Richter für diese Gesetzesänderung ausgesprochen, die dann aber nicht verabschiedet wurde.186 Wie sehr es den Psychiatern auf eine gute Zusammenarbeit mit Richtern und Anwälten ankam, zeigten 1895 auch die Diskussionsbeiträge zu einem Vortrag 182 Zu den McNaughten-Regel siehe Anm. 100 in diesem Kapitel. 183 Siehe dazu Nicolson, Measure (1878), S. 251: „legal and medical

opinion are the comple­ ment of each other, they serve at the same time as wholesome checks upon another“. 184 Nicolson, Measure (1878), S. 255; Sir James Fitzjames Stephen, Autor von A History of the Criminal Law of England, 3 Bände (1883), war der Bruder des Philosophen und Biographen Leslie Stephen, Herausgeber des Dictionary of National Biography, und somit der Onkel von Virginia Woolf. 185 Siehe Nicolson, Measure (1878), S. 253. 186 Max Grünhut, Penal Reform, S. 435–437, erklärt die Schwierigkeit einer Erweiterung mit dem englischen Gerichtsverfahren: „The reluctance to extend the limits of the McNaghten rules is partly due to the strictly accusatorial mode of English legal procedure. As insanity is a defence in criminal law, the burden of proof of his irresponsibility lies on the defendant, and the evidence is confined to the statements of expert witnesses called by the parties. On the Continent the prisoner’s responsibility is an ingredient of his guilt. The court, therefore, before finding him guilty, must be satisfied that any doubt as to his responsibility has been cleared. For this purpose the judge has a discretionary power to call experts. […] English law places on the defence the whole burden of proof that a prisoner tried on a criminal charge did not act with a guilty mind.“

3.6. „Criminals are not lunatics“   159

von Maudsley. Er hatte Mediziner und Psychiater zur Zurückhaltung im Gerichts­ saal aufgefordert und ihnen empfohlen, nicht den Eindruck zu erwecken, als sei insanity etwas Definitives und Konstantes, das stets alle Zurechnungsfähigkeit ausschließe. Von der Einstellung der meisten Mitglieder der Medico Psychological Association ließ sich wohl behaupten, was Nigel Walker über James Prichard, den Popularisierer der moral insanity, geschrieben hat: Als Mitglied des Establish­ ments sei es ihm nicht darauf angekommen „to challenge the judges“, sondern lediglich „to instruct them“.187 Die Aufgabe des Mediziners im Gerichtssaal sah auch Henry Maudsley in der Bereitstellung aller für den Fall notwendigen In­ formationen und damit in der Unterweisung des Richters und der Jury in die medizinische Einschätzung des Angeklagten: [T]o place before the court as plainly as possible all the facts of the particular form of mental derangement in the particular case, to explain what these facts mean according to the best scien­ tific information, and how far and in what way they damage the mental functions, then to leave the matter for the court to decide […] For the question of legal responsibility is, of course, a legal, not a medical question.188

Bis in die späten 1930er Jahre änderte sich, so wird sich im Laufe dieser Untersu­ chung zeigen lassen, an dieser Einstellung nichts Grundlegendes. Auch Psycholo­ gen und Psychoanalytiker stimmten ihr dann immer noch zu. Auffällig in den Diskussionen der Psychiater um die Jahrhundertwende war allerdings der immer wiederkehrende Verweis darauf, wie wichtig es sei, sich mit den Richtern ins Ein­ vernehmen zu setzen und damit zugleich den Bedürfnissen der Öffentlichkeit Rechnung zu tragen: We must meet the law; we must meet the common opinion, and we have to be careful not to arrogate too much to ourselves while there is more difference between ourselves than there is between us and the lawyers. We are scarcely in a position to say ‚This is all wrong‘ until we can offer to put it right. […] I think that by maintaining a calm demeanour we preserve our own dignity, and are the better able to carry out that process which is already far advanced – the edu­ cation of the judges into the acceptance of the medical view.189

Charles Mercier, Vorsitzender der Psychologie Sektion der British Medical Asso­ ciation und einflussreicher Mediziner mit guten Kontakten zur Prison Com­ mission,190 ging sogar noch weiter und fand an der englischen Gerichtspraxis ei­ gentlich nichts auszusetzen, denn dem medical witness werde im Gericht großes Gehör geschenkt: „Imperfect as the wording of the law is, we have to look to its practical effect, and the practical effect is that justice is done.“191 Gegen die Justiz, so führte er aus, hätte man nur dann ein überzeugendes Argument in der Hand, wenn nachgewiesen werden könnte, dass ein Angeklagter aufgrund des Ausschlus­

187 Walker

und McCabe, Crime and Insanity in England, Bd. 2, S. 41. Criminal Responsibility, S. 664. 189 Nicolson, Crime, Criminals, S. 666. 190 Vgl. z. B. das Vorwort des Medical Prison Commissioner Sir Bryan Horatio Donkin, in: Charles Mercier, Crime and Criminals, being the Jurisprudence of Crime: Medical, Biologi­ cal, and Psychological, London 1918, S. IX. 191 Diskussionsbeitrag von Charles Mercier in The Journal of Mental Science (1895), S. 666 f. 188 Maudsley,

160   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) ses eines kompetenten Medizinern unrechtmäßig oder fälschlich verurteilt wor­ den sei. Ihm sei ein solcher Fall aber nicht bekannt. Der Mediziner George H. Savage, Herausgeber des Journal of Mental Science, übte schließlich offene Selbst­ kritik an seiner Profession und erinnerte an die Vorbehalte der Öffentlichkeit ge­ genüber Experten: „We are a rather conceited profession; we believe we know the truth, and that people should bow down and accept our dogmas. The public have only a partial belief in doctors; they believe in themselves.“192 Diese eingeforderte Zurückhaltung in den Gerichten löste für die Psychiatrie aber nicht das Problem der immer noch anstehenden, dringend gebotenen Professionalisierung.

3.7. Die Erfindung der Präventivpsychiatrie Die Konsolidierung der Medizin als anerkannte Wissenschaft in der zweiten Hälf­ te des 19. Jahrhunderts erfolgte in England im Zuge der ersten, sich abzeichnen­ den Erfolge der staatlichen Präventivmedizin. Deren Profilierung und öffentliche Anerkennung ging unter anderem auf die statistischen Bemühungen des General Register Office zurück, das mit der Veröffentlichung von Daten über die ‚Lebens­ qualität‘ der verschiedenen Kommunen (Lebenserwartung, Sterberate, Kinder­ sterblichkeit, Seuchen etc.) einen Wettbewerb der Kommunen untereinander um medizinische, sanitäre und hygienische Verbesserungen auslöste.193 Bereits 1877 betonte The Lancet den Zusammenhang von medizinischer und sozialer Präven­ tion und formulierte Ansichten zu einer neuen ‚Biopolitik‘194: „[T]he science of life is an integral part of political economy, and the development of physical and moral health – by sanitary conditions affecting the whole population – should be the primary aim of government. The intimate relation of bodily weakness, infirm­ ity, and decrepitude with poverty and crime, is beginning to be perceived.“195 Tatsächlich forcierte seit Beginn der 1870er Jahre das staatliche Gesundheitswe­ sen eine Präventivmedizin, die mit der Einstellung eines medical officer of health für jeden Distrikt von England und Wales einsetzte. Die Zunahme von Gesund­ heitskontrollen, die Verbesserung sanitärer Einrichtungen, die Einführung hygie­ nischer Maßnahmen, die Sicherstellung der Wasserversorgung und eine bessere Lebensmittelversorgung in den Elendsvierteln und Slums der größeren Städte und in den Wohngebieten der ärmeren Schichten begannen um die Jahrhundert­

192 Diskussionsbeitrag

von George Savage in ebd., S. 669; Savage war Herausgeber der Bände 24–40 des Journal of Mental Science. 193 Siehe dazu aufschlussreich: Simon Szreter, The GRO and the Public Health Movement in Britain, 1837–1914, in: Social History of Medicine 4 (1991), S. 435–463: „From its earliest years the GRO developed a twin-pronged publication strategy to maximize both its political and scientific impact in promoting the environmentalist policies of the Public Health move­ ment.“ (Ebd. S. 435). 194 Zum Begriff der ‚Biopolitik‘ siehe Anm. 39 in der Einleitung. 195 The Lancet, 21. April 1877, S. 579.

3.7. Die Erfindung der Präventivpsychiatrie   161

wende langsam Wirkung zu zeigen.196 Die meisten Mediziner profitierten von dieser zunehmend vom Staat ausgehenden Sozialpolitik und glaubten sich auf dem richtigen Weg. Sie alle teilten einen Optimismus, der sich nach dem Ersten Weltkrieg noch verstärken sollte und in dem sich auch, wie noch zu zeigen sein wird, der große Widerstand gegen eugenische Bestrebungen manifestierte. Insti­ tutionen wie das Royal Institute of Health und das Royal Sanitary Institute unter­ stützten die staatlichen Bemühungen, und eine ab 1907 begonnene Zusammenar­ beit von Gesundheitsreformern und Städteplanern setzte ebenfalls auf den Aus­ bau solcher Sozialmaßnahmen.197 Das wachsende Selbstvertrauen der praktischen Präventiv-Mediziner spiegelte sich in ihrem wachsenden Einfluss auf das soziale Leben der Bevölkerung wider.198 Auch die Psychiatrie suchte den Anschluss an die staatliche Präventivmedizin, auch sie wollte in ähnlicher Weise eine für die Gesellschaft sichtbare und wichtige Rolle übernehmen. Zu den präventiven Aufgaben der Psychiatrie gehörte es, durch das rechtzeitige Erkennen von einsetzenden Geisteserkrankungen die Sicherheit der Gesellschaft zu gewährleisten, indem die gefährdete Person so früh wie mög­ lich behandelt wurde. Nicolson hatte bereits 1878 diesen Gesichtspunkt hervorge­ hoben. Mit dem Verlust der geistigen Gesundheit eines Menschen endete dessen persönliche Verantwortung, und die Verantwortung der Gesellschaft begann.199 Mit der Kritik an seinem Kollegen Thomson und dessen Biologisierung des Straf­ täters hatte Nicolson also nicht allein die Hoffnung auf eine möglichst spannungs­ freie Zusammenarbeit mit der Rechtsprechung, sondern zugleich die Hoffnung auf die Aufwertung seiner Profession durch die Etablierung einer so­zialen ‚Präven­ tivpsychiatrie‘ verbunden, die sich auf ihre Erfahrungen mit dem Auftreten, dem Verlauf und der Heilung geistiger Erkrankungen berufen konnte. Mit den entspre­ chenden Vorkenntnissen und Informationen seien Psychiater in der Lage, so er­ klärte er, für einen geistig erkrankten Menschen eine Prognose zu stellen. Nicolson betonte besonders die Heilungschancen, die sich bei frühzeitiger Diagnose und ei­ ner entsprechenden Behandlung verbesserten. Dadurch sollte auch Kriminalität als Folge von Krankheit verhindert werden. Die meisten Patien­ten in Broadmoor seien jedenfalls schon krank gewesen, unterstrich der Anstaltsleiter Nicolson, bevor sie kriminell geworden seien. Die Gesellschaft habe hier ihre Fürsorgepflicht ver­ letzt: „The patients at Broadmoor certainly do not belong to what are called the criminal classes.“200 Im Gegensatz zu den Insassen von Broadmoor war diese kri­ minelle Klasse nämlich nicht psychisch krank, sondern einfach nur sehr arm. 196 Zur

Entwicklung des öffentlichen Gesundheitswesen siehe Anne Hardy, Public Health and the Expert in Victorian Britain: the London M.O.H.s 1856–1900, in: Roy MacLeod (Hrsg.), Government and Expertise, Cambridge 1988, S. 128–142; Szreter, The GRO and the Public Health Movement, S. 435–463. 197 Vgl. dazu Dorothy Porter, „Enemies of the Race“: Biologism, Environmentalism, and Pub­ lic Health in Edwardian England, in: Victorian Studies 34 (1991), S. 159–179, hier S. 164 f. 198 Siehe dazu Sim, Medical Power, S. 56. 199 Nicolson, Measure (1878), S. 25. 200 Ebd., S. 272.

162   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) 1895 argumentierte George Robertson vor der Medico Psychological Associa­ tion in exakt der gleichen Weise wie Nicolson siebzehn Jahre früher. Um die Rolle einer präventiven psychiatrischen Medizin übernehmen zu können, bedürfe es sowohl der Unterstützung von Seiten der Rechtsprechung als auch von Seiten des Staates. Die praktischen Schwierigkeiten lagen für die Psychiater in den lunacy laws. Jemand könnte, so Robertson, ganz langsam, unbemerkt in den Zustand von Verrücktheit hinüber gleiten, vielleicht nur erkennbar an kleinen Anzeichen wie Konzentrationsschwäche, Unregelmäßigkeiten während der Arbeit, die Nei­ gung zu Extravaganz, Alkoholmißbrauch oder die Mißachtung sozialer Konventi­ onen. Keine dieser Auffälligkeiten könnte so ausgeprägter Natur sein, dass sie ein richterliches Tribunal überzeugen würden.201 Doch erfahrene Psychiater könnten solche Fälle einer „concealed insanity“, die für den Laien nicht feststellbar seien, ebenso erkennen wie bestimmte äußerliche Anzeichen, die oft auf den Beginn einer Geisteskrankheit schließen ließen.202 Ihnen stünden aber keine rechtlichen Mittel zur Verfügung, um eingreifen zu können. Man müsse, so Robertson, die geistig erkrankte Person gewähren lassen, bis die Gesellschaft sich ausreichend ­gestört fühle und eine Einweisung mithilfe des Gesetzgebers verlange.203 Solche Situationen seien häufiger und gesellschaftlich relevanter als das Zertifizieren ma­ nifester Geisteskrankheiten und das damit verbundene Wegsperren von ein paar unerwünschten kriminellen Irren jährlich.204 Weil der Gesetzgeber den Psychia­ tern hier keine Unterstützung und Rechtssischerheit zukommen lasse, gefährde er ernstlich die in Bezug auf Heilungschancen wichtige frühzeitige Behandlung geis­ tig Erkrankter: „The law protects society, but it neglects the individual by refusing to notice his disease till he becomes a nuisance.“205 Worum es Nicolson und Ro­ bertson also ging, war die Erweiterung des psychiatrischen Betätigungsfeldes auf die auch für die Gesellschaft wichtige präventivpsychiatrische Früherkennung. Die Krankheitsbilder, mit denen die beiden Psychiater operierten, waren mehr­ heitlich solche, bei denen nicht von angeborenen Defekten ausgegangen wurde, sondern von erworbenen Krankheiten, denen eine bestimmte Heilungschance zu­ gesprochen werden konnte. Nur unter der Voraussetzung solcher ‚heilbarer‘ geisti­ ger Erkrankungen konnte das Eingreifen der Psychiatrie als eine – verglichen mit der Präventivmedizin – gleichwertige Unternehmung erscheinen. Lombroso mit seinen deterministischen Ansätzen war vor dem Hintergrund des wachsenden Er­ folgs staatlicher Präventivmedizin kein wirklich hilfreicher Agent für die Psychiater, er beschränkte zu sehr ihren Aktionsradius und ihren professionellen Handlungs­ spielraum in Richtung Heilung oder Besserung. Als 1888 der französische Arzt Dr. Henri Coutagne für Lombrosos Zeitschrift Archives d’Anthropologie Criminelle über 201 Robertson,

Sanity, S. 438. S. 435: „Certain physical derangements, however, are recognized as being so closely as­ sociated with insanity that their occurence is accepted as a warning of impeding insanity, and remedial measure are on their account adopted.“ 203 Ebd., S. 438. 204 Ebd. 205 Ebd., S. 438 f. 202 Ebd.,

3.7. Die Erfindung der Präventivpsychiatrie   163

die wissenschaftlichen Entwicklungen von Kriminalitätstheorien im Sinne einer Kriminalanthropologie in England berichten sollte, bemerkte er, dass die legal medi­ cine auf der Insel weder eine eigene Fachzeitschrift noch eine spezielle Institution zur Vertretung ihrer Interessen hervorgebracht habe. 1881 sei auf dem internatio­ nalen Mediziner-Kongress in London – „although so remarkably well organized“ – über Kriminalanthropologie weniger verhandelt worden als über Zahnheilkunde, folglich habe sie auch nicht den Gegenstand einer besonderen Sektion auf dem Kongress gebildet. Sein zutreffendes Fazit lautete deshalb: „state medicine being ­almost synonymous with hygiene.“206 In England stand Hygiene in erster Linie für Präventivmedizin – für Verbesserungen im sanitären Bereich, im Bereich der Er­ nährung und für eine allgemein verbesserte Gesundheitsversorgung. Nach englischer Auffassung wurde aber genau damit auch eine indirekte prä­ ventive Kriminalpolitik betrieben. Im gleichen Jahr, in dem Coutagne seinen Bericht verfasste, formulierte das British Medical Journal die Aufgabe der Medizin, die die Psychiatrie miteinschloß, als aktive Sozialpolitik: „Our highest privilege is to extend our ministrations to the mind as well as the body, to offer to erring brothers the hand of help, to bring back to honesty and wisdom those who through misfortune and weakness have fallen far away from both.“207 Auch The Lancet zeigte sich 1893 von der Wichtigkeit präventiv-medizinischer Maßnahmen als Form sozialer Politik überzeugt. Die Maßnahmen könnten deshalb wirken, so die Zeitschrift, weil Kriminalität nicht das Problem geborener Verbrecher, son­ dern das Produkt vieler durch ungünstige Lebensumstände geschwächter und ‚beschädigter‘ Individuen sei: [W]e must not forget that, whilst we know not of any criminal constitution there is such a thing as a degenerate physical type, capable, indeed, of improvement under the wholesome conditions of life, but which without these becomes the fruitful soil of moral weed-growths. It is clear, therefore, that whilst by means of police we must, and fortunately can, control the evil wrought by moral depravity, we must, in order to prevent this, associate with such control other and more purely remedial agencies.208

Medizin und Psychiatrie reklamierten ihren Einsatz zur Kriminalitätsbekämpfung mit den ihrer Profession eigenen und geeigneten Mitteln. Im (staatlichen) medi­ zinischen Kontext war ein degenerierter Typ ein heilbarer Typ, an ihm war nichts konstitutionell Festgeschriebenes.209 Für die Verlagerung von Anlagekonzepten, die eugenische Empfehlungen nahe legten, hin zu einem starken environmentalism, der auf die Veränderung sozialer Milieus setzte, lässt sich auch die Stellungnahme des Gefängnisarztes Dr. Robert 206 Hier

zitiert nach Ellis, The Study, S. 14. British Medical Journal, 31. März 1888, S. 707. 208 The Lancet, 14. Oktober 1893, S. 940. 209 Siehe dazu auch Robertson, Sanity, S. 439; für Robertson war ein Indiz der einsetzenden Hei­ lung von geistig gestörten oder kranken Personen bereits „a distinct gain in body weight“. Er argumentierte, dass Patienten Zeit benötigten, um sich von den „physical and nutritive dis­ turbances of insanity“ zu erholen und ihre „normal metabolic stability“ wiederherzustellen. Deshalb sprach er sich gegen frühzeitige oder sogar verfrühte Entlassungen aus, weil dadurch die Gefahr bestehe, dass der Patient durch den plötzlichen Stress einen Rückfall erleide. 207 The

164   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) Gover anführen. Gover, der 1878 noch Medical Superintendent im Millbank Ge­ fängnis war und für eine strikte Gefängnisdisziplin und gegen jede Art von pampering der Insassen eintrat,210 gehörte zu jenen Beamten, die eine biologistische Rhetorik mit der Vorstellung einer leistungsstarken Präventivmedizin verbinden konnten. Die Vorstellung dabei war, dass Präventivmedizin langfristig die nega­ tiven Folgen des fortschreitenden Zivilisationsprozesses kompensieren könnte, vorausgesetzt natürlich, dass auch die Ursachen von Geisteserkrankungen stärker auf den Einfluss äußerer Faktoren zurückgeführt und als heilbar betrachtet ­werden konnten. 1878 schrieb Gover in Zusammenhang mit der Frage, wie mit weak-minded criminals verfahren werden solle: But it may be remarked that the weakminded man is a necessary product of an imperfect stage of civilisation. A time will surely arrive when some limit will be put to the propagation of their kind by the half developed in mind and body; when overcrowding and its attendant evils will be things of the past; when wise sanitary legislation will have done its work, and a new generation will arise to whom the weakminded man will be a stranger. In the meantime he is in our midst; let us deal gently with his weakness, […] and avoid undue severity when punishing him for those crimes into which he has been led, either by evil example or by the coercion of designing men who have taken advantage of his infirmity.211

17 Jahre später, im Jahr des Gladstone Report 1895, thematisierte Robert Gover, inzwischen zum Medical Inspector of Prisons aufgestiegen,212 die Auseinander­ setzung über nature und nurture, Anlage und Umwelt, als Grundlage kriminolo­ gischer Erkenntnisse. Unabhängig davon, ob man hauptsächlich nature oder nurture für die Genese von Kriminalität verantwortlich mache – für Gover auch eine Frage von Pessimismus oder Optimismus –, die Wahl der Mittel zu ihrer Bekämp­ fung lief jetzt eindeutig auf soziale und wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen hinaus, die wenig Platz ließen für eugenische Empfehlungen: Whether the somewhat pessimistic doctrines of the criminal anthropologist be accepted as the basis of action, or the more hopeful view of those who regard a proclivity to the commission of crime as the natural outcome, in the majority of cases, of unfavourable surroundings from ­infancy upwards, there can be no doubt that the criminal elements in society may be largely ­reduced by such social reforms as the prevention of overcrowding, by attention to the details of sanitation, by judicious education and by such training as will tend to eradicate habits of idleness.213

3.8. Der Gladstone Report (1895) und die Sicherungsverwahrung Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass sich die Psychiater und Gefängnisärzte im Jahr 1895 in moderaten Tönen übten und in ihrer Arbeit besonders auf Heilung und Rehabilitierung setzten. Im April 1895 erschien der Gladstone Report, der als 210 Zu

Robert Gover und seine rigide Gefängnisdisziplin siehe Sim, Medical Power, S. 57. Robert Gover (Millbank Prison), About Weakminded Prisoners, zit. in Nicolson, Mor­ bid Psychology (1875), S. 540, Hervorhebung S.F. 212 Siehe Sim, Medical Power, S. 61. 213 Robert Gover in The Lancet, 12. Oktober 1895, S. 911. 211 Dr.

3.8. Der Gladstone Report (1895) und die Sicherungsverwahrung   165

Meilenstein in der Geschichte der englischen Gefängnisreform gilt.214 Die Einbe­ rufung bzw. Ernennung des Departmental Committee on Prisons 1894 durch den britischen Innenminister Asquith waren zwar nicht durch die Diskussionen der Psychiater ausgelöst worden, sondern in erster Linie eine Reaktion auf die öffent­ liche Protestbewegung gegen das englische Gefängniswesen. Die Empfehlungen der Kommission hatten aber direkten Einfluss auf die Arbeit der Psychiater. Die Kritik am englischen Gefängniswesen kam besonders von den Mitgliedern der Howard Association und der Humanitarian League.215 Den Auftakt bildete eine anonym verfasste Artikelserie Our Dark Places im Daily Chronicle, die ab Januar 1894 über die unerträglichen und demütigenden Zustände englischer Gefängnis­ se berichtete. Die Reformer prangerten das englische Gefängniswesen als „pitiless, indiscriminating and needlessly and culpably severe“216 an und führten aus, dass die Gefängnisaufseher überarbeitet, unterbezahlt und schlecht ausgebildet seien, jugendliche und Erststraftäter nicht von Gewohnheitsverbrechern getrennt wür­ den, sinnlose Beschäftigungen und disziplinarische Maßnahmen den Gefängnis­ alltag bestimmten und zwei von drei Prison Commissioners ohnehin keinerlei praktische Erfahrungen mit Gefängnissen besäßen. Anders als William Tallack von der Howard Association, dem es in dieser Debatte nur um die Durchsetzung einzelner Verbesserungen im Strafvollzug ging, wollten die Reformer um den Daily Chronicle und die Humanitarian League, d. h. Männer wie Havelock Ellis, Henry Salt oder Edward Carpenter, einen grundsätzlichen Wandel im Verhältnis von Abschreckung und Besserung zugunsten einer uneingeschränkten Reformie­ rung des Straftäters durchsetzen. Im Juni 1894 fragte William Douglas Morrison in der Fortnightly Review rhetorisch: „Are our Prisons a Failure?“ Und beantwor­ tete diese Frage gleich selbst, indem er auf den starken Zuwachs von Wiederho­ lungstätern verwies. Das Gefängnis produziere nicht nur permanent neue hardened criminals, weil es aus jugendlichen Ersttätern schwer reformierbare Gewohn­ heitsverbrecher mache, es treibe auch viele in Krankheit und Irrsinn:217 If prisoners are for the most part bad when they got into prison, and, as an effect of imprison­ ment, are still worse when they come out, imprisonment so far from serving the purpose of protecting society adds considerably to its dangers. The casual offender is the person to whom crime is merely an isolated incident in an otherwise law-abiding life. The habitual criminal is a person to whom crime has become a trade; he is a person who makes his living preying on the community. The prison is the breeding ground of the habitual criminal. The habitual offender 214 Vgl. dazu

McConville, English Local Prisons, S. 585–607; Christopher Harding, The Inevi­ table End of a Discredited System? The Origins of the Gladstone Committee Report on Prisons 1895, in: Historical Journal 31 (1988), S. 591–608, hier bes. S. 595 f.; auch Forsythe, Penal Discipline, S. 19–31; Freitag, Internationalisierung, S. 157–161; Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 85 f., S. 265–268, S. 576–579. 215 Siehe dazu Forsythe, Penal Discipline, S. 21; McConville, English Local Prisons, S. 149–187; Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 571–576. 216 Zeitungsausschnitt aus dem Daily Chronicle, 1. Februar 1894, TNA, PCOM 7/83-1; hier zit. nach Forsythe, Penal Discipline, S. 23. 217 William Douglas Morrison, Are Our Prisons a Failure?, in: The Fortnightly Review 60 (1894), S. 459–469. Morrison kritisierte vor allem auch die Zentralisierung der Gefängnis­ verwaltung.

166   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) is the casual offender to begin with. But the prison deteriorates him, debases him mentally and morally, reduces him to a condition of apathy, unfits and indisposes him for the tasks and duties of life; and when liberated he is infinitely more dangerous to society than when he entered it. It is not sufficiently recognised that punishment may be of a character which defeats the ends of justice.218

Die durch den öffentlichen Druck unter dem Vorsitz des liberalen Under-Secreta­ ry Herbert Gladstone einberufene Kommission nahm eine Vielzahl dieser Ein­ wände und Kritikpunkte auf und unterzog sie einer genauen Prüfung. Für die Kommission standen vier Themen im Vordergrund: die Behandlung von jugend­ lichen Delinquenten als separate Klasse; produktive Gefängnisarbeit „with special reference to the moral and physical condition of the prisoners“,219 die Behand­ lung von sogenannten Gewohnheitsverbrechern und schließlich die Verbesserung des Gefängnispersonals durch gründlichere Ausbildung und Auswahl. Auf 35 Sit­ zungen befragte die Kommission insgesamt 56 Experten. Dazu gehörten neben den Mitgliedern der Prison Commission Gefängnisgouverneure und deren Stell­ vertreter, Gefängnisaufseher und -aufseherinnen, Geistliche, Mitarbeiter der prisoners’ aid societies, Mitglieder verschiedener Reformgesellschaften, die zu diesem Zeitpunkt noch kleine Gruppe weiblicher prison visitors,220 führende Vertreter von Gewerkschaften, Leiter von industrial schools und reformatories, ehemalige Gefängnisinsassen wie der irische Nationalist Michael Davitt, der jetzt Parla­ mentsmitglied war,221 und natürlich Mediziner wie David Nicolson und einige seiner Kollegen.222 William Tallack, William Douglas Morrison und William Booth, der Gründer der Heilsarmee, dessen Buch In Darkest England and the Way Out allein im Erscheinungsjahr 1890 eine Auflage von über 200 000 Exemplaren erlebte und über die Arbeit der Salvation Army in den Slums des Londoner East Ends aufklärte, wurden als praktische Experten angehört. Die Kommission hatte keine Vertreter der englischen Rechtsprechung vorgeladen – zwei waren allerdings selbst Kommissionsmitglieder –223, sondern interessierte sich vor allem für die 218 William

Dougals Morrison, Prison Reform: Prisons and Prisoners, in: The Fortnightly Re­ view 69 (1898), S. 781–789, hier S. 782. 219 Report from the Departmental Committee on Prisons [Gladstone Report], Parliamentary Papers (1895), C. 7702, S. 1–49, hier: S. II (Einführung). 220 Siehe dazu ausführlicher Kap. 6.13. 221 Davitt, der zwischen 1870 und 1877 eine politische Haftstrafe (ebenfalls als penal servitude) verbüßte, beschrieb 1885 den Gefängnisalltag in seinen Leaves from a Prison Diary: „[A] huge punishing machine, destitute, through centralised control and responsibility of dis­ crimination, feeling or sensitiveness; and its non-success as a deterrent from crime, and complete failure in reformation effect upon the criminal character, are owing to its obvious essential tendency to deal with erring human beings – who are still men despite their crimes – in a manner which mechanically reduces them to a uniform level of disciplined brutes.“ zit. in Wiener, Reconstructing the Criminal, S. 328; zu zeitgenössischen Schilderungen eng­ lischer Gefängnisse siehe auch Philip Priestley, Victorian Prison Lives: English Prisons ­Biography 1813–1914, London 21999. 222 Vgl. Gladstone Report, S. 5–6; Memorandum on Insanity in Prisons, ebd., S. 48 f. 223 Ein Mitglied war Queen’s Counsel (QC), ein anderes magistrate (Police Court); der achtköp­ figen Kommission gehörten allein vier Parlamentsmitglieder an: Herbert John Gladstone, M.P. (Chairman); Sir Algernon Edward West, K.C.B.; Sir John Edward Dorington, Baronet,

3.8. Der Gladstone Report (1895) und die Sicherungsverwahrung   167

Meinung von Männern und Frauen, die ihre persönlichen Ansichten durch ihre Arbeit mit Strafgefangenen gewonnen hatten. Viele Reformvorschläge, die von ­ihnen formuliert wurden, fanden Eingang in die Empfehlungen der Kommission, die schließlich die Grundlage für den Prison Act von 1898 und den Prevention of Crime Act von 1908 bildeten.224 Der Prison Act führte, neben einigen Regelungen, die die Gefängnisverwaltungen vereinfachen und vereinheitlichen sollten, die Klassifikation der Inhaftierten entsprechend ihrer kriminellen Vorgeschichte und der Schwere ihrer Straftaten in drei verschiedene Stufen ein, womit unterschied­ liche Behandlungs- und Therapiemethoden verbunden werden sollten. Darüber hinaus sah das Gesetz die Einführung produktiver Arbeit in den Gefängnissen, die Einrichtung von Bibliotheken und eine bessere Ausbildung und Auswahl des Gefängnispersonals vor.225 Der Prevention of Crime Act setzte zwei weitere Emp­ fehlungen der Gladstone–Kommission um. Die erste betraf die Unterbringung von jugendlichen Straftätern in sogenannten borstals, neuartige englische Jugend­ strafanstalten ohne Vorbild in Europa oder den USA, mit Möglichkeiten zur Be­ rufsausbildung. Die zweite führte die sogenannte Sicherungsverwahrung (preventive detention) für Gewohnheitsverbrecher und professionelle Kriminelle ein, die nach ihrer regulären Haftstrafe auf unbestimmte Dauer noch eine Haft zur Bes­ serung mit weniger strengen Auflagen durchlaufen sollten. Preventive detention wurde als langfristiges Umerziehungsprogramm konzipiert, blieb aber immer ein umstrittenes Projekt. Insbesondere für Gefängnismediziner bzw. -psychiater war der Gladstone Report ein überaus positiver Bericht, denn in ihm war viel von ‚Reformierung‘ die Rede und von einer besseren Betreuung und therapeutischen Behandlung der Strafgefangenen. Angesichts der zivilgesellschaftlich organisierten und öffentlich formulierten Anklage, das Gefängnis mache krank und verrohe die Insassen, war es nur konsequent, dass die Kommission den Ausbau der medizinischen Versor­ gung in den Gefängnissen und eine Erweiterung der Kompetenzen der medizini­ schen Belegschaft empfahl.226 Umgekehrt mussten die Gefängnisärzte aber auch signalisieren, dass sie diesen therapeutischen Ansatz für durchführbar und erfolg­ versprechend hielten, was sie, wie bereits gezeigt wurde, mehrheitlich auch taten.

M.P.; John Henry Bridges, Esq., M.B., F.R.C.P.; Richard Burdon Haldane, Esq., Q.C., M.P.; Arthur O’Connor, Esq., M.P.; Albert de Rutzen, Esq., one of the Magistrates of the Police Courts of the Metropolis; Miss Eliza Orme; Gladstone Report (1985), S. 1. 224 Zu den im Folgenden aufgeführten Gesetzen siehe Radzinowisz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 581 f., S. 386 f.; Garland, Punishment and Welfare, S. 265–267; auch in ande­ ren Ländern gab es ähnliche Gesetzesinitiativen und Verabschiedungen, z. B. in Frankreich, vgl. Martine Kaluszynski, Das Bild des Verbrechers in Frankreich am Ende des 19. Jahrhun­ derts, in: Kriminologisches Journal 26 (1994), S. 13–35. 225 Der Bericht versäumte es allerdings, sich für eine Verbesserung der Personalgehälter einzu­ setzen. 226 Dazu gehörte auch, dass per Gesetz der auf fünf Mitglieder beschränkten Prison Commis­ sion nun immer mindestens ein Mediziner angehören sollte, Gladstone Report, S. 46 (§ 24); Forsythe, Penal Discipline, S. 153; später waren die meisten Medical Prison Commissioners zuvor als Inspectors of Prisons tätig gewesen.

168   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) David Nicolson erklärte jedenfalls der Kommission, die große Mehrheit der Straf­ täter sei gesund und könne als verantwortlich gelten.227 Auch wies er mit Nach­ druck die Behauptung zurück, „that the majority of crimes are connected with insanity“.228 Nur wenn Krankheit von Kriminalität getrennt wurde und folglich Verantwortlichkeit und mentale Gesundheit den meisten Straftätern zugespro­ chen werden konnten, war nicht nur eine angemessene Bestrafung möglich, son­ dern auch die Möglichkeit zur Reformierung und damit die Aufwertung der psy­ chiatrischen Profession gegeben. Es ist mit Recht eingewendet worden, dass der Bericht wenig Auswirkung auf die tatsächliche Strafpraxis des Gefängnisalltags hatte. Disziplin und Aufrechter­ haltung der Ordnung besaßen trotz der humanitären Rhetorik auch weiterhin oberste Priorität in den Gefängnissen.229 Vor diesem Hintergrund verebbte die Kritik der Gefängnisreformer im Grunde nie ganz, sondern wurde sofort wieder belebt, sobald sich öffentlichkeitswirksam die politische Gelegenheit dazu bot. Dennoch wurde der grundsätzlich optimistische Ton des Gladstone Berichts, dem der Ton der Psychiater ähnelte, auch von medizinischen Fachzeitschriften wie The Lancet gutgeheißen. Dieser Optimismus schaffe Platz „to the new principle of ref­ ormation; encouragement is held out to those who have casually strayed from the path of rectitude, and the better instincts of the wrongdoer are appealed to in the hope of speed amendment.“230 Bezog sich die Reformidee aber nur, wie der Lancet suggerierte, auf die leichten, lernfähigen Fälle der Gelegenheitsverbrecher? Das blieb zunächst die Frage. Gegenüber den neuen psychiatrischen und kriminalan­ thropologischen Theorien schlug die Kommission einen pragmatischen Kurs ein: Crime, its causes and treatment, has been the subject of much profound and scientific inquiry. Many of the problems it presents are practically at the present time insoluble. It may be true that some criminals are irreclaimable, just as some diseases are incurable, and in such cases it is not unreasonable to acquiesce in the theory that criminality is a disease, and the result of physi­ cal imperfection. But criminal anthropology as a science is in an embryo stage, and while scien­ tific and more particularly medical observation and experience are of the most essential value in guiding opinion on the whole subject, it would be a loss of time to search a perfect system in learned but conflicting theories, when so much can be done by the recognition of the plain fact that the great majority of prisoners are ordinary men and women amenable, more or less, to all those influences which affect persons outside.231

Ähnlich wie die Psychiater hielt die Kommission bewusst Distanz zu den neueren kriminalanthropologischen Ansätzen, die Kriminalität und Krankheit zusam­ mendachten.232 Zwar wurde durch den Hinweis auf die Nützlichkeit und Not­ wendigkeit klinischer Beobachtung die Arbeit der Gefängnisärzte aufgewertet, 227 Gladstone

Report, Minutes of Evidence, S. 312. Report, Memorandum of Insanity in Prisons. S. 49. 229 Vgl. dazu Peter Young, Sociology, the State and Penal Relations, in: David Garland und Peter Young (Hrsg.), The Power to Punish. Contemporary Penality and Social Analysis, ­London 1983 [Reprint Aldershot 1989], S. 97. 230 The Lancet, 19. März 1898, S. 799; hier zit. nach Sim, Medical Power, S. 62. 231 Gladstone Report, S. 12. 232 Zu dieser Auffassung kommen auch Philip Rawlings, Crime and Power: A History of Crim­ inal Justice, 1688–1998, London 1999, S. 108; Wiener, Reconstructing the Criminal, S. 346. 228 Gladstone

3.8. Der Gladstone Report (1895) und die Sicherungsverwahrung   169

grundsätzlich aber wehrte sich die Kommission gegen eine Pathologisierung von Kriminalität durch ihre bewusste Betonung des „plain fact that the great majority of prisoners are ordinary men and women.“233

Der Gewohnheitsverbrecher Die Kommission beharrte also darauf, dass es keinen konstitutionellen Unter­ schied zwischen kriminellen und ‚normalen‘ Bürgern gab. Trotzdem empfahl sie in ihrem Bericht die Sicherungsverwahrung für Gewohnheitsverbrecher (habitual, professional criminals). Nach eigenem Bekunden stand die Kommission hier vor ihrer schwierigsten Aufgabe gestellt: „In proportion to the spread of education, the increase of wealth, and the extension of social advantages, the retention of a compact mass of habitual criminals in our midst is a growing stain on our civili­ sation. […] Recidivism is the most important of all prison questions, and it is the most complicated and difficult.“234 Warum aber war der Gewohnheitsverbrecher plötzlich ins Zentrum der straf­ rechtlichen, gefängniskundlichen und polizeilichen Debatten in ganz Europa ­gerückt? Dafür gab es eine Reihe von Gründen: Zunächst einmal hatten die poli­ tischen und sozialen Unruhen der 1880er Jahre besonders die Mittel- und Ober­ schichten in den Städten verunsichert und ihr Vertrauen in die eigene Recht­ sprechung, die sie als zu milde betrachteten, und ein Gefängnissystem, das weder abschreckend wirkte noch effizient reformierte, erschüttert. In ihren Augen ver­ körperte der Wiederholungstäter wie kein zweiter das Versagen der staatlichen Behörden und Institutionen.235 Gerade die Definitionen, die zur Bestimmung des Gewohnheitsverbrechers bemüht wurden, demonstrierten dann aber, wie sehr die dabei in Anspruch genommenen Erkennungsmethoden den Gegenstand selbst erst schufen. Im akademisch bestimmten deutschen Strafrechtsdikurs machte der Strafrechtler Franz von Liszt vom theoretisch entwickelten Konstrukt des Ge­ wohnheitsverbrechers als einer die bürgerliche Ordnung bedrohenden Schre­ ckensfigur Gebrauch.236 In England ging die Unterscheidung zwischen Gewohn­ heits- und Gelegenheitsverbrecher auf die empirischen Untersuchungen Henry Mayhews zurück.237 Dieser hatte in den 1850er Jahren eine am Begriff der Arbeit und des Arbeitsverhältnisses orientierte systematische Unterscheidung vorge­ nommen zwischen dem professional criminal, der eine habituelle Indisposition zur Arbeit aufwies und kriminelle Unternehmungen als reguläres Mittel zum Er­ werb seines Lebensunterhaltes einsetzte, und dem casual offender, der aus Zufall 233 Gladstone

Report, S. 12. Report, S. 5. 235 Zum Folgenden Freitag, A Perverse Determination, S. 219–245. 236 Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, bes. S. 163–174; ders., Das gewerbsmäßige Verbre­ chen. Vortrag, gehalten in der juristischen Gesellschaft zu Berlin am 13. Oktober 1900, in: ders., Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, 2 Bde, Berlin 1905 [Reprint 1970], bes. S. 308– 310. 237 Siehe Kap. 2.4. 234 Gladstone

170   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) und gegenwärtigem Druck der Umstände zu kriminellen Handlungen verleitet wurde.238 Weitere Sub-Unterscheidungen Mayhews orientierten sich an den Klas­ sifikationsmerkmalen der Polizei nach dem jeweiligen modus operandi der Ver­ brechergruppen.239 Die Polizeikräfte – in London ebenso wie in Berlin, Paris oder Brüssel – favorisierten die Gleichsetzung von Gewohnheitskriminalität mit pro­ fessioneller oder Berufskriminalität schon deshalb, um die Expansion ihrer eige­ nen Institutionen rechtfertigen zu können.240 Indem sie die Techniken und Ei­ genschaften bestimmter Gauner- oder Verbrechertypen genau beschrieben, sug­ gerierten sie der Öffentlichkeit, den Feind nicht nur aus eigener Erfahrung gründlich zu kennen, sondern durch ihre Expertise auch das Problem bereits im Griff zu haben. Dem Bild des Polizisten als Experten entsprach dabei das Bild des Verbrechers als Experten. So wusste Robert Anderson, ehemaliger Chef des Crim­ inal Investigation Department von Scotland Yard, 1903 genau, wonach er suchte: einen Täter, „who commits crimes, not under the influence of passion or poverty, or sudden temptation, but deliberately and of set purpose, and in the course of the regular business of their lives“.241 Die Existenz dieser Klasse von Kriminellen zu beweisen, betrachtete Anderson als nicht notwendig, da sie so einfach zu unter­scheiden sei.242 Gewohnheitsverbrecher seien nicht aufgrund ihrer zahlen­ mäßigen Stärke eine Gefahr – tatsächlich hielt er sie für eine kleine Gruppe –, sondern weil fast ausnahmslos alle Eigentumsdelikte auf ihr Konto gingen. Ge­ länge es, diese Gruppe langfristig aus dem Verkehr zu ziehen, dann würden die Kriminalitätsraten drastisch sinken. Von diesen polizeilichen Diskursen über Gewohnheitsverbrecher war der wis­ senschaftliche bzw. medizinisch-psychiatrische, wie oben ausgeführt, deutlich un­ terschieden, denn er ging von anderen Prämissen aus. Ursprünglich auf der Suche nach körperlichen Stigmata, die Kriminelle von Nicht-Kriminellen unterschie­ den, verlagerte sich das Interesse der Psychiatrie, auch von internen Sach- und Organisationszwängen bestimmt, immer stärker auf die mentale Beschaffenheit von Kriminellen. Ins Visier geriet die Gruppe der weak-minded criminals, die auf­ grund ihrer psychischen Konstitution und einer oft fehlenden Intelligenz solchen 238 Zur

Unterscheidung von casual und professional criminal siehe Mayhew, London Labour, Bd. 4, S. 28–35. 239 Vgl. Davie, Tracing the Criminal, S. 43. 240 Der Gewohnheitsverbrecher wurde vor allem als ein urbanes Phänomen betrachtet. Mit dem Ausbau der autonomen Kriminalpolizei nach 1871 in Deutschland und der Expansion des Criminal Investigation Department von Scotland Yard in London sollte der öffentlichen Forderung nach Ordnung und Kontrolle besonders des gehobenen Bürgertums in den Städ­ ten nachgekommen werden; zur Rekonstruktion des Gewohnheitsverbrechers und der Ex­ pansion eines kostspieligen Polizeiapparates siehe Emsley, Policing and Its Context, S. 162; ders., Crime, Police, & Penal Policy; Jäger, Verfolgung durch Verwaltung, wobei der interna­ tional agierende Berufsverbrecher dem Schema des nationalen professionellen Verbrechers entsprach; Becker, Vom Haltlosen zur Bestie, S. 112 f.; Patrick Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher, Hamburg 1996, S. 19–21, S. 138 f. 241 Robert Anderson, The Crusade against Professional Criminals“, in: The Nineteenth Centu­ ry and After 53 (1903), S. 496–508, hier S. 501, Hervorhebung S.F. 242 Anderson, Professional Criminals, S. 503.

3.8. Der Gladstone Report (1895) und die Sicherungsverwahrung   171

Nachteilen auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt waren, dass sie fast immer zwangs­ läufig in ein kriminelles Leben abgedrängt wurden. Eine weitere Möglichkeit der ‚Konstruktion‘ des Gewohnheitsverbrechers ergab sich aus der verbesserten Zusammenarbeit zwischen Polizei-, Justiz- und Gefäng­ nisverwaltung. Durch den Einsatz neuer Identifizierungsmethoden243 gelang ihr eine bessere Registrierung und Zuordnung von Straftaten zu Tätern. Während die Kriminalitätsraten zwischen 1850 und 1914 in England und Wales konstant fielen – Diebstahl sank um 35%, gewöhnliche Körperverletzung um 71% und Mord um 42%244 –, und die Justiz-Statistik zwischen 1883 bis 1893 eine deutliche Abnahme der jährlichen Gefängnispopulation in England und Wales um 33% verzeichnete,245 wurde innerhalb der verbleibenden Straftäterpopulation ein deutlicher Anstieg an Wiederholungstätern ausgemacht. Bis zum Ersten Weltkrieg wurden 60 bis 75% aller verurteilten Straftäter als Wiederholungstäter einge­ stuft.246 Während zwei der in England zwischen 1907 und 1908 verabschiedeten Ge­ setze (Probation of Offenders Act und Children’s Act) als eine Liberalisierung der Rechtsprechung und des Strafvollzugs interpretiert werden konnten, weil sie Al­ ternativen zum Freiheitsentzug ermöglichten (z. B. Einführung von Geldstrafen), bedeutete die Verabschiedung der Sicherungsverwahrung (preventive detention) für Gewohnheitsverbrecher im Prevention of Crime Act von 1908 das genaue Ge­ genteil. Die Verabschiedung des Gesetzes geschah nicht aufgrund des internatio­ nalen Drucks. Im Gegenteil, Kommission und englische Gesetzgebung reagierten völlig autonom und zeitlich weitaus früher als alle anderen europäischen Staaten, die im Zuge ihrer großen Strafrechtsreformbemühungen auch über die Einfüh­ rung der Sicherungsverwahrung nachdachten.247 Da jedes Justiz- und Strafsystem nach nationalen ‚Temperamenten‘ und Anforderungen eingerichtet werden müs­

243 Zu

den Identifizierungsmethoden (Daktyloskopie, anthropometrische Messungen) siehe ausführlicher Kap. 4.2. und 4.3. mit Literaturangaben. 244 Dies ging vor allem auf eine veränderte Rechtslage zurück, siehe Gladstone Report, S. 4, mit den Daten des Innenministeriums für die Jahre 1893–94; Victor A.C. Gattrell, Crime, Authority and the Policeman State, in: F.M.L. Thomson (Hrsg.), The Cambridge Social His­ tory of Britain, 1750–1950, 3 Bde, Cambridge 1990, Bd. 3: Social Agencies and Institutions, S. 243–310, hier S. 290–292; Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 113–123. 245 Siehe dazu Wiener, Reconstructing the Criminal, S. 342; in den lokalen Gefängnissen fiel die durchschnittliche Zahl der Gefängnispopulation am Tag zwischen 1880 und 1895 von 18 000 auf 13 500; eine ähnliche Abnahme ließ sich auch in den convict prisons zwischen 1878 und 1894 beobachten: von 10 000 auf durchschnittlich 4000 Gefängnisinsassen pro Tag, vgl. dazu Forsythe, Penal Discipline, S. 19. 246 Ab 1893 führten die neuen, überarbeiteten Justizstatistiken zum ersten Mal vorausgegange­ ne Verurteilungen gegen die absoluten Zahlen aller Verurteilungen auf, siehe Clive Emsley, Crime and Society in England, S. 21–23; Victor A.C. Gatrell und T.B. Hadden, Criminal Statistics and their Interpretation, in: E.A. Wrigley (Hrsg.), Nineteenth-Century Society: ­Essays in the Use of Quantitative Methods for the Study of Social Data, Cambridge 1972, S. 332–396; Gladstone Report, S. 9. 247 Zu Englands Vorreiterrolle siehe Freitag, A Perverse Determination, S. 229 f.; u. a. die Schweiz, Schweden und Deutschland arbeiteten an einer Strafrechtsreform.

172   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) se, so hatte die Gladstone Kommission erklärt, hätte sie es selbst vorgezogen, sich an den heimischen Erfahrungen und Bedürfnissen zu orientieren.248 In der historischen Forschung ist später immer wieder behauptet worden, es sei dieses Gesetz gewesen, das neben dem Mental Deficiency Act von 1913 am deut­ lichsten den enormen Einfluss der kriminalanthropologischen bzw. medizini­ schen Diskussionen habe erkennen lasse.249 Ob diese Behauptung allerdings zu­ trifft, soll im Folgenden anhand des Entstehungskontextes des Gesetzes und der politischen Debatten darüber überprüft werde. Dadurch lässt sich zugleich für dieses Kapitel ermitteln, welche Rolle den medizinisch-psychiatrischen Diskursen im Gesamtkontext staatlicher Strafrechtspolitik um 1900 tatsächlich zukam.

Sicherungsverwahrung Das Gladstone Komitee hatte sich nicht auf eine genaue und präzise Bestimmung des Begriffs Gewohnheitsverbrecher eingelassen und deshalb auch keine Defini­ tion seinem Bericht vorangestellt.250 Es gebrauchte den Begriff ohne allzu große subtile Differenzierung und kombinierte die aus der Erfahrung gewonnenen Be­ schreibungen von Gefängnisverwaltern und -angestellten mit den statistischen Ausführungen des Innenministeriums. Der Gewohnheitsverbrecher, so hieß es im Bericht, bereite der Gefängnisverwaltung in der Regel keine großen Schwierigkei­ ten, denn er gehöre nicht zu der aggressiven, gewalttätigen oder unberechenbaren Klasse von Insassen. Sein Problem bestehe eher darin, dass das Gefängnis offen­ sichtlich keine abschreckende Wirkung auf ihn ausübe, denn nach dem Verbüßen der Strafe nehme er rasch sein altes kriminelles Leben wieder auf.251 Von geistiger Minderwertigkeit, dem geborenen Kriminellen oder vom ‚Unverbesserlichen‘ war hier nicht die Rede. Die Kommission beschwor stattdessen das Bild eines bewusst seine kriminelle Kariere wählenden, professionellen Straftäters, obgleich sie die Existenz einer von ihr als klein eingestuften Gruppe von geistig oder körperlich defizitären Straftätern nicht in Abrede stellte. Als hoffnungslos erschienen die we­ nigsten von ihnen: „There are but few prisoners, other than those who are in a hopeless state through physical or mental deficiencies, who are irreclaimable. Even in the case of habitual criminals there appears to come a time when repeat­ ed imprisonments or the gradual awakening of better feelings wean them away from habitual crime.“252

248 „[O]ur

own experience at home must […] guide us“, Gladstone Report, S. 12. argumentieren Bailey, English Prisons, S. 302–305; Davie, Tracing the Criminal, S. 202– 209; Pick, Faces of Degeneration, S. 184. Wiener, Reconstructing the Criminal, S. 300, Pick, Faces of Degeneration, S. 182, und Gatrell, Crime, Authority, S. 306–310, sind sogar der Ansicht, dass die sinkenden Kriminalitätsraten die Diskussionen über den Gewohnheitsver­ brecher als eines verbleibenden ‚hard core‘-Problems erst richtig in Gang gesetzt hätten; zum Metal Deficiency Act siehe Anm. 120 in diesem Kapitel. 250 Gladstone Report, S. 31. 251 Ebd. 252 Ebd., S. 13. 249 So

3.8. Der Gladstone Report (1895) und die Sicherungsverwahrung   173

Neben diesen allgemeinen Festlegungen nahm die Kommission zusätzliche An­ leihen an rein numerische Bestimmungen, nämlich nur an den Zahlen der regis­ trierten und abgeurteilten Straftaten. Nach den Aussagen von Edward Troup, Per­ manent Under-Secretary des Innenministeriums, war spätestens nach der vierten Verurteilung klar, dass hier jemand Kriminalität zur Profession gemacht habe und früher oder später wieder ins Gefängnis zurückkehren würde.253 Troup erläuterte, dass über 50 Prozent der Insassen in den Gefängnissen von England und Wales bereits ihre zweite oder dritte Strafe verbüßten. Man konnte davon ausgehen, dass weitere unentdeckte und nicht abgeurteilte Strataten auf ihr Konto gingen. Da es der Kommission angesichts der sich summierenden Straftaten sinnlos erschien, nur jeweils die einzelne Straftat mit einem geringen Strafmaß abzuurteilen, sollte nach ihrer Vorstellung nun der Wiederholungscharakter deutlicher im Strafmaß berücksichtigt werden. Das eigentlich Strafwürdige waren dabei nicht die vielen kleinen Wiederholungstaten. Das wirkliche Verbrechen, so erklärte das Gremium, bestehe in „the wilful persistence in the deliberately acquired habit of crime.“254 Der Kommissionsbericht sah die Schaffung einer speziellen ‚kumulativen‘ Strafe für Gewohnheitsverbrecher vor, die in einer langfristigen Separierung unter mo­ derateren Bedingungen als die einer gewöhnlichen Gefängnisstrafe bestehen soll­ te. Der zusätzliche Freiheitsentzug, so wurde angenommen, stelle für die Kom­ mune einen Gewinn dar, da die Möglichkeit des Rückfalls erst einmal beseitigt werde.255 Zugleich sollte er Abschreckungswirkung haben, die die vielen kleinen Verurteilungen nicht besaßen. Das Gesetz zur Sicherungsverwahrung, das schließ­ lich 1908 verabschiedet wurde, war am Ende ein Kompromiss aus den zwischen 1895 und 1908 geführten Debatten zwischen Innenministerium, Prison Commis­ sion und Parlament auf der Basis des hauptsächlich von Ruggles-Brise entworfe­ nen Gesetzentwurfes.256 Es sah die Schaffung eines sogenannten dual track system vor, einer Kombination aus normaler Haftstrafe und anschließender Präventiv­ verwahrung mit weniger strengen Auflagen. So wenig wie sich das Gladstone ­Komitee auf die medizinisch-psychiatrische Diskussion über den weak-minded criminal eingelassen hatte, so wenig war von ihm auch in den politischen Diskus­ sionen über das neue Gesetz zu finden. Herbert Gladstone, inzwischen britischer Innenminister, erläuterte 1908 dem Parlament, für wen genau dieses Gesetz ge­ schaffen werden solle. Um den Entwurf durchs Parlament zu bringen, musste er dabei die Verantwortlichkeit und Autonomie des Gewohnheitsverbrechers beto­ nen. Das Gesetz sei gerade nicht für die „habituals“ gedacht, „who drop into crime from their surroundings or physical disability, or mental deficiency“, sondern für die „professionals“, die eine „active intention to plunder their fellow creatures“ kennzeichnete: „The professionals were the men with an object, sound in mind – 253 Ebd.,

S. 31. S. 31. 255 Ebd., S. 31–34 (§§ 85–86 Habitual Criminals. Indeterminate Prisons), hier S. 31; siehe auch die allgemeinen Empfehlungen S. 45–47, hier S. 45. 256 Ausführlich zu der Debatte siehe Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 268–278. 254 Ebd.,

174   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) so far as a criminal could be sound in mind – and in body, competent, often highly skilled, and who deliberately, with their eyes open, preferred a life of crime and knew all the tricks and turns and manoeuvres necessary for that life. It was with that class that the Bill would deal.“257 Weak-mindedness stand also auch hier nicht zur Diskussion, sie durfte gerade nicht den Anlass bilden, um eine Siche­ rungsverwahrung anzuordnen. Ein Rechtssystem, das auf der individuellen Schuld und Verantwortlichkeit des Einzelnen beruhte, konnte nicht plötzlich diese, die Verantwortung des Einzelnen möglicherweise einschränkenden Eigenschaften wie physical disability oder mental deficiency zur Grundlage eines Gesetzes machen, dessen Angemessenheit und Notwendigkeit ohnehin umstritten war. Auch Rugg­ les-Brise, von dem der ausgearbeitete Entwurf stammte, musste immer wieder betonen, dass die Sicherungsverwahrung tatsächlich nur für die ‚schlimmsten und hartnäckigsten Kriminellen‘258 gedacht sei und sie nur eine ‚Verteidigungswaffe‘ darstelle, „to be used only where there is a danger to the community from a professed doer of anti-social acts being at large, and reverting cynically on discharge from prison to a repetition of predatory action or violent conduct.“259 Um die berechtigten Bedenken auszuräumen, Sicherungsverwahrung solle dafür geschaf­ fen werden, unliebsame und renitente Fälle auf Dauer unschädlich zu machen, musste Ruggles-Brise immer wieder, wie auf dem Internationalen Gefängniskon­ gress in Brüssel, betonen, dass das dual track system nicht die Unverbesserlichkeit (incorrigibility) des Straftäters postuliere.260 Die Kategorie der Unverbesserlich­ keit wurde in den institutionellen Diskussionen in England nicht zugelassen, möglicherweise auch, weil Ruggles-Brise um die Unwilligkeit heimischer Refor­ mer wusste, die Idee der Reformierung von Straftätern preis zu geben.261 Während konservative Parlamentsmitglieder den Entwurf mit kleineren Vor­ behalten unterstützten, kritisierten radikale und links-liberale Parlamentsmitglie­ der das Konzept heftig, weil es die Entlassung des Straftäters von einer angeblich geglückten Rehabilitierung abhängig mache. Skeptisch zeigten sie sich gegenüber einer Maßnahme, die zu massiv in die verbürgten Freiheiten und Rechte von In­ dividuen eingriff, die als geistig gesund (sound in mind) angesehen wurden. Auch zeigten sie sich darüber beunruhigt, dass eine große Zahl harmloser Kleinkrimi­ 257 Lord

Gladstone to the House of Commons, 12. Juni 1908, hier zit. nach dem Memorandum by the Secretary of State for the Home Department, prefixed to a draft of Rules prescribing conditions in preventive detention, laid before Parliament on the 17th February, 1911, als Anhang 4 in Report of the Departmental Committee on Persistent Offenders, Parlia­ mentary Papers (1932), Cmd. 4090, S. 78–81, hier S. 80–81; vgl. auch Ruggles-Brise, English Prison System, S. 52. 258 Vgl. Ruggles-Brise, Prison System, S. XVIII. 259 Ruggles-Brise, Prison System, S. 58, Hervorhebung S.F. 260 Evelyn Ruggles-Brise, Paper submitted to the Brussels Congress (1900), TNA, HO 45/10027/ A56902; zum Kongress in Brüssel siehe Ruggles-Brise, Prison Reform, S. 89–91. 261 Englands alte philantropische Tradition, so hat Ruggles-Brise später selbst die Abneigung gegen die Sicherungsverwahrung zu erklären versucht, habe an dem Gefühl festgehalten, „that no man is so hopelessly incorrigible but that, by exercising a strong and healthy influ­ ence, he could be redeemed from crime“ (Ruggles-Brise, Prison Reform, S. 68).

3.8. Der Gladstone Report (1895) und die Sicherungsverwahrung   175

neller von diesem System ‚geschluckt‘ werden könnten. Die ­Sicherungsverwahrung erschien ihnen ‚monströs‘, da sie eine schreckliche Strafe für diejenigen bedeute, die Opfer unglücklicher Umstände seien. In ihnen werde dadurch nur das Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung erzeugt.262 Auch in den Parlaments­ debatten war also nicht von weak-minded criminals die Rede, sondern bestenfalls von Opfern äußerer Umstände und von einer Strafe, die eine Reintegration ent­ gegen anders lautender Behauptungen geradewegs verhinderte. Selbst Winston Churchill, der 1910 kurzzeitig das Innenministerium leitete, verlangte nach der Verabschiedung des Gesetzes Garantien dafür, dass die Sicherungsverwahrung nicht für solche Personen angeordnet werde, „who are a nuisance rather than a danger to society, or to the much larger class of those who are partly vagrants, partly criminals, or who are, to a large extent, mentally deficient.“263 Churchill, der auf eigene Gefängniserfahrungen als Kriegsgefangener zurückblicken konnte, lehnte Sicherungsverwahrung zwar nicht prinzipiell ab, wollte ihre Anwendung aber auf gefährliche und brutale Kriminelle beschränkt wissen, deren Neigung zu Raubzügen und Gewaltausbrüchen eine Gefahr für und einen Affront gegen die zivilisierte Gesellschaft darstelle.264 Am Ende verabschiedete das Parlament zwar das Gesetz, doch die von Ruggles-Brise als therapeutisch so wertvoll eingeschätzte ‚Unbestimmtheit‘ wurde durch eine fixierte Zeitbegrenzung von 5 bis maximal 10 Jahre ersetzt. Das Gesetz besagte schließlich, dass das Gericht eine Person, die seit dem Erreichen ihres 16. Lebensjahrs drei Vorstrafen für schwerere Verstöße auf­ weise und dann erneut gefasst werde, zum Schutz der Gesellschaft als Gewohn­ heitsverbrecher einstufen und Sicherungsverwahrung anordnen dürfe.265 Von Anfang an bereitete die Umsetzung des Gesetzes große Schwierigkeiten, denn es herrschte Unsicherheit darüber, wer nach den dünnen Bestimmungen des Gesetzes als Gewohnheitsverbrecher gelten sollte.266 Die Polizeikräfte präsen­ tierten dem Director of Public Prosecution oft die falschen Fälle oder versäumten es, ihm die richtigen vorzuführen. Bereits 1911 sah sich das Innenministerium deshalb gezwungen, weitere Instruktionen und Richtlinien zur Bestimmung des Gewohnheitsverbrechers an die einzelnen Polizeistellen auszugeben. Die Nach­ besserungen bestimmten, dass der in Betracht kommende Gewohnheitsverbre­ cher mindestens dreifach verurteilt und über 30 Jahre alt sein musste. Unter die­ 262 Vgl. Forsythe, Penal Discipline, S. 84. 263 Winston Churchill, hier zit. nach Ruggles-Brise,

Prison System, S. 57; zu Churchills skepti­ scher Haltung dem Gesetzentwurf gegenüber siehe auch Forsythe, Penal Discipline, S. 87– 89. 264 Churchill, hier zit. nach Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 285.; vgl. auch Davie, Tracing the Criminal, S. 209 f. 265 Prevention of Crime Act (1908), Part II, Section 13 (2), abgedruckt in Report Persistent Offender, S. 13 f. 266 Laut Innenministerium entpuppte es sich als „a matter of much difficulty to secure [its, S.F.] uniform action“; vgl. das Memorandum by the Secretary of State for the Home Department, prefixed to a Draft of Rules prescribing Conditions in Preventive Detention. laid before ­Parliament on the 17th February, 1911, als Anhang 4 abgedruckt in Report Persistent ­Offender, S. 78–81, hier S. 80.

176   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) sem Alter, so erläuterte das Innenministerium, könne der Fall kaum als so hoff­ nungslos betrachtet werden, dass sich eine Sicherungsverwahrung rechtfertigen ließe. Darüber hinaus musste der Straftäter mindestens einmal zu einer penal servitude verurteilt worden sein. „Unless penal servitude has been tried and failed“, hieß es dazu im Schreiben des Home Office, „it will generally be wrong to pro­ pose the prolonged punishment of penal servitude plus Preventive Detention“. Und zu guter Letzt musste es sich auch bei der neuen Straftat um eine substan­ tielle und schwere Straftat handeln.267 Doch trotz dieser Nachbesserungen des Innenministeriums wurde aus der Si­ cherungsverwahrung keine Erfolgsgeschichte, weil das Konzept in mehrfacher Hinsicht problematisch war.268 Die vage Definition des Gewohnheitsverbrechers veranlasste die meisten Richter dazu, von diesem Gesetz erst gar keinen Gebrauch zu machen. Sie zeigten eine große Abneigung, für einen Straftäter die Sicherungs­ verwahrung anzuordnen, nur weil dieser über 30 Jahre alt und mehrfach wegen kleinerer Delikte vorbestraft war. In zwanzig Jahren, zwischen 1909 und 1929, wurde nur für 577 Männer Sicherungsverwahrung in Camp Hill auf der Isle of Wight angeordnet, einem eigens für diesen Zweck neu errichteten Modellgefäng­ nis.269 Nur 11 Frauen machten im gleichen Zeitraum Erfahrung mit der Siche­ rungsverwahrung, nach 1921 war keine einzige mehr in Präventivhaft.270 Anfang der 1930er Jahre sanken die Zahlen weiter: Nur noch bei 40 Personen im Jahr kam das Gesetz zur Anwendung,271 so dass 1933 Camp Hill – ganz im Sinne einer wachsenden Therapiefreudigkeit, von der in dieser Arbeit noch die Rede sein wird – in eine Jugendstrafanstalt (borstal) umgerüstet wurde, und die verbliebenen er­ wachsenen Straftäter auf andere Gefängnisse verteilt wurden. Das Gesetz selbst überlebte zwar den Zweiten Weltkrieg, wurde dann aber ohne großes Aufheben 1967 abgeschafft.272 Zur Abneigung der Richter, von der Sicherungsverwahrung Gebrauch zu ma­ chen, kam ein weiteres zentrales Problem hinzu: der Mangel eines umfassenden und glaubwürdigen Konzeptes von reformation. Worin genau sollte eigentlich der Unterschied zwischen einer Gefängnisstrafe und einer Sicherungsverwahrung be­ stehen? Welche Erfolge ließen sich von einem weniger rigiden System erwarten? Zur Beantwortung dieser Fragen lagen keinerlei verlässliche Informationen vor. Das Einzige, was die Befürworter der Sicherungsverwahrung immer wieder an­ führten, war, dass Rehabilitierung (reformation) nicht die Sache eines Tages sei 267 Alle

Zitate siehe Copy of Circular Letter, dated 21st June 1911, issued by the Home Office to Police Authorities, Home Office, Whitehall, gez. Edward Troup, abgedruckt als Anhang 5 in Report Persistent Offender, S. 81 f., hier S. 82. 268 Siehe Forsythe, Penal Discipline, S. 78. 269 Eine Beschreibung von Camp Hill aus deutscher Sicht ist Hans von Hentig, Ein Besuch in Camp Hill, der englischen Verwahrungsanstalt für gewohnheitsmäßige Verbrecher, in: Revue Pénale Suisse 26 (1913), S. 403–412. 270 Die Zahlen für die Jahre 1909 bis 1930 sind abgedruckt im Report oft he Departmental Committee on Persistent Offenders, Parliamentary Papers (1932), Cmd. 4090, S. 77. 271 Vgl. ebd., S. 13. 272 Siehe dazu Forsythe, Penal Discipline, S. 90.

3.8. Der Gladstone Report (1895) und die Sicherungsverwahrung   177

und deshalb ein längerer ‚Gewahrsamszeitraum‘ angesetzt werden müsse. Ob Wiederholungstäter aber tatsächlich ‚geheilt‘ waren, konnte sich ohnehin nur in Freiheit beweisen und nicht im künstlichen Raum der Gefängnisanstalt, die gutes Benehmen mit kleinen Vergünstigungen und der Aussicht auf eine vorzeitige Ent­ lassung belohnte. Ruggles-Brise, auf den die Ausarbeitung des Gesetzentwurfes zurückging, war sich dieser Schwierigkeiten früh bewusst und hatte deshalb be­ reits 1904 bei 13 Gefängnisgouverneuren angefragt, welche Zeitspanne sie für die Reformierung von Gewohnheitsverbrechern ansetzen würden. Die Antworten der Gefängnisverwalter fielen so unterschiedlich und zum Teil so komplex aus, dass der Prison Commissioner am Ende zugegeben musste, dass sich aus ihrer Exper­ tise keine allgemeine Regel ableiten lasse: „The infinite variety of character makes it impossible to generalize“, hieß es dazu in seinem Memorandum an das Innen­ ministerium, wobei Ruggles-Brise glaubte, diese Einsicht werde die Notwendig­ keit der Unbestimmtheit der Sicherungsverwahrung legitimieren helfen.273 Zur Diskussion darüber, wie die als Therapieform deklarierte Sicherungsver­ wahrung eigentlich funktionieren sollte, hatten auch Wissenschaftler bislang kei­ ne Erkenntnisse beigesteuert. Selbst die Wissenschaft, schrieb H.B. Simpson vom Home Office in der populären Contemporary Review, habe darin versagt, eine Be­ handlungsform zu entdecken, die mit Sicherheit ihren Zweck erfüllen würde.274 Wenn das Gladstone-Komitee auf die „deliberately acquired habit of crime“275 verwies, dann klang das so, als ob die entsprechende Person freiwillig immer wie­ der kriminelle Handlungen vollzogen habe, bis diese ihr zur zweiten Natur ge­ worden seien. Jede weitere kriminelle Handlung wurde dann nur noch instinktiv vollzogen. Tatsächlich lagen wenig gesicherte Erkenntnisse darüber vor, wie ­Gewohnheiten − später werden britische Psychiater und Psychologen von habit formation sprechen − sich ausprägten. Man wusste nicht, welche Faktoren oder Prozesse ihre Bildung beeinflussten und vor allem, ob diese Prozesse reversible waren, und wenn ja, auf welche Weise verfestigte Gewohnheiten aufgelöst und neue, bessere installiert werden konnten. Die Klärung solcher Fragen wurde umso dringlicher, je mehr der Reformgedanke Fuß fasste und die Strafformen sich z. B. in Richtung Geldstrafe oder Bewährungsstrafe verlagerten. Das Wissen darüber, wie man Straftäter erfolgreich reformierte, konnte nicht allein im Gefängnis ge­ wonnen werden. Auch das Wissen über mentale Pathologien war in Bezug auf die Organisation einer Bewährungsstrafe, die erfolgreich durchlaufen werden sollte, wenig hilfreich. Was man benötigte, waren Erkenntnisse darüber, wie erziehe­ rische Maßnahmen wirkten und wodurch menschliches Verhalten allgemein ge­ steuert wurde. Untersuchungen zu solchen Fragen nahmen erst allmählich Gestalt

273 Siehe

Reply to Questions raised by the Secretary of State in letter of 3 Dec. 1903, written by Evelyn Ruggles-Brise, 27 Jan. 1904, TNA, PCOM 7/287; hier finden sich auch die schriftli­ chen Stellungnahmen der einzelnen Gouverneure. 274 H. B. Simpson, Crime and Punishment, in: The Contemporary Review 70 (1896), S. 91–108, hier S. 101 f. 275 Gladstone Report, S. 31.

178   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) an und sollten, wie noch zu zeigen sein wird, erst nach dem Ersten Weltkrieg grö­ ßeren Raum in den wissenschaftlichen Kriminalitätsdiskursen einnehmen.

3.9. Bilanz und Ausblick: Psychiatrische Deutungshoheit und der Alltag im Gefängnis Noch vor dem Erscheinen von Lombrosos L’uomo delinquente 1876 gab es in England unter dem Einfluss von Morels medizinischem Degenerationskonzept und Darwins Evolutionstheorie in der englischen und schottischen Gefängnispsy­ chiatrie die ersten Ansätze zu einer biologistischen Interpretation des Straftäters. Beide Varianten waren dabei möglich: die unterentwickelte, körperlich degene­ rierte Andersartigkeit von Straftätern, sichtbar etwa an Deformationen des Ge­ hirns, und eine vor allem geistige Gestört- und Zurückgebliebenheit, die ein auto­ nomes, selbstverantwortliches Handeln unmöglich machte. Kriminalität rückte zunächst in die Nähe von Krankheit. Bereits kurz nach dem Erscheinen der kri­ minalanthropologischen Studie Lombrosos setzte allerdings eine erste Kritik an den biologistischen Interpretationen ein, die an Deutlichkeit stetig zunahm, bis sogar ‚materialistisch‘ orientierte Psychiater wie Henry Maudsley ab den späten 1880er Jahren offen vor den Konsequenzen einer strikt und ausschließlich ange­ wendeten Kriminalanthropologie warnten. David Garland und Martin Wiener haben in ihren Studien auf die Dialektik zwischen den Konstitutionsentwürfen von Straftätern und der Rolle von Exper­ ten, die maßgeblich an ihrer Konzeptualisierung beteiligt waren, hingewiesen.276 Je mehr der Straftäter die Züge eines ‚Mangelwesens‘ angenommen habe, je grö­ ßer die angenommene Zahl der Beschädigten, Minderbemittelten und schließlich Unzurechnungsfähigen unter den Delinquenten geworden sei, desto lauter sei der Ruf nach psychiatrischer Expertise erklungen. Psychiater hätten es nicht nur ver­ standen, diese Situation selbst herzustellen, sie hätten damit auch die vested interests ihrer Profession sichern können. Allerdings geht, so wurde in diesem Kapitel gezeigt, die in der Regel plausible Gleichung von der Medikalisierung der Diskur­ se und einer davon profitierenden medizinischen und psychiatrischen Profession mit Blick auf die englische Gefängnispsychiatrie im späten 19. Jahrhundert nicht glatt auf. Das ständige Herunterkorrigieren an der Zahl von Geisteskranken in den Gefängnissen, das Einlenken in Bezug auf die Leistungsfähigkeit der eigenen Profession und schließlich der Verweis auf die besonderen diagnostischen Schwie­ rigkeiten, mit denen die Psychiatrie zu kämpfen hatte, lassen Zweifel an dieser These aufkommen. Die Meinung, dass die Zahl geistiger Erkrankungen zunehme, etwas, das sich mit Morel so plausibel behaupten ließ, wurde von der Mehrzahl der Gefängnispsychiater gerade nicht vertreten,277 sondern, wie im nächsten Ka­ 276 Vgl. Wiener,

Reconstructing the Criminal, S. 228–244. Joe Sim haben britische Psychiater selbst die Zunahme von Irrsinn behauptet, weil dies der Profession erlaubt hätte, ihre Expertise auszubauen (vgl. Sim, Medical Power, S. 54). Sim

277 Nach

3.9. Bilanz und Ausblick   179

pitel dargestellt werden soll, von einer populistischen Reformbewegung außer­ halb der Gefängnismauern. Diese stand der Eugenik Francis Galtons nahe und hatte die Degeneration der gesamten englischen Bevölkerung im Blick.278 Bei den im civil service tätigen Gefängnisärzten war die Ablehnung, von einigen Ausnahmen abgesehen, besonders deutlich. Für die Ablehnung gab es eine Reihe von Gründen: Zunächst einmal verletzte die Kriminalanthropologie mit ihrem deterministischen Konzept das Selbstverständnis der Psychiater, die ihr Tätig­ keitsfeld durch sie beschränkt sahen. Die Annahme eines ‚geborenen Verbrechers‘ hätte ihren therapeutischen Einfluss unnötig eingeschränkt und das Feld medizi­ nischer Intervention künstlich verkleinert. Maudsley, Nicolson, später auch John Baker und James Devon, haben durch die Aufarbeitung und Benennung zahl­ reicher unterschiedlicher psychologischer Krankheitszustände von Gefängnisin­ sassen gerade die Festschreibung eines singulären Typus verhindern wollen.279 Maudsley, aber auch Nicolson waren besonders an einer Typologie mentaler Er­ krankungen und Störungen interessiert, um dadurch nicht nur Rückschlüsse auf die normalen Gehirnfunktionen zu gewinnen, sondern auch, um eine angemesse­ nere Klassifizierung der Gefängnisinsassen vornehmen zu können und darüber hinaus die Entwicklung geeigneter therapeutischer Maßnahmen voranzubringen. Nicolson hatte bereits 1875 einen Fragenkatalog erarbeitet, mit dessen Hilfe es dem Gefängnisarzt ermöglicht werden sollte, vom auffälligen oder anti-sozialen Verhalten bestimmter Gefängnisinsassen auf mögliche geistige Erkrankungen zu schließen.280 Die internen, institutionellen Erfordernisse des Gefängnisalltags machten es notwendig herauszufinden, wer aufgrund bestimmter Einschränkun­ gen physischer oder psychischer Natur nicht für bestimmte disziplinarische Maß­ nahmen in Frage kam oder wer möglicherweise als Simulant Geisteskrankheit nur vortäuschte. Trotz seines biologistischen Ansatzes galt selbst Thomsons pri­ führt dafür keinerlei Belege an, wahrscheinlich, weil die Medikalisierungsthese so plausibel erscheint, dass ein anderes Verhalten eher unwahrscheinlich erscheint. Tatsächlich lassen sich aber eher Belege für das Herunterkorrigieren der Zahlen geistiger Erkrankungen finden, schon deshalb, weil die Gefängnispsychiater den Vorwurf von sich weisen wollten, dass Ge­ fängnisse krank machen, siehe z. B. J.P. Sturrock, The Mentally Defective Criminal, in: The Journal of Mental Science 59 (1913), S. 314–335, hier bes. S. 317: „The percentage of defect­ ives in prison has been very variously estimated. Dr. [Richard Firth, S.F.] Quinton, late of Holloway prison, a man of great experience, makes it as low a 4 per cent. The modest esti­ mates invariably come from those whose duties bring them daily into contact with prison­ ers.“ Siehe dazu auch Kap. 6.8. 278 Siehe dazu Kap. 4. 279 Vgl. auch Garland, British Criminology Before 1935, S. 4 f. 280 Vgl. Nicolson, Morbid Psychology (1875), S. 236 f.; dazu zählten möglichst ausführliche In­ formationen zur Familiengeschichte, zum Vorkommen von Geisteskrankheiten, zur Art der Lebensumstände, zur Einschätzung des Intelligenzgrades des Straftäters. „[S]erious general moral deficiency“ offenbare sich gewöhnlich durch „great ignorance, and marked deficiency in the perceptive and reflective faculties“ (ebd. S. 237), während eine gewisse Schwerfälligkeit und Langsamkeit im Denken eher vom „original habit of mind“ als vom einem „product of disease“ (ebd. S. 236) zeuge. Gerade bei weak-minded criminals, deren Intellekt nicht betrof­ fen sei, die sich aber trotzdem merkwürdig verhielten, müsse man ein starkes Gewicht auf die Umstände legen.

180   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) märes Interesse nicht dem ‚geborenen Verbrecher‘ und der Erarbeitung eines wis­ senschaftlichen Systems, sondern der Frage, wie sich der Gefängnisalltag auf die körperliche und seelische Verfassung seiner Insassen auswirkte. Die Beantwor­ tung dieser Frage gewann nach den politisch unruhigen 1880er Jahren an Dring­ lichkeit, als in der Öffentlichkeit immer mehr die Rede vom Versagen des Gefäng­ nisses die Runde machte, und sich Gefängnisverwaltung und Innenministerium dem Vorwurf ausgesetzt sahen, dass das Gefängnis zur physischen und psychi­ schen Verschlechterung seiner Insassen und auf diese Weise nicht nur zur Persis­ tenz, sondern auch zur Verstärkung des Kriminalitätsproblems beitrage. Als Disziplin versuchte sich die Psychiatrie in Anlehnung an die erfolgreiche Präventivmedizin als eine Art ‚Präventivpsychiatrie‘ zu profilieren, indem sie auf ihre für die Gesellschaft wichtige Funktion der Früherkennung geistiger Erkran­ kungen hinwies, die Kriminalität als Folgeerscheinung geistiger Erkrankung ver­ hindern könnte (soziale Prophylaxe). Psychiater hofften dabei u. a. auf mehr ver­ bürgte Rechtssicherheit für ihre Tätigkeit durch Staat und Justiz. Im Verweis auf die graduellen Unterschiede von leichteren Persönlichkeitsstörungen bis hin zu manifesten geistigen Erkrankungen, auch in der Beschreibung des weak-minded criminal und in der Diskussion über die seinen Zustand verursachenden Fakto­ ren, erweiterte die Psychiatrie ihren Tätigkeitsbereich deutlich. Die Rolle als Präventivpsychiatrie konnte aber nur glaubhaft eingenommen werden, wenn von Heilungschancen durch die Früherkennung ausgegangen wur­ de, mithin aktive Veränderung und Wirkung als möglich betrachtet wurden. Zu­ gleich besaß, ähnlich wie die Ergebnisse der sozialstatistischen Untersuchungen, die Betonung der äußeren Faktoren, die auf die psychische Verfassung des Straftä­ ters einwirkten, einen mahnenden Charakter an Gesellschaft und Staat, für die Veränderung sozialer Umstände einzutreten. Degeneration, von außen bewirkt, konnte auch durch die Veränderung dieses Außen eingedämmt werden. In diesem Sinne hieß es 1890 im Lancet: „science will work on the more humane view that society is responsible for its degenerative types.“281 Die Gefängnispsychiatrie versuchte nicht nur einen Modus Vivendi mit der Rechtsprechung zu finden, indem sie signalisierte, dass die Zahl der als unverant­ wortlich zu betrachtenden weak-minded criminals gering sei, die Mehrzahl hin­ gegen als verantwortlich und zurechnungsfähig betrachtet werden könne.282 Die Profession selbst mahnte zur Zurückhaltung im Gerichtssaal, die Frage der Ver­ antwortlichkeit bleibe hier in erster Linie eine juristisch zu klärende. Die Gefäng­ 281 The

Lancet, Oktober 1890, hier zit. nach Sim, Medical Power, S. 60. bereits mehrfach erwähnte Herunterkorrigieren von Zahlen geistesschwacher Gefäng­ nisinsassen hatte freilich auch mit dem Vorwurf zu tun, die diziplinarischen Maßnahmen im Gefängnis trügen zur geistigen Erkrankung bei (siehe auch Gladstone Report). Mit Absicht verwies 1895 Nicolson deshalb auf die Statistiken der Lunacy Commission des Innenminis­ teriums, die für die Zeit von 1884 bis 1894 keinen Anstieg an Geisteserkrankungen verzeich­ neten, sondern von gleich bleibenden Zahlen ausgingen (vgl. Nicolson, Crime, Criminals, S. 583 f.). Ob diese Zahlen der Wirklichkeit entsprachen, lässt sich nicht nachprüfen, aber sie verdeutlichen den Kurs und die Haltung der staatlichen Behörden, an die sich die Gefäng­ nispsychiater unter wachsendem öffentlichem Druck mehrheitlich anschlossen.

282 Das

3.10. Exkurs   181

nispsychiatrie näherte sich auch durch ihren Versuch, sich als Präventivpsych­iatrie zu etablieren, der politischen Reformrhetorik an. Die zivilgesellschaftlich ­orientierte Reformbewegung fühlte sich der Idee verpflichtet, den Straftäter als nützliches Mitglied in die Gesellschaft zurück zu führen. Getragen wurde sie von der Überzeugung, dass nur ein reformiert aus dem Gefängnis entlassener Straftä­ ter kein Sicherheitsrisiko mehr für die Gesellschaft darstelle. In den Debatten über die Begründungszusammenhänge der Sicherungsver­ wahrung haben weder die medizinisch-psychiatrischen Diskussionen über den weak-minded criminal als Argument eine Rolle gespielt, noch war von Unverbes­ serlichkeit (incorrigibility) oder Unheilbarheit die Rede. Es gab freilich den Typus des hardened criminal, der eine sehr lange therapeutische Behandlung benötigte. Besonders dieser Typus war es, der auf die enormen Erkenntnisdefizite verwies, die in Bezug auf das Wissen über menschliches Verhalten und die Ausprägung von Gewohnheiten bestanden. Für Justiz, Gesetzgebung, Psychiatrie und Refor­ mer galt aber gleichermaßen, dass sie alle von dem Bewusstsein geprägt waren, dass Wissenschaft und Rechtsprechung zwei getrennte Bereiche waren, die nach je eigenen Regeln funktionierten. Die Diskussionen über den weak-minded criminal sollten dagegen im Kontext einer neuen Reformgesellschaft (Eugenics Education Society) auf fruchtbaren Boden fallen und instrumentalisiert werden.283

3.10. Exkurs: Internationale Diskussionen und nationale Debatten: England und die internationale Kongress­ kultur zu Strafrecht und Gefängnisreform Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Debatten über Strafrecht und Krimi­ nalpolitik nicht nur auf einer nationalen, sondern auch auf einer internationalen Ebene verhandelt. Der Ausbau neuer Kommunikations- und Transportmittel führte auf vielen Gebieten zu einer wahren Kongresskultur, die den bis dahin vor­ herrschenden schriftlichen Austausch von Experten und Philanthropen unterein­ ander nun um eine neue Form des persönlichen Kontaktes bereicherte.284 Die auf den internationalen Tagungen geführten Diskussionen bildeten aber stets auch wieder einen Bestandteil des nationalen Diskurses. Nicht selten wurde die be­ wusste Schaffung internationaler Organisationen und Bewegungen zunächst von solchen Gruppen betrieben, die über die nationalen Grenzen hinaus nach Ver­ bündeten Ausschau hielten, weil sie im eigenen Land für ihre wissenschaftlichen oder gesellschaftsreformerischen Anliegen zu wenig Unterstützung fanden. Von 283 Siehe

dazu Kap. 4.5. zur Entwicklung internationaler Bewegungen und Institutionen siehe Martin H. Geyer und Johannes Paulmann, Introduction. The Mechanics of Internationalism, in: dies. (Hrsg.), The Mechanics of Internationalism. Culture, Society, and Politics from the 1840s to the First World War, Oxford 2001, S. 1–25; zur Kongresskultur Eckhardt Fuchs, Wissen­ schaft, Kongressbewegung und Weltausstellungen: Zu den Anfängen der Wissenschaftsinter­ nationale vor dem Ersten Weltkrieg, in: Comparativ 5–6 (1996), S. 156–177.

284 Allgemein

182   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) der Präsentation ihres Programms auf einem internationalen Forum versprach man sich die Stärkung der eigenen Position im Heimatland. Doch was lässt sich in Zusammenhang mit Kriminalität und Strafe über die englische Beteiligung an den internationalen Konferenzen über Strafrecht, Kriminalanthropologie und Gefängnisreform sagen? Inwieweit machte sich der Einfluss solcher internationa­ len Verhandlungen auf die heimische Politik überhaupt bemerkbar? Welche Gruppen hatten in England ein besonders Interesse an der Schaffung internatio­ naler Organisationen? Und schließlich: Welche Rolle spielten dabei Regierung und Parlament?285 Mit Blick auf eine aktive englische Beteiligung lassen sich auffällige Präferenzen feststellen. Zwei der drei großen, regelmäßig stattfindenden internationalen Kon­ gresse zu Strafrecht, Kriminalpolitik und Kriminalanthropologie im 19. und frü­ hen 20. Jahrhundert wiesen eine auffällig große englische Zurückhaltung auf. We­ der der 1882 von Cesare Lombroso, Enrico Ferri und Raffaele Garofalo initiierte, aber erst 1885 zum ersten Mal in Rom organisierte Internationale Kongress für Kriminalanthropologie (ICCA),286 noch die Konferenzen der 1889 von den drei Strafrechtslehrern Franz von Liszt, Gerardus Antonius van Hamel und Adolphe Prins gegründeten Internationalen kriminalistischen Vereinigung (IKV)287 konn­ ten sich einer nennenswerten Zahl englischer Teilnehmer erfreuen. An den Kon­ gressen für Kriminalanthropologie, an denen in erster Linie praktizierende Ärzte mit wissenschaftlichen Neigungen teilnahmen, und die bis um die Jahrhundert­ wende vor allem von den Auseinandersetzungen zwischen den italienischen An­ hängern Lombrosos und deren französischen Gegnern über die Existenz des ‚ge­ borenen Verbrechers‘ geprägt waren,288 nahm Großbritannien nur ein einziges Mal durch die offizielle Entsendung eines Delegierten teil. Während auf dem ­Pariser Kongress von 1889 „not one [participant, S.F.] from Great Britain“ zu ver­ zeichnen war,289 kehrte 1896 immerhin der Gefängnisinspektor Major Arthur Griffiths mit einem allerdings sehr kritischen Bericht aus Genf zurück, der die Skepsis der britischen Administration darin bestätigte, dass es sich bei der Italie­ 285 Vgl.

zum Folgenden bes. Freitag, Internationalisierung, S. 140–166. Abkürzung bezieht sich auf die englische Bezeichnung International Congress of Crimi­ nal Anthropology; die französische trägt bezeichnenderweise auch den Hinweis auf die So­ ziologie Congrès International d’anthropologie et sociologie. Stattgefunden haben folgende sieben Kongresse: Rom (1885), Paris (1889), Brüssel (1893), Genf (1896: Großbritannien vertreten), Amsterdam (1901), Turin (1906), Köln (1911). 287 Ausführlich zur IKV siehe Sylvia Kesper-Biermann, Die Internationale Kriminalistische Ver­ einigung. Zum Verhältnis von Wissenschaftsbeziehungen und Politik im Strafrecht, in: dies. und Petra Overath (Hrsg.), Die Internationalisierung von Strafrechtswissenschaft, S. 85–107; dies., Wissenschaftlicher Ideenaustausch und ‚kriminalpolitische Propaganda‘. Die Internati­ onale Kriminalistische Vereinigung (1889–1937) und der Strafvollzug, in: Schauz und Frei­ tag (Hrsg.), Verbrecher im Visier der Experten, S. 79–97. 288 Siehe Martine Kaluszynski, The International Congresses of Criminal Anthropology: Shap­ ing the French and International Movement, 1886–1914, in: Becker und Wetzell (Hrsg.), Criminals and their Scientists, S. 301–316; Galassi, Kriminologie im Deutschen Kaiserreich, S. 315. 289 Siehe Ellis, The Study, S. 14. 286 Die

3.10. Exkurs   183

nischen Schule wohl um ein weiteres Beispiel von kontinentalem Extremismus handle.290 Zu den wenigen Engländern, die Lombrosos Thesen begeistert aufnah­ men, gehörte der Medizinstudent Havelock Ellis. Ellis war 1885 privat zum Eröff­ nungskongress nach Rom gereist und wurde von Lombroso zum Ehrensekretär der Psychiatrie-Sektion ernannt.291 Mit seiner Publikation The Criminal unter­ nahm er 1890 den Versuch, Großbritannien mit den kontinentaleuropäischen Entwicklungen auf dem Gebiet der Kriminalanthropologie vertraut zu machen.292 Doch die britische Resistenz gegen die Italienische Schule gab Ellis im gleichen Jahr zur Klage Anlass, dass seit dem Erscheinen von L’uomo delinquente 1876 kein einziges englisches Werk zur Kriminalanthropologie erschienen sei. Besonders die englische Gerichtsmedizin ignoriere die Entwicklungen auf dem Kontinent: „[C]riminal anthropology as an exact science is yet unknown in England“293, stellte er fest. Mit einer englischen Beteiligung an der Internationalen Kriminalistischen Ver­ einigung (IKV), in der im Gegensatz zum Kongress für Kriminalanthropologie vor allem Juristen als Mitglieder vertreten waren, sah es kaum besser aus. Immer­ hin ließen sich 1889, im Gründungsjahr der IKV, drei bekannte Engländer als Mitglieder verzeichnen:294 Sir Edmund du Cane, Prison Commissioner seit 1877, nahm wahrscheinlich nur ein einziges Mal an einer IKV-Konferenz teil. Du Cane trat allerdings bereits 1895 in den Ruhestand und trat danach aufgrund seiner angegriffenen Gesundheit nicht mehr öffentlich in Erscheinung. Bei Sir John Macdonnell, Professor für Internationales Recht und ein Kenner von Kriminal­ statistiken, sprach das wissenschaftliche Interesse für eine Mitgliedschaft, viel­ leicht auch seine persönliche Bekanntschaft mit anderen europäischen Rechtsge­ lehrten. Ebenso prominent wie Du Cane war schließlich das dritte, für das Jahr 1889 aufgeführte englische Mitglied: William Tallack, Gründer und Leiter der Howard Association. Die erste Ausgabe von Tallacks Buch Penological and Prevent­ ive Principles erschien im Gründungsjahr der IKV und wurde ein erstaunlich ­vielgelesenes Buch.295 Immerhin, so behauptet Leon Radzinowicz zu Recht, war Tallack aufgrund seiner persönlichen Kontakte und seiner zahlreichen Reisen 290 Vgl.

Report to the Secretary of State for the Home Department on the Proceedings of the Fourth Congress of Criminal Anthropology, held at Geneva in 1896, by Major Arthur Griffiths, H.M. Inspector (H.M.S.O.), 1896; Arthur G.F. Griffiths, Fifty Years of Public Service, London 1904; vgl. ebenso Griffiths Artikel ‚ Criminology‘, in der Encyclopaedia Britannica, London 111910–11, S. 464 f.; Hinweise zu den Kongressen finden sich auch in Radzinowicz und Hood, The Emergence of Penal Policy, S. 13; Garland, Crimes and Criminal, S. 34. 291 Siehe Radzinowicz und Hood, The Emergence of Penal Policy, S. 12, Anm. 21. 292 Havelock Ellis, The Criminal, London 1890; Ellis wurde später als Psychologe und Sexual­ forscher berühmt. 293 Ellis, The Study, S. 14. 294 Ich übernehme hier die Zahlen von Leon Radzinowicz, The Roots of the International ­Association of Criminal Law and their Significance. A Tribute and a Re-assessment on the Centenary of the IKV, Freiburg im Breisgau 1991 (Kriminologische Forschungsberichte aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und Internationales Strafrecht, Bd. 45), S. 5 und S. 83, Anm. 144. 295 William Tallack, Penological and Preventive Principles, London 1889 (21896).

184   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) nach Amerika und auf den europäischen Kontinent „one of the few English pe­ nologists, known and respected abroad“.296 Ähnlich wie du Cane trat Tallack 1901 allerdings wegen öffentlicher Angriffe – ihm wurde ein autokratischer Führungs­ stil vorgeworfen – von seinem Posten in der Howard Association zurück. In ihrem zweiten Jahresbericht thematisierte die IKV selbst die auffällige Abwe­ senheit britischer Mitglieder: „Geringes Interesse scheint England bisher unseren Arbeiten entgegengebracht zu haben.“297 Sechs Jahre nach ihrer Gründung konn­ te die IKV kaum besseres berichten: 1897 ließen sich gerade einmal 13 britische Mitglieder ausmachen, darunter der international stets rührige und ambitionierte Havelock Ellis und Sir Howard Vincent, Chef des Criminal Investigation Depart­ ment von Scotland Yard, den besonders neue Entwicklungen und Erkenntnisse in der Kriminalistik und eine mögliche internationale Polizeikooperation interes­ siert haben dürften.298 Doch nur wenige Jahre später, 1905, war die englische Be­ teiligung bereits auf null geschrumpft, und 1913, ein Jahr vor Kriegsbeginn und zugleich das letzte Jahr, in dem die IKV eine wirklich internationale Zusammen­ setzung aufweisen konnte, fand sich unter den insgesamt 1.350 Mitgliedern nur ein einziges englisches Mitglied, Albert M. Oppenheimer, der senior partner einer Londoner Anwaltskanzlei. Bei so geringer Beteiligung überrascht es nicht, dass eine englische IKV-Landesgruppe, z. B. nach dem Vorbild der deutschen Landes­ gruppe, nie realisiert wurde.299 Nicht dabei zu sein bedeutete allerdings nicht, die Arbeit der IKV zu ignorie­ ren. Der Nachfolger Edmund du Canes als Vorsitzender der Prison Commission, Evelyn Ruggles-Brise schätzte „the most distinguished founders“300 der IKV durchaus als hervorragende Strafrechtswissenschaftler. Von deren Einfluss auf maßgebliche Kreise in den USA war er überzeugt, wo ein „abundance of theories of crime causation was taken over from the European scene.“301 Doch den Gene­ rierungsprozess von kriminologischem und strafrechtlichem Wissen glaubte Ruggles-Brise in England nicht nur von dem Kontinentaleuropas, sondern sogar noch von dem Amerikas grundsätzlich verschieden. Zu andersartig sei das engli­ sche Rechtssystem und zu unterschiedlich gestalte sich die Ausbildung englischer Juristen. Die Arbeiten der kontinentaleuropäischen „learned jurists“302 besäßen 296 Radzinowicz

und Hood, The Emergence of Penal Policy, S. 242. der IKV 2 (1891), S. 10; zit. nach Oberwittler, Von der Strafe, S. 72. 298 Zur englischen Beteiligung an der internationalen Polizei-Kooperation siehe Jäger, Verfol­ gung durch Verwaltung; ders., Internationales Verbrechen – Internationale Polizeikoopera­ tion 1880–1930. Konzepte und Praxis, in: Schauz und Freitag (Hrsg.), Verbrecher im Visier der Experten, S. 295–319. 299 Die Landesgruppen organisierten eigene nationale Treffen mit einer oftmals nationalen Agenda. 300 Evelyn Ruggles-Brise, The English Prison System, London 1921, Preface, XV. 301 „The views and writings of learned jurists, such as Prof. von Liszt of Germany, and Prof. Prins of Belgium are well known in the United States, and their influence upon a small elite of professors and publicists, who contribute to form public opinion on prison questions in America, is discernible.“ Ruggles-Brise, Prison Reform, S. 153; Ruggles Brise kannte Prins persönlich, da dieser auch Mitglied des I.P.P.C. war, vgl. ebd. S. 76. 302 Ebd., S. 153. 297 Mitteilungen

3.10. Exkurs   185

für England jedenfalls wenig Relevanz. Common law, der hohe Laienanteil in der Rechtsprechung und das Jury-Verfahren seien Elemente des englischen Rechtssys­ tems, die unter bestimmten historischen Umständen über Jahrhunderte gewach­ sen seien und sich im Bewusstsein der Bevölkerung verankert hätten. Kontinen­ taleuropäer würden sich oft über zwei Dinge besonders wundern: zunächst über die Vorstellung, dass die Rechtsprechung, wie sie in England etwa durch unbe­ zahlte magistrates auf unterer Ebene vollzogen werde, keine besondere juristische Ausbildung voraussetze; und dann über das Jury-Verfahren als einer „very Eng­ lish and time-honored institution“, die organisch gewachsen und nicht, wie viel­ fach in Europa, aus politischen Gründen erst in jüngerer Zeit eingeführt worden sei. Das Jury-Verfahren erfreue sich, so Ruggles-Brise, jedenfalls in England grö­ ßerer Beliebtheit als auf dem Kontinent: „[T]he robust confidence which English­ men repose in trial by jury does not exist to an equal degree on the Continent of Europe […]. It seems not to be popular in Germany at the present time.“303 Be­ zogen auf die IKV mochte es vor allem die Theorielastigkeit der Veranstaltungen gewesen sein, die von akademisch gebildeten Juristen aus den vom Römischen Recht geprägten Ländern Europas getragen wurden, die die an praktischen Lö­ sungen interessierten Engländer aber eher kalt ließ. Der Wunsch nach einer ­Reform des kodifizierten Strafrechts hatte für Engländer wenig Relevanz, wurden doch durch die legislative amendment-Politik des britischen Parlamentes ständig Änderungen und Anpassungen des criminal law vorgenommen. Bei einer so geringen englischen Beteiligung kann es kaum verwundern, dass die Rezeption der IKV und ihrer Arbeit in England ein wenig verkürzt ausfiel. Der engagierte Havelock Ellis wusste, was er tat, als er im empiristischen und pragma­ tischen England den praktischen Anspruch der IKV hervorhob: „This ­Association is truly international in character (although England is not largely represented), and now consists of nearly 500 members, most of them occupying responsible positions; it seeks to bring into practise, so far as that may safely be done, the re­ sults of criminal anthropology.“304 Allein, da er die Besprechung der IKV-Mit­ teilungen im Journal of Mental Science platzierte, dem Publikationsorgan der Me­ dico-Psychological Society, also dem Zusammenschluss praktizierenden Psychiater, musste Ellis zunächst einmal deutlich machen, warum sich ausgerechnet die Leser dieses Journals für die IKV interessieren sollten. Er verwies deshalb auf die allge­ mein verhandelten Themen und auf deren Relevanz für die in englischen Hospitä­ lern, Irrenanstalten und Gefängnissen praktizierenden Ärzte und Psychiater: Although this Association [IKV, S.F.] does not directly concern the student of morbid psychol­ ogy [Psychiatrie, S.F.], the question of the treatment of the criminal is now being found so closely connected with his mental state that such questions as these become a matter of interest and importance. […] In most of these discussions, insanity, moral insanity, alcoholism, epilepsy, hysteria, and other matters with which morbid psychology is concerned, are constantly brought 303 Alle

Zitate. ebd., S. 145 f.; Ruggles-Brise bezog sich hier auf das Nachkriegsdeutschland der Weimarer Republik. 304 Havelock Ellis, Review: Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung 2 (Juli 1890), Berlin 1890, in: The Journal of Mental Science 37 (1891), S. 302 f.

186   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) in; and it seems very desirable that the alienist [Psychiater, S.F.] and criminal anthropologist should be acquainted with the probable applications of his science to practical life.305

Noch 30 Jahre später, 1921, bewegte sich die Beschreibung dessen, was die Haupt­ aufgabe der IKV sei, sehr im Allgemeinen. Ruggles-Brise glaubte, sie bestehe ­darin, ihren großen Einfluss zu einem Kompromiss zwischen sozialen und bio­ logischen Kriminalitätsursachen zu nutzen, sei also der kontinentaleuropäische Versuch, die Extreme miteinander zu versöhnen.306 Einer der wichtigsten Gründe für die englische Zurückhaltung in der IKV und dem ICCA lag jedoch in der Tatsache, dass sich englische Gefängnisreformer und offizielle Vertreter des Home Office, allen voran Mitglieder der Prison Commis­ sion, relativ früh in der seit 1872 bestehenden Internationalen Gefängniskommis­ sion (IPPC)307 engagierten, die alle fünf Jahre einen etwa zehntägigen Kongress organisierte. Die englische Beteiligung an dieser Veranstaltung wurde, zumindest von offizieller Seite, als vollkommen ausreichend betrachtet, denn alle drei ge­ nannten Kongresse wiesen bei genauerer Prüfung thematisch große Überschnei­ dungen auf. Für den IPPC schien seine Praxisrelevanz zu sprechen, die durch die andersartige Zusammensetzung seiner Teilnehmer garantiert schien: nicht nur Juristen, Ärzte und die offiziellen Delegierten der einzelnen Länder zählten dazu, sondern auch eine Vielzahl von Sozialreformern, Sozialwissenschaftlern, Sozialar­ beitern, Gefängnispersonal, Philosophen, Philanthropen und Statistiker. Für den Prison Commissioner Ruggles-Brise war es auch noch 30 Jahre nach dem offiziel­ len Beitritt Großbritanniens zum IPPC (1895) wichtig, immer wieder die Beson­ derheit seiner Teilnehmer als „a very practical and instructed body of men and women, of different profession, thought, and training“308 herauszustellen. Ähnlich wie über die Teilnahme von Mitgliedern der privat organisierten sta­ tistical societies an den internationalen Statistikerkongressen ein länderübergrei­ 305 Ebd. 306 Vgl.

Ruggles-Brise, English Prison System, S. XV. 307 Zwischen 1872 und 1935 fanden insgesamt elf internationale

Gefängniskongresse statt: Lon­ don (1872), Stockholm (1878), Rom (1885), St. Petersburg (1890), Paris (1895), Brüssel (1900), Budapest (1905), Washington (1910), London (1925), Prag (1930), Berlin (1935). Or­ ganisator war die International Prison Commission (IPC), die die International Penal Con­ gresses organisierte; nach Einrichtung eines ständigen Büros in Bern erweiterte sich der Titel der Veranstaltung in den 1920er Jahren zum International Penal and Penitentiary Congress (IPPC). Zur Geschichte und Funktion des IPPC siehe Martina Henze, „Important forums […] among an increasingly international penological community“: Die Internationalen Ge­ fängniskongresse 1872–1935, in: Kesper-Biermann und Overath (Hrsg.), Internationalisie­ rung von Strafrechtswissenschaft, S. 60–84; dies., Netzwerk, Kongressbewegung, Stiftung: Zur Wissenschaftsgeschichte der internationalen Gefängniskunde 1827–1951, in: Schauz und Freitag (Hrsg.), Verbrecher im Visier der Experten, S. 55–77; alle Fragen und Beschlüsse der Kongresse bis 1930 sind gesammelt in: Lothar Frege und Rudolf Sieverts, Die Beschlüsse der Internationalen Gefängniskongresse 1872–1930, Jena 1932; Negley J. Teeters, Delibera­ tions of the International Penal and Penitentiary Congresses. Questions and Answers 1872– 1935, Philadelphia 1949; Eberhardt Schmidt, Zum internationalen Kongreß für Strafrecht und Gefängniswesen. Die internationalen Gefängniskongresse. Ein Rückblick auf ihre Arbeit, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 55 (1935), S. 177–200. 308 Ruggles-Brise, Prison Reform, S. 45.

3.10. Exkurs   187

fender Austausch spezifischen Wissens stattfand, so beruhten die ersten interna­ tionalen Kontakte auf dem Gebiet der Gefängniskunde auch auf den Kontakten privat engagierter Gefängnisreformer. Besonders zwischen amerikanischen und englischen Gefängnisreformern existierten bereits vor dem ersten Internationalen Gefängniskongress 1872 in London zahlreiche Kontakte. Anders als auf dem Ge­ biet der Strafrechtswissenschaft, wo sich Englands Interesse an den kontinental­ europäischen Entwicklungen in Grenzen hielt, drängte sich in der Gefängniskun­ de eine internationale Vernetzung auf, denn die Beantwortung der Frage, wie der Strafvollzug am effizientesten und zweckmäßigsten einzurichten sei, gehörte zu den wichtigsten politischen und administrativen Aufgaben vieler europäischer Staaten und der USA. Da der Unterhalt, der Umbau oder die Neuerrichtung von Strafanstalten kostspielige Angelegenheiten waren, schauten sich Gefängniskund­ ler ebenso wie staatliche Administratoren die Reformmodelle anderer Staaten ge­ nau an.309 Zwei Jahre vor dem Londoner Kongress, 1870, wurde in Cincinnati der erste National Congress on Penitentiary and Reformatory Discipline abgehalten, an dem einige englische Philanthropen und Gefängnisreformer, die sich seit 1857 in der National Association for the Promotion of Social Sciences (NAPSS) enga­ giert hatten, teilnahmen bzw. ihre schriftlich ausgearbeiteten Vorträge verlesen ließen.310 Als Enoch Cobb Wines, Sekretär der New York Prison Association, aus­ gerüstet mit einer von beiden Häusern des Kongresses verabschiedeten Resolu­ tion zur Organisation eines internationalen Gefängniskongresses, nach Europa reiste, traf sein Vorhaben besonders in England auf begeisterte Zustimmung. Dank der bereits bestehenden Kontakte zu Mitgliedern der NAPSS und der How­ ard Association einigte man sich schnell auf London als Veranstaltungsort. Wil­ liam Tallack agierte als Vorsitzender des Londoner executive committee. Die engli­ sche Regierung hatte unterdessen keinen direkten Anteil am Zustandekommen des Londoner Kongresses.311 Der erste internationale Gefängniskongress in London 1872 war in erster Linie eine Veranstaltung der sich selbständig organisierenden Gefängnisreformer.312 309 Siehe

Henze, Netzwerk, S. 58; zu den frühen ‚Pönitentiarcongreßen‘ siehe Nutz, Strafanstalt als Besserungsmaschine, S. 270–277, der neben der „Selbstinszenierung als Wissenschaft“ die „disziplininterne, integrative Funktion“ auch der frühen Kongresse (1846 in Frankfurt am Main; 1847 in Brüssel) betont. Im Gegensatz zu den naturwissenschaftlich-medizinischen Ta­ gungen des frühen 19. Jahrhunderts, die vor allem eine nationale Veranstaltung gewesen seien, hätten die Gefängniskundekongresse „bewusste Internationalität“ angestrebt (ebd. S. 273). 310 Zu den treibenden Kräfte dieser Veranstaltung gehörten Enoch Cobb Wines, Sekretär der New York Prison Association, T.W. Dwight, Direktor der Columbia Law School und Z.R. Brockway, der spätere Leiter der international stark beachteten Jugendstraf- bzw. Korrektur­ anstalt in Elmira im Staat New York. Die 41 Punkte umfassende Resolution von Cincinnati findet sich auch bei Ruggles-Brise, Prison Reform, S. 154–157. 311 Vgl. Ruggles-Brise, Prison Reform, S. 18. 312 Zum Folgenden siehe Edwin Pears (Hrsg.), Prisons and Reformatories at Home and Abroad Being the Transactions of the International Penitentiary Congress Held in London (July 3–13, 1872), London 1872 (Reprinted for Private Circulation, Maidstone H.M.P. (= Her Majesty’s Prison), 1912). Pears war der erste Sekretär des Kongresses, er gab von 1869 bis 1875 auch die Transactions der NAPSS heraus, ein Indiz für die Nähe des IPPC zur NAPSS.

188   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) Vertreter aus 26 Ländern waren angereist. Im Gegensatz zu den Veranstaltungen der IKV und des ICCA bildeten hier die englischen und amerikanischen Teilneh­ mer das größte Kontingent. Als im Vorfeld der Konferenz die in den geplanten Sektionen zu verhandelnden Fragen in Form eines Fragebogens versandt wurden, antwortete die Howard Association gleich mit der Publikation einer ganzen ­Broschüre: Defects in the Criminal Administration and Penal Legislation of Great ­Britain and Ireland with Remedial Suggestions.313 In diesem Pamphlet übte man Kritik an der Überlastung des Home Secretary und plädierte für die Schaffung eines eigenen Justizministeriums, empfahl ein ausgeglicheneres Verhältnis der magistrates, die bislang überproportional aus Mitgliedern der Church of England stammten, warb für die Übernahme des Irischen Gefängnissystems314 für lokale englische Gefängnisse, unterstützte – für die bessere Wiedereingliederung − die Einrichtung von Übergangsheimen für weibliche Strafgefangene, die bereits 2/3 ihrer Strafe verbüßt hatten, kritisierte die mangelnde bzw. fehlende Ausbildung des englischen Gefängnispersonals und die Tatsache, dass sich darunter viele ­frühere Armeeangehörige befanden, die eine falsche Form von Disziplin in die ­Gefängnisse brachten, und favorisierte schließlich die Einführung produktiver Arbeit.315 Alle diese Forderungen bezogen sich ausschließlich auf das englische Gefängniswesen. Den ersten internationalen Gefängniskongress nutzte die How­ ard Association damit als Forum für Anliegen in eigener, nationaler Sache, für die man auf stärkere öffentliche Wahrnehmung und Unterstützung hoffte. Dass Reformgesellschaften internationale Kongresse für ihre Zwecke in An­ spruch nehmen würden, hatte man im Home Office befürchtet. Immerhin ant­ wortete das Innenministerium fünf Jahre nach dem Kongress, 1877, mit der Schaffung der Prison Commission als einem neuen administrativen Modell, das die einheitliche Verwaltung und damit die Einhaltung gewisser Standards in den local prisons sicherstellen sollte. Obwohl die konstituierenden Kräfte des IPPC aus England und Amerika stammten, gab es bis 1895 keine offizielle Beteiligung der englischen oder amerikanischen Regierung. Bei einem Teil des britischen civil ­service habe wohl die Meinung vorgeherrscht, so Ruggles-Brise, die Bewegung sei „too idealistic in its scope“ und „the discussions were too much in abstracto, and not really helpful in the field of practical administration […] It was also a suspi­ cion, […] that the movement was likely to induce a too sentimental conception of the function and province of law.“316 Erst als sich mit der Zeit herausstellte, dass auf solchen Veranstaltungen durchaus brauchbare, d. h. praktikable Konzep­ 313 William

Tallack, Defects in the Criminal Administration and Penal Legislation of Great Britain and Ireland with Remedial Suggestions, London 1872. 314 Das Irish System meinte das vom irischen Prison Commissioner Sir Walter Crofton entwi­ ckelte intermediate system, das eine Art Zwischenstadium zwischen Haft und endgültiger Entlassung vorsah und den Häftling unter Einhaltung bestimmter Auflagen und relativ aus­ gedehnter Überwachung zeitweise auf freien Fuß setzte, um sich für ein Leben in Freiheit zu qualifizieren. 315 Um damit gegen die traditionell immer noch praktizierten Tätigkeiten wie treadmill oder oakum picking, das Auseinanderdröseln von alten Seilfasern, zu protestieren. 316 Ruggles-Brise, Prison Reform, S. 35.

3.10. Exkurs   189

te von den Teilnehmern diskutiert wurden, die den Gefängnisalltag und seine Problematik aus eigener Anschauung kannten, legte sich dieses Misstrauen. Die Ernennung von Evelyn Ruggles-Brise zum Nachfolger von Edmund Du Cane im Jahr 1895, das Jahr in dem der Gladstone Report erschien, war für den IPPC ein Glückfall.317 Während du Cane noch ein aus dem Militär abberufener Prison Commissioner alter Schule gewesen war, der sich intolerant, ja nachgerade feindlich gegenüber Einflüssen von außen auf seine Arbeit gezeigt und sich des­ halb auch strikt geweigert hatte, an den internationalen Konferenzen teilzuneh­ men, kam mit Ruggles-Brise ein Mann ans Ruder, der sich sofort nach seiner Er­ nennung mit Genehmigung des Home Office nach Paris entsenden ließ, um als erster offizieller britischer Repräsentant am 4. Kongress des IPPC, und in der Fol­ ge an allen weiteren, teilzunehmen. 1910 wurde Ruggles-Brise Präsident des IPPC, einen Posten, den er, bedingt durch den Ersten Weltkrieg, der den geplanten sieb­ ten Kongress 1915 in London vereitelte, bis zu dessen Verwirklichung im Jahr 1925 innehatte. Die ab 1895 offiziell von der britischen Regierung zu den Kongressen der IPPC entsandte Delegation318 wurde von Vertretern privater Organisationen begleitet. William Tallack war regelmäßig mit eigenen Vorträgen auf den Kongressen prä­ sent, ebenfalls seine Nachfolger Thomas Holmes, Cecil Leeson und Margery Fry. Auch Captain Arthur St. John von der Penal Reform League nahm an den Kon­ gressen teil. Gewöhnlich wurden diese privat angereisten Teilnehmer der engli­ schen Delegation zugerechnet und waren damit berechtigt, auch am Begleitpro­ gramm, etwa den Besichtigungstouren von Straf- und Besserungsanstalten des jeweiligen Gastlandes, teilzunehmen. Noch bevor die meist mehr als 800 Seiten umfassenden Stenographischen Berichte durch das Büro der International Prison Commission in Bern veröffentlicht wurden,319 verfasste der Vorsitzende der eng­ lischen Prison Commission seine Berichte, in denen alle wesentlichen Diskus­ sionspunkte erläutert und vom britischen Standpunkt aus beurteilt wurden.320 Diese rund 80 Seiten umfassende reports wurde dem Innenministerium und dem Parlament vorgelegt. Es lässt sich annehmen, dass die Rezeption des IPPC mit großer Sicherheit fast ausschließlich über diese gekürzten Berichte des Prison 317 Zu

Sir Evelyn Ruggles-Brise siehe Forsythe, Penal Discipline, bes. Kap. 3 Sir Evelyn RugglesBrise and the Prison Commission, S. 31–44; „Ruggles-Brise was influenced by the emphasis of much foreign penological literature and opinion on the need for a strong state coordina­ tion of the numerous agencies – official and voluntary – which worked in the field of pris­ oner reformation. He was an ardent enthusiast for the critical study of foreign penal systems both in America and Europe.“ Ebd., S. 34. 318 Dazu gehörten auch ein Repräsentant des Irish Prison Board, ein Vertreter der Prison Com­ mission of Scotland, der Chief Surveyor of Prisons, England and Wales, ein Abgesandter des Dominion Kanada, der Inspector-General of Prisons in Neuseeland, Queensland und New South Wales (Australien); siehe Evelyn Ruggles-Brise, Report of the Secretary of State for the Home Department on the Proceedings of the Eighth International Penitentiary Con­ gress held at Washington, October, 1910, London 1911, hier Introduction, S. IV. 319 In der Regel wurden diese auf Französisch publiziert, einzige Ausnahme waren die Verhand­ lungen des Washington Kongresses von 1910, die auf Englisch erschienen. 320 Ähnliches verfassten die amerikanischen Delegierten für den US Kongress.

190   3. Medizinisch-psychiatrische Diskurse (1850–1900) Commissioner erfolgte. Immerhin erfuhren sie auf diese Weise Beachtung auf höchster Regierungsebene. Auffällig ist jedoch, dass den reports normalerweise nur die Beiträge der englischen Teilnehmer im Anhang beigegeben wurden, man sich also vornehmlich an der englischen Präsentation und den englischen Stand­ punkten interessiert zeigte. Ergänzt wurde der Anhang bestenfalls durch Berichte der englischen Delegation über ihre Eindrücke von den Besichtigungstouren der Gefängnisse und Besserungsanstalten des jeweiligen Gastlandes. In der Öffentlichkeit wurden die Kongresse meistens im Sinne von RugglesBrise als „a sort of international debating society“ wahrgenommen, als ein neut­ rales Forum, auf dem sich „experience and experiment“321 treffen konnten. Briti­ sche Beobachter hoben in gerne die stimulierende Funktion der Kongresse hervor, die in der Möglichkeit des Meinungs- und Erfahrungsaustausches lag, und die es vermocht hatte, eine breitere Öffentlichkeit für kriminalpolitische Fragen zu inte­ ressieren. „Much valuable work in educating public opinion has been accom­ plished by the International Prison Commission at their quinquennial con­ gresses,“322 schrieb ein Rezensent 1922. Und noch 1937 lautete das Resumé des Londoner Anwalts Leo Page, Mitglied der Howard Association, in seinem Buch über Criminals and their Community: Obviously enough, the foundation of the International Congress effected overnight no immedi­ ate, universal, or sensational reforms. […] The value of the International Congress has in no small measure been found in the opportunities which the quinquennial conferences have affor­ ded for stimulating discussion and for the pooling of knowledge and experience […]. It is in the light of the knowledge not only of prison treatment but of alternative methods of treating crime gained at these congresses that we are enabled to approach the problem of delinquency.323

Dass man von den Erfahrungen anderer Nationen mit neuen Methoden im Straf­ vollzug und in der Kriminalitätsbekämpfung profitieren konnte, stand außer Fra­ ge. Doch nicht nur das Profitieren, auch das Profilieren hatten die offiziellen eng­ lischen Teilnehmer im Sinn. Ruggles-Brise, der sich immer wieder über die Igno­ ranz des Auslandes gegenüber dem englischen Strafvollzug überrascht zeigte, sprach in diesem Zusammenhang von einer „healthy rivalry“324 und „fruitful comparison“,325 denn die auf den Kongressen geführten Diskussionen über be­ stimmte strafrechtliche oder kriminologische Konzepte forderten stets den Ver­ gleich der verschiedenen nationalen Systeme heraus und waren mit der Frage ver­ bunden, welche Systeme sich für eine Übernahme in andere Länder eigneten. Während sich das englische Rechtssystem aufgrund seiner unter ganz besonderen historischen Umständen gewachsenen Strukturen nicht verpflanzen ließ, konnte der englische Strafvollzug durchaus, so die Auffassung vieler Briten, ein Modell für Länder bieten, die nach einer Reform ihrer Strafpraxis Ausschau hielten. 321 Beide

Zitate: Ruggles-Brise, Prison Reform, S. 11. Trevor, Review: The English Prison System by Sir Evelyn Ruggles-Brise, in: The Jour­ nal of Mental Science 68 (1922), S. 180–183, hier S. 180. 323 Leo Page, Crime and the Community, London 1937, S. 60. 324 Ruggles-Brise, Prison Reform, S. 7. 325 Ruggles-Brise, Report Washington, S. 12. 322 A.H.

4. Eugenik und die Frage nach Anlage oder Umwelt (1860–1930) 4.1. Gentleman scientist: Francis Galton und das ­Geheimnis der Vererbung Die Ursprünge der englischen Eugenik sind eng mit dem Namen Francis Galton verbunden.1 Den hochbegabten Cousin von Charles Darwin zeichnete eine uni­ versale wissenschaftliche Neugierde2 und trat mit der Entwicklung einer ganzen Reihe von Untersuchungsmethoden zum Vererbungsmechanismus und der Iden­ tifizierung von Kriminellen in Erscheinung, die in den wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Kriminalitätsdebatten der Jahrhundertwende eine be­ deutende Rolle spielten. Ein Blick auf seinen Werdegang und die Entwicklung seiner Theorien zur Vererbung soll helfen, die Grundlagen dieser Debatten besser verstehen zu können. Ähnlich wie Darwin verkörperte Galton den Typus des gentle­man scientist, der sich, finanziell durch privates Vermögen abgesichert, ­ungehindert seinen wissenschaftlichen Interessen widmen konnte. Galtons Zu­ sammenarbeit mit zahlreichen wissenschaftlichen Institutionen und staatlichen Einrichtungen demonstriert darüber hinaus das für Großbritannien lange Zeit typische Beispiel einer erfolgreichen Kooperation zwischen einem institutionell nicht gebundenen Wissenschaftler und privaten und staatlichen Foren der Ver­ mittlung und Popularisierung von Wissen.3 Die Aneignung und Instrumentalisie­ rung der von Galton entwickelten Eugenik durch eine von ihm unabhängige ­politische Pressuregroup, die 1907 gegründete Eugenics Education Society, ist ein weiteres Beispiel dafür, auf welche Weise singulär produziertes Wissen breiten­ wirksam rezipiert werden konnte. Anhand der Eugenics Education Society lassen 1

Das Leben und Wirken Francis Galtons ist bereits Gegenstand intensiver Forschung gewor­ den; zu den jüngeren biographischen Arbeiten gehören: Derek William Forrest, Francis ­Galton: The Life and Work of a Victorian Genius, London und New York 1974; Nicholas Wright Gillham, A Life of Sir Francis Galton: From African Explorer to the Birth of Euge­ nics, Oxford 2001; Michael Bulmer, Francis Galton. Pioneer of Heredity and Biometry, Bal­ timore und London 2003; Martin Brookes, Extreme Measure. The dark Visions and bright Ideas of Francis Galton, London 2004 erhebt keinen wissenschaftlichen Anspruch. Eine Fund­ grube (auch in Bezug auf Abbildungen) sind dagegen die von Galtons Schüler Karl Pearson herausgegebenen Bände: karl Pearson, The Life, Letters and Labours of Francis Galton, 1. Bd.: Birth 1822 to Marriage 1853; 2. Bd.: Researches in Middle Life; 3. Bd.: (a) Correlation, Personal Identification and Eugenics, (b) Characterisation, especially by letters, Cambridge 1914/1924/1930. 2 So der Titel eines Aufsatzes von Milo Keynes, Sir Francis Galton – A Man with a Universal Scientific Curiosity, in: Milo Keynes (Hrsg.), Sir Francis Galton, FSR: The Legacy of His Ideas, London 1993, S. 1–32. 3 Vgl. dazu Sabine Freitag und Monika Löscher, Vereine als Vermittler zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, in: Sybilla Nikolow und Arne Schirrmacher (Hrsg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander. Studien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahr­ hundert, Frankfurt am Main und New York 2007, S. 339–346.

192   4. Eugenik und die Frage nach Anlage oder Umwelt (1860–1930) sich insbesondere die Grenzen der Verankerung biologistischer Argumente in englischen Kriminalitätsdiskursen aufzeigen. In seinen Memoiren hat Francis Galton mehrfach darauf hingewiesen, wie wichtig die Publikation von Darwins On the Origin of Species im Jahre 1859 für die Entwicklung seiner eigenen wissenschaftlichen Laufbahn gewesen sei: „[It] made a marked epoch in my own mental development, as it did in human thought generally.“4 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Galton seine zweifellos zahlreichen Ta­ lente auf verschiedenen Forschungsgebieten erprobt und sich unter anderem mit Geologie, Kartographie und Meteorologie beschäftigt.5 Eine vierjährige For­ schungsreise durch das tropische südliche Afrika hatte ihn zu diesen Themen an­ geregt.6 Warum sich Galton plötzlich von diesen Forschungsgebieten abwandte, um sich ganz auf das Thema seines Lebens – Vererbung – zu konzentrieren, ist in der Literatur umstritten. Persönliche und intellektuelle Motive dürften dabei eine gleichermaßen große Rolle gespielt haben.7 Ohne Frage aber war es besonders seine Darwin Lektüre, die Galton darin bestärkte, „Heredity and the possible im­ provement of the Human Race“8 zu seinem zentralen Forschungsschwerpunkt auszubauen. Wie viele seiner Zeitgenossen hatte auch Galton die tief greifenden und beun­ ruhigenden Veränderungen eines beschleunigten Industriezeitalters mit Sorge zur Kenntnis genommen. Ähnlich wie viele Statistiker und Gefängnisärzte war er der Auffassung, dass im modernen urbanen Leben nach den Ursachen für die dege­ nerierenden Effekte gesucht werden müsse, die sich vor allem in den unteren 4 5

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8

Francis Galton, Memories of my Life, London 31909, S. 287 f., hier zit. nach Gillham, A Life of Sir Francis Galton, S. 155. In ihren Erinnerungen schrieb Beatrice Webb über Francis Galtons (1822–1911): „[T]he most relevant of Galton’s many gifts was the unique contribution of three separate and distinct processes of the intellect; a continious curiosity about, and rapid apprehension of individual facts, whether common or uncommon; the faculty for ingenious trains of reasoning; and; more admirable than either of these […] the capacity for correcting and verifying his own hypotheses, by the statistical handling of masses of data, whether collected by himself or sup­ plied by other students of the problem.“ Beatrice Webb, My Apprenticeship, Bd. 1, Har­ mondsworth 1938, S. 158; zu Galtons Talenten auch Leslie S. Hearnshaw, A Short History of British Psychology, 1840–1940, London 1964, S. 56–66: „For Galton was unquestionable a gen­ ius and, […] his genius manifested itself in most varied fields“ (ebd., S. 56). Zu Galtons Afrikareisen siehe Gillham, Francis Galton, Kap. 2: Geography and Exploration, S. 61–154; auch Forrest, Francis Galton. Neil Davie äußert die Vermutung, dass Galtons Interesse an Vererbung mit der Kinderlosigkeit seiner eigenen Ehe zusammenhing, wobei er auch darauf aufmerksam macht, dass alle Brüder Galtons und alle Schwestern seiner Frau ebenfalls kinderlos blieben (vgl. Davie, Tracing the Criminal, S. 243). Daniel Kelves hat darauf hingewiesen, dass Galton sich vorzugsweise For­ schungsgebiete ausgesucht habe, die noch relativ ‚unbesetzt‘ gewesen seien, Galton also wenig Konkurrenz, Widerspruch und Kritik habe erwarten müssen (Daniel Kelves, In the Name of Eugenics, New Haven ²1995, S. 8–11); Interesse an psychischen Vorgängen und Fehlleistungen gehen nach Meinung von Nicholas Gillham auch auf Galtons eigenen Nervenzusammenbruch während seiner Studienzeit in Cambridge zurück, der ihn zwang, sein Stu­dium zu unterbre­ chen, um auf Reisen Erholung zu suchen. Zugleich habe dieser Zusammenbruch aber intellek­ tuelle Selbstzweifel hinterlassen (vgl. Gillham, Francis Galton, S. 45, S. 150 f.). Galton, Memories of my Life, S. 288.

4.1. Francis Galton und das ­Geheimnis der Vererbung   193

Schichten beobachten ließen: „It is perfectly distressing to me“, so schrieb er 1869, „to witness the draggled, drudged, mean look of the mass of individuals, espe­ cially of women, that one meets in the streets of London and other purely English towns. The conditions of their life seem too hard for their constitutions, and to be crushing them into degeneracy.“9 Doch während der britische Sozialphilosoph Herbert Spencer in einer Kombination aus Darwin und Degeneration den Begriff des survival of the fittest prägte und darauf setzte, dass im natürlichen Selektions­ prozess ohnehin nur die Angepasstesten und Fähigsten überleben und die Schwa­ chen sterben würden, aktive Eingriffe also überflüssig seien,10 und Morel das Pro­ blem relativierte, indem er die vierte Generation von Degenerierten ohnehin für steril hielt, wollte Francis Galton den Dingen nicht einfach ihren Lauf lassen, standen doch Wettbewerbsfähigkeit und Fortschritt Großbritanniens auf dem Spiel.11 Sehr früh schon, in den 1860er Jahren, formulierte er Ideen zu kontrol­ lierten und gezielten Reproduktionsprogrammen, die sicherstellen sollten, dass ‚Charakter‘ und ‚Talent‘ sich durchsetzen konnten.12 Wissenschaftlich interessierte sich Galton von Anfang an mehr für die Ver­ erbung intellektueller Fähigkeiten und Kapazitäten als für die Vererbung äußer­ licher Merkmale. Doch wie ließ sich beweisen, dass intellektuelle Fähigkeiten erb­ lich bedingt waren? Galton besann sich auf eine relativ simple Methode: Stamm­ baumforschung (pedigrees). Der dabei zugrunde gelegte Gedanke war einfach: Wenn Begabung und Fähigkeit, Galton sprach vorwiegend von ability,13 durch   9 Francis

Galton, Hereditary Genius: An Inquiry into Its Laws and Consequences, London S. 340 (Erstausgabe 1869); auch zit. in Davie, Tracing the Criminal, S. 263. 10 Vgl. dazu auch Radzinowicz und Hood, The Emergence of Penal Policy, S. 30; auch Henry Maudsley hatte den Endpunkt des Degenerationsprozesses in „sterile idiocy“ gesehen (Maudsley, Physiology, S. 246 f.). 11 Auch diese Idee lässt sich bei Darwin finden, ders., Descent of Man, London 1871, S. 177; hier spricht er die Befürchtung aus, dass wenn man nicht „the reckless, the vicious and otherwise inferior members of society“ daran hindern würde „from increasing at a quicker rate than the better classes of men, the nation will retrograde, as has occurred too often in the history of the world.“ 12 Siehe dazu Francis Galton, Hereditary Genius: An Inquiry into Its Laws and Consequences, London 1869 [Reprint London 1892], S. 1, wo er von „selective breeding“ spricht, „quite prac­ ticable to produce a higly gifted race of men by judious marriage during several consecutive generations.“ Die Idee einer Reproduktionskontrolle über Menschen mit körperlichen oder geistigen Defekten war nicht neu, schon der Psychiater James Prichard hatte 1835 in seinem A Treatise on Insanity (1835, S. 336) Methoden thematisiert, wie man Heiraten unterer Schich­ ten überwachen könne, um die Weitergabe von Idiotie und die erbliche Disposition vom Geisteskrankheiten unterbinden könnte; siehe dazu auch Radzinowicz und Hood, Emer­ gence of Penal Policy, S. 28. 13 Galton glaubte allerdings, dass ‚ability‘ eine komplexe Eigenschaft sei, die auf mehreren erbli­ chen Komponenten beruhe, die separat vererbt werden könnten, nämlich „capacity, zeal, and vigour“: „for unless these three, or, at the very least, two of them, are combined, he [man, S.F.] cannot hope to make a figure in the world. The probability against inheriting a combi­ nation of three qualities not correlated together is necessarily in a triplicate proportion great­ er than it is against inheriting any one of them.“ Francis Galton, Hereditary Genius: An In­ quiry into Its Laws and Consequences, überarbeitete Aufl. New York 1879, S. 84; hier zit. nach Gillham, Francis Galton, S. 163. 21892,

194   4. Eugenik und die Frage nach Anlage oder Umwelt (1860–1930) die Natur bestimmt würden, dann müssten die nächsten Verwandten eines be­ deutenden Mannes mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls mit außergewöhn­ lichen Fähigkeiten ausgestattet sein. Frauen spielten in Galtons Stammbaumana­ lyse keine Rolle. Ihre ‚Leistungen‘ waren seiner Ansicht nach nicht messbar, da sie in der Öffentlichkeit keine den Männer ebenbürtige Rolle spielten. Der erste Artikel, in dem Galton seine Annahmen formulierte, erschien 1865 als zweiteiliger Beitrag über „Hereditary Talent and Character“ in Macmillan’s Magazine,14 einer populären Zeitschrift, in der auch Matthew Arnold, Herbert Spencer, Thomas Henry Huxley und Charles Lyell publizierten.15 Dieser Aufsatz markiert den Beginn einer öffentlichen Diskussion über die Vererbung von Intel­ ligenz, die bis heute andauert.16 Galton argumentiert darin, dass die allgemein anerkannte, durch die Natur bestimmte Weitergabe von Eigenschaften und Merk­ malen bei Tieren in gleicher Weise bei Menschen angenommen werden müsse. Man müsse davon ausgehen, dass die Vererbung intellektueller Eigenschaften nach dem gleichen Mechanismus ablaufe wie die Vererbung physischer Merkma­ le, die bei der Züchtung von Haustieren oder Kulturpflanzen leicht zu beobachten sei.17 Schon Darwin hatte auf die durch gezielte Eingriffe erzeugten positiven Ef­ fekte bei Tierzüchtungen hinwiesen: „We cannot suppose that all the breeds were suddenly produced as perfect and as useful as we now see them; indeed in many cases, we know that this has not been their history. The key is man’s power of ac­ cumulative selection: nature gives successive variations; man adds them up in cer­ tain directions useful to him.“18 Auf rein spekulativem Wege nahm Galton in sei­ ner frühen Schrift sogar August Weismanns Keimplasmatheorie19 rund 20 Jahre vorweg, indem er behauptete, dass die Kontinuität des Keimplasmas (weibliche 14 Francis

Galton, Hereditary Talent and Character, in: Macmillan’s Magazine 12 (1865), S. 157–166, S. 318–327. 15 In Macmillan’s Magazine erschienen auch Gedichte von Henry Wandsworth Longfellow und Christina Rossetti, vgl. Gillham, Francis Galton, S. 156. 16 Populäres Beispiel sind die Thesen von Thilo Sarrazin in seinem Buch Deutschland schafft sich ab von 2009; zu den wissenschaftlichen Forschungsdiskussionen siehe z. B. das Interview „Es gibt kein Zentrum für unsere Intelligenz“ mit dem amerikanischen Verhaltensgenetiker Ro­ bert Plomin, Professor am Zentrum für Soziale, Genetische und Entwicklungspsychiatrie am King’s College in London, in: FAZ, Nr. 119, 24. Mai 2008, S. 35: „Vermutlich sind etwa 50 Pro­ zent der intellektuellen Unterschiede zwischen den Menschen auf die Gene zurückzuführen. Das heißt allerdings auch, dass 50 Prozent nicht erblich sind. Neu ist für uns, dass der geneti­ sche Faktor im Laufe des Lebens sich verändert und im Alter eine zunehmend größere Rolle spielt.“ 17 Erst spät, in seinen Memories of my Life (3. Aufl. London 1909, S. 288), zog Galton auch die Rolle des sozialen Umfeldes in Betracht, das für die Karrierechancen von Nachkommen ent­ scheidend sein konnte. Ihm sei auch klar, so hieß es jetzt als Reaktion auf die vielfältigen Einwände auf seine Vorstellungen, dass der Sohn eines großen Mannes automatisch „will be placed in a more favourable position for advancement, than if he had been the son of an or­ dinary person.“ 18 Charles Darwin, On The Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preserva­ tion of Favored Races in the Struggle for Life, London 1859, S. 29; hier zit. nach Gillham, Francis Galton, S. 156. 19 Siehe dazu Kap. 5.

4.1. Francis Galton und das ­Geheimnis der Vererbung   195

und männliche Keimzellen) für die Weitergabe erworbener Eigenschaften wenig Raum lasse.20 Auch dieser Ansicht stimmte Charles Darwin zu: „I am inclined to agree with Francis Galton in believing that education and environment produce only a small effect on the mind of anyone, and that most of our qualities are innate.“21 Ausführlicher arbeitete Galton seine Überlegungen in der 1869 publizierten Untersuchung Hereditary Genius aus. Ihr lag eine größere Datenbasis zugrunde, und zum ersten Mal setzte er die Gaußsche Normalverteilungkurve (bell curve) als evaluierende Technik ein.22 Um nachzuweisen, dass Talent und Charakter erb­ lich sind, sammelte er über Jahre Daten und Informationen berühmter und er­ folgreicher Männer aus Lexika und Nachrufen der Times. Alle seine Berechnun­ gen schienen mehr oder weniger das gleiche Ergebnis nahe zulegen: Die Nach­ kommen eminenter Männer zeigten eine größere Wahrscheinlichkeit, ebenfalls eine bedeutende Rolle zu spielen oder durch besondere Talente aufzufallen. Je nä­ her die Verwandtschaft (Vater, Bruder, Sohn), desto größer diese Wahrscheinlich­ keit. Die von ihm untersuchten 300 einflussreichen Familien zeigten eine deutlich höhere ability ratio als die Durchschnittsbevölkerung. Sie brachten bereits in der nächsten Generation fast 1000 Männer von Bedeutung und Einfluss hervor. Galton war von seinen mathematischen Berechnungen aufgrund von Stamm­ baumanalysen so überzeugt, dass er sich gegen Ende seines Buches sogar berech­ tigt glaubte, seine Ergebnisse auf Rassen zu extrapolieren, obgleich ihm dafür gar keine vergleichbaren Daten zur Verfügung standen. Anlass zu seiner Übertragung gaben ihm lediglich die eigenen, während seiner Afrikareisen gemachten Erfah­ rungen. Diese hatten ihn davon überzeugt, dass die afrikanische Bevölkerung auf einer niedrigeren Stufe des Zivilisationsprozesses stehen geblieben sei und folg­ lich auch weniger Intelligenz aufweise.23 Eine Rolle spielten dabei sicher auch Galtons enge Verbindungen zum Anthropologischen Institut24 und zur British 20 Siehe

dazu Ruth Schwartz Cowan, Sir Francis Galton and the Study of Heredity in the Nine­ teenth Century, Ann Arbor/MI 1969, S. 30 f.; auch Gillham, Francis Galton, S. 157. 21 Charles Darwin zitiert in: Karl Pearson, The Life, Letters and Labours of Francis Galton, Cambridge 1914, Bd. 1, S. 1, zit. auch in Gillham, Francis Galton, S. 155. 22 Galton, Hereditary Genius; zum genauen Verfahren siehe Gillham, Francis Galton, S. 157– 163. 23 Ein Forscher, so schrieb Galton, „has to confront native chiefs in every inhabited place. The result is familiar enough – the white traveller almost invariably holds his own in their pres­ ence. It is seldom that we hear of a white Traveller meeting with a black chief whom he feels to be the better man.“ Galton, Hereditary Genius, S. 339; hier zit. nach Gilham, Francis ­Galton, S. 168. 24 Zur Anthropological Society of London (1863–1871) siehe Angelique Richardson, Love and Eugenics in the Late Nineteenth Century: Rational Reproduction and the New Woman, Ox­ ford 2003, S. 24, Anm. 99, die betont, dass hier bereits eine deutliche Verschiebung zur „new science of physical anthropology“ stattgefunden habe, die sich auf eine „polygenic line“ kon­ zentrierte im Gegensatz zur älteren „monogenic line“ der Ethnologie, die von der Abstam­ mung eines Menschenprototyps (Adam und Eva) ausging. Diese neue physische Anthropolo­ gie habe argumentiert „for the fixity and persistence of racial characterists, transforming the concept of foreigness“; zur Fusion von Anthropological und Ethnological Society und die wachsende kulturelle Autorität von Wissenschaft siehe Martin Fichman, Biology and Politics:

196   4. Eugenik und die Frage nach Anlage oder Umwelt (1860–1930) Association for the Advancement of Science, die eine eigene anthropologische Sektion unterhielt. Auf dem Weg zu einer systematischen Wissenschaft verlagerte sich die Tätigkeit der Anthropologie seit den frühen 1870er Jahren ganz auf die Beschreibung und Klassifizierung der unterschiedlichen körperlichen Merkmale von verschiedenen Rassen. Sie entwickelte sich zu einer physical anthropology, und Galton zeigte sich an der Quantifizierung physischer Attribute besonders interes­ siert.25 In jungen Jahren hatte er sich kurzzeitig sogar mit Phrenologie beschäf­ tigt, die vor allem durch den schottischen Arzt George Combe popularisiert wor­ den war, als wissenschaftliche Bewegung in Großbritannien aber völlig marginal blieb.26 Seit 1875 nahm Galton dann aber eine führende Position im Anthropo­ metric and Racial Committee der British Association ein.27 Die Übertragung seiner Intelligenzforschung auf eine mögliche ­Rassenforschung, d. h. Galtons theoretische ‚Sprünge‘ waren fester Bestandteil seines wissenschaft­ lichen Arbeitens und seiner Theoriebildung. Er war darin aber kein Einzelfall. Diskussionen über menschliches Verhalten, über Intelligenz, über Vererbung wur­ den lange Zeit von derartigen, heute methodisch unzulässigen Generalisierungen geprägt: „This temptation to leap from trying to understand and explain actual data to the grand and sweeping generalization whose basis derives only from per­ sonal observation and prejudice“, so gibt Nicolas Gillham zu bedenken, „has often been a hallmark of studies on genes, intelligence, and behaviour.“28 Galtons zeit­ genössische wissenschaftliche Leistung bestand aber zweifellos darin, dass er der Öffentlichkeit eine neue Theorie vorstellte, die zum ersten Mal von der strikten Erblichkeit intellektueller Fähigkeiten ausging. Daneben führte er mit der Stamm­ baumanalyse eine Methode ein, die, in dem was später human genetics genannt Defining the Boundaries, in: Bernard Lightman (Hrsg.), Victorian Science in Context, Chi­ cago und London 1997, S. 94–118, hier S. 102: „the often acrimonoius disputes between the rival (anti-Darwinian) Anthropological Society and the (Darwinian) Ethological Society dur­ ing the 1860s must be seen in the context of their mutual aim of establishing the paradigma of the ‚scientific study of man‘.“ Thomas Henry Huxley sei es schließlich 1871 geglückt, die beiden Gesellschaften zum Anthropological Institute of Great Britain and Ireland zusammen­ zuführen, wissenschaftlich gewann die ‚physische Anthropologie‘ für die nächsten Jahre den größeren Einfluss; zur Entwicklung der Anthropologie allgemein siehe Adam Kuper, Anthro­ pology, in: Theodore M. Porter und Dorothy Ross (Hrsg.), The Cambridge History of Sci­ ence, Bd. 7: The Modern Social Sciences, Cambridge 2003, 354–378; zu den Programmen der Anthropologie siehe ders., The Invention of Primitive Society: Transformation of an Illusion, London 1988. 25 Davie, Une des défigurations les plus tristes, S. 191–220. 26 Siehe dazu Gillham, Francis Galton, S. 215–17; zur Geschichte der Phrenologie in Großbri­ tannien siehe Roger Cooter, The Cultural Meaning of Popular Science: Phrenology and the Organisation of Consent in Nineteenth Century Britain, Cambridge 1984; Davie, Tracing the Criminal, S. 37–42; Phrenologie blieb in Großbritannien eine marginale Erscheinung, als ­direkte Vorläuferin der psychiatrischen Debatten (Kapitel 3 dieser Arbeit) kann sie meines Erachtens nicht gelten, die medizinische Zunft nahm mehrheitlich eine skeptische Haltung ihr gegenüber ein, vgl. Elizabeth Fee, Nineteeth-Century Craniology: the Study of the Fema­ le Skull, in: Bulletin of the History of Medicine 53 (1979), S. 415–433. 27 Siehe Davie, Tracing the Criminal, S. 97. 28 Vgl. Gillham, Francis Galton, S. 168.

4.2. Politik und Methode   197

werden sollte, jahrzehntelang eine führende Rolle spielen sollte. Da Galton kein Biologe, sondern Mathematiker war,29 näherte er sich dem Problem der Verer­ bung nie, wie Gregor Mendel, auf dem Weg biologischer Experimente, sondern ausschließlich auf dem Weg quantitativer biostatistischer Analysen.30 In den spä­ ten 1870er und 1880er Jahren beschäftigte er sich dann intensiver mit der Ent­ wicklung technischer Verfahren bzw. Methoden, die helfen sollten, seine eigenen Vermutungen über die Vererbung intellektueller Fähigkeiten zu bestätigen. Als physical anthropologist interessierte ihn dabei besonders der Zusammenhang zwi­ schen geistiger Anlage und sichtbaren körperlichen Zeichen.

4.2. Politik und Methode: composite photography Das Ende das Deportationssystems und das sogenannte ticket-of-leave-System, das eine Überwachung vorzeitig aus der Haft entlassener Strafgefangener vorsah, hatten in den 1850er und 1860er Jahren ‚moralische Paniken‘31 in der Öffentlich­ keit ausgelöst, die zur Verabschiedung des Habitual Criminals Act von 1869 und zwei Jahre später zu seiner modifizierten Version, dem Prevention of Crimes Act (1871), führten. Das Gesetz sah die Überwachung entlassener Strafgefangener durch Polizeikräfte vor. Bei Verdacht auf Rückfälligkeit lag die Beweislast der Un­ schuld beim ehemaligen Strafgefangenen. Dieses Überwachungssystem, so führen u. a. Clive Emsley und Leon Radzinowicz aus, funktionierte allerdings mehr schlecht als recht: „Supervision was not an English forte.“32 Doch in einer Zeit, die durch starke Abwanderungsbewegungen vom Land in die Stadt und von Angst vor Überfremdung gekennzeichnet war, erhielt die Suche nach effizienten und verlässlichen Identifizierungsmethoden oberste Priorität und lenkte die For­ schung in eine bestimmte Richtung. Simon Cole, der sich intensiv mit der Ent­ wicklung kriminaltechnischer Erkennungsmethoden beschäftigt hat, beschreibt das Problem so: „There remained the thorny problem of how police men and magistrates were to recognise an ‚habitual criminal‘ when they saw one, since there was evidence that many recidivists represented themselves as first offenders, and were dealt with as such in summary courts.“33 Fraglos handelte es sich bei 29 Vgl.

Gillham, Francis Galton, S. 3; zunächst hatte Galton Medizin am King’s College in Lon­ don studiert, dieses aber zugunsten eines Mathematik-Studiums in Cambridge abgebrochen. 30 Vgl. dazu vor allem Francis Galton, Natural Inheritance (1888), und ders., Co-relations and Their Measurement, Chiefly from Anthropometric Data, Proceedings of the Royal Society 45 (1888), S. 135–45, in diesem Vortrag führte er die ersten Korrelationskoeffizienten für ver­ schiedene Variablen ein. 31 Zu diesen ‚moralischen Paniken‘ siehe Anm. 325 in Kap. 2. 32 Radzinowicz und Hood, The Emergence of Penal Policy, S. 250, Hervorhebung im Original. 33 Davie, Tracing the Criminal, S. 91; Radzinowicz und Hood, The Emergence of Penal Policy, S. 251; besonders aufschlussreich Simon A. Cole, Suspect Identities: A History of Fingerprint­ ing and Criminal Identification, Cambridge/Mass. 2001, S. 15: „The shift from classical to re­ formist jurisprudence [in the mid-nineteenth century, S.F.] demanded technologies of crimi­ nal identification.“

198   4. Eugenik und die Frage nach Anlage oder Umwelt (1860–1930) der Einführung photographischer Aufnahmen und dem Aufbau systematischer Verbrecherkarteien um Möglichkeiten, Wiederholungstäter besser erfassen und identifizieren zu können. Doch die Effizienz solcher Karteisysteme zeigte schon bald ihre Grenzen. Es war die schiere Masse an Fotomaterial, die eine rasche Be­ arbeitung zunehmend unmöglich machte bzw. die sich als so zeitaufwendig er­ wies, dass der Erfolg in keinem Verhältnis zur investierten Arbeit stand. Je größer die fotographischen Sammlungen bei Scotland Yard wurden, umso größer wurde auch die Wahrscheinlichkeit, dass Straftäter nicht identifiziert wurden.34 Edmund Du Cane, Vorsitzender der Directors of Convict Prisons und ab 1877 auch der Leiter der neu eingerichteten Prison Commission, wusste um die Defizi­ te des polizeilichen Erkennungs- und Überwachungssystems.35 Die Schwierigkei­ ten einer effizienten Erfassung von Rückfalltätern thematisierte er 1875 in seiner Ansprache vor der repression-of-crime-Sektion der Social Science Association. Für ihn waren besonders die aktuellen – und das hieß zu diesem Zeitpunkt vor allem die medizinischen und psychiatrischen – Diskussionen über Kriminalitätsgenese und Verbrecherkonstitution unter verwaltungstechnischen Fragen von Bedeu­ tung.36 Allerdings waren die Aussagen und Erkenntnisse des von ihm befragten Gefängnispersonals bezüglich der Anlage- und Umwelteinflüsse keineswegs ein­ deutig: Während Gefängnisgeistliche eher Umwelteinflüsse betonten, glaubten einige Gefängnisärzte eher an erbliche Dispositionen.37 Obwohl der Prison Com­ missioner die endgültige Beantwortung dieser Frage weiterer Forschung überlas­ sen wollte, bekannte er sich persönlich zu der Auffassung, dass ein krimineller Lebenswandel sich an körperlichen Merkmalen ablesen lasse, die viele Straftäter miteinander teilten: „[I]t certainly is my own observation, that among a large number of criminals there are sure to be found a considerable proportion who have certain physical characteristics in common, which may or may not be attri­ buted to the kind of life they lead, but which denote with certainty the habitual criminal.“38 Die Fotografien von Gefängnisinsassen hatten Du Cane darin bestä­ 34 Zur

Photographie als Ermittlungsmedium im Polizeidienst siehe u. a. Miroslav Vec, Die Spur des Täters. Methoden der Identifikation in der Kriminalistik, Baden-Baden 2002; Peter Becker, Dem Täter auf der Spur. Eine Geschichte der Kriminalistik, Darmstadt 2005; Susanne Regener, Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999. 35 Edmund Du Cane (1830–1903), Lieutnant Colonel (Royal Engineers), Vorsitzender der Di­ rectors of Convict Prisons, Surveyor-General of Prisons und Inspector-General of Military Prisons, nach Schaffung der Prison Commission im Jahr 1877 auch ihr Vorsitzender bis 1895, DNB, 64 (1901), S. 528–29; ausführlich zu Du Cane siehe Séan Conville, The Social and Pe­ nal Ideas of Sir Edmund Du Cane, in: ders., English Local Prisons 1860–1900, London und New York 1995, S. 149–187. 36 Vgl. Du Cane, Address on Repression of Crime, bes. S. 303 f. 37 Du Cane selbst zeigte sich von Bruce Thomsons Aufsatz beeindruckt, obgleich dieser nicht den Einfluss der Umwelt berücksichtigte: „[S]howing in how many instances a great many members of the same family became criminals, and were even in prison at the same time, […] does not prove any hereditary taint, but only that all the members are equally badly brought up and with the same result.“ Du Cane, Address on Repression of Crime, S. 302. 38 Ebd., S. 302.

4.2. Politik und Methode   199

tigt, dass es sich bei vielen von ihnen um Beispiele einer sich zu einem inferioren Typ zurückentwickelten ‚Rasse‘ (race) handelte: The characteristics of this class are entirely those of the inferior races of mankind – wandering habits, utter laziness, absence of forethought or provision, want of moral sense, cunning, dirt, and instances may be found in which their physical characteristics approach those of the lower animals so that they seem to be going back to the type of what Professor Darwin calls ‚our arbor­eal ancestors‘.39

Der Hinweis ist bedeutsam, da hier – ein Jahr vor dem Erscheinen von Lombro­ sos L’uomo delinquente – die Möglichkeit suggeriert wurde, dass es solche allen Kriminellen gemeinsamen äußeren Kennzeichen gab, die durch die Entwicklung eines effizienten Identifizierungsprogramms erfasst werden konnten. Offensicht­ lich gab es, wie Simon Cole anmerkt, eine innere Logik, die sich bei der Suche nach effizienten Identifizierungsmethoden mit Fotografie und der Vorstellung ei­ nes „criminal body“40 verband, den es zu dechiffrieren galt. Es sei eine unwider­ stehliche Versuchung gewesen, Photographie über das hinaus zu nutzen, was sie zu leisten im Stande gewesen sei, d. h. sie nicht nur zur Erfassung und Registrie­ rung von Straftätern einzusetzen, sondern die gemeinsamen physiognomischen Attribute bekannter Krimineller zu nutzen, um festzustellen, wie Kriminelle im Allgemeinen aussahen und dadurch zukünftige Verbrecher präventiv noch vor der Begehung einer Straftat zu identifizieren.41 Aus diesen Überlegungen heraus entstand die Zusammenarbeit zwischen dem unabhängigen Forscher Francis Galton und dem in staatlichen Diensten stehen­ den Prison Commissioner Edmund Du Cane. Letzterer verkörperte insofern ­einen neuen Typus des Beamten, als er sich nicht scheute, externe Expertise für verwaltungstechnische Aufgaben einzuholen und wissenschaftliche Projekte zu fördern. Was Du Cane mit Galton vormachte, würde sein Nachfolger im Amt, Sir Evelyn Ruggles-Brise, mit Galtons Schüler Karl Pearson in gewisser Weise wieder­ holen.42 Du Cane nahm zu Galton Kontakt auf, weil dieser sich durch sein Enga­ gement im Anthropologischen Institut und durch die Erfassung und Verzeich­ nung körperlicher Merkmale bereits einen Namen gemacht hatte. In einem Brief an Galton gab Du Cane seiner Überzeugung Ausdruck: „Special forms of crime have a typical characteristic face; […] crimes of violence and crimes of lust cer­ tainly have.“43 Galtons positive Antwort auf die Anfrage, ob er sich anthropome­ trisch mit einer Gruppe von Insassen verschiedener convict-Gefängnisse, also Ge­ fängnisse für Schwerverbrecher, beschäftigen wolle, wurde nicht nur durch sein Interesse an solchen Messungen bestimmt, sondern auch durch sein Interesse an Fragen der menschlichen Degeneration. Galton kannte die Arbeiten von Morel, 39 Ebd.,

S. 302 f., Hervorhebung S.F. zum Buchtitel von David G. Horns, The Criminal Body. Lombroso and the Anat­ omy of Deviance, New York und London 2003. 41 Cole, Suspect Identities, S. 26; siehe auch Davie, Tracing the Criminal, S. 96. 42 Siehe Kap. 5. 43 Sir Edmund du Cane an Francis Galton, 12. Februar [1880 (?)], Galton Papers, 152/6A, Uni­ versity College London Archives, hier zit. nach Davie, Tracing the Criminal, S. 97. 40 Referenz

200   4. Eugenik und die Frage nach Anlage oder Umwelt (1860–1930) Thomson, Maudsley und Nicholson.44 Sowohl die Beziehung zwischen Krimina­ lität und Krankheit schien ihm ausgemacht als auch der Zusammenhang zwi­ schen bestimmten körperlichen Kennzeichen und der Neigung ihres Trägers zu kriminellen Handlungen.45 Überzeugt davon, „[that] we are entitled to expect […] in any large body of convicts a prevalence of the truly criminal characteris­ tics, whatever these may be,“46 ging er eifrig an die Arbeit, um eine Methode zu entwickeln, die diese Annahmen wissenschaftlich bestätigen konnte. Dank Du Canes Unterstützung wurde es Galton ermöglicht, tausende, zum Zweck der Identifizierung im Home Office gelagerte Fotografien von Straftätern auszuwerten, sowie mit Strafgefangenen in den Gefängnissen und mit den ent­ sprechenden Behörden zu sprechen. Er durfte Kopien der Fotos von ‚verabscheu­ ungswürdigen‘ Kriminellen (heinous criminals) für seine eigenen statistischen Untersuchungen anfertigen.47 Galton arbeitete vor allem mit Fotografien von In­ sassen der Gefängnisse Pentonville und Millbank, die durch persönliche Informa­ tionen über Leben und kriminelle Karriere der entsprechenden Straftäter ergänzt wurden.48 Auch bei dieser Analyse war die dahinter stehende Idee einfach: Wenn eine bestimmte Gruppe von Individuen bestimmte mentale Eigenschaften teilte, dann konnten die physiognomisch gemeinsamen Merkmale dadurch gefiltert und herausgearbeitet werden, indem Fotografien ihrer Gesichter übereinander gela­ gert wurden (composite photography). Dieses Verfahren würde, so Du Cane, die singulären, individuellen Merkmale in den Hintergrund und gemeinsame Merk­ male verstärkt hervor treten lassen. Mit einem solcherart erzeugten kriminellen Durchschnittsgesicht, das die markanten Linien oder Merkmale des entsprechen­

44 Vgl.

dazu Radzinowicz und Hood, The Emergence of Penal Policy, S. 29. Davie führt diese Ansicht Galtons auf den Einfluss des Arztes und Statistikers Dr. Wil­ liam Guy (1810–1885) zurück. Dieser hatte in seinem Buch Results of the Census of the Population of the Convict Prisons in England, taken in 1862 and 1873 (London 1875) auf der Grundlage des Zensus von 1862 Straftaten in 5 Gruppen unterteilt und ihre Häufigkeit mit vier Gruppen von männlichen Straftätern korreliert, die nach ihren mentalen und körperli­ chen Eigenschaften klassifiziert worden waren. Sein Ergebnis zeigte, dass Kriminelle, die an geistigen Störungen litten, besonders häufig in sexuelle Straftaten involviert waren, in ver­ suchte Tötungen mit Gift und in Gewaltverbrechen, aber selten, wenig überraschend, in Ver­ brechen, die ein „maximum of forethought and contrivance“ benötigten, siehe dazu Davie, Tracing the Criminal, S. 96 f.; David Nicolson hat in seiner Präsidentenansprache von 1895 ähnliche Beziehungen zwischen mental deficiency und z. B. Gewaltverbrechen angesprochen, allerdings diente ihm dieser Zusammenhang dann zu Demonstration, dass die statistisch stets viel größere Zahl von Eigentumsdelikten eben nicht von geistig beschränkten Personen be­ gangen wurden, siehe Nicolson, Crime, Criminals, S. 587. 46 Francis Galton, Address to the Department of Anthropology of the British Association, in: Nature 16 (23. August 1877), S. 346. 47 Francis Galton, Address to Section D – Biology (Department of Anthropology), British As­ sociation for the Advancement of Science, Plymouth, in: Nature 16 (23. August 1877), S. 344– 347, hier S. 346. 48 Siehe Davie, Tracing the Criminal, S. 97 (Home Office an Francis Galton, 18. April–22 May 1877, University College London Archives, Galton Papers, 158/1B); siehe auch Francis Galton, Composite Portraits, in: Journal of the Anthropological Institute 8 (1878), S. 132–144, hier S. 143. 45 Neil

4.2. Politik und Methode   201

den Verbrechertypus hervorhob,49 sollten dann Aufnahmen mutmaßlicher Ver­ brecher abgeglichen werden, um erste Anhaltspunkte darüber zu gewinnen, ob es sich bei der entsprechenden Person um einen kriminellen Charakter handelte oder eher nicht. Unterteilt wurden die Photographien von Gefängnisinsassen nach der Natur ihrer Straftaten in drei Gruppen. Die erste Gruppe umfasste Mord, Totschlag und Einbruch, die zweite schwere Verbrechen (felony) und Fälschung (forgery), die dritte sexuelle Straftaten. Ein Jahr nach seinem Bericht über die composite photography vor der British Association erläuterte Galton seine Methode in einem großen Abendvortrag im Anthropologischen Institut.50 Er konnte bis zu acht Fotografien übereinander la­ gern, alle Fotos mussten die gleiche Größe haben, und alle Personen die gleiche Haltung einnehmen: Damit ließe sich der einzigartige Ausdruck von Gewaltver­ brechern isolieren, so behauptete er.51 Allerdings wurde Galton in der Folgezeit zunehmend bewusst, dass man den kriminellen Typus so nicht erschließen konn­ te. Das Problem war, dass die Durchschnittskonturen solcherart kombinierter Ge­ sichter ein relativ gleichmäßiges Gesicht erzeugten, das fast schön zu nennen war, denn es ignorierte alle extremen Abweichungen individueller Gesichter. Spätes­ tens in seinen Inquiries into Human Faculty and its Development, die 1883 erschie­ nen, musste Galton zugeben, dass zusammengesetzte Fotografien „produce faces of mean description, with no villainy written on them.“52 Zwar unternahm er noch einmal den Versuch zusammengesetzter Fotografien von Geisteskranken, aber deren Gesichtszüge waren so unregelmäßig, dass das Hervortreten einer kla­ ren gemeinsamen Linie unmöglich war.53 In den Behörden erzeugten Galtons Experimente mit composite photography keine weiteren Folgen. Die Ergebnisse wurden einfach ad acta gelegt. Was an die­ ser Episode aber aufschlussreich erscheint, ist nicht nur Galtons eigenes Bestre­ ben, eine akzeptable Methode zu entwickeln, die seine allein aus subjektiver Wahrnehmung gewonnenen Ansichten als richtig bestätigen sollte, sondern auch die enge Verflechtung von wissenschaftlicher Methodenentwicklung und politi­ schem Zeitgeist. Wachsende Überfremdungsängste hatten die Suche nach effizi­ enten Identifikationsmethoden sicherlich angeheizt. Die allgemeine politische Verunsicherung kam in England z. B. auch das harsche Vorgehen gegen Wohnsitz­ 49 Für

die Details dieser Technik siehe Francis Galton, Inquiries into Human Faculty and its Development, London 1907, Appendix 1, S. 221–241; zum Kontext am besten Davie, Une des défigurations les plus tristes, S. 191–220; auch Peter Hamilton und Roger Hargreaves, The Beautiful and the Damned: The Creation of Identity in Nineteenth Century Photography, London 2001, bes. Kap. 3; David Green, Veins of Resemblance: Photography and Eugenics, in: The Oxford Art Journal 7 (1985), S. 3–16; Allan Sekula, The Body and the Archive, in: Octo­ ber 39 (1986), S. 3–64. 50 Francis Galton, Composite Portraits, in: Journal of the Anthropological Institute 8 (1878), S. 132–144. 51 Vgl. dazu Francis Galton, in: Nature (1877), S. 346. 52 Galton, Inquiries into Human Faculty and Its Development, zit. nach Gillham, Francis Gal­ ton, S. 217. 53 Siehe dazu Gillham, Francis Galton, S. 219.

202   4. Eugenik und die Frage nach Anlage oder Umwelt (1860–1930) lose und Landstreicher zum Ausdruck.54 Die Erkennungsmethoden konnten nur dann funktionieren, wenn äußerlich sichtbare und damit erkennbare Merkmale, die den Kriminellen vom Nicht-Kriminellen unterschieden, tatsächlich existier­ ten. Das Bedürfnis nach dem Vorhandensein solcher Merkmale wurde getragen von der Hoffnung, man könne bald besser und genauer einschätzen, mit wem man es zu tun habe. In den besorgten Mittel- und Oberschichten hätte dies zwei­ fellos zu einer gewissen Beruhigung beigetragen.

4.3. Daktyloskopie Für Galton als Wissenschaftler war es bezeichnend, dass er sich durch den Fehl­ schlag der composite photography nicht veranlasst sah, seine Hypothese von der grundsätzlichen Andersartigkeit von Kriminellen zu überdenken. Während seine Beschäftigung mit composite photography nicht in die Annalen der Kriminalge­ schichte eingehen sollte, war einer anderen Erfindung langfristig ein Erfolg sicher. Wieder ging der Anstoß von seinem Cousin Charles Darwin aus. Dieser hatte im Frühjahr 1880 den Brief eines jungen schottischen Arztes, Henry Faulds vom Tsu­ kiji Hospital in Tokio, erhalten, der sich seit 1878 mit Fingerabdrücken zunächst auf alten prähistorischen Keramikvasen, dann mit denen von Affen und schließ­ lich mit Fingerabdrücken zeitgenössischer Japaner beschäftigt hatte.55 Faulds glaubte, dass seine Entdeckung von einigem Interesse für den von ihm sehr be­ wunderten Darwin sein würde: Nicht nur waren die Linien der Abdrücke einzig­ artig für jedes Individuum, auch klassifizierende Einordnungen ließen sich vor­ nehmen. Die Brauchbarkeit dieser Technik zur Identifizierung von Kriminellen deutete Faulds bereits in seinem Brief an Darwin an. Darwin sandte diesen Brief an Galton weiter, der ihn im Anthropologischen Institut vorstellen sollte. Als eine Veröffentlichung dieses Briefes durch das Institut nicht zustande kam, veröffent­ lichte Faulds seine Erkenntnisse in der Zeitschrift Nature. Er hob darin die Ähn­ lichkeit menschlicher Fingerabdrücke mit denen von Affen hervor, die weiter un­ tersucht werden sollte. Doch ein anderer, von ihm formulierter Vorschlag erregte weitaus größere Beachtung: „When bloody finger-marks or impressions on clay, glass, &c., exist, they may lead to the scientific identification of criminals.“56 Faulds zog auch die forensische Identifikation von Opfern krimineller Straftaten in Betracht. Selbst wenn nur die Hände verstümmelter Leichen geborgen werden konnten, könne Vererbung Experten in die Lage versetzen, mit beachtlicher Wahr­ scheinlichkeit die Verwandten des Verstorbenen zu bestimmen, in manchen Fäl­ len sogar mit höchster Sicherheit.57 54 Siehe

dazu Radzinowicz und Hood, The Emergence of Penal Policy, Kap. 11: Draining the Reservoir of Crime: The Vagrant Criminal, S. 339–375. 55 Zum Folgenden besonders das Kapitel ‚Fingerprinting‘ in: Gillham, Francis Galton, S. 231– 249. 56 Henry Faulds, On Skin Furrows in the Hands, in: Nature 22 (1880), S. 605. 57 Vgl. ebd.

4.3. Daktyloskopie   203

Bereits in den 1860er Jahren hatte sich ein anderer britischer Staatsbürger, Sir William Herschel, mit Fingerabdrücken im fernen Indien beschäftigt. Als Verwal­ tungsbeamter in Bengalen war Herschel mit der Abwicklung von Pensionszahlun­ gen an die in britischen Diensten stehenden Inder betraut. Aufgrund des hohen Anteils an Analphabeten und zahlreicher Versuche von Einheimischen, unberech­ tigte Ansprüche auf britische Pensionszahlungen zu erheben, war Herschel dazu übergegangen, Verträge und Dokumente mit Fingerabdrücken unterzeichnen zu lassen, nachdem durch Zufall ein Einheimischer seine Hand vor Vertragsunter­ zeichnung in Öltinte gesteckt und dadurch ein deutliches Zeichen auf dem Doku­ ment hinterlassen hatte. Herschel erkannte schnell, wie nützlich Fingerabdrücke zu Identifizierung von Personen sein konnten. Nach seiner Rückkehr nach Oxford veröffentlichte er am 25. November 1880, genau eine Ausgabe später als Faulds, seine Erkenntnisse in Nature.58 Er verwies auf seine 20jährige Praxis mit Fingerab­ drücken und – ein wichtiger Hinweis – bemerkte, dass sich Fingerabdrücke nicht veränderten, die typischen Linien und Kurven ein Leben lang erhalten blieben und sich sogar nach Verletzungen der Oberfläche wiederherstellten. Nicht nur zur Identifikation von Deserteuren und Kriminellen glaubte er ein passendes System gefunden zu haben, sondern auch zur Klärung verwandtschaftlicher Beziehungen, z. B. von legitimen oder illegitimen Erben, einem Problem, das den Zeitgenossen seit dem Aufsehen erregenden Tichborne-Fall lebhaft vor Augen stand.59 Galtons wissenschaftliche Leistung bestand nun darin, dass er ein Klassifika­ tionssystem mit Ein- und Unterteilungen, mit Verhältnisbestimmungen von ­Linien, ihrem Kurvenverlauf und ihren Zwischenräumen ausarbeitete. Mit Hilfe dieses Systems sollte es möglich werden, nicht nur eine systematische Kartei auf­ zubauen, sondern auch den Abgleich mit unbekannten, sichergestellten Fingerab­ drücken möglichst rasch zu gewährleisten. Galton analysierte über 2500 Finger­ abdrücke, die er von Besuchern seines Anthropometrischen Labors in South Ken­ sington über Jahre hin angefertigt hatte.60 Ende der 1880er Jahre beeindruckte er 58 William

J. Herschel, Skin Furrows of the Hand, in: Nature 23 (1880), S. 76. Faulds als auch Herschel spielten auf den berühmten Tichborne-Fall an, einen Pro­ zess um Betrug und angebliche Identität eines verschollenen reichen Erbens, der im viktoria­ nischen England großes Aufsehen erregte. Auch Galton bemerkte im Januar 1888 in seiner Präsidentenansprache im Anthropologischen Institut, dass ein solch kostspieliger und lang­ wieriger Prozess mit der entsprechenden Technik und unter der Voraussetzung, man wäre im Besitz eines Fingerabdrucks des echten Tichborne gewesen, hätte vermieden werden können, siehe Francis Galton, Presidential Address, January 1888, in: Journal of the Anthropological Institute 17 (1888), S. 35; zum Fall Tichborne siehe Edgar Feuchtwanger, Der Fall Tich­ borne, in: Andreas Fahrmeir und Sabine Freitag (Hrsg.), Mord und andere Kleinigkeiten. Historische Kriminalfälle aus fünf Jahrhunderten, München 2001, S. 144–168. 60 Galton hatte sein Anthropometrisches Labor während der Internationalen Gesundheitsaus­ stellung 1884/85 in South Kensington eingerichtet. Später wurde es am University College in London untergebracht. Galton führte hier neben seinen biometrischen Messungen auch die ersten Intelligenztests mit Kindern durch, siehe Maurice Bridgeland, Pioneer Work with Maladjusted Children. A Study of the Development of Therapeutic Education, London 1971, S. 49; Francis Galton, The Anthropometric Laboratory, in: The Fortnightly Review 31 (1882), S. 332–338. 59 Sowohl

204   4. Eugenik und die Frage nach Anlage oder Umwelt (1860–1930) dann die Zuhörer der Royal Society mit seinen Vorträgen über sein System.61 Wie gewöhnlich vermittelte Galton seine Erkenntnisse auch in anderen populären Medien, diesmal durch einen Artikel für die Zeitschrift Nineteenth Century über „Identification by Finger-Tips“.62 In ihm beschrieb er Fingerabdrücke als „visible token of identity“,63 brauchbar für Armee, Gefängnis und – seiner Zeit weit vor­ aus – für die Reisepässe unbescholtener Bürger. Und er beschwor eine Zeit, „when every convict shall have prints taken of his fingers by the prison photographer, at the beginning and end of his imprisonment, and a register made of them.“64 Galton hatte auch bei diesen Experimenten nie sein anthropologisches Interes­ se aus den Augen verloren. Um herauszufinden, ob Rassenunterschiede in Finger­ abdrücken sichtbar wurden, ließ er sich von Schulleitern in London, Cardiff und Niger Fingerabdrücke ihrer Schüler schicken. Das ermöglichte ihm den Vergleich von englischen, walisischen und afrikanischen Schulkindern.65 Was dabei heraus­ kam, musste ihn jedoch erneut enttäuschen: „there is no peculiar pattern which characterises persons of the above races.“66 Allerdings ließ sich Galton in diesem Zusammenhang zu einer Bemerkung verleiten, die mehr über ihn als über die untersuchten Objekte verriet: „Still, whether it be from pure fancy on my part, or from some real peculiarity, the general aspect of the Negro print strikes me as characteristic. The width of the ridges seems more uniform, their intervals more regular, and their courses more parallel than with us. In short, they give an idea of greater simplicity, due to causes that I have not yet succeeded in submitting to the test of measurement.“67 Indem Galton die Fingerabdrücke von Schwarzafrika­ nern als einfacher und weniger komplex beschrieb, evozierte er das Bild des pri­ mitiven Farbigen, dessen beschränkte mentale Kapazitäten sich in der Einfachheit seiner Fingerabdrücke widerspiegelten. Aber am Ende sah sich der gentleman scientist doch gezwungen zuzugeben, dass die Intelligenz einer Person nicht in ihren Fingerabdrücken zum Ausdruck kam: „I have prints of eminent thinkers and of eminent statesmen that can be matched by those of congenital idiots. No indica­ tions of temperament, character, or ability can be found in finger marks, so far as I have been able to discover.“68 Im Gegensatz zur composite photography hatte die Entwicklung der Daktylosko­ pie allerdings administrative Folgen. Die Resonanz auf Galtons 1892 publiziertes 61 Francis

Galton, The Patterns in Thumb and Finger Marks – On the Arrangement into Nat­ urally Distinct Classes, the Permanence of the Papillary ridges that make them, and the ­Resemblance of their Classes to Ordinary Genera, in: Philosophical Transactions of the Royal Society of London, Series B 182 (1891), S. 1–23; ders. The Patterns in Thumb and Finger Marks, in: Proceedings of the Royal Society 48 (1890), S. 455–457; ders., Method of Indexing Fingerprints, in: Proceedings of the Royal Society 54 (1891), S. 540–545. 62 Francis Galton, Identification by Finger-Tips, in: Nineteenth Century 30 (1891), S. 303–311. 63 Ebd., S. 303. 64 Ebd., S. 311. 65 Vgl. dazu Gilham, Francis Galton, S. 242. 66 Galton, Finger Prints, London 1892, S. 192 f., Hervorhebung im Original. 67 Ebd., S. 196, Hervorhebung S. F. 68 Ebd., S. 197; das Zitat findet sich auch bei Davie, Tracing the Criminal, S. 196, und Forrest, Francis Galton, S. 217; zur großen Resonanz des Buches siehe Gillham, Francis Galton, S. 243 f.

4.4. Differentielle Fertilität und Vererbung   205

Buch Finger-Prints69 führte zur Einberufung einer Untersuchungskommission des Innenministeriums, die sich im Oktober 1893 unter Vorsitz des Permanent UnderSecretary Edward Troup mit den Vorzügen des Erkennungssystems beschäftigte.70 Das Komitee ließ sich die Methode von Galton in seinem Anthropometrischen Labor demonstrieren und zeigte sich beeindruckt. Aber es war Galton selbst, der bei dieser Gelegenheit auf einige Schwierigkeiten hinwies, die eine zweifelsfreie Identifizierung erschwerten. Zustande kam schließlich ein Kompromiss, in dem das Komitee die Kombination aus Daktyloskopie und der aus Frankreich über­ nommenen Anthropometrie Alphonse Bertillons empfahl. Erst das Belper-Komi­ tee sprach sich 1899 für die Daktyloskopie als der eindeutig besseren Methode zur Identifizierung Krimineller aus, nachdem ihre Klassifizierung eine Weiterentwick­ lung durch Sir Edward Henry erfahren hatte. Dieser nahm im Mai 1901 einen Posten als Assistant Commissioner im Criminal Investigation Department von Scotland Yard auf, wo im Juli 1901 die Central Fingerprint Branch eingerichtet wurde.71 Wenig später kam es zum ersten Indizienprozess, in dem die mutmaßli­ chen Mörder von Depthford aufgrund von Fingerabdrücken überführt wurden.72

4.4. Differentielle Fertilität und Vererbung Galton mochte der Erfolg der Daktyloskopie schmeicheln. Was seine eigenen Am­ bitionen und Interessen betraf, brachte sie ihn aber nicht wirklich weiter. Finger­ abdrücke waren in dem Sinne neutral und objektiv, als sie weder Aufschlüsse über die Hautfarbe oder das Geschlecht einer Person noch über deren kriminelle Dis­ positionen zuließen. Sie blieben ein technisches Werkzeug zur Überführung von Straftätern, mehr aber auch nicht. Mochte die Polizei mit dieser Methode die er­ sehnte Professionalität durch technischen Fortschritt demonstrieren können, für einen Nachweis der Vererbung intellektueller Fähigkeiten, wie Galton ihn anstreb­ te, taugte sie nichts.73 Galtons Interesse an der Anthropometrie und seine Experi­ 69 Siehe

Francis Galton, Finger Prints (1892); ders., Finger Print Directories, London 1895; siehe auch Francis Galton, Personal Identification and Description, in: Nature 38 (1890), S. 201; Stephen M. Stigler, Galton and Identifikation by Fingerprints, in: Genetics 140 (1995), S. 857–860. 70 Siehe zum Folgenden ausführlich Anne M. Joseph, Anthropometry, the Police Expert, and the Deptford Murders. The Contested Introduction of Fingerprinting for the Identification of Criminals in Late Victorian and Edwardian Britain, in: Jane Caplan und John Torpey (Hrsg.), Documenting Individual Identity. The Development of State Practices in the Modern World, Princeton/NJ u. a. 2001, S. 164–183. 71 Siehe Gillham, Francis Galton, S. 249. 72 Zu diesem Fall siehe Joseph, Anthropometry, S. 164–184. 73 Siehe Cole, Suspect Identity, S. 100: „Fingerprint examiners strengthened their authority by disassociating themselves from their colleagues who speculated about predictive powers of fingerprints to tell, not only the past, but also the future. By turning the fingerprint into an empty signifier – a sign devoid of information about a body’s race, ethnicity, heredity, charac­ ter, or criminal propensity – fingerprint examiners made fingerprint examination seem less value-laden, more factual […] [A]ny correlation of fingerprint patterns with race, heredity or criminal propensity would have been dangerous to the credibility of forensic fingerprint identification.“

206   4. Eugenik und die Frage nach Anlage oder Umwelt (1860–1930) mente sowohl mit der composite photography als auch mit Fingerabdrücken, so urteilt Neil Davie, „can all be seen as part and parcel of his eugenics based desire to find what he considered to be an objective method to sort out the sheep from the goats, to determine by means of mental and physical measurement just who were the members of this degenerate underclass.“74 Wo er Mitglieder dieser dege­ nerierten Unterklasse, zu denen Galton auch Kriminelle zählte, finden konnte, galt Galton längst als ausgemacht: in den Asylen, Gefängnissen und Hospitälern des Landes. Wie bereits erwähnt, näherte sich Galton dem Problem der Vererbung auf ma­ thematischem Wege durch Berechnung des Auftretens von Phänotypen, nicht durch biologische Experimente an, die erst um 1900 nach der Wiederentdeckung der Mendelschen Vererbungsgesetze vom wohl bekanntesten englischen Biologen William Bateson unternommen wurden. Dieser sah durch das Züchten einfacher Organismen und deren Kreuzung eine wissenschaftliche Möglichkeit, zu ge­ sicherten Aussagen über den Vererbungsmechanismus zu gelangen.75 Galton da­ gegen wandte sich ab den 1880er Jahren verstärkt dem Ausbau der biometrischen Statistik zu, um Wahrscheinlichkeiten der selektiven Reproduktion und dem Auf­ treten von Varianz innerhalb einer Art auf die Spur zu kommen. 1888 erschienen dazu seine zwei wichtigsten Publikationen: das Buch Natural Inheritance und ein Artikelbeitrag in der Schriftenreihe der Royal Society.76 Natural Inheritance enthielt seine gesamten bis dahin angestellten Überlegungen zum Vererbungspro­ blem. Es war rein theoretisch angelegt, denn es ließ zwar unter Berechnung von Korrelationskoeffizienten auf der Basis von Massendaten Aussagen über Verer­ bungsverhältnisse und -wahrscheinlichkeiten zu, aber stellte keinerlei erklärende Modelle bereit. Galton wusste zwar von Chromosomen und deren Teilung, aber ihre Funktion war ihm völlig unbekannt.77 Er entwickelte auf diese Weise, so hat es Nicholas Gillham treffend formuliert, „the second best theory of heredity“.78 Während Galton sich verstärkt der korrelativen Statistik zuwandte, erlebte die von ihm in den 1860er Jahren entwickelte Stammbaumanalyse und die Frage nach der Vererbung von Intelligenz durch das veränderte politische Klima der 1880er und 1890er Jahre einen bemerkenswerten Aufschwung. Die wachsende Sorge über die europaweit diskutierten Degenerationserscheinungen trug dazu 74 Davie,

Tracing the Criminal, S. 245 f. dazu ausführlicher Kap. 5 dieser Arbeit; siehe auch William Bateson, Mendel’s Princip­ les of Heredity, Cambridge 1909; zur Wiederentdeckung der Mendelschen Gesetze durch drei unabhängig voreinander arbeitete Biologen um 1900, siehe Donald MacKenzie, Sociobiolo­ gies in Competition: The Biometrician-Mendelian Debate, in: Charles Webster (Hrsg.), Biolo­ gy, Medicine, and Society, 1840–1940, Cambridge 1981, S. 243–288, hier S. 244. 76 Francis Galton, Natural Inheritance, London 1889; Francis Galton, Co-relations and Their Measurement, Chiefly from Anthropometric Data, in: Proceedings of the Royal Society 45 (1888), S. 135–145. 77 Siehe dazu Gillham, Francis Galton, S. 258 f. 78 Ebd., S. 259. Galtons theoretische Ergebnisse sollten dabei so konsistent wie möglich mit den experimentellen Beobachtungen sein; auch in diesem Kontext ging es stets nur um angebore­ ne, nicht um erworbene Eigenschaften. 75 Siehe

4.4. Differentielle Fertilität und Vererbung   207

bei, dass Hereditary Genius in seiner zweiten englischen Auflage im Jahr 1892 auf eine weitaus größere öffentliche Resonanz stieß als noch 20 Jahre zuvor.79 Galton habe auf eindrucksvolle Weise demonstriert, so schrieb The Nation zur Neuauf­ lage, dass Kinder nicht mit den gleichen geistigen Fähigkeiten geboren würden und Unterschiede in Intellekt und Begabung nicht auf individuelle Schulung, ­Erziehung und soziales Umfeld zurückzuführen seien, sondern „that individuals inherit different intellectual capacities.“ Das Fazit müsse deshalb lauten: „nature limits the powers of the mind as definitely as those of the body.“80 Die Frage von Intelligenz und ihrer Erblichkeit spielte eine wichtige Rolle im Kontext der Schuluntersuchungen von Kindern und Jugendlichen seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht 1880. Die zentrale Frage war dabei, wie mit geistig behinderten oder zurückgebliebenen Kindern verfahren werden sollte und wel­ cher gesetzlichen Regelungen es bedurfte, um Kinder in Spezialschulen unter­ bringen zu können. Kinderwohlfahrtsverbände und Leiter von speziellen Schulen für mentally defective children forderten staatliche Unterstützung für den Ausbau ihrer eigenen Institutionen. Auf privaten Druck hin wurde 1904 die Royal Com­ mission on the Care and Control of the Feeble-Minded ins Leben gerufen, die vier Jahre später ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit vorlegte.81 Zu den Gutachtern dieser Kommission gehörten vor allem Experten für mental deficiency wie der Psychiater und Eugeniker Alfred Tredgold und der Fachmann für Intelligenzfra­ gen Francis Galton. Wenig überraschend vertraten die meisten von der Kommis­ sion angehörten Experten die Auffassung, dass geistige Behinderungen und Intel­ ligenzdefizite in einem starken Maße, bis zu 90 Prozent, erblich bedingt seien. Als Folgen der geistigen Defizite benannten sie die Tendenz zu unkontrollierter, über­ proportionaler Fertilität, die vor allem der Promiskuität geistig behinderter Frauen zugeschrieben wurde,82 und die Neigung zu anti-sozialem und kriminel­ lem Verhalten. Galton selbst sprach in diesem Zusammenhang nicht von einem angeborenen kriminellen Gen, wohl aber von angeborenen geistigen Defiziten, die kriminelle Dispositionen begünstigten. Unkontrolliert und sich selbst über­ lassen, so erklärte Galton dem Untersuchungsausschuss, würde das soziale Absin­ ken dieser intellektuell unterlegenen oder geistig behinderten Menschen in krimi­ nelle Lebensweisen durch deren „absence of will-power to resist temptation“83 kaum aufzuhalten sein. Nur konsequente Einweisung in Heime und Asyle könne hier einen Riegel vorschieben. 79 Es

gab auch eine überarbeitete amerikanische Ausgabe aus dem Jahr 1879. Nation, 6. April 1893; zit. nach Gillham, Francis Galton, S. 171. 81 Eine gute Analyse über die Tätigkeit dieser Kommission findet sich in Thomson, Mental De­ ficiency, S. 23–33. 82 Während ‚normale‘ Paare im Schnitt vier Kinder zur Welt brachten, waren es bei ‚defekten‘ Paaren sieben, wie Alfred Tredgold, Verfasser des in vielen Auflagen gedruckten Standard­ werks Mental Deficiency, vorrechnete, siehe dazu David Barker, The Biology of Stupidity: Genetics, Eugenics and Mental Deficiency in the Inter-War Years, in: British Journal for the History of Science 22 (1989), S. 347–375, hier S. 349. 83 Francis Galton, Segregation, in: The Problem of the Feeble-Minded: An Abstract of the Roy­ al Commission on the Care and Control of the Feeble-Minded, London 1909, S. 81–85. 80 The

208   4. Eugenik und die Frage nach Anlage oder Umwelt (1860–1930) Die Vorstellung einer überproportionalen Vermehrung geistig defizitärer Per­ sonen gehörte in einen weiter ausgreifenden gesellschaftlichen Diskussionszu­ sammenhang, der sich zeitgleich auch in Frankreich und Deutschland beobachten ließ: Es war die Sorge über eine differential birth rate. Darin wurde die Vermutung ausgesprochen, die unteren Schichten würden sich besonders rasant und unkon­ trolliert vermehren, während in den Mittel- und Oberschichten ein bedrohlicher Geburtenrückgang zu verzeichnen sei.84 Aufgrund der Vorstellung erblicher Intel­ ligenz würden die intellektuellen Fähigkeiten in der Gesamtbevölkerung sinken und an ihre Stelle unerwünschte Eigenschaften und Dispositionen im Überfluss auftreten: „The weaker the Intellect […] the greater appears to be the strength of the reproductive faculties“,85 brachte die alarmierte Sozialreformerin Mary ­Dendy diese Überzeugung in einem Brief an Galton auf den Nenner. Es war allerdings der Galton Schüler Karl Pearson, ein hochbegabter Mathematiker und Statistiker, der 1903 in seiner Huxley Lecture im Anthropologischen Institut aufzeigte, dass 25% der Eltern 50% der nächsten Generation produzierten.86 Während die von ihm untersuchten Klassen 1 und 2 (Ärzte, Wissenschaftler, Geistliche, Bankiers) eine Geburtsrate von 3.4 Kindern aufwiesen, errechnete er für die Arbeiterschicht eine Durchschnittsrate von 6.1 Kindern pro Familie. Pearsons Interpretation ließ nur einen Schluss zu: „The mentally better stock in the nation is not reproducing itself at the same rate as it did of old; the less able and the less energetic are more fertile than the better stocks.“87 Tatsächlich basierten Pearsons Berechnungen auf höchst fragwürdigem Zahlenmaterial, denn bis 1911 wurden schichtspezifischen Details in den Erhebungen gar nicht erfasst.88 Zudem waren die Sterblichkeits­ raten von Kindern aus unterschiedlichen Schichten nicht berücksichtigt.89 Doch der Sorge um einen racial decline wurde durch das Bekanntwerden des Burenkriegdebakels (1899-1902) ein enormer Schub versetzt. Großbritannien hatte drei Jahre und 250 Millionen Pfund für einen Krieg aufgewendet, den das Land offenkundig nicht eindeutig zu gewinnen in der Lage war. Die hohe Zahl an Ausmusterungen, drei von fünf Bewerbern für den Militärdienst wurden aufgrund

84 Siehe

Simon Szreter, Fertility, Class and Gender in Britain 1860–1940, Cambridge 1996; Rich­ard A. Soloway, Demography and Degeneration. Eugenics and the Declining Birthrate in Twentieth-Century Britain, Chapel Hill und London 1995, bes. S. 3–18; Geoffrey R. Searle, Eugenics: The Early Years, in: The Galton Institute (Hrsg.), Essays in the History of Eugenics, London 1998, S. 25. 85 Mary Dendy an Francis Galton, Februar 1909, hier zit. nach Kelves, In Search of Eugenics, S. 107, auch zit. in Davie, Tracing the Criminal, S. 246. 86 Vgl. Radzinowicz und Hood, The Emergence of Penal Policy, S. 30; Kelves, Eugenics, S. 74; Soloway, Demography, S. 12 f. 87 Vgl. dazu Karl Pearson, On the Inheritance of the Mental Characters in Man, and Its Com­ parison with the Inheritance of the Physical Characters, in: Journal of the Anthropological Institute 33 (1903), S. 179–237. 88 Siehe Greta Jones, Theoretical Foundations of Eugenics, in: The Galton Institute (Hrsg.), Essays in the History of Eugenics, London 1998, S. 1–19, hier S. 11. 89 Siehe Soloway, Demography and Degeneration, S. 8.

4.5. Die Eugenics Education Society   209

körperlichen Ungenügens abgewiesen,90 ließ erneut die Sorge über eine physische Verschlechterung bestimmter Klassen in der Bevölkerung aufkommen und zu­ gleich die Suche nach Mitteln dringlich erscheinen, durch welche dieser Prozess am effektivsten reduziert werden konnte.91 Die Frage, wie Großbritan­nien künftig den Bedarf an tauglichen Rekruten decken sollte, verband sich mit der Sorge, wie das Land mit den aufstrebenden Industrienationen USA und vor allem Deutsch­ land noch Schritt halten konnte. Biologistische Erklärungen, insbesondere Dege­ nerationstheorien, konnten in einem solchen Klima gut gedeihen, obgleich die of­ fiziellen Behörden diesen Mutmaßungen entschieden entgegen traten. Das 1903 einberufene Inter-Departmental Committee on Physical Deteriora­ tion, das sich nicht aus Eugenikern, Intelligenz-Experten wie Galton und Leitern von Spezialschulen für geistig Behinderte zusammensetzte, sondern aus Vertre­ tern des Innenministeriums und lokaler Verwaltungsstellen, ließ besonders Medi­ ziner, Erzieher, Lehrer und Sozialarbeiter zu Wort kommen. Diese stellten den schlechten Gesundheitszustand der unteren Schichten nicht in Abrede, waren aber mehrheitlich der Auffassung, dass Unter- und Mangelernährung, die katast­ rophalen Wohnbedingungen, Alkoholismus, elterliche Vernachlässigung und un­ zureichende medizinische Versorgung dafür verantwortlich gemacht werden müssten.92 Die Mehrzahl der Mediziner vertrat die Auffassung, dass die meisten Kinder unabhängig von ihrem sozialen Status gesund geboren wurden und dass die Verschlechterung ihres Zustandes das Resultat der verarmten Umgebung sei, in der sie aufwüchsen.93 Daneben wurde zu bedenken gegeben, dass die Armee­ bewerber keine repräsentative Gruppe der Gesamtbevölkerung darstelle, da die gesunden und fähigen Männer durch die lebhafte Kriegskonjunktur Arbeitsmög­ lichkeiten im eigenen Land fänden und deshalb nicht den Kriegsdienst wählten. Die Empfehlungen des Komitees sahen dann u. a. den weiteren Ausbau des ­öffentlichen Gesundheitswesens vor und verstärkte staatliche Inspektionen in ­Fabriken und Schulen.94 Wo Präventivmediziner und Verwaltungsangestellte als Gutachter die Oberhand behielten, wurde also vom Kurs eines starken environmentalism kaum abgewichen.

4.5. Die Eugenics Education Society 1907, im gleichen Jahr, in dem die Royal Commission on the Care and Control of the Feeble-Minded ihre Anhörungen abschloss, wurde die Eugenics Education 90 Siehe

Davie, Tracing the Criminal, S. 247; zur Manchester Kalkulation (1899) siehe Soloway, Demography, S. 2, S. 41–43. 91 Report of the Inter-Departmental Committee on Physical Deterioration (1904). Bd. 1 (Report and Appendix), Parliamentary Papers (1905), Cd. 2175, S. 1. 92 Siehe Soloway, Demography, S. 45. 93 Vgl. dazu ebd., S. 148. 94 Siehe Report Physical Deterioration, Summary of Recommendations, S. 84–93; zum InterDepartmental Committee siehe auch Soloway, Demography, S. 43–47.

210   4. Eugenik und die Frage nach Anlage oder Umwelt (1860–1930) S­ ociety gegründet. Galton, der an diesem Vorhaben nicht beteiligt war, versuchte sich mit ihrer Existenz zu arrangieren, indem er zwei Jahre später auf die Arbeitstei­ lung im Prozess der Wissensproduktion und ihrer Popularisierung hinwies: „There are two sorts of workers in every department of knowledge – those who establish a firm foundation, and those who build upon the foundation.“95 Während sich das durch Galtons finanzielle Unterstützung 1905 ins Leben gerufene Galton Laborato­ ry am University College in London96 um die Etablierung von Eugenik als Wissen­ schaft durch biometrische Grundlagenforschung bemühte,97 stand für die Eugenics Education Society die Propagierung eugenischen Gedankenguts durch Aufklärung der Öffentlichkeit über die Mechanismen der Vererbung im Vordergrund. Man erk­ lärte Galtons Definition von Eugenik zum Leitsatz der Gesellschaft: „Eugenics is the study of agencies under social control that may improve or impair the racial quali­ ties of future generations either physically or mentally.“98 Galton selbst versuchte in seinem Vorwort zur ersten Ausgabe der ab 1909 her­ ausgegebenen Eugenics Review die Aufgabe des Journals dahingehend zu bestim­ men, „to give expression to the Eugenic movement and to place Eugenic thought, where possible, on a strictly scientific basis“.99 Mit diesem Satz hatte Galton eine Art Notbremse gezogen, denn im Grunde blieb er, obgleich ehrgeizig genug, ­eugenisches Wissen möglichst rasch und umfassend an die Öffentlichkeit zu ­bringen und daraus eine Art säkularer ‚Religion‘100 zu machen, skeptisch gegen­ über einer Gesellschaft, die seiner Auffassung nach zu wenig wissenschaftlich und zu stark politisch orientiert war. Wissenschaft, wie Galton sie verstand, gewähr­ leistete eigentlich nur das Eugenics Laboratory, das seit 1907 von Karl Pearson als Direktor geleitet wurde.101 Galton sah durchaus, dass eine nach seiner Ansicht   95 Francis

Galton, Foreword, in: The Eugenics Review 1 (1909), S. 1. Eugenics Record Office wurde mit Galtons finanzieller Unterstützung 1905 ins Leben gerufen. Es war von Pearsons Biometrischem Labor getrennt. 1906 wurde aus dem Eugenics Record Office das Galton Laboratory mit Pearson als Direktor, siehe Jones, Theoretical Foundations, S. 17, Anm. 1.   97 Der genaue Name lautete Francis Galton Laboratory for the Study of National Eugenics; 1963 wurde es umbenannt in Galton Laboratory of the Department of Human Genetics and Biometry, siehe Gillham, Francis Galton, S. 334; zur Arbeit des Labors siehe das Ed7itorial von Karl Pearson in der ersten Ausgabe von Biometrika. A Journal for the Statistical Study of Biological Problems 1 (1901–1902), S. 3: „Whatever views we hold on selection, inheritance, or fertility, we must ultimately turn to mathematics of large numbers, to the theories of mass-phenomena, to interpret safely our observations.“ Vgl. dazu auch den Artikel von Francis Galton, Biometrika, in: Biometrika 1 (1901–1902), S. 7–10.   98 Dieses Motto wurde in jeder Ausgabe der Eugenics Review abgedruckt; vgl. dazu auch Gal­ tons Definition in seinem Vortrag auf der Gründungveranstaltung der Sociological Society 1904: „Eugenics is the science which deals with all influences that improve the inborn quali­ ties of a race; also with those that develop them to the utmost advantage.“ Galton, Eugen­ ics: Its Definition, S. 45.   99 Galton, Foreword, S. 1. 100 Vgl. dazu Francis Galton, in: Nature (1901), S. 663 f., wo er Eugenik als eine Aufgabe bezeich­ net, die so noble sei, dass sie Anlass zum Gefühl einer neuen religiösen Verpflichtung gebe. 101 Siehe dazu Kap. 5 dieser Arbeit; zu Pearsons Arbeit am University College siehe M. Eileen Magnello, The Non-Correlation of Biometrics and Eugenics: Rival Forms of Laboratory   96 Das

4.5. Die Eugenics Education Society   211

verfrühte Popularisierung der Eugenik nicht nur die Gefahr einer wissenschaft­ lichen Verflachung mit sich bringen, sondern auch einer politischen Instrumenta­ lisierung dienen könnte, die die von ihm behauptete Wissenschaftlichkeit in erster Linie zur Legitimation sozialpolitischer Forderungen einsetzen würde. Bereits 1904 hatte er in einem Vortrag anlässlich der Gründung der Sociological Society vor einer vorschnellen Umsetzung und falschen Hoffnung gewarnt: I see no impossibility in Eugenics becoming a religious dogma among mankind, but its details must first be worked out sedulously in the study. Over-zeal leading to hasty action would do harm, by holding out expectations of a near golden age, which will certainly be falsified and cause the science to be discredited. The first and main point is to secure the general acceptance of Eugenics as a hopeful and most important study.102

1908 nahm die Eugenics Education Society ihre Tätigkeit auf und formulierte ihre Aufgaben und Ziele dementsprechend: „Persistently to set forth the National Importance of Eugenics in order to modify public opinion, and create a sense of responsibility in the respect of bringing all matters pertaining to human parent­ hood under the domination of Eugenic ideals.“103 Die Eugenische Gesellschaft verstand sich als gemeinnütziger Verein, der sich von anderen sozialreformeri­ schen Gesellschaften lediglich in der Wahl der Mittel zur Verbesserung der sozia­ len Schwachstellen der Nation unterschied. Sie war allerdings die erste und einzi­ ge, die nicht mehr den Weg sozialer Verbesserungen durch aktive Eingriffe in das soziale Umfeld der Betroffenen einschlug, sondern ausschließlich auf biologische Erklärungen und die Umsetzung biologischer Konzepte setzte. Zum Eugenics La­ boratory am University College wollte die Eugenische Gesellschaft ausdrücklich nicht in Konkurrenz treten. Das auf mathematische und statistische Berechnun­ gen konzentrierte Unternehmen lanciere doch, so ließ man vernehmen, mehr ‚technische‘ Publikationen. Karl Pearson vom Labor sah die Sache dagegen ganz anders. Er hegte große Sorge, dass seine wissenschaftliche Arbeit mit einer popu­ listischen Vereinigung in Verbindung gebracht wurde.104 Aus welchen Kreisen stammten die Mitarbeiter der Eugenics Education Society, die sich als gemeinnützige Organisation begriff? Wie Donald MacKenzie gezeigt

Work in Karl Pearsons’s Career at University College, London, in: History of Science 37 (1999), S. 79–106, S. 123–150. 102 Francis Galton, Eugenics: Its Definition, Scope and Aims, S. 50, Hervorhebung S.F.; 1909 akzeptierte Galton die Ehrenpräsidentschaft der EES. 103 Vgl. die „Objects of the Eugenics Education Society“, abgedruckt auf der Umschlaginnen­ seite einer jeden Ausgabe der Eugenics Review. Die beiden weiteren Punkte lauteten: „2. To spread the knowledge of the Laws of Heredity so far as they are surely known, and so far as that knowledge may affect the improvement of the race. 3. To further Eugenic Teaching at home, in the schools, and elsewhere.“ Vgl. dazu auch Soloway, Demography, S. 32; Davie, Tracing the Criminal, S. 248. 104 Zum Streit zwischen der EES und dem Labor siehe Gillham, Francis Galton, S. 338–342; zu Pearsons Ablehnung ebd. S. 339; Brookes, Extreme Measures, S. 285–291; Stefan Kühl, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1997, S. 245, Anm. 31.

212   4. Eugenik und die Frage nach Anlage oder Umwelt (1860–1930) hat, waren es vor allem Mitglieder einer professional middle class.105 Die meisten Vereinsmitglieder übten Berufe aus, die ein hohes Maß an intellektuellen Fähigkei­ ten voraussetzten, z. B. technische Berufe. Diese brain workers106 hatten die Chan­ cen eines sich öffnenden Bildungssystems zu ihrem Aufstieg nutzen können und betrachteten sich selbst als die eigentlichen Leistungsträger der englischen Gesell­ schaft. Die meisten Mitglieder – darunter viele Frauen −107 hatten keinen Anteil am großen Kapital, wie es die alte Geburtsaristokratie immer noch und die Schicht bürgerlicher Industrieller neuerdings besaß. Die eigene finanzielle Situation gab zwar in der Regel keinen Anlass zur Klage, war aber auch nie solcherart gesichert, dass man gelassen in die Zukunft hätte blicken können. Die Sorge blieb bestehen, ob auch die eigenen Nachkommen den gleichen professionellen Status erlangen und halten konnten. Das Übergewicht an Mitgliedern aus der professionellen und akademischen Mittelschicht verursachte aufschlussreiche Leerstellen in der Mitglie­ derstruktur der Gesellschaft. Verglichen mit anderen Reformgesellschaften fehlten Politiker in der EES fast ganz, ebenso wie Unternehmer und Geschäftsleute108 so­ wie – wenig überraschend – Mitglieder aus den Gewerkschaften. Aus leicht einseh­ baren Gründen gab es auch keine Mitglieder aus den sogenannten „environmental professions: local government officials, civil servants and social workers“.109 In der Rolle einer Vermittlerin zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit war die Eugenics Education Society kein Ort exklusiver Wissensproduktion, sie war 105 Vgl.

Donald MacKenzie, Statistics in Britain, 1865–1930: The Social Construction of Scien­ tific Knowledge, Edinburgh 1981, S. 24–28; zu den Mitgliedern der Gesellschaft siehe auch Lyndal A. Farrall, The Origins and Growth of the English Eugenics Movement, 1865–1925, New York 1985 (zugleich University of Indiana Diss. 1969), S. 210–230; Geoffrey R. Searle, Eugenics and Politics in Britain, 1900–1914, Leyden 1976, S. 10–14; ders. Eugenics and Class, in: Webster (Hrsg.), Biology, Medicine and Society, S. 217–241, hier: S. 225–227; Ian Brown, Who Were the Eugenicists? A Study of the Foundation of an Early Twenthieth Century Pres­ sure Group, in: History of Education 17 (1988), S. 295–307. Die Mitgliederzahl vor dem Ers­ ten Weltkrieg wird auf 600–1000 geschätzt, siehe die Zahlen bei Radzinowicz und Hood, The Emergence of Penal Policy, S. 31; Sim, Medical Power, S. 141. 106 Vgl. dazu Pearsons Definition der neuen Mittelklasse, die selbst aus Selektion hervorgegan­ gen sei: „[T]he middle class in England, which stands there for intellectual culture and brain-work, is the product of generations of selection from other classes and of inter-mar­ riage.“ Karl Pearson, The Function of Science in the Modern State (1902), Cambridge 1919 [Reprint], S. 9 f. 107 Zum Verhältnis von Frauen und Eugenik siehe Richard Soloway, Feminism, Fertility, and Eugenics in Victorian and Edwardian England, in: Seymour Drescher, David Sabean und Allan Sharlin (Hrsg.), Political Symbolism in Modern Europe, New Brunswick 1982, S. 121– 145; Greta Jones, Women and Eugenics in Britain: the Case of Mary Scharlieb, Elizabeth Sloan Chesser, and Stella Browne, in: Annals of Science 51 (1995), S. 481–502; Lucy Bland, Banishing the Beast: English Feminism and Sexual Morality, 1885–1914, London 1995; Lesley A. Hall, Women, Feminism and Eugenics, in: The Galton Institute (Hrsg.), Essays in the History of Eugenics, London 1998, S. 36–49. 108 Dagegen hat Greta Jones (Social Hygiene in Twentieth Century Britain, London 1986, S. 19– 21) allerdings eingewendet, dass in den Eugenischen Gesellschaften von Birmingham, Man­ chester und Liverpool, und in den 1930er Jahren auch in der Londoner EES, eine Reihe von Geschäftsleuten Mitglieder gewesen seien; zur Diskussion über die Mitglieder-Zusammen­ setzung siehe Searle, Eugenics: The Early Years, S. 30–33. 109 Searle, Eugenics and Class, S. 235.

4.5. Die Eugenics Education Society   213

aber ebenso wenig ein Ort, an dem Wissenschaft ausschließlich popularisiert und verbreitet wurde. Ihre Mitglieder betrieben eigenständige Forschung, in dem sie Galtons frühe Stammbaumanalysen aufgriffen und weiterentwickelten. Sie wählten damit ein Verfahren, dass ähnlich wie die von der Statistical Society ­betriebene Sozialstatistik vor allem eine hohe Zahl an Mitarbeitern benötigte, die Familieninterviews durchführten und medizinische Akten auswerteten. Eine überdurchschnittliche mathematische Begabung, wie sie für die Mitarbeiter des biometrischen Labors notwendige Voraussetzung war, war nicht notwendig. Die Forschungs­tätigkeit bzw. -leistung bestand im massenhaften Sammeln von Daten und In­formationen von Familienverbänden unterschiedlichster Provenienz und ihre graphische Umsetzung in Stammbäume. Die so erstellten Stammbaumtafeln sollten in direkter und anschaulicher Weise dem Betrachter die zentrale eugeni­ sche Grundannahme vermitteln: Bestimmte Krankheiten, aber auch Charakter­ eigenschaften wurden von den Eltern an die Nachkommen weitergeben.110 Dass bio­logische Prozesse, Anlage und nicht Umwelt, also nature und nicht nurture, wie Galton es bereits 1873 prägnant auf eine Formel gebracht hatte,111 das menschliche Leben im Wesentlichen bestimmten, diese Wahrheit sollte sich dem Betrachter der graphisch aufbereiteten pedigrees als unmittelbare Evidenz auf­ drängen.112 Die Notwendigkeit eines aktiven Eingreifens in den Reproduktions­ prozess betroffener Familien sollte sich dadurch erschließen. Die Stammbäume waren, wie die Medizinhistorikerin Pauline Mazumdar schreibt, für die meisten Mitglieder tatsächlich „a straightforward demonstration that like engendered like, with no ­specific theory of inheritance implied.“113 Tatsächlich nahm die Eugenics Education Society, besonders vor dem Ersten Weltkrieg, eine verblüffend unkritische Haltung sowohl gegenüber den eigenen Forschungsmethoden als auch den konkurrierenden wissenschaftlichen Verer­ bungstheorien ein. Dass die Befragung von Familienangehörigen über andere Familien­angehörige, die man womöglich nicht einmal persönlich gekannt hatte, zu Ungenauigkeiten und Fehlern führen konnte, etwa in der Einschätzung von Alkoholismus, wurde nicht thematisiert. Auch an der theoretischen Kontroverse zwischen den Biometrikern und den Anhängern der Mendelschen Vererbungs­ 110 Zu

diesem Verfahren hatte Francis Galton selbst in seinem Buch Hereditary Genius (1869) die Vorlage geliefert. 111 Francis Galton hat nicht nur den Begriff Eugenik nach dem griechischen εύγένεια (edle Abkunft, Adel) geprägt (vgl. Francis Galton, Inquiries into Human Faculties and Its Deve­ lopment, London 1883, S. 24 f.), sondern auch die prägnante Kurzformel nature/nurture für den Gegensatz von Anlage und Umwelt geschaffen (vgl. Francis Galton, English Men of Science: Their Nature and Nurture, London 1873); siehe dazu auch Ruth Schwarz Cowan, Nature and Nurture: The Interplay of Biology and Politics in the Work of Francis Galton, in: Studies in the History of Biology 1 (1977), S. 133–208. 112 Zum Appell an den common sense siehe aufschlussreich Edward J. Larson, The Rhetoric of Eugenics: Expert Authority and the Mental Deficiency Bill, in: British Journal for the History of Science 24 (1991), S. 45–60. 113 Pauline M.H. Mazumdar, Eugenics, Human Genetics and Human Failings. The Eugenics Society, its sources and its critics in Britain, London und New York 1992, S. 4.

214   4. Eugenik und die Frage nach Anlage oder Umwelt (1860–1930) lehre nahm die EES nicht aktiv teil.114 Beide Forschergruppen betrachtete man als Helfer für die eugenische und damit, aus Sicht der Mitglieder, gemeinnützige Sa­ che. Die pragmatische Empfehlung des ersten Präsidenten der Gesellschaft, Mon­ tague Crackanthorpe, lautete deshalb auch: „Eugenics requires the services of both.“115 Vertretern beider Schulen stand die Eugenics Review als Publikationsor­ gan zur Verfügung. Zur Präsentation ihrer jeweiligen Forschungen konnten auch die Veranstaltungen der Gesellschaft genutzt werden. Von den vielen offenen Fra­ gen beider Wissenschaftsrichtungen ließen sich die meisten Mitglieder nicht ver­ unsichern. Bedenken meldeten nur, so wird zu zeigen sein, jene Mitglieder an, die sich selbst zum Kreis der Wissenschaftler zählten.

4.6. Eugenik und Kriminalität Obwohl sich die EES beim Sammeln von Daten und Informationen vorzugsweise auf ‚degenerierte‘ Familien konzentrierte, also auf Familien, die von Armut, Krankheit und Kriminalität gekennzeichnet waren, nahmen die Themen Krimi­ nalität und Kriminelle einen sehr bescheidenen Raum innerhalb der Gesellschaft ein. Die Erklärung des Phänomens Kriminalität war für die meisten Eugeniker wenig problematisch: Chronisch Arbeitslose, Arme, Kranke und Kriminelle waren alle Opfer ihrer Natur, die Ursache ihres Zustands ließ sich auf eine körperliche und/oder geistige Minderwertigkeit zurückführen. Der Versuch von Besserung oder Reformierung durch Veränderung des sozialen Umfeldes schien hier fehl am Platze, nur systematisches Herauszüchten solcher Erbanlagen durch ein Fort­ pflanzungsverbot von Trägern negativer Anlagen, bei gleichzeitiger Stimulation der Reproduktion von Trägern positiver Anlagen, konnte nach Überzeugung der Eugeniker langfristig greifen. Während die Sozialbehörden die sozial schwächeren oder abhängigen Mitglieder der britischen Gesellschaft in administrativer Spra­ che einfach als diejenigen Personen bezeichneten, die auf öffentliche Unterstüt­ zung angewiesen waren, sahen Eugeniker den gleichen Personenkreis als Träger real existierender, durch Ärzte diagnostizierbarer Defekte, die sie von den civic oder social worth klar unterschied. Unter britischen Eugenikern war es eine Selbst­ verständlichkeit, Kriminelle im gleichen Atemzug mit den undeserving poor,116 114 Zur

dieser Kontroverse siehe Kap. 5.3. Crackanthorpe, Presidential Address, 5 May 1910, Eugenics Education Society, Second Annual Report (1909–10), S. 1–16, hier S. 5. 116 Dieser Begriff hatte sich bei zahlreichen Wohltätigkeitsvereinen und in der Presse eingebür­ gert, um jene Wohltätigkeitempfänger zu bezeichnen, die auf Hilfe nicht entsprechend re­ agierten, sich also resistent zeigten und deshalb von der Unterstützung ausgeschlossen wer­ den sollten, vgl. dazu z. B. Gertrude Himmelfarb, Poverty and Compassion: The Moral Ima­ gination of the Late Victorians, New York 1991, S. 12; Jane Lewis, Woman and Social Action in Victorian and Edwardian England, Stanford 1991, S. 15; dies, Woman and Late-Nine­ teenth-Century Social Work, in: Carol Smart (Hrsg.), Regulating Womanhood. Historical Essays on Marriage, Motherhood and Sexuality, London und New York 1992, S. 78–99, hier S. 81; Richardson, Love and Eugenics, S. 17. 115 Montague

4.6. Eugenik und Kriminalität   215

den Geisteskranken, den unsteten Vagabunden, den Tuberkulosekranken und den Epileptikern zu nennen.117 Kriminelle zählten damit zu jener Trägergruppe, die in ihrer Gesamtheit die für eine gesunde Gesellschaft nicht wünschenswerten Erbanlagen repräsentierte. Ein genaueres Nachdenken über die Voraussetzungen dieser Annahme schien nicht besonders dringlich. Jedenfalls erstaunt bei einer Durchsicht der Eugenics Review für die Zeit von 1909 bis 1939 die geringe Zahl an Artikeln zum Thema Kriminalität. Wurde Kriminalität überhaupt zum Thema gemacht, dann nur von einigen wenigen Eugenikern. Einen programmatischen Beitrag zum Thema Kriminalität und Eugenik liefer­ te 1914 Leonard Darwin, der zweitjüngste von Charles Darwins fünf Söhnen.118 Als Präsident der Gesellschaft von 1911 bis 1929 widmete er sich in seiner Jahres­ ansprache dem seit der Jahrhundertwende in der Öffentlichkeit verstärkt disku­ tierten Problem des Gewohnheitsverbrechers.119 Selbst kein Naturwissenschaftler oder Mediziner, sondern wie Edmund Du Cane Absolvent einer militärischen Ausbildung bei den Royal Engineers, hatte Leonard Darwin die letzten fünf Jahre seines Berufslebens als Mitglied des Intelligence Department im Kriegsministe­ rium verbracht, bevor er 1890 aus dem aktiven Dienst ausschied. Darwin interes­ sierte sich für ökonomische Fragen und kam über seine Beschäftigung mit der national efficiency zur Eugenik.120 Wie Galton trat er dabei vor allem als Befür­ worter einer positiven Eugenik auf, „the judicious mating of mankind“,121 wie er es in seinem Vortrag nannte. Nur in Zusammenhang mit Kriminellen und Geis­ teskranken spielte negative Eugenik, also ein Reproduktionsverbot durch Segrega­ tion oder Sterilisation, bei ihm eine prominente Rolle. Bereits 1912 hatte Leonard Darwin ein Nationalregister der „naturally unfit“ gefordert, in das er alle „insand-outs at work-houses, and all convicted prisoners“122 verzeichnet sehen woll­ te. Durch ein solches System erhoffte er sich gründlichere Stammbaumanalysen von Familien, „especially as regards the criminality, insanity, ill health and paupe­ rism of their relatives; thus many traits would be discovered which no one could deny ought to be made to die out in the interest of the nation“.123 1927 arbeitete Darwin einen Gesetzentwurf zur freiwilligen Sterilisation aus.124 Für Leonard Darwin stand außer Frage, dass es einen Zusammenhang zwi­ schen Kriminalität und biologischer Vererbung gab. Die seit dem Ende des 117 Vgl. Searle, Eugenics and Politics, S. 62. 118 Major Leonard Darwin, The Habitual Criminal. Presidential Address Delivered at the Annual General Meeting of the Eugenics Education Society, July 2nd, 1914, in: Eugenics Review 6

(1914), S. 204–218. Diskussion über den Gewohnheitsverbrecher siehe Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 231–287; Freitag, A Perverse Determination, S. 219–229. 120 Zur Diskussion über die national efficiency siehe bes. Soloway, Counting the Degenerates, S. 137–164; Robert A. Lowe, Eugenicists, Doctors and the Quest for National Efficiency: an Educational Crusade, 1900–1939, in: History of Education 8 (4/1979), S. 293–306. 121 Darwin, Habitual Criminal, S. 218. 122 Vgl. Leonard Darwin, First Steps Towards Eugenic Reform, in: Eugenics Review 4 (1912), S. 34–35. 123 Ebd. 124 Vgl. dazu Davie, Tracing the Criminal, S. 254. 119 Zu

216   4. Eugenik und die Frage nach Anlage oder Umwelt (1860–1930) 19. Jahrhundert vieldiskutierte Erscheinung der Rückfälligkeit (recidivism) deute­ te er nicht in erster Linie als Produkt verbesserter Statistiken und vernetzter Insti­ tutionen wie Polizei, Gericht und Gefängnis, sondern als Indiz für eine angebore­ ne Minderwertigkeit. Gerade der Typus des Gewohnheitsverbrechers, der durch die ununterbrochene Wiederholung seiner Straftaten und seine Resistenz gegen­ über Strafe und Reformierung auffiel, verwies auf die Existenz pathologischer Persönlichkeitsstrukturen. Zwar war auch Darwin bereit zuzugeben, dass es sich bei den kriminellen Tendenzen dieser Gewohnheitsverbrecher nicht um eine ­„single heritable quality“,125 sondern höchstwahrscheinlich um das Ergebnis eines Zusammenspiel zahlreicher verschiedener „innate qualities“126 handelte, aber an ihrer erblichen Übertragung hielt er dennoch fest. Direkte Beweise dafür konnte er nicht liefern. Wie für die meisten Eugeniker standen auch bei Darwin Anwendungsfragen im Vordergrund. Wie sollte man mit dem „man of many petty crimes“127 verfahren, der doch durch sein wiederholtes anti-soziales Verhalten die Gesellschaft am nach­ haltigsten schädigte? Da es sich nicht lohne, dessen Qualitäten unter hohen Kosten weiterhin zu tolerieren, müsse die erste Aufgabe sein, „to pick those who are endo­ wed to a very exceptional extent with natural qualities which facilitate the adoption of a life of crime.“128 Sei dies bewerkstelligt, dann sei das probateste Mittel die „segregation of these criminals during the period of their fertility […] to prevent these innate qualities from reappearing in future generations.“129 Zur Identifizie­ rung von Gewohnheitsverbrechern empfahl Darwin die Zahl der begangenen Straftaten als ein erstes untrügliches Zeichen in den Blick zu nehmen.130 Auf­ schlussreich konnte darüber hinaus auch das Alter des Straftäters sein, in welchem er seine kriminelle Karriere begonnen hatte, denn je stärker die natürliche Anlage zu kriminellen Handlungen ausgeprägt sei, desto früher, so glaubte Darwin, ver­ schaffe sie sich Geltung. Schließlich gab es noch die ganz offensichtlichen körperli­ chen und geistigen Gebrechen, die bereits in anderer, vor allem medizinischer und psychiatrischer Literatur erwähnt wurden. Anhand dieses Erkennungs-Kataloges sollte es nach Darwins Auffassung jedem „well-instructed official“131 möglich sein, ohne Schwierigkeiten die große Zahl von Individuen herauszufiltern, die man als Träger dieser für die Gesellschaft schädlichen Anlagen identifizieren könne. Mit der Vorstellung, dass es erbliche Dispositionen gab, die eine Neigung zu Kriminalität wahrscheinlich machten, verbunden mit der Forderung eines strik­ ten Fortpflanzungsverbots, stand Darwin nicht alleine.132 Den Zusammenhang 125 Darwin,

Habitual Criminal, S. 207. S. 207. 127 Ebd., S. 209. 128 Ebd., S. 210. 129 Ebd., S. 211. 130 Ebd. 131 Ebd. 132 Zu weiteren Befürwortern von Zwangs- und freiwilligen Sterilisationen von Straftätern siehe Davie, Tracing the Criminal, S. 253–259, zu den Befürwortern von Zwangssterilisationen zählten die Gefängnisärzte und Anstaltspsychiater Richard F. Quinton und Thomas Clous­ 126 Ebd.,

4.6. Eugenik und Kriminalität   217

von Kriminalität und Vererbung hatte schon Galton öffentlich postuliert. In sei­ nen Inquiries into the Human Faculties (1883) hatte er kriminelles Verhalten auf bestimmte Charaktereigenschaften zurückgeführt, auf das Fehlen oder die gestör­ te Funktion bestimmter moralischer und/oder mentaler Fähigkeiten, die er nicht durch Umweltfaktoren bedingt glaubte, sondern für das Resultat biologischer Vererbung hielt: „[T]he ideal criminal has marked peculiarities of character, his instincts are vicious, his power of self-control is very weak and he usually detests continuous labour. The absence of self-control is due to ungovernable temper, to passion or to mere imbecility […] it is easy to show that the criminal nature tends to be inherited.“133 1901 hatte Galton dann in einem Vortrag über The ­Possible Improvement of the Human Breed Under the Existing Conditions of Law and Settlement die Konsequenzen formuliert, die eine solche Erkenntnis er­ forderte. Mit Bezug auf die Großstudie von Charles Booth aus den 1890er Jahren griff Galton dessen Idee von Arbeitskolonien auf.134 Da es den Anschein habe, dass die Eigenschaften der ‚Klasse A‘, die Booth als arbeitsscheu, unstet, halb-kri­ minell und kriminell beschrieben hatte,135 in einem beachtlichen Ausmaße als erblich angenommen werden müssten, wäre es eine große Entlastung, „if all habi­ tual criminals were resolutely segregated under merciful surveillance and per­ emptorily denied opportunities for producing offspring.“136 Während Galton diese Idee zwar aufführte, aber nie weiter verfolgte, sah der führende Eugeniker und Fabian socialist, Dr. Caleb Williams Saleeby, in ihr schon den zentralen Be­ standteil eines „Scientific Patriotism“. Ohne Frage sei es „well worth society’s while that the genius and the saint, the athlete and the artist, should provide pos­ terity, rather than the idiot, the criminal, [and, S.F.] the weakling“.137 Obwohl Leonard Darwin die Ergebnisse von Charles Gorings The English Convict hätte aufgreifen können, der zufolge sich Gewohnheitsverbrecher durch de­ fekte Intelligenz auszeichneten und als potentielle Eltern ein zukünftiges Element ton, Scotland Yard-Beamte wie Sir Robert Anderson, Mediziner wie Dr. Robert Reid Ren­ toul; zu den Befürwortern einer freiwilligen Sterilisation zählten Havelock Ellis und Alfred Tredgold; insgesamt bildete diese Gruppe aber eine Minorität, siehe dazu Soloway, Demo­ graphy, S. 64; Searle, Eugenics: The Early Years, S. 33; Davie, Tracing the Criminal, S. 256: „But – unlike in US: they never succeeded in making significant inroads into political, admin­istrative or medical elite opinion.“ 133 Francis Galton, Inquiries into Human Faculty and its Development, London ²1883, S. 42– 43; hier zit. nach Downing und Forsythe, The Reform of Offenders in England, S. 150. 134 Charles Booth hatte Arbeitskolonien auf dem Land empfohlen, wo „their half-fed and halfidle and wholly unregulated life“ ausgetauscht werden würde gegen eine „disciplined exist­ ence, with regular meals and fixed hours of work (which would not be short).“ Hier zit. nach Stedman-Jones, Outcast, S. 307; auch Davie, Tracing the Criminal, S. 252. 135 Vgl. Kap. 2.6. 136 Francis Galton, The Possible Improvement of the Human Breed Under the Existing Condi­ tions of Law and Settlement, in: Nature, 31. Oktober 1901, S. 659–665, hier S. 663 (Vortrag im Anthropologischen Institut London). 137 Beide Zitate: Caleb W. Saleeby, Parenthood and Race Culture: An Outline of Eugenics, New York 1910, S. 30, hier zit. nach Davie, Tracing the Criminal, S. 253; Saleeby überwarf sich später mit der EES, der er vorwarf, sie werde immer mehr zu einer Bewegung, die sich durch reaktionäre Klassenvorurteile auszeichne, siehe Searle, Eugenics: The Early Years, S. 21 f.

218   4. Eugenik und die Frage nach Anlage oder Umwelt (1860–1930) nationaler ‚Degeneration‘ darstellten,138 mußte er in seinem Vortrag von 1914 dennoch zuzugeben, dass die öffentliche Meinung eine unbestimmte Haft oder Sicherungsverwahrung für diese Straftäter besonders während ihrer fruchtbaren Jahre nicht tolerieren würde.139 „Unfortunately“, so resümierte Darwin in seinem Vortrag, „such broad considerations weigh but little with the general public. We shall therefore be wise in regarding this question of natural heritability as at present a weak part of our armour when attacking problems connected with criminality.“140 So erfolgreich sich Vererbungslehre und -theorie auch entwick­ elten, eugenische Maßnahmen für Kriminelle wurden damit noch lange nicht selbstverständlich: „[T]o convince the public of the advisability of prolonged seg­ regation in his [the habitual criminal’s, S.F.] case on eugenic grounds is a very different matter from convincing the student of heredity; and it must be admitted that our proofs of the heritability […] are not now sufficiently convincing to en­ able us to found on them a bold eugenic policy.“141 Die gleichen Bedenken for­ mulierte Darwin noch einmal in seinem 1926 publizierten, dem Vater gewidme­ ten Buch über The Need for Eugenic Reform.142 Das Buch war in seiner nun for­ mulierten Zurückhaltung und Vorsicht bereits ein Ausdruck für die Reaktion Darwins auf die öffentliche Kritik, die das eugenische Reformprogramm seit der Gründung der EES von unterschiedlichen Seiten erfahren hatte.

4.7. Zur wissenschaftlichen Kritik eines sozialpolitischen Programms Allgemein bekannt ist – wenn auch noch nicht zum Gegenstand einer systemati­ schen Untersuchung geworden –, dass der Eugenics Education Society in Groß­ britannien eine engagierte öffentliche Kritik entgegenschlug, die besonders von solchen Kreisen getragen wurde, die sich durch die offensichtliche Klassenideolo­ gie der Eugeniker direkt angegriffen fühlten.143 Die Labour Party und die Ge­ 138 Dazu

ausführlicher Kap. 5. dazu auch Leonard Darwins Bemerkungen auf einem Treffen der EES, auf dem er sei­ ner Hoffnung Ausdruck gab, dass psychologische Test entwickelt werden könnten, mit deren Hilfe zwischen solchen Kriminellen, die mit Sicherheit entlassen werden könnten, und sol­ chen, die permanent in Gewahrsam genommen werden müssten, unterschieden werden könne; abgedruckt in: British Medical Journal (1913), S. 1321; der Hinweis findet sich bei Radzinowicz und Hood, The Emergence of Penal Policy, S. 33. 140 Darwin, Habitual Criminal, S. 208. 141 Ebd., S. 212. 142 Leonard Darwin, The Need for Eugenic Reform, London 1926, bes. Kap. 13: The Habitual Criminal, S. 206–226; die aufschlussreiche Widmung des Buches lautet: „Dedicated to the Memory of My Father For if I had not believed that He would have wished Me to give such Help as I Could towards Making His Life’s Work of Service to Mankind, I should never have been led to write this Book.“ 143 Diese Klassenideologie hat die englische Eugenik von der deutschen oder amerikanischen Rassenideologie wesentlich unterschieden; Stefan Kühls internationale Organisationsge­ schichte der Eugenik (siehe Kühl, Internationale) leidet darunter, dass sie auf eine differen­ 139 Vgl.

4.7. Zur wissenschaftlichen Kritik eines sozialpolitischen Programms   219

werkschaften als Interessenvertreter der Arbeiterschichten zählten dazu ebenso wie Mitglieder der katholischen Kirche, die Ehe, Familie und Kinderzeugung ­ihrer Zuständigkeit zurechneten. Zu den bekanntesten katholischen Kritikern gehörte Gilbert Keith Chesterton, der in seinem 1922 publizierten Buch Eugenics and Other Evils mit guten Gründen gegen den „scientifically organised state“ an­ schrieb.144 Im Kontext dieses Kapitels interessiert zunächst, welche Kritik die Eugenik aus der aufgrund der englischen Wissenschaftskultur recht weit gefassten scientific community erfahren hat, denn diese Kritik beeinflusste auch den Diskurs über Kriminalitätsgenese und Verbrecherkonstitution. Wenig bekannt ist, dass die wis­ senschaftliche Kritik an der Eugenik nicht nur von solchen Ärzten, Biologen und Sozialreformern vorgetragen wurde, die der Gesellschaft ohnehin fern standen, sondern dass sich auch innerhalb der Gesellschaft einige Mitglieder recht früh kritisch mit den wissenschaftlichen Voraussetzungen ihres sozialpolitischen Pro­ gramms auseinander setzten. Diese Einwände wurden bereits vor dem Ersten Weltkrieg formuliert.

„The production of better citizens“. Zur wissenschaftlichen Kritik von außen Kritik am eugenischen Reformprogramm der EES kam nicht nur von außen, son­ dern auch aus den Reihen ihrer eigenen Mitglieder. Was die Kritik von Wissen­ schaftlern betrifft, die der EES nicht nahe standen, lässt sich hier zunächst an die Ergebnisse des 3. Kapitels über die Präventivmedizin und -psychiatrie anknüpfen. Die Einwände, die gegen Galtons Vortrag über Eugenics: Its Definition, Scope and Aims auf der Gründungsveranstaltung der Sociological Society 1904 an der ­London School of Economics vorgebracht wurden, machen dies deutlich. In der ­Diskussion, die sich an den Vortrag anschloss, meldeten sich sofort prominente ­Kritiker zu Wort, die Galtons Programm und seine Voraussetzungen für proble­ matisch hielten. Henry Maudsley warnte vor falschen Analogien zwischen Mensch und Tier. Seine Erfahrung habe ihn gelehrt, dass Mitglieder ein- und derselben Familie unterschiedlicher nicht sein könnten: Während ein Mitglied zu höchsten Ehren aufsteige, leide ein anderes Mitglied an einer schweren geistigen Störung. Als prominentes Beispiel verwies er auf William Shakespeare. Er sei von Eltern geborenen worden, die sich nicht von ihren eigenen Eltern unterschieden hätten zierte Darstellung der nationalen Eugenik-Vorstellungen verzichtet. Dadurch kann sie die Kontroversen und Diskrepanzen zwischen den einzelnen Bewegungen, unter denen ja dann auch die Zusammenarbeit litt, nicht wirklich deutlich machen, denn mit der „Aufartung der Rasse“ (ebd. S. 15) und der Förderung von civic worth waren ganz andere Strategien und Ziele verbunden; zu Kühls Programm einer internationalen Organisationsgeschichte ohne differenzierte Berücksichtigung der nationalen Rahmenbedingungen und Ideologien, vgl. Kühl, Internationale, S. 242, Anm. 6. 144 Zu Chestertons Kritik siehe ausführlicher Kap. 5.9.; auch Freitag, We Cannot Wait, S. 302– 306.

220   4. Eugenik und die Frage nach Anlage oder Umwelt (1860–1930) und von seinen fünf Brüdern „none distinguished themselves in any way.“145 Maudsley gab zu bedenken: [W]hen we come to the human being there are complexities which arise from the mental state – its moods and passions – which entirely disturb any conclusions which we are able to form from our observation of the comparatively simple machines which animals are. In view of these difficulties of the subject I think that we must not be hasty in coming to conclusions and laying down any rules for the breeding of human beings […] I am not sure but that Nature in its own blind impulsive way does not manage things better than we can by any light of reason or by any rules which we can at present lay down.146

Auch Charles Mercier erinnerte an die Komplexität der Vererbungsmechanismen und warnte vor voreiligen Schlüssen, die dann auch noch eine praktische Um­ setzung erfahren sollten. Er thematisierte das zentrale Problem von individueller Verantwortung und Zurechnung und führte die Vorstellung einer elterlichen Haftung für die Verbrechen ihrer erwachsenen Kinder aufgrund der elterlichen Weitergabe von körperlichen und geistigen Vermögen an ihre Kinder ad absur­ dum: For, in so far as we know these laws, they are so obscure and complex that to us they work out as chance. […] It is quite impossible to predict from the constitution of the parents what the constitution of the offspring is going to be, even in the remotest degree […] and we cannot go back from the offspring and say what the parentage was. If we follow the customs of the Chinese and ennoble the parents for the achievements of their children,147 are we to hang the parents when the offspring commit murder? […] What are suitable and unsuitable marriages? How are we to decide?148

Für die Aufnahme und Stellung der Eugenik in England war es entscheidend, dass es eine Gruppe von Sozialreformern, Hygienemedizinern und civil service Ange­ hörigen gab, die bereits an der Entwicklung eigener Programme zur Bekämpfung sozialer Probleme mit ihren je eigenen Mitteln arbeitete. Die Konfrontation mit Eugenikern wie Karl Pearson und seiner Kritik an der maudlin philanthropy pro­ vozierte in dieser Gruppe eine deutliche Abwehrhaltung gegen die ­Eugeniker. Dr. Robert Hutchinson, Arzt in einem Kinderkrankhaus, sah in eugenischen Maß­ nahmen einen völlig falschen Ansatz und darüber hinaus überhaupt keinen Grund, warum man „the raw material of the race“ verbessern zu müssen glaubte. Dieses Material sei nicht schlecht, sondern lediglich schlecht ernährt. Man täte weitaus besser daran, sich auf praktische Fragen und den „food factor“ zu kon­ zentrieren, anstatt sich in einer Masse wissenschaftlicher Theorien über Verer­ bung zu verlieren, über die man zum gegenwärtigen Zeitpunkt wenig Aussagen treffen könne.149 Ein klarer und eindrucksvoller Beleg für die Haltung der Environmentalisten sind auch die Einwände des Medical Inspector to the Local Government Board of 145 Kommentar 146 Ebd. 147 Galton

von Henry Maudsley in Sociological Papers (1904), S. 54.

hatte das Beispiel angeführt, dass in China die Eltern für die Leistungen ihrer Kinder gelobt würden, weil sie im biologischen Sinne, wesentlichen Anteil an ihrem Erfolg hätten, vgl. Galton, Eugenics: Its Definition, Scope and Aims, S. 49. 148 Charles Mercier in Sociological Papers (1904), S. 55. 149 Zitat und Aussagen von Robert Hutchisonin in Sociological Papers (1904), S. 58.

4.7. Zur wissenschaftlichen Kritik eines sozialpolitischen Programms   221

Scotland William Leslie MacKenzie, die er in seinem schriftlichen Kommentar zu Galtons Grundsatzpapier, das gemeinhin als Gründungsdokument der eugeni­ schen Bewegung gilt, im Namen der Hygieniker verfasste.150 Aufschlussreich ist MacKenzies Kommentar für den Kontext der vorliegenden Arbeit deshalb, weil er sich darin auch gegen den Vorwurf zur Wehr setzt, der präventivmedizinischen Bewegung mangele es an einer „explicit basis in scientific theory“.151 MacKenzie, seit 14 Jahren im öffentlichen Gesundheitsdienst tätig, verwies auf die beein­ druckenden Ergebnisse jener eingeleiteten „hygienic renascence“152 und demonst­ rierte, dass auch die präventivmedizinische Bewegung auf wissenschaftlichen, vor allem medizinisch-biologischen Theorien beruhte: The hygienic renascence is the objective side of a movement whose ethical basis is the set effort after a richer, cleaner, intenser life in a highly organised society. The postulates of hygienics – whose administrative form constitutes the public health service – are such as these: that society or the social group is essentially organic; that the social organism, being as yet but little inte­ grated, is capable of rapid and easy modification – that is, of variations secured by selection; that disease is a name for certain mal-adaptations of the social organism or of its organic units; that diseases are thus, in greater or lesser degrees, preventable; that the prevention of diseases pro­ motes social evolution; that, by the organisation of representative agencies – county councils, town councils, district councils, parish councils and the like – the processes of natural selection may be indefinitely aided by artificial selections; that thus, by continuous modification of the social organism, of its organic units and of the compound environment of both, it is possible to further the production of better citizens – more energetic, more alert, more versatile, more indi­ viduated. Provisionally, public health may be defined as the systematic application of scientific ideas to the extirpation of diseases, and thereby to the direct or indirect establishment of beneficial variations both in the social organism and in its organic units. In more concrete form, it is an organised effort of the collective social energy to heighten the physiological normal of civilised living.153

MacKenzie wollte nicht in Abrede stellen, dass Eugeniker und Präventivmediziner im Grunde das gleiche Ziel verfolgten, nämlich „the production of better citizens“.154 Nach seiner Auffassung gingen beide aber von grundverschiedenen Annahmen aus, denn die Präventivmediziner setzten auf das menschliche Anpas­ sungsvermögen. Sie würden darauf beharren, „that the human organism is capa­ ble of greater things than on the average it has anywhere shown, and that its po­ tentialities can be elicited by the systematic improvement of the environment. From the practical side, hygienics aims at ‚preparing a place‘for the highest average of faculty to develop in.“155 Welche Fähigkeiten und Potentiale auch immer in der menschlichen Anlage schlummern mochten, ohne ein entsprechendes günstiges Umfeld, so befand MacKenzie, konnten diese nicht geweckt und entfaltet werden. Den Präventivmedizinern ginge es deshalb ganz utilitaristisch darum, die Umwelt 150 William

Leslie MacKenzie in Sociological Papers (1904), S. 65–66; siehe auch ders., Health and Disease, London 1911, und MacKenzies Besprechung von William Healys The Individual Delinquent, in: Mind 28 (1919), S. 354–358. 151 MacKenzie in Sociological Papers 1 (1905), S. 66. 152 Ebd., S. 66. 153 Ebd., S. 66, Hervorhebungen S.F. 154 Ebd. 155 Ebd., Hervorhebung S.F.

222   4. Eugenik und die Frage nach Anlage oder Umwelt (1860–1930) möglichst vieler Menschen so positiv zu verändern, dass vorhandenes Potential überhaupt die Chance bekam, sich entwickeln zu können. Über das, was ‚Anlage‘ generell beinhaltete, ließen sich kaum Aussagen machen. Deshalb warnten Präventivmediziner wie MacKenzie auch davor, angeborene und erworbene Eigenschaften miteinander zu verwechseln. Zum Tragen kamen in die­ sen Diskussionen die neuesten Erkenntnisse der Bakteriologie. Am Beispiel der Tuberkulose demonstrierte MacKenzie, dass erst die Entdeckung eines bakteriel­ len Erregers mit der alten Vorstellung aufgeräumt habe, Tuberkulose sei erblich bedingt und erkrankte Paare täten gut daran, keine Nachkommen zu zeugen. Auch müsse bedacht werden, „that the vast majority of diseases are due either to the attacks of infective or parasitic organisms or to the functional stress of environment, which for this purpose is better named ‚nurture‘.“156 Eine von ihm durch­ geführte Untersuchung an Schulkindern hatte MacKenzie davon überzeugt, dass ererbte Eigenschaften, gute wie schlechte, in jeder sozialen Klasse durch die Ein­ wirkungen der Umwelt so verdeckt seien, dass nicht angegeben werden könne, was auf nature und was auf nurture zurückzuführen sei.157 Hier eröffne sich nun ein weites Feld der Forschung. Die Haltung der meisten Präventivmediziner war damit klar umrissen: Solange die Vererbungsmechanismen nicht eindeutig geklärt waren, würden Ärzte darin fortfahren, dort einzugreifen, wo sie mit ihren Mitteln Erfolge erzielen konnten. Keiner dieser Mediziner zweifelte daran, dass es ernsthafte Erkrankungen gab, von denen mit gutem Recht angenommen werden musste, dass sie erblich be­ dingt waren. Aber diese Krankheiten waren weder das zentrale Problem des sozi­ alen Elends der unteren Klassen im Allgemeinen noch von Kriminellen im Beson­ deren.

The establishment of beneficial variation. Zur wissen­ schaftlichen Kritik von innen Gerade weil es ein Anliegen der Eugenics Education Society war, ihr Programm wissenschaftlich zu legitimieren, warb sie besonders um die Mitgliedschaft von Wissenschaftlern. Junge, aufstrebende Biologen, Mediziner, Bio-Statistiker und Anthropologen wie Ronald A. Fisher, Alexander Carr-Saunders, Julian Huxley, John B.S. Haldane, George Pitt-Rivers und Marie Stopes konnten in der Anfangs­ 156 Ebd.,

S. 67.

157 Ebd., Hervorhebung

S.F.; um seinen Standpunkt zu unterstreichen und gleichzeitig ein neu­ es Argument in die Debatte über die von Eugenikern mit Sorge betrachtete, angebliche differ­ential birth rate einzuführen, verwies MacKenzie abschließend auf die Züchtungsexperi­ mente seines Kollegen Dr. Noel Paton mit Meerschweinchen, die gezeigt hätten: „that ­starved mothers produce starved offspring and that well-fed mothers produce well-fed offspring. […] the numbers of offspring were unaffected.“ Statt eine abnehmende Reproduktionsfä­ higkeit in den höheren Klassen anzunehmen, müsse vielmehr angenommen werden, „that reproduction may be limited by a different ethic. The universal fall in the birth-rate has been too rapid to justify simpliciter the conclusion that biological capacity has altered.“ (Ebd. S. 67, Hervorhebung S.F.).

4.7. Zur wissenschaftlichen Kritik eines sozialpolitischen Programms   223

phase ebenso gewonnen werden wie die Psychiater und Psychologen Alfred Tredgold, Cyril Burt, William McDougall und Havelock Ellis und der Ökonom John Mayard Keynes.158 Mit Blick auf die in der Gesellschaft vertretenen Medizi­ ner muss allerdings differenziert werden: Mediziner stellten zwar einen Großteil des Vorstandes und des Beirates, unter den einfachen Mitgliedern waren sie aber eher spärlich vertreten. Bei den Beiratsmitgliedern handelte es sich zudem eher um Männer, die wie Havelock Ellis oder Caleb Saleeby, vor allem als Autoren wis­ senschaftlicher Bücher und als Journalisten tätig waren, und Forschung in popu­ lärer Form vermittelten. Die große Masse praktizierender Ärzte blieb der Euge­ nics Education Society fern, wie auch die British Medical Association ihr gegen­ über feindselig eingestellt blieb und es zu verhindern wusste, dass Eugenik Teil des medizinischen Curriculums wurde.159 Die jungen, aufstrebenden Naturwissenschaftler erhofften sich durch ihre Mit­ gliedschaft bessere Karrierechancen, denn ihnen fehlte bis dahin, wie Dorothy Porter argumentiert, „direct access to such traditional channels of social influence as the media, politics, administration, or industrial relations“.160 Viele von ihnen brachten dezidierte Forschungsinteressen mit und hofften auf Synergieeffekte, die sich durch die Beschäftigung mit Eugenik für ihre eigenen Forschungsgebiete (z. B. Alkoholismus, Epilepsie) ergeben sollten. Die Eugenics Education Society finanzierte Projekte und eröffnete Publikationsmöglichkeiten.161 Gerade den Ver­ tretern der jungen Disziplinen wie Demographie, Statistik, Psychologie und na­ türlich Genetik162 schien Eugenik als angewandte Wissenschaft eine erhöhte Nachfrage ihrer Expertise in naher Zukunft in Aussicht stellen zu können. Doch Motive wie Profilierung und Statussicherung der eigenen Disziplin be­ deuteten keineswegs, dass diese jungen Wissenschaftler das sozialpolitische Pro­ gramm der Eugenics Education Society vorbehaltlos oder unkritisch unterstütz­ ten. Als Beispiel dafür kann hier der Vortrag des Gefängnisarztes William C. Sul­ livan163 über Eugenics and Crime angeführt werden, der 1909 in der ersten Ausgabe der Eugenics Review erschien. Sullivan arbeitete zu diesem Zeitpunkt als Medical Officer im Holloway Prison, kletterte aber bald die Karriereleiter im öf­ fentlichen Dienst nach oben und wurde später Leiter des Broadmoor Criminal Lunatic Asylum und damit Nachfolger von David Nicolson.164 Zusammen mit den Ärzten Sir James Crichton-Browne, Archdall Reid und Frederick Mott war 158 Allerdings

ließ Keynes’ Galton Lecture 1937 überhaupt keinen Bezug zur Eugenik erkennen, was besonders Leonard Darwin verstörte, siehe Richard Soloway, From Mainline to Reform Eugenics – Leonard Darwin and C. P. Blacker, in: Galton Institute (Hrsg.), Essays, S. 69. 159 Mazumdar, Eugenics, S. 9; Radzinowicz und Hood, The Emergence of Penal Policy, S. 324. 160 Porter, Enemies of the Race, S. 164; Porter übernimmt hier ein Argument von Searle, Eu­ genics and Class, S. 235–238. 161 Searle, Eugenics and Class, S. 222. 162 Der Biologe William Bateson prägte den Begriff genetics in einer Korrespondenz des Jahres 1905, seit 1908 war er der erste Professor of Genetics in Cambridge, siehe dazu ausführlich Kap. 5.3. 163 Zu Sullivan siehe auch Davie, Tracing the Criminal, S. 257 f. 164 Zu Nicolson ausführlich Kap. 3 dieser Arbeit.

224   4. Eugenik und die Frage nach Anlage oder Umwelt (1860–1930) Sullivan nicht nur Mitglied der EES, sondern gehörte auch der 1884 gegründeten Society for the Study of Inebriety an, einer fast ausschließlich aus Medizinern zusammengesetztem Vereinigung, die Fragen von Alkoholismus unter sozialen, erblichen und juristischen Aspekten untersuchte.165 Von Anfang an verlor Sul­ livan in seinem Vortrag den juristischen und sozialpolitischen Bezug zur Krimi­ nalität nicht aus den Augen. Gegen die im Umlauf befindlichen eugenischen De­ finitionen betonte er die normativen Kriterien, die die Kategorie des Straftäters bestimmten. Es sei unmöglich, befand Sullivan, den Begriff des Kriminellen durch rein biologische Begriffe zu fassen.166 Was als kriminelle Handlung angesehen werde, sei die Verletzung von Normen, die ihrerseits kulturell vermittelt und da­ mit auch veränderbar seien. Wie Gefängnisärzte und -psychiater vor ihm wandte sich Sullivan vor allem gegen die von vielen Eugenikern unkritisch angeführte Gleichsetzung von Krimi­ nellen und Geisteskranken. Gerade der Vergleich mit Geisteskranken zeige doch, wie unterschiedlich sich beide Erscheinungsformen ausnähmen: In insanity the sexual incidence is sensibly equal; in crime, on the contrary, there is a predomi­ nance of males, corresponding to the greater part taken by men in social and industrial activities and similar in amount to the predominance of males in suicide and in alcoholism. Again, the statistical movement of insanity shows relatively little trace of the influence of those industrial changes which so potently affect the volume and character of crime.167

Während bei Männern und Frauen in einem ähnlichen Verhältnis Geisteskrank­ heiten auftraten, zeige sich in kriminellen Handlungen eine ausgeprägte männ­ liche Dominanz – das hatten ja die Statistiker im 19. Jahrhundert schon herausge­ stellt. Ökonomische Schwankungen und ihre Auswirkungen auf den Verlauf von Kriminalitätskurven waren für Sullivan ein Indiz für den enormen Einfluss äuße­ rer Faktoren auf die Kriminalitätsgenese, vor allem auf die primär in diese Pro­ zesse eingebundene männliche Bevölkerung: „criminals, unlike lunatics but like suicides and alcoholics, are made rather than born […] in their genesis environ­ ment plays a larger part than innate predispositions.“168 Sullivan hielt deshalb das Verhältnis von Kriminalität und Eugenik für „somewhat restricted.“169 Als Arzt stellte auch Sullivan nicht in Abrede, dass es gefährliche Delinquenten gab, die geisteskrank oder -gestört waren. Aber auch bei ihnen könne man nicht davon ausgehen, dass sie durch Vererbung in ihren Handlungen determiniert sei­ en. Was diese pathologischen Fälle auszeichne, sei nicht geerbte Kriminalität, son­ dern durch Krankheit bedingte geistige Unfähigkeiten und Beschränkungen. Das 165 William

C. Sullivan, Alcoholism, London 1906; zu den Doppel- und Mehrfachmitglied­ schaften siehe Mazumdar, Eugenics, S. 30 f.; zur Diskussion über Alkoholismus und seine Ursachen zwischen EES und Eugenics Laboratory und zur anfänglichen Annäherung der EES an die Society for the Study of Inebriety siehe Gillham, Francis Galton, S. 336–340; Crichton-Browne war zeitgleich erster Präsident der EES und Vize-Präsident der Society for the Study of Inebriety. 166 William C. Sullivan, Eugenics and Crime, in: Eugenics Review 1 (1909), S. 112–120. 167 Sullivan, Eugenics, S. 115. 168 Beide Zitate: ebd., S. 116. 169 Beide Zitate: ebd.

4.7. Zur wissenschaftlichen Kritik eines sozialpolitischen Programms   225

Fehlen sozialer Kompetenz, um soziales Verhalten zu erlernen, existiere, so argu­ mentierte Sullivan, nicht als isolierte Bedingung, sondern sei bestenfalls eine Seite der „general debility of mind“.“170 Hier habe man es primär auch nicht mehr mit Kriminellen, sondern mit kranken Patienten zu tun, die sozusagen eine „artificial group inside the great pathological class of the feeble-minded“ bildeten.171 Wäh­ rend für Sullivan vor allem Männer „of average stock“172 unter dem Einfluss eines bestimmten Milieus kriminell wurden – sie brauchten den Eugeniker ohnehin nicht zu interessieren –, sei die kleine Gruppe pathologischer Verbrecher aus­ nahmslos ein Fall für Ärzte und Psychiater, also für Leute wie Sullivan selbst und seine Kollegen. Die von Staatswegen in solchen Fällen angeordnete Unterbrin­ gung in speziellen Institutionen sorge ohnehin für eine negative Eugenik. Das letzte von Sullivan in seinem Vortrag angeführte Argument war vielleicht das wichtigste: Er wies darauf hin, dass es neben der großen Gruppe gewöhnli­ cher und der kleinen Gruppe kranker Krimineller auch noch eine dritte Gruppe gebe: den brillanten, einfallsreichen Berufsverbrecher „of good stock“. Dessen Ta­ lent und Begabung – „skilled criminals are those in which energy and initiative are most abundant“173 – auszurotten, könne für eine Gesellschaft überhaupt nicht wünschenswert erscheinen, sie müsse, im Gegenteil, den Versuch unternehmen, durch eine entsprechende Umerziehung im Gefängnis die Talente dieses Straftä­ ters für die Gemeinschaft fruchtbar zu machen. Mit diesem Argument befand sich Sullivan in guter Gesellschaft einiger weite­ rer wissenschaftlicher Mitglieder der EES. Schon 1904 hatte H.G. Wells, Natur­ wissenschaftler, Schriftsteller und Mitbegründer des Royal College of Science, ge­ gen Galton eingewendet, er sehe sich nicht dazu veranlasst, Kriminelle generell als Träger negativer Qualitäten zu betrachten: I am not even satisfied by the suggestion Dr. Galton seems to make that criminals should not breed. I am inclined to believe that a large proportion of our present-day criminals are the brightest and boldest members of families living under impossible conditions, and that in many desirable qualities the average criminal is above the average of the law-abiding poor, and prob­ ably of the average respectable person. Many eminent criminals appear to me to be persons ­superior in many respects, in intelligence, initiative, originality, to the average judge.174

Wells war es auch, der auf das soziale Umfeld im Sinne einer vorteilhaften Vernet­ zung der Familie aufmerksam machte, die beim beruflichen Fortkommen wichti­ ger schien als „any distinctive family gift.“175 Auch der einflussreiche Verhaltens­ psychologe William McDougall hatte die Beurteilung des Sozialverhaltens im Blick, als er erklärte, Kriminelle seien überhaupt keine Degenerierten, „but merely non-conformists“. Auch McDougall warnte: „[T]o sterilise in any way our crimi­

170 Ebd., 171 Ebd., 172 Ebd.

173 Beide

S. 116. S. 120.

Zitate: ebd. Zitate: H.G. Wells in Sociological Papers 1/1904 (1905), S. 59. 175 Ebd., S. 59. 174 Alle

226   4. Eugenik und die Frage nach Anlage oder Umwelt (1860–1930) nal stocks would be to eliminate our most variable stocks“, schließlich sei „varia­ bility […] the prime condition of all evolution“176. Die klare Grenzziehung zwischen Kriminalität und Krankheit und der Hinweis auf den begabten, talentierten Kriminellen durch drei, der eugenischen Sache durchaus aufgeschlossene Autoren und Wissenschaftler, waren wichtige Stellung­ nahmen: Hier wurde das biologische Konzept der Variation (variability) aus der Evolutionstheorie gegen die von den Eugenikern versuchte Hierarchisierung menschlicher Eigenschaften und Fähigkeiten und gegen eine unterschiedliche Wertung der verschiedenen gesellschaftlichen Klassen ins Feld geführt. Gerade die Vorstellung von Variation als eines für das Überleben und Fortkommen einer ­Population wichtigen evolutionären Merkmals (die Toleranz gegenüber einer sich ändernden Umwelt wurde erhöht) war anschlussfähig an das Bestreben der Prä­ ventivmediziner, durch „the establishment of beneficial variations“177 bessere Bürger hervorzubringen. Die Betonung von Abweichung, Abwechslung und Viel­ fältigkeit innerhalb einer Population konnte politisch als Bekenntnis zur Plurali­ tät der Gesellschaft genutzt werden. Unter den wissenschaftlichen Mitgliedern der Eugenics Education Society wurde nicht nur die Frage gestellt, wer die Standards der besonders förderungswürdigen menschlichen Eigenschaften festlegen sollte, sondern auch, wie eine solche Liste überhaupt zustande kommen sollte. Ironischer Weise wurde diese Überlegung recht früh von Max Nordau formuliert, dessen zentrales, Cesare Lombroso gewid­ metes Werk Entartung die Debatten über Degeneration maßgeblich beeinflusst hat­ te.178 In seinem schriftlichen Kommentar zu Galtons Vortrag von 1904 heißt es: It is clear that we cannot apply the principles of artificial breeding to man. There is no recog­ nised standard of physical and intellectual perfection. Do you want inches? In that case, you would have to exclude Frederick the Great and Napoleon I, who were undersized; Thiers, who was almost a dwarf; and the Japanese as a nation, as they are considerably below the average of some European races.179

Differenzierter als Nordau formulierte 1913 der Biologe, Soziologe und Demo­ graph Alexander Carr-Saunders als Mitglied der EES erneut diese Einwände.180 176 William

McDougall, A Practicable Eugenic Suggestion, in: Sociological Papers 2/1905 (1906), S. 57; nach Hearnshaw, Short History of British Psychology, S. 186, war McDougall der einflussreichste Sozialpsychologe in England vor dem Zweiten Weltkrieg, siehe dazu auch Kap. 7.2. 177 MacKenzie in Sociological Papers 1/1904 (1905), S. 66. 178 Vgl. Max Simon Nordau, Entartung, Berlin 1892; die deutsche Ausgabe widmete Nordau Cesare Lombroso, die englische Ausgabe Degeneration erschien 1895; im gleichen Jahr er­ schien eine anonyme Kritik an Nordaus Werk mit dem Titel Regeneration: a Reply; zu Nord­ au siehe Pick, Degeneration, S. 24–26; Nordau befasste sich vor allem mit dem Phänomen Hysterie. Er verstand unter einem entarteten Künstler (z. B. Richard Wagner) nicht einen biologisch degenerierten, sondern einen irrationalen Künstler, der sich in Traumwelten ver­ lor und sich seinen innerlichen Phantasien überließ; in der Musik sah er dann Chaos an die Stelle von Ordnung und Rhythmus treten. 179 Kommentar von Max Nordau in Sociological Papers 1/1904 (1905), S. 30–33, hier S. 31. 180 Vgl. z. B. Alexander Carr-Saunders, The Population Problem, London 1922; ders. World Population, Oxford 1936; 1923 wurde Carr-Saunders der erste Inhaber des Charles Booth Chair of Social Science in Liverpool, 1926 war er Vorsitzender des von der EES ins Leben

4.7. Zur wissenschaftlichen Kritik eines sozialpolitischen Programms   227

Carr-Saunders setzte sich zunächst mit dem Stand der biologischen Erbforschung auseinander und kam zu dem Ergebnis, dass die Wissenschaft noch gar nicht in der Lage sei, auch nur annähernd den komplexen Vorgang der Weitergabe menschlicher Eigenschaften – darunter die für Eugeniker besonders wichtigen Ei­ genschaften der Leistungsfähigkeit und Intelligenz – zu erklären, geschweige denn auf dieser Grundlage eine bestimmte Politik zu legitimieren.181 Aber nicht nur die biologischen Voraussetzungen seien zu wenig erforscht, auch der Einfluss der Umwelt sei noch nicht ausreichend aufgeschlüsselt.182 Im politisch brisanteren Teil seines Aufsatzes unterzog Carr-Saunders die von den Eugenikern immer wieder bemühten menschlichen Qualitäten, die es durch positive Eugenik zu fördern gelte, einer genaueren Prüfung.183 Eugeniker hatten sich mit einer genaueren Bestimmung dieser Eigenschaften stets bedeckt gehalten. In seinem Vortrag von 1904 hatte Galton nur leichthin behauptet: „A consider­ able list of qualities can be easily compiled […] It would include health, energy, ability, manliness and courteous disposition.“184 Carr-Saunders störte besonders, dass die Eugeniker von einer „superiority of inherited characters in the so-called upper classes“ so selbstverständlich ausgingen. Sie wäre aber ebenso wenig bewie­ sen wie die Annahme, dass die unteren Klassen den oberen gegenüber „inferior“185 seien. Selbst wenn es möglich wäre, sich auf eine Liste der für eine Gesellschaft wichtigsten menschlichen Eigenschaften zu einigen, so müssten diese als in allen Klassen vorhanden angenommen werden. Generell aber stellte Carr-Saunders den Sinn einer gezielten Förderung bestimmter menschlicher Eigenschaften über­ haupt in Frage. Wer wolle entscheiden, welche Eigenschaften für eine sich stets im Wandel befindliche Gesellschaft die wichtigsten seien? Wäre die Herstellung be­ stimmter Typen für eine Gesellschaft überhaupt erstrebenswert? Läge in einer sol­ chen Einseitigkeit nicht geradezu eine Gefahr? Auch Carr-Saunders operierte in seinen Ausführungen mit der Vorstellung von einer notwendigen und sinnvollen Variation menschlicher Fähigkeiten und Potenziale in einer pluralistischen Ge­ sellschaft, die nicht nur deren Flexibilität garantieren, sondern auch ihre Anpas­ sungsfähigkeit steigern konnte. Durch seine Einwände wollte Carr-Saunders nicht die Wichtigkeit eugenischer Forschung schmälern, im Gegenteil, die vielen offenen Fragen verlangten nach einer noch viel intensiveren Forschung über den Einfluss von Anlage und Umwelt gerufenen Population Investigation Committee, in den 1930er Jahren wurde er Direktor der London School of Economics and Social Sciences und von 1944–1949 hatte er den Vorsitz des Statistics Committee of the Royal Commission on Population inne, siehe Mazumdar, Eugenics, S. 124. 181 Alexander M. Carr-Saunders, A Criticism of Eugenics, in: Eugenics Review 5 (1913), S. 214–233; siehe auch Carr-Saunders Besprechung von Charles Gorings The English Convict in: ders., Eugenics, London 1926, Kap. 7: The Distribution of Inherited Qualities, darin Ab­ schnitt über „Crime“, S. 142–153. 182 Carr-Saunders, Criticism, S. 220. 183 Ebd., S. 221. 184 Galton, Eugenics: Its Definition, S. 46. 185 Carr-Saunders, Criticism, S. 226 f.

228   4. Eugenik und die Frage nach Anlage oder Umwelt (1860–1930) auf das menschliche Verhalten. Dagegen glaubte er die Instrumentalisierung eines nicht abgesicherten Wissens für ein sozialpolitisches Programm nicht rechtferti­ gen zu können: „justification is at present lacking.“186 Nicht zuletzt die Wissen­ schaft selbst würde dadurch korrumpiert werden und an Glaubwürdigkeit ein­ büßen. Nach dem Ende der Präsidentschaft Leonard Darwins 1929 gehörte CarrSaunders zur Gruppe jener Reformeugeniker um Charles P. Blacker, die gegen den Widerstand zahlreicher Mitglieder die EES langsam auf den Kurs einer learned society brachte, die sich nun stärker auf die Vermittlung und Förderung ihrer Wissenschaft, besonders bevölkerungsdemographischer Untersuchungen und genetischer Forschung, konzentrierte.187

„Our Critic Criticized“. Die Antwort der Eugeniker Wie reagierten Eugeniker wie Leonard Darwin auf die zum Teil von den eigenen Mitgliedern vorgetragene Kritik? Darwin selbst ließ sich auf eine Diskussion über die wissenschaftlichen Grundlagen der Eugenik nicht ein. In der Vorstellung gefan­ gen, dass die Öffentlichkeit klare Vorschläge zur Beseitigung sozialer Probleme er­ warten dürfe − er verstand seine Arbeit ja als „service to mankind“188 −, nahm er die Vereinfachung des vermittelten Wissens mit dem Hinweis auf die Zielsetzung des Programms der der Eugenics Education Society bewusst in Kauf. Man betreibe das Studium evolutionärer Faktoren, die den Fortschritt der Rasse verantwortlich gemacht werden könnten, letztlich nur deswegen, so argumentierte Darwin, weil man das auf diese Weise erworbene Wissen für den Fortschritt der Menschheit einsetzen wolle. An den allgemeinen Prinzipien der Evolution bestand seiner Auf­ fassung nach kein Zweifel. Ihre allgemeine Anerkennung hielt er für ausgemacht. Natürlich gab Darwin zu, dass noch nicht alle Fragen in Bezug auf die Evolution geklärt waren, aus seiner Sicht erlaubte die Dringlichkeit der Reformen aber kei­ nen Aufschub: „It is therefore obvious that we cannot wait until all doubts are re­ moved, as that would probably mean postponing all reform for ever.“189 Ähnliche Argumente wurden auch von anderen Eugenikern angeführt. Für Ferdinand Schiller, ebenfalls kein Naturwissenschaftler, sondern Philosophiepro­ fessor in Oxford, stand außer Frage, dass der praktisch orientierte Eugeniker nicht darauf warten könne, bis sein Wissen den – ohnehin nur illusionären – Stand der Vollkommenheit erreicht hätte. Man brauche doch nur ein relativ bescheidenes Maß an Wissen, um in die Lage versetzt zu werden, das diagnostizierte soziale Übel effizient anzugehen. Kurzum: „True, I know little enough, but I know enough 186 Ebd.,

S. 233. weiteren Geschichte der Eugenics Society besonders nach dem Ersten Weltkrieg sehr aufschlussreich Soloway, From Mainline to Reform Eugenics, S. 52–80; Macnicol, Eugenics; zur allgemeinen Entwicklung und der abnehmenden öffentlichen Präsenz der EES siehe auch Freitag, We Cannot Wait, S. 310–312. 188 Vgl. Darwin, Eugenics Reform, S. 1 (Widmung für seinen Vater). 189 Leonard Darwin, Our Critic Criticized, in: Eugenics Review 5 (1913), S. 316–325, hier S. 317. 187 Zur

4.8. Bilanz und Ausblick   229

to start on; moreover, it is only by experimenting and taking certain risks that I can ever hope to learn what as yet I do not know.“190 So wie Leonard Darwin die Prinzipien der Evolution zum Ausgangspunkt seiner Argumentation machte, so setzte Schiller bei der Existenz vererbbarer Defekte und der offensichtlichen Möglichkeit ihres ‚Herauszüchtens‘ an: „It is enough that the existence of heredi­ tary defects should be admitted, and that it is possible to get rid of them.“191 Der Eugeniker brauche keine endgültigen Erkentnnisse über das genaue Verhältnis, „in which ‚nature‘ and ‚nurture‘ may be held to contribute to a man’s total character.“192 Die Details der wissenschaftlichen Kontroversen seien, so Schiller, für seine Arbeit nicht relevant. Mit dieser Haltung erklärten sich Eugeniker wie Darwin und Schiller in gewis­ ser Weise ein Stück weit von der Forschung unabhängig: „In like manner the bio­ logical disputes between the Lamarckians, Darwinians, Mendelians, and Biome­ tricians, and the unsolved problem which they rage, are, for practical purposes, largely irrelevant.“193 Genau darin täuschten sie sich aber. Gerade die Debatten zwischen den Biometrikern und den Anhängern Mendels sollten ganz entschei­ denden Einfluss auf den Fortbestand und das Selbstverständnis der EES haben und nicht zuletzt auch in den zeitgenössischen Debatten über Kriminalitätsgene­ se und Verbrecherkonstitution Spuren hinterlassen.194 Allgemeiner Widerstand ließ sich aber an vielen Orten antreffen. So brachte 1913 Abgeordnete Josiah Wedgewood in den parlamentarischen Diskussionen über den Mental Deficiency Act195 eine Klausel zu Fall, die das Verbot festschrieb, eine/n mental defective hei­ raten zu können. Wedgewood warnte davor, nichts in ein Gesetz umzuwandeln „for the sake of a scientific creed which in ten years may be discredited“.196 Gene­ rell verurteilte er in diesem Zusammenhang „the most gross materialism that has ever been imported into human society“.197

4.8. Bilanz und Ausblick: Regeneration versus ­Degeneration Was bedeutete die Debatte zwischen Allgemeinmedizinern und Eugenikern für den Diskurs über Kriminalität und Verbrecherkonstitution? Zunächst einmal ­haben die wissenschaftlichen Einwände gegen die nicht gesicherten Erkenntnisse zur Vererbung menschlicher Eigenschaften dazu beigetragen, dass sich in Bezug 190 Ferdinand

C.S. Schiller, Our Critic Criticized, in: Eugenics Review 5 (1913), S. 325–333, hier S. 326 f. 191 Ebd., S. 327. 192 Ebd. 193 Ebd., S. 328. 194 Zu dieser Auseinandersetzung siehe Kap. 5.3. 195 Zum Mental Deficiency Act siehe Kap. 3, Anm. 121. 196 Josiah Wedgewood zit. nach Radzinowicz und Hood, The Emergence of Penal Policy, S. 337 f. 197 Radzinowicz und Hood, The Emergence of Penal Policy, S. 336.

230   4. Eugenik und die Frage nach Anlage oder Umwelt (1860–1930) auf Kriminalität und Eugenik der Ton der Eugenics Education Society sehr ver­ halten ausnahm. Aufgrund der großen Wissenslücken hielten sich nicht nur Prä­ ventivmediziner, sondern auch einige der wissenschaftlichen Mitglieder der EES mit Aussagen über eine angebliche kriminelle Disposition zurück. Ihre Einwände bremsten, sogar langfristig, die voreilige Forderung einiger britischer Eugeniker nach Sterilisation und Separierung von Straftätern zur Unterbindung ihrer Re­ produktionsfähigkeit. Kriminalität, dies war vor allem im Bewusstsein der in staatlichen Diensten stehenden Mediziner verankert, war immer auch etwas entschieden Anderes als Krankheit. Mochte bei Geisteskranken, deren Existenz kein Mediziner in Frage stellte, auch über die dauerhafte Unterbringung in Heimen oder über andere For­ men der sozialen Kontrolle öffentlich nachgedacht werden, die prinzipielle Frage blieb, ob Geisteskranke mit Kriminellen auf eine Stufe gestellt werden konnten. Viele Ärzte verneinten dies und sorgten durch ihre Einstellung für die Aufrechter­ haltung des Unterschieds zwischen Krankheit und Kriminalität bzw. zwischen mentalen Störungen und kriminellem Verhalten. Im Einklang mit der Auffassung von Regierung und Rechtsprechung wurden Straftäter, mit Ausnahme einer klei­ nen Minderheit geistig kranker Personen, als für ihre Handlung verantwortliche und schuldfähige Subjekte angesehen. Sie sollten durch staatliche Sanktionen nicht entmündigt, sondern als Bürger mit Rechten und Pflichten weiterhin ‚ernst‘ genommen werden, und das hieß auch, Ihrer Strafe zugeführt werden. Der Versuch, eugenische Prinzipien auf die kleine Gruppe der feeble-minded anzuwenden bzw. die Mehrheit der Straftäter dieser feeble-minded-Gruppe zuzu­ rechnen und durch deterministische Annahmen schlechte Sozialprognosen für Straftäter auszusprechen, provozierte den Widerstand einer Reihe professioneller und privater Bewegungen, die ganz entschieden auf die Möglichkeiten positiven Eingreifens setzten. „Galton’s plea for a science of eugenics“, so hat es einer der schärfsten Kritiker der Eugenik, der Sozialbiologe und Mathematiker Lancelot Hogben in seinem 1938 erschienenen Buch Science for the Citizen in der Rück­ schau formuliert, „became identified with a system of ingenious excuses for com­ bating the amelioration of working-class conditions.“198 Leonard Darwin hat 1914 den Widerstand dieser Environmentalisten, Philanth­ ropen und Sozialreformer deutlich gesehen und ihren Einfluss noch mehr ge­ fürchtet als die Kritik der Mediziner: In the case of those who have for long been devoting their best efforts to the study of questions immediately affecting human environment – in other words in the case of nearly all philanthrop­ ists – the diversion of their attention to the question connected with heredity seems to require a severe mental wrench, an effort which many of them appear to be wholly incapable of making. In short, many persons of the highest character have not yet learned to think eugenically. As to those whose thoughts are exclusively devoted to the betterment of their own personal surround­ ings, a change in their mental attitude is almost past praying for.199

198 Lancelot

Hogben, Science for the Citizen. A Self-Educator based on the Social Background of Scientific Discovery, London 1938, S. 1054. 199 Darwin, Habitual Criminal, 204, Hervorhebung S.F.

4.8. Bilanz und Ausblick   231

Der Präsident der Eugenics Education Society, der selbst eine tiefer gehende Beschäftigung mit den wissenschaftlichen Grundlagen der Eugenik vermied, be­ schwor mit diesem Verweis das Bild einer elementaren Auseinandersetzung zwi­ schen aufgeklärten Eugenikern und immer noch verblendeten, unwissenschaftli­ chen, sentimentalen Philanthropen. Diese Bild entsprach jedoch nicht der Wirklichkeit. Zur Kenntnis genommen wurde von den Philanthropen nämlich auch der unsentimentale, ebenfalls mit wissenschaftlichem Anspruch auftretende Diskurs der mehrheitlich in staatlichen Diensten angestellten Präventivmediziner. Während Eugenik bei der Hervorbrin­ gung ‚besserer‘ Bürger auf Selektion und Ausgrenzung setzte, baute die Präventiv­ medizin auf Integration auch der schwächeren Teile der Bevölkerung und auf die Anhebung ihrer unmittelbaren Lebensumstände. Dem Phänomen Degeneration wurde das Modell Regeneration entgegengesetzt. „Medical men“, so der Medizi­ ner Archdall Reid in seiner Antwort auf Galtons Vortrag von 1904, „have done a good deal for the improvement of […] the individual by improving sanitation. They have attempted nothing towards […] the improvement of the inborn quali­ ties of the race. Nor will they attempt anything until they have acquired a precise knowledge of heredity from biologists.“200 Aus Sicht der Ärzte waren die Biolo­ gen und Eugeniker in der Bringschuld.201 Solange die Weitergabe menschlicher Eigenschaften nicht geklärt sei, würden Ärzte darin fortfahren, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mittel an der „production of better citizens“202 weiterzuar­ beiten. Dabei würden sie – zugegebenermaßen – zusammen mit den Sozialrefor­ mern am scheinbaren Paradox der Wohlfahrt weiterwirken, indem sie auch jenen Unterstützung zukommen ließen, die in einem natürlichen Selektionsprozess of­ fensichtlich zum Untergehen bestimmt seien. Für dieses sozialpolitische Programm der Regeneration konnten sich Präven­ tivmediziner ebenfalls auf Konzepte der Evolutionsbiologie berufen: auf die enor­ me Anpassungsfähigkeit menschlicher Wesen an eine sich ändernde Umwelt so­ wie auf die Theorie des evolutionären Vorteils von Variation, die die einseitige Förderung von Eigenschaften als evolutionären Nachteil eher verbot. Welche An­ lagen in welchen Schichten zu finden waren und als besonders vorteilhaft einge­ stuft werden mussten, ließ sich schon deshalb nicht beantworten, weil die unteren Schichten bislang wenig Möglichkeiten gehabt hätten, die ihren zur Entfaltung zu bringen. Auch die Vernachlässigung des Faktors Umwelt, die nach Ansicht der Mediziner für die Entfaltung von Anlagen als zentral betrachtet werden müsse, diskreditierte die Eugeniker in den Augen vieler Mediziner. Leonard Darwin selbst wusste um das damit verbundene Methodenproblem. Es handelte sich um eine 200 Archdall

Reid, Schriftlicher Kommentar zu Galtons Vortrag von 1904, in: Sociological Pa­ pers 1/1904 (1905), S. 72. 201 Siehe zur Ablehnung des eugenischen Programms durch Gefängnisärzte und -psychiater den Leitartikel von James Devon, The Eugenist and the Rest of Us, in: The British Medical Journal 2 (1912), S. 1641. 202 W. Leslie MacKenzie, Schriftlicher Kommentar zu Galtons Vortrag von 1904, in: Socio­ logical Papers 1/1904 (1905), S. 66.

232   4. Eugenik und die Frage nach Anlage oder Umwelt (1860–1930) Schwachstelle der eugenischen Stammbaumanalyse: „The collection of pedigrees of criminal and non-criminal families with proper care is of great value; but in drawing conclusions from them we are always brought face to face with the dif­ ficulty of eliminating the element of environment.“203 Welchen konkreten Einfluss hatten dagegen Galtons Intelligenzforschungen auf die Kriminalitätsdebatten? Ohne Zweifel leisteten sie einer Argumentation Vor­ schub, die sich auf die Konstitution des Straftäters konzentrierte. Allgemein ver­ festigte sich vor allem die Vorstellung, dass Intelligenz erblich sei. Wenn ange­ nommen wurde, dass viele Straftäter zur Gruppe der feeble- oder weak-minded gehörten, und Kriminalität ihre Ursache in dieser geistigen Unterlegenheit hatte, dann ließ sich indirekt von einer erblichen kriminellen Disposition sprechen. Für diese Annahme bedurfte es keiner besonderen Rezeption der Forschungen von Cesare Lombroso, solche Vorstellungen entwickelten sich in England ganz eigen­ ständig und unabhängig von den Forschungen des italienischen Arztes. Was Galtons Entwicklung technischer Verfahren zur Identifizierung von Kri­ minellen betraf, so stellten die Ergebnisse der composite photography bereits früh das in L‘uomo delinquente entwickelte Modell eines atavistischen Kriminellen, der sich an äußeren Merkmalen erkennen ließ, in Frage. Der Nachweis distinkter äu­ ßerer Merkmale, die Straftäter von gesetzestreuen Bürgern unterschied, gelang nicht. Galton selbst glaubte, seine Annahmen aber trotzdem nicht revidieren zu müssen. In dem Maße, wie elementare äußere Unterscheidungskriterien zwischen Straftäter und gesetzestreuem Bürger verschwanden, wurde am Nachweis einer distinkten, mit geistigen Kapazitäten verbundenen inneren Disposition gearbei­ tet, die beide unterscheiden sollte. Für den Nachweis dieser inneren Disposition zur Geistesschwäche beim Straftäter bedurfte es aber anspruchsvollerer und sub­ tilerer Methoden als der Stammbaumanalyse. Galtons zweite wissenschaftliche Errungenschaft, die biometrische Statistik, die über die Errechnung von Korrela­ tionskoeffizienten äußere Faktoren zu inneren in Beziehung setzen konnte, schien dafür ein vielversprechender Weg.

203 Darwin,

Habitual Criminal, S. 208; persönlich hielt Leonard Darwin freilich „the benefits from changes in the environment“ für „strictly limited“, siehe seine Besprechung von Alex­ ander Patersons Across the Bridges, in: Eugenics Review 4 (1912), S. 210.

5. Biometrie, Mendelsche Gesetze und die Frage nach dem Status von Experten: Charles Goring The English Convict (1900–1935) 5.1. Die Intention der Studie „Relatively few scientific studies of offenders and offences have been made in this country“, bemerkte 1939 der neu ernannte Direktor der London School of Economics, Alexander Carr-Saunders.1 Für ihn wie für viele andere Sozialwissenschaftler handelte es sich bei der Studie des englischen Gefängnisarztes Charles Goring The English Convict aus dem Jahr 1913 um die berühmte Ausnahme einer ansonsten beklagenswerten Regel. Tatsächlich war Gorings Arbeit die einzige nennenswerte englische Forschungsleistung großen Formats zum Thema Kriminalität vor dem Ersten Weltkrieg. Doch mit Ausnahme der Arbeiten von Piers Beirne hat diese Studie in der historischen Forschung bislang kaum nennenswerte Beachtung gefunden.2 Dabei offenbaren besonders ihr Entstehungskontext und die Rezeptionsgeschichte nicht nur die zeitgenössischen britischen Auseinandersetzungen über Anlage und Umwelt, sondern vor allem den Kampf um die Anerkennung der biometrischen Statistik als überlegene Methode zur Aufklärung solcher Fragen. Denn obgleich als neutrale und objektive wissenschaftliche Studie vorgestellt, der keine spezifische Theorie oder Vorannahme zugrunde lag, forderten die Ergebnisse von The English Convict den Widerspruch zahlreicher Kritiker heraus, die sie als ambivalent und interpretationsbedürftig wahrnahmen. Die anerkannte Wissenschaftlichkeit der Studie gewährleistete also keineswegs eine rasche Akzeptanz oder gar, wie Beirne annimmt, eine ungeheure Wertschätzung („gargantuan esteem“)3, was umso überraschender erscheinen mag, da statistische Untersuchungsmethoden zu diesem Zeitpunkt bereits großes Ansehen genossen.

1

Alexander M. Carr-Saunders, Vorwort, in: Hermann Mannheim, The Dilemma of Penal Reform, London 1939, S. 7. 2 Piers Beirne, Science, Statistics, and Eugenics in Charles Goring’s The English Convict (1913), in: ders., Inventing Criminology. Essays on the Rise of Homo Criminalis, New York 1993, S. 187–224; Piers Beirne, Heredity vs. Environment: A Reconsideration of Charles Goring’s The English Convict (1913), in: British Journal of Criminology 28 (1988), S. 315–39; erwähnt wird die Studie auch in Wiener, Reconstructing, S. 357; Radzinowicz und Hood, The Emergence of Penal Policy, S. 20–27; Garland, British Criminology, S. 41–42. 3 Siehe Beirne, Science, S. 187. Für diese Wertschätzung erscheint schon die zeitgenössische Kritik zu ausgeprägt. Auch in Amerika experimentierten Forscher um die Jahrhundertwende mit probabilistischen Entwürfen in der Kriminologie (u. a. Ernst Freund, John Henry Wigmore, Roscoe Pound). Sie verwiesen aber stets auf den Vorsprung der Europäer, resp. der Briten, wobei dies wohl vor allem der Bewilligung von Fördergeldern dienen sollte, siehe Bernard E. Hartcourt, The Shaping of Chance: Actuarial Models and Criminal Profiling at the Turn of the Twenty-First century, in: The University of Chicago Law Review 70 1/2003), S. 105–128, hier S. 108; für den Hinweis auf Harcouts Artikel danke ich Norbert Finzsch.

234   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) Im Grunde führte Goring in seiner Untersuchung zwei englische Forschungs­ traditionen fort: er verband die Ergebnisse der empirischen Forschung englischer und schottischer Gefängnisärzte und -psychiater wie Bruce Thomson oder David Nicolson mit statistischen Berechnungen, wobei er diesbezüglich auf modernste Techniken zurückgreifen konnte, die von Quetelet, besonders aber von Francis Galton und Karl Pearson weiterentwickelt worden waren.4 In seinem Aufsatz zeigt sich Piers Beirne darüber verwundert, dass sich ver­ glichen mit Frankreich in Großbritannien erst so spät eine dezidierte Kritik an Lombrosos Theorien entwickelt habe.5 Von einer verspäteten englischen Kritik lässt sich allerdings nur dann sprechen, wenn der Entstehungskontext von The English Convict als Ausgangspunkt dieser kritischen Auseinandersetzung genommen wird. Tatsächlich gehörten aber die kritischen Einwände und die bewusste Distanzierung zahlreicher englischer Gefängnisärzte und -psychiater kurz nach dem Erscheinen von L’uomo delinquente (siehe Kap. 3) ebenso wie die eigentlich als Bestätigung einer ‚physiologischen‘ Kriminologie gedachte Entwicklung der composite photography durch Galton (siehe Kap. 4) zu einer ersten Phase der kritischen Auseinandersetzung mit Lombrosos Ansätzen in England. Was allerdings in den 1880er und 1890er Jahren anscheinend unterschätzt worden war und sich auch erst im Laufe der Zeit herausstellen sollte, war die Tatsache, dass sich Lom­ brosos modifizierte Atavismustheorie, die sich immer stärker auf den geistig ­minderwertigen Verbrecher konzentrierte, hervorragend mit den zunehmenden populären öffentlichen Debatten über Degeneration, differential birth rate und national efficiency verbinden und instrumentalisieren ließ.6 In diesem Klima setzte eine zweite, diesmal von der staatlichen Verwaltung initiierte Auseinandersetzung mit Lombroso und der Italienischen Schule ein. In den englischen Behörden hatte man sich über die Folgen eines anerkannten L’uomo delinquente für die Strafpraxis und Gefängnisarbeit nie getäuscht. Das ­logische Resultat dieser Theorie, so schrieb Sir Evelyn Ruggles-Brise in der Rückschau, „would be either elimination of the unfit, or the translation into the province of medicine of all legal procedur“7. Wie alle plausible erscheinenden Pseudo­ wissenschaften erschien ihm die deterministische Kriminalanthropologie extrem gefährlich, „for it is, of course, the fact that morbid conditions are associated, to a certain degree, with crime, and, like all sensational dogmas, based on untested observation, it affected the public imagination, prone to believe that the criminal is […] an abnormal being, the child of darkness, without pity and without shame, and with the predatory instincts of a wild beast.“8 Dass die Prison Commission schließlich ein Projekt förderte, das von ihren eigenen Gefängnisärzten durchgeführt wurde, lässt sich zunächst als Versuch wer-

4

Beirne, Science, S. 190. Vgl. Beirne, Heredity, S. 312. 6 Vgl. dazu Soloway, Demography and Degeneration; Forsythe, Penal Discipline, S. 154. 7 Ruggles-Brise, Prison System, S. 199. 8 Ebd., S. 199 f. 5

5.1. Die Intention der Studie   235

ten, dem allgemein beklagten Defizit einer wissenschaftlich fundierten englischen Kriminologie abzuhelfen. Doch weniger genuines Forschungsinteresse der Beamten bestimmte den Fortgang der Studie als vielmehr ihr politisches Bedürfnis, die Diskussion über den geborenen Verbrecher und damit verbundenen politischen und juristischen Implikationen ein für allemal vom Tisch zu haben. Nichts widerstrebte den Beamten in Whitehall offensichtlich mehr als die Aufweichung des Konzeptes selbstverantwortlicher Individuen und damit der Grundlagen des britischen Rechts- und Sanktionssystems. Bereits 1910, drei Jahre vor dem Erscheinen von Gorings Studie und möglicherweise nicht zufällig zum Zeitpunkt der Übernahme der Präsidentschaft des Internationalen Gefängniskongresses durch Ruggles-Brise, ließ der englische Prison Commissioner in einem Memorandum, das durch die Büros des Innenministeriums zirkulierte, keinen Zweifel an den erhofften Ergebnissen der Studie: „The Lombrosian theories of the criminal-né are exploded. Our own investigations now being conducted into the physiology of crime will, I think, fire the last shot at this deserted ship.“9 Auch Bryan Donkin, seit 1898 als Medical Commissioner in der Prison Commission tätig, bezeichnete die kriminalanthropologischen Ansätze als „matter of importance […] not because any serious students of this subject now accept the doctrine of the so-called science of ‚criminology‘ […], but because this doctrine, so much emphasised by Lombroso, Max Nordau, and others, of the hereditary nature of crime, or, in other words, of the criminal being a racial ‚degenerate‘, is still very dominant over the public mind. It is widely popularised at the risk of producing practical effects.“10 Eine dieser bedenklichen praktischen Folgen sah Donkin bereits in den 1907 im amerikanischen Bundesstaat Indiana verabschiedeten Sterilisationsgesetzen verwirklicht.11 Selbst der Gefängnisarzt Charles Goring rechtfertigte in seiner Einleitung von The English Convict die ausführliche Auseinandersetzung mit Lombrosos ­Theorien damit, dass seine Theorien zwar aller wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit entbehrten, aber nichtsdestotrotz eine große Anziehung ausübten.12 Die Öffentlichkeit kultiviere nur zu gerne einen Aberglauben, der davon bestimmt sei, dass sich Kriminelle äußerlich erkennen ließen. Lombrosos Theorie scheine „not extinct to   9 Evelyn

Ruggles-Brise, Memo, 18. April 1910, TNA, HO 45/13658/185668/6; siehe auch seinen Abschussvortrag vor der American Prison Association 1910 in New Willard: „[T]hat the prevailing scientific habit of ascertaining criminal tendencies through deformities of the body or disfigurement of the head [is] a fallacy.“ Zit. in: Leslie Shane (Hrsg.), Sir Evelyn RugglesBrise. A Memoir of the Founder of Borstal, London 1937, S. 164. 10 Bryan Donkin, Harveian Oration 1910, zit. von Ruggles-Brise im Vorwort zu Goring, English Convict, S. 8; zum Kontext dieser Rede siehe auch den Brief Donkins an Ruggles-Brise, Anm. 200 in diesem Kapitel. 11 Siehe dazu ausführlicher Kap. 5.7. 12 Siehe Goring, English Convict, S. 21: Die ersten Seiten sind eine Polemik gegen Lombroso, seine unwissenschaftlichen Praktiken und seine exzentrische Arbeitshypothese. Begründet wird die Kritik vor allem mit dem Hinweis, dass Lombroso nur aufgrund der Entdeckung von Anomalien am Schädel eines einzigen verstorbenen Räubers seine These vom Kriminellen als einer atavistischen Variante entwickelt habe.

236   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) the public mind; and, in many influential quarters, it is dormant only, and ever ready to be revivified under official patronage.“13 Fraglos teilten Prison Commission und Home Office diese Auffassung, doch mit dem Bestreben, die politischen und juristischen Implikationen von Lombrosos Kriminalanthropologie zu entkräften, hörten auch schon die gemeinsamen Ambitionen von Charles Goring und der englischen Administration auf. Denn Goring, ganz Arzt, Wissenschaftler und, so wird zu zeigen sein, begeisterter Schüler von Karl Pearson, hielt sich alles weitere, besonders in Bezug auf die eigenen Ergebnisse, offen und beschränkte sein Vorgehen zunächst auf eine fundierte Methodenkritik: „Our attack is directed not against conclusions, but against the methods by which they were reached.“14 Über Gültigkeit oder Ungültigkeit der kriminalanthropologischen Behauptungen ließen sich nach Gorings Ansicht noch gar keine Aussagen machen, da Lombroso sie nur mit unwissenschaftlichen Mitteln entwickelt habe, seine angeblichen Erkenntnisse also nie den Status wissenschaftlicher und damit zutreffender Aussagen erlangt hätten.

5.2. Zur Entstehungsgeschichte der Studie 1901 begann der Gefängnisarzt G.B. Griffiths in Parkhurst mit der ersten systematischen Kompilation von Daten von Gefängnisinsassen, dazu ermuntert von Bryan Donkin und dem Medical Inspector of Prisons, Herbert Smalley. Insgesamt 96 Kriterien berücksichtigte der von Smalley entworfene Erfassungsbogen.15 Ziel war der Gewinn von Massendaten ohne Rücksicht auf bestimmte Theorien oder das Favorisieren bestimmter Gefängnissysteme. Bislang verstreute und unkoordinierte Informationen aus Polizei-, Justiz- und Gefängnisakten über Vorgeschichte und kriminelle Karriere einzelner Straftäter sollten an einem festgelegten Stichtag in einem der vier an der Untersuchung beteiligten Zuchthäuser (convict prison) aufgenommen, zusammengeführt und durch neue Informationen ergänzt werden, die durch die medizinischen Eingangsuntersuchungen, im Wesentlichen anthropometrische Messungen und Befragungen durch den jeweiligen Gefängnisarzt, gewonnen wurden. Personalveränderungen im Jahr 1902 brachten es mit sich, dass Griffiths, der Smalleys Position als Medical Inspector of Prisons übernahm und später als Med­ ical Commissioner der Prison Commission selbst angehörte, durch Dr. Charles Goring, Deputy Medical Officer in Parkhurst, ersetzt wurde. Von den 3000 Häft13 Ebd.,

S. 19. S. 19, Hervorhebung im Original. 15 Siehe Edwin D. Driver, Charles Buckman Goring (1870–1919), in: Herman Mannheim (Hrsg.), Pioneers in Criminology, 2. erw. Aufl. Montclair/NJ 1973, S. 429–442; zur Entstehungsgeschichte siehe auch Beirne, Science, S. 190–194; Gina Lombroso-Ferrero, The Results of an Official Investigation made in England by Dr. Goring to test the Lombroso Theory, in: Journal of the American Institute of Criminal Law and Criminology 5 (2/1914), S. 207–223, hier S. 207–209. 14 Ebd.,

5.2. Zur Entstehungsgeschichte der Studie   237

lingen, deren Daten in die Untersuchung einflossen, untersuchte und verzeichnete Goring mehr als die Hälfte selbst. Goring war es auch, der die enorme Masse an Daten aus allen vier beteiligten Gefängnissen systematisierte und die Angaben in den Fragebogen durch statistische Reduktion zur weiteren Bearbeitung und Auswertung vereinfachte. Das Sammeln der Daten wurde Ende 1907 abgeschlossen, 1908/1909 erschienen sie in Buchform.16 Sie stellten nach Gorings Aussagen das Rohmaterial dar, dessen Auswertung dazu dienen sollte: „To clear from the ground the remains of the old criminology, based upon conjecture, prejudice, and questionable observation.“ Es ging also um die endgültige Beseitigung eines kriminellen Typs Lombrosischer Prägung. Es ging aber auch um neues Wissen über den Kriminellen, das auf Fakten basieren sollte, die wissenschaftlich erworben wurden. Die solcherart gewonnenen Fakten sollten dann „by virtue of their own established accuracy, unimpeachable conclusions“17 ermöglichen. Spätestens mit der Publikation der Datenkonvolute wurde offensichtlich, dass zur weiteren Bearbeitung professionelle mathematische Hilfe benötigt wurde. Goring wurde für zweieinhalb Jahre freigestellt, um die Daten im biometrischen Labor am University College in London unter der Leitung von Karl Pearson und seinen Mitarbeitern mit Hilfe statistischer Verfahren auszuwerten.18 Den Kontakt zum Labor vermittelte Bryan Donkin, der sowohl Karl Pearson als auch Walter Frank Raphael Weldon,19 den Mitherausgeber der vom Labor lancierten Zeitschrift Biometrika,20 persönlich kannte. An Massendaten solchen Ausmaßes – „unprecedented in criminal literature“,21 wie Karl Pearson später schrieb – waren die Mitarbeiter im Labor äußerst interessiert, denn solche umfänglichen Datensammlungen waren Anfang des Jahrhunderts in England noch eine Seltenheit, da 16 Charles

Goring, On the Inheritance of the Diathesis of Phthisis and Insanity. Studies in National Deterioration, no. 5, Biometric Laboratory, University College, London 1909; vgl. Beirne, Heredity, S. 322. 17 Beide Zitate: Goring, English Convict, S. 18. 18 Siehe Beirne, Heredity, S. 323–325; Karl Pearson, Charles Goring and His Contribution to Criminology. Introduction, in: Charles Goring, The English Convict. A Statistical Study, 2. gekürzte Aufl. London 1919, S. ix–xvi, hier S. xi. 19 Walter Frank Weldon (1860–1906) war kein ‚politischer Wissenschaftler‘ wie Karl Pearson (1857–1936); er bezweifelte auch, dass sich Anlage und Umwelt säuberlich zur Analyse trennen ließen, was wiederum Galton verärgerte, dessen Arbeit wesentlich von einer solchen ­Annahme ausging, vgl. Weldon an Pearson, 16. Oktober 1904, Pearson Papers 625, University College London, erwähnt in: MacKenzie, Sociobiologies, S. 271; die skeptische Haltung Weldons erklärt wiederum die Nähe zu Donkin (siehe weiter unten in diesem Kapitel); zum ­größeren Einfluss (im Gegensatz zu Galton), den Weldon auf Pearson ausübte – Pearson mathematische Arbeiten wurden wesentlich durch Weldons Entdeckungen beeinflusst – siehe Eileen Magnello, Karl Pearson’s Gresham lectures. W.F.R. Weldon, Speciation and the Origin of Pearsonian Statistics, in: British Journal for the History of Science 29 (1996), S. 43–63, bes. S. 45–47 (mit ausführlichen bibliographischen Angaben). 20 Biometrika. A Journal for the Statistical Study of Biological Problems. Edited in consultation with Francis Galton by W.F.R. Weldon, Karl Pearson und Charles B. Davenport. Die Zusammenarbeit mit Davenport endete nach wenigen Jahren über den Methodenstreit zwischen Mendelianern und Biometrikern (vgl. Kap. 5.3.); Donkin und Pearson gehörten dem progressiven Men‘s and Women’s Club (1885) an, siehe Gillham, Francis Galton, S. 273. 21 Pearson, Goring, S. xi.

238   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) keine Institutionen existierten, die sie systematisch sammelten.22 Allerdings war zu diesem Zeitpunkt nur eine Handvoll Experten in der Lage, multiple Daten größeren Umfangs überhaupt adäquat zu bearbeiten.23 Karl Pearson und die Arbeitsweise seines biometrischen Labors sollten einen maßgeblichen Einfluss auf die endgültige Version und Präsentation von Gorings The English Convict ausüben. Deutlich wurde dies an drei längeren Abschnitten in der Studie selbst, in denen die allgemeinen Grundsätze erläutert wurden, auf denen die Arbeit aufbaute. Im einführenden Kapitel The Science of the Criminal ging es um die Erklärung der biometrischen Statistik, im Abschnitt über The Influence of the ‚Force of Circumstances‘ on the Genesis of Crime legte Goring die grundverschiedenen Konzepte von environment dar, mit denen Sozialreformer und Biometrikern arbeiteten, und im zentralen letzten Kapitel unter der Überschrift The Ge­ neral Problem of Heredity ging es schließlich um die Frage, wie sich Wissenschaftler seriös und legitim dem biologischen Problem der Vererbung nähern könnten. Dass es sich bei allen drei Erörterungen nicht einfach nur um wissenschaftlich neutrale Vorbemerkungen handelte, sondern um programmatische Stellungnahmen, die eine direkte Kampfansage an die Anhänger der Mendelschen Vererbungs­ lehre und zugleich an die Gruppe ‚naiver‘ Sozialreformer und Politiker darstellte, wird deutlich, wenn vor der Analyse der eigentlichen Studie ein kurzer Blick auf das biometrische Labor und die wissenschaftlichen Kontroversen geworfen wird, in die dieses Labor im Vorfeld der Studie zu The English Convict involviert war.

5.3. Evolution by Jumps: die Kontroverse zwischen ­Biometrikern und Mendelianern In der historischen Forschung hat die in England um die Jahrhundertwende geführte heftige Debatte zwischen den Anhängern Mendels und seinen Gegnern, den Biometrikern um Karl Pearson, seit einigen Jahren Beachtung gefunden.24 22 Vergleichbare

Datenmengen konnte zu diesem Zeitpunkt nur das Militär erheben. hatte G.B. Griffiths die ersten Ergebnisse aus den Untersuchungen in Biometrika veröffentlicht, siehe Biometrika 3 (1904); zur Vorgeschichte der Studie siehe Ruggles-Brise, Preface, S. 6; zur Weiterentwicklung der Statistik durch Pearson siehe Donald A. MacKenzie, Statistics in Britain, 1865–1930. The Social Construction of Scientific Knowledge, Edinburgh 1981, S. 73–93; Stigler, History of Statistics, Kap. 10: Pearson and Yule, S. 326–361; Gillham, Francis Galton, S. 269–285; Desrosières, Politik der großen Zahlen, S. 147 f. 24 Eine ausführliche Bibliographie zu dieser Kontroverse findet sich in Donald MacKenzie, Socio­biologies in Competition: the Biometrician – Mendelian Debate, in: Webster (Hrsg.), Biology, S. 243, Anm. 1; zu den Details der Auseinandersetzung siehe Donald MacKenzie und S.B. Barnes, Biometriker versus Mendelianer: eine Kontroverse und ihre Erklärung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 18 (1975), S. 165–196; ebenfalls anschaulich dazu die Kapitel ‚Evolution by Jumps‘ und ‚The Mendelians Trump the Biometricians‘ in: Gillham, Francis Galton, S. 286–323; die zwei Kapitel ‚Discontinuity in Evolution‘ und ‚Biometry‘, in: Bulmer, Francis Galton, S. 299–331; Robert Olby, The Dimensions of Scientific Controversy: The Biometrician-Mendelian Debate, in: British Journal for the History of Science 22 (1988), S. 299–320; Magnello, Karl Pearson’s Gresham lectures, S. 49–63; 23 1904

5.3. Evolution by Jumps   239

Wissenschaftshistoriker schreiben dieser Kontroverse eine wichtige Rolle in der Entwicklung der modernen Genetik und der synthetischen Evolutionstheorie zu.25 Für die Wissenschaftskultur jener Jahre stellt sie darüber hinaus eine englische Besonderheit dar, denn das von Pearson und seinen Mitarbeitern betriebene statistische Studium biologischer Probleme kannte kein kontinentaleuropäisches oder amerikanisches Pendant. Dem Einfluss des biometrischen Labors wird es zugeschrieben, dass sich die Beschäftigung mit Mendel in England verzögerte. Gerade die Einbindung der Biometrie in ein Regierungsprojekt ist ein Beispiel dafür, wie groß die öffentliche Wertschätzung war, die statistischen Verfahren entgegen gebracht wurde. Zugleich erklärt die Kontroverse auch, warum The English Convict keine neutrale wissenschaftliche Abhandlung, sondern sowohl eine wissenschaftliche als auch politische Streitschrift darstellt. Die führenden Protagonisten dieser Debatte waren drei junge, ambitionierte und noch am Anfang ihrer Karriere stehende Wissenschaftler: Karl Pearson, Walter Frank Raphael Weldon und William Bateson. Alle drei gehörten der ersten Forschergeneration nach Darwin an, alle drei waren überzeugte Darwinisten, alle drei erhielten jedoch ihre wesentlichen Impulse durch Galtons statistische Arbeiten, d. h. dieses „triumvirate of mathematically inclined scientists“26 spezialisierte sich auf die statistische Analyse biologischer Phänomene. Der mathematisch hochbegabte Pearson verfeinerte Galtons korrelative Statistik, wobei es ihm primär um die statistische Verifikation von Darwins Evolutionstheorie ging. Pearson bekleidete sowohl einen Lehrstuhl für Angewandte Mathematik und Mechanik als auch, seit 1892, einen Lehrstuhl für Geometrie am University College in London.27 Der Meeresbiologe Walter Frank Raphael Weldon, seit 1891 Kollege von Pearson am University College, nutzte die von Galton und Pearson entwickelte statistische Methode, um sie auf seine umfangreichen Massendaten von Krabben und Garnelen anzuwenden.28 Auf Anregung Galtons entstand Mitte der 1890er Jahre um Pearson und Weldon herum eine biometrische Schule, die sich mit einem kleinen Kreis ausgezeichneter Mitarbeiter umgab.29 Richard Soloway beschreibt Beirne, Science, S. 194–199; P. Froggatt und N.C. Nevin, The „Law of Ancestral Heredity“ and the Mendelian-Ancestrian Controversy in England, 1889–1906, in: Journal of Medical Genetics 8 (1971), S. 1–36. 25 Vgl. Daniel J. Kelves, Genetics in the United States and Great Britain 1890–1930: A Review with Speculations, in: Charles Webster (Hrsg.), Biology, Medicine, and Society, 1840–1940, Cambridge 1981, S. 193–215; einer der Architekten dieser Sythese war der deutschstämmige Ernst Mayr, vgl. dazu seine programatische Arbeit: ders., Systematics and the Origin of ­Species, New York 1949; Robert J. Richards, Darwin and the Emergence of Evolutionary Theories of Mind and Behavior, Chicago und London 1987, S. 544: „In the 1930s and 1940s, Darwinian theory was revitalized and merged with Mendelian genetics in the synthesis that remains dominant today.“ 26 Gillham, Francis Galton, S. 9. 27 Zu Pearsons Vorlesungen siehe Stigler, History of Statistics, S. 326; zur Berufung auf den Sir Thomas Gresham Lehrstuhl für Geometry siehe Pearson, Science, S. XI; Magnello, Karl Pearson’s Gresham Lectures, S. 43–45. 28 Zu W.F.R. Weldons Forschungen siehe Bulmer, Francis Galton, S. 301–308. 29 Dazu gehörten David Heron und Ethel Elderton.

240   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) treffend, welchen Übergang die Entwicklung der biometrischen Schule für die Wissenschaftskultur Englands bedeutete: It was a blending of the older Victorian tradition of the precocious, eclectic, selfsupporting scientific amateur with the new institutionalized professionalism and specialization that increasingly characterized science in the late nineteenth and early twentieth centuries. After 1900 ­biometrics, supported by its own scholarly journal, Biometrika, rapidly become synonymous with Pearson’s statistical laboratory at University College.30

Der Dritte im Bunde, William Bateson, war ein durch eine Verwaltungsstelle am St. John’s College in Cambridge finanziell unabhängig arbeitender Biologe, der sich auf andere Weise von Galtons Natural Inheritance (1888) hatte inspirieren lassen. Galton hatte festgestellt, dass die Nachkommen großer Menschen in ihrer eigenen Größe wieder stärker zum errechneten Mittelwert der gesamten Population tendierten. Das würde aber bedeuten, dass durch diese regression to the mean eine fortschreitende Evolution durch natürliche Selektion eigentlich vereitelt werden würde. Galton entwickelte darauf hin die Idee der Evolution als eines Fortschreitens durch den sprunghaften Wechsel der Gattung „from one position of organic stability to another“,31 ein diskontinuierlicher Wechsel, der die von ihm festgestellte Rückkehr zum Mittelwert verhinderte und neue Arten entstehen ließ. Galton sprach dabei von „sports“ oder „saltations“,32 kannte aber noch keine materielle Basis für diesen Mechanismus. Diese Sprünge hatte Bateson bereits selbst vermutet. Für ihn bedeuteten diese diskontinuierlichen Varianten, die eben nicht nur als graduelle Abweichungen vom Durchschnitt einer Art angesehen werden konnten, eine ernste Schwierigkeit für Darwins Evolutionstheorie. Wie sollte sich natürliche Selektion progressiv durch ausgewählte kleine Änderungen innerhalb einer Art auswirken, wenn doch Diskontinuität, wie auch immer bewerkstelligt, als eine so viel geeignetere Quelle von Diversität erschien? Pearson, Weldon und die Mitarbeiter des Biometrischen Labors – nicht aber Francis Galton – hielten schon aufgrund ihrer favorisierten Methode, der Normalverteilung um einen statistisch errechneten Mittelwert (bell curve), an einem orthodoxen Evolutionsmodell fest und favorisierten einen Prozess kontinuierlicher Selektion vorteilhafter Varianten. Wenn z. B. Größe einen selektiven Vorteil bot, dann würde die Durchschnittsgröße einer Population von einer Generation zur nächsten graduell steigen, weil innerhalb der Elterngeneration diejenigen, die körperlich größer waren, zahlreicher überlebten und proportional mehr Nachkommen zeugen konnten. 1894 publizierte Bateson seine Materials for the Study of Variation, eine umfangreiche Materialsammlung, die über 800 diskontinuierliche Variantenarten 30 Soloway,

Demography, S. 28: „Eugenics undoubtedly gained considerable authority and respectability in educated circles by its association with an important university and its promulgation by academicians and professional scientists.“ 31 Zit. nach Gillham, Francis Galton, S. 292. 32 Vgl. ebd., S. 286, S. 289. Siehe dazu auch Galtons Besprechung des Buches Materials von Bateson, in: Mind (Neue Serie) 3 (1894), S. 362–372, hier S. 368: „no variaion could establish itself unless it be of the character of a sport, that is, by a leap from one position of organic stability to another.“

5.3. Evolution by Jumps   241

verzeichnete, die ihm in der Natur aufgefallen waren.33 Anders als Galton schrieb Bateson diesen diskontinuierlichen Arten die entscheidende Bedeutung im evolutionären Prozess zu, nicht den graduellen Abweichungen innerhalb einer Spezies.34 Neue Arten waren Ausdruck von Entwicklungsbrüchen und qualitativ unterschieden von jeder anderen Art. Den Ursprung dieser distinkten, abrupt entstandenen neuen Arten schrieb Bateson nicht der Umwelt zu, da diese ihren Zustand nur graduell und langsam änderte.35 Die Ursache musste in den Varianten selbst gesucht werden: „The first question which the Study of Variation may be expected to answer relates to the origin of that Discontinuity of which Species is the objective expression. Such Discontinuity is not in the environment; may it not, then, be in the living thing itself.“36 Bateson war sich sicher, dass wirklicher evolutionärer Vorteil nur durch seltene und zum großen Teil unvorhersehbare Diskontinuitäten zustande kam: „it is upon mutational novelties, definite favourable variations, that all progress in civilisation and in the control of natural forces must de­ pend.“37 Diese unkalkulierbaren ‚Sprünge‘ entzogen sich aber schon per Definition den biostatistischen Berechnungen. Entsprechend harsch fiel Weldons und Pearsons Kritik an Batesons Materials aus.38 Weldon lobte zwar Batesons Eifer und Fleiß, glaubte aber, die vielen Beispiele hätten ihn zu falschen Schlüssen verleitet. ­Bateson gehe vor allem von einem falschen Umweltkonzept aus, er nehme Kontinuität an, wo rascher Wechsel nicht ungewöhnlich sei. Außerdem scheine Bateson nur die physikalische Umwelt in Betracht zu ziehen und lasse außer Acht, dass Darwin und Alfred Wallace als Umwelt eben auch andere Lebewesen betrachtet hätten. Pearson tat Batesons Beispiele später sogar als „useful catalogue of museum and collector’s deviations from ‚type‘“ ab.39 Die Debatte zwischen Weldon und ­Bateson avancierte zur zentralen Debatte auf der Jahrestagung der Royal Society im Februar 1895 und erfuhr eine öffentliche Fortsetzung in Form von Leserbriefen in der Zeitschrift Nature.40 Über diesen Disput ging die persönliche Freundschaft zwischen Weldon und Bateson, die gemeinsam in Cambridge studiert hatten, in die Brüche. Der Kontroverse, die sich dann zwischen der biometrischen Schule und Bateson nach der Wiederentdeckung der Mendelschen Vererbungsgesetze um die Jahrhundertwende durch die Entdeckungen dreier unabhängig voneinander ar-

33 William

Bateson, Materials for the Study of Variation, Treated with Especial Regard to Discontinuity in the Origin of Species, London 1894. 34 Siehe MacKenzie, Sociobiologies, S. 257. 35 Vgl. dazu Gillham, Francis Galton, S. 290. 36 Bateson, Materials, S. 15, S. 17, zit. nach Gillham, Francis Galton, S. 292, Hervorhebung S.F. 37 Zit. nach MacKenzie, Sociobiologies, S. 282. 38 Vgl. Walter Frank Raphael Weldon, The Study of Animal Variation, in: Nature 50 (1894), S. 25 f. 39 Karl Pearson, On the Fundamental Conceptions of Biology, in: Biometrika 1 (1902), S. 320– 344, hier 329 f. 40 Siehe Gillham, Francis Galton, S. 296–297.

242   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) beitender Biologen auf dem Kontinent entzündete,41 war eine Fortsetzung der älteren Auseinandersetzung über die Natur evolutionärer Änderungen und die Frage über die korrekte Art und Weise, wie Evolution studiert und interpretiert werden sollte. Donald MacKenzie und andere machen zu Recht darauf aufmerksam, dass die Fragen zu Mendels Vererbungsgesetzen und die Probleme evolutionärer Diskontinuitäten nicht zwangsläufig hätten miteinander diskutiert werden müssen. In England wurden beide wissenschaftlichen Probleme aber aufgrund der personellen Verquickung von Anfang an eng miteinander verbunden.42 Als der niederländische Biologe Hugo de Vries den ersten Band seiner Muta­ tionstheorie43 an William Bateson mit dem Hinweis sandte, Teile der Arbeit basierten auf dessen Vorarbeiten, fühlte sich der Cambridger Biologe umgehend in seiner Annahme von evolutionären ‚Sprüngen‘ als Schlüssel zum Evolutionsprozess bestätigt.44 Neue Arten entstanden durch spontane, individuelle Sprünge, wie de Vries sie durch die Bestrahlung der Keimzellen von Nachtkerzen mit Röntgenstrahlen ausgelöst hatte. Sie konnten somit experimentell erzeugt und beobachtet werden. Während de Vries aber zu dem Schluss kam, dass sich solche Mutationen in der Regel für Organismen nachteilig auswirkten und zudem morphologisch nur von geringem Ausmaß waren, und deshalb im Zuge dieser Überlegungen von Mendel Abstand nahm,45 brachte Bateson beides zusammen: evolutionäre ‚Sprünge‘ und die Annahme, dass diese Veränderungen nach den Mendelschen Gesetzen an die nächste Generation weitergegeben wurden. Mendels Theorie lieferte ihm eine Erklärung für diesen Mechanismus. Pearson und Weldon ahnten zwar auch, dass da eine mögliche Verbindung existieren könnte. Um ihres eigenen wissenschaftlichen Ansatzes willen, der wesentlich vom Modell gradueller Veränderungen abhing, verwarfen sie aber die Mendelschen Gesetze als Erklärungshypothese und damit zugleich die experimentelle Annäherung an das Problem von Vererbung und Variation.46 Die erste Ausgabe der Zeitschrift Biometrika enthielt eine lange detaillierte Kritik Weldons an Mendels Gesetzen.47 Dessen Reinheitskriterien erschienen dem Biometriker fragwürdig, sie seien nur ein hypothetisches Konstrukt und keineswegs eine ein41 Hugo

de Vries, Carl Erich Correns und Erich von Tschermak-Seysenegg hatten unabhängig voneinander durch ihre Forschungen Mendels Vererbungslehre wiederbelebt. 42 Siehe MacKenzie, Sociobiologies, S. 258, Anm. 49. 43 Hugo de Vries, Die Mutationstheorie, Leipzig 1901–1903. 44 Zum Einfluss Batesons auf de Vries siehe Garland E. Allen, Hugo de Vries and the Reception of the Mutation Theory, in: Journal of the History of Biology 2 (1969), S. 65–69; MacKenzie, Sociobiologies, S. 257. 45 Da de Vries die Wandlung in neue Arten auf dem Wege von Mutationen nicht für möglich hielt, griff er auf die Theorie einer nur Organismen zukommenden ‚Formbildungskraft‘ (Neovitalismus) zurück. Anders als dieser Neovitalismus erwies sich aber die Mutationstheorie als weitreichender und fruchtbarer, siehe Hugo de Vries, The Mutation Theory [1901], 2 Bde London 1910; M.J. Kottler und N.B. Davies, Hugo de Vries and the Rediscovery of Mendel’s Laws, in: Annals of Science 36 (1979), S. 517–538. 46 Siehe Searle, Eugenics and Politics, S. 18. 47 Walter Frank Raphael Weldon, Mendel’s Laws of Alternative Inheritance in Peas, in: Biometrika 1 (1902), S. 228–254; siehe dazu auch Gillham, Francis Galton, S. 309.

5.3. Evolution by Jumps   243

fache empirische Beschreibung. Zwischen glatt und faltig, gelb und grün gebe es tausend Zwischenstufen, und wer garantiere, dass es sich bei den von Mendel zugrunde gelegten Erbsensorten um reine Arten und nicht nur um Abweichungen und Varianten einer Art handele? Die Biometriker störte der hypothetische Charakter des Modells. Außerdem erschien es zu einfach: Bislang gab es ja nur einige Merkmale, die auf diese Weise untersucht werden konnten. Komplexeren Merkmalen konnte man damit nicht gerecht werden. Was war mit unregelmäßiger ­Dominanz, mit unvollkommener Rezessivität, mit der Latenz von elterlichen Merkmalen? Fragen dieser Art, so kritisierte Weldon, die für Mendels Hypothese zentral waren, könnten ohne Rückgriff auf feinere und bessere Methoden der ­Beschreibung und Beobachtung nicht beantwortet werden.48 Wer wie die Biometriker im Studium der Vererbungsprozesse die Basis für eine Anwendungswissenschaft mit Vorhersagepotential suchte, für den schienen die experimentellen Verfahren mit ihren theoretischen Extrapolationen eine Zumutung. Der flexible deskriptive Apparat der Biometriker konnte dagegen multiple Faktoren und eine schier endlose Menge an Pänomenen in den Blick nehmen: [T]he whole problem of evolution is a problem of vital statistics – a problem of longevity, of fertility, of health, and of disease, and it is as impossible for the evolutionist to proceed without statistics, as it would be for the Registrar-General to discuss the national mortality without ­enumeration of the population, a classification of deaths, and a knowledge of statistical theory. Yet this […] is precisely what the school of biologists represented by Mr. Bateson are attempting to do.49

Im Unterschied zu den Experimentalbiologen besaßen die Biometriker kein explizites theoretisches Modell der Vererbung. Sie beschäftigten sich mit quantitativ messbaren Merkmalen und deren Relationen zu anderen Faktoren. Dabei ging es in erster Linie um Beschreibung statistischer Regelmäßigkeiten im Auftreten von phänotypisch erkennbaren Eigenschaften beim Übergang von der Elterngenera­ tion auf die Nachfolgegeneration. Während die Mendelianer an einem Ja oder Nein des Auftauchens einer Eigenschaft in der Folgegeneration interessiert waren und den dahinter wirkenden Mechanismus zu entschlüsseln suchten, fragten Biometriker nur nach dem Ausmaß, der Intensität, der Frequenz oder Häufigkeit der Eigenschaft und drückten das Resultat numerisch über einen Korrelationskoeffizienten aus. Die meisten von Pearson und seinen Mitarbeitern durchgeführten Messungen und Berechnungen von Korrelationen bestimmter menschlicher Eigen­schaften auf der einen Seite und der sie beeinflussenden Anlage- bzw. Vererbungs- und Umweltfaktoren auf der anderen hatte das Team sehr früh davon überzeugt, dass die Intensität der Vererbungs- d. h. Anlagefaktoren um ein fünfbis zehnfaches höher lag als der Einfluss von Umweltfaktoren.50 48 Zit.

nach Gillham, Francis Galton, S. 321 (Brief in The Times vom 20. 8. 1904). Pearson, On the Fundamental Conceptions of Biology, in: Biometrika 1 (1901/1902), S. 320–355, hier S. 320. 50 Siehe dazu Searle, Eugenics and Politics, S. 47 (Anmerkung 7); Biometrika 11 (1915), S. 12: „There is much evidence to show that the chief mental characters flow from congenital and hereditary potentialities […] intellectual power is not a product of environment.“ 49 Karl

244   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) Bateson entwickelte sich unterdessen zum führenden Mendelianer in England.51 Er und seine Mitarbeiter, darunter Reginald C. Punnett, konzentrierten sich auf Experimente mit Pflanzenhybriden und theoretischen Modellen, die auf der Annahme von diskreten elementaren Erbfaktoren (Genotypen) basierten.52 Später sollten diese Faktoren als Gene firmieren, doch zum Zeitpunkt der Kontroverse zwischen Mendelianern und Biometrikern war der Mendelsche Erbfaktor nur eine hypothetische Größe. Für Experimentalbiologen war diese Größe allerdings ein entscheidender Gewinn, wie Bateson, sehr zum Ärger von Pearson und Weldon, zum Tagungsauftakt der British Association for the Advancement of ­Science im August 1904 in Cambridge in seiner Präsidentenansprache betonte.53 Er zeigte sich darüber verwundert, dass sich die Rezeption von Mendels Entdeckung als so schwierig und kontrovers herausgestellt habe. Wie die Gravitationstheorie eine große Bandbreite von Fakten in ein kohärentes Ganzes gebracht habe, so habe es Mendels Theorie vermocht, die bislang inkohärenten und widersprüchlichen Fakten der Vererbung zu koordinieren.54 Bateson brach eine Lanze für die experimentelle Biologie und wurde zugleich zum Wortschöpfer ihrer künftigen Forschungsrichtung: „The breeding-pen is to us what the test-tube is to the chemist – an instrument whereby we examine the nature of our organisms and determine empirically what for brevity I may call their genetic properties.“55 Zwei ­Jahre später, 1906, prägte Bateson formal den Begriff genetic für seine Form der Wissenschaft, 1908 übernahm er den ersten Lehrstuhl für Genetik in Cambridge.56 Was die neue Mutationstheorie und die Diskussion über die Mendelsche Ver­ erbungslehre bewirkten, war die Aufwertung der experimentellen Biologie. An ihr entzündete sich ein Streit nicht nur um Inhalte, sondern um die richtige und ­angemessene Methode.57 Biometriker hielten die Beschreibung von Regelmäßigkeiten phänotypischer Ähnlichkeiten für die bestmögliche Annäherung an das Problem der Vererbung. Die Mendelianer hingegen hatten Vertrauen in ein theoretisches Modell, auch wenn damit bislang nur eine kleine Auswahl beobacht­barer Phänomene erklärt werden konnte. Natürlich war es auch, wie Donald ­MacKenzie 51 Siehe

dazu Robert Cecil Olby, William Bateson’s introduction of Mendelism to England: A Reassessment, in: British Journal for the History of Science 20 (1987), S. 399–420. 52 Die Debatte zwischen den Biometrikern und den Mendelianern wurde natürlich auch außerhalb Englands rezipiert, z. B. in den USA im Kontext rassenideologischen Überlegungen: W.E. Castle, The Laws of Heredity of Galton and Mendel, and Some Laws Governing Race Improvement by Selection, in: Proceedings of the American Academy of Arts and Sciences 39 (1903), S. 223–242. 53 Siehe dazu MacKenzie, Sociobiologies, S. 246; Gillham, Francis Galton, S. 320 f. 54 Zit. nach Gillham, Francis Galton, S. 322. 55 William Bateson, Presidential Address to the Zoological Section, British Association: Cambridge Meeting 1904, hier zit. nach Beatrice Bateson (Hrsg.), William Bateson, FRS, Naturalist: his Essays and Addresses, together with a short account of his life, Cambridge 1918, S. 233–59, hier S. 243, Hervorhebung S.F. 56 William Bateson, A Text-Book of Genetics (Rezension des Buches von Lotsy Vorlesungen über Descendenz-Theorien, 1. Theil), in: Nature 74 (1906), S. 146; William Bateson an Adam Sedgwick, 18. April 1905, in: Bateson, Naturalist, S. 93; offiziell dann in: Nature 46 (1906), S. 1. 57 Soloway, Demography, S. 28.

5.4. Charles Goring und Karl Pearson   245

ausführt, ein Streit um die „vested interests of scientists with different types of skills“.58 Während Bateson nichts von Mathematik verstand, verstand Pearson nichts von Biologie, und es wäre für beide schwer vorstellbar gewesen, Theorien zu unterstützen, die die eigenen Fähigkeiten bzw. Begabungen und die damit verbundenen Forschungstätigkeiten abgewertet hätten.59 Die Inkommensurabilität der Positionen führte zu Kommunikationsschwierigkeiten. Beide Lager konnten sich offensichtlich nicht einmal auf die Natur des Problems verständigen, welches sie zu lösen beabsichtigten. „Mr Bateson and I do not use the same language“,60 stellte Pearson indigniert fest. Und Bateson, der schon früh bekannt hatte, dass er mit Mathematik immer seine Schwierigkeiten gehabt habe,61 gab mit Blick auf Pearson offen zu: „his treatment is in algebraical form and beyond me.“62 Was die öffentliche Rezeption des Streites betraf, so befanden sich die Biometriker im Nachteil. Nur die mathematisch Begabtesten konnten Pearsons elaborierten Theorien folgen, während die Einfachheit des Mendelschen Modells rasch neue Anhänger fand. Nicht zuletzt die Stammbaumtafeln der Eugenics Education Society zeigten größere Nähe zu den einfachen Ableitungen Mendels als zu den Normalverteilungskurven der Biometriker.63 Einer von Weldons Schülern, A. D. Darbishire, mutierte nach der Durchführung einer aufwendigen Forschungsserie, für die Weldon die Berechnungen gemacht hatte, zu einem überzeugten Mende­ lianer, und der Amerikaner Charles Davenport, anfänglich ganz begeistert von Pearsons Ansatz, verabschiedete sich von der biometrischen Statistik und damit zugleich von seiner Mitherausgeberschaft von Biometrika, um sich, ganz auf Mendel einschwenkend, auf Zuchtexperimente zu konzentrieren.64 Als 1906 Weldon überraschend an einer Lungenentzündung starb, blieb Pearson mit einer Handvoll Mitarbeiter am University College zurück. 1909 erweitere der Gefängnisarzt Charles Goring den Kreis der Mitarbeiter für zweieinhalb Jahre.

5.4. „Cher Maître“: Charles Goring und Karl Pearson Das Arbeiten mit Karl Pearson war für den Gefängnisarzt Charles Goring eine Offenbarung. Neben dem Einfluss von Francis Galton und Adolphe Quetelet sei seine Arbeit, so schrieb Goring in The English Convict, wesentlich von der stimu58 MacKenzie,

Sociobiologies, S. 262. Bateson erklärte sogar, Galton sei aufgrund seiner mathematischen Ausbildung nicht in der Lage gewesen, Mendel zu entdecken (ebd., S. 252, Anm. 28). 60 Pearson, On the Fundamental Conceptions of Biology, S. 331. 61 „Mathematics were my difficulty“, Bateson, Naturalist, S. 10; zu Batesons mathematischer Schwäche auch Kelves, Genetics in the United States and Great Britian, S. 198. 62 Zit. nach MacKenzie, Sociobiologies, S. 255. 63 Vgl. dazu die Einschätzung von Montagu Crackanthorpe (erster Präsident der EES), der die Biometrie für zu kompliziert hielt: „[T]he biometrical method is based on the ‚law of averages‘, which again is based on the ‚theory of probabilities‘, which again is based on mathematical calculations of a highly abstract order.“ Zit. nach Gillham, Francis Galton, S. 341. 64 Siehe ebd., S. 323. 59 Vgl. ebd., S. 251–256;

246   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) lierenden Persönlichkeit und den brillanten mathematischen Forschungen eines einziges ‚Meisters‘ inspiriert worden, „who has recently reduced to order the previous chaos of statistical science.“65 Gemeint war natürlich Karl Pearson. Persönlich, so bekannte Goring 1918 in einer öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Medical Prison Commissioner Horatio Donkin, habe er nie eine klare und deutlich fokussierte Ansicht über das Problem von Anlage und Umwelt besessen bis er es durch das Medium von Korrelation und Wahrscheinlichkeitsrechnung (correlation and prediction formulæ) habe betrachten können.66 Goring war davon überzeugt, dass die Biologie durch die Biometrie als angewandte Mathematik vor allem an terminologischer Präzision gewonnen habe: Mathematik bringe den zusätzlichen Vorteil mit, die häufig feststellbare Vagheit verbalen Ausdrucks durch einen Symbolismus zu ersetzen, dessen Bedeutung stets präzise, unver­ änderbar und nie widersprüchlich sei.67 Für Goring war Biologie durch die ­Einbeziehung der Mathematik der Objektivität reiner Wissenschaften näher gerückt. Goring war, was die Hinwendung zu Karl Pearson und die vollkommene Akzeptanz seiner Arbeitsmethoden betraf, eher eine Ausnahme unter den englischen Gefängnisärzten.68 Für Pearson wiederum verkörperte Goring das positive Beispiel eines Wissenschaftlers, der seine wissenschaftlichen Ambitionen nicht durch den Eintritt in den Staatsdienst aufgegeben hatte, sondern sich prinzipiell das Recht auf freie Forschung vorbehielt und für neue Erkenntnisse offen blieb: ­„Scientists may even take heart and recognise that the rule that the scientist ceases to be when he passes into government service has its occasional exceptions, and ­Goring was one of them.“69 Ähnlich wie Pearson repräsentierte Goring einen Wissenschaftlertypus, der sich stets auf seine vorurteilsfreien und sachlichen Forschungs­verfahren berief, aus denen objektive, wertfreie Erkenntnisse hervorgingen. Was Wissenschaft leisten sollte, hatte Pearson 1891 bereits in seinen Gresham-Vorlesungen formuliert: „The classification of facts and the formation of absolute judgments upon the basis of this classification – judgements independent of the idiosyncrasies of the individual mind – essentially sum up the aim and method of modern science.“70 Der Wissenschaftler müsse sich dabei permanent 65 Goring,

English Convict, S. 27. Goring, The Etiology of Crime, in: The Journal of Mental Science 64 (1918), S. 129– 146, hier S. 135. 67 Ebd., S. 134. 68 Vgl. Beirne, Heredity, S. 324, Anm. 12: der große Einfluss von Pearson auf Goring und die private Nähe und Freundschaft der beiden Männer lässt sich an der umfangreichen Korrespondenz zwischen Goring und Pearson verfolgen, die sich in den Pearson Papers (625) am University College in London befindet. Gorings Briefe begannen häufig mit „cher maître“. Zwei Tage nach Gorings Tod unterrichtete dessen Frau Pearson und bat ihn, auf der Beerdigung eine Rede zu halten; ausführliche Nachrufe auf Goring erschienen in Biometrika; siehe auch Beirne, Science, S. 198 f.; Davies, Tracing the Criminal, S. 232 f. 69 Pearson, Vorwort, S. xi. 70 Karl Pearson, The Grammar of Science (1892), 2. erweit. Aufl. London 1900, S. 6, Hervorhebungen im Original; das Buch war aus seinen Gresham-Vorlesungen am University College 1891 hervorgegangen. 66 Charles

5.5. Charles Gorings – The English Convict   247

um eine Art ‚Selbstauslöschung‘71 in seinen Urteilen bemühen, um Argumente anbieten zu können, die von jedermann sofort als wahr akzeptiert werden könnten. Da sich die Biologie durch das biometrische Verfahren der Mathematik annähere, könnten Fakten so präsentiert werden, „that the reader’s mind is irresistibly led to acknowledge a logical sequence – a law which appeals to the reason before it captivates the imagination.“72 Erkenntnisse wurden damit selbstevident, Deutungen und Interpretationen waren nur noch Beschreibungen sich von selbst aufdrängenden Wahrheiten. Ähnlich wie Pearson73 schien auch Goring davon überzeugt zu sein, dass in den Schaltzentralen der Macht immer noch zu wenige saßen, die etwas von Wissenschaft verstanden und deshalb deren Stellenwert verkannten. Herbert Smalley, der Medical Inspector of Prison, firmierte in Gorings Briefen an Pearson als „that unenlightened gentleman“, und seine persönliche Enttäuschung über die zurückhaltende Aufnahme von The English Convict durch die Prison Commission führte Goring auf „the reckless pretensions and native inefficiency, and cynical selfishness“74 dieses Gremiums zurück.

5.5. Charles Gorings – The English Convict (1913) Die Stärke von Gorings Studie lag in ihrem wissenschaftlichen Anspruch und in der Offenlegung der angewandten Methoden. Das Einführungskapitel The Scien­ tific Study of the Criminal enthielt in komprimierter Form das wissenschaftliche Credo der Biometriker: Einzig mit den Methoden der korrelativen Statistik, d. h. durch die mathematische Analyse großer, sorgfältig gesammelter Datenkonvolute, könnten wissenschaftlich verifizier- oder falsifizierbare Erkenntnisse über Kriminelle gewonnen werden.75 Dabei konstituierte das bloße Sammeln von Fakten, die Aufstellung ganzer Serien biologischer oder sozialer Daten, nach Auffassung der Biometriker noch kein Wissen. Ein wirklicher Erkenntnisgewinn sei nur durch die Entdeckung von Beziehungen zwischen einzelnen Faktensets möglich, bei denen es sich, das sollte eine ausreichend große Menge an Daten sicherstellen, nicht um zufällige, sondern real existierende Verbindungen zwischen natürlichen Phänomenen handelte.76 Statistik als nachvollziehbares mathematisches Verfahren sollte nicht nur diese Beziehungen nachweisen, sondern auch Aussagen über den Grad ihrer jeweiligen Ausprägung treffen. Das hochkomplexe Untersuchungsobjekt Mensch stellte allerdings auch Biometriker vor besondere Herausforderungen: „The attributes and conditions of 71 Ebd.,

S. 6; eine gute und knappe Zusammenfassung von The English Convict findet sich auch in Beirne, Science, S. 199–210. 72 Pearson, Grammar of Science, S. 10. 73 Siehe dazu ausführlicher Kap. 5.9. 74 Charles Goring an Karl Pearson (1912), zit. nach Beirne, Heredity, S. 322, Anm. 9. 75 Goring, English Convict, S. 19. 76 Ebd.

248   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) living things are so widely variable, are so delicately graduated in different in­ dividuals, that their correlation can seldom be legitimately postulated, and can never be precisely estimated, without aid from a correlation calculus.“77 Mit Hilfe von Integral- und Differentialrechnung ließen sich stets nur Annäherungswerte, Wahrscheinlichkeitsaussagen, aber nie absolute Bestimmungen über diese Beziehungen gewinnen. Trotzdem kam diesen Erkenntnissen ein ganz anderer Stellenwert zu als den bloßen Mutmaßungen selbsternannter Reformer über den Einfluss von Armut, Alkoholmissbrauch, Mangel an Bildung, elterlicher Vernachlässigung u. a. m. Wie sollte mit einiger Sicherheit festgestellt werden, in welcher Intensität sich solche Faktoren auf Individuen auswirkten? Alles, was man leisten könne, so erklärte Goring, „is to measure, by the statistical method of averaging large numbers, the extent to which an increasing tendency to commit anti-social acts is correlated with different degrees or variations of the personal, economic, and social conditions under investigation.“78 Einzige Ausgangshypothese der Untersuchung war die Annahme, dass sich ­Kriminelle ‚in ihrer Art‘ nicht von gesetzestreuen Durchschnittsbürger unterschieden, es sich also um normale menschliche Wesen handelte. Und weiter führt ­Goring aus: „that the criminal thing, whatever its nature may ultimately be shown to be, is not a pathological product, but is a physiological condition of the human mind; that whatever difference there may be underlying the acts of the law-breaker and those of the law-abiding person, the difference is one of degree only, and not of kind.“79 An keiner anderen Stelle wird so deutlich, wie hier die gewählte Untersuchungsmethode eine zentrale Grundannahme über das Untersuchungsobjekt voraussetzt. In der Biometrie konnten Kriminelle und kriminelle Handlungen nur als graduelle Abweichungen von einem statistisch ermittelten Durchschnitt erfasst werden. Der experimentellen Biologie und der Mutationstheorie dagegen lag durch die Annahme der Möglichkeit spontaner Neuschöpfungen von Arten in der Natur die Idee gänzlich neuer und andersartiger Arten viel näher.80 77 Ebd.,

S. 20. S. 20 f., Hervorhebung S.F. 79 Ebd., S. 21, Hervorhebung S.F.; zit. auch in Beirne, Science, S. 200; Wissenschaftler wie Weldon und Pearson glaubten deshalb auch, dass sich die Biometrie hervorragend auf die Evolutionstheorie anwenden lasse, zumindest was die Berechnung der Rate und Richtung evolutionärer Prozesse betraf. Dies war ohne jegliches theoretisches Wissen über die Mechanismen der Vererbung möglich: „Knowing that a given deviation from the mean character is associated with a greater or lesser percentage death rate in the animals possessing it, the importance of such a deviation can be estimated without the necessity of inquiring how that increase or de­ crease in the death rate is brought about, so that all ideas of ‚functional adaptation‘ become unnecessary.“ Weldon, An Attempt to measure the Death-Rate due to the Selective Destruction of Carcinus Moenas with Respect to a Particular Dimension, hier zit. nach Beirne, Science, S. 196. 80 Überlegungen zum ‚Durchschnittstypen‘ im Gegensatz zu einem ‚Idealtypen‘, gegen den dann alle im Vergleich ‚abfallen‘, gab es bereits früher. Besonders Weldon hatte in Anlehnung an Galton dafür plädiert: „Weldon suggested that rather than construct an ideal type of a species, as did anatomists, biologists could identify and focus on an actual average type and the extent and sort of variation from it.“ Beirne, Science, S. 196. 78 Ebd.,

5.5. Charles Gorings – The English Convict   249

Was aber war normal? Lombroso war diese Erklärung schuldig geblieben, doch es war unschwer zu erkennen, dass er einen Begriff von Normalität verwendet hatte, der eigentlich auch nur das statistische Mittel meinen konnte.81 Mit ihm operierte auch Goring. Aber im Gegensatz zu Lombroso ergab sich für Goring daraus eine andere Bestimmung von Abweichung. Was die Anthropologen als ‚abnormal‘ bezeichneten und damit in eine pathologische Richtung verwiesen, sei doch nur ‚anormal‘ (unusual) im Sinne einer „rarity of existence“.82 Gemessen am statistischen Mittel komme die Variation eines bestimmten Merkmals seltener vor und werde in seiner Erscheinungsform als ungewöhnlich wahrgenommen, weil sich Biometriker am Grundsatz orientierten: Nature distributes her attributes in a continuous quantitative series; and any apparent difference of quality, in a normal series of people, will invariably be found, upon analysis, to consist ultimately in a difference of degree only. There is no line of demarcation, for instance, between good temper and bad temper, and no qualitative difference, as the verbal distinctions suggests; there is, rather, every degree of temper between an extreme serenity of good temper and an extreme violence of bad temper.83

Extreme Varianten eines Merkmals waren sehr selten, moderate graduelle Abweichungen dagegen häufiger anzutreffen. Aber alle Grade einer Abweichung hatten schließlich eines gemeinsam, sie waren „perfectly normal […] in the sense that they are all perfectly natural“.84 Da Goring aufgrund der von ihm gewählten Methode die gänzliche Andersartigkeit von Merkmalen ablehnte, fand er die zeitgenössischen Bezeichnungen bestimmter Bevölkerungsgruppen als „mentally defective type“, „degenerate type“, und „criminal type“85 gefährlich und wissenschaftlich höchst fragwürdig, denn sie suggerierten, dass es sich bei diesen Gruppen um abnorme, also um manifest krankhafte, d. h. andersartige und nicht bloß um ungewöhnliche Gruppen handelte.86 Menschen wurde eine angeborene Störung ihrer Gehirnfunktionen unterstellt und das damit in Verbindung gebrachte Fehlverhalten nicht mehr als Abweichung vom normalen Durchschnitt, sondern als Resultat des angeborenen Defekts interpretiert. Das Einzige, was man nach Gorings Auffassung legitimer Weise behaupten durfte, war, dass diese Menschen von „objectionable or dangerous de­ 81 So

schätzt es auch Beirne, Science, S. 201, ein. Karl Pearson, Gorings Lehrer, wird es in der 2. Auflage so zusammenfassen: „The criminal is not a random sample of the general population, either physically or mentally. He is rather a sample of the less fit moiety of it.“ Karl Pearson, Charles Goring and his Contributions to Criminology, in: Charles Goring, The English Convict. A Statistical Study, London 1919, S. ix. 82 Ebd., S. 22. 83 Ebd., Hervorhebung im Original. 84 Ebd. 85 Ebd., S. 24. 86 Vgl. ebd., S. 23; interessanter Weise stellte Goring die Existenz abnormer, pathologischer Krankheitszustände nicht in Frage, es gab zweifellos Krankheitsbilder, die gänzlich von einem normalen Zustand unterschieden waren. Aber ein normaler Zustand ging nicht in graduellen Schritten in einen abnormen Zustand über, sondern dieser Übergang war sprunghaft, abrupt, ein Zustand war durch eine scharfe Demarkationslinie vom anderen getrennt und als ein solcher auch erkennbar und diagnostizierbar. Bei Krankheiten akzeptierte Goring scheinbar doch Mutationstheorien.

250   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) grees of qualities“ gekennzeichnet waren, „which, in some degree, are possessed by the whole human race“.87 Gorings Kritik erinnerte daran, dass in der Zuschreibung von Abnormität eine falsche bzw. nicht überprüfbare Theorie zum Tragen kam. Es war ein direkter Angriff auf jene Experimentalbiologen, die die Mendelsche Vererbungslehre und bestimmte Mutationstheorien auch bei der Vererbung komplexer menschlicher Eigenschaften als unit characters zugrunde legten: The theory of the existence of these specific morbid types is founded wholly upon the prejudice which assumes that all human qualities showing a marked deviation from the average are ­spontaneous germinal variations and indications of mental defect or disease. In short, the theory in question is an unverified hypothesis, based entirely upon the assumed legitimacy of a very questionable inference.88

Nach Gorings Auffassung hatten es Männer wie Bateson und Davenport vermocht, Alltagsglauben zu bestätigen, indem sie unrechtmäßig, weil nur hypothetisch, die Entstehung von Abweichungen in Aussehen und Verhalten von Kriminellen auf eine – bislang noch nicht bewiesene – Spontanmutation der Keimzellen zurückführten.89 Man könne durchaus zugeben, dass der Kriminelle viele der behaupteten Eigenschaften besitze, dass er oft wie ein ‚Raubvogel‘ aussehe oder eine bestimmte Kopfform aufweise, dass er betrunken, impulsiv, widerspenstig, schmutzig und ohne Kontrolle auftrete. Und dennoch: eines sei dadurch noch nicht bewiesen, dass er ein qualitativ gänzlich anders strukturiertes, abnormes Wesen sei. „He may represent a selected class of normal man; many of his qualities may present extreme degrees from the normal average: yet the fact remains that […] he exists by the same nature […] of normal human beings.“90 Bis zu diesen Ausführungen konnten sich die Mitglieder der Prison Commis­ sion noch problemlos mit Gorings kritischen Einwänden einverstanden erklären. Gegen den Hinweis auf die Normalität des Kriminellen und die Wissenschaftlichkeit statistischer Methoden wollten sie gewiss nichts einwenden. Die Konzentration auf Kriminalität als Abweichung von einem normalen Mittel konzipierte den Straftäter zunächst einmal nur als ‚ungewöhnliche‘ Variante der Gattung Mensch. Doch Goring, der den geborenen kriminellen Typus Lombrososcher Prägung gerade verabschiedet hatte, holte den abnormen Kriminellen durch einen Akt der ‚Resubstantivierung‘ wieder in die Diskussion zurück. Kritischen Zeitgenossen sollte diese neue, anders begründete physiologische Kriminologie nicht verborgen bleiben. Sie löste nicht nur in der staatlichen Verwaltung Unbehagen aus, sie führte auch zu heftiger Kritik in der Öffentlichkeit.91 87 Goring, 88 Ebd. 89 Vgl.

English Convict, S. 24, Hervorhebung S.F.

ebd., S. 27: „We owe much to the experimental methods of investigating natural phenomena in plants and animals, but, in the future, our debt will be as great to the statistical method which has already begun to throw light upon the many hitherto obscure phenomena related to the lives and conditions of human beings.“ 90 Ebd., S. 24 f. 91 Siehe dazu ausführlicher Kap. 5.7. und Kap. 5.9.; auch Wiener, Reconstructing, S. 357.

5.5. Charles Gorings – The English Convict   251

Criminal diathesis Das Prinzip, dass es sich beim Kriminellen um ein normales menschliches Wesen handelte, bedurfte keiner besonderen Theorie. Dennoch benötigte Goring für die Erarbeitung eines erklärenden Kriminalitätskonzepts eine Arbeitshypothese, eine vorläufige Hypothese über die Natur der mentalen und moralischen Identität des verurteilten Straftäters. Unzulässig war, wie er selbst ja ausgeführt hatte, aufgrund der komplizierten Beschaffenheit des menschlichen Geistes und der Veränderbarkeit und Komplexität von Umwelteinflüssen a priori zu behaupten, der Kriminelle sei geboren oder eben ‚gemacht‘. Alles, was man annehmen durfte und in der Tat annehmen musste, war die Möglichkeit, dass sowohl Anlage- als auch Umwelteinflüsse eine Rolle in der Genese von Kriminalität spielten. Daran war nichts auszusetzen. Doch durch die folgende Definition konzeptualisierte Goring das Wechselspiel dieser Faktoren zu einer neuen, wenn auch zunächst nur hypothetischen kriminellen Entität: „we are forced to an hypothesis of the possible existence of a character in all men which, in the absence of a better term, we call the ‚criminal diathesis‘.“92 Das Wort criminal sollte dabei nichts anderes implizieren als die Tatsache, dass ein Individuum zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war, während der Begriff diathesis nach Gorings eigenen Worten „a hypothetical character of some kind“ implizierte, „a constitutional proclivity, either mental, moral or physical, present to a certain degree in all individuals, but so potent, as to determine for them, eventually, the fate of imprisonment.“93 Eine direkte Quantifizierung der criminal diathesis war unmöglich, da sich ihre Wahrnehmung den Sinnen entzog. Man konnte ihr nur auf dem Weg der quantifizierten Kriminalität selbst auf die Spur kommen. Gorings „constitutional proclivity“94 war aber mehr als eine bloße Disposition oder Tendenz, die den Kriminellen in besonderer Weise auszeichnete. Sie war ein manifest gewordenes Produkt aus dem Zusammenspiel von Umwelteinflüssen und konstitutioneller Beschaffenheit, das das Handeln derjenigen Individuen bestimmte, bei denen diese criminal diathesis über den Durchschnitt hinaus besonders stark ausgeprägt war. Es sollte sich bald herausstellen, dass Goring im Grunde den anthropologischen Typus mit erkennbar physischen Eigenschaften durch einen kriminellen Typus ersetzte, der durch mentale Defekte und intellektuelle Defizite gekennzeichnet war, die aber als nicht weniger manifest angenommen wurden.95 Goring gab das sogar offen zu: „We do not see how the conclusion can be evaded that the criminal diathesis […] is a certain constitutional fact.“96

92 Goring, 93 Ebd., 94 Ebd.

95 Siehe

English Convict, S. 26; vgl. dazu auch Beirne, Science, S. 201. S. 26, Hervorhebung S.F.

ebd., Anm. auf S. 26:„In every branch of our investigation we shall be compelled to assume the possible existence of this so-called „criminal diathesis“; that is to say, we shall have to pursue our research with a mind open to the possibility that innate or constitutional, as well as environmental factors, play a part in determining the fate of the criminal.“ 96 Ebd., S. 27.

252   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) In seiner Einleitung blieb Goring eine genauere Bestimmungen derjenigen Qualitäten, die diese criminal diathesis ausmachten, schuldig. Allen Straffälligen glaubte er sie ohne Mühe zuschreiben zu können, obgleich auch nichts dagegen sprach, dass sie in jedem gesetzestreuen Bürger anzutreffen war, wenn auch eben nicht in einer so signifikanten Ausprägung.97 Mit der Einführung des Konzepts einer criminal diathesis war die Richtung der Untersuchung vorgegeben: Es ging nun um die Frage, inwieweit diese criminal diathesis, „as measured by criminal records, is associated with environment, training, stock, and with the physical attributes of the criminal.“98 Entsprechend beschäftigte sich die Untersuchung mit der physischen Erscheinung von Kriminellen, dem biologischen Alter als ätiologischem Faktor, mit Daten der Bevölkerungsstatistik (Gesundheit, Krankheit, Sterblichkeit, prozentualer Anteil von Straffälligen an der Gesamtbevölkerung u. a. m.), mit den mentalen Abweichungen von Kriminellen, dem Einfluss bestimmter Umweltfaktoren auf das Entstehen von Kriminalität, der Fruchtbarkeit von Kriminellen und schließlich mit Vererbungsfaktoren.

Ergebnisse Wie von vielen antizipiert, bestätigte Gorings Studie auf eindruckvolle Weise: „[N]o evidence has emerged confirming the existence of a physical type, such as Lombroso and his disciples have described- our inevitable conclusion must be that there is no such thing as a physical criminal type.“99 Unter Hinzuziehung von Daten­material des Central Metric Office von New Scotland Yard,100 das Ge­ wohnheitsverbrecher registrierte und ihre Identifikationsmerkmale katalogisierte, ergab der Vergleich zwischen verschiedenen kriminellen Gruppen (Diebe, Sexualverbrecher, Betrüger u. a.) untereinander und der Vergleich zwischen der kriminellen Klasse und der Klasse gesetzestreuer Personen (Studenten, Royal ­Engineers, Undergraduates aus Oxford, Mitarbeiter des biometrischen Labors) nur, dass sowohl innerhalb der kriminellen Gruppe als auch innerhalb der Kontrollgruppe eine große Variation an physischen Merkmalen existierte.101 Dieses Ergebnis war allerdings zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung keine großartige Erkenntnis mehr, denn nicht zuletzt Lombroso selbst hatte aufgrund der zahlreichen Kritik vor allem von Seiten französischer Kriminologen an seinem ursprünglichen Konzept des ‚geborenen Verbrechers‘ in den folgenden Auflagen seines Werkes immer mehr Zugeständnisse und Einschränkungen gemacht. Dies schien Goring aber entgangen zu sein.102   97 Ebd.   98 Ebd.

  99 Ebd.,

S. 173, Hervorhebung im Original; siehe auch Beirne, Science, S. 203. ebd., S. 140. 101 Ebd., S. 173. 102 Zur französischen Kritik und Gorings mangelnder bzw. fehlender Rezeption dieser Kritik siehe Beirne, Science, S. 211 f.; er führt diesen Mangel auf Gorings Lombroso-Rezeption über englische Sekundärliteratur zurück. 100 Vgl.

5.5. Charles Gorings – The English Convict   253

Alle weiteren Erkenntnisse in Gorings Studie waren weitaus ambivalenter und schwieriger zu interpretieren. So ergab sich deutlich, dass die kriminelle Klasse insgesamt eine schlechtere physische Konstitution – sie waren leichter und kleiner – aufwies als die gesetzestreue Vergleichsgruppe.103 Innerhalb der kriminellen Gruppe kam die körperliche Verfassung der Betrüger, also Straftäter, denen ein gewisses Maß an Intelligenz unterstellt werden konnte, der körperlichen Verfassung der gesetzestreuen Vergleichsgruppe noch am nächsten.104 Dass Goring ­einer neuen physiologischen Interpretation von Kriminalität zuneigte, offenbarte sich bereits hier durch seine Interpretation des Sachverhalts. Statt, wie es die British Association mit einer ähnlichen Untersuchung der normalen Bevölkerung getan hatte, diese körperliche Unterlegenheit auf die ungünstigeren Lebensbedingungen (z. B. Mangelernährung) der unteren Klassen zurückzuführen,105 favorisierte Goring einen negativen Selektionsprozess als Erklärung.106 Gemeint war damit, dass eine gute physische Verfassung auf dem Arbeitsmarkt Vorteile verschaffte und all jene das Nachsehen hatten, die damit nicht ausgestattet waren. Durch ihre körperliche und geistige Unterlegenheit zeigten sie dann eine größere Bereitschaft zu kriminellem Handeln. Generell hielt sich Goring aber die Möglichkeit offen, dass diese physische Inferiorität zu einer manifesten Eigenschaft innerhalb der kriminellen Gruppe werden konnte: „Physical inferiority, origi­ nating in and fostered by selection, may tend with time to become an inbred char­ acteristic of the criminal classes.“107 Die Schlussfolgerung konnte dann nicht überraschen: „Our final conclusion is that criminal anthropology is not entirely without basis in fact.“108 Bezogen auf die soziale Verteilung geistiger Fähigkeiten (z. B. Intelligenz) sah Gorings Ergebnis ähnlich aus. Während die Royal Commission of the Care and Control of the Feeble-minded in ihren Untersuchungen zu dem Ergebnis gekommen war, dass 1% der Bevölkerung als ‚mentally defective‘ eingestuft werden mussten, ermittelte Goring einen Prozentsatz von 10 bis 20% für die gleiche Gruppe innerhalb der Gefängnispopulation.109 Da keine Intelligenztests durchgeführt wurden, beruhte diese Einschätzung alleine auf der des untersuchenden und die Daten aufnehmenden Arztes. Goring betonte auch hier den selektiven Prozess durch den offensichtlichen Zusammenhang von mentalen Defiziten und kriminellen Karrieren.110 Die hohe Korrelation (r=0.64) von defekter Intelligenz und Kriminalität war schließlich auch ein Grund, warum die geistig Schwächsten am häufigsten im Gefängnis landeten: „the abler would more skillfully evade, and 103 Goring,

English Convict, S. 194. ebd. 105 Vgl. ebd., S. 193. 106 „Physique selects crime“ (ebd., S. 196), siehe dazu auch Beirne, Science, S. 204. 107 Ebd., S. 200, Hervorhebung S.F. 108 Ebd., S. 201. 109 Ebd., S. 244: „all criminals displayed a decadence in general intelligence very similar to their increasing physical defectiveness.“ 110 Ebd., S. 261. 104 Vgl.

254   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) the mentally defective would more inevitably become entangled in the meshes of the police net.“111 Goring ging sogar soweit, dass er in dieser mentalen ‚defectiveness‘ den wohl wichtigsten Faktor in der Genese von Kriminalität überhaupt sah und in ihr auch die Voraussetzung für Pathologien wie Alkoholismus, Epilepsie und Geisteskrankheit vermutete.112

Umwelt Gorings Untersuchung von Umwelteinflüssen auf die Genese von Kriminalität war einer der wichtigsten Abschnitte des Buches. Die erwarteten Einwände von Sozialreformern und Philanthropen antizipierend stellte er diesem Kapitel eine längere Einführung voran, in der er sich mit dem seiner Meinung nach falschen Vorgehen der ‚Soziologen‘ auseinandersetzte.113 Ihnen warf er vor, dass sie die bloße Aufzählung der Bedingungen, die allgemein mit Kriminalität in Verbindung gebracht wurden, bereits als ausreichende ‚echte‘ Gründe für die Genese von ­Kriminalität betrachteten. Was sie als Ursache bezeichneten, war aber möglicher­ weise nur „the mere co-existence of associated phenomena“.114 Goring war nicht klar, wie sich Ursachen ohne die Analyse von Beziehungen mithilfe statistischer Methoden115 überhaupt wissenschaftlich ergründen ließen. Das Vorgehen der ­Soziologen und Sozialreformer war in seinen Augen jedenfalls nur eine intuitive, introspektive und deskriptive Untersuchungsmethode.116 Gorings Einwände ­waren keine reine Polemik, denn vom wissenschaftlichen Standpunkt aus war sein Hinweis sicher richtig, dass es zwischen sozialen Phänomenen nie so etwas wie absolute Kausalität geben konnte: „[T]hese can only be described as related to each other by a graduated bond of association, whose strength may range from the zero of mere chance concomitance, up to degrees approximating in intensity to, but never reaching, the physicist’s definition of absolute causation.“117 Alles, was wissenschaftlich möglich sei, sei mithin die Entdeckung und Katalogisierung der Ursachen in der Reihenfolge ihrer Potenz,118 die Festlegung der relativen Intensität von verschiedenen Umwelteinflüssen auf die Genese von Kriminalität. Trotz dieses logisch starken Argumentes ist es an dieser Stelle wiederum auffällig, dass Goring hier – ähnlich wie es Leonard Darwin in seinem Vortrag über den Gewohnheitsverbrecher ein Jahr später tun wird – selbst einschränkende Bemer111 Ebd., 112 Ebd.

262.

113 Beirne

macht darauf aufmerksam, dass Goring scheinbar keine Kenntnisse über französische Soziologen wie Emil Durkheim und Gabriel Tarde besaß (siehe Beirne, Heredity, S. 332), statt dessen setzte er sich mit dem amerikanischen Gefängnisreformer Frederick Howard Wines (Punishment and Reformation) auseinander, siehe Goring, English Convict, S. 263. 114 Ebd., S. 264. 115 Ebd., S. 264. 116 Ebd. 117 Ebd., S. 265. 118 Ebd.

5.5. Charles Gorings – The English Convict   255

kungen zu den Möglichkeiten statistischer Aussagen einfließen ließ: Mit Hilfe ­statistischer Verfahren konnten weder Aussagen über die Richtung des Einflusses (wer oder was wirkt auf wen oder was) noch über seine genaue Beschaffenheit (wie und auf welche Weise wirkt er) eines bestimmten Faktors gemacht werden.119 Umwelteinflüssen, die möglicherweise mit der Genese von Kriminalität in Verbindung gebracht werden konnten, waren so vielfältig und kompliziert, „and may come into association in so great a variety of ways and degrees, that to disentangle satisfactorily the contributory effectiveness of each from, and in relation to all others, would lead to a long and complicated inquiry.“120 Auch Goring vermochte dies in der vorliegenden Studie nicht zu leisten und versprach stattdessen nur einen groben, vorläufigen und möglicherweise oberflächlichen Überblick. Erschwerend kam hinzu, dass die verfügbaren Daten ausschließlich aus der Gruppe der Schwerverbrecher (convicts) gewonnen worden waren und damit einen möglicherweise nicht repräsentativen Ausschnitt darstellten, da es sich vor allem um viele Gewohnheitsverbrecher mit hoher Rückfallquote handelte. Genau diese Rückfallquoten und verschiedene Verbrechertypen waren es dann aber, die Goring mit diversen äußeren Einflussfaktoren wie Nationalität, Arbeitsverhältnissen, Erziehung und Ausbildung, Familienleben und sozialer Zugehörigkeit korrelierte. All die von ihm selbst angeführten einschränkenden Bemerkungen hinderten ihn nicht daran, sehr eindeutige Ergebnisse zu bestimmten Einzelfragen vorzulegen: Erstens: Für Politiker, die 1905 gerade den Aliens Act verabschiedet hatten, der u. a. die Ausweisung straffällig gewordener Ausländer vorsah,121 war Gorings Einzelergebnis von Interesse, dass z. B. Nationalität (Englishmen, Irishmen, foreigners, and Jews) beim Grad der Rückfälligkeit offensichtlich keine besondere Rolle spielte.122 Edward Troup, Permanent Under-Secretary im Home Office, und William Byrne vom Board of Control beschäftigten sich in einem Home Office Memorandum ausführlich mit diesem Punkt, wobei ihnen nicht klar war, warum in Gorings Studie „Jews“ als gesonderte Nationalität aufgeführt worden war.123 Ansonsten glaubten sie Gorings Prozentsatz von in England begangenen Straftaten durch Ausländer als zu hoch angesetzt und bevorzugten Zahlen der eigenen Statistiken.124 Zweitens: Während Gorings Ergebnisse in Bezug auf Arbeitsverhältnisse, die u. a. besagten, dass mit Arbeitslosen die höchsten Rückfallquoten und längsten Gefängnisstrafen verbunden waren,125 niemanden überraschten, mussten seine 119 Ebd., 120 Ebd.

S. 266.

121 Tatsächlich

sind einige straffällig gewordene Ausländer aufgrund dieses Gesetzes aus Großbritannien ausgewiesen worden, siehe dazu Christiane Reineke, Grenzen der Freizügigkeit. Die Politik der Migrationskontrolle in Großbritannien und Deutschland 1880–1930, München 2010; für diesen Hinweis danke ich Andreas Fahrmeir. 122 Goring, English Convict, S. 273. 123 Home Office Memorandum relating to the book ‚The English Convict‘ (5. November 1913), und Reply of Dr. Charles Goring, eingegangen 17. März 1914, beide Dokumente in TNA, HO 45/10563/172511. 124 Ebd. 125 Vgl. Goring, English Convict, S. 274.

256   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) Ergebnisse über den Einfluss von Bildung und Erziehung besonders Pädagogen und Philanthropen aufhorchen lassen: Weder die Art der Schulerziehung noch das Alter, mit dem die untersuchten Straftäter die Schule verlassen hatten, hatten irgendeinen nachweislichen Einfluss auf die kriminelle Karriere der Straftäter.126 Goring sprach der Schulerziehung jeglichen Einfluss ab.127 Drittens: In Bezug auf die Geschwisterreihenfolge, in die Straffällige hineingeboren wurden, ließ sich eine erhöhte Neigung zu antisozialem und kriminellen Verhalten bei erst- und zweitgeborenen Mitgliedern der Familie ausmachen.128 Da sich hier aber eine auffällige Parallele zu Erkrankungen wie Tuberkulose und Geisteskrankheit (insanity) zeigte, lag es für Goring nahe, diesem Befund konstitutionelle Ursachen zugrunde zu legen und keine von außen wirkenden Familieneinflüsse, die sich auf alle Kinder annähernd gleich hätten auswirken müssen: „[T]he special incidence of these states in the earlier born can only be due to the fact that the taints of tuberculosis and insanity are inherited in greater intensity by older than by younger members of a family. We would, accordingly, be inclined to attribute the increased tendency of elder members to be criminally ­convicted to their possessing, in some way, an increased intensity of constitutional criminal taint.“129 Hier zog Goring also, entgegen seinen eingangs gemachten Bemerkungen, doch ein pathologisches, somatisch-manifestes Beispiel heran, zudem ein fragliches, um mit dessen Hilfe die Ergebnisse in eine bestimmte Richtung zu interpretieren. Viertens: Auch die Ergebnisse zum Verhältnis von Armut und Rückfälligkeit sind interessant. Die relative ökonomische Prosperität der Familie, in der der untersuchte Straftäter aufgewachsen war, hatte anscheinend keinen Einfluss auf die Frequenz seiner nachfolgenden Verurteilungen; gemessen an der Straflänge schien es sogar so, dass Armut mit Sicherheit nicht die Tendenz zur Rückfälligkeit ansteigen ließ, sondern im Gegenteil auf ihre Verringerung wirkte.130 Dieses Ergebnis war ein großer Affront gegen all jene sozialreformerischen Kräfte, deren Reformziele sich vor allem auf die materielle Verbesserung der unteren Klassen richteten. Die Hebung des Lebensstandards wurde von ihnen stets auch mit dem Verweis auf die Beseitigung oder Verhinderung krimineller Karrieren verteidigt. Fünftens: Mit Blick auf den mütterlichen Einfluss – dies wird für die aufkommende Psychoanalyse von großer Bedeutung sein131 – korrelierte Goring den Zeitpunkt, an dem die Mutter des Straftäters gestorben war, mit dessen Rückfallhäufigkeit. Auch hier ergab sich keine signifikante Beziehung zwischen dem Tod der Mutter und dem Alter des Straftäters, d. h. ob er zu diesem Zeitpunkt noch ein Kind oder bereits ein Erwachsener gewesen war. Der Tod der Mutter wurde 126 Ebd.,

S. 275. S. 276. 128 Vgl. ebd., S. 279. 129 Ebd., S. 280, Hervorhebung S.F. 130 Vgl. ebd., S. 285. 131 Tatsächlich wird die Arbeit von John Bowlby in den 1940er Jahren genau das Gegenteil behaupten, vgl. dazu Kap. 6.14. 127 Ebd.,

5.5. Charles Gorings – The English Convict   257

folglich von Goring nur als ein „environmental accident without any significant relation to their [the convicts’, S.F.] subsequent degree of recidivism“132 interpretiert. Bei allen diesen Bezügen fiel nach Gorings Dafürhalten die verminderte Intelligenz des Straftäters, eine konstitutionelle Eigenschaft, am stärksten ins Gewicht. In ihr müsse ein „antecedent to his environmental misfortune“133 gesehen werden. Angesichts seiner Ergebnisse lautete Gorings abschließende Feststellung: „[R]elatively to its origin in the constitution of the malefactor, and especially in his mentally defective constitution, crime in this country is only to a trifling extent (if to any) the product of social inequality, of adverse environment, or of other manifestations of what may be comprehensively termed ‚the force of circumstances‘.“134

Anlage Nach seiner Absage an die Wichtigkeit von Umweltfaktoren für die Kriminalitätsgenese konzentrierte sich Goring in seinem abschließenden Kapitel ganz auf den Einfluss von Anlagefaktoren. Einmal mehr – und hier besonders deutlich – sprach aus den Zeilen der Kampf um die legitime Deutungshoheit der Biometriker in ihrer Auseinandersetzung mit den Experimentalbiologen bzw. Mendelianern. Dreh- und Angelpunkt bildeten der Begriff heredity und die Frage, wie über sie gesicherte Aussagen gemacht werden konnten. Wie Pearson war sich Goring da­ rüber im Klaren, dass der Interpretation des biologischen Vererbungsmechanismus weitreichende Bedeutung in sozialen und ökonomischen Fragen zukam.135 Für Goring stand außer Frage, dass ein solcher Mechanismus existierte, – ein „germinal influence of some kind, which not only determines the generating of living organisms, but controls their persistent resemblance to an ancestral type“. Bislang konnte aber noch kein Gesetz menschlicher Vererbung formuliert werden. Ein aus der Vorstellungskraft abgeleitetes Gesetz könne niemals Licht in das Dunkel dieser Vorgänge bringen, dies könne allein aus Erfahrung geschehen, ­allerdings keiner biologischen, sondern einer statistischen Erfahrung.136

132 Goring,

English Convict, S. 282. S. 287. 134 Ebd., S. 288, Hervorhebung S.F. 135 Ebd., S. 337, Hervorhebung im Original. 136 Ebd.; vgl. dazu auch Goring, Etiology of Crime, S. 138 f.: „But what do separate by a sharp dividing line the doctrine of Biometricians from that of their more ambitious, but perhaps rather more confused, confréres, the Mendelians? It is this: that Biometricians refuse, and always have refused, to recognise any real existence in the unit characters, unit compartments, and sharply portioned pigeon-holes which are at the basis of Mendelian theory. The characteristic feature of Biometric doctrine is that nature distributes her attributes in continuous quantitative series. The tall and the short peas of Mendelians are not, according to Biometric teaching, specific entities of one definite degree: there is a wide range of tallness in the one variety, as there is a wide range of shortness in the other.“ 133 Ebd.,

258   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) Wenn Vererbung die Bestimmung der Intensität familiärer Ähnlichkeiten war, dann ging es in ihrer wissenschaftlichen Aufklärung um die Angabe von Verhältnissen.137 Goring demonstrierte die Vererbung der von ihm eingeführten criminal diathesis als statistisch berechenbare Größe im Verhältnis des Straftäters zu verschiedenen Familienkonstellationen: krimineller Vater, kriminelle Mutter, kriminelle Eltern und nicht kriminelle Eltern. Das Ergebnis schien eindeutig: „the percentage of criminal offspring increases progressively according to whether neither parents, the mother only, the father only, or both parents, are criminal.“138 Dem Vater sprach Goring eine größere Vererbungspotenz als der Mutter zu, da im ­Falle nur eines kriminellen Elternteils die Zahlen der straffälligen Kinder bei ­einem kriminellen Vater höher lagen als bei einer straffälligen Mutter. Die Tat­ sache, dass es auch Straftäter gab, die keine kriminellen Eltern aufwiesen (immerhin 47%), verleitete Goring zu einer weiteren interessanten Annahme: „the fact that many apparently law-abiding people are, what we would call, eventual criminals. They have inherited a certain grade of criminal diathesis; and although not to-day so designated, they will ultimately pass into the ranks of recognised criminals.“139 Langfristig ließ sich einer erblichen Disposition also nicht entkommen. Gegen Ende seiner Studie steuerte Goring schließlich nahezu vollständig auf eine physiologische Kriminologie zu. Dies wurde durch seine Interpretation des Heiratseinflusses auf die Genese von Kriminalität besonders deutlich. Seine Zahlen legten nahe, dass der Einfluss – wohlgemerkt durch vererbte Disposition, nicht durch soziale Kontaminierung – eines kriminellen Ehepartners als ähnlich stark angenommen werden müsste wie der Einfluss von kriminellen Eltern oder Brüdern, obgleich beim Eheverhältnis keine Blutsverwandtschaft vorlag. Zur Erklärung ließ Goring die soziale Kontaminierung ganz außer Acht und kombinierte statt dessen seine Selektionstheorie mit der Vorstellung einer ‚anlagebedingten Wahlverwandtschaft‘, nämlich „certain selective influence in marriage, known as the influence of ‚assortive mating‘, by which individuals do not mate at random, but tend rather to intermarry with their own kind.“140 Zwei Aussagen fassten abschließend die zentralen Ergebnisse zusammen: [O]ne is that the criminal diathesis, revealed by the tendency to be convicted and imprisoned for crime, is inherited at much the same rate as are other physical and mental qualities and pathological conditions in man. The second is that the influence of parental contagion [= environment, S.F.], although varying somewhat in intensity in different conditions, is, on the whole, inconside­ rable, relatively to the influence of inheritance, and of mental defectiveness: which are by far the most significant factors we have been able to discover in the etiology of crime.141

137 Vgl.

Goring, Etiology of Crime, S. 140, S. 145: „[A]s we modify one variable, what is the observed effect on another variable?“ 138 Ebd., S. 348. 139 Ebd., S. 348, Hervorhebung S.F. 140 Goring, English Convict, S. 366. 141 Ebd., S. 368, Hervorhebung S.F.

5.6. Gorings ­Befürworter   259

Eugenische Empfehlungen Wie Pearson wusste auch Goring, dass der Erkenntnis und Interpretation der Vererbungsmechanismen weitreichende soziale und politische Bedeutung zukamen. Bereits 1892 hatte Pearson in seinen öffentlichen Gresham-Vorlesungen diese ­Tatsache betont: „The laws of heredity, whatever they may be, must profoundly influence our judgment. The conduct of parent to child, and of society to its anti­ social members, can never be placed on sound and permanent bases without ­regard be paid to what science has to tell us on the fundamental problems of inheritance.“142 Die letzten Seiten der Studie nutzte Goring ganz in diesem Sinne zu einem Appell an die politischen Entscheidungsträger, die biometrische Statistik als seriöse Methode in politische Entscheidungsprozesse einzubinden: „to ­obtain the truth, our appeal must be made, not to the opinions of descriptive ­psychologists, sociologists, and criminologists, but to the facts and calculus of the statistician.“143 Vererbung sei kein Feind, den man fürchten müsse, so erklärte Goring, sondern eine universelle und natürliche Kraft, die studiert und aufgeklärt werden müsse, um sie bewusst zum Wohle der Menschheit einzusetzen.144 Einige seiner Empfehlungen entsprachen denen der Eugenischen Gesellschaft.145 So empfahl Goring u. a. die Gelegenheit zu kriminellen Handlungen durch die ­„segregation and supervision of the unfit“ zu reduzieren, und „to regulate the reproduction of those degrees of constitutional qualities – feeble-mindedness, ­inebriety, epilepsy, deficient social instinct, etc. – which conduce to the committing of crime.“146

5.6. „More Lombrosian than Lombroso“: Gorings ­Befürworter Gorings Hinwendung zu einer neuen, wissenschaftlich fundierten Form positivistischer Kriminologie und nicht zuletzt seine eugenischen Empfehlungen brachten ihm die Bewunderung und Anerkennung all jener ein, die sich durch seine Studie in ihrer eigenen Arbeit bestätigt fühlten: Mitglieder der Eugenics Education Society, die Italienische Schule und das biometrische Labor. Leonard Darwin, Präsident der Eugenics Education Society, wies 1914 auf Gorings Ergebnisse in seiner

142 Pearson,

Grammar of Science, S. 27 f., Hervorhebung S.F. English Convict, S. 374. 144 Ebd., S. 373. 145 Piers Beirne hat nachgerechnet, dass Zweidrittel aller in The English Convict aufgeführten wissenschaftlichen Titel aus der britischen biometrischen oder eugenischen Literatur stammen. Es handelte sich entweder um die Publikationen des Galton Eugenics Institute und schloss die Arbeiten von Francis Galton und Karl Pearson mit ein, oder es handelte sich um die populistische, bekehrende Literatur der Eugenics Education Society, also Beiträge aus der Eugenics Review. Beirne, Science, S. 207. 146 Goring, English Convict, S. 373. 143 Goring,

260   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) Präsidentenansprache hin und betonte, dass solche „innate qualities exceptionally well marked in criminals“147 nun als erblich nachgewiesen worden seien. Auch die Anhänger die Italienischen Schule, Enrico Ferri, Sante De Sanctis und Lombrosos Tochter, Gina Lombroso-Ferrero, sahen in Gorings Studie, selbst noch in der Anordnung seiner Tabellen und ihrer Interpretation, eine „homage“148 an die Arbeit des italienischen Kriminalanthropologen, obgleich sie kritisierten, dass ihre eigenen Studien von Goring ganz offensichtlich ignoriert worden seien:149 „Even if he had proved that some of our anthropological figures were wrong, or erroneous,“ schrieb Gina Lombroso-Ferrero, „I would not hesitate to declare that this work is altogether the most important document of criminal anthropology which has appeared during the last years in support of the new school.“150 Gina Lombroso-Ferrero betonte, dass die ganze Untersuchung ja keineswegs von Freunden ihres Vaters angeregt worden sei, sondern von seinen Gegnern. Umso erstaunlicher sei das beeindruckende Ergebnis, dessen Vorstellung dann ausführlich folgt. Gorings Beharren auf eine überwiegend biologisch determinierte Disposition des Kriminellen, die Betonung der Erbfaktoren und die in seinen Augen absolut marginale Bedeutung von Umwelteinflüssen veranlassten die italienischen Kriminologen zu der Bemerkung, dass Goring ganz offensichtlich „more Lombrosian than Lombroso“151 sei, denn auch die Italienische Schule war inzwischen dazu übergegangen, dem Einfluss äußerer Einflüsse in ihren Untersuchungen zunehmend Rechnung zu tragen. Nicht zuletzt Lombroso selbst hatte als Reaktion auf die vielfältige Kritik immer stärker solche Faktoren berücksichtigt, was allein das Anwachsen des Umfangs seines Buches auf 2000 Seiten in den späten Auflagen deutlich macht.152 147 Siehe

dazu Darwin, Habitual Criminal, S. 207; zur Diskussion dieses Punktes siehe auch Garland, Punishment and Welfare, S. 184–185; auch Darwin, Eugenic Reform, S. 208–211. 148 Sante De Sanctis, Una Inchiesta sui condannati inglesi e l’Antropologia criminale, in: La Scuola Positiva (März 1914), hier zit. nach The Penal Reformer 6 (1914), S. 13; ebenso auch Enrico Ferri, L’Attuale Momento Dell’Antropologia Criminale, in: La Scuola Positiva (November 1913). 149 Zur Auseinandersetzung mit Gorings Studie durch die Italienische Schule siehe die Beiträge zu „The English Convict: A Symposium“: Gina Lombroso-Ferrero und Victor von Borosini [Übersetzung], The Results of an Official Investigation made in England by Dr. Goring to Test the Lombroso Theory, in: Journal of the American Institute of Criminal Law and Criminology 5 (2/1914), S. 207–223; Enrico Ferri, The Present Movement in Criminal Anthropology Apropos of a Biological Investigation in the English Prisons, in: Journal of the American Institute of Criminal Law and Criminology 5 (2/1914), S. 224–227; Sante de Sanctis, An Investigation of English Convicts and Criminal Anthropology, in: Journal of the American Institute of Criminal Law and Criminology 5 (2/1914), S. 228–240, S. 348–363; zur Rezeption siehe auch den Bericht in The Penal Reformer 9 (1920), S. 81 f.; zur Rezeption in Italien siehe Radzinowicz und Hood, The Emergence of Penal Policy, S. 23 f. 150 Lombroso-Ferrero, The Results, S. 223. 151 Ebd., S. 210. 152 Die zahlreichen Veränderungen und Zusätze (die Originalausgabe von L‘uomo delinquente umfasste einen Band mit 250 Seiten, die 5. Auflage war dann dreibändig mit über 2000 Seiten) lassen sich nachlesen in: Mary Gibson, Cesare Lombroso and Italian Criminology.

5.6. Gorings ­Befürworter   261

Als 1919 eine gekürzte Neuauflage von Gorings Buch in einer populären Ausgabe erschien, fehlte darin jeglicher Hinweis auf die Anerkennung oder Kritik, die das Buch bis dahin erfahren hatte.153 Stattdessen war der Neuausgabe eine Einführung über „Charles Goring and his Contribution to Criminology“ von Karl Pearson vorangestellt worden.154 Goring war kurz zuvor, am 5. Mai 1919, an einer Lungenentzündung in Manchester gestorben. Pearson wiederholte in der Ein­ leitung die Hoffnungen, die die Mitarbeiter des biometrischen Labors mit der Großstudie verbunden hatten: „Those who knew personally Charles Goring hoped not only that he would raise English criminology to an adequate position in continental and American estimation, but that he would ultimately succeed in moulding public and so official opinion to a sounder view of the criminal.“155 Pearson pries die Studie als „epoch-making treatise on the criminal“156 und ließ keinen Zweifel daran, dass sich die Wissenschaftlichkeit der Studie vor allem der Zusammenarbeit mit dem Labor verdankte, wo neueste Methoden und Techniken zur Anwendung gekommen seien.157 Da Pearson von der verhaltenen Rezeption der Studie wusste, konzentrierte sich seine Verteidigung ganz auf die Verteidigung der angewandten Methode. Es sei die neutrale, vorurteilsfreie und im wissenschaftlichen Sinne wahre Sprache der Mathematik, die die Ergebnisse der Studie selbst noch in einem negativen Sinne objektiv und wahr mache: „[T]he mathematical method will not create a relationship where it does not exist – as a method of appreciation, the erroneously termed ‚commonsense‘ view, so often does.“158 Indem Pearson Gorings Ansatz verteidigte, verteidigte er seine eigene Arbeit. Doch interessanterweise verwies er nun, 1919, zur Unterstützung der These des engen Zusammenhangs zwischen erblichen mentalen Defekten und Kriminalität auch auf die Stammbaumforschung der Eugenischen Gesellschaft. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte er sich noch sehr besorgt darüber gezeigt, dass deren Arbeit nicht mit seiner eigenen in Verbindung gebracht würde. Nun aber schien er jede Unterstützung brauchen zu können: „The accumulation of pedigrees of the mentally defective shows us beyond a doubt the heredity of mental defect, and it emphasises also the prevalence of crime in these mentally defective families.“159 Pearsons öffentlicher Hinweis ­ heory and Politics, in: Becker und Wetzell (Hrsg.), Criminals and their Scientists, S. 137– T 158. „As a comparison of the five editions of Criminal man reveals, Lombroso revised, or at least expanded, his theory in three main areas: the classification of criminals, the identity of the born criminal, and punishment.“ (Ebd., S. 142). 153 Siehe die Besprechung in The Penal Reformer 9 (1920), S. 80; die gekürzte Neuauflagevon 1919 kostete noch ein Drittel der Originalausgabe. 154 Charles Goring, The English Convict. Abridged Edition. New Issue with an Introduction by Professor Karl Pearson, London 1919. 155 Pearson, Goring, S. ix. 156 Ebd., S. ix. 157 Vgl. ebd., S. xii: „The steady collecting of data and the accumulation of measurements, followed by their analysis from the mathematical standpoint, these form the sole path to truth in criminology as in its parent science sociology.“ 158 Ebd., S. xiv. 159 Ebd.

262   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) auf die Arbeit der EES lässt sich als Indiz für die relativ isolierte Position der Biometriker nach dem Ersten Weltkrieg lesen.

5.7. „Data for speculations“: Gorings Kritiker Für Regierung und staatliche Verwaltungsstellen, die mit dem Rechts- und Strafsystem andere Intentionen verfolgten, war Gorings Studie eine ähnliche Herausforderung wie Lombrosos Publikation rund 30 Jahre zuvor. Zwar ließ sich der ‚geborene Verbrecher‘ ad acta legen, aber die zentrale Behauptung Gorings, eine bestimmte kriminelle Disposition sei erblich bedingt, belebten die Debatten über Determinismus und Unverantwortlichkeit von Straftätern aufs Neue. In dem der Studie vorangestellten Vorwort brachte Ruggles-Brise die Zurückhaltung und Skepsis der Prison Commission, aber auch des Innenministeriums, das sich intern seiner Meinung anschloss,160 zum Ausdruck.161 Subtil ging er zur Studie auf Distanz. Das zeigten schon die einleitenden Bemerkungen, in denen er betonte, dass die vorliegende Studie in ihrem jetzigen Ausmaß von der Prison Commission nicht intendiert worden sei, da es ursprünglich nur um die Zurückweisung oder Bestätigung bestimmter Theorien über den ‚geborenen Verbrecher‘ gegangen sei. Dieses habe die Untersuchung geleistet, enthalte nun aber darüber hinaus „data for ­speculations on very difficult and contentious questions as to the relative influences of heredity, environment, &c.“162 Angesichts der enormen Arbeitsleistung von Dr. Goring sei die Kommission aber darin übereingekommen, die Studie gemäß seiner eigenen Vorgaben erscheinen zu lassen. Allen Schlussfolgerungen indes ­zuzustimmen, sahen sich die Prison Commissioner ebenso außerstande wie die ­Methode zu kritisieren, mit deren Hilfe Goring zu seinen Ergebnissen gekommen war: „[A]ny attempt in this direction would involve an elaborate discussion of matters on which the highest scientific authorities differ.“163 Auch den Behörden war der Streit zwischen Biometrikern und Mendelianern bekannt. Gorings zentrales Ergebnis, dass es sich beim Kriminellen in erster Linie um einen physisch und/oder mental ‚defizitären‘ Menschen handle, nahm Ruggles160 Vgl.

dazu Home Office Memorandum relating to the book „The English Convict“ (5 November 1913), TNA, HO 45/10563/172511; Edward Troup (Permanent Under-Secretary) und William Byrne (Board of Control) erklärten sich konform mit den Ansichten von RugglesBrise und äußerten Kritik zu einzelnen Punkten, ohne sich auf die wissenschaftlichen Debatten einzulassen, vgl. auch Forsythe, Penal Discipline, S. 154. 161 Beirne irrt mithin in der Annahme, Ruggles-Brise sei der einzige gewesen, der erkannt habe, dass The English Convict eine neue Form von ‚Lombrosonismus‘ einführte, Beirne, Science, S. 213; er selbst zitiert ja sogar das Urteil H.B. Simpsons vom Home Office (ebd., S. 224), der The English Convict für „a striking example of methods borrowed from Germany where facts are lost sight of in a cloud of highly debateable figures“ hielt (zit. in Radzinowicz und Hood, The Emergence of Penal Policy, S. 25). 162 Ruggles-Brise, Preface, S. 7, Hervorhebung S.F.; vgl. auch ders., The English Prison System, S. 198–215. 163 Ruggles-Brise, Preface, S. 7.

5.7. Gorings Kritiker   263

Brise in seinem Vorwort das Bedrohliche, indem er für dessen Erklärung keine criminal diathesis voraussetzen zu müssen glaubte: „This general theory of defectiveness as a general attribute of criminality may be regarded […] as confirmed by the fact that persons convicted of crime are mainly drawn from the lowest social scale; and it is plausible to infer that physical and mental inferiority is allied to a low economic scale of living.“164 Ruggles-Brise holte also den Verweis auf ungünstige Lebensbedingungen, die durchaus als Ursache für die vorhandenen physischen und geistigen Unzulänglichkeiten angesehen werden konnten, wieder in die Diskussion hinein und wehrte sich gegen Gorings Annahme, es handle sich dabei um eine konstitutionell bedingte Disposition, die mit großer Wahrscheinlichkeit erblich bedingt sei. Im ökonomischen Sinne mochte diese defectiveness, deren Existenz ja keineswegs geleugnet wurde, eine prädestinierende Funktion im Sinne einer negativen Auslese besitzen, aber sie bezeichnete keine notwendige ­Beziehung zu eindeutigen körperlichen Gebrechen oder Geisteskrankheit.165 In der Abwehr des Bezugs zu manifesten Krankheiten sah der Prison Commissioner jedenfalls eine faire und vernünftige Erklärung für die allgemeine Kriminalität in England. Der Grund, warum er dies wahrscheinlich tat, lag in den großen Chancen und Möglichkeiten, die der sozio-ökonomische Erklärungsansatz all jenen bot, die sich privat oder beruflich für eine Veränderung der Verhältnisse und für individualtherapeutische Betreuung engagierten.166 Hier zeigte sich nicht nur die Anerkennung für den Einsatz von Allgemeinmedizinern, Lehrern, Pädagogen, Psychologen und Sozialarbeitern, es entsprach auch dem, was zunehmend im englischen Strafsystem verfolgt werden sollte, die Individualisierung des Strafens durch Berücksichtigung des individuellen Straftäters: „Penal law, wisely and humanely administered, as in a highly civilized State, should apply its sanctions only with regard to the varying characters and capacities of those who come before the Courts.“167 Eines aber, so betonte Ruggles-Brise zugleich, dürfe weder der biologische noch der sozioökonomische Ansatz bedeuten, „[T]o call into question the whole responsibility of any person guilty of an anti-social act.“168 Beide Ansätze waren keine Entschuldigungen für kriminelles Verhalten oder die Unmöglichkeit zu strafen. Auch Gorings allgemeine Theorie über die kriminelle Diathesis könne nicht so ausgedehnt und verstanden werden, „to affect the liability to punishment of the offender for his act. Penal law is, through its prohibition, the expression of the social standard of life in the country. Where the standard is high, there must be a residuum of individuals whose mental and physical state do not enable them to live up to this standard.“169 Alles, was in dieser Beziehung geleistet werden

164 Ebd., 165 Ebd. 166 Vgl.

S. 8.

dazu ebd., S. 9. S. 8. 168 Ebd., S. 9. 169 Ebd., S. 8. 167 Ebd.,

264   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) könne, war, auf diese konstitutionellen Defizite Rücksicht zu nehmen und durch eine geeignete Klassifizierung die Behandlung im Gefängnis entsprechend zu gestalten. Während Ruggles-Brise und mit ihm eine ganze Reihe von Vertretern des Innenministeriums die klassischen, in Oxford ausgebildeten Regierungsbeamten verkörperten, die kein naturwissenschaftlich-mathematisches Studium absolviert hatten, meldete sich 1917 mit Sir Horatio Bryan Donkin ein praktisch ausgebildeter Arzt und Psychiater zu Wort, der auf eine fast 20jährige Tätigkeit im Umfeld der Prison Commission zurückblicken konnte.170 Als Donkin 1898 als erster ­Mediziner auf Empfehlung der Gladstone Kommission in die Prison Commission berufen worden war,171 kam ihm im Zuge der Professionalisierung dieser Kommission unter anderem die Aufgabe zu, die wissenschaftlichen, d. h. vor allem die medizinisch-psychiatrischen Diskussionen (auch auf internationaler Ebene) zu verfolgen, die für den Komplex von Täterkonstitution und Sanktionssystem relevant sein konnten. Deshalb hatte Donkin auch Gorings Großstudie ausdrücklich befürwortet und gefördert. Als Donkin nun als Mitglied der Medico-Psychological Society seine erste Kritik an Gorings Studie im Journal of Mental Science veröffentlichte,172 war er bereits aus dem aktiven Dienst ausgeschieden, arbeitete aber immer noch ehrenamtlich als Mitglied des lokalen Beratungskomitees, das für die Auswahl von verurteilten Gewohnheitsverbrechern zuständig war, die in das Reformgefängnis Camp Hill auf der Isle of Wight überstellt werden sollten.173 In dieser Funktion hatte Donkin bereits Hunderte von Eignungsgesprächen mit Rückfalltätern durchgeführt. Begeistert von der Idee, die Camp Hill in seinen Augen verkörperte, setzte Donkins Kritik gezielt an denjenigen Ergebnissen von Gorings Studie an, die solche Reformmodelle in Frage stellten. Dabei konzentrierte er sich zunächst auf eine ‚neutrale‘ Methodenkritik. Donkin bezweifelte nicht die Tatsache, dass es bei allen menschlichen Handlungen eine anlagebedingte Abhängigkeit gab,174 aber Gorings Behauptung, dass das menschliche Wesen, kriminell oder nicht-kriminell, vor allem und nahezu ausschließlich ein Geschöpf dieser „inborn capacities“175 sei, hielt er für falsch und überdies für anmaßend, da man diesen Beweis mit der biometrisch-statistischen Methode überhaupt nicht antreten könne. Es sei unmöglich, mit Präzision den proportionalen Anteil des Einflusses von Anlage und Umwelt in der Entwick170 Vgl.

Bryan Donkin, The Factors of Criminal Actions, in: The Journal of Mental Science 65 (1919), S. 87–96, hier S. 96 zu seiner langjährigen Tätigkeit und den Hunderten von Interviews, die er mit Strafgefangenen geführt hat. 171 Siehe dazu Forsythe, Penal Discipline, S. 153. 172 Byran Donkin, Notes on Mental Defect in Criminals, in: The Journal of Mental Science 63 (1917), S. 16–35; zu seiner Mitgliedschaft in der Medico-Psychological Association siehe The Howard Journal 1 (3/1924), S. 105. 173 Dem Camp Hill Advisory Committee gehörten sechs Mitglieder an, siehe The Howard Journal 1 (1/1921), S. 20; siehe auch Forsysthe, Penal Discipline, S. 154. 174 Donkin, Notes on Mental Defect, S. 31. 175 Ebd.

5.7. Gorings Kritiker   265

lung des Kriminellen zu bestimmen.176 Generell schien es Donkin fraglich, ob sich durch die Auswertung von Massendaten und die daraus abgeleiteten Verallgemeinerungen überhaupt relevante Empfehlungen für die praktische Behandlung von Straftätern gewinnen ließen, so groß seien die Unterschiede der beobachtbaren Charaktere von beiden, Kriminellen und Nicht-Kriminellen.177 Gerade in Bezug auf die Feststellung geistiger Defekte bezweifelte Donkin die Vorteile, die die biostatistische Statistik gegenüber der herkömmlichen Differen­ tialdiagnostik haben sollte. Um sie bei kranken Straftätern festzustellen, bedürfe es keiner komplizierten mathematischen Methoden, sie ergebe sich schon aus der klinischen Beobachtung. Die mindere Intelligenz, die Goring als eine Bezugsgröße in seinen Untersuchungen eingesetzt habe, sei nicht aus den statistischen Analysen selbst hervorgegangen, sondern basiere auf der zuvor vom Gefängnisarzt vorgenommenen Feststellung, d. h. mindere Intelligenz oder mentale Defekte als Variablen gingen allen Bezugssetzungen voraus. Auch neue Erkenntnisse über die zerebralen Abläufe und Prozesse würden durch sie nicht gewonnen.178 Nach Donkins Auffassung bot also die biostatistische Methode keine Alternative zur klinischen Beobachtung. Auch ließ sich ihr keine klare Handlungsanweisung im Umgang mit kranken Straftätern entnehmen.179 Der ehemalige Prison Commissioner präferierte demgegenüber ein dynamisches Modell, das dem Einfluss von Umwelt und Anlage paritätisch Rechnung trug, indem es bei der Genese von Kriminalität von einer permanenten Interaktion beider Faktoren ausging. Wie Goring verneinte Donkin einen prinzipiellen Unterschied zwischen kriminellen und nicht-kriminellen Menschen. Allein der Erwerb sozialer Kompetenz, das geglückte bzw. verfehle Einüben in ein von Normen bestimmtes gesellschaftliches Dasein war nach seiner Auffassung sozial vermittelt und nicht biologisch bestimmt: „The study of criminals has, indeed, long convinced me that all men are potential lawbreakers, and that without the tra­ ditional (not biological) heritage or moral or social experience, human society would be dissolved.“180 Auch Donkin entpuppte sich also als ein Fürsprecher der be­merkenswerten Erziehbarkeit und Lernfähigkeit des Menschen.181 Seiner Überzeugung zufolge gingen konkrete menschliche Eigenschaften sowohl auf die an­ geborene Fähigkeit zurück, sie überhaupt entwickeln zu können, als auch auf das 176 Siehe

ebd., S. 31 f. „The totality of the complex environment which moulds the characters of men – ‚physical‘, ‚mental‘, ‚moral‘, or ‚intellectual‘ – and either encourages or stunts the development of their natural or inborn capacities, cannot be analysed or reduced to such items as can be established or eliminated or reasonably dealt with by statistical handling. It is not possible to ‚disentangle‘ the various factors that contribute to the production of a criminal.“ (S. 32); „This, as well as his account of the items or ingredients which constitute his conception of the ‚criminal diathesis‘, tend to illustrate the unfitness of applying solely biometrical methods to all branches of biological research.“ (ebd., S. 27). 177 Donkin, Factors of Criminal Actions (1919), S. 96. 178 Bryan Donkin, Occasional Notes on the Mental Deficiency Act, in: The Journal of Mental Science 62 (1916), S. 475 f. 179 Siehe Donkin, Notes on Mental Defect, S. 23. 180 Ebd., Hervorhebung im Original. 181 Ebd., S. 25.

266   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) Vorhandensein externer Einflüsse, die für ihre Entwicklung geeignet und günstig waren. Viele der inborn capacities blieben un- oder unterentwickelt, da es an geeigneter externer Stimulation fehlte.182 Umgekehrt gab aber Donkin durchaus zu, dass externe Stimuli wenig bewirken konnten, wenn entsprechende angeborene Fähigkeiten fehlten.183 Dennoch − den Möglichkeiten von Erziehung bzw. Erziehbarkeit hätte Goring zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, und seine Schlussfolgerung, auf die Reformierbarkeit der Verbrechers könne aufgrund seiner angeborenen minderen Intelligenz getrost verzichtet werden, sei falsch.184 Donkin wollte hingegen weder aus verminderter Intelligenz die Unmöglichkeit einer Reformierung von Straftätern ableiten noch einer Unverantwortlichkeit des Straf­ täters das Wort reden.185 Mochte die Mehrheit der Straftäter tatsächlich eine geringere Intelligenz aufweisen als die Vergleichsgruppe der gesetzestreuen Bürger, sie als praktisch unverantwortlich zu betrachten oder gar zu behandeln ergab sich für Donkin daraus nicht.186 Wie Ruggles-Brise verkörperte Donkin in dieser Frage die typische Haltung des civil service, der an der Vorstellung der Verantwortlichkeit als einer für das soziale Zusammenleben unverzichtbaren regulativen Idee festhielt. Sicher gab es unverantwortliche Geisteskranke aber Menschen mit bloß verminderter Intelligenz durften nicht mit ihnen auf eine Stufe gestellt werde.187 Selbst wenn sich nicht aufschlüsseln ließ, unter welchen Voraussetzungen und Einflüssen Menschen Handlungen vollzogen, und selbst wenn man von einer Abhängigkeit von biologischen Funktionen ausgehen musste, so galt es dennoch die Idee einer Handlung aus freiem Willen notwendigerweise aufrecht zu erhalten. Jedes um Identität bemühte Individuum müsse sich, so Donkin, als ein dazu fähiges Wesen selbst so wahrnehmen und werde von anderen auch so wahrgenommen: In practical life men assume a general ability to choose their lines of action; and also the reality of themselves and other men, and of the external world at large; and most people when they think about causation regard it as meaning something more than a simple sequence of sense impressions. They still act on these assumptions or beliefs as if they were true.188

Den experimentellen Nachweis eines freien Willens hielt Donkin weder für möglich noch für notwendig. Politisch notwendig erschien es ihm allerdings, diese Annahme konsequent aufrecht zu erhalten.

182 Übernimmt

hier die Ausführungen von Archdall Reid, siehe Donkin, Notes on Mental Defect, S. 25. 183 Ebd, S. 26. 184 Ebd., S. 32. 185 Goring wendete ein, dass Voraussage nicht Vorherbestimmung sei, vgl. Goring, Etiology of Crime, S. 132 f. 186 Donkin, Notes on Mental Defect, S. 33. 187 „Even if the view that no ill-doer or antisocial member of a community can help ill-doing – a view which entails […] the inference that well-doing is similarly conditional – should be held by some in moments of bemused study, human social existence will still proceed on the assumption of the old notion of responsibility.“ Donkin, Notes on Mental Defect, S. 21. 188 Ebd.

5.8. Die Prison Commission und die Sterilisation von Straftätern   267

5.8. Die Prison Commission und die Sterilisation von Straftätern Nur selten werden wissenschaftliche Debatten über die Beschaffenheit des Menschen rein wissenschaftlich geführt. Oft verbergen sich dahinter politische Auseinandersetzungen. Auch Donkin beschränkte sich in seiner Kritik an Gorings Studie nicht auf eine wissenschaftliche Methodendiskussion, sondern entpuppte sich als zeitgenössischer Kritiker eines wachsenden Deutungsanspruchs von Wissenschaftlern, den er politisch für hochgradig bedenklich hielt. Verwundert zeigte er sich 1917 darüber, wie viele Gruppen sich inzwischen mit Fragen von Kriminalität und Täterkonstitution beschäftigten und sich dabei vorzugsweise auf „scientific authorities“ beriefen. Besonders ärgerte ihn dabei die Führungsrolle, die Karl Pearson und sein biometrisches Labor dabei beanspruchten: „It must not be forgotten that many writers on crime make definite claims that their special teaching is ‚scientific‘, and that some deny that any method of inquiry other than their own is scientific at all.“189 Das Einsickern wissenschaftlicher Deutungen in politische Entscheidungsprozesse war nach Ansicht des Prison Commissioner mit großen Gefahren verbunden, da durch Unsicherheit oder Unwissenheit auf bestimmten Gebieten sozialpolitisch engagierte Laien und Politiker nur allzu gerne auf die Expertise wissenschaftlicher Autoritäten zurückgriffen. Umgekehrt konnte derjenige, der dabei als wissenschaftliche Kapazität auftrat, beachtlichen Einfluss ausüben „on serious inquirers, social workers, and legislators, who make no pretence to first-hand study of the subject, but are naturally eager, especially when a measure of legislation is in the air, to find some expert authority on which they may found their opinions and actions.“190 Die Trennung von Wissenschaft und Politik als zwei voneinander unabhängige und autonome Bereiche erschien Donkin notwendig, aber auch stets gefährdet, denn er hatte den Eindruck, dass die Instrumentalisierung wissenschaftlichen Wissens für politische Zwecke auch von bestimmten Wissenschaftlern gerne in Kauf genommen wurde. Karl Pearsons diesbezügliche Werbung in eigener Sache war niemandem entgangen.191 Auch der Mendelianer William Bateson hatte auf die Auswirkungen und Konsequenzen hingewiesen, die sich aus dem Einfluss neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse auf das Rechtssystem eines Staates ergeben konnten: „Genetic knowledge must certainly lead to new conceptions of justice, and it is by no means impossible that in the light of such knowledge public opinion will welcome measures likely to do more for the extinction of the criminal and degenerate than has been accomplished by the ages of penal enactment.“192 Donkin führte diese Verlautbarung als Beispiel für eine in ihrer Logik bestechen189 Beide

Zitate: ebd., S. 19. S. 19. 191 Siehe z. B. Pearsons programmatische Schrift, ders., National Life from the Standpoint of Science, London 1900. 192 William Bateson, zit. in Donkin, Notes on Mental Defect, S. 20. 190 Ebd.,

268   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) de Aussage an, die ihre Wirkung auf eine unkritische Öffentlichkeit nicht verfehlen würde, da ihr eine alltagstaugliche Plausibilität nicht abzusprechen sei.193 Für ihn lag die Gefahr genau in diesem Übergang wissenschaftlicher Aussagen, populär verkürzt und aus ihrem komplexen Herstellungskontext herausgenommen, in einen unreflektierten und mit Vorurteilen belasteten öffentlichen Diskurs. Obgleich niemand zu diesem Zeitpunkt in der Lage war, komplexe Vererbungsmechanismen adäquat erklären oder auch nur beschreiben zu können, lieferten Begriffe wie „inherited criminality“ ausreichende Erklärungen für diejenigen, „who are content to substitute undefined words for definite things“.194 Wohin das führen konnte, demonstrierte Donkin am Beispiel der 1907 verabschiedeten Sterilisationsgesetze des amerikanischen Bundesstaates Indiana, die die Fortpflanzung von „confirmed criminals, imbeciles, idiots, and rapists“ untersagten.195 Der Entwurf des Gesetzes war zunächst an das Committee of State Medicine, Health, and Vital Statistics gegangen und dann an das Committee of Benevolent and Scientific Institutions weitergereicht worden.196 Das endgültige Gesetz legitimierte schließlich Sterilisation auch ohne Zustimmung der Betroffenen aufgrund eines einzigen, einführenden Satzes. Dieser Satz erklärte die nie nachgewiesene und hoch umstrittene Behauptung, Kriminalität sei erblich bedingt, zur unumstöß­ lichen Tatsache: „Whereas, Heredity plays a most important part in the transmission of crime, idiocy and imbecility“.197 Mit Hilfe dieses Satzes, der nach Donkins Einschätzung auf „crude, ill-worded, and ill-considered statements“198 basierte und aus Meinungen Fakten werden ließ, wurden nun drastische Maßnahmen ­gegen Bürger legitimiert. Den Kritikern des sozialpolitischen Programms der ­Eugenischen Gesellschaft ähnlich kritisierte Donkin hier die Verabschiedung eines Gesetzes, dessen wissenschaftliche Begründung mehr als angezweifelt werden musste.199 Zusammen mit anderen Prison Commissioners ging er in den Zwischen­ kriegsjahren auf offenen Konfrontationskurs zu den eugenischen Populisten im 193 Ebd.,

S. 20. Zitate: ebd. 195 Zwischen 1907 und 1917 erließen 11 weitere amerikanische Staaten Sterilisationsgesetze; bis Mitte der 1920er Jahre waren über 3000 Gewohnheitsverbrecher sterilisiert worden, siehe Davie, Tracing the Criminal, S. 253, ebd. S. 266 (weitere Literatur); Kelves, In the Name of Eugenics, S. 93, S. 218; Nicole Hahn Rafter, Creating Born Criminals, Urbana/Ill. 1997, Kap. 7–8; dies., Criminal Anthropology in the United States, in: Becker und Wetzell (Hrsg.), Criminals and their Scientists, S. 159–181. 196 Zeitgenossen konnten Angaben zu Sterilizationen nachlesen bei R.A. Gibbons, The Treatment of the Congenitally Unfit and of Convicts by Sterilization, in: Eugenics Review 18 (1926), S. 100–109; Harry H. Laughlin [Superindentent des amerikanischen Eugenics Record Office], Eugenical Sterilization in the United States, Chicago 1922; vgl. Forsythe, Penal Discipline, S. 158; Gillham, Francis Galton, S. 353. 197 Siehe das Gesetz unter https://idea.iupui.edu/dspace/bitstream/1805/1053/2/1907%20 General%20Acts-%20fast%20download_A1b.pdf, Kap. 215, S. 377 f. (15. 09. 2012). 198 Donkin, Notes on Mental Defect, S. 20. 199 Scharfe Kritik am Sterilisationsgesetz von Indiana übte auch die British Medical Association, die der Ansicht war, „it would lower those who practised it to the level of the hangman“, Kommentar auf S. 1, The British Medical Journal 2 (1913), S. 508 f., hier S. 509; siehe auch Radzinowicz und Hood, The Emergence of Penal Policy, S. 324. 194 Beide

5.8. Die Prison Commission und die Sterilisation von Straftätern   269

eigenen Land.200 In den frühen 1920er Jahren lieferte er sich einen öffentlichen Schlagabtausch mit dem angesehenen Psychiater und Eugeniker Alfred Tredgold über die Sterilisation von Sexualverbrechern und sprach sich vehement dagegen aus.201 Protest kam auch von Mitarbeitern staatlicher Psychiatrien. John Baker, der Super­intendent der Psychatrieanstalt für Straftäter in Broadmoor erinnerte in ­einem Brief an das Home Office daran, welche Katastrophe bei geistig kranken Patienten Sterilisationsmaßnahmen auslösen könnten. Sie würden die schlimmsten obsessiven Phantasien der Patienten Wirklichkeit werden lassen, „that doctors were actually mutilating patients […] these ideas would assume a concrete form and would be fraught with very serious consequences indeed.“202 Auch der 1929 neu berufene Medical Prison Commissioner William Norwood East schrieb im März 1933 ein langes Memorandum an das Departmental Committee on Sterilisation,203 das sich unter dem Vorsitz von Alfred Tredgold mit Fragen der freiwilligen Sterilisation von geistig kranken und zurückgebliebenen Personen beschäftigte, in dem er erklärte:

200 Vgl.

Forsythe, Penal Discipline, S. 157; auch ein privater Brief Donkins an Ruggles-Brise verrät die Einstellung der Prison Commission zur Frage von Anlage und Umwelt. Donkin beschreibt Ruggles-Brise in diesem Brief den Inhalt eines geplanten Vortrags: „The chief burden of my song is the importance of mental acquirements (which have to be taught) to human progress and achievement, or, in other words, the great part played in the mental development of everyone by the agency of traditional heritage, as distinct from natural inheritance or ‚heredity‘. And I have always remembered a condensed expression you used once, when I was talking to you about these matters in your room several years ago (when you were laid up with your wounded leg), viz. – that the power of recording experience seemed to you to be the most important ‚differentia‘ between man and all other creatures. It was this remark that seemed to me on long subsequent reflection […] to sum up most precisely the position of those who, like myself, oppose the doctrine of the omnipotence of natural heredity in the development of all the specific qualities and abilities of individuals;“ Bryan Donkin an Evelyn Ruggles-Brise, 23. Juli 1910, abgedruckt in: Shane, Sir Evelyn Ruggles-Brise, S. 151 f. 201 Vgl. Bryan Donkin, The Times, 19. Dezember 1923, S. 11, Sp. e; Bryan Donkin, The Times, 26. Juni 1924, S. 12, Sp. c–d; Bryan Donkin an das Home Office, 20. Juli 1910, TNA, HO 144/1088–194663/4; Forsythe, Penal Discipline, S. 158; zu Alfred Tredgold siehe Hearnshaw, Short History of British Psychiatry, S. 154. 202 John Baker an das Home Office, 7. Januar 1911, TNA, HO 144/1088–194663/4 (Expert Opin­ ion on Sterilization); vgl. Forsythe, Penal Discpline, S. 158. 203 Das aus Mitgliedern des Board of Control zusammengesetzte Brock Committee knüpfte an die Empfehlungen des Wood Committee [1924 aus Mitgliedern des Board of Education und des Board of Control zusammengesetzt, Bericht 1929] an und beriet die Frage der freiwilligen Sterilization von mental defectives; das Komitee sprach sich für die freiwillige Sterilisation aus, aber nur unter strenger juristischer Kontrolle. Vgl. Board of Control, Report of the Departmental Committee on Sterilisation [The Brock Committee], Parliamentary Papers 1934, Cd. 4485; „But while they concluded“, so kommentiert Nikolas Rose die Ergebnisse des Kommitees, „with what was perhaps the last official plea for a eugenic strategy, their recommendations were never turned into legislation, and their plea already sounded outmoded.“ Rose, Psychological Complex, S. 143; die wachsende Betonung von sozialen und Umweltfaktoren, die eher nach einer sozial-psychologischen Behandlung verlangten (vgl. Kap. 6), ließ die Forderung nach Sterilisation verblassen.

270   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) It is inconceivable that this country will submit to the eugenic sterilization of its criminals unless substantial reasons are produced in support of the practice. So far these are lacking […] eugenic sterilization as a means of combating delinquency appears previous, unwarranted and possibly harmful to the race. As a punitive measure it is outrageous. As a therapeutic measure it is otiose, may incite to sexual crime and lead to a false sense of security in the public mind.204

Mit Bryan Donkin und seinen kritischen Einwänden gegen die Ergebnisse von Gorings Studie und mit William Norwood East, seinem Nachfolger, blieb die Prison Commission eine Institution, die sich konsequent eugenischen Forderungen in Bezug auf die Sterilisation von Straftätern widersetzte, ganz gleich, welche ­populären öffentlichen Wellen diese Diskurse schlugen und welche wissenschaftlichen Autoritäten sich dafür aussprachen.205 Unterstützt wurde sie darin auch von der einflussreichen British Medical Association und besonders von Donkins Kollege, Charles Mercier, dem Präsidenten der Psychologischen Sektion dieser Vereinigung. Es war jener Charles Mercier, der schon 1904 Galtons Vortrag scharf kritisiert und es in den folgenden Jahren nicht versäumt hatte, immer wieder zu dieser Frage Stellung zu nehmen.206 1935, zwei Jahre nach dem East-Memorandum, verdeutlichten die Verhandlungen des 11. Internationalen Gefängniskongresses, der diesmal in Berlin stattfand, wie weit die Kriminalitäts- und Strafkonzepte der Prison Commissioner von den Auffassungen ihrer deutschen Kollegen aus dem Bereich der Rechtsprechung und des Strafvollzugs entfernt waren.207 Wie ihr Vorgänger Evelyn Ruggles-Brise interessierten sich auch Alexander Paterson und Harold Scott, der Vorsitzende der Prison Commission von 1932-1938, für die kriminalpolitischen Entwicklungen und Modelle des Auslands. Paterson hatte zu diesem Zweck bereits in den späten 1920ern Jahren Gefängnisse in Asien und Amerika besucht, Scott war 1934 nach Deutschland gereist, um einige ‚Modell-Gefängnisse‘ aufzusuchen. Mit dem Gefühl von Depression habe er einige von ihnen wieder verlassen, schrieb er später in seinem offiziellen, 1936 publizierten Bericht. Unter den Inhaftierten habe völlige Resignation geherrscht, und eine überstrenge und harsche Gefängnisaufsicht habe jederzeit unmissverständlich für Ruhe und Ordnung gesorgt.208 Was Scott besonders irritierte, war das offensichtliche Bestreben der deutschen Gefängnisverwaltung, jeden Selbstrespekt des Inhaftierten zu zerstören. Man habe ihm mitgeteilt, der Wille des Inhaftierten müsse gebrochen werden, um in ihm eine neue Haltung gegenüber der Volksgemeinschaft zu erzielen: „he who will not hear must 204 William

Norwood East, Sterilization Committee 1932–1933, Memorandum submitted to the Departmental Committee on Sterilization, 27 March 1933, TNA, PCOM 9/123. 205 Siehe dazu die Akten des Innenministeriums zu Sterilisation und Mental Deficiency, 1911– 1934, TNA, HO 144/19778–197900/30/69/72/77. 206 Siehe z. B. Charles Mercier, The Lancet (9. August 1913), S. 400; auch Forsythe, Penal Discipline, S. 155 und S. 158. 207 Siehe zum Folgenden besonders William J. Forsythe, National Socialists and the English Prison Commission: The Berlin Penitentiary Congress of 1935, in: International Journal of the Sociology of Law 17 (1989), S. 131–146; Forsythe, Penal Discipline, S. 233–235; Freitag, Reichweite und Grenzen einer Internationalisierung, S. 163 f. 208 Harold Scott, German Prisons in 1934, Maidstone (H.M. Prison) 1936, S. 85.

5.8. Die Prison Commission und die Sterilisation von Straftätern   271

feel […] he who sets himself against the law must be shown clearly by his ­sentence and the mode of its infliction that the community stands above the individual.“209 Scott erwähnte in seinem Bericht auch die wachsende Neigung der deutschen Rechtsprechung, mit Hilfe biologistischer Theorien über die Weiter­ gabe geistiger und körperlicher Defizite eugenische Maßnahmen zu rechtfertigen. Sterilisation, so kommentierte er, werde bei Alkoholikern und Geisteskranken vorgenommen, Homosexuelle und sexuelle Straftätern würden zur Strafe und Prävention kastriert.210

Der Internationale Gefängniskongress in Berlin (1935) Bereits 1930 war auf dem Prager Kongress Berlin als nächster Tagungsort festgelegt worden. Doch nach Hitlers Machtergreifung 1933 wuchs in Großbritannien die Besorgnis über eine britische Teilnahme am 11. Kongress in der deutschen Reichshauptstadt. Bischöfe der Church of England und jüdische Mitbürger rieten von einer Teilnahme ab.211 Als Denis Pritt, der Vorsitzende der Howard League for Penal Reform, mit einem Einreiseverbot nach Deutschland belegt wurde, weil er es öffentlich gewagt hatte, die nationalsozialistische Version der Vorgänge des Reichstagsbrandes zu bezweifeln und ihre juristische Behandlung zu kritisieren, entschieden die Mitglieder der Howard League geschlossen dem Kongress fern zu bleiben.212 Anfang 1935 hatte das Reichsjustizministerium Alexander Paterson offiziell davon in Kenntnis gesetzt, dass die nationalsozialistische Regierung Pritt als Landesfeind betrachte. Paterson wiederum wollte durch diesen Vorfall die Harmonie des Kongresses nicht gefährdet sehen.213 Doch im Gegensatz zum Prager Kongress, zu dem neben den offiziellen Mitgliedern der Prison Commision über 100 britische Sozialarbeiter, Philanthropen, magistrates, Gefängnisangestellte und

209 Ebd.,

S. 25. ebd., S. 93; zum Strafvollzug im NS-Staat siehe Nikolaus Wachsmann, Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat, München 2004. 211 So hatte 1934 bereits der Erzbischof von Canterbury beim Innenminister Sir John Gilmour über die Behandlung von Juden in Deutschland protestiert, aber das Home Office glaubte durch eine offizielle Beschwerde nur das Risiko zu erhöhen, dass die deutschen (sic) Teilnehmer dem Kongress fernbleiben würden. 212 Siehe dazu die Erklärung in The Howard Journal 4 (2/1935), S. 132: „The Howard League abstained from participation in the Berlin Congress of the International Penal and Penitentiary Commission because it had good reason to believe that the Congress would lack that freedom in the choice of delegates, freedom of speech and freedom in reporting without which an international gathering is doomed to futility. We refrain from comment on the proceedings of the Congress, save to quote the Times leader which, after the close of the meeting, said ‚The International Penal Congress […] was mainly a saddening and unprofitable business‘.“ 213 Forsythe, National Socialists and the English Prison Commission, S. 137; er bezieht sich hier auf die Unterlagen der Prison Commission TNA, PCOM 9/195 und 196 (International Penitentiary Congress Berlin 1934–1936) und die Unterlagen des Home Office, TNA, HO 45/20458–553922 (International Penitentiary Congresses 1930–1935). 210 Vgl.

272   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) Mitglieder von Reformgesellschaften angereist waren,214 wurde 1935 die kleine offizielle britische Delegation – bestehend aus Alexander Paterson, Lord Polwarth, dem Vorsitzenden der Schottischen Prison Commission,215 und dem Arzt A.H. Norris von der Children’s Branch des Innenministeriums216 – nur von 20 inoffiziellen Teilnehmern begleitet, darunter der mit sehr guten Deutschkenntnissen ausgestattete sozialistische Anwalt Geoffrey Bing, der später in einem Artikel für das Howard Journal über das skurrile Schauspiel berichtete.217 Wie sehr sich in Deutschland inzwischen auch die Lage für die liberalen Reformkreise vor allem unter den Juristen verschlechtert hatte, demonstrierte die Zusammensetzung der deutschen Delegation. Sie bestand aus 443 Teilnehmern, von denen allerdings nur 19 auch am Kongress in Prag teilgenommen hatten. „Those who desired to renew old friendships“, kommentierte Bing, „could find little consolation in the fact that the places of their […] lost friends were filled by four hundred and twenty-four new German delegates without Congress experience.“218 Als jedoch diese auf­ geblähte deutsche Delegation das Bestreben zeigte, die Abstimmungsregeln des Kongresses dahin gehend zu ändern, dass einzeln nach Delegierten und nicht nach Nationen abgestimmt werden sollte, scheiterte dieser Versuch am britischen, belgischen und norwegischen Protest.219 Sie hätte ein klares Übergewicht der deutschen Stimme garantiert. Die Nationalsozialisten nutzten den Kongress geschickt zur eigenen Propaganda. Den Auftakt bildete die Rede von Reichsjustizminister Dr. Franz Gürtner, der über „The Idea of Justice in German Penal Reform“ sprach.220 Er erinnerte an das 214 Eine

instruktive und zugleich unterhaltsame Beschreibung des Prager Kongresses von ­ rthur Robert Lee Gardner, The Tenth International Penal and Penitentiary Congress at A Prague in 1930, findet sich in: The Howard Journal 3 (2/1931), S. 83–85: „An expedition by special train to Pilsen afforded the members of the Congress an opportunity to inspect the prison in that town and likewise the famous brewery – the day was indeed divided almost equally between cells and cellars“ (S. 85). 215 Walter George Hepburne-Scott, 9th Lord Polwarth (1864–1944) war von 1909–1929 Vorsitzender der Schottischen Prison Commission, siehe Forsythe, Penal Discipline, S. 233. 216 Bevor Norris 1917 in die Children’s Branch des Home Office berufen wurde, hatte er als Medical Inspector gearbeitet, siehe John Clarke, Managing the Delinquent: the Children’s Branch of the Home Office, 1913–30, in: Mary Langan und Bill Schwarz (Hrsg.), Crises in the British State, 1880–1930, London 1985, S. 240–255, hier S. 245; ausführlicher zu Norris vgl. auch Kap. 6.4. dieser Arbeit. 217 Siehe Geoffrey H.C. Bing, The International Penal and Penitentiary Congress, Berlin, 1935, in: The Howard Journal 4 (2/1935), S. 195–198; obwohl Paterson versucht hatte, auch Mitglieder der Association of Prison Visitors, der Church of England Temperance Society und der National Association of Probation Officers zur Mitfahrt zu bewegen, war die Reaktion äußerst verhalten, siehe Forsythe, National Socialists, S. 137 f. 218 Bing, International Congress, S. 198. 219 Siehe Forsythe, National Socialists, S. 140. 220 Diese Reden wurden in Deutsch gehalten, hier zit. nach dem Bericht von Bing, International Congress, S. 195; zumindest in den einzelnen Sektionen (Administration, Legislation, Prevention) war es Usus, englische oder französische Übersetzungen zur Verfügung zu stellen, allerdings scheint sich der Berliner Kongress durch eine diesbezüglich sehr schlechte Organisation ausgezeichnet zu haben: „In the Legislation Sektion, at any rate, the English translation of the proceedings, on the rare occcasions when it was provided, was incomprehensible.“ (ebd. S. 198).

5.8. Die Prison Commission und die Sterilisation von Straftätern   273

gesunde Volksempfinden, das alle Gerichte in ihrer Urteilsfindung leiten werde: „As the leadership in Germany is constantly endeavouring to be the incorporated expression of the people’s will, the judge finds both in the Fuhrer’s will and also in the national consciousness, bearings from which he can obtain the guiding line for his decisions.“221 Roland Freisler, der spätere Präsident des Volksgerichtshofes, sprach in einer ausladenden Rede über „The Change in the Political Outlook in Germany and its Influence on the Progress of the Criminal Law, Penal Procedure and the Execution of Sentences“.222 Er hob den großen nationalen Reinigungsprozess hervor, der nun durch die Rechtsprechung und den Strafvollzug einsetze.223 Die Verletzung, Kränkung und der empfundene Ekel des Volkes gegenüber dem Täter müsse diesem durch die härteste Gefängnisdisziplin zu Bewusstsein gebracht werden, bevor er die Möglichkeit erhalten könne, dem Volk gegenüber Abbitte zu leisten.224 Der Engländer Bing zeigte sich besonders über Freislers Versuche beeindruckt, „to justify vindictive punishments on mystical grounds“.225 Hans Frank, Leiter des Reichsrechtsamts der NSDAP, nutzte die Abendveranstaltung in der Akademie für Deutsches Recht nicht nur, um allgemein über den Schutz von Volk und Rasse vor Kriminellen, die als bösartige Krankheit die nationale Volksgesundheit bedrohten, zu sprechen, sondern zugleich zur gemeinsamen Front gegen die politischen Kriminellen in Russland aufzurufen. Am nächsten Morgen sprach schließlich Joseph Goebbels über Innenansichten Deutschlands und die konstruktive Arbeit des nationalsozialistischen Staates, ein Thema, wie Bing befand, das für sich genommen interessant sein mochte, aber in keiner Weise etwas mit dem Kongress zu tun hatte: „Indeed, none of the set speeches had any relation to the matters on the agenda. They all of them consisted of defence and explanation of National Socialist policy.“226 Allein, die deutsche Presse und selbst juristische Fachblätter wie die Deutsche Justiz berichteten fast ausschließlich über die Reden des nationalsozialistischen Führungskaders. Das hatte auch damit zu tun, dass sich Vorträge wie die von Alexander Paterson, der darauf beharrte, dass der Zweck von Gefängnisstrafen ein erzieherischer und reformerischer sein müsse, so deutlich von der offiziellen deutschen Rhetorik absetzten.227 Auch das in der Präventions-Sektion verlesene Papier von William Norwood East, das seine Einwände gegen die Sterilisation von Strafgefangenen wiederholte, weil sie wissenschaftlich nicht zu rechtfertigen und völlig inakzep­ tabel sei, verpuffte in einer seltsam unwirklich anmutenden Atmosphäre, wie Bing schrieb, in der von der Mehrheit der Teilnehmer alle Reformbemühungen von 221 Gürtner

zit. nach der wörtlichen Wiedergabe in Bing, International Congress, S. 195 f.; zu Gürtner und seiner Beteiligung am Urteil zum Reichstagsbrand (Todesstrafe gegen den Kommunisten Marinus van der Lubbe als Maßnahme im Kampf gegen das „internationale Terroristentum“) siehe Wachsmann, Gefangen unter Hitler, S. 60–65. 222 Siehe Bing, International Congress, S. 196. 223 Siehe die Zusammenfassung bei Forsythe, National Socialists, S. 138–140. 224 Siehe ebd., S. 140. 225 Bing, International Congress, S. 196. 226 Ebd. 227 The Times, 24. August 1935, S. 9, Sp. c.

274   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) Straftätern ohnehin prinzipiell in Frage gestellt wurde.228 Ihnen allen klang die Erklärung Franks im Ohr: „The Nazi Jurist is a fanatical exponent of the principle of reprisal and of intimidation“229 Durch das Übergewicht der deutschen Delegation entstand auch der Eindruck, der Kongress stimme mit großer Mehrheit für die Sterilisation von Straftäter, was nicht der Fall war: „It appeared“, so schilderte Bing den Eindruck,“ that the German view on sterilisation was carried by an overwhelming majority. Actually those few hands which were raised against it in the Plenary Assembly represented the opinion of at least half the civilised world.“230 Hinzu kamen Sprachverwirrungen, die auszuräumen offensichtlich nicht das Bestreben der Veranstalter war: „A certain chaos and confusion marked all the deliberations of the Congress. To the writer’s [Bing’s, S.F.] certain knowledge, one official American delegate who had a particular interest in the subject voted for the sterilisation resolution under the impression that he was voting against it. When the result was announced he still failed to discover his error and left the hall with the impression that the anti-sterilisation party had won by a large majority.“231 Dass der Kongress am 24. August 1935 schließlich in einer, wie die Times schrieb, „atmosphere of confusion and haste which characterised it from the beginning“, zu Ende ging, führte die Zeitung auf „the unduly large proportion of time taken up by the voluntary lectures of German government spokesmen in defence of National Socialist ideas“232 zurück. Während Paterson im Anschluss an den Kongress die von ihm erwarteten diplomatischen Höflichkeiten austauschte und den Organisatoren des Kongresses versicherte, dass „the friendship of Germany and England has been strengthened by our time with you in Berlin“,233 zeugen die von ihm und Polwarth dem Home Office intern gegenüber gemachten Bemerkungen von einer ganz andern Einschätzung: Kein deutscher Delegierter habe es gewagt, gegen die nationalsozialistische Doktrin aufzubegehren, und so sei der ganze Kongress zu einer einzigen Propagandaveranstaltung der Nationalsozialisten verkommen.234 Als einen „congress in chains“235 schilderte auch Geoffrey Bing die Berliner Verhandlungen bei einem Treffen der Howard League im November 1935: „[I]t is useless to attempt to fight the worst evils of the Nazi regime by the methods of negotiation and 228 Dr.

William Norwood East on Sterilization, TNA, PCOM 9/196-32 (International Penitentiary Congress Berlin 1934–1936), kein Datum, bezieht sich auf das „Memorandum submitted to the Departmental Committee on Sterilization by William Norwood East“, 27 March 1933, TNA, PCOM 9/123; siehe auch Forsythe, National Socialists, S. 140; Bing, International Congress, S. 197. 229 Frank, wörtliche Wiedergabe in Bing, International Congress, S. 197. 230 Ebd., S. 198. 231 Bing, International Congress, S. 198. 232 The Times, 26. August 1935, S. 9, Sp. d. 233 Alexander Paterson an Dr Schafer, 17. September 1935, TNA, PCOM 9/196-33 International Penitentiary Congress Berlin 1934–1936, zit. nach Forsythe, National Socialists, S. 141. 234 Alexander Paterson und Lord Polwarth an das Home Office, 19. November 1935, TNA, HO 45-20458-553922/52, siehe Forsythe, National Socialists, S. 141. 235 Geoffrey Bing, hier zit. nach Negley J. Teeters, Deliberations of the International Penal and Penitentiary Congresses. Questions and Answers 1872–1935, Philadelphia 1949, S. 178.

5.9. Bilanz und Ausblick: Experten, Expertise und der Staat   275

diplomacy.“236 Nach dem Berliner Kongress stuften einige Beamte des Home ­Office die internationalen Gefängniskongresse generell nur noch als „bewildering and ineffective“237 ein. Der Zweite Weltkrieg vereitelte weitere Kongresse. Erst fünf Jahre nach Kriegsende, 1950, kam der 12. und letzte Kongress zustande. 1955 konstituierte er sich unter dem Dach der Vereinten Nationen neu.

5.9. Bilanz und Ausblick: Experten, Expertise und der Staat Das von Karl Pearson geleitete biometrische Labor am University College in London, in dem die von der Prison Commission geförderte Großstudie The English Convict betreut wurde, war eine britische Ausnahmeerscheinung. Weder auf dem europäischen Kontinent, noch in den USA gab es zu diesem Zeitpunkt eine ähnliche Einrichtung mit ähnlicher methodischer Ausrichtung. Ihre Aufgabe bestand u. a. in der auf Massendaten gestützten statistischen Berechnung biologischer Phänomene. Betrachtet man Aufbau und Ergebnisse der Großstudie, so ist zu bedenken, dass ihrer Abfassung eine heftige öffentliche Debatte zwischen den sogenannten Mendelianern und den Mitarbeitern des biometrischen Labors vorausging, bei der es um die wissenschaftlich adäquatere Methode zur Erschließung des Vererbungsmechanismus ging. Während Mendelianer über hypothetische Modelle den dahinter wirkenden Mechanismus (Erbfaktoren) zu entschlüsseln versuchten, näherten sich Biometriker dieser Frage über die mathematisch bestimmbare Intensität im Auftreten phänotypischer Ähnlichkeiten in Nachfolgepopulationen und über die Bestimmung ihrer Beziehungen zu multiplen äußeren Faktoren an. In beiden Fällen bestimmten Vorannahmen im Verfahren die Konstruktion des Untersuchungsgegenstandes. Während die Mendelianer unter Hinzuziehung der um 1900 neu entwickelten Mutationstheorien die Weitergabe von Veränderungen über manipulierte Keimzellen annahmen und damit das Auftreten neuer Arten glaubten erklären zu können, wurde der Untersuchungsgegenstand der Biometriker stets nur als ‚ungewöhnliche‘, aber niemals ‚unnatürliche‘ Abweichung von einem statistisch ermittelten Durchschnitt konstruiert. In ­Gorings Studie selbst war dann aber die Einführung der criminal diathesis, eine mathematisch bestimmbare Größe der ‚Geneigtheit‘ zu kriminellen Handlungen, zwar theoretisch nachvollziehbar, nicht aber die daraus abgeleitete Annahme ­ihrer tatsächlichen konstitutionellen Existenz. Sie wurde von Groing als mentale ­Schädigung gedacht, aus der alle sozialen Nachteile erwuchsen, die letztlich zu einer kriminellen Karriere prädestinierten. Gorings Behauptung, diese kriminelle Disposition sei letztlich erblich bedingt, entfachte dann Diskussionen über Determinismus und freien Willen. Die Behörden hielten an der Vorstellung des freien Willens als einer wichtigen regulativen Idee fest, auch wenn er sich empirisch 236 The

Times, 21. November 1935, S. 7, Sp. f. 237 Home Office Minutes, 17. Oktober 1935, TNA,

HO 45-20458-5539/47.

276   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) schwer nachweisen ließ. Zugleich bemängelten Vertreter der Prison Commission die biostatistische Methode, da diese selbst nichts zur Entdeckung ‚mentaler Defektheit‘ beitrage, sondern nur mit ihrer Gegebenheit operiere, während sich ihre Feststellung traditioneller ärztlicher Anamnese verdanke. Auch der genaue Stellenwert von Anlage und Umwelt auf das menschliche Verhalten ließe sich durch sie nicht so überzeugend bestimmen, wie Goring behauptete. Aufschlussreich ist Gorings Studie auch aufgrund eines anderen Diskussionszusammenhangs. Sie berührte nämlich die Frage, welche Rolle wissenschaftliche Expertise künftig in politischen Entscheidungsprozessen spielen sollte. The Eng­ lish Convict wurde nicht nur als eine wissenschaftliche Untersuchung über Kriminalität und Kriminelle wahrgenommen, sondern durchaus als eine nach zwei Seiten hin ausgerichtete Streitschrift. Sie kritisierte sowohl die Deutungsansprüche der Mendelianer als auch das methodisch unreflektierte Vorgehen von Sozial­ reformern und Politikern, die es anscheinend alle vorzogen, individuelle Überzeugungen an die Stelle von wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen zu setzen. In der Auseinandersetzung über den Einfluss von Anlage und Umwelt auf menschliches Verhalten hatte Goring beklagt: The whole trend of recent legislation – following, of course, upon popular opinion – has been affected by the notion of the influence of environment. People believe in the effective action of material things they can see. They may, perhaps, think there is „something in heredity“; but they feel that circumstances make the man and determine his condition […] and they argue that the original influence of heredity may be augmented, reduced, or entirely overcome, by every kind of environmental influence.238

Für die Biometriker um Karl Pearson bedeutete Gorings Studie deshalb den Versuch, ihre eigene biostatistische Arbeit den offiziellen Regierungsstellen zu empfehlen, „in moulding public and so official opinion to a sounder view of the ­criminal“, wie Pearson selbst bekannte.239 Es ging dabei um die Etablierung der Biometrie als prognosefähige Wissenschaft,240 d. h. um die Entwicklung eines Selektion und Vererbung adäquat beschreibenden und zuverlässig voraussagenden Modells des Evolutionsprozesses. Dabei sollte demonstriert werden, dass Faktoren wie Vererbung durch natürliche und künstliche Selektion in messbarer Weise auf biologische Populationen Einfluss nahmen, um definitive Effekte in der Nachfolgegeneration auszulösen. Einer mathematischen Technik, die solche Voraussagen erlaubte, wohnte ein großes bevölkerungspolitisches Potenzial inne.241 Wäre das biometrische Unternehmen erfolgreich gewesen, so argumentiert Donald MacKenzie, dann hätte man eine vollkommen zuverlässige Technik zur Verfügung gehabt, um „the effects of intervention in one generation on the measurable ­characteristis of subsequent generations“242 vorherzusagen. Attraktiv war diese 238 Goring,

English Convict, S. 337 f. Goring, S. ix. 240 Vgl. Karl Pearson, Mathematical Contributions to the Theory of Evolution, III: Regression, Heredity and Panmixia, in: Philosophical Transactions of the Royal Society of London, Serie A 187 (1896), S. 259. 241 MacKenzie, Sociobiologies, S. 264. 242 Ebd. 239 Pearson,

5.9. Bilanz und Ausblick: Experten, Expertise und der Staat   277

­ ethode deshalb besonders für solche Forscher, die eine langfristige, planvolle M Verbesserung der gesamten Population im Auge hatten. Alles hing aber davon ab, dass sich das Auftreten von Schlüsselmerkmalen in nachfolgenden Generationen eindeutig und mit sicherer Voraussage nachweisen ließ. Nur die biometrische ­Methode schien in der Lage, in dieser Form Massenphänomene analysieren und langfristige Trends ausmachen zu können.243 Damit warb das biometrische ­Labor.244 1919, im gleichen Jahr, in dem Pearson das Vorwort für die Neuauflage von Gorings The English Convict verfasste, veröffentlichte er noch einmal seine Abhandlung The Function of Science in the Modern State, die bereits 1902 erschienen war.245 Pearson betonte hier die Dringlichkeit staatlicher Wissenschaftsförderung, wie sie in Deutschland selbstverständlich sei. Der Krieg habe gelehrt, dass Wissenschaft für das Überleben des Staates von fundamentaler Bedeutung nicht nur im Krieg selbst, sondern auch in Friedenszeiten sei.246 Pearson kämpfte in dieser Schrift für ein größeres Mitspracherecht von Wissenschaftler in den politischen Verwaltungen und gegen die Ignoranz der traditionell ausgebildeten OxbridgeBürokraten: Only by freeing our state executive from the dominance of minds trained solely on literature and jurisprudence, and recognizing that in the modern state the function of science – science in its broadest sense, namely the observation of facts, physical, organic and mental, and the ana­ lysis of the observed sequences – extends not only to every department of administration but to all those branches of national activity, which it is the duty of the true statesman not only to foster, but if necessary to create.247

Der Mathematiker Pearson wünschte sich nicht nur mehr Wissenschaftler in der Exekutive, er wünschte sich auch eine systematische Förderung von Wissenschaft und Wissenschaftlern durch den Staat und schließlich die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in eine aktive Bevölkerungspolitik: „The crowning study of man is man; the highest science is that which deals with human races, and sees 243 Pearson

glaubte das Gesetz „of ancestral heredity“ aus beobachtbaren Daten gewinnen zu können, was eine theoriefreie Vorhersage möglich machen sollte, „because the biometric concept of heredity simply summarized what happened in the ‚passage‘of a characteristic from given individuals in one generation to those in the next.“ (MacKenzie, Sociobiology, S. 268). 244 Probabilistische Analysen haben heute längst klinische Forschung zu kriminellem Verhalten abgelöst, weil sie dem „criminal profiling“ zuarbeiten können, wenn es darum geht, Verdächtige zu identifizieren und sie zu überwachen; in dieser neuen technokratischen, behavioristischen „managerial criminology“ (Katherine Beckett) geht es jetzt um das Einschätzen von Risiko, nicht mehr um das Wissen einzelner individueller Fälle, vgl. zu diesen Entwicklungen den aufschlussreichen Artikel von Hartcourt, Actuarial Models. 245 Karl Pearson, The Function of Science in the Modern State, 2. Aufl. Cambridge 1919; 1902 war diese Abhandlung als einleitender Essay zum 32. Bd. der 10. Auflage der Encyclopaedia Britannica erschienen; das Vorwort zur 2. Auflage (S. v-vii) datiert auf den 1. Februar 1919. 246 Pearson, Function of Science, S. v. 247 Ebd., S. vi; zu Pearsons sozialer Vision und der Schaffung einer wissenschaftlichen Führungselite in einer neuen, durch Wissenschaft bestimmten allgemeinen Kultur siehe auch Theodore Porter, Statistical Utopianism in an Age of Aristocratic Efficiency, in: Osiris 17 (2002), S. 210–227.

278   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) the causes which lead to their progression and relative dominance. This science, applied to national life, is statecraft,– the art of seeing what makes for national health and for national fitness.“248 Pearson schlug die Schaffung eines State Sci­ ence Council vor, der aus den Direktoren nationaler Institute (Marine, Militär), den anerkanntesten Professoren ‚reiner‘ Wissenschaften, den besten Lehrern aus technischen Schulen und Personen zusammengesetzt sein sollte, die große wissenschaftliche Leistungen vorzuweisen hatten.249 An dieses Gremium sollte sich die Regierung in schwierigen Fragen wenden, da es weitaus besser als jedes herkömmliche Komitee in der Lage sei, den Staat in allen wichtigen Entscheidungen zu unterstützen.250 Pearson selbst räumte allerdings ein, dass die britische Öffentlichkeit erst umdenken müsse, um begreifen zu können, „that trained intelligence in all functions is the factor which makes for victory in the modern international struggle.“ Für Pearson gehörte die Zukunft jedenfalls der „scientific trained nation.“251 Trotz Pearsons engagiertem Werben ließ sich das britische Innenministerium auf seine Forderung nach einer „closer association of the scientific and governing castes“252 nicht ein. Ein sprunghafter Anstieg von Spezialisten und Experten, besonders von Mathematikern, Statistikern, Ökonomen oder Demographen in Regierungskabinetten und staatlichen und kommunalen Verwaltungen war un­ mittelbar nach dem Ersten Weltkrieg nicht zu verzeichnen.253 Zwar hatte es nach der Reformierung des Staatsdienstes und der Einführung von Prüfungen 1870 (Trevelyan Report) einen Professionalisierungsschub auch im öffentlichen Dienst gegeben und der Bedarf an Expertise war gestiegen. Aber nach wie vor rekrutierte sich die politische Elite in erster Linie aus Oxford und Cambridge. Diese wies in weitaus größerem Maße Abschlüsse in klassischen Sprachen als in Naturwissenschaften auf. Selbst als die britische Regierung während des Ersten Weltkriegs systematischer dazu überging, Expertise außerhalb ihrer Reihen einzuholen, ließ sie sich dabei stärker von Geschäftsleuten und Industriellen beraten als von Wissenschaftlern mit ihrem eher formalisierten Wissen. Insgesamt, so betont Theodore Porter, schuf die Kriegsmobilisierung in Großbritannien im Gegensatz zu Deutschland keine größere administrative oder politische Rolle für die Wissenschaft.254 248 Pearson,

Function of Science, S. 89. dazu ebd., S. 94 f. 250 Ebd., S. 96: „For it would involve specialists in all branches of pure and applied science, having the instruments of research at their disposal and would be essentially practical and national in its character.“ 251 Beide Zitate: Pearson, Function of Science, S. 97. 252 Ebd., S. 96. 253 Zur schwachen Vertretung von Wissenschaftlern in der englischen Politik nach dem Ersten Weltkrieg siehe auch Gary Werskey, The Visible College, Part 1: High Science and Low Politics, London 1978, S. 19–43. 254 Siehe dazu Porter, Statistical Utopianism, S. 221; zur Suche nach Expertise außerhalb der Verwaltung siehe Roy MacLeod (Hrsg.), Government and Expertise: Specialists, Administrators, and Professionals, 1860–1919, Cambridge 1988. 249 Siehe

5.9. Bilanz und Ausblick: Experten, Expertise und der Staat   279

Die Vorbehalte, die 1902 Winston Churchill in seiner Antwort auf H.G. Wells Anticipations of the Reaction of Mechanical Progress upon Human Life and Thought gegen Experten formulierte, brachten eine politische Skepsis zum Ausdruck, die viele seiner Zeitgenossen teilen. „Nothing“, schrieb Churchill an Wells, „would be more fatal than for the Government of States to get in the hands of experts. Expert knowledge is limited knowledge, and the unlimited ignorance of the plain man who knows where it hurts is a safer guide than any rigorous direction of a specialized character. Why should you assume that all except doctors, engineers, etc., are drones or worse?“255 Nicht antimodernes Denken, das sich gegen die fortschreitende Professionalisierung vieler Berufszweige stemmte, bestimmte Churchills Überlegungen,256 sondern die Frage, ob spezialisiertes Expertenwissen für die Lösung der höheren Staatsaufgaben überhaupt eine angemessene Wissensform bereitstellte. Zugleich klang hier eine zivilgesellschaftliche Besorgnis an: Die Autorität, mit der Experten auftraten, konnte die offene demokratische Debattenkultur bedrohen. Die Skepsis gegenüber der Rolle von Experten im Staat war keineswegs eine ganz neue Diskussion in Großbritannien. Bereits John Stuart Mill hatte 1859 in seiner Schrift On Liberty anlässlich der Diskussion über die Einführung von Beamtenexamen ein Gedankenexperiment entworfen: Was würde geschehen, wenn alle Talente des Landes im Regierungskörper (governing body) integriert wären? Er sah zwei Probleme: Zum einen wäre es unmöglich, von außen als Gesellschaft gegen die Entscheidungen eines solchen an Talenten und Wissen überlegenen Körpers zu opponieren, folglich geriete die Gesellschaft in wachsende Abhängigkeit von diesem regierenden Körper, der selbst immer mehr an Macht gewönne. Zugleich würde aber dieser alle Talente aufsaugende Regierungskörper mit großer Wahrscheinlichkeit seine eigene Progressivität einbüßen und in selbstgefällige Routine versinken: [T]he only stimulus which can keep the ability of the [governing, S.F.] body itself up to a high standard, is liability to the watchful criticism of equal ability outside the body. It is indispensable, therefore, that the means should exist, independently of the government, of forming such ability, and furnishing it with the opportunities and experience necessary for a correct judgement of great practical affairs.257

Talente, Begabung, Expertise, Wissen mussten immer auch in der Gesellschaft verbleiben und dort selbst kultiviert und gefördert werden. Auf diese Weise würde die Öffentlichkeit nie sämtliche Erwartungen auf den Staat richten, sondern selbst im Besitz von Mitteln sein, einen politischen oder sozialen Wandel einzu­ leiten und souverän mit Wissensbeständen umzugehen. Nur wenn Kompetenz in der Zivilgesellschaft verblieb, konnte sich nach Mills Auffassung ein Volk als frei 255 Winston

Churchill an H.G. Wells, 17. November 1902 (Wells Collection, University of Illinois, Urbana-Champaign), zit. in Harold Perkin, The Rise of Professional Society. England since 1880, London und New York 1989, S. 169. 256 Als ein solches interpretierte Perkin Churchills Stellungnahme, vgl. ders., Professional Society, S. 169 f. 257 John Stuart Mill, On Liberty and other Essays, Oxford 1991, S. 125, Hervorhebung S.F.

280   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) bezeichnen. Selbst wenn die Regierung sich auflöse, seien solche kompetenten Zivil­gesellschaften, wie z. B. die amerikanische, in der Lage, die Situation demokratisch, d. h. nicht durch einen diktatorischen Putsch, zu meistern: „let them [the Americans, S.F.] be left without a government, every body of Americans is able to improvise one, and to carry on that or any other public business with a sufficient amount of intelligence, order, and decision. This is what every free people ought to be: and a people capable of this is certain to be free“.258. Nicht nur in der britischen Verwaltung stießen Karl Pearsons Hinweise auf das leuchtende Wissenschaftsvorbild Deutschland auf Ablehnung und Skepsis.259 Auch in der britischen Öffentlichkeit fand er wenig Zustimmung. So warnte Gilbert Keith Chesterton, der Schöpfer der Pater Brown Romane, vor einem „scientifically organised state“ und „the modern craze for scientific officialism and strict social organisation“.260 England sei in den Krieg gezogen gegen „the model State of all those more rational moralists who saw in science the ordered salvation of society“, mit anderen Worten: „She [England, S.F.] went to war with […] Dr. Karl Pearson.“261 Obgleich ein streitbarer Katholik, argumentierte Chesterton in seiner Kritik am eugenischen Programm, das auch durch Gorings Studie gestärkt wurde, nicht primär theologisch oder religiös, sondern staatspolitisch. Ähnlich wie Donkin warnte er vor einer allzu großen Nähe von Wissenschaft und Politik, weil demokratische Prozesse nicht von wissenschaftlichen Rationalitätskriterien bestimmt werden dürften. Das, was Fortschritt und Zivilisation auszeichne, vor allem die Errungenschaft politischer Rechte jedes Einzelnen, werde durch eugenische Eingriffe zutiefst verletzt: „as if one had a right to dragoon and enslave one’s fellow citizens as a kind of chemical experiment.“262 Auch wenn die katholische Kirche Heirat und Familiengründung von jeher zu ihren Zuständigkeitsbereichen zählte, beide waren auch politisch zugesicherte Rechte: „Far into the unfathomable past of our race we find the assumption that the founding of a family is the personal adventure of a free man“.263 Was für das Verhältnis von Politik und Wissenschaft bzw. Eugenik gelten sollte, sollte schließlich auch für das Verhältnis von Rechtsprechung und Wissenschaft gelten. Gegen die Naturalisierung des Strafrechts erinnerte Chesterton an die gewachsenen Strukturen der englischen Rechtstradition und Rechtsstaatlichkeit: It is also the plain fact that all that has been called civilisation or progress, justice or liberty, […] has had the general direction of treating even the captive as a free man, in so far as some clear case of some defined crime had to be shown against him. All laws meant allowing the criminal, within some limits or other, to argue with the law. […] But the criminal is, among civilised men, tried by one law for one crime for a perfectly simple reason: that the motive of the crime, like the meaning of the law, is conceivable to the common intelligence. A man is punished specially as 258 Ebd.,

S. 124. hatte in Deutschland studiert und aus Begeisterung seinen Vornamen von Charles in Karl geändert. 260 Gilbert Keith Chesterton, Eugenics and Other Evils, London u. a. 1922, S. 1. 261 Alle Zitate: ebd., S. 182. 262 Ebd., S. 18, Hervorhebung S.F. 263 Ebd., S. 9 f. 259 Pearson

5.9. Bilanz und Ausblick: Experten, Expertise und der Staat   281 a burglar, and not generally as a bad man, because a man may be a burglar and in many other re­ spects not be a bad man.264

Chesterton wusste prominente Publizisten des römisch-katholischen Lagers wie Father Thomas Gerrad265 und Hilaire Belloc auf seiner Seite. 1924 erschien in der Catholic Times ein offener Brief des Dekans Vincent McNabb, der deutlich machte, welche Gestalt Wohltätigkeit und Gemeinwohl unter eugenischen Vorzeichen annehmen würde: „Having been begun in order to aid the poor, they would end with eugenic schemes to eliminate the poor.“266 Lange vor dem Erscheinen der päpstlichen Enzyklika De Casti Connubii im Jahr 1930 war in Großbritannien die katholische Kritik an der von der EES propagierten Eugenik längst formuliert. Den englischen Eugenikern erschien die päpstliche Verlautbarung zwar als „defiant return to mediaevalism“,267 aber als sie in den Zwischenkriegsjahren einen Gesetzentwurf zur freiwilligen Sterilization auf den Weg bringen wollten, war es die mächtige Koalition aus Labour Party und Katholischer Kirche, die den Versuch bereits in seinen Ansätzen vereitelte.268 Der letzte englische Untersuchungsausschluss (Brock Committee), der sich Anfang der 1930er Jahre unter dem Vorsitz des Eugenikers Alfred Tredgold mit der Frage freiwilliger Sterilisation beschäftigte, brachte seinen Gesetzentwurf nicht einmal zur Lesung ins Unterhaus: „[W]e know far too little of the extent and mechnisms of the transmission of feeblemindedness“, warnte S. Davies in seinem Buch Social Control of the Mentally ­Deficient im Vorfeld der Debatten, „to justify so drastic a preventive measure as sterilisation.“269 Von Bedeutung war hier auch, dass spätestens mit dem Sieg über Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg die öffentliche Diskussion über eine mögliche nationale Degeneration in Großbritannien verstummt war. Als die Prison Commissioner in Berlin am 11. Internationalen Gefängniskongress teilnahmen, kamen sie, wie in Kapitel 4 und 5 gezeigt, aus einem Land, das bereits eine prononcierte öffentliche Debatte über Eugenik geführt hatte. In ihrer dezidierten Haltung gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie kam nicht nur die persönliche Überzeugung einiger Beamter zum Ausdruck,270 sie spiegelte auch die politische Haltung vieler britischer Bürger wider, darunter besonders die Sozialreformer um die Howard League. Wenn Sterilisation schon keine Option für die Gruppe der geistig behinderten oder defizitären Personen war, dann noch viel weniger für Straf264 Ebd.,

S. 35, Hervorhebung S.F. Thomas J. Gerrad, ‚The Catholic Church and Race Culture‘, in: Dublin Review 149 (1911), S. 55–67; ders. The Church and Eugenics, London 1912; siehe Richardson, Love and Eugenics, S. 220–224. 266 Very Reverend Vincent McNabb in: The Catholic Times (1924), hier zit. nach Richardson, Love and Eugenics, S. 221. 267 Eugenics Review 23 (1931–1932), S. 41. 268 Vgl. dazu John Macnicol, Eugenics and the Campaign for Voluntary Sterilization in Britain between the Wars, in: Social History of Medicine 2 (1989), S. 147–169, bes. S. 162. 269 S.P. Davies, Social Control of the Mentally Deficient, London 1930, hier zit. nach der Buchbesprechung in Mind 40 (1931), S. 388–390, hier S. 390. 270 Siehe dazu ausführlicher Kap. 7.1. 265 Father

282   5. Charles Goring: The English Convict (1900–1935) täter. Prison Commissioner wie Sir Horatio Byran Donkin und Sir William Norwood East sprachen sich entschieden gegen die Sterilisation von Straftätern aus und eine entsprechende Haltung vertraten auch die britischen Teilnehmer des ­Internationalen Gefängniskongresses in Berlin 1935. Schon Sir Evelyn Ruggles-­ Brise, der 1910 in Washington gerade zum neuen Präsidenten des Internationalen Gefängniskongresses gewählt worden war, hatte mit Bestimmtheit das Angebot seiner amerikanischen Kollegen abgelehnt, auf der zum Beiprogramm des Kongresses gehörenden Besichtigungstour amerikanischer Gefängnisse auch der Sterilisation eines Gewohnheitsverbrechers beizuwohnen.271 Bereits auf seiner ersten Amerikareise 1897 hatte der Vorsitzende der Prison Commission vermerkt: „There is not much for us to envy or to copy in the American System.“272 In den öffentlichen Behörden und Gefängnisverwaltungen von England und Wales wurde die Sterilisation von Kriminellen zu keinem Zeitpunkt ernsthaft in Erwägung gezogen worden.

271 Die

Geschichte wurde von Colonel Rogers überliefert, der Ruggles-Brise auf seiner Amerikareise 1910 begleitet hatte; es handelte sich um die Sterilisation eines schwarzen ‚Gewohnheitsverbrechers‘ im Gefängnis von Jacksonville, siehe Leslie (Hrsg.), Ruggles-Brise, S. 161. 272 Zit. ebd., S. 112.

6. Die Neue Psychologie (1890–1945) 6.1. Die Vermessung der Intelligenz In medizinischen und psychiatrischen Kreisen hatten bis zur Jahrhundertwende zwei Schwerpunkte die Diskussion über Kriminalität beherrscht: die bereits vor dem Erscheinen vom Lombrosos L’uomo delinquente verhandelte Frage nach möglichen körperlichen Kennzeichen, die Straftäter identifizierbar machten, und die Auffassung einer Reihe von Gefängnisärzten, geistige Defizite und Schwächen (feeble-mindedness, mental deficiency) seien unter der englischen Gefängnispopulation im Vergleich zur Gesamtbevölkerung erhöht anzutreffen. In dem Maße, wie das Auffinden spezifischer körperlicher Kennzeichen oder organischer Schädigungen von Kriminellen von der Forschung mehr und mehr in Frage gestellt bzw. widerlegt wurde – dazu hatte auch Gorings Arbeit über The English Convict beigetragen –, verlagerte sich das Interesse auf den Zusammenhang zwischen geistigem Vermögen (mental ability, mental power, intelligence) und kriminellem Verhalten (anti-social behaviour, criminal conduct). Während viele Gefängnisärzte einen Zusammenhang zwischen Kriminalität und Krankheit ablehnten und dazu übergingen, die Zahlen geistig defizitärer Straftäter herunter zu korrigieren, hielten Eugeniker an der Vorstellung einer vererbbaren Geistesschwäche fest, in der sie die Disposition zu kriminellem Verhalten vermuteten. Die Schwierigkeit im Umgang mit dieser Geistesschwäche bestand darin, dass sie sich nicht nur von manifester Geisteskrankheit unterschied, sondern in einer Vielzahl unterschiedlicher Ausprägungen vorlag.1 Wie aber konnten sich nicht nur diese unterschiedlichen Stufen zwischen Geistesschwäche und Geisteskrankheit, sondern darüber hinaus auch die ‚normalen‘ geistigen Fähigkeiten durchschnittlicher Personen empirisch fassen und einordnen lassen? Bereits vor der Entwicklung von Intelligenztests durch Alfred Binet und Theophile Simon in Frankreich hatte sich die angewandte Psychologie in England mit dieser Frage beschäftigt. Die Erforschung von mental abilities hatte hier bereits eine gewisse Tradition: John Stuart Mill, wie im zweiten Kapitel angeführt, hatte die Entwicklung geistiger Fähigkeiten ganz im Sinne einer äußeren nurture formuliert.2 Im Gegensatz dazu hatte Francis Galton, wie im vierten Kapitel beschrieben, die strikte Vererbung geistiger Vermögen (talent and ability) angenommen, worin ihm Karl Pearson gefolgt war. Der Franzose Alfred Binet war nach eigenem Bekenntnis hauptsächlich von John Stuart Mill inspiriert worden, den er als „my only master in psychology“3 1

Vgl. hierzu Kap. 3, Anm. 121. Siehe dazu Gillham, Francis Galton, S. 228 f.; zu Mill und Galton siehe auch Raymond Fancher, The Intelligence Men: Makers of the IQ Controversy, New York 1985; ders., Pioneers of Psychology, New York ³1996. 3 Zit. nach Gillham, Francis Galton, S. 229. 2

284   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) bezeichnete. Wie Sigmund Freud hatte er auch die Vorlesungen von Jean-Martin Charcot (1825-1893), Professor für Neurologie an der Salpêtrière in Paris, besucht und sich lange mit physiologischer Psychologie beschäftigt.4 Theophile ­Simon war Psychiater und Nachfolger von Bénédict Augustin Morel in Saint Yon.5 Mit Hilfe der von Binet und Simon 1904 im Auftrag der französischen Regierung entwickelten psychologischen Tests6 sollten nicht nur unterschiedliche geistige Fähigkeiten ermittelt, sondern auch Einteilungen und Vergleiche vorgenommen werden können.7 Ab 1915 erschienen amerikanische Ausgaben von Binet/Simon, erst ab 1918 waren lizenzierte englische Ausgaben auf dem Markt.8 Der Binet-­ Simon Test verlagerte die psychiatrischen Diskussionen über mentale Pathologien auf Diskusionen über normale geistige Funktionen und davon abweichende ­Manifestationen. „What was originally a device for diagnosing the defective“, so ­schreibt Nikolas Rose zu Recht, „became a device for hierarchising the normal.“9 Primärer Einsatzort der Tests in England war zunächst der Bildungs- und Schulsektor, aber nicht, wie in den USA, wo während des Ersten Weltkriegs über eine Million Rekruten getestet wurden, das britische Militär.10 Da durch die Tests einfache Einteilungen vorgenommen werden konnten, spielten sie bei der Frage der Zuordnung zurückgebliebener oder geistig schwacher Kinder in spezielle Schultypen eine große Rolle. 1909 publizierte Cyril Burt, der solche Tests im Auftrag des London County Council – Schulangelegenheiten gehörten zu den Aufga  4 Zur

physiologischen Psychologie siehe auch Kap. 6.6. Tests and Measurements wurden in England der experimentellen, dann der sich mit Hilfe der Intelligenztests entwickelnden educational psychology zugerechnet: „Experimental psychology is likely to take a place in the educational plan of our schools and universities. It teaches accurate observation and correct reasoning in the same way as the other natural sciences, and offers a supply of knowledge interesting and useful to everyone.“ Mind 15 (1890), S. 373.   6 Zum Aufbau der Tests und zur Frage, welche Vermögen ermittelt wurden (motorische Koordination, räumliche Wahrnehmung, Sprachkompetenz etc.), siehe Rose, Psychological Complex, S. 124.   7 Zentral waren die Publikationen von Alfred Binet und Theophile Simon: Nouvelle Recherches sur la Mesure du Niveau intellectuel chez les Enfants d’Ecole in: L’Année Psychologique (1905, 1908, 1911), und dies., La Mesure du Developpement de l’Intelligence chez jeunes Enfants, in: Bulletin de la Société libre pour l’Etude psychologique de l’Enfant, Paris 1911.   8 Vgl. Alfred Binet und Theophile Simon, A Method of Measuring the Development of the Intelligence in Young Children, Chicago 1915; dies., The Development of Intelligence in Children: the Binet-Simon Scale, Baltimore 1916; dies., The Intelligence of the Feeble-Minded, Baltimore 1916.   9 Rose, Psychological Complex, S. 128. 10 Zu den englischen Schultest siehe Gillian Sutherland, Measuring Intelligence: English Local Education Authorities and Mental Testing 1919–1939, in: Charles Webster (Hrsg.), Biology, Medicine, and Society, 1840–1940, Cambridge 1981, S. 315–345; zu den Einzelheiten der Tests im amerikanischen Militär (über 1,6 Millionen Soldaten und 42 000 Offiziere wurden in den USA getestet, die verdeckt eher rassistische Vorurteile „wissenschaftlich“ bestätigen sollten) siehe Ben Shephard, A War of Nerves. Soldiers and Psychiatrists 1914–1994, London 2002, S. 126f; R. Schafer, America in the Great War, New York 1991, S. 133–139; Mathew Thomson, Mental Deficiency in the First World War, in: Roger Cooter et al. (Hrsg.), War, Medicine and Modernity, Stroud 1998, S. 149–166; ausführlich auch Fancher, Intelligence Men.   5 Mental

6.1. Die Vermessung der Intelligenz   285

ben der lokalen Behörden der einzelnen Verwaltungsdistrikte – vornahm und damit zum ersten „offiziellen Psychologen der Welt“11 avancierte, einen Aufsatz über Experimental Tests of General Intelligence. In diesem Artikel sprach Burt die Hoffnung aus, man werde dank dieser Tests bald in der Lage sein, zwischen allgemeiner Intelligenz und dem, was auf Erziehung und Training zurückzuführen sei, unterscheiden können.12 In den 1920er Jahren betonte er schließlich die enorme Verbesserung der Technik solcher psychologischer Tests: In competent hands, and within certain limits, tests of intelligence enable us to distinguish with great reliability between inborn deficiency of general intellectual capacity and accidental backwardness in educational attainments or limited defects in specific abilities. In all but a small proportion of their cases, most experienced psychologists would now be prepared to state whether an apparent deficiency was congenital or acquired, merely on the basis of their test-­ results, supplemented, of course, by the usual clinical examinations.13

Wichtig waren solche Erkenntnisse besonders vor dem Hintergrund des 1913 ­verabschiedeten Mental Deficiency Act,14 der die Unterbringung geistig zurückgebliebener und geistig behinderter Personen, darunter auch geistesschwache Straftäter, regelte. Die dort festgelegten Definitionen von imbecility, feeblemindedness und moral insanity lösten allerdings große Diskussionen innerhalb der ­psychiatrischen Zunft aus und führten 1927 zu wichtigen Änderungen, die als Ergebnisse der in den zwanziger Jahren geführten Debatten gelten können.15 In der englischen Rechtsprechung und der englischen Gefängnisverwaltung wurden die Intelligenztests zunächst einmal als brauchbare Instrumente zur Diagnose und Kategorisierung ‚defekter‘ oder ‚defizitärer‘ Straftäter eingesetzt. Für die Rechtsprechung war es mit Blick auf die Verantwortungsfähigkeit des Angeklagten wichtig, nicht nur das geistige Alter eines Straftäters und damit den Grad an Rationalität, der ihm unterstellt werden konnte, zu ermitteln, sondern generell 11 Siehe

dazu Gillian Sutherland und Stephen Sharp, „The fust psychologist in the wurrld“: Aspects of the Professionalization of Psychology in Early Twentieth Century Britain, in: History of Science 18 (1980), S. 181–208, hier S. 181. 12 Cyril Burt, Experimental Tests of General Intelligence, in: The British Journal of Psychology 3 (1909–1910), S. 94–177; ders., The Definition and Diagnosis of Moral Imbecility (II), in: The British Journal of Medical Psychology 6 (1926), S. 10–46; einflussreich in der Diskussion über allgemeine Intelligenz war besonders Charles Edward Spearman (1863–1945); zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen: ders., General Intelligence, Objectively Determined and Measures, in: American Journal of Psychology 15 (1904), S. 210–293; ders., The Nature of Intelligence and the Principles of Cognition, London 1912; ders., The Abilities of Man, London 1927; Spearman war Fellow of the Royal Society; F.R.S.; ein Kritiker von Spearman war Godfrey Thomson, Instinct, Intelligence and Character, London 1924, S. 207; zu Burts und Spearmans Arbeiten zu Intelligenztests auch Mazumdar, Eugenics, S. 50–54; Searle, Eugenics and Politics, S. 52; Richards, Darwin, S. 530 f.; zu Intelligenztests im Rahmen der Gefängnisarbeit in den 1930er Jahren siehe F.H. Taylor [Medical Officer, H.M. Prison, Wormwood Scrubs], Mental Testing in Male Adolescent Delinquents, in: The Journal of Mental Science 84 (1938), S. 513–523, in der angefügten Bibliographie sind auch die führenden Arbeiten zu Intelligenztests in den 1930er Jahren aufgelistet. 13 Burt, Moral Imbecility, S. 36. 14 Siehe Kap. 3, Anm. 121. 15 Vgl. dazu ausführlich Thomson, Mental Deficiency.

286   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) zwischen defect und disease, zwischen mental deficiency und insanity, also zwischen bloß geistig schwachen Straftätern und tatsächlich geistig kranken Straf­tätern unterscheiden zu können.16 Auch musste die Ursache dieser Defizite, ob angeboren oder durch Unfall oder Krankheit erworben, geklärt werden, um eine angemessene Unterbringung und geeignete Therapieform zu finden. Allgemeiner Konsens ­bestand darin, dass feeble-minded persons nicht als voll zurechnungsfähig gelten konnten, während dies auf die nur emotional, aber nicht intellektuell gestörten Straftäter nicht zutreffen sollte – ein Unterschied, der, wie noch zu zeigen sein wird, für die Bestimmung von Jugendkriminalität eine große Rolle spielen sollte. Der Gefängnisverwaltung boten Intelligenztests einen weiteren Vorteil: Mit ­ihrer Hilfe ließen sich auch Simulanten überführen. Stephen Watson hat das Herausfiltern von Simulanten (malingerers) als eine der zentralen Aufgaben der ­Gefängnisärzte beschrieben. Tatsächlich wurde diese Aufgabe mit Hilfe der Tests erleichtert.17 William C. Sullivan, 1912 noch Gefängnisarzt im Holloway Prison,18 fuhr selbst nach Paris, um Binets und Simons Methoden zu studieren.19 Im ­Lancet berichtete er über seine Erfahrungen. Er schätzte die Brauchbarkeit der Tests bei Einschulungsfragen hoch ein: „[T]he tests are nearly all of such a kind that they do not presuppose school knowledge; they show the capacity of the child independently of the formal instruction which he may have received, and thus obviate the risk of taking mere ignorance or backwardness for mental defect.“20 Zugleich war Sullivan aber davon überzeugt, dass die Tests die klinische Erhebung durch ausgebildete Ärzte nicht ersetzen konnten: It should, of course, hardly be necessary to point out that this method is not in any sense proposed as a substitute for that complete clinical study on which alone an opinion of any value can be formed with regard to a case of mental deficiency. What is claimed for it is that it supplements the clinical investigation, and enables its results, so far as the factor of intelligence is concerned, to be presented with a clearness and an objectivity which must considerably enhance their value.21

In den zwanziger Jahren wurden in verschiedenen englischen Gefängnissen Intelligenztests durchgeführt, die der Aufklärung verschiedener Zusammenhänge dienen sollten. So beschäftigte sich Dr. J.C. Methven in einer Jugendstrafanstalt für 16 So

der Gefängnispsychiater William Norwood East, alle Zitate ders., Delinquency and Mental Defect (I), in: The British Journal of Medical Psychology 3 (1923), S. 153–167, hier S. 163. 17 Vgl. Stephen Watson, Malingerers, the ‚Weak-Minded‘ Criminal and the ‚Moral Imbecile‘: How The English Prison Medical Officer became an Expert in Mental Deficiency, 1880–1930, in: Michael Clarke und Catherine Crawford (Hrsg.), Legal Medicine in History, Cambridge 1994, S. 223–241. 18 Ab 1921 war William C. Sullivan Medical Superintendent des Criminal Lunatic Asylum in Broadmoor und hielt als einer der ersten lecturer in criminology am University College Kurse über mental deficiency, siehe William C. Sullivan, Crime and Mental Deficiency, in: The Lancet, 19. November 1921, S. 789; in Anlehnung an William Healy (vgl. Kap. 6.5.) war auch Sullivan davon überzeugt: „[T]he criminal study of individual cases should be the basis for researching criminality.“ 19 Siehe dazu Sim, Medial Power, S. 143. 20 William C. Sullivan, Feeble-Mindedness and the Measurement of the Intelligence by the Method of Binet and Simon, in: The Lancet, 23. März 1912, S. 777–780, hier S. 778. 21 Ebd., S. 780.

6.1. Die Vermessung der Intelligenz   287

16 bis 21jährige Straftäter (borstal) mit der Frage von Sozialprognosen seiner Schützlinge in Abhängigkeit vom ermittelten mentalen Alter. Im Frauengefängnis von Holloway untersuchte Dr. Hugh A. Griersom den Zusammenhang zwischen geistigem Alter und Prostitution, und Dr. Rixon testete das geistige Alter durchschnittlicher Straftäter in Untersuchungshaft.22 Nicht mehr das natürliche Alter, sondern das geistige Alter der Straftäter wurde jetzt zur Grundlage der Begutachtung, wobei die Festlegung und Bestimmung eines Vergleichs- oder Durchschnittswertes zu großen Debatten führte.23 Insgesamt aber wurde die Nützlichkeit und Brauchbarkeit von Intelligenztests zur besseren Bestimmung und schnelleren Einordnung und damit verbunden zur besseren Verwaltung und Betreuung von Straftätern zunächst nicht in Frage gestellt: „Naturally enough, both the practical official and the theoretical scientist lean towards a precise and rigid labelling“,24 betonte Cyril Burt und bezeichnete damit die anfängliche Attraktivität der Intelligenztests für Wissenschaftler und Verwaltungsbeamte gleichermaßen. Durch die administrative Nachfrage nach solchen Tests gelang der educational psychology der Einzug in öffentliche Behörden.25 Ihre Rolle beschränkte sich allerdings auf die Quantifizierung bestimmter geistiger Fähigkeiten, die aus administrativen Gründen erhoben und den medizinischen Untersuchungen als Ergänzung zugeordnet wurden. Die Deutungshoheit der Mediziner als der autorisierten diagnostischen Instanz zur Feststellung intellektueller Pathologien wurde dadurch nicht in Frage gestellt.26 Zumindest haben die Intelligenztests nicht, wie Nikolas Rose zu Recht betont, dazu beigetragen, die Psychologie als autonome Wissenschaft mit einer alternativen Theorie, Methode und Praxis zu etablieren.27 Allgemeiner Konsens bestand allerdings darüber, dass Intelligenz als geistiges Vermögen angeboren (inborn) sei. Weniger klar war hingegen, was Intelligenztests eigentlich maßen: „We do not know exactly what it is that we measure by ‚intelligence tests‘“ gab der Gefängnispsychiater Maurice Hamblin Smith zu bedenken und fuhr fort: „but it is clear that it consists of a number of functions“.28 Zur 22 Siehe

dazu Norwood East, Mental Defect (I), S. 167. z. B. Henry Harris, Intelligence: its Nature and Estimation, in: The British Journal of Medical Psychology 8 (1928), S. 298, siehe kritisch zu IQ-Tests den Artikel in Mind 40 (1931), S. 389 (Besprechung des Buches von S.P. Davies, Social Control of the Mentally Deficient, London 1930, durch T.E. Jessop): „Mental tests have provided us with a new definition of mental deficiency, a definition so concise that it lends itself, as the other definitions do not, to easy application: all that is necessary to determine whether a person is defective or not is to ascertain his intelligence quotient, and this can be done in a few minutes.“ Auf die generelle Problematik dieser Tests kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden, siehe dazu kritisch Hans Magnus Enzensberger, Im Irrgarten der Intelligenz. Ein Idiotenführer, Frankfurt am Main 2007; zur Entwicklung von und Arbeit mit Intelligenztests in England siehe auch Rose, Psychological Complex, S. 112–131. 24 Burt, Moral Imbecility (II), S. 43. 25 Rose, Psychological Complex, S. 141. 26 Vgl. ebd., S. 139. 27 Siehe ebd., S. 141. 28 Maurice Hamblin Smith, The Definition and Diagnosis of Moral Imbecility (III), in: The British Journal of Psychology 6 (1926), S. 47–54, hier S. 53. 23 Vgl.

288   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) Beurteilung der Anpassungsfähigkeit von Individuen war die angemessene Einschätzung ihrer geistigen Vermögen und deren Leistungsfähigkeit eine großer Hilfe. Besonders in der Schule als einem Ort sozialer und pädagogischer Anforderungen und Erwartungen war die Frage nach der Anpassungsfähigkeit von Individuen besonders wichtig. Das Gleiche galt aber auch für das Gericht und das Gefängnis. Normalität wurde dabei im Grunde nur negativ durch die Bestimmung von Abweichungen von einem statistischen Durchschnittswert ermittelt.29 Vor dem Ersten Weltkrieg konzentrierten sich britische Forscher besonders auf Intelligenz als einer notwendigen Voraussetzung für soziale Anpassung. Diskussionen über die Möglichkeiten und Grenzen des Simon-Binet-Tests waren auffallend häufig in den ersten Ausgaben des British Journal of Psychology anzutreffen.30 In den Kriminalitätsdebatten verband sich mit den Intelligenztests die Frage, welche Rolle Intelligenz bei anti-sozialem oder kriminellem Verhalten zukam. Englische Psychologen und Anthropologen, bei denen es sich in der Regel um ausgebildete Ärzte mit über die traditionelle Medizin hinausgehenden Interessen handelte, interessierte hierbei besonders der Zusammenhang zwischen instinct und intelligence. Zu diesem Thema veranstaltete 1910 die British Psychological Society gemeinsam mit der Aristotelian Society und der Mind Association eine Konferenz.31 ‚Instinkt und Intelligenz‘ bildete auch den thematischen Schwerpunkt der Beiträge britischer Psychologen auf der Jahrestagung der American Psychological Association 1912.32 Doch die weitere Entwicklung der Intelligenzforschung und die einsetzende Freud-Rezeption wurden in Großbritannien in den nächsten Jahren stärker durch die Auseinandersetzung mit konkreten Problemen als durch die Weiterentwicklung theoretischer Konzepte bestimmt. Zu den wichtigsten Einflüssen zählten die Entwicklung der englischen Anthropologie zur Sozialpsychologie, das Auftreten von Kriegsneurosen im Ersten Weltkrieg und schließlich der eklatante Anstieg der Jugendkriminalität in den Kriegsjahren. Diese Entwicklungen erlaubten in der Folge, wie zu zeigen sein wird, eine zunehmende zivilgesellschaft29 Vgl.

dazu Rose, Psychological Complex, S. 129 f. zum Beispiel W.H. Winch, Some New Reasoning Tests Suitable for the Mental Examination of School Children, in: The British Journal of Psychology 7 (1914), S. 190–225; Agnes L. Rogers und J.L. McIntyre, The Measurement of Intelligence in Children by the Binet-­ Simon Scale, in: The British Journal of Psychology 7 (1914–1915), S. 265–299; Nora Carey, Factors in the Mental Processes of School Children. I. Five Figures, in: The British Journal of Psychology 7 (1914–15), S. 453–490; dies., Factors in the Mental Processes of School Children. II. On the Nature of Specific Mental Factors, in: The British Journal of Psychology 8 (1915– 1917), S. 70–92; dies., Factors in the Mental Processes of School Children. III. Factors concerned in the School Subjects, in: The British Journal of Psychology 8 (1915–1917), S. 170– 182. 31 Charles S. Myers, Instinct and Intelligence, in: The British Journal of Psychology 3 (1909– 1910), S. 209–218; zum gleichen Thema in der gleichen Ausgabe: C. Lloyd Morgan, S. 219– 229; H. Wildon Carr, S. 230–236; G.F. Stout, S. 237–249; William McDougall, S. 250–266; Anwort von Charles Myers, S. 267–270; zum British Journal of Psychology und der British Psychological Society siehe Kap. 6.6. 32 Siehe dazu The British Journal of Psychology 5 (1912); zur Test-Literatur in den zwanziger Jahren siehe Rose, Psychological Complex, S. 140 f. 30 Siehe

6.2. Anthropologie als Sozialpsychologie   289

lich akzeptierte ‚Psychologisierung‘ von Kriminalität. Es entwickelte sich ein gesellschaftliches Klima, das sich äußerst empfänglich zeigte für einen wichtigen Impuls aus den USA. Dort publizierte 1915 der Arzt William Healy seine Arbeit über The Individual Delinquent, die gleichermaßen von englischen Gefängnisreformern, Prison Commissioner, Psychologen und Pädagogen begeistert aufgenommen wurde.

6.2. Anthropologie als Sozialpsychologie: Modelle ­geglückter Anpassung In den wissenschaftlichen Kriminalitätsdiskursen Großbritanniens spielten Anthropologen, mit Ausnahme Francis Galtons und seiner physischen Anthropologie, bis zur Jahrhundertwende kaum eine Rolle. Doch die englische Anthropologie durchlief unter dem Einfluss einer jüngeren Generation von Wissenschaftlern eine bedeutende Weiterentwicklung in Richtung Ethnologie und Sozialanthro­ pologie bzw. -psychologie. Die Art und Weise, wie menschliche Interaktion, gemeinschaftliches und gesellschaftliches Leben und die Wirkungsweise kultureller Normen von ihr untersucht und beschrieben wurden, strahlte deutlich auf die nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte Interpretation von Täterkonstitution und Kriminalitätsursachen aus. Den Beginn dieser Entwicklung, die später von den Zeitgenossen als „epoch making in the science of man“33 gefeiert werden sollte, markierte eine 1898 unter der Leitung des Cambridger Zoologen und Ethnologen Alfred Cort Haddon durchgeführte Expedition zu den Torres Straits, einer von der Zivilisation noch weitgehend unberührten Inselgruppe in der Nähe Neuguineas.34 Haddon hatte William H.R. Rivers, lecturer in experimental psychology, und zwei seiner besten Studenten, Charles S. Myers und William McDougall, für die Forschungsreise gewinnen können. Alle drei waren ausgebildete Mediziner mit ausgeprägten psychologischen Interessen. Zwei von ihnen sollten später zentrale und einflussreiche Arbeiten über Kriegsneurosen publizieren.35 Die Expedition orientierte sich am Modell naturwissenschaftlicher Forschungsreisen und stellte dabei das Studium der lokalen kulturellen Traditionen in den Mittelpunkt. Die Forschertruppe interessierte sich nicht für rassische oder physiognomische Eigenarten der Inselbewohner, sondern für die Lebensweise und Kultur einer ihr fremden Gemeinschaft und deren Psychologie, Linguistik, Soziologie, Gebräuche und Musik. Um zu 33 Hearnshaw,

Short History, S. 172. Expedition siehe Henrika Kuklick, The Savage Within. The Social History of British Anthropology, 1885–1945, Cambridge 1991, bes. S. 133–149; Anita Herle und Sandra Rouse (Hrsg.), Cambridge and the Torres Strait: Centenary Essays on the 1898 Anthropological Expedition, Cambridge 1998; aus dieser Expedition ging das „initial cadre of British anthropologists for the universities“ hervor, vgl. Kuper, Anthropology, S. 362. 35 Zu William H.R. Rivers (1864–1922), Charles S. Myers (1873–1946) und William McDougall (1871–1938) siehe auch die folgenden Kapitel 6.3. und 7.2. 34 Zur

290   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) e­ rkennen, wie soziale Systeme funktionierten, war es notwendig, das konkrete Verhalten in konkreten Situationen unmittelbar zu studieren. Die Methoden waren deshalb Feldforschung und teilnehmende Beobachtung.36 Auch sensorische Tests, wie sie die Expeditionsteilnehmer in ihrem psychologischen Labor in Cambridge entwickelt hatten, wurden mit den Inselbewohnern durchgeführt (z. B. allgemeine Sinneswahrnehmung und Verarbeitung, Reiz-Reaktions-Verhalten, Erinnerungsvermögen, mentale Erschöpfung u. a. m.). Die Unterschiede, die die Forscher zur englischen Kontrollgruppe fanden, waren vergleichsweise gering und unterstützten weder die Idee einer sensorischen Überlegenheit der Eingeborenen noch die Idee ihrer intellektuellen Unterlegenheit, wenn es für sie darum ging, sich auf Aufgaben unter Laborbedingungen zu konzentrieren.37 Henrika Kuklick, die über die Entwicklung der englischen Anthropologie gearbeitet hat, nennt diese Gruppe die ‚Diffusionisten‘ und meint damit deren Vorstellung, dass zivilisierte Völker nicht ‚rationaler‘ und ‚moralischer‘ seien als die Angehörigen primitiver Gesellschaften. Durch ihre theoretische Auseinandersetzung mit den frühen Schriften Sigmund Freuds – umgekehrt ging Freuds Interesse an Anthropologie und sogenannten primitiven Kulturen auf die Arbeiten englischer Anthropologen wie Rivers zurück38 – glaubten diese Anthropologen die menschliche Natur nicht nur von intellektuellen Vermögen gesteuert, sondern von archaischen Instinkten und Trieben. Diese Instinkte seien lebensnotwendig, würden aber je nach Beschaffenheit der jeweiligen Gemeinschaft in unterschied­ lichen Graden zugelassen. Instinkte waren allen menschlichen Wesen eigen, ihre jeweilige Ausprägung und dadurch ihre Auswirkung auf menschliches Handeln waren aber in jedem Menschen einzigartig arrangiert, was in Temperament und Charakter des Einzelnen zum Ausdruck kam. In westlichen Industrienationen hatten nach Auffassung der Anthropologen die Menschen zwar eine Lebensart entwickelt, die, mit der Kultur primitiver Völker verglichen, als höherwertig (superior) bezeichnet werden konnte, aber sie hatten diese Höherwertigkeit nur 36 Methodisch

gab es auffallende Parallelen zwischen der neuen Anthropologie und der englischen Settlement-Bewegung (vgl. Kap. 6.4.). Rivers bestand darauf, dass „the worker lives for a year or more among a community of perhaps four or five hundred people and studies every detail of their life and culture“. Der Forscher dürfe nicht zufrieden sein „with generalized information, but studies every feature of life and custom in concrete detail and by means of the vernacular language.“ W.H.R. Rivers, Report on Anthropological Research outside America, in: Carnegie Institution (Hrsg.), Reports upon the Present Condition and Future Needs of the Science of Anthropology, Washington D.C. 1913, S. 7 [Carnegie Institution Publication Nr. 200]; zur Methodenentwicklung vgl. auch Robert A. Nye, The Rise and Fall of the Eugenic Empire: Recent Perspectives on the Impact of Biomedical Thought in Modern Society, in: Historical Journal 36 (1993), S. 687–700, hier S. 698 über den amerikanischen Anthropologen Franz Boas, der durch die englischen Anthropologen (z. B. A.C. Haddon) beeinflusst wurde: „[T]he ideals of empathetic fieldwork being laid down by the new schools of British social anthropology worked to undermine the notion of a hierachy of races by cultivating in anthropologists a deep appreciation for the adaptive fit in non-western societies between environment and culture.“; vgl. auch Kuper, Anthropology, S. 363. 37 Vgl. dazu Hearnshaw, Short History, S. 173. 38 Siehe dazu Kuklick, Savage Within, S. 162, Anm. 76; Rivers Publikation The History of Melanesian Society (1914) etablierte den diffusionism in der britischen Anthropologie.

6.2. Anthropologie als Sozialpsychologie   291

durch repressive Maßnahmen erreicht. In primitiven Gesellschaften waren die ­Individuen hingegen nicht gezwungen, ihre natürlichen Impulse und Instinkte so  ernsthaft zu unterdrücken wie in hoch zivilisierten. In den Ritualen und der Alltagsroutine primitiver Kulturen konnten sich die Eigenschaften (features) der fundamentalen menschlichen Natur noch beobachten lassen, wie sie sich bei zivilisierten Menschen nur noch in verschlüsselter Form in Träumen äußerten – als symbolische Repräsentationen von Wünschen oder Konflikten.39 Im zivilisierten Erwachsenen konstituierten mentale Funktionsstörungen Degenerationen in Form von Neurosen und Psychosen, die ihrerseits als Ausdruck eines Prozesses der Regression zu primitiven oder infantilen Stadien gedeutet wurden. Anthropologie und Psychoanalyse befruchteten sich wechselseitig. Durch seine spätere Erfahrung als Therapeut von shell-shock-Offizieren gelangte William Rivers allerdings zu der Überzeugung, dass Freud den Sexualtrieb als primäres Zentrum menschlicher Motivation überschätzt habe. Dieser müsse eher als eine Reaktion auf gesellschaftliche Repression gewertet werden, denn der Sexualtrieb erscheine als Antrieb nur deshalb so zentral, weil die Gesellschaft so großen Wert auf seine Unterdrückung lege. Rivers rückte stattdessen den Selbsterhaltungstrieb an die erste Stelle menschlicher Handlungsmotivation. Die Integration verschiedener anthropologischer Theorien, vor allem die Entwicklung eines bestimmten Modells geglückter menschlicher Anpassung an äußere Umstände, versuchte Rivers Schüler und Kollege Frederick C. Bartlett in den zwanziger Jahren.40 Bartlett konnte zeigen, wie die Art menschlicher Informa­ tionsverarbeitung beeinflusst wurde von zuvor gemachten Erfahrungen, vor allem durch Kontakte mit anderen Menschen.41 In seinen Arbeiten über Erinnerung (memory) demonstrierte er, wie sehr selektives Lernen und eine nur partielle Erinnerung natürliche Mechanismen menschlicher Anpassung seien: „Individuals invariably assimilated novel information in distorted form because they needed to reconcile it with their previous experiences. And individuals could never replicate past behaviour exactly.“42 Menschliche Wesen demonstrierten durch dieses Verfahren ihr Vermögen, sich an eine stetig ändernde Umwelt anzupassen, indem sie ihre Vorstellungen und, davon abhängig, ihr Verhalten entsprechend modifizierten. Während Rivers Ansatz in dem Sinne pessimistischer war, als er in Dege39 Vgl.

Kulick, Savage Within, S. 161. 40 Frederick C. Bartlett, Remembering.

A Study in Experimental and Social Psychology, New York 1932; Kuklick, Savage Within, S. 163; zu Bartlett siehe Hearnshaw, Short History, S. 216– 219, der ebenfalls dessen enormen Einfluss sowohl auf wissenschaftlicher als auch administrativer Ebene betont (Regierungsprojekte, Universitätsposition, „Cambridge Schule“ etc.). 41 Die Diffusionisten beschrieben die Ergebnisse der Kontakte zwischen Menschen als Produkt eines biopsychologischen Mechanismus; Beispiel: der Untergang von Rassen bei Kontakt mit Fremden, selbst wenn dieser nicht beabsichtigt sei; Kontakt mit höherer Kultur führe zur Demoralisierung der „Niederwertigen“, die sich dann in Reproduktionsversagen niederschlage: „Only if an afflicted people were provided with a new set of life-affirming values would they again consider it worthwhile to bring children into the world.“ Kuklick, Savage Within, S. 163. 42 Siehe ebd., S. 164.

292   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) nerationserscheinungen den Preis sah, der für zivilisatorischen Fortschritt bezahlt werden musste, stellte Bartlett ein optimistischeres Modell vor: Seine idealtypischen menschlichen Wesen waren solche, die ständig funktionale Anpassungen an neue Situationen zu leisten vermochten. Durch Barlett blieb Rivers Anthropo­ logie in der britischen Psychologie präsent. „One might argue“, so das Fazit von Henrika Kuklick, „that the anthropological antecedents of British social psychology gave it a distinctive character.“43 Britische Sozialpsychologie hatte anthropologische Wurzeln. Wissenschaftshistorisch interessant und auch für die Kriminalitätsdebatten bedeutsam ist, dass sich Bartletts komplexes Modell des Menschen als eines adap­ tiven, zur Anpassung fähigen Geschöpfes weitaus anspruchsvoller ausnahm als zeitgleiche amerikanische Theorien, die erneut mit einfachen Reiz-/ReaktionsModellen arbeiteten, aus denen der Behaviourismus hervorgehen sollte.44 Bartlett hingegen verband den selektiven, aber zugleich konstruktiven Charakter menschlicher Perzeption und Erinnerung mit der Wichtigkeit individueller Erfahrungen und deren kultureller Formung, die sich handlungsbestimmend auswirkten.45 Das Neue daran war, dass in diesem Prozess nicht nur rationale und intellektuelle Leistungen im Vordergrund standen, sondern auch angeborene Instinkte, d. h. willkürliche, spontane Reaktionsmechanismen in den Blick genommen und anerkannt wurden. Die Berücksichtigung und Aufwertung dieser instinktgeleiteten Verhaltensformen verdankte sich der nationalen Diskussion über shell shock, die unter anderem auch dazu führte, dass die zivile, somatisch orientierte britische Psychiatrie ihre Voraussetzungen ein weiteres Mal überdenken musste.

6.3. Das überforderte Ich: shell shock Britische Anthropologen wie Rivers hatten argumentiert, dass die beste Voraussetzung, um das Wechselspiels zwischen innerer Anlage und kultureller Umwelt und die daraus resultierenden menschlichen Reaktionen untersuchen zu können, die Konfrontation mit neuen, ungewohnten Situationen sei.46 Sie konnten nicht ahnen, dass der Erste Weltkrieg mit seinen Materialschlachten und Stellungskriegen für Tausende von Soldaten jene vollkommen neuartige Situation darstellen würde, an die sich anzupassen über ihre Kräfte gehen sollte.47 43 Ebd.,

S. 164. dazu Kap. 7.2.2. 45 Siehe Kuklick, Savage Within, S. 164; zur Entwicklung des Gehirns als eines Organs der conscious calculation, das nicht nur Rezeptor von sensorischen Reizen sein sollte, sondern zur Speicherung von Erfahrungen und damit zur Erinnerung und bewussten Handlungen fähig, siehe ebd., S. 158 f. 46 Vgl. dazu ebd., S. 155. 47 Die folgenden Ausführungen basieren auf Martin Stone, Shellshock and the Psychologists, in: W.F. Bynum, Roy Porter und Michael Shepard (Hrsg.), The Anatomy of Madness, 2. Bd., London 1985, S. 242–271; Ben Shephard, A War of Nerves: Soldiers and Psychiatrists, 1914– 1994, London 2000; Peter Leese, Shell Shock: Traumatic Neurosis and the British Soldiers of 44 Vgl.

6.3. Das überforderte Ich: shell shock   293

Aus militärischer Sicht verliefen die zwei ersten Kriegsmonate für die britische Armee ohne außergewöhnliche Vorfälle. Doch bereits im Dezember 1914 erreichten den Direktor der Army Medical Services (AMS) in London Berichte, dass nach ersten Schätzungen 7 bis 10% der Offiziere und 3 bis 4% der Soldaten aller anderen Ränge, die in die von den Briten nahe der Kriegsschauplätze in Frankreich eingerichteten Militärhospitäler eingeliefert wurden, zusammengebrochen seien und auffällige Symptome zeigten, die man zunächst schlicht als functional disorders registrierte.48 Die Störungen reichten von erhöhten oder verminderten Reaktionen auf sensorische Reize (z. B. Sensibilitätsverlust für Schmerzen, Unfähigkeit, Reizstimulationen zu lokalisieren, Unfähigkeit Hitze und Kälte ganz oder graduell unterscheiden zu können) bis zu Amnesie, Paralysis, Mutismus und psychotischen Erscheinungen wie Halluzinationen und Hysterie, aber auch temporärer Blindheit.49 Charles Myers, der sich vor Kriegsbeginn in Rivers psychologischem Labor in Cambridge mit Sinnesverarbeitung beschäftigt hatte, bevor er als Militärarzt seinen Dienst in Frankreich antrat, publizierte im Februar 1915 den ersten Artikel über solche Fälle. Myers schlug für die Vielzahl der Symptome die Kollektivbezeichnung shell shock vor.50 Dieser Begriff wurde zwar 1917 aufgrund der falschen Konnotationen, die er implizierte (die somatische Verbindung zwischen der Granate und dem Schock), von den Army Medical Services verbannt und durch die Bezeichnung „N.Y.D. (N)“ (Not Yet Diagnosed, Nervous) ersetzt, war aber zu diesem Zeitpunkt als „umbrella term“51 für die Schrecken des Krieges the First World War, London 2002; ders., „Why Are They Not Cured?“ British Shellshock Treatment During the Great War, in: Mark S. Micale und Paul Lerner (Hrsg.), Traumatic Pasts: History, Psychiatry, and Trauma in the Modern Age, 1870–1930, New York 2001, S. 205– 221; Mark S. Micale und Paul Lerner, Trauma, Psychiatry, and History, in: dies. (Hrsg.), Traumatic Pasts: History, Psychiatry, and Trauma in the Modern Age, 1870–1930, S. 1–30; Ted Bogacz, War Neurosis and Cultural Change in England, 1914–22: The Work of the War Office Committee of Enquiry into ‚Shell Shock‘, in: Journal of Contemporary History 24 (1989), S. 227–256; Peter Barham, Forgotten Lunatics of the Great War, New Haven 2004; Jay Winter, Shell-shock and the Cultural History of the Great War, in: Journal of Contemporary History 35 (2000), S. 7–11; Eric Leed, Fateful Memories: Industrialized War and Traumatic Neuroses, in: Journal of Contemporary History 35 (2000), S. 85–100; George L. Mosse, Shellshock as a Social Disease, in: Journal of Contemporary History 35 (2000), S. 101–108; Chris Feudtner, Minds the Dead Have Ravished: Shell Shock, History, and the Ecology of DiseaseSystems, in: History of Science 31 (1993), S. 377–420; Kuklick, Savage Within, S. 165–170. 48 Stone, Shell-shock, S. 248; Shephard, War of Nerves, S. 21. 49 William H.R. Rivers, Instinct and the Unconscious. A Contribution to a Biological Theory of the Psycho-Neuroses, Cambridge 1920, S. 53–55. 50 Charles S. Myers, A Contribution to the Study of Shellshock: Being an Account of Three Cases of Loss of Memory, Vision, Smell, and Taste, Admitted into the Duchess of Westminster’s War Hospital, Le Touquet, in: The Lancet, 13. Februar 1915, S. 464; siehe auch seine spätere Publikation ders., Shell-Shock in France, 1914–1918, Cambridge 1940; Shephard, War of Nerves, S. 31. 51 Ebd., S. 97; in keinem anderen am Krieg beteiligten Land gab es einen solchen zentralen Begriff, der sich von der Bezeichnung einer Diagnose zur Metapher des Krieges selbst wandelte, vgl. Jay, Shell-shock and the Cultural History, S. 9; in Deutschland waren eine Vielzahl von Bezeichnungen im Umlauf, u. a. Granatkontussion, Nervenschock, Granatexplosionslähmung, Granatfernwirkung, vgl. Paul Lerner, Hysterical Men. War, Psychiatry, and the Politics of Trauma in Germany, 1890–1930, Ithaca und London 2003, S. 61.

294   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) selbst schon so populär, dass er aus der britischen Öffentlichkeit nicht mehr wegzudenken war.52 Da die Zahl der Erkrankungen stetig zunahm und 1916 ein akutes militärisches Problem darstellte, wurden immer mehr Fälle zur Behandlung nach Großbritannien zurückverlegt. Dort wurden bis Kriegsende über 20 Armee-Krankenhäuser für Soldaten mit Kriegsneurosen eingerichtet, sechs davon für Offiziere – die bekanntesten waren Maghull in der Nähe von Liverpool, Netley bei Aldershot und Craiglockhart bei Edinburgh – und 14 mit über 6000 Betten für die Soldaten der unteren Ränge.53 Sowohl die Militärhospitäler in Frankreich als auch die heimischen Armee-Krankenhäuser entwickelten sich für die britischen Ärzte zu Orten der Forschung und Wissensproduktion über ein diagnostisch und therapeutisch schwer zu fassendes Phänomen. Was die Deutungs- und Erklärungsversuche von shell shock betraf, so gab es in Großbritannien ähnlich wie in Frankreich und Deutschland unterschiedliche, miteinander konkurrierende Ansätze.54 Das britische Militär, in dessen medizinischem Korps traditionell keine Psychiater oder Neurologen arbeiteten, da es bei der Wiederherstellung der Kampffähigkeit in erster Linie um die Versorgung physischer Verletzungen ging und auch bei der Rekrutierung lediglich die körperliche Tauglichkeit, nicht aber die seelische Verfassung geprüft wurde,55 neigte in den Anfangsjahren einer materialistischen Deutung zu. Ein prominenter Vertreter dieser somatisch orientierten Fraktion der shell-shock-Interpreten56 war der Neu52 Britische

Ärzte glaubten, dass die irreführenden Implikationen des Begriffs (die somatische Beziehung zwischen Granate und Schock) Soldaten entmutigen würden, Heilung anzustreben; zu den Unzulänglichkeiten des Begriffs und seiner Ablehnung durch den AMS siehe Stone, Shell-Shock, S. 257 f.; Leese, Shell Shock, S. 78; Shephard, War of Nerves, S. 31; Lerner, Hysterical Men, S. 61. 53 Stone, Shell-Shock, S. 250 f.; Bogacz, War Neuroses and Cultural Change, S. 235. 54 Zu den deutschen und französischen Diskussionen siehe das vergleichende Kapitel von Ben Shepard, War of Nerves, S. 97–108; zur deutschen Psychiatrie und shell shock bes. Lerner, Hysterical Men; ders., Psychiatry and Casualties of War in Germany, 1914–18, in: Journal of Contemporary History 35 (2000), S. 13–28; ders., Rationalizing the Therapeutic Arsenal: German Neuropsychiatry in the First World War, in: Manfred Berg und Geoffrey Cocks (Hrsg.), Medicine and Modernity: Public Health and Medical Care in Nineteenth- and TwentiethCentury Germany, New York, S. 121–148; ders., „Ein Sieg deutschen Willens“: Wille und Gemeinschaft in der deutschen Kriegspsychiatrie, in: Wolfgang Eckart und Christoph Gradmann (Hrsg.), Die Medizin und der Erste Weltkrieg, Freiburg 1996, S. 85–107; zu Frankreich Marc Roudebush, A Battle of Nerves: Hysteria and Its Treatment in France During World War I, in: Micale und Lerner (Hrsg.), Traumatic Pasts, S. 253–279 (mit weiterer Literatur); zu Italien Bruna Bianchi, Psychiatrists, Soldiers and Officers in Italy During the Great War, in: Micale und Lerner (Hrsg.), Traumatic Pasts, S. 222–252. 55 Vgl. dazu Shephard, War of Nerves, S. 17; die meisten Ärzte im Royal Army Medical Corps (RAMC) seien „biologically-minded doctors“ gewesen. 56 In Deutschland z. B. durch Hermann Oppenheim vertreten (er nahm als Ursachen der von ihm so bezeichneten „traumatischen Neurose“ organische und psychogene Mechanismen an), Shephard, War of Nerves, S. 98–99; Lerner, Hysterical Men, S. 61–85; ders., From Traumatic Neurosis to Male Hysteria: The Decline and Fall of Hermann Oppenheim, in: Micale und Lerner (Hrsg.), Traumatic Pasts, S. 140–171; auf einer Kriegstagung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie 1916 in München (Lerner, Hysterical Men, S. 74–79) wurde Oppen-

6.3. Das überforderte Ich: shell shock   295

rologe und Eugeniker Sir Frederick Mott, Pathologe im Claybury Asylum.57 Er diagnostizierte shell shock in der materialistischen Tradition der älteren englischen Psychiatrie und ging davon aus, dass durch die explodierenden Granaten winzige, mikroskopisch kleine Verletzungen im Gehirn und im zentralen Nervensystem verursacht würden (lesion theory), die schwer nachweisbar seien, nichtsdestotrotz aber eine organische Schädigung darstellten.58 Was diese organische Interpreta­ tion allerdings angreifbar machte, war eine Reihe von Erscheinungen, die damit nicht erklärt werden konnte und die nicht nur von Briten, sondern auch von Franzosen und Deutschen registriert wurde. Dazu zählte zunächst die schlichte Feststellung, dass nicht alle Soldaten, die explodierenden Granaten ausgesetzt ­waren, krank wurden. Vielmehr kollabierten mehrheitlich Soldaten, die solchen Explosionen noch nie ausgesetzt waren, ja mitunter noch nie aktiv in Kampfhandlungen verwickelt worden waren.59 Zwei weitere Auffälligkeiten gaben noch mehr Anlass zur Skepsis: Weder Kriegsgefangene noch körperlich verwundete Soldaten bildeten Kriegsneurosen aus. Für beide Gruppen war der Krieg offensichtlich vorbei, und allein diese Tatsache schien eine ‚Flucht in die Krankheit‘ zu vereiteln.60 Mott und einige seiner Kollegen, die an einer somatischen Interpretation festhielten, begangen daraufhin, Familienstammbäume von shell-shock-Patienten ­(family pedigrees) zusammenzustellen. Er und sein Kollege Sir Robert Armstrong Jones, Medical Superintendent im Claybury Asylum, untersuchten während des Krieges 100 shell-shock-Soldaten im Maudsley Hospital in London und glaubten nachweisen zu können, dass 72% der Kollabierten erblich vorbelastet waren.61 heims Auffassung zurückgewiesen und eine rein psychologische Interpretation (u. a. weil nach Angaben einiger Psychiater die besten Heilungserfolge durch Hypnose erzielt wurden) setzte sich durch. Dies bedeutete aber langfristig nicht die Anerkennung psychischer Erkrankungen, sondern ihre zunehmende Stigmatisierung. Max Nonne, Robert Gaupp und andere Psychiater, die sich als Repräsentanten des Staates und Vertreter seiner Interessen sahen und die individuelle geistige Gesundheit des Einzelnen der Wohlfahrt der nationalen Gemeinschaft unterordneten, machten die (aus Veranlagung) fehlende Willensstärke und patriotische Überzeugung von Soldaten für ihre Flucht in neurotische Symptome (vor allem männliche Hysterie) verantwortlich; entsprechend schwierig gestaltete sich ihre Anerkennung als Kriegsgeschädigte mit Pensionsanspruch in der Weimarer Republik, vgl. Lerner, Psychiatry and Casualties, bes. S. 25–28: „Psychiatrists’ vociferous denial of the reality of mental trauma and the pathogenic potential of war carried serious political and financial consequences; by undermining any links between war service and mental illness, they denied nervous veterans their status as the war’s victims, ultimately condemning many as back-stabbers, who, along with Jews and Marxists, had sabotaged the war from within.“ (ebd S. 28); siehe auch ders., Traumatic Neurosis, S. 161–170. 57 Sir Frederick Mott (1853–1926) arbeitete während des Krieges zeitweise als RAMC Arzt im Maudsley Hospital in London (Denmark Hill), vgl. Shephard, War of Nerves, S. 6 f. 58 Stone, Shell Shock, S. 251. 59 Ebd., S. 251 f.; Shephard, War of Nerves, S. 30; Lerner, Traumatic Neurosis, S. 160. 60 Zu den Kriegsgefangenen und den verwundeten Soldaten, die keine Neurosen ausbildeten, siehe Shephard, War of Nerves, S. 30, S. 98 (in Deutschland ab 1916 wahrgenommen), S. 112; Lerner, Traumatic Neurosis, S. 157, 159. 61 Siehe Frederick W. Mott, War Psychoneurosis, in: The Lancet 1 (1918), S. 127–129; ders., War Neurosis and Shell Shock, London 1919; Robert Armstrong Jones, War Neuroses, in:

296   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) Doch während unter deutschen, französischen und italienischen Psychiatern die Theorie der Veranlagung zur Psychoneurose, die letztlich nichts mit dem Krieg selbst zu tun hatte, in den zwanziger Jahren an Prominenz gewann,62 stieß diese These in Großbritannien auf heftige Kritik, da sie eine Beleidigung für all jene einflussreichen Familien des Landes darstellte, deren Söhne als Offiziere im Krieg dienten.63 Die Zusammenbrüche dieser oftmals für eine militärische Laufbahn ausgebildeten jungen Männer mit einer erblichen Vorbelastung zu erklären, rührte am Selbstverständnis einer ganzen Klasse und führte dazu, dass die materialistische Psychiatrie in Großbritannien – jedenfalls auf dem Gebiet der Kriegsneurosen – an Überzeugungskraft einbüßte.64 Überhaupt kam diesem öffentlichen Diskurs über das Schicksal der Offiziere, der bereits kurz nach Kriegsbeginn einsetzte und in dieser Form in keinem anderen, am Krieg beteiligten Land zu beobachten war, eine zentrale Rolle in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von shell shock zu.65 „[O]nly in Britain“, so haben Mark Micale und Paul Lerner mit Blick auf die unterschiedlichen nationalen Umgangsstile mit shell shock festgestellt, „did the shell-shock story generate a rich literary tradition that became absorbed into the national cultural canon.“66 Schriftsteller-Offiziere wie Siegfried Sassoon, Robert Graves und Wilfred Owen, selbst wegen shell shock behandelt, verliehen dem Krieg mit ihren Werken eine öffentliche Sprache, die von Desillusionierung und tiefer Skepsis gegenüber militärischer Autorität geprägt war. Zugleich zeugte diese Sprache vom Verlust einer ganzen Generation und der psychischen Verwundbarkeit eines jeden Menschen. Diese Sprache war freilich die klassengebundene Sprache des gebildeten und gehobenen Nature 100 (6. September 1917), S. 1–3; J.M. Wolfsohn, The Predisposing Factors of War Psycho­neurosis, in: The Lancet 2 (1918), S. 177–180; John Collie, The Management of Neurastenia and Allied Disorders Contracted in the Army, in: Journal of State Medicine 26 (1918), S. 2–17; Leese, Shell Shock, S. 70; ders., Traumatic Neurosis, S. 217 f.; Shephard, War of Nerves, S. 111. 62 Bei der Veranlagung handelte es sich u. a. um Willensschwäche; zu den deutschen Umständen siehe Lerner, Traumatic Neurosis, S. 162: „In short, most German psychiatrists and neurologists concluded that the „war neuroses“ had little to do with war; essentially identical to the peace-time accident neuroses [Industrieunfälle und Eisenbahnunglücke, S.F.], they could be explained as psychological – or hysterical – reactions in terrified, weak-willed, or lazy men“; ders., Hysterical Men, S. 249 f.: Todesfurcht und „pension greed“ hätten Soldaten in die Krankheit fliehen lassen, und für die konservative, nationalistische psychiatrische Profession symbolisierten die männlichen Hysteriker Deutschlands soziale, politische und ökonomische ­Katastrophe; auch in Frankreich, wo um die Jahrhundertwende über Degenerationserscheinungen äußerst intensiv debattiert worden war, überwog der Glaube an eine subjektive Disposition zu mentalen Pathologien, siehe Roudebush, A Battle of Nerves, S. 253–279; in Italien, wo Lombrosos Theorien nachwirkten, dominierten regionalspezifische und ethnische Probleme die psychiatrischen Diskurse, siehe Bianchi, Psychiatrists, Soldiers and Officers, S. 222– 252. 63 Diese Theorie sei „a slur on the noblest of our race“ schrieben Graften Elliot Smith [Anatomieprofessor der University of Manchester] und T.H. Pears in: Nature 100 (27. September 1917), S. 65. 64 Vgl. Stone, Shell Shock, S. 245, S. 252. 65 Vgl. Winter, Shell Shock and the Cultural History of the Great War, S. 10. 66 Micale und Lerner, Trauma, Psychiatry, and History, S. 22.

6.3. Das überforderte Ich: shell shock   297

Bürgertums und der Aristokratie, jener Kreise also, aus denen die Männer des Offizierskorps rekrutiert wurden.67 Dadurch war sie zwar völlig untypisch für die Mehrzahl der am Krieg beteiligten britischen Soldaten,68 vermochte es aber immerhin, shell shock zu einer öffentlichen Angelegenheit zu machen und für die wachsende Kluft zwischen militärischen Tugenden und zivilgesellschaftlichen Werten zu sensibilisieren. Sie sorgte auch für eine gewisse Offenheit gegenüber neuen, unkonventionellen Erklärungsansätzen von shell shock, wie sie eine Gruppe von Militärärzten entwickelte, die sich schon vor dem Krieg mit Freuds psychoanalytischen Theorien auseiandergesetzt hatten. Der erste britische Arzt, der Freuds Ideen auf den Kontext der Kriegsneurosen übertrug, war David Eder. Eder arbeitete während des Krieges im Militärhospital von Malta, wo er sich um kriegstraumatisierte Soldaten aus Gallipoli kümmerte. 1916 erschien von ihm – fast zeitgleich mit einem deutschen Artikel ähnlichen Inhalts69 – eine kurze Abhandlung im Lancet, in der er das Auftreten von Kriegsneurosen mit dem mentalen Konflikt zwischen dem „ego instinct“ (Selbsterhaltung) und dem „gregarious or herd instict“ (Sozialverhalten, Pflicht, ­Patriotismus) in Zusammenhang brachte.70 Von Freud abweichend interpretierte Eder den Konflikt nicht als einen Konflikt zwischen einem verinnerlichten gesellschaftlichen Verhaltenskodex und den unterdrückten sexuellen Wünschen des Unterbewusstseins, sondern zwischen dem verinnerlichten Pflichtgefühl und dem unbewussten Überlebenswunsch. Doch es war nicht Eder, sondern William Rivers, der in einem 1917 publizierten Aufsatz mit Hilfe der Freudschen Theorie eine sachlich beeindruckende Deutung von shell shock vorlegte und damit ein erstes Umdenken in der somatischen Medizin anregte.71 Nach kurzer Arbeit im Militärhospital von Maghull leitete 67 Zur

klassenbasierten Rezeption des shell shock siehe vor allem auch Barham, Forgotten Lunatics. 68 Dazu ausführlicher Leese, Why Are They Not Cured, S. 206; Gedichte einfacher Soldaten über shell shock finden sich ebd., S. 210–213. 69 Zur psychoanalytischen Debatte über shell shock in Deutschland siehe Lerner, Hysterical Men, S. 163–189 (Kap. 6: The Discovery of Mind. Psychoanalytic Responses to War Hysteria). Der erste deutsche Beitrag zur psychoanalytischen Interpretation von shell shock stammte von Fritz Stern, einem Allgemeinmediziner, der im Krankenhaus von Berlin Charlottenburg ca. 200 Fälle von Kriegsneurosen untersucht hatte. Wie Eder war Stern weder dogmatischer Freud-Anhänger noch Mitglied der Psychoanalytischen Gesellschaft. Auch er brachte die militärische Situation (Disziplin, erzwungener Umgang mit sehr unterschiedlichen Männern, Ausschluss intellektueller Tätigkeiten, Anhalten lebensbedrohlicher Situationen, ohne Furcht zeigen zu dürfen, Wehrlosigkeit unter Dauerbeschuss des Feindes u. a. m.) mit der Ausbildung neurotischer Symptome in Verbindung. Als Therapie empfahl er die Bewusstmachung des Konflikts durch Gespräche, vgl. Fritz Stern, Die psychoanalytische Behandlung der Hysterie im Lazarett, in: Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift (1916/17), S. 1–3; Lerner, Hysterical Men, S. 166. 70 David Eder, The Psychopathology of the War Neuroses, in: The Lancet 2 (1916), S. 264–268; siehe auch sein ein Jahr später publiziertes Werk: David Eder, War Shock, London 1917; ­Shephard, War of Nerves, S. 86; zur Bedeutung des gregarious instinct in den englischen Debatten durch die Arbeiten von Wilfred Trotter siehe Kap. 6.8. 71 William Rivers, Freud’s Psychology of the Unconscious, in: The Lancet 1 (1917), S. 912–914.

298   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) ­ ivers seit Oktober 1916 das vom Kriegsministerium für die Behandlung von R ­Offizieren eingerichtete Craiglockhart Hospital in Schottland.72 Tagsüber war die Atmosphäre in der Klinik entspannt, verschiedene Kuren, sportliche Betätigungen und Einzelgespräche bestimmten das Bild, doch nachts wurden die traumatisieren Patienten oft von Albträumen heimgesucht. Rivers, der die inzwischen in englischer Übersetzung vorliegende Traumdeutung Freuds gelesen hatte, fand durch dessen Arbeitshypothesen über die Funktion des Vergessens, des Unbewussten und der Repression einen guten Zugang zur Deutung von Kriegsneurosen. Er machte dabei, wie einige wenige Ärzte in Deutschland auch,73 von einer substantiell modifizierten Freud-Version für die Analyse von shell shock Gebrauch. Er kam zu der Überzeugung, dass Träume nicht Ausdruck einer Wunscherfüllung seien – wie Freud annahm und er selbst auch lange Zeit geglaubt hatte74–, sondern den Versuch darstellten, die im Unterbewusstsein bestehenden Konflikte auszusöhnen.75 Rivers brachte den mentalen Zusammenbruch der Soldaten mit dem emotionalen Klima des Kriegsgeschehens in Verbindung. Die Soldaten erlagen, so nahm er an, einem mentalen Kollaps in Reaktion auf eine für sie unauflösliche Konfliktsituation zwischen „fear“ und „duty“: „The main function of a ‚psychoneurosis‘ is the solution of a conflict between opposed and incompatible principles of mental activity.“76 Im Kriegsgeschehen war der Soldat nicht in der Lage, den Konflikt zwischen seinem Selbsterhaltungstrieb und dem durch militärisches Training vermitteltem Diktat von Pflicht, Tapferkeit und Mut in einer 72 Zu

Rivers siehe auch Shephard, War of Nerves, S. 83–90. Craiglockhart avancierte aufgrund der Begegnung von William H.R. Rivers mit dem Schriftsteller Siegfried Sassoon, der dort therapiert wurde, zur bekanntesten shell-shock-Klinik, da beide Männer über ihre Erfahrungen publizierten; eine romanhafte Verarbeitung dieser Begegnung ist Pat Barker, Regener­ ation, London 1991. 73 Dieser Eklektizismus findet sich auch in Deutschland bei denjenigen (relativ wenigen) Ärzten, die sich Freud annäherten, vgl. Lerner, Hysterical Men, S. 163–189. Der psychoanalytische Diskurs über shell shock, darin ist Lerner zuzustimmen, war in Deutschland noch stärker ein Minoritätsdiskurs als in Großbritannien und wurde ebenfalls von Ärzten getragen, die Freuds Theorien nicht dogmatisch rezipierten, sondern davon übernahmen, was sich für die praktische Arbeit als brauchbar erwies: „Historians have […] shown that many German physicans occupied a middle ground somewhere between Freud’s close followers and his adamant detractors; many psychiatrists and neurologists were influenced by certain parts of psycho­analytic theory, while other doctors experimented with forms of psychoanalysis in the clinical environment without subscribing to the entirety of Freudian thought. This helps ­explain why the greatest strides in adapting psychoanalysis to the treatment of war neurotics were actually made not by members of the Psychoanalytic Association but by several physicians who fall into the middle category.“ (ebd., S. 165). 74 Vgl. Shephard, War of Nerves, S. 89. 75 Es ging um die Wiederherstellung der Balance zwischen „instinctive and controlling forces“, vgl. Shephard, War of Nerves, S. 120 f. 76 Rivers, Instinct and the Unconscious, hier zit. nach der Besprechung des Buches durch T.H. Pear in The British Journal of Psychology 11 (1920–21), S. 349; siehe auch die Besprechung des Buches durch J.W. Scott in Mind 29 (1920), S. 198–207, wo der Rezensent besonders die Kriegserfahrung hervorhebt, die in Rivers Theorie eingeflossen sei („It is, of course, a war medical book“, ebd. S. 198) und deshalb zu Recht die Exklusivität von Freuds Sexualtrieb bezweifle. Zugleich wird der glückliche Umstand hervorgehoben, „which has given the study and practise of psycho-therapy into the hands of an anthropologist.“ (ebd., S. 198).

6.3. Das überforderte Ich: shell shock   299

lebens­gefährlichen Situation zu lösen.77 Halluzinationen, Hysterie, Neurasthenie,78 der Rückzug in kindliche Verhaltensformen, die verminderten sensorischen Fähigkeiten waren für Rivers Ausdruck des missglückten Versuchs, neuartige Erfahrungen und Gefühle zu rationalisieren und sie den bekannten Unterdrückungsund Anpassungsmechanismen zu unterwerfen. Die Flucht in die Krankheit, die mentalen Funktionsstörungen, waren das Ergebnis repressiver Operationen, die im Alltag gewöhnlich funktionierten und ihren Zweck erfüllten, unter den neuartigen Kriegsbedingungen aber dysfunktional wurden: „It is not repression in itself which is harmful“, betonte Rivers, „but repression under conditions in which it fails to adapt the individual to his environment.“79 Anpassungen an die extremen Bedingungen des Krieges waren nicht möglich. Wie Eder lehnte auch Rivers Sexualität als zentrale Triebfeder in Zusammenhang mit der Ausbildung von Kriegsneurosen ab, worin ihm seine früheren Schüler und Mitarbeiter Charles Myers, William McDougall und William Brown folgten.80 Gesellschaftlich relevant war vor allem Rivers sozialpsychologische, kulturelle Interpretation von shell shock, die die traditionelle britische Pädagogik und ihre „education in leadership“81 problematisierte und in Frage stellte. Er kritisierte die Art und Weise der militärischen Ausbildung ebenso wie die auf Drill, Disziplin, mechanischen Gehorsam und character-building hin ausgelegte Erziehung in Privat­schulen und machte diese dafür verantwortlich, dass Offiziere in einer ­besonderen Weise zusammenbrachen. Während die Männer der unteren Ränge schneller auf akute Stresssituationen mit hysterischen Störungen reagierten, ­bildeten Offiziere chronische Angstzustände (anxiety neurosis) aus.82 Sie neigten, so Rivers, durch ihre Ausbildung und den Druck der Verantwortung dazu, ihre Furcht so lange wie möglich zu unterdrücken, bis der endgültige Zusammenbruch nicht mehr aufzuhalten war und letztlich mehr Zeit zur therapeutischen Behandlung notwendig wurde.83 77 William

H.R. Rivers, Inaugural Address to the Medical Section of the British Psychological Society, in: The Lancet (1919), S. 891; zit. nach Stone, Shell Shock, S. 255 f. 78 Als Krankheitsbild ging Neurasthenie auf den amerikanischen Arzt George Miller Beard zurück, der in ihr eine Nervenerschöpfung sah (Schlaflosigkeit, Überdrehtheit, Depression u. a. m.), die durch das moderne, industriell geprägte Leben verursacht werde und damit eine Zivilisationskrankheit darstelle, vgl. Shephard, War of Nerves, S. 9; Leese, Shell Shock, S. 16; Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998; Joachim Radkau, Die wilhelminische Ära als nervöses Zeitalter oder: Die Nerven als Netz zwischen Tempo- und Körpergeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft (1994), S. 211–241; Marijke Gijswijt-Hofstra und Roy Porter (Hrsg.), Cultures of Neurasthenia from Beard to the First World War, Amsterdam und New York 2001, darin Aufsätze zur öffentlichen Wahrnehmung von Neurastenie in Deuschland, Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden. 79 William H.R. Rivers, The Repression of War Experience“, in: The Lancet (1918), S. 173, zit nach Stone, Shell-Shock, S. 255. 80 Siehe Stone, Shell Shock, S. 255. 81 Bogacz, War Neurosis and Cultural Change, S. 250. 82 Vgl. Stone, Shell Shock, S. 60; Shephard, War of Nerves, S. 120 f. 83 Vgl. Rivers, Instinct and the Unconscious, S. 209; auch William McDougall, An Outline of Abnormal Psychology, New York 1926, S. 139 f.

300   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) Rivers Argumentation bewirkte nicht nur ein Nachdenken über die Angemessenheit von Erziehungsmaßnahmen, von denen die Ausbildung der Führungselite des Landes und deren Charakterbildung und Willensstärke abhing, sie verschob in der Auseinandersetzung über die Einflüsse von Anlage und Umwelt auf menschliches Verhalten auch das Gewicht deutlich in Richtung äußere Einflüsse und Umwelt. Zugleich erfuhren die nicht-rationalen menschlichen Vermögen, Emotionalität und die „primitive human instincts“,84 wie es der Medical Officer des Liverpooler Gefängnisses, William Norwood East 1920 ausdrückte, eine stärkere Beachtung. Obgleich individuelle Unterschiede in Vererbung, Erziehung und Erfahrung für die unterschiedlichen Reaktionen der Soldaten auf die übermächtigen äußeren Umstände nicht vollkommen irrelevant waren, ließen sich ihre Reaktionen doch letztlich alle auf die gleichen archaischen Reaktionsmechanismen zurückführen.85 Psychischer Stress als auslösender Faktor wurde nicht mehr als unerheblich beiseitegeschoben, wie überdies die Anerkennung rein funktionaler Störungen ohne somatische Befunde für die Mediziner um Rivers eine klare Absage an die diffusen Erklärungen wie die von ‚Veranlagung‘ bedeutete: „The war has shown us“, so erklärten die in Maghull arbeitenden Ärzte Grafton Elliot Smith und T.H. Pear, „that a psychoneurosis may be produced in almost anyone if only his environment be made ‚difficult‘ enough for him. It has warned us that the pessimistic, helpless appeal to heredity, so common in the case of insanity must go the same way as its lugubrious homologue which formerly did duty in the case of tuberculosis.86 In the causation of the psychoneuroses, heredity undoubtly counts, but social and material environment count infinitely more.“87 Das von Grafton ­Elliot Smith und Tom Hatherley Pear verfasste Buch Shell Shock and Its Lessons erlebte noch während des Krieges drei Auflagen und gilt heute als „perhaps the most widely read, popular and progressive publication on shell shock“88 in

84 William

Norwood East, Some Cases of Mental Disorder and Defect seen in the Criminal Courts, in: The Journal of Mental Science 66 (1920), S. 432. 85 Männer wie William McDougall, Grafton Elliot Smith und Charles S. Myers argumentierten, dass der Schock des Krieges ausreichend brutal sein könne, um die psychischen Reserven des betroffenen Individuums auszulöschen, egal in welchen Zustand sie sich vor dem Kriege befunden hätten. Da alle Ränge betroffen waren, schonten offensichtlich weder erworbene Tugenden noch Charakterstärke langfristig vor einer Erkrankung, vgl. dazu Kuklick, Savage Within, S. 169, S. 172. 86 Tuberkulose galt als erblich, bis der verursachende Bazillus identifiziert werden konnte. 87 Grafton Elliot Smith und T.H. Pear, Shell Shock and Its Lessons (1. Aufl. London 1917), 2. Aufl. Manchester 1918, S. 87 f., Hervorhebung S.F.; zur Attacke auf die somatische Schule (Sir Frederick Mott) durch Smith und Pear, vgl. auch Bogacz, War Neurosis and Cultural Change, S. 234 f.; zur Volksausgabe (3. Aufl.) 1919 siehe die Besprechung von H. Devine, in: The Journal of Mental Science 66 (1920), S. 298 f.: „a cheap reprint is to be welcomed, as it may thereby gain a larger circulation among the general public, for whom it is intended, as well as for members of the medical profession. Though the war is over the question of the war neuroses is still a pressing one both from a social as well as from an individual point of view.“ (Ebd. S. 298). 88 Leese, Shell Shock, S. 82.

6.3. Das überforderte Ich: shell shock   301

Großbritannien.89 Eine der großen Lehren, die Smith und Pear – wie ihr Kollege George Robertson bereits vor der Jahrhundertwende in bezug auf die Früherkenung und Behandlung geistiger Erkrankungen allgemein formuliert hatte90 – aus den shell-shock-Erfahrungen zogen, war die Erkenntnis, dass mit der Behandlung von shell-shock-Patienten so früh wie nur irgend möglich begonnen werden musste. Je länger damit gewartet wurde, umso mehr verringerten sich die Heilungschancen.91 Die Wahl entsprechender Therapien wurde allerdings im Krieg stark von Sachzwängen bestimmt und unterschied sich nicht groß von denen, die auch in Deutschland zum Einsatz kamen.92 Psychoanalyse eignete sich aus mehreren Gründen nicht für den militärischen Kontext. Sie benötigte viel Zeit und Geduld, was der von militärischer Seite aus erwünschten schnellen Heilung entgegenstand. Freud selbst hielt Psychoanalyse auch nur bei bestimmten Patienten für sinnvoll. Diese sollten Bildung besitzen, medizinischer Wissenschaft vertrauen, das Prozedere verstehen und die unbedingte Bereitschaft zur Zusammenarbeit mitbringen, denn kein manipulierbares Subjekt, sondern der aktive Mitarbeiter werde benötigt.93 Ähnlich wie Psychoanalyse als Theorie kam Psychoanalyse auch als Therapieform nur in einer modifizierten, verkürzten, pragmatischen Version in Großbritannien zur Anwendung. Rivers hielt zum Beispiel schon die Auflösung des Traumkonfliktes durch entsprechende Gespräche mit dem Patienten für den entscheidenden Schritt zur Heilung. Andere Ärzte hielten dagegen auch eine erfolgreiche Verdrängung für einen Erfolg. Peter Leese zeigt in seiner Studie, wie unterschiedlich die Behandlung von britischen Offizieren und Soldaten ausfallen konnte und wie viel davon abhing, in welche Einrichtung die Erkrankten eingeliefert wurden. Während in den Offiziershospitälern wie Maghull94 oder Craiglockhart das Personal-Patientenverhältnis günstig war und deshalb Gesprächstherapie, Traumdeutung und Suggestion

89 Vor

der Hintergrund des Einsatzes britischer Truppen in Irak und Afganisthan erscheint es nicht überraschend, dass 2008 eine Neuausgabe erschien; auch das Buch von Charles S. ­Myers, Shell Shock in France, 1914–1918, liegt seit Januar 2012 als Neuausgabe bei Cambridge University Press vor. 90 Vgl. Kap. 3.7. 91 Stone, Shell Shock, S. 246. 92 Siehe dazu Lerner, Hysterical Men, S. 98–102, S. 102–113, S. 113–123; Hypnose, Elektroschocks und Suggestion wurden auch in Deutschland in ähnlicher Weise angewendet. Lerner hebt hervor, dass sich die deutschen Methoden von den britischen nicht durch eine größere Brutalität ausgezeichnet hätten; anders als in Großbritannien, wo die Heilung der Soldaten vor allem dem erneuten Kriegseinsatz dienen sollte, wurden deutsche Soldaten in der Regel nicht wieder an die Front geschickt, sondern als Arbeitskraft in anderen Bereichen (Kriegsindustrie) eingesetzt (ebd. S. 126); zu den cultures of treatment in Großbritannien, Frankreich und Deutschland siehe Leese, Shell Shock, S. 69–73. 93 Siehe dazu Lerner, Hysterical Men, S. 165. 94 Maghull Hospital galt als „running symposium on the mind“, Shephard, War of Nerves, S. 81; Craiglockhart Hospital behandelte zwischen Oktober 1916 und Februar 1919 insgesamt 1560 Offiziere; Maghull Hospital zwischen November 1914 und Frühjahr 1919 3638 Offiziere, ­Leese, Shell Shock, S. 82.

302   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) zum Einsatz kamen, wurden einfache Soldaten – also die große Mehrheit der shell-shock-Patienten95 – mit möglichst kostengünstigen Methoden behandelt. Als schnelle, effiziente Therapien galten Hypnose, warme Bäder, Massagen, Elektrotherapie, die Unterbringung auf dem Land, Milchdiäten und Suggestion (bei der viel von der Persönlichkeit des behandelnden Arztes abhing). Wurden shell-shockSoldaten nur in allgemeine Krankenhäuser eingeliefert und dort von einem nicht spezialisierten Personal in herkömmlicher Weise mit warmen Bädern, Elektroschocks oder Massagen behandelt, fielen die Heilungsraten am geringsten aus.96 Als gegen Ende 1917 aus diesen allgemeinen Krankenhäusern eine große Anzahl nicht geheilter Patienten entlassen wurde,97 sahen sich das Kriegsministe­ rium und das Ministry of Pensions gezwungen, nach alternativen Behandlungsmethoden Ausschau zu halten und zugleich die Struktur der Betreuungsinstitu­ tionen zu überdenken. Gegen Ende des Krieges ging man dazu über, 63 der eigenen Royal Army Medical Corps Officers in einem dreimonatigen „crash programme“98 in psychologischen, psychotherapeutischen und sogar rudimentär psychoanalytischen Methoden und Techniken im Maghull Military Hospital auszubilden.99 Diese Öffnung gegenüber alternativen Behandlungsmethoden hatte mehrere Gründe. Zu Beginn des Krieges hatte die britische Militärführung psychologische Erklärungsansätze abgelehnt und shell shock zunächst als rein disziplinarisches Problem behandelt.100 Nach vorherrschender Meinung war ein Soldat entweder „sick, well, wounded or mad“101 und entsprechend wurde mit ihm verfahren. Wiesen psychisch kranke Soldaten tatsächlich eine organische Erkrankung auf, wurden sie in der Regel in Heime für Geisteskranke (lunatics) eingeliefert. Konnte hingegen keine organische Verletzung festgestellt werden, galten sie als Simulanten, die sich ihrer patriotischen Pflicht entziehen wollten. Ihnen drohte die standrechtliche Erschießung. Tatsächlich wurde an 308 von 3080 wegen Feigheit (cowardice) zum Tode verurteilten Soldaten das Urteil vollstreckt.102 Doch die schiere   95 Obwohl

konkrete Zahlen nicht mehr zu eruieren sind (vgl. Leese, Shell Shock, S. 9 f., der 200 000 Erkrankungen für realistisch hält), lässt sich generell sagen, dass zwar innerhalb des Offizierscorps der prozentuale Anteil an shell shock Erkrankungen etwas höher lag, die absoluten Zahlen aber von den private soldiers angeführt wurden, Shephard, War of Nerves, S. 89.   96 Ebd., S. 89.   97 Ebd., S. 109; auch ausführlich Leese, Why Are They Not Cured?   98 Shephard, War of Nerves, S. 109.   99 Stone, Shell Shock, S. 243; eine Zusammenfassung der Behandlungsmethoden gibt Hugh Crichton Miller, Preface, in: Hugh Crichton Miller (Hrsg.), Functional Nerve Disease: An Epitome of War Experience for the Practitioner, London 1920, S. vi–vii. 100 Vgl. Kuklick, Savage Within, S. 168; wegen des anfänglich erheblichen Widerstands im britischen Militär gegen die psychologischen Behandlungsmethoden von Myers und seine Kollegen, nahm Myers 1917 seinen Abschied vom Army Medical Service in Frankreich und arbeitete anschließend für das Kriegsministerium u. a. als Inspektor derjenigen Hospitäler und Therapiestätten, die speziell für die Behandlung von shell-shock-Patienten im ganzen Land eingerichtet worden waren, siehe Charles Myers, Autobiography (Original von 1936), in: Occupational Psychology 44 (1970), S. 10; auch Kuklick, Savage Within, S. 172 f. 101 Zit. nach Shephard, War of Nerves, S. 25. 102 Stone, Shell Shock, S. 247–50; eine Analyse ausgewählter Fälle hingerichteter britischer Soldaten im Ersten Weltkrieg legt die Vermutung nahe, dass viele von ihnen nicht ausreichend

6.3. Das überforderte Ich: shell shock   303

Masse an shell-shock-Patienten stellte ein gravierendes Problem dar, und die ­geringen Heilungsraten in allgemeinen Krankenhäusern zwangen das Militär förmlich zum Experimentieren mit unterschiedlichen Therapieformen, in der Hoffnung, eine davon möge wirken.103 Noch größere Wirkung auf das Umdenken in militärischen Kreisen dürfte allerdings die bereits erwähnte öffentliche Meinung ausgeübt haben, die die militärische Auffassung von shell shock als eines disziplinarischen Problems von Anfang an nicht teilte.104 Zeitungen wie der Manchester Guardian berichteten ausführlich über shell-shock-Vorkommnisse und erhöhten dadurch die öffentliche Sorge, dass Kriegshelden nicht nur möglicherweise falsch beurteilt und dann zur Schande der Nation und gegen ihren Willen in Anstalten für Geisteskranke untergebracht wurden, sondern auch die Behandlung britischer Soldaten in Frankreich und ihre Verurteilung und Hinrichtung wegen angeblicher Feigheit auf falschen Diagnosen beruhten. An der Realität der Krankheit als einer echten Erkrankung zweifelte hier niemand: „[T]raumatic neurosis was considered a real and disturbing condition“,105 urteilt Peter Leeson über die öffentlichen Kampagnen während des Krieges und auch danach. „Perhaps for this reason“, so argumentiert Ben Shephard, „nervous collapse never acquired in Paris and Berlin the public respectability that it enjoyed, almost from the start, in London.“106 Noch bevor das Kriegsministerium überhaupt irgend eine ernsthafte medizinische Untersuchung über shell shock in Angriff nahm, hatte Lord Knutsford, Vorsitzender des London Hospital, im November 1914 bereits £ 7700 für die Einrichtung eines speziellen Therapiezentrums für shell-shock-Soldaten gesammelt. Königin Alexandra stattete diesem Zentrum schon im Januar 1915 einen Besuch ab.107 Auch Wohltätigkeitsvereine begannen sich nicht nur für die Versorgung von Kriegsverwundeten, ­sondern auch von shell-shock-Soldaten einzusetzen und forderten gesetzliche Garantien, dass erkrankte Soldaten nicht wie zertifizierte Geisteskranke in die herkömmlichen Psychiatrien eingewiesen wurden. In dieser privaten Fürsorge, so hat Deborah Cohen argumentiert, lag letztlich auch ein Grund, warum die Gruppe diagnostiziert worden waren, obgleich sie in früheren Stadien als shell shock Patienten behandelt worden waren, siehe Anthony Babington, For the Sake of Example, New York 1983, S. 28 f., 71, 82 f., 91 f., 136–43; in Deutschland wurden weitaus weniger Soldaten exekutiert. Hier wurden von 150 zum Tode verurteilten Soldaten 48 hingerichtet, in Frankreich wurden 2000 verurteilt, davon 700 exekutiert, siehe Shephard, War of Nerves, S. 101. 103 Nach Pensionsschätzungen waren es rund 200 000 Männer, die im Laufe des Krieges aus diesem Grund aus dem aktiven Dienst entlassen werden mussten. Da dies allerdings nur die anerkannten Fälle betraf, muss von einer höheren Dunkelziffer ausgegangen werden, Kuklick, Savage within, S. 165, S. 172; Stone, Shell Shock, S. 243–252; Soldaten, die aus psychologischen Gründen pensioniert wurden, machten einen erheblichen Teil der rund 1,3 Millionen pensionsberechtigten Soldaten aus. Mit Ausnahme derjenigen, die durch Wunden und Amputationen pensionsberechtigt waren, waren die Männer mit functional nervous disorders die größte Einzelgruppe der Pensionsberechtigten 1922. 104 Zum Folgenden bes. Leese, Shell Shock, S. 57–65 (Press and political campaign). 105 Ebd., S. 57. 106 Shephard, War of Nerves, S. 97 f. 107 Siehe Leese, Shell Shock, S. 58 f.

304   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) der Kriegsveteranen in Großbritannien in den Zwischenkriegsjahren nicht als politische Problemgruppe in Erscheinung getreten ist.108 Regierung und Parlament schwenkten ein und akzeptierten zunehmend die Vorstellung von kriegsverursachten psychologischen Funktionsstörungen, denen keine somatische Ursache zugrunde liegen musste. Eine integrative Politik ver­ folgend betonten Regierungssprecher die situationsbedingte, übermächtige und ­unwillkürliche Natur von shell shock, mithin seinen demokratischen Charakter. Soldaten erlagen ihm nicht freiwillig, betroffen waren adlige Offiziere ebenso wie Soldaten der unteren Ränge, die Freiwilligen der ersten Jahre ebenso wie die nach Einführung der Wehrpflicht 1916 zum Kriegdienst verpflichteten Soldaten. Besonders Labour-Abgeordnete machten sich zu Anwälten der öffentlichen Betroffenheit und warnten im Parlament davor, shell-shock-Soldaten als Feiglinge vor ein Militärgericht zu stellen. Das Ergebnis dieser Eingaben war 1930 die Abschaffung der militärischen Todesstrafe für Feigheit. Im Zweiten Weltkrieg wurde kein britischer Soldat mehr aus diesem Grund exekutiert.109 Die Einstellung der britischen Öffentlichkeit, eine Krankheitsform wie die der Kriegsneurose zu akzeptieren – eine ähnliche Haltung ließ sich nur noch in der amerikanischen Öffentlichkeit beobachten110 –, förderte die allgemein Bereit108 Wie

Deborah Cohen in ihrer Arbeit über die staatliche Versorgung von Kriegsveteranen in Deutschland und England gezeigt hat, wurden die Kriegsgeschädigten in Deutschland vom Staat, der die Organisation nahezu sämtlicher Versorgungsleistungen an sich zog und dadurch die private Wohlfahrtspflege aus diesem Sektor verdrängte, materiell besser versorgt als die britischen Soldaten. Trotzdem entwickelten die deutschen Veteranen diesem Staat gegenüber keine Loyalität. Demgegenüber wurden die britischen Kriegsversehrten in einem weitaus geringerem Umfang vom Staat unterstützt – das Ministry of Pensions war nicht für Großzügigkeit bekannt und hatte nicht zuletzt die zahlreichen neuen Therapieformen auch deshalb unterstützt, weil die Heilung eines jeden Kriegsneurotikers die Verkürzung der Versorgungsliste versprach – wurden aber durch privates, zivilgesellschaftliches Engagement aufgefangen. Durch das ‚menschliche Anlitz der Wohlfahrt‘bekamen britische Veteranen das Gefühl vermittelt, dass ihre Aufopferung für das Vaterland honoriert und anerkannt werde, während die abstrakte Versorgung in Deutschland dieses Gefühl nicht zu vermitteln vermochte, siehe Deborah Cohen, The War Come Home: Disabled Veterans in Britain and Germany, 1914–1939, Berkeley 2001; dies., Civil Society in the Aftermath of the Great War. The Care of Disabled Veterans in Britain and Germany, in: Frank Trentmann (Hrsg.), Paradoxes of Civil Society. New Perspectives on Modern German and British History, New York 2000, S. 352–368; zu Cohens These vgl. auch Thomas Merkel, Identitätspolitik – Misstrauen gegenüber dem Staat. Aspekte des Verhältnisses zwischen Zivilgesellschaft und Politik in Deutschland und Großbritannien in der Zwischenkriegszeit, in: Jessen, Reichardt und Klein (Hrsg.), Zivilgesellschaft als Geschichte, S. 197–218, hier bes. S. 213 f. 109 Zum Vorwurf der Labour Party und zur Abschaffung der militärischen Todesstrafe für Feigheit siehe Bogacz, War Neurosis and Cultural Change, S. 236, S. 250, S. 253, Anm. 35. Prominent im Kampf um die Abschaffung der militärischen Todesstrafe für Feigheit war der Labour MP Ernest Turtle, siehe ders., Military Discipline and Democracy, London 1920; ders., Shootings at Dawn. The Army Death Penalty at Work, London (o. J.). 110 Zur Rezeption und Behandlung von shell shock in den USA siehe Caroline Cox, Invisible Wounds: The American Legion, Shell-Shocked Veterans, and American Society, 1919–1924, in: Micale und Lerner (Hrsg.), Traumatic Pasts, S. 280–305; durch den späten Kriegseintritt der USA waren die shell shock-Fälle weitaus geringer; die amerikanische Öffentlichkeit sah in ihnen Bürger, die für ihre patriotische Pflicht mit ihrer Gesundheit bezahlt hatten und des-

6.3. Das überforderte Ich: shell shock   305

schaft, über die Ursprünge menschlichen Verhaltens neu und anders nachzudenken und dabei auch unvertraute oder unkonventionelle Ansätze zuzulassen. Als Lord Southborough, Mitglied des Board of Trade,111 im April 1920 im Oberhaus für die Einberufung eines Komitees warb, das die Beschaffenheit und Behandlung von shell shock untersuchen sollte, zweifelte niemand an der Schwere des Pro­ blems und der Notwendigkeit einer solchen Untersuchung.112 1922 wurde der Report of the War Office Committee of Enquiry into Shell-Shock veröffentlicht.113 Obgleich in seiner Zusammensetzung ein eher konservatives Gremium – 11 der 15 Mitglieder gehörten der medizinischen Profession an, darunter der Neurologe Frederick Mott und 6 Vertreter aus dem Militär114 – zeigte die Zusammenfassung seiner Ergebnisse, wie sehr das Komitee nach Anhörung der unterschiedlichen Standpunkte115 auf ein psychologisches Vokabular zurückgreifen musste, weil ihm kein besseres für die angemessene Beschreibung der vielfältigen Erscheinungsformen von shell shock zur Verfügung stand. „Inevitably“, so resümiert Bogacz, „some of the vocabulary and ideas found in this summary were indebted to Freud’s revolutionary theories. This was evident not only in its emphasis on the unconscious mind but also in the terminology it employed: ‚repression‘ and ‚conversion‘ hysteria, for example, were recent additions to medical and public parlance and were strongly associated with Freud’s work.“116 Das Komitee versuchte zwar einen Mittelweg zwischen organischen und psychologischen Theorien zu finden, schien aber die Dominanz des mentalen Urhalb Anspruch auf finanzielle Kompensation hatten. Wie später in England wurden auch in den USA inpatient –, vor allem aber outpatient – Kliniken, also ambulante Tageskliniken, für shell-shock – Patienten eingerichtet. 111 Lord Southborough (1860–1947). 112 Im Gegenteil, Viscount Haldane unterstützte das Vorhaben, nachdem er alle 308 vollstreckten Todesurteile wegen Feigheit, Flucht und anderer ‚krimineller‘ Handlungen begutachtet hatte und nicht mehr ausschließen wollte, dass es gerade am Anfang des Krieges zu großen Ungerechtigkeiten im britische Militär gekommen sei, als noch keine Erkenntnisse über shell shock vorgelegen hätten, vgl. Bogacz, War Neurosis and Cultural Change, S. 228; selbstverständlich hatte auch das Ministry of Pensions ein großes Interesse an der Aufklärung von shell shock, um unberechtigte Pensionsansprüche zurückweisen zu können. 113 Report of the War Office Committee of Enquiry into Shell-Shock, Parliamentary Papers (1922), Cmd. 1734; zwischen dem 7. September 1920 und dem 22. Juni 1922 fanden 41 Sitzungen statt und 59 Experten wurden angehört, vgl. Bogacz, War Neurosis and Cultural Change, S. 235. 114 Zur Zusammensetzung und ‚materialistischen‘ Haltung des Komitees siehe Bogacz, War Neurosis and Cultural Change, S. 237–240. 115 Mott bestand auf einer organischen Ursache, Rivers beharrte auf einer mentalen als aus­ lösendem Faktor; Mott stimmte allerdings auch einigen Ergebnissen des Komitees zu, z. B. dass jeder Soldat die Erfahrung der Furcht im Kriege mache, dass man nicht im Voraus wissen könne, wer zusammenbrechen werde, dass der Stellungskrieg in den Schützengräben für die Produktion von Neurosen schwerer wiege als ein „Bewegungskrieg“ und dass schließlich in einem Überraschungskrieg mit Bomben, Flugzeugen und Giftgas „the fit and the unfit, would alike perish“, siehe Frederick C. Mott, The Neuroses and Psychoses in Relation to Conscription and Eugenics, in: Eugenics Review 14 (1922), S. 13–22, Vortrag vom 17. Januar 1922 vor der Eugenics Education Society, dessen Mitglied er war. 116 Bogacz, War Neurosis and Cultural Change S. 240, Hervorhebung S.F.

306   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) sprungs der Zusammenbrüche nicht mehr in Frage zu stellen. Hinsichtlich empfohlener Therapieformen ließ das Komitee neben den üblichen Methoden auch einfache Formen der Psychotherapie gelten: „Good results will be obtained in the majority by the simplest form of psycho-therapy, i. e. by explanation, persuasion and suggestion, aided by such physical methods as baths, electricity and massage. Rest of mind and body is essential in all cases.“117 Und schließlich reflektierte das Komitee, trotz vereinzelter Zeugenaussagen, die bestimmten Gruppen (Juden, Iren, Arbeiterklasse) eine stärkere Neigung zu Zusammenbrüchen unterstellten, die Auffassung der britischen Öffentlichkeit vom egalitären Charakter des Traumas in seinem Fazit: „Witnesses were agreed that any type of individual might suffer from one or other form of neurosis if exposed for a sufficient length of time to the conditions of modern warfare, and that it is extremely difficult to say beforehand what type of man is most likely to break down“.118 In seinem Beitrag Shellshock and the Psychologists argumentiert Martin Stone, dass sich die Debatten über shell shock und die zahlreichen Publikationen, die über die Behandlung von nervous disorders nach dem Krieg in Großbritannien erschienen,119 auch auf die Entwicklung der zivilen Psychiatrie ausgewirkt habe. Neurologische Standardwerke und -handbücher seien Anfang der 1920er Jahre zum Teil überarbeitet und durch Kapitel zur Kriegsneurose mit Referenz auf psychoanalytische Literatur und Hinweise auf einfache Psychotherapieformen ergänzt worden.120 Was sich geändert habe, sei nicht nur die Einstellung zu geistigen Erkrankungen generell gewesen, sondern auch die Art und Weise, wie man therapeutisch damit umgegangen sei. 1922 empfahl das Ministry of Pensions, konfrontiert mit der höchsten Zahl an behandlungsbedürftigen Ex-Soldaten, die es bis dahin jährlich registriert hatte, die Einrichtung ambulante Tageskliniken, sogenannter out-patient clinics. Vor dem Krieg hatte es nur eine einzige private Tagesklinik für psychische Störungen in London gegeben.121 Nach dem Krieg wurde 1920 mit der Tavistock Clinic unter Leitung von Hugh Crichton Miller eine solche Tagesklinik zur Behandlung geistiger Störungen ins Leben gerufen, wobei zwei Militärs, Feldmarschall Haig und Admiral Beatty, symbolisch als Ehren­vizepräsidenten der Klinik fungierten.122 Die Verabschiedung des Mental 117 Report of the

War Office Committee of Enquiry into Shell-Shock, hier zit. nach Leese, Shell-Shock, S. 126; Bogacz, War Neurosis and Cultural Change S. 242. 118 Report of the War Office Committee of Enquiry into Shell-Shock, S. 92, hier zit. nach Bogacz, War Neurosis and Cultural Change, S. 241. 119 Siehe dazu z. B. T.W. Salmon, The Care and Treatment of Mental Diseases and War Neurosis in the British Army, in: The British Medical Journal 1 (1919), S. 734–736; William McDougall, The Revival of Emotional Memories and Its Therapeutic Value, in: The British Journal of Psychology 1 (1920), S. 23–29. 120 Vgl. Stone, Shell Shock, S. 243 f. 121 Zur 1913 gegründeten Medico-Psychological Clinic in London aufschlussreich: Suzanne Raitt, Early British Psychoanalysis and the Medico-Psychological Clinic, in: History Workshop Journal 58 (2004), S. 63–85. 122 Siehe Stone, Shell Shock, S. 246; in der Tavistock Klinik, die eine eigene Kinderabteilung (children’s branch) unterhielt, versuchte man einen psychologischen Zugang zu kindlichen Störungen und betonte die Wichtigkeit der Familie als Ort persönlicher Entwicklung. Die

6.3. Das überforderte Ich: shell shock   307

Treatment Act von 1930 verankerte dann nicht nur die Tageskliniken gesetzlich, sondern ermöglichte auch die Aufnahme und Behandlung von freiwilligen Patienten in staatlichen Psychiatrien, die aus eigenem Wunsch und ohne ärztliches Zertifikat die Klinik aufsuchten.123 Mit Ausnahme des Maudsley Hospitals in Denmark Hill im Süden von London war es bis zu diesem Zeitpunkt staatlichen Psychiatrien nicht gestattet gewesen, solche freiwilligen Patienten aufzunehmen124: The ‚reform‘ of the asylum during the inter-war years was accompanied by a more profound transformation of psychiatry’s role in society. This entailed an expansion of the field of mental medicine, a broadening of the concept of mental disorder, the incorporation of other profession under psychiatry’s medical umbrella, and the opening up of new sites of practice outside the asylum.125

Unter diesem neuen Dach der offenen Psychiatrie entwickelten sich in den 1920er und 1930er Jahren auch neue kriminologische Theorien, wobei dies keineswegs, wie noch zu zeigen sein wird, einen vollständigen Sieg der Psychoanalyse bedeutete. Freuds Hoffnung auf eine Aufwertung der Psychoanalyse durch die Debatten über die Kriegneurosen wurden noch im September 1918 auf dem 5. Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Gesellschaft in Budapest enttäuscht.126 Was sich einer wachsenden Popularität erfreute, waren dagegen Teilaspekte der Freudschen Theorie und Therapie, die pragmatischen Erfordernissen gerecht wurden. Selbst Ernest Jones, treuester Freud-Apologet in Großbritannien, vertrat in einem Vortrag vor der Psychiatrie-Sektion der Royal Society of Medicine die Klinik wurde zum Zentrum psychodynamischer Therapiemodelle, hatte aber keine Verbindung zu akademischen Institutionen, siehe Malcolm Pines, The Development of the Psychodynamic Movement, in: German E. Berrios und Hugh Freeman (Hrsg.), 150 Years of British Psychiatry, 1841–1991, London 1991, S. 206–231; Elizabeth Lunbeck, Psychiatry, in: Theodore M. Porter und Dorothy Ross (Hrsg.), The Cambridge History of Science, Bd. 7: The Modern Social Sciences, Cambridge 2003, S. 663–677, hier S. 668. 123 Siehe Noel Timms, Psychiatric Social Work in Great Britain (1939–1962), London 1964, S. 15; die gleiche Entwicklung ließ sich auch in Amerika beobachten., vgl. Lunbeck, Psychiatry, bes. 664–666; ebd. S. 666: „Institutionally, they [American psychiatrists, S.F.] abandoned the asylum for the clinic and the consulting room, founding new, urban, and universitybased institutions such as the Psychopathic Hospitals […] and psychiatric Clinics […] Reform-minded psychiatrists also lobbied successfully for new laws that would yield them ­patients who were not insane but nearly normal.“ Ein Drittel der amerikanischen Staaten erließ neue Gesetze, die den Zugang erleichterte. 124 Juristisch existierte ja weiterhin nur die Unterscheidung zwischen mad und sane, zwischen insanity und sanity; zur Komplexität der juristischen und medizinischen Definitionen von insanity siehe Smith, Trial by Medicine; ders., The Boundary Between Insanity and Criminal Responsibility in Nineteenth-Century England, in: Andrew Scull (Hrsg.), Madhouses, MadDoctors and Madmen. The Social History of Psychiatry in the Victorian Era, Philadelphia 1981; zum Aufnahmeverbot freiwilliger Patienten in staatliche Psychiatrien siehe Hearnshaw, Short History, S. 145; Bogacz, War Neurosis and Cultural Change, S. 229. 125 Stone, Shell Shock, 247. 126 Vgl. dazu ausführlicher Lerner, Hysterical Men, S. 175–185; anwesend waren 32 Mitglieder der Internationalen Psychoanalytischen Gesellschaft (nur Deutschland, Österreich, Ungarn) und 55 Gäste, darunter zwei Holländer, aber kein Brite; zu Freuds marginalisierter Position, ebd. S. 86.

308   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) Auffassung, dass für Kriegsneurosen in den meisten Fällen keine volle Psychoanalyse notwendig sei, weil die Soldaten in viel kürzerer Zeit und mit gleichem Effekt durch andere therapeutische Maßnahmen geheilt werden könnten.127 Was sich in den Zwischenkriegsjahren aber zweifellos weiterentwickelte, war ein tieferes Verständnis für das Zusammenspiel von Psyche und Umwelt, was in der Folge auch die Ansätze der wissenschaftlichen Kriminalitätsdebatten verfeinerte.128

6.4. Jugenddelinquenz und Bewährungsstrafe Während des Ersten Weltkriegs versetzte nicht nur das Phänomen des shell shock die britische Öffentlichkeit in Unruhe. Innenpolitisch bedeutsam war auch der plötzliche und substantielle Anstieg der Jugendkriminalität, der besonders von bürgerlichen Beobachtern mit Blick auf die moralische Stabilität der Heimatfront mit Sorge betrachtet wurde. Kamen vor dem Ersten Weltkrieg im Durchschnitt 37 500 junge Personen unter 16 Jahren vor ein Jugendgericht, so stieg im Jahr 1917 ihre Zahl auf 51 000. Nach dem Krieg gab es aber einen ebenso auf­fallenden Rückgang auf 30 000 Fälle im Jahr 1921.129 Während Regierung und Behörden eher von einem kriegsbedingten Anstieg ausgingen, sozialökonomisch argumentierten und nur zögerlich im Dezember 1916 mit der Einberufung eines Juvenile Organisations Committee auf die Entwicklungen reagierten,130 machten Reformgesellschaften und Kinderwohlfahrtsverbände Jugendkriminalität umgehend zu einem zentralen Thema ihrer Tagungen und Publikationen. Da die nachwachsende Generation die Zukunft einer Gesellschaft verkörperte, fungierte das Thema Jugenddelinquenz als Projektionsfläche für die Artikulation von Zukunftsängsten.131 Auf einer gemeinsam von der Howard Association, der Penal Reform League und der State Children’s Association am 21. Februar 1917 organisierten 127 Abgedruckt

in der Gemeinschaftspublikation: Sándor Ferenczi und Karl Abraham und Ernst Simmel und Ernest Jones, Psycho-Analysis and the War Neuroses, London, Wien und New York 1921, hier S. 59, siehe auch Bogacz, War Neurosis and Cultural Change, S. 255. 128 Auf die Kontinuität somatisch-neurologischer anstelle psychologischer Argumente in den shell shock Debatten auch in Großbritannien hat Joanna Bourke aufmerksam gemacht, dies., Dismembering the Male: Men’s Bodies, Britain and the Great War, London 1996; dies., Effeminacy, Ethnicity and the End of Trauma: The Sufferings of ‚Shell-shocked‘ Men in Great Britain and Ireland, 1914–39, in: Journal of Contemporary History 35 (2000), S. 57– 69. 129 Vgl. dazu Bailey, Delinquency, S. 17. 130 Zur staatlichen Reaktion siehe Clarke, Children’s Branch, S. 240–255; einen guten Überblick über den Bericht des Komitees (Board of Education, Juvenile Delinquency. Report of the Juvenile Organisations Committee, London 1920) gibt Alexander Carr-Saunders und Hermann Mannheim und E.C. Rhodes, Young Offenders. An Enquiry into Juvenile Delinquency, Cambridge 1942, S. 13–17. 131 So das Argument bei Geoffrey Pearson, Perpetual Novelty: A History of Generational Conflicts in Britain, in: Dieter Dowe (Hrsg.), Jugendprotest und Generationenkonflikt in Europa im 20. Jahrhundert. Deutschland, England, Frankreich und Italien im Vergleich, Bonn 1986, S. 165–178, hier S. 177; vgl. auch ders., Hooligan: A History of Respectable Fears, London 1983.

6.4. Jugenddelinquenz und Bewährungsstrafe   309

Konferenz über Juvenile Delinquency132 fasste der liberale Vorsitzende Lord Henry Cavendish-Bentinck,133 der später mit einer Abordnung im Innenministerium in gleicher Sache vorstellig wurde,134 die unter Sozialreformern vorherrschenden Überzeugungen in seiner Eröffnungsrede zusammen. Er führte dabei Jugendkriminalität auf multikausale Faktoren zurück, schloss erbliche Dispositionen aus und forderte erhöhte Anstrengungen im Bildungssektor: The public conscience has been much troubled lately at the great increase in juvenile delinquency. Juvenile delinquency is not due to one or two causes, or to any inherent fault in the rising generation itself. It is caused by general social neglect. […] it will diminish in proportion to the performance of our duties to the rising generation. […] Eighty per cent of the children who leave school at the age of 13 never come again within the influence of education.135

Jugenddelinquenz war kein neues Thema. Früher als in Deutschland zeigte sich in Großbritannien die Beunruhigung über Jugendkriminalität bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wo sie mit den Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozessen in Verbindung gebracht wurde.136 Mit Sorge nahm besonders das städtische Bürgertum die Herausbildung des städtischen Proletariats als einer neuen sozialen Klasse zur Kenntnis, deren kulturelle Lebensformen ebenso wenig bekannt waren wie ihre Einstellung zu traditionellen Werten. Die wahrgenommene Bedrohung, die für die Stabilität der bürgerlichen Gesellschaft von den Unterschichten ausging, wurde durch die früh zur Erwerbsarbeit gezwungenen jugendlichen Lohnarbeiter eingängig verkörpert.137 Mit 13 oder 14 Jahren aus der Schule ent132 Siehe

Juvenile Delinquency. Proceedings of a Conference held at Caxton Hall, Westminster, 21st February 1917, abgedruckt in The Penal Reformer. Quarterly Review 7 (1918), S. 58– 71. 133 Lord Henry Cavendish-Bentinck (1863–1931) war M.P. für N.W. Norfolk und South Nottingham und Mitglied der Penal Reform League, siehe Clarke, Children’s Branch, S. 248. 134 Siehe dazu Deputation to the Home Secretary, The Right Honourable Edward Shortt, K.C., M.P. at the Home Office, on Friday, 28th March 1918, in The Penal Reformer. Quarterly Review 8 (1919), S. 38–53; Bentinck führte als erster in die Problematik der Jugendkriminalität ein (ebd., S. 38). 135 Lord Henry Cavendish-Bentinck, Juvenile Delinquency. Proceedings, S. 58. 136 Zur beginnenden Wahrnehmung jugendlicher Delinquenz siehe May, Innocence and Experience, S. 7–23; Susan Magarey, The Invention of Juvenile Delinquency in Early NineteenthCentury England, in: Labour History 34 (1978), S. 11–25; Peter Rush, The Government of a Generation: The Subject of Juvenile Delinquency, in: Liverpool Law Review 14 (1992), S. 3–43; Peter King und Joan Noel, The Origins of „The Problem of Juvenile Delinquency“: The Growth of Juvenile Prosecutions in London in the Late Eighteenth and Early Nineteenth Centuries, in: Criminal Justice History 14 (1993), S. 17–41; statistisch gesehen kam es in England zwischen 1880 bis 1900 zu einer Abnahme von Jugenddelinquenz, in Deutschland dagegen zu einem 30% Anstieg; daraus allein aber die progressive oder konservative Haltung gegenüber Jugenddelinquenz abzuleiten, ist problematisch, vgl. Oberwittler, Von der Strafe zur Erziehung, S. 56–57; Oberwittlers Arbeit konzentriert sich vor allem auf die praktische Behandlung jugendlicher Straftäter in beiden Ländern, nur im Eingangskapitel kommt er kurz auf die Konzepte von Jugendkriminalität und ihren Ursprüngen zu sprechen (S. 22–39); für England betont er vor allem (die empiristische Tradition unterstreichend) die dominante ‚Alltagserfahrung‘, vermittelt z. B. durch die Howard Association oder die Schriften von Reverend William Douglas Morrison. 137 Weibliche Unterschichtenjugend, so betont auch Oberwittler, spielte in der Problemwahrnehmung nur eine untergeordnete Rolle, Oberwittler, Von der Strafe zur Erziehung, S. 25 f.;

310   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) lassen, avancierten sie als Folge der sozioökonomischen Veränderungen zu einer „erstrangigen Problemgruppe“.138 Sorge bereitete das Verhalten dieser jugendlichen Lohnarbeiter, die einen zahlenmäßig starken Bestandteil des Industrieproletariats ausmachten, weil sie verglichen mit traditionellen Lehrlingen, die während ihrer Ausbildung noch für einige Jahre der Autorität eines Lehrmeisters unter­ standen,139 einen relativ freien und selbständigen Status genossen: „Erwerbstätigkeit und eigenständiger Verdienst förderten in der Wahrnehmung der bürger­lichen Beobachter einen autoritätsfeindlichen Habitus der Arbeiterjugendlichen“.140 Die verfrühte Unabhängigkeit, so die bürgerliche Argumentation, führe zu einer Auflösung familiärer Bindung und damit Kontrolle und erhöhe den Wunsch nach Konsumgütern (z. B. Zigaretten und Kinobesuche). Eine ähliche Einstellung lässt sich, wie Dietrich Oberwittler herausgearbeitet hat, auch für Deutschland fest­ stellen. Wenn auch stärker als das englische habe das deutsche Bürgertum die Entstehung einer gefährlichen „Genusssucht“ der unteren Klassen erblickt, die angeblich auch Beschaffungskriminalität begünstigte. Das sich am bürgerlichen Maßstab gemessene defizitäre Familienleben der Unterschichten habe „die tiefe Divergenz zwischen den Lebenswelten des Bürgertums und der Unterschichten und die moralische Überheblichkeit des Bürgertums“141 widergespiegelt. Dabei habe es vor allem das deutsche Bürgertum nicht vermocht, zwischen echten kriminogenen Faktoren und einer proletarischen Alltagskultur (beengte Wohnverhältnisse, Frauenerwerbstätigkeit) zu unterscheiden. In England bildete allerdings, so hat das zweite Kapitel der vorliegenden Studie deutlich gemacht, dieses nur von der Kategorie der Klasse inspirierte Narrativ nicht die ganze Geschichte. Denn blickt man auf die zivilgesellschaftlich orientierten bürgerlichen Reformer, dann ergibt sich durchaus das Bild einer sozial lernfähigen englischen Philanthropie, die einen anderen Zugang zum Problem der Jugendkriminalität fand. Dabei soll gar nicht in Abrede gestellt werden, dass auch aus dieser Bewegung Kontrolle und Sozialdisziplinierung in Form von reformatory und industrial schools hervorgingen. Aber die Reformer setzten sich siehe auch Clarke, Children’s Branch, S. 252 f.: „The ‚raw material‘ [of professional intervention, S.F.] was persistently working class and male. Delinquency was a ‚censure‘ which was targeted at a specific social position and at particular social practices […] Female delinquency, very much a secondary question, revolved almost completely around sexuality. State intervention was directed to the reconstruction of girls ‚domesticity‘ – either as mothers, or as domestic servants (the main occupation for training in the certified schools for girls).“ 138 Oberwittler, Von der Strafe zur Erziehung, S. 30. 139 Auch William Tallack, Geschäftsführer der Howard Association, vermisste die stramme Zucht des Lehrherren, vgl.The Howard Association, Annual Report for 1876, S. 35; Annual Report for 1877, S. 14 f.; zu den deutschen Diskussionen Klaus Tenfelde, Großstadtjugend in Deutschland vor 1914. Eine historisch-demographische Annäherung, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 69 (1982), S. 182–218. 140 Oberwittler, Von der Strafe zur Erziehung, S. 31; in keiner Altersstufe klaffte die Lebenssituation zwischen Unter- und Mittelschicht stärker auseinander. Während die Unterschichtenjugend mit 13 oder 14 aus der Schule entlassen wurde und ihre Erwerbstätigkeit aufnahm, setzten für die höheren Bürgersöhne die entscheidenden Jahre ihrer Ausbildung ein. 141 Ebd., S. 29.

6.4. Jugenddelinquenz und Bewährungsstrafe   311

über stereotype Klassenvorurteile hinweg, indem sie ihr Augenmerk auf die ­Sozialisierungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen richteten und dabei stärker auf den Zusammenhang von Armut und Kriminalität verwiesen wurden. Diese ‚Umwelt‘-Argumentation hatte sich bereits im 19. Jahrhundert abgezeichnet. Für Mary Carpenter von der National Reformatory Union, die in materiellem Mangel und ungünstigen Umwelteinflüsse die zentralen Faktoren für Jugendkriminalität erblickte, bildeten die Delikte eines Jugendlichen „generally the direct effect of his having been placed in circumstances over which he has no control.“142 Und noch William Douglas Morrison, Mitglied der Humanitarian League, be­ tonte gegen Ende des 19. Jahrhunderts in seinem einflußreichen Buch über The Juvenile Offender, Jugendkriminalität sei „the necessary and natural outcome of the miserable individual and social circumstances of the juvenile offender.“143 In den Konzepten der Reformer wurden jugendliche Delinquenten mehr als Opfer denn als Täter beschrieben, da die Jugendlichen nicht für ihre Erziehung und für ihre Lebensumstände verantwortlich gemacht werden konnten. Wenn überhaupt, traf die moralische Verurteilung eher deren Eltern. So wies William Tallack, der Geschäftsführer der Howard Association, die Verantwortung den Eltern zu, indem er in Armut ein selbstverschuldetes Schicksal sah, das durch den Mangel an bürgerlichen Tugenden wie Fleiß, Sparsamkeit und Enthaltsamkeit, mithin durch die eigene fehlende Disziplin verursacht wurde.144 Auch staatliche Stellen operierten in Großbritannien vor der Jahrhundertwende mit der Vorstellung, dass es sich bei delinquenten Kindern vor allem um vernachlässigte Kinder handelte.145 Der Terminus parental neglect avancierte dabei, wie Oberwittler ebenfalls hervorhebt, „zum Standardbegriff elterlicher Mitverantwortung an der Fehlentwicklung ihrer Kinder“.146 Parental neglect meinte vor allem das Versagen der Eltern, moralische Erziehung und Disziplin zu vermitteln. Biologische Bestimmungen spielten bei der Bestimmung von Jugenddelinquenz dagegen weder bei den Sozialreformern noch in den staatlichen Behörden oder Kommissionen eine Rolle. 1896 schloss der parlamentarische Untersuchungsausschuss über reformatory and industrial schools körperliche oder geistige Defekte von Kindern und Jugendlichen als Ursachen ihrer Delinquenz aus: „Nothing has been more certainly demonstrated in the practical development of the reformatory system than that juvenile crime has comparatively little to do with any special depravity of the offender, but very much to do with parental neglect or bad example.“147 Zwar waren auch in England die bürgerlichen Deutungsmuster der 142 Zit.

nach Radzinowicz und Hood, The Emergence of Penal Policy, S. 168. Juvenile Offender, S. 180. 144 Vgl. The Howard Association, Annual Report for 1878; Oberwittler, Von der Strafe zur Erziehung, S. 27; Garland, Punishment and Welfare, S. 123–125. 145 Im deutschen Sprachgebrauch war eher von „Verwahrlosung“ die Rede, vgl. Oberwittler, Von der Strafe zur Erziehung, S. 30. 146 Ebd., S. 29. 147 Report on Reformatory and Industrial Schools (1896), S. 22, zit. nach Oberwittler, Von der Strafe zur Erziehung, S. 50. 143 Morrison,

312   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) Jugendkriminalität teilweise noch deutlich von der moralischen Verurteilung der kulturellen Lebensformen der Unterschichten geprägt, aber anders als in Deutschland verblasste hier, wie im Folgenden kurz aufgezeigt werden soll, aufgrund von sozialreformerisch inspirierten Untersuchungen über das Arbeitermilieu das Bild einer genusssüchtigen und damit korrumpierten Unterschicht. Dagegen konnte sich die Vorstellung der sozialen Benachteiligung der Unterschichtenjugend immer stärker durchsetzen,148 und zwar gerade aufgrund der Ergebnisse der empirischen Sozialstudien einiger Reformer.149 Zum Teil wurde diese neue Form bürgerlicher Sozialreform um die Jahrhundertwende von der sogenannten university-settlement-Bewegung ausgelöst, in deren Rahmen Studenten neuer Studiengänge (z. B. social study) als freiwillige Sozialarbeiter in Elendsquartieren und Unterschichtenvierteln in Industriestädten wie Manchester, Birmingham, Liverpool oder London wohnten und arbeiteten.150 Der direkte Kontakt zu den Arbeitern und Unterschichten sollte dazu beitragen, deren Lebenswelten und -weisen besser kennen zu lernen und durch den Erwerb konkreter Informationen diffuse Vorurteile abzubauen und neue Einsichten zu gewinnen.151 Zu den Studenten, die an diesen Programmen teilnahmen und 148 Vgl.

z. B. Morrison, Juvenile Offender, S. 31. 149 Oberwittler, Von der Strafe zur Erziehung,

S. 56; Oberwittler vertritt in seiner Arbeit die These, dass die Gründe für die totalitäre Entwicklung der Jugendkriminalpolitik, die sich in der Endphase der Weimarer Republik andeutete und im Nationalsozialismus realisiert wurde, nicht, wie Detlev Peukert (Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge von 1878 bis 1932, Köln 1986) annahm, bereits im Erziehungsgedanke der Reformkonzepte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts angelegt waren, sondern eher im allgemeinen gesellschaftlichen Kontext gesucht werden müssen und mit den latent „angespannten Sozialbeziehungen zwischen Unterschichten und Bürgertum und […] der Wahrnehmung sozialer Probleme durch relevante Gruppen und Schichten“ zu tun hatten (ebd. S. 16); „Bei der Reform der Jugendkriminalpolitik handelte es sich um ein internationales Phänomen, das in den meisten europäischen Ländern und in Nordamerika denselben Grundprinzipien folgte und von denselben Motivationen getragen wurde. […] Dass sich der Übergang von stationären zu ambulanten und von eher repressiven zu eher kooperativen Behandlungsansätzen der Jugenddelinquenz in Deutschland nur schleppend und unvollkommen vollzog, […] ist eines der wesentlichen Unterschiede in der Entwicklung der deutschen im Vergleich zur englischen Jugendkriminalpolitik.“ (Ebd., S. 19). Während sich in England ein Verständnis für die soziale Benachteiligung der Unterschichtenjugend entwickelt habe, hätten sich die deutschen Reformer „in ihrer Mehrheit für den kriminalpsychiatrischen Erklärungsansatz der Jugenddelinquenz und damit für eine abstrakte und pseudowissenschaftliche Variante der Konstruktion von Wirklichkeit“ entschieden. Mit der Entdeckung der „Unerziehbarkeit“ in Zusammenhang mit den Disziplinproblemen der Erziehung- und Zwangsanstalten entwickelte sich in Deutschland eine negative Dynamik (ebd., S. 345). 150 So hieß es z. B. im Liverpool University Settlement Report von 1911–12, die Einrichtung sei 1906 ins Leben gerufen worden, „to assist in the provision of means of education and recreation for the people in the poorer districts of the south end of Liverpool, to inquire into the social conditions of the poor, and to consider the advance plans calculated to promote their welfare.“ Zit. nach Hearnshaw, Cyril Burt, S. 30 f. 151 Zu ideologischen Entwicklung der Bewegung und zur Rolle des Manchester Guardian siehe Gertrude Himmelfarb, The Idea of Poverty. England in the Early Industrial Age, London 1984, S. 235–240.

6.4. Jugenddelinquenz und Bewährungsstrafe   313

­ abei unter anderem Jugendclubs gründeten und leiteten, gehörten neben Cecil d Leeson und Cyril Burt, auch Charles Russel und Alexander Paterson.152 Allein im Zeitraum zwischen 1906 und 1913 veröffentlichte Charles Russell zusammen mit seiner späteren Frau Lilian Rigby vier Studien über jugendliche Delinquenten und die von ihm in Manchester initiierten boys clubs.153 Russell argumentierte zwar auch, dass die Familiensituation und die Qualität der Erziehung eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Jugenddelinquenz spiele, machte aber nicht mehr die Eltern für die Sozialisierungsdefizite der Kinder und Jugendlichen verantwortlich, sondern die Gesellschaft. Diese sei „responsible for the conditions which produce and perpetuate the criminal“.154 Da Armut nach wie vor das zentrale Problem darstelle, müsse der Staat in die Pflicht genommen werden. Auch Russell und Rigby hielten nichts von biologistischen Erklärungsansätzen: „In certain cases crime may be the expression of a form of mental disease; in the majority its origins must not been sought in the individual, but in the conditions in which he is placed.“155 1911 wurde Russell Mitglied eines vom Innenminister Winston Churchill einberufenen Untersuchungsausschusses, der unter dem Vorsitz von Charles Masterman156 die reformatory schools des Landes prüfen sollte, nachdem ein Skandal über die Methoden einer dieser Schulen die Öffentlichkeit in Aufruhr versetzt hatte.157 1913 erschien der Bericht, der nicht nur er152 Cecil

Leeson, der 1916 Geschäftsführer der Howard Association wurde, beschäftigte sich in seiner Diplomarbeit (Social Study Higher Diploma, Birmingham University) mit dem Bewährungssystem, siehe Cecil Leeson, The Probation System, London 1914; der educational psychologist Cyril Burt wurde in den 1920 und 1930er Jahren zum führenden Experten in Fragen der Jugenddelinquenz, vgl. Kap. 6.7; Alexander Paterson wurde nach dem Ersten Weltkrieg Prison Commissioner, Charles Russell Leiter der Children’s Branch des Home Office. 153 Charles E.B. Russell und Lilian M. Rigby, The Making of the Criminal, London 1906; dies., Working Lads’ Clubs, London 1908; Charles E.B. Russell, The Young Gaolbird, London 1910; ders., Social Problems of the North, Manchester (Christian Social Union) 1913; siehe auch ders., The Borstal System, in: The Englishwoman 6 (1910), S. 19–24; ders., The Problem of Juvenile Crime, London (Barnett House Papers No. 1), London 1917 [Reprint New York 1981]. 154 Russell und Rigby, Making of the Criminal, S. 222. 155 Ebd. 156 Charles Frederick Gurney Masterman (1873–1927), enger Freund Churchills und Parlamentsmitglied (Liberal Party), gehörte zu den profiliertesten Anti-Imperialisten und kritisierte an Großbritanniens außenpolitischen Ambitionen, dass sie von den dringenden sozialen Reformen im Mutterland ablenkten und dadurch verzögerten. In seiner 1901 anonym erschienen Artikelserie From the Abyss schilderte er das Slumleben im Londoner Südosten, vgl. auch Charles Frederick Gurney Masterman (Hrsg.), The Heart of the Empire, London 1901; ders, The Peril of Change, London 1905; ders., The Condition of England, London 1909; ders., William Ballantyne Hodgson und Alfred George Gardner, To Colonize England. A Plea for Policy, London 1907. 157 Die Zeitschrift John Bull hatte 1910 einen Bericht über die Akbar Nautical Training School, eine Korrekturanstalt für jugendliche Straftäter, publiziert, in der es zu Todesfällen und exzessiver Gewaltanwendung gekommen war. Trotz einer sofort eingeleiteten Untersuchung des Innenministeriums war die Öffentlichkeit nicht zu beruhigen, zumal nicht nur John Bull, sondern auch The Nation den Bericht des Home Office für korrupt hielt. Winston Churchill reagierte auf die öffentlichen Vorwürfe mit der Einberufung einer unabhängigen Kommis­ sion, vgl. Clarke, Children’s Branch, S. 242, genauere Informationen finden sich auch in Julius Carlebach, Caring for Children in Trouble, London 1970.

314   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) neut – Diskussionen über diese Schulen gab es seit ihrer Schaffung in der Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder – eine stärkere Kontrolle und Finanzierung dieser Schulen durch den Staat forderte, sondern die Schulpraxis selbst modernisieren wollte. Ähnlich wie im Gladstone Report wurde in diesem Bericht die ­Anstellung eines auf Kindermedizin spezialisierten Arztes in den Anstalten empfohlen. Auf staatlicher Verwaltungsebene sollte zusätzlich ein medizinisch aus­ gebildeter Inspektor, wenn möglich eine Frau, berufen werden.158 Den größten Nachdruck legte die Kommission aber nicht auf das medizinische Wissen, sondern auf das pädagogische. Dieses bedürfe ihrer Auffassung nach dringend einer Modernisierung, weil für die Kinder – der Bericht sprach nicht von Delinquenten159 – nicht Strafe, sondern Erziehung im Vordergrund stehen müsse. Doch auch wenn die Kommission auf eine verbesserte Ausbildung des Erziehungspersonal pochte und darauf anspielte, dass sicherlich eine Verbresserung erzielt werden könne, wenn das Wissen über modernere Methoden der Erziehung unter den Lehrern weiter verbreitet wäre,160 so ließ sich aus ihrem Bericht doch nicht entnehmen, worin diese neuen Erziehungskonzepte eigentlich bestehen sollten. Klar schien nur, dass die alten Formen disziplinarischen und mechanischen Lernens von der Kommission überholt und ineffizient seien. Während medizinisches Wissen etwas über die Natur des Kindes und seine geistigen und körperlichen Kapazitäten aussagen konnte, erhoffte man sich vom neuen Erziehungswissen offensichtlich Aufklärung darüber, auf welche Weise und durch welche Praktiken die Transformation von Kindern in rationale und sozialkompetente Erwachsene über Bildung positiv gelingen konnte. In der Aufklärung solcher Prozesse lag möglicherweise, so nahm man an, auch der Schlüssel zur Erklärung von Fehlentwicklungen. Während die meisten Beamten des Innenministerium bislang auf Erziehungstheorien verzichtet und sich diesbezüglich eher in einem ‚agnostischen Pragmatismus‘161 geübt hatten, veränderte sich diese Haltung teilweise mit der Berufung von Männern wie Charles Russell, die aus der praktischen Sozialarbeit kamen und solchen neuen Wissensbeständen gegenüber extrem aufgeschlossen waren – wo immer solche Theorien auch entwickelt wurden. Ihre Modernisierungsforderungen begründeten sie jedenfalls gerne mit dem Verweis auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse. 1913 wurde Russell zum Chief Inspector of Reformatory and Industrial Schools berufen. Seine Arbeit wurde der im gleichen Jahr geschaffenen Children’s Branch 158 Die

Kommission begründete dies mit der besonderen Beziehung zwischen Frauen und Kindern und dem ‚weiblichen Blick‘ auf die Einrichtungen und ihre Funktionen: „A woman will often notice points seriously affecting the comfort and welfare of children especially points connected with matters of domestic arrangement that may escape the notice of a man.“ Departmental Committee on Reformatory and Industrial Schools, S. 15. 159 Vgl. Clarke, Children’s Branch, S. 244: „The ‚progressiveness‘ of the report did not cohere around the question of delinquency nor did it identify a ‚delinquent subject‘. The inmates of the schools were first and foremost identified as children.“ 160 Departmental Committee on Reformatory and Industrial Schools, S. 31, Hervorhebung S.F.; hier zit. nach Clarke, Children’s Branch, S. 244. 161 So die treffende Umschreibung von Clarke, Children’s Branch, S. 254, Anm. 9.

6.4. Jugenddelinquenz und Bewährungsstrafe   315

des Innenministeriums unterstellt. Die Children’s Branch war für alle Aspekte der Kinder- und Jugendpflege und des Jugendstrafrechts verantwortlich. Ihre Gründung ging auf den Children’s Act von 1908 zurück.162 Im Dezember 1916 übernahm Charles Russel zusätzlich den Vorsitz des ebenfalls vom Innenministerium eingerichteten Juvenile Organisations Committee, dessen Aufgabe in der Koordinierung von Freizeitaktivitäten verschiedener Jugendorganisationen und -vereine bestand. Russel sei mit der Leitung dieser ständigen Kommission betraut worden, so erklärte der Home Office Beamte G.A. Aitken auf der Konferenz über Juvenile Delinquency 1917, „not because he is the Chief Inspector of Reformatory Schools, but because he is a very well-known worker in boys clubs and knows the facts thoroughly.“163 Als Russell Ende 1917 überraschend starb, folgte der Kinderarzt A.H. Norris auf seinen Posten. Norris kam ebenfalls aus der settlement-Bewegung und hatte zusammen mit Russell in Manchester in der Jugendarbeit gearbeitet.164 Auch Alexander Paterson, der, wie bereits erwähnt, nach dem Krieg zu einem prominenten Prison Commissioner aufstieg, hatte im Rahmen seiner praktischen Sozialarbeit die lebensweltlichen Bedingungen der sozial benachteiligten Jugendlichen erfahren. 1911 veröffentlichte er Across the Bridges, einen Bericht, in dem er seine Erfahrungen in Bermondsey, einem Londoner Arbeiterviertel südlich der Themse, schilderte.165 Als 1915 die zweite Auflage des Buches erschien, wurde sie von Arthur St. John von der Penal Reform League bereits als „a classic amongst social workers“166 bezeichnet. Was das bürgerliche Lesepublikum generell an den 162 Das

1908 verabschiedete Gesetz (Children‘s Act) schaffte die Todesstrafe und schwere Gefängnisstrafen für Jugendliche unter 16 Jahren ab; es verbot die Inhaftierung von Kindern und Jugendlichen unter 14 Jahren in staatlichen Gefängnissen; bei schweren Vergehen wurden Jugendliche zwischen 12 bis 16 Jahren nun generell in eine Erziehungsanstalt eingewiesen; der Aufenthalt in einer Erziehungsanstalt durfte maximal 5 Jahre und das 19. Lebensjahr nicht überschreiten; Kinder unter 7 Jahren wurden für strafunmündig erklärt, Kinder unter 12 Jahren durften nicht in eine Reformatory Schools eingewiesen werden; daneben erhöhte das Gesetz den Opferstatus von Kindern, indem Inzest das erste Mal unter Strafe gestellt wurde, bestimmte Maßnahmen und Beschränkungen von Kinderarbeit festgeschrieben wurden und spezielle Jugendgerichte unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschaffen wurden (siehe Ruggles-Brise, English Prison System, S. 101–110; Goring, English Convict, S. 211, Anm.+); die Einführung dieser neuen Bestimmungen, besonders die Schutzbestimmungen für Kinder und Jugendliche auf dem Arbeitsmarkt und in der Familie, ging auf die langjährige Lobbyarbeit von Kinderhilfsorganisationen – und Vereinigungen wie der 1864 gegründeten National Society for the Protection of Cruelty to Children (NSPCC) zurück; das Gesetz bedeutete allerdings auch eine deutliche Zunahme staatlicher Kontrolle und Regulierung des Familienlebens, zum Beispiel bei notorischen Schulschwänzern oder Fällen von Gewalt und Grausamkeit gegen Kinder (vgl. Clarke, Children’s Branch, S. 253). 163 Kommentar von G.A. Aitken, Home Office, Juvenile Delinquency. Proceedings, S. 68 f., hier S. 69. 164 Siehe dazu Clarke, Children’s Branch, S. 245 f.; Carlebach, Caring for Children, S. 131; A.H. Norris nahm als Mitglied der offiziellen britischen Delegation am Berliner Kongress der Internationalen Gefängniskommission teil, siehe Kap. 5.8. 165 Alexander Paterson, Across the Bridges of Life by the South-London River-Side, London 1911. 166 Besprechung der 2. Auflage Across the Bridges (London 1915) von Arthur St. John in seinem Artikel „Helping the Adolescent“, in: The Penal Reform League. Quarterly Review 7 (April 1918), S. 52–54, hier S. 53.

316   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) Publikationen aus der settlement-Bewegung beeindruckte, waren die erfahrungsgesättigten Beschreibungen von Autoren, die aus eigener Anschauung das Elend und die Probleme der Arbeiterschichten kennen gelernt hatten. Statt weiterhin auf Mutmaßungen angewiesen zu sein und die Arbeiter- und Elendsquartiere als befremdliche und suspekte Orte anzusehen, klärten diese Publikationen über Menschen und eine Lebenswelt auf, die zu begreifen gar nicht so schwer war. In besonderer Weise trugen auch die Studien und Untersuchungen sozial engagierter Frauen aus der bürgerlichen Mittelschicht zu dieser Aufklärung bei. Diese Frauen führten eigene Interviews im Arbeitermilieu durch und sammelten dabei aufschlussreiche Informationen. Ihr Augenmerk richteten sie dabei besonders auf die Lebensumstände von Arbeiterinnen. Anna Martin, Vorsitzende einer lokalen school-care-Kommission, schilderte auf einer Konferenz über Jugendkriminalität aufschlussreich ihre ungewöhnlich anmutenden Arbeitsmethoden: Some two years ago [1915, S.F.] I made a special study of drink among married women, and my articles came out in The Nineteenth Century and After. I did not go to the Church leaders or the health or school inspectors, but went to women I knew well, and I said, ‚Think of all the women you have known among your relations, friends or neighbours, who have taken to drink, and come up to my house on such and such an evening and tell me about it.‘ I took notes of what they said, and really the unanimity was remarkable. They had had no communication at all with each other; but they all came to the same conclusion: that women took to drink from despair, or misery, or hopelessness.167

Die Nachfrage nach solchen Sozialberichten, die nicht zuletzt von den statistischen Untersuchungen von Charles Booth und Seebohm Rowntree inspiriert worden waren, war groß. Zu einem viel gelesenen Klassiker wurde Maud Pember Reeves Round about a Pound a Week.168 Die Autorin beschrieb in ihrem Buch lebhaft die Zustände in den Elendsvierteln Londons und führte genau Buch über Einnahmen und Ausgaben von Arbeiterfamilien. Alles wurde beziffert und berechnet. Im Gegensatz zu den aus Unkenntnis genährten Vorurteilen über die angebliche Verschwendungssucht der Unterschichten und ihrer mangelnden Sparsamkeit und ökonomischen Voraussicht, kam die selbsternannte Sozialforscherin zu dem Ergebnis, dass es aufgrund des geringen Einkommens der unteren Schichten schlichtweg unmöglich sei, ein nach bürgerlichen Vorstellungen anständiges Leben zu führen. Pember Reeves hielt es für eine Anmaßung der Mittel- und Oberschichten, den unteren Schichten Vorschriften über ihre Lebensführung machen zu wollen. So sei es geradezu grotesk, wenn ein medizinischer Berater seiner Zuhörerschaft aus „West-end ladies“ empfehle, diese sollten ihren Einfluss geltend machen und die Arbeitermütter davon überzeugen, dass Milch das beste Nahrungsmittel für ihre Kinder sei: He [the medical adviser, S.F.] was, however, wrong in his idea that poor women do not realize that milk is the proper food for infants. The reason why the infants do not get milk is the reason why they do not get good housing or comfortable clothing – it is too expensive. Milk costs the same, 4d. a quart, in Lambeth that it costs in Mayfair. A healthy child ought to be able to use a

167 Anna

168 Maud

Martin, Juvenile Delinquency. Proceedings, S. 65 f. Pember Reeves, Round About a Pound a Week, London 1913.

6.4. Jugenddelinquenz und Bewährungsstrafe   317 quart of milk a day, which means a weekly milk bill for that child of 2s. 4d. – quite an impossible amount when the food of the whole family may have to be supplied out of 8s. or 9s. a week. […] The children of the poor suffer from want of room, want of light, want of air, want of warmth, want of sufficient and proper food, and want of clothes, because there is not enough to pay for these necessaries.169

Anlagebedingte physische Unterlegenheit konnte auch Pember Reeves bei den Arbeiter­kindern nicht ausmachen, doch glaubte sie, dass die Einflüsse einer schäd­lichen Umwelt langfristig ihren Tribut forderten: [T]he outstanding fact about the children was not their stupidity not their lack of beauty – they were neither stupid nor ugly – it was their puny size and damaged health […] Those amongst them who were born during the investigation were, with one exception, normal cosy, healthy babies, with good appetites, who slept and fed in the usual way. They did not, however, […] fulfil their first promise. At one year of age, their environment had put its mark upon them.170

Während des Krieges ließen die bürgerlichen Reformerinnen keinen Zweifel da­ ran, dass sich die Lage von Arbeiterfrauen noch weiter verschlechterte. Gleichzeitig zollten sie diesen Frauen großen Respekt: Many of us who have studied this subject [poor women of this country, S.F.] at first hand are simply struck speechless with admiration at the way the women pull through; no class has ever shown more heroic endurance. We hear of the endurance of the men in the trenches, but there the men are sustained by esprit de corps, while the woman fights her battle alone, with hardly anyone realising her terrible lot.171

Mit solchen Aussagen bereiteten die bürgerlichen Sozialforscherinnen nicht nur indirekt der Labour Party einen günstigen Boden für ihren Erfolg nach dem Krieg, sondern ihre Untersuchungen und Berichte veränderten auch den Blick auf Jugendkriminalität. Die Funktion der Familie als primärer Ort kindlicher Sozialisation rückte noch stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Nicht Unkenntnis oder Ignoranz bestimmten die unterschiedlichen Lebensformen der Klassen, sondern oft unüberwindbare materielle Sachzwänge, d. h. vor allem Armut. Elterliche Vernachlässigung sollte deshalb nach Ansicht der empirischen Sozialforscherinnen nicht als Ausdruck intendierter elterlicher Bösartigkeit, sondern als Zeichen ihrer enormen Erschöpfung gedeutet werden. The Times Educational Supplement stimmte im September 1918 dieser Auffassung zu: „What […] all of us need to realize is that moral training must be given in the home, and that it cannot be given unless the parents have leisure and energy and well-being of their own enough to give it.“172 Das Wohl des Kindes wurde mit dem Wohl der Eltern in Verbindung gebracht und für beide sollte die Gemeinschaft günstigere Bedingungen schaffen. Man könne solange den Kindern nicht Gerechtigkeit (justice) widerfahren lassen bis

169 Pember

Reeves, Round About a Pound a Week, S. 99, S. 175; siehe auch die Besprechung des Buches in The Penal Reformer. Quarterly Review 6 (1914), S. 57–59. 170 Pember Reeves, Round About a Pound a Week, S. 193–194. 171 Anna Martin, Juvenile Delinquency. Proceedings, S. 65, Hervorhebung S.F. 172 Times Educational Supplement, 12. September 1918, S. 387, zit. nach Oberwittler, Von der Strafe zur Erziehung, S. 51, Anm. 116.

318   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) auch den Eltern Gerechtigkeit widerfahre, erklärte Arthur St. John.173 Auch der Beschluss, der aus der Konferenz über Juvenile Delinquency im Februar 1917 hervorging, brachte diesen Zusammenhang klar zum Ausdruck: That juvenile delinquency is largely the result of the community’s neglect of the children and of their parents (especially the mothers), and is to be combatted by providing for all children a full education for life, including ample scope for play, and for all parents the means of performing their duties efficiently, rather than by punishing delinquents without helping them to a better use of their time and energies.174

Da Armut nicht nach moralischer Bevormundung verlangte, sondern nach aktiver Unterstützung, musste der Staat stärker in die Pflicht genommen werden. Progressive Jugendrichter wie William Clarke Hall, Vorsitzender der 1913 gegründeten National Association of Probation Officers (NAPO) und Mitglied der Penal Reform League und der Magistrates’ Association,175 schlossen sich dieser Auffassung an: „A child who is ill-educated, badly housed, insufficiently fed, without proper opportunity for, or means of, recreation, will inevitably tend to drift into crime, however good his natural tendencies may be. […] It is to be noted that for many of these conditions the State is itself largely to blame.“176 Wenig überraschend stimmte der erste Arbeitsbericht der Children’s Branch des Innenministeriums, der 1923 veröffentlich wurde und deutlich die Handschrift des aus der university settlement-Bewegung kommenden A.H. Norris trug, mit der Auffassung der Reformer überein. Der Bericht betonte den Zusammenhang zwischen Armut und Gesetzesübertretung177 und lehnte biologistische Vermutungen kategorisch ab. Sie würden nur von jenen ins Feld geführt werden, die sich auf eine aktive Veränderung der sozialen Verhältnisse durch verbesserte Bildungschancen nicht einlassen wollten: „Mental defect is too often stated as the primary cause of delinquency in children. It is often put forward as an excuse for an offence, and is used as an argument for neglecting the education of a child who is really only backward. […] Poverty seems to be undoubtedly at the bottom of much of the delinquency among children.“178 Alle Kinder, das war die Botschaft des Berichts, waren gleich. Statt ihr Verhalten zu pathologisieren, sollten bestimmte delinquente Erscheinungsformen als tendenziell normal und temporär eingestuft werden: „The same spirit of mischief and adventure is found in chil173 Sammelbesprechung

von Büchern und Konferenzen zum Thema „The Emanzipation of the Child“ in The Penal Reformer. Quarterly Review 7 (1918), S. 22–48, hier S. 23. 174 Arthur St. John, Juvenile Delinquency. Proceedings, S. 69. 175 Zu William Clarke Hall siehe Clarke, Children’s Branch, S. 250; die National Association of Probation Officers wurde nach der Verabschiedung des Probation of Offender Act von 1907 im Jahr 1913 gegründet; die Magistrates Association wurde 1920 ins Leben gerufen. 176 William Clarke Hall, The Aims and Work of the Children’s Courts, in: The Child 11 (1920–1921), S. 198–200, hier S. 199, zit. nach Oberwittler, Von der Strafe zur Erziehung, S. 51; siehe auch William Clarke Hall, The Delinquent Child, in: The Child 8 (1917–1918), S. 316–321; ders., The State and the Child, London 1917, S. 6; ders., Children’s Courts, London 1926. 177 Siehe Home Office, Report on the Work of the Children’s Branch, London 1923, zit. nach Carr-Saunders et al., Young Offenders, S. 15. 178 Home Office, Report Children’s Branch (1923), S. 8.

6.4. Jugenddelinquenz und Bewährungsstrafe   319

dren of all classes of the community, but those from the poorer homes are in many instances not under adequate control or have not sufficient opportunities for giving proper expressions to their energies.“179 Innerhalb der sozialreformerischen Debatten über Jugenddelinquenz in England standen immer wieder zwei Aspekte im Vordergrund: die Sorge um die Kinder und ihre Grundversorgung, die auch etwas mit dem Wohl der Eltern zu tun hatte, und die adäquate (Weiter-)Bildung und Beschäftigung von Jugendlichen, besonders wenn sie frühzeitig die Schule verlassen hatten. Die Forderung nach besseren Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, nach gesunden Aktivitäten von Kindern und jungen Menschen,180 die zugleich das Bedürfnis nach neuem pädagogischen und psychologischen Wissen wachsen ließ, wurde durch die besonderen Umstände des Ersten Weltkrieg verstärkt.181 Auf der Konferenz über Jugenddelinquenz hob Cecil Leeson, Bewährungshelfer, Laienrichter (magistrate) und seit 1916 Geschäftsführer der Howard Association,182 diese besonderen Gründe für Jugenddelinquenz, die es in dieser Form vor dem Krieg noch nicht gegeben habe, hervor.183 Über sechs Millionen Männer waren in Armee und Marine eingezogen, über eine halbe Million Frauen, viele davon Mütter, die nie zuvor gearbeitet hatten, waren in der Kriegswirtschaft tätig, über 12 000 Schulen waren geschlossen und viele von ihnen zu Militärhospitälern umfunktioniert worden, 20 000 männliche Lehrkräfte fehlten, der öffentliche Schulunterricht war auf die Hälfte reduziert und ca. 150 000 bis 200 000 Kinder frühzeitig aus der Schule entlassen worden. Für Leeson waren die Auswirkungen der kriegsbedingten sozialen und ökonomischen Veränderungen auf die Familienverhältnisse zentral. Aufgrund einer von ihm selbst vorgenommenen Auswertung von 1371 Fällen straffällig gewordener Kinder und Jugendlicher zwischen 8 und 16 Jahren, die 12 Monate vor und 24 Monate nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor das Jugend­gericht in Birmingham gekommen waren, befand er diejenige Familien­ situation am problematischsten, in der der Vater durch Kriegsdienst vollständig abwesend und zugleich nun solche Mütter berufstätig waren, die zuvor nicht ge179 Ebd.;

Oberwittler deutet diese Passage als „abgemilderte Variante der viktorianischen Angst von den Abgründen der Seele und der kriminalanthropologischen These vom „Wilden“ im Kinde“, ohne den Zusammenhang zu den Debatten über shell shock, Psychologie und Pädagogik zu erkennen (siehe Kap, 6.13.); die deutschen Diskussionen seien dagegen ohnehin „durch die überzogenen und pessimistischen Krankheitsthesen der Psychiater belastet (gewesen), die von den Juristen mit ihrer ebenso großen Distanz zu den Lebenswelten den Unterschichtsjugendlichen aufgegriffen“ worden seien, siehe Oberwittler, Von der Strafe zur Erziehung, S. 52, S. 55. 180 Leeson, Juvenile Delinquency. Proceedings, S. 70. 181 Vgl. Oberwittler, Von der Strafe zur Erziehung, S. 54; The Times, 18. Oktober 1916, S. 5; 19. Oktober 1916, S. 7; Times Educational Supplement, 18. Januar 1917, S. 27. 182 Zu Cecil Leeson siehe auch Kap. 1.3.; ab 1920 gehörte Leeson auch der Magistrates Association an. 183 Cecil Leeson, Juvenile Delinquency. Proceedings, S. 58–62, hier S. 59; seine Überlegungen und Argumente legt Leeson dann wenig später in seinem Buch The Child and the War, ­London 1917, ausführlicher dar; eine Zusammenfassung des Buches findet sich auch in Carr-Saunders et al., Young Offenders, S. 12 f.

320   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) arbeitet hatten. Diese Konstellation bedeutete für die Kinder die größte Umstellung.184 Auffällig häufig – dies wurde vom Innenministerium bestätigt185 – wurden die meisten Straftaten in allen Bezirken des Landes von Jugendlichen zwischen 12 und 13 Jahren verübt. Vieles sprach tatsächlich für einen Zusammenhang zwischen der frühen Schulentlassung und dieser Gruppe junger Delinquenten. Nach Ansicht Leesons lag die Aufgabe der Gesellschaft darin, für mehr Betreuungs- und Freizeitangebote zu sorgen. Statt bei der Diffamierung ‚herumlungernder‘ Jugendlicher, ihrer angeblichen Konsumsucht und dem negativen Einfluss des Kinos stehen zu bleiben, also eine media scare zu schüren, empfahl er den Kritikern eigenes Engagement: „Why on earth do you not run your own show?“186 Das dies nicht leicht war, wusste auch Leeson: I think we hardly realise the great amount of care that is necessary for lads who are leaving school and going to work. […] the point is that now there is no one to do the holding-in or to give direction; and surely it is a tremendous responsibilty to turn lads into a complicated society such as we have to-day without oversight and guidance, simply leaving them to do as they like.187

Eine bessere Koordinierung und Kooperation der bereits existierenden Jugendvereine und Clubs schien dringend geboten, und Leeson lobte ausdrücklich die Schaffung eines Juvenile Organisations Committee, in dem ein weiterer settlement-Mitarbeiter, Charles Russell, den Vorsitz führte, durch das Innenministerium. Von einem richtigen Ansatz geleitet habe das Innenministerium gerade kein Komitee von Delinquenz-Experten berufen, sondern eine Vereinigung aus erfahrenen Leitern von Mädchen- und Jungen-Organisationen.188 Leeson begrüßte hier auch die Bemühungen des Education Department, das mit dem Ausbau sogenannter play centres für jüngere Kinder begonnen hatte. Dass sich der Diskurs über Jugenddelinquenz mehr und mehr zu einem Diskurs über pädagogische Fragen auswachsen würde, zeichnete sich bereits einige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg ab: „We are out of the realm of penology as once understood“, schrieb die Times im Juli 1914: „We are face to face with a difficult 184 Untersuchungen

über Kinder, deren Väter in den Krieg ziehen (Afghanistan, Irak), sind in den vergangenen Jahren an der Universität Boston in Zusammenarbeit mit dem US Militär durchgeführt worden. Probanden waren die Kinder in den Kindergärten einer großen Militärbasis. Das Ergebnis scheint nahe zu legen, dass offenbar sogar diejenigen unter dem Krieg leiden, die noch gar nicht so genau wissen, was Krieg überhaupt bedeutet. Alle Kleinkinder konnten zwischen bloßer Abwesenheit der Väter aufgrund von Reisen und ihrer Entsendung in Kriegs- und Krisengebiete unterscheiden und reagierten entsprechend, siehe „Krieg im Kindergarten“, Der Spiegel 46 (10. 11. 2008), S. 87. 185 Vgl. dazu den Kommentar von G.A. Aitken [Vertreter des Innenministeriums], Juvenile Delinquency. Proceedings, S. 68: „We have figures from half-a-dozen of the big cities which confirm the views which have been already expressed […] that the great majority of the ­offences are committed by children of 12 or 13. It is quite remarkable how that comes out in every town. […] the earlier age at which the children are now being released from school has a good deal to do with the increase.“ 186 Leeson, Juvenile Delinquency. Proceedings, S. 61. 187 Ebd. 188 Ebd., S. 62.

6.4. Jugenddelinquenz und Bewährungsstrafe   321

educational problem.“189 Die immer stärkere Hinwendung zu fundamentalen Bildungs- und Erziehungsfragen190 verdankte sich ohne Zweifel dem Einsatz von Gesellschaften wie der Penal Reform League und der Howard Association. Eine Deputation ihrer Mitglieder versuchte am 28. März 1918 Innenminister Edward Shortt dazu zu bewegen, stärker als bisher in Bezug auf Jugenddelinquenz etwas Neues in Richtung ‚Freiheit‘ zu wagen „and really to set about trying some educative process“.191 Obgleich sich Shortt in seiner Funktion als Home Secretary nicht auf eine Diskussion über die Reformierung des Täters einlassen wollte und am offiziellen Abschreckungsparadigma festhielt, hatte er doch andererseits nichts gegen mehr Bildung in den Gefängnissen und Erziehungsanstalten einzuwenden: „[T]he system of education in the prisons […] could be extended and improved in my humble view. At any rate, that is my view“.192 Probleme bereiteten ihm allerdings die finanziellen Belastungen, die durch einen damit verbundenen Anstieg an Personalkosten verbunden waren.193

Der säkularisierte Verbesserungsimpuls: Bewährungsstrafe und ihre wissenschaftliche Grundlage Für die bürgerliche Reformbewegung besaß die Konzentration auf Erziehungsund Bildungsfragen eine eigene innere Logik. Sie bezeichneten ein klar definiertes Betätigungsfeld.194 Doch ähnlich wie in Zusammenhang mit der Sicherungsverwahrung und den reformatory schools stellte sich besonders nach Einführung der Bewährungsstrafe die Frage, was eigentlich gute Erziehung auszeichnete und ­wodurch der Bewährungshelfer einen positiven Einfluss ausüben könnte. Seit der Verabschiedung des Children Act von 1908195 standen den Richtern der durch dieses Gesetz geschaffenen Jugendgerichte zwölf verschiedene Strafformen für ­jugendliche Delinquenten zur Verfügung, wobei die Einweisung in reformatory und industrial schools und die Bewährungsstrafe, die ihrerseits auf den Probation of Offenders Act von 1907 zurückging, die beiden am häufigsten gewählten darstellten. Nach anfänglicher Zurückhaltung der Jugendrichter und nach mehreren Aufforderungen durch das Innenministerium, von der Bewährungsstrafe größeren Gebrauch zu machen, stieg ihre Zahl nach dem Krieg deutlich an. 1925 wurde bei 6357 jugendlichen Straftätern eine Bewährungsstrafe ausgesprochen, während nur 578 in reformatory schools eingewiesen wurden. Das waren mehr als die ­Hälfte

189 The

Times, 8. Juli 1914, S. 9; zit. nach Oberwittler, Von der Strafe zur Erziehung, S. 11, Hervorhebung S.F. 190 Arthur St. John, Juvenile Delinquency. Proceedings, S. 70. 191 Ders., Deputation to the Home Office, S. 42, Hervorhebung S.F. 192 Edward Shortt, Deputation to the Home Office, S. 52. 193 „[W]e have to tackle the Treasury“, Antwort von Edward Shortt, Deputation to the Home Office, S. 48–52. 194 Vgl. Arthur St. John, Helping the Adolescent, in: The Penal Reformer. Quarterly Review 7 (1918), S. 52–54. 195 Siehe dazu Anm. 162 in diesem Kapitel.

322   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) weniger als noch im Jahr 1913.196 Während die Leiter der ohnehin von der Öffentlichkeit mit Skepsis betrachteten reformatory schools befürchten mussten, dass sie bei einer Zunahme dieser Tendenzen auf Dauer ihrer Klientel beraubt würden, und sich darüber beklagten, dass ihre Arbeit und ihre Erfolge in der Öffentlichkeit nicht angemessen zur Kenntnis genommen würden,197 betonten die Reformgesellschaften, dass die Bewährungsstrafe die effizienteste Methode sei, um die dringend notwendige Erziehung (education) der delinquenten Jugendlichen nachzuholen. Tatsächlich waren es die Vertreter von Penal Reform League, Howard Association, der State Children’s Association und des Committee on Wage Earning Children, einer speziellen Arbeitsgruppe der Howard Association, die mit diesem Argument und durch das wiederholte Vorstelligwerden in Whitehall zwischen 1907 und 1914 das Home Office dazu drängten, die Laienrichter zum häufigeren Gebrauch der Bewährungsstrafe aufzufordern.198 Die Reformgesellschaften blieben aber nicht bei der Propagierung der Bewährungsstrafe stehen. Sie wollten dieses System selbst einer grundsätzlichen Reform unterziehen und forderten den Einsatz professionell ausgebildeter, aus öffent­ lichen Geldern finanzierter Vollzeit-Bewährungshelfer. Was sie ablehnten, waren die in erster Linie von der Church of England Temperance Society (CETS) durch ihre Police Court Missions eingesetzten christlichen Laien-Bewährungshelfer.199 Indirekt übten sie aber auch Kritik am Einsatz ungeschulter, freiwilliger Sozialarbeiter durch die Charity Organisation Society (COS), einer Dachorganisation, die die Tätigkeit verschiedener Wohlfahrtverbände in Zusammenarbeit mit den staatlichen Poor Law authorities koordinierte.200 Cecil Leeson und William Clarke Hall 196 Home

Office, Departmental Committee on the Treatment of Young Offenders, S. 13, hier zit. nach Clarke, Children’s Branch, S. 246. 197 Tatsächlich waren die Rückfallquoten der Zöglinge Anfang der 1920er Jahre mit 10 bis 15% die niedrigsten, die jemals registriert worden waren (wenn sie stimmen), siehe Clarke, Children’s Branch, S. 246. 198 Vgl. ebd., S. 247. 199 Traditionell stellte die CETS die meisten Bewährungshelfer, vgl. William McWilliams, The Mission to the English Courts 1876–1936, in: The Howard Journal 3 (1983), S. 129–147. 200 Die Charity Organisation Society versuchte dabei auf der Grundlage von Statistik und cases studies und durch ein System freiwilliger Inspektoren, die Hausbesuche bei Familien durchführten, Wohltätigkeit effizienter zu gestalten (siehe Richardson, Love and Eugenics, S. 62, Anm. 16); einen zeitgenössischen Überblick über ihre Tätigkeit gibt die Mitarbeiterin Helen Dendy Bosanquet, Social Work in London 1869–1912: A History of the Charity Organisation Society, London 1914; eine historische Studie über ihre Tätigkeit ist Charles L. Mowat, The Charity Organisation Society 1869–1913: Its Ideas and Work, London 1961; zu den neueren Interpretationen siehe besonders Andrew W. Vincent, The Poor Law Reports of 1909 and the Social Theory of the Charity Organization Society, in: Victorian Studies 27 (1984), S. 343–363; Stedman Jones, Outcast London, Kap. 15 und 16; auch Richardson, Love and Eugenics, S. 59–61; in der Forschung bestehen unterschiedliche Auffassungen über die ‚Ideologie‘ der COS, einige Historiker sehen darin immer noch die auf traditionellen moralischen Werten basierende Wohlfahrtsarbeit (Stichwort: deserving/undeserving poor), andere (wie Andrew Vincent) interpretieren die COS schon als modernen Sozialdienst, dem es durch eine Neuformulierung des Liberalismus um eine adäquate Reaktion auf die Bedürfnisse der Kommunen auf sachlicher, wissenschaftlicher Basis (Orientierung an den Ergebnissen der social sciences) ging; vgl. dazu auch den Kommentar von C.S. Loch (Geschäftsführer der

6.4. Jugenddelinquenz und Bewährungsstrafe   323

forderten dagegen eine vollständige Übernahme und Zentralisierung des Be­ währungsstrafensystems durch den Staat und die Abschaffung einer doppelten Kontrolle (dual control) durch staatliche Sanktion und private christlich-philanthropische Betreuung.201 Der Historiker John Clarke bezeichnet die Versuche der Reformer nicht ganz zu Unrecht als „the professional colonization of delin­ quency“,202 denn alte Fürsorgeformen für Strafentlassene sollten durch moderne ersetzt werden. Diese Professionalisierung ließ sich nur durch den Bezug auf ­neues, für die Ausübung des Dienstes relevantes Wissen rechtfertigen. Ähnlich wie Karl Pearson, aber doch stärker zivilgesellschaftlich verankert, wollte besonders Cecil Leeson von der Howard Association die Grundlage des Agierens staatlicher Beamte rationalisieren. Ob in der Schule oder als Bewährungshelfer, die Praxis der staatlichen Mitarbeiter sollte auf wissenschaftlichen Grundlagen be­ ruhen. Der ‚Verbesserungsimpuls‘ sollte sich säkularisieren, indem er nicht mehr auf christlicher Tugend, sondern auf wissenschaftlichen Grundlagen basierte. Langfristig setzten sich die Modernisierer mit ihrer Forderung nach einer Professionalisierung des Bewährungssystems durch,203 wobei sich dieser Erfolg einer Kombination aus außerstaatlichen pressure group-Aktivitäten und einer aufgeschlossenen, inzwischen von ehemaligen settlement-Reformern durchdrungenen Beamtenschaft verdankte. Der Criminal Justice Act von 1925 machte schließlich die Ernennung eines Bewährungshelfers allgemein zur Pflicht und überstellte das Ernennungsverfahren einem aus den entsprechenden magistrates des jeweiligen Bezirkes zusammengesetzten Komitee.204 Unter dem Druck dieser Veränderungen passten sich auch die CETS und die COS den modernen Trends an und ­gingen dazu über, ihren auch weiterhin freiwillig agierenden Sozialarbeitern und Bewährungshelfern ein professionelles Training zu ermöglichen.205 Die Professionalisierung des Bewährungssystems verlangte neues Wissen, und zwar nicht nur über den Straftäter und die Art und Weise, wie auf ihn positiv Einfluss ausgeübt werden konnte, sondern auch über den Bewährungshelfer und über die Mechanismen der Interaktion zwischen ihm und seinem Klienten. Bei seiner Verabschiedung hatte der englische Probation of Offenders Act von 1907 nur die landläufigen Vorstellungen von good leadership, Charakterstärke und einer sehr einfachen Psychologie der persönlichen Einflussnahme bemüht, die auch mit den christlichen Vorstellungen traditioneller Philanthropie kompatibel waCOS) zu Galtons Eugenikvortrag an der LSE 1904 in Sociological Papers 1/1904 (1905), S. 65, wo er von wissenschaftlichen Prinzipien deren Beweisbarkeit einfordert. 201 Siehe Leeson, The Probation System, Chapter 3; William Clarke Hall, The State and the Child, London 1915. 202 Clarke, Children’s Branch, S. 252. 203 „After a thirty-year struggle [1933, S.F.] the ‚progressives‘ had built up a fully professionalized probation service based on a ‚scientific‘ and ‚rational‘ expertise“, Clarke, Children’s Branch, S. 249. 204 Vgl. ebd., S. 248. 205 Siehe dazu Halliday, Sociological Movement, S. 390; Clarke, Children’s Branch, S. 252; ­William McWilliams, The Mission Transformed: Professionalisation of Probation Between the Wars, in: The Howard Journal 24 (1985), S. 257–274.

324   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) ren.206 Aber reichte eine solche Bestimmung aus, um Erfolge zu garantieren? Die Reformer hatten sich zwar mit ihrer eigenen empirischen Sozialforschung um erste Ansätze bemüht, aber was fehlte, waren Erkenntnisse über die Entwicklungsprozesse von Kindern und Jugendlichen, mithin Erkenntnisse aus Entwicklungspsychologie, empirischer Psychologie und Pädagogik. Bei der Beantwortung der Frage „What is a bad home?“207 ging es ja nicht nur, so argumentierte die Sozialreformerin Anna Martin, um die Feststellung materieller Mängel. Kinder seien keine kleinen Tiere, die nur gefüttert und angezogen werden müssten. Es seien Wesen mit emotionalen, spirituellen und moralischen Bedürfnissen, die darauf angewiesen seien, sich unter möglichst günstigen Bedingungen im Familienverband entwickeln zu können. Doch auf welche Weise funktionierte der Familienverband? Wie und wodurch wirkten gute oder schlechte Vorbilder? Wie hatte man sich die positiven oder negativen Übertragungs- oder Beeinflussungsmechanismen überhaupt vorzustellen? Wie genau wirkte sich elterliche Vernachlässigung, beabsichtigt oder nicht beabsichtigt, auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen aus? Konnte man durch pädagogische Bemühungen gegensteuern? Was hatte die Erwerbsstruktur innerhalb der Familie mit der Entstehung von Jugenddelinquenz zu tun? Diese und ähnliche Fragen und die Überzeugung, dass sie dringend einer Klärung bedurften, bereiteten in Großbritannien ein äußerst günstiges Klima für die Aufnahme der 1915 publizierten Studie The Individual Delinquent des Amerikaners William Healy. Die Insel war ‚reif‘ für eine neue wissenschaftliche Annäherung an das Problem der Jugendkriminalität und zeigte dabei eine hohe Lernbereitschaft. Wenn Erziehung statt Strafe mehr sein sollte als eine – letztlich doch nur wieder in ­neuem Gewande daher kommende – repressive Durchsetzung bürgerlicher Verhaltensnormen in den Unterschichten, wenn Erziehung statt Strafe etwas mit der Herstellung eines kompetenten und von öffentlichen Zuwendungen unabhängigen Bürgers zu tun haben sollte und mit dem Versuch, den Verlust einer Generation zu verhindern, dann waren alle neuen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Jugenddelinquenz äußerst willkommen.

6.5. William Healy – The Individual Delinquent (1915) Als in den 1930er Jahren Arthur Fink, Soziologieprofessor am Department of Sociology an der Universität von Pennsylvania, einen Überblick über die Entwicklung kriminologischer Theorien in den USA veröffentlichte, deutete er William

206 Probation of

Offenders Act (1907): „The value of probation must necessarily depend on the efficiency of the probation officer […] personality is everything. The probation officer must be a picked man or women, endowed not only with intelligence and zeal, but in a high degree with sympathy, tact and firmness. On his or her individuality the success or failure of the system depends.“ hier zit. nach Leeson, Probation System, S. 86, Hervorhebung S.F. 207 Anna Martin, Juvenile Delinquency. Proceedings, S. 62 f., hier S. 62.

6.5. William Healy – The Individual Delinquent   325

Healys Untersuchung über The Individual Delinquent208 aus dem Jahr 1915 als entscheidende Zäsur: Healy’s contribution was his establishment of the case study of the individual offender and his concept of the essentially dynamic character of the human personality. This method and this concept stand out so boldly in contrast to the studies of the preceding hundred years that they may be said to signalize a new approach to the study of the individual offender in the United States. […] his monumental volume of 1915 marks the transition from the old to the modern era in this country.209

Nicht nur in den USA erregte Healys Untersuchung Aufsehen und förderte die Bereitschaft staatlicher Behörden, im Umgang mit jugendlichen Straftätern neue Wege der Analyse und Therapie einzuschlagen. Auch und gerade in England entsprachen Healys methodische Ansätze und Schlussfolgerungen geradezu kongenial den Vorstellungen vieler Sozialreformer in der Howard Association oder Penal Reform League, zugleich aber auch der aufstrebenden Gruppe junger Psychologen, Psychoanalytiker und professioneller Sozialarbeiter.210 Der Sprecher der Penal Reform League, Arthur St. John, informierte zum Beispiel bereits 1911 das englische Publikum in einem Zeitschriftenbeitrag über die Forschungen Healys, dessen Juvenile Psychopathic Institute er in Chicago persönlich aufgesucht hatte.211 Für die öffentliche Beurteilung von Charles Gorings Studie The English Convict war es nicht unerheblich, dass bereits zwei Jahre nach deren Erscheinen mit Healys Publikation methodische Alternativen und neue Einsichten in die ­Beurteilung des Wesens krimineller Straftäter und ihrer Motivation formuliert ­wurden, die dem politischen Zeitgeist in England weitaus mehr entsprachen als ­Gorings biometrischer Zugang. Zwar hatte auch Charles Goring auf den letzten ­Seiten seiner Studie die Überzeugung geäußert, der Forscher müsse das Labor verlassen und die Untersuchungen von Straftätern verlegen – „beyond the prison walls, and into the homes and haunts of the offenders when at large“.212 Aber die Auswertung und Interpretation der auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse wollte Goring anders als Healy stets auf statistisch-mathematischem Wege gewährleistet sehen. Es spricht für die relativ rasche und gründliche Rezeption von Healys The Indivdiual Delinquent durch englische Sozialreformer, dass Karl Pearsons Annahme von Gorings epochemachender Leistung auf dem Gebiet der Kriminologie von

208 William

Healy, The Individual Delinquent. A Text-Book of Diagnosis and Prognosis for all concerned in understanding Offenders, Chicago 1915 [zitiert wird im Folgenden nach der Ausgabe Boston 1927]. 209 Fink, Causes of Crime, S. viii–ix. 210 Zum Einfluss Healys in England siehe auch Forsythe, Penal Discipline, S. 159. 211 Siehe Arthur St. John, Crime and Eugenics in America, in: Eugenics Review 3 (1911), S. 118–130; trotz des Titels und des Publikationsorgans war St. John kein Eugeniker und auch kein Mitglied der Eugenischen Gesellschaft. Die Arbeit von Healy dürfte Eugeniker weniger interessiert haben, dafür aber andere, von St. John vorgestellte Schultypen, z. B. die New Jersey Training School for Feeble-minded Girls and Boys at Vineland, New Jersey. 212 Goring, The English Convict, S. 373, Anm. *.

326   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) bestimmten Kreisen angezweifelt wurde. „In his Introduction to this abridged edition“, so kritisierte der Penal Reformer: Professor Karl Pearson writes as if he thought that it was Goring’s work which led to the psychopathic institutes and ‚laboratories of criminology‘, as he calls them, in America. Perhaps he is unaware that while Goring and his colleagues were carrying out their measurements and working up statistics, some of them on rather flimsy foundations, Dr. Healy and others were doing some of the more fundamental work […] investigations particularly into the minds of young offenders.213

Nach dem Ersten Weltkrieg, so wird zu zeigen sein, war es nicht Gorings, sondern Healys Arbeit, von der die wesentlichen Impulse für die Weiterentwicklung englischer Kriminalitätsforschung ausgingen. Durch die Analyse von Fallstudien als methodischer Verfahrensweise und der Entwicklung des Konzept einer dynamischen Persönlichkeit, das den Ansätzen englischer Anthropologen wie Rivers, Myers, Bartlett und McDougall weitgehend entsprach und zugleich den pädagogisch orientierten Sozialreformern plausibel erschien, brachte Healy zusammen, was in den meisten Kriminalitätsdebatten bislang getrennt behandelt worden war.

Zum Kontext der Studie William Healy, Associate Professor für Geistes- und Nervenkrankheiten (Neurologie) am Polyklinikum in Chicago, leitete als Direktor das zunächst für fünf Jahre ausschließlich durch private Mittel finanzierte Juvenile Psychopathic Institute. Gegründet 1909, hatte dieses Institut seinen Sitz am Jugendgericht von Chicago.214 Durch die Berufung von Jugendrichtern, Psychologen, Medizinern, Bewährungshelfern, Institutsleitern, Pädagogen und Sozialarbeitern verschiedener Jugendeinrichtungen in einen dem Institut zugeordneten Beirat entstand ein Netzwerk interdisziplinärer Zusammenarbeit. Alle Mitglieder des Beirates besaßen eigene Erfahrungen mit jugendlichen Straftätern und brachten diese in das Projekt ein. Für die psychologisch ausgebildeten Mitarbeiter wurde ein eigenes Büro eingerichtet. Gerade in diesem Bereich war der Frauenanteil hoch, da Healy davon überzeugt war, dass aufgrund ihres besseren Zugangs zu Kindern und Jugendlichen psychologische Tests besonders gut von Frauen durchgeführt werden könnten. Im April 1914, ein Jahr bevor Healy seine Untersuchungsergebnisse veröffentlichte,215 wurde das Institut auf Bestreben des Jugendgerichtes von Cook 213 The Penal Reformer 9 (1920), S. 82. 214 Siehe zu den Informationen Healy, Individual

Delinquent, Vorwort, S. vii; und im Anhang Appendix B: Organisation of the Juvenile Psychopathic Institute, S. 809 f.; zur frühen Einrichtung von Jugendgerichten in den USA siehe Karl Tilman Winkler, Reformers United. The American and the German Juvenile Court, 1882–1923, in: Nobert Finzsch und Robert Jütte (Hrsg.), Institutions of Confinement. Hospitals, Asylums, and Prisons in Western Europe and North America, 1500–1950, Washington D.C. 1996, S. 235–283; zum Konzept des progressivism siehe Richard L. McCormick, Public Life in Industrial America, 1877–1917, in: Eric Foner (Hrsg.), The New American History, Philadelphia 1990, S. 93–118. 215 Ähnlich wie Goring hatte auch Healy vor der eigentlichen Publikation seine Datensätze publiziert und erläutert: William Healy, A System for Recording Data Concerning Criminals, in: Journal of the American Institute of Criminal Law and Criminology (July 1910) (Bulle-

6.5. William Healy – The Individual Delinquent   327

County unter Zustimmung des zuständigen Board of County Commissioners in eine staatliche Einrichtung überführt. Healy blieb Direktor, die Ärztin Augusta F. Bronner wurde seine Stellvertreterin,216 drei weitere Mitarbeiter wurden fest ­angestellt. Healy war davon überzeugt, dass diejenigen, die mit jugendlichen Straftätern zu tun hatten, nicht mit dem notwendigen Wissen ausgestattet waren, um zu ­einer angemessenen Beurteilung des individuellen Straftäters gelangen zu können.217 Als ausgesprochener Kenner der kriminologischen Literatur europäischer und amerikanischer Provenienz218 kritisierte er deren Theorielastigkeit: „There is astonishingly little in the literature of criminology which is directly helpful to those who have to deal practically with offenders. Of general theory there is no lack, but when we come to that study of the individual which leads to clear ­understanding and scientific treatment, there is almost no guidance.“219 Die Bereitstellung eines solchen für die Praxis relevanten Wissens war das erklärte Ziel seiner Großstudie.220 Im Mittelpunkt stand die Erprobung und Präsentation von arbeitsfähigen Methoden, die zu überzeugenden Diagnosen und Prognosen jugendlicher Straftäter führen sollten.221 Die Erforschung der Ursprünge mensch­ lichen Verhaltens sollte für Eltern, Lehrer, Bewährungshelfer, Mediziner, Pastoren, Sozialarbeiter und -therapeuten zu einer „instruction in at least the fundamentals of social adjustment“222 werden. Deren dadurch gewonnene Vertrautheit mit den ‚wissenschaftlichen Wahrheiten des mentalen und moralischen Lebens‘ sollte die Reformarbeit verbessern helfen, d. h. zu einem „more efficient human service“223 führen. Healys Studie konzentrierte sich ausschließlich auf jugendliche Straftäter. Das hatte gute Gründe: Seit den frühen englischen Untersuchungen von John Clay, Henry Lettsom Elliot, Joseph Fletcher und William Douglas Morrison, auf die sich Healy ausdrücklich als seine wissenschaftlichen Gewährsmänner berief, war der Zusammenhang zwischen den höchsten Kriminalitätsraten und einem betin Nr. 2, Dezember 1909); ders., Further Development of a System for Recording Data Concerning Criminals (Bulletin Nr. 12, April 1913). 216 Später setzte er seine Arbeit in der Judge Baker Foundation in Boston fort. 217 Die der Untersuchung vorangestellten Zitate formulierten dabei das Programm, z. B. aus Plato’s Theætetus „Socrates: And yet, O my friend, if true opinion in law courts and knowledge are the same, the perfect judge could not have judged rightly without knowledge.“ 218 Davon zeugt nicht nur die umfangreiche Bibliographie im Anhang von Healy, The Individual Delinquent, S. 791–808, sondern auch die permanente Bezugnahme auf diese Literatur im 788-seitigen Untersuchungstext. 219 Healy, Individual Delinquent, S. 3. 220 „All who have to deal with offenders need the utmost possible understanding of human beings.“ Healy, Individual Delinquent, S. viii. 221 Ebd., S. 5. 222 Ebd., S. 7, Hervorhebung S.F. 223 Ebd. S. 8; auch und vor allem Juristen bedurften eines solchen Wissens: „Certainly the facts we have to show clearly indicate that from knowledge of the springs of conduct in the ­offender we may hope a thousand times more reasonably for a wise adjustment of his case than from the application of artificial legal rules and punishments.“ Ebd.

328   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) stimmten Alter eine anerkannte Tatsache.224 Weil Healy die Voraussetzungen in England mit denen in den USA für vergleichbar hielt, verwies er schon aufgrund des Mangels an geeigneten amerikanischen Statistiken225 auf diesbezügliche ­Ergebnisse englischer ‚Kriminologen‘, wie er sie nannte, und die Statistiken der englischen Blue Books.226 Auch Goring, auf den sich Healy ebenfalls bezog, hatte ­statistisch nachgewiesen, dass das „principal age for recruiting into the ranks of criminal life is between 15 and 20, as judged by the first convictions of 2204 English habitual offenders.“227 Bei diesen Zahlen handelte es sich lediglich um das Alter der ersten Verurteilung. Was nicht erfasst wurde, war das Alter, in dem die erste Straftat, möglicherweise unentdeckt, begangen wurde. Was folgte daraus? Für Healy deuteten die Altersangaben klar in eine Forschungsrichtung: „[T]he determinants of delinquent careers are the conditions of youth“.228 Es galt, die spezifischen Jugendbedingungen, äußere wie innere, genau aufzuschlüsseln. Die Unabgeschlossenheit jugendlicher Persönlichkeitsentwicklung und die zeitliche Nähe zur gerade erst durchlaufenden Kindheit boten dabei Untersuchungsvorteile, da das Wissen über frühe Krankheiten oder besondere Vorfälle in der Geschichte des jugendlichen Straftäters noch nicht vergessen waren.229 Hinzu kam, dass sowohl die Kooperationsbereitschaft von Eltern und Verwandten als auch die Bereitschaft der jugendlichen Straftäter selbst noch relativ hoch war. Gerade diese waren noch nicht, wie bei älteren Straftätern häufig zu beobachten, so gegen die Gesellschaft eingenommen, dass eine konstruktive Zusammenarbeit nicht mehr möglich war. Therapieerfolge, auch das hatte sich he­ rumgesprochen, waren bei Jugendlichen aufgrund ihrer ‚Plastizität‘ leichter zu erzielen.230 In gleicher Weise wie englische Psychiater Ende des 19. Jahrhunderts und später die shell-shock-Ärzte Smith und Pear argumentierte auch Healy 1915: Mit einer Untersuchung und Therapie müsse so früh wie möglich begonnen werden.231 Da nach Healys Auffassung jeder delinquente Charakter das Resultat eines langsamen Wachstumsprozesse war,232 sollte die Erforschung des Anfangs, eine Analyse der konstituierenden Faktoren der Entwicklungsgeschichte jugendlicher 224 Vgl.

ebd., bes. S. 10 f.; Healy verweist auf die Konferenzen der Londoner Statistical Society und der Social Science Association. 225 Der Mangel an amerikanischen Zahlen wurde noch 1910 auf dem Internationalen Gefängniskongress in Washington öffentlich beklagt. 226 Zum Folgenden siehe Healy, Individual Delinquent, S. 10 f.; zu Clay, Elliot und Morrison siehe Kap. 2. 227 Siehe ebd., S. 10; Goring, English Convict, S. 160; Healy lagen noch nicht die durch den Krieg korrigierten Zahlen vor. 228 Healy, Individual Delinquent, S. 11; vgl. ebd. S. 12: „Data about family traits, early characteristics, and environment may be worth much for explanation of the offender’s tendencies.“ 229 Ebd., S. 11. 230 Vgl. dazu ebd., S. 12: „Both for the human interest and for the scientific elucidation of fundamentals, one would demand alteration of circumstances during a period when the individual was still plastic.“ 231 Ebd., S. 38. 232 Beide Zitate: ebd., S. 4.

6.5. William Healy – The Individual Delinquent   329

Straftäter sowohl für die Wissenschaft als auch die kriminologische Praxis neue Erkenntnisse produzieren.233 Das von Healy eingeforderte Wissen ließ sich nicht aus der vorhandenen Literatur eruieren, denn sie wurde den Anforderungen der neuen Wissenschaften nicht gerecht.234 Es blieb nur die Option, dieses Wissen selbst herzustellen. Healy und seine Mitarbeiter sammelten und katalogisierten Informationen von 1000 jugendlichen Rückfalltätern, 694 männlichen und 306 weiblichen, vorwiegend im Alter zwischen 15 und 16 Jahren.235 Nicht nur die Mitarbeiter der regionalen Jugend­gerichte empfahlen jugendlichen Straftätern die Teilnahme an der Studie, auch besorgte Eltern, kirchliche Seelsorger und Lehrer wandten sich mit ihren Problemfällen an das Institut.236 Gerade das Interesse und Vertrauen, das die ­Eltern der Arbeit des Institutes entgegenbrachten, sei, so Healy, das ermutigenste Zeichen ihrer Arbeit gewesen.237 Ein minimaler Konsens zwischen den Eltern und dem Institut konnte also vorausgesetzt werden, denn die Teilnahme basierte auf Freiwilligkeit, nicht Zwang. Die medizinischen und psychologischen Untersuchungen, die Durchführung bestimmter Tests, das Aufnehmen und Auswerten externer Informationen (z. B. aus Justiz- und Gefängnissakten) sowie die Befragung von Familienangehörigen nahmen pro Straftäter mehrere Tage in Anspruch. In die Studie aufgenommen wurden nur solche Straftäter, die bereits mehrfach durch kriminelles Verhalten auffällig geworden waren und bei denen erzieherische Maßnahmen versagt hatten. Für die Untersuchung irrelevant war die Gruppe der – „merely transgressors of the moment“238 – nur einmal straffällig gewordenen Jugendlichen. Aber auch eine zweite Gruppe interessierte Healy wissenschaftlich wenig: die Gruppe der geistesschwachen bzw. geistesgestörten jugendlichen Straftäter. Ihre Diagnose, so Healy, sei einfach gewesen, auch müsse ihr geistiges Unvermögen in den meisten Fälle als Ursache ihres kriminellen Verhaltens angesehen werden. Sie waren nur „secondarily criminals.“239 Aber trotz der Anerkennung solcher Fälle erteilte ­Healy der Gleichsetzung von Kriminalität und Krankheit gleich zu Beginn seiner Studie eine deutliche Absage.

Methodendiskussion Das Konzept einer dynamischen Persönlichkeit und die möglichst umfassende Aufschlüsselung der konstituierenden Faktoren ihrer Entwicklung bestimmten die Wahl der Untersuchungsmethoden. Was Healy anstrebte, war nichts weniger als die Kombination einer Vielzahl unterschiedlicher Methoden aus dem natur233 Ebd. 234 Vgl.

ebd., S. 9. S. 140. 236 Vgl. ebd., S. 14. 237 Ebd., Anm. 1. 238 Ebd., S. 38. 239 Ebd., S. 17, Anm. 1. 235 Ebd.,

330   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) und sozialwissenschaftlichen Bereich: aus Medizin, Neurologie, Psychiatrie, Soziologie, Anthropologie und Psychologie.240 Das Schema, nach dem die Daten der einzelnen Straftäter erhoben wurden, war folgendes: 1. Familiegeschichte, besonders auch erbliche Belastungen; 2. Entwicklungsgeschichte (auch vorgeburtliche Bedingungen); 3. Umwelteinflüsse; 4. geistige und moralische Entwicklung; 5. Anthropometrie, inklusive Photographie; 6. medizinische Untersuchung (Neurologie/Psychiatrie).241 Wie wenige vor ihm thematisierte Healy Vorzüge und Grenzen seiner Methoden und diskutierte beeinflussende Faktoren bei bestimmten Versuchsanordnungen oder Befragungen, die die Ergebnisse verfälschen konnten.242 Innerhalb seiner Methodendiskussion wurde deutlich, dass er die Möglichkeiten der Statistik und der Anthropometrie für begrenzt hielt.243 Für case studies, wie Healy sie im Auge hatte, konnten Statistiken immer nur einen Teil zur Wahrheit beitragen. Was allgemeine Trends in kriminellem Verhalten betraf, so mochte man durch sie zu einigen Schlussfolgerungen kommen; über den je einzelnen, individuellen Fall ließ sich mit ihrer Hilfe wenig gewinnen: „Statistics will never tell the whole story.“244 Ähnlich kritisch war Healys Haltung gegenüber statistischen Verfahren, die die Wahrscheinlichkeit erbbedingter krimineller Eigenschaften betraf. Von einer erblichen Belastung ließ sich in seiner Studie nur in 15 von 1000 untersuchten Rückfalltätern eindeutig sprechen, aber selbst bei diesen 15 jugendlichen Straftätern ließen sich andere, sogar dominantere Faktoren ausmachen.245 Healy kritisierte die in statistischen Verfahren, wie der von Goring, zugrunde gelegten Kriterien. Wie sollte Geistesschwäche diagnostiziert werden, wenn keine psychologischen Untersuchungen und Tests durchgeführt wurden? Sollte elterliche Vernachlässigung schon als Subnormalität gewertet werden? „It is certainly true“, so gab er zu bedenken, „that even when a parent may appear dirty, careless and brutal this is no real evidence of subnormality.“246

240 Ebd., S. 18: „[S]tarting

from no criminological theory, our attempt has been to obtain all the available facts by combination of all methods which bid fair to offer explanatory results. The more recent conceptions of individual study carry one far beyond external and anthropometric details.“ 241 Siehe § 48 in Healy, Individual Delinquent, S. 53. 242 Zu den besonderen Bedingungen der Interviewsituation (Büro, Ausstattung, Anzahl der teilnehmenden Personen, Eigenschaften der Interviewer, Erstellung der records etc.) siehe ebd., S. 34 f.; zur Durchführung der psychologischen Tests und der Fehlerquellen, ebd. S. 49–53; innerhalb der Darstellung und Illustration einzelner Fallbeispiele im zweiten Teil des Buches (Cases, Types, Causative Factors, S. 183–187) werden die einzelnen Probleme verschiedener Versuchsanordnungen noch genauer beschrieben. 243 Vgl. ebd., S. 126–130; ebd. S. 5 f.: „The statistical method has been carried by us only so far as common sense would warrant, and we have tried to make neither this nor any other form of interpretation a fetish.“ 244 Ebd., S. 130, Hervorhebung im Original. 245 Vgl. ebd., S. 153–157. 246 Ebd., S. 156.

6.5. William Healy – The Individual Delinquent   331

Der Anthropometrie maß Healy wenig bis gar keine Bedeutung zu.247 Es scheint kein Zufall, dass sich sein Rekurs auf Gorings Arbeit einzig auf den Teil beschränkte, der sich mit der Widerlegung von Lombrosos Annahmen beschäftigte.248 Gerade Gorings Arbeit habe bewiesen, welche engen Grenzen der Anthropometrie als erkenntnisgewinnender Methode mit Blick auf die Kriminalitätsgenese und Verbrecherkonstitution gesetzt seien.249 Doch auch ohne Gorings Vorarbeit wäre Healys Meinung über sie kaum besser ausgefallen. Obgleich bis zu diesem Zeitpunkt in Amerika vergleichsweise wenig Anthropometrie betrieben wurde, hatten die wenigen Arbeiten amerikanischer Anthropologen, darunter die des wohl bekanntesten unter ihnen, Franz Boas, den großen Einfluss von Umweltfaktoren auf das körperliche Erscheinungsbild von Menschen demonstriert.250 Healy hielt dies für einen wichtigen Befund, der all jenen entgegen zu halten sei, „who […] correlate criminality as such with anthropometric measure­ments.“251 Das sich die Form ausgeübter Tätigkeiten, die Art der Lebenspraxis, die klimatischen und geographischen Verhältnisse auf das Aussehen einer Person auswirkten, ja langfristig immer zu Veränderungen führten, das hatte bereits der von Healy sehr geschätzte und oft zitierte englische Gefängnisarzt James Devon in seiner 1912 erschienenen Studie über The Criminal and the Community formuliert.252 Das Aufzeigen der Grenzen von Statistik und Anthropometrie diente Healy dazu, jene neuen Methoden in den Mittelpunkt zu rücken, von denen er sich mehr Aufschlüsse über die Genese einer kriminellen Konstitution erhoffte: In the light of these facts and of the constructive possibilities of our own findings we have become certain that the development of mental tests and psychological analysis is doing more towards the establishment of true theories and of practical classification of criminals than all other methods of study combinded. In the past there has been great mistaking of incidentals for essentials.253 247 Siehe

dazu ausführlicher das 5. Kapitel (Anthropometry) in Healy, Individual Delinquent, S. 57 f. 248 Ebd., S. 17, Anm. 2: „Just now there is newly before us the monumental work of Goring who, better than any one, proves from his extensive studies of the physique of English convicts the non-existence of a criminal anthropological type.“ 249 Vgl. ebd., S. 57 und S. 57, Anm. 1: „The high hope of leaders of the anthropometric school of criminologists not having been fullfilled […] the detailed work to be done in this field with prospect of valuable results is, according to our best authorities, decidedly limited. […] Goring’s classical anthropological study […] gives us the most authoritative statement of the narrow limitations of that field that has yet appeared.“ 250 Vgl. dazu Franz Boas, Changes in Bodily Form of Descendents of Immigrants, Washington (Government Printing Office), 1910; der aus Deutschland emigrierte Boas zählte zu den Diffusionisten, der rassische Erklärungen für kulturelle Unterschiede ablehnte: „There is no fundamental difference in the ways of thinking of primitive and civilized man.“ Vgl. ders., The Mind of Primitive Man [1. Auflage 1911], hier zit. aus dem Vorwort der überarbeiteten Ausgabe von 1938 (New York) in Kuper, Anthropologie, S. 361. 251 Vgl. Healy, Individual Delinquent, S. 17, Anm. 2. 252 James Devon, The Criminal and the Community, London 1912; Healy stellte auch ein Zitat Devons aus diesem Buch seiner eigenen Untersuchung voran: „There is only one principle in penology that is worth any consideration: it is to find out why a man does wrong and make it not worth the while.“ James Devon war Mitglied der Penal Reform League und Gegner der Eugeniker. 253 Healy, Individual Delinquent, S. 17.

332   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) Tatsächlich war Healys Hinwendung zu psychologischen Tests etwas Neuartiges in der zeitgenössischen kriminologischen Literatur. Überzeugt davon, dass der angewandten Psychologie in der Aufklärung der „mental mechanisms“254 eine große Zukunft in der Kriminalitätsforschung bevorstehe,255 führten Healy und seine Mitarbeiter neben den üblichen medizinischen Untersuchungen und Be­ fragungen256 eine ganze Reihe psychologischer Tests mit den jugendlichen Delinquenten durch.257 Getestet wurden in Anlehnung an Simon und Binet258 die ­allgemeine Intelligenz und spezielle Fähigkeiten und Funktionen wie z. B. moto­ rische Koordination, räumliche Wahrnehmung, Lernfähigkeit (z. B. aus fehlgeschlagenen Versuchen zu lernen oder von gemachten Erfahrungen zu profitieren), Voraussicht und Planung, moralische Unterscheidungsfähigkeit, Sprachkompetenz u. a. m.259 Jeder Testaufbau und seine Durchführung wurden in der Studie minutiös beschrieben, Versuchsanordnungen und die verwendeten Materialien photomechanisch reproduziert. Die Ergebnisse wurden unter Kategorien von A bis M eingeordnet, gestuft von „above ordinary ability and information with reference of age and social advantages“ bis hin zu „Psychosis“.260 Stets zurückgebunden blieben die Ergebnisse an das Alter und die soziale Herkunft des Probanden.

Studies into the mind of the offender Für Healy bildete die menschliche Geistestätigkeit (mind) den Ausgangspunkt aller menschlichen Handlungen. Handlungen waren Ausdruck mentaler Inhalte: Ideen, Wünsche und Impulse.261 Dabei war es zweitrangig, ob diese Impulse und Wünsche bewusst oder unbewusst waren. Wenn geistige Überlegungen menschlichen Handlungen unmittelbar vorausgingen, dann folgte daraus, dass alles, was das Individuum beeinflusste, zuerst dessen Geist beeinflusst haben 254 Völlig

zu Recht kritisierte Healy Arbeiten, die angeblich eine „psychology of the criminal“ verfolgten, „which nevertheless deal with psychology in only the most indirect way, without development of a methodology, and which really set us onward very little towards a better understanding of the mental mechanisms standing as immediate precursors of delinquent conduct.“ Ebd., S. 30, Anm. 1, Hervorhebung S.F.; auch Goring hatte noch keine psychologischen Tests angewendet. 255 Vgl. dazu ebd., S. 31, Anm. 1: „There can be no question but that applied psychology is in the infancy of a mighty growth, and that our field is in large part its field.“ 256 Siehe dazu ebd., S. 61 f.; neben den üblichen Untersuchungen wie z. B. Hör- und Sehfähigkeit wurden allgemeine Angaben zum Verlauf der Pubertät und der Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale festgehalten: bei Mädchen u. a. Beginn der Menstruation, Brustentwicklung; bei Jungen u. a. Stimmbruch, Bartwuchs etc. 257 Zum Folgenden vgl. ebd., S. 82–103 (working methods). 258 Popularisiert wurden die Tests in den USA u. a. von H. H. Goddard, A Measuring Scale of Intelligence, Vineland/NJ (The Training School) 1908 [Reprint Januar 1910]; ders., The Binet and Simon Tests, 1905 Series, Vineland/NJ (The Training School) 1908; ders., Standard Method of Scoring Binet Tests, Vineland/NJ (The Training School) 1913; siehe auch Kap. 6.1. 259 Vgl. dazu Healy, Individual Delinquent, S. 79–103. 260 Vgl. ebd., S. 113. 261 Ebd., S. 26.

6.5. William Healy – The Individual Delinquent   333

musste.262 Frühere Arbeiten hatten sich nicht die Mühe gemacht, sich auf diese psychischen Voraussetzungen der Straftäter einzulassen.263 Für Healy waren mit ihnen aber die zentralen Ursachen für das Begehen von Straftaten verbunden. Dadurch kam frischer Wind in die Diskussion über Anlage und Umwelt: „Vastly important though social and biological backgrounds are, yet they must take at least second place to these more immediate causative factors of delinquency.“264 Dass psychische Vorgänge auf einer materiellen Grundlage basierten, bereitete Healy keine Schwierigkeiten. Fragen der menschlichen Freiheit und Verant­ wortung glaubte er davon nicht berührt. Die Aufklärung jener geistigen Mechanismen, die dem anti-sozialen Verhalten vorausgingen, ermöglichte es ihm im ­Laufe seiner Untersuchungen, das Verhalten junger Straffälliger durch verborgene psychische Konflikte zu erklären. Das wiederholte Weglaufen eines jungen Mädchens konnte er z. B. auf einen solchen ungelösten inneren Konflikt zurückführen und dabei zugleich Erklärungen zurückweisen, die das Verhalten des Mädchens mit der Tatsache in Verbindung bringen wollten, dass einige ihrer Verwandten ‚unsesshaft‘ waren. Im Falle des Mädchens lehnte Healy die Erklärung einer genetischen Disposition zur Landstreicherei kategorisch ab.265 Gerade das Beispiel dieses Mädchens veranlasste Healy dazu, offen an der eugenischen Stammbaumforschung Kritik zu üben: Nothing is more unfair than to offer family charts alone in proof of inheritance of criminality. Without detailed environmental and developmental history they prove nothing, no matter how many criminal histories they may indicate. Studying the significance of delinquent tendencies, which may arise through any of a large number of possible biological, mental, or social factors, is altogether different from studying the heritage of a Hapsburg lip or the heredity of feeblemindedness.266

Healy warnte wiederholt vor der unsicheren Interpretation graphischer Darstellungen wie Familienstammbäume.267 Mit dieser kritischen Haltung gegenüber einem seiner Meinung nach überschätzten heredity-Ansatz in der Kriminalitätsforschung distanzierte sich Healy deutlich von Gorings Ergebnissen.

Ergebnisse Healys Interesse an den mental mechanisms jugendlicher Straftäter führte neben seiner Kritik an der überschätzten Bedeutung von Anlage auch zu einer genaueren Bestimmung dessen, was gemeinhin als Umweltfaktoren gehandelt wurde. Nicht in der Umwelt an sich lägen bereits die Gründe für kriminelles Verhalten, denn nicht jeder, der in den Slums von Chicago oder London aufgewachsen sei, entwickle sich zum Verbrecher. Entscheidend schien viel eher die Wirkung bestimmter Umweltfaktoren auf bestimmte psychische Konstellationen: 262 Ebd., 263 Ebd., 264 Ebd. 265 Vgl.

S. 28. S. 30.

ebd., S. 29 f. S. 189, Hervorhebung S.F. 267 Ebd., S. 189. 266 Ebd.,

334   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) The story of the effect of bad environment in producing delinquency is only to be told by giving an account of the psychical effects of the unfortunate conditions. Poverty, and crowded housing, and so on, by themselves alone are not productive of criminalism. It is only when these conditions in turn produce suggestions, and bad habits of mind, and mental imagery of low order, that the trouble on conduct ensues. […] All problems connected with bad environmental conditions should be carefully viewed in the light of the mental life.268

Da es Healy in erster Linie um Umweltbedingungen ging, die einen direkten psychischen Einfluss auf den Straftäter ausübten,269 untersuchte er in seiner Studie unter anderem auch den Einfluss von Sprache und Medien (z. B. Zeitungen und Kinofilme). Sprache war für ihn ein wesentliches Element der Weltaneignung und -vermittlung und seiner Auffassung nach belastete und beeinflusste eine rohe oder vulgäre Sprache die Weltwahrnehmung von Jugendlichen in hohem Maße.270 Während Healy dem Zeitunglesen keinen negativen Einfluss nachweisen konnte,271 schien ihm der Einfluss von Kinobildern durchaus beträchtlich, da ­seiner Meinung nach visuelle Eindrücke nachhaltiger wirkten als Worte allein.272 Healy ging es ­allerdings nicht um die Verurteilung des Kinos, sondern um die psychologische Frage, über welche Mechanismen die Beeinflussung solcher Me­dien funktionierte. Jungen schienen durch Bilder stärker beeinflusst zu werden als Mädchen, was die alte Frage der personal equation aufwarf: „Some individuals are susceptible to pictorial suggestions and others are not.“273 Die Frage war nur: Warum? Healy konnte diese Frage zwar nicht plausibel beantworten, demonstrierte aber durch eine große Fülle konkreter Beispiele, dass die Kleinkind- und Kinderjahre jugendlicher Straftäter durch einen auffallenden Mangel an gesunden geistigen Interessen274 gekennzeichnet waren, der sich später in einer verkümmerten Neugierde gegenüber der Welt manifestierte.275 Healy deutete diese Beschränkung nicht primär als einen inhaltlichen Bildungsmangel, sondern bereits als Ausdruck einer verkürzten Weltwahrnehmung, einer weit hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibenden Auseinandersetzung des Jugendlichen mit seiner Welt. Ein allgemeines Ergebnis zu formulieren, fiel Healy schwer. Das von ihm entwickelte System kausaler Faktoren verzeichnete auf jeder Karte die Informationen des jeweils untersuchten Straftäters. Die Subsummierung der gewonnenen Informationen unter bestimmte Kategorien (mental findings, physical conditions, envir­ 268 Ebd.,

S. 284; als criminalism bezeichnet Healy kriminelle Betätigung im Allgemeinen. ebd., S. 295. 270 Vgl. zum Einfluss von „bad language“, ebd., S. 284 f. 271 Printmedien hatten keinen Einfluss: „In no one single case can we in the least show that the reading of newspapers was a strong cause of criminality.“ Ebd., S. 302. 272 Vgl. ebd., S. 306 f.: „In nearly all people visual memory and visual imagery play the most dynamic part in mental life. […] The strength of the powers of visualization is to be deeply reckoned with when considering the springs of criminality.“ 273 Beide Zitate: ebd., S. 308. 274 Ebd., S. 297 auch zum Folgenden. 275 So zeigten viele der befragten jugendlichen Straftäter z. B. ein auffallendes Desinteresse an naturwissenschaftlichen Entwicklungen wie etwa Elektrizität oder an normalen kindlichen Aktivitäten wie das Sammeln interessanter Objekte; zu diesem Phänomen gab es bereits einige psychologische Publikationen in der Kleinkindforschung. 269 Vgl.

6.5. William Healy – The Individual Delinquent   335

onmental background) bildete den Versuch, angesichts der Überfülle unterschiedlichster Informationen allgemeinere Aussagen über Typen und Klassen von Tätern, Gründen und Ursachen zu ermöglichen. Doch hier offenbarte sich das nun das große methodologische Problem: Our experience is simply that we found the facts too much for the theories […] The intricacies of causations appeared manifold […] It was then that the plan of making straight for the facts, all the facts available, showed itself of significant worth to us. […] Pigeon-holes and categories could remain unused if we had to damage our facts to fit them in. It was clearly evident that classification by crimes leads only in special instances to knowledge of the criminal; that statistics of seasons, and races, and head-measurements, and alcoholism, and so on, mean almost nothing for the fundamental understanding of the individual case;276 that epileptic and atavistic theories could not be substantiated by case history; that refinements of psycho-physical measurements sometimes used on criminals need tremendous amount of overhauling before they can be regarded as valid for conclusions; that the elders, who spoke so glibly of ‚the criminal‘ as a born type, had not the means of investigating whether he was not rather a born defective, and a criminal through accident of environment.277

Healys Entdeckung multipler Kriminalitätsursachen in Kombination mit individuellen Besonderheiten, die den Kriminellen in kein Schema passen ließen,278 war keine bequeme Erkenntnis. Während er eindeutige Antworten schuldig bleiben musste, sensibilisierte seine Studie aber für neue methodische und inhaltliche Konzepte. Aus der Feststellung, dass jeder Straftäter aus einem individuellen Netz äußerer Umstände und innerer Eigenschaften zu kriminellen Handlungen gebracht wurde, folgte hinsichtlich des Verstehens von Straftätern und der Frage effizienter Behandlungsmaßnahmen, dass künftig an sorgfältigen Fallstudien nicht vorbeizukommen war, jeder Fall musste für sich gründlich studiert werden.279 Während einseitige Theorien und Methoden in Misskredit gerieten, verhalf Healy dem Konzept einer dynamischen Persönlichkeit auf dem Sektor der Kriminologie zum Durchbruch: Every individual is partly his ancestors, and partly the result of his developmental conditions, and partly the effects of many reactions to environment, and to bodily experiences, and even of reactions to his own mental activities. […] Most serviceable to us is the conception of the individual as the product of conditions and forces which have been actively forming him from the earliest moment of unicellular life.280 276 Diesen

Ursachen-Mix hatte u. a. die Französische Schule (Gabriel Tarde, Alexandre Lacassagne, Léonce Manouvrie, Henri Joly, Emile Durkheim) hervorgebracht, die stärker Mileutheorien entwickelten; aber auch die Arbeiten italienischer Kriminologen (Raffaele Garofalo, Enrico Ferri), ja Lombrosos selbst, führten zunehmend Faktoren wie Klima, Jahreszeit u. ä. auf, vgl. Kap. 5, Anm. 152. 277 Healy, Individual Delinquent, S. 16 f.; siehe auch ebd. S. 5 f.: „When it comes to arraying data for the purpose of generalization about relative values of causative factors we experience difficulty; it is not easy to see how any systematic order can be followed.“ 278 Ebd., S. 18. 279 Ebd., S. 5. 280 Ebd., S. 25; weiter heißt es: „The interpretation that may be derived from acquaintance with the facts of ancestry, ante-natal life, childhood development, illnesses and injuries, social experiences, and the vast field of mental life, lead to invaluable understandings of the individual and to some idea of that wonderful complex of results which we term personality.“ (Ebd.).

336   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) Da diese Persönlichkeitsentwicklung durch ständige Weiter- und Umbildungs­ prozesse prinzipiell nie zum Abschluss kam, wurden die sogenannten follow-upStu­dien für Healy ebenso wichtig.281 Hier mussten die aus den Fallstudien hervorgegangen Sozialprognosen der Täter überprüft, gegebenenfalls korrigiert werden. Auch an diesen Nachstudien ließ sich untersuchen, welche veränderten und sich verändernden Faktoren auf das Verhalten ehemaliger Straftäter Einfluss nahmen.

Healys Rezeption in Großbritannien Mit Healys Konzept der dynamischen Persönlichkeit war eine wissenschaftliche Neubestimmung des Begriffs Charakter verbunden. Er selbst sprach von seiner Arbeit als einer Art Charakterologie bzw. Individualpsychologie, die sich mit den Motiven und treibenden Kräften menschlichen Verhaltens beschäftige, welches wiederum als ein direktes Produkt geistiger Prozesse angesehen werde müsse.282 Englische Gefängnispsychiater wie William C. Sullivan empfingen diese neue Charakterologie und Verhaltenspsychologie mit offenen Armen: It has been the misfortune of that embryo science [criminology, S.F.] that its biological and its sociological aspects have usually been studied in entire isolation from one another, with the result that there has been no adequate recognition of that mutual interaction of individual and environmental factors which determines the form and direction of conduct in criminals as in all men.283

William Leslie MacKenzie, der 1904 als Mediziner des öffentlichen Gesundheitsdienstes so entschieden gegen Galton argumentiert hatte, lieferte eine euphorische Besprechung von Healys Buch in der Zeitschrift Mind: „It is difficult to speak too highly of this book, and that whether we think of its contents or of its methods of analysis and exposition. It is one of the best“.284 MacKenzie hob besonders hervor, dass auch Healy keine Beweise für so etwas wie eine kriminalistische Vererbung (criminalistic inheritance) gefunden habe.285 Havelock Ellis feierte Healy als Meister auf dem Feld der Kriminologie,286 Maurice Hamblin Smith bezeichnete sich selbst als seinen „humble follower“.287 Die Mitglieder der Penal Re281 „One

has to venture a prognosis under various possible social circumstances, and then to follow up year by year to see if what one has said about this given type or case needs revision as the results of changed conditions. Only by such a method of self-criticism and prolonged observation can the observer or his science grow.“ Ebd., S. 19, Hervorhebung S.F. 282 Ebd., S. 21, Hervorhebung S.F. 283 Vgl. dazu William C. Sullivans Besprechung des Beitrags von Bryan Donkin, Lectures on Mental Defect and Criminal Conduct. Delivered to the Members of the Class of Psychologic­ al Medicine, Maudsley Hospital, (Reprint from The Lancet, 1921), in: The Journal of Mental Science 27 (1921), S. 503–505, hier 503. 284 William Leslie Mackenzie, Besprechung von William Healys The Individiual Delinquent (engl. Ausgabe London: Heinemann 1919), in: Mind 28 (1919), S. 354–358, hier S. 354. 285 Ebd., S. 358. 286 Siehe Havelock Ellis Besprechung von William Healy, Mental Conflict and Misconduct, Boston 1917, in: The Journal of Mental Science (1918), S. 216 f., hier S. 217. 287 Maurice Hamblin Smith, The Medical Examination of Delinquents, in: The Howard Journal 1 (3/1924), S. 115–121, hier S. 118.

6.5. William Healy – The Individual Delinquent   337

form League sahen sich schließlich durch Healys Buch in ihren Bemühungen um die Einrichtung von psychologische Beratungszentren bestätigt, die sie seit dem Besuch Arthur St. Johns in Healys Chicagoer Institut auch für Großbritannien gefordert hatten.288 Es sollte dabei auch um die Möglichkeit der Betreuung und Untersuchung von Angeklagten durch ausgebildete Mediziner und Psychologen vor der Gerichtsverhandlung gehen.289 Als am 28. März 1918 die Delegation aus Mitgliedern der Penal Reform League und anderer Organisationen beim britischen Innenminister Edward Shortt vorsprach,290 verwies Lord Bentinck bereits auf Healys Vorbild: „Do we take sufficient trouble to diagnose the cause of each individual case of delinquency? The Americans take a vast deal more trouble in that matter than we do. They have juvenile clinics to which medical and psychological experts are attached, and they go very fully into the cause, both mental, physical and social, of each case of delinquency.“291 Bentinck, aber auch andere Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Deputation, demonstrierten während ihres Besuchs im Innenministerium einmal mehr, dass sie es waren, die die ausländische, besonders aber die amerikanische kriminolo­ gische Literatur und Forschung rezipierten und der britischen Öffentlichkeit ­vermittelten.292 So bemühte Mrs. Theodore Williams, Vorsitzende der Women’s ­Local Goverment Society, während des Treffens amerikanische Vorbilder, um für den Einsatz von Frauen in Gerichten und in der Bewährungsarbeit zu werben. Nicht zuletzt Healy habe gezeigt, dass es Frauen in einer Interviewsituation oftmals besser gelänge, das Vertrauen von Kindern und Jugendlichen zu gewinnen: I think you [Home Secretary, S.F] will agree with me that the question of having women in Court when girls are giving evidence is a most important one, and one not always insisted on. […] I know something of what goes on in Chicago and Philadelphia, where the women probation officers are much more under organisation, which leads to a classification of prisoners, and the probation officer being always present at Court when the prisoner is being tried.293

Überhaupt hatte das amerikanische Bewährungssystem, 1878 zum ersten Mal im Bundesstaat Massachusetts eingeführt, besonders die englischen Reformer inspi288 Siehe

Arthur St. John, Crime and Eugenics in America, in: Eugenics Review 3 (1911), S. 118–130. 289 Siehe dazu The Penal Reformer. Quarterly Review 9 (1920), S. 84. 290 Es ging neben dem Problem der Jugenddelinquenz um die Klärung von Einzelfragen der Strafpraxis, u. a. um die durch den Criminal Justice Act von 1914 geschaffene Möglichkeit von Geldstrafen, siehe Deputation to the Home Secretary, The Rt. Hon. Edward Shortt at the Home Office, on Friday, 28th March, 1918, in The Penal Reform League. Quarterly Record 8 (Juli 1919), S. 38–53. 291 Lord Henry Bentinck, Deputation to the Home Secretary, S. 38. 292 So erhielt die Penal Reform League neben vielen Monographien auch zahlreiche Zeitschriften und Jahresberichte im Austausch mit amerikanischen und europäischen Vereinigungen, z. B. die Blätter für Gefängniskunde (Heidelberg), Annual Report of the Trustees of the Massachusetts School for the Feeble-Minded at Waltham (Boston), Annual Report of the Indiana Reformatory (Jeffersonville), Journal of the American Institute of Criminal Law and Criminology (Chicago), Annual Report on Dependent and Delinquent Children (Alberta), Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform u.v.m., siehe z. B. die Liste in The Penal Reformer. Quarterly Review 5 (1913), S. 22–24. 293 Mrs. Theodore Williams, Deputation to the Home Office, S. 47.

338   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) riert. Die Diplomarbeit Cecil Leesons über The Probation System basierte über weite Strecken auf Informationen, die er während eines zweijährigen Studienaufenthaltes in den Vereinigten Staaten gesammelt hatte. Ausdrücklich dankte der spätere Geschäftsführer der Howard Association neben zahlreichen einzelnen amerikanischen Bewährungshelfern, die er befragt hatte, auch den Leitern der State Probation Commision von Massachusetts und New York State.294 Den britischen Gefängnisreformgesellschaften diente der Verweis auf die Verfahren anderer Länder in der Regel der Unterstützung eigener nationaler Anliegen. Für Reverend Canon Barnes war es selbstverständlich, 1920 auf einem Treffen der Penal Reform League auf diesen Zusammenhang hinzuweisen: What the League really exists for today is to overcome public and official apathy [… and] to utilise the successful experiments which have already been made in certain foreign countries, notably America, and to urge that in this country we should continue and increase such experiments so that in our prison administration here we may not be unworthy of our position as one of the leading civilised countries of the world.295

Doch wie sah es nun tatsächlich mit dem amerikanischen Einfluss auf die ­Entwicklung wissenschaftlicher Kriminalitätskonzepte in Großbritannien in den Zwischenkriegsjahren aus? Wie die folgenden Kapitel zeigen sollen, erfuhren die Anregungen aus Amerika eine stark an den britischen Verhältnissen ausgerichtete Umsetzung. Besonders deutlich lässt sich dies in den Arbeiten des einflussreichen educational psychologist Cyril Burt nachweisen.

6.6. Die British Psychological Society „We began with mechanism and we end with mind“,296 schrieb James Ward, Lecturer für Psychologie an der Universität Glasgow, als er 1904 in die neuen Forschungsfelder der Psychologie einführte. Damit meinte er zunächst den neuen Experimentalismus, der in der Psychologie seit den 1890er Jahren Einzug gehalten hatte. An die Stelle philosophischer Spekulationen und theoretischer Über­ legungen zu Fragen der Welt- und Selbstwahrnehmung des menschlichen Geistes traten nun neue experimentelle Methoden, die in einem empirisch-wissenschaftlichen Sinne zur Aufklärung der Mechanismen menschlicher Sinnesverarbeitung beitragen sollten (physiological psychology, mental physiology). Theoretisch hatte es diese Diskussion stets gegeben. 1897 wurden die ersten experimentalpsychologischen Labors an britischen Universitäten eröffnet − in Cambridge und am Uni294 Siehe

die aufgeführte Liste an Danksagungen in Cecil Leeson, The Probation System (Social Study Higher Diploma, Birmingham University), London 1914, Preface, S. viii–ix. 295 The Penal Reform League. Quarterly Review 9 (1920), S. 23. 296 James Ward, On the Definition of Psychology, in: The British Journal of Psychology 1 (1904/1905), S. 3–25, hier S. 25; Dr. Henry James Ward (1843–1925) hatte u. a. in Würzbug bei Külpe studiert und dort experimentelle psychologische Testverfahren kennen gelernt; vgl. Nachruf in The British Journal of Psychology 17 (1926), S. 248; zu Ward auch Hearnshaw, Short History, S. 136–139.

6.6. Die British Psychological Society   339

versity College in London.297 Der Erkenntnisanspruch dieser neuen Psychologie war im Vergleich zu ihren Vorgängern in gewisser Weise bescheidener. Im vikto­ rianischen Zeitalter hatte die Psychologie im Mittelpunkt unterschiedlichster ­Debatten gestanden. Die Erklärung und Bestimmung des menschlichen Geistes und seiner Funktionen wurden sowohl als klassischer Bestandteil einer angelsächsischen Philosophie des Geistes (philosophy of mind) von Philosophen, Theologen und Schriftstellern betrieben, die sich auf John Locke oder David Hume als ihre Vorgänger berufen konnten, als auch von Medizinern und biomedizisch interessierten Ärzten und Wissenschaftlern, die sich stärker auf die materiellen Voraussetzungen dieser Geistesfunktionen konzentrierten.298 Hier drehten sich die ­Fragen stets um das Verhältnis von biologischer Grundlage und geistiger Produktivität in Form von Vorstellungen, Bildern, Assoziationen und Ideen, d. h. um eine Auseinandersetzung mit dem klassischen associationism. Für die viktorianischen Zeitgenossen, so betont Rick Rylance, sei eine solcherart betriebene Psychologie im Grunde eine Art Reflektion über die Entwicklung des eigenen Geistes gewesen genau zu dem Zeitpunkt, als sich dieser Geist von den Traditionen der Vergangenheit zu lösen begann.299 Neben der Entwicklung materialistisch ausgerichteter psychologischer Labors300 – der deutsche Psychologe und Physiologe Wilhelm Wundt hatte hier Pate gestanden – gab es Weiterentwicklungen, die einer Ausdifferenzierung der Psychologie Vorschub leisteten. Der englische Psychologe und Philosoph James Ward gehörte zu denjenigen, die der physiologischen Psychologie nur eine begrenzte Erkenntnisfähigkeit zusprach, weil sie seiner Meinung nach die Probleme des menschlichen Bewusstseins nicht ausreichend erfassen und erklären konnte. Be297 Siehe

zum Folgenden besonders Rick Rylance, Victorian Psychology and British Culture, 1850–1880, Oxford 2000, hier S. 5. 298 Vgl. dazu ausführlich die Kapitel über den physiologischen Diskurs in der allgemeinen Biologie und den medizinischen Diskurs in: Rylance, Victorian Psychology, S. 70–109, S. 146. Drei wichtige Autoren der frühen ‚physiologischen‘ Tradition waren Thomas Laycock (1812–1876), Mind and Brain: or, the Correlations of Consciousness and Organisation; with their Applications to Philosophy, Zoology, […] and the Practice of Medicine, 2 Bde, Edinburgh 1860; William B. Carpenter (1813–1885), Principles of Mental Physiology, with Their Applications to the Training and Discipline of the Mind, and the Study of its Morbid Conditions, London 1874; und Alexander Bain (1818–1903), The Emotions and the Will, London 1859, in dem er sich mit der physischen Grundlage von Gefühlen und Sinneswahrnehmungen beschäftigte, vgl. dazu Rylance, Victorian Psychology, S. 147–202; Hearnshaw, Short History, S. 11 f., S. 19–24; Rylance untersucht daneben auch Herbert Spencer (Mind and Evolutionary Psychology, ebd. S. 203–250) und G.H. Lewes (Mind and Language, ebd. S. 251–330); in dieser ‚physiologischen Tradition‘ stand auch die ganz frühe Arbeit des Deputy Medical Officer im Convict-Gefängnis von Portland, William Norwood East, Physical and Moral Insensibility in the Criminal, in: The Journal of Mental Science 47 (1901), S. 737– 755; einen allgemeinen Überblick über die Entwicklung der Psychologie gibt Mitchell G. Ash, Psychology, in: Theodore M. Porter und Dorothy Ross (Hrsg.), The Cambridge History of Science, Bd. 7: The Modern Social Sciences, Cambridge 2003, S. 251–274. 299 Siehe Rylance, Victorian Psychology, S. 4. 300 Ende der 1920er Jahre wurde diese physiologische Ausrichtung der Psychologie in Anbetracht neuer Entwicklungen und Tendenzen bereits historisiert: Edwin G. Boring, A History of Experimental Psychology, London 1929, vgl. dazu Rylance, Victorian Psychology, S. 5.

340   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) reits 1875 hatte er in einem Essay den psychologischen Materialismus attakiert für dessen Reduzierung und Beschränkung von ‚mind to matter‘. Die Erkenntnisse der physiologischen Psychologie (mechanism) hielt er für irrelevant in Bezug auf die Fragen des menschlichen Bewusstseins (mind) und natürlich in Bezug auf die Lösung ethischer Fragen.301 Das gleiche Unbehagen empfand auch der Philosoph Thomas Hill Green, der frühzeitig die „reductiveness“ der physiologischen Psychologie kritisierte.302 Aufgrund dieser Skepsis und Kritik ließ der Ausbau ­einer auf Laborexperimente konzentrierten physiologischen Psychologie nie das weiter gehende Interesse der britischen Psychologie an anderen und neuartigen Ansätzen verlöschen. Denn was in Großbritannien unter Aufnahme von Elementen aus Freuds psychoanalytischer Theorie und unter Weiterentwicklung anthropologischer Ansätze zur Sozialpsychologie dann als zweite New Psychology firmierte,303 nahm zeitgleich um die Jahrhundertwende Gestalt an.304 Die Richtung der neuen Psychologie blieb zunächst noch die Angelegenheit einer kleinen Forschergemeinschaft von Anthropologen und Medizinern, die sich der Aufklärung von Denkprozessen und ihrer Entwicklung auf methodisch ganz unterschiedlicher Weise näherten. 1901 gründeten zehn auf verschiedenen Gebieten arbeitende Wissenschaftler, darunter William McDougall, William H.R. Rivers, Alexander Shand, James Sully und Frederick Mott die Psychological Society am 301 Vgl. James

Ward, The Relation of Physiology to Psychology: An Essay (1875); vgl. Rylance, Victorian Psychology, S. 319. 302 „Nothing that the physiologist can detect – no irritation, or irradication, or affection of a sensitive organ – enters into it [consciousness, S.F.] at all. The relations which these terms represent are all of a kind absolutely heterogeneous to and incompatible with the mutual determinations of ideas in the unity of consciousness.“ Thomas Hill Green zit nach Rylance, Victorian Psychology, S. 316. Rylance hebt hervor, wie stark Greens Kritik an ‚Physiologen‘ der älteren Generation wie Herbert Spencer oder George Henry (ohne Labor) von breiter Zustimmung getragen wurde (ebd. S. 318). 303 Die Bezeichnung ging auf den Titel des Bestsellers von Arthur Tansely zurück, ders., The New Psychology and Its Relation to Life, London 1920 (vgl. dazu auch Kap. 6.8.); die gleiche Bezeichnung wurde allerdings schon früher im Buchtitel des amerikanischen Psychologen Edward Wheeler Scripture, The New Psychology (London 1897) verwendet; Scripture wollte die Neue Psychologie ganz aus dem Bereich der philosophy of mind herauslösen und in ihr nur noch das Produkt von Wissenschaften (sciences) sehen, zu denen die Astronomie und Physik (Vorzüge der exakten Meßverfahren) ebenso zählten, wie deutsche Physiologie (Wilhelm Wundt) und französische Gehirnanatomie. Philosophen wie Hobbes, Locke und Hume galten ihm zwar als Vorläufer der ‚Beobachtungswissenschaften‘, zählten aber freilich ohne den experimentellen Anspruch noch zur ‚Alten Psychologie‘ (vgl. Rylance, Victorian Psychology, S. 6). 304 Auch in Amerika erwärmte sich die Psychiatrie für Psychoanalyse vor allem im Kreis einer jüngeren Generation von Psychiatern, die nicht mehr in den herkömmlichen psychiatrischen Anstalten, sondern an modernen Kliniken arbeiteten. Auch hier entwickelte sich (von Freud übrigens mit Skepsis betrachtet) eine spezielle amerikansiche „Mischung“, „fashioning it into a peculiarly American dynamic psychiatry organized around the operation of mental forces identified by Freud.“ Lunbeck, Psychiatry, S. 664. Bis 1918 waren in den USA fast 200 meist positive Artikel über Psychoanalyse in medizinischen Journalen erschienen, bis 1921 waren mehr als 40 populäre Bücher über Psychoanalyse auf dem Markt; einige Psychiater gingen, wie in England, dazu über, psychoanalytische Behandlungen für neurotische und hysterische Störungen anzubieten, siehe Lunbeck, Psychiatry, S. 667.

6.6. Die British Psychological Society   341

University College in London. 1906 wurde die Gesellschaft in The British Psychological Society umbenannt, um der Verwechselung mit einer anderen „unacademic group“ gleichen Namens vorzubeugen.305 Von der British Psychological Society zunächst unabhängig gaben James Ward und William Rivers ab 1904 The British Journal of Psychology heraus, das, so der Tenor in der Einleitung der Herausgeber, Psychologie als positive Wissenschaft in all ihren Erscheinungs­ formen – „analytical, genetic, comparative, experimental, pathological, individual ethnical &c.“306 – repräsentieren sollte: „[T]o serve as the ‚organ‘ of all alike who are working at any one of the many branches into which Psychology has now differentiated.“307 Als sich nach dem Ersten Weltkrieg eine Ausdifferenzierung der Disziplin Psychologie noch deutlicher abzeichnete − obwohl damit noch keine wirkliche Institutionalisierung verbunden war −,308 entschlossen sich 1920 die verantwortlichen Redakteure des British Journal of Psychology, die Zeitschrift fortan in zwei verschiedenen Ausgaben herauszubringen, einer allgemeinen und einer medizinisch orientierten. Zunächst als British Journal of Psychology. Medical Section eingeführt, etablierte sich ab 1923 der medizinische Ableger unter dem Zeitschriftentitel The British Journal of Medical Psychology. Während Charles Myers zusammen mit ­Frederick C. Bartlett und Cyril Burt die allgemeine Zeitschrift redaktionell betreuten,309 übernahm Thomas W. Mitchell die Herausgabe der klinischen Zeitschrift, dabei unterstützt von William Brown, Reader in Mental Philosophy in Oxford, dem Freudschüler Ernest Jones und William Rivers.310 305 Es

handelte sich um eine Vereinigung, die sich mit übersinnlichen Phänomenen beschäftigte, siehe dazu B. Edgell, The British Psychological Society, in: The British Journal of Psychology 37 (1947), S. 113–132, hier S. 116; auch Hearnshaw, Short History, S. 181–183; bis zur Gründung der Psychological Society hatten Psychologen, egal welcher Ausrichtung, nur die Medico-Psychological Association, die Aristotelian Society (gegr. 1880) und die British Child Study Association (gegr. 1893, siehe Anm. 25) als Foren nutzen können. 306 James Ward und William H.R. Rivers, Editorial, in: The British Journal of Psychology 1 (1904), S. 1 f. 307 Ward und Rivers, Editorial, S. 2. 308 Siehe dazu Ash, Psychology, S. 254, der darauf aufmerksam macht, dass selbst die Gründung der Zeitschrift keine akademische Institutionalisierung zur Folge hatte: „[A]s late as the 1920s, there were only six university chairs for Psychology in England. Psychological practitioners of various kinds far outnumbered academics in the membership of the British Psychological Association at the time of ist founding in 1901 and for decades thereafter.“ Die American Psychological Association wurde 1892 gegründet; Rylance sieht dagegen in der Herausgabe des British Journal of Psychology die Konstituierung der Psychologie als akademische und wissenschaftliche Disziplin zumindest in der Weise, dass sich sich deutlich von der Art und Weise unterschied, wie sie noch im 19. Jahrhundert betrieben worden war, Rylance, Victorian Psycholoy, S. 5. 309 Siehe dazu The British Journal of Psychology 11 (1920–21), ab Bd. 15 (1924–25) übernahm Frederick C. Bartlett die Herausgabe mit Unterstützung u. a. von Cyril Burt. 310 Siehe dazu die erste Ausgabe der Zeitschrift The British Journal of Psychology. Medical ­Section 1 (1920–21), auch unter The British Journal of Medical Psychology; Thomas W. Mitchell (1869–1944), dessen orthodoxe Freudschrift Problems in Psychopathology 1927 ­publiziert wurde, war Herausgeber von 1921 bis 1934, siehe Rose, Psychological Complex, S. 181.

342   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) Es war diese Zeitschrift, die in den Zwischenkriegsjahren auffällig viele Beiträge zum Thema Kriminalität bereitstellte, wobei die Veröffentlichung in der medizinischen Sektion zunächst vermuten lässt, dass positivistische Bezüge zu kriminellem Verhalten im Vordergund stehen würden. 1923 trug sich die British Psychological Society sogar mit dem Gedanken, auf Wunsch zahlreicher Mitglieder neben den bereits bestehenden Sektionen (general section und edcuational section) noch eine criminological section ins Leben zu rufen.311 Dieses Vorhaben demonstrierte auf anschauliche Weise, wie sehr innerhalb der Gesellschaft darauf vertraut wurde, auf die Kriminalitätsdebatten entscheidend einwirken zu können. Langfristig, davon waren die Mitglieder überzeugt, würde sich die Neue Psychologie mit ­frischen und unkonventionellen Erklärungsangeboten als zentrale Wissenschaft innerhalb der Kriminologie etablieren. Auch als sich eine separate Sektion für Kriminologie in naher Zukunft nicht verwirklichen ließ, organisierte die Psychologische Gesellschaft allein in den Jahren zwischen 1923 und 1934 vier Symposien zum Thema Kriminalität.312 Daneben rezensierte sie zahlreiche, auffällig häufig amerikanische Arbeiten zu kriminologischen Themen und veröffentlichte dazu weitere Einzelbeiträge. Was auf den öffentlichen Veranstaltungen der Gesellschaft an Fragen und ­Erkenntnissen verhandelt wurde, lässt sich im weitesten Sinne einer empirischen Verhaltenspsychologie zuordnen, die versuchte, den Stellenwert von Anlage und Umwelt im Zustandekommen menschlicher Handlungen zu verorten.313 In ­seinem 1920 erschienenen Buch Instinct and the Unconscious beschrieb Rivers die besondere Aufgabe der Psychologie als den Versuch, „to understand the place of consciousness in relation to behaviour.“314 Sein Schüler Frederick C. Bartlett formulierte diesen Gedanken als Programm: „We require a new, thoroughgoing and unbiased analysis of the part that ideas as such may contribute to a determination of the directions and ends of conduct.“315 Mit Blick auf Kriminalität ging es ­primär um die Aufklärung der Genese eines criminal mind, da in Anlehnung an William Healy jeder Handlung ein bestimmter Bewusstseinszustand (mind) und damit korrespondierende Gefühle (emotions, instincts, impulses) vorausgingen, die es zu entschlüsseln galt. Erst in zweiter Instanz interessierte die Beurteilung krimineller Taten, wobei sich Psychologen an einem herkömmlichen, klassischen

311 Siehe

dazu die Bemerkungen von W.H.B. Stoddart, Delinquency and Mental Defect (IV), in: The British Journal of Medical Psychology 3 (1923), S. 188–193, hier S. 193. 312 Zu folgenden Themen wurden Konferenzen veranstaltet: 1. Delinquency and Mental Defect (1923); 2. The Definition and Diagnosis of Moral Imbecility (1926); 3. The Psychology of Crime (1932); 4. On Criminality (1934); siehe dazu auch die Besprechung der Veranstaltung von 1923 durch G.W.T.H. Fleming in The Journal of Mental Science (1926), S. 129 f.; die Besprechung der Veranstaltung von 1932 durch S.L. Yares in The International Journal of Psycho-Analysis 14 (1933), S. 413 f. 313 Vgl. Forsythe, Prison Discipline, S. 155. 314 Rivers, Instinct and the Unconscious, S. 43. 315 Frederick C. Bartlett, Review The Group Mind by William McDougall, in: The British Journal of Psychology 11 (1920–21), S. 347.

6.7. Cyril Burt − The Young Delinquent   343

Kriminalitätsverständnis orientierten: der Verletzung oder Überschreitung gesellschaftlicher Normen. Im Folgenden soll zunächst diejenige englische Untersuchung vorgestellt, die sich am deutlichsten an Healys Arbeit orientierte: Cyril Burts The Young Delinquent aus dem Jahr 1925. Daran schließt sich die Vorstellung der wichtigsten Ansätze des neuen psychologisch-psychiatrischen Diskurses über den criminal mind an. Aufgrund der personellen Kontinuitäten waren die Grenzen zwischen Psychiatrie und Psychologie in Großbritannien fließend. Die Neue Psychologie, die im Grunde eine Mischung aus psychiatrischem Wissen und Verfahren, IntelligenzTests und einzelnen Elemente der Freudschen Psychoanalyse darstellte, wurde hier in erster Linie von ausgebildeten Ärzten und Ärztinnen bzw. Psychiatern ­entwickelt, die sich aus eigenem Interesse Kenntnisse aus der Psychoanalyse ­aneigneten. Daneben existierte ein eigener rein psychoanalytischer Diskurs über Kriminalität, der zum Teil von anderen Protagonisten, darunter ebenfalls viele Mediziner, getragen wurde, aber die Debatten der Zwischenkriegsjahre nie do­minierte.

6.7. Cyril Burt – The Young Delinquent (1925) Cyril Burt war insofern eine Ausnahme unter den ‚Neuen Psychologen‘ als er nicht Medizin, sondern klassische Sprachen und Philosophie in Oxford studiert hatte und erst während einer einjährigen Lehrerausbildung durch William McDougall mit experimenteller Psychologie und statistischen Verfahren in Berührung gekommen war.�316 Dank der Bemühungen seines einflussreichen Lehrers erhielt Burt 1908 die Stelle als Assistant Lecturer in Physiology und Lecturer in Experimental Psychology an der Universität von Liverpool.317 1909 veröffentlichte er seine erste Arbeit über allgemeine Intelligenz, die auf den Ergebnissen von Intelligenztests basierte, die Burt mit Jugendlichen durchgeführt hatte.318 Wie sein großes Vorbild Francis Galton glaubte Burt an die Vererbung von Intelli­ genz,319 doch in Zusammenhang mit seinen späteren Studien zur Jugenddelinquenz verteidigte der ehemalige settlementer vehement die Milieutheorie.320 Diese 316 Die

beste Biographie über Cyril Lodowic Burt (1883–1971) ist Leslie S. Hearnshaw, Cyril Burt. Psychologist, Ithaca und New York 1979; brauchbare Informationen finden sich auch in Fancher, Intelligence Men, S. 168–178. 317 Zu den näheren Umständen der Berufung, Hearnshaw, Cyril Burt, S. 25. 318 Siehe dazu auch Kap. 6.1.; Cyril Burt, Experimental Tests of General Intelligence, in: The British Journal of Psychology 3 (1909), S. 94–177; ders., The Experimental Study of General Intelligence, in: Child Study 4 (1911), S. 92–100; es ging um die Bestimmung sensorischer, motorischer und assoziativer Fähigkeiten, von denen Burt annahm, dass sie keinerlei inhaltliches Wissen voraussetzten (Fancher, Intelligence Men, S. 172). 319 Zu Galtons und McDougalls Einfluss auf Burt siehe Hearnshaw, Cyril Burt, S. 23. 320 Burt lebte nicht nur während seiner Studienjahre in einem university settlement in der Nile Street am Rande von Liverpool, sondern auch während seiner Londoner Jahre in einer settlement residence am Tavistock Place, siehe Hearnshaw, Cyril Burt, S. 30 f., S. 39; in einem Memoradum erklärte Burt dazu: „I recommend every educational psychologist to start by actually living with his cases and with their families.“ (Ebd. S. 39).

344   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) flexible Argumentation muss man, so Raymond Fancher, bei Burts Begründungen stets im Gedächtnis behalten: „This peculiar predisposition to insist upon the hereditary determination of intellectual differences among individuals, while accepting environmentalistic explanations for other important questions, persisted throughout Burt’s life.“321 Burt konnte seine erworbenen Erkenntnisse praktisch überprüfen, als ihn der London County Council, die zentrale Verwaltungsstelle für alle öffentlichen Schulen in ganz London, als ersten educational psychologist anstellte. Burts Aufgabe war es, mit Hilfe von Intelligenztests Schulkinder einzustufen und entsprechenden Schultypen zuzuordnen. Die Tests waren notwendig geworden, nachdem festgestellt worden war, dass die bisherigen medical inspectors offensichtlich zu viele Schüler und Schülerinnen vorschnell in Sonderschulen einwiesen, obwohl diese nur als zurückgeblieben (retarded, backward), nicht aber als geistig defizitär (mentally deficient, defect) gelten konnten. Durch Einführung der Tests hoffte die Schulverwaltung, künftig solche Fehler zu vermeiden.322 Während seiner Arbeit kam Burt nicht nur mit zurückgebliebenen oder hochbegabten, sondern auch mit unangepassten, verhaltensauffälligen und delinquenten Kindern und Jugend­ lichen in Berührung. Die ersten Untersuchungsergebnisse dieser Gruppe stellte er 1923 in einem Artikel für das British Journal of Medical Psychology vor, 1925 erschienen sie in Buchform unter dem Titel The Young Delinquent.323 Das Buch war die umgearbeitete und erweiterte Version von Vorlesungen, die Burt nicht etwa vor Medizinern, sondern vor Lehrern am Londoner Day Training College for Teachers gehalten hatte.324 Genau wie bei Healy waren auch bei Burt nicht Anwälte oder Ärzte die Zielgruppe, sondern der große Kreis der Pädagogen, Erzieher, Sozialreformer und Bewährungshelfer, mit einem Wort: die Liga der entschiedenen Environmentalisten.325 Burt, dessen Ruf als Wissenschaftler später durch die 321 Fancher,

Intelligence Men, S. 174, Hervorhebung im Original. dazu Hearnshaw, Cyril Burt, S. 33. 323 Cyril Burt, The Causal Factors of Juvenile Crime, in: British Journal of Medical Psychology 3 (1923), S. 1–33; ders., The Young Delinquent, London 1925; siehe auch die Besprechungen des Buches von E.O. Lewis in British Journal of Psychology 16 (1925), S. 249–253; von Maurice Hamblin Smith in The Journal of Mental Science (1926), S. 103–109. 324 Das London Day Training College wurde 1902 gegründet, nachdem bereits in den 1890er Jahren die Forderung nach einer Ausbildungsstätte für Lehrer laut geworden war, die keine religiösen Eingangsprüfungen durchführte und in engem Kontakt zu den Universitäten stand. Da Burt nur eine halbe Stelle beim L.C.C. hatte, arbeitete er zusätzlich zunächst zwei Tage im Psychologischen Labor in Cambridge unter der Leitung von Charles S. Myers; zwischen 1924 und 1932 unterrichtete er dann als Professor für Educational Psychology am London Day Training College, vgl. Hearnshaw, Cyril Burt, S. 41 f. 325 Zur Zusammenarbeit mit den Child Welfare Organisationen siehe Rose, Psychological Complex, S. 115; Noel Timms, Psychiatric Social Service, S. 15 f. Auf Initiative des Philosophen und Psychologen James Sully (1842–1923), Professor für Mental Philosophy am University College in London, wurde in Zusammenarbeit mit Lehrern, Erziehern und Eltern 1893 die British Child Study Association gegründet (die Satzung findet sich in Bridgeland, Pioneer Work, S. 50); ihr ging es um die Aufklärung kindlicher Entwicklungsstufen unter Zuordnung bestimmter Vermögen und Fähigkeiten, die bei entsprechendem Alter vorhanden sein sollten; die Gesellschaft verstand sich auch als Beratungsgremium für Erzieher und Eltern. 322 Vgl.

6.7. Cyril Burt − The Young Delinquent   345

Manipulation von Datenmaterial in Verruf geraten sollte,326 wurde als Experte für Jugenddelinquenz eine anerkannte Größe.327 Durch seine Agitation und publizistische Präsenz beeinflusste er ganz entscheidend die Kriminalitätsdebatten der Zwischenkriegsjahre und damit auch die englische Kriminalpolitik und Straf­ praxis.328 Bereits Mitte der 1920er Jahre engagierte die British Broadcasting Corporation (BBC) den begabten Redner als psychologischen Experten für einige Radiosendungen.329 Daneben schrieb Burt nicht nur für Zeitungen, er verfasste auch Pamphlete für die Howard League for Penal Reform und die National Association for the Prevention of Cruelty to Children (NAPCC) sowie Bücher und Beiträge für wissenschaftliche Fachzeitschriften und für The Child, dem Publikationsorgan der Children’s Branch des Innenministeriums.330 Burt war also zuSullys eigene Arbeiten zur Entwicklungspsychologie, Studies in Childhood (1895) und Children’s Ways (1897), gelten als „the first systematic study in England of the development of children’s behaviour“ (Bridgeland, Pioneer Work, S. 49). Sully unterschied drei abweichende Formen von der normalen Entwicklung: intellektuelle Schwerfälligkeit, emotionale Instabilität und Abweichungen von einem akzeptierten moralischen Verhalten. Sully und mit ihm William McDougall waren der Ansicht, dass die Arbeit mit Schulkindern von Psychologen beurteilt werden sollten, die dem Education Department angehörten. Gegen die Arbeit von Medizinern sprach ihrer Ansicht nach, dass es sich in der Regel nicht um die Beurteilung von pathologischen Fällen, d. h. abnormal children, handelte, sondern eher um „the adjustment of normal children temporaily maladjusted by circumstances.“ Bridgeland, Pioneer Work, S. 50. Für Sully „the normal child is one who is in adequate adjustment with his environment; the so-called abnormal child is, in the vast majority of cases, merely a maladjusted child, not a child suffering from gross pathological defect.“ (zit. nach Bridgeland, Pioneer Work, S. 50). Sully kann als Begründer der British School of Educational Psychology betrachtet werden, denn er suchte nach pädagogischen, nicht medizinischen Lösungen für normale verhaltensauffällige Kinder. 326 Cyril Burt hatte für seine Zwillingsstudien nach 1950 gefälschte Daten verwendet, weil offensichtlich sein ursprüngliches Material im Zweiten Weltkrieg zerstört worden war; das Ganze wurde durch einen Zeitungsartikel von Oliver Gillie, dem Medical Correspondent der Sunday Times (25. Oktober 1976, S. 1) aufgedeckt, der allerdings nur zusammenfasste, was anderen Forschern bereits früher aufgefallen war; vgl. dazu Rose, Psychological Complex, S. 242, Anm. 2; besonders aber Hearnshaw, Cyril Burt, S. 227–261 (Kap. 12: Posthumous Controversies); das Ganze war nicht nur ein wissenschaftlicher, sondern vor allem ein politischer Skandal innerhalb der anhaltenden nature-nurture Debatten der 1970er Jahre, denn Burt hatte sein Datenmaterial so manipuliert, dass es die von ihm vertretene These von der Intelligenz-Vererbung stützte, siehe dazu Robert B. Joynson, The Burt Affair, London 1989, und den Sammelband von Nicolas John Mackintosh (Hrsg.), Cyril Burt: Fraud or Framed?, Oxford 1995. 327 Siehe dazu Gillian Sutherland und Stephen Sharp, „The Fust Official Psychologist in the Wurrld“: Aspects of the Professionalization of Psychology in Early Twentieth Century ­Britain, in: History of Science 18 (1980), S. 181–208; das Zitat im Titel stammt vom schot­ tischen Chief Education Officer des Londoner County Council Sir Robert Blair über die Berufung von Cyril Burt 1913 auf die halbe Stelle eines Psychologen am LCC; tatsächlich war es die erste offizielle Berufung dieser Art in Großbritannien. 328 Siehe dazu auch Bailey, Delinquency, S. 13–15. 329 Zu Burts Radiobeiträgen siehe z. B. Cyril Burt, The Psychology of the Bad Child, in: The Listener, 6. Februar 1929, S. 129 f.; Cyril Burt und Vivian Henderson, Causes of Crime, in: The Listener, 2. Mai 1934, S. 748–750. 330 Zeitungsbeiträge, z. B. The Times, 14. Juni 1926, S. 11; Pamphlete, z. B. Cyril Burt, The De­ riminal, linquent Child, in: The Child 16 (1926), S. 321–332; ders., Psychology of the Young C The Howard League Pamphlet, No. 4 (1924).

346   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) gleich für staatliche und kommunale Behörden und gemeinnützige Vereinigungen tätig. Verfahrenstechnisch lehnte er sich stark an das Vorgehen des von ihm bewunderten William Healy an. Es sei unmöglich, so erklärte Burt 1923, Healys ModellUntersuchung zu erwähnen, „without a tribute of gratitude and esteem to a work so admirably thorough upon a subject so incredibly complex“.331 Burts Untersuchungsgruppe war zwar kleiner als die von Healy, dafür war die Alterspanne der untersuchten Kinder und Jugendlichen größer und erstreckte sich von 5 bis 18 Jahren.332 Insgesamt 123 Jungen und 74 Mädchen bildete die Gruppe der untersuchten Delinquenten, die Kontrollgruppe der gleichen Altersstufen, des gleichen Geschlechts und des gleichen sozialen Status umfasste 400.333 Den Kontakt zu bereits straffällig gewordenen Kindern und Jugendlichen hatte Burt, ähnlich wie Healy, über die Empfehlung von Richtern, Wohlfahrtsverbänden, Schulleitern, ­Eltern und Geschäftsführern von Organisationen, die sich um jugendliche De­ linquenten kümmerten, hergestellt.334 Zusätzliche Daten stammten aus Burts Vorkriegsuntersuchungen335 und aus sogenannten remand-homes oder industrial schools. Befragungs- und Untersuchungsmethoden glichen denen von Healy und konzentrierten sich auf die Aufklärung von „hereditary“, „environmental“, „physical“ und „psychological conditions“.336 Es mag wenig überraschen, dass Burts Ergebnisse denen von William Healy sehr ähnlich waren. Auch Burt ermittelte eine immense Variation an widrigen Einflüssen, die Kinder und Jugendliche zu kriminellen Handlungen provozieren und verleiten konnten.337 Über 170 unterschiedliche Bedingungen machten er und seine Mitarbeiter aus, 70 konnten dabei als prinzipielle Ursachen kindlicher Kriminalität in Erscheinung treten.338 Wichtigste Erkenntnis der statistischen Auswertung, die Fehlerquotienten und Standardabweichungen berücksichtigte,339 war auch hier: Die individuelle Psychologie war mit dem „fact of multiple determination“340 331 Burt,

Causal Factors, S. 3, Anm. 1; wenig überraschend bestätigten wiederum in Amerika William Healy und Augusta Bronner, inzwischen Direktoren des Judge Baker Child Guidance Centre in Boston, Burts Ergebnisse: vgl. William Healy und Augusta T. Bronner, Delinquents and Criminals. Their Making and Unmaking (1. Aufl. 1926) Boston 1969, S. 209 f. 332 Zum Folgenden siehe die gute Zusammenfassung bei Burt, Causal Factors, S. 2–16. 333 Vgl. ebd., S. 4, S. 33. 334 Ebd., S. 1. 335 Als applied psychologist hatte Burt im Auftrag des Education Department des London County Council ab 1913 psychologische Tests mit Problemkindern durchgeführt. Im Ersten Weltkrieg gehörte er dem Psychological War Research Committee an; siehe Sutherland und Sharp, „The fust psychologist in the wurrld“, S. 181–208; Hearnshaw, Cyril Burt, S. 72, S. 104; ders., Short History, S. 201–207; The Times, 12. Oktober 1971, S. 12. 336 Zur genauen Unterteilung siehe Burt, Causal Factors, S. 10. 337 Ebd., S. 5. 338 Ebd.; vgl. auch ebd. S. 33: „to a wide variety, and usually to a plurality, of converging factors.“ 339 Siehe ebd., S. 8–9; Burt berief sich hier auf die Arbeiten von George Udny Yule, Introduction to the Theory of Statistics, London ² 1912, S. 29. 340 Burt, Causal Factors, S. 5; vgl ebd. S. 6: „each delinquent child is the product of nine or ten adverse circumstances, one as a rule predominating, and all conspiring to draw him into crime“, wobei es entweder die Anzahl der vorhandenen Faktoren oder eine spezielle Kombi-

6.7. Cyril Burt − The Young Delinquent   347

konfrontiert. Obgleich auch Mitglied der Eugenics Education Society341 unterstrich Burt die enorme Bedeutung äußerer Umstände und Ereignisse für die Entwicklung krimineller Energien bei Kindern und Jugendlichen. Kinder, die zuvor keinerlei kriminelle Tendenzen erkennen ließen, konnten seiner Einschätzung nach durch bestimmte biographische Ereignisse, zum Beispiel den Tod oder die Wiederverheiratung eines Elternteils, das Auftreten einer schweren Krankheit oder den Beginn der Pubertät, aus der Bahn geworfen werden. Verändere man hier die äußeren Koordinaten, so Burts Argument, dann verliere sich in aller Regel das kriminelle Verhalten der Kinder rasch.342 Burts Ergebnisse zielten in eine Richtung, auf die schon Sozialreformer hingewiesen hatten. Durch ihren Einfluss auf die Emotionen ihrer Mitglieder spielte die Familie als Ort der kindlichen Charakterbildung eine zentrale Rolle. Nicht die materiellen Umstände fielen dabei primär ins Gewicht, sondern die soziale Interaktion der Familienmitglieder untereinander. Wie Healy interessierte sich Burt für Übertragungs- und Vermittlungsprozesse und die Frage, wie bestimmte geistige oder körperliche Defizite der Eltern, angeboren oder erworben, ein Milieu erzeugen konnten, das dem delinquenten Verhalten der Kinder Vorschub leistete: Kein Verhalten ergab sich nach Burts Auffassung zwingend und notwendig allein aus einer bestimmten somatischen Anlage. Eine zu nachsichtige Mutter oder ein überstrenger Vater wirkten viel wahrscheinlicher als „active irritants“.343 Selbst hartnäckige Rückfälligkeit führte er weniger auf „original endowment“ zurück als auf eine „long-standing habit“.344 Wie aber sollte man sich den Prozess einer solchen habit formation vorstellen? Für Burt war sie das Ergebnis der unbewussten emotionalen Entwicklung des Kindes:345 „Psychological factors […] are supreme both in number and stength over all the rest. Emotional conditions are more significant than intellectual.“346 Burts Forschungen begründeten eine, wie Victor Bailey es treffend formuliert, „modified environmental interpretation.“347 Während die Sozialreformer der ­älteren Generation Ursachen kriminellen Verhaltens primär in den schlechten ­materiellen Umständen des familiären Zusammenlebens vermutet hatten – Platznation der Faktoren Delinquenz zu einem sehr wahrscheinlichen Ergebnis machte; siehe auch Burt, Young Delinquent, Conclusion, S. 598 f. 341 Zu Burts Mitgliedsstatus in der Eugenics Education Society siehe Mazumdar, Eugenics, S. 34, S. 50. 342 Siehe dazu auch Burt, Young Delinquent, S. 600 f.: „Often, as we have seen, it can be definitely established that the child in question showed no delinquent tendencies until the year of some unfortunate event.“ 343 Vgl. dazu Burt, Causal Factors, S. 18, S. 21. 344 Ebd., S. 18. 345 Für Burt ging es um die unbewußte emotionale Entwicklung des Kindes und die Ausbildung moralischer Konflikte, siehe ebd., S. 32, Anm. 1; die Schlussfolgerungen in Bezug auf das Funktionieren von Komplexen hatte Burt nicht durch „actual unravelling of them by a full and systematic exploration“ erworben, „but rather from recognised complex-symptoms noted incidentally in the course of general interviews and everyday behaviour.“ 346 Ebd., S. 33. 347 Bailey, Delinquency, S. 126.

348   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) mangel, Überfüllung, schlechte hygienische Bedingungen, allgemeine Armut –, verlagerte Burt den Blick auf das psychische Zusammenwirken der Familien­ mitglieder, so wie es bereits einige Sozialreformerinnen wie Anna Martin getan hatten.348 Jetzt waren es nicht mehr die materiellen Umstände, sondern das psychische Klima, das das Familienleben erzeugte. Von allen Faktoren, die für die moralische Entwicklung des Kindes von Bedeutung waren, erklärte Burt die emotionale Beziehung des Kindes zu seinen Eltern zum entscheidenden.349 Während er für die Auflistung der materiellen heimischen Umstände einfach auf die alten Unterscheidungen in Charles Booths Life and Labour-Erhebung aus den späten 1880er Jahren zurückgriff,350 ergänzte er selbst nun eine Liste der defekten Familienbeziehungen um Faktoren wie den Tod oder die Abwesenheit eines oder beider Elternteile (Scheidung, Militärdienst), die längere Trennung der Kinder von den Eltern (wenn es bei Freunden oder Verwandten untergebracht wurde351), die Anwesenheit von Stiefmutter oder -vater, die uneheliche Geburt oder das Dasein als Einzelkind.352 Andere, bislang hoch veranschlagte Faktoren in der Kriminalitätsgenese wie Alkoholkonsum der Eltern oder mangelnde Ernährung des Kindes befand Burt als „far less provocative than quarreling, sexual irregularity, and vicious behaviour among the members of the child’s family.“353 Das alles klang zwar auf den ersten Blick wie eine wissenschaftlich eingekleidete Abmahnung der proletarischen Alltagskultur und wie das Einklagen eines bürgerlichen Tugendkataloges. Eine solche Deutung würde Burts Intentionen aber verkennen. Er argumentierte aus der Sicht des Kindes.354 Ihm ging es primär um eine plausible Erklärung dafür, warum, erstens, unter gleichen ungünstigen materiellen Bedingungen und bei gleichem sozialem Status eine Familie delinquente Mitglieder hervorbrachte, während eine andere es nicht tat, und zweitens, warum Delinquenz auch bei materiell gesicherten (bürgerlichen) Kindern und Jugendli-

348 Vgl.

Kap. 6.4. Causal Factors, S. 33. 350 Burt studierte Booth im Detail und ergänzte seine Erkenntnisse über das Londoner East End durch die Bekanntschaft mit Familien, die dort wohnten, vgl. Hearnshaw, Cyril Burt, S. 39; von Booth übernahm Burt die Einteilung in ökonomische Gruppen: very poor (A&B); poor (C&D), comfortable (E&F); well-to-do (G&H); zu den bekannten materiellen Bestimmungen gehörten beengte Raumverhältnisse (mehr als zwei Bewohner pro Raum) oder z. B. das Fehlen angemessener Unterhaltungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten für die Kinder zuhause. 351 Etwas, das John Bowlby dann ganz ins Zentrum seiner Untersuchung stellen wird, vgl. Kap. 6.14. 352 Vgl. Burt, Causal Factors, S. 19. 353 Ebd., S. 21. 354 In einem Memorandum schrieb Burt dazu: „[W]hen reporting on a child referred to me as a potential delinquent or neurotic I should be quite at a loss to offer any trustworthy advice, if I confined myself solely to observing his behaviour or his verbal responses […] My aim has always been to gain some insight into his private thoughts and emotions, his ideas of what is pleasant or satisfying, or what is frightening and frustrating. I try to think myself inside his skull, and imagine myself in his situation, seeing everthing from his point of view.“ Cyril Burt, The School Psychological Service, Memorandum, zit. nach Hearnshaw, Cyril Burt, S. 38 f., Hervorhebung S.F. 349 Burt,

6.7. Cyril Burt − The Young Delinquent   349

chen auftrat.355 Die Struktur der Eltern-Kind-Beziehung schien dafür der Schlüssel zu sein. Was die Welt außerhalb der Familie betraf, so bestätigten Burts Untersuchungen Erkenntnisse, die bereits John Clay und Henry Lettsom Elliot 70 Jahre früher formuliert hatten: „Outside the child’s home the main demoralising influence comes evidently from his own bad companions in the streets.“356 Damit war auch Burt beim modernen Konzept der ‚Peergroup‘ angekommen. Wie bereits erwähnt, interessierte sich Burt für die psychischen Übertragungsund Vermittlungsprozesse. Bezüglich der biologischen Grundlagen knüpfte er hier an die zeitgenössische englische Instinktforschung an.357 Die Arbeiten von zwei britischen Medizinern bzw. Psychiatern waren für ihn zentral: die 1908 erschienene Studie seines Lehrers William McDougall Introduction to Social Psychology und die von Alexander F. Shand 1914 veröffentlichte Arbeit über Foundations of Character.358 Beide Arbeiten stellten den Versuch dar, den Prozess der Charakterbildung (character formation) biologisch zu bestimmen. Sie vertraten die Auffassung, dass die Grundlagen des Charakters auf ererbten Instinkten und den sie begleitenden Gefühlen beruhten. Burt, der beide Bücher als wichtige „textbooks for every student of the delinquent mind“359 empfahl, übernahm diese Vorstellungen und sah in Instinkten (instincts) und den von ihnen abhängigen Gefühlen (emotions, temperament) „the mainsprings of human conduct, the prime movers in all human life. It is they that supply both the driving-force and the ultimate ends of all human activity, whether good or ill, social or anti-social, moral or immoral.“360 Burt definierte Instinkte im biologischen Sinne als ererbte physiologische Mechanismen, die allen Mitgliedern einer Gattung gemeinsam waren und sich ursprünglich in der Auseinandersetzung mit den primitiven Existenzbedingungen gebildet hatten, unter denen sich die Gattung entwickelte.361 Das erwachende Interesse an einem für das Überleben des Individuums oder der Gattung wichtigen äußeren Objektes wurde den Instinkttätigkeiten zugeschrieben, wobei sich die Wahrnehmung solcher Objekte mit Empfindungen der Lust oder Unlust verband. Instinkte waren auch der Auslöser für „certain specific bodily movements, likely in the long run to preserve the individual and societies so be­ having“.362 Burt war davon überzeugt: „The instincts which we inherit to-day are identical with those that served our forefathers, half a million years ago.“363 355 Burt, Causal Factors, S. 21. 356 Ebd., S. 22. 357 Dazu ausführlicher Kap. 6.8. 358 William McDougall, Introduction

to Social Psychology, London 1908; Alexander F. Shand, The Foundations of Character, London 1914, vgl. zur 2. Auflage dieses Buches auch die Besprechung in: The British Journal of Psychology 9 (1920/21), S. 254–256.; und die Besprechung des Arztes und Psychoanalytikers James Glover, in: The International Journal of Psychoanalyses 4 (1923), S. 355 f., der sich darüber beklagt, dass Freud in Shands Arbeiten keine Rolle spiele. 359 Burt, Young Delinquent, S. 420, Anm. 1. 360 Ebd., S. 420. 361 Vgl. dazu ebd. 362 Vgl. ebd., S. 420 f., hier S. 421. 363 Ebd., S. 421.

350   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) Nach Burts Auffassung erzeugten unterdrückte Instinkte Gefühle, die wiederum Handlungen auslösen konnten: Wenn durch Instinkte ausgelöste Handlungsbestrebungen ganz oder teilweise kontrolliert oder unterbunden wurde, wie das bei fast jedem zivilisierten Erwachsenen der Fall war, dann blieb eine innere Erregung (internal excitement) bestehen, die sich willentlicher Kontrolle entzog: „[I]t is the confused and overwhelming sense of this inward agitation that we call emotion.364 An emotion, therefore, may be defined as the conscious aspect of a curtailed instinct; and, broadly speaking, to each particular instinct a specific emotion corresponds. Hence, in all but the most immature offenders it is the primitive emotion rather than the primitive instinct that provides the motive and the energy for crime.“365 An den delinquenten Kindern und Jugendlichen, die Burt untersuchte, stellte er einen Mangel an hemmenden Gefühlen wie Schmerz, Trauer, Furcht oder Zuneigung fest.366 Er deutete ihre emotionale Instabilität als eine fehlende Balance zwischen Instinkten und Gefühlen auf der einen Seite und jener moralischen Kontrolle auf der anderen, die sich aus der intellektuellen, rationalen Organisation dieser Gefühle ergab.367 Dieses Phänomen bezeichnete er als „temperamental deficiency“.368 Damit prägte er einen Begriff, der bald Karriere machen sollte: „Just as intellectual deficiency is an extreme form of dullness or backwardness in general intelligence, so temperamental deficiency is an extreme form of what is now commonly termed instability: always the differences are differences of degree alone, and the borderline is a purely arbitrary one, to be determined primarily by social considerations.“369 Die Folge aus Burts Konzept war, dass nun nicht mehr Intelligenz, sondern emotionale Stabilität bzw. Instabiltät mit der Frage der Sozialverträglichkeit eines Individuums und dessen möglichem Hang zu delinquentem Verhalten verbunden wurden.

Keine Tests für Emotionalität Mit dem Konzept der temperamental deficiency formulierte Burt eine Alternative zum bekannten Konzept der mental deficiency. Psychiater wie Rees Thomas oder W.H.B. Stoddart370 griffen das neue Konzept bereitwillig auf.371 Auch ihnen war bei ihrer Arbeit mit jugendlichen Straftätern der hohe Grad an Emotionalität und 364 Ebd.,

S. 477: „The instinct correlated with the emotion of fear is the impulse to escape. […] the apparent wanderer is, in fact, a fugitive.“ 365 Ebd., S. 422, Hervorhebung S.F. 366 Ebd., S. 30. 367 Vgl. dazu Cyril Burt, Delinquency and Mental Defect, in: The British Journal of Medical Psychology 3 (1923), S. 168–178, hier S. 172. 368 Ebd., S. 172. 369 Cyril Burt, The Definition and Diagnosis of Moral Imbecility, in: The British Journal of Medical Psychology 6 (1926), S. 10–46, hier S. 28. 370 Rees Thomas gehörte zum Educational Committee der Medico-Psychological Society, siehe The Journal of Mental Science 83 (1937), S. 6; Stoddart war Mitglied des Beirats der British Psychological Society und arbeitete als Assistenzarzt am Bethlem Royal Hospital. 371 Burt, Delinquency and Mental Defect, S. 178.

6.7. Cyril Burt − The Young Delinquent   351

Irritierbarkeit aufgefallen. Doch trotz der Anerkennung psychischer Prozesse und dem Einfluss von Emotionen auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen stellte Burts Typus einer emotional instabilen Persönlichkeit Psychiater und Psychologen diagnostisch vor ein Problem. Es gab keine den Intelligenztests vergleichbare Tests zur Ermittlung und Kategorisierung emotionaler Zustände. Versuche, die „number of bodily changes which go with profound emotion (tremor, as in fear; or diminished tone of unstriped muscle, as in despression)“372 zum Beispiel durch psychogalvanometrische Messungen aufzuzeichnen, scheiterten, weil weder die Quantität noch die Qualität emotionaler Reaktionen adäquat erfasst werden konnten.373 Die quantitative Einschätzung des Temperaments sei „as yet, not even in its infancy“,374 beklagte der Psychiater Harry Harris 1928 auf einer Tagung der Psychologischen Gesellschaft. Thomas betonte die soziale Funktion von Emotionen, war aber gerade aus diesem Grund skeptisch, was ihre ­Messung betraf: „We are dealing with some quality of the mind which cannot be demonstrated by mental tests, but which is in some way associated with the working of the mind as a whole, and which is intimately connected with our expe­rience as social beings.“375 Der Gefängnispsychiater und Gerichtspsychologe Maurice Hamblin Smith plädierte schließlich für eine Verfeinerung von Intelligenztests, denn es gehe in intellektuellen und emotionalen Prozessen immer um mentale Funktionen, die auch im Testverfahren mit großer Wahrscheinlichkeit nie ganz getrennt werden könnten: „It would seem preferable that we should ­devote our attention to the perfection of our present unsatisfactory ‚intelligence tests‘, and to the elucidation of what we measure by their means, rather than to the elaboration of so-called ‚emotional tests‘, many of which […] are, even on the admission of their inventors, merely tests of intelligence which employ ethical situations as integers.“376 Das Ergebnis der Debatten über die Entwicklung emotionaler Tests war die Einsicht, dass die Neue Psychologie zu den bekannten Untersuchungsverfahren der Psychiatrie keine methodischen Alternativen anbieten konnten. Die klinische 372 Vgl.

Robert David Gillespie, Contribution of Psychological Medicine to the Estimation of Character and Temperament, in: The British Journal of Medical Psychology 8 (1928), S. 165– 185, hier S. 172. 373 Zu diesen Versuchen siehe ausführlich Gillespie, Contribution of Psychological Medicine, S. 165–185. 374 Henry Harris, Mental Deficiency and Maladjustment, in: The British Journal of Medical Psychology 8 (1928), S. 285–315, hier S. 298; Harris erwähnt in diesem Zusammenhang die Arbeiten von Ernst Kretschmer und Eugen Bleuler, die eine präpsychotische Persönlich­keitsKlassifikation vornahmen; Adolf Meyer vertrat einen psychobiologischen Ansatz. Er betrachtete Temperament und Charakter als adaptive Funktionen und definierte Tempe­ ramentseigenschaften nach ‚situativen Begriffen‘, d. h. nach den Reaktionen auf besondere Situationen. Burt übernahm dagegen die pragmatische Einteilung seines Lehrers William McDougall, die nichts anderes war als eine empirische Liste instinkthafter Reaktionen. 375 Rees Thomas, The Definition and Diagnosis of Moral Imbecility, in: The British Journal of Medical Psychology 6 (1926), S. 55–69, hier S. 57. 376 Maurice Hamblin Smith, The Definition and Diagnosis of Moral Imbecility, in: The British Journal of Medical Psychology 6 (1926), S. 47–54, hier S. 56; vgl. dazu auch Harris, Mal­ adjustment, S. 311: „The nature of intelligence – and of special abilities and disabilities – ­being as yet not completely understood“.

352   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) Beobachtung, Interviews und Befragungen, Gespräche mit Verwandten und Freunden, um wichtige Informationen zur Entwicklungsgeschichte des Delinquenten zu gewinnen, wurden als Methoden und Therapieformen dadurch erneut aufgewertet. „The biographical method of investigation commonly called in clinical psychiatry history-taking, is indispensable“,377 lautete das Fazit des Arztes und Psychiaters Robert David Gillespie, der sich intensiv mit der Entwicklung und Brauchbarkeit verschiedener Methoden auseinandergesetzt hatte.

6.8. Die Neue Psychologie und Kriminalität: Theorien, Modelle, Konzepte Die Korrektur der Zahlen Die Einführung emotionaler Faktoren in die Diskussion über jugendliche Delinquenz und die Erfahrungen über Reichweite und Grenzen von Intelligenztests führten in Großbritannien zu einer Verschiebung der wissenschaftlichen Inhalte von Kriminalitätsdebatten. Nicht nur Burt drängte auf eine stärkere Trennung von intellektuellen und emotionalen Vermögen, weil er davon überzeugt war, dass Delinquenz mehr sei als eine Angelegenheit defekter Intelligenz.378 1923 stimmten auch die Konferenzteilnehmer der Psychologischen Gesellschaft der von Burt formulierten Abschlusserklärung zu. Sie lautete: „[T]hat the proportion of intellectually defective cases among the delinquent population is far lower than earlier investigations maintained. The true proportion is in the neighbourhood of 5 per cent., not 50.“379 Der Medical Inspector of Prisons, William Norwood East, bezifferte die Anzahl der mental defectives in englischen Gefängnissen sogar nur noch mit 3,4 Prozent, was sich von früheren offiziellen Angaben, darunter Gorings Zahlen von bis zu 20 Prozent, deutlich unterschied.380 William Alexander Potts, Psychiater, medizinischer Gutachter für die Gerichte in Birmingham und, wie 377 Gillespie,

Contribution of Psychological Medicine, S. 173; vgl. ebd. S. 184: „The only satisfactory method of estimating temperament and character is the biological one (history-taking) checked by accounts from the patient’s relatives and friends.“ 378 Burt, Delinquency and Mental Defect, S. 177. 379 Ebd., S. 178, Hervorhebung im Original; siehe auch die Besprechung des Buches von ­Hamblin Smith in The Journal of Mental Science 72 (1926), S. 103–109, hier S. 107: „Dr. Burt agrees with all recent British workers that the percentage of mental defectives amongst offenders is much less then the estimate made by the Royal Commission on the Feebleminded, and very much less than that given by American authorities.“ 380 Vgl. William Norwood East, Delinquency and Mental Defect, in: The British Journal of Medical Psychology 3 (1923), S. 153–167, hier S. 154; die früheren Zahlen stammten u. a. vom Medical Inspector of Prisons, Sir Herbert Smalley, vor der Royal Comission for the Care and Control of the Feeble Minded (1908); bereits vor dem Krieg hatte es aber auch schon kritische Stimmen bezüglich der Zahlen gegeben, vgl. J.P. Sturrock, The Mentally Defective Criminal, in: The Journal of Mental Science (1913), S. 314–325, hier S. 317: „The percentage of defectives in prison has been very variously estimated. Dr. Quinton, late of Holloway Prison, a man of great experience, makes it as low as 4 per cent.“

6.8. Die Neue Psychologie und Kriminalität   353

Burt, Mitarbeiter der BBC und der Howard League,381 schloss sich 1925 der ­Meinung seines Kollegen an: Some extremists, knowing that mental defect is the explanation in some cases, have jumped to the conclusion that all delinquents are more or less defective. This is not the case. It is now clear that even the 10 per cent. of defectives found in prison by some of the investigators to the Royal Commission on the Feebleminded was inaccurate, and that from 2 to 5 per cent. is nearer the mark.382

Nach der Verabschiedung des Mental Treatment Act von 1930383 distanzierten sich Ärzte und Psychiater noch deutlicher von den alten Zahlen. Im Lancet erklärte Harold Freize Stephens 1932: „Some of the earlier workers under the Mental Deficiency Acts were inclined to go to extremes, and a few years ago, it was asserted that a very large proportion of all offenders were mental defectives. Careful examinations since then have shown that these statements were exaggerated.“384Dem Herunterkorrigieren der Zahlen, in gewisser Weise eine Tradition in der englischen Gefängnispsychiatrie, kam große Bedeutung zu. Zwar blieb die Frage schwierig, wo genau die Grenze zwischen bloßen intellektuellen Defiziten und manifesten, möglicherweise angeborenen Defekten gezogen werden sollte. Doch Burts Erklärung, dass die Bedeutung intellektueller Defizite als Beitragsfaktor für Kriminalität in der Vergangenheit maßlos übertrieben worden sei,385 fand allgemeine Zustimmung. Kaum eine andere Erkenntnis wurde in Regierung, Verwaltung und Justiz so bereitwillig aufgenommen wie diese Schlussfolgerung, denn sie knüpfte in gewisser Weise an die Versuche der ‚Ent-Medikalisierung‘ früherer ­Psychiater wie Nicolson an und bedeutete die Bestätigung bzw. die (Wieder-) Herstellung einer rechtsverantwortlichen und zurechnungsfähigen Mehrheit von ­Delinquenten.386 Es wurde keineswegs bestritten, dass sich mental deficiency in 381 Zu

William Alexander Potts siehe auch seinen Artikel „Justice for the defective Offender“ in The Howard Journal (Oktober 1921), S. 80–81; 1927 bestritt Potts zusammen mit Burt und Hugh Crichton Miller auch eine BBC Radiosendung über The Development of Mind and Character: The Child, London: British Broadcasting Corporation, 1927 (BBC Series ‚Aids to Study‘, No. 3). 382 W.A. Potts, Delinquency, in: The Journal of Mental Science 71 (1925), S. 675–682, hier S. 679. 383 Siehe dazu Abschnitt 6.3.; auch S.P. Davies, Social Control of the Mentally Deficient, in: Mind. A Quarterly Review of Psychology and Philosophy 40 (1931), S. 389: „[T]hat the scare about feeble-mindedness is due to exaggeration“. 384 Harold Freize Stephens, The Treatment of Persistent Offenders, in: The Lancet, 6. Februar 1932, S. 324–326, hier S. 324; die Erklärung bezog sich auf den Report of the Departmental Committee on Persistent Offenders, Parliamentary Papers (1932), Cmd. 4090. 385 Burt, Delinquency and Mental Defect, S. 168. 386 Bereits 1917, unter dem Eindruck des Krieges und der veränderten Zusammensetzung der Gefängnispopulation, vertrat Sir George Cave im Home Office die Auffassung: „Owing to the war the number of able-bodied men received in prison has been much reduced, leaving a larger proportion, not a larger actual number, of physically or mentally weak. There has been no general increase of physically or mentally defective prisoners“, Sir George Cave, Antwort auf Anfrage von Edmund Harvey, HO, 19th June 1917,TNA, HO 45/10735/260250. Der Anteil an „feeble minded“ und „mental deficient prisoners“ wurde hier auf ungefähr 3% der Gefängnispopulation geschätzt, vgl. Minutes vom 18. Juni 1917,TNA, HO 45/10735/ 260250.

354   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) Zusammenhang mit Kriminalität oder Sittlichkeitsdelikten wie Prostitution und Landstreicherei negativ auswirken konnte, etwa unter dem Motto „Life was a struggle in which the feeble-minded sank to the bottom (first)“.387 Bereits Goring hatte in einem defizitären Intellekt und den daraus reultuierenden Nachteilen auf dem Arbeitsmarkt einen indirekten Auslöser für kriminelles Verhalten erkennen können. Healy hatte in gleicher Weise argumentiert und Burt sich dieser Auf­ fassung angeschlossen: „The dull, the defective, and the backward boys suffer by being unfitted for their work.“388 Doch keiner dieser Ärzte, Psychiater und edu­ cational psychologists wollte in den 1920er Jahren in verminderter Intelligenz noch die eigentliche Ursache für kriminelles Verhalten sehen. Die Bedeutung intellektueller Defizite als Primärfaktoren fiel hinter emotionalen, psychischen Faktoren, besonders bei Kindern und Jugendlichen, weit zurück: „]D]elinquency depends much more closely upon emotional conditions than upon intellectual conditions, although it is the intellectual status of the delinquent that has hitherto monopolised the main interest of criminal psychology. The correlation is greatest in the case of specific instincts and emotions.“389 Mit dem Hinweis auf das Zusammenwirken von Instinkten und Gefühlen gab Burt die Richtung vor, in die sich die englische Verhaltenspsychologie fortan weiter entwickeln sollte.

Vom ‚gregarious animal‘ zum ‚social instinct‘ Der Trend, sich mit den Funktionen einfacher Instinkte und korrespondierender Emotionen als Auslöser menschlicher Handlungen zu beschäftigten, ist zeitgleich auch für Deutschland oder Frankreich festzustellen. Innerhalb der wissenschaft­ lichen Diskussionen über die Ursachen von ‚anti-sozialem‘ Verhalten erlebte in England allerdings ein spezieller ‚Instinkt‘ besondere Beachtung, wie sie ihm in den Debatten anderer europäischer Länder nicht in diesem Maße zuteil wurde. Es handelte sich um den Herden- bzw. Sozialinstinkt. Vier Gründe dürften für seine Prominenz eine Rolle gespielt haben: Darwins Einfluss, der Wandel der physischen Anthropologie zur Sozialpsychologie, die Verarbeitung der Weltkriegserfahrungen (shell shock-Debatte) und der Aufstieg der Labour Party.390 Die Diskussionen über die Funktion des Herdentriebes oder Sozialinstinkts, die auf die Debatten über Delinquenz ausstrahlten, bildeten einen von mehreren wissenschaftlichen Versuchen, eine biologisch begründete Sozial- und Gesellschaftstheorie zu entwickeln, die besonders in linksliberalen und sozialistischen Kreisen auf 387 Rose,

Psychological Complex, S. 106. Causal Factors, S. 28 f. 389 Ebd., S. 30. 390 Es ist sicher kein Zufall, dass die Arbeit Mutual Aid (1902) des russischen Exilanten und Anarchisten Alex Kropotkin, in dem es um eine Aufwertung eines natürlichen Vergesellschaftungstriebes gegenüber der sozialdarwinistischen Überschätzung des natürlichen Selektionsprinzip des „Fitteren“ in England geschrieben und publiziert wurde, u. a. in Auseinandersetzung mit dem Darwin-Apologeten Thomas Henry Huxley, The Struggle for Existence: A Programme, in: The Nineteenth Century 82 (Februar 1888), S. 161–180. 388 Burt,

6.8. Die Neue Psychologie und Kriminalität   355

große Zustimmung stieß, da sie letztlich von der Vergesellschaftung und damit Integration aller Mitglieder in eine Gemeinschaft als eines zentralen menschlichen Anliegens und Ziel der eigenen Verwirklichung des Menschen ausging. Es war Darwin, der in seinem Descent of Man (1871) als einer der ersten über einen Sozialinstinkt spekulierte und das Fehlen eines moral sense mit ‚anti-sozialem‘ Verhalten in Verbindung brachte.391 Er hatte dabei allerdings stets die Wichtigkeit intellektueller Fähigkeiten im Auge behalten und ging zudem davon aus, dass eine Vielzahl von Instinkten für die Entwicklung eines ‚moralischen Sinns‘ notwendig sei. Diese Idee wurde von zahlreichen englischen Autoren aufgegriffen. So blieb Francis Galton in seinen Inquiries into Human Faculty (1883) den rein biologischen Instinkten treu,392 darin gefolgt von William James in seinen Principles of Psychology393 und William McDougall in seiner Social Psychology.394 Auch Karl Pearson teilte mit Darwin und Galton die Annahme eines rein biologischen Instinkts.395 Zur eigentlichen Popularität gelangte das Konzept des Sozialinstinkts aber erst durch die Arbeiten von Wilfred Trotter, Arthur George Tansley und William ­Rivers.396 Alle drei Autoren, zwei Ärzte und ein Biologe, erweiterten den biologischen Instinktbegriff Darwins um die Idee des Freudschen Triebes, wobei sich für deutsche Leser in diesem Kontext die Schwierigkeit ergibt, dass dieser Freudsche Triebbegriff im Englischen auch mit dem Wort instinct übersetzt wird und damit der im Deutschen bestehende Unterschied zwischen Trieb und Instinkt verschwimmt.397 Freud umschreibt den Trieb als einen dynamischen Prozess (Drang, energetische Ladung, motorisches Moment) und unterscheidet ihn vom Instinkt. Instinkt kennzeichnet bei ihm „ein tierisches, durch Heredität fixiertes und für die Art charakteristisches Verhalten“398, während der Trieb primär ein inneres 391 Siehe

Charles Darwin, Descent of Man, London 1871, bes. S. 149 f. Galton, Inquiries into Human Faculty, S. 72. 393 Siehe William James, The Principles of Psychology, New York 1890, Bd. 2 (1901), S. 430. 394 Siehe McDougall, Introduction to Social Psychology, S. 84. 395 Siehe Pearson, Grammar of Science, S. 368. 396 Wilfred Trotter, Herd Instinct and its Bearing on the Psychology of Civilized Man, in: Sociological Review 1 (1908), S. 227–248; ders., Sociological Application of the Psychology of Herd Instinct, in: Sociological Review 2 (1909), S. 36–54; ders. Instincts of the Herd in Peace and War, London 1916, S. 40; William H.R. Rivers, Instinct and the Unconscious, in: British Journal of Psychology. Medical Sektion 1 (1921), S. 165–173; Arthur George Tansley, The New Psychology and Its Relation to Life, London 1920. 397 Ein gutes Beipiel dafür ist eine Tagebuchaufzeichnung von Virginia Woolf, die sie kurz nach Freuds Tod notierte: „If we’re all instinct, the unconscious, what’s all this about civilization, the whole man, freedom &c? […] But I’m too mixed. I’m going to begin Mill on Liberty.“ 9. Dezember 1939, in: Virginia Woolf, The Diary of Virginia Woolf [1936–1941], London 1985, Bd. 5, S. 250, hier zit. nach Daniel Pick, Maladies of the Will: Freedom, Fetters and the Fear of Freud, in: Roberta Bivins und John V. Pickstone (Hrsg.), Medicine, Madness and Social History: Essays in Honour of Roy Porter, Basingstoke und New York 2007, S. 197–209, hier S. 203. 398 Siehe zum Übersetzungproblem den Artikel „Trieb“ in: Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, 2. Bd., Frankfurt am Main 1980, S. 525–529 ­(Zitat hier S. 526), und den Artikel „Instinkt“, ebd., Bd. 1, S. 231 f. 392 Siehe

356   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) Drängen darstellt, das den Organismus zu bestimmten Handlungen mit dem Ziel der Erregungsabfuhr veranlasst. Wilfred Trotters einflussreiche Aufsätze in den ersten Bänden der Sociological Review 1908/09 begründeten die Popularität des Sozialtriebs als einer „fundamentalen Qualität des Menschen“.399 Seit Darwin war die biologische Bedeutung von gregariousness leicht nachvolziehbar: die Organisation als Herde erhöhte die Überlebenschancen der Gattung, indem sie nicht nur durch die Zahl, sondern auch durch die größere Vielfalt der Gemeinschaftsmitglieder bessere Anpassungsleistungen an eine sich ändernde Umwelt ermöglichte.400 Nach Trotter hatte die Evolution dahin gewirkt, dass der Mensch über den angeborenen Sozialinstinkt immer auf die Gemeinschaft ausgerichtet blieb und sich als einzelnes Geschöpf ohne Herde unvollkommen fühlte. Mit diesem angeborene „sense of incom­ pleteness“401 erklärte er nicht nur die Hinwendung zur Religion,402 sondern auch die von Trotter fast poetisch umschriebene Neigung, „that binds the wolf to the pack, the sheep to the flock, and to the dog makes the company of his master like walking with God in the cool of the evening.“403 Anders als der französische Arzt und Psychiater Gustave Le Bon404 fragte Trotter nicht nach dem Einfluss der ­Masse auf ein sich konkret in ihr befindliches Subjekt, sondern nach den Auswirkungen des Sozialinstinkts allgemein auf das normale menschliche Verhalten.405 Über Suggestion wirkten, so nahm er an, die Erwartungen und Regeln der Herde auf den Einzelnen.406 Nur dadurch, dass es die Herde gab, konnte es abweichendes Verhalten geben: „Conscience then and the feelings of guilt and duty are the peculiar possessions of the gregarious animal […] The rational recognition of the sequence of act and punishment is equally clear to the gregarious and to the solitary animal, but it is the former only who understands that he has committed a crime, who has in fact the sense of sin.“407 Was den Sozialinstinkt gegenüber den anderen Instinkten wie Selbsterhaltung, Ernährung und Geschlechtstrieb auszeichnete, war seine davon verschiedene Wirkungsweise.408 Während die drei aufgeführten Instinkte das Individuum aus sich heraus bestimmten und vor allem auf Annehmlichkeiten (Belohnung, Lustgewinn) abzielten, übte der Herdentrieb „a controlling power upon the individual 399 Trotter,

Herd Instinct, S. 235. Trotter, Sociological Application, S. 50. 401 Ebd., S. 42. 402 Ebd., S. 42: „This is the psychological germ which expresses itself in the religious feelings, in the desire for completion, for mystical union, for incorporation with the infinite“. 403 Ebd., S. 42. 404 Vgl. Gustave Le Bon, Psychologie der Masse, Stuttgart 1974. 405 Trotter nimmt in seiner Arbeit kurz auf Le Bons Massenpsychologie Bezug, vgl. Trotter, Herd Instinct, S. 237. 406 Trotter, Herd Instinct, S. 238, macht hier Anleihen an Boris Sidis, The Psychology of Suggestion: a research into the subconscious nature of Man and Society, New York 1903, S. 310: „Suggestibility is the cement of the herd, the very soul of the primitive social group […] Man is a social animal, no doubt, but he is social because he is suggestible.“ 407 Trotter, Herd Instinct, S. 248, Hervorhebung im Original. 408 Ders., Sociological Application, S. 39. 400 Vgl.

6.8. Die Neue Psychologie und Kriminalität   357

from without. […] With the social animal controlled by herd instinct it is not the actual deed which is instinctively done, but the order to do it which is instinctively obeyed.“409 Pflichterfüllung wurde dadurch möglich, hervorgegangen allerdings aus einem Konflikt zwischen den verinnerlichten „Diktaten der suggerierenden Herde“410 und den eigenen Erfahrungen bzw. Bestrebungen des Individuums, die damit im Widerspruch stehen konnten.411 Lange vor Freud und dessen Reflexionen über das Unbehagen in der Kultur (1930) glaubte Trotter, dass dieser Konflikt in jedem Menschen in einer komplexer werdenden Gesellschaft stetig zunahm. Je nachdem, wie Menschen mit diesem Konflikt umgingen, unterschied Trotter vor allem zwei Typen: den mental stabilen und den mental instabilen Typen. Der mental stabile Typ überwand den Konflikt dadurch, dass er seine eigenen Erfahrungen und Wünsche den Regeln der Herde unterordnete bzw. seine eigenen Präferenzen aufgab (exclusion, rejection, rationalisation). Die Gruppe des mental stabilen Typs waren die zuverlässigen Mitglieder einer Gemeinschaft, weil sie sich durch eine bewusste Präferenz für die Herdentradition über alle anderen Quellen des Verhaltens auszeichneten.412 Dieser Typus hatte nach Trotter aber seinen Zenith bereits überschritten, denn mit seiner Resistenz gegenüber neuen Erfahrungen und der Weigerung, den Wert von Gefühlen anzuerkennen, war er nicht mehr zeitgemäß in einer Welt, in der Umstände und Umweltbedingungen mit erstaunlicher Geschwindigkeit täglich komplexer wurden.413 Vom gesellschaftlichen Standpunkt aus betrachtet war dieser mental stabile Typ ein Verlust, denn durch sein gegenüber neuen Erfahrungen resistentes Verhalten blieb er hinter den Entwicklungsmöglichkeiten des menschlichen Geistes zurück. Trotters bahnbrechene Leistung bestand nun aber in der Rehabilitierung des mental instabilen Typs (mentally unstable type) als eines nicht kranken oder degenerierten, sondern eines gegenüber den Konflikten zwischen Individuum und Gesellschaft hochsensiblen und skeptischen Menschens. Man habe, so argumentierte Trotter, die wirkliche Bedeutung von mental instability durch die Erfindung des desaströsen Worten Degeneration auf unzulässige Weise in Mißkredit gebracht.414 Gerade weil der Mensch als gregarious animal stets diesen langanhaltenden und heftigen Konflikten zwischen den Anforderungen der Herde und eigenen Trieben ausgesetzt sei, müssten die Erscheinungen mentaler Desintegration (mental disintegration) nicht als Krankheiten des Individuums im herkömmlichen Sinne gedeutet werden, sondern als „inevitable consequences of man’s biological history and exact measures of the stage now reached of his assimilation into

409 Ebd.,

40, Hervorhebung S.F. S. 41. 411 Vgl. Ebd., S. 41 f.: „The primitive instincts are now awake and finding themselves baulked at every turn by herd suggestion“. 412 Ebd., S. 44. 413 Ebd., S. 45. 414 Ebd., S. 52. 410 Ebd.,

358   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) the gregarious life.“415 Die Zustände mentaler Desintegration bezeichneten also letztlich nur unterschiedliche Grade der Integration in die Gesellschaft. In der Sensiblität des instabilen Typen erblickte Trotter langfristig sogar einen Vorteil durch eine damit verbundene Fähigkeit zur Kommunikation (capacity for communication), denn komplexer werdende Gesellschaften schienen zum eigenen Erhalt auf das möglichst störungsfreie Funktionieren der „intercommunication“416 ihrer Mitglieder immer stärker angewiesen zu sein. 1920 knüpfte Arthur Tansley in seinem Band The New Psychology and Its Relation to Life an Trotters Überlegungen an. Tansley war eigentlich Botaniker und einer der ersten Ökologen in Oxford, interessierte sich aber auch sehr für Freuds Theorien und ließ sich sogar von diesem in den 1920er Jahren in Wien analysieren.417 In seinem Buch, das sich zur Überraschung des Verfassers und des Verlages in kürzester Zeit zu einem Bestseller entwickelte,418 versuchte er ebenfalls den biologischen Instinktbegriff mit dem psychoanalytischen Triebbegriff in Beziehung zu setzen und dabei, ähnlich wie Trotter, moralisches Verhalten vor allem mit dem Herdentrieb zu verbinden: „The ‚moral sense‘ is the sensitiveness of the individual to the call of the herd.“419 Der Mensch, so lassen sich die Aussagen von Trotter, Tansley und auch Rivers zusammenfassen, war von Natur aus auf die Gemeinschaft ausgerichtet, seine eigentliche Bestimmung hatte ganz wesentlich etwas mit der Integration in diese Gemeinschaft zu tun. Während Freud dem Sexualtrieb die größte Bedeutung zumaß, verteidigten psychologische Anthropologen wie Rivers den Selbsterhaltungs-, aber auch den Herdentrieb als wesentlich bedeutsamer. Und während die psychoanalytische Theorie nur eine libidinöse Energie mit keiner konkret gegebenen Form von Befriedigung postulierte, konstruierte die Instinkttheorie dieser britischen Autoren im Gegensatz dazu ein Indivi­ duum „as pre-organised towards social adjustment.“420 Wenn aber die soziale Anpassung und die Integration in die Gemeinschaft als wesentliches Merkmal

415 Ebd.,

S. 47. S. 53. 417 Zu Arthur George Tansley (1871–1955) siehe Hearnshaw, Short History, S. 238–239; Laura Cameron und John Forrester, ‚A Nice Type of the English Scientist‘: Tansley and Freud, in: Daniel Pick und Lyndal Roper (Hrsg.), Dreams and History. The Interpreation of Dreams from Ancient Greece to Modern Psychoanalysis, London, New York 2004, S. 199–236; über Tansleys Analyse in Wien berichtete Sigmund Freud am 6. April 1922 an Ernest Jones in London: „Tansley has started analysis last Saturday. I find a charming man in him, a nice type of the English scientist. It might be a gain to win him over to our science at the loss of botany.“ The Complete Correspondence of Sigmund Freud and Ernest Jones, 1908–1939, hrsg. von R. Andrew Paskauskas, Cambridge/Mass. und London 1993, S. 486, auch zit. in Cameron und Forrester, Tansley and Freud, S. 199; zur Verbindung von Psychoanalyse und den akademischen Zirkeln in Cambridge durch Tansley siehe Laura Cameron und John Forrester, Tansley’s Psychoanalytic Network: An Episode out of the Early History of Psychoanalysis in England, in: Psychoanalysis and History 2 (2000), S. 189–256. 418 Arthur George Tansley, The New Psychology and Its Relation to Life, London 1920. 419 Ebd., S. 197. 420 Rose, Psychological Complex, S. 185; vgl auch ebd.: „[T]he herd instinct bound the individual into obligation to morality and authority.“ 416 Ebd.,

6.8. Die Neue Psychologie und Kriminalität   359

menschlichen Daseins und Bestrebens interpretiert wurden, dann ließen sich diesbezügliche Verhaltensstörungen (z. B. ‚anti-soziales‘ oder delinquentes Verhalten) möglichwerweise durch Störungen dieses primären Triebes bzw. Instinktes erklären. Dazu musste nicht einmal unbedingt die reine Freudsche Triebtheorie bemüht werden. Selbst Eugeniker wie Alfred Tredgold,421 der Freud ablehnte, konnten mit einem biologischen Instinktbegriff, der als Reflex-Verhalten evolutionstheoretisch leicht mit seinem „high survival value“422 erklärt werden konnte, genauso gut operieren wie der von Freuds Triebtheorie überzeugte Psychologe Rees Thomas, der davon ausging, dass sich die Menschheitsentwicklung wesentlich dem Herdentrieb verdankte.423 Auch er sah durch diesen Trieb klare evolutionäre Vorteile für die eigene Gattung gesichert, nämlich ihren Erhalt, ihre Wohlfahrt und ihre progressive Entwicklung. Im Gegensatz zu Rivers und Trotter, die den Herdentrieb für einen komplexen Instinkt hielten, glaubte Thomas allerdings, gregariousness, also der Trieb zur Gemeinschaft, sei einer der frühesten Triebe überhaupt, der evolutionsgeschichtlich der Ausbildung ‚egoistischer‘ Triebe vorausgehe. Deshalb sei der mutual aid instinct auch unter einfachen Gemeinschaften anzutreffen. Mit Blick auf die Diskussionen über anti-soziales oder delinquentes Verhalten erschien nun die Frage entscheidend, ob der Herdentrieb in einem Menschen stark oder schwach ausgebildet war, denn davon hing ab, ob dieser Mensch in der Lage 421 Alfred

F. Tredgold (1870–1952) legte 1908 ein Standardwerk zur Mental Deficiency vor, das viele Auflagen erlebte. Tredgold, der Mitglied der Eugenics Education Society war und als Gutachter die Ergebnisse der Royal Commission for the Care and Control of the Feebleminded beeinflusste, ging von einer starken Vererbungsdisposition bei Geistesschwäche aus: „In 90 per cent of patients suffering from mental deficiency the condition is the result of a morbid state of the ancestors.“ (zit. nach Hearnshaw, Short History, S. 154). Trotzdem setzte sich auch Tredgold für die Schulung geistesschwacher Kinder ein, mit der so früh wie möglich begonnen werden sollte, siehe Hearnshaw, ebd. 422 Alfred Tredgold, The Definition and Diagnosis of Moral Imbecility, in: British Journal of Medical Psychology 6 (1926), S. 1–9, hier S. 2: „[I]nstinctive behaviour is the result of the gradual evolving of an organic pattern in the central nervous system, that the tendency to the development of this pattern is inherited from a very remote past, and that it has a high survival value for the reason that for innumerable generations such instinctive action was essential to the safety and survival of the individual, and so to the perpetuation of the race.“ 423 Vgl. dazu Rees Thomas, The Definition and Diagnosis of Moral Imbecility, in: British Journal of Medical Psychology 6 (1926), S. 55–69, hier S. 58: „The habit of gregariousness finds its origin in the history of the development of mankind.“ Wenn die Evolutionsgeschichte und damit die Entwicklung des Menschen aus niedriger entwickelten Lebewesen zutraf, dann ließen sich viele Beispiele einer „mutual tolerance associated with gregariousness“ beobachten (ebd.); Thomas greift hier die Behauptung des russischen Anarchisten und Naturforscher Pjotr Alexejewitsch Kropotkin auf, dessen Manuskript Mutual Aid 1902 in England veröffentlicht worden war. Auf ausgedehnten Sibirienfahrten hatte Kropotkin, der im englischen Exil lebte, Hunderte von Beispiele gegenseitiger Hilfe von Menschen und Tieren beobachtet, die nicht einmal auf Blutsverwandtschaft basierten, siehe dazu neuerdings der Bio­ loge Lee Alan Dugatkin, Wie kommt die Güte in die Welt? Wissenschaftler erforschen unseren Sinn für den Anderen, Berlin 2008, S. 33–48; seltsamerweise findet ausgerechnet Winfred Trotters Konzept in Dugatkins Buch keine Erwähnung.

360   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) war, egoistische oder primitive Triebe zu unterdrücken und sich im Sinne der Herde ‚sozialkompetent‘ zu verhalten. „Man as a social being must therefore possess the capacity for the suppression of those desires that are inimical to the wellbeing of the herd, or he must sacrifice his association with the herd. Should he desire to satisfy his craving for companionship he must obey the rules of the herd for the time being in force.“424 Während an der Existenz und der Wichtigkeit des Sozialinstinkts innerhalb der britischen Forschergemeinschaft kein Zweifel gehegt wurde, wurde über seine Funktion und Bedeutung heftig gestritten. Kritik an der Vorstellung, der Herdentrieb an sich sorge schon für den gehörigen Druck zu sozialverträglichem Verhalten, übte besonders Cyril Burt, der die Berücksichtigung von Erziehungselementen in der Ausbildung eines moralischen Bewusstseins einklagte. Burt, der an der schlichten biologischen Instinkttheorie seines Lehrers McDougall festhielt, warf Tansley vor, er überdehne „the elastic notion of a simple animal instinct“.425 Er knüpfte auch an die Einwände des amerikanischen Verhaltenspsychologen Robert Woodworth an, der eingewendet hatte: „The gregarious instinct does not by any manner of means account for all of man’s social conduct. It brings men together and so gives a chance for social doings, but these doings are learned, not provided ready-made by the instinct.“426 Der Herdentrieb bilde nur die Voraussetzung, gleichsam die Motivation zu sozialem Umgang überhaupt, garantiere aber nicht automatisch ein bestimmtes Sozialverhalten: „It only gives them an opportunity for acquiring such behaviour.“427 Ein fehlender oder defekter Herdentrieb mache Menschen nur einsam, aber nicht unbedingt gleich kriminell, gab Burt zu bedenken: „Solitary individuals, in whom the herd instinct is so weak as to seem almost non-existent, may yet lead the most impeccable lives. They may be a-social, but they are not anti-social.“428 In diesem Punkt stimmte ihm der Gefängnismediziner, Gerichtspsychologe und Freudanhänger Maurice Hamblin Smith zu.429 Smith, der mit Rivers die Auffassung teilte, dass es sich beim Herdentrieb um einen komplizierten Instinkt (complicated instinct) handle, dessen Aufgabe es sei, den Zusammenhalt der Gruppe herzustellen und zu erhalten, teilte Burts Zweifel hinsichtlich der Rolle dieses Instinktes in Bezug auf moralisches Verhalten.430 Er betonte den Einfluss äußerer

424 Thomas,

Moral Imbecility, S. 58 f. Moral Imbecility, S. 21. 426 Robert S. Woodworth, Psychology: A Study of Mental Life, London 1922, S. 146 (20. Aufl. 1950); vgl. auch George Trumbull Ladd und Robert S. Woodworth, Elements of Physiological Psychology, New York 1911, S. 274; die Unterdrückung oder Hemmung (inhibition) von Trieben könne in tausend verschiedenen Formen ablaufen: „Energy is simply drained away from one set of nervous channels into another“. Der Hinweis auf Woodworth findet sich in Burt, Moral Deficiency (II), S. 21, Anm. 1 und 2. 427 Ebd., S. 22. 428 Ebd., S. 23, Hervorhebung S.F. 429 Siehe auch Maurice Hamblin Smith, The Psychology of the Criminal, London 1922. 430 Smith, Moral Deficiency, S. 49. 425 Burt,

6.8. Die Neue Psychologie und Kriminalität   361

Faktoren, den Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung und den Preis der Anpassung: [T]he existence of this instinct does not imply that a man is born with the desire to obey the rules of the society in which he lives. Rather may we say that the desire to live in society renders him obedient to the rules of society, because man realizes that in no other way can he live in society. Of course, the wish to stand well in the estimation of our fellows has its effect. And so our notions of right and wrong depend upon education, upon experience, upon the pressure of that part of society which forms our immediate social environment.431

Auch wenn über die genauere Bestimmung des Sozialtriebs keine Einigkeit zu erzielen war, so wurden seine Funktionen doch allgemein positiver besetzt als die Funktionen des reinen Geschlechts- oder Selbsterhaltungtriebs. Der Sozialtrieb war der einzige Trieb, der nicht kontrolliert und beschränkt werden musste, sondern sich im Gegenteil entfalten sollte, damit gemeinschaftliches Leben funktionierte. Zwar war er nicht für die Inhalte und Normen, an denen sich sozialverträgliches Verhalten ausrichten musste, zuständig, aber er wurde als eine biologische Grundkonstante anerkannt, die zum gesellschaftlichen Miteinander überhaupt erst stimulierte. Sowohl die Existenz und Bedeutung des Herdentriebs – ob nun als ältester, archaischer Trieb der Evolutionsgeschichte wie bei Thomas oder als hochentwickelter, von primitiven Instinkten deutlich unterschiedener, komplexer Trieb wie bei Rivers und Smith – als auch die Tragweite der Konsequenzen im Falle seiner Störung wurden von Psychiatern und Psychologen hervorgehoben. Aber so, wie ein in seiner Entwicklung gestörter Sexualtrieb zur Perversion führen konnte, so konnte ein gestörter Herdeninstinkt eine Fehlentwicklung in Bezug auf den Erwerb sozialer Kompetenzen begünstigen, mithin ihre Ausbildung vereiteln und sozialschädigendes Verhalten zur Folge haben.432 Anschlussfähig war diese Instinkttheorie sowohl an eine psychologische Kontrolltheorie als auch an die Vorstellung eines mit der Geburt einsetzenden langsamen Lernprozesses moralischen Verhaltens, die alternative Erklärungsmodelle zu den älteren Konzepten des innate moral sense bereitstellten.

„Morality is not innate“ – Kontrolltheorien „Morality is just this control of the instincts.“433 Für die meisten englischen Psychiater bedeutete moralisches Verhalten in erster Linie erfolgreiche Triebkontrolle. Von einem Repressionsmechanismus gingen nicht nur die Freudbefürworter aus,434 sondern auch viele aus der traditionellen Medizin und Psychiatrie kommenden Forscher. Alfred Tredgold, der von sich selbst behauptete, kein Psycholo431 Ebd.,

S. 49 f. Moral Imbecility, S. 59. 433 Stoddart, Delinquency and Mental Defect, S. 189; „Morality is not innate but acquired after birth“ (ebd., S. 188); „control of the instincts, which is synonymous with morality“ (ebd., 190). 434 Z. B. ebd., S. 189: „It is responsible for what Freud has called repression and, although that repression occurs during the first twelve years or so, it continues through life so that the instincts normally tend to become more and more repressed.“ 432 Thomas,

362   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) ge, sondern „merely a physician“435 zu sein, war davon überzeugt, dass die Frage, ob die Biographie eines erwachsenen Individuums von korrektem Verhalten oder Fehlverhalten geprägt werde, von zwei Faktoren abhänge: erstens vom Entwicklungsgrad der geistigen Kontrollfunktionen (inhibitive forces) und zweitens von der Stärke innerer Neigungen (innate tendencies), die kontrolliert werden müssten und die unterschiedlich stark in Individuen ausgebildet seien.436 Wie wurde aber Moralität erworben, wie lernten Menschen, ihre Triebe zu kontrollieren? Durch die Instinkttheorie und die Annahme von Repressionsmechanismen war die ältere Vorstellung eines angeborenen moralischen Sinns, eines innate moral sense,437 die ursprünglich aus der Philosophie stammte und noch im 19. Jahrhundert im Mittelpunkt philosophischer und psychiatrischer Debatten gestanden hatte, obsolet geworden. Moralisches und damit gesetzeskonformes Verhalten wurde nicht durch einen angeborenen Sinn, nicht durch ein inneres Organ, aber auch nicht durch Instinkt oder Trieb, ja nicht einmal durch Intelligenz gewährleistet. „Morality“, so formulierte Cyril Burt den unter educational psychologists gemeinhin akzeptierten Ansatz eines langsamen Erwerbsprozesses, „does not rest upon a simple intuition; but is a highly complex quality acquired after birth by slow and painful processes. It consists of memories, sentiments, and habits, associated ways of thinking, feeling, and acting, which are not inherited or inborn, but are built up afresh, by experience and training, during each individual’s life. The foundations of character, it is true, rest upon certain innate tendencies; but character itself is not innate.“438 Auch im Kontext dieser Diskussionen wurden angeborene Eigenschaften keineswegs geleugnet und die biologische Grundlage allen Daseins und Handels nicht in Frage gestellt. Aber die Herausbildung von Charakter als eines Resultats aus dem individuellen Zusammenspiel von angeborenen Eigenschaften und der Ausbildung notwendiger Kontrollmechanismen, die über die Konfrontation mit der Umwelt eingeübt wurden, sprach äußeren Faktoren wie Erziehung, Bildung und sozialem Milieu den großen, den entscheidenden Einfluss zu. Viele Psychiater, die educational psychologists und, wie noch zu zeigen sein wird, progressive Pädagogen sprachen hier mit einer Stimme. Für Smith stand fest: „the moral ­sentiment is a gradual growth in each individual, and is due to the pressure of society upon the individual.“439 Und auch Thomas betonte, welche entscheidende Rolle der unmittelbaren Lebensumwelt bei der Ausbildung eines moralischen Bewusstseins zukam. Ein im Slum aufgewachsenes Kind würde zwangsläufig das Verhalten seiner Gruppe erwerben, auch wenn dieses Verhalten in einem anderem Umfeld nicht toleriert würde: „[T]he child has to serve many masters. It must 435 Tredgold,

Moral Imbecility, S. 1. S. 4; siehe auch S. 5: „In short, I regard the psychological basis of moral imbecility as constisting of an innate defect of wisdom and moral sense associated with the presence of strong anti-social tendencies.“ 437 „[S]uch a short and easy metaphor“, wie Cyril Burt betonte, Burt, Mental Defect, S. 170. 438 Ebd., S. 170, Hervorhebung S.F. 439 Smith, Moral Imbecility, S. 49. 436 Ebd.,

6.8. Die Neue Psychologie und Kriminalität   363

first adapt itself to family life, then to the life of its less immediate surroundings and finally to that of the larger society or state. At each stage he must be taught the necessary taboos.“440 Der Zwang zur Ausbildung eines moralischen Bewusstseins ließ sich auch, wie bereits erwähnt, mit dem Herdentrieb in Verbindung bringen. Jedes Kind sei zunächst einmal ein „immoral selfish beast“,441 erklärte Stoddart, das „partly from an innate tendency to comply with the wishes of his fellows (herd-instict) and mainly from training and association with moral, ethical and conventional beings, […] learns to control his instincts and thus to become a moral, ethical and conventional member of society.“442 Auch der organisch orientierte Alfred Tredgold konnte dem zustimmen und unterstrich den prozessualen Charakter der Herausbildung eines moralischen Bewusstseins im Kindesalter durch soziale Interaktion, durch die Erfahrung des Kindes von Anerkennung und Bestätigung oder Kritik und Strafe an seinem Verhalten. Gekoppelt sei dieser Lernprozess – Tredgold stand hier in der englischen Tradition von Jeremy Bentham – an die aus dieser Interaktion resultierenden Erfahrung bestimmter Gefühle der Furcht oder Unzufriedenheit auf der einen (Unlust), Zufriedenheit und Selbstbestätigung auf der anderen Seite (Lust): „These emotions gradually lead to the development of the sentiments of rightness and wrongness in regard to ideas of conduct, and this constitutes the basis of moral sense. With the development of this sentiment the individual may be said to have acquired a second brake, and this serves still further to control the manifestation of his primitive selfish instincts.“443 Tredgold maß der Entwicklung dieses moralischen Gefühls (moral sentiment) große soziale und kulturelle Bedeutung zu. Es fungiere als Basis, aus der sich alle höherwertigen Gefühle wie Patriotismus, Pflichtgefühl oder Altruismus entwickelten, welche den „man of culture“ vom „primitive savage“ unterscheide.444 Über die von Psychiatern und Psychologen in Großbritannien in den 1920er Jahren geführten Debatten über anti-soziales und delinquentes Verhalten lässt sich zusammenfassen: Die Ausbildung eines moralischen Bewusstseins, das den Ausgangspunkt für sozialverträgliches, gesetzeskonformes Verhalten bildete, wurde innerhalb der ‚psychologisierten Psychiatrie‘, wie man den Bereich nennen könnte, in dem vor allem ausgebildetet Ärzte und Psychiater mit psychologischen Interessen agierten, als das Ergebnis eines langwierigen Lernprozesses aufgefasst.445 Dabei lag die Betonung nicht auf den unterschiedlichen Anlagen der einzelnen Individuen, die niemand bezweifelte, sondern sowohl auf der Möglichkeit ihrer Formung, Erziehbarkeit und Entfaltung als auch ihrer notwendigen Kontrolle, Unterdrückung und Beschränkung. Die Schaffung eines moralischen Bewusstseins war auf die Vermittlung von Eltern, Lehrern, Pädagogen, Sozialarbeit440 Thomas,

Moral Imbecility, S. 59. Delinquency and Mental Deficiency, S. 188. 442 Ebd., S. 188 f. 443 Tredgold, Moral Imbecility, S. 3, Hervorhebung S.F. 444 Ebd., S. 5. 445 Vgl. Burt, Moral Imbecility, S. 25; Burt referiert hier Tredgold. 441 Stoddart,

364   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) ern, Bewährungshelfern, ja selbst noch auf den civil service und die Gefängnisverwaltungen angewiesen: „Our conclusion is“, so formulierte es Stoddart, „that both academic learning and morality are mostly taught, the former mostly by education at school, the latter mainly by example and precept in the family circle; and just as the children of barge-dwellers and van-dwellers never acquire much learning because they do not attend school, so the children of thieves and drunkards do not achieve a high degree of morality.“446 Kriminelles Verhalten wurde also in erster Linie als erlerntes Verhalten bestimmt. Wenn dieser Ansatz zutraf, dann galt es mit Blick auf eine präventive Kriminalpolitik Einfluss auf die Umstände des moralischen Lernprozesses zu nehmen.

Die Frage der sozialen Anpassung Was Verhaltenspsychologen nicht nur in England, sondern in ganz Europa und Amerika in den zwanziger Jahren umtrieb, war die Frage nach den Voraussetzungen und Mechanismen geglückter Anpassung, die ein sozialkonformes und straffreies Leben ermöglichten. Wenn, wie der britische Psychiater Robert David Gillespie annahm, mental disorder das Ergebnis einer schlechten oder fehlenden ­Anpassung an die Umwelt – „maladaptation to the environment“447– war, dann konnte das Studium bestimmter geistiger Erkrankungen die Forscher möglicherweise in die Lage versetzen, diejenigen Charaktersistika mit größerer Sicherheit zu isolieren, die besonders signifikant für Anpassungsprozesse waren.448 Vielleicht ließ sich sogar eine Hierarchie der für eine erfolgreiche Anpassung notwendigen Fähigkeiten aufstellen, denn manche Eigenschaften des Temperaments oder Charakters eines Menschen mochten dafür wichtiger erscheinen als andere. Jedes Studium der Persönlichkeit sei, so erklärte Gillespie, primär mit der Beantwortung der zentralen Frage beschäftigt: „What are this individual’s chances of making and preserving a successful adaptation in his way through life, and under what circumstances is he most likely to do so?“449 Leichter als die genaue Aufklärung des Anpassungsprozesses selbst war für die ‚medizinische Psychologie‘450 die Bestimmung dessen, was geglückte Anpassung auszeichnen sollte. Sie umfasste biologische, psychologische und soziale Aspekte und zielte auf körperliche und geistige Gesundheit, psychische Ausgeglichenheit

446 Stoddart,

Delinquency and Mental Defect, S. 189. Contribution of Psychological Medicine, S. 178. 448 Ebd., S. 179 f.; siehe auch S. 185: Bei Schizophrenie-Patienten kam z. B. die „inadequate adaptation“ des Kranken durch seinen Rückzug aus sozialen Beziehungen hinzu, die sich in verschiedenen Formen bemerkbar machte: in einem Mangel an objektiven Interessen ebenso wie exzessiven Tagträumen oder Gefühlen von Minderwertigkeit bei gleichzeitiger Überempfindlichkeit gegenüber Kritik. 449 Gillespie, Contribution of Psychological Medicine, S. 173. 450 Damit ist die um neue psychologische Elemente erweiterte Psychiatrie gemeint, der Ausdruck stammt von Robert David Gillespie (siehe ders., Contribution of Psychological Medicine). 447 Gillespie,

6.8. Die Neue Psychologie und Kriminalität   365

und Sozialkompetenz des Einzelnen.451 Mit Therapien für Delinquenten sollte nicht nur deren soziale Nützlichkeit hergestellt werden,452 der Prozess ihrer angestrebten Integration wurde zum Bestandteil der Selbstverwirklichung qua Selbsterkenntnis des Individuums selbst erklärt. Cyril Burt formulierte dieses Ziel in Anlehnung an Healy am deutlichsten: The delinquent himself must be approached individually as a unique human being, with a ­peculiar constitution, peculiar difficulties, and peculiar problems of his own. The key-note of ­modern educational thought is individuality-self-realiziation, to be sought and attained, not by collective instruction nor by imposed uniformity and repression, but by separate adjustments and readjustments for each particular child. If this is needed for the normal, how much greater must be the need among the abnormal, the neglected, the delinquent.453

Die Vorstellung geglückter Anpassung, wie sie in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts von britischen Medizinern und Psychiatern kultiviert wurde, erinnert in einigen Aspekten an das, was heute als ‚Selbstoptimierung‘ verhandelt wird.454 Aber im Unterschied zu den aktuellen Debatten wurde im zivilgesellschaftlich orientierten England der Zwischenkriegsjahre die geglückte soziale Anpassung und Integration immer in Hinblick auf eine Gesellschaft formuliert, die sich selbst für die „re-education of character“,455 der ‚Nachschulung‘ schlecht angepasster Individuen verantwortlich fühlte. Individuum und Gesellschaft blieben aufeinander bezogen, zum Wohl des Individuums und zum Wohl der Gesellschaft. Ein Mann sei dann erfolgreich angepasst, schrieb Gillespie, „when he […] has achieved complete and adequate self-expression (and) has contributed to the community in accordance with his capacity.“456 Selbstverwirklichung und der nutzbringende Beitrag für die Gesellschaft nach Maßgabe eigener Möglichkeiten und Fähigkeiten sollten für das Individuum zusammengehören. Eine solcherart verstandene Anpassung des Individuums, die zugleich als individuelle Entfaltung interpretiert wurde, lag im Interesse der Gesellschaft, die dafür auch die finanziellen Belastungen nicht scheuen durfte. „Even when the human material has been considerably damaged“, gab der Psychiater, Psychologe und Burt-Schüler Henry Field zu bedenken, „we may, without effecting any complete transformation of character, so alter the balance of tendencies that a predatory individual becomes a moderately contributory one.“457 Auch wenn die Umsetzung einer solchen Nach451 Harris, Maladjustment, S. 285 f. 452 Vgl. Henry E. Field, The Psychology

of Crime, in: The British Journal of Medical Psychology 12 (1932), S. 254: „In the treatment of delinquents it is desirable that every possible trend towards social utility, health and personal goodness, should be developed.“ Field war ein Schüler von Cyril Burt, siehe Hearnshaw, Cyril Burt, S. 43. 453 Burt, Young Delinquent, S. 610 f., Hervorhebung S.F. 454 Vgl. dazu aufschlussreich: Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 2007. 455 Field, Psychology of Crime, S. 253. 456 Harris, Maladjustment, S. 286; die dritte Bedingung war „good parenthood“. 457 Field, Psychology of Crime, S. 254, Hervorhebung S.F.; Field bezog sich bei seinen Ausführungen u. a. auf August Aichhorn, Treatment versus Punishment in the Management of Juvenile Delinquents, in: Proceedings of the First International Congress of Mental Hygiene (1932), S. 582–598, und Oskar Pfister, Psycho-Analysis in the Service of Education, London 1922.

366   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) schulung im Alltag weit von seiner erfolgreichen Verwirklichung entfernt sein mochte, die Richtung war vorgegeben und wurde, wie noch zu zeigen sein wird, auch von staatlichen Verwaltungsstellen aufgegriffen und verfolgt werden. Im Kontext der allgemein anerkannten Vorstellung von der Notwendigkeit sozialer Anpassung überrascht es nicht, dass kriminelles oder abweichendes Verhalten nicht nur als ein Mangel an Sozialinstinkt oder als Störung mentaler Prozesse interpretiert wurde, sondern generell als Anpassungsversagen aufgefasst. Der Psychologe Ronald G. Gordon – wie viele seiner Kollegen inspiriert von der Publi­ kation des schwedischen Psychologen Andreas Bjerre über The Psychology of Murder458 – interpretierte Selbstmord und Mord in diesem Sinne. Bjerre, der an einer Klassifizierung von Mördern gescheitert war, hatte bei diesen nur eine einzige ­Gemeinsamkeit festgestellt: Eine allgemeine Schwäche (weakness), die er als „a ­general unfitness or incapacity for satisfying the demands which life imposes on one and all irrespective of social and other external conditions“459 beschrieb. In Anlehnung an Bjerres Ergebnis interpretierte nun Gordon im British Journal of Medical Psychology Ende der 1920er Jahre Mord und Selbstmord als psychisches Anpassungsversagen auf sich verändernde soziale und politische Bedingungen. Vor dem Hintergrund der Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs, der schwierigen Arbeitsmarktlage, der bestehenden Klassenspannungen und einer beginnenden Weltwirtschaftskrise handelte es sich seiner Meinung nach um „a failure in the adjustment of this high level adaptation […] Lately we have been passing through a period of new adaptations and many people have found it difficult to keep pace with it.“460 Einige Jahre später thematisierte auch sein Kollege T.S. Good, der in Oxford als Psychiater in einer ambulanten psychiatrischen Klinik arbeitete,461 die Anpassungsschwierigkeiten, die nach großen nationalen Unruhen (upheavals), zum Beispiel Krieg, anzutreffen seien.462 Auch der inzwischen zum Medical Prison Commissioner berufene William Norwood East argumentierte in Bezug auf Kriminalität in den 1930er Jahren mit dem Konzept verfehlter Anpassung.463 Dass die ‚psychologische Psychiatrie‘ in England die äußeren sozialen Umständen und Veränderungen, die auf die Psyche eines Menschen einwirkten, in beacht­

458 Andreas

Bjerre, The Psychology of Murder London 1927 [Übersetzung der schwedischen Originalausgabe von 1925]; siehe auch die Besprechung des Bandes in The Howard Journal (1927), S. 165–167, in der hervorhoben wird, dass Verhalten durch „circumstances, environment and upbringing“ bestimmt werde und auch Bjerre die Existenz von „uncontrol­ lable impulses“ anerkenne. 459 Hier zit. nach Ronald G. Gordon, Certain Personality Problems in Relation to Mental Illness with Special Reference to Suicide and Homicide. Read before the Medical Section of the British Psychological Society on January 23, 1929, in: The British Journal of Medical Psych­ ology 9 (1929), S. 65. 460 Gordon, Personality Problems, S. 62. 461 Zu diesen Kliniken (Child Guidance Clinics) siehe Kap. 6.12. 462 T.S. Good, The Psychology of Crime (I), in: The British Journal of Medical Psychology 12 (1932), S. 240. 463 William Norwood East und W.H. de Hubert, Report on the Psychological Treatment of Crime, London [HMSO] 1939.

6.9. Psychoanalyse und Kriminalität   367

lichem Maße in ihre Interpretation von kriminellem Verhalten integrierte, spricht für den von ihr favorisierten Umweltgedanken. Ihre Ansätze erwiesen sich dadurch kompatibel mit sozialpolitischen Theorien linksliberaler Kreise, aber auch mit den Bestrebungen zahlreicher pädagogisch orientierter Sozialreformer.464

6.9. Psychoanalyse und Kriminalität: der Minoritäts­ diskurs Es ist bereits erwähnt worden, dass Freuds Psychoanalyse in erster Linie von medizinisch ausgebildeten Psychiatern und Anthropologen rezipiert wurde, wobei diese Rezeption durchaus als eine eklektische bezeichnet werden kann.465 Wesentlicher Förderer der orthodoxen Psychologie Freuds in England war der Mediziner Ernest Jones, der u. a. bei Emil Kraepelin in München Psychiatrie studiert und 1908 in Wien Freuds Bekanntschaft gemacht hatte.466 Seit 1909 lagen Freuds Hauptwerke in englischer Übersetzung vor, und es entstand eine ganze Reihe von selbständigen Publikationen englischer Autoren zur Psychoanalyse, darunter Jones’ eigene Arbeiten.467 Nach dem Ersten Weltkrieg, Jones hatte zwischenzeitlich als Psychiater in Toronto gearbeitet, gründete er 1919 die British Society of Psychoanalysis, der zunächst nur 16 Mitglieder angehörten.468 Da die Herausgabe einer eigenen britischen Zeitschrift zu kostspielig war, wurden die Beiträge der Mitglieder im International Journal of Psycho-Analysis veröffentlicht. Es handelte sich um das gemeinsame Publikationsorgan der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, einer Art Dachverband verschiedener psychoananalytischer Vereinigungen in Europa und den USA, der Jones zweimal – von 1920 bis 1924 464 Siehe

dazu ausführlicher Abschnitt 6.13. dieses Kapitels. allgemein spannungsreichen Verhältnis von Psychologie und Psychoanalyse siehe Gail A. Hornstein, The Return of the Repressed; Psychology’s Problematic Relations with Psychoanalysis, 1909–1960, in: American Psychologist 47 (1992), S. 254–263; Bernd Nitzsche (Hrsg.), Freud und die akademische Psychologie: Beiträge zu einer historischen Kontroverse, München 1989; Graham Richards, Britain on the Couch: The Popularization of Psycho­ analysis in Britain 1918–1940, in: Science in Context 13 (2000), S. 183–230. 466 Siehe dazu Rose, Psychological Complex, S. 181. 467 Die bekanntesten Werke waren Ernest Jones, Papers on Psychoanalysis, London 1912; Oskar Pfister, The Psychoanalytic Method, New York 1917); Anna Freud und Barbara Low, Introduction to Psychoanalysis for Teachers, London 1920; Jones hat über die Entwicklung der Psychoanalyse in seiner autobiographischen Schrift berichtet, siehe Ernest Jones, Free Associations, London und New York 1959, auch in ders., Reminiscent Notes on the early History of Psychoanalysis in English Speaking Countries, in: The International Journal of Psychoanalysis 26 (1945), S. 8–10, und ders., Sigmund Freud, Life and Work, Bd. 3, London 1957. Die ersten Beiträge zu Freud erschienen im British Journal of Psychology, aber auch in der Sociological Review. 468 Siehe The International Journal of Psycho-Analysis 1 (1920), S. 118 (darunter Cyril Burt, Barbara Low, William Leslie Mackenzie und W.H.B. Stoddart); zu den 14 assoziierten Mitgliedern gehörten u. a. Bernard Hart, T.W. Mitchell und William Rivers (ebd.); 1933 zählte die British Psycho-Analytical Society 34 Mitglieder und 25 assoziierte Mitglieder, siehe The International Journal of Psycho-Analysis 14 (1933), S. 530 f. 465 Zum

368   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) und von 1932 bis 1949 – als Präsident vorstand. 1924 ging von der britischen Vereinigung die Gründung des Institute of Psychoanalysis aus, an dem eine kleine Gruppe orthodoxer Freudianer praktizierte. Nikolas Rose und Dean Rapp weisen in ihren Untersuchungen darauf hin, wie wenig Freuds Theorien in ihrer orthodoxen Ausprägung in England Aufnahme gefunden haben.469 Weder Freuds Arbeiten selbst, noch diejenigen von Ernest Jones oder Melanie Klein, einer Wiener Kinderanalytikerin, die auf Einladung von Jones 1926 nach London übersiedelte,470 fanden vor dem Zweiten Weltkrieg eine breite Gefolgschaft. Mehr öffentliche Resonanz erfuhren dagegen Eklektiker wie Hugh Crichton-Miller, der nach dem Ersten Weltkrieg die 1920 gegründetet Tavistock Klinik leitete, oder William H. Rivers, die beide eine biologistische Instinkttheorie mit Elementen der Psychoanalyse verbanden. Vertreter dieser Neuen Psychologie verarbeiteten Freuds Lehre vom dynamischen Unbewussten, sein Energiemodell der Psyche, die Mechanismen der Verdrängung und Sublimierung (Regression und Repression), die Theorie innerer Konflikte und die Ausbildung vom Komplexen.471 Die Erfahrung der Kriegsneurosen hatte dabei zwar die „nonorganicist theory of neurotic disorder“472 möglich gemacht, aber zugleich die Prominenz des Sexualtriebes, die Annahme kindlicher Sexualität und den sexuellen Ursprung von Neurosen in ihrer Bedeutung relativiert. Auch Cyril Burt war zwar von Freuds Theorien inspiriert, übernahm aber nur die für seine eigenen Ansätze brauchbaren Elemente. Als Erziehungspädagoge und -psychologe fanden seine auf den Ergebnissen praktischer Untersuchungen basierenden Erklärungen jugendlicher Delinquenz in ihrer populärpsychologi469 Zur

Freud-Rezeption in Großbritannien siehe Dean Rapp, The Reception of Freud by the British Press. General Interest and Literary Magazines, 1920–1925, in: Journal of the History of Behavioral Sciences 24 (1988), S. 191–201; ders., The Early Discovery of Freud by the British General Educated Public, 1912–1919, in: Social History of Medicine 3 (1990), S. 217–243; Rose, Psychological Complex, S. 181–183; Ingrid von Rosenberg, Die Emanzipation der Sexualität und die Entdeckung des Unbewussten, in: Christoph Bode und Ulrich Broich (Hrsg.), Die Zwanziger Jahre in Großbritannien. Literatur und Gesellschaft einer spannungsreichen Dekade, Tübingen 1998, S. 133–156, hier S. 135–137; R.D. Hinshelwood, Psycho­ analysis in Britain: Points of Cultural Access, 1893–1918, in: International Journal of PsychoAnalysis 76 (1995), S. 135–151; Daniel Pick, Maladies of the Will: Freedom, Fetters and the Fear of Freud, in: Roberta Bivins und John V. Pickstone (Hrsg.), Medicine, Madness and Social History: Essays in Honour of Roy Porter, Basingstoke und New York 2007, S. 197–209; Suzanne Raitt, Early British Psychoanalysis and the Medico-Psychological Clinic, in: ­History Workshop Journal 58 (2004), S. 63–85. 470 Melanie Klein (1882–1960), als Jüdin in Wien geboren, wurde nach ihrer Ausbildung als Lehrerin und ihrer Psychoanalyse bei Sándor Ferenczi in Budapest 1919 eine der ersten Kinderanalytikerinnen. 1921 zog sie nach Berlin, wo sie eine Lehranalyse bei Karl Abraham (Gründer der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung (1908) und zeitweise Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung) machte und an dessen 1920 gegründeten Berliner Psychonanalytischen Institut mitarbeitete. Da ihre Arbeiten zur Kinderanalyse trotz der Unterstützung Abrahams in Deutschland keine große Anerkennung fanden, siedelte sie 1926 auf Einladung von Ernest Jones nach London über, wo sie bis zu ihrem Tod 1960 lebte; siehe Phyllis Grosskurth, Melanie Klein. Ihre Welt und ihr Werk, Stuttgart 1993. 471 Siehe dazu Rose, Psychological Complex, S. 182; auch Rosenberg, Emanzipation, S. 136. 472 Rose, Psychological Complex, S. 182.

6.9. Psychoanalyse und Kriminalität   369

schen Form leichter Aufnahme in der Öffentlichkeit als reine psychoanalytische Theorien. Diese wurden zwar in Fachkreisen diskutiert,473 in der englischen Öffentlichkeit galten sie hingegen als zu komplex und abgehoben.474 Insgesamt befand sich die Psychoanalyse in den 1920er und 1930er Jahren zunächst in einer Defensivstellung, was die Bereitschaft der Psychoanalytiker zur interdisziplinären Zusammenarbeit mit den Psychiatern erklären kann.475 Namhafte Kritiker der theoretischen Grundlagen und therapeutischen Methoden der Psychoanalyse ­kamen aus dem Bereich der Psychiatrie, darunter prominente Namen wie Alfred Tredgold und Edward Mapoth vom Maudsley Hospital.476 Dass auffällig viele Frauen am psychoanalytischen Diskurs beteiligt waren, hing mit der unkonven­ tionellen Weise ihrer Ausbildung zusammen. Zwar waren Analytikerinnen wie Marjorie Brierly, Grace Pailthorpe oder Jessie Murray ausgebildete Medizinerinnen, aber andere, wie z. B. Melanie Klein, Susan Isaacs, Ella Freeman Sharpe oder Barbara Low, alle ordentliche Mitglieder der British Psycho-Analytical Society, konnten, nachdem sie selbst eine Lehranalyse absolviert hatten, ebenfalls als Psychoanalytikerinnen arbeiten.477 473 Vgl.

z. B. die von der British Psychological Association in Zusammenarbeit mit der Aristotelian Society und der Mind Association organisierte Tagung zum Thema „Why is the ‚Unconscious‘ unconscious?“, 6. Juli 1918, abgedruckt in: The British Journal of Psychology 9 (1917–1919), S. 230–256. 474 Siehe Rosenberg, Emanzipation, S. 136; zum beschränkten Einfluss von Ernest Jones und Melanie Klein, auch Hearnshaw, Short History, S. 238 (zu Jones), S. 240 (zu Klein), die größten Schwierigkeiten bereitete der Ödipuskomplex. 475 Einflussreich war die Psychoanalyse aber in marxistischen Zirkeln, siehe dazu Rose, Psychological Complex, S. 181, der sich auf Rosalind Coward, Patriarchal Precedents, London 1983, bezieht; 1925 untersuchte die British Medical Association die Ansprüche der Psychoanalyse, ihr Urteil fiel positiv aus; im Unterschied zu den USA gab es in England aber selbst nach dem zweiten Weltkrieg nur sehr wenige Psychoanalytiker, die als akademische Lehrer unterrichteten. 1963 waren es im Institute of Psychiatry am Londoner Maudsley Hospital gerade einmal 20 Prozent, siehe Lunbeck, Psychiatry, S. 668. 476 Siehe dazu Margaret A. Yelloly, Social Work Theory and Psychoanalysis, New York 1980, S. 35. 477 Zur Mitgliedschaft der Frauen siehe z. B. die Mitgliederliste in The International Journal of Psycho-Analysis 14 (1933), S. 530–531; Suzanne Raitts Aufsatz Early British Psychoanalysis gibt über die „maverick forms in which psychoanalysis orginally evolved in Britain“(ebd. S. 63) aufschlußreich Auskunft, indem sie die Gründung und die Arbeitsweise der ersten psychoanalytischen Klinik in London, die 1913 gegründete Medico-Psychological Clinic (Brunswick Square Clinic), untersucht. In dieser Klinik spielten viele Laien-Analytikerinnen eine zentrale Rolle; auf den Einfluss dieser frühen Praktikerinnen, die Mitglieder in der British Psycho-Analytical Society waren, ging auch das große Interesse an Kinderanalyse in Großbritannien zurück; dieses Interesse erleichterte wiederum die Aufnahme von Melanie Klein und Anna Freud, siehe Raitt, Early British Psychoanalysis, S. 82, die sich in dieser Einschätzung auf Ernest Jones, Lisa Appignanesi und John Forrester stützt (dies., Melitta Schmideberg, revidierte Aufl. Harmondsworth 2000, S. 353). Während in Europa Laien und Mediziner als Psychoanalytiker ausgebildet werden konnten, war dies in den USA nicht möglich. Hier wurde die Psychoanalyse zu einem Spezialgebiet der Medizin und nur ausgebildete Psychiater konnten eine Zusatzausbildung machen, siehe dazu Lunbeck, Psychiatry, S. 667; speziell für Frauen hat Mitchell G. Ash in den USA aber durch die Einführung der Binet-Tests ein größeres Arbeitsfeld auf dem Gebiet der educational psychology ausgemacht: „[This] field became more open to women; but a gender hierarchy emerged, with industrial psychology remaining male dominated, while female „Binet testers“ and social workers took

370   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) Auch wenn psychoanalytische Beiträge die zeitgenössischen Kriminalitätsdebatten in den 1920er und 1930er Jahren in England nicht dominierten, soll auf diesen Minoritätsdiskurs kurz eingegangen werden. Dabei sollen sowohl die Einwände und Bedenken, die gegen die Psychoanalyse vor allem als Theorie und weniger als Therapieform vorgebracht wurden, aufgezeigt werden, als auch jene Elemente hervorgehoben werden, die sich im allgemeinen psychologischen Diskurs durchsetzen konnten. Der Psychoanalyse zufolge entstanden Neurosen, wie Melitta Schmideberg, die Tochter Melanie Kleins,478 1933 vor der Psychologischen Gesellschaft in London ausführte, durch innere Konflikte im Kindesalter, wobei diese „instinctual conflicts“ durch „environmental influences“ verstärkt oder vermindert, auf keinen Fall aber ganz vermieden werden konnten.479 Nach einer Erklärung für kriminelles Verhalten gefragt, führte ihre Mutter an, dass die Charakterbildung vom leicht Neurotischen mit zum Kriminellen vom Verlauf der ödipalen Phase und der Entwicklung omnipotenter Allmachtsphantasien bestimmt werde. In Serienmördern wie Jack the Ripper oder Fritz Haarmann sah Melanie Klein ausschließlich Kinder, die durch Impulse geleitet wurden und ihre Phantasien ungebrochen Eins zu Eins umgesetzt hatten. Klein machte dafür allerdings nicht das Fehlen des ÜberIchs (super-ego) verantwortlich, sondern dessen fehlgeleitete Orientierung und den Umgang mit Schuldgefühlen: on more people-oriented functions.“ Ash, Psychology, S. 267 bezieht sich auf die Arbeit von Laurel Furumoto, On the Margins: Women and the Professionalization of Psychology in the United States 1890–1940, in: Mitchell G. Ash und William R. Woodward (Hrsg.), Psych­ ology in Twentieth-Century Thought and Society, Cambridge 1987; für die Zeit nach 1945 hat Margaret Rossiter in den USA den anhaltend hohen Anteil an Frauen in der developmental und educational psychology ausgemacht, während Männer eher in der experimentellen und der Industriepsychologie zu finden waren, siehe dies., Which Science? Which Women?, in: Osiris 12 (1997), S. 169–185. 478 Melitta Schmideberg, geb. Klein (1904–1983), Tochter von Melanie Klein, nahm bereits als 15jährige an den Sitzungen der Budapester Psychoanalytischen Vereinigung teil; 1932 emigrierte sie nach England und wurde 1933 Mitglied der British Psycho-Analytical Society; Schmideberg arbeitete ebenfalls als Kinderanalytikerin, zerstritt sich aber mit ihrer Mutter über unterschiedliche Ansätze. Während Schmideberg das Fehlverhalten von Kindern auf reale äußere Faktoren (z. B. Fehlverhalten der Mutter) zurückführte, beschrieb Melanie Klein eine von der äußeren Welt weitgehend unabhängige Innenwelt des Kindes; besonders über die Ausbildung des Über-Ichs und den Beginn von Objektbeziehungen kam es zu Kontroversen zwischen Klein, Schmideberg und der zusammen mit ihrem Vater ebenfalls nach England emigrierten Anna Freud; Schmideberg ging nach den Zweiten Weltkrieg nach New York. Dort arbeitete sie mit straffälligen Jugendlichen und gehörte 1950 zu den Gründern der Association for the Psychiatric Treatment of Offender. Ihre Arbeit mit Straffälligen setzte sie auch nach ihrer Rückkehr in England fort und gab u. a. die Zeitschrift International Journal of Offender Therapy heraus; zu Schmideberg siehe Pearl H.M. King, Melitta Schmideberg-Klein, in: Alain de Mijolla (Hrsg.), Dictionnaire international de la psychoanalyse, Paris 2005, S. 1612 f.; Melitta Schmideberg, A Contribution to the History of the PsychoAnalytical Movement in Britain, in: The British Journal of Psychiatry 118 (1971), S. 61–68; Grosskurth, Melanie Klein. 479 Vgl. Melitta Schmideberg, Psychoneuroses in Childhood: Their Etiology and Treatment. Paper Read Before the British Psychological Society, April 23, 1933, in: The British Journal of Medical Psychology 13 (1933), S. 313–317, hier S. 313.

6.9. Psychoanalyse und Kriminalität   371 I found that the criminal disposition was not due to a less strict super-ego but to a super-ego working in a different direction. It is just anxiety and the feeling of guilt which drive the criminal to his delinquencies. […] it is not the lack of a super-ego but a different development of the super-ego – probably the fixation of the super-ego at a very early stage – which will prove to be the main factor.480

In einem späteren Vortrag auf einem Symposium der Psychologischen Gesellschaft zum Thema Kriminalität präzisierte Klein 1934 ihre diesbezüglichen Vorstellungen: „I came to the conclusion […] that it is not (as is usually supposed) the weakness or lack of a super-ego, it is not in other words the lack of conscience, but the overpowering strictness of the super-ego, which is responsible for the characteristic behavour of asocial and criminal persons.“481 Bereits vor Melanie Kleins Ausführungen hatte die Psychologin Alice Raven Ende der zwanziger Jahre eine ganze Artikelserie in der Sociological Review veröffentlicht, in der sie sich mit der Psychologie von Selbstmord und Mord auseinandersetzte.482 Anhand von Gerichtsprotokollen hatte Raven die Aussagen von Mördern unter psychoanalytischen Gesichtspunkten analysiert, bei Selbstmördern dienten dazu deren Abschiedsbriefe. Sie deutete die gewaltsamen Handlungen als „outcome of an abnormal state of mind“,483 dessen erste Anzeichen sich oft in Apathie und Passivität der betroffenen Person ankündigten: „This is the exaggerated tendency to introspection which appears to mark the present generation. People are so concerned to look within that they forget to observe what is ­without, and so fail to react efficiently upon their environment.“484 Es war diese gesteigerte Form der Introversion, die bei betroffenen Personen ‚unsoziales‘ Verhalten wie 480 Melanie

Klein, Criminal Tendencies in Normal Children, in: The British Journal of Medical Psychology 7 (1927), S. 177–192, hier S. 191 f. 481 Melanie Klein, On Criminality. Contribution to a Symposium on Crime at a Meeting of the Medical Section of the British Psychologigal Society on October 24, 1934, in: British Journal of Medical Psychology 14 (1934), S. 312–315, hier S. 312; vgl. ebd. S. 314: „If there is nothing in the world but enemies, and that is how the criminal feels, his hate and destructiveness is, in his view, to a great extent justified, an attitude which relieves some of his unconscious feelings of guilt.“ Auch Healy und Bronner konzentrierten sich zu diesem Zeitpunkt bereits stark auf Gefühle der Unterlegenheit, Minderwertigkeitsgefühle, Gefühle des Zurückgestoßen-Seins und Nicht-Geliebt-Werdens; siehe dazu ihre Geschwisterstudien, William Healy und Augusta F. Bronner, New Light on Delinquency and Its Treatment, New Haven/Conn. 1936: „The delinquent has an overstrong feeling that the environment is frustrating or hurtful, a feeling from which his more normal brother is free. Thus we must conclude that delinquents are often predisposed towards delinquency by reason of their emotional constitution, which creates a favorable soil in which inimical surroundings can do their worst.“ Hier zit. nach der Buchbesprechung in The British Journal of Medical Psychology 18 (1938), S. 136; siehe auch Grünhut, Penal Reform, S. 149. 482 Alice Raven, A Psychological Conception of Insanity and Its Relation to Crime, in: The Sociological Review 20 (1928), S. 315–333; dies., Normal and Abnormal Psychology in Relation to Social Welfare, in: The Sociological Review 21 (1929), S. 125–134; dies., Murder and Suicide as Marks of an Abnormal Mind, in: The Sociological Review 21 (1929), S. 315–333; dies., A Theory of Murder, in: The Sociological Review 22 (1930), S. 108–118; aus einer Vortragsreihe ging dann das Buch hervor: dies., The Psychology of the Murderer, London 1931. 483 Raven, Murder and Suicide, S. 315. 484 Ebd., S. 316.

372   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) Mord oder Selbstmord auslösen konnten. Auch im Kontext psychoanalytischer Deutung ließ sich also von einem Anpassungsmangel an die äußere Umgebung sprechen.485 Durch die krankhafte Innenschau, die keine Korrektur durch das ­Realitätsprinzip erfuhr, kam es zu einer Projektion von Allmachtsphantasien auf bestimmte Personen, die gleichzeitig als Teil der eigenen Persönlichkeit verinnerlicht wurden und eine „psychic partnership for mutual insurance against reality“486 bildeten. Diese Verinnerlichung verstärkte, so Raven, die Tendenz, der Welt gegenüber eine feindliche Haltung einzunehmen: „[T]he effect of exaggerated introspection on character is therefore to produce a more or less unfriendliness to the world in general.“487 Während nach Raven bei durchschnittlichen Individuen verfehlte Anpassungen an die Wirklichkeit, oft bedingt durch Fehlleistungen in der Erziehung, durch therapeutische Maßnahmen in Richtung korrekter ‚Habituation‘ ausgeglichen werden konnten, funktionierte dies bei gestörten Personen nicht. Sie seien mit der Wahrnehmung und Deutung ihres Inneren, „which in the last resort means habitual response to the impulses of the unconscious mind“, völlig in Anspruch genommen: „Such a person feels vaguely the working of these forces beneath the conscious level, and he is pushed on to explore and dwell with them.“488 Die Erkundung und Aufklärung des inneren Selbst lasse bei solchen introvertierten Personen den Übergang zum Tod als natürliche Konsequenz und verlockend erscheinen, denn er biete die Gelegenheit noch weiter in die Geheimnisse des Unbewussten vorzudringen, welches das Bewusstsein ansonsten nur schwach wahrnehmen könne. Für ein solches Individuum gäbe es keine Grenze zwischen dem diesseitigen Leben und dem jenseitigen Tod, das Stadium des Todes bedeute lediglich eine Fortsetzung des gegenwärtigen Lebens unter besseren Bedingungen.489 Warum schien diese extreme Form der Innenschau und Selbstbezogenheit nicht nur den Psychoanalytikern, sondern auch den Zeitgenossen aber so gefährlich? Offensichtlich deshalb, weil sie die Auseinandersetzung der betroffenen Person mit der sie umgebenden Wirklichkeit völlig zum Erliegen bringen konnte. Der korrespondierende Sinn für Verantwortung ging verloren.490 Wenn aber ein solcher Mensch die Anstrengungen aufgab, sich der Realität anzupassen, mit denen allein Probleme des Lebens zufriedenstellend gelöst werden konnten, dann fiel er zunehmend unter den Einfluss derjenigen Person/en, die er verinnerlicht hatte, weil sie ihm half/en, seine Allmachtsphantasien aufrechtzuerhalten. Konflikte mit den realen Personen konnten dann zu Mord führen, um die verinnerlichte Beziehung nicht zu gefährden. Durch diesen gewaltsamen Akt wurde ein 485 Siehe

ebd. S. 317. 487 Ebd., S. 317. 488 Alle Zitate: ebd. 489 Ebd., S. 318. 490 Vgl. dazu ebd., S. 319: „As the introversion increases, so the power of adjustment to external reality tends to fail. As the inner world becomes more real, the links with the outer world are snapped and the corresponding sense of resonsibility lost or shelved.“ 486 Ebd.,

6.9. Psychoanalyse und Kriminalität   373

psychisches Gleichgewicht wiederhergestellt, die Aufrechterhaltung einer Omnipotenz-Phantasie sichergestellt. Ein so veranlagter Mörder würde nach Ravens Auffassung durch die Aussicht auf Bestrafung nicht von seiner Tat abgehalten: „[A] man seized by that uncontrollable impulse which drives him to the irrevo­ cable deed of murder, to render thereby static his relationship with the person who ministers to his phantasy, will not be deterred by punishment.“491

Psychoanalytische Frauenforschung Obgleich psychoanalytischen Theorien über den Geisteszustand von Mördern in den 1920er Jahren noch etwas Befremdliches anhaftete, standen einzelne Vertreter der öffentlichen Verwaltung den Untersuchungsmethoden der Psychoanalyse nicht prinzipiell ablehnend gegenüber. Die Veröffentlichung von What We put in Prison von Dr. Grace Winifred Pailthorpe 1932 ist dafür ein Beispiel.492 Mit Zustimmung des Home Office und mit ausdrücklicher Unterstützung des Vorsitzenden der Prison Commission, Sir Maurice Waller,493 hatte die ausgebildete, ebenfalls stark von William Healy494 beeinflusste Ärztin zwischen 1922 und 1923 sechs Monate lang psychoanalytische Untersuchungen im Frauengefängnis von Birmingham durchgeführt, vor Ort dabei unterstützt vom medical prison officer Maurice Hamblin Smith.495 Es war die erste Untersuchung, die in England verur491 Ebd.,

S. 333; ebd. S. 331 f.: „It is evident that when the mind of a man or woman is dominated by a retrogressive phantasy, all the facts of external reality are twisted by the phantasyweaving mechanism to fit in with the phantasy“; Abschreckung und Gewissheit der Strafe hielten solche Menschen, so Raven, nicht von ihrer Tat ab, die meisten wollten sogar entdeckt und bestraft werden oder stellten sich selbst (von 91 Mördern begingen 41 Selbstmord). 492 Grace W. Pailthorpe, What We Put in Prison and in Preventive and Rescue Homes, London 1932; Frauen aus den privat geführten preventive und rescue homes hatte Pailthrope in ihre Untersuchung mit aufgenommen, weil sie in diesen Institutionen die Vorstufe zum Gefängnis sah („recruiting grounds for prison“, ebd. S. 16); drei Jahre zuvor hatte sie eine VorläuferStudie, die durch den Medical Research Council finanziert worden war, publiziert: Dies., The Psychology of Delinquency: Studies in Prison and in Preventive and Rescue Homes, London 1929; eine Besprechung des Buches von 1932 befindet sich in The Journal of ­Mental Science 79 (1933), S. 769–771; Pailthorpe war assoziiertes Mitglied der British Psycho-Analytical Society (siehe The International Journal of Psycho-Analysis 14 (1933), S. 531) und arbeitete ab 1933 am Institute for the Scientific Treatment of Delinquency mit (siehe Kap. 6.11.). 493 Maurice Waller wurde 1921 Nachfolger von Sir Evelyn Ruggles-Brise als Vorsitzender der Prison Commission, zu Wallers Zusammenarbeit mit der Howard League siehe auch Kap. 6.13. 494 Zur Erwähnung Healys siehe Pailthorpe, What We Put in Prison, S. 21. 495 Maurice Hamblin Smith (1870–1936) war Gefängnisarzt und -psychiater in Birmingham und gleichzeitig einer von zwei Psychologen, die dort zur Anklage gebrachte Straftäter psychologisch untersuchten. Das sogenannte Birmingham scheme wurde 1919 eingeführt und war bis zu diesem Zeitpunkt die einzige Einrichtung ihrer Art in Großbritannien (Vorbild Amerika). Reformpolitiker und Sozialreformer gleichermaßen verwiesen auf diese fortschrittliche Einrichtung, die Schule machen sollte. Hamblin Smiths Psychology of the Crim­ inal von 1922 war die erste englische Publikation über Straftäter aus psychologischer und psychoanalytischer Sicht.

374   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) teilte Straftäterinnen in den Mittelpunkt eines Forschungsprojektes stellte, da ­generell weibliche Kriminalität aufgrund ihres vergleichsweise geringen Vor­ kommens lange als ein marginales Problem eingestuft und fast ausschließlich mit Prostitution (die im öffentlichen Diskurs zunehmend entkriminalisiert wurde) und Kindsmord in Verbindung gebracht wurde.496 Aufgrund der geringen Anzahl weiblicher Strafgefangener in Birmingham wurden die Untersuchungen ins Frauen­gefängnis von Holloway vor den Toren Londons verlegt. Das auf fünf Jahre hin angelegte Projekt wurde durch den Medical Research Council finanziert. Über 200 Frauen wurden im Gefängnis oder sogenannten preventive und rescue homes, privaten Erziehungsanstalten von religiösen und wohltätigen Vereinen, befragt. Die Teilnahme war freiwillig, die Besuche wurden täglich durchgeführt, eine ­Sitzung dauerte durchschnittlich zwei Stunden. Die Interviewerin sollte während der Sitzungen die freie Assoziation so wenig wie möglich durch gezielte Fragen beeinflussen und in eine bestimmte Richtung lenken. Ziel war die Erfassung der „outline of the life history of the individual and her reaction to life“.497 Auf die psychoanalytische Theorie wurde in Pailthorpes Arbeit nicht ausdrücklich eingegangen. Ähnlich wie in Hamblin Smiths Arbeit verwies auch Pailthorpe nur auf die einschlägige Literatur.498 Sie deutete die versteckte Ursache des unsozialen und kriminellen Verhaltens von Frauen mit ihrer ‚nervösen Instabilität‘ und durch die Intoleranz gegenüber unbewusster Schuld (intolerability of unconscious guilt)499, die durch Bestrafung nicht gelöst, sondern im Gegenteil nur verstärkt werde. Wie Raven beschrieb auch Pailthorpe delinquente Persönlichkeiten als extrem passive und farblose Menschen, die leicht die Flucht in eine Fantasiewelt antraten.500 Unbewusste innere Konflikte trieben sie zu ihren Straftaten, sie demonstrierten dabei eine Selbstbezogenheit und Verantwortungslosigkeit gegenüber anderen Menschen, die sie auf die Entwicklungsstufe von kleinen Kindern stellte.501 Auch Pailthorpe betonte das Versagen des Anpassungsmechanismus.502 Und sie hoffte auf die positiven Wirkungen der Psychoanalyse: „Our only hope is to try and help them to reach their unconscious mind, so that by the resolution of the hidden cause of guilt there is no longer any reason for defensive measure against it.“503 496 Siehe

dazu die Beiträge in Margaret L. Arnot und Cornelia Usborne (Hrsg.), Gender and Crime in Modern Europe, London 1999; Lucia Zedner, Women, Crime, and Custody in Victorian England, Oxford und New York 1991; im Englischen lag La donna delinquente (The Female Offender) von Cesare Lombroso vor. 497 Pailthorpe, What we put in Prison, S. 39. 498 Für Pailthrope waren es besonders die Arbeiten von Freud (Introductory Lectures in PsychoAnalyses), von Ernest Jones, Melanie Klein und William Healy. 499 Pailthrope, What we put in Prison, S. 132. 500 Vgl. ebd., S. 134. 501 Vgl. ebd., S. 27. 502 Ebd., S. 16: „[T]heir asocial behaviour or their difficulty in adapting themselves to life is due to psychological maladjustment.“; vgl. auch ebd., S. 11: „Maladjustment is a frequent causative factor in the production of delinquency.“ 503 Ebd., S. 132.

6.9. Psychoanalyse und Kriminalität   375

Selbst wenn solche komplexen Konstruktionen zur Erklärung von delinquentem oder unsozialem Verhalten nicht dazu geeignet waren, breitenwirksam rezipiert zu werden, so schien die generelle Aussage über das Verhältnis von Innen und Außen doch an allgemeinere Vorstellungen anschlussfähig zu sein. Im psychoanalytischen Kontext wurde Krankheit als die Unfähigkeit beschrieben, durch die Auseinandersetzung mit der Außenwelt, Korrekturen an eigenen, inneren Prozessen vornehmen zu können. Da übersteigerte Introversion die Kraft zur sozialen Anpassung verminderte, sollten die Verfahren der Psychoanalyse besonders der Ausbildung des Realitätssinns und damit der Durchsetzung des Realitätsprinzips dienen: „True independence is achieved when a person is able to make a satisfactory orientation to reality“,504 schrieb Pailthorpe 1932. Strafmaßnahmen wurden in diesem Sinne von einigen Therapeuten als Versuche zur Wiederherstellung des ­Realitätsbezugs beschrieben, die eine Ich-Stärkung (ego-psychology) ermöglichen sollten. Interessanterweise verschob sich ab der Mitte der 1930er Jahre das Inte­ resse der englischen Psychoanalyse auf genau diesen Prozess der Realitätsanpassung.505 Burts Schüler Henry Field, der vor der Psychological Society über therapeutische Maßnahmen für Strafgefangene referierte, benannte solche Überlegungen deutlich: „Punishment is sometimes a valid and necessary affirmation of the reality principle: the individual should be encouraged, in every possible way, to face and meet the realities of life. This is part of the proper nourishment of character.“506 Mit der Bezeichnung nourishment of character knüpfte Field an den von William Norwood East geprägten Begriff einer „malnutrition of character“507 an. Der Medical Prison Commissioner hatte 1931 mit diesem Begriff die Schulung delinquenter Jugendlicher durch falsche Vorbilder bezeichnet und dadurch bei ihnen eine verstärkte Unfähigkeit ausgemacht, Selbstkontrolle auszuüben, die soziale Konventionen verlangten.508 Auch East war davon überzeugt, dass mit entsprechenden Therapien diese Unfähigkeit aufgehoben werden könnte. 504 Ebd.,

S. 135. Entwicklung der Ego-Psychologie siehe z. B. den Vortrag der Psychoanalytikerin Sylvia Payne vor der British Psychological Association 1937: „The ego activities of individuals constitute the fabric of civilization; the part which an individual plays is determined by the way in which his ego has developed; in other words it depends on his sense of reality. […] The ego is the organized mental structure on which the function of reality testing depends. Experience shows that faulty reality testing has its origin in difficulties arising in the early phases of ego development, especially in those connected with the omnipotent phase.“ Dies., Post-War Activities and the Advance of Psychotherapy, in: The British Journal of Medical Psychology 16 (1937), S. 1–15, hier S. 10.; auch Paynes Kollege, der Psychoanalytiker John Rickman, der sich selbst als psychopathologist bezeichnete, war der Auffassung, dass sich seine Profession mehr auf die Erforschung der Ego-Psychologie konzentrieren sollte: „Ego Psychology lags behind our knowledge of the instincts and of the social response“, John Rickman, The Psychology of Crime, in: The British Journal of Medical Psychology 12 (1932), S. 264–269, hier S. 269. 506 Field, Psychology of Crime, S. 250. 507 William Norwood East, Mental Inefficiency and Adolescent Crime, in: The Lancet, 18. Juli 1931, S. 166–169, hier S. 168; siehe auch den zweiten Teil in: The Lancet, 25. Juli 1931, S. 221– 224. 508 Ebd. 505 Zur

376   6. Die Neue Psychologie (1890–1945)

6.10. Interdiziplinäre Zusammenarbeit Mit dem Bekenntnis zur Erlernbarkeit moralischen Verhaltens, der prinzipiellen Erziehbarkeit des Menschen und den Möglichkeiten hilfreicher therapeutischer Eingriffe standen die progressiveren unter den britischen Psychiatern in der ­Tradition philanthropischer Sozialreformer des viktorianischen Zeitalters. Die ­Methoden hatten sich verändert, die wissenschaftlichen Begründungen verfeinert, aber die Hoffnung auf Veränderbarkeit durch äußere Eingriffe, die im Falle neuer Professionen auch und vor allem Zweckoptimismus sein mochte, war die gleiche. „The secret of the cure of the criminal has nothing to do with punishment. The solution of the problem of the anti-social individual […] is psychology“,509 resümierte Arthur St. John von der Penal Reform League in der Sociological ­Review. Vor allem in den Debatten über Jugenddelinquenz offenbarte sich eine geradezu euphorische Hoffnung auf Besserung und Erfolg durch Therapie. Die Erkenntnis, dass der Mangel an intellektuellen Fähigkeiten nicht als alleinige, geschweige denn als dominante Ursache für kriminelles Verhalten gehandelt werden dürfe, mithin, dass Moral nicht allein eine Sache des Intelligenzquotienten sei, schuf große Freiräume für eine Vielzahl therapeutischer und sozialer Ansätze. Die Zauberformel hieß: „not more education, but more suitable education.“510 Erziehung und Bildung würden keine Genies erzeugen, aber Menschen, die anpassungsfähig und im Rahmen ihrer Möglichkeiten einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten imstande wären. „[I]t is my firm belief“, so erklärte Cyril Burt, „that the institution of special classes for the backward child would rapidly be followed, and would largely pay for itself, by immense diminuition in crime.“511 Auch der Medical Prison Officer Hamblin Smith wandte sich offen gegen fatalistische Theorien, die Rehabilitation und Veränderung keine Chance einräumten. Mit deterministischen Theorien sei der Gesellschaft nicht geholfen. Reformer, die an Veränderung glaubten, könnten diesen Theorien ohnehin nichts abgewinnen: „The ordinary man must have something for which he can blame those who offend against the laws of society. It is often said that determinism leaves practical questions exactly as they were before. Generally speaking, this statement is true.“512 Besonders in der Arbeit mit Kindern sahen die neuen psychologischen Psychiater ein enormes Potential. Thomas, der delinquente Kinder in erster Linie als Opfer ihrer Umwelt ansah, glaubte an relativ einfache Eingriffe mit großer Wirkung: „In dealing with the delinquent child our task is easier […] correction of the defaulting environment can often be effected with the happiest results.“513

509 Arthur St. John, ehemaliger

Geschäftsführer der Penal Reform League, in: The Sociological Review 21 (1929), S. 235. 510 Harris, Maladjustment, S. 305. 511 Burt, Mental Defect, S. 169. 512 Maurice Hamblin Smith, Spinoza’s Anticipation of Recent Psychological Developments, in: The British Journal of Medical Psychology 5 (1925), S. 258. 513 Thomas, Moral Imbecility, S. 57.

6.10. Interdiziplinäre Zusammenarbeit   377

T.S. Good setzte als Leiter einer Child Guidance Clinic514 in Oxford im Kampf gegen Delinquenz und Kriminalität auf die therapeutische Arbeit mit Kindern als wirksame Präventionspolitik und sprach sich sogar dafür aus, die Umwelt dieser jungen Delinquenten durch die psychologische Betreuung der Eltern positiv zu verändern.515 Cyril Burt hatte den gleichen Gedanken bereits früher formuliert: „A few sympathetic interviews with the child, a view suggestions to his parents or teachers, temporary removal from the scence of conflict (even without a thorough psycho-analysis), may be sufficient.“516 Was Mediziner, Psychiater, educational psychologists und Psychoanalytiker verband, war ihr gemeinsamer Glaube an die Wirksamkeit therapeutischer Maßnahmen. Einvernehmen herrschte darüber, dass Therapien, wie auch immer sie im Einzelfall gestaltet sein mochten, so früh wie möglich zum Einsatz kommen müssten.517 Was die Therapieformen betraf, so brachten sich hier nicht zufällig auch einige Psychoanalytiker und -analytikerinnen ins Spiel. Melanie Klein warb für die von ihr entwickelte Kinderanalyse.518 Die frühe Analyse von verhaltensauffälligen Kindern zwischen drei und sechs Jahren sollte ihrer Auffassung nach den frühzeitigen Konflikt zwischen kulturellen und primitiven Teile der kindlichen Psyche aufschlüsseln und lösen helfen.519 Die Erfahrung habe gezeigt, dass Kriminelle und psychotische Kinder gut therapierbar seien: „It seems, therefore, that the best remedy against delinquency would be to analyse children who show signs of abnormality in the one direction or the other.“520 Andere Analytiker schlossen sich dieser Auffassung an.521 So zeigte sich auch Rees Thomas davon überzeugt, dass in vielen Fällen unsozialen Verhaltens (z. B. Lügen, unkontrollierte Wutausbrüche u. ä.) Psychoanalyse Klärung und Heilung bringen könne.522 Die Psychoanalytiker und -analytikerinnen in England waren aber klug genug, die von ihnen favorisierte Therapieform nicht als die allein selig machende an­ zupreisen. Psychoanalyse wurde in der Regel als zusätzliche Methode ins Spiel gebracht, in Fällen, wo sie sich zu lohnen versprach. Ansonsten hielten selbst 514 Siehe

dazu ausführlicher den Abschnitt 6.12. dieses Kapitels zu den Child-Guidance-Kli­ niken. 515 Vgl. Good, Psychology of Crime, S. 239. 516 Burt, Causal Factors, S. 174. 517 Siehe Thomas, Moral Imbecility, S. 61: „But the key to the situation is the treatment of the child, as adjustments can be made at this time which are difficult or impossible at a later stage.“ 518 Klein, Criminal Tendencies, S. 192: „[I]t is undoubtedly not easy to know to what results the tendencies of a child will lead, whether to the normal, the neurotic, the psychotic, the pervert, or the criminal. But precisely because we do not know we must seek to know. Psychoanalysis gives us means. And it does more; it can not only ascertain the future development of the child, but it can also change it, and direct it into better channels.“ 519 Vgl. ebd., S. 177. 520 Klein, On Criminality, S. 314. 521 Siehe Pailthorpe, What We Put in Prison, S. 143: „If we once realise that criminal actions are not the product of a momentary impulse but the product of a pathological pattern of psychology, it follows that the earlier we treat it the more likely we are to save such children from a criminal career.“ 522 Thomas, Moral Imbecility, S. 61.

378   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) überzeugte Freudianer (zumindest) in öffentlichen Debatten auch andere Therapieformen für erfolgversprechend, in jedem Fall aber für billiger: „It would be impossible in all cases of social maladjustment“, so hob Thomas hervor, „to apply the method of psycho-analysis, and where other methods produce the necessary permanent result it would manifestly be waste of time.“523 Grace Pailthorpe, die am Ende ihres Buches zwar für einen staatlichen Modellversuch warb (Psychoanalyse für 100 ausgesuchte Strafgefangene) und davon überzeugt war, dass die Psychoanalyse die einzig wirksame Radikalkur für alle psychologischen Fehlanpassungen darstelle,524 nicht zuletzt, weil sie potentielle Kapazitäten freisetzen könnte,525 wusste auch, dass nicht alle erfolgreich darauf ansprachen.526 Auch sie optierte deshalb für den Einsatz und die Erprobung verschiedener Methoden. Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen sollten dabei eine zentrale Rolle spielen.527 Gerade der Vergleich mit den zahlreichen unterschiedlichen Psychologie-Schulen könne helfen, die Vorzüge der verschiedenen Methoden herauszufinden:528 „[T] he opportunity to work out a method of treatment of recidivists would, by results, convince the public that something can be done.“529 Auch Henry Field beschwor die interdisziplinäre Zusammenarbeit und akzeptierte, dass psychologische Therapieformen in gewisser Weise große Ähnlichkeit mit der traditionellen Seelsorgearbeit im Gefängnis habe: „There is inevitably a great deal of overlapping in the treatment measures employed by senior administrators, chaplains, teachers, physicians and psychologists.“530 Field plädierte für kooperative Behandlungsformen, in denen die Psychologie angemessen vertreten sein sollte.531 Bevor die Kommunen und der Staat mit der Schaffung von Child-Guidance-Kliniken auf breiter Basis die Probe aufs Exempel kooperativer Teamarbeit machten, erprobte zunächst eine private Initiative die praktische Umsetzung der theoretischen Forderung.

6.11. Das Institute for the Scientific Treatment of ­Delinquency (ISTD)­ Inspiriert durch die durchaus kontrovers diskutierte Studie von Grace Winifred Pailthorpe, die die Reformierung von Straftätern innerhalb des Gefängnisses als unmöglich betrachtete, wenn nicht an den psychologischen Wurzeln des Fehlver523 Ebd.

524 Pailthorpe, What

We Put in Prison, S. 147. S. 152. 526 Ebd., S. 149: „In private and public schools character training is an essential part of the curriculum. But this is not a part of the curiculum in Elementary schools.“ Die von Pailthorpe analysierten Frauen hatten nur die Grundschule (elementary school) besucht. 527 Ebd., S. 150 f. 528 Ebd., S. 151. 529 Ebd., S. 152. 530 Field, Psychology of Crime, S. 252. 531 Ebd. 525 Ebd.,

6.11. Das Institute for the Scientific Treatment of Delinquency   379

haltens gearbeitet wurde,532 gründete sich 1931 eine private Vereinigung zur wissenschaftlichen Behandlung von Delinquenz: die Association for the Scientific Treatment of Criminals. Aus dieser Vereinigung ging im Juli 1932 das Institute for the Scientific Treatment of Delinquency (ISTD) hervor.533 Das Institut definierte seine Tätigkeit über seine Forschungs-, Behandlungs-, Beratungs- und Aufklärungsfunktionen. Der erste Jahresbericht fasste die Zielsetzung des Institutes wie folgt zusammen: 1. To initiate and promote scientific research into the causes and prevention of crime. 2. To establish observation centres and clinics for diagnosis and treatment of delinquency and crime. 3. To coordinate and consolidate existing scientific work in the prevention of delinquency and crime. 4. To secure cooperation between all bodies engaged in similar work in all parts of the world, and ultimately to promote an international organisation. 5. To assist and advise through the medium of scientific experts the judicial and magisterial bench, the hospitals and government departments in the investigation, diagnosis and treatment of suitable cases. 6. To promote and assist in promoting educational and training facilities for students in the scientific study of delinquency and crime. 7. To promote discussion and to educate the opinion of the general public on these subjects by publications and by other means.534

Edward Glover, Arzt, Psychoanalytiker, Mitglied der British Psycho-Analytical ­Society und Förderer der Arbeit von Grace Pailthorpe,535 leitete als Director of Scientific Research das Institut.536 Es bot medizinische und psychologische Behandlung für Fälle von anti-sozialem Verhalten und Delinquenz an, verstand sich aber zugleich auch als ein Ort der Delinquenzforschung.537 Obgleich die meisten Mitarbeiter sich für eine psychoanalytische Annäherung an das Problem der Kriminalität einsetzten, war Psychoanalyse nur eine unter einer ganzen Reihe therapeutischer Methoden, die am Institut zum Einsatz kamen. Glover selbst hatte auf einer Konferenz über The Psychology of Crime den Rat gegeben, sich nicht zum Ziel zu setzen, eine undifferenzierte Masse an kriminologischen Daten zu kompi532 Eine

kritische Besprechung von Pailthorpes Buch von Dr. William Moodie, Leiter einer der ersten Child-Guidance-Kliniken in London, findet sich in The Howard Journal (1933), S. 99 f. 533 1951 wurde das Institut in Institute for the Study and Treatment of Delinquency um­benannt, seit 1999 ist es das Centre for Crime and Justice Studies (CCJS), beheimatet am King’s ­College (School of Law) in London; ein kurzer historischer Abriss über die Geschichte des Centre findet sich in http://www.crimeandjustice.org.uk/history.html (29. 9. 2012). 534 Institute for the Scientific Treatment of Delinquency, First Annual Report (1932), zit. nach http://www.crimeandjustice.org.uk/history.html (29. 9. 2012). 535 Vgl. dazu Pailthrope, What We Put in Prison, S. 16; siehe auch Edward Glover, The Roots of Crime. Selected Papers on Psycho-analysis, New York 1960, darin wird ein kurzer Abriss über die psychoanalytische Delinquenzforschung von 1912–1948 gegeben. 536 Edward Glover, The Diagnosis and Treatment of Delinquency. Clinical Report on the Work of the ISTD, 1937–41, London: Institute for the Study and Treatment of Delinquency 1944; zu Glover siehe Hearnshaw, Short History, S. 165. 537 Siehe dazu The Times, 3. März 1936, S. 12, Sp. b; für die Hinweise auf das ISTD in der Times danke ich Andreas Fahrmeir.

380   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) lieren, sondern im Gegenteil sehr rigide die Ergebnisse der unterschiedlichen Methoden von Diagnose und Behandlung zu trennen.538 Auf diese Weise wurde am Institut die Brauchbarkeit einer ganzen Bandbreite psychotherapeutischer Methoden erprobt. Über vierzig behandelnde Ärzte und weitere freiwillige Helfer für die Verwaltung und Organisation stellten kostenlos ihre Arbeit dem Institut zur Verfügung.539 Das Institut funktionierte als ambulante Tagesklinik, geplant war aber auch die Schaffung eines angegliederten in-patient hostel, in dem Patienten unter ärztlicher Aufsicht während der Behandlung bleiben konnten. Nach Aussagen der prominenten und profilierten Vizepräsidenten des Instituts, Cyril Burt, H.G. Wells und Havelock Ellis, machten Richter und magistrates in den 1930er Jahren in steigendem Maße vom Angebot des Institutes Gebrauch. Sie überwiesen den Straftäter an das Institut, bevor Gefängnis- oder Bewährungsstrafen verhängt werden sollten, beides aus Sicht der Gesellschaft wie des Delinquenten gleichermaßen nutzlos.540 1934 wurden 35 Fälle von den Gerichten überwiesen, 1935 waren es bereits 75.541 Da am Institut interdisziplinär gearbeitet wurde, untersuchte zunächst ein organic physician den Straftäter, dann ein Psychiater und schließlich ein Psychologe, der auch, wie Gover, ein Psychoanalytiker sein konnte.542 Aufgrund des gemeinsam erstellten Gutachtens konnte das Gericht anschließend über das weitere Vorgehen entscheiden, auch darüber, ob im gegebenen Fall eine Behandlung am ISTD gewünscht wurde. Da sich das Institut allein aus Spendenmitteln finanzierte, kam es immer wieder zu finanziellen Engpässen.543 Trotzdem ermöglichte das gesammelte Geld im Jahr 1936 die Eröffnung einer Klinik in der Portman Street (Portman Clinic). Ihr Erhalt und Ausbau kostete ca. £ 2000 im Jahr, wobei bei der jährlich durchgeführten Spendenaktion in der Regel zwischen £ 3500 und £ 3800 zusammenkamen.544 In den zu diesen Anlässen gehaltenen Reden wurden stets die großen gemeinnützigen Verdienste des Institutes hervorgehoben. Diese Verdienste scheinen zumindest jene Kreise überzeugt zu haben, die so bereitwillig das Institut finanziell unterstützten. Darunter befanden sich, wie die in der Times abgedruckten Namenslisten verraten, viele Mitglieder der aristokratischen Oberschicht. Die Wirkung des Instituts machte sich vor allem in einer wachsenden Akzeptanz psychotherapeutischer Behandlungsmethoden für Delinquenten bemerkbar. „Such a psychologisation of crime“, so urteilt Nikolas Rose, „would have a bright future after the

538 Edward

Glover, The Psychology of Crime, in: British Journal of Medical Psychology 12 (1932), S. 270–272, hier S. 270. 539 Siehe The Times, 6. März 1936, S. 9, SP. e. 540 Wells, Burt und Ellis in The Times, 3. März 1936, S. 12, Sp. b. 541 The Times, 6. März 1936, S. 9, Sp. e. 542 Vgl. ebd. 543 Die Howard League begrüßte die Gründung der Klinik, vgl. The Howard Journal (1933), S. 18: „We welcome the news that the Institute for the Scientific Treatment of Delinquency proposes to open a clinic for the treatment of individual offenders at the West London Hospital for Nervous Diseases at the end of September [1933, S.F.]“. 544 Siehe dazu The Times, 30. November 1938, S. 16, Sp. c.

6.11. Das Institute for the Scientific Treatment of Delinquency   381

Second World War.“545 Tatsächlich sollte nach dem Zweiten Weltkrieg der psychologische Gefängnisdienst, angeregt durch die Arbeit solcher privaten Institutionen, erst zu seiner vollen Blüte gelangen.546 Das Institut entwickelte sich zu einem Ort der akademischen Diskussion und Forschung über Kriminologie und Strafrecht. 1938 lehrte u. a. der nach England emigrierte Berliner Strafrechtsprofessor Hermann Mannheim am Institut kontinentaleuropäische Entwicklungen im Strafrecht.547 Ein einflussreicher Text, der am Institut entstand, war Kate Friedländers A Psychoanalytic Approach to Juvenile Delinquency.548 Friedländer hatte ihre Medizinausbildung in Berlin absolviert und arbeitete als Honorary Psychiatrist am ISTD und zugleich als Clinical Director im West Sussex Child Guidance Service. Sie gehörte zu den ersten, die eine systematische psychoanalytische Theorie der Jugendkriminalität entwickelte. „It is not illness, inflicted upon a healthy personality“, betonte sie, „but a characterdisturbance rooted in experiences during the first years of Life.“549 Kriminelles Verhalten ging für Friedländer vor allem auf eine anti-soziale Charakterbildung (antisocial character formation) zurück, wurde also erworben, nicht vererbt.550 Bei den jugendlichen Delinquenten glaubte sie vor allem durch Fehlentwicklungen in frühen Entwicklungsjahren manifest gewordene Persönlichkeitsstrukturen auszumachen: eine unmodifizierte Triebstruktur, ein schwaches, unter der Herrschaft des Lustprinzips stehendes Ich (dominance of the pleasure-principle) und ein unselbständiges Über-Ich (faulty development of the Super-Ego).551 Während sich der 545 Rose,

Psychological Complex, S. 201 f. Zunahme psychologischer Dienste in britischen Gefängnissen siehe Barry Richards, Psychology, Prisons and Ideology, in: Ideology and Consciousness 2 (1977), S. 9–25. 547 Vgl. Hermann Mannheim, The Treatment of Mental Disorders and Mental Deficiency in Continental Criminal Law. Paper Read Before the Institute for the Scientific Treatment of Delinquency, in: The Journal of Mental Science 84 (1938), S. 524–540; vor seiner Emigration war Mannheim auch Richter am Berufungsgericht in Berlin (ebd. S. 524). 548 Kate Friedländer, A Psychoanalytic Approach to Juvenile Delinquency, London 1947 (2. Aufl. 1949); das Buch erschien in der von Karl Mannheim herausgegebenen Reihe International Library of Sociology and Social Reconstruction; Kate (Käthe) Friedländer, geb. Frankl (1902–1949), als Tochter ungarisch-jüdischer Eltern in Innsbruck geboren, hatte in Innsbruck und Berlin Medizin studiert und sich am Berliner Psychonalytischen Institut einer Lehranalyse unterzogen. Nach dem Reichtstagsbrand emigrierte sie nach London, wurde 1933 außerordentliches, 1938 ordentliches Mitglied der British Psycho-Analytical Society. Theoretisch orientierte sie sich an Anna Freud, mit der sie auch zusammenarbeitete; zu Kate Friedländer siehe Jutta Haager, Kate Friedländer (1902–1949). Leben und Werk, Köln 1986; Barbara Lantos, Kate Friedländer. Prevention of Juvenile Delinquency, in: Frank Alexander et al. (Hrsg.), Psychoanalytic Pioneers, New York 1966, S. 508–518; Elke Mühlleitner, Kate Friedländer, geb. Frankl, in: Brigitte Keintzel und Ilse Korotin (Hrsg.), Wissenschaftlerinnen in und aus Österreich. Leben – Werk – Wirken, Wien 2002, S. 203–205; Clifford Yorke, Kate Friedländer-Frankl, in: Alain de Mijolla (Hrsg.), Dictionaire international de la psychoanalyse, Paris 2005, S. 700 f. 549 Friedländer, Psycho-Analytical Approach, S. 199. 550 Die Ausnahme bildeten die Gruppe der organisch Gestörten, bei der „the Ego is put out of action by toxic or organic disturbances or a malfunctioning of the nervous centres“ (Alkohol, Drogen, Gehirntumore und -entzündungen, Lähmungen, Epilepsie etc.), vgl. Friedländer, Psycho-Analytical Approach, S. 187. 551 Beide Zitate: ebd., S. 223, Hervorhebungen im Original. 546 Zur

382   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) Neurotiker in seiner Phantasie Ersatzbefriedigung verschaffen konnte, fand der anti-soziale oder kriminelle Charakter diese Befriedigung in kriminellen Handlungen. Die besten Therapieerfolge versprach sich Friedländer von der Analyse sieben- bis zehnjähriger Kinder vor dem Beginn ihrer Pubertät.552 Der Schwerpunkt des Institutes lag auf seiner präventiven Arbeit. Es versuchte über Psychoanalyse und andere Behandlungsformen, Verhaltensänderungen in gefährdeten Personen zu bewirken, bevor diese tatsächlich kriminell wurden. Gleich in der ersten Ausgabe des ab 1950 herausgegebenen British Journal of Delinquency betonten die Institutsmitarbeiter die eigenen fortschrittlichen Forschungsansätze gegenüber denjenigen der ‚institutionalisierten Kriminologen‘, d. h. der britischen Gefängnisärzte: The names of James Devon, Hamblin Smith, Norwood East and others bear witness to the honourable part played by Prison Medical Officers in the development of scientific criminology in this country. But the activities of the „institutional“ criminologist have been rather overshadowed in recent years by the expansion of diagnostic and, where necessary or possible, therapeutic methods to early cases attending Delinquency Clinics, Child Guidance and psychiatric ­centres, etc. with or without probationary supervision. And to the extent that the Delinquncy Clinic bridges the gap between the „non-delinquent“ and the „recidivist“, it is inevitable that the ambulant system should provide the most fruitful field for research into causes and methods of prevention.553

Als Ort kriminologischer Forschung gewann das ISTD zunehmend an Profil. 1953 bildete sich am Institut eine Scientific Group for the Discussion of Delinquency Problems, die sich selbst als ein akademisches Forum für Debatten über und Analysen von Verbrechen und Kriminalität verstand. 1955 löste sich diese Gruppe aus dem ISTD heraus, nachdem einige der jüngeren Mitglieder inzwischen neu errichtete Lehrstühle für Kriminologie innehatten und die zu starke klinische und psychoanalytische Ausrichtung des Institutes beklagten.554 1961 erhielt diese Gruppe ihren heutigen Namen: The British Society of Criminology. Das ISTD, das sich, um seine Forschungstätigkeit stärker zu betonen, 1951 in das Institute for the Study and Treatment of Delinquency umbenannte, hegte nach dem Zweiten Weltkrieg zwar die Hoffnung, dass eine akademische Institutionalisierung der britischen Kriminologie durch eine entsprechende Übernahme ihres Institutes mit staatlicher Unterstützung möglich sein würde.555 Doch die Nähe zur Psychoanalyse und die Distanz des ISTD zu Home Office, Prison Commission und deren offizieller penal policy führten letztlich dazu, dass das Innenministerium der von Leon Radzinowicz stark beworbenen Alternative zustimmte und 1960 ein eigenständiges Institute of Criminology in Cambridge einrichtete.556 Im gleichen 552 Ebd.,

S. 219. in The British Journal of Delinquency 1 (1/1950), S. 4; siehe auch Garland, Of Crimes and Criminals, S. 40. 554 Vgl. dazu ebd., S. 45 f. 555 Siehe dazu Glover, Roots of Crime, S. 70. 556 So die Einschätzung von Garland, Of Crimes and Criminals, S. 40; die Gründung ging letztlich auf die außerordentlich guten Verbindungen zurück, die Radzinowicz zum Home Office unterhielt (für diese Auskunft danke ich Andrew von Hirsch, Institute of Criminology, Cam553 Editorial

6.12. Child-Guidance-Kliniken   383

Jahr änderte das ISTD den Namen seiner Zeitschrift in den heutigen Titel: The British Journal of Criminology. Diese Zeitschrift gilt heute als eine der führenden englischsprachigen peer review journals auf dem Gebiet der Kriminologie.

6.12. Child-Guidance-Kliniken Das wohl wichtigste Ergebnis der psychiatrischen, psychologischen und psychoanalytischen Debatten über jugendliche Delinquenz in England war die Einrichtung sogenannter Child Guidance Clinics, von denen bis 1944 insgesamt 70 eingerichtet wurden.557 In Anlehnung an Healys Psychopathic Institute in Chicago hatte 1925 Cyril Burt im Anhang seines Young Delinquent einen detaillierten Plan für die Einrichtung psychologischer Ambulanzen für die Betreuung jugendlicher Delinquenten vorgelegt.558 Dass nun aber ein solches Projekt von den lokalen Behörden unterstützt wurde, hatte damit zu tun, dass solche ambulanten Unter­ suchungs- und Beratungszentren sowohl von Kinderwohlfahrtsvereinen als auch von Reformgesellschaften wie der Howard League for Penal Reform, der Magistrate‘s Association und der Central Association for Mental Welfare mit Nachdruck gefordert wurden:559 „Above all“, so lautete der Appell, „we want the Observation Centres and we want them now.“560 Mit seiner Bemerkung „Delinquency I regard as nothing but an outstanding sample – dangerous perhaps and extreme, but none the less typical – of common childish naughtiness“,561 hatte Burt den Versuch unternommen, Jugenddelinquenz im Bereich des Normalen zu verankern. Die Tendenz zur Entkriminalisierung jugendlicher Delinquenz, von der bereits die sozialreformerischen Debatten während des Ersten Weltkriegs geprägt waren, indem auf die psychologischen und sozialen Bedingungen ihres Entstehens hingewiesen wurde, kennzeichnete auch das 1926 einberufene Departmental Committee on Young Offenders. In seinem 1927 vorgelegten Bericht befürwortete es die Schaffung der Child Guidance Clinbridge); das Institut wurde „lose“ mit dem Law Department der University of Cambridge verbunden, siehe dazu Leon Radzinowicz, The Cambridge Institute of Criminology. Its Background and Scope, London (HSMO) 1988. 557 Mitte der fünzige Jahre (1955) gab es bereits 300 Child Guidance Kliniken, von denen 204 von den lokalen Behörden finanziert wurden und einige von privaten Organisationen. Rund 50 waren an die regionalen Krankenhäuser angeschlossen, Hearnshaw, Cyril Burt, S. 98; zur Arbeit der Kliniken siehe auch Noel Timms, Psychiatric Social Work in Great Britain (1939– 1962), London 1964, Kap. 5: The Work of the Social Psychiatric Worker – The Child Guidance Clinic, S. 90–110. 558 Vgl. Burt, Young Delinquent, Appendix II: The Psychological Clinic for Juvenile Delinquents, S. 617–627; und dann die Judge Baker Foundation in Boston, S. 617: „Dr. Healy’s work has been, and still remains, a model for all such enterprises.“ 559 Timms, Psychiatric Social Work, S. 17; siehe auch The Howard Journal (1926), S. 66: „[W] hen will London boast ‚Child Guidance Clinics‘ available for all who need their help.“ 560 Vgl. den Kommentar zum Young Offender Committee in The Howard Journal 3 (1932), S. 11. 561 Burt, Young Delinquent, S. viii.

384   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) ics mit der Begründung: „The tendency to commit offences is only an outcome of the conditions of neglect, and there is little room for discrimination either in the character of the young person concerned or in the approbriate method of treatment.“562 Im Klartext hieß das: Delinquente Kinder und Jugendliche unterschieden sich im Grunde nicht von vernachlässigten Kindern und Jugendlichen und sollten deshalb die gleiche Behandlung erfahren. Damit wurde die alte, ins 19. Jahrhundert zurückreichende Unterscheidung von dangerous children und children in danger aufgehoben.563 Jugendkriminalität wurde, wie Burt gehofft hatte, „one inseparable portion of the larger enterprise for child welfare.“564 Was die Kinderwohlfahrtsvereine alleine aber nicht hatten erreichen können, wurde unter dem Druck wissenschaftlicher Debatten nun auch politisch als immer dringlicher angesehen. Die erste Klinik wurde durch Gelder des Commonwealth Fund für fünf Jahre finanziert. Da der London County Council die Anschlussfinanzierung nicht gewährleisten konnte, ermöglichte ein Beschluss des Innenministeriums, dass die lokalen Schulbehörden (education authorities) aus ihrem Budget die ­Mittel zur Verfügung stellen konnten. Damit wurden diese Ambulanzen zu quasi staatlich finanzierten Einrichtungen.565 An der Arbeitsweise und Zielsetzung der Child-Guidance-Kliniken lässt sich zeigen, wie viel und vor allem was aus den Diskussionen über jugendliche Delinquenz erfolgreich umgesetzt wurde. Die Kliniken betreuten nicht nur delinquente Kinder und Jugendliche, sondern die ganze Bandbreite kindlicher Verhaltensauffälligkeiten: Kinder mit Lernschwierigkeiten ebenso wie nervöse Stotterer und ­pathologische Lügner, aber keine zertifizierten geisteskranken oder -gestörten Kinder.566 Delinquenz wurde als ein Symptom unter vielen gedeutet, das auf ­psychische Störungen hinweisen konnte. Erklärtes Ziel war es jedoch, nicht die Symptome, sondern deren Ursache zu behandeln: „The symptoms should be considered merely as an indication of underlying disturbances, and it is towards these disturbances that treatment is directed“567 erklärte William Moodie, General­ 562 Report of the

Departmental Committee on the Treatment of Young Offenders, Parliamentary Papers 1927, Bd. 12, Cmd. 2831, S. 964; Rose, Psychological Complex, S. 171. 563 Die aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammende Unterscheidung betraf die Einweisung in reformatory oder industrial Schools, siehe Rose, Psychological Complex, S. 167 f. 564 Burt, Young Delinquent, S. 610. 565 Neben den kommunal unterstützten Einrichtungen gab es auch eine Reihe privat finanzierter Child-Guidance-Kliniken; die erste entstand 1926 im East End unter Leitung von Dr. Emanuel Miller und wurde getragen vom Jewish Board of Guardians, siehe Timms, Psychiatric Social Work, S. 90; Hearnshaw, Cyril Burt, S. 97. 566 Ausgeschlossen wurden allerdings Kinder mit „definite organic diseases“ und „definite mental diseases“ wie z. B. Epilepsie. Für den Ausschluss gab es zwei Gründe: 1. Würde die Arbeit der Ambulanz mit mental Defekten in Verbindung gebracht werden, dann würden sich Eltern von normalen Kindern scheuen, die Dienste in Anspruch zu nehmen. 2. Die Behandlungsmethoden dieser Problembereiche sei so unterschiedlich zur Arbeit in den ChildGuidance-Kliniken, so Moodie, dass sich kaum Mitarbeiter finden lassen würden, die für beide ausgebildet seien; siehe dazu William Moodie, Child Guidance by Team Work, in: The Social Service Review, January 1932, S. 3–6, hier S. 3. 567 Moodie, Team Work, S. 6.

6.12. Child-Guidance-Kliniken   385

sekretär des 1927 gegründeten Child Guidance Councils und Leiter der ersten offiziellen Child Guidance Demonstration Clinic im Londoner Stadtteil Islington.568 Entsprechend des von William Healy und Cyril Burt vertretenen multikausalen Erklärungsansatzes zeichnete sich child guidance vor allem durch interdisziplinäres team work aus: Jeweils ein Psychiater, ein Psychologe und ein Sozialarbeiter waren in den Kliniken gemeinsam für den gleichen Fall zuständig, um möglichst viele Aspekte aufzuklären, die für das problematische Verhalten von Kindern verantwortlich gemacht werden konnten.569 Die Mitarbeit verteilte sich auf verschiedene Bereiche. Im Idealfall570 war der Psychiater für die Feststellung neurologischer bzw. physiologischer Störungen und Defizite zuständig, die sich auf kindliches Verhalten auswirken konnten. Der Psychologe ermittelte mit Hilfe von Intelligenztests die intellektuelle Leistungsfähigkeit des jeweiligen Kindes, die besonders im schulischen Bereich eine Rolle spielte. Er sollte deshalb vorzugsweise ein educational psychologist sein, da solche Untersuchungen nur von jemandem angemessen durchgeführt werden konnten, der über ein fortgeschrittenes psychologisches Wissen verfügte und zugleich praktische Kenntnisse über die Bedingungen, unter denen Intelligenz gefördert werden konnte. Mit anderen Worten, er sollte Lehrerfahrungen aufweisen.571 Die Arbeit des Psychologen war auch mit Blick auf die richtige Wahl angemessener Therapieformen wichtig, wie William Moodie ausführte, da die Child Guidance Clinic in ihrer psychologischen Abteilung Einrichtungen ein ‚Coaching‘ für Kinder anbieten wollte, die eine spezifische Lernschwäche (learning disability) in bestimmten Bereichen zeigten, ohne einen allgemeinen mentalen Defekt aufzuweisen.572 Die diversen Therapieformen konnten vom Sprachtraining für Stotterer bis zur Nutzung hauseigener Spiel­ plätze als nützliche Ergänzung zur Behandlung reichen, die den Kindern die Möglichkeit bot, ihre soziale Anpassung (social adaptation) zu verbessern.573 Die von Melanie Klein entwickelte psychoanalytische Methode für Kinder wurde in den Kliniken allerdings nicht angewendet. Klinische Beobachtung, Gespräch und Beratung wurden als ausreichend betrachtet: 568 Vgl.

dazu auch William Moodie, The Child Guidance Clinic and the Juvenile Court, in: Tribunal (1932), S. 117–123; ein deutsches und ein französisches Resumé wurden diesem Beitrag angefügt, ebd. S. 124–128. Tribunal wurde in der Geschäftsstelle der Howard League for Penal Reform gedruckt. In deutscher Übersetzung hießen die Kliniken „Klinik für Kinderberatung und Jugendgericht“; zur ersten Klinik siehe auch The Howard Journal (1926), S. 84. 569 Zu diesem Aspekt siehe George S. Stevenson und Geddes Smith, Child Guidance Clinics: A Quarter Century of Development, New York und London 1934; W. Mary Burbury, Edna M. Balint und Bridget J. Yapp, Introduction to Child Guidance, London 1945. 570 Timms, Psychiatric Social Work, S. 92, macht allerdings darauf aufmerksam, dass der jeweilige Fall und die lokalen Umstände in der jeweiligen Gemeinde auch dazu führen konnten, dass vom klassischen Guidance-Modell (d. h. „the psychiatrist treated the children, the psychologist tested the children and gave remedial tuition, and the psychiatric social worker saw the parents (usually the mother“) abgewichen wurde. 571 Vgl. Moodie, Team Work, S. 3 f. 572 Ebd., S. 5. 573 Beide Zitate: ebd., S. 6.

386   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) The psycho-analytic method is never employed in a Child Guidance Clinic. The child who requires mental treatment is always extremely conscious of, and acutely worried by his own abnormal thoughts, and is ready to discuss them with an adult who he trusts, and this discussion, which need only follow the lines of an ordinary common-sense conversation is all that is required. In the great majority of cases, no discussion of the child’s thoughts is necessary or advisable.574

Bei verhaltensauffälligen Kindern, die keinerlei physische oder intellektuelle Defizite aufwiesen und als völlig normal eingestuft wurden, schienen Informationen des sozialen Milieus besonders wichtig.575 Diese Aufgabe übernahmen Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, die die Familie des Kindes zuhause aufsuchten und durch Interviews mit den Eltern dessen Lebenssituation zu beleuchten versuchten. Dabei spielte die Einschätzung der materiellen Umstände ebenso eine Rolle wie die Erfassung des emotionalen Klimas, das im Familienverband vorherrschte. Bei der Erarbeitung einer ausführlichen Familiengeschichte und eines detaillierten Zustandsberichtes der häuslichen Situation oblag es ihnen, die Wirkung emotionaler Faktoren auf das Gemüt des Kindes richtig einzuschätzen.576 Gleichzeitig kam ihnen eine aktive Beraterrolle vor Ort zu, indem sie die medizinisch-psychiatrischen und psychologischen Empfehlungen der anderen Klinikmitarbeiter an die Familie übermitteln sollten. Ein Ziel war dabei, durch Beratungsgespräche die Haltung der Eltern und ihr dem Kind gegenüber praktiziertes Verhalten zu ändern577 oder, wie es hieß, „helping the mother to help the child“.578 Da diese Aufgabe vor allem psychologische, aber auch psychiatrische Kenntnisse erforderte, wurde ab 1929 ein spezieller Studiengang an der London School of Economics eingerichtet, der aus Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen sogenannte psychiatric social worker machte. Die Kurse, die sich als Ausbildung für „men and women for social work in the field of mental health“579 verstanden, waren die ersten innerhalb einer britischen Universität, die sich der professionellen Ausbildung von Sozialarbeitern widmeten. Zu den Lehrern dieser Kurse gehörten educational psychologists wie Cyril Burt, Psychiater wie Alfred Tredgold, Robert David Gillespie, Robert Gordon und William Moodie sowie die Sozialarbeiterinnen gemeinnütziger Organisationen. Unter den Letztgenannten befanden sich auch einige Frauen, die durch einen vom Commonwealth Fund finanzierten Aufenthalt eine einjährige Ausbildung in amerikanischen child-guidance-Ambulanzen absolviert hatten.580 In den ersten zehn Jahren wurden insgesamt 165 psychiatric social workers ausgebildet, erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieser 574 Ebd., 575 Ebd., 576 Ebd.

577 Siehe

S. 5, Hervorhebung im Original. S. 4.

ebd., S. 5; Timms, Psychiatric Social Work, Kap. 5: The Work of the Psychiatric Social Worker – The Child Guidance Clinic, S. 90–109. 578 Timms, Psychiatric Social Work, S. 99. 579 Zit. nach Timms, Psychiatric Social Work, S. 21 (aus den LSE Vorlesungsverzeichnissen). 580 Siehe dazu ebd., S. 19, zu den Stipendiatinnen gehörten Catherine Craggs von der Central Association for Mental Welfare, die Bewährungshelferin Elizabeth Horder, Noel Hunnybun, die Assistentin des School Care Committee des London County Councils, und Doris Robinson, Sozialarbeiterin in der Tavistock Klinik; zur Liste der Lehrer, ebd. S. 30 f.

6.12. Child-Guidance-Kliniken   387

Studiengang Standard.581 Von Anfang an waren Frauen in diesem Studiengang überpropotional vertreten, ein Trend, der sich auch nach dem Krieg fortsetzte.582 Bei der Ausbildung zum psychiatric social worker handelte sich um ein einjähriges, Postgraduierten-Aufbaustudium,583 das Theorie und Praxis miteinander verband. Auf der theoretischen Ebene vermittelten die Kurse Grundkenntnisse in Physiologie, in allgemeiner Psychiatrie und Psychologie und in angewandter Sozialpsychologie. Sie behandelten geistige Störungen und Defizite bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, informierten über die Entwicklungsphasen in Pubertät und Adoleszenz. Auch das Studium und die Behandlung von delinquentem Verhalten und von Kriminellen standen auf dem Unterrichtsplan.584 Wenig überraschend fehlten Kurse über Psychoanalyse, sie wurden erst 1959 durch die Vor­ lesungen von Gillespie über Clinical Aspects of Child Development in den Lehrplan aufgenommen.585 Dem Studium an der LSE folgte ein zweimonatiges Praktikum an einer Child-Guidance-Ambulanz oder einer psychiatrischen Tagesklinik (mental hospitals).586 In Begleitung einer Sozialarbeiterin nahmen die Auszubildenden auch an den Besuchen bei Familien teil.

‚Neue Psychologie‘ und ‚psychologisierte Psychiatrie‘ Cyril Burts Hoffnung, Erziehungspsychologen wie er würden in den Kliniken die leitenden Positionen übernehmen, erfüllte sich nicht.587 Obgleich er die Auf­ fassung vertrat, dass gerade Psychologen für die Arbeit in den Child-GuidanceKliniken prädestiniert seien, da es sich in der Regel gerade nicht um pathologische 581 Ebd.,

S. 18; C. Jones, Social Work Education, 1900–1977, in: Noel Parry, Michael Rustin und Carole Satyamurti (Hrsg.), Social Work, Welfare and the State, London 1979; Rose, Psychological Complex, S. 206 f. 582 Bis 1962 waren in Großbritannien 1202 Personen als psychiatrische Sozialarbeiter/innen ausgebildet worden, nur 136 davon waren männlich, vgl. Timms, Psychiatric Social Work, S. 48; auch in den USA zeigte sich die gleiche Verteilung; zur Ausbildung und den Tätigkeitsbereichen der amerikanischen psychiatrischen Sozialarbeiterinnen, siehe Frederick C. Redlich und Daniel X. Freedman, Theorie und Praxis der Psychiatrie [amerik. Originalausgabe 1966], 2 Bde, Frankfurt am Main 1976, hier Bd. 1: S. 27–29. Interessanterweise machten Redlich und Freedman 1966 für den amerikanischen psychiatrischen Dienst einen Wandel aus, vom „Gedankengut der Psychoanalyse“ zu „den Theorien und Forschungsmethoden der Sozialwissenschaften“ (ebd. S. 28). 583 D.h. die Teilnehmer hatten bereits einen Hochschulabschluss in Social Sciences oder einem anderen Fach, oder konnten einige Jahre Berufserfahrung als Sozialarbeiter nachweisen. 584 Vgl. dazu Timms, Psychiatric Social Work, S. 28–34, hier S. 33. 585 Ebd., S. 34. 586 Die wichtigsten praktischen Ausbildungsstätten waren die Child Guidance Clinic in Islington, das Maudsley Hospital in Denmark Hill, Guys und Warlingham Park Hospital und für Kinderstudien die Tavistock Clinic, Timms, Psychiatric Social Work, S. 29 f. 587 Vgl. Burt, Young Delinquent, Appendix II, S. 617–627, hier S. 619 (Abschnitt über die psychologische Leitung der Kliniken); zu Burts Kritik an den Psychiatern siehe auch Hearnshaw, Cyril Burt, S. 98; seinen Standpunkt hat Burt in einem späteren Dokument noch einmal bekräftigt: Cyril L. Burt, Symposium on Psychologists and Psychiatrists in the Child Guidance Service: Conclusion, in: British Journal of Educational Psychology 23 (1953), S. 8–28.

388   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) Fälle handele und Kenntnisse in der ‚normalen‘ Psychologie von größerer Bedeutung seien, wurden bis 1939 nur zwei von 43 Kliniken von Psychologen geleitet, alle anderen von ausgebildeten Medizinern, d. h. von Psychiatern. „The work of Child Guidance“ sei, so erklärte Moodie 1932, „primarily psychiatric“.588 Wo die Vielfalt der Informationen so groß war, wurde ihre Bündelung und abschließende Bewertung einem einzigen Experten überlassen, der sich durch eine klare, bekannte und traditionelle Berufsausbildung auszeichnete. Trotzdem veränderte sich auch das Wissen der Psychiatrie durch die Arbeit in den Child-GuidanceKliniken. Zwar verhinderte die Mehrheit der in den Kliniken arbeitenden Psychiater, so Nikolas Rose, durch den Ausschluss der Psychoanalyse eine detaillierte Untersuchung der kindlichen Psyche.589 Die interdisziplinäre Zusammenarbeit verstärkte aber zugleich Argumente in Richtung environmentalism. Auch bis dato eher somatisch orientierte Psychiater wie Robert Henderson und Robert David Gillespie revidierten innerhalb weniger Jahre ihre Ansichten über die auslösenden Ursachen von Verhaltensstörungen bei Kindern.590 Während sie 1927 in der ersten Ausgabe ihres Textbook of Psychiatry Kindheitsstörungen noch auf eine innere organische Ursache zurückführten und emotionale Instabilität für eine ererbte Disposition hielten, deren Behandlung wenig Hoffnung auf Erfolg versprach, stellten sie 1932 in der dritten Auflage solche Vererbungsannahmen, den „organicist pessimism“,591 plötzlich grundsätzlich in Frage. Die Aufnahme eines neuen Kapitels über childhood psychiatry begründeten sie im Vorwort mit den aufschlussreichen Erfahrungen, die in den Child-Guidance-Kliniken gewonnen wurden. Beide Psychiater begrüßten ausdrücklich, dass diese Arbeit in Zukunft noch zunehmen werde.592 Nun schienen alle kindlichen Verhaltensweisen primär erworben, und innere, somatische Faktoren als Ursachen sollten nur noch dann in Betracht gezogen werden, wenn alle Umwelteinflüsse und alle persönlichen Ereignisse ausgeschlossen werden mussten und alle Therapien fehlgeschlagen waren.593 Gegenüber psychoanalytischen Ansätzen weiterhin skeptisch glaubten beide Autoren jetzt, dass Kindheitsprobleme nicht in den Tiefen der kindlichen Psyche ­gesucht werden müssten, sondern genau dort, wo die Wünsche und Ziele des Kindes auf dessen Umgebung träfen.594 Der Umweltfaktor blieb auf diese Weise zentraler Bestandteil des Erklärungsrepertoires von Psychiatern. Im Gegensatz zur Psychoanalyse konzentrierten sie sich in ihren Untersuchungen nie ausschließlich auf das isolierte Individuum und 588 Moodie,

Team Work, S. 3. dazu Rose, Psychological Complex, S. 179. 590 David K. Henderson gehörte auch zum Research and Clinical Committee der Medico-Psychological Society, siehe Journal of Mental Science 83 (1937), S. 7; er gehörte auch zu den Ausbildern des Studiengang für psychiatric social worker an der LSE, siehe Timms, Psychiatric Social Work, S. 31. 591 Rose, Psychological Complex, S. 179. 592 David K. Henderson und Robert David Gillespie, A Textbook of Psychiatry, 3. Aufl. London 1932, S. 3; siehe dazu auch Rose, Psychological Complex, S. 179. 593 Vgl. dazu ebd., S. 179. 594 Henderson und Gillespie, A Textbook of Psychiatry, 3. Aufl. London 1932, S. 488. 589 Siehe

6.12. Child-Guidance-Kliniken   389

seine Triebregulierung, sondern schenkten stets auch der ‚sozialen Matrix‘, in der dieses Individuum lebte, Beachtung. Was sich in der englischen Psychiatrie letztlich entwickelte, so hat es Victor Bailey formuliert, sei eine Konzeption von Delinquenz gewesen, die die Einsichten aus Sozial- und Erziehungspsychologie inkorporierte.595 Die Wechselwirkung des Individuums mit einer äußeren Welt, die alle wesentlichen Impulse zu Lernbereitschaft und dem Erwerb sozialer Kompetenz bereitstellte, blieb zentraler Bestandteil der englischen Psychiatrie bis zum Zweiten Weltkrieg. Hinzu kommt, was Bailey als die „enduring importance of environmental considerations to English psychology“596 bezeichnet hat. Nicht nur die Psychiatrie, auch die Neue Psychologie, deren Ursprünge auf die Erforschung der Reizverarbeitung der Sinne, also auf biologische bzw. physiologische Prozesse zurückgingen, und die nun ein Amalgam aus Intelligenztests, Instinkttheorie und Elementen Freudscher Psychoanalyse darstellte, diese englische Psychologie habe stets „the mind of the individual child as in constant dynamic interaction with its environment“597 betrachtet. Von dieser Auffassung war auch die Arbeit der ChildGuidance-Ambulanzen geprägt. Zugleich wurde sowohl die Rolle von Lehrern, Sozialarbeitern und Schulärzten als auch die von Psychologen aufgewertet.598 Diese environmental considerations erklären auch, warum die Psychoanalyse eher mit Skepsis betrachtet wurde. Sie erschien zu hypothetisch, zu spekulativ, zu wenig ausgerichtet auf das reale Verhältnis eines auch mit einer materiellen Welt konfrontierten Subjektes: „[I]t is but an elaborate and complicated guesswork and wholly lacks scientific verification“,599 urteilte der Medical Prison Commissioner Bryan Donkin. Unter dem Blickwinkel von Anpassungsprozessen gerieten in England materielle Bedingungen nie ganz aus dem Blick. Die in den ChildGuidance-Kliniken arbeitenden Psychiater werteten auch weiterhin die von den Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen ermittelten Informationen zu Ernährung, Schlafverhalten, beengten Wohnverhältnissen, Lärmstörung, Bewegungsmangel und andere Faktoren aus, worin sich durchaus das Erbe der älteren präventivmedizinischen Bewegung wiedererkennen lässt.600 595 Bailey,

Delinquency, S. 16; er bezieht sich hier auf die Arbeiten von Sybil Clement Brown, Looking Backwards. Reminiscences: 1922–1946, in: The British Journal of Psychiatric Social Work 10 (1970), S. 162, und Kathleen Woodroofe, From Charity to Social Work in England and the United States (1. Aufl. 1962), London 1968, S. 136–139; beide argumentieren, dass es in den 1920er Jahren in England keine „psychiatric deluge“ wie in America gegeben habe, „sufficient to shift the focus of investigation on to the individual and away from the social matrix in which the individual lived.“ 596 Bailey, Delinquency, S. 15. 597 Ebd., bezieht sich auf die Studie von Gertrude Keir, Symposium of Psychologists and Psych­ iatrists in the Child Guidance Service. III – A History of Child Guidance, in: British Journal of Educational Psychology 22 (1952), S. 6, S. 11, S. 28. 598 Bailey, Delinquency, S. 15. 599 Bryan Donkin, Crime and Psycho-Analysis. Besprechung des Buches von Maurice Hamblin Smith, The Psychology of the Criminal (1922), in: The British Medical Journal, 2. Dezember 1922, S. 1081–1083, hier S. 1082. 600 Vgl. dazu Ronald G. Gordon, A Survey of Child Psychiatry, London 1939, darin auch ein Kapitel über Delinquenz.

390   6. Die Neue Psychologie (1890–1945)

Sozialdienste im Aufwind Bereits Cyril Burt hatte gesehen, welche großen Betätigungsfelder sein Ansatz neuen Professionen eröffnete: Crime in children is not a unique, well-marked, or self-contained phenomenon, to be handled solely by the policeman and the children’s court. It touches every side of social work. The teacher, the care committee worker, the magistrate, the probation officer […] should be working hand in hand, not only with each other, but with all the clubs, societies, and agencies, voluntary as well as public, that seek to better the day-to-day life of a child.601

Obwohl weder die Psychologen noch die psychiatric social worker in den ChildGuidance-Kliniken eine autonome Führungsrolle übernehmen konnten, gelang es ihnen, sich als professionelle Allianz zu etablieren. Jugendgerichte, die seit ihrer Schaffung durch den Children Act von 1908 dazu angehalten waren, nicht die Bestrafung, sondern vor allem das Wohl des Kindes im Auge zu behalten, griffen zur Einschätzung des jeweiligen Falls und bei der Wahl der Behandlung des Straftäters immer öfter auf Informationen von Psychologen und Sozialarbeitern zurück. Dadurch habe sich, so Nikolas Rose, eine neue psychologische Jurisdiktion etabliert.602 Da die Wichtigkeit der Familienbeziehungen zunehmend anerkannt wurde, entschieden viele Richter, delinquente Kinder im Familienverband zu belassen und sie unter die zusätzliche Aufsicht eines Bewährungshelfers zu stellen.603 Waren die häuslichen Umstände aber dermaßen desolat und defizitär, schien die Einweisung in spezielle Schulen und Heime die bessere Alternative.604 Auch wenn es um die frühzeitige Entlassung von Strafgefangenen ging, war die zuverlässige Einschätzung der sozialen Risiken, die damit verbunden waren, dringend geboten. Man brauche in jedem Fall, so schrieb der nach England emmi­ grierter Rechtsgelehrte Max Grünhut in seinem 1948 publizierten Standardwerk Penal Reform, „a fair knowledge of the manner in which the person responds to guidance and trust, but also of his reaction to the pressure and temptations of his environment.“605 In der künstlichen Atmosphäre des Gefängnisses ließen sich zuverlässige Einschätzungen dieser Art nur beschränkt gewinnen. Aus diesem Grund wuchs das Gewicht, das den Berichten der Bewährungshelfer und Sozialarbeiter zukam.606 Sie selbst setzten sich ab den späten 1920er Jahren immer stärker für die Aufwertung ihrer Arbeit und den Ausbau ihrer Kompetenzen ein. Besonders die psychiatrischen Sozialarbeiterinnen wollten ihre Tätigkeit nicht auf die Zuträgerdienste für Gerichte, Schulbehörden oder Child-Guidance-Kliniken beschränkt sehen, sondern ihre psychologische Betreuung von Familienmitgliedern und betroffenen Jugendlichen als eigenständige professionelle Tätigkeit anerkannt wis601 Burt, Young

Delinquent, S. 610; Bailey, Delinquency, S. 17. Psychological Complex, S. 14. 603 Zur Diskussion über die Funktion der Bewährungshelfer siehe Kap. 6.4. 604 Vgl. Bridgeland, Pioneer Work, S. 230. 605 Grünhut, Penal Reform, S. 153. 606 Grünhut hat dabei klar gesehen, dass diese ständig zu erneuernden Berichte über den Werdegang des entlassenen Straftäters zu einem „burden“ für den Sozialarbeiter werden könnten, vgl. ebd., S. 153. 602 Rose,

6.12. Child-Guidance-Kliniken   391

sen. 1930 wurde die Association of Psychiatric Social Workers mit zunächst 17 Mitgliedern gegründet.607 Um sich von ‚normalen‘ Sozialarbeitern abzugrenzen, war die Berufung auf die eigene therapeutische Arbeit, besonders mit den Müttern, zentral.608 Aus diesem Grund wurde auf den ab 1933 halbjährlich stattfindenden Inter-Klinik-Konferenzen stets auf das besondere psychologische und psychiatrische Wissen verwiesen, das psychiatrische Sozialarbeiter gegenüber ‚gewöhnlichen‘ Sozialarbeitern auszeichnete.609 Die psychiatrische Sozialarbeit war im Grunde als eine spezielle klinische Arbeit innerhalb der Psychiatrie entstanden, gleichzeitig stand sie für den Versuch, den psychiatrischen Standpunkt in die Sozialarbeit hinein zu tragen. Dabei ging es weniger um die Analyse von Krankheiten als um die dynamischen Beziehungen zwischen den Familien und den Helfern. Das von den psychiatrischen Sozialarbeitern reklamierte Wissen blieb aber langfristig nicht auf die eigene kleine Gruppe beschränkt, sondern strahlte auch auf viele andere Bereiche der herkömmlichen Sozialarbeit aus. Wie eine 1939 vorgelegte Vergleichsstudie zeigte, hatten sich 1924 viele in staatlichen Diensten angestellte Sozialarbeiter in ihren Berichten noch primär auf die materiellen Umstände der Familie und auf Faktoren wie Sauberkeit oder Ordnung konzentriert, während sich 1934 schon verstärkt Hinweise auf das emotionale, psychische Klima innerhalb der Familie fanden.610 Ganz klar habe sich, so die Autorin dieser Studie, Sybil Clement Brown, in diesen zehn Jahren die Art und Weise des Umgangs mit sozialen Problemen verändert. Nicht mehr die Vermittlung von Tugenden (z. B. Sparsamkeit) und die Unterweisung in Techniken (z. B. Hygiene) hätten bei den Sozialarbeitern im Vordergrund gestanden, sondern die Vermittlung so­ zialer Kompetenzen „to handle the conflict“.611 Diese Verschiebung ging nicht ­zuletzt auf die wissenschaftlichen Debatten über Jugenddelinquenz und die darin entwickelte Vorstellung zurück, dass das psychische Klima im Elternhaus den wesentlichen Faktor für die Kindesentwicklung darstelle.

Modellversuche für erwachsene Straftäter In den Child-Guidance-Kliniken wurden nicht ausschließlich delinquente Kinder, sondern auch solche mit einfachen Verhaltensstörungen behandelt. Durch die ­positiven Erfahrungen kam die Frage auf, ob die Möglichkeit psychologischer ­Betreuung nicht auch innerhalb des Strafvollzugs geschaffen werden sollte. Eine 607 Siehe

Timms, Psychiatric Social Work, S. 161; enge Kooperationen bestanden von Anfang an mit der LSE und dem Child Guidance Council. 608 Obgleich noch keineswegs ausgemacht war, ob das bloße Reden mit den Müttern bereits als Therapie zu verstehen sei, ebd., S. 96–98. 609 Vgl. dazu die Proceedings of the Child Guidance Inter-Clinic Conferences, ab 1933 herausgegeben vom Child Guidance Council; ebd. 610 Die Analyse von insgesamt 80 Sozialberichten stammte von Sybil Clement Brown, die selbst ausgebildete psychiatrische Sozialarbeiterin war, vgl. Sybil Clement Brown, The Methods of Social Case Workers, in: Frederick C. Bartlett et al. (Hrsg.), The Study of Society: Methods and Problems, London 1939, S. 379–401; Bailey, Delinquency, S. 127. 611 Rose, Psychological Complex, S. 208.

392   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) treibende Kraft in diese Richtung war Maurice Hamblin Smith. Smith war ein wichtiger Grenzgänger zwischen öffentlicher Verwaltung und voluntary societies,612 denn er gehörte als Gefängnispsychiater nicht nur dem öffentlichen Dienst an und arbeitete als psychologischer Gutachter für die Gerichte in Birmingham, sondern er bekleidete daneben das Amt des Vizepräsidenten der Howard League for Penal Reform.613 Er schrieb zahlreiche Beiträge und unzählige Rezensionen für das Howard Journal, dessen Herausgabe er nach seiner Pensionierung 1932 übernahm.614 Bereits 1922 hatte er, von Freud beeindruckt, in seinem Buch The Psychology of the Criminal die psychologische Behandlung von Straftätern empfohlen.615 Zehn Jahre später hatte die von ihm und Edward Glover geförderte Grace Pailthorpe diesen Versuch unternommen. Dadurch, dass Hamblin Smith im Innenministerium als außerordentlich kompetenter und integrer Psychiater galt,616 gelang es ihm, offizielle Stellen für die Idee zu erwärmen, jedenfalls zeigte sich die Prison Commission ihr gegenüber aufgeschlossen. 1932 empfahl auch der parlamentarische Untersuchungsausschuss zum Problem des persistent offender, Gefängnispsychologen in jeder größeren Strafanstalt einzustellen und die psychologische Betreuung geeigneter Strafgefangener durch die Arbeit eines Sozialarbeiters zu ergänzen.617 Die Howard League feierte den Kommissionsbericht als „good report“, weil er „full of sound sense and humanity“ sei.618 Zwischen 1934 bis 1938 lief in englischen Gefängnissen ein Modellversuch mit 214 Strafgefangenen.619 Der Zeitraum erwies sich allerdings als zu kurz und die Untersuchungsgruppe als zu klein, um definitive Aussagen über Erfolg oder Misserfolg des Projektes machen zu können.620 Der offizielle Bericht der Prison Commission sprach sich aber allgemein für die psychologische Betreuung als ein wirk612 Als

Hamblin Smith starb, hieß es über seine Zusammenarbeit mit der Howard League: „He was much more than a supporter and patron; he was a real friend to the League, giving help in writing, speaking and advising readily and generously without regard to his personal convenience“, Editorial, in The Howard Journal (1936), S. 250. 613 Informationen zu Maurice Hamblin Smith (1870–1936) finden sich im Nachruf von William Norwood East, Maurice Hamblin Smith, Orbituary, in: The Journal of Mental Science 82 (1936), S. 291–293; Arthur Robert Lee Gardner, In Memoriam: Dr. Maurice Hamblin Smith, in: The Penal Reformer 3 (1936), S. 14–16. 614 Anläßlich seiner Pensionierung schrieb The Howard Journal (1933), S. 19: „He has done so much to vindicate in practice the claims which he has made so forcibly in his books and reports, for individual treatment of offenders, and for psychological examination and treatment, that he has won for himself a unique place in the history of penal reform in England.“ 615 Maurice Hamblin Smith, The Psychology of the Criminal, London 1922. 616 Siehe East, Obituary, S. 291. 617 Report of the Departmental Committee on Persistent Offenders (1932), S. 48, S. 67. 618 The Howard Journal 3 (1932), S. 18. 619 Zu den Ergebnissen siehe William Norwood East und H.B. de Hubert, The Psychological Treatment of Crime, London [HMSO] 1939; die Strafgefangenen mussten über 17 Jahre alt sein, um am Projekt teilnehmen zu können; siehe auch den Report of the Commissioners of Prisons for the Year 1933 und die Besprechung dieses Berichts durch Maurice Hamblin Smith im Journal of Mental Science 81 (1935), S. 692–693. Hubert behandelte ausgewählte Insassen in Wormwood Scrubs psychologisch. 620 Grünhut, Penal Reform, S. 334, und Report Persistent Offender (1932).

6.13. Zur Anschlussfähigkeit psychologischer ­Kriminalitätskonzepte   393

sames Mittel aus, das dazu beitragen könnte, das Risiko eines kriminellen Rückfalls zu verringern. Voraussetzung sei allerdings, dass eine für den Strafgefangenen passende psychotherapeutische Methode gefunden werden könne. Der Bericht empfahl die Schaffung spezieller Einrichtungen, in denen geeignete Gefangene nicht nur ihre Strafe ableisten, sondern gleichzeitig psychologisch betreut werden konnten.621 Ein weiterer Versuch, die psychologische Behandlung von Delinquenten möglich zu machen, war ihre Kombination mit einer Bewährungsstrafe. So empfahl der Untersuchungsausschuss von 1932, eine psychologische Therapie in geeigneten Fällen zur Bedingung einer Bewährungsstrafe zu machen.622 Von einem generellen Erfolg dieser Kombination konnte allerdings ebenfalls nicht gesprochen werden. Erfolge waren manchmal dort zu verzeichnen, wo in der Vergangenheit weder einfache Bewährung noch traditionelle Gefängnisstrafe einen Rückfall verhindert hatten. Die Prison Commission blieb aber grundsätzlich weiterer Forschung gegenüber aufgeschlossen. William Norwood East, inzwischen der führende Mediziner in der Prison Commission, hob die Bedeutung der Forschung, vor allem in der Psychiatrie, Psychologie und Pädagogik, hervor: „[A]t present […] we only see through a glass darkly: the future researches of the psychiatric and child guidance and educational expert may give us light and better under­standing.“623

6.13. Zur Anschlussfähigkeit psychologischer ­Kriminalitätskonzepte Der Erfolg der Neuen Psychologie, wie sie u. a. von Burt popularisiert und in den Child-Guidance-Kliniken umgesetzt wurde, verdankte sich nicht zuletzt ihrer Kompatibilität mit bereits existierenden, aus anderen Traditionen gespeisten Erklärungsansätzen zur Kriminalitätsgenese. Entscheidend war, dass sie sich als ­anschlussfähig erwies an sowohl politische als auch sozialreformerische Ansätze.

Sozioökonomische Ansätze und Psychologie Besonders unter den progressiven politischen Kräften Großbritanniens galt es in den späten 1920er und 1930er Jahren als ausgemacht, dass Armut die ultima­tive Ursache für Delinquenz darstelle.624 Sozialisten und Pazifisten, die Mitglieder der 621 Norwood

und Hubert, Psychological Treatment, S. 159; vgl. Report of the Commissioners Prisons and Directors of Convict Prisons for the Year 1938, S. 49–52. 622 Grünhut, Penal Reform, S. 335. 623 Report of the Commissioners of Prisons and Directors of Convict Prisons for the Year 1936; hier zit. nach Forsythe, Penal Discipline, S. 239. 624 Siehe z. B. die Besprechung der Criminal Statistics für das Jahr 1934 von Harold Laski in The Howard Journal (1936), S. 257–262 (u. a. über den Anstieg der Jugenddelinquenz); Bailey, Delinquency, S. 15, Am. 34; Report of the Prison Commissioners for the Year 1923–24, S. 397; Hermann Mannheim, Social Aspects of Crime in England Between the Wars, London 1940, S. 131–133; Rose, Psychological Complex, S. 120. of

394   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) Independent Labour Party (ILP) und der Labour Party zeigten keine große ­Neigungen, Armut und Arbeitslosigkeit als wichtigste Kausalfaktoren zugunsten anderer Erklärungsansätze aufzugeben. Selbstbewusst erklärte Archibald Fenner Brockway, prominentes Mitglied der Independent Labour Party und der Howard League,625 die von Burt und anderen aufgeführten psychologischen Faktoren wie defective parental discipline, defective family relationships oder bad companionships seien letzten Endes durch Armut und die durch sie verursachten materiellen Umstände und psychischen Stresszustände erzeugt.626 Auf diese Weise ließ sich ein primär politisch motivierter Erklärungsansatz durchaus mit psychologischen Erklärungen verbinden. Umgekehrt hatte auch ein Gefängnispsychiater wie Smith keinerlei Schwierigkeiten, die sozialökonomische Interpretation mit seiner psychologischen zu verbinden: „Poverty, overwork, and lack of opportunity for normal modes of expression, are all potent factors in the production of juvenile delinquency. Enforced unemployment may also act in this direction.“627 Durch materiellen Mangel, Arbeitslosigkeit, Angst und Sorge könne ein psychisches Klima innerhalb der Familie erzeugt werden, so argumentierte Hamblin Smith, das Störungen und negative Dispositionen in Kindern erzeuge, die wiederum die Entwicklung von kriminellen Tendenzen begünstigen könnten. Der ursprünglich von Burt angeregten „modified environmental interpreta­ tion“628 gelang es auf diese Weise, sozio-ökonomische und psychologische Aspekte jugendlicher Delinquenz in einer einzigen Argumentation zu verbinden: Armut und Arbeitslosigkeit waren zwar äußere sozioökonomische Faktoren, zugleich waren sie Bestandteil der häuslichen Umstände, indem sie sich nicht nur auf die materiellen, sondern vor allem auf das psychisch-emotionale Klima innerhalb des Familienverbandes auswirkten. Nach dem Zweiten Weltkrieg galten die Aus­ wirkungen der sozioökonomischen Bedingungen auf die affektiven Bindungen zwischen den Familienmitgliedern fast schon als selbstverständliche Tatsache.629 Durch die Anschlussfähigkeit psychologischer Ansätze an sozioökonomische Kriminalitätstheorien konnten darüber hinaus Psychologen wie Henry Field zu einer interdisziplinären Zusammenarbeit in der Erforschung von Kriminalitätsursachen auffordern, ohne dabei Angst um die Deutungshoheit der eigenen Disziplin haben zu müssen: „The individual approach must be supplemented by, or must lead to, other approaches […] The macroscopic view of the sociologist is no less essential than the microscopic view of the analytic psychologist. Many delinquent careers are symptoms of inadequacy of the social structure, quite as much as they 625 Zu

Brockways Mitgliedschaft (Committee) in der Howard League, siehe The Howard Jour1 (Oktober 1921), S. 1. 626 Archibald Fenner Brockway, A New Way with Crime, London 1928, S. 32. 627 Hamblin Smith, Psychology of the Criminal, S. 165. 628 Bailey, Delinquency, S. 126. 629 Vgl. Grünhut, Penal Reform, S. 148 f. (The Psychological Approach): „[T]hose psychological conditions [affective links, S.F.] cannot fairly be expected to flourish in an overcrowded ­dilapidated house, among inhabitants haunted by utter insecurity, with the father frequently without employment and the mother overworked by household cares and the additional burden of being the principal breadwinner.“ nal

6.13. Zur Anschlussfähigkeit psychologischer ­Kriminalitätskonzepte   395

are signs of inner maladjustment.“630 Healys und Burts multikausaler Erklärungsansatz eröffnete vielen Disziplinen neue Untersuchungsfelder.

Seelsorge und Psychologie: das hilfreiche Gespräch Ihre Anschlussfähigkeit bewies die Neue Psychologie auch in anderen Bereichen, denn sie favorisierte − nicht zuletzt aus einem Mangel an überzeugenden Alter­ nativen − das therapeutische Gespräch als Methode, und damit etwas, das die Gefängnisseelsorge und eine nicht unbeträchtliche Zahl an privat engagierten, von der Prison Commission ernannten prison visitors seit Jahren praktizierten.631 Die Neue Psychologie hatte dargelegt, dass moralisches Verhalten keine primär intellektuelle, sondern eine emotionale Leistung war, die im Umgang mit anderen Menschen eingeübt wurde.632 Gefängnisseelsorger, Gefängnisbesucher, Sozialarbeiter, Lehrer, sie alle fanden ihre eigene Arbeit durch diese Erkenntnis in besonderer Weise aufgewertet. Das System der privaten Gefängnisbesucher ging auf die Initiative von Adeline Duchess of Bedford zurück, die 1895 den neu berufenen Prison Commissioner Sir Evelyn Ruggles-Brise dazu ermunterte, eine Reihe von Frauen als Gefängnisbesucherinnen in Strafvollzugsanstalten für Frauen zuzulassen.633 Diese Einrichtung wurde im Laufe der Jahre nicht nur zum integralen Bestandteil der englischen Gefängnisverwaltung, sie war lange Zeit in ihrer Form einzigartig und kannte keinerlei Vorbilder in anderen Ländern.634 Das Besuchssystem entwickelte sich so vorteilhaft, dass nach dem Ersten Weltkrieg die Arbeit auch für männliche Besucher in Männergefängnissen eingeführt wurde und darüber hinaus jetzt auch Frauen junge Männer unter 21 Jahren in den Gefängnissen aufsuchen konnten. Diese Neuerungen waren das Ergebnis eines Reformdenkens, das verstärkt nach dem Krieg eingesetzt hatte und sich nun vor allem auf die dringend notwendigen

630 Field,

Psychology of Crime, S. 254. zeitgenössischen Darstellung über die Arbeit der Prison Visitor siehe Gordon Gardiner, Notes of a Prison Visitor, London und New York 1938; Grünhut, Penal Reform, S. 251; John A.F. Watson, The Prison System, in: Leon Radzinowicz, J.W. Cecil Turner und P.H. Winfield (Hrsg.), Penal Reform in England. Introductory Essays on Some Aspects of English Criminal Policy, London 1940 S. 152–169; John A.F. Watson, The Prison Visitor. Howard League Lecture at the Comedy Restaurant, 8. Oktober 1935, in: The Penal Reformer 2 (3/1936), Teil I: S. 5–7; Teil II: S. 13–14. 632 Zum personal approach siehe Grünhut, Penal Reform, S. 229–230. 633 Dokumente über die Verhandlungen zwischen Lady Visitors und Prison Commission finden sich in PCOM 7/174; darin u. a. die „Duties of Lady Visitors“ vom 31. 11. 1899 und 1. 11. 1910; zur Gründung der Association of Lady Visitors und der National Association of Prison Visitors nach dem Ersten Weltkrieg siehe die Unterlagen in TNA, PCOM 7/175–177; zur Reformbewegung und ihren vielen Projekten in englischen Gefängnissen in den Zwischenkriegsjahren siehe Forsythe, Penal Discipline, Kap. 11: Relaxation and Reformation – A Rad­ ical Policy 1921–1939, S. 171–188. 634 Vgl. E. Roy Calvert, Social Service in English Prisons, in: The Howard Journal 4 (1/1934), S. 54–60, hier S. 59 („a unique feature“); Watson, Prison System, S. 163 („without parallel in any other country“). 631 Zur

396   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) innenpolitischen Veränderungen und Maßnahmen konzentrierte.635 Als 1922 das von Stephen Hobhouse und Archibald Fenner Brockway herausgegebene Buch English Prisons To-Day erschien,636 eine umfassende Bestandssaufnahme über den Zustand und die Verwaltung englischer Gefängnisse, der von Mitgliedern der Gefängnisreformgesellschaften und britischen Kriegsdienstverweigerern, die während des Krieges inhaftiert worden waren, erarbeitet worden war, reagierte die unter Druck geratene Prison Commission umgehend mit Zugeständnissen und Neuerungen.637 Sowohl die bereits erwähnte Öffnung der Gefängnisse für männliche Besucher als auch der einsetzende Ausbau von Bildungsmöglichkeiten in den Gefängnissen waren das Ergebnis einer deutlichen Annäherung und besseren Kooperation zwischen den autonomen Sozialreformern und den zum Teil selbst aus sozialen Bewegungen wie dem settlement movement kommenden, reform­ willigen Prison Commissioner.638 Gefängnisbesucher und -besucherinnen wurden durch den Gefängniskaplan oder den Gefängnisgouverneur empfohlen und, nach einer kurzen Probezeit, durch die jeweiligen Bezirksrichter und das Home Office bzw. die Prison Commission ernannt und Jahr für Jahr in ihrem Amt erneut bestätigt.639 Der Besucher bekam neben einem Buch mit den Hausregeln einen Schlüssel ausgehändigt, der es ihm ermöglichte, die Gefangenen ohne weitere Überwachung durch das Gefängnispersonal in ihren Zellen aufzusuchen. In der Regel stellte der Geistliche für den Besucher eine Liste mit sechs bis zwölf geeigneten Insassen zusammen. Roy Calvert, Mitglied der Howard League, hob nach fünfjähriger Tätigkeit als prison visitor hervor, dass er nie durch die Verwaltung gemaßregelt worden sei, im Gegenteil, das Personal sei dazu angehalten worden, die Arbeit der Besucher zu unterstützen. Zu den wichtigsten Regeln, die der Besucher beachten musste, zählte, 635 Vgl.

Kenneth O. Morgan, Die soziale und politische Mobilisierung Großbritanniens, 1918– 1926, in: Hans Mommsen (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und Formveränderung der Politik, Köln u. a. 2002, S. 125–144. 636 Stephen Hobhouse und Archibald Fenner Brockway (Hrsg.), English Prisons To-Day: Being the Report of the Prison System Enquiry Committee, London 1922; wie Brockway war auch Stephen Hobhouse Mitglied der Howard League, siehe The Howard Journal 1 (Oktober 1921), S. 1; zu den näheren Umständen des Berichts siehe Forsythe, Penal Discipline, S. 171 f., Bailey, English Prisons, Penal Culture, S. 298–302; Rose, Some Influences, 34–39. 637 Vgl. Report of the Prison Commissioners for the Year 1921–22: „A beginning has been made in meeting a real need by the introduction of men visitors to the male prisoners to do work similar to that which has been done so well for many years by lady visitors among women. We hope that at every local prison a sufficient number of suitable men vistors will come regularly in the evening to visit the men in their cells and will become a permanent factor in prison training.“ (zit. nach Calvert, Social Services, S. 56). 638 Vgl. Hobhouse und Brockway, English Prisons To-Day, S. 200 (zu den fehlenden männlichen prison visitors); S. 102 (zu den fehlenden lectures); Elizabeth Macadam konstatierte in ihrem 1934 publizierten Buch A New Philanthropy. A Study in the Relations between the Statutory and Voluntary Social Services generell eine „new technique of co-operation between statutory and voluntary social work“; siehe auch die Besprechung des Buches in The Howard Journal (1934), S. 110; in Macadams Buch befindet sich auch ein Kapitel über „Delinquency and Voluntary Service“. 639 Siehe dazu Calvert, Social Services, S. 58.

6.13. Zur Anschlussfähigkeit psychologischer ­Kriminalitätskonzepte   397

dass er keine Transportdienste zwischen Zelle und Außenwelt übernehmen durfte. In Absprache mit dem Gefängnisgouverneur war es ihm allerdings erlaubt, die Angehörigen des Inhaftierten zu besuchen und sowohl für ihn als auch seine Familie Briefe zu verfassen.640 1923 belief sich die Zahl der durch die Prison Commission bestätigten offiziellen Gefängnisbesucher in den lokalen Strafanstalten auf 440 (297 Männer und 143 Frauen)641, ein Jahr später waren es bereits 527.642 Nach dem Vorbild der Frauenorganisation gründeten 1924 die männlichen Be­ sucher die National Association of Prison Visitors. 1935 gehörten von den 1060 freiwilligen, unbezahlten Sozialhelfern in den englischen Strafanstalten (Lehrer, Besucher, pädagogische Berater) über 600 der National Association of Prison Visitors an.643 Von dieser Vereinigung hieß es im Bericht der Prison Commission: „The considered opinions of such a body on matters of treatment, training, edu­ cational and disposal, cannot fail to be of great value to the prison authorities.“644 Die Gespräche, die der Gefängnisbesucher mit dem Insassen führte, sollten ausdrücklich nicht der religiösen Bekehrung oder Erbauung dienen. Der Besucher oder die Besucherin sollten weder die Funktion des Gefängnisseelsorgers, noch die eines Anwaltes übernehmen.645„None of us likes being lectured to“, betonte der Vize-Präsident der National Association of Prison Visitors und Vorsitzende der Metropolitan Juvenile Courts John Watson, „and the prison visitor who starts on a moral homily may possible receive a polite hearing but nothing more. None of us likes being cross-examinded, and the visitor who starts his job by asking a great many questions about private affairs and past history will be regarded as tiresome and impertinent“.646 Roy Calvert von der Howard League vertrat die gleiche Ansicht.647 Idealerweise handelte es sich bei dem Gefängnisbesucher um einen „man of the world“,648 der mitten im Leben stand und durch seine Gespräche dem Inhaftierten das Gefühl vermitteln sollte, mit der Außenwelt in Kontakt zu stehen:649 Der wohlmeinende Laie, nicht der wissenschaftliche Experte, war hier gefragt: The sort of man we want, must not be a criminologist, or a penologist, or psychologist, or, in fact, any kind of ‚ologist‘ at all. He must not be a sentimentalist or anybody who is a prey to any form of morbid curiosity. On the contrary what we want are good, average-type Englishmen, not too young and not too old, who are blest with a certain amount of human understanding, 640 Ebd.,

S. 58.

641 Report of the

Prison Commissioners for the Year 1923–24, hier zit. nach Calvert, Social Services, S. 56. 642 Report of the Prison Commissioners for the Year 1924–25, S. 17. 643 Vgl. Calvert, Social Services, S. 54. 644 Zit nach Report of the Prison Commissioners for the Year 1923–24, hier zit. nach ­Calvert, Social Service, S. 56. 645 Vgl. Watson, Prison Visitor, S. 6 und S. 7. 646 Ebd., S. 6. 647 Vgl. z. B. Calvert, Social Services, S. 59: „The visitor who goes into the prison cell to criticise or to preach in a spirit of moral superiority will accomplish little.“ 648 Watson, Prison Visitor, S. 6. 649 Kriegsdienstverweigerer (conscientious objector) durften keine Gefängnisbesucher werden, siehe The Howard Journal (1934), S. 83.

398   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) broadminded, with a good deal of tolerance and more than a little humour; above all, men who are active and keen, engaged in business or industry and in touch with modern conditions and modern problems.650

In den Gesprächen mit den Gefangenen sollte es darum gehen, ihre Ängste abzubauen, neue Interessen zu wecken und ihre Gedanken generell auf die Zukunft zu richten.651 Im Grunde erwarteten Reformer und Gefängnisverwaltung von diesen persönlichen Gesprächen die gleichen heilsamen Wirkungen wie von seelsorgerischen, nur dass die Zielsetzung noch deutlicher säkularisiert wurde: Nicht mehr die Bekehrung des Sünders, sondern die Herstellung eines sozialkompetenten, der Realität verpflichteten Individuums stand im Vordergrund. Für Calvert lag das Ziel der freiwilligen Sozialarbeit in den Gefängnissen gerade in dem bewussten „training of men in citizenship“.652 Gespräche gehörten dabei zu den zentralen Mitteln: „By friendly conversation on every kind of topic, by sympathy in the prisoner’s trouble, by sound common-sense advice“, schrieb Watson, „he [the prison visitor, S.F.] can do much to alter the prisoner’s outlook, to lessen his selfishness, and to rouse in him a sense of his responsibilities as a citizen.“653 Durch die Regelmäßigkeit der Besuche sollte darüber hinaus persönliche Verlässlichkeit als Wert vermittelt und das Vertrauen des Gefangenen gewonnen werden. Die Freiwilligkeit der Besuche bot dabei gewisse Vorteile: „Perhaps the greatest strength of the prison visitor lies in the fact that he is paid no wages, and the prisoner knows that he comes to see him because he wants to, and for no other reason.“654 Besondere Bedeutung kam dem Gefängnisbesucher auch bei der Entlassung des Häftlings zu. Er konnte die Vereine für Entlassenenfürsorge (discharged prisoners aid societies) über den Charakter und die Schwierigkeiten seiner Schützlinge unterrichten und diesen als Berater im Wiedereingliederungsprozess zur Seite stehen. Auf seine Weise erwarb und vermittelte der Gefängnisbesucher neue Wissensbestände, die für den Wiedereingliederungs- bzw. Anpassungsprozess des ehemaligen Strafgefangenen relevant sein konnten.

Pädagogik und Psychologie: die Erziehung und Bildung des Straftäters Besonders die Mitglieder der intellektuellen Penal Reform League − Quäker, Suffragetten, Kriegsdienstverweigerer − hatten sich bereits vor dem Krieg für neue 650 Watson, Prison Visitor, S. 5;

siehe auch Calvert, Social Services, S. 59: „The best visitor is the man or the woman who has no axe to grind, who is actuated neither by superficial sentiment nor intolerant superiority but visits men in a true spirit of understanding friendship.“ 651 Vgl. dazu auch Calvert, Social Services, S. 59. 652 Ebd., S. 60. 653 Watson, Prison System, S. 164, Hervorhebung S.F.; vgl. auch ders., Meet the Prisoner, London 1939. 654 Ders., Prison System, S. 164, Hervorhebung im Original; auch Calvert, Social Services, S. 58 „[T]he fact that the work is voluntary will in itself make a greater appeal to prisoners who will recognise more readily that it is actuated by unselfish motives and by the single-minded desire to serve one’s fellows.“

6.13. Zur Anschlussfähigkeit psychologischer ­Kriminalitätskonzepte   399

pädagogische Reformkonzepte interessiert und diese in ihrer Zeitschrift diskutiert.655 Die Erfahrungen des Krieges und die wachsende Skepsis gegenüber den nicht zuletzt auch in englischen Privatschulen praktizierten autoritären Er­ ziehungsmethoden verstärkten das Interesse an neuen reformpädagogischen ­Konzepten. Unter dem Titel The Emanzipation of the Child 656 enthielt die erste Ausgabe des Penal Reformer nach dem Krieg – während des Krieges war das Erscheinen eingestellt worden − eine große Sammelbesprechung über neue pädagogische Ansätze. Besonders Interesse riefen die Arbeiten der beiden ‚ErziehungsRebellen‘ hervor: der italienischen Ärztin Maria Montessori und des britischen Pädagogen Edmond Holmes.�657 Große Anziehung übten aber auch die Arbeiten des einflussreichen amerikanischen Philosophen, Pädagogen und Pragmatikers John Dewey aus, der als einer der ersten die Form der Bildungssysteme mit der jeweiligen Demokratieentwicklung und -fähigkeit einer Gesellschaft in Zusammenhang brachte.658 Dewey war es auch, der gegenüber Experten eine äußerst kritische Haltung einnahm. Er war davon überzeugt, dass der Bedeutungszuwachs von Experten in der modernen Welt auf Kosten des mündigen Bürger gehe, weil dieser sich nicht mehr zutraue, in wichtigen Angelegenheiten das Wort zu ergreifen und selbständige Entscheidungen zu treffen.659 Tenor der Besprechungen war die Absage an alte, dogmatische, autoritäre Erziehungsstile und die Forderung, sie durch eine kindgerechte Pädagogik zu ersetzen, die methodisch nicht mehr auf mechanisches Lernen und Gehorsam abzielte, sondern auf die Entwicklung und Förderung kindlicher Potentiale. Dadurch veränderte sich die Rolle von Lehrern und Schülern. Edmond Holmes, der jahrelang als Schulinspektor Grundschulen besucht und zwischen 1905 und 1911 den führenden Posten des Chief Inspector for Elementary Schools bekleidet hatte, beschrieb das neue Verhältnis 1914 so: For the child freedom means relief from dogmatic pressure, and the substitution of self-control for forced obedience, and of self-development for mechanical response to dogmatic direction. For the teacher freedom means retirement into the background so that he may deepen his in­ fluence and widen the scope of his activity, and the substitution of sympathetic guidance for dogmatic direction. […] The value of freedom to the child is that except in an atmosphere of

655 Sie

informierte darüber hinaus über verschiedene Konferenzen der Educational Association zur Reformpädagogik, die wähend des Krieges in England stattgefunden hatten, vgl. Reports of the Educational Association’s Conferences in 1915, 1916, 1917, Edinburgh 1918, diese enthalten folgende Berichte: Report of the Montessori Conference at East Runton, July, 25– 28, 1914; Report of the Conference on New Ideals in Education held at Stratford-on-Avon, August, 14–21, 1915; Report of the Conference on New Ideals in Education held at Oxford from July, 29, – August, 5, 1916 (Penal Reformer (1918), S. 31–42. 656 The Emanzipation of the Child, The Penal Reformer. Quarterly Record 7 (1918), S. 22–48. 657 Montessoris Arbeit wurde bereits vor dem Krieg von den Reformer rezipiert, vgl. The Penal Reformer. Quarterly Record 6 (1914), S. 3; vgl. auch Edmond Holmes (1850–1936), In Defence of What Might Be, London 1914. 658 Vgl. John Dewey, The School and Society, Chicago und Cambridge 1915; John Dewey und Evelyn Dewey, Schools of To-morrow, New York 1915. 659 Vgl. John Dewey, The Public and its Problems (1927), Chicago 1946 [Reprint]; Broman, Introduction, S. 20 f.

400   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) freedom he cannot grow. And the value of freedom to the teacher is that except in an atmosphere of freedom he cannot foster growth.660

Auch für Holmes war das Kind nicht nur ein autonomes Individuum, sondern Teil einer Gemeinschaft. Die vom Kind zu erlernende Selbstkontrolle sollte durch die Entwicklung seiner Potentiale ermöglicht werden, die zu seinem „individual self“, „communal self“ und „ideal self“ gehörten: „The harmonious development of all these groups of potencies is of the essence of self-realisation. […] To develop any one group independently of the remaining two is either impossible or disastrous.“661 Ganz im Sinne von Holmes, aber auch Montessoris, betonte 1917 die britische Lehrervereinigung, wie wichtig es sei, bei Kindern ein genuines Interesse an den Dingen zu wecken und ihnen gleichzeitig die Möglichkeiten zu schaffen, den Umgang mit den eigenen Energien zu lernen: „The young must learn through action. Their emotions must find outlet in activity or they suffer repression and atrophy.“662 Eines der progressivsten und nicht unumstrittensten pädagogischen Projekte fand zwischen 1913 und 1918 im englischen Dorset (Evershot) statt: Homer Lane, amerikanischer Pädagoge und Sozialreformer, leitete hier eine eigens zur Besserung jugendlicher Delinquenten umgebaute Farm. Für Lane bestand grundsätzlich kein Unterschied zwischen delinquency und maladjustment.663 Er vertrat die Auffassung, dass sich Verhalten und Charakter von Kindern bessern ließe, wenn ihnen mehr Selbstbestimmung über ihr Leben eingeräumt würde: „A bad boy is an example of good qualities wrongly directed“,664 lautete seine Parole. Privat ­finanziert und unterstützt wurde das Projekt vom reformfreudigen George Montagu, 9th Earl of Sandwich, der viele Gefängnisse besucht und sich über die dortigen Zustände besorgt gezeigt hatte. Das Little Commonwealth-Projekt praktizierte Selbstverwaltung durch die älteren Mitglieder der Gemeinschaft als eine Art Gruppentherapie, durch die die Übernahme persönlicher Verantwortung und die 660 Holmes,

In Defence of What Might Be, S. 151; das Buch war die überarbeitete Fassung seines Buches What is and What might Be (London 1911), das aufgrund seiner progressiven Ansichten scharf kritisiert worden war; 1911 hatte Holmes seinen Posten als Chief Inspector for Elementary Schools aufgegeben, nachdem er in einem geheimen Memorandum andere Schulinspektoren kritisiert hatte, die zuvor als Grundschullehrer gearbeitet hatten und den herkömmliche Schulbetrieb verteidigten. Der Protest der Teacher’s Union, der sich auf Holmes Informationen stützte, führte zum Rücktritt des Permanent Secretary to the Board of Education, Robert Morant; zu Holmes und Morant siehe Bridgeland, Pioneer Work, S. 119 f.; Hearnshaw, Cyril Burt, S. 32. 661 Edmond Holmes, In Defence of What Might Be, S. 123. 662 Address of the Teacher’s Guild (January 1917), zit. nach The Penal Reformer. Quarterly Record 7 (1918), S. 80; dieses „Interesse wecken“ und die Auseinandersetzung mit der materiellen Welt sah Holmes in englischen Grundschulen verkümmert, siehe Holmes, In Defence of What Might Be, S. 208: „[O]ur national system of education […] – by systematically repressing the child’s natural activities, by teaching him from his earliest days to identify work with meaningless drudgery, by doing its best to destroy his instinctive interest in what his hand finds to do.“ 663 Siehe Bridgeland, Pioneer Work, S. 33. 664 Zit. nach David Wills, Homer Lane: A Biography, London 1964, S. 204.

6.13. Zur Anschlussfähigkeit psychologischer ­Kriminalitätskonzepte   401

Aufrechterhaltung sozialer Ordnung eingeübt werden sollten. Handwerkliche Tätigkeiten, das gemeinsame Bewirtschaften der Farm und die kreative Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Materialien standen neben der gruppendynamischen Selbstregulierung und den individuellen Gesprächen als therapeutische Maßnahmen im Vordergrund.665 Da das Projekt bereits nach fünf Jahren durch Homer Lane selbst beendet wurde, ließen sich keine fundierten Aussagen über dessen Erfolg oder Misserfolg machen.666 Besonders die Mitglieder der Penal Reform League sahen einen Zusammenhang zwischen den Unzulänglichkeiten des englischen Schulsystems und denen des englischen Strafvollzugs.667 Weder die Schule noch das Gefängnis vermochten es offensichtlich, ein genuines Interesse an der Welt zu vermitteln, das gleichzeitig zur Entwicklung von Selbstständigkeit und der Verantwortungsbereitschaft für die Gemeinschaft beitrage. Ohne die Affinität der Grundvoraussetzungen von Neuer Psychologie und neuer Pädagogik, ohne die Theorien über habit formation, Charakterbildung und das Zusammenspiel von Instinkten und Gefühlen in Lernprozessen, hätte die reformpädagogische Bewegung, die auch vor den Gefängnismauern nicht haltmachen sollte, in den Zwischenkriegsjahren in Großbritannien nicht einen solchen Schub erfahren.668 Psychologische Konzepte, die von der Formbarkeit und großen Lernfähigkeit des Menschen ausgingen, werteten pädagogische Arbeit, auch in der Erwachsenenbildung, enorm auf und beflügelten die unterschiedlichen sozialen Dienste.669 Ab den zwanziger Jahren setzten sich u. a. die inzwischen fusionierte Howard League for Penal Reform und die National Adult School Union für eine verstärkte Erwachsenenbildung in Gefängnissen ein,670 mit dem langfristigen Erfolg, dass dort Bibliotheken eingerichtet, Unterricht abgehalten und Vortragsveranstaltungen – u. a. zum Thema citizenship 671 – 665 Alexander

S. Neill (Summerhill: A Radical Approach to Child Rearing, London 1864) bezeichnete Homer Lane als seinen eigentlichen Lehrer; zu Homer Lane (1875–1925) und das Little Commonwealth siehe Wills, Homer Lane, bes. Teil 2 (England); zu George Montagu, der Lane die Stelle des Leiters anbot, ebd., S. 129 f.; Lanes eigene Vorträge über das Projekt finden sich in Homer Lane, Talks to Parents and Teachers, London 1928; zur psychoanalytischen Pädagogik Homer Lanes, die im Grunde nur die Annahme ungelöster, unbewusster Konflikte von Freud übernahm, siehe Johannes-Martin Kamp, Kinderrepubliken. Geschichte, Praxis und Theorie radikaler Selbstregierung in Kinder- und Jugendheimem, Opladen 1995, S. 99–186, S. 254–273. 666 Homer Lane stellte das Projekt ein, nachdem eines der delinquenten Mädchen ihn des sexuallen Missbrauchs bezichtigt hatte und eine Untersuchung eingeleitet wurde. Zu einem Prozess kam es nicht, seltsamer Weise wurden die Akten vernichtet, so dass der genaue Hergang nicht mehr rekonstruiert werden kann, siehe Wills, Homer Lane, Vorwort. 667 Siehe Penal Reformer (1918), S. 27. 668 Zu diesem educational movement siehe Grünhut, Penal Reformer, S. 118–124. 669 Vgl. dazu Richard W. Livingstone, The Future in Education, Cambridge 1941. 670 Vgl. dazu Grünhut, Penal Reform, S. 237. 671 Zu den Vortragsthemen siehe Sim, Medical Power, S. 144; es wurden nicht nur Vorträge organisiert, sonden auch Debatierclubs im Gefängnis zum Thema „The ethics of citizenhsip“ organisiert, siehe Forsythe, Penal Discipline, S. 180, S. 182; die General Instructions on Lectures (1913–25) können eingesehen werden in TNA, PCOM 7/324, dort auch ein Ausschnitt über den Vortrag The Citizen vom 13. Februar 1922.

402   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) organisiert wurden. Bereits 1924 hieß es in einem Bericht der Prison Com­ missioner: „The system of adult educational classes is now well established […] ­During the year 1924 no less than 6600 individual prisoners attended evening classes“672 Zwar hatte es bereits seit 1896 vereinzelte Vorträge unbezahlter Redner in englischen Gefängnissen gegeben,673 aber erst nach dem Krieg wurde die ­Erwachsenenbildung durch die Einrichtung regulärer Abendklassen mit pädagogischem Anspruch verfolgt. Der Gefängnisunterricht, angeboten von unbezahlten, freiwilligen Helfern, fand nach der Tagesarbeit in den Abendstunden in dafür speziell eingerichteten Unterrichtsräumen nur unter der Aufsicht des Lehrers oder der Lehrerin statt.674 Manche Insassen konnten zwei, höchstens aber drei Klassen pro Woche besuchen.675 In der Regel handelte es sich um kleine Klassen mit maximal 12 Strafgefangenen. Die Themen der Kurse richteten sich nach den Interessen und Begabungen der Teilnehmer. Fremdsprachen und Literatur waren ebenso im Angebot wie Buchhaltung und Stenographie oder die Unterweisung in praktisches Handwerk wie Schusterei, Bienenzucht oder Gärtnerei. Die freiwilligen Lehrer wurden aufgrund persönlicher Empfehlungen durch Bürgermeister, Gemeindegeistliche oder Honoratioren ernannt und die Klassen in Absprache mit dem Gefängnisgouverneur und einem Stab von ebenfalls unbezahlt agierenden Bildungsberatern (educational advisers) organisiert, deren Namen und Institutionen ab 1922 regelmäßig in den Berichten der Prison Commission aufgelistet wurden.676 Bei vielen dieser Berater handelte es sich um Professoren und wissenschaftliche Mitarbeiter einer sich in der Nähe des entsprechenden Gefängnisses befindlichen Universität. Auch die Themen der nach 1930 fast in jedem englischen Gefängnis einmal wöchentlich stattfindenden Vorträge von Gastrednern waren bewusst weit und weltlich gehalten und konnten Gesundheit, Hygiene, Tiere, das Londoner U-Bahnsystem, die Herstellung einer Zeitung, das Funktionieren der Kommunalverwaltung, Reiseberichte und ähnliches umfassen.677 Über die Qualität der ebenfalls von Freiwilligen organisierten Gefängnis-Konzerte gab es unterschiedliche Auffassungen. Einige Insassen vertraten die Ansicht, diese Konzerte seien „the worst part of their punishment“678 gewesen. Die über 400 Männer und Frauen, die vor dem Zweiten Weltkrieg unentgeltlich in englischen Gefängnissen unterrichteten,679 betrachteten ihre Arbeit als 672 Report of the

Commissioners of Prisons and Directors of Convict Prisons 1924–1925, S. 17–19. 673 Siehe Calvert, Social Services, S. 55; in einem Bericht der Prison Commision für das Jahr 1906 wurden 285 voluntary lectures in englischen Gefängnissen erwähnt. 674 Vgl. Calvert, Social Services, S. 57. 675 Vgl. Watson, Prison System, S. 165. 676 Siehe z. B. die Liste im Report of the Commissioners of Prisons and Directors of Convict Prisons for the Year 1923–24, Appendix No. 3, List of Educational Advisers to Governors of Local Prisons, S. 69–70. 677 Siehe Calvert, Social Services, S. 57. 678 Zit. nach Calvert, Social Services, S. 57. 679 Zu den Zahlen siehe Grünhut, Penal Reform, S. 232.

6.13. Zur Anschlussfähigkeit psychologischer ­Kriminalitätskonzepte   403

‚Nachschulung‘ der Insassen und waren davon überzeugt, „that to build up a man’s character we must first widen his outlook, and to this end the educational scheme in a modern English prison is designed.“680 Auch für den Assistant Prison Commissioner und Inspector of Prison Lionel Fox stellte 1934 ein „vigorous ­industrial, mental, and moral training, pursued on considered lines by officers, teachers, and prison visitors of character and personality“681 die entscheidende Methode der Charakterbildung im Gefängnis dar. Sozialreformer wie Calvert betonten darüber hinaus aber auch den therapeutischen Zweck des Unterrichts: „The hundreds of classes“, erklärte er, „which are being held in our prisons provide an important opportunity for mental work and exercise without which a prisoner must almost necessarily stagnate and deteriorate. Mental activity is as necessary as bodily exercise for the regeneration of men.“682 Calvert aktivierte also ganz in der Tradition der älteren englischen Präventivpsychiatrie die Vorstellung von notwendiger und möglicher Regeneration als Mittel gegen die durch den Gefängnisalltag verursachten ‚Degenerationserscheinungen‘ bei Strafgefangenen. Diese Reformer behielten stets die physischen und psychischen Auswirkungen des Gefängnislebens auf den Gefangenen im Auge und bereiteten nicht zuletzt auf diese Weise einer neuen Gefängnispsychologie den Weg. Unterstützt wurden sie darin wiederum von Gefängnispsychiatern wie Maurice Hamblin Smith, den die Howard League for Penal Reform nicht zuletzt deshalb als „one of the greatest authorities on forensic medicine“683 bezeichnete.684 Die deutschen Entwicklungen, dies sei hier im Vergleich zu England angemerkt, verliefen deutlich anders, denn eine neue Gefängnispsychologie wurde von den privaten Reformern durch ihre bereitwillige Übernahme von Kriminalitätskonzepten der konservativen deutschen Psychiatrie nur zögerlich entwickelt. Wie ­Désirée Schauz in ihrer Arbeit Strafen als moralische Besserung zeigt, griff die christliche Straffälligenfürsorge in dem Moment auf biologistische Erklärungen zurück, in dem die eigenen Besserungsstrategien ins Leere liefen und für das Versagen der eigenen Bemühungen Erklärungen gefunden werden mussten. „Angesichts des Erfolgsdrucks“, so schreibt Schauz, „bedeutete die partielle Aneignung der psychiatrischen Erklärungen [anlagebedingte ‚geistige Minderwertigkeit‘, S.F.] eine willkommene Entlastungsstrategie, die diejenigen Straffälligen aus dem Besserungsdispositiv ausschloss, denen die Medizin eine mehr oder weniger unabän-

680 Watson,

Prison System, S. 165. W. Fox, The Modern English Prison, London 1934, S. 70–71; siehe auch die Besprechung von Cicely M. Craven in The Howard Journal (1934), S. 82–83; seit 1930 setzte sich die Prison Commision aus drei Prison Commissioner, darunter der Medical Prison Commissioner William Norwood East, und vier Assistant Commissioners and Inspectors, darunter Lionel Fox, zusammen, siehe Report of the Commissioners of Prisons and the Directors of Convict Prisons for the year 1930 [HMSO 1932], S. 39. 682 Calvert, Social Services, S. 59. 683 Gardner, Hamblin Smith,S. 14. 684 Siehe Maurice Hamblin Smith, Prisons and a changing Civilization, London 1934; dazu die Besprechung von G.A. Auden in The Journal of Mental Science 81 (1935), S. 188–189. 681 Lionel

404   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) derliche kriminelle Veranlagung attestierte.“685 In der Weimarer Republik habe dann keine wirklich kritische Auseinandersetzung mit den deutschen psychiatrischen Definitionen der sogenannten Unverbesserlichen stattgefunden. Nur ­bedingt konnte deshalb ein neuer Diskursraum entstehen, in dem sowohl über andere Erklärungsmodelle als auch neue Reformstrategien nachgedacht werden konnte. „Die bereitwillige Übernahme der medizinischen Erklärungen“, so resümiert Schauz, „lenkte […] den Blick weg von einer Problemanalyse der eigenen Besserungskonstruktionen. Trotz eines bereits entwickelten Bewußtseins für haftbedingte Deprivationen blieb eine konsequente Weiterentwicklung hin zu einer Psychologie der Gefangenschaft vorerst aus.“686

Prison Commission und Voluntary Work: Die Annäherung von Staat und Zivilgesellschaft Allein durch die Gefängnisbesucher und die freiwilligen Lehrer setzte die päda­ gogische Arbeit in englischen Gefängnissen stärker als in Deutschland auf die Mitarbeit ehrenamtlicher Helfer. Bereits 1928 hieß es im Jahresbericht der Prison Commission unter den Abschnitt Voluntary Work anerkennend: „So completely has the work of voluntary visitors and teachers come to be part and parcel of the prison system that it is difficult to conceive of an advance in penal administration on any other basis.“687 Tatsächlich waren besonders die Annäherung an und die Kooperationsbereitschaft zwischen der Prison Commission und den freiwilligen Gefängnishelfern auffällig.688 Die zivilgesellschaftlich organisierten Reformer 685 Siehe

dazu Schauz, Strafen als moralische Besserung, bes. Kapitel 5 (Straffälligenfürsorge und moralische Besserung – eine Bilanz), S. 377–389, hier S. 385, auch S. 388: Die hohe Zahl der Rückfälligen setzte die Entlassenenfürsorge unter Druck. Dabei wurde die geringe Nachfrage nach Gefängnisseelsorge von Seiten der Straffälligen nicht thematisiert. Stattdessen kam es mit dem Hinweis auf die „Unverbesserlichkeit“ bestimmter Straftäter zu einer stärkeren Selektion der zu Betreuenden, um die eigenen Erfolgschancen zu erhöhen, siehe auch Désirée Schauz, Straffälligenfürsorge und Kriminologie. Wege und Grenzen der Verwissenschaftlichung, in: Schauz und Freitag, Verbrecher im Visier der Experten, S. 245–272, bes. S. 271 (Das medizinische Verbrecherbild als Entlastungsstrategie). 686 Schauz, Strafen als moralische Besserung, S. 385; einige Seelsorger rekurierten in den 1920er Jahren auch auf neue Ansätze aus der empirischen Psychologie und Psychotherapie (bezogen auf die besserungsfähigen Strafgefangenen), um ihre Tätigkeit im Strafvollzug zu legitimieren, ebd. S. 387. 687 Siehe Report of the Commissioners of Prisons and Directors of Convict Prisons for the Year 1928 [HMSO 1930], S. 29–30, unter „Voluntary Workers“. 688 Besonders Maurice Waller, der Nachfolger des 1921 pensionierten Ruggles-Brise als Vorsitzender der Prison Commission, bemühte sich um ein gutes Verhältnis zu den privaten Reformgesellschaften. Als Waller aus Krankheitsgründen 1928 aus dem Amt schied, wurde dies von der Howard League mit großem Bedauern zur Kenntnis genommen: „To us the Howard League his retirement is a grave loss […] We have felt that he accepted our co-operation, and to collaborate with him has been honour.“ Retirement of Sir Maurice Waller, 1921–1928, in: The Howard Journal 2 (1928), S. 192–193, hier S. 193; auch Wallers Nachfolger, Alexander Maxwell, lobte die Howard League; als dieser zum Deputy Under Secretary of State berufen wurde, hieß es: „He has administered the Prisons department with courage, firmness, imagination and sympathy in years when the task was in some ways becoming more anxious

6.13. Zur Anschlussfähigkeit psychologischer ­Kriminalitätskonzepte   405

deuteten die Anerkennung, die ihnen durch die Behörden zuteilwurde, als einen Versuch der staatlichen Verwaltung, sich der öffentlichen Zustimmung zu versichern. Behörden und Zivilgesellschaft seien schließlich aufeinander angewiesen: The administration of justice in any country needs to be dependent, in the last resort, not only upon public acquiescence but upon public approval. How better can those engaged in the administration of justice win that approval than by securing the co-operation of large numbers of public spirited men and women in the actual work they are attempting to do?689

Deutlicher als vor dem Krieg signalisierte das Innenministerium in den Zwischenkriegsjahren sein Interesse an der freiwilligen Arbeit in den Gefängnissen. Um den Kontakt und Austausch mit den freiwilligen Helfern zu verbessern, organisierte das Home Office ab den späten 1920er Jahren jährlich stattfindende Konferenzen in ihren eigenen Räumlichkeiten in Whitehall. Auf der vom Innenminis­ terium unter der Leitung der Prison Commission einberufenen Konferenz trafen sich die freiwilligen Lehrer und pädagogischen Berater mit den Commissioner zum Austausch. Auch die Verbände der freiwilligen Gefängnisbesucher, die National Association of Prison Visitors und die National Association of Prison Visitors to Women kamen einmal im Jahr auf einer Konferenz im Home Office zusammen. „These gatherings of voluntary helpers“, so hieß es im Jahresbericht der Prison Commission, „provide valuable opportunities for discussion of methods of work and of such aspects of prison administration as are of special interest to the visitors and teachers.“690 Neben diesen Konferenzen organisierte das Innenministerium jährliche Tagungen für das eigene Gefängnispersonal. Auf diese Weise konnten sich nicht nur die Angestellten untereinander über Probleme und Schwierigkeiten des Gefängnisalltags austauschen, den Regierungs- und Verwaltungsbeamten in Whitehall bot sich darüber hinaus die Möglichkeit, etwas über die Einstellung des Gefängnispersonals zu den eingeführten Neuerungen und Reformen in den Gefängnissen zu erfahren. Die Konferenzen boten ein Forum, auf dem Erfahrungen und Erkenntnisse ausgetauscht, aber auch Kritik geübt und Verbesserungsvorschläge ­gemacht werden konnten. „The prison establishments“, so wurden diese Treffen begründet, „being scattered over England and Wales, generally at long distances

and difficult than at any time since 1914. […] For his generous help in writing, in speaking, in reviewing books, and in giving counsel, warning and encouragement we give our grateful thanks, and we look forward not to paying but increasing our debt to him in the years to come.“ The Howard Journal (1933), S. 19; Spannungen zwischen Prison Commission und Howard League gab es allerdings mit Blick auf eine internationale Agitation. Die Prison Commission fürchtete mitunter, man könne die Aktionen der Howard League (z. B. für die Durchsetzung eines International Minimum Standard for the Treatment of Politcial and Criminal Prisoners) für die offizille britische Regierungspolitik halten (z. B. beim Völkerbund), siehe dazu Freitag, Internationalisierung, S. 161–165. 689 Calvert, Social Services, S. 60, Hervorhebung S.F. 690 Conferences with the Staff and Prison Workers: Conference of Educational Advisers and Voluntary Teachers (1931), Annual Conference National Association of Prisons Visitors and National Association of Prison Visitors to Women (1930, 1931), in: Report of the Commissioners of Prisons and the Directors of Convict Prisons for the Year 1930 (1932), S. 38.

406   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) from each other, officers of one establishment seldom meet officers of another establishment, and it is very desirable that they should have opportunities to meet and to pool their experience, and also to discuss with the Commissioners questions of prison policy and administration.“691 Möglicherweise hat diese vom Innenministerium initiierte Diskussionskultur dazu beigetragen, dass die Reformen in den englischen Gefängnissen nicht am Widerstand des Gefängnispersonals gescheitert sind, sondern von ihm mitgetragen wurden. Wie Nikolaus Wachsmann in seinem Buch Hitler’s Prisons im Kapitel über die Weimarer Reformjahre aufzeigt, war es im Gegensatz dazu in Deutschland besonders das Gefängnispersonal bis hinauf zu seinen Anstaltsdirektoren, das aus eigener Überforderung und Überlastung die Gefängnisreformprogramme in den einzelnen Ländern immer weniger unterstützte. Zur eigenen Legitimation und Entlastung seien dabei immer weniger soziale und immer stärker deterministische Kriminalitätserklärungen (sogenannte ‚Unverbesserliche‘ als reformun­ fähige Straftäter) in Anspruch genommen worden.692 Aus diesem Grund sei die Verschärfung der Gefängnispolitik unter den Nationalsozialisten vom gleichen Personal ohne Widerspruch dann auch mitgetragen worden. In England standen die Treffen hingegen für die öffentliche Anerkennung der Gefängnismitarbeiter. Auch den Gefängnisärzten und -psychiatern wurde auf den Medical Officers’ Conferences in Whitehall die Möglichkeit geboten, medizinische Probleme der Gefängnisarbeit mit den Prison Commissioners zu erörtern. Einer von ihnen, William Norwood East, stellte dabei selbst Forschungsergebnisse zur Diskussion.693 Hamblin Smith sprach 1932 über Double and Multiple Personality,694 1936 referierte der Senior Medical Officer des Gefängnisses in Brixton, Hugh A. Griersom, über Memory and its Disorders in Relation to Crime,695 und Hubert 691 Report

of the Commissioners of Prisons and the Directors of Convict Prisons for the Year 1930 (1932), S. 37 f., Hervorhebung S.F.; es wurden auch jährliche Konferenzen der BorstalInstitute geschaffen, an denen „Borstal Governors, Housemasters, Assistant Housemasters and Matrons confer with the Commissioners“ (ebd. S. 38); auf den eigens für die Gruppe der Gefängnisgeistlichen eingerichteten Konferenzen wurde unter anderem die Frage erörtert, auf welche Weise der Informationsaustausch zwischen Prison Commission und den Gefängnisgeistlichen verbessert und die Arbeit der Geistlichen durch die Kommission unterstützt werden könnte. Als Vermittler, der in regelmäßigen Abständen andere Gefängnisse aufsuchen und dabei die Meinung der Gefängnisgeistlichen einholen sollte, wurde Reverend W.L. Cottrell, Chaplain des Wormwood Scrubs Gefängnisses im Westen von London, gewählt, siehe Conferences with the Staff and Prison Workers: Chaplains’ Conference (1931), in: Report of the Commissioners of Prisons and the Directors of Convict Prisons for the Year 1930 (1932), S. 38. 692 Siehe dazu Nikolaus Wachsmann, Hitlers Prisons. Legal Terror in Nazi Germany, New Haven 2004, Chapter 1: The Weimar Prison, 1918–1933, bes. S. 42–64. 693 William Norwood East sprach über Mental Inefficiency and Adolescent Crime, siehe Conferences with the Staff and Prison Workers: Medical Officers’ Conferences (1930, 1931), in: Report of the Commissioners of Prisons and the Directors of Convict Prisons for the Year 1930 (1932), S. 38. 694 Siehe Hamblin Smith (1870–1936), Orbituary, S. 292. 695 Hugh A. Griersom, Senior Medical Officer, H.M. Prison, Brixton, Memory and its Disorders in Relation to Crime, in: The Journal of Mental Science 82 (1936), S. 360–370.

6.13. Zur Anschlussfähigkeit psychologischer ­Kriminalitätskonzepte   407

Turner Young, Medical Officer in Wormwood Scrubs, klärte 1937 über Aspects of Temperament in Adolescent Male Offenders auf.696 Die Beiträge von East, Griersom und Young wurden im Journal of Mental Science veröffentlicht. David Garland bezeichnet die wissenschaftliche Ausrichtung dieser psychiatrisch ausgebildeten Gefängnisärzte als „mainstream of British criminology“697 in den 1920er und 1930er Jahre. Dieser mainstream sei es gewesen, der die offizielle, staatliche Kriminalpolitik am meisten bestimmt habe. Aufgrund ihrer Nähe zu den Behörden liegt ein solcher Schluss nahe. Doch bedacht werden sollte auch, dass diese Ärzte Grenzgänger waren und eine Vermittlerfunktion einnahmen. Als Mitglieder der Medico-Psychological Society698 gehörten sie nicht nur einer Berufsvereinigung an, sondern einer Gesellschaft, die sich seit den Tagen ihrer Gründung auch als eine gemeinnützige verstand und Aufklärungsarbeit betrieb. Die Annäherung zwischen Prison Commission und privater Sozialreform betraf nicht nur den pädagogischen Bereich in den Gefängnissen. Beide Seiten hatten auch ein gemeinsames Interesse daran, auf die unabhängige englische Justiz dahingehend einzuwirken, dass sie von den seit 1907 verabschiedeten Gesetzen, die u. a. Bewährungsstrafe und die Einweisung in borstals vorsah, stärker und vor allem einheitlicher Gebrauch machte. Was nutzten neue Strafalternativen, so die auch noch in den Zwischenkriegsjahren anhaltende Klage der Gefängnisreformer,699 wenn diese nicht zur Anwendung kamen? In diesem Punkt stimmten reformwillige Prison Commissioner wie Alexander Paterson oder Maurice Waller den So­ zialreformern vorbehaltlos zu.700 Als die Howard League zusammen mit der ­National Association of Prison Visitors eine Untersuchung veröffentlichte, in der nachgewiesen wurde, dass zu viele jugendliche Ersttäter, die aufgrund ihres Alters (16–21 Jahre) in borstals hätten aufgenommen werden können, trotzdem zu ­Gefängnisstrafen verurteilt wurden,701 kritisierte John Watson von der National ­Association ausdrücklich nicht die Prison Commission für diesen Umstand. Von deren Reformwillen war er überzeugt, „but that the Commissioners are fighting over whelming odds is patent to everybody. None of these boys and girls ought to be in prison at all.“702 696 Hubert

T.P. Young, Medical Officer, H.M.Prisons, Wormwood Scrubs, Aspects of Temperament in Adolescent Male Offenders, in: The Journal of Mental Science 83 (1937), S. 268–288. 697 Garland, Of Crimes and Criminals, S. 40. 698 Vgl. die Mitgliederliste der Gesellschaft in The Journal of Mental Science 83 (1937), S. XXII–XLIX; alle drei gehörten auch zum Mental Deficiency Committee, das auf eine Erweiterung der Mental Deficieny Acts von 1913 und 1927 hinwirkte und besonders die Wichtigkeit erworbener mentaler Störungen, die therapiefähig waren, berücksichtig sehen wollte. 699 Siehe z. B. Deputation to the Home Secretary, The Right Honourable Edward Shortt, K.C., M.P. at the Home Office, on Friday, 28th March 1918, in: The Penal Reformer. Quarterly Review 8 (1919), S. 38–53. 700 Siehe Bailey, Delinquency, S. 197–227, bes. S. 265; die Prison Commission war für die Klausel in der Criminal Justice Bill von 1938 verantwortlich, die die magistrates courts instruieren sollte, Jugendliche nicht mehr zu Gefängnisstrafen zu verurteilen. 701 Zur Untersuchung siehe Penal Reformer 3 (1936), S. 13. 702 Watson, Prison Visitors, S. 14.

408   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) Ein eigenständiger Versuch der Howard Association, die Rechtsprechung auf der Ebene der unteren Gerichte (magistrates courts) zu beeinflussen und sie stärker mit den neueren Entwicklungen und Möglichkeiten in Berührung zu bringen, bildete 1920 die Gründung der Magistrates Association. Die Howard Association unterstützte nicht nur finanziell die neue Gesellschaft, sie stellte auch mit Cecil Leeson ihren eigenen Geschäftsführer der neuen Gesellschaft zur Verfügung. Leeson kam, wie erwähnt, aus der settlement-Bewegung und favorisierte die Bewährungsstrafe. Mit der Magistrates Association schuf die Howard Association eine Organisation, die gezielte Aufklärungs- und Vermittlungsarbeit auf der Ebene praktischer Rechtsprechung leisten sollte. Dabei spielten wissenschaftliche Erkenntnisse, besonders die Ergebnisse der Neuen Psychologie, eine zentrale Rolle, wie sich deutlich in der Öffentlichkeitsarbeit der Reformgesellschaft zeigte. 1927 organisierte die Howard League in Zusammenarbeit mit der State Children’s Association in der Londoner ‚Juristengilde‘ Gray’s Inn eine Tagung, die die dortigen Juristen vom Nutzen der Psychologie für ihre eigene Arbeit überzeugen sollte.703 Hauptredner des Abends war Dr. William Brown, Wilde Reader in Mental Philosophy in Oxford und Herausgeber des British Journal of Psychology. In seinem Vortrag über The Place of Psychology in a Legal Education704 ging es nicht darum, Psychologie als neue Meisterwissenschaft einzuführen, sondern sie als eine gerade auch für Juristen nützliche ‚Hilfswissenschaft‘ zu empfehlen. Psychologie könne die Perspektive auf einen Fall erweitern, betonte Brown, der für die Schaffung von Psychologie-Kursen in der Juristenausbildung plädierte. Dabei hielt er sich an eine bereits von Henry Maudsley und David Nicolson rund vierzig Jahre früher für die Psychiatrie gewählte Strategie. Er unterstrich, dass genau wie die Psychiatrie auch die Psychologie nicht bestrebt sei, die juristische Kategorie der individuellen Verantwortung zu unterlaufen oder abzuschaffen: „Let it be repeated, modern psychology does not contest the reality of moral responsibility! […] We must believe in responsibility if we believe in personality, and our aim in dealing with these problems should be to harmonise the two.“705 Auch Smith, der am gleichen Abend über die Psychologie des Kriminellen, über mentale Prozesse und die Frage unkontrollierter Impulse sprach, tastete die notwendige Autonomie der Rechtsprechung nicht an, warb aber ebenfalls wärmstens für den verstärkten Einsatz von Experten im Vorfeld der gerichtlichen Untersuchung: „The Court must have the ultimate responsibility of dealing with the case. But it must employ experts in making the investigations. It is becoming clearer every day that it is well worth our while to have these indispensable studies of offenders fully and properly carried out.“706 Es ging nicht darum, dem Richter oder auch der Jury die Entscheidungskompetenz streitig zu machen. Als Anhänger des

703 Zur

Konferenz in Gray’s Inn Hall siehe The Howard Journal (1927), S. 135–141. Browns Position siehe The Howard Journal (1927), S. 160; William Brown, Mind and Personality, London 1927. 705 William Brown, The Place of Psychology, S. 137 f. 706 Hamblin Smith, Psychology of the Criminal, S. 132 f., Hervorhebung S.F. 704 Zu

6.13. Zur Anschlussfähigkeit psychologischer ­Kriminalitätskonzepte   409

Common Sense mussten beide als stets zu einem autonomen Urteil fähige Instanzen gedacht werden und unangetastet bleiben.707 Die Öffentlichkeit, so zumindest die offizielle Auffassung der British Medical Association, würde es nie tolerieren, wenn der „medical witness“708 in einem Kriminalfall das letzte Wort haben würde. Generell sprach aber nichts dagegen, dass Experten bei der gerichtlichen Entscheidungsfindung behilflich waren. Tatsächlich hat für gewöhnlich, darauf hat jüngst Martin Wiener hingewiesen, kein englisches Gericht darauf verzichtet, psychiatrische oder psychologische Gutachten einzuholen, wenn es solche für notwendig erachtete.709 Die Nachfrage erfolgte aber von Seiten der Gerichte, nicht durch ein Angebot der Psychiater. Dass die Neutralität des Gutachters eine absolute Voraussetzung für seine Tätigkeit im Gerichtssaal war, darauf verwies 1934 Lord Macmillan, als Law Lord Mitglied des Oberhauses und damit der Gesetzgebung, in einer Rede vor der Royal Medico-Psychological Association mit Nachdruck: Of one thing I am certain, and that is that no scientific man ought ever to become the partisan of a side […] To do so is to prostitute science and to practise a fraud on the administration of justice […] The true rôle of the expert witness is to afford the court the best assistance he can in arriving at the truth, and if he bears this duty in mind he will never go far wrong. […] He is there to inform, not to decide.710

Britische Psychologen und Psychiater waren sich der Grenzen ihrer Möglichkeiten offensichtlich bewusst. Sie akzeptierten die ihnen zugestandene Rolle als Berater. Zu einer wachsenden symbiotischen Beziehung zwischen Psychiatrie und Justiz, wie sie Richard Wetzell für die deutschen Entwicklungen nach dem Ersten Weltkrieg ausgemacht hat, kam es in England nicht.711 Für Staatsbeamte wie den ­Prison Commissioner William Norwood East war die Wahrung von Distanz und die Anerkennung der unterschiedlichen Aufgaben von medizinischen Gutachtern und rechtsprechender Jury ein notwendiges Programm. Nach einer mehr als zwanzigjährigen Tätigkeit als Zeuge und Gutachter in Kriminalverfahren bekannte er: „I have come to pay great respect to the manner in which juries assess criminal conduct and insane behaviour, after the different points of view have been presented to them by opposing counsel and by the learned judge.“712

707 Siehe

Ruggles-Brise, English Prison System, S. 196: „The subjective valuation of the alienist cannot in practical life be the test of responsibility – the Judge, as representing ‚common sense‘, must decide.“ 708 Erklärung der British Medical Association, zit. in William Norwood East, Medical Aspects in Crime. Foreword by Sir John Simon, H.M. Secretary of State, Home Department, London 1936, S. 385. 709 Martin J. Wiener, Murderers and „Reasonable Men“. The „Criminology“ of the Victorian Judiciary, in: Becker und Wetzell, Criminals and their Scientists, S. 43–60; der Wunsch nach Objektivität habe die Juristen die Nähe zu den Wissenschaften suchen lassen, nicht umgekehrt. 710 The Right Hon. Lord Macmillian, The Professional Mind. The Fifteenth Maudsley Lecture, in: The Journal of Mental Science 80 (1934), S. 469–481, hier S. 475 f., Hervorhebung S.F. 711 Siehe Wetzell, Inventing the Criminal, S. 296. 712 East, Medical Aspects of Crime, S. 376.

410   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) Wie auf der Konferenz in Gray’s Inn Hall, die Psychologen und Juristen zusammenbrachte, ging es auch auf anderen Konferenzen der Howard League darum, Experten aus unterschiedlichen Bereichen und Institutionen miteinander ins Gespräch zu bringen. Auf einer von der Gesellschaft im März 1933 organisierten interdisziplinären Tagung tauschten sich Psychologen, Psychiater, Prison Commissioner und Mitglieder der Rechtsprechung über Gründe und Ursachen von Kriminalität aus. Während Alexander Maxwell aus der Sicht des Vorsitzenden der Prison Commission über Crime: The Situation To-Day 713 referierte, betrachtete J.R. Rees, Deputy Director des Institute of Medical Psychology die Ursachen von Kriminalität aus ‚Sicht eines Psychologen‘.714 Hamblin Smith referierte über den Zustand englischer Gefängnisse und geplanter Reformprogramme der Regierung, und Basil Henriques vertrat in seiner Funktion als Friedensrichter die Seite der Rechtsprechung, hielt seine eigene Tätigkeit aber eher für eine Art Sozialarbeit.715 Auch für ihre Sommerschulen, die im Schnitt 80 Teilnehmer aus ganz England und einigen kontinentaleuropäischen Ländern verzeichneten, konnte die Howard League Prison Commissioner wie Norwood East oder Psychiater wie T.S. Good aus Oxford und Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen verschiedener Jugendgerichte verpflichten.716 Neben den Konferenzen bildeten die Publikationen der Howard League das wichtigste Medium des Austausches und der Popularisierung von wissenschaftlichen Kriminalitätsansätzen. Bereitwillig öffnete die Gesellschaft in den zwanziger und dreißiger Jahren jenen Psychiatern und Psychologen ihre Publikationsorgane, die sich im Kontext von Neuer Psychologie und Kriminalität bereits einen Namen gemacht hatten. 1929 schrieb hier Cyril Burt über The Psychological Clinic,717 1930 nutzte Robert David Gillespie das gleiche Forum für den Abdruck seines Aufsatzes über The Service of Psychiatry in the Prevention and Treatment of Crime.718 Der von T.S. Good 1932 im Howard Journal veröffentlichte Beitrag über The Danger in our Midst: Crime and Abnormality wurde wiederum im Journal of

713 Alexander

Maxwell, Crime: The Situation To-Day. An Adress given to the Howard League on March 17, 1933, in: The Howard Journal (1933), S. 23–28. 714 J.R. Rees, The Causes and Cure of Crime: From the Psychologist’s Standpoint. Address delivered at a Howard League Conference on March 17, 1933, in: The Howard Journal (1933), S. 28–34. 715 Basil L.Q. Henriques, J.P., The Causes and Cure of Crime: A Social Worker’s Point of View. Address delivered at the Conference of the Howard League, March 17, 1933, in: The Howard Journal (1933), S. 65–71. 716 Vgl. das Summer School Programme zum ersten Sommerkurs in St. Peter’s Hall in Oxford vom 29. Juli bis 3. August 1937 unter dem Titel Ourselves and the Prisoner, in The Penal Reformer 3 (1937), S. 14; der Tagungsbericht ist abgedruckt in The Penal Reformer 4 (1937), S. 3–5; das Programm sah auch einen Besuch im borstal für Mädchen in Aylesbury vor und und die Diskussion mit einem Ex-Strafgefangenen. 717 Cyril Burt, The Psychological Clinic, in: The Howard Journal 2 (4/1929), S. 290–294, S. 293: „Crime is a mental action“; „mental work is social work“. 718 Robert D. Gillespie, The Service of Psychiatry in the Prevention and Treatment of Crime, in: The Howard Journal (1930), S. 22–28.

6.13. Zur Anschlussfähigkeit psychologischer ­Kriminalitätskonzepte   411

Mental Science von einem Kollegen rezensiert.719 Auch Denis Carroll, Co-Direktor des Institute for the Scientific Treatment of Delinquency (ISTD), klärte 1935 in seinem Beitrag für die Howard League über die Psychological Treatment of ­Delinquents and Some of its Problems auf.720 Neben den Beiträgen im Howard Journal druckte und vertrieb die Gesellschaft zahlreiche einzelne Pamphlete und Broschüren zu wissenschaftlichen Kriminalitätskonzepten.721 Beständig, so lässt sich zusammenfassen, warben die Mitglieder der Howard League in den Zwischenkriegsjahren für eine stärkere Beachtung der wissenschaftlichen Kriminalitätsforschung, besonders auf dem psychologischen Sektor. In ihrer Suche nach wissenschaftlichen Theorien und Konzepten, die ihre eigene Arbeit und die eigenen Ziele effektiv unterstützen konnten, fungierten die Gefängnisreformer nicht nur als kritische Kommentatoren, sondern nicht selten als die eigentlichen Distribuenten und Popularisierer kriminologischen Wissens. In einem Beitrag mit dem Titel Science Approaches the Lawbreaker verwies der Geschäftsführer der Howard League, Reverend Arthur Robert Lee Gardner, 1928 auf die Hilfestellung, die Psychologen in der Aufklärung von Kriminalitätsursachen leisten könnten. Mit deutlicher Anspielung auf Healys und Burts Ansätze empfahl er psychologische Expertise auch mit dem Hinweis, dass das, was Psychologen anbieten könnten, im Grunde bekannte und akzeptierte Verfahren und Erkenntnisse seien: All that the modern psychologist in reality asks permission to do in the case of those whose behaviour causes a breach of the peace, is to apply those methods of enquiry already discovered by experience to be those best calculated to produce an understanding of the causes underlying the behaviour in question. Thus in the twentieth century we are invited by men of science to recognise that all human behaviour is the outcome of human thought, and that therefore the under­standing of the mind must precede the treatment of its behaviour.722

Dass sich die Howard League nicht nur als Scharnierstelle zwischen Wissenschaft und Rechtsprechung, sondern letztlich auch zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit verstand, bewies nicht zuletzt der Rezensionsteil ihrer Zeitschriften. Bücher wie die von Healy, Burt und vielen anderen723 wurden beständig als „set books“ empfohlen, „for everyone who intends to serve as a magistrate (whether of adults

719 T.S.

Good, The Danger in our Midst: Crime and Abnormality, in: The Howard Journal 3 (1932), S. 57–65; siehe auch die Besprechung in: The Journal of Mental Science (1933), S. 217. Die Child Guidance Clinic in Oxford war aus einer Klinik für psychotische Patienten hervorgegangen, die während und nach dem Krieg Kriegsveteranen und ihre nervous dis­ orders behandelte und schließlich Anfang der dreißiger Jahre in eine Child Guidance Clinic umgewandelt wurde (ebd. S. 64). 720 Denis Carroll, Psychological Treatment of Delinquents and Some of its Problems, in: The Howard Journal (1935), S. 162–166. 721 Siehe z. B. Cyril Burt, Psychology of the Young Criminal, Howard League Pamphlet, No. 4 (1924). 722 Arthur Robert Lee Gardner, Science Approaches the Lawbreaker, in: The Howard Journal (1928), S. 203–207, Hervorhebung S.F. 723 Siehe zum Beispiel Maurice Hamblin-Smiths Besprechung von William Healys und Augusta Bronners Delinquents in the Making (1926), in The Howard Journal (1926), S. 159.

412   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) or children), a probation officer, a prison official, or a teacher.“724 Besonders die amerikanischen Entwicklungen wurden intensiv rezipiert und ausführlich vor­ gestellt. Mit Neid und Bewunderung nahm man die Flut an Publikationen zur Kenntnis, die in der Folge von Healys Arbeiten in Amerika erschienen waren, vergaß aber auch nicht den Hinweis, dass sich mit einiger Verzögerung auch in Großbritannien eine eigene Kriminalitätsforschung entwickelt habe.725 Besonders durch die Child-Guidance-Kliniken waren nicht nur Therapiezentren, sondern auch Orte neuer Wissensproduktion entstanden.

6.14. John Bowlby – Forty-four Juvenile Thieves (1944) 1944 erschien im International Journal of Psycho-Analysis die Studie Forty-four Juvenile Thieves: Their Characters and Home-Life von John Bowlby. Bowlby hatte von 1936 bis 1939 als Psychiater an der von William Moodie geleiteten Child Guidance Clinic in London gearbeitet und formulierte nun in seinem umfangreichen Artikel auf der dünnen Grundlage von 44 Fallstudien eine der folgenreichsten Theorien der modernen Psychologie: die Bindungstheorie (attachment ­theory). Sie schreibt der frühkindlichen Mutter-Kind-Beziehung eine zentrale Be­deutung für die seelische Entwicklung des Kindes zu.726 Für die Entwicklung kriminologischer Ansätze in England sollte Bowlbys Beitrag aber noch aus einem anderen Grund überaus wichtig werden: Er demonstrierte, auf welche Weise sich die primär psychiatrisch ausgerichteten Child-Guidance-Kliniken der bis dahin von ihr abgelehnten Psychoanalyse annähern konnten. In gewisser Weise öffnete Bowlby der Psychoanalyse die Tür zu den kommunalen Therapiezentren, indem er zwar die interdisziplinäre Teamarbeit in den Kliniken als großen Fortschritt propagierte – immerhin verdankte er dieser Teamarbeit einen neuen Zugang zu verhaltensauffälligen Kindern −, zugleich aber bei der Interpretation seiner Forschungsergebnisse auf Theorien der Psychoanalyse zurückgriff. Bowlbys Untersuchungsgruppe bestand aus 44 jungen Dieben (31 Jungen und 13 Mädchen),727 denen er eine gleich große, zufällig ausgewählte Kontrollgruppe 724 The

Howard Journal (1926), S. 66 (Besprechung u. a. von Burts Young Delinquent und Miriam van Waters Youth in Trouble). 725 Hamblin-Smiths Besprechung von Healy und Bronner in The Howard Journal (1926), S. 159; siehe auch The Howard Journal (1931), S. 104: „The hypothesis of the newer psycho­logical have their applications in every department of human life; and their bearing on our conception of the causes of delinquency, and ultimately, or so we may hope, upon its treatment, is so important that no serious student of the social phenomenon known as ‚crime‘ can afford to neglect it.“ 726 John Bowlby (1907–1990), Forty-four Juvenile Thieves: Their Characters and Home-Life, in: International Journal of Psycho-Analysis 25 (1944), S. 19–53, S. 107–128; zwei Jahre später erschien die Studie als 56-seitiges Buch: ders., Forty-Four Juvenile Thieves: Their Characters and Home-Life, London 1946. 727 Dieses Verhältnis war zufällig und repräsentierte nicht das durchschnittliche geschlechtsspezifische Verhältnis bei gerichtlichen Anklagen, wo auf zehn angeklagte Jungs ein Mädchen kam, vgl. Bowlby, Forty-four Juvenile Thieves, S. 23.

6.14. John Bowlby − Forty-four Juvenile Thieves   413

von 44 nicht-delinquenten Jungen und Mädchen gegenüberstellte, die ebenfalls in der Child Guidance Clinic betreut wurden. Die meisten der delinquenten und nicht-delinquenten Kinder waren über die Schule oder aufgrund des elterlichen Wunsches an die Child Guidance Clinic überwiesen worden und in der Regel nicht älter als zehn Jahre.728 Ein Strafverfahren erwartete deshalb die Mehrheit von ihnen nicht. Die an der Klinik angestellten psychiatric social workers, die die Kinder in ihrer gewohnten familiären Umgebung aufsuchten und Gespräche mit den Familienangehörigen führten, hatten Bowlby durch die Abfassung einer „preliminary psychiatric history of the child’s life“729 mit einer Fülle von klinisch verwertbarem Material über das frühere und gegenwärtige Umfeld der verhaltensauffälligen Kinder versorgt.730 In der Klinik führte Bowlby selbst zahlreiche Interviews mit den Müttern durch, um auf diese Weise etwas über deren bewusste oder auch unbewusste Haltung ihrem Kind gegenüber in Erfahrung zu bringen. Von Anfang an spielten die Mütter in Bowlbys Konzept eine zentrale Rolle: „I have considered the mothers first, both because our evidence about their attitude is first hand and also because it is clear that they have greater influence than do fathers in their children’s early and most important years.“731 Durch die Art, wie er Informationen – besonders über die Interviews mit den Müttern − gewann, sah sich Bowlby rein analytischen Methoden gegenüber im Vorteil. Ähnlich wie die britischen Soziologen, die der Psychoanalytikerin Alice Raven vorgeworfen hatten, Psychoanalyse als Untersuchungsmethode laufe stets Gefahr, das Wechselspiel mit der realen Umwelt zu unterschätzen,732 kritisierte Bowlby Melanie Kleins zu starke Beschränkung auf die innere Entwicklung von Kindern und deren frühkindliche Aggressionstriebe,733 ohne die Mutter als real erfahrbaren Faktor der „emotional atmosphere of the home and the personal ­environment of the child“734 konkret miteinzubeziehen. In der Interviewsituation zeigte es sich, dass es den Müttern oftmals erst nach einer Reihe von therapeutischen Sitzungen gelang, ihre wahren Gefühle zu artikulieren. Oft zeugten sie dann von innerer Ablehnung, Überforderung oder Entfremdung. Bowlby nahm diese Entdeckung zum Anlaß, um für einen Ausbau der psychiatrischen Sozialarbeit zu

728 Vgl.

Bowlby, Forty-four Juvenile Thieves, S. 21: Überweisung an die Child Guidance Clinic durch Schule (22), durch Schule auf Wunsch der Eltern (2), direkt durch die Eltern (8), durch ein Gericht auf Wunsch der Eltern (3) und durch einen Bewährungshelfer (9). 729 Bowlby, Forty-four Juvenile Thieves, S. 20. 730 Siehe dazu John Bowlby, The Influence of Early Environment in the Development of Neuro­ sis and Neurotic Character, in: International Journal of Psycho-Analysis 21 (1940), S. 154– 178, hier S. 154, wo er ausdrücklich zwei psychiatrischen Sozialarbeiterinnen, Ms. C.N. Fairbairn und Ms. E.M. Lowden für die Sammlung dieser Informationen und ihre Unterstützung dankt. Der Vorteil einer psychiatrischen Ausbildung bestehe vor allem darin, dass Sozialarbeiter die Bedeutung bestimmter Umweltfaktoren schneller erfassten. 731 Bowlby, Forty-four Juvenile Thieves, S. 115. 732 Siehe The Sociological Review 21 (1929), S. 315 (Editorial Note zu Ravens Beitrag). 733 Vgl. z. B. Melanie Klein, The Psycho-Analysis of Children, London 1932. 734 Bowlby, Influence, S. 156, Hervorhebung im Original.

414   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) werben,735 denn „unless skilled social workers, trained in the assessement of ­emotional attitudes, are available to give, if need be, a number of interviews to mothers, conclusions about the family situation in which delinquents find themselves are likely to be gravely misleading.“736 Bowlbys Untersuchungen legten nahe, dass es einen besonders engen Zusammenhang zwischen dem bereits von Healy, Burt, Raven und anderen beschriebenen „affectionless“, „unemotional“737 oder „hyperthymic character“738 der delinquenten Kinder und ihrer Neigung zum Diebstahl als einer kompensatorischen Handlung gab. Die auffällig geringe ‚Weltbindung‘ der Kinder führte er auf ihre frühe Trennung von der Mutter zurück.739 Dabei handelte es sich nicht um das vorübergehende Getrenntsein von der Mutter für ein paar Stunden, sondern um monate- oder sogar jahrelange Trennungen in der frühen Lebensphase des Kindes durch Krankenhausaufenthalte oder die Unterbringung bei entfernt lebenden Verwandten oder Pflegeltern oder durch den frühen Tod der Mutter. Die Trennung erfolgte zu einem Zeitpunkt, an dem das Kind bereits eine Bindung zur Mutter aufgebaut hatte, in der Regel zwischem dem 6. bis 12. Monat, aber auch eine später einsetzende Trennung bei Zwei- bis Dreijährigen hielt Bowlby für problematisch. Was er weitgehend aus seinen Erklärungsversuchen ausklammerte, waren genetische Dispositionen.740 Stattdessen rekurrierte Bowlby auf die Begrifflichkeit der Psychoanalyse. Obgleich er den genauen Mechanismus nicht aufschlüsseln konnte, auf welche Weise längere Trennungen pathogen wirken konnten, vermutete er eine Störung der emotionalen Entwicklung des Kindes genau zu dem Zeitpunkt, an dem es mit dem Aufbau von Objektbeziehungen begann, von denen in der Folge wiederum die Entwicklung des Über-Ichs abhing. Es kam zu einer „failure of object-love to develop“:741 „Now it is precisely these affectionate relationships with loved objects which are lacking in the case of the Affectionless 735 Bowlby

hat selbst am Ausbau der Ausbildungsmöglichkeiten für psychiatrische Sozialar­ beiter/innen mitgewirkt; nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte er zusammen mit Noel Hunnybun, einer einflussreichen psychiatrischen Sozialarbeiterin, an der Tavistock Klinik einen Advanced Case Work Course, der das angeleitete Pratikum auf ein Jahr erweitere, Timms, Psychiatric Social Work, S. 38. 736 Bowlby, Forty-four Juvenile Thieves, S. 115. 737 Bowlby, Influence, S. 160. 738 Dieser Begriff meinte die permanente Hyperaktivität des Kindes, 27 der 44 delinquenten Kinder wurden von Bowlby als affectionless oder hyperthymic eingestuft, wobei der hyperthermic type nochmals unterschieden wurde in hysterical, cheerful und aggressive hyperthymic, siehe Bowlby, Forty-four Juvenile Thieves, S. 22. 739 Vgl. Bowlby, Forty-four Juvenile Thieves, S. 109; auch die Zusammenfassung, ebd. S. 127: „[P]rolonged separation is a principle cause of the Affectionless (and delinquent) Character“, Großschreibung im Original. 740 Vgl. Bowlby, Forty-four Juvenile Thieves, S. 107: „In the case of genetic factors however we are in the realm of inference. All that we know is the mental condition of the child’s parents. We have no direct evidence that the parents’ genetic endowment is in any way abnormal and naturally no evidence regarding the child’s genetic endowment. To conclude, as is so often done, that, if both parent and child are mentally unstable, both must be genetically tainted is speculation.“ 741 Ebd., S. 122.

6.14. John Bowlby − Forty-four Juvenile Thieves   415

Thieves; the lack of any properly developed super-ego, with its regulation of the libidinal and aggressice impulses, is the direct result.“742 Bowlby war davon überzeugt, dass seine Studien die allgemeine Annahme der Psychoanalyse bestätigten, dass die ganz frühen Lebensjahre eines Kindes für dessen Charakterentwicklung (character development) zentral waren. Doch obgleich er die Wichtigkeit der Psychoanalyse betonte, sollte sich seiner Meinung nach die Delinquenzforschung trotzdem nicht ausschließlich auf sie konzentrieren: Nevertheless it would be foolish to suppose that psycho-analytic investigation alone, even extended to cover statistical enquiries of the kind reported here, would be sufficient. Though juvenile delinquency is to a great degree a psychological problem, it is also a problem of sociology and economics […] poverty, bad housing, lack of recreational facilities and other socio-economic factors, will play a large part.743

Bowlby plädierte nicht nur für eine kombinierte Erforschung der psychischen und sozioökonomischen Faktoren, um ihre relative Wirkung zu erkunden, auch ganz früh einsetzende Therapien hielt er als präventive Maßnahme für geboten. Er forderte die Einrichtung von infant welfare centres und nursery schools und die Einstellung gutausgebildeteter „play-analysists“:744 „Since it is possible to diagnose an Affectionless Character at the age of three years and possibly earlier, a strong plea is made for early diagnosis and early treatment. Above all, attention should be given to prevention; many prolonged separations could be avoided.“745 Wie viel ideologische Sprengkraft gerade seiner letzten Aussage innewohnte, konnte Bowlby nicht ahnen. Gedeutet wurde seine Empfehlung mehr und mehr als Warnung an die Bezugspersonen, in der Regel die Mütter, sich von ihrem Kind in den wichtigen ersten Lebensjahren nicht zu trennen. Der noch tolerierbare Trennungszeitraum von Mutter und Kind schrumpfte dabei immer mehr zusammen, weil mit der Vorstellung von Trennung jetzt die Vorstellung einer psychischen ‚Schädigung‘ des Kindes verbunden wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen Bowlbys Studien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) so zentral, dass sie den Londoner Arzt in den späten 1940er Jahren mit einer Studie zum Verhältnis von Mutter und Kind beauftragte, die er 1951 vorlegte.746 Es ist oft behauptet worden, dass Bowlby mit seiner Studie einer ökonomischen Nachkriegsordnung das Wort geredet habe, die Frauen wieder ins Haus und zu 742 Ebd.,

Großschreibung im Original; siehe auch die Zusammenfassung: „[T]o the failure of super-ego development in these cases following a failure in the development of the capacity for object-love. The latter is traced to lack of opportunity for development and to inhibition resulting from rage and phantasy on the one hand and motives of emotional self-protection on the other“ (ebd., S. 127). 743 Ebd., S. 125–126. 744 Ebd., S. 127. 745 Bowbly, Forty-four Juvenile Thieves, S. 127, Großschreibung im Original, Hervorhebung S.F. 746 Siehe John Bowlby, Maternal and Mental Health [World Health Organization Monographs, no. 2], Genf 1951; siehe auch John Bowlby, Über das Wesen der Mutter-Kind Beziehung, in: Psyche 13 (1959), S. 415–456; biographische Informationen zu Bowlby finden sich in: Jeremy Holmes, John Bowlby und die Bindungstheorie, München 2003; eine neuere deutsche Publikation zur Bindungstheorie ist Lieselotte Ahnert, Frühe Bindung. Entstehung und Entwicklung, München 2004.

416   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) ihren familiären Aufgaben beordert hätte. Die Chronologie spricht gegen eine solche Annahme, denn bereits 1940 hatte Bowlby einige seiner Überlegungen in einer Vorstudie formuliert.747 Er konnte nicht ahnen, welche sozio-ökonomischen Gesellschafts- und Geschlechtermodelle sich nach dem Krieg etablieren würden. Auch den einsetzenden und erstaunlich lange anhaltenden Babyboom der 1950er und frühen 1960er Jahre konnte er nicht vorhersehen.748 Nichtsdestotrotz demonstriert der Erfolg seiner Theorie, an die sich u. a. die Arbeiten von Donald Woods Winnicott anschlossen, wie sehr die Aufnahme bestimmter Theorien von einem sozio-politischen Klima abhängt, das ihre Aufnahme begünstigt.749 Im Kontext der Kriminalitätsdebatten erscheint es aber besonders wichtig festzuhalten, dass sich bestimmte Elemente der modernen Psychologie eindeutig der Delinquenzforschung verdanken, und dass diese Elemente nicht durch die positive Beschreibung geglückter Anpassung gewonnen wurden, sondern einzig auf der Folie des Versagens.

6.15. Bilanz und Ausblick: Lernfähigkeit und Wandel von Psychiatrie und Psychologie In Großbritannien übten während des Ersten Weltkrieges zwei Erscheinungen großen Einfluss auf die Richtung der Nachkriegsdebatten über Kriminalitätsgenese und Verbrecherkonstitution aus: erstens, die Erfahrung des shell shock und zweitens der eklatante Anstieg der Jugendkriminalität. Shell shock rückte die ­Vermutung ins öffentliche Bewusstsein, dass menschliches Fehlverhalten und bestimmte mentale Erkrankungen durch die Wucht äußerer Einflüsse ausgelöst werden könnten, ohne physische Schäden zu verursachen. Die Vorstellung einer prekären Lage der menschlichen Psyche in Konfliktsituationen wurde durch Militärärzte popularisiert, die sich des psychoanalytischen Vokabulars bedienten, weil kaum eine andere Terminologie zur Verfügung stand, um diese neuen Phänomen angemessen beschreiben und deuten zu können. Entscheidend ist, dass anders als in anderen europäischen Ländern in Großbritannien ein öffentlicher Diskurs über die Ursachen von shell shock möglich war und ein gesellschaftliches Klima begünstigte, das sich gegenüber neuen psychologischen Erklärungsansätzen aufgeschlossenen zeigte. 747 Siehe

dazu John Bowlby, The Influence of Early Environment in the Development of Neur­ osis and Neurotic Character, in: International Journal of Psycho-Analysis 21 (1940), S. 154–178; auch ders., Personality and Mental Illness: An Essay in Psychiatric Diagnosis, London 1940. 748 Bis heute ist nicht geklärt, warum neben dem bekannten Phänomen der ‚nachgeholten Geburten‘ nach Kriegen und Krisen, die die Geburtsraten kurzfristig überproportional stark ansteigen lassen, die hohen Geburtsraten in Europa, besonders aber in den USA, nach dem Zweiten Weltkrieg so lange angehalten haben. 749 Marga Vicedo hat nun in ihrer Studie ausführlich und äußerst kritisch vorgeführt, welchem gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Kontext die Bindungstheorie ihren Aufstieg verdankt: Marga Vicedo, The Nature and Nurture of Love. From Imprinting to Attachment in Cold War America, Chicago 2013.

6.15. Bilanz und Ausblick   417

Zugleich sorgte der sichtbare Anstieg der Jugendkriminalität (wie später während der Weltwirtschaftskrise noch einmal) für die erneute Prominenz sozioökonomischer Kriminalitätsansätze, die nun aber durch psychologische Elemente (emotionale Instabilität, psychische Konfliktsituationen) bereichert wurden. Dabei ging es vor allem darum, eine gefährdete und desorientierte junge Generation nicht zu verlieren. Während die Sozialreformer und ‚Environmentalisten‘ der Vorkriegsjahre die Ursachen kriminellen Verhaltens primär in den schlechten materiellen Umständen des familiären Zusammenlebens vermuteten – Armut, Platzmangel, schlechte hygienische Bedingungen, Mangelernährung −, verlagerte die „modified environmental interpretation“750 der Nachkriegszeit den Blick auf das psychische Zusammenwirken der Familienmitglieder. Jetzt waren es nicht mehr primär die konkreten materiellen Bedingungen, die mit jugendlicher Delinquenz in Verbindung gebracht wurden, sondern das durch materiellen Mangel im Familienverband erzeugte ungünstige emotional-psychische Klima. Englische Sozialisten konnten dabei immer noch auf Armut und Arbeitslosigkeit als Stressfaktoren innerhalb der Familie verweisen, die dann durch Übertragung zur psychischen Instabilität der Kinder und Jugendlichen führten. Aber nicht nur mit der politisch motivierten Milieutheorie, sondern auch mit ganz konkreten Reformprojekten in der Pädagogik (Erwachsenenbildung in den Gefängnissen als Nachschulung, antiautoritäre Erziehung) und im Strafvollzug (private Sozialdienste in den Gefängnissen, prison visitors) ließen sich die Ansätze der Neuen Psychologie, die psychiatrische, psychologische und psychoanalytische Elemente verknüpfte, vereinbaren. Das heilsame Gespräch war immer noch ein seelsorgerisches, obgleich es eine Säkularisierung erfuhr. Staat und Kommunen reagierten auf die psychologischen Debatten, die nicht zuletzt besonders durch die von amerikanischen Entwicklungen beeinflussten britischen Reformgesellschaften popularisiert wurden, mit der Schaffung sogenannter Child Guidance Clinics. Diese sollten sich möglichst frühzeitig verhaltensauffälligen Kindern widmen. Parallel zu dieser Entwicklung wurden sukzessive die psychologischen Betreuungsmöglichkeiten für Strafgefangene ausgebaut. Die Child-Guidance-Kliniken wurden sogar zu Orten der Delinquenzforschung. John Bowlbys frühe Stu­ dien zur Bindungstheorie verdankten sich seiner Arbeit an einer dieser Kliniken. Langfristig verhalfen sie der Psychoanalyse auch in öffentlichen Institutionen zum Durchbruch. Allen psychiatrischen und psychologischen Debatten war gemeinsam, dass sie den Einfluss von Anlagefaktoren (z. B. mangelnde Intelligenz) auf menschliches Verhalten keineswegs leugneten. Nur wurde ihnen bei der Frage nach den Grundlagen sozialverträglichen Verhaltens nicht die entscheidende Rolle zugesprochen. Die Fähigkeit zu sozialverträglichem Verhalten, das zugleich als gesetzeskonformes Verhalten gedacht wurde und für die politische und soziale Integration wichtiger erschien als reine Intelligenz, wurde als Resultat eines sozialen Lernprozesses aufgefasst. Entscheidend war, dass auf diesen Prozess durch Erziehung und Bil750 Bailey,

Delinquency and Citizenship, S. 126.

418   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) dung Einfluss genommen werden konnte. Die britische Sozialpsychologie, die sich aus einer nicht-rassisch oder physisch orientierten Anthropologie entwickelte, und die britische Verhaltenspsychologie, die auf eine physiologische Psychologie zurückging, die den Bezug zum stimulierenden Außen nie preisgab, konzentrierten sich folglich auf Anpassungsfragen (adaptability, adjustment) und die emotionale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, wenn es um Fragen von Charakterbildung und Delinquenz, um Nachschulung und „re-education of character“751 ging. In den Kriminalitätsdebatten füllten die psychologischen Ansätze eine Leerstelle aus, die weder von der Kriminalstatistik und empirischen Sozialforschung noch von der Biologie bzw. einer somatisch orientierten Psychiatrie geschlossen werden konnte. Die Psychologie lieferte Erklärungen für das, was Max Grünhut als „the personal ‚something‘“752 bezeichnet hat, etwas, das auf ein individuelles Moment in der je einzelnen kriminellen Straftat hinwies.753 Erst durch die Aufnahme psychologischer Konzepte – sowohl in Form der new psychology als auch in Form einer ‚psychologisierten Psychiatrie‘ – vervollständigten sich die Grundlagen zu einer Kriminologie, die ein dynamisches Persönlichkeitskonzept bereitstellte, das Innen und Außen, Anlage und Umwelt, nicht nur miteinander verband, sondern ihr individuelles Wechselspiel als konstitutiven Prozess der gleichzeitigen Weltaneignung und Weltschaffung beschreiben konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt dieses Konzept als eines der modernsten, das zur Verfügung stand. Max Grünhut fasste es 1948 in seinem Buch Penal Reform wie folgt zusammen: Individuals not only conceive similar outward surroundings in a different way, but by their own attitute and reaction help to create the personal atmosphere in which they live. The causation of social behaviour is a dynamic process. Man undergoes a process of development within changing surroundings. By a ‚circular response‘ (Healy)754 the human self is constantly being shaped by the influence around it and is at the same time ceaselessly at work trying to modify its environment.755

Ohne die Studien zur Jugenddelinquenz von Healy, Burt, Bowlby und anderen, ohne die Forschungen, die alle außerhalb der staatlichen Gefängnispsychiatrie betrieben wurden und Jugendkriminalität zu normalisieren suchten, wäre diese Entwicklung nicht möglich gewesen. Allerdings musste sich diese Art von Kriminologie durch die Aufnahme psychologischer Konzepte und die Annahme multi751 Field,

Psychology of Crime, S. 253. Penal Reform, S. 149. 753 Siehe auch Walter Cade Reckless, Etiology of Delinquent and Criminal Behaviour: A Planning Report for Research, New York (Social Science Research Council) 1943, S. 52: „It is the final object of criminology to find out the reasons for ‚the differential response‘ to the same crime risks.“ 754 Die circular response war ein Begriff von William Healy (ders., Personality in Formation and Action, London 1938), zum ersten Mal formuliert in seiner Salmon Memorial Lecture an der Academy of Medicine in New York 1937. Dass der Mensch seine Umgebung durch psychologische Prozesse beeinflusst (‚Milieu Provokation‘), war ein Gedanke, der auch in Deutschland bekannt war, sich dort aber nicht durchsetzen konnte, siehe Hermann Fritz Hoffmann, Charakter und Umwelt, Berlin 1928. 755 Grünhut, Penal Reform, S. 148. 752 Grünhut,

6.15. Bilanz und Ausblick   419

kausaler Kriminalitätsfaktoren von der Idee verabschieden, eine scharf umgrenzte, markante Wissenschaft mit eindeutigen Erklärungsmodellen und spezifischen Methoden zu sein. Die Absage an monokausale Erklärungsansätze und die Berücksichtigung individuell je unterschiedlicher Faktoren, mit anderen Worten eine gewisse Unschärfe kennzeichnete die britische Kriminologie in Laufe ihrer Entwicklung. Der lernfähigen und flexiblen englischen Psychiatrie kam in diesem Prozess eine besondere Bedeutung zu. Deutlich wird dies im Vergleich zu den deutschen Entwicklungen. Richard Wetzell, der sich in seinem Buch Inventing the Criminal mit der wissenschaftlichen Entwicklung der deutschen Kriminologie auseinandersetzt, hat auf den auffälligen Forschungsüberhang von biologischen gegenüber sozialen Kriminalitätskonzeptionen hingewiesen.756 Diese starke kriminalbiologische Aufwertung sei fast ausschließlich von Psychiatern betrieben worden, auch deshalb, weil akademische Strafrechtslehrer und -reformer wie Franz von Liszt soziale Ursachen zwar betont und deren Erforschung gefordert, aber weder sie selbst noch deutsche Soziologen eine solche Forschung in nennenswertem Umfang betrieben hätten. Zunächst hatten deutsche Psychiater ihre Auseinandersetzung mit Lombroso für den Ausbau ihrer eigenen Disziplin instrumentalisiert. Es ging dabei um die Erweiterung ihres Zuständigkeitsbereiches, weg von der Diagnose manifester Geisteskrankheiten und hin zur Diagnose und Therapie kleinerer mentaler Abnormitäten, Persönlichkeitsstörungen, mentaler Defizite. Da abweichendes Verhalten mit diesen Zuständen leicht in Verbindung gebracht werden konnte, konnten sich die Psychiater mittels ihrer Kriminalitätsforschung dieses neue Arbeitsfeld sukzessive erschließen. Eine solche Entwicklung lässt sich aber auch in England aufzeigen. Im Grunde verliefen die Diskussionen über die Ursachen mentaler Defizite in Deutschland ähnlich wie in England. Sie berührten die grundsätzlichen Fragen nach dem Einfluss von Anlage und Umwelt. Wie in England galten auch in Deutschland mentale Defizite nicht direkt als kriminogen. Sie wurden aber dafür verantwortlich gemacht, dass geistig minderbemittelte Personen im sozialen und wirtschaftlichen Leben besondere Nachteile erfahren und deshalb leichter auf eine schiefe, d. h. kriminelle Bahn geraten konnten. Wetzell hat nun aber in Zusammenhang mit den deutschen Entwicklungen ein interessantes Paradox ausgemacht: „For though [German, S.F.] biologists recognized that both genetic and environmental factors played a role in the etiology of crime, most (though not all) consistently priviledged the search for genetic factors and argued that genetic factors were somehow of primary importance.“757 Zur Favorisierung genetischer Faktoren (Anlage) in den deutschen Kriminalitätsdebatten gab es keinen wissenschaftsimmanenten Anlass. Ihre Bevorzugung hätte nur Sinn gemacht, wenn wissenschaftliche Forschung den dominanten Einfluss genetischer Faktoren auf soziales Verhalten überzeugend hätte nachweisen 756 Zum

757 Ebd.,

Folgenden siehe Wetzell, Inventing the Criminal, S. 295–305 (Conclusion). S. 298; Hervorbebung im Text.

420   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) können. Dies war aber auch in Deutschland nicht der Fall. Im Gegenteil, vom Einfluss der Umweltfaktoren seien, so Wetzell, fast alle deutschen Psychiater ebenfalls überzeugt gewesen. Die Rolle sozialer Faktoren anerkennend, seien sie aber dennoch allgemein pessimistisch (generally pessimistic) gewesen, „about being able to change the social conditions that pushed so many people into a life of crime.“758 Obgleich also auch deutsche Kriminalbiologen (Psychiater) davon ausgingen, dass Änderungen im sozialen Milieu Rückfalltäter von weiteren Straftaten abbringen könnten, hielten viele von ihnen diese Umstände in der Praxis für nicht veränderbar. Ergebnis war, dass sie vom Rückfalltäter als ‚Unverbesserlichen‘ ausgingen: „In other words – and this is crucial – the prognosis of incorrigibility was not based on the conviction that the individual’s criminal behaviour resulted from unalterable genetic factors but on the belief that it was simply too difficult to change the social factors involved.“759 Keine andere Einstellung stand in größerem Gegensatz zu den englischen Verhältnissen. Die resignative Einstellung, man könne an den Verhältnissen nichts ändern, war hier selbst unter den Psychiatern weitaus seltener anzutreffen. Zudem wurde eine solche Haltung permanent durch eine engagierte, christlich oder säkular motivierte Sozialreform herausgefordert. Besonders zivilgesellschaftlich organisierte Vereinigungen richteten ihre Bemühungen bevorzugt auf die Veränderung des sozialen Milieus. Etwas anderes hätte sich mit ihrem Selbstverständnis gar nicht vereinbaren lassen. Präventive Kriminalpolitik war für sie aktive Sozialpolitik. In anderen Bereichen (Präventivmedizin, civil service, staatliche Sozialarbeit u. a. m.) wurde ebenfalls an dieser Auffassung festgehalten. Zentral erscheint in diesem Kontext, dass die englische Psychiatrie durchgehend lernfähig blieb und sich von Strömungen wie der staatlichen Präventivmedizin nicht abkoppeln wollte. Bedenken gegenüber einer rein somatisch orientierten Psychiatrie oder physiologischen Psychologie waren schon am Ende des 19. Jahrhunderts laut geworden. Schließlich fanden sogar die wenigen Ärzte und Psychiater (darunter solche mit anthropologischen Interessen wie William Rivers), die sich darüber hinaus auch psychoanalytischen Überlegungen öffneten, nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend Gehör. Die öffentliche Akzeptanz und das Wachstum dieser ‚psychologisierten Psychiatrie‘, die im Grunde ein Mischwesen aus klinischer Diagnostik, Intelligenztests, 758 Ebd.,

S. 299. Wetzell hebt weiter hervor, dass die deutsche Psychiatrie aufgrund der Erfahrung des eigenen Versagen in der Heilung mentaler Erkrankungen von einem „strong hereditarian bias“ (ebd. S. 299) gekennzeichnet gewesen sei, biologistische Konzepte und die Akzeptanz der damit verbundenen Beschränkung eigener Möglichkeiten hätten hier als Entlastung fungiert. Von dieser Einstellung geprägt, habe die Mehrzahl der deutschen Psychiater konsequenterweise auch eugenischen Ansätzen zugeneigt. Obgleich, und das ist eine wichtige Erkenntnis von Wetzells Studie, die immer komplexer werdenden Diskussionen der Kriminalbiologie auch einige checks eingebaut hätten: Nicht wenige Kriminalbiologen hätten gerade aufgrund der komplexen Interaktion von Anlage und Umwelt die Sterilisation von Straftätern abgelehnt. Insgesamt aber sei die Bereitschaft der deutschen Psychiatrie, das Interesse der Gesellschaft über die Wohlfahrt des individuellen Patienten zu stellen, auffällig hoch gewesen.

759 Ebd.;

6.15. Bilanz und Ausblick   421

psychoanalytischen Elementen und Sozialpsychologie darstellte (vor allem auf dem Gebiet der Instinkt- und Triebforschung), wurde durch eine veränderte Einstellung der britischen Gesellschaft zu geistigen Erkrankungen und psychischen Konflikten möglich gemacht. Diese Einstellung war ihrerseits das Ergebnis eines historischen Lernprozesses, der besonders durch den Ersten Weltkrieg in Gang gesetzt worden war. Sie hat nicht nur die Etablierung der Neuen Psychologie ­begünstigt, sondern langfristig auch, z. B. über die Forschungen von Kate Friedländer oder John Bowlby, der psychologischen Kriminalitätsforschung den Weg geebnet. Einen wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatte dabei auch der neugeschaffene psychiatrische Sozialdienst. Die durch die psychiatrischen Sozialarbeiterinnen vermittelten Informationen zum sozialen Umfeld des Kindes be­ zogen die Psychiater der Child-Guidance-Kliniken in ihre Diagnose mit ein. ­Dadurch fanden Milieu- und Umweltfaktoren, die das psychische Umfeld mit­ einschlossen, modifiziert weiterhin Berücksichtigung in der Suche nach kriminogenen Faktoren. Im Grunde verkörperte der mit neuem social knowledge ausgestattete Sozialarbeiter eine säkularisierte Weiterentwicklung des philanthropischen Sozialreformers des späten 18. und 19. Jahrhunderts. Auf diesen Zusammenhang spielte der britische Innenminister Sir Samuel Hoare an, als er im November 1938 in zweiter Lesung ausführlich die neue Criminal Justice Bill vorstellte und dabei auf Englands philanthropische Tradition und seine eigene great-great-aunt ­Elizabeth Fry hinwies, die „the first woman social worker in this country“ gewesen sei.760 Um sich die Unterstützung des Unterhaus für diesen Gesetzesentwurf zu sichern, der einen ganzen Reformkatalog an Neuerungen in der Strafpraxis umfasste, nahm er nun in seiner Rede auffällig häufig Bezug auf die Ansichten und Erfahrungen der modernen Sozialarbeiter (social workers).

Späte Institutionalisierung Die Nähe zur Sozialreform hat den wissenschaftlichen Anspruch der englischen Kriminologie so wenig geschmälert wie ihre im Vergleich zu anderen europäischen Ländern und Nordamerika verspätete institutionelle Etablierung. Einiges deutet darauf hin, dass die mangelnde Institutionalisierung die Vielfalt der An­ 760 Die

gesamte Debatte der zweiten Lesung mit Hoares Eröffnungsrede ist im Internet einzusehen unter: http://hansard.millbanksystems.com/commons/1938/nov/29/criminal-justice-bill (29. 09. 2012); der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verhinderte die Verabschiedung des Gesetzentwurfes. Nach mehrmaliger Umarbeitung wurde er 1948 Gesetz; neben der Abschaffung körperlicher Strafen für Jugendliche, neue institutionelle Einrichtungen für jugendliche Straftäter, therapeutische Modelle, produktive Arbeit in den Gefängnissen u. a. m., gab es auch den erneuten Versuch, das Problem des hardened offender über 30 Jahren mit neuen Konzepten anzugehen: preventive detention für 2–4 Jahre; in schweren Fällen sollte diese Sicherungsverwahrung auf bis zu zehn Jahren ausgedehnt werden. Hoare gab sich (zumindest rhetorisch) optimistisch: „We have already made a start with a prison of this kind at Portmouth, and even with these hardened offenders it is interesting to note that some of them do make good, although, from their records, one would not have imagined that it was possible. In these special detentions prisons we shall concentrate upon training.“

422   6. Die Neue Psychologie (1890–1945) sätze sogar erst möglich gemacht hat. Deutlich wird das an den Arbeiten der nach England emigrierten Juristen Max Grünhut, Hermann Mannheim und Leon Radzinowicz, die gemeinhin als ‚Gründungsväter‘ der britischen Kriminologie in den späten 1930er Jahren aufgeführt werden.761 Was auf diese drei kontinentaleuropäischen Gelehrten zurückgeht, war aber nicht der Beginn einer wissenschaftlichen Kriminologie in Großbritannien, sondern eher der Versuch ihrer Systematisierung und einer − vor allem von Leon Radzinowicz vorangetriebenen − Institutionalisierung. Was Grünhut, Mannheim und Radzinowicz in den ersten Jahren ihres Wirkens in England Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre ­getan haben, war nichts anderes, als – in deutlicher Abkehr zu den deutschen Entwicklungen – jene längst im angelsächsischen Raum entwickelten krimino­ logischen Theorien und Konzepte aufzugreifen und sie in gewisser Weise zu ­popularisieren. Es sind jene Theorien, die in den späten 1960er Jahren dann das Interesse zahlreicher liberaler bundesdeutscher Soziologen und Kriminologen weckten.762 Max Grünhuts 1948 erschienener internationaler Vergleich über The Penal Reform wäre ohne die innerenglischen Psychologiedebatten und ihre gefängnisreformerische Popularisierung nicht denkbar gewesen. Auch die hauptsächlich von Hermann Mannheim durchgeführte Untersuchung Young Offenders. An Enquiry into Juvenile Delinquency von 1942 orientierte sich an sozialstatistischen Verfahren, die im 19. Jahrhundert entwickelt worden waren.763 Und von den zehn Beiträgen der ersten, 1940 von Leon Radizinowicz in England herausgegebenen Publikation English Studies in Criminal Science (Band 1) entstammten neun Autoren dem unmittelbaren Umfeld von Reformgesellschaften wie der Howard League for Penal Reform, der National Association of Prison Visitors und der Borstal Association.764 Dadurch wird einmal mehr deutlich, in welchem Aus761 Vgl.

Garland, Of Crimes and Criminals, S. 45 f.; Terence Morris vertrat noch 1987 in einem Vortrag über die Entwicklung der britischen Kriminologie die Auffassung, „that the shape of British criminology during the period immediately before and immediately after the Second World War owes almost everything to the important figures (Grünhut, Mannheim, Radzinowicz, S.F.) who dominated the scene.“ Terence Morris, British Criminology: 1935–1948, in: British Journal of Criminology 28 (1988), S. 150–164; hier zit. nach dem Wiederabdruck in Paul Rock (Hrsg.), A History of British Criminology, Oxford 1988, S. 20–34, hier S. 21. 762 Vgl. z. B. Fritz Sack und René König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, Frankfurt am Main ²1974, worin mit Ausnahme eines Textes von Emile Durkheim ausschließlich angelsächsische Autoren vertreten sind; siehe auch die über 600 Titel im Anhang, die fast ausschließlich englische und amerikanische Literatur repräsentieren. Die erste Auflage erschien 1968. 763 Vgl. Alexander M. Carr-Saunders und Hermann Mannheim und E.C. Rhodes, Young Offenders. An Enquiry into Juvenile Delinquency, Cambridge 1942; siehe auch Hermann Mannheim, The Dilemma of Penal Reform. With a Preface by Alexander Morris Carr-Saunders, London 1939; ders., Social Aspects of Crime in England between the Wars, London 1940; zu einer Personen orientierten Kriminologiegeschichte Hermann Mannheim, Pioneers in Criminology (1. Aufl. 1960), 2. erweit. Aufl. Montclair/N.J. 1973, in der für England nur der Psychiater Henry Maudsley, der Gefängnisseelsorger William Douglas Morrison und der Gefängnisarzt Charles Goring aufgeführt sind. 764 Leon Radzinowicz, J.W. Cecil Turner und P.H. Winfield (Hrsg.), Penal Reform in England. Introductory Essays on Some Aspects of English Criminal Policy (English Studies in Criminal Science, Bd. 1), London 1940.

6.15. Bilanz und Ausblick   423

maß die Reformgesellschaften auf ihrer Suche nach wissenschaftlichen Theorien und Konzepten, die ihre eigene Arbeit fundiert begründen sollten, als die eigentlichen Popularisier kriminologischer Theorien fungierten, die sie zum Teil als ‚praktische Experten‘ auch selbst produzierten. Die Reformgesellschaften bildeten, wie gezeigt, nicht nur das Scharnier zwischen Wissenschaft und Rechtsprechung, indem sie die Rechtsprechung durch den Hinweis auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu einem größeren Gebrauch modernerer Strafpraktiken (borstals, Bewährungsstrafe u. a. m.) ermuntern wollten, sondern auch ein Scharnier zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit durch ihre Vermittlungsarbeit (Publikationen, Konferenzen, Tagungen u. a. m.). Betrachtet man sich schließlich den zweiten, 1944 von Leon Radzinowicz, Cecil Turner und Roy Neville Craig herausgegebenen Band der Reihe English Studies in Criminal Science mit dem Titel Mental Abnormalities and Crime, so trifft man genau auf die Beiträge britischer Psycho­ logen und Psychiater, deren Erkenntnisse sich als äußerst kompatibel mit den ­Ansichten der Reformgesellschaften erwiesen, darunter auch ein Beitrag des ­Psychoanalytikers Edward Glover vom ISTD.765

765 Siehe

Roy Neville Craig, Leon Radzinowicz und J.W. Cecil Turner (Hrsg.), Mental Abnormalities and Crime (English Studies in Criminal Science, Bd. 2), Cambridge 1944; darin auch der Beitrag Edward Glover, Diagnosis and Treatment of Delinquency.

7. Adjusting to democracy: Wissenschaft und Zivilgesellschaft 7.1. „The rounded rational citizen“: der politische Diskurs Neue Einsichten, so hat es die Einleitung dieser Untersuchung in Aussicht gestellt, lassen sich in Bezug auf das Verhältnis von wissenschaftlicher Forschung und ­cultural setting möglicherweise dann gewinnen, wenn die Ergebnisse der vor­ liegenden Studien zu den englischen Diskussionen über Kriminalitätsgenese und Verbrecherkonstitution (Kap. 2.7., 3.9., 4.8., 5.9., 6.15.) in den Kontext des innen­ politisch wichtigsten Anliegens ihrer Zeit gestellt werden: einem Prozess des ­adjusting to democracy.1 Er beschreibt den Versuch der Anpassung an die ­Bedingungen einer wachsenden Massendemokratie, die durch den Ausbau des Wahlrechts und die Möglichkeiten politischer Partizipation immer breiterer Be­ völkerungsschichten gekennzeichnet war.2 Dass die erweiterte Wählerbasis nicht nur den Staat, sondern auch den einzelnen Bürger vor neue Anforderungen stell­ te, war den Zeitgenossen früh bewusst. „The wide extension of the franchise for both local and central representation“, so erklärte Karl Pearson in einer öffentli­ chen Vorlesung 1892, „has cast a greatly increased responsibility on the individual citizen.“3 Hinzu kam, dass in den 1920er, besonders stark aber in den 1930er Jah­ ren demokratische Systeme infolge der Bildung autokratischer und faschistischer Staaten in Ost-, Süd- und Südosteuropa stark unter Druck gerieten, und die in­ nenpolitischen Debatten zusätzlich durch neue außenpolitische Konstellationen an Brisanz gewannen. Innerhalb dieses Anpassungsprozesses, der übergeordnet für den Erhalt der Demokratie als wesentlich betrachtet wurde, kam der Neubestimmung des politi­ schen Subjektes große Bedeutung zu. Nichts hat in England das Ringen um diese Neubestimmung mehr zum Ausdruck gebracht als die Auseinandersetzung um die Begriffe citizen und citizenship.4 Beide Begriffe haben auch innerhalb der Kri­ minalitätsdebatten, und hier besonders in den Diskussionen über den Strafzweck, eine zentrale Rolle gespielt. Spätestens seit der Jahrhundertwende sprachen Pri­ son Commissioners und Gefängnisreformer diesbezüglich die gleiche Sprache. „It is not to make prisons pleasant, but to construct a system of training such as will fit the prisoner to re-enter the world as a citizen“, hieß es im Jahresbericht der

1

Rodney Lowe, Adjusting to Democracy: The Role of the Ministry of Labour in British Poli­ tics, 1916–1939, Oxford 1986. 2 Im Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit gab es fünf Wahlrechtsreformen: Repre­ sentation of the People Act von 1832, 1867, 1884, 1918 und 1928. 3 Pearson, Grammar of Science, S. 5. 4 Zur historisch-politischen Entwicklung des Begriffs citizenship in Großbritannien, Frank­ reich, Deutschland und den USA siehe Andreas Fahrmeir, Citizenship. The Rise and Fall of a Modern Concept, New Haven und London 2007.

426   7. Adjusting to democracy: Wissenschaft und Zivilgesellschaft Prison Commission von 1922/23.5 Ein Jahr später erinnerte Ruggles-Brise in sei­ ner Funktion als Vorstand der Internationalen Gefängniskongresse daran, dass keine Anstrengungen gescheut werden dürften, um den Strafgefangenen der ­Gesellschaft wieder als „a better and a wiser man and a good citizen“6 zurückzu­ geben. Auch seine Nachfolger, Maurice Waller und Alexander Paterson, erklärten in ihren Jahresberichten unsentimental und pragmatisch die Wiederherstellung des Straftäters „to ordinary standards of citizenship“ als primäres Ziel des Straf­ vollzugs, das mit einer „promotion of self-respect“ und der Entwicklung eines „sense of personal responsibility“ verbunden sein müsse.7 Gefängnisreformer, die mit Aufmerksamkeit die Berichte der Prison Commis­ sion studierten und in ihren Zeitschriften kommentierten, nahmen mit Genugtu­ ung zur Kenntnis, dass sich die Prison Commission immer stärker zu ihrer Pflicht bekannte, „to restore the criminal to civil life.“8 Im Verfolgen des individuellen Wohls des Straftäters (Reformierung) sah die Howard League gleichzeitig den größten Schutz für die Gesellschaft, deshalb erinnerte sie die Prison Commissio­ ners beständig daran, „to carry out its duty of protecting society by training of­ fenders as far as possible for citizenship“9. Überhaupt zielte die Arbeit der Ges­ ellschaft nach ihrer Fusionierung 1921 verstärkt darauf ab, „to effect such an al­ teration in criminal jurisprudence that its basis and purpose shall be to ‚improve the prisoner‘, not wholly, nor chiefly for the prisoner’s sake, but because we hold that no system of treating crime is a safe system unless it aims at protecting the community by reclaiming the offender“10. Selbst so unterschiedliche Reformer wie Havelock Ellis, in jungen Jahren noch Lombrosos Verehrer, und Edward Carpenter, wichtiges Mitglied der Humanitari­ an League, sprachen sich unisono für die unabdingbare „restoration to society“ und die Wiedereingliederung des Straftäters als „useful citizen“ aus, die durch die Umstrukturierung des Gefängnisses zu einem „industrial asylum“ geleistet wer­ den sollte.11 Wenig überraschend waren dann Ende der zwanziger Jahre die For­   5 Report of the

Prison Commission for the Year 1922–1923, hier zit. nach Watson, Prison System, S. 152.   6 Ruggles-Brise, Prison Reform, S. 193.   7 Hier zit. nach Fox, English Prisons, S. 70 f.; siehe auch den vollen Wortlauf im Report of the Prison Commission for the Year 1922–1923: „It is not to make prisons pleasant, but to con­ struct a system of training such as will fit the prisoner to re-enter the world as a citizen. To this end the first requisite is greater activity in mind and body, and the creation of habits of sus­ tained industry […] Next comes the removal of any features of unnecessary degradation in prison life, and the promotion of self-respect; and education on broad lines calculated to arouse some intelligent interests, and to raise the mind out of a sordid circle of selfish broodings. Fi­ nally we endeavour to awaken some sense of personal responsibility by the gradual and cau­ tious introduction of methods of limited trust.“ Hier zit. nach Watson, Prison System, S. 152.   8 Siehe den Kommentar zum Bericht der Prison Commission in The Journal of Mental Science 69 (1923), S. 108.   9 The Howard Journal 1925–1926 (1927), S. 199. 10 The Howard Journal 1 (1921), S. 1. 11 Zu Havelock Ellis siehe The Journal of Mental Science 64 (1918), S. 85; zu Edward Carpenter siehe ders., Prisons, Police and Punishment. An Inquiry into the Causes and Treatment of

7.1. „The rounded rational citizen“: der politische Diskurs   427

derung des Schriftstellers Laurence Housman, englische Gefängnisse zum „train­ ing ground for citizenship“12 umzugestalten. Auch in christlich-philanthropischen Kreisen hatte die politische Kategorie des citizen Einzug gehalten. Auch hier ließ sich immer häufiger die Auffassung finden, dass die Erziehung zum Staatsbürger das wirksamste Mittel zum Schutz der Ge­ sellschaft sei: „Society gains nothing from mere punishment“, erklärte Reverend Canon Barnes auf einem Treffen der Penal Reform League 1920 und fuhr fort: „There must be deterrence against crime, granted; but equally we must seek so to strengthen character that if a man is put into prison he emerges with the potentiality of a better citizenship as the result of his term of imprisonment.“13 Obgleich die Terminologie auf den ersten Blick noch an die Rhetorik der evangelikalen Besserungsagenten des 19. Jahrhundert erinnern konnte, hatte sich doch ein ent­ scheidender Bedeutungswandel vollzogen: Nicht mehr die Besserung zu mora­ lisch ‚guten Menschen‘ wurde angestrebt, sondern die in vielerlei Hinsicht nüch­ ternere Herstellung selbständiger und vernünftiger Bürger, das Erzeugen eines „rounded rational citizen“14. Das System der weltlichen Gefängnisbesucher, die keine Bekehrungsgespräche führen, sondern die für den Gefangenen die Verbin­ dung zur Welt draußen herstellen sollten, und die Erwachsenenbildung in den Gefängnissen als eine Art Nachschulung und „re-education of character“15 stell­ ten moderne zivilgesellschaftliche Versuche dar, ein Stück weit an der Herstellung solcher Bürger mitzuwirken (Kap. 6.13.). In der Verlagerung ihrer Zielsetzung von moralischer Besserung zur Staatsbür­ gerbefähigung lag die eigentliche Säkularisierung der englischen Gefängnisre­ form. Anders als noch im 19. Jahrhundert, wo es auf staatlicher Seite zunächst darum ging, eine unbekannte Klasse zu identifizieren und deren Verhalten eini­ germaßen einzuschätzen, trug die Erweiterung der Wählerbasis und der Aufstieg der Labour Party als einer politischen Größe dazu bei, dass sich der staatliche Umgang mit den unteren Klassen (in denen die meisten Straftäter vermutet wur­ den) nicht mehr auf die bloße Sicherung sozialer Stabilität durch mechanische Wohltätigkeit, auf Verteilungsmodalitäten und die Rationierung materieller Res­ sourcen oder – im Falle devianten Verhaltens – auf Bestrafung und Separierung

Crime and Criminals, London 1905, S. 61–77, hier S. 77; ders., England’s Ideal and Other ­Papers on Social Subjects, London 1895, S. 1–22; zu Carpenter siehe auch Bailey, English ­Prisons, Penal Culture, 1997, S. 307: „Edward Carpenter crusaded for a new ideal of social brotherhood and the honest human relation […] The prisons, Carpenter advised, should be transformed into ‚Industrial Asylums‘ in which prisoners would be educated for citizen­ ship.“ 12 Laurence Housman, Foreword, in: Archibald Fenner Brockway, New Ways with Crime, S. ix. 13 The Penal Reformer (1920), S. 23, Hervorhebung S.F. 14 Mit dem Begriff „rounded rational citizen“ bringt Andrew W. Vincent die Bestrebungen des Geschäftsführers der Charity Organisation Society, Charles S. Loch (siehe Charles S. Loch, Charity Organisation and Social Life, London 1890, S. 352), auf einen prägnanten Nenner, Andrew Vincent, Kap. Poverty and Citizenship, in: Vincent und Plant, Philosophy, Politics and Citizenship, S. 101. 15 Field, Psychology of Crime, S. 253.

428   7. Adjusting to democracy: Wissenschaft und Zivilgesellschaft beschränkte, sondern die Frage der politischen Integration dieser Schichten zent­ rale Bedeutung erlangte. „The idea of citizenship“, so formuliert es David Sutton, „could become an organizing principle in a strategy to secure the political incor­ poration of the subordinate classes.“16 Wo es darum ging, die Klassengegensätze abzumildern, sollte die Teilhabe an aktiver citizenship mit dem Verweis auf die sozialen und politischen Rechte und Pflichten aller diese Funktion übernehmen.17 Auf die Förderung autonomer Staatsbürgerschaft als einem zentralen politischen Bestreben macht auch José Harris in einer Studie über die intellektuellen Rahmenbedingungen britischer So­ zialpolitik zwischen 1870 und 1940 aufmerksam: „Their aim as social reformers was not to keep the poor in their place, but to force the poor into active and pru­ dent participatory citizenship.“18 Mit Blick auf die zivilgesellschaftlichen Reform­ bemühungen lässt sich festhalten, dass sich das Engagement von Bürgern für ­sozial schwächere Gruppierungen im 19. Jahrhundert zunächst noch im Kontext einer refinement of civic order vollzog (Kap. 2.7.), dann aber zunehmend die Ge­ stalt eines adjusting to democracy annahm, eines Versuchs, den unaufhaltsamen Wandel der politischen Verhältnisse durch wachsende Integration der unteren Schichten möglichst gewaltarm, sozialverträglich, aber auch kontrolliert zu gestal­ ten.19 Die Stärke und das Selbstbewusstsein der Arbeiterklasse in England haben ver­ mutlich das Ihrige zu diesem Prozess beigetragen.20 Anders als in Deutschland, 16 David

Sutton, Liberalism, State Collectivism and the Social Relations of Citizenship, in: Mary Langan und Bill Schwarz (Hrsg.), Crises in the British State, 1880–1930, Birmingham 1985, S. 7–32, hier S. 8. 17 Vgl. José Harris, Political Thought and the Welfare State, 1870–1940: An Intellectual Frame­ work for British Social Policy, in: Past and Present 135 (1992), S. 117–39, hier S. 133: „This theme of inculcating citizenship as the ultimate goal of social welfare was omnipresent in the departments of social science and social-scientific associations and journals.“ Halliday hat in seiner Arbeit über die Enstehung der englischen Soziologie diese Ausprägung ebenfalls festge­ stellt: „For the ethical school [of sociology, S.F.] citizenship, conscious social living, was the manifestation of moral awareness and each social worker a proof that individuals could be trained to fulfill their social obligations.“ J. R. Halliday, The Sociological Movement, the ­Sociological Society and the Genesis of Academic Sociology in Britain, in: The Sociological Review 16 (1986), S. 377–398, hier S. 393. 18 Harris, Political Thought, S. 132; ebd. S. 134: „Discussions between social policy-makers and social scientists about the best means of ‚stimulating the forces of civic shame and civic pride‘ (Robert Owen).“ 19 Zur Erwartung der sozialen Anpassung an die Ideale der middle classes siehe Ross McKibbin, Social Class and social Observation in Edwardian England, in: Transactions of the Royal His­ torical Society 28 (1978). 20 Generell sollte man den Einwand von F.M.L. Thomson im Gedächtnis behalten, wonach die Durchsetzung bürgerlicher Verhaltensnormen oder Moralvorstellungen mit staatlichen Mit­ teln in den unteren Schichten in England keineswegs immer unter Zwang oder gegen Wider­ stände stattgefunden hat. Thomson hat auf das freiwillige Streben der englischen Unter­ schichten nach bürgerlichen Lebensformen hingewiesen: „The working class did not need to be told that family life was important, that honest toil was better than loafing, or that saving for a rainy day was sensible […] the working class was eminently capable of generating its own cultural evolution and development in response to aspirations and needs experienced by

7.1. „The rounded rational citizen“: der politische Diskurs   429

wo sich führende sozialdemokratische Persönlichkeiten aufgrund der eigenen Er­ fahrung latenter Bedrohung und Ausgrenzung anschickten, sich vom „Lumpen­ proletariat“ abzugrenzen, für das dann eugenische Maßnahmen durchaus gebil­ ligt wurden,21 entwickelten die Mitglieder der Independent Labour Party und der Labour Party ein solches Distinktionsbedürfnis nicht (Kap. 4.7.). Im Gegenteil, nicht zuletzt im Kampf gegen die Mittelklasse-orientierte englische Eugenik wuchsen sie zu einer einflussreichen politischen Größe heran.22 Auch der gesell­ schaftliche Umgang mit den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs dürften hier eine Rolle gespielt haben. Nicht nur bewährten sich die zum Kriegseinsatz frühzeitig aus der Haft entlassenen Strafgefangenen,23 auch der Mut, die Einsatzbereitschaft und die Leidensfähigkeit von Soldaten aus der Arbeiterklasse wurde von den Sozial­reformern besonders hervorgehoben.24 Der egalitäre Charakter der shellshock-Erkrankung tat ein Übriges (Kap. 6.3.). Wer Pflichten für die Gemeinschaft übernommen hatte, so lautete die Forderung der Reformer, der sollte auch in den Genuss staatsbürgerlicher Rechte kommen. Und wer sich durch delinquentes Ver­ halten aus der Gemeinschaft herauskatapultiert hatte, so zumindest die Einstel­ lung der Howard League for Penal Reform, den galt es unter den Vorzeichen ge­ eigneter Schulung wieder in die Gemeinschaft zurückzuführen. Für ein gregarious animal wie den Menschen, so lehrte es die englische Sozialpsychologie, war diese Rückführung ohnehin der Schlüssel zur eigenen Selbstverwirklichung (Kap. 6.8.). different groups within it.“ F.M.L. Thomson, Social Control in Victorian Britain, in: Econo­ mic History Review 34 (1981), S. 189–208, hier S. 196; ders., The Rise of Respectable Society. A Social History of Victorian Britain, 1830–1900, London 1988; vgl. auch Oberwittler, Von der Strafe, S. 16. 21 In einem aufschlussreichen Aufsatz zeigt Michael Schwartz, wie sehr die bereits in der Marxis­ tischen Theorie angelegte klare Ausgrenzung des Lumpenproletariats in einem Bericht zu den vorbereitenden Arbeiten zu einem Sterilisationsgesetz zum Tragen kam, das gegen Ende der Weimarer Republik von der sozialdemokratischen Fraktion im Reichstag eingebracht werden sollte. Während für Proletarier Milieu und Struktur als Ursache für kriminelles Verhalten ­angeführt wurden, schrieben viele Sozialdemokraten dem Lumpenproletariat die Heredität schwerer Kriminalität zu, siehe Michael Schwartz, „Proletarier“ und „Lumpen“. Sozialisti­ sche Ursprünge eugenischen Denkens, in: Vierteljahrhefte für Zeitgeschichte 42 (1994), S. 537–570; ders., Kriminalbiologie und Strafrechtsreform. Die „erbkranken Gewohnheitsver­ brecher“ im Visier der Weimarer Sozialdemokratie, in: Justizministerium des Landes Nord­ rhein Westfalen (Hrsg.), Kriminalbiologie (Juristische Zeitgeschichte, Bd. 6), Düsseldorf 1997, S. 13–68; für England siehe Radzinowicz und Hood, Emergence of Penal Policy, Kap. 2: The Socialist Interpretation of Crime and its Marxist Connections, S. 34–48, zu Engels Auffassung vom Lumpenproletariat ebd. S. 42. 22 Vgl. John MacNicol, Eugenics and the Campaign for Voluntary Sterilization Between the Wars, in: Social History of Medicine 2 (1989), S. 147–169; ders., The Voluntary Sterilization Campaign in Britain, 1918–1939, in: John C. Fout (Hrsg.), Forbidden History: The State, So­ ciety and the Regulation of Sexuality in Modern Europe: Essays from the Journal of the His­ tory of Sexuality, Chicago 1992, S. 317–333. 23 Vgl. dazu Evelyn Ruggles-Brise, The Movement of Crime in England and Wales since the London Congress, 1872, up to the present time, together with a suggestion as to a form of International Criminal Statistics for the use of future Congresses, London 1924, S. 1–19, hier S. 8, wo der Rückgang der Kriminalitätsraten u. a. auch dem „intense spirit of patriotism per­ vading all classes“ zugerechnet wird; das Dokument ist vorhanden in TNA, PCOM 7/60. 24 The Penal Reformer (1918), S. 65.

430   7. Adjusting to democracy: Wissenschaft und Zivilgesellschaft Zugleich konnte sie als Ausdruck der Wesensbestimmung einer zivilgesellschaft­ lich organisierten Gemeinschaft gelesen werden, die auf Integration setzte. Es ist unschwer zu erkennen, dass die Bestimmung des rounded rational citizen sehr genau den Wertvorstellungen der in der Philanthropie engagierten Mittel­ klasse entsprach. Die Fähigkeit, momentane Wünsche aufschieben und voraus­ schauend handeln zu können, zählte zu den wichtigsten Eigenschaften, die sich die Mittelklasse als Verdienst zuschrieb und die ihr als notwendige Voraussetzung für politische Partizipation überhaupt galt. Schlagwörter wie „self-governing“, „self-maintaining“ „self-management“ und „economic independence“ verdeut­ lichen die Richtung, in welche die neue Demokratie erzogen werden sollte. Diese Fähigkeiten verkörperten aber nicht mehr, wie noch im Liberalismus des 19. Jahr­ hunderts, eine einfache abstrakte politische Idee. Unter dem Einfluss von Indivi­ dual- und Verhaltenspsychologie wurden diese Fähigkeiten mehr und mehr als das Resultat einer ‚rationalen Disposition‘25 aufgefasst, mithin als ein menschli­ ches Vermögen betrachtet, das sich geglückten Anpassungs- und Erziehungspro­ zessen verdankte (Kap. 6.8.). Was die konkreten persönlichen Eigenschaften zu­ künftiger Staatsbürger betraf, so hatten bereits 1911 die Mitglieder der Penal Re­ form League diese auf einen einfachen Nenner gebracht: „self-respect, integrity, initiative, energy, technical skill – these are the requirements of successful citizenship.“26

Character In der politischen Rhetorik Großbritanniens wurde mit dem Begriff des citizen häufig der Begriff des character verbunden. „The strength of a nation does not lie […] in the uniformity of its members, but in the variety and strength of the dif­ ferent characters“,27 formulierte es 1906 die in der COS engagierte Helen Bosan­ quet. Offensichtlich spielte sie dabei sowohl auf das biologische Konzept der Vari­ anz als auch auf die Vorstellung eines leistungsfähigen, rationalen Charakters an. Andrew W. Vincent argumentiert überzeugend, dass die zeitgenössische Berufung auf Charakter zu lange als traditioneller „morally uplifting term“ genommen und dadurch übersehen worden sei, dass seine Bedeutung spätestens nach den unru­ higen 1880er Jahren einen Wandel vollzogen habe: „The competitive demands of social life, the capacity for self-restraint and self-reliance were determined by a mature development of character.“ Mit dem Begriff character sei immer mehr die Vorstellung eines „survival of the most reasonable“28 verbunden worden. Auch José Harris schließt sich dieser Ansicht an: „Hence also the emphasis on ‚charac­ 25 Vgl.

dazu Andrew W. Vincent, The Poor Law Reports of 1909 and the Social Theory of the Charity Organization Society, in: Victorian Studies 28 (1984), S. 343–363, hier S. 353. 26 The Penal Reformer (1911), S. 6; ebd. S. 5: „Adequate training for those who require it and are capable of becoming useful citizens in free life, either under probationary supervision, or in segregation.“ 27 Helen Bosanquet (Ehefrau von Bernard Bosanquet), The Family, London 1906, S. 259. 28 Beide Zitate: Vincent und Plant, Philosophy, Politics and Citizenship, S. 101.

7.1. „The rounded rational citizen“: der politische Diskurs   431

ter‘, which (however grotesquely misapplied at times in day-to-day social work pratice) was meant to act not as a moral means test, but as a stimulus to independ­ ence and political emancipation.“29 Im Kontext der vorliegenden Studie scheint es wichtig festzuhalten, dass die wissenschaftliche Diskussion über die Entwicklung des menschlichen Charakters (als Grundlage menschlichen Verhaltens und Fehlverhaltens) von einem politi­ schen Diskurs über Charakter begleitet wurde.30 Vielleicht war deshalb die wis­ senschaftliche Konzentration auf Charakterforschung gegenüber reiner Intelli­ genzforschung in den 1920er Jahren, wie weiter unten noch genauer ausgeführt werden soll, keine zufällige. Worauf sich der politische Diskurs über Charakter in Großbritannien verständigt hatte, war die Annahme, dass der künftige Staats­ bürger im Grunde mehr Charakter als Intelligenz benötigte. Und die Forschung stimmte dem in gewisser Weise zu. Anders als die angeborene Intelligenz, ein ab­ straktes Vermögen, bot die Formung des Charakters durch Einwirkung äußerer Einflüsse größeren Spielraum: Da der Charakter ausbaufähig war, bot sich hier der Vorteil, dass sich über ihn die Chancen zur geglückten Anpassung an verän­ derte Umstände verbessern ließen. „A man is more purposive, more a product of environment, and less limited by heredity, than any other kind of beast“31 hieß es 1913 in der Sociological Review. Während Intelligenz bestenfalls entdeckt und ­gefördert werden konnte, ließ sich Charakter trainieren und bilden. Diese Vorstel­ lung beeinflusste auch die Gefängnisarbeit der Prison Commission. In den von Ruggles-Brise eingeführten Jugenderziehungsanstalten, borstals, ging es um ein „habit training to correct the minor faults of character“32. Im Unterschied zu rei­ nen Instinkten war eine erworbene Gewohnheit veränderbar, alte Gewohnheiten konnten aufgebrochen und ‚ent-lernt‘, neue antrainiert werden.33 „Education“, so 29 Harris, Political

Thought, S. 141, Hervorhebung S.F.; vgl. auch Jane Lewis, Women and Social Action in Victorian and Edwardian England, Stanford 1991, S. 11: „The language of ‚duty‘ together with that of ‚feeling‘ and of ‚character‘ was central to the social vocabulary of the late 19th century.“ 30 Siehe auch Stuart Hall und Bill Schwarz, State and Society, S. 22: „Its concept [new liberal­ ism, S.F.] of citizenship was uncompromisingly constitutional, but principled in its desire to elevate the citizen as a full member of the political nation and the community, as a moral be­ ing, with duties as well as rights.“ 31 Hugh S. Elliot, The Study of Human Character. A Paper Read Before the Social Psychology Group of the Sociological Society, March 4, 1913, in: The Sociological Review 6 (1913), S. 222–235, hier S. 225. 32 Field, Psychology of Crime (II), S. 248; zum Borstal System aus zeitgenössischer Sicht siehe den Beitrag von Margery Fry (Geschäftsführerin der Howard League for Penal Reform), The Borstal System, in: Radzinowicz et al. (Hrsg.), Penal Reform in England. Introductory Essays on Some Aspects of English Criminal Policy, London 1940, S. 127–151; auch die Zusammen­ fassung in Leslie (Hrsg.), Ruggles-Brise, S. 213–215: „It must be realized that Borstal is never a prison […] Borstal is an educational training school. Liberty is curtailed more severely than at a Public School.“ (Ebd., S. 214). 33 Vgl. Thomson, Instinct, Intelligence and Character, S. 16: „A habit is distinguished from an instinct by being acquired, not inborn. In an instinct, there are ready-made nerve connections which ensure that such and such a response will occur in a certain situation. In a habit, the nerve connections have to be made by exercise and satisfaction.“

432   7. Adjusting to democracy: Wissenschaft und Zivilgesellschaft vor allem die Auffassung von Psychologen, „means redirecting behaviour along new channels.34. Auf dieser Grundlage widmete der Prison Commissioner Alex­ ander Paterson dem Ausbau des borstal-Systems in den 1920er und 1930er Jahren große Aufmerksamkeit.35 Leonard Hobhouse, Professor für Sozialphilosophie an der LSE und einer der theoretisch anspruchsvollsten Eugenik-Kritiker,36 verwies in seinem Buch Liberalism von 1911 auf die Entstehungsbedingungen von character: „[T]o try to form character by coercion is to destroy it in the making.“37 Gerade weil die Herausfor­ derungen einer natürlichen Umwelt und die Reaktionen auf sie für Hobhouse zen­ trale Faktoren in der menschlichen Entwicklung waren, kam alles darauf an, für dieses freie Wechselspiel die günstigsten Bedingungen zu schaffen. Die Übertra­ gung dieses Gedankens auf die Diskussion über staatliche Strafzwecke fiel 1929 Ar­ chibald Fenner Brockway nicht schwer. Er erinnerte nicht nur daran, dass Charak­ ter nicht in einer ‚Atmosphäre der Unterdrückung‘ wachsen könne.38 Brockway verwies auf eine noch viel wichtigere Grundvoraussetzung gesellschaftlichen Zu­ sammenlebens: Wenn eine Gesellschaft nach dem Charakter derjenigen Individuen beurteilt werde, die sie zusammensetzten, dann müsse der Erziehung und Bildung solcher ‚Charaktere‘ oder politischen Subjekte oberste Priorität ein­geräumt werden: „Deterrence does not improve character. A community which relies on the method of fear degrades itself. It is the method of terrorism, the weapon of the bully.“39 Im Kontext der politischen Charakterbildung gewannen pädagogische Fragen auch in der Gefängnisarbeit stark an Bedeutung. „The teacher’s ultimate concern is to cultivate“, so betonte der Penal Reformer 1920, „not wealth of muscle, nor full­ ness of knowledge, nor refinement of feeling, but strength and purity of character.“40 Mehr als einmal thematisierte und kritisierte dieses Journal „our methods of culti­ vating character.“41 Mit großem Interesse verfolgten Gefängnisreformer deshalb den Besuch Maria Montessoris in England, weil ihnen die Bedeutung einer wissen­ schaftlichen Pädagogik für ein „training for citizenship“42 bewusst war: „Freedom, 34 Thomson,

Instinct, Intelligence, S. 25. dazu Alexander Paterson, Paterson on Prisons. Being the Collected Papers of Sir Alex­ ander Paterson, hrsg. von S.K. Ruck, London 1951; siehe auch das Kapitel The Borstal System in: Leslie, Ruggles-Brise, S. 213–215, darin Paterson: „At the heart of the system is the recog­ nition of the individuality of each lad. They are not the raw recruits of a conscript army, to be arranged neatly in rows according to their physical stature, to be swung rhythmically in a mass across the parade ground to the beat of a drum. Each is a different and a difficult prob­ lem.“ (Ebd. S. 214). 36 Zu Hobhouse siehe Stefan Collini, Liberalism and Sociology. L.T. Hobhouse and Political Argument in England, 1880–1914, Cambridge 1983. 37 Hobhouse, Liberalism (1911), hier zit. nach Stefan Collini, Hobhouse, Bosanquet and the State: Philosophical Idealism and Political Argument in England, 1880–1918, in: Past and Present 72 (1976), S. 86–111, hier S. 96. 38 Brockway, New Ways with Crime, S. 21. 39 Ebd. 40 The Penal Reformer (1920), S. 99. 41 The Penal Reformer (1918), S. 24. 42 Hermann Mannheim, The Dilemma of Penal Reform, London 1939, S. 28. 35 Siehe

7.1. „The rounded rational citizen“: der politische Diskurs   433

in Dr. Montessori’s view, is not reached by happy-go-­lucky-methods, but by scien­ tific study of the needs of the child […] Dr. Montessori not modified but revolu­ tionised […] education.“43 Über ihren Besuch in England hieß es schließlich: „Mr. Homer Lane and Dr. Montessori (who has spent the autumn in training English teachers in her well-known methods) are alike in this, from the very earliest years they train children as free citizens, for liberty by liberty.“44 Während Gefängnisreformer die Möglichkeiten von Strafanstalten als Bil­ dungs- und Schulungsstätten für neue Staatsbürger überschätzen mochten, hiel­ ten linksliberale und sozialistische Kräfte stärker an einer Kriminalitätsprävention fest, die vor allem auf die Veränderung sozialer Lebensbedingungen abzielte. Da­ bei zeigte sich allerdings, dass die Verbesserung der Lebensqualität von einer Ver­ besserung der Bildungschancen nicht zu trennen war. Auf geradezu exemplari­ sche Weise verband der aus Deutschland emigrierte Hermann Mannheim 1939 in seiner LSE-Vorlesung, die vor allem von zukünftigen Sozialarbeitern besucht wurde, die Fähigkeit zu Gesetzestreue und sozialverträglichem Verhalten nicht nur mit freiheitlichen politischen Verhältnissen, sondern mit der Anhebung von Lebensqualität und Bildungschancen: „To expect from a penal system that it should by itself create law-abiding citizens can only be regarded as a grotesque over-estimation of its powers. Such a spirit of law-abidingness cannot be estab­ lished by force – it can only be secured by improving the standards of living and of education, and by the setting of a good example.“45

Zum Einfluss der Oxford-Idealisten Martin Wiener und David Garland begründen die Medikalisierung des englischen penal complex u. a. mit einem Generationenwechsel im civil service. Für Garland zählen Prison Commissioner wie Sir Evelyn Ruggles-Brise zu jener neuen Beam­ tengeneration, die sich, die eigene Karriere vor Augen, nüchtern an den Standards naturwissenschaftlicher Effizienz orientiert und sich deshalb gegenüber neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen besonders aufgeschlossen gezeigt hätten. Tat­ sächlich war es Ruggles-Brises’ Anliegen, die Prison Commission zu einer effizi­ enten Verwaltungsstelle auszubauen. Richtig ist sicher auch, dass die meisten in Oxford ausgebildeten Beamten, die in der Regel kein naturwissenschaftliches Stu­ dium absolviert hatten, mit Hilfe statistischer Erhebungen und der Förderung wissenschaftlicher Projekte in den Gefängnissen der eigenen Arbeit den Anstrich 43 The

Penal Reformer (1918), S. 35; zur „pädagogischen Anthropologie“ und Maria Montes­ sori siehe The Penal Reformer (1914), S. 6 f.; Penal Reformer (1918), S. 25 f.; über ihren Be­ such in England und die von ihr angebotenen Trainingskurse siehe The Penal Reformer (1920), S. 22. 44 The Penal Reform League. Quarterly Record 9 (May 1920), S. 22, Hervorhebung im Origi­ nal; zur pädagogischen Reformbewegung und Homer Lane siehe Kap. 6.13. 45 Mannheim, Dilemma of Penal Reform, S. 19; das Buch ging auf Mannheims Vorlesungen an der London School of Economics im Winterhalbjahr 1938–39 zurück, siehe Carr-Saunders, Vorwort, ebd. S. 8.

434   7. Adjusting to democracy: Wissenschaft und Zivilgesellschaft von Professionalität verleihen wollten. Stärker als in Deutschland musste der civil service in England der Öffentlichkeit Rechenschaft über seine Tätigkeit ablegen. Da Garlands Studie nur die Jahre 1895 bis 1914 umfasst, sind ihm während seiner Recherche die dezidierten Stellungnahmen gegen eugenische Vorstellungen nicht nur von Ruggles-Brise selbst, sondern auch von staatlichen Medizinern wie Hora­ tio Donkin, A.H. Norris oder William Norwood East und sozial engagierten Be­ amten wie Alexander Paterson oder Charles Russell entgangen (Kap. 6.4.). Der Einsatz dieser Männer wurde durch Überzeugungen bestimmt, die sich viel plau­ sibler aus ihrer Biographie und aus bestimmten politischen Einflüssen ihrer Zeit erklären lassen.46 Evelyn Ruggles-Brise gehörte zu jener ersten in Oxford ausge­ bildeten Gruppe von Staatsbeamten, die ganz wesentlich durch die idealistische Philosophie Thomas Hill Greens beeinflusst wurde.47 Thomas Hill Green war für ihn „one of the clearest and profoundest thinkers of the end of last century.“48 Green hatte in seiner stark von Kant und Hegel beeinflussten Philosophie die Zusprechung politischer Rechte mit einer wachsenden moralischen Verbesserung aller Bürger und damit des Staates verbunden: We who were reformers from the beginning always said that the enfranchisement of the people was an end in itself. We said, and we were much derided for saying so, that only citizenship makes the moral man; that only citizenship gives that self respect which is the true basis of respect for others, and without which there is no lasting social order or real morality.49

Wenn Sir Godfrey Lushington, Unterstaatssekretär im Innenministerium, vor dem Gefängnis-Untersuchungsausschuss (Gladstone Committee) 1895 das „crush­ ing of self-respect“50 durch den Gefängnisalltag als wesentliches Reformhindernis des Straftäters angeprangerte,51 oder die Prison Commission 1924 die Wiederher­ 46 Harris, Political

Thought, S. 117–39; Harris legt in ihrem Beitrag eine überzeugende Neuinter­ pretation der Rolle der Oxford-Idealisten im Kontext des entstehenden Wohlfahrtsstaates vor, u. a. durch die Auswertung des International Journal of Ethics, das für viele Jahre das führende Organ einer anglo-amerikanischen „reformist intelligentia“ britischer und amerikanischer Philosophen gewesen sei. Von Mitte der 1890er Jahre bis in die 1930er Jahre hinein wurden in diesem Journal ein kontinuierlicher Strom von Artikeln über die Anwendung der klassischen und modernen idealistischen Philosophie auf zeitgenössische politische, ethische und soziale Wohlfahrt publiziert; zu Thomas Hill Green siehe ders., Lectures on the Principles of Political Obligation. Reprinted from Green’s Philosphical Works, Vol. II. With a Preface by Bernard Bosanquet, London 1960 [Reprint einer Ausgabe von 1941]; Die Lectures wurden 1879 von Green in Oxford gehalten, aber erst nach seinem Tod 1882 veröffentlicht. Zum Kreis der Ox­ ford-Idealisten gehörten auch Bernard Bosanquet (z. B. Philosophical Theory of the State, 1899), David George Ritchie (Darwinismus and Politics, 1889; Principles of State Interference, 1891; Darwin and Hegel, 1893; Natural Rights, 1895), Edward Caird, Master von Balliol zwi­ schen 1893–1907 und der Nachfolger Greens als Whyte’s Professor of Moral Philosophy, Wil­ liam Wallace, und schließlich auch Arnold Toynbee, Fellow of Balliol von 1878–1883. 47 Vgl. auch dazu Radzinowisz und Hood, Emergence of Penal Policy, S. 598. 48 Ruggles Brise, Prison Reform, S. 193; siehe dazu auch Bailey, English Prisons, Penal Culture, S. 313. 49 Thomas Hill Green, hier zit. nach Vicent und Plant, Philosophy, Politics and Citzenship, S. 1, Hervorhebung S.F.; die wichtigsten Passagen für den vorliegenden Kontext befinden sich in Green, Lectures, die Paragraphen §§ 176–206 (Kap. L.: The Right of the State to Punish). 50 Gladstone Report, S. 8. 51 Lushington wird auch lobend erwähnt in Carpenter, Prisons, Police and Punishment, S. 18.

7.1. „The rounded rational citizen“: der politische Diskurs   435

stellung von „self-respect“ des Strafgefangenen als ein wesentliches Ziel der ­Gefängnisarbeit postulierte, dann offenbarte sich darin, wie weit die Rhetorik der Oxford-Idealisten in politischen und administrativen Zirkeln Fuß gefasst hatte. Die Idealisten, so Vincent und Plant, entwickelten ein neues Staatsverständnis. Dessen Rolle sollte sich nicht mehr auf die Sicherung bloß materieller Wohlfahrt beschränken, sondern seine Interventionen moralisch mit der Verfolgung des „common good“ begründen: „The purpose of the state was to promote the good life of its citizens.“52 In den vergangenen zwanzig Jahren haben britische Historiker darauf aufmerk­ sam gemacht, dass sich der Einfluss der Oxford-Idealisten nicht auf enge akade­ mischer Zirkel beschränkt habe, sondern dass aus dieser Bewegung eine ganze Reihe konkreter sozialpolitischer Projekte hervorgegangen sei.53 Unter dem Ein­ fluss der Idealisten gewann die aktive Sozialarbeit, überhaupt soziales Engage­ ment, an Bedeutung. Besonderes Augenmerk wurde dabei auf solche Institutio­ nen gerichtet, die sich die Integration von Gesellschaftsmitgliedern zur Aufgabe gemacht hatten. In diesem Sinne betonen Vincent und Plant: A political theory which placed such emphasis upon the moral vocation of citizenship and the value of community organized around a common good could not be indifferent to the activities and agencies whereby individuals are integrated into society and given a sense of membership, whether the agencies be political or located in the sphere of voluntary action and charity. […] In this sense Idealism had to be a practical creed, giving a sense of moral purpose to efforts, both political and charitable to transform the lives, and not just the material conditions, of the citi­ zens of the modern state.54

Das wohl wichtigste und einflussreichste praktische Projekt, das auf diese philo­ sophische Bewegung zurückging, war das university settlement movement.55 Die frühesten Gründungen von Sozialzentren setzten im Jahr 1884 in London ein (Aston-Mansfield, Toynbee Hall und Oxford House in Bethnal Green). Diese Zentren boten eine breite Palette von Sozialdiensten an, die von der Bereitstellung von Unterkunft und Verpflegung über die Arbeitsvermittlung bis zum freiwilli­ gem Unterricht (Grundschulwissen und höhere Bildung) durch Mitarbeiter bzw. Studenten der Zentren reichte, die zukünftig im Bildungssektor oder Sozialdienst arbeiten wollten. Der educational psychologist Cyril Burt, der Prison Commissio­ ner Alexander Paterson, Charles Russel und A.H. Norris von der Children’s Bran­ 52 Vincent

und Plant, Philosophy, Politics and Citizenship, S. 2. 53 Vgl. dazu Vincent und Plant, Philosophy, Politics and Citizenship, S. 3;

sie beziehen sich u. a. auf die Ergebnisse von Martin Pugh, The Making of Modern British Politics, Oxford 1982, und Kenneth Dyson, The State Tradition in Western Europe, Oxford 1980. Auf die Verbin­ dung zwischen Oxford-Idealismus und der Entwicklung britischer Sozialdemokratie kann in diesem Kontext nicht eingegangen werden, siehe dazu Adam Ulam, Philosophical Founda­ tions of English Socialism, Havard 1951; vgl. auch Sandra den Otter, The Search for a ‚Soci­ al Philosophy‘: The Idealists of Late Victorian and Edwardian Britain, Oxford Ph.D. 1990. 54 Vicent und Plant, Philosophy, Politics and Citizenship, S. 3 f., Hervorhebung S.F. 55 Zur englischen Settlementbewegung (die amerikanische ist eng mit Jane Adams und der pro­ gressiven Ära in Chicago verbunden) siehe Seth Koven, Culture and Poverty. The London Settlement House Movement 1870–1914, London 2009; Katherine Bentley Beauman, Women and the Settlement Movement, London 1996; John Allen, Unsettling Cities, London 2000.

436   7. Adjusting to democracy: Wissenschaft und Zivilgesellschaft ch des Innenministeriums und Alexander Carr-Saunders, Direktor der LSE und ein früher Eugenikkritiker, sie alle waren aktiv in dieser settlement-Bewegung in­ volviert (Kap. 6.4., 6.13.). Für die Haltung und Stimmung innerhalb der Prison Commission sprach es wiederum, dass sie mit Alexander Paterson in den frühen 1920er Jahren einen Mann aus der aktiven Sozialarbeit berief und nicht – sagen wir – einen Mann wie Karl Pearson, den Typus eines neuen sachlichen Technokraten, der Staatsbeamte durch Naturwissenschaftler ersetzen wollte, weil letztere seiner Auffassung nach einzig in der Lage waren, objektiv urteilen und entscheiden zu können (Kap. 5.9.). Paterson, so hat Victor Bailey in seiner Arbeit über Jugenddelinquenz gezeigt, war es unter anderem zu verdanken, dass sich verunsicherte magistrates und konser­ vative Abgeordnete, die den rasanten Anstieg von Jugenddelinquenz Anfang der dreißiger Jahre mit einer Verschärfung des Strafrechts und des Strafvollzugs be­ antworten wollten, nicht durchsetzen konnten und statt dessen weiterhin an ei­ nem Reformkurs festgehalten wurde.56 Mit dem Verweis auf die settlement-Bewegung und auf den Einfluss der idealis­ tischen Philosophie Thomas Hill Greens soll in der vorliegenden Studie nicht der Beweis angetreten werden, alle civil-service-Angestellten seien zu ‚Gut-Menschen‘ mutiert. Der Hinweis auf den Einfluss der Oxford-Bewegung dient hier lediglich als Beleg dafür, dass durch die Nähe zum politischen new liberalism, der auf Greens Grundlagen basierte, und durch die persönliche Konfrontation mit kon­ kreten sozialen Problemen die Neigung vieler Beamter erklärt werden kann, die materiellen und sozialen Bedingungen, die menschliches Handeln bestimmten, Milieu und Struktur, nicht aus dem Blick zu verlieren. In vielen Fällen neigten sie einem environmentalism zu, der sich sowohl in vielen wissenschaftliche Konzep­ ten zur Kriminalitätsgenese wiederfinden ließ als auch unter zahlreichen auto­ nomen Sozialreformern anzutreffen war. Für diese Staatsbeamten bedeutete Hills Idealismus57 eine säkulare und zugleich moralische Ausrichtung ihrer eigenen Tätigkeit.58 Der Staat selbst wurde zu einem moralischen Agenten.

7.2. „The man in the street“: der wissenschaftliche Diskurs Welche Rolle aber spielten die verschiedenen Disziplinen, die sich in den Krimi­ nalitätsdiskursen zu Wort meldeten, im Prozess eines adjusting to democracy? Welchen Einfluss hatten ihre Erkenntnisse auf dieses politische Programm? Wenn 56 Bailey,

Delinquency, S. 197–227. Entwicklung der Idealisten und ihren deutschen Wurzeln siehe z. B. René Wellek, Imma­ nuel Kant in England, Princeton 1932; Peter Robbins, The British Hegelians 1875–1925, Lon­ don 1982; kritisch zu Greens Vorstellung eines ‚autonomen Subjekts‘: Rylance, Victorian Psy­ chology, S. 315–322. 58 Vgl. Harrison, Philanthropy and the Victorians, S. 237: „T.H. Green’s high-minded altruism involved continuity with earlier generations in seriousness, but an increasingly secularized quest for salvation.“ 57 Zur

7.2. „The man in the street“: der wissenschaftliche Diskurs   437

das politische Bestreben der Zeit spätestens mit der dritten Wahlrechtsreform von 1884 tatsächlich in der langfristigen politischen Integration einer wachsenden Wählergemeinschaft lag, Arbeiter und Frauen inklusive, dann war damit die zen­ trale Frage verbunden, unter welchen Umständen und mit welchen Mitteln sich der rounded rational citizen ‚herstellen‘ ließ, welche Voraussetzungen gegeben sein mussten, um einen solchen aktiven, mündigen und verantwortungsbereiten Bür­ ger zu ermöglichen und – negativ gewendet – in welchen Bedingungen die Ur­ sachen für unsoziales und deviantes Verhalten gesucht werden mussten. Vieles deutet darauf hin, dass dem wissenschaftlichen Wissen die Aufgabe zu­ kam, genau auf diese Fragen eine Antwort zu finden. Es sollte nicht nur darüber aufklären, auf welche Weise die Schaffung eines für die Massendemokratie sozial­ verträglichen vernünftigen Bürgers möglich war, wie er ‚fit‘ gemacht werden konnte für seine Staatsbürgerschaft, es sollte darüber hinaus vor allem möglichst gründliche Angaben darüber liefern, welche Bedingungen ihn verhinderten und wie in einem solchen Fall ein erfolgreich korrigierendes, staatliches Eingreifen aussehen sollte. Der politisch verhandelte Anpassungsprozess spiegelte sich in der Entwicklung von biologischen, anthropologischen und sozialpsychologischen Anpassungskonzepten in den Wissenschaften wider.59 Besonders drei Schwer­ punkte in den hier untersuchten britischen Forschungsbereichen sprechen für diesen Zusammenhang: erstens die prominente Stellung des environmentalism in nahezu jedem wissenschaftlichen Ansatz; zweitens die Verschiebung des For­ schungsinteresses von reiner Intelligenzforschung zur Entwicklung eines komple­ xes Konzeptes des menschlichen Charakters, der entwickelt und geschult werden konnte; und schließlich drittens die Entwicklung der englischen Anthropologie zur Sozialpsychologie mit ihrer besonderen Betonung des social instinct unter Beibehaltung der Möglichkeit freier Willensäußerungen, die durch den mensch­ lichen Charakter garantiert werden konnte und den Bürger als rechtsverantwort­ liches Subjekt aufrechterhielt.

Environmentalism Die Statistiker und die Sozialreformer der „Pre-Lombrosian era“60 hatten keinen Zweifel daran, dass sie wirkliches Wissen über Kriminalität und über Kriminelle produzierten und durch ihre akribischen Untersuchungen zur Aufschlüsselung menschlichen Fehlverhaltens beitrugen. Das statistische Verfahren als Werkzeug sozialer Evaluation wurde als großer Fortschritt gefeiert, und es entwickelte sich zunächst ein allgemeines Vertrauen in Zahlen, das, wie es Theodore Porter ausge­ drückt hat, eine ‚Kultur der Objektivität‘ begründete.61 Dass die eigenen Voran­

59 Vgl.

dazu Henry Harris, Mental Deficiency and Maladjustment, in: The British Journal of Medical Psychology (1928), S. 285–315. 60 Levin und Lindesmith, English Ecology, S. 801. 61 Vgl. Theodore M. Porter, Statistics, Social Science, and the Culture of Objectivity, in: Öster­ reichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 7 (1996), S. 177–191.

438   7. Adjusting to democracy: Wissenschaft und Zivilgesellschaft nahmen und in vielen Fällen Vorurteile der Statistiker und empirischen Sozialfor­ scher die Ergebnisse beeinflussten, kann nicht bezweifelt werden, aber positivisti­ schen Kriminologen ging es gegen Ende des 19. Jahrhunderts darin nicht anders. Der Übergang zu einer Verwissenschaftlichung der sozialen Lebenswelt kenn­ zeichnete zunächst nichts anderes als das einsetzende Bestreben, Alltagswissen zu quantifizieren und zu systematisieren. Die statistische und empirische Sozialfor­ schung in England wurde aber völlig zu Recht in den 1930er Jahren von amerika­ nische Soziologen als eine „English Ecology and Criminology“62 wieder entdeckt, denn an das, was Statistiker wie Fletcher, Neison oder Porter, oder auch empiri­ sche Sozialforscher wie Mayhew und Booth an relevanten Kriminalitätstheorien entwickelt hatten, ließ sich später soziologisch problemlos anknüpfen (Kap. 2). Schon in diesen frühen Arbeiten wurde ‚Charakterbildung‘ im Kontext einer Interaktion zwischen Mensch und Umwelt betrachtet, mit dem Ergebnis, dass re­ ligionsbasierte, rein moralisch motivierte Besserungsstrategien an Bedeutung ver­ loren. Durch die Berufung auf wissenschaftliche Untersuchungsmethoden, durch das Bestreben, faktengesättigte Deutungskonzepte vorzulegen, überhaupt durch die systematische Erfassung überindividueller sozialer und ökonomischer Fakto­ ren löste sich die Diskussion über Kriminalität – selbst wenn dies gar nicht beab­ sichtigt war, weil es primär um die Entwicklung effizienter Reformen ging – aus dem Kontext bloßer moralischer Zuschreibungen und individuellen Versagens. Der Diskurs über Kriminalität versachlichte sich in den Räumen der wissen­ schaftlichen Auseinandersetzung, auch wenn in anderen Räumen weiterhin eine andere Sprache gesprochen und andere Vorstellungen kultiviert wurden. Das auf diese Weise produzierte soziale Wissen, das am Milieu- und Struktur­ gedanken festhielt, wurde durch die Entwicklung anderer Erklärungstheorien, etwa psychiatrischer oder biologischer, nicht überholt oder beseitigt. Unter den Konjunkturen verschiedener Konzepte trat es nur mitunter in den Hintergrund, um dann wieder unter veränderten politischen Bedingungen erneut hervorzutre­ ten. Die Gruppe der Philanthropen und die ihnen nachfolgenden Sozialreformer trugen in besonderem Maße dazu bei, dass dieses Wissen nicht verloren ging. Neue Anknüpfungspunkte ergaben sich besonders über die Erfahrung des An­ stiegs der Jugendkriminalität in ökonomischen Krisensituationen wie dem Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise (Kap. 6.4.). Kompatibel erwiesen sich ­soziologische Theorien darüber hinaus mit politischen Interpretationen, wie sie Archibald Fenner Brockway 1929 auf den Nenner brachte: „Society is the supercriminal.“63 Als anschlussfähig erwiesen sich soziologische Theorien auch an be­ 62 Levin

und Lindesmith, English Ecology, 801; die beiden amerikanischen Soziologen veröf­ fentlichten im gleichen Jahr einen Artikel über Lombroso, siehe Yale Levin und Alfred Lindesmith, The Lombrosian Myth in Criminology, in: American Journal of Sociology 42 (1937), S. 653–671. 63 Archibald Fenner Brockway, A New Way with Crime, London 1928, S. 11; äußerst reizvoll, aber den Rahmen dieser Arbeit sprengend, wäre es, in diesem Kontext die dritte Gruppe eng­ lischer Anthropologen zu untersuchen, die Henrika Kuklick als Funktionalisten bezeichnet hat. Diese jüngere Generation britischer Anthropologen, zu denen A.R. Radcliffe-Brown,

7.2. „The man in the street“: der wissenschaftliche Diskurs   439

stimmte Entwicklungen in der Psychologie, da es nicht unwahrscheinlich erschien, dass negative äußere Umstände psychischen Stress verursachten, der wiederum zum Auslöser für kriminelles Verhalten werden konnte (modified environmental interpretation). Als der Reformeugeniker und ehemaliger settlementer Alexander Carr-Saunders 1939 als Direktor der London School of Economics berufen wurde,64 hatte sich das Klima in England – ähnlich wie im Roosevelt-Amerika Arthur Finks – für Forschungsprogramme zur Aufklärung von Kriminalität stark zugunsten von so­ ziologischen bzw. sozialstatistischen und psychologischen Untersuchungen ver­ schoben: „We have to bring to bear upon the facts of crime all our ressources of sociological and psychological investigation“,65 erklärte Carr-Saunders 1939 ohne Umschweife in einem Vorwort. Durch eine Konferenz im Home Office angeregt, avancierte Ende der 1930er Jahre die LSE zum Ort eines staatlich finanzierten soziologischen Forschungsprojektes zur Jugendkriminalität, dessen Ergebnisse 1942 vorgestellt wurden.66 Aufgrund des Kriegsausbruchs konnte die geplante psychologische Untersuchung jugendlicher Delinquenten nicht mehr durchge­ führt werden, doch die statistische Auswertung sozialer Daten – verglichen mit einer Kontrollgruppe – knüpfte an bereits bekannte Konzepte an und führte Fak­ toren wie „defective familiy relations“, „broken homes“, „parental neglect“ und „outward circumstances“67 mit große Selbstverständlichkeit auf. Auch in der englischen Psychiatrie ließ sich eine deutliche Entwicklung in Richtung environmentalism beobachten (Kap. 3). Ärzte wie Henry Maudsley oder David Nicolson haben mit wachsendem Nachdruck auf den Einfluss äußerer Fak­ toren auf das menschliche Verhalten hingewiesen: „For assuredly the external fac­ tors and circumstances count for much in the causation of crime […] no crimi­ nal, to my mind, is really explicable except by a full and exact apprehension of his

Evans Prichard und Bronislav Malinowski gehörten, wurde von der Erfahrung der Weltwirt­ schaftskrise und dem Aufstieg faschistischer Systeme geprägt. Ihre Theorien erteilten der Ideologie des ökonomischen Individualismus eine klare Absage und glaubten individuelles Verhalten am besten als Produkt eines „social conditioning“ (Kuklick, Savage within, S. 24) beschreiben zu können. Die Dynamik der individuellen Persönlichkeitsstruktur, für Rivers und Bartlett noch zentraler Bestandteil ihres interaktiven Modells, wurde für die Funktiona­ listen praktisch irrelevant gegenüber den übermächtigen Operationen sozialer Prozesse. 64 Biographische Daten zu Alexander Carr-Saunders (1886–1966) können abgerufen werden unter http://library-2.lse.ac.uk/archives/handlists/CarrSaunders/CarrSaunders.html (15. 08.  2012); im Archiv der British Library of Political and Economic Science befindet sich eine Sammlung von Carr-Saunders Papieren; zu Carr-Saunders als LSE Direktor von 1937–1957 siehe auch Ralf Dahrendorf, A History of the London School of Economics and Political Science, 1895–1995, Oxford 1995, bes. S. 334–340; S. 394–396. 65 Alexander Carr-Saunders, Vorwort zu Hermann Mannheim, The Dilemma of Penal Re­ form, London 1939, S. 9; Carr-Saunders war bis zu seinem Antritt als Direktor an der LSE Charles Booth Professor of Social Science an der Universität Liverpool. 66 Alexander M. Carr-Saunders und Hermann Mannheim und E.C. Rhodes, Young Offenders. An Enquiry into Juvenile Delinquency, Cambridge 1942; der am Projekt beteiligte E.C. Rho­ des war Reader in Statistics. 67 Vgl. Carr-Saunders et al., Young Offenders, Kap. 4: Conclusions, S. 146–159.

440   7. Adjusting to democracy: Wissenschaft und Zivilgesellschaft circumstances and nature and of their mutual interaction.“68 Die meisten, wenn auch nicht alle Gefängnispsychiater übernahmen damit die Einstellung ihrer Kol­ legen aus dem öffentlichen Gesundheitsdienst. Auf die Verbesserung sanitärer und hygienischer Bedingungen, auf die ausreichende Nahrungsversorgung von Kindern im schulpflichtigen Alter setzte vor allem die Gruppe der Medical Health Officers. Auch das Royal College of Surgeons lehnte 1903 vor dem Untersu­ chungsausschuss zur Frage einer möglichen physischen Degeneration britischer Rekruten die Annahme erblich bedingter Degeneration ab. Es handle sich nicht um „a problem of irreversible decadence, but of environmentally-caused deterio­ ration which could be corrected by better food, cleaner air, less crowded housing, more physical exercise and improved medical care.“69 Seit Morel (Kap. 3) waren Umweltfaktoren vor allem mit negativen Auswirkun­ gen auf die körperliche und geistige Verfassung von Menschen in Verbindung ge­ bracht worden. Erst allmählich, unter dem Einfluss von Präventivmedizin, Päda­ gogik und educational psychology, emanzipierte sich der Umweltfaktor von den reinen Pathologien, die er angeblich erzeugte. Zunehmend wurde dem Umwelt­ einfluss jetzt auch eine positive und progressive Rolle zugesprochen. Dies geschah im gleichen Moment, in dem sich in England Psychiater gegen deterministische Verbrecher-Modelle aussprachen. So lehnte David Nicolson in seiner Präsiden­ tenansprache vor der Medico-Psychological Associaton 1895 die Kriminalanthro­ pologie nicht nur ab, weil, wie Neil Davie zu Recht anführt, sie die Arbeit des Psychiaters auf die Vermessung und Klassifizierung von Straftätern beschränkte, sondern weil sie Umstände und Motive des Straftäters nicht angemessen zu er­ fassen vermochte und damit nichts zur Aufklärung seines Charakters beitrug: „Whatever value we may attach, and rightly attach, to heredity as regards the quality of the brain in individuals, there can be no sort of question as to the value and influence of domestic and social environment, and of education and train­ ing, in moulding and forming the character, especially during the more plastic periods of infancy, childhood and youth.“70 Das zukünftige Interesse der engli­ schen Psychiatrie und Psychologie galt dann besonders nach dem Ersten Welt­ krieg zunehmend der Charakterbildung, nicht der Verfeinerung von Methoden zur Intelligenzbestimmung.

Charakter versus Intelligenz Nicht nur Psychiater wie Nicolson waren davon überzeugt, dass Aussagen über den Charakter eines Menschen bei der Beurteilung seines Verhaltens höher veran­ schlagt werden müssten als die bloße Bestimmung des Zustandes seines Gehirns.

68 Maudsley,

Criminal Responsibility (1895), S. 663, Hervorhebung S.F. College of Surgeons, Stellungnahme von 1903, hier zit. nach Richard Soloway, Count­ ing the Degenerates: The Statistics of Race Deterioration in Edwardian England, in: Journal of Contemporary History 17 (1982), S. 137–164, hier S. 143. 70 Nicolson, Crime, Criminals (1895), S. 581, Hervorhebung S.F. 69 Royal

7.2. „The man in the street“: der wissenschaftliche Diskurs   441

Charakter, nicht Intelligenz, war der Schlüssel zum Verhalten eines Menschen, war die Schnittstelle zwischen Außen und Innen, war Produkt ihres Wechselspiels, war das Ergebnis der Lebensgeschichte eines Individuums, war etwas, wie es Tho­ mas Hill Green formuliert hatte, „which has a history in the life of the individual, something that is slowly built up in the course of moral training and under the influence of the social environment.“71 Charakter, so die zeitgenössische An­ nahme, ließ sich herstellen, Intelligenz nicht. Die Wissenschaften lieferten nicht zufällig, so scheint es, Charakter-Modelle, die die Formbarkeit, Erziehbarkeit, ­Beeinflussbarkeit des Charakters betonten (Kap. 6.5.). Die Frage der generellen Abhängigkeit aller geistigen Prozesse von organischen Grundlagen musste dabei nicht berührt werden: „The foundation of character, it is true, rests upon certain innate tendencies“, erklärte 1923 Cyril Burt. Er knüpfte zwar die ‚inneren Tenden­ zen‘ an physiologische Prozesse, bestand aber zugleich darauf: „[C]haracter itself is not innate.“72 Modelle eines flexiblen, bild- und trainierbaren menschlichen Charakters besa­ ßen für die politische Debatte über die Herstellung des rounded rational citizen und die Integration ungeschulter oder nur schlecht geschulter Unterschichten große Relevanz. Die volle Ausübung einer citizenship setzte bestimmte mensch­ liche Vermögen und Fähigkeiten voraus: „Each member of a free community […] must be capable of citizenship“, hatte James Bryce, Präsident der britischen Socio­ logical Society, während eines Vortrages an der Yale Universität betont und ausge­ führt: „Capacity involves three qualities – Intelligence, Self-Control, Conscience,“73 wobei Bewusstsein hier – ganz im Sinne der Terminologie Thomas Hill Greens – mit Charakter übersetzt werden konnte.74 Ein Kollege von Cyril Burt, der educational psychologist Bernard Thomson, griff dieses Zitat in seinem 1924 erschienen Buch über Instinct, Intelligence and Character auf, um nicht nur an der deterministischen Intelligenzforschung Charles Spearmans Kritik zu üben, sondern an den Stand der Forschung in Bezug auf Intelligenz und Charakter zu erinnern: Self-control and even conscience seem much more modifiable by the influence of education than is intelligence, even though the latter may not be entirely unchangeable. A certain type of character can almost be guaranteed by a school if it has its pupils long enough, but not a level of intelligence […] education should look more and more ahead, both in cultivating intelligence and in creating character. For the latter can be created, while intelligence, it would seem, is much more a matter of heredity. [...] [T]he task of the school is rather: […] Intelligence guidance and character training.75

71 Thomas

Hill Green, hier in McDougalls Worten wiedergegeben, ders., Social Psychology, S. 329. 72 Burt, Mental Defect II (1923), S. 170. 73 James Bryce, Vortrag an der Yale University, hier zit. nach Thomson, Instinct, Intelligence and Character, S. 277. 74 „Green tells us that by the true self he means the character of man; he uses also the term ‚conscience‘ to convey the same notion“, McDougall, Social Psychology, S. 329, Hervorhe­ bung S.F. 75 Thomson, Instinct, Intelligence and Character, S. 277, Hervorhebung im Original.

442   7. Adjusting to democracy: Wissenschaft und Zivilgesellschaft Der bildbare Charakter war, auch in seiner Funktion als Vermittler zwischen Mensch und Umwelt und als Produkt von Innen und Außen,76 für die erfolgreiche Triebunterdrückung entscheidend. Die erfolgreiche Triebunterdrückung wurde mit einer erfolgreichen Sozialanpassung in Verbinung gebracht, von der wiederum eine Abnahme abweichenden und delinquenten Verhaltens erwartet wurde. Wie intelligent ein Individuum war, spielte mit Blick auf seine Integrationsfähigkeit nur eine untergeordnete Rolle. Wichtiger war es, ob dieses Individuum als sozial­ verträglich eingestuft werden konnte. Darauf machte der Medical Prison Commis­ sioner William Norwood East 1927 in der Diskussion über die Reform des Mental Deficiency Act aufmerksam: „[T]he ultimate criterion of mental deficiency is the capacity for social adaptability and not any more or less conventional standard of educational attainment.“77 Erwies sich ein Individuum als sozialkompetent, dann störte es nicht, wenn es nicht besonders intelligent war. Funktionierte seine soziale Anpassung, dann sollte es in jedem Fall in der Gemeinde belassen werden. Der Gefängnispsychiater East verteidigte hier eindeutig die juristische Konzeption, wo­ nach feeblemindedness oder mental defectiveness als „mental inadequacy for social life“ definiert wurde, während sich einige psychologische Konzepte davon unter­ schieden, in dem sie eher technisch diese mentale Schwäche als „inability to reach a given intellectual standard“ bestimmten.78 Die bevorzugte Ausrichtung am juristischen Konzept war Ende der 1920er Jah­ re in England Programm. Sie begründete den allgemeinen Trend zur einer ‚EntInstitutionalisierung‘, die die Betreuung von geistig schwachen oder behinderten Menschen in den Kommunen und durch die Familien vor Ort favorisierte (Kap. 6.3., 6.12.), wie Mathew Thomson es in seiner Arbeit über die Geschichte der mental deficiency gezeigt hat.79 Die shell-shock-Erfahrungen und die damit 76 Vgl.

zu dieser Auffassung z. B. Henry Jones, Professor für Moralphilosophie in Glasgow und als Nachfolger Greens einer der führenden Repräsentanten der britischen Idealisten: „[W]hat we call character from one point of view, we call environment from another […] (A man’s) self, or character, and his world have grown together, and […] they are not merely counter­ parts of each other, but the same thing looked at in different ways.“ Henry Jones, The Work­ ing Faith of the Social Reformer and Other Essays, London 1910, S. 48 und S. 50, Hervor­ hebung S.F. 77 William Norwood East, Forensic Psychiatry, London 1927, hier zit. nach der Buchbespre­ chung in The Journal of Mental Science 73 (1927), S. 645, Hervorhebung S.F. 78 Beide Zitate aus der Besprechung des Buches von S.P. Davies, Social Control of the Mentally Deficient (London 1930) in Mind 40 (1931), S. 388–390. 79 Siehe dazu Thomson, Mental Deficiency; ders., Sterilisation, Segregation and Community Care: Ideology and Solutions to the Problems of Mental Deficiency in Inter-War Britain, in: History of Psychiatry 3 (1997), S. 473–498; auch in Bezug auf delinquente Kinder hatte sich das Children and Young Persons Act von 1933 der Argumentation von magistrates, Bewäh­ rungshelfern, Mitarbeitern der Children’s Branch des britischen Innenministeriums und den Mitgliedern verschiedener Kinderwohlfahrtsverbände angeschlossen und erklärt, eine Institu­ tionalisierung delinquenter Kinder nur als „last resort“ zu betrachten, am effektivsten scheine die „supervision“ durch die eigene Familie, siehe dazu Rose, Psychological Complex, S. 169; bei der Ent-Institutionalisierung spielte sicher auch die finanzielle Entlastung des Staates eine Rolle, siehe dazu Mark Jackson, The Borderland of Imbecility: Medicine, Society, and the Fabrication of the Feeble Mind in Late Victorian and Edwardian England, Manchester 2000.

7.2. „The man in the street“: der wissenschaftliche Diskurs   443

verbundene Schaffung von ambulanten Tageskliniken für psychisch Kranke schuf in der Öffentlichkeit nicht nur größere Toleranz, sondern löste auch in der Psych­ iatrie selbst ein Umdenken aus (Kap. 6.3.). Gerade der gesellschaftliche Umgang mit den Schwächeren galt als Indikator für die Qualität des Gemeinwesens. Stell­ vertretend für seine Zunft erklärte Henry Harris: „The proportion of subnormals which a society is capable of using in the community might well be considered an index of the quality of that society, and is dependent on its ability to develop a ­social technique for handling maladjustment.“80 Der Trend, maladjustment zu korrigieren, um soziale Anpassung zu erreichen, hatte sich in Bezug auf Straftäter durch die Einführung alternativer Strafformen seit 1907/08 abgezeichnet. Dazu zählten die Betreuung durch Bewährungshelfer, der Ausbau spezieller Erziehungs­ heime für jugendliche Delinquenten (borstals) und selbst noch, wenn auch um­ stritten, die Sicherungsverwahrung im Reformgefängnis Camp Hill auf der Isle of Wight (Kap. 3.8.). Anders als bei geistig kranken oder defizitären Personen hatte sich bei der großen Mehrzahl der Straftäter – dazu hatten die wissenschaftlichen Diskussionen über Kriminalität und Krankheit und die wachsende Ablehnung ­ihrer Gleichsetzung beigetragen – nie ernsthaft die Frage gestellt, ob ihr aktive Staatsbürgerschaft und politische Partizipation überhaupt zugetraut werden konnten. Straftäter wurden gerade nicht durch eine medizinische Indikation ent­ mündigt. Im Gegenteil: Ihre Rechtsverantwortlichkeit und Staatsbürgerbefähi­ gung sollten – nicht zuletzt durch Nachschulung und Therapien – befördert wer­ den. Dass der bloße Mangel an Intelligenz als ausschlaggebendes Kriterium in der Kriminalitätsgenese immer mehr an Bedeutung verlor, verdeutlichten zwei Ent­ wicklungen. Zunächst hätte man erwarten können, dass die Beschäftigung mit den Binet-Simon-Tests die Wertschätzung menschlicher Intelligenz hätte steigern müssen. Tatsächlich war dies aber nicht der Fall. Intelligenztests waren willkom­ mene Hilfsmittel zur Klassifizierung von Schulkindern oder Strafgefangenen, wenn es darum ging, die Zuweisung in bestimmte Schul- oder Gefängnissysteme vorzunehmen. Aber die Feststellung der Intelligenz und ihrer möglichen Defizite allein klärte nicht die Frage sozialer Anpassungsfähigkeit, auf die es gesellschafts­ politisch ankam. Psychologen waren den Nachweis schuldig geblieben, ob tat­ sächlich erstens ein niedriger Intelligenzquotient „a constant feature of mental inadequacy for social life“ darstellte, und zweitens „that the degrees of the IQ correlates uniformerly with the degrees of social incompetence.“81 Ebenso auffällig war, dass es im Zuge der Beschäftigung mit Intelligenztests zu einem deutlichen Herunterkorrigieren der Zahlen geistig defizitärer Straftäter in den Gefängnissen kam, woran selbstverständlich auch die Gefängnisverwaltungen und die Prison Commission ein großes Interesse hatten, um sich gegen den Vor­ wurf des Gefängnisses als einer psychisch krankmachenden Institution zur Wehr zu setzen. Statt der teilweise vor dem Krieg ins Spiel gebrachten 18 bis 20 Prozent 80 Harris, 81 Hier

Mental Deficiency, S. 312, Hervorhebung S.F. der kritische Einwand von T.E. Jessop in: Mind 40 (1931), S. 389.

444   7. Adjusting to democracy: Wissenschaft und Zivilgesellschaft war nach dem Krieg nur noch von maximal 3 bis 5 Prozent geistig defekter bzw. defizitärer Strafgefangener in englischen Gefängnissen die Rede (Kap. 6.8.). Nichts demonstrierte die ‚Ent-Medikalisierung‘ des Straftäters deutlicher als diese Kor­ rekturen, denn sie bedeuteten, dass von den verbliebenen 95% und mehr Ge­ fängnisinsassen angenommen werden musste, dass es sich um gewöhnliche, mit durchschnittlicher Intelligenz ausgestattete Menschen handelte. Genau zu diesem Ergebnis kamen dann auch die beiden Gefängnisärzte Hugh A. Griersom und C.H.L. Rixon, die im Gefängnis von Brixton die Intelligenz von Straftätern ge­ testet hatten: „The view that a man who takes to crime is, by that fact, to be ad­ judged intellectually inferior to the righteous receives no support from these fig­ ures. On the contrary they confirm the view generally held by those who have had experience of the criminal, that his intelligence is in no way below that of the ‚man in the street.‘ He is ‚the man in the street.‘“82 Wissenschaftler näherten sich durch das Herunterkorrigieren der Zahlen geis­ tig defizitärer Strafgefangener dem politischen Diskurs an, der spätestens seit dem Gladstone Report von 1895 davon ausging, dass es keinen prinzipiellen Unter­ schied zwischen Kriminellen und normalen Bürgern gab (Kap. 3.8.). Das wissen­ schaftliche Gewicht nicht ausschließlich auf Intelligenz und damit auf das Fehlen von Intelligenz in Form der viel diskutierten mental deficiency zu legen, bot wis­ senschaftlich und politisch die Chance, den Straftäter zu ‚normalisieren‘ und da­ mit weiterhin an sein Verhalten Ansprüche und Erwartungen zu richten. Norma­ lisierung meinte hier nicht primär – im Sinne Foucaults – die durch Zwang er­ reichte (möglicherweise bereits verinnerlichte, d. h. dann freiwillig ausgeführte) Sozialdisziplinierung und Anpassung an eine Norm, die von den Humanwissen­ schaften vorgegeben wurde, sondern die Schaffung der Möglichkeit, auch Straftä­ tern zugleich Rechte und Verantwortung zusprechen zu können. Gestraft wurde weiterhin nicht aufgrund der Natur des Straftäters, die zu kennen die Humanwis­ senschaften vorgaben, sondern aufgrund seiner ihm politisch zugesprochenen Freiheit, sich – trotz der Existenz von Instinkten und Emotionen – entscheiden zu können. In der Bestrafung wurde der Täter als ein mit durchschnittlicher Ver­ nunft begabtes und mit verbürgten Rechten ausgestattetes Gesellschaftsmitglied ernst genommen. Dieser Auffassung konsequent verpflichtet ermahnte 1913 des­ halb auch der Geschäftsführer der Penal Reform League, Arthur St. John in der Sociological Review: „It is both humiliating and demoralizing for any class of per­ sons to be looked upon as irresponsible.“83 Und rund zwanzig Jahre nach ihm befand auch der inzwischen pensionierte Gefängnispsychiater und Vizepräsident der Howard League, Maurice Hamblin Smith, in seinem Buch über Prisons and a Changing Civilisation, dass die Annahme von Kriminellen als einer distinkten, mit 82 Hugh

A. Griersom und C.H.L. Rixon (Medical Officers, H.M. Prison, Brixton), The Intelli­ gence of Criminals, in: The Lancet, 7. August 1926, S. 277, Hervorhebung S.F. 83 Das Zitat stammt aus dem Buch „Citizens Made and Remade: An Interpretation of the Sig­ nificance and Influence of the George Junior Republic“ by William R. George and Lyman Beecher Stowe, London u. a. 1913, S. 169, zit. in der Besprechung von Arthur St. John, in: The Sociological Review 6 (1913), S. 277.

7.2. „The man in the street“: der wissenschaftliche Diskurs   445

bestimmten negativen Merkmalen und minderer Intelligenz ausgestatteten Klasse viel zu lange eine „misconception“ gewesen sei: „The most striking characteristic of prisoners is the resemblance which they bear to ordinary men and women […] they are moved by similar motives. They are, in short, just ordinary men and women.“84 Wie ein Diskurs aussehen konnte, der Intelligenz als wesentliches Kriterium von civic worth betrachtete, demonstrierte der Eugenikdiskurs (Kap. 4). Auch der Eugenischen Gesellschaft ging es um die Frage, welche Bürger für die politischen und sozialen Herausforderungen des neuen Zeitalters am besten geeignet waren und welche nicht. Schon Havelock Ellis hatte die zentrale Frage 1890 in seinem an Lombrosos Theorien orientierten Buch The Criminal so formuliert: „We must know what are those stocks that are unlikely to produce the worthy citizen of the furture […] in an epoch of stress, and of much change and readjustment in the social surroundings and relations of individuals, ill-balanced natures become more frequent, and the anti-social and unlawful instincts are more often called out than in a stagnant society.“85 Das eugenische Bürgerideal, das legten schon Galtons Forschungen nahe, be­ rief sich vor allem auf Intelligenz. Intelligenz war das Schlüsselkriterium in der eugenischen Ideologie von Verdienst. Der Historiker Michael Young hat diese Be­ ziehung auf eine griffige Formel gebracht: „IQ + Effort = Merit“.86 Mit Intelligenz aber kam um die Jahrhundertwende ein Kriterium ins Spiel, das viele ausschloss, weil sie − so jedenfalls die zeitgenössische Auffassung − als nicht herstellbar oder beeinflussbar galt. Während das sozialpolitische Programm der Eugeniker aus diesem Grund auf Ausgrenzung, Separierung und Segregation minderbemittelter Individuen setzte, konzentrierten sich die Environmentalisten auf ein „re-attach­ ment of marginal or disaffected groups to the social order.“87 Während Eugeniker versuchten, über Ausgrenzung und Exklusion Kontrolle auszuüben, setzten die Environmentalisten auf Integration in der Hoffnung, dass letztlich alle Gesell­ schaftsmitglieder zur Sozialverträglichkeit und Selbstkontrolle erzogen werden könnten. Auch der Civil Service, allen voran die Prison Commission, hat sich auf die Überbewertung menschlicher Intelligenz als Kriterium für sozialpolitische Maß­ nahmen nicht eingelassen.88 Sie hielten sowohl die Kriminalanthropologie Lom­ brososcher Prägung als auch die heimische Eugenik entschieden auf Distanz. De­ terminismus und eine Sozialreform, der es um die Herstellung des rounded ratio84 Maurice

Hamblin Smith, Prisons and a Changing Civilisation, London 1934, S. viii–ix. The Criminal (1890), S. xii und S. 371, Hervorhebung S.F. 86 Michael Young, The Rise of the Meritocracy 1870–1933, London 1961, hier zit. nach Robert Peel, Editor’s Introduction, in: The Galton Institute (Hrsg.), Essays in the History of Eugen­ ics, London 1998, S. xii. 87 So auch die Einschätzung von Richardson, Love and Eugenics, S. 10, Anm. 33; MacKenzie, Statistical Theory and Social Interest, S. 50. 88 Siehe William Norwood East in The Eugenics Review (1929), S. 172, wo er die Beziehung zwischen Crime and Heredity als nicht überzeugend bezeichnet und sich unter Berufung auf Healy „unimpressed by pedigrees“ zeigt. 85 Ellis,

446   7. Adjusting to democracy: Wissenschaft und Zivilgesellschaft nal citizen ging, schlossen sich im Grunde aus. In seinem 1937 erschienenen Buch Crime and the Community beschrieb der Assistant Prison Commissioner Leo Page das Ankämpfen gegen deterministische Modelle als bewusste Entscheidung der Sozial- und Gefängnisreformer: „It is necessary that the last cruel implications of this theory [Lombroso’s, S.F.] should be swept away. So long as traces of it remain so long will the public be inclined to look upon the proposals of prison reformers as the impracticable suggestions of mere visionaries.“89 Dass die englische Eugenik am Ende nichts anderes bedeutete als eine wissen­ schaftlich eingekleidete Absage an die Verbesserungen von Milieus, haben Wis­ senschaftler und Sozialisten wie Lancelot Hogben, Professor für Sozialbiologie an der LSE, sarkastisch angemerkt. In seinem 1938 publizierten Buch Science for the Citizen erläuterte er: „Galton’s plea for a science of eugenics […] bore fruit in a movement for obstructing the general enlightenment of mankind. Eugenics be­ came identified with a system of ingenious excuses for combating the ameliora­ tion of working-class conditions.“90 Leonard Darwins Werk The Need for Eugenic Reform von 1926 gab Hogben Anlass zu einem weiteren Verdacht: „[T]hat eu­ genic propaganda has been motivated less by a disinterested concern for the ad­ vancement and application of scientific knowledge than by the resentment of a certain section of the privileged class towards the disconcerting results of compe­ tition arising out of the extension of educational opportunities.“91 Wachsende Bildung der unteren Schichten, zu der auch Hogbens eigenes Buch beitragen soll­ te, wurde von Eugenikern eher als Bedrohung im Kampf um begehrte Stellen auf dem Arbeitsmarkt wahrgenommen. Während sie durch die verbesserten Bil­ dungschancen auch in den unteren Schichten den Verlust von Distinktionsmerk­ malen befürchteten, setzte Hogben auf die emanzipatorische Kraft von Bildung und sah sich als Wissenschaftler und Bürger dabei in die Pflicht genommen.

Sozialpsychologie und freier Wille Kein am Kriminalitätsdiskurs beteiligter britischer Forscher hat die Existenz des Sozialtriebes in Frage gestellt, uneins waren sie sich lediglich über das Ausmaß und die Richtung seiner Funktionen. Das Konzept des social instinct war neben dem biologischen der Variation dasjenige, das am stärksten zur angestrebten Inte­ grationspolitik nach der Jahrhundertwende passte. (Kap. 6.8.) In England erreich­ te das Konzept möglicherweise eine solche Prominenz, weil es im Grunde ein bio­ logisches Modell für ein politisches Programm bereitstellte: Es unterstrich die Annahme, dass es ein menschliches Anliegen sei, in eine Gemeinschaft integriert zu werden und um dieser Integration willen auch die Unterdrückung egoistische

89 Leo

Page, Crime and the Community, London 1937, S. 90. 90 Lancelot Hogben, Science for the Citizen. A Self-Educator

based on the Social Background of Scientific Discovery (1. Aufl. 1938), London 21942, S. 1054. Das Buch ist Harold Laski gewidmet. 91 Hogben, Science for the Citizen, S. 1055.

7.2. „The man in the street“: der wissenschaftliche Diskurs   447

Triebe in Kauf zu nehmen. Selbst Imperialisten und Nationalisten wie Karl Pear­ son konnten an den politischen Zusammenhang von ‚Stammesbewusstsein‘ und ‚Privatinteressen‘ vor dem Hintergrund wachsender internationaler Konkurrenz anknüpfen. Bereits 1892 stand für ihn fest, „that the tribal conscience ought for the sake of social welfare to be stronger than private interest, and that the ideal citizen, if he existed, would form a judgement free from personal bias.“92 Doch auch mit den liberalen politischen Vorstellungen eines rounded rational citizen ließen sich die biologischen Bestimmungen eines Sozialinstinktes oder -triebes verbinden. Gedacht wurde dabei an einen Bürger, der durch einen aus­ geprägten Sozialinstinkt zur Triebkontrolle fähig war und dadurch die Interessen des Gemeinwohls über die eigenen (Privat-)Interessen zu stellen vermochte. Inner­halb der sozialpsychologischen Debatten über Kriminalität lag es nahe, bei anti-sozialem Verhalten einen defekten, fehlenden oder mangelhaft ausgebildeten Sozialtrieb anzunehmen. Die Problematik, die in kriminellen Handlungen zutage trat, war die offenkundige Unfähigkeit des Täters, sich als Teil einer Gemeinschaft zu begreifen. Spezialisten in den Bereichen der Sozialpsychologie, Psychotherapie und Sozialarbeit betonten immer häufiger diesen Zusammenhang. „Man, then, is a social being […] and I would suggest that, taken on the whole, there is a ten­ dency for him to adjust himself to the general processes“, erklärte der Psychologe R.G. Gordon, für den Mord und Selbstmord konsequenterweise „a failure in the adjustment of this high level adaptation as a part of a greater whole“93 darstell­ ten. Bereits Healy (Kap. 6.5.) und Burt (Kap. 6.7.) und später Bowlby (Kap. 6.14.) hatten delinquente Jugendliche als oftmals passive, an der Welt und ihren Er­ scheinungen uninteressierte Wesen beschrieben.94 Für die Psychoanalytikerin Alice Raven (Kap. 6.9.) waren psychopathische Persönlichkeiten in ähnlicher Weise Menschen mit geringer und stark gestörter Weltbindung und ohne nen­ nenswerte Sozialbeziehungen: „The ‚herd‘ gives them no stimulus, they are deta­ ched from social life […] you may see such persons in the street, walking very fast, looking at no one, often carrying a stick or umbrella.“95 Die Attraktivität der sozialen Instinkttheorie von Trotter, Rivers und Tansley (Kap. 6.8.) lag darin, dass sich die Vorstellung von sozial gestörten oder inkompetenten Individuen ohne große Mühe auf politische Vorstellungen übertragen ließ. Für den Schrift­ steller und Sozialreformer Laurence Housmann, Pazifist und Mitglied der Howard League, stand fest: „The Criminal is one who suffers from a defective 92 Pearson,

Grammar of Science, S. 6, Hervorhebung S.F. Certain Personality Problems, S. 61 f. 94 Dies war aber nicht mehr mit der „morbid introspection“ der englischen Psychiatrie des 19. Jahrhunderts zu verwechseln, die auf handfeste insanity hindeutete, siehe dazu Michael J. Clark, ‚Morbid Introspection‘, Unsoundness of Mind, and British Psychological Medicine, c. 1830–c. 1900, in: W.F. Bynum et al. (Hrsg.), The Anatomy of Madness. Essays in the History of Psychiatry (The Asylum and Its Psychiatry, Bd. 3), London und New York 1988, S. 71–101. 95 Alice Raven, Normal and Abnormal Pschology in Relation to Social Welfare, in: The Socio­ logical Review 21 (1929), S. 125–129. 93 Gordon,

448   7. Adjusting to democracy: Wissenschaft und Zivilgesellschaft sense of citizenship.“96 Der gestörte biologische Sozialinstinkt fand seine Ent­ sprechung in einem defekten politischen ‚Bürgersinn‘. Aber es gab noch eine weitere Auffälligkeit der frühen englischen Sozialpsycho­ logie, die zum politischen Klima außerordentlich gut passte, in der sie entworfen wurde. Psychologische Handlungstheorien, wie sie z. B. der Lehrer von Cyril Burt am University College, William McDougall, entwickelte,97 formulierten trotz der Herkunft ihrer Disziplin aus der physiologischen Psychologie und der Verwen­ dung biologischer Instinktmodelle die Möglichkeit freier, autonomer, menschli­ cher Willensäußerungen. Das besaß nicht nur für die englische Rechtsprechung Relevanz. Offensichtlich beschränkte sich Thomas Hill Greens Einfluss nicht auf die Studenten geisteswissenschaftlicher Fächer in Oxford, sondern erstreckte sich auch auf Mediziner wie William McDougall. Nicht ohne Stolz verwies dieser in seiner äußerst populären Introduction of Social Psychology von 1908 – bis 1950 erschienen 27 Auflagen98 – auf die Nähe der von ihm entwickelten Handlungs­ theorie zur Philosophie Thomas Hill Greens, der autonomen Subjekten die Fä­ higkeit zu „true conations or expressions of will“ zusprach.99 Thomas Hill Green put forward in very general terms the theory of action which I am defending“,100 betonte McDougall. Green habe nie angenommen, so führte er aus, dass es sich bei moralischem Verhalten oder „volition“, also dem Vermögen oder der Kraft, seinen eigenen Willen einzusetzen, lediglich um „the issue of a conflict of desires“ handle. Scheinbar blinde Impulse, Begierden, Wünsche, Emotionen, die Men­ schen offensichtlich zu dieser oder jener Handlung nötigten, gehörten zwar kon­ stitutiv zur menschlichen Erfahrung, aber zugleich besaß nach Auffassung Mc­ Dougalls der Mensch ein Bewusstsein darüber, „that his true self can either oppose such tendencies, or can accept them; and that only when the self thus intervenes to accept or resist desire or impulse do we perform a volitional act.“101 Die Fähigkeit, aus dem Prozess des bloßen Reiz-Reaktion-Schemas herauszu­ treten, die Entscheidung, ob man Reizen nachgab oder ihnen widerstand, diese Fähigkeit des Menschen hielt McDougall für möglich, wenn auch wesentlich von ihrer „systematic organisation“102 durch Training und Bildung abhängig. Für ­McDougall bestimmte sich der Charakter eines Menschen folglich durch dessen ­Fähigkeit, die eigene Handlung als Reaktion auf innere und äußere Impulse selbst bestimmen zu können: moral volition war nichts anderes als „character in   96 Laurence

Housmann, Foreword, in: Brockway, New Way with Crime, S. viii; siehe dazu auch die Besprechung des Buches durch Arthur St. John, in der Sociological Review (1929), S. 240, wo erneut von „converting criminals into good citizens“ die Rede ist.   97 Zum Einfluss McDougalls auf Cyril Burt siehe Kap. 6.7. und Kap. 6.8.   98 Die rasch hintereinander erfolgten Auflagen des Buches sind ein Beleg dafür, wie stark Mc­ Dougall auch Laien erreicht haben muss; ein Reprint des Buches erschien 1976; zu McDou­ gall (1871–1938) und seinem immensen Einfluss vor dem Zweiten Weltkrieg siehe Hearnshaw, Short History of British Psychology, S. 185–195, bes. S. 186.   99 Zit. nach McDougall, Social Psychology, S. 329. 100 Ebd., S. 329. 101 Ebd., Hervorhebung S.F. 102 Ebd., S. 330.

7.2. „The man in the street“: der wissenschaftliche Diskurs   449

action.“103 McDougalls Sozialpsychologie stützte also, obgleich in seinen Werken viel von Instinkten und den ihnen korrespondierenden Gefühlen die Rede war, Greens Vorstellung von der Möglichkeit autonomer Subjekte. In seiner Psycholo­ gie wurde Instinkten sogar die Aufgabe zugesprochen, der Vernunft zu assistie­ ren.104 Nichts anders hatte Wilfred Trotter (Kap. 6.8.) im gleichen Jahr, in dem die erste Auflage der Social Psychology erschien, 1908, in seinem Aufsatz über den herd instinct behauptet.105 In England, und dies ist auch für den Kontext der Kriminalitätsdebatten von Bedeutung, hatten Instinkttheorien nicht automatisch deterministische Krimina­ litätsdeutungen zur Folge. Sie waren auch nicht generell negativ besetzt oder lie­ ßen Reformer ob der Irrationalität des Menschen verzweifeln und bei einigen auf deren Unverbesserlichkeit schließen. Instinkte wurden als notwendig und evoluti­ onär sinnvoll angesehen, aber Menschen waren diesen Instinkten nicht vollkom­ men ausgeliefert: „This instinct is a universal birthright which human beings share with animals“, hatte bereits 1895 der Gefängnispsychiater David Nicolson in einer Ansprache erklärt, aber auch angefügt: [I]t would be our natural characteristic through life were it not for the gradual development in us of certain higher and inhibitory intellectual and volitional processes such as prudence, reflec­ tion, and a sense of moral duty. These processes go to make up that self-controlling capacity whose function, in the conflict of motives, it is to steer us aright, and to prevent the dominant emotion from exploding or expending itself in some form of crime or vice.106

Der Prison Commissioner Sir Evelyn Ruggles-Brise bezog sich wiederum genau auf diese Aussage Nicolsons, als er wenige Jahre später, im Jahr 1900, auf dem In­ ternationalen Gefängniskongress in Brüssel über den professional criminal re­ferierte (Kontext: Sicherungsverwahrung), um deutlich zu machen, dass der Berufs­ verbrecher seiner Tätigkeit aus freiem Willen, eigener Verantwortung und selbstge­ wählter Entscheidung nachging.107 Während noch vor dem Ersten Weltkrieg zeit­ gleich in Amerika der Behaviorismus eine ‚Psychologie ohne Bewusstsein‘ hervor­ brachte, die unter der Vorherrschaft experimenteller Methoden nur das äußere, 103 Ebd.

104 McDougall

war zwar ein „staunch upholder of the instincts“, aber deshalb kein Gegner menschlicher Vernunft, in seinem Konzept assistierten Instinkte der Vernunft („hormic psy­ chology“); den ‚Determinismus‘ des Behaviourismus lehnte er mit der Begründung ab, „that it implies a denial of creative novelty […]. Why should we doubt that organic evolution is a creative process and that Mind is the creative agency?“ William McDougall, Outline of Psychology, London 1923, S. 497, S. 448) aufschlussreich auch die Besprechung von McDou­ galls Outline of Psychology (1923) durch Ferdinand C.S. Schiller (Eugeniker), in: Mind 32 (1923), S. 496–498, wo der Rezensent McDougalls Ablehnung des Determinismus hervor­ hebt und ihn für seine „open and courageous challenge to the vogue of mechanistic and atomistic interpretations in psychology“ lobt; auch bei einem Soziologen wie Leonard Hob­ house (Idealist) spielte die Entwicklung „from impulse to will“ eine zentrale Rolle, siehe Leonard T. Hobhouse, Social Development: its Nature and Conditions, London 1924. 105 Zu Trotter vgl. Kap. 6.2. 106 Nicolson, Crime, Criminals (1895), S. 577. 107 Siehe den gedruckten Vortrag von Ruggles-Brise, der u. a. einem Memorandum für das Home Office als Anlage beiliegt (Appendix 3, S. 1–8, hier S. 5), TNA, PCOM 7/286.

450   7. Adjusting to democracy: Wissenschaft und Zivilgesellschaft sichtbare menschliche Verhalten zum Ausgangspunkt seines Forschungspro­ gramms erkor,108 war die Preisgabe einer (inneren) menschlichen Willens- und Entscheidungsfreiheit, die auf einem reflexiven Prozess beruhte, der Instinkte und Impulse beherrschen konnte, im England des frühen zwanzigsten Jahrhunderts nicht denkbar, wo es um die Herstellung vernünftiger Bürger ging.109

7.3. Bilanz und Ausblick: „The handmaid, not the ­mistress of society“. Zu den Aushandlungsprozessen zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft Als 1934 Lord Macmillan die 15. Maudsley Lecture zum Thema ‚The Professional Mind‘ in der Royal Medico-Psychological Association hielt, stellte er seinem Pu­ blikum die rhetorische Frage, auf welche Weise man den Experten am besten „in the public interest“110 gebrauchen (utilize) könne. Die von Macmillan postulierte Verbundenheit von wissenschaftlicher Tätigkeit und öffentlichen Interessen schien für den Sprecher und seine Zuhörer eine ganz selbstverständliche zu sein. Auch die Mitglieder der Howard League for Penal Reform bezogen wissenschaft­ liche Tätigkeit auf das allgemeine Wohl und definierten die Arbeit des Wissen­ schaftlers als ein Instrument zur gesellschaftlicher Friedenssicherung, das die Öf­ fentlichkeit über Zusammenhänge (auch ihre eigenen Interessen) aufklären und zugleich Therapieangebote für den Straftäter bereitstellen sollte: „[T]he aim of the man of science is to restore peace to the community, not by punishing the offender, but by helping him to set his muddle straight, and by educating his fel­ 108 Der

erste grundlegende Aufsatz zum Behaviorismus stammte von John B. Watson (1878– 1958), Psychology from the Standpoint of a Behaviorist, in: Psychological Review 20 (1913), S. 158–177; einen guten Überblick über die verschiedenen Formen des Behaviorismus gibt Heiner Hastedt, Artikel ‚Bewusstsein‘, in: Ekkehard Martens und Herbert Schnädelbach (Hrsg.), Philosophie. Ein Grundkurs, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 660–662 (im Kap. Psychoanalyse und Behaviorismus: der psychologische Doppelangriff auf die Zentral­ stellung des Bewusstseins); vgl. auch John M. O‘Donnell, The Origins of Behaviorism: American Psychology, 1870–1920, New York 1985; deutsche Konzepte, die Parallelen zu Mc­ Dougalls aktivistischer, ‚teleologischer‘ Psychologie aufwiesen, waren Wilhelm Wundts ‚vo­ luntaristische‘ Psychologie und Franz Brentanos (Lehrer Husserls) ‚Aktpsychologie‘. 109 Unter dem Blickwinkel der Institutionalisierung der Psychologie hat Mitchell G. Ash argu­ mentiert, dass es gerade die fehlende Institutionalisierung in England gewesen sei, die Alter­ nativen zum Behaviorismus hervorgebracht habe: „In Britian and France, psychology remai­ ned, in comparison to Germany and the United States [dort gab es neben den Universitäts­ lehrstühlen auch eine große Anzahl an psychologischen Labors, S.F.], weakly institutionalized from the 1920s to the 1940s. Yet precisely this situation enabled a wide range of theoretical explorations and practical applications, including alternatives to American behaviorism, to flourish“, Ash, Psychology, S. 263; Ash verweist in diesem Kontext besonders auf die Arbei­ ten von Cyril Burt und Frederick Bartlett; zur Nähe von Psychologie und education allge­ mein siehe besonders Adrian Wooldridge, Measuring the Mind: Education and Psychology in England, c. 1860–c. 1990, Cambridge 1994. 110 The Right Hon. Lord Macmillan, The Professional Mind. The Fifteenth Maudsley Lecture, in: The Journal of Mental Science 80 (1934), S. 469–481, hier S. 475: „How best to utilize the expert in the public interest.“

7.3. Bilanz und Ausblick   451

low beings to realise that it is to their own interest to assist him rather than to attempt to crush him.“111 Das Journal of Mental Science knüpfte direkt an Greens Terminologie einer political obligation an112 und verwies auf das wachsende Wis­ sensbedürfnis der Gesellschaft: The need for more scientific study of abnormal conduct has long been recognized by psychia­ trists. But there is now an increasing demand for guidance on this subject, on the part of magis­ trates, social workers, teachers, and others. And an obligation is laid upon the specialist to pass on to the community the knowledge which he has acquired by his technical training and his capac­ ity for research. He must […] present sufficient data to enable the average citizen to ­understand the value of the services which the specialist is capable of rendering to the community.113

In dem Moment, in dem der Wissenschaftler seiner Aufklärungsverpflichtung ge­ genüber der Gesellschaft nachkam, eröffnete sich ihm die Möglichkeit, diese Ge­ sellschaft von der Wichtigkeit seiner Tätigkeit zu überzeugen und dabei eigene Anerkennung zu finden. Voraussetzung dafür aber war, dass Wissenschaft und Gesellschaft den wechselseitigen Dialog suchten. Experten in England haben mit einer offensichtlich großen Selbstverständlich­ keit ihre Rolle als Dienstleister für die Gemeinschaft, ihre „consulting capacity“,114 akzeptiert. Für Gefängnispsychiater wie Maurice Hamblin Smith schien es 1926 eine Selbstverständlichkeit zu sein, dass Wissenschaften wie die Psychologie stets nur „the handmaid and not the mistress of society“ sein könnten: „It is, ultimate­ ly, for society to decide in what way it will deal with its problems.“115 Mit diesem Bekenntnis erinnerte Smith nicht nur an die nach unterschiedlichen Regeln funk­ tionierenden Bereiche von Politik, Wissenschaft und Rechtsprechung, deren Au­ tonomie es zu respektieren galt, er gab besonders seiner Überzeugung Ausdruck, dass es stets der Gesellschaft überlassen bleiben müsse zu entscheiden, auf welche Weise sie ihre Probleme und Konflikte lösen und im Prozess der Klärung von den Deutungsangeboten der Wissenschaften Gebrauch machen wolle. Ein solcher Hinweis ließ sich freilich nur dann mit einer gewissen Selbstverständlichkeit for­ mulieren, wenn es durch die Gegebenheiten des cultural setting begründete Hoff­ nung gab, dass die Aushandlungsprozesse, in denen die Kompatibilität oder auch Nichtkompatibilität wissenschaftlicher Deutungsangebote mit den vorherrschen­ den Wertesystemen überprüft wurden, auch tatsächlich im Sinne einer Bemühung um das Auffinden eines allgemeinen gesellschaftlichen Wohls geführt wurden, kurz gesagt: Wenn man Vertrauen in das Funktionieren der Aushandlungsverfah­ ren selbst haben konnte. Ohne Frage wurde die wissenschaftliche Forschung über Kriminalität und Täter­konstitution in England, wie in anderen Ländern auch, in einem nicht un­ 111 The Howard Journal (1928), S. 207. 112 Siehe Green, Lectures on the Principles of Political Obligation (1882). 113 Besprechung des Buches von Irving J. Sands und Phyllis Blanchard, Abnormal

Behaviour, London 1923, in The Journal of Mental Science (1924), S. 139, Hervorhebung S.F. 114 Macmillan, Professional Mind, S. 476. 115 Beide Zitate: Maurice Hamblin Smith, Psycho-analysis and Its Development. A Discussion Held at the Annual Meeting of the Royal Medico-Psychological Association in London on July 15, 1926, in: The Journal of Mental Science 72 (1926), S. 557.

452   7. Adjusting to democracy: Wissenschaft und Zivilgesellschaft erheblichen Maße von den sich ändernden gesellschaftlichen Interessenslagen ­bestimmt. Darin muss aber kein Nachteil für die Wissenschaft liegen. Lancelot Hogben meinte sogar beobachten zu können, dass Wissenschaft immer dann auf­ fällige Fortschritte verzeichne, „when men and women are actively engaged in rati­ onal endeavour to change their social environment.“ Neue soziale Umstände, so seine Begründung, trügen dazu bei, das Interesse sowohl auf neue Probleme als auch auf neue Aspekte alter Probleme zu lenken.116 Diejenigen, die etwas verän­ dern wollten − im englischen Kontext waren dies im Untersuchungszeitraum vor allem Philanthropen, Sozialreformer und fortschrittliche Verwaltungsbeamte −, trugen allerdings nicht nur die Erwartung an die Wissenschaften heran, von ihnen hilfreiche Deutungsangebote zu erhalten, über deren Annahme oder Ablehnung dann öffentlich diskutiert und entschieden werden sollte. Zum Vertrauen in die Aushandlungsprozesse gehörte auch die eigene Bereitschaft zu akzeptieren, dass in diesen Aushandlungsprozessen nicht nur die wissenschaftlichen Inhalte zur Dispo­ sition standen, sondern im Prozess der Überprüfung ihrer Kompatibilität mit ge­ sellschaftlichen Normen, Werten oder Erwartungen zugleich auch diese Normen selbst überprüft, bestätigt, modifiziert, revidiert oder ersetzt werden konnten. So haben sich langfristig in den englischen Kriminalitätsdebatten nicht nur die wissenschaftlichen Erklärungsmodelle für die Ursachen von kriminellem Verhal­ ten und Täterkonstitution verändert, verfeinert, differenziert, auch eine Verschie­ bung des gesellschaftlich verhandelten Strafzwecks ließ sich dabei beobachten. Aus den primär moralisch orientierten Besserungsstrategien für sündige Seelen wurde die nüchternere Strategie der Anpassung an die kommende Massendemo­ kratie, mithin die Strategie der Herstellung rationaler Bürger, die mit bestimmten Kompetenzen ausgestattet sein mussten. 1939 thematisierte Alexander CarrSaunders genau diese dynamische Verkopplung von Kriminalitätsforschung und Strafzweckdiskussion: „We have to bring to bear upon the facts of crime all our resources of sociological and psychological investigation. In the second place we have to attain some clarity in our ideas regarding the social responsibility of nor­ mal citizens towards those who offend, and regarding the concepts of guilt, pun­ ishment and reformation.“117 Am Ende, so lässt sich behaupten, sollte aus den Aushandlungsprozessen ein Orientierungswissen hervorgehen, das als Ergebnis einer Abwägung der unterschiedlichen Elemente des Diskussionszusammenhangs verstanden werden kann. Dieses Wissen musste aber stets offen bleiben für eine Debatte darüber, was in der Gesellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt als nor­ mal gelten sollte bzw. auf welchen Begriff von Normalität sie sich jeweils verstän­ digen wollte. Positivistische Kriminalanthropologie italienischer Provenienz und heimische Eugenik haben es im Untersuchungszeitraum nicht vermocht, die Grundannah­ men englischer Rechtsstaatlichkeit zu erschüttern. Nicht nur die englische Justiz, 116 Vgl.

Hogben, Science for the Citizen, 117 Alexander Morris Carr-Saunders, ­Penal Reform, London 1939, S. 9.

S. 1057. Vorwort zu Hermann Mannheim, The Dilemma of

7.3. Bilanz und Ausblick   453

die sich selten bis gar nicht in die Grundlagendiskussionen eingemischte, war nicht bereit, auf das mit Rechten und Pflichten ausgestattete zurechnungsfähige Subjekt zu verzichten. Auch Prison Commissioners, Regierungsbeamte und Ver­ waltungsangestellte haben an der klassischen Auffassung von Schuld- und Straf­ fähigkeit und angemessener Vergeltung des Strafaktes bei aller Anerkennung wissen­schaftlicher Ergebnisse festgehalten.118 Inspiriert von einer idealistischen Philosophie, die die moralische Besserung der Bürger an die Zusicherung poli­ tischer Rechte und damit an die Möglichkeit politischer Partizipation knüpfte, gewann gerade in der Auseinandersetzung mit der Kriminalanthropologie die Strategie eines adjusting to democracy an Profil. Die Rückführung des Straftäters als kompetenten Bürger und nützliches Mitglied in die Gesellschaft blieb auch in philanthropischen und sozialreformerischen Bemühungen das erklärte Ziel. Auch wenn die Wirklichkeit nicht annähernd an dieses erstrebte Ziel heranreichte, so führte doch die Ausrichtung auf dieses Ziel dazu, dass wissenschaftliche Krimi­ nalitätskonzepte, die dieses Vorhaben in Frage stellten oder sogar – bezogen auf bestimmte Gruppen von Straftätern – als unmöglich erklärten, mehrheitlich kon­ sequent zurückgewiesen wurden. Zeitgleich wurden in den englischen Wissenschaften alternative Erklärungsmo­ delle entwickelt, die die Strategie der Herstellung kompetenter Bürger flankieren und unterstützen konnten. Es lässt sich nicht im Sinne eines chronologischen Vorher/Nachher entscheiden, ob sich dabei die Wissenschaften dem politischen Diskurs anschmiegten oder ob ihre Konzepte die Richtung des politischen Dis­ kurses letztlich bestimmten. Was sich aber zeigen lässt und in dieser Arbeit ver­ sucht wurde, ist das starke Aufeinander-Bezogensein von Wissenschaft und Ge­ sellschaft, das zum einen die Wirkmächtigkeit des cultural setting bestätigt, von der die Produktion wissenschaftlichen Wissens nicht getrennt werden kann, zum anderen aber auch auf das Funktionieren von Aushandlungsprozessen in einer Zivilgesellschaft verweist, die Wissenschaft nicht blind rezipierte, sondern sich selbst zutraute, Wissenschaft beurteilen und einordnen zu können. Was diese ­Zivilgesellschaft auszeichnete, war ein starkes Interesse an Expertise, bei einer gleichzeitig klaren Zurückweisung von ‚Expertokratie‘. Was aber die besonderen Kommunikationsstile der Aushandlungsprozesse zwischen Wissenschaft und Zi­ vilgesellschaft betrifft, so lässt sich über sie vielleicht vorerst nur sagen, was Lord Macmillan im Kontext seiner Rede mit Blick auf die Rechtsprechung zu bedenken gab: „The faculty of practical judgment is not always to be found in conjunction with scientific learning. The art of judgment is itself an art.“119 118 Geradezu

klassisch dazu 1932 die Stellungnahme des Departmental Committee on Persist­ ent Offenders, das nach 39 Sitzungen und der Anhörung von 66 Zeugen in seinem Ab­ schlussbericht erklärte: „We do not agree with the view that crime is a disease, or that it is generally the result of mental disorder. […] And further, if we accept the psychological ­explanation in certain cases of crime, we do not regard it necessary as an excuse for the ­offence.“ Report of the Departmental Committee on Persistent Ofenders, Parliamentary Papers (1932), Cmd. 4090, S. 46. 119 Macmillian, The Professional Mind, S. 476, Hervorhebung S.F.

8. Quellen- und Literaturverzeichnis 8.1. Ungedruckte Quellen The National Archives, Kew (TNA): HO 45: Home Office, Correspondence HO 144: Home Office, Supplementary Archives PCOM 7: Prison Commission Archives

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Register 9.1. Sachregister Abendklassen  402 Ability  193, 195, 204, 227, 266, 279, 283, 332, 443 Abschreckung (-wirkung, -paradigma-, system)  7, 21, 89, 97, 108 f., 165, 173, 321, 373 Absolutismus  28 Abwanderung (-bewegung)  3, 197 accidental criminal siehe auch Gelegenheitsverbrecher  144, 150 adjusting to democracy  44, 118, 425, 428, 436, 453 Adolezenz  387, 407 Alhohol, -ismus (-frage, -genuss, -konsum, -missbrauch)  63–66, 91, 94, 125, 162, 209, 213, 223 f., 248, 254, 271, 348, 371 Aliens Act (1905)  255 Alltagskultur  310, 348 Altruismus  51, 363 Amateur (-freundlichkeit)  112 f., 119, 240 Amateurstatistiker  71, 104 American Psychological Association  288, 341 Amnesie  293 Amnesty International  40 Angst, zustände  59, 101, 109, 135 f., 197, 201, 299, 308, 319, 394, 398 Anlage siehe auch heredity  25, 151–53, 163 f., 191 f., 194, 197 f., 213 f., 216, 221 f., 227, 231, 233, 243, 246, 251, 257 f., 264 f., 269, 276, 292, 300, 317, 333, 342, 347, 363, 417–20 Anpassung (-fähigkeit, -leistung,-mechanismus, -vermögen), soziale  5, 44, 82, 121, 125, 140, 185, 221, 227, 231, 288 f., 291 f., 299, 356, 358, 361, 364–66, 372, 374–76, 378, 385, 389, 398, 416, 418, 425, 430 f., 437, 442– 44, 452 Anschlussfähigkeit  116, 226, 361, 375, 393– 95, 438 Anstaltsdirektor(en)  406 Anthropologe,n  222, 249, 288, 326, 331, 340, 358, 367 Anthropological Institute (London)  199, 201–3, 208 Anthropological Society of London  195 f. Anthropologie  42, 81, 150, 196, 289–92, 330, 354, 418 Anthropometric and Racial Committee (British Association)  196

Anthropometrie  205, 330 f. anti-social behaviour  174, 248, 263, 283, 362, 376, 445 anxiety neurosis  299, 371 Arbeiter (-frage, -klasse, -milieu, -schaft, -schicht)  5, 79, 86, 103, 219, 309 f., 312, 315 f., 428 f. Arbeiterjugend  310, 317 Arbeitshaus, -häuser  5 f. Arbeitsmarkt  92, 171, 253, 315, 354, 366, 446 Arbeitsverhältnisse  92, 169, 255 Archives d’Anthropologie Criminelle  162 Aristotelian Society  288, 341, 369 Arithmetik, politische  45 Armut  3, 50, 52, 65, 67, 79, 91, 94, 100–2, 107, 124 f., 214, 248, 256, 311, 313, 317 f., 348, 393 f., 417 Army Medical Service (AMS)  293 f., 302 art  453 Association for the Scientific Treatment of Criminals  379 Association of Medical Officers of Hospitals for the Insane  129 Association of Psychiatric Social Workers  391 Ästhetik der Existenz (Foucault)  37 Astronomie  45, 47, 117, 340 Asylum Journal of Mental Science  129 Atavismus (-theorie)  83, 124, 155, 232, 234 f., 335 Aufruhr  65, 313 Aufwiegelung  65 Ausbildung (Schul-)  2, 20, 60, 62, 67, 72, 103, 112, 139, 148, 166 f., 184 f., 188, 215, 245, 255, 297, 299 f., 309 f., 314, 343, 347, 359–63, 368–70, 375, 381, 387 f., 408, 413 f. Aushandlungsprozess(e)  4, 10, 13, 17, 24, 26, 29, 32, 36 f., 44, 450–53 Auslese, natürliche  134, 263 Ausmusterung  208 Ausschank (-lizenzen)  63, 91 average large numbers  (law of)  135, 221, 225 f., 245, 248, 250, 397, 451 BAAS siehe British Association for the Advancement of Science Bakteriologie  222 Begabung  31, 193, 207, 213, 225, 245, 279

496   Register Behaviorismus  449 f. bell curve  195, 240 Belper-Komitee  205 Beobachter, teilnehmender  60, 78, 81, 310 Berufsverbrecher siehe auch Gewohnheitsverbrecher  54, 170, 225, 449 Beschaffungskriminalität  65 f., 310 Besserungsagenten  6, 427 Besserungsanstalten siehe auch Korrekturanstalten  2, 69, 189 f. Besserungsstrategien  403, 438, 452 Betrug  65, 203 Betrüger  81 f., 252 f. Bevölkerung (-politik, -schichten)  11, 47, 51, 54, 58, 61 f., 67 f., 78, 80, 101, 124, 127, 161, 179, 185, 208 f., 224, 231, 249, 253 Bevölkerungsstatistik  195, 228, 252, 276 f., 283, 425 Bevölkerungswachstum (-dichte, -theorien)  67, 76 f., 92, 135 Bewährungshelfer, -hilfe  19–21, 319, 323, 326, 328, 344, 364, 390, 413, 442 f. Bewährungsstrafe  19, 43, 117, 308, 321 f., 380, 393, 407 f., 423 Bewegungsmangel  389 Bildung (Schul-, -prozesse, -fragen)  37 f., 49 f., 53–60, 64, 84, 90 f., 94, 98 f., 106, 108, 116, 118, 133, 152 f., 177, 248, 256, 301, 317, 319, 321, 362, 376, 398, 432, 435, 446, 448 Bildungschancen (-maßnahmen, -möglichkeiten, -reform)  98 f., 101, 318, 378, 433 Bildungsgrad (-niveau, -stand)  46, 55f, 58– 60, 62, 71 Bildungsmangel (-defizit, -armut)  58 f., 125, 334 Biologie  (Anstalten, System. Sektor) 110, 118, 121, 212, 244–48, 284, 309, 399, 418, 435 Biologie, experimentelle  244 Biometrie  41, 234, 239, 246, 248, 276 Biometrika  210, 237 f., 240, 242, 245 f. Biometrische Schule  42, 239–41 Biopolitik  11, 160 Bio-Statistik (Methode, Verfahren, Grundlagen, Labor)  203, 206, 210, 213, 232 f., 237– 40, 245, 247, 252, 259, 261, 254, 267, 275, 277 Blindheit  293 Blue Book,s  102, 104, 328 Board of Directors of Convict Prisons  14 f. Board of Trade  55 f., 71, 103, 305 borstal,s (Jugendstrafanstalt) 9, 15, 43, 69, 167, 176, 235, 287, 406 f., 422 f., 431 f., 443 Boys Club  313, 315 brain worker  212

British Association for the Advancement of Science (BAAS)  46, 48–51, 55, 62, 64, 72, 85 British Broadcasting Corporation (BBC)  345, 353 British Child Study Association  341, 344 British Journal of Criminology  383 British Journal of Delinquency  382 British Journal of Medical Psychology  17, 341, 344, 366 British Journal of Psychology  17, 288, 341, 408 British Medical Association  16–18, 129, 151, 159, 223, 270, 409 British Society of Criminology  382 British Society of Psychoanalysis  367 broken homes  439 Burenkrieg  208 capital punishment siehe auch Todesstrafe  18 f., 21, 97, 273, 304, 315 case study,-ies siehe auch Fallstudie(n)  42, 100, 102, 325 f., 335 f., 412 casual offender siehe auch Gelegenheitsverbrecher  83 f., 165 f., 169 f. Catholic Church siehe Katholische Kirche Catholic Times  281 Central Association for Mental Welfare  383, 386 Central Fingerprint Branch 205 Central Metric Office (New Scotland Yard) 252 Central Society of Education  55 character formation  349, 381 character-building  299 Charakter (-stärke)  323 Charakter (und Talent)  195, 351 Charakterbildung, -entwicklung  90, 149, 300, 347, 349, 370, 381, 401, 403, 415, 418, 430–38, 440 Charakterforschung  431 Charakterologie  336 Charity  435 Charity Organisation Society (COS)  119, 322, 427 Chief Inspector of Elementary Schools  399 f. Chief Inspector of Reformatory and Industrial Schools  314 f. Child Guidance Clinic  42, 377, 383–87, 411– 13, 417 Children Act (1908)  19, 171, 315, 321, 390 children in danger  384 Children’s Association  308, 322, 408 Children’s Branch (Home Office)  272, 313– 15, 318, 345, 442

9.1.Sachregister   497 children’s employment siehe auch Kinderarbeit  57 Chromosom,en  206 Church of England  188, 271 f. Church of England Temperance Society (CETS)  322 circular response (Healy)  418 citizen  83, 219, 221, 230 f., 280, 398, 425–27, 430, 433, 435, 437, 441, 445–47, 451 f. citizenship  8, 103, 398, 401, 426–28, 430, 432, 434 f., 441, 448 civic worth (Galton)  219, 445 Civil Service  9, 15, 53, 118, 155, 179, 188, 220, 266, 277, 364, 420, 433 f., 436, 445 Claybury Asylum  295 Committee of Benevolent and Scientific Institutions (Indiana, USA)  268 Committee of State Medicine, Health, and ­Vital Statistics (Indiana, USA)  268 Committee on Wage Earning Children  322 Common Law  2, 185 Commonwealth Fund  384, 386 composite photography  150, 197–202, 204, 206, 232, 234 Compte Général de l’Administration de la ­Justice Criminelle en France  46 Contemporary Review  177 convict prison(s)  14 f., 17, 43, 135 f., 144, 149, 171, 198, 236 criminal conduct  284, 409 criminal diathesis (Goring)  251 f., 258, 263, 275 Criminal Investigation Department (Scotland Yard)  54, 170, 184, 205 Criminal Justice Act (1914)  337 Criminal Justice Act (1925)  323 Criminal Justice Administration Act (1914)  19 Criminal Justice Bill (1938)  407, 421 Criminal Law and Prisons Department (Humanitarian League)  21 Criminal Lunatic Asylum  148, 223, 286 cultural setting  1 f., 426, 451, 453 Daktyloskopie  202–205 dangerous children  384 dangerous classes  88, 101, 136, 138 Datenkonvolute  237, 247 De Casti Connubii (1930)  281 Debattenkultur, demokratische  13, 279 Deduktion  49, 80 Degeneration, -sprozess  123, 125–27, 133, 138, 179, 193, 199, 206, 218, 226, 229, 231, 234, 281, 291, 357, 403, 440 Degenerationstheorie(n)  127, 131 f., 135–37, 155, 209

Delinquenzforschung  379, 415–17 Demograph(en)  45, 278 Demographie  223, 226, 228 départements (Frankreich) 46, 55 Department of Sociology (Pennsylvania)  324 Departmental Committee on Sterilisation  269 Departmental Committee on Young Offenders  383 Deportation (-system)  14, 87 f., 97, 109, 134, 197 Determinismus, deterministisch  8, 12, 22, 47, 120, 127, 145, 152, 156 f., 162, 179, 230, 234, 262, 275, 376, 406, 440 f., 445 f., 449 Deutungshoheit  1, 13, 42, 143, 178, 257, 287, 394 Devon County Asylum  129 Dieb,e  81 f., 84, 252, 412 Diebstahl  68, 136, 171, 414 differential association  94, 108 differential birth rate  208, 222, 234 Differentialdiagnostik  42, 265 Diffusionist,en  290 f., 331 Diktatur  28 Director of Public Prosecution  175 Discharged Prisoners Aid Society  398 Diskontinuität,en (discontinuity)  240–42 Disziplinierung siehe auch Sozialdisziplinierung  5 f., 8, 10 f., 25, 39 dual track system  173 f. Durchschnittsbürger  144, 151, 248 ecological criminology  57 f. Economist, The  74 Education Department  320, 345 f. education siehe auch Erziehung 49, 54, 56, 58– 60, 62, 64, 88–90, 94, 96, 109, 116, 130, 138, 143, 154, 159, 164, 169, 195, 299, 309, 318, 321 f., 361, 364, 376, 386, 426, 431, 433, 441 educational psychologist  11, 338, 343 f., 354, 362, 377, 385, 435, 441 educational psychology  43, 287, 345, 369 f., 440 ego-psychology  375 Eigenverantwortlichkeit siehe auch Willensfreiheit  8, 47, 93 Einbruch  65, 201 Einkommen (-höhe, -verhältnisse) 53, 79, 100 f., 316 Elektroschock, -therapie  301 f. Elementary Education Bill (1870)  54 Elend (-viertel, -quartier)  79, 106, 119 f., 160, 222, 312, 316 Emotion,en, Emotionalität (-vermögen)  91, 96, 100, 128, 140, 142, 144, 148, 151, 158,

498   Register 286, 300, 342, 347–52, 354, 371, 386, 388, 391, 400, 414, 417 f., 444, 448 f. Empirische Sozialforschung siehe Sozialforschung, empirische English Convict, The (1913)  42 f., 217, 233– 38, 245–59, 275–77, 325 Entartung  226 Ent-Institutionalisierung  442 Entlastung, -sthese  403, 406, 420 Ent-Medikalisierung  353, 444 Entwicklungspsychologie  324, 345 environment  11, 19, 97, 195, 221 f., 224, 230, 232, 238, 241, 252, 257, 262, 265, 276, 299 f., 317, 334 f., 344, 361, 364, 371, 376, 389 f., 394, 413, 418, 431, 441, 452 environmentalism  41, 99, 120, 151, 153 f., 163, 209, 220, 388, 436 f., 439 f. Epilepsie, Epileptiker  140, 223, 254, 381, 384, 151, 215 Erfassungsbogen  236 Erinnerung (memory)  290–92 Erkennungsmethoden  169, 197, 202 Erkennungssystem  205 Erster Weltkrieg  8, 16, 18 f., 42, 44, 59, 161, 171, 178, 189, 213, 219, 233, 261 f., 278, 281, 284, 288 f., 308, 319 f., 326, 341, 346, 366–68, 383, 395, 409, 416, 420 f., 429, 438, 440, 449 Erwachsenenbildung  401 f., 417, 427 Erziehung siehe auch Schulerziehung  49 f., 54, 56 f., 59 f., 64, 75, 84, 90, 94, 97 f., 108, 139, 207, 255 f., 266, 285, 299f., 311, 313 f., 321 f., 324, 362, 372, 376, 417, 427 Erziehungsanstalten (-einrichtungen, -institutionen) siehe auch reformatories  9, 43, 57, 64, 69, 87, 90, 96, 99, 116, 315, 321, 374, 398, 431, 443 Erziehungsfragen (-gedanken, -ideen, -maßnahmen, -praktiken, -stile, -wissen)  56, 60, 88 f., 95–97, 108, 153, 167, 300, 314, 378, 399, 430 Essai sur la statistique morale de la France (1833)  53 Ethnologie  195, 289 Eton College  21 Eugenics Education Society  18, 181, 192, 209–14, 218, 222 f., 226, 228, 230 f., 245, 259, 347 Eugenik (eugenische Maßnahmen, Reformeugenik, Kritik)  11 f., 24, 41, 121, 146, 179, 191 f., 207, 209–11, 214–21, 223–32, 280 f., 295, 429, 432, 445 f., 452 Evangelikale  22, 35, 79, 427 Evolution  32, 221, 226, 228 f., 238, 240, 242 f., 276, 356, 449 Evolutionsbiologie  57, 115 f., 154, 231

Evolutionsprozess, -theorie  116, 137, 140, 155, 178, 226, 231, 239 f., 248, 359 Exklusion  37 Expedition  289 Experimentalbiologie siehe Biologie, experimentelle Experte,n  2, 4, 10, 14, 18, 24, 33, 65, 89, 91, 110, 112–14, 160, 166, 170, 181, 202, 207, 209, 233, 238, 275, 278 f., 320, 345, 388, 397, 399, 408–10, 423, 450 f. Expertise  84 f., 99, 112, 117 f., 149, 158, 170, 177 f., 199, 223, 267, 275 f., 278 f., 411, 453 Fabian Society  217 Fallbeispiel,e (-studie,n)  132, 142, 330 Familien (-beziehung, -leben, -situation, -verhältnis, -verband)  100, 122, 126, 133, 139, 179, 195, 213–15, 256, 258, 280, 296, 310, 313, 316, 319, 322, 324, 347 f., 386 f., 390 f., 394, 413, 417, 442 Familienstammbaum, -bäume siehe auch pedigree 133, 295, 333 Fanatismus  26, 34, 91 feeble-mindedness  24, 146, 153, 207, 209, 225, 230, 232, 253, 259, 281, 284–86, 333, 352–54, 359, 442 Fehlerkoeffizient  75 Fehlleistung  192, 372 Feigheit (cowardice)  302–5 felony  201 fine siehe auch Geldstrafe  19, 43, 171, 177 Fingerabdrücke 202–6 follow up studies  111, 336 forgery  71, 201 Fortnightly Review 165 Fortschrittsnarrativ  6 Fragebogen (-aktion)  42, 71 f., 111, 119, 188, 237 Französische Schule  335 Frauenerwerbstätigkeit  310 Frauengefängnis  287, 373 f. Freizeit (-beschäftigung, -gestaltung)  64, 315, 319 f. Fremdlenkung  37 Friedensrichter siehe auch Justice of the Peace  20, 72, 410 Fruchtbarkeit (von Kriminellen)  252 Führungselite  5, 277, 300 Funktionsstörungen, mentale  291, 299, 304 Gallipoli  297 Galton Laboratory  210 Gebote, christliche  54 Gefängnisalltag  144, 149, 165 f., 168, 179 f., 189, 403, 405, 434

9.1.Sachregister   499 Gefängnisbesucher,in siehe auch prison visitor,s  395–98, 404 f., 427 Gefängnisgeistliche,r  22, 90, 95, 98, 112, 114, 121, 198, 406 Gefängnisgouverneur  15, 166, 177, 396 f., 402 Gefängniskaplan  21, 396 Gefängniskongress, internationaler  3, 15, 174, 186–88, 235, 270 f., 275, 281 f., 328, 426 Gefängnispersonal  140, 166 f., 186, 188, 198, 396, 405 f. Gefängnispsychiater  137, 148, 178–80, 287, 336, 351, 392, 394, 403, 440, 442, 444, 449, 451 Gefängnisreform (-diskurs)  4, 6, 8, 10, 18, 22, 24, 51 f., 60, 72, 84, 87, 90, 95, 108, 119, 165, 168, 181 f., 186 f., 254, 289, 338, 396, 406 f., 411, 422, 425–27, 432 f., 446 Gefängnisseelsorger  114, 395, 397, 404 Gefängnisstatistik  56, 72 Gefängnisunterricht  402 Gefängnisverwalter, -verwaltung  54, 172, 177 Gefühl,e (Minderwertigkeits-, Schuld-) siehe auch Emotion,en  116, 140 f., 299, 339, 342, 349 f., 354, 357, 363 f., 370 f., 401, 413, 449 Geisteskrankheit siehe auch insanity  127, 132, 134, 140, 142, 146–49, 162, 179, 193, 224, 254, 256, 263, 283, 419 Geistesschwäche siehe auch feeble-mindedness  144, 147 f., 180, 232, 283, 285, 329 f., 359 Geistliche,r  51, 82, 93, 107, 114, 117–19, 166, 208, 396, 402, 406 Geldstrafe siehe auch fine  19, 43, 171, 177, 337 Gelegenheitsverbrecher  84, 144, 168 f. Gemeinnützigkeit  76, 130 Gemeinschaft  31, 34, 38 f., 55, 59, 90, 93, 118, 225, 289 f., 295, 317, 355–59, 361, 400 f., 429 f., 446 f., 451 Gemeinwohl  17, 31, 34 f., 52, 106, 117 f., 281, 447 General Register Office  52 f., 56, 76, 160 Generationenwechsel  433 genetic siehe auch Genetik  196, 244, 267, 341, 414, 419 f. Genetik, genetische Forschung  194, 223, 239, 244, 328, 333, 414, 419 gentleman scientist  191, 204 Genusssucht (-süchtig)  310, 312 Geologie  192 Geometrie  239 Geschwister (-studien)  256, 371 Gesellschaft, primitive  291 Gespräch (-therapie)  264, 297 f., 301, 352, 385 f., 395, 397 f., 401, 410, 413, 417, 427 Gewaltverbrechen,er  55, 63, 65 f., 91, 200 f.

Gewerkschaften  166, 212 Gewohnheitskriminalität  69, 170 Gewohnheitsverbrecher siehe auch Berufsverbrecher  19, 73, 80, 82, 84 f., 95, 101, 134 f., 144 f., 165–67, 169–73, 175–77, 215–17, 252, 254 f., 264, 282, 429 Gladstone Committee (Kommission, Komitee)  65, 167, 172 f., 177, 264, 434 Gladstone Report  164, 167 f., 189, 314, 444 Glasgow Reformatory School  69 Gloucester County Asylum  128 Gouvernementalität  11, 37 Gray’s Inn  408, 410 gregarious animal, gregariousness  297, 354, 356–60, 429 Grenzgänger  392, 407 Gründungsväter (der Kriminologie)  124, 422 Gruppentherapie  400 Gutachter  14, 207, 209, 352, 359, 392, 409 habit formation  177, 347, 401 Habitual Criminal Act (1869)  86, 130, 197 habitual criminal siehe auch Gewohnheitsverbrecher  12, 54, 135, 144, 165, 169, 172, 197 f., 217 f. Halluzination,en  141, 293, 299 Handlungsmotivation  291 Heilsarmee  60, 166 Heilung (-chancen, -raten)  126, 161 f., 164, 180, 294 f., 301–4, 377, 420 Heim,e (Übergangs-)  69, 89, 188, 207, 230, 302, 390, 401, 443 Heimatfront  308 Heiratsurkunde (als Nachweis des Bildungsgrads)  57 f., 60, 62 herd instinct  siehe Herdentrieb Herdentrieb (-instinkt)  297, 354, 356–61, 363, 447, 449 heredity  99, 151, 192, 206, 218, 230 f., 238, 257, 259, 262, 268 f., 276 f., 300, 333, 431, 440 f. Histogramm  53 Holloway Prison  179, 223, 286 Home Office (Innenministerium)  13–17, 23 f., 53, 66, 70–73, 76 f., 102, 176 f., 186, 188 f., 200, 236, 255, 269, 271 f., 274 f., 313, 315, 322, 373, 382, 396, 405, 439 Homosexuelle  271 Howard Association  18–21, 23, 165, 183 f., 187 f., 190, 308–11, 313, 319, 321–23, 325, 338, 408 Howard Journal  20 f., 272, 392, 410 f. Howard League  20 f., 271, 274, 281, 345, 353, 383, 385, 392, 394, 396 f., 401, 403–5, 407 f., 410 f., 422, 426, 429, 444, 447, 450 Humanisierungsnarrativ  6

500   Register Humanitarian League  18, 21–23, 157, 165, 311, 426 humanitarianism  10 Humanwissenschaften  6 f., 10, 444 Huxley Lecture  208 Hygiene (-medizin)  163, 220, 391, 402 Hysterie  226, 293, 295, 297, 299 Identifikation, Identifizierung (-methoden) siehe auch Erkennungsmethoden  150, 198, 201–3, 252 imbecile  12, 132, 135, 146 f., 268 Imperialist,en  (Anti-) 313, 447 inborn capacities (qualities)  210, 231, 264–66, 285, 287, 362, 431 Independent Labour Party  9, 394, 429 Individualisierung (des Strafens)  263 Individualpsychologie  336 industrial psychology  369 industrial schools (asylum)  13, 20 f., 69, 89 f., 98, 166, 310 f., 314, 321, 346, 384, 426 f. Industrialisierung (-prozess)  58, 60, 62, 107, 124, 126 f., 309 Industrieproletariat  310 Ingenieurwesen  50 Inklusion  36 f. Innenministerium siehe auch Home Office  13–16, 70 f., 96, 104, 172 f., 175–77, 180, 188 f., 205, 209, 235, 262, 264, 272, 278, 309, 313–15, 318, 320 f., 337, 345, 382, 384, 392, 405 f., 434, 436, 442 Inns of Court  2 in-patient-hostels  380 insanity siehe auch Geisteskrankheit  2, 94, 116, 130, 132, 137–40, 142 f., 147 f., 150 f., 156, 158 f., 162 f., 168, 185, 215, 224, 256, 285 f., 300, 307, 447 Instabilität, emotionale  51, 144, 345, 350, 374, 388, 417 Instinkt,e  10, 116, 128, 139–41, 288, 290–92, 349 f., 354, 358 f., 361 f., 401, 421, 431, 444, 448–50 Instinktforschung  349, 421, 448 Instinkttheorie  42, 351, 361 f., 368, 389, 447 Institute for the Scientific Treatment of Delinquency (ISTD)  373, 378–383, 411 Institute of Criminology (Cambridge)  382 Integral- und Differentialrechnung  248 Integration (-fähigkeit, Desintegration)  157, 175, 231, 291, 355, 357 f., 365, 417, 428, 430, 435, 437, 441 f., 445 f. Intellektuelles Training  56 Intelligence Department  215 Intelligenz (-forschung, Vererbung von, fehlende, höhere)  58, 64, 133, 139, 141, 144, 150, 153, 170, 179, 194–96, 204, 206–9, 217,

227, 232, 253, 257, 265 f., 285, 287 f., 332, 343, 345, 350, 352, 354, 362, 385, 417, 431, 437, 440, 441, 443, 444 Intelligenztest  203, 283–87, 344, 351 f., 376, 385, 389, 420, 431, 443 Inter-Departmental Committee on Physical Deterioration  102, 209 International Journal of Psycho-Analysis  367, 412 Internationale Gefängniskommission, -kongress (IPPC)  186–89, 315 Internationale Kriminalistische Vereinigung (IKV)  15, 182–87 Internationaler Kongress für Kriminalanthropologie (ICCA)  182 f. Internationaler Statistiker Kongress (ISK)  72, 104 Intervention  7, 11, 127, 179, 276, 310, 435 Interview,s  81 f., 115, 119, 213, 316, 330, 337, 347, 352, 374, 377, 386, 413 f. Invalid Prison Woking  131 Italienische Schule  151, 183, 259 f. jews  255, 295 Journal of Mental Science  17, 24, 129–31, 137, 144, 156, 160, 185, 264, 407, 451 Journal of the Statistical Society  51 judicial statistics  73 Jugendgericht,e  19, 308, 315, 319, 321, 326, 329, 385, 390, 410 Jugendkriminalität  67, 69, 286, 288, 308–12, 316 f., 324, 381, 384, 416–18, 438 f. Jurist,en (-ausbildung)  2 f., 81, 89 f., 93, 114, 117 f., 140, 143, 148 f., 157, 183–86, 224, 235 f., 269, 271–74, 319, 327, 408, 410, 422, 442 Justice of the Peace (J.P.)  20 Justiz (-akten, -daten, ministerium, -statistiken)  13, 46, 48, 56, 59, 69–71, 73, 87, 145, 159, 171, 180 f., 188, 236, 271–73, 329, 353, 407, 409, 452 Juvenile Organisations Committee  308, 315, 320 Juvenile Psychopathic Institute (Chicago)  24, 325 f. Kartographie  192 Kaserne  6 Katholische Kirche  280 Keimplasmatheorie  153, 194 Kinderarbeit  57, 315 Kindermedizin  314 Kindersterblichkeit siehe auch Säuglingssterblichkeit  160 Kinderwohlfahrt (-verbände)  207, 308, 383 f., 442

9.1.Sachregister   501 King’s College London  63, 197 Kino,s  310, 320, 334 Kommunikationsstil,e (-formen)  29, 31, 36, 95, 181, 245, 358, 453 Kommunitarismus  29 Kompatibilität  4 f., 13, 43, 393, 451 f. Kompetenz, soziale  (Sprach-, -streitigkeiten)  2, 15, 98, 146, 148, 158, 167, 225, 265, 279, 284, 332, 361, 365, 389–91, 408, 452 Konsum (-güter, -sucht)  310, 320 Kontrollgruppe  252, 290, 346, 412, 439 Kontrolle (Migrations-, Selbst-, Sozial-, staatliche, -theorie, Trieb-)  5, 7, 10 f., 83, 92, 96, 104, 141, 158, 160, 170, 193, 230, 250, 255, 269, 310, 314 f., 323, 350, 361, 363, 400, 445 Korrelation  68, 77, 107, 116, 243 Korrelationskoeffizient  197, 206, 232, 243, 253 Krankenhaus  5 f., 13, 294, 297, 302 f., 383, 414 Kriegsdienstverweigerer (conscientious objector) 18, 396–98 Kriegsministerium  215, 298, 302 f. Kriegsmobilisierung  278 Kriegsneurose(n)  288 f., 294–99, 304, 306, 308, 368 Kriegswirtschaft  319 Kriminalanthropologie, -anthropologen  15, 22, 77, 120, 123, 125, 134, 137, 144, 149–52, 154 f., 157, 163, 168, 172, 178 f., 182 f., 234– 36, 260, 319, 440, 445, 452 f. Kriminalitätsgenese  1,3 f., 18, 26, 39, 63, 77, 108, 116, 198, 219, 224, 229, 257, 331, 348, 393, 416, 425, 436, 443 Kriminalpolitik  74, 145, 150, 163, 181 f., 312, 345, 364, 407, 420 Kriminalpsychologie  144 Kriminalstatistik,en  41, 47, 71 f., 103 f., 114, 121, 152, 183, 418 Kriminalstatistiken, englische  15, 73 f., 76, 102 Kriminalstatistiken, französische  70 Kriminologie  1 f., 6–11, 24 f., 35, 67, 95, 104, 106, 123, 131, 233–35, 325, 335 f., 342, 381– 83, 418 f., 421 f., 438 Kriminologie, physiologische 234, 250, 258 f. Krise (politische, ökonomische)  40, 65–67, 74, 76, 116, 320, 416 Kultur, primitive  290 L’uomo delinquente  7, 22, 124, 148, 155, 178, 183, 199, 234, 283 Labor, anthropometrisches (Galton)  203, 205 Labor, biometrisches  210, 213, 238–40, 252, 259, 261, 267, 275, 277

Labor, psychologisches  290, 293, 338f, 344, 350, 450 Labour Party  9, 218, 281, 304, 317, 354, 394, 427, 429 Laie,n  2, 4, 10, 24, 33, 112 f., 125, 162, 185, 267, 369, 397 Laienrichter siehe auch magistrates  21, 24, 319, 322 Lamarck  126, 133, 138, 153, 229 Lancet, The  17, 129, 135, 160, 163, 168, 180, 286, 297, 353 Landstreicherei  202, 333, 354 Lärmstörung  389 Lasterhaftigkeit  64, 66 Law Amendment Society  87, 89 Law Lord  409 law of anticipation  126 learned society  228 Lebenserwartung  160 Lebensressourcen  61 Lehrer  18, 64, 95, 209, 263, 278, 314, 327, 329, 344, 360, 363, 368, 386, 389, 395, 397, 399, 402, 404, 405 Lehrervereinigung, britische  400 Lernfähigkeit  265, 332, 401, 416 Lernfähigkeit, soziale  31 Lernprozess  361, 363 f., 401, 417, 421 lesion theory  295 Linguistik  289 Little Commonwealth Projekt  400 f. Local Government Board of Scotland  221 local moral order  5 local prison,s  14, 16, 188, 396 Lohnarbeiter  309 f. London County Council  284, 344, 346, 384, 386 London Hospital  303, 380 London School of Economics and Social Sciences (LSE)  219, 227, 233, 386, 433, 439 Lumpenproletariat  429 lunacy (laws)  129, 162 Macht (-dispositiv, -strategien, -technologie)  5 f., 8, 10, 13, 26, 36–38 Machtmissbrauch  40 Macmillan’s Magazine  194 Maghull (Military Hospital)  294, 297, 300–2 Magistrate court  407 f. magistrate(s) siehe auch Laienrichter  21, 89, 96, 166, 185, 188, 197, 271, 319, 323, 380, 390, 411, 436, 442, 451 Magistrates’ Association  20 f., 318 f., 383, 408 maladjustment  374, 378, 395, 400, 443 Manchester Guardian  303, 312 Manchester Statistical Society  48, 55, 86

502   Register Mangelernährung siehe auch Unterernährung  127, 209, 253, 417 Marine  117, 278, 319 Masse,n (-theorie)  58, 61, 135 f., 220, 223, 303, 356, 379 Massendaten  99 f., 100, 104, 192, 206, 236 f., 239, 265, 275 Massendemokratie  4, 44, 425, 437, 452 Massengesellschaft  59 Massenphänomene  107, 134, 277 Mathematik,er  45, 48–50, 52, 107, 113, 130, 197, 208, 230, 239, 245–47, 261, 278 Matrix, soziale  389 McNaughten Fall, Regeln  142, 149, 158 Mechanik  50, 130, 239 Médecins du Monde  40 media scare  320 Medical Commissioner  16, 235 f. Medical Inspector  16, 164, 220, 236, 247, 272, 344, 352 Medical Officer  12, 128 f., 135, 144, 147, 160, 223, 236, 300, 339, 382, 406 f. Medical Prison Commissioner  159, 167, 246, 269, 366, 375, 389, 403, 442 Medical Research Council  373 f. medical witness  159, 409 Medico-Psychological Association of Great Britain and Ireland (Royal Medico-Psychological Association) 17 f., 40 f., 128–30, 151 f., 154, 185, 341, 407, 440 Medikalisierung (-sthese)  7, 9, 25, 178 f., 353, 433, 444 Medizin  7, 49, 127, 149, 160–64, 288, 297, 343, 361 Mediziner (Gerichts-, Hygiene-) 13, 16, 22, 25, 41, 51, 65, 127–30, 140, 148, 151, 156 f., 159– 62, 167, 183, 209, 215, 217, 220, 222–24, 229 f., 263 f., 288 f., 297, 300, 326 f., 330, 336 f., 339 f., 343–45, 349, 360, 365, 367, 369, 377, 388, 393, 403, 434 Memorandum  177, 235, 255, 269 f., 348, 400 Mendelsche Gesetze (Vererbungslehre)  42, 197, 206, 213, 229, 237–39, 241–45, 250, 257, 262, 267, 275 f. mental deficiency  12, 135, 146, 173 f., 200, 207, 283, 286 f., 350, 353, 359 Mental Deficiency Act (1913, 1927)  146, 172, 229, 285, 353, 407, 442, 444 mental health  148, 386 mental tests  284 f., 287, 331, 343, 351 Mental Treatment Act (1930)  353, 386 Messungen, anthropometrische  152, 171, 199, 203, 236 Metaphysik  130 Methode, amateurfreundiche  104, biometrische  277, biostatistische  69, 75, 119, 239,

250, 254, 265, 276, empirische  102, 119, experimentelle  338, mathematische  51, 265, psychoanalytische  385, 413, psychotherapeutische  393, therapeutische  167, 369, 379 f., qualifizierende  106, quantita­ tive  103, soziologische 39, wissenschaftliche  24, 102, 154 Methodenbewusstsein  110 Methodendiskussion  4, 24, 42, 63, 91, 110 f., 114, 123, 191, 234, 248, 329, 346, 373, 438 Methodenkritik (-problem)  63, 76, 108, 231, 236, 264 Metropolitan Juvenile Court  397 Metropolitan Police  14, 46, 81 Milchdiät  302 Milieu (Arbeiter-, bürgerliches, kriminelles, -theorie)  41, 77 f., 83, 120, 122, 154, 163, 225, 312, 316, 343, 347, 362, 386, 417 f., 420 f., 429, 436, 438, 446 Militär (-ausbildung, -dienst, -gericht)  208, 215, 238, 278, 284, 294, 296, 298 f., 303 f., 348 Militärhospital  (-lazarett, -krankenhaus)  13, 16, 42, 117, 189, 293 f., 294, 297, 302, 319, 416 Millbank Prison  147, 164 Mind Association  288, 369 Minderwertigkeit, geistige  172, 214, 216, 364, 371, 403 Ministry of Pensions  302, 304–6 Mittelklasse (leistungsorientierte)  59, 118, 212, 429 f. Modellversuch  378, 391 f. Modernisierung (-prozess,e, -stheorie)  6, 10, 62, 71, 314 modified environmental interpretation  347, 394, 417, 439 moral insanity  94, 137, 139 f., 142 f., 151, 158 f., 185, 285 moral panic  87 moral sense  143, 199, 355, 358, 361–63 moral sentiment  138, 362 f. Moral Statistics of England and Wales  58 moral volition  448 Moralität  362 Mord  (Kinds-, Selbst-)  46, 93, 171, 201, 205, 366, 371–74, 447 Musik  226, 289 Mutation (-theorie)  134, 241 f., 244, 248–50, 275 Mutismus  293 Mutter, Mütter (Einfluss, Stief-)  256, 258, 316, 319, 347 f., 370, 391, 412–15 mutual aid instinct  359 Nachkrieg (-debatte,n, -zeit)  185, 415–17 Nachschulung  365, 403, 417 f., 427, 443

9.1.Sachregister   503 National Adult School Union  401 National Association for the Prevention of Cruelty to Children (NAPCC)  345 National Association for the Promotion of ­Social Sciences (NAPSS) (Social Science ­Association)  18, 85–91, 93 f., 99, 105–13, 115, 117, 128, 155, 187, 198 National Association of Prison Visitors  395, 397, 405, 407, 422 National Association of Prison Visitors to Women  405 National Association of Probation Officers (NAPO)  21, 272, 318 National Congress on Penitentiary and Reformatory Discipline  187 national efficiency  215, 234 National Health Movement  12 National Reformatory Union (NRU)  87, 89, 108 f., 311 Nationalität (Einflussfaktor)  255 natural selection siehe auch Auslese, natür­ liche  134, 221 nature and nurture  213 Neue Psychologie  283, 339, 343, 351, 368, 387, 389, 393, 395, 408, 417, 421 Neurasthenie  299 Neurologie  284, 326, 330 Neurophysiologie  127 new liberalism  431, 436 New Psychology siehe auch Neue Psychologie  340, 358, 418 New York Prison Association  187 NGO siehe non-governmental organizations non-governmental organizations (NGOs)  23 Normalität  (Normalisierung)  6, 10, 39, 249 f., 288, 330, 452 Normalverteilungskurve (Gauss) siehe auch bell curve  195, 240, 245 Normen  4 f., 30 f., 37, 39, 43, 114, 224, 265, 289, 324, 343, 361, 428, 452 NSDAP  273 Oberhaus, britisches  73, 305, 409 occasional criminal siehe auch Gelegenheitsverbrecher  144, 150 Öffentlichkeit 4, 15, 17 f., 23, 26, 29, 32, 35, 63, 74 f., 79, 82, 100, 118, 129 f., 142, 148, 155, 157, 159 f., 170, 180, 190, 194, 196 f., 207, 210, 212, 215, 228, 235, 250, 268, 278–80, 294, 304, 306, 308, 313, 322, 337, 369, 408 f., 411, 423, 434, 443, 450 On the Origin of Species (1859)  124, 127, 192 Opfer  40, 102, 109, 135, 175, 202, 214, 314 f., 376 Orientierungswissen  452

Pädagoge,n  56, 79, 90, 97, 118, 256, 263, 289, 326, 362 f., 368, 393, 397 f., 400, 405 Pädagogik  96, 98 f., 299, 314, 319, 324, 399– 401, 404, 417, 432, 440 Paralyse, -sis  140, 293 parental neglect  311, 439 Parlamentskommittee (-kommission)  63 Pastor,en  327 Pater Brown  280 Patriotismus  297, 363 Pazifist,en  21, 23, 393, 447 pedigree,s siehe auch Stammbaumforschung  193, 213, 232, 261, 295, 445 peers  50, 86 penal policy, penal reform  5, 7, 9, 11, 382, 390, 418, 422 Penal Reform League  18, 20, 22 f., 189, 308, 315, 318, 321 f., 325, 337 f., 376, 401, 427, 430, 432, 444 penal welfarism  7 Pentonville Prison  16, 200 Persönlichkeit (dynamische, -entwicklung, -störung)  98, 138, 146, 180, 216, 246, 302, 326, 328 f., 335 f., 351, 364, 372, 374, 381, 418 f., 429, 439, 447 Pflichterfüllung  357 Pflichtgefühl  297, 363 Phänotypus, -isch  243 f., 275 Philanthrop,en  3 f., 10, 35, 52, 54, 79, 104, 115, 181, 186 f., 230 f., 254, 260, 271, 376, 438, 452 Philanthropie  36, 50, 79, 102, 104–8, 119, 220, 310, 323, 421, 430 Photographie,n siehe auch composite photography  199, 201, 330 Phrenologie  12, 49, 196 physical anthropology  195–97 physical sciences  49 Physiognomie  144 Physiologie (Neuro-)  127, 130, 340, 387 Physiologie der Seele (Maudsley)  138 physique sociale  47, 116 play centre,s  320 Pluralismus  34 Police Court Mission  20, 322 Police Court Missioner  19 political obligation (Th. H. Green)  451 Polizeigerichte  72 Poor Law  322 Popularisierung (von Wissenschaft, Wissen)  45, 97, 109, 140, 191, 210 f., 410, 422 Population siehe auch Bevölkerung  53, 61 f., 77, 83, 135, 149, 160, 226, 240, 243, 249, 275–77 Portman Clinic  380 Praktiker  4, 10, 114, 369

504   Register Prävention  (-politik, -programm) 7, 15, 57, 110, 127, 160, 271, 273, 377, 433 Präventivhaft (-verwahrung)  173, 176 Präventivmedizin 160–64, 180, 209, 219, 221 f., 226, 230 f., 389, 420, 440, 448 Präventivpsychiatrie  160–62, 180 f., 403 pressure group  323 Prevention of Crime Act (1871)  86, 197 Prevention of Crime Act (1908)  15, 19, 167, 171, 175 preventive detention siehe auch Sicherungsverwahrung  13 f., 19, 167, 171, 174–76, 421 Prison Act (1865)  130 Prison Act (1898)  15, 19, 167 Prison Commission  8 f., 14–17, 24, 69, 146, 155, 159, 165 f., 173, 184, 186, 188–90, 198, 234–36, 247, 250, 262, 264, 270, 272, 275 f., 282, 373, 382, 392 f., 395–97, 402, 404–7, 410, 426, 431, 434, 436, 443, 445 Prison Commission for Scotland  40 prison visitor,s siehe auch Gefängnisbesucher  166, 395–98, 403, 405, 417 Probation of Offenders Act (1907)  19 f., 171, 321, 323 probation officer (Bewährungshelfer)  337, 390, 412 probation siehe auch Bewährungsstrafe  13, 19, 338 Problemgruppe  304, 310 professional criminal siehe auch Gewohnheitsverbrecher  83 f., 169, 449 Professionalisierung  19, 25, 53, 106, 114, 160, 264, 278 f., 323 prognosefähig  276 Propaganda  182, 272, 274, 446 Prophylaxe, soziale  180 Prosperität  66, 256 Prostitution  107, 287, 354, 374 Provincial Medical and Surgical Association  129 Pseudowissenschaft  234, 312 psychiatric social worker  385–88, 390 f., 413 Psychiatrie  (Gefängnis-)  2, 12 f., 41 f., 124– 19, 136–38, 143 f., 146, 155–57, 160–63, 170, 178, 180, 183, 185, 194, 269, 292, 295 f., 303, 306 f., 330, 340, 343, 351, 361, 363 f., 366 f., 369, 387–89, 393, 403, 408 f., 416, 418–20, 439 f., 443, 447 Psychoanalyse  41, 121, 256, 291, 301, 307 f., 340, 343, 358, 367–70, 373–75, 377–79, 382, 387–89, 412–15, 417 Psychoneurose  296, 300 Psychosis  332 Pubertät  332, 347, 382, 387 public opinion siehe auch Öffentlichkeit  23, 120, 190, 211, 267

Quäker  18, 398 rarity of existence  249 Rationalität,en  (Kriterien) 34, 280, 285, 449 Raub  65, 136, 175, 235 Rechtssicherheit  180 Rechtsverantwortlichkeit siehe auch Willensfreiheit  47, 353, 437, 443 recidivism siehe auch Rückfälligkeit  169, 216, 257 re-education  365, 418, 427 Regression  240, 291, 368 Rehabilitierung  164, 174, 176, 357 Reiz/Reaktion (-modell)  290, 292 f., 448 Reizverarbeitung  389 Report of the War Office Committee of Enquiry into Shell Shock  305 Repression (-mechanismus)  291, 298 f., 305, 361 f., 365, 368, 400 Reproduktion (-fähigkeit, -programm, -prozess, -verbot)  193, 206, 213–15, 230, 291 res publica siehe auch Gemeinwohl  31 responsibility(criminal, moral, social) siehe auch Zurechnungsfähigkeit  93, 148 f., 151, 159, 211, 263, 408, 425 f., 452 Ressource,n  4 f., 61, 427, 439 Rezessivität  243 Römisches Recht  185 Röntgenstrahlen  242 Round about a Pound (Pember Reeves)  316 Royal Army Medical Corps  294, 302 Royal College of Science  225 Royal College of Surgeons  440 Royal Commission of the Care and Control of the Feebleminded  253 Royal Edinburgh Asylum for the Insane  153 Royal Engineers  198, 215, 252 Royal Institute of Health  161 Royal Medico-Psychological Association  409, 450 Royal Sanitary Institute  161 Royal Society  45, 117, 204, 206, 241 Royal Society of Medicine  307 Royal Statistical Society (ab 1887) siehe Statistical Society of London Rückfallhäufigkeit (-quoten, -statistiken)  69, 73, 80, 85, 128, 134, 163, 173, 255, 322 Rückfälligkeit (recidivism)  197, 216, 255 f., 347, 393, 404 Reconstructing the Criminal (Wiener)  7, 67 Psychologie  1, 41 f., 95, 97, 128, 146, 149 f., 159, 223, 283 f., 287, 289, 292, 323 f., 330, 332, 338–43, 346, 351, 364, 367 f., 371, 378, 387, 389, 393, 395, 401, 404, 408, 410, 416– 18, 420 f., 439 f., 448 f., 451

9.1.Sachregister   505 reformatory, -ies (schools)  8, 13, 69, 310 f., 313, 315, 321 f. Regierungsbeamte  17, 55, 264, 453 Religion, religiöse Gruppierungen  13, 21, 28, 32, 49, 60, 91, 114, 210, 280, 344, 356, 374, 397, 438 Rückfalltäter  152, 198, 264, 329, 330, 420 Säkularisierung  19, 417, 427 Salpêtrière  284 Sanitäre Änderung  53, 57, 126 f., 160, 163, 440 Sanktion,en (-bedingungen, -bereich, -praxis, -system, -verbesserungen)  7, 39, 43, 230, 235, 264, 323 Säuglingssterblichkeit  124 Scheidung  87, 95, 348 Schlafverhalten  389 Schuld (-fähigkeit, -gefühle, individuelle)  6, 64, 94, 107, 146, 174, 230, 370, 374, 453 Schuldprinzip  8 Schule, Schulpraxis  6, 55, 57, 60, 83, 95, 98, 129, 207, 209, 288, 310, 313, 344, 390, 399– 401, 413 Schulerziehung siehe auch Erziehung  256 Schulinspektor,en  57, 59, 399 f. Schwachsinnigkeit siehe auch Geistesschwäche  126, 133, 145–47 Schwarzafrikaner  204 Schwerverbrecher (convict)  14, 43, 88, 109, 124, 131, 133, 199, 255 science Science for the Citizen (Lancelot Hogben)  230, 446 Scientific Group for the Discussion of Delinquency Problems  382 scientific patriotism  217 Scotland Yard  17, 152, 170, 184, 198, 205, 217, 252 Seele, sündige  452 Segregation  7, 215 f., 218, 259, 430, 445 Selbstbestimmung  98, 400 Selbstbildung  37–39 Selbsterhaltung (-trieb)  291, 297 f., 356, 358, 361 Selbstkontrolle  158, 375, 400, 445 Selbstmord  46, 366, 371–73, 447 Selbstoptimierung  365 Selbstregulierung  37, 401 Selbstsorge, Sorge um sich (Foucault)  37 f. Selbstverwaltung  400 Selbstverwirklichung  365, 429 Selektion (künstliche, natürliche, -theorie)  145, 193, 212, 231, 240, 253, 258, 276, 354 settlement (auch university settlement) 312, 318, 343, 435

settlement-Bewegung  290, 315 f., 320, 323, 343, 396, 408, 436 Sexualität  37, 299, 368 Sexualtrieb  291, 298, 358, 361, 368 Sexualverbrecher  252, 269 shell shock  42, 291–308, 319, 328, 354, 416, 442 Sicherungsverwahrung  15, 19 f., 164, 167, 169, 171–77, 181, 218, 321, 421, 443, 449 Slum,s (-bildung)  3, 60, 62, 81, 101, 135, 160, 166, 313, 333, 362 Social Science Association siehe National Association for the Promotion of Social Sciences social study  312 Society for the Study of Inebriety  224 Sociological Review  22, 24, 121, 356, 371, 376, 431, 444 Sociological Society  18, 22, 75, 121 f., 210 f., 219, 441 Sorge um sich (Foucault)  37 f. Sozialanthropologie  289 Sozialarbeit,er  9, 16, 90, 186, 209, 263, 271, 312, 314 f., 322 f., 325–27, 363, 385–87, 389– 92, 395, 398, 410, 413 f., 420 f., 433, 435 f., 447 Sozialbericht  316, 391 Sozialdienst (psychiatrischer)  322, 390, 417, 421, 435 Sozialdisziplinierung  90, 310, 312, 444 Soziale Physik siehe physique sociale Sozialforschung, empirische  41, 72, 78, 81, 110, 324, 418, 438 Sozialinstinkt,e  144, 354–56, 360, 366, 447 f. Sozialisierungsdefizit  313 Sozialismus, ethischer  9 Sozialist,en  21, 23, 272, 354, 393, 417, 433, 446 Sozialkompetenz  146, 365 Sozialkontrolle  10, 104 Sozialpolitik  85, 103, 161, 163, 420, 428 Sozialpsychologie  42, 288, 289, 292, 340, 354, 387, 418, 421, 429, 437, 446–49 Sozialreform,en  9, 13, 36, 41, 50 f., 85, 105 f., 116, 121 f., 145 f., 312, 407, 420 f. Sozialreformer  4, 10, 46, 69, 100, 104, 107, 114, 116, 119 f., 143, 152, 186, 208, 219 f., 230 f., 238, 254, 276, 281, 309, 311, 324–26, 344, 347 f., 367, 373, 376, 396, 400, 403, 407, 417, 421, 429, 436–38, 445, 447, 452 Sozialstatistik  51, 53, 75, 77, 104, 115 f., 213 Sozialverhalten  225, 297, 360 Sozialverträglichkeit  146, 350, 445 Sparsamkeit  311, 316, 391 Spezialist siehe auch Experte  278, 447 Sprachkompetenz  284, 332

506   Register Staatsbürgerschaft  427 f., 430 f., 433, 437, 443 Stammbaum (-analysen, -forschung, -tafeln)  133, 193–96, 206, 213, 215, 232, 245, 261, 295, 333, 447 Standardisierung  76, 111 State Children’s Association  308, 322, 408 State Science Council  278 Statistical Society of London  17, 46, 128 Statistik, biometrische  232, 253, 206, 233, 238, 245 Statistische Gesellschaft siehe Statistical Society of London Statute Law  2 Stellungskrieg  292, 305 Sterberate  52, 160 Sterilisation  146, 215, 217, 230, 235, 268–71, 273 f., 281 f., 420, 429, 442 Straffälligenfürsorge, christliche  403 Strafmonopol  8 Strafpraxis  7, 9, 13, 145, 168, 190, 234, 345, 421 Sublimierung  368 Suffrageten  16, 18, 22, 398 Suggestion  301 f., 306, 356 survival of the fittest  147, 193 Tagesklinik,en  305–7, 380, 387, 443 Talent,e  105, 133, 192–95, 225 f., 279, 284 Täterkonstitution  12, 18, 77, 120, 124, 148, 264, 267, 289, 451 f. Tavistock Clinic  306, 368, 414 Teamarbeit  378, 412 Technik,er  6, 10, 37 f., 49 f., 59, 170, 195, 202 f., 234, 261, 276, 285, 302, 391 Technik der Internierung  6 Temperament  116, 125, 171, 290, 349, 351, 364, 407 tempermental deficiency  350 Terre des Hommes  40 Therapiezentren  43, 303, 412 Times  14, 195, 274, 320, 380 Toleranz  32, 34, 226, 443 Trauma,ta  140, 295, 306 Traumdeutung  298, 301 Träume (Alb-, Tag-)  291, 298 Traumkonflikt  301 Trevelyan Report  278 Trieb siehe Instinkt Triebkontrolle  361, 447 Trunksucht, Trunkenheit siehe auch Alkoholsucht  63 f., 66, 107 Tuberkulose  215, 222, 256, 300 Überforderung  147, 406, 413 Über-Ich  370, 381, 414 Überlebenschancen  356

Übertragung  33, 126 f., 195 f., 216, 324, 347, 349, 417, 432 Überwachen und Strafen (Foucault)  5 Überwachungssystem  197 f. Umwelt siehe auch Milieu  25, 41, 152, 198, 213, 231, 233, 237, 241, 246, 264 f., 269, 276, 291 f., 300, 308, 311, 317, 330, 333, 342, 356, 362, 364, 376 f., 377, 418 f., 432, 438 Umwelt (-einfluss, -einflüsse)  58, 90, 124–27, 153, 164, 198, 221 f., 226 f., 251, 254 f., 260, 388, 413, 440, 442 Umweltfaktor,en  77, 94, 217, 243, 252, 257, 331, 333, 388, 413, 420 f., 440 Umwelt (-bedingungen, -gedanke, -konzept, -schutz) 62, 95, 99, 151, 241, 334, 357, 367 Unbehagen in der Kultur (Freud)  357 undeserving poor  214, 322 Unerziehbarkeit  312 University College London  46, 103, 137, 153, 203, 210 f., 237, 239 f., 245, 275, 286, 341, 344, 448 university settlement siehe settlement Unlust  349, 363 Unruhen (Chartisten)  59, 65, 74, 103, 169, 366 Unterernährung  124 f. Unterschichten, -jugend  3, 78, 93, 309 f., 312, 316, 324, 428, 441 Untersuchungsausschuss, parlamentarischer  14, 61, 207, 311, 313, 392 f., 434, 440 Untersuchungshaft  287 Unverantwortlichkeit  262, 266 Unverbesserliche  109, 172, 404, 406, 420 Unverbesserlichkeit (incorrigibility)  174, 181, 404, 449 Unzurechnungsfähigkeit  142 f., 150 Urbanisierung  60, 92, 107, 309 Variation (variability)  194, 221 f., 226 f., 231, 240–42, 248–50, 252, 346, 446 Verantwortung (-fähigkeit)  8, 29, 93, 119, 157, 161, 174, 220, 285, 299, 311, 333, 372, 400 f., 408, 444, 449 Verantwortlichkeit  8, 47, 139, 145, 168, 173 f., 180, 266, 443 Unterhaus, britisches  14, 46, 86, 158, 281, 421 Teilöffentlichkeit,en  17, 26 Unzurechnungsfähigkeit  142 f., 150 Verarmung  3, 52, 65 Verbrecher, geborener  123, 155, 163, 179 f., 182, 235, 252, 262 Verdrängung  301, 386 Vereinte Nationen  275 Vererbung (-lehre, -mechanismus)  42, 63, 124, 126 f., 132–34, 139, 146, 148, 150, 153,

9.2. Ortsregister   507 191–97, 202, 205 f., 210, 213, 215, 217, 220, 222, 224, 229, 238, 241–44, 248, 250, 252, 257–59, 268, 275 f., 284, 300, 336, 343, 345, 359, 388 Verhaltenspsychologie  336, 342, 354, 418, 430 Vermittlerfunktion  29, 407 Verstädterung siehe auch Urbanisierung  52, 62, 92, 94 Verteilungsmodalitäten  427 Vervollkommnung (des Subjekts)  38 Verwaltungsangestellte  70, 86, 104, 118, 209, 453 Volksempfinden  273 Volksgemeinschaft  270 Volksgerichtshof  273 voluntary societies siehe auch non-governmental organizations  28, 392 Wählerschaft (erweiterte)  44, 118 Wahlrechtsreform  44, 426, 437 Wahlverwandtschaft (anlagebedingte)  258 Wahrscheinlichkeitsrechnung  75, 246, 248 weak-minded criminal  146 f., 164, 170, 173– 75, 179–81, 232, 286 Weimarer Republik  8, 74, 185, 295, 312, 404, 429 Weltaneignung  334, 418 Weltbindung  414, 447 Weltwirtschaftskrise  366, 417, 438 f. Werte  5, 7, 37, 39, 43, 50, 59, 112, 139, 297, 309, 322, 451 f. Wettbewerbsfähigkeit  193 Wiedereingliederung  7, 188, 398, 426

Wiederholungstäter  165, 169, 171, 177, 198 Willensfreiheit  47 f., 266, 275, 437, 446 Wirtschaftswachstum  66 Wissensbestände  4, 6, 26, 39, 42, 120, 279, 314, 398 Wissenschaftlichkeit  3, 106, 211, 233, 250, 261 Wissenschaftsförderung  49, 117 f., 277 Wissenschaftsgläubigkeit  39 Wissenschaftsstürmerei  39 Wissensproduktion  32, 42, 118, 210, 212, 294, 412 Wissensstrategien  5 Wohl des Kindes  317, 390 Wohltätigkeit (-organisationen)  51, 79, 88, 106, 214, 281, 303, 322, 427 Wohnverhältnisse  61, 100, 310, 389 Women’s Local Government Society  337 Wormwood Scrubs Prison  407 Zahnheilkunde  163 Zensus  73, 200 Zivilgesellschaft  4, 7, 26–37, 39 f., 44, 279 f., 288, 297, 304, 310, 404 f., 425, 428, 430, 450, 453 Zivilisationsprozess  83, 104, 195 Zivilität  30 f. Zuchthaus, Zuchthäuser  14 f., 236 Zurechnungsfähigkeit  93, 139 f., 143, 148 f., 151, 158 f. Zweiter Weltkrieg  176, 226, 304, 345, 368–70, 381 f., 386, 389, 394, 402, 414–16, 418, 421, 448

9.2. Ortsregister Aldershot  294 Amerika  7, 29, 184, 188, 233, 270, 282, 307, 312, 331, 346, 364, 373, 439, 449 siehe auch USA Asien  270 Berlin  3, 5, 170, 186, 270 f., 274 f., 281 f., 303, 368, 381 Birmingham  20, 61, 91, 96, 212, 312, 319, 352, 373 f., 392 Broadmoor  135, 148, 153, 161, 223, 269 Budapest  72, 186, 307, 368, 370 Cambridge  45 f., 49, 104, 240–42, 244, 278, 289–91, 293, 338, 382 Camp Hill  15, 176, 264, 443

Cardiff  204 Cheltenham  51, 72, 85 Cincinnati  187 Craiglockhart  294, 298, 301 Denmark Hill  307, 387 Depthford  205 Deutschland  2, 36, 41, 70, 105, 120, 208 f., 270–73, 277 f., 280 f., 294, 297–99, 301, 303 f., 307, 309 f., 312, 331, 354, 368, 404, 406, 418– 20, 428, 433 f. Dorset  400 East End  60, 100, 136, 166, 348, 384 Edinburgh  153 f., 294

508   Register Frankreich  2, 16, 105, 121, 124, 127, 135, 205, 208, 234, 284, 293 f., 302 f., 354 Gallipoli  297 Indiana  235, 268 Isle of Wight  15, 176, 264, 443 Italien  2, 120, 124, 294, 296

Paris  40, 72, 182, 189, 284, 286, 303 Perth  90, 131, 135 Portsmouth  136 Prag  271 f. Saint Yon  124, 284 Schottland  40, 131, 298 South Kensington  203 Surrey  21

Liverpool  61, 89, 98 f., 294, 300, 312, 343 Torres Straits  289 Maghull  294, 297, 300–302 Malta  297 Manchester  48, 55, 61, 261, 312 f., 315 Netley  294 Niger  204 Oxford  9, 203, 228, 252, 264, 278, 343, 358, 366, 377, 408, 410, 433–36, 448

USA  1, 24, 167, 184, 187, 209, 275, 284, 289, 304 f., 324 f., 328, 367, 369, f., 387, 416, 425 Washington  282 Westminster  48, 54 Whitehall  48, 70, 76, 103, 235, 322, 405 f.

9.3. Namensregister Abrams, Philipp  48,51,53,105–107, 472 Adam (erster Mensch)  125, 195 Adderley, Charles Bowyer  87 Adeline, Duchess of Bedford  395 Airy, George Biddell  117 Aitken, G.A. 315, 320 Albert, Prince  46 Alexander, Jeffrey  28 Alexandra, Princess  303 Anderson, Perry  105 f. Anderson, Robert  54, 170, 217 Arato, Andrew  28 Armstrong Jones, Robert 295 Arnold, Matthew  194 Asquith, Herbert Henry, 1st Earl of Oxford and Asquith  165 Babbage, Charles  46, 48 Bailey, Victor  5, 8 f., 11, 24, 347, 389, 436 Baker, Thomas Barwick Lloyd  87, 90 Baker, John  179, 269 Barnardo, Thomas John  98 Barnes, Canon  338, 427 Bartlett, Frederick C.  291 f., 292, 326, 341 f. Bateson, William  206, 239–45, 250, 267 Beatty, David Richard, 1st Earl  306 Becker, Peter  25, 74 Beggs, Thomas  91 Beirne, Piers  233 f. Belloc, Hilaire  281 Bentham, Jeremy  363

Bentinck, Lord  309, 337 Bertillon, Alphonse  205 Binet, Alfred  283 f., 286, 288, 332, 369, 443 Bing, Geoffrey  272–74 Binny, John  78 Birkbeck, George  46 Bjerre, Andreas  366 Blacker, Charles P.  223, 228 Blasius, Dirk  41 Boas, Franz  290, 331 Bogacz, Ted  293, 305 Booth, Charles  99–104, 106, 119, 217, 316, 348, 438 Booth, William  60, 166 Bosanquet, Bernard  434 Bosanquet, Helen  322, 430 Bowlby, John  42, 96, 256, 348, 412–18, 421, 447 Brierly, Marjorie  369 Brockway, Archibald Fenner  23, 394, 396, 432, 438 Bronner, Augusta F.  327, 346, 371 Brougham, Lord Henry Peter, 1st Baron Brougham and Vaux  73, 85–87 Brown, William  299, 341, 408 Bryce, James  441 Bucknill, John Charles  129, 147 Burt, Cyril Lodovic  11, 223, 284 f., 287, 313, 338, 341, 343–54, 360–62, 365, 368, 375–77, 380, 383–87, 390, 39395, 410–12, 414, 418, 435, 441, 447 f.

9.3. Namensregister   509 Burt, J.T. (Reverend)  94, 115 Calvert, Roy  18, 395–98, 403 Cambell, John  135 Carpenter, Edward  21, 23, 165, 426 f. Carpenter, Mary  69, 87 f., 114, 119, 311 Carroll, Denis  411 Carr-Saunders, Alexander Morris  222, 226– 28, 233, 436, 439, 452 Cavendish-Bentinck, Henry, Lord  309 Chadwick, Edwin  52, 70, 86, 105 Chalmers, Thomas  50 Chamberlain, Edward  124, 126 Charcot, Jean-Martin  284 Charles II  76 Chesterton, Gilbert Keith  219, 280, 281 Churchill, Winston  15, 175, 279, 313 Clarke, John  272 Clay, John  323 Clement Brown, Sybil  389, 391 Clouston, Thomas Smith  153 f. Cohen, Deborah  303 f. Cohen, Jean  28 Cole, Simon  197, 199, 205 Combe, George  196 Correns, Carl Erich  242 Coutagne, Henri  162 f. Crackanthorpe, Montague  214 Craig, Neville  423 Crichton-Browne, James  223 f. Crichton-Miller, Hugh  368 Crofton, Walter  188 Cullen, Michael  46, 48 Danson, John Towne  92 Darbishire, A.D.  245 Darwin, Charles  11, 113, 116, 124, 127 f., 134 f., 135, 137, 140, 145, 155, 178, 191–95, 199, 202, 215, 239–41, 254 Darwin, Leonard  215–18, 228 f., 231, 254, 259, 446 Davenport Hill, Mathew  84, 87, 92, 109 Davenport, Charles  237, 245, 250 Davidson, Roger  103 Davie, Neil  12, 83, 200, 206, 440 Davies, S.P.  281 De Sanctis, Sante  260 De Vries, Hugo  242 Dendy, Mary  208 Despine, Prosper  128, 131, 140 Devon, James  129, 179, 231, 331, 382 Dewey, John  399 Dicey, Albert Venn  120 Dickens, Charles  60, 98, 114 Donkin, Horatio Bryan  17, 235–37, 246, 264–70, 280, 282, 389, 434

Du Cane, Edmund  17, 135, 155, 183 f., 189, 198–200, 215 Durkheim, Emile  39, 105, 121, 335, 422 East, William Norwood  17, 269 f., 273 f., 282, 300, 352, 366, 375, 382, 393, 403, 406 f., 409 f., 434, 442 Eder, David  297 Elliot, Henry Lettsom  72, 92–95, 107 f., 110 f., 114 f., 327, 349 Ellis, Havelock  11, 21 f., 24, 137, 144, 150, 154, 156 f., 165, 183–85, 223, 336, 380, 426, 445 Emsley, Clive  74, 170 f., 197 Fancher, Raymond  344 Farr, William  52, 70, 76, 86, 105, 107 Faulds, Henry  202 f. Felkin, W.  62 Ferri, Enrico  22, 182, 260, 335 Field, Henry  365, 375, 378, 394 Fink, Arthur  2, 324, 439 Finzsch, Norbert  37, 46 Fisher, Ronald A.  222 Fletcher, Joseph  57–59, 62–65, 68f. 71, 74, 105, 107 f., 111, 327, 438 Forsythe, William  1,8 f., 11 Foucault, Michel  5–7, 9–11, 13, 36–38, 40, 108, 444 Fox, Lionel  17, 403 Frank, Hans  273 Freeman Sharpe, Ella  369 Freisler, Roland  273 Freud, Anna  369, 370, 381 Freud, Sigmund  284, 288, 290 f., 297 f., 201, 307, 340, 349, 355, 357–59, 361, 367 f., 374, 392, 401 Friedländer, Kate  381 f., 421 Fry, Elizabeth  421 Fry, Margery  20, 23, 189, 431 Galton, Francis  11, 133 f., 150, 152, 179, 191– 211, 213, 215, 217, 219–21, 225–27, 230–32, 234, 237, 239–41, 245, 259, 270, 284, 289, 336, 343, 355, 445 f. Gardner, Arthur Robert Lee  18, 23, 411 Garland, David  6–9, 11, 157, 178, 407, 433 f. Garofalo, Raffaele  154, 182, 335 Gerrad, Thomas  281 Gillespie, Robert David  351 f., 364 f., 386–88, 410 Gillham, Nicolas Wright  97, 196, 206 Gladstone, Herbert  166 Gladstone, William  86 Glover, Edward  379, 392, 423 Glover, James  349

510   Register Glyde, John  62 Goebbels, Joseph  273 Goldman, Lawrence  85, 106, 112, 118 Good, T.S.  366, 377, 410 Gordon, Mary  16 f. Gordon, Ronald G.  366, 386, 447 Goring, Charles  217, 234–238, 245–67, 270, 274–78, 280, 284, 325 f., 328, 330–33, 352, 354 Gosewinkel, Dieter  30 Gover, Robert  147, 164, 380 Gradgrind, Thomas  60, 114 Graunt, John  45 Graves, Robert  296 Gray, Kirkman  119 f. Green, Thomas Hill  9, 340, 434, 436, 441, 448 f., 451 Greg, William R.  55 Griersom, Hugh A.  287, 406 f., 444 Griesinger, Wilhelm  147 Griffiths, Arthur  182 f. Griffiths, G.B.  236, 238 Grünhut, Max  158, 390, 418, 422 Guerry, André-Michel  46 f., 53–57 Gürtner, Franz  272 f. Guy, William A.  52, 70, 75, 93, 200 Haarmann, Fritz  370 Habermas, Jürgen  36 Haddon, Alfred Cort  289 Haig, Douglas, 1st Earl  306 Haldane, John Burdon Sanderson  222 Hall, John A.  31 f. Hall, William Clarke  318, 322, 324 Hamel, Gerardus Antonius van  182 Harris, Harry  351 Harris, José  428, 430 Harris, Ruth  124 f., 127, 135 Hasenöhrl, Ute  29, 31 Hastings, George Woodyatt  85, 87, 129 Hawthorn, Geoffrey  120 Healy, William  24, 289, 324–337, 342–44, 346 f., 354, 365, 371, 373, 383, 385, 395, 411 f., 414, 418, 447 Henderson, Robert  388 Henriques, Basil  410 Henry, Edward  205 Herschel, William  203 Hetzel, Andreas .6 Hitch, Samuel  128 f. Hobhouse, Leonard  121, 432, 449 Hobhouse, Stephen  10, 23, 396 Hogben, Lancelot  230, 446, 452 Holmes, Edmond  399 f. Holmes, Thomas  19 f., 24, 189 Hood, Roger  9, 11, 70, 73, 77, 105, 115

Houghton, Lord, siehe Milnes Housman, Laurence  427, 447 Howard, John  18, 51, 95 Hubbard, Joseph  98 Hutchinson, Robert  220 Huxley, Julian Sorel  222 Huxley, Thomas Henry  113, 194, 196, 354 Ignatieff, Michael  5 Isaacs, Susan  369 Jäger, Jens  74, 184 Jones, Ernest  307, 341, 358, 367 f. Kay-Shuttleworth, James  86 Keynes, John Mayard  223 Kingsley, Charles  86 Kinnaird, Arthur  92 Klein, Melanie  368–71, 377, 385, 413 Knutsford, Sydney George Holland, 2nd Viscount  303 Kraepelin, Emil  367 Kuklick, Henrika  290, 292, 439 Lamarck, Jean-Baptiste de  126, 133, 138, 153, 229 Lane, Homer  400 f., 433 Lauth, Hans-Joachim  27, 33 Le Bon, Gustave  356 Leese, Peter  301 Leeson, Cecil  20, 24, 189, 313, 319 f., 322 f., 338, 408 Leeson, Peter  303 Lerner, Paul  296 Levi, Leone  63 f., 66, 71–73, 104 Liszt, Franz von  3, 144, 169, 182, 184, 419 Lloyd-Baker, Thomas Barwick  87 Locke, John  56, 96 f., 339 f. Lombroso, Cesare  7, 22, 82, 123–25, 134, 148, 150, 155, 157, 162, 178, 182 f., 199, 226, 232, 234–36, 240, 252, 259 f., 262, 283, 331, 419, 426, 445 f. Lombroso-Ferrero, Gina  260 Low, Barbara  367, 369 Lowe, Rodney  44 Luhmann, Niklas  32 Lushington, Godfrey  434 Lyell, Charles  194 Macdonnell, John  183 MacKenzie, Donald A.  41, 211, 222, 242, 276 Mackenzie, William Leslie  221, 336 Macmillan, Hugh Pattison, Lord  409, 450, 453 Malthus, Thomas  48, 50, 61, 76

9.3. Namensregister   511 Mannheim, Hermann  381, 422, 433 Mapoth, Edward  369 Martin, Anna  316, 324, 348 Masterman, Charles  313 Maudsley, Henry  136–44, 147–51, 156 f., 159, 178 f., 200, 219 f., 295, 307, 369, 408, 439 Maxwell, Alexander  404, 410 Mayhew, Henry  60, 78, 90, 99, 111, 119, 169 Mazumdar, Pauline  213 McDougall, William  223, 225, 289, 299 f., 326, 340, 349, 355, 360, 448–50 McNabb, Vincent  281 McNaughten, Daniel  142 Mendel, Gregor  197, 239, 242 f. Mercier, Charles  159, 220, 270 Merton, Robert K.  32 Methven, J.C.  286 Micale, Mark  296 Mill, John Stuart  86, 90, 97 f., 279, 283 Milnes, Richard Monckton  91, 115 Mitchell, Thomas W.  341, 367 Montagu, George, 9th Earl of Sandwich  400 Montessori, Maria  98, 399 f., 432 f. Moodie, William  379, 384–86, 388, 412 Morel, Bénédict Augustin  123–28, 131–37, 155, 178, 193, 199, 284, 440 Morrell, Jack  48, 50, 110 Morrison, William Douglas  21–24, 114, 121, 165 f., 309, 311, 327 Mott, Frederick  223, 295, 300, 305, 340 Murray, Jessie  369 Myers, Charles S.  289, 293, 299 f., 302, 326, 341, 344 Napoleon I.  226 Neison, Francis Gustavus Paulus  57, 62, 64, 68, 71, 107, 438 Newton, Isaac  49, 67, 113 Nicolson, David  144–49, 151–56, 158, 161 f., 166, 168, 179 f., 200, 223, 234, 353, 408, 439 f., 449 Nordau, Max  226, 235 Norman, Conolly  154 Norris, A.H.  272, 315, 318, 434 f. Norton, Lord, siehe Adderley Nugent, James  98, 119 Oberwittler, Dietrich  309–12, 319 Oppenheimer, Albert M.  184 Orange, William  153 Owen, Richard  428 Owen, Wilfred  296 Page, Leo  24, 190, 446 Pailthorpe, Grace Winifred  369, 373–75, 378 f., 392

Pare, William  84 Paterson, Alexander  9, 17, 270–74, 313, 407, 426, 432, 434–36 Pear, T.H.  296, 300 Pearson, Karl  153, 208, 210 f., 220, 234, 236– 47, 257, 259, 261, 267, 275–78, 280, 283, 323, 325 f., 355, 425, 436, 447 Peel, John  120 Peel, Robert  46, 142 Pember Reeves, Maud  316 f. Petty, Sir William  45 Phillips-Kay, James  59 Pick, Daniel  135 Pitt-Rivers, George  222 Plant, Raymont  435 Polwarth, Walter Hugh Hepburne-Scott, 9th Lord  272, 274 Porter, Dorothy  223 Porter, George Richardson  55 f., 61, 70, 74, 438 Porter, Theodore  47, 112, 278, 437 Potter, Beatrice siehe Webb, Beatrice Potts, William Alexander  352 f. Prichard, James Cowles  140, 159, 193 Prins, Adolphe  182, 184 Pritt, Denis  271 Punnett, Reginald C.  244 Quetelet, Lambert Adolphe Jacques  45–48, 104, 116, 234, 245 Quinton, Richard F.  136, 179, 216, 352 Radzinowicz, Leon  9, 77, 84, 105, 115, 183, 197, 422 f. Rapp, Dean  368 Raven, Alice  371, 413, 447 Rawson, Rawson W.  56–58, 61, 67 f., 71 Redgrave, Samuel  56, 59, 71 Rees, J.R.  410 Reid, Archdall  223, 231, 266 Rigby, Lilian  313 Ripper, Jack the  370 Rivers, William H.R.  289–93, 297–301, 305, 326, 340–42, 355, 358–61, 368, 420, 447 Rixon, C.H.L.  287, 444 Robertson, George  156, 162 f., 301 Rose, Nikolas  269, 284, 287, 368, 380, 388, 390 Rosen, Gabriella  34 Rowntree, Benjamin Seebohm  102, 106, 316 Ruggles-Brise, Evelyn  3, 15, 17, 69, 173–75, 177, 184, 188–90, 199, 234 f., 262–64, 266, 270, 282, 395, 426, 431, 433 f. Ruskin, John  86 Russel, Charles  313–15, 320, 434 f. Russell, John  86, 89, 111

512   Register Tartt, W.M.  74 Thackray, Arnold  48, 110 Thomas, W. Rees  350, 359, 377 Thomson, Basil  15, 17 Thomson, Bernard  441 Thomson, James Bruce  130–137, 139 f., 143– 45, 149, 156, 158, 161, 179, 198, 200, 234 Thomson, Mathew  442 Tichborne, Roger  203 Tocqueville, Alexis de  29 Tredgold, Alfred  11, 207, 217, 223, 269, 281, 359, 361, 363, 369, 386 Troup, Edward  173, 205, 255 Tschermak-Seysenegg, Erich von  242 Tuke, Harrinton  147 Turner, Cecil  395, 423

Saleeby, Caleb William  217, 223 Salt, Henry  21, 23, 165 Sassoon, Siegfried  296, 298 Savage, George H.  137, 160 Schauz, Désirée  403 f. Schiller, Ferdinand  228 f., 449 Schmideberg, Melitta  369 f. Scott, Harold  17, 270 Sedgewick, Adam  49 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper, 7th Earl of  98 Shakespeare, William  219 Shand, Alexander F.  340, 349 Shaw, George Bernard  21 Shortt, Edward  309, 321, 337 Sim, Joe  12, 178 Simon, John  86 Simon, Théophile  283 f., 286, 288, 332, 443 Simpson, H.B.  177, 262 Smalley, Herbert  236, 247, 352 Smith, Grafton Elliot  296, 300 Smith, Maurice Hamblin  287, 336, 351, 360, 373 f., 376, 382, 392, 394, 403, 406, 410, 444, 451 Soloway, Richard  239 Southborough, Francis John Stephens Hopwood, 1st Baron  305 Spearman, Charles Edward  285, 441 Spencer, Herbert  116, 147, 193 f., 340 St. John, Arthur  23 f., 189, 240, 315, 318, 325, 337, 376, 444 Stanley, Frederick, 16th Earl of Derby  51, 73, 88, 113 f. Stephen, James Fitzjames  90, 158 Stephens, Harold Freize  353 Stoddart, W.H.B.  350, 361, 363 f., 367 Stone, Martin  306 Stopes, Marie  222 Sturge, Joseph  87 Sullivan, William C.  223–25, 286, 336 Sully, James  340, 344 f. Sutherland, Edwin H.  95 Sutton, David  428 Swinny, Shapland H.  121 Symons, Jelinger C.  59, 92

Wachsmann, Nikolaus  406 Wagner, Patrick  74 Walker, Nigel  142, 159 Wallace, Alfred  241 Waller, Maurice  373, 404, 407, 426 Walzer, Michael  30 f. Ward, James  338 f., 341 Watson, John  397 f., 407 Watson, Stephen  12, 286 Webb, Beatrice  23, 100, 119, 192 Weber, Max  5 f., 10, 105 Wedgewood, Josiah  229 Weismann, August  153, 194 Weldon, Walter Frank Raphael  237, 239–45, 248 Wells, Ashton  91, 95 Wells, Herbert George  225, 279 f. Wetzell, Richard  409, 419 f. Wiener, Martin  7–9, 67, 178, 409, 433 Williams, Theodore  337 Wilson, George  130, 131, 136, 156 Wines, Enoch Cobb  187 Winnicott, Donald Woods  416 Woodworth, Robert  360

Tallack, William  18–21, 24, 165 f., 183 f., 187, 189, 310 f. Tansley, Arthur George  355, 358, 360, 447

Yeo, Eileen Jane  52, 61 Young, Hubert Turner  407 Young, Michael  445

Vincent, Andrew W.  322, 427, 430, 435 Vincent, Howard  184 Vinogradoff, Paul  3

Abkürzungsverzeichnis AMS BAAS CETS COS GRO HO ICCA IKV IPPC ISTD JMS JSSL LSE NAPCC NAPO NAPSS NRU SSA TNA

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Abstract Why do people become criminals? What are the causes of delinquent be­haviour? In the 19th and early 20th centuries in England such issues were not – as in many other Western European countries – confined to restricted groups of experts, but were discussed at length by the public in a civil society. This book – organised largely chronologically and, for systematic reasons, geared towards the individual disciplines – examines both the emergence of specifically scientific ­discourse spaces, in which new knowledge about criminology was produced (statistics/­ social research/social reform; medicine/psychiatry; eugenics; biometry/­correlative statistics; psychology/psycho-analysis), as well as the organisations (philanthropic organisations, reform societies, autonomous scientific associations, private scientists and laboratories et al.), in which the relevance of the concepts and models were discussed, giving due critical consideration to the methods of examination used (e.g. questionnaires, statistics, psychiatric diagnostics, anthropometric measuring, individual case studies). It becomes clear that compatibility with the prevailing social values, norms and self-images determined the social acceptance or rejection of certain scientific interpretations. There was a growing interest amongst those actors committed to the civil society in the sphere of prison reform and criminal policy in new criminological knowledge, because this could give their own work a more solid basis and legitimacy. The book also provides concrete examples to show the spheres in which the new knowledge of criminology became relevant, or not (e. g. changes to the penal code, changes in imposing punishment, creation of new institutions). In the negotiation process between science and civil society, however, it is not only the scientific content that is debated, and it is certainly not accepted or instrumentalised uncritically. The social norms and self-images are also called into question when confronted with new scientific knowledge and can change. So ultimately, influenced by the processes of scientification and secularisation and the need for adjusting to democracy on the basis of various suffrage reforms the original Christian-philanthropic concept of punishment for the moral improvement of sinful souls changed into an increasingly sober approach towards creating ­socially-aware, competent citizens, who knew how to deal reasonably with the growing challenges of their newly acquired citizenship. The findings of this book are that in the civil society discourses on criminality avoid the extremes of blind belief in science and its populist appropriation. In confronting scientific knowledge the actors in the civil society thematise not only the basis of their own norms, but also their relationship with science itself, and the question as to the role that science should play in forging a normative order.