Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat: Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsform in Deutschland 9783666351419, 3525351410, 9783525351413


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German Pages [337] Year 2004

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Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat: Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsform in Deutschland
 9783666351419, 3525351410, 9783525351413

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 160

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Paul Nolte, Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler

Band 160 Christian Müller Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform in Deutschland 1871–1933

von

Christian Müller

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Umschlagabbildung: Innere Ansicht eines Zellenflügels von vier Stockwerken (Ausschnitt) aus: Rudolf Quanter, Deutsches Zuchthaus- und Gefängniswesen, Leipzig 1905, ND Aalen 1970. © Scientia Verlag und Antiquariat, Aalen

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-525-35141-0 Gedruckt mit Mitteln des Leibniz-Programms der Deutschen Forschungsgemeinschaft. D 21 © 2004, Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. Internet: www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Umschlag: Jürgen Kochinke, Holle. Satz: Text & Form, Garbsen. Druck und Bindung: Gulde-Druck GmbH, Tübingen. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.

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Inhalt

Vorwort .......................................................................................................

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Einleitung ...................................................................................................

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A.

Klassisches Strafrecht und psychiatrische Gestaltungsansprüche im Deutschen Kaiserreich ................................................ I. Forensische Psychiatrie und Kriminologie .............................. 1. Die Entwicklung der psychiatrischen Gutachtertätigkeit 2. Ärztliche Diagnostik und richterliche Urteilsfindung: die Feststellung der Unzurechnungsfähigkeit ............ 3. Medizinische Deutungen von Kriminalität ....................... a) Irrsinn und Verbrechen: Paranoia, Schwachsinn, Epilepsie ......................................................................... b) Krankheit oder soziales Problem: Trunkenheit und Trunksucht ..................................................................... c) Sexuelle Devianz als Straftatbestand und Krankheitssymptom: konträre Sexualempfindung ..... d) Weiblichkeit und Schuldfähigkeit: Hysterie, Gravidität, Menstruation ........................................................ e) Die Verbrecherpersönlichkeit: Moralischer Schwachsinn, Degeneration, Psychopathie ................................ 4. Von der gerichtlichen Psychopathologie zur Kriminologie ........................................................................ II. Anstaltspsychiatrie und Strafvollzug ........................................ 1. ›Irre Verbrecher‹ und ›verbrecherische Irre‹: das Problem der Unterbringung geisteskranker Rechtsbrecher ............ 2. Administrative Lösungsversuche: Kompetenzklärung per Erlass .............................................................................. 3. Institutionelle Lösungsversuche: Spezialanstalten für geisteskranke Rechtsbrecher ............................................... 4. Legislative Lösungsversuche: die Auseinandersetzung um ein ›Irrengesetz‹ .............................................................

23 24 24 35 43 44 49 53 58 64 72 82 82 96 101 111

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III.

B.

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Psychiatrie und Strafrechtsreform ............................................ 1. Kriminalpolitische Forderungen und juristische Antworten: die Psychiatrie und der ›Schulenstreit‹ der Strafrechtswissenschaft ....................................................... a) Schutzstrafe statt Vergeltungsstrafe .............................. b) ›Verminderte Zurechnungsfähigkeit‹ und die Verwahrung der ›Gemeingefährlichen‹ ........................ c) Kriminalpolitik und Eugenik ........................................ 2. Strafrechtsreform als defensive Modernisierung ..............

Reformpolitik und Kriminalbiologie in der Weimarer Republik .... I. Die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die Wahrnehmung von Geisteskrankheit und Kriminalität .......... 1. Von der Kriegspsychiatrie zur Nachkriegs-Eugenik ......... 2. Nachkriegskriminalität und die Furcht vor dem ›Gewohnheitsverbrecher‹ .................................................... II. Die politische Auseinandersetzung um die Strafrechtsreform ........................................................................................ 1. Die Entstehung der Strafgesetzentwürfe von 1919 bis 1927 ....................................................................................... 2. Die Diskussion im Reichstag .............................................. a) Sicherungsverwahrung und Rechtsstaatlichkeit ......... b) Straftatbestand oder kriminalpolitische Maßnahme: die eugenische Sterilisation .......................................... c) Das Scheitern der Strafrechtsreform ........................... III. Stufenstrafvollzug und Kriminalbiologie ................................. 1. Der Strafvollzug als Experimentierfeld der Kriminalpolitik .................................................................................... 2. ›Besserungsfähige‹ und ›unverbesserliche‹ Gefangene – Stufenstrafvollzug und Kriminalbiologie in Bayern ......... a) Selektive Erziehung: die Organisation des Stufenstrafvollzugs ................................................................... b) Die Bestimmung der ›Unverbesserlichkeit‹: die kriminalbiologische Untersuchung ............................. c) Die Beeinträchtigung der kriminalbiologischen Forschung durch die Vollzugspraxis ............................ d) Die Beeinträchtigung der Resozialisierung durch die kriminalbiologische Forschung .................................... 3. Kriminalbiologie und Strafrechtslehre ..............................

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171 171 171 175 180 181 196 198 206 223 228 228 233 236 241 248 257 266

C.

Strafrechtspolitik zwischen Reformtradition und rassistischer Neubestimmung: ein Ausblick auf das Dritte Reich ........................ 273

Schlussbetrachtung ...................................................................................... 291

Anhang .......................................................................................................... 303 Abkürzungen ................................................................................................ 307 Quellen- und Literaturverzeichnis ............................................................. 1. Archivalien .............................................................................................. 2. Periodika .................................................................................................. 3. Gedruckte Quellen und zeitgenössische Literatur .............................. 4. Darstellungen .........................................................................................

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Register ......................................................................................................... 334

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Vorwort

Die vorliegende Studie ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2002 vom Fachbereich 1 – Philosophie, Geschichts-, Religions- und Sozialwissenschaften der Universität Essen angenommen wurde. Allen, die dieses Forschungsvorhaben unterstützt haben, möchte ich danken. Professor Dr. Dirk Blasius gilt mein besonderer Dank für die Betreuung und viele konstruktive Anregungen. Professor Dr. Wilfried Loth und Professor Dr. Christoph Marx danke ich für die Förderung in der Endphase der Promotion. Hochschuldozent Dr. Ewald Frie hat geduldig und kritisch die Rohfassung der Dissertation gegengelesen. Sie und andere Essener Kollegen haben dazu beigetragen, dass ich meinen Forschungen in einem intellektuell anregenden und von Kollegialität geprägten Arbeitsumfeld nachgehen konnte. Dank schulde ich nicht zuletzt den Herausgebern der »Kritischen Studien« für die sorgfältige Begutachtung des Manuskripts und hilfreiche Verbesserungsvorschläge sowie den Mitarbeitern der Archive und Bibliotheken, die mir wertvolle Hinweise gegeben und entlegene Quellen zugänglich gemacht haben. Dass ich an der Arbeit, die mich einige Jahre gefangen gehalten hat, nicht irre geworden bin, hat viel mit Susanne Vogelbruch, meinen Freunden und meiner Familie zu tun. Auch ihnen sei herzlich gedankt. Essen, im September 2003

Christian Müller

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Einleitung

»Es ist eine höchst beachtenswerthe Thatsache, daß die mächtigen Umwälzungen, welche der Fortschritt naturwissenschaftlicher Forschung auf den meisten Wissensgebieten hervorgerufen hat, an dem Lehrgebäude der Jurisprudenz fast einflußlos vorübergegangen sind.«1 Mit dieser Diagnose der Rückständigkeit der Rechtswissenschaft leitete der angehende Psychiater Emil Kraepelin im Jahr 1880 seine erste Veröffentlichung ein. Der 24-jährige Doktorand beabsichtigte mit seiner Abhandlung über »Die Abschaffung des Strafmaßes« nicht weniger, als von der hohen Warte der Naturwissenschaft aus Vorschläge für eine radikale Reform der Strafrechtspflege zu unterbreiten. Die richterliche Strafbemessung nach dem Schuldprinzip sollte einer naturwissenschaftlichen Erforschung der Täterpersönlichkeit weichen, den Strafvollzug gelte es nach dem Vorbild psychiatrischer Anstalten umzugestalten, um eine zweckmäßige, individuelle Behandlung der Verbrecher zu ermöglichen. Kraepelin definierte sogar den Begriff der Strafe neu: »Der Begriff der Strafe wird sich demnach von unserem Gesichtspunkte aus in den eines Schutzmittels umwandeln. Die Idee der Vergeltung fällt hierbei selbstverständlich fort.«2 Emil Kraepelins Pamphlet war eine freche Anmaßung – aber auch eine unverstellte Äußerung jenes Welt- und Gesellschaftsbildes der jüngeren Generation, die sich anschickte, der Zeit der Jahrhundertwende ihren Stempel aufzudrücken. Innerhalb der Zeitspanne zwischen 1880 und 1930, zu deren Kennzeichnung Detlev Peukert den kunsthistorischen Begriff der Klassischen Moderne in ein sozialgeschichtliches Epochen-Rubrum umgeprägt hat, erlebte das industriegesellschaftlich entwickelte Deutschland »den soziokulturellen Durchbruch der Moderne«.3 Auch Max Webers soziologisches Werk lässt sich in diesem Sinne als eine Zeitdiagnose jener Jahrhundertwende-Epoche lesen, in der sich die historische Realität dem Idealtypus der ›bürokratisch-rational‹ verfassten Gesellschaft annäherte. In Anlehnung an Max Weber definiert Peukert »Modernisierung« als »Verflechtung von industriekapitalistischer Wirtschaft und Klassenstruktur, bürokratisch-formaler Herrschaft und Sozialintegration, wissenschaftlich-technischer Weltbemächtigung und rational geordneter disziplinierter Lebensführung«.4 Die Welle der Rationalisierung er1 2 3 4

Kraepelin, Abschaffung, S. 1. Ebd., S. 28f. Peukert, Die Weimarer Republik, S. 11. Ders., Max Webers Diagnose der Moderne, S. 78.

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reichte in der Klassischen Moderne einen Höhepunkt in Deutschland, bis sie sich in den dreißiger Jahren an den Krisenerscheinungen der Moderne brach. Der moderne Anstaltsstaat nahm die Form des rational-legalen Verfassungsstaats an, bevor er nach 1933 zu einem Gewirr von Sonderinstanzen zerfaserte, das nur noch durch die Anbindung an die Zentralfigur des Charismatischen Führers zusammengehalten wurde. Dass die Webersche Terminologie sich eignet, Epochen und Herrschaftssysteme der deutschen Geschichte griffig zu fassen, haben Historiker wie Hans-Ulrich Wehler5, Detlev Peukert6 oder Martin Broszat7 eindrucksvoll gezeigt. Aber kann Max Weber auch für eine problemorientierte historische Einzelstudie Anregungen geben? Einen Anknüpfungspunkt bietet das Verhältnis von Wissenschaft und Verwaltungspraxis; denn – so Weber – »Herrschaft ist im Alltag primär: Verwaltung«, und »bureaukratische Verwaltung bedeutet: Herrschaft kraft Wissen«.8 Kriminalität ist und war als soziales Problem Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und bürokratischer Kontrollversuche. Das historische Problem ergibt sich daraus, dass viele Zeitgenossen der Klassischen Moderne dieses gesellschaftliche Problem als prinzipiell lösbar erachteten. Das menschliche (Fehl-)Verhalten geriet selbst zum Objekt wissenschaftlich-technischer Weltbemächtigung. Die traditionelle, auf die Sühne der Schuld gerichtete Strafrechtspflege sollte einer modernen präventiven Verbrechensbekämpfung auf medizinisch-naturwissenschaftlicher Grundlage weichen. Die Medikalisierung der Kriminalität stellt sich in kultur- und sozialgeschichtlicher Makroperspektive als Teil einer umfassenden Verwissenschaftlichung des Sozialen9 dar. Inwiefern bei dieser Problemlösungsstrategie die Institutionen und Verfahren des rational-bürokratischen Anstaltsstaats in der Praxis zum Zuge kamen, gilt es im Folgenden zu untersuchen.10 Die mo5 Vgl. Wehler. 6 Detlev Peukert hat unter Zugrundelegung Weberscher Kategorien den Begriff der ›Klassischen Moderne‹ in die Geschichtswissenschaft eingeführt. Interessanterweise stützt sich die Interpretation seiner eigenen historischen Befunde zur Geschichte der Jugendfürsorge weniger auf das analytische Instrumentarium Max Webers als auf dessen kulturpessimistische Konnotationen; die ›linke‹ Zivilisationskritik der Frankfurter Schule, die in theoretischen Anleihen bei Habermas (»Kolonialisierung der Lebenswelten«) und Horkheimer/Adorno (»Dialektik der Aufklärung«) zum Ausdruck kommt, scheint sich nahtlos in diese modernisierungs-skeptische Weber-Rezeption einzufügen; vgl. Peukert, Grenzen der Sozialdisziplinierung, insbesondere S. 305ff. 7 Vgl. Broszat, Der Staat Hitlers. 8 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 126 u. 129. 9 Vgl. Raphael. 10 Dabei geht es nicht darum, ein Theoriegebäude durch geschichtswissenschaftliche Empirie auf seine Tragfähigkeit hin zu überprüfen oder gar historische Erkenntnisse in eine theoretisch vorgegebene Bahn zu lenken. Vielmehr wird der Theoretiker der ›verstehenden Soziologie‹ gewissermaßen als Zeitzeuge ernst genommen. Schließlich hat Max Weber weite Strecken des Untersuchungszeitraums als Zeitgenosse durchmessen, so dass seine zu einer soziologischen Typologie verdichteten Beobachtungen auch Einsichten in die Denkweisen der Akteure seiner

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derne Kriminalpolitik – mit den Mitteln positiv-rechtlicher Reglementierungen, zweckorientierter Behörden und Anstalten sowie fachwissenschaftlich geschulter Experten – und ihre Auswirkung auf die Wahrnehmung und Behandlung der Rechtsbrecher stehen im Mittelpunkt dieser Untersuchung. Mit dem hier umrissenen inhaltlichen Schwerpunkt knüpft die Arbeit an aktuelle Diskussionen zur deutschen Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts an, die sich innerhalb eines Themenfeldes mit den Eckpunkten Nationalsozialismus und Rassismus, Wohlfahrtsstaat und Modernisierung bewegen. Vor rund zwanzig Jahren hat die Geschichtswissenschaft die ›vergessenen‹ Opfer der NS-Herrschaft entdeckt.11 Nach den Behinderten, Geisteskranken und ›Asozialen‹, die von Zwangssterilisation und ›Euthanasie‹ betroffen waren, geriet mit großer zeitlicher Verzögerung auch jene Opfergruppe in das Blickfeld der NS-Forschung, die sich der gängigen moralisch eindeutigen Täter-OpferSchematisierung am weitesten entzieht: die Kriminellen.12 Die an sich wenig spektakuläre ›Entdeckung‹ der rassenpolitisch verfolgten ›Minderwertigen‹ und ›Gemeinschaftsfremden‹ sollte weitreichende Folgen für die Interpretation des Nationalsozialismus nach sich ziehen. Zum einen wurde die traditionelle Vorstellung von einem unerklärbaren, von jedweden rationalen und gesellschaftlichen Bezügen isolierten nationalsozialistischen Rassenwahn aufgegeben zugunsten eines erweiterten Rassismus-Verständnisses.13 Rassen-Anthropologie (einschließlich Antisemitismus) und Rassenhygiene bildeten in dieser neueren Lesart die beiden Standbeine einer einheitlichen Rassenpolitik, die während der NS-Zeit sämtliche Politikfelder durchdrang und das Herrschaftssystem insgesamt als einen ›racial state‹14 erscheinen lässt. Da die Ausgrenzung und Vernichtung der ›Fremdvölkischen‹ ebenso wie die ›Reinigung des deutschen Volkskörpers‹ wissenschaftlich begleitet wurde und auch einer gewissen Binnenrationalität nicht entbehrte, ist in diesem Zusammenhang auch von einem ›wissenschaftlichen Rassismus‹ gesprochen worden.15 Der zweite Forschungsimpuls, der durch die NS-Opferforschung der achtziger Jahre ausgelöst oder zumindest verstärkt wurde, richtet sich auf die vornationalsozialistischen Traditionen der Gesundheits- und Sozialpolitik. Der bislang vorwiegend quantifizierend-strukturgeschichtlich erforschte deutsche Wohlfahrtsstaat wurde nun mit Hilfe qualitativer und regionalgeschichtlicher Zeit vermittelt. Nicht zuletzt waren es – Max Weber durchaus geistesverwandte – Sozialreformer und ›Kathedersozialisten‹, welche die Strafrechtsreform ins Rollen brachten. 11 Vgl. Nowak; Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde; Klee; Aly; Bock, Zwangssterilisation; Schmuhl; Ganssmüller; Zimmermann. 12 Vgl. Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher; Müller, Kriminalpolitik als Rassenpolitik; Kriminalbiologie; Liang, Criminal-Biological Theory, Discourse, and Practice; Wachsmann, »Annihilation through Labor«; ders., From Indefinate Confinement to Extermination; Simon. 13 Vgl. Peukert, Rassismus und »Endlösungs«-Utopie; Herbert; Bock, Krankenmord. 14 Vgl. Burleigh u. Wippermann. 15 Vgl. Bock, Zwangssterilisation, S. 66; Kaupen-Haas u. Saller.

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Methoden auf seinen kulturell-normativen Gehalt hin untersucht.16 Die höchst disparaten Befunde gehen zum Teil einher mit einer grundsätzlichen Neubewertung nicht nur der Weimarer Sozialpolitik, sondern auch der säkularen Modernisierung im Allgemeinen und der Modernität des Nationalsozialismus im Besonderen. Beispielsweise folgert Peukert ausgehend von seinen Forschungen über die Jugendfürsorge, deren sozialpädagogischer Reformimpetus zum Ende der Weimarer Republik in einen rassistischen Selektionsdiskurs umschlug, dass die »nationalsozialistische Gesellschaftspolitik durchaus als antiliberale Variante des Modernisierungsprozesses und als Erbe einer dehumanisierten Variante der Rationalisierungsbewegung aufgefaßt werden« könne; der Nationalsozialismus sei insofern »wohl die fatalste Entwicklungsmöglichkeit der Moderne«.17 Gräser hingegen erklärt – gleichfalls am Beispiel der Jugendfürsorge – das in den Nationalsozialismus führende Scheitern des Weimarer Wohlfahrtsstaats mit einer Blockade der Sozialreform durch vorindustrielle Traditionsüberhänge und unzeitgemäße gesellschaftliche Leitbilder.18 Beide Forschungstendenzen – die erweiterte Rassismusforschung und die ›Historisierung‹ des Nationalsozialismus – kommen sich bisweilen in die Quere, was zu irritierenden Ergebnissen führen kann, wenn auch der vor-nationalsozialistischen Eugenik rassistische Vernichtungs-Intentionen unterstellt werden,19 oder wenn sozialpolitische Errungenschaften oder Kontinuitäten die NS-Verbrechen zu relativieren drohen.20 Die Medikalisierung bzw. Biologisierung von Kriminalität als Gegenstand dieser Arbeit liegt auf einer thematischen Schnittfläche zwischen der Rassismus- und der Sozialstaatsforschung; mit der Analyse der Überformung der Strafrechtspflege durch die medizinische Wissenschaft und den sozialen Interventionsstaat kann ein Beitrag zur Klärung des Verhältnisses von moderner Sozialreform und rassistischer Ausgrenzung geleistet werden. Bei diesem Unterfangen kann an einige Vorarbeiten aus den letzten Jahren angeknüpft werden: Patrick Wagner hat sich in seiner Arbeit über die Kriminalpolizei zur Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus die Peukert-These vom mörderischen Potential des modernen ›social engineering‹ zu Eigen gemacht. Die zuvor durch den Weimarer Rechtsstaat gefesselte Polizei habe nach der ›Machtergreifung‹ ungehemmt ihre Utopie einer »Volksgemeinschaft ohne Verbrecher« zu verwirklichen gesucht. Die angesichts überzogener Erwartungen bei der Realisierung kriminalpolizeilicher Ord16 Vgl. Peukert, Grenzen der Sozialdisziplinierung; Weindling; Frie; Gräser; Crew; Hong. 17 Vgl. Peukert, Grenzen der Sozialdisziplinierung, S. 305ff.; ders. Max Webers Diagnose der Moderne, S. 82 (Zitat). 18 Gräser, S. 216ff. 19 So der Vorwurf von Schwartz, Kritische Anfragen. 20 Vgl. Prinz u. Zitelmann; kritisch hierzu: Dipper; Frei; Schildt.

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nungsvorstellungen immer wieder auftretenden Enttäuschungen führten – so die Schlussthese Wagners – zu einer ständigen Eskalation der präventiven Verbrechensbekämpfung, die schließlich in die ›Ausmerzung‹ von Berufsverbrechern in Konzentrationslagern mündete.21 Auch Nikolaus Wachsmann bezieht sich in seinen Studien zum Strafvollzug22 auf die Deutungen Peukerts. Ähnlich der von Peukert beschriebenen Entwicklung der Jugendfürsorge seien auch im Gefängniswesen der Weimarer Republik zunächst Resozialisierungsbemühungen unternommen und dann im Zuge der Wirtschaftskrise zurückgefahren worden. Wachsmann wendet jedoch ein, dass nur wenige Gefängnisbeamte einem sozialpädagogischen ›Allmachtstraum‹ anhingen, viele jedoch weiterhin auf das traditionelle autoritäre Gefängnisregime vertrauten, das auf militärischer Disziplin und Vergeltung basierte.23 Letztere seien jedoch nicht einfach als Konservative zu charakterisieren, da sie die mit den modernen Besserungsbestrebungen von Beginn an einhergehende »Unschädlichmachung der Unverbesserlichen« unterstützten. Diese Strafvollzugspolitik habe den Grundstein für das NS-Gefängniswesen gelegt, bei dem Maßnahmen gegen ›Unverbesserliche‹ mit einer strengen Behandlung aller Gefangenen Hand in Hand gingen, während die Forderung nach Resozialisierung der ›Besserungsfähigen‹ weitgehend ignoriert wurde.24 Die genannten Arbeiten behandeln Einzelaspekte der Kriminalitätsgeschichte und versuchen diese in größere sozialgeschichtliche Entwicklungen einzuordnen. Obwohl sich die historische Kriminalitätsforschung seit dem Erscheinen der Pionierstudien von Dirk Blasius auch in Deutschland zu einem kaum noch übersehbaren Forschungsfeld entwickelt hat,25 fehlt bislang eine Längsschnittuntersuchung, welche die deutsche Strafrechtsentwicklung an die Wissenschaftsgeschichte der Kriminologie ankoppelt, um zu einer Synthese der modernen Kriminalpolitik zu gelangen.26 Ansatzweise leisten dies jedoch zwei neuere Bücher zur Geschichte der Kriminologie: Richard Wetzell greift in seiner »History of German Criminology 1880– 1945«27 weit über den engeren Gegenstand hinaus, indem er auch die Straf21 Vgl. Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher, S. 397ff. 22 Wachsmann, Prisons and Penal Policy; ders., Imprisonment; demnächst auch die Monographie: Hitler’s Prisons. Legal Terror in Nazi Germany. 23 Wachsmann, Imprisonment, S. 431. 24 Ebd.; vgl. Müller, Kriminalpolitik als Rassenpolitik, S. 98ff. 25 Vgl. Blasius, Bürgerliche Gesellschaft und Kriminalität; ders., Kriminalität und Alltag; einen Überblick über den Forschungsstand bieten: Eibach; Schwerhoff. 26 Zu Frankreich und Großbritannien siehe: Wright; Garland; Wiener. Die monumentale epochenübergreifende Darstellung von Evans beschränkt sich thematisch auf die Todesstrafe. Im Zusammenhang mit Teilaspekten der neueren deutschen Kriminalitätsgeschichte finden sich interessante Ansätze zur Verschränkung von Kriminologie und Strafjustiz u.a. bei: Schulte; Hommen. 27 Wetzell, Inventing the Criminal.

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rechtsreform und die Eugenik anschneidet und sich interpretatorisch auf die ›Sonderweg‹-These und die ›Ambivalenzen der Moderne‹ bezieht. Er kommt zu dem Schluss, dass sich die Kriminologie ursprünglich aus einer »conjunction of interests among criminal jurists and psychiatrists« entwickelt habe.28 Insgesamt habe die Entwicklung der Kriminologie in Deutschland einen ähnlichen Verlauf genommen wie in anderen Ländern. Deutsche Kriminologen hätten zwar einen Beitrag zur nationalsozialistischen Rassenpolitik geleistet, doch das Verhältnis von Kriminologie und Nationalsozialismus sei zu vielschichtig gewesen, als dass man von einer ideologisierten »Nazi science« sprechen könnte. Gerade wegen der Verwicklung der methodisch hoch entwickelten Forschung in die NS-Verbrechen sei es geboten, auch die ›normale‹ Wissenschaft der Gegenwart mit kritischen Augen zu betrachten.29 Peter Becker hat eine Untersuchung vorgelegt, die sich explizit als eine »Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis« versteht.30 »Um Struktur und Wandel der Zuschreibungen an die Identität des Verbrechers als Negation der bürgerlichen Identität zu rekonstruieren«, hat Becker einen »heterogenen Textkorpus« berücksichtigt, »der philosophische, anthropologische, juristische, literarische und medizinische Schriften umfaßt«.31 »Diskursanalytische Zugänge der Wissenschaftsgeschichte, sozial- und rechtsgeschichtliche Methoden der Historischen Kriminologie und institutionen- und politikgeschichtliche Ansätze zur Rekonstruktion von polizeilicher und juristischer Praxis« werden in der Einleitung als »Grundlage für die Rekonstruktion von Kriminologie als Diskurs und Praxis« benannt. Da es dem Autor jedoch in erster Linie um das Freilegen von kulturellen Verbrecherbildern geht, finden die unterschiedlichen sozialgeschichtlichen Kontexte, innerhalb derer die »Diskursteilnehmer« agierten, nur am Rande Beachtung.32 Stattdessen wird eine analytische Unterscheidung zwischen dem »Erzählmuster« des vernunftbegabten, jedoch zur Sünde verleiteten »gefallenen Menschen« und dem des biologisch defekten »verhinderten Menschen« vorgenommen.33 Die Kernaussage Beckers besteht in der Feststellung, dass sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine »medizinische Vorstellung von Devianz« durchsetzte; mit der zunehmenden Dominanz des Erzählmusters des »verhinderten Menschen« seien die nun als ›minderwertig‹ bezeichneten Kriminellen 28 Ebd., S. 295. 29 Ebd., S. 300f. u. 305. 30 Becker, Verderbnis und Entartung. Siehe auch die ebenfalls an kulturellen Verbrecherbildern orientierten Studien von Strasser und Regener. 31 Ebd., S. 12. 32 Folglich verwischen sich in der Darstellung die »Positionen der forensischen Medizin, des Strafrechts und der Kriminalistik der ersten Jahrhunderthälfte«, die laut Becker »mehr gemeinsam« hatten, »als die forensische Medizin des Vormärz mit jener des späten 19. Jahrhunderts«; ebd., S. 17. 33 Vgl. ebd., S. 33 u. 365.

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»zu Objekten einer bevormundenden Verwaltung und der experimentellen Forschung« geworden, so dass man »unschwer eine Reihe von Verbindungslinien zur Kriminalbiologie und dem Unrechtsregime des Dritten Reiches feststellen« könne.34 Von den angeführten Darstellungen unterscheidet sich die vorliegende Studie insofern, als sie nicht den Anspruch erhebt, eine Gesamtgeschichte der Kriminologie mit ihren praktischen Anwendungsbezügen oder des Strafvollzugs einschließlich der auf ihn einwirkenden ideologisch-wissenschaftlichen Einflüsse zu liefern. Vielmehr sollen die Schnittflächen zwischen psychiatrisch-kriminologischer Wissenschaft und der Praxis des Strafsystems zum zentralen Gegenstand der Untersuchung gemacht werden. Der Verbrechensbekämpfung mit ihrer Verflechtung von Wissenschaft, Bürokratie und Rechtsnormen gilt das Interesse; dabei wird von der Prämisse ausgegangen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse in der justiziellen Praxis Anwendung finden und die Richtung der Kriminalpolitik ändern können, umgekehrt aber auch die Produktion des kriminologischen Wissens von verwaltungspraktischen, rechtlichen oder politischen Erfordernissen beeinflusst wird. Deshalb gilt es, mit den Konventionen der Institutionen- und Disziplingeschichte zu brechen, indem beispielsweise die Entstehung wissenschaftlicher Kriminalitätstheorien im engen Zusammenhang mit der forensisch-psychiatrischen Gutachterpraxis oder die Strafrechtsdiskussion in Verbindung mit der Anstaltsunterbringung von psychisch kranken Rechtsbrechern analysiert wird. Diesem Ansatz entspricht auch die äußere Struktur der Arbeit, die den während des Untersuchungszeitraums wechselnden Berührungsflächen von Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtspflege Rechnung trägt. Mit der forensischen Psychiatrie und der Strafrechtsreform werden zwei Gegenstandsbereiche in den Blick genommen, denen die historische Forschung bisher wenig Beachtung geschenkt hat. Obwohl längst quellengesättigte Grundlagenwerke zur Wissenschafts- und Sozialgeschichte der Psychiatrie vorliegen,35 ist die deutsche forensische Psychiatrie und Gerichtsmedizin des ausgehenden 19. Jahrhunderts und des 20. Jahrhunderts bislang eine Terra incognita geblieben.36 Hier kann die vorliegende Studie einen Materialbeitrag zur Medizingeschichte leisten und an neuere sozialgeschichtliche Arbeiten zur Expansion medizinischer Deutungsmacht anknüpfen.37 34 Ebd., S. 369 u. 371. 35 Vgl. Blasius, Der verwaltete Wahnsinn; ders., »Einfache Seelenstörung«; Kaufmann, Aufklärung; Walter, Psychiatrie und Gesellschaft. 36 Vgl. als bislang wichtigste Informationsquelle zur forensischen Psychiatrie die materialistisch-wissenschaftssoziologische Studie: Güse u. Schmacke; zur gerichtlichen Psychiatrie des 18. und frühen 19. Jahrhunderts: Kaufmann, Psychiatrie und Strafjustiz; Greve, Unzurechnungsfähigkeit; dies., Richter und Sachverständige; Lorenz; zur forensischen Psychiatrie der deutschsprachigen Schweiz demnächst auch: Germann. 37 Vgl. Labisch u. Spree, Neuere Entwicklungen; dies., Medizinische Deutungsmacht.

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Auch die Strafrechtsreform ist ein Stiefkind der geschichtswissenschaftlichen Forschung. Zwar finden sich in einzelnen Aufsätzen von Rechtshistorikern interessante Deutungsansätze, die Kontinuitätslinien von den ersten Reformplänen bis hin zum nationalsozialistischen Terror- und VernichtungsStrafrecht des Zweiten Weltkriegs ausmachen und damit an den gehüteten Traditionsschätzen der sozialliberalen Strafrechtsreformer der Bundesrepublik kratzen.38 Doch ungeachtet der spannenden interpretatorischen Probleme ist das Jahrhundertunterfangen der Strafrechtsreform, das im Kaiserreich seinen Anlauf nahm, nur partiell erforscht.39 Die Entstehung der Reformbewegung ist bisher in idealistischer Manier auf die Vorstellungen einiger Strafrechtsgelehrter um Franz von Liszt zurückgeführt worden – eine Sichtweise, die der Liszt-Schüler Eberhard Schmidt in seiner noch immer konkurrenzlosen »Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege« zementiert hat.40 Die psychiatrischen Wurzeln der Strafrechtsreform und die Professionsrivalitäten zwischen Reformern juristischer und medizinischer Provenienz blieben weitgehend ausgeblendet.41 Genau hier setzt die vorliegende Untersuchung an. Das Vorhaben, die Wechselbeziehungen zwischen Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtswesen über einen Untersuchungszeitraum von sechs Jahrzehnten zu erforschen, erfordert eine straffe Strukturierung des Themenfeldes, des Quellenmaterials und der Fragestellungen. Die Darstellung folgt einer groben chronologischen Gliederung mit den geläufigen politischen Zäsuren, nicht zuletzt weil auf diese Weise auch jenem sozialgeschichtlichen Epochenbruch Rechnung getragen wird, den der Erste Weltkrieg bewirkte. Ein knapper Ausblick auf die Strafrechtsentwicklung der NS-Zeit folgt auf die beiden Hauptkapitel zum Kaiserreich und zur Weimarer Republik. Innerhalb dieses Rahmens werden folgende Handlungs- und Diskursebenen parallel, jedoch mit Blick auf ihre Wechselbeziehungen analysiert: 38 Vgl. Naucke, Entwicklungslinie; ders., Perversion oder Anwendungsfall; kritisch hierzu: Müller, ›Modernes‹ Strafrecht im Nationalsozialismus. 39 Auf archivalischen Quellen basiert die knappe Abhandlung von Jelowik, in der die Weimarer Reformbestrebungen im Lichte des Marxismus-Leninismus interpretiert werden, sowie die als Mikrofiche veröffentlichte geschichtswissenschaftliche Dissertation über die Reformpläne aus der Zeit des Kaiserreichs von Wetzell, Criminal Law Reform, deren Ergebnisse auch in die kriminologiegeschichtliche Darstellung (Inventing the Criminal) des gleichen Autors einflossen. 40 Vgl. Schmidt, Einführung, S. 357ff. 41 Auch Wetzell, der bisher am eingehendsten die Beziehungen zwischen Psychiatrie und Strafrechtswissenschaft untersucht hat, geht von einer weitgehenden Interessenübereinstimmung der reformorientierten Strafrechtler und der um größeren Einfluss auf die Strafrechtspflege bemühten Psychiater aus. Aus dem gemeinsamen Engagement für die kriminologische Forschung und die an ihr orientierte Umgestaltung des Strafrechts habe sich der traditionelle Gegensatz von Psychiatrie und Strafjustiz zu einem symbiotischen Verhältnis gewandelt. Vgl. Wetzell, Inventing the Criminal, S. 3.

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(1.) die Praxis der forensisch-psychiatrischen Gutachtertätigkeit und die mit ihr einhergehende Entwicklung einer medizinischen ›Verbrecherlehre‹, (2.) die Unterbringung geisteskranker Rechtsbrecher in Irren- und Strafanstalten und die mit ihr verbundenen juristischen und medizinischen Definitionsprobleme, (3.) die kriminalpolitischen Forderungen der Psychiatrie und die Reaktionen der Strafrechtswissenschaft sowie der Justizverwaltung, (4.) die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die kulturelle Wahrnehmung von Geisteskrankheit und Kriminalität, (5.) die politische Überformung der Strafrechtsreformpläne im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens, (6.) die Klassifizierung der Gefangenen im Kontext des Stufenstrafvollzugs und die hieraus resultierende Etablierung der Kriminalbiologie als Wissenschaft. Thematische Nachbargebiete wie die religiös motivierte Gefängnisreform des 19. Jahrhunderts oder die Entwicklung des Jugendstrafrechts müssen hier unberücksichtigt bleiben.42 Ausgespart wird auch die Lebenswelt ›des Verbrechers‹, weil einerseits die Vorstellung von einem homogenen ›Verbrechermilieu‹ den vielfältigen Erscheinungsformen von Straffälligkeit nicht gerecht werden könnte und andererseits eine alltagsgeschichtliche Betrachtung des freudlosen Anstaltslebens wenig mehr zutage fördern dürfte als die Feststellung einer »konstanten Repression«.43 Erfahrungs- und mikrohistorische Methoden werden gleichwohl herangezogen, wo sie zur Klärung der Strukturzusammenhänge oder der Intentionen der Akteure beitragen können. Doch bei der ›Verbrechensbekämpfung‹ – und der historiographischen Annäherung an sie – fungiert der ›Täter‹ als Objekt. Um die wissenschaftlichen, politischen und kulturellen Diskurse über den ›verbrecherischen Menschen‹ und seine Behandlung sozial- und verwaltungsgeschichtlich zu erden, bedarf es praxisnaher Quellen. Die Auswertung des überlieferten Materials folgt gleichsam dem Subsidiaritätsprinzip, um eine größtmögliche Basisnähe zu erzielen. Der territoriale Schwerpunkt liegt dabei auf Preußen als dem größten Einzelstaat des Reichs. Die föderale Struktur des Deutschen Reichs spiegelt sich auch in seinem archivalischen Nachlass. So wird die Anstaltspsychiatrie als Aufgabe der provinzialen Selbstverwaltung anhand der Archivbestände der Landschaftsverbände Westfalen-Lippe und Rheinland untersucht; Quellen zu den Länderangelegenheiten der Strafjustiz, des Strafvollzugs und der staatlichen Aufsicht über die ›Irrenpflege‹ stammen (auf der Ebene des Regierungsbezirks- bzw. Oberlandesgerichtsbezirks) aus dem Hauptstaatsarchiv Düsseldorf und (auf Landesebene) aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem. Für die Betrachtung der Strafgesetzgebung sind die Bestände des Bundesarchivs in Berlin unentbehrlich. Ein Abstecher in das Hauptstaatsarchiv München verdankt sich den 42 Der Hinweis auf einschlägige neuere Arbeiten soll hier genügen: Dörner, Erziehung durch Strafe; Fritsch; Oberwittler; Nutz. 43 Vgl. Berger; siehe auch Goffmann.

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– für die Entwicklung der Kriminologie überaus relevanten – kriminalbiologischen Besonderheiten des bayerischen Strafvollzugs. Die wissenschaftlichen und politischen Diskurse schließlich werden anhand der zeitgenössischen Literatur des deutschen Sprachraums rekonstruiert. Zur Strukturierung der leitenden Fragestellungen bietet sich der Begriff der Medikalisierung an. Bei diesem theoretischen Ordnungsbegriff lassen sich im Wesentlichen drei inhaltliche Dimensionen unterscheiden: Professionalisierung, Sozialdisziplinierung und Rationalisierung.44 Bei aller Skepsis, die den mit ›-ierungs-Begriffen‹ verbundenen theoretischen Trendkonstruktionen gegenüber geboten ist,45 können letztere dennoch fruchtbar sein. Theoretische Konzepte sollten freilich nicht als apriorische Erklärungen, sondern als heuristische Hilfsmittel benutzt werden, um Leitfragen zu gewinnen und die empirischen Befunde zu ordnen. In diesem Sinne erschließt der MedikalisierungsBegriff folgende historische Probleme: (1.) Kann das Engagement der Mediziner in der Strafrechtsreformbewegung als Ausdruck einer Professionalisierungsstrategie verstanden werden, bei der es darum ging, für den ärztlichen Berufsstand neue Tätigkeitsfelder zu erschließen und ein an medizinische Berufsqualifikationen gebundenes ›Behandlungsmonopol‹ im Umgang mit Kriminellen durchzusetzen?46 Es schließt sich hier die Frage nach dem tatsächlichen Erfolg derartiger professionspolitischer Bestrebungen an. (2.) Führte das Vordringen der mit der ›Macht‹ verflochtenen ›Biowissenschaften‹ in die Strafrechtspflege zu einer Strategie der Sozialdisziplinierung im Sinne Foucaults?47 Bedeutete der Übergang von der Vergeltung zur Prävention also eine Perfektionierung der Herrschaftstechnik, die unter dem Deckmantel der Humanisierung versteckt wurde? Eine solche Sichtweise deckt sich teilweise mit der marxistischen Deutung der Strafrechtsreform als einer Ausdehnung der ›bürgerlichen Repressionsmaßnahmen‹ gegen den unangepassten Teil der Arbeiterklasse.48 War der linksliberale Strafrechtsreformer Franz von Liszt, der sich im Kaiserreich als Vertreter des ›Fortschritts‹ mit konservativen Ressentiments konfrontiert sah, objektiv der Vollstrecker einer »imperialistischen Strafrechtsreform«, dessen Forderungen »einen fundamentalen Angriff auf die bürgerlich-demokratischen Prinzipien des Strafgesetzbuches von 1871« bedeuteten?49 Zu fragen ist daher nach den mit der Strafrechtsreform verbundenen (subjektiven) politischen Kalkülen und (objektiven) politischen Implikationen. (3.) Ging die Strafrechtsreform mit einer Rationalisierung der 44 Vgl. Spree, S. 138ff.; Frevert, S. 15f.; Labisch, S. 295ff.; Loetz. 45 Vgl. Mathieu. 46 Vgl. Huerkamp; Göckenjan. 47 Vgl. Foucault, Überwachen und Strafen; ders., Wahnsinn und Gesellschaft; ders., Concept of the »Dangerous Individual«; kritisch hierzu: Blasius, Michel Foucaults »denkende« Betrachtung der Geschichte; Breuer. 48 Vgl. Rusche u. Kirchheimer; aus orthodox-marxistischer Sicht: Jelowik. 49 Vgl. Jelowik, S. 1f.

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Verbrechensbekämpfung im Sinne von Verwissenschaftlichung und utilitaristischer Gesellschaftssteuerung einher? Damit gelangt man wieder zu Max Weber und der Frage nach der Wirkmächtigkeit und Eigenlogik bürokratischrationaler Herrschaftspraxis. Die drei hier skizzierten Fragen durchziehen die gesamte Untersuchung; der Versuch, die Einzelbefunde zu einem Gesamtbild der Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat zusammenzuführen, wird in der Schlussbetrachtung unternommen.

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A. Klassisches Strafrecht und psychiatrische Gestaltungsansprüche im Deutschen Kaiserreich

Das Verständnis von Kriminalität erlebte im Zuge des Aufstiegs der Naturwissenschaften einen Wandel, durch den die Grundlagen des Strafrechts in Frage gestellt wurden. Die Psychiatrie hatte einen wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung. Die neuere Forschung zur Kriminologiegeschichte hat eine ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmende Dominanz der psychiatrischen Experten innerhalb des kriminologischen Diskurses festgestellt, der zuvor von Juristen und Theologen, Strafvollzugspraktikern und Moralstatistikern geprägt worden war. Gegen Ende des Jahrhunderts hatte sich das medizinischbiologischen Paradigma der Verbrechensauffassung weitgehend durchgesetzt.1 Die Psychiater, die Kriminalitätstheorien entwickelten und kriminalpolitische Vorschläge unterbreiteten, hatten auf zwei Gebieten Erfahrungen mit Verbrechern gesammelt: Zum einen waren sie als forensische Sachverständige bei der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit eines Täters gefordert, zum anderen behandelten und verwahrten sie als Anstaltsärzte unzurechnungsfähige Rechtsbrecher und psychisch erkrankte Strafgefangene. In diesem Kapitel wird zunächst die Praxis des forensisch-psychiatrischen Gutachterwesens und die aus ihr resultierende Entwicklung von medizinischen Erklärungen von Devianz analysiert. Ein zweiter Abschnitt behandelt die Unterbringung geisteskranker Rechtsbrecher in Irrenanstalten und im Strafvollzug sowie die damit verbundenen Probleme der juristischen und medizinischen Definition von Geisteskrankheit und Verbrechen. In einem dritten Schritt werden die konkurrierenden kriminalpolitischen Vorschläge und Reforminitiativen vorgestellt, die von Psychiatern und Juristen vorgebracht wurden, weil das traditionelle auf der Zurechnung von Schuld und Verantwortung basierende Strafrecht versagte, als die biologische ›Abnormität‹ des Verbrechers zum ›Normalfall‹ geriet.

1 Vgl. Becker, Verderbnis und Entartung, S. 33f. u. 365ff; Wetzell, Inventing the Criminal, S. 38 u. 295.

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I. Forensische Psychiatrie und Kriminologie 1. Die Entwicklung der psychiatrischen Gutachtertätigkeit Im Laufe des 19. Jahrhunderts erlangte die medizinisch-naturwissenschaftlich ausgerichtete Psychiatrie im Gerichtssaal wie in den Gefangenenanstalten eine derart große Definitionsmacht, dass das Monopol der Fachjuristen auf dem Gebiet der Strafrechtspflege bedroht schien. Die gutachtliche Stellungnahme zur Frage der Zurechnungsfähigkeit eines Täters bildete das Einfallstor für die kriminalpsychiatrischen Experten. Das aus der Sachverständigentätigkeit gewonnene Wissen floss schließlich in die Kriminologie ein, die sich allmählich zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin formierte. Diese Entwicklung schien aus der Perspektive des frühen 19. Jahrhunderts keineswegs vorgezeichnet. Die damals vorherrschenden absoluten Straftheorien ließen wenig Raum für Gutachten über die Täterpersönlichkeit. Kant und Hegel hatten ein Verständnis der Strafe als angemessener Vergeltung der Tat entwickelt, das auch ohne die Beurteilung des Charakters oder der Gefährlichkeit des Täters auskam. Es widersprach geradezu dem zeitgenössischen idealistischen Weltbild, »wenn er [der Verbrecher] nur als schädliches Thier betrachtet wird, das unschädlich zu machen sey«.2 Das Vergeltungsstrafrecht jener »rechtsstaatlich-liberalen Epoche«3 der Strafrechtsgeschichte, das auf der individuellen Zurechnung von Schuld basierte, kannte mithin die Persönlichkeitsbeurteilung nur für den Ausnahmefall der zweifelhaften Zurechnungsfähigkeit des Täters. Zwar hat die Geisteskrankheit als Strafausschließungsgrund eine lange Tradition, die vom römischen Recht der Antike über die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 bis zum Strafrecht der Gegenwart reicht,4 doch bis in das 18. Jahrhundert hinein blieb die Hinzuziehung eines medizinischen Sachverständigen eher die Ausnahme.5 Charakteristisch für die Strafrechtskodifikationen des deutschen Sprachraums seit der Aufklärung ist, dass nicht unmittelbar die Geisteskrankheit, sondern das Fehlen der Willensfreiheit – also die mangelnde Fähigkeit des Täters, sein Handeln zu steuern – als Kriterium für die Anerkennung der Unzurechnungsfähigkeit definiert wurde. So bestimmte das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794: »Wer frey zu handeln unvermögend ist, bei dem findet kein Verbrechen, also auch keine 2 3 4 5

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Hegel, § 100; siehe auch Kant. Schmidt, Einführung, S. 282ff. Vgl. Gschwend, S. 111ff. Vgl. Kaufmann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 25.

Strafe statt.«6 Das Vermögen, »frey zu handeln«, ist freilich eher ein philosophischer Begriff als eine medizinische Kategorie. Insofern erscheint es nur konsequent, dass Immanuel Kant im Jahr 1798 in seiner »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« den Medizinern die Kompetenz in der Zurechnungsfrage absprach und sie stattdessen für die Philosophen reklamierte.7 Dessen ungeachtet wies wenige Jahre später die preußische Criminal-Ordnung von 1805 ausdrücklich den Ärzten die Gutachterrolle zu: »Auf die Beschaffenheit des Gemüthszustandes eines Angeschuldigten muß der Richter fortwährend ein genaues Augenmerk richten, und vorzüglich untersuchen, ob der Verbrecher zur Zeit, als die Tat verübt worden, mit Bewußtseyn gehandelt habe. Finden sich Spuren einer Verirrung oder Schwäche des Verstandes; so muß der Richter mit Zuziehung des Physikus oder eines approbirten Arztes den Gemüthszustand des Angeschuldigten zu erforschen bemühet seyn, und die deshalb aufgewendeten Mittel mit deren Resultaten zu den Akten verzeichnen.«8

Die Criminal-Ordnung stärkte nicht nur die Position der Medizin gegenüber der philosophisch ausgerichteten Psychologie, sondern schrieb erstmals die Einholung medizinischer Gutachten im Fall zweifelhafter Zurechnungsfähigkeit verbindlich vor. Auch wenn der Richter bei der Feststellung der Unzurechnungsfähigkeit das letzte Wort behielt, bedeutete diese Vorschrift eine Aufwertung der ärztlichen Sachverständigentätigkeit. Auch im materiellen Strafrecht kam der Gesetzgeber in den folgenden Jahrzehnten den medizinisch-psychiatrischen Gutachtern entgegen. Zwar hielt das Preußische Strafgesetzbuch von 1851 in § 40 am Kriterium der Willensfreiheit fest, doch es benannte Krankheitszustände, durch welche dieselbe ausgeschlossen sei: »Ein Verbrechen oder Vergehen ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit der That wahnsinnig oder blödsinnig, oder die freie Willensbestimmung durch Gewalt oder durch Drohung ausgeschlossen war.«9 Der entsprechende § 51 des Reichsstrafgesetzbuchs von 1871, der bis 1933 unverändert blieb, lehnte sich an die preußische Kodifikation an: »Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.«10 Indem das Strafrecht den Ausschluss der freien Willensbestimmung an Krankheitszustände knüpfte, machte es die Einholung medizinischer Expertisen nun auch zu einer sachlichen Notwendigkeit. Erst jetzt, in der zweiten Hälf6 ALR, Teil II, Titel 20, Abschnitt I, § 16, zitiert nach: Hattenhauer, S. 667. 7 Vgl. Fischer-Homberger, S. 165f.; Kaufmann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 28. 8 Zitiert nach: Kaufmann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 28. 9 Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten vom 14.4.1851, Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1851, S. 101ff. 10 Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15.5.1871, RGBl. 1871, S. 127ff.

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te des 19. Jahrhunderts, war ein starker Anstieg der Fälle zu verzeichnen, in denen der Richter einen medizinischen Sachverständigen zur Klärung der Zurechnungsfähigkeit bestellte. Sowohl die forensisch-psychiatrische Fachliteratur als auch die Tagespresse aus der Zeit der Jahrhundertwende zeugen von der Wahrnehmung einer »immer häufigere[n] Inanspruchnahme der Ärzte in foro bezüglich zweifelhafter Geisteszustände«.11 So häufig sich auch in den Quellen Belege über die Zunahme der kriminalpsychiatrischen Sachverständigentätigkeit finden, so schwierig ist es dennoch, diese Entwicklung quantitativ genau zu erfassen.12 Doch auch wenn die zeitgenössischen Statistiken hier schweigen, können für den Untersuchungszeitraum mehrere Entwicklungsphasen unterschieden werden. Wählt man die Zuständigkeit für die forensisch-psychiatrische Gutachtertätigkeit als Einteilungskriterium, treten drei Phasen in Erscheinung: (1.) Bis 1879 wurden überwiegend die Kreisphysiker, die Amtsärzte auf Kreisebene, als Sachverständige bestellt. (2.) Von 1879 bis 1900 wurden hauptsächlich Anstaltspsychiater mit der Gutachteraufgabe betraut. (3.) Ab 1900 verlagerte sich die Sachverständigentätigkeit zunehmend auf die Gerichtsärzte. Die Frühphase des forensisch-psychiatrischen Gutachtenwesens ist dadurch charakterisiert, dass die Gerichte auf ortsansässige ›Fachleute‹ zurückgriffen. Das konnte der Irrenarzt einer nahegelegenen psychiatrischen Anstalt oder – in Universitätsstädten – ein Medizinprofessor sein.13 In erster Linie war es jedoch der örtlich zuständige Kreisphysikus, wie es auch in der bereits erwähnten preußischen Criminal-Ordnung von 1805 vorgesehen war. Die Kreisphysiker waren freilich alles andere als ausgewiesene Spezialisten für zweifelhafte Geistes- und Gemütszustände. Als nebenamtliche Medizinal11 Krafft-Ebing, Lehrbuch, S. 7. Zahlreiche Presseartikel aus der Zeit der Jahrhundertwende, die das Verhältnis von Psychiatrie und Strafjustiz thematisieren, finden sich in: GStA PK, HA I, Rep. 84 a, Nr. 11009. So konstatierte z.B. das Leipziger Tageblatt vom 16.5.1908 unter der Überschrift »Strafrichter und Irrenärzte«: »Heutzutage spielt sich fast kaum ein Prozeß ab, ohne daß Untersuchungen angestellt und Sachverständige darüber vernommen werden, ob der Angeklagte geistig ›normal‹ ist«. 12 Die 1882 eingeführte Reichskriminalstatistik war als Verurteiltenstatistik angelegt und erfasste somit nicht die Freisprüche wegen Unzurechnungsfähigkeit. Die Statistiken über die Anstaltspsychiatrie weisen nicht immer die Kategorie der ›verbrecherischen Irren‹ aus. Wo dies dennoch der Fall ist, wird unzureichend unterschieden zwischen den wegen Unzurechnungsfähigkeit außer Verfolgung gesetzten Tätern und anderen ›gemeingefährlichen Irren‹, die überhaupt keine kriminelle Handlung begangen hatten. Auf jeden Fall fehlen in den Anstaltsstatistiken diejenigen Unzurechnungsfähigen, die nach dem Freispruch nicht in eine Irrenanstalt eingewiesen wurden. Vgl. die Kriminalstatistik für das Jahr 1882: Statistik des Deutschen Reichs 8 (1884); als Beispiele für die Statistik der Irrenversorgung: Grunau sowie »Nachweisung der am 1. Februar 1896 in den 6 Provinzial-Irrenanstalten und in 11 Privat-Irrenpflegeanstalten verpflegten verbrecherischen Irren«, in: Verhandlungen des 40. Rheinischen Provinzial-Landtags vom 7. bis 18. März 1897, Anlage 6, S. 244f. 13 Gerichtsmedizinische Gutachten der Tübinger Medizinischen Fakultät dienen beispielsweise als Quellengrundlage bei Kaufmann, Psychiatrie und Strafjustiz.

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beamte der untersten staatlichen Verwaltungsebene dienten sie als Faktotum für sämtliche Belange der Gerichtsmedizin, der Medizinal- und Sanitätspolizei.14 Zu ihren Aufgaben zählte die Aufsicht über Medizinalpersonen, die Überwachung von Krankenhäusern und die Visitation von Apotheken. Auf sanitätspolizeilichem Gebiet waren sie für die Feststellung gefährlicher ansteckender Krankheiten zuständig; im Zuge der Industrialisierung nahm auch die Inspektion gewerblicher Anlagen einen immer höheren Stellenwert ein. In ihrer Eigenschaft als Gerichtsärzte nahmen Kreisphysiker auch Leichenöffnungen und Untersuchungen an Verletzten vor. Doch ihre Haupterwerbsquelle war die eigene Privatpraxis, denn die Besoldung allein reichte nicht zum Lebensunterhalt, zumal weder ein Wohnungsgeldzuschuss noch eine Pensionsberechtigung mit dem Amt verbunden waren.15 Die Anfertigung gerichtlich-psychiatrischer Gutachten gehörte im Berufsalltag eines Kreisphysikers somit eher zu den Ausnahmetätigkeiten. Eine entsprechend marginale Stellung nahm die Psychiatrie auch in der Ausbildung der Amtsärzte ein. Psychiatrisches Fachwissen gehörte im 19. Jahrhundert noch nicht zu den prüfungsrelevanten Gegenständen des Medizinstudiums. Auch das Physikatsexamen, das neben der Approbation die zweite Voraussetzung für das Amt eines Kreisphysikers bildete, verlangte dem Kandidaten nur elementare Kenntnisse ab. Die zum Bestehen der Prüfung erforderlichen Kenntnisse bezog der angehende Medizinalbeamte aus dem »Schlockow«, der einschlägigen »Anleitung zum Physikatsexamen«, die auch ein Kapitel über die »Formenlehre der Geistesstörungen« enthielt.16 Darüber hinaus reichende eigene klinische Erfahrungen wurden nicht vorausgesetzt. So kann es nicht verwundern, dass die forensischen Gutachten in der späteren Berufspraxis häufig oberflächlich und fachlich wenig fundiert ausfielen. Der Psychiatrie-Professor Hans W. Gruhle äußerte sich im Rückblick leicht spöttisch über die Zeiten, »in denen der Kreisphysikus mit der erblichen Belastung begann, die Symptome des Leidens aufzählte, die freie Willensbestimmung erörterte und damit fertig war.«17 Wenn Zweifel an der fachlichen Qualität eines Gutachtens aufkamen, konnte das Gericht ein Obergutachten von den ›Medicinal-Collegien‹ einholen, die als beratende Organe den Oberpräsidenten der Provinzen zugeordnet waren. Als höchste Gutachter-Instanz kam die beim Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten in Berlin angesiedelte 14 Zu Aufgaben und Status der preußischen Kreisphysiker vgl. Labisch u. Tennstedt, S. 14ff; Huerkamp, S. 167ff. 15 Die Besoldung belief sich seit 1816 unverändert auf jährlich 200 Taler; 1872 wurde sie auf 300 Taler bzw. 900 Mark angehoben. Zum Vergleich: Das Anfangsgehalt eines Regierungsrats betrug im Jahr 1870 3 600 Mark, das eines Schutzmannswachtmeisters immerhin noch 1 200 Mark. Vgl. Hohorst u.a., S. 110f. 16 Vgl. Schlockow, Der Preußische Physikus, S. 459ff. 17 Gruhle, Die Ausweitung der psychiatrischen Sachverständigentätigkeit vor Gericht, S. 568. In der Tat entsprach das im »Schlockow« enthaltene Mustergutachten diesem Schema.

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›Wissenschaftliche Deputation für das Medicinalwesen‹ in Frage.18 Deren Mitglieder wurden derart häufig als forensische Obergutachter beansprucht, dass der preußische Justizminister im Jahr 1862 die Oberstaatsanwälte anwies, Mitglieder der Wissenschaftlichen Deputation nur noch »in besonders wichtigen und zweifelhaften Fällen« als Sachverständige zu benennen.19 Das häufige Einholen von Obergutachten verweist auf den Strukturfehler des forensischpsychiatrischen Gutachtenwesens in dieser frühen Phase: Den Kreisphysikern wurde eine Expertenrolle zugewiesen, der sie auf Grund ihrer unzureichenden Ausbildung und mangelnden klinischen Erfahrung kaum gerecht werden konnten. Nach der Reichsgründung wurde mit der im Oktober 1879 in Kraft getretenen Reichsstrafprozessordung20 die forensische Sachverständigentätigkeit auf eine neue Grundlage gestellt. Grundsätzlich stellte die neue Strafprozessordnung die »Auswahl der Sachverständigen und die Bestimmung ihrer Anzahl« in das Ermessen des Richters.21 Eine wesentliche Neuerung brachte der Paragraph 81, der es dem Gericht erlaubte, einen Angeschuldigten zur »Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand« in eine »öffentliche Irrenanstalt« einzuweisen und dort bis zu einer Dauer von sechs Wochen beobachten zu lassen. Die Beobachtung des Angeschuldigten in einer Irrenanstalt stellte insofern einen wichtigen Impuls für die Entwicklung der forensischen Psychiatrie dar, als hierdurch das Gutachtenwesen verfachlicht und die Anstaltspsychiatrie mit der Strafrechtspflege verklammert wurde. Zwar diente in der Regel weiterhin zunächst ein Kreisphysikus als Erstgutachter, doch im Zweifelsfall konnte der Angeschuldigte zusätzlich von einem klinisch erfahrenen Irrenarzt ausgiebig untersucht werden. Die Justiz machte von dieser Möglichkeit alsbald reichlich Gebrauch. In Preußen stieg die Zahl der Anstaltseinweisungen zur Beobachtung nach § 81 zwischen 1879 und 1887 von 15 auf 100 Fälle jährlich. Nach einem weiteren kontinuierlichen Anstieg um die Jahrhundertwende wurde in den Jahren 1909 bis 1911 mit insgesamt 1 815 Beobachtungsfällen, verteilt auf 62 Anstalten, das Maximum erreicht.22 Nahezu jeder in einer Irrenanstalt beschäftigte Arzt dürfte in dieser Zeit mit forensisch-psychiatrischen Problemen konfrontiert worden sein, was sich auch in der psychiatrischen Fachliteratur niederschlug.23 18 Zur Organisation der Medizinalbehörden in Preußen vgl. Eulenberg, S. 5ff.; Börner, S. 3ff.; Guttstadt, S. 2ff.; Pistor, S. 143ff. 19 PrJM an Oberstaatsanwälte, 15.7.1862, GStA PK, HA I, Rep. 84 a, Nr. 2076, Bl. 91. 20 Reichsstrafprozeßordnung vom 1.2.1877, RGBl. 1877, S. 253ff. 21 Vgl. § 73 RStPO. 22 Die Zahlen sind der in der »Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin« veröffentlichten Statistik entnommen. Vgl. AZP, Jg. 45, 1889, S. 449; Jg. 60, 1903, S. 637f.; Jg. 62, 1905, S. 123; Jg. 67, 1910, S. 172; Jg. 70, 1913, S. 654. 23 Hierzu ausführlich: Abschnitt A, I, 3.

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Nach der Jahrhundertwende setzte im Zuge der preußischen Medizinalreform eine neue Phase des forensisch-psychiatrischen Gutachtenwesens ein, die durch die wachsende Beteiligung besonderer Gerichtsärzte charakterisiert ist. Nachdem im März 1892 der frühere Referent der Medizinalabteilung Robert Bosse zum preußischen Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten ernannt worden war, fanden die auf eine Umstrukturierung des öffentlichen Gesundheitswesens zielenden Vorschläge des Abgeordnetenhauses die grundsätzliche Zustimmung der Verwaltungsspitze. Auch der Kultusminister sah ein Problem in der Dreifachbelastung der Kreisphysiker durch Privatpraxis, sanitätspolizeiliche und gerichtsmedizinische Aufgaben. Aus mehreren Kommissionsberatungen, in denen über die Besoldung der Gesundheitsbeamten und die Abtrennung der gerichtsmedizinischen Tätigkeiten aus ihrem Aufgabenbereich gestritten wurde, ging schließlich das Kreisarztgesetz vom 16. September 1899 hervor.24 Sowohl in der Frage des Beamtenstatus als auch bei der Einrichtung besonderer Gerichtsarztstellen wies das am 1. April 1901 in Kraft getretene Gesetz einen Kompromisscharakter auf: Der nunmehr Kreisarzt genannte ehemalige Kreisphysikus war jetzt pensionsberechtigt und entweder vollbesoldet oder aber nur teilbesoldet, dafür aber zur Führung einer Privatpraxis berechtigt. Weiterhin war der »Kreisarzt der Gerichtsarzt seines Amtsbezirks«. Doch »wo besondere Verhältnisse« es erforderten, konnte »die Wahrnehmung der gerichtsärztlichen Geschäfte besonderen Gerichtsärzten übertragen werden« (§ 9). Zunächst wurden 15 solcher Gerichtsarztstellen eingerichtet, vier allein in Berlin; bis 1911 kamen drei weitere Stellen hinzu.25 Auch an den Universitäten wurde das Fach Gerichtliche Medizin ausgebaut, indem neben der älteren Professur in Berlin Extraordinariate in Breslau und Königsberg, Halle, Bonn und Kiel, Institute in Königsberg und Göttingen, schließlich auch in Breslau und Kiel eingerichtet wurden.26 Als wissenschaftliche und standespolitische Vereinigung entstand im Jahr 1905 die »Deutsche Gesellschaft für Gerichtliche Medizin«.27 Die Aufwertung der Gerichtsmedizin – so gering sie, gemessen an den ursprünglichen Plänen, auch ausfiel – ging zu Lasten der Psychia24 Der Text des »Gesetzes betr. die Dienststellung des Kreisarztes und die Bildung von Gesundheitskommissionen« und Informationen zur Entstehungsgeschichte finden sich bei Rapmund; vgl. auch Labisch u. Tennstedt, S. 42ff. 25 Vgl. das »Verzeichniß der Bezirke, in welchen gemäß § 9, Absatz 2 des Gesetzes betreffend die Dienststellung des Kreisarztes pp. vom 16. September 1899 (G.S.S. 172) besondere Gerichtsärzte angestellt sind.«, undatiert (1901 ?), GStA PK, HA I, Rep. 84 a, Nr. 2328, Bl. 69ff. Ursprünglich waren sogar 29 Stellen in 24 Städten vorgesehen; vgl. die »Vergleichende Zusammenstellung der jetzigen Physikats- und der künftigen Kreisarztbezirke« vom 19.10.1899, GStA PK, HA I, Rep. 84 a, Nr. 2327, Bl. 145ff.; siehe auch Wirth u. Strauch. 26 Vgl. Straßmann, Die Entwickelung der gerichtlichen Medizin, S. 472. 27 Vgl. Krauland.

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trie. Forensisch-psychiatrische Lehrinhalte wurden an den Medizinischen Fakultäten im Rahmen einer Vorlesung über Gerichtliche Medizin abgehandelt. Spezielle forensisch-psychiatrische Vorlesungen, wie sie beispielsweise der Kölner Psychiatrie-Professor Gustav Aschaffenburg anbot, waren für Medizinstudenten nicht obligatorisch.28 Der institutionelle Ausbau der Gerichtsmedizin seit der Jahrhundertwende wirkte sich auch auf die Sachverständigentätigkeit vor Gericht aus. Obwohl die Anzahl der Zurechnungsfähigkeits-Gutachten insgesamt zunahm, wurde seltener von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, den Täter zur Beobachtung in eine öffentliche Irrenanstalt einzuweisen.29 Während in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vermehrt Anstaltspsychiater die Sachverständigenaufgabe übernommen hatten, wurde die Zurechnungsfähigkeit nun häufig von Gutachtern geprüft, die in enger Verbindung zur Justiz standen, aber für die Unterbringung psychisch kranker Rechtsbrecher in Irrenanstalten nicht verantwortlich waren. Im Gegensatz zu den Irrenärzten waren die Justiz-Mediziner wenig geneigt, die für eine Heilanstaltsunterbringung ungeeigneten Täter für schuldfähig zu erklären und sie so dem Strafvollzug zuzuführen. Folglich standen die »im Anschluß an Freisprechungen auf Grund des § 51 des Strafgesetzbuches wegen ›krankhafter Störung der Geistestätigkeit‹ polizeilich veranlassten Untersuchungen des Täters [...] im Ergebnisse durchaus nicht immer im Einklange mit dem Ausgange des Verfahrens.«30 Stufte also die für die Beurteilung der Verwahrungsbedürftigkeit zuständige Ortspolizeibehörde den wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochenen Täter nicht als verwahrungsbedürftigen ›gemeingefährlichen‹ Geisteskranken ein, gelangte der Täter in die Freiheit zurück. Sogar der preußische Innenminister sprach sich im Jahr 1908 angesichts der Überbelegung der Irrenanstalten dafür aus, nur noch exkulpierte Täter »mit einer starken Neigung zu Gesetzesverletzungen« zu internieren, da »in neuerer Zeit eine auf immer ausgedehntere Anwendung des § 51 des Reichsstrafgesetzbuches gerichtete Neigung der Gerichtsärzte und auf deren Gutachten hin auch der Gerichte sich geltend« mache.31 So wurde für die Angeklagten der Freispruch wegen Unzurechnungsfähigkeit immer wahrscheinlicher und gleichzeitig die Gefahr, nach dem Verfahren in eine Irrenanstalt 28 Zur Tätigkeit Aschaffenburgs siehe Busse. 29 Während in der Rheinprovinz im Rechnungsjahr 1911/12 noch 223 »mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt geratene Personen« – »meist auf Grund des § 81 StPO« – unmittelbar aus der Haft in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen worden sind, belief sich die entsprechende Zahl für das Jahr 1921 nur noch auf 166; zwischen 1922/23 und 1927/28 schwankte die Zahl mit abnehmender Tendenz zwischen 71 und 50. Vgl. den Bericht der Provinzialverwaltung für das Rechnungsjahr 1928/29, ALVR, PV 1, Nr. 14717, Bl. 439. 30 Oberpräsident der Provinz Brandenburg an PrJM, 11.4.1905, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Bd. 6 (unfoliiert). 31 PrMdI an PrJM, 1.2.1908, GStA PK, HA I, Rep. 84 a, Nr. 1012, Bl. 28f.

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eingewiesen zu werden, immer geringer. Die Simulation einer Geistesstörung vor Gericht wurde auch für diejenigen Kriminellen, denen keine Todes- oder langjährige Freiheitsstrafe drohte, zu einer attraktiven ›Verteidigungsstrategie‹. Immer häufiger ging die Initiative zur Prüfung der Zurechnungsfähigkeit von den Angeklagten selbst aus.32 Kennzeichnend für diese dritte Phase des forensisch-psychiatrischen Gutachtenwesens ist mithin die Dynamik mehrerer sich gegenseitig verstärkender Effekte, die aus dem Ausbau der Gerichtsmedizin resultierten: Gerichtsärzte prüften die Zurechnungsfähigkeit, ohne zu berücksichtigen, ob der Angeklagte im Falle eines Freispruchs in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht werden konnte. Die steigende Zahl der Freisprüche verringerte das Risiko des Täters, in einer der ohnehin überbelegten Irrenanstalten zwangsinterniert zu werden. Viele Angeklagte brachten in der Hoffnung, auf diese Weise rasch die Freiheit wiedererlangen zu können, Zweifel an der eigenen Zurechnungsfähigkeit vor. Der seit 1850 zu verzeichnende und über den gesamten Untersuchungszeitraum anhaltende Anstieg der Beteiligung psychiatrischer Sachverständiger in Strafverfahren ist von zeitgenössischen Beobachtern, zumal wenn es sich um Juristen handelte, meist als ein Vordringen der Psychiatrie in die Rechtspflege wahrgenommen worden. Der Oberstaatsanwalt beim Oberlandesgericht Hamm sprach im Jahr 1907 sogar von »Uebergriffen des Psychiaters«, die »zu einer Gefahr für das Ansehen der Rechtsprechung geworden« seien: »Die einfachen Zwecke des Strafrechts, die bisher durch alle Zeiten für selbstverständlich galten, finden bei vielen kein Verständnis mehr; der Verbrecher ist für sie ein Objekt psychologischer und medizinischer Betrachtung, eine Willensfreiheit wird ihm überhaupt nicht zugestanden. Wenn es nach ihnen ginge, würde die unfehlbare medizinische Wissenschaft sich ebenso selbstbewußt und untergrabend in die Rechtsprechung eindrängen, wie es einst im sinkenden Mittelalter die Kirche getan hat.«33

An derartige Vorstellungen von einer zielstrebigen Einmischung der Psychiater in das Strafrechtswesen knüpfen auch neuere medizinhistorische Arbeiten an, in denen die forensische Sachverständigentätigkeit als Bestandteil psychiatrischer Professionalisierungsbestrebungen betrachtet wird. Zweifellos konnten »von der forensischen Psychiatrie kräftige Impulse auf die Entwicklung der gesamten Psychiatrie ausgehen«,34 doch scheint es fraglich, ob in diesem Zusammenhang von einer »Professionalisierungsstrategie« gesprochen werden kann.35 Schließlich ging die Initiative zur Anhörung eines Sachver32 Im Jahr 1912 war »die Simulation der Amnesie« bereits zur »alltäglichste[n] Erscheinung für den Gerichtspsychiater geworden«, da »unter Verbrechern schon so bekannt [war], daß dies ein leichtes Mittel ist, die Straflosigkeit zu erreichen«. So Bischoff, S. 30. 33 Peterson, Sp. 909 u. 914. 34 Fischer-Homberger, S. 148. 35 So z.B. Kaufmann, Psychiatrie und Strafjustiz, S. 30. Freilich erwähnt Kaufmann in einer

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ständigen von den an einem Strafverfahren beteiligten Personen aus, nicht aber von den Ärzten selbst. Letztere empfanden – im Gegenteil – die gerichtliche Ladung als Sachverständiger eher als eine lästige Pflicht. So entgegnete beispielsweise der Psychiater Gustav Aschaffenburg – selber ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der forensischen Psychiatrie – den Klagen über »das Eindringen der Psychiater, die sich an der Stelle der berufenen Richter die Entscheidung anmaßen«: »Als ob dem Psychiater nichts Erfreulicheres passieren könnte, als recht oft den Sachverständigen spielen zu müssen. In Wirklichkeit dürfte es wohl recht schwer fallen, eine größere Zahl von Sachverständigen namhaft zu machen, die nicht die ihnen aufgezwungene gerichtsärztliche Tätigkeit als eine der unerfreulichsten Aufgaben ihres Berufes betrachten.«36 In der Tat brachte die Gutachtertätigkeit kaum materielle Vorteile. Nach der Gebührenordnung aus dem Jahr 1878 belief sich die Vergütung auf maximal 2 Mark pro Stunde; den Amtsärzten wurden lediglich die Reisekosten erstattet.37 Vor allem aber ließ sich das Engagement im Bereich der forensischen Psychiatrie schwerlich mit den langfristigen professionspolitischen Zielen der Psychiater vereinbaren. Nachdem sich eine bürgerliche ›Erfahrungsseelenkunde‹ aus dem philosophisch-anthropologischen Diskurs der Aufklärung herauskristallisiert hatte, war die Frühphase der neuen Wissenschaft durch Spekulationen über das Verhältnis von Leib und Seele und den Schulenstreit zwischen ›Psychikern‹ und ›Somatikern‹ geprägt. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte die Psychiatrie sich allmählich als ein medizinisches Spezialfach etablieren.38 Der Aufstieg der medizinisch-naturwissenschaftlichen Psychiatrie, mit dem die Namen Wilhelm Griesinger (1817–1868) und Emil Kraepelin (1856– 1926) verbunden sind, ging einher mit der Einrichtung zahlreicher psychiatrischer Lehrstühle in den Medizinischen Fakultäten. Die Abwendung von ihren geisteswissenschaftlichen Traditionen war der Preis, den die Psychiatrie für ihre Anerkennung als Teilgebiet der streng naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin des späten 19. Jahrhunderts zu zahlen hatte.39 Durch die Erörterung forensischer Fragen wurden die Vertreter der Universitätspsychiatrie zwangsläufig wieder mit der moralischen Dimension psychischer Krankheit konfrontiert – einer Dimension, die nach dem naturwissenschaftlichen Selbstverständnis der sich professionalisierenden Psychiatrie eigentlich ausgeblendet bleiben sollte. Auch der Zusammenhang zwischen deviantem Verhalspäteren Fassung ihrer Arbeit, dass nicht allen Sachverständigen »die Bedeutung ihrer Gutachtertätigkeit für die Weiterentwicklung und Professionalisierung des Feldes ›Psychiatrie‹ bewußt« gewesen sei. Vgl. dies., Aufklärung, S. 308. 36 Aschaffenburg, Eine Lücke in der Strafprozeßordnung, S. 329. 37 Vgl. die »Gebührenordnung für Zeugen und Sachverständige im Deutschen Reich. Vom 30. Juni 1878 (R.-G.-Bl. S. 173.)«, abgedruckt bei Guttmann, S. 334f. 38 Zur Entstehungsphase der Psychiatrie vgl. Benzenhöfer; Kaufmann, Aufklärung. 39 Vgl. Ackerknecht, S. 73ff; Dörner, Bürger und Irre, S. 279ff.; Güse u. Schmacke, Bd. 1, S. 45ff.

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ten und Geisteskrankheit lag quer zu den Forschungsinteressen der ›materialistischen‹ Psychiatrie, die in hirnanatomischen Abnormitäten oder sonstigen körperlichen Degenerationserscheinungen die diagnostischen Kennzeichen psychischer Leiden wähnte. Zumindest in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellte die gerichtliche Tätigkeit eher ein Hindernis auf dem Weg psychiatrischer Professionalisierung dar. Die Anstaltspsychiatrie tat sich ebenfalls schwer mit den ihr zugewiesenen forensischen Aufgaben. Die therapeutisch orientierten Irrenärzte des 19. Jahrhunderts waren bemüht, das ihren Anstalten anhaftende Zuchthaus-Image abzustreifen. Nicht mehr in bloßer Verwahrung und Disziplinierung der ›Irren‹, sondern in der Heilung ihrer Patienten durch ärztliche Zuwendung in einer menschenfreundlichen Umgebung sahen die meisten Anstaltspsychiater ihre Aufgabe. Dieser Anspruch konnte in der Praxis nicht eingelöst werden, da die therapeutischen Bemühungen – insbesondere in Preußen – durch die staatliche Zwangseinweisungspolitik konterkariert wurden. In der Zeit des Deutschen Kaiserreichs entwickelten sich die Irrenanstalten zu einem massiven Stützpfeiler der Armenfürsorge, darüber hinaus wurden sie als Sicherungsanstalten für ›gemeingefährliche‹ Personen zweckentfremdet.40 Gerade die forensische Gutachtertätigkeit und die mit ihr einhergehende Verwahrung ›irrer Verbrecher‹ und ›verbrecherischer Irrer‹ stellte eine enorme Belastung für die Anstaltspsychiatrie dar. Die staatlich geforderte sichere Verwahrung psychisch kranker Rechtsbrecher brachte organisatorische Probleme mit sich und stand im Widerspruch zum Konzept der auf relative Freizügigkeit ausgelegten Heilanstalten.41 Die gemeinsame Unterbringung von Straftätern und ›unbescholtenen‹ Patienten brachte die Irrenanstalten bei der Bevölkerung in Misskredit. In den Augen der Anstaltsärzte, die durch die Betonung des Heilungsgedankens auch einen Ausbau der Stellen für Mediziner und Pfleger anstrebten, erinnerte die von der Bürokratie betriebene Zwangsverwahrungspraxis an längst überwunden geglaubte Zeiten, in denen Irre und Arme, Alte und Sieche, Waisen und Verbrecher gemeinsam sowie ohne ärztliche Betreuung in frühneuzeitliche ›Zuchthäuser‹ gesperrt wurden. Insgesamt trug der Anstieg der forensisch-psychiatrischen Gutachertätigkeit indirekt dazu bei, dass sich der »Widerspruch zwischen rehabilitativem, reintegrativem, kurativem Anspruch und repressiver Verwahrungspraxis«42 in den psychiatrischen Anstalten bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts weiter verschärfte. Was waren die Ursachen für die häufiger werdende Einholung forensischpsychiatrischer Gutachten, wenn die materiellen und ideellen Professions40 Vgl. Blasius, »Einfache Seelenstörung«, S. 61ff.; ders., Der verwaltete Wahnsinn, S. 73ff.; Köhler, S. 148ff. 41 Hierzu ausführlich: Abschnitt A, II, 1. 42 Thom, S. 13.

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interessen der Psychiatrie als Triebkräfte weitgehend ausscheiden? Zum einen ist hier die gestiegene Wertschätzung naturwissenschaftlicher Denkweisen anzuführen. Diese kam auch der Psychiatrie zugute, obwohl der erreichte Stand der Ätiologie und Therapie psychischer Krankheiten den Fortschrittsoptimismus eher dementierte. In einer Zeit, die im Zeichen des Siegeszugs der Naturwissenschaft und der Rationalisierung der Kultur stand, musste die Legitimität richterlicher Urteile als zweifelhaft erscheinen, wenn auf Expertisen zur Klärung strittiger Fachfragen verzichtet worden war. So kam es bei der formalrationalen Absicherung des Urteils durch Entscheidungsdelegation an den medizinischen Sachverständigen – freilich nur unter dem Vorbehalt des Letztentscheids durch den Richter – nicht unbedingt auf die fachliche Eignung des ›Experten‹ an. Die Tatsache, dass die Bürokratie nach 1900 nicht die Fachpsychiater, sondern die eng mit der Justiz kooperierenden Gerichtsmediziner als die vorrangig zuständigen Gutachter in Zurechnungsfähigkeitsfragen betrachtete (und förderte), zeigt, dass das Sachverständigenwesen neben dem Zweck der Bereitstellung von Fachwissen auch Züge einer »Legitimation durch Verfahren« (N. Luhmann) aufwies. Schon Max Weber hat als scharfsichtiger Analytiker der modernen Rechtsentwicklung in seiner 1911 niedergeschriebenen Rechtssoziologie auf diesen Aspekt hingewiesen: »Der Fachjustiz [...] winkt auf kriminellem Gebiet die Entmündigung durch die Fach-Psychiater, auf welche zunehmend die Verantwortung gerade für die Beurteilung besonders schwerer Straftaten abgewälzt wird und denen damit der Rationalismus eine Aufgabe zuschiebt, welche sie mit den Mitteln echter Naturwissenschaft gar nicht lösen können.«43

Das Vordringen der – nicht immer hinreichend fachkompetenten – ›Experten‹ ging weniger auf eine standespolitisch motivierte Kompetenzanmaßung seitens der psychiatrischen Gerichtssachverständigen zurück als auf die Eigenlogik einer sich selbst überschlagenden ›Rationalisierung‹. Auf das Zusammenwirken von Justiz und Sachverständigen, das für die Herausbildung einer kriminalpsychiatrischen Begrifflichkeit und nicht zuletzt auch für das Schicksal der Angeklagten von Bedeutung war, soll im Folgenden genauer eingegangen werden.

43 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 511f.

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2. Ärztliche Diagnostik und richterliche Urteilsfindung: die Feststellung der Unzurechnungsfähigkeit In der wilhelminischen Phase des Deutschen Kaiserreichs vollzogen sich zwei wissenschaftshistorische Entwicklungen, die für diese Untersuchung von Belang sind: Zum einen wurde die moderne psychiatrische Krankheitssystematik mit der Unterscheidung von organischen Geistesstörungen, endogenen Psychosen und Persönlichkeitsstörungen entwickelt, die auch die Grundlage heutiger Diagnosesysteme bildet. Zum anderen konstituierte sich unter maßgeblichem Einfluss der Psychiatrie eine naturwissenschaftlich ausgerichtete Kriminologie. An beiden Entwicklungen hatte die forensisch-psychiatrische Praxis Anteil. Der Gerichtssaal war der Ort, an dem Psychiater und Juristen sich über den Zusammenhang von Geisteskrankheit und Kriminalität – mithin auch über die Ursachen kriminellen Verhaltens – verständigten. Zugleich war er auch der Ort, an dem die psychiatrischen Krankheitsbegriffe ihre Brauchbarkeit für die soziale Praxis unter Beweis stellen mussten. Konnte das Gericht sich dem psychiatrischen Gutachten über die Zurechnungsfähigkeit anschließen, so dass der psychisch auffällige Täter entweder wegen Geisteskrankheit freigesprochen oder aber im Falle einer Störung ohne Krankheitswert zu einer Strafe verurteilt wurde, kann man von einer gelungenen Kommunikation zwischen Sachverständigem und Gericht sprechen. Im Folgenden soll der Strafprozess der Zeit der Jahrhundertwende als ein Kommunikationsprozess untersucht werden, um so die Bedingungen für das Gelingen der juristisch-psychiatrischen Verständigung über die Grenzen zwischen Geisteskrankheit und Verbrechen aufzuzeigen. Die Interaktion zwischen Vertretern der Justiz und ärztlichen Sachverständigen wurde durch das unterschiedliche Rollenverständnis beider Berufsgruppen überformt. Sahen sich die Richter und Staatsanwälte als unparteiische Diener der Wahrheitsfindung bzw. als Sachwalter der öffentlichen Ordnung, entsprach es dem ärztlichen Berufsethos, einem Kranken helfend zur Seite zu stehen. Die sozialgeschichtliche Forschung hat gezeigt, wie konfliktreich sich die gerichtliche Zusammenarbeit zwischen Juristen und Medizinern in der angelsächsischen Rechtskultur gestaltete.44 Psychiater wurden von der Verteidigung als sachverständige Zeugen benannt, um dem Angeklagten die Bestrafung zu ersparen. Mit entsprechend kritischem Blick betrachteten die Richter das parteiische Gutachten des ärztlichen Experten. Bezeichnenderweise hat der in der englischen Rechtssprache geläufige Begriff der »insanity defence« im Deutschen keine Entsprechung. Das deutsche Strafverfahrensrecht weist dem Sachverständigen traditionell eine andere Rolle zu: 44 Vgl. Crowther u. White; Eigen; Mohr; Smith, Trial by Medicine.

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die des Richtergehilfen. Nach der Strafprozessordnung vom 1. Februar 187745 erfolgte die »Auswahl der zuzuziehenden Sachverständigen und die Bestimmung ihrer Anzahl« durch den Richter (§ 73); der Richter hatte auch, »soweit ihm dies erforderlich erscheint, die Thätigkeit der Sachverständigen zu leiten« (§ 78); der Sachverständige musste beeiden, »daß er das von ihm erforderte Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen erstatten werde« (§ 79). Allerdings hatte der Angeklagte auch das Recht, einen Sachverständigen, dessen Ladung das Gericht nicht für erforderlich hielt, unmittelbar laden zu lassen (§ 219). Indem das deutsche Verfahrensrecht den Sachverständigen auf Unparteilichkeit verpflichtete und dem Richter unterstellte, begünstigte es die juristisch-psychiatrische Konsensbildung. Hinzu kam, dass – anders als im angelsächsischen Raum – überwiegend beamtete Ärzte, seien es Professoren, Anstalts- oder Kreisärzte, als psychiatrische Sachverständige benannt wurden, die sich dem Erhalt der staatlichen Ordnung verpflichtet fühlten. Freilich konnte es auch zu Loyalitätskonflikten kommen, wenn der Sachverständige in dem zu begutachtenden Täter in erster Linie einen Patienten sah. Das konnte bei den zur Beobachtung in eine Irrenanstalt eingewiesenen Untersuchungsgefangenen leicht der Fall sein. Hingegen verlief die Zusammenarbeit zwischen den besonderen Gerichtsärzten, denen keine therapeutischen Aufgaben oblagen, und der Justiz meist reibungslos, wozu auch die räumliche Nähe und der tägliche persönliche Umgang beitrugen.46 Neben dem Rollenkonflikt des Sachverständigen bildeten die unterschiedlichen Denkweisen und Arbeitsmethoden beider Professionen ein weiteres Hindernis bei der Klärung der Zurechnungsfähigkeit. Bereits die Formulierung des Unzurechnungsfähigkeits-Paragraphen im Strafgesetzbuch, der die Exkulpation davon abhängig machte, dass »der Thäter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war« (§ 51 RStGB), stieß bei den meisten Psychiatern auf Unverständnis, wenn nicht gar auf Ablehnung. Emil Kraepelin, der bekannte Begründer des klinischen Konzepts der Psychiatrie, monierte im Jahr 1904:

45 RGBl. 1877, S. 253ff. 46 Besonders die Staatsanwaltschaft bevorzugte die hauseigenen medizinischen Sachverständigen. So wollte die Kronoberanwaltschaft in Celle am Institut des Gerichtsarztes festhalten, als im Zuge der Eingliederung des ehemaligen Königreichs Hannover in den preußischen Staat auch das System der Kreisphysiker eingeführt werden sollte. »Das Zusammenwohnen der Gerichtsärzte mit dem Kronanwalt und dem Untersuchungsrichter gewährt außerdem eine Erleichterung der Kommunikation, welche ganz abgesehen von Kostenersparung in manchen Fällen von großer sachlicher Bedeutung sein kann.«, lautete das Argument in ihrem Schreiben an das preußische Justizministerium vom 18.9.1871, GStA PK, HA I, Rep. 84 a, Nr. 2077, Bl. 69ff., hier Bl. 70f.

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»Zwischen den Anschauungen, welche unser geltendes Strafgesetz beherrschen, und denjenigen des naturwissenschaftlich denkenden Irrenarztes besteht eine tiefe, unüberbrückbare Kluft. Insbesondere ist es für diesen letzteren gänzlich unmöglich, diejenigen scharfen Grenzen zwischen Freiheit der Willensbestimmung und deren Ausschließung zu ziehen, welche der Gesetzgeber annimmt. Daß im wirklichen Leben zwischen ausgeprägter geistiger Störung und völliger Gesundheit alle möglichen, ganz allmählich ineinander fließenden Übergänge bestehen müssen, ist so selbstverständlich, daß es nicht verlohnt, darüber ein weiteres Wort zu verlieren.«47

Dieses Zitat spiegelt die gegensätzlichen Begriffswelten der Rechtslehre und der naturwissenschaftlichen Psychiatrie wider. In der auf klare Definitionen, logische Stringenz und Generalisierbarkeit angelegten Rechtssprache mit ihrem hohen Abstraktionsniveau vermochte der empirisch-naturwissenschaftlich arbeitende Psychiater lediglich ein lebensfremdes, künstliches Wortgehäuse zu sehen. Schon der juristische Begriff der »krankhaften Störung der Geistesthätigkeit« barg ein erhebliches Konfliktpotential, da die psychiatrische Wissenschaft der Justiz nicht mit einer klaren Grenzziehung zwischen Krankheit und Gesundheit dienen konnte. Der gegenüber psychiatrischen Fragen durchaus aufgeschlossene Jurist Edmund Mezger machte seine juristisch gebildeten Leser mit einem gewissen Befremden darauf aufmerksam, dass die Psychiatrie »keinen einheitlichen, in eine abgeschlossene Definition faßbaren Begriff der psychischen Krankheit«48 kenne. Dagegen verlangten Psychiater wie Oswald Bumke, dass die Rechtssprache sich ihrerseits der Realität anzupassen habe: Jedes Strafgesetz müsse »den Streit zwischen Deterministen und Indeterministen und insbesondere die Tatsache, daß fast kein Arzt an die Freiheit des menschlichen Willens glaubt, bei der Formulierung des Paragraphen berücksichtigen, der die Bestrafung von Geisteskranken verhindern soll.«49 Gerade an dem hier angesprochenen gesetzlichen Begriff der »freien Willensbestimmung« erhitzten sich um die Jahrhundertwende die Gemüter. Die Mehrzahl der publizistisch aktiven Psychiater lehnte es geradezu indigniert ab, sich in Gerichtsgutachten auch über die Willensfreiheit des Täters zu äußern, da man ansonsten den Boden der Wissenschaft verlassen würde.50 Einige Psychiater versuchten hingegen, den Begriff der Willensfreiheit mit der naturwissenschaftlichen Weltsicht in Einklang zu bringen. So definierte der Zürcher Psychiatrie-Professor August Forel die Willensfreiheit als eine »plastische Anpassungsfähigkeit«, d.h. die »Fähigkeit, unser Denken, Fühlen und Handeln an alle äusseren und inneren Verhältnisse möglichst adäquat, d.h. möglichst

47 48 49 50 S. 6.

Kraepelin, Der Unterricht in der forensischen Psychiatrie, S. 142f. Mezger, Der psychiatrische Sachverständige im Prozeß, S. 90. Bumke, Gerichtliche Psychiatrie, S. 121. Vgl. Mendel, Der ärztliche Sachverständige; Cramer, S. 28; Sommer, Kriminalpsychologie,

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entsprechend und geordnet anzupassen«.51 Doch derartige begriffliche Verrenkungen verdeutlichten nur die juristisch-psychiatrischen Verständigungsschwierigkeiten, anstatt sie zu beheben. Wäre die Kommunikationsstörung zwischen den Vertretern beider Disziplinen rein semantischer Natur gewesen, hätte sie sich durch die Veröffentlichung eines ›zweisprachigen‹ Fachwörterbuchs beheben lassen. Doch die eigentlichen Probleme wurzelten in der pragmatischen Dimension der gerichtlichen Kommunikation. Auf der Handlungsebene waren die juristischen und medizinischen Begriffe schließlich mit dem Verfahren der Begutachtung und mit realen Sanktionen verbunden. Insofern war der Streit um die Begrifflichkeit alles andere als ein reines Glasperlenspiel. In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, das Procedere der Begutachtung näher zu betrachten. Wichtig ist hier zunächst, dass nur dann ein Gutachter eingeschaltet wurde, wenn dem Untersuchungsrichter – oder im Hauptverfahren dem Strafrichter – Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Angeschuldigten bzw. Angeklagten kamen. Die medizinischen Sachverständigen hatten mithin keinen Einfluss auf die Auswahl der Exploranden. Ein Fachpsychiater wurde häufig erst hinzugerufen, wenn der als Erstgutachter bestellte Kreis- oder Gerichtsarzt sich nicht im Stande sah, selbst ein eindeutiges Urteil abzugeben.52 Selten geschah es, dass ein Angeschuldigter, der sich nicht in Untersuchungshaft befand, zur Beobachtung in eine Irrenanstalt eingewiesen wurde.53 Offenbar sah man hierin eine bei Bagatelldelikten unangemessene Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit des Täters. Die spezialisierten Irrenärzte bekamen also überwiegend psychisch auffällige Täter mit einem unklaren Krankheitsbild zu Gesicht, die nicht unerhebliche kriminelle Handlungen begangen hatten. Der zeitgenössischen forensisch-psychiatrischen Handbuch-Literatur lässt sich entnehmen, wie die Gutachten schließlich zustande kamen.54 Die Erkenntnisquellen des Sachverständigen bestanden »aus dem Studium der Akten und der direkten Exploration des Beschuldigten«.55 Durch Einsichtnahme in die Gerichtsakten konnte der Gutachter Aussagen über die Umstände der Tat, die Person des Täters und dessen Vorleben auswerten. Die direkte Untersuchung des Beschuldigten umfasste eine körperliche Befunderhebung sowie Gespräche, aus denen zum einen ein psychopathologischer Befund, zum an51 Forel, Über die Zurechnungsfähigkeit des normalen Menschen, S. 12. 52 Vgl. Sommer, Kriminalpsychologie, S. 19. 53 Vgl. OStA Hamm an PrJM, 23.7.1897, GStA PK, HA I, Rep. 84 a, Nr. 1008, Bl. 170m. 54 Vgl. Cramer, S. 54ff.; Krafft-Ebing, Lehrbuch, S. 24ff.; Leppmann, Die SachverständigenThätigkeit bei Seelenstörungen, S. 1ff. u. 89ff.; Mendel, Die Zurechnungsfähigkeit; Schlager u.a., S. 86ff.; Schlockow, Der Kreisarzt, Bd. 2, S. 201ff.; Siemerling, S. 40ff.; Straßmann, Medizin und Strafrecht, S. 251ff. 55 Krafft-Ebing, Lehrbuch, S. 24.

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deren aber auch Sachinformationen über Tat und Täter gewonnen werden sollten. Je nach Wunsch des Richters konnte das Gutachten mündlich oder schriftlich erstattet werden. Inhaltlich bestand es im Wesentlichen aus drei Teilen: der Anamnese (Vorgeschichte), dem Status praesens (gegenwärtiger Befund) und dem ›eigentlichen Gutachten‹ (über den Geisteszustand zur Zeit der Tat). Die Anamnese gehört zu jeder medizinischen Untersuchung, wenngleich ihre Methoden (die Befragung des Patienten und die Lektüre von Krankenakten) relativ wenig Fachwissen voraussetzen. Hingegen konnten die Sachverständigen ihren Sachverstand ausspielen, wenn es um die Erhebung des Status praesens ging. Auf diesem Gebiet, bei der Untersuchung des Beschuldigten auf seinen aktuellen psychischen Gesundheitszustand, konnte der Gutachter kraft seiner psychiatrischen Fachkompetenz noch am ehesten gesicherte Erkenntnisse liefern. Doch der Richter interessierte sich für den Gemütszustand zur Zeit der Tat. Bei der Beantwortung dieser Kernfrage musste der ärztliche Sachverständige das Terrain naturwissenschaftlich gesicherten Wissens häufig verlassen und sich auf das nur vage eruierbare Vorleben des Angeschuldigten beziehen.56 In allen ausgewerteten Handbüchern begegnen zwei Gesichtspunkte, die für das ›eigentliche Gutachten‹ von besonderer Bedeutung sind, nämlich die Berücksichtigung der »hereditären Belastung« und die Suche nach Auffälligkeiten der »That selbst«.57 Lag ein angeborener geistiger Defekt vor, musste dieser auch zur Zeit der Tat vorhanden gewesen sein. Dieser leicht nachzuvollziehende Schluss machte die »Heredität« zu einem beliebten Baustein der gutachtlichen Gedankenführung. Um Hinweise über die erbliche Belastung zu erhalten, wurde die zu untersuchende Person gefragt, ob in der Familie geistige Störungen aufgetreten seien. Dabei brauchte »es sich nicht immer um ausgesprochene Geisteskrankheiten zu handeln, auch die Häufung anderer seelischer Abnormitäten, Neigungen zum Trunk, gehäufte Selbstmordversuche, Verschrobenheiten von Familienmitgliedern« galten als Indizien, welche die Annahme eines erblichen Defekts stützten.58 »Aber selbst die schwerste erbliche Belastung«, räumte der Berliner Gerichtsarzt, Professor und Geheime Medizinal-Rat Straßmann an gleicher Stelle ein, »kann an und für sich auch in Verbindung 56 Sehr dezidiert in dieser Hinsicht die Anleitung bei Leppmann, Die SachverständigenThätigkeit bei Seelenstörungen, S. 89: »Das Hauptgewicht bei der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit liegt für den Sachverständigen nicht [...] in dem Befunde bei der persönlichen Beobachtung des zu Begutachtenden, denn nur selten wird es der Zufall fügen, dass der Sachverständige den Exploranden bei Begehung der That, oder unmittelbar vor oder nach derselben sieht. Er wird deshalb sein Urteil hauptsächlich auf die Vorgeschichte des Falles und auf das Vorleben des zu Begutachtenden bauen müssen, er wird alle Momente berücksichtigen, welche auf das Geistesleben eines Menschen von Einfluss sind; der Status praesens wird ihn nur insoweit interessieren, als er aus demselben Rückschlüsse ziehen kann.« 57 Exemplarisch hier Schlager u.a., S. 86f. 58 Straßmann, Medizin und Strafrecht, S. 251.

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mit seelischen Abnormitäten des zu Untersuchenden nicht ohne weiteres dessen Zurechnungsunfähigkeit bedingen, es müssen auch dann die psychischen Defekte des Untersuchten so hochgradig sein, daß sie die Willensrichtung der krankhaft veranlagten Persönlichkeit in abnormer Richtung so stark beeinflussen, daß vernünftige Entschließungen nicht stattfinden können.«59 Weil selbst die ›erbliche Belastung‹ kein hinreichendes Kriterium der Unzurechnungsfähigkeit war, zogen die Gutachter regelmäßig aus der Tat Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Täters. Hier war es besonders »das Fehlen eines zureichenden Motivs für die Tat«, das »den Verdacht einer geistigen Störung des Täters lebendig werden« ließ.60 Im Fall einer aktuell diagnostizierten Psychose sollte das Tatmotiv Auskunft darüber geben, ob deren Symptome die Urteils- und Steuerungsfähigkeit des Täters schon zum fraglichen Zeitpunkt in der Vergangenheit beeinträchtigt hatten. Bei ›abnormen Persönlichkeiten‹, die nicht im eigentlichen Sinne psychisch krank waren, diente die Tat mitunter als einziges Kriterium der Zurechnungsfähigkeit.61 Welche große Bedeutung die ›erbliche Belastung‹ und das Motiv der Tat für die alltägliche Gutachterpraxis hatten, wird vor allem dann deutlich, wenn man statt der in Fachzeitschriften publizierten Gutachten gewöhnliche Expertisen betrachtet, die ohne jedweden über den Zweck der Sache hinausgehenden wissenschaftlichen Ehrgeiz verfasst worden sind. Typisch erscheint in dieser Hinsicht ein Gutachten aus dem Jahr 1906 über den ehemaligen Bergmann Friedrich N., der sich wegen Betrugs vor der 3. Strafkammer des Landgerichts Essen zu verantworten hatte.62 Friedrich N. hatte die Angewohnheit, wenn er sich nicht gerade in einer Straf- oder Irrenanstalt befand, als »Prophet« von Haus zu Haus zu ziehen, Hetzschriften gegen Katholiken zu verteilen und für seine eigene »Mission« Geld zu sammeln. Der Leiter der Irrenanstalt Eickelborn, in welche Friedrich N. zur Beobachtung eingewiesen worden war, legte am 5. Juli 1906 sein Gutachten vor, das sich auf das »einschlägige Aktenmaterial« und sechs Beobachtungen stützte. Im Anschluss an die ausführliche Schilderung der »Vorgeschichte« und der zur Last gelegten Handlungen kommt der Verfasser zu seiner Kernaussage: »Mein Gutachten fasse ich zum Schlusse dahin zusammen, dass der Angeklagte N. ein erblich belasteter, entarteter Mensch und wahrscheinlich von Kindheit an geistig nicht normal ist, dass bei ihm die sittlichen Empfindungen und altruistischen Gefühlen [sic!] verkümmert sind und seine Urteilskraft mangelhaft ist. Auf Grund dieser geistigen Mangelhaftigkeit, die mit einer übertriebenen Wertschätzung der eigenen Person und Fähigkeiten, mit leichter Erregbarkeit und Neigung zu Phantasterei und 59 Ebd., S. 252. 60 Ebd., S. 258. 61 Vgl. Wetzel. 62 ALWL, Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Eickelborn, Aufnahme-Nr. 1281 a (unfoliierte Krankenakte).

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Fanatismus verbunden ist, sind Wahnvorstellungen der Überschätzung und der Beeinträchtigung entstanden, welche eine gewisse Systematisierung nicht verkennen lassen und deren Hervortreten an seelische Erregungszustände gebunden zu sein scheint. Diese Eigenschaften, nämlich die geistige Schwäche und die Wahnideen bedingen meines Erachtens aber einen Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit, durch welchen die freie Willensbestimmung bei den Straftaten ausgeschlossen war und zwar umsomehr, als die krankhaften Vorstellungen zu den unter Anklage gestellten Handlungen in mehr oder weniger enger Beziehung stehen.«

Geistesschwäche und Wahnideen bilden hier den Krankheitsbefund, der im Rahmen der persönlichen Untersuchung des Angeklagten durch den Anstaltsarzt festgestellt wurde. Für die Frage der Zurechnungsfähigkeit sind aber vor allem die Krankengeschichte und die inkriminierten Taten selbst relevant. Beides ließ sich jedoch nur indirekt aus den Akten oder aus der Erzählung des Täters erschließen. Somit gründete das Gutachten im Prinzip auf den gleichen Erkenntnismitteln, die auch dem Richter zur Verfügung standen. Diese Gemeinsamkeit bei der Arbeitsweise machte die psychiatrischen Gutachten auch für Juristen verständlich. Bloß wurde die juristisch-psychiatrische Kommunikation dadurch kaum erleichtert. Schließlich schätzten viele Richter den Kompetenzvorsprung der psychiatrischen Sachverständigen gerade aus diesem Grund als gering ein, so dass die Gerichtshöfe sich »auf keinem Gebiete [...] leichter über die abgegebenen Gutachten hinweg[setzten], als bei der Beurteilung zweifelhafter Geisteszustände.«63 Das von dem Psychiater Kraepelin bemängelte souveräne Hinwegsetzen über psychiatrische Expertisen wurde im Jahr 1907 in der Deutschen Juristen-Zeitung offen propagiert: »Die positiven Tatsachen, auf welche sich das psychiatrische Gutachten stützt, können in der Regel auch vom Richter verstanden und auf ihre Richtigkeit überprüft werden; es bedarf dazu keines Seziermessers oder Mikroskops. Es gibt keine allgemein anerkannten Merkmale dafür, ob ein Geisteszustand nur ein anormaler oder ein krankhafter ist. In jeder Verhandlung, in welcher mehrere Psychiater auftreten, wird man unschwer erkennen, wie sehr es von der subjektiven Ansicht des einzelnen Sachverständigen abhängt, in welcher Weise die Grenzlinie des Krankhaften gezogen wird. Die medizinische Schlußfolgerung wird dabei zu oft in eine rein tatsächliche Schlußfolgerung übergehen. Dazu kommt, daß der Strafrichter durch seine stete Beobachtung nicht normal veranlagter verbrecherischer Individuen auch seinerseits eine nicht zu verachtende Fachkenntnis für die Bestimmung der gedachten Grenzlinie erworben hat.«64

Aus juristischer Sicht boten die Gutachten besonders dann einen Angriffspunkt, wenn sich die Diagnose auf unbewiesene, gerichtlich noch nicht festgestellte Tatsachen stützte. Problematisch war es beispielsweise, wenn der 63 So die Klage aus psychiatrischer Sicht bei Kraepelin, Der Unterricht in der forensischen Psychiatrie, S. 144f. 64 Peterson, Sp. 913f.

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Sachverständige aus den Umständen der Tat auf eine Geisteskrankheit schloss, ohne dass der Hergang der Tat oder die Frage der Täterschaft bereits einwandfrei geklärt waren.65 Desgleichen wurde den ärztlichen Sachverständigen von juristischer Seite unterstellt, die Angaben des Beschuldigten nicht mit der gebotenen Skepsis zu würdigen: »Der Arzt, als natürlicher Vertrauter seines Patienten,« sei – so Edmund Mezger – »naturgemäß wenig geneigt, in dessen Glaubwürdigkeit Zweifel zu setzen, und wird die Gewohnheit gern auch auf die Angaben des Angeklagten und der Zeugen im Prozeß übertragen«. Dagegen sei »es seit Jahrhunderten die Aufgabe richterlicher Entscheidung, unter Würdigung aller Umstände aus dem Gewirre der Behauptungen und Meinungen im Prozesse den wahren Sachverhalt zu eruieren.«66 Ungeachtet des Streits um die Fachkompetenz war die Entscheidungskompetenz im Strafprozessrecht eindeutig geregelt. Das Gericht stellte fest, wer unzurechnungsfähig war. Insgesamt hatte ein Beschuldigter im Verlauf der schwierigen juristischpsychiatrischen Verständigung über die Zurechnungsfähigkeit mehrere Hürden zu überwinden, bevor er als unzurechnungsfähig außer Verfolgung gesetzt wurde: Bevor überhaupt ein Sachverständiger angehört wurde, musste ein Prozessbeteiligter Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit geäußert haben. Der daraufhin bestellte psychiatrische Gutachter musste eine Geistesstörung von Krankheitswert festgestellt haben. Erst wenn durch Zeichen einer erblichen Veranlagung oder durch die Art der kriminellen Handlung auch auf einen krankhaften Geisteszustand zur Zeit der Tat geschlossen werden konnte, begründete das Gutachten die Schuldunfähigkeit. Die endgültige Feststellung der Unzurechnungsfähigkeit erfolgte nur dann, wenn das Gericht sich dem Gutachten anschloss. Welche Täter waren es, die nach diesem mehrfachen Aussieben einvernehmlich von psychiatrischen Sachverständigen und Richtern als unzurechnungsfähig etikettiert wurden? Eine Statistik über die zwischen 1891 und 1901 in der Irrenabteilung der Charité zur Beobachtung eingewiesenen Angeschuldigten kann hier eine erste Antwort geben, obgleich die Berliner Verhältnisse nicht für das ganze Land repräsentativ sein dürften.67 Innerhalb dieser elf Jahre wurden dort insgesamt 381 Personen – 317 Männer und 64 Frauen – auf Anordnung eines Gerichts untersucht. Das Verfahren endete in 249 Fällen (= 65,4 %) mit einem Freispruch, in 91 Fällen (= 23,9 %) mit einer Verurteilung.68 20 Verurteilungen erfolgten dabei im Widerspruch zum Gutachten. Bei genauerer Betrachtung treten einige geschlechtsspezifische Unterschiede zutage. Zwar entsprach der Frauenanteil an den Untersuchten mit rund 20 % 65 66 67 68

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Vgl. Peßler, S. 14f. Mezger, Jurist und Psychiater, S. 4. Vgl. Köppen, S. 4ff. Ebd., S. 6. In den übrigen Fällen ist der Ausgang des Verfahrens unbekannt geblieben.

ungefähr dem Anteil der ›weiblichen Kriminalität‹ an der Gesamtkriminalität, doch die Wahrscheinlichkeit, nach der psychiatrischen Begutachtung verurteilt zu werden, war bei Männern dreieinhalbmal höher als bei Frauen.69 Offenbar neigten Sachverständige und Richter dazu, kriminelles Verhalten von Frauen eher als Ausdruck einer Krankheit zu werten. Ebenso auffällig ist auch die Häufigkeit bestimmter Deliktarten. Gemessen an der Reichsstatistik der »Aburtheilungen« für das Jahr 1900 waren Mord, Brandstiftung und sexuelle Vergehen bei den zur Beobachtung in die Charité eingewiesenen Personen weit überrepräsentiert.70 Offenbar ließen besonders die scheinbar unmotivierten Taten jenseits jeglicher ökonomischer Rationalität die Richter und Sachverständigen an der geistigen Gesundheit eines Täters zweifeln. Angesichts des hohen Stellenwerts, der dem Tatmotiv sowohl bei der Begutachtung des Täters durch den Sachverständigen als auch bei der ›Begutachtung des Gutachtens‹ durch den Richter zukam, kann dieses Resultat kaum verwundern. Die Vernünftigkeit und Nachvollziehbarkeit der Tat war ein Kriterium für die Zurechnungsfähigkeit, das Juristen und Mediziner teilten.

3. Medizinische Deutungen von Kriminalität Die forensisch-psychiatrische Gutachtertätigkeit bildete das Erfahrungsfeld, auf dessen Grundlage sich um die Jahrhundertwende eine empirisch-naturwissenschaftliche Kriminologie ausbildete. Obwohl das deutsche Strafgesetzbuch lediglich einen zeitlichen – nicht notwendig einen kausalen – Zusammenhang zwischen Geistesstörung und krimineller Handlung für die Feststellung der Unzurechnungsfähigkeit voraussetzte, äußerten sich viele psychiatrische Sachverständige auch über die Ursachen der Tat. Anhand der forensisch-psychiatrischen Fachliteratur und exemplarischer Gutachten werden im Folgenden typische kriminalätiologische Deutungsmuster der Psychiatrie der Jahrhundertwende vorgestellt.71 69 27,2 % der Männer, aber nur 7,8 % der Frauen wurden vom Gericht für schuldig befunden. 70 Den Anteilen von 17,3 % (sexuelle Vergehen), 7,1 % (Mord) und 4,2 % (Brandstiftung) bei den Charité-Insassen stehen die Anteile von 2,4 % (Sittlichkeitsdelikte), 0,4 % (Tötungsdelikte einschließlich Mord) und 1,4 % (gemeingefährliche Delikte einschließlich Brandstiftung) bei den Aburteilungen im Deutschen Reich für das Jahr 1900 gegenüber. Vgl. Köppen, S. 5; Statistik des Deutschen Reichs, Neue Folge, Bd. 139, 1902, S. I u. 14f. 71 Die Auswahl der zitierten Gutachten erfolgte nach der Sichtung und qualitativen Auswertung einer größeren Menge publizierter Gutachten aus dem Zeitraum von ca. 1885 bis ca. 1915. Ergänzt wurde dieses Sample durch eine Stichprobe von Gutachten aus den Patientenakten des Bestands »Heil- und Pflegeanstalt Eickelborn« im Archiv des Landschaftsverbands WestfalenLippe. Die publizierten Gutachten stammen aus der »Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie

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a) Irrsinn und Verbrechen: Paranoia, Schwachsinn, Epilepsie In der Nacht zum 4. September 1913 ereignete sich in der Nähe von Stuttgart ein aufsehenerregender Kriminalfall, der das Klischee des unmotiviert und wahllos mordenden ›wilden Mannes‹ scheinbar bestätigte.72 Der 39 Jahre alte Hauptlehrer und Freizeitdichter Ernst Wagner aus Degerloch erstach seine Ehefrau und seine vier Kinder, während diese schliefen. Anschließend fuhr er, bewaffnet mit einem Revolver, zwei Mauserpistolen und mehr als 500 Schuss Munition, mit dem Zug in den Stuttgarter Vorort Mühlhausen und setzte dort mehrere Gebäude in Brand. Gezielt schoss er auf die durch den Brand herbeigerufenen Einwohner. Als er überwältigt werden konnte, hatte Wagner bereits neun von ihnen tödlich getroffen und viele weitere verletzt. Nachdem ein Polizist den Massenmörder vor der Lynchjustiz gerettet hatte, wurde der selbst schwerverletzte Wagner am 6. September im Krankenhaus durch einen Untersuchungsrichter vernommen. Auf Antrag von zwei Gerichtsärzten wurde er am 11. November gemäß § 81 StPO zur Beobachtung in die Tübinger Nervenklinik eingewiesen.73 In Tübingen beschäftigte sich Professor Robert Gaupp, ein KraepelinSchüler und Verfechter der ›verstehenden Psychiatrie‹, äußerst intensiv mit dem Exploranden und dessen dichterischen Erzeugnissen. In seiner »Zusammenfassende[n] kriminalpsychologische[n] und psychiatrische[n] Beurteilung«74 kam Gaupp zu dem Schluss, dass Wagner an chronischer Paranoia litt und folglich für seine Mordtaten nicht verantwortlich zu machen sei. Zur erblichen Belastung des Hauptlehrers heißt es in dem Gutachten: »Er vereinigte in sich geradezu die pathologischen Wesenszüge der beiden Eltern: das gesteigerte Selbstgefühl, die Einbildung und Neigung zu Trinkexzessen, die Unzufriedenheit mit seinem Schicksal hat er vom Vater, den Pessimismus, die Neigung zu Verfolgungsvorstellungen, die gesteigerte geschlechtliche Erregbarkeit und die allgemeine Nervenschwäche gibt ihm die Mutter, deren Bruder in seiner Krankheit Symptome zeigt, die wir (Verfolgungs- und Größenideen, eingehende Beschäftigung mit der Bibel und religiösen Ideen, Selbstvorwürfe der Onanie) bei Ernst Wagner ebenfalls finden.«75

Ausschlaggebend für die Ausbildung des Wahnsystems soll aber ein zwölf Jahre vor der Tat geschehener Vorfall gewesen sein: Wagner, der gerade seine Stelle als Unterlehrer in Mühlhausen angetreten hatte, beging »im Sommer oder und psychisch-gerichtliche Medizin«, der »Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen« und aus den folgenden Gutachtensammlungen: Kölle; Köppen; Pfister. 72 Zum Fall Wagner: Gaupp, Zur Psychologie des Massenmords; ders., Krankheit und Tod; vgl. die Darstellung des Falls bei Evans, S. 477ff.; siehe auch Neuzner u. Brandstätter. 73 Vgl. Gaupp, Zur Psychologie des Massenmords, S. 9ff. 74 Ebd., S. 158ff. 75 Ebd., S. 160f.

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Herbst 1901 mehrmals (wie oft ist unbekannt) auf dem Heimweg vom Wirtshaus unter der Wirkung des Alkohols das Delikt der Sodomie, der widernatürlichen Unzucht mit Tieren.«76 Die Scham ob dieser Verfehlung habe ihn ebenso gequält wie der vermeintliche Spott der Nachbarn, der freilich nur eine wahnhafte Fehlwahrnehmung gewesen sei. Denn »nach den Feststellungen des Untersuchungsrichters« stehe »ganz außer Zweifel, daß Mühlhausen bis zum Tage der Mordtaten Wagners von seinen sittlichen Verfehlungen keinerlei Kenntnis hatte«. »Alles, was er in 12 langen Jahren von dort an Spott, Hohn und Verachtung, an Qual und Marter erlitten zu haben glaubt«, sei »nichts anderes, als der Ausfluß eines Wahns«.77 Die Taten, nämlich die Morde an Mühlhausener Bürgern aus Rache und die Auslöschung der eigenen Familie als nicht vollendeter erweiterter Selbstmord, führte der Sachverständige explizit auf den Verfolgungswahn zurück, so dass die Zurechnungsfähigkeit zu verneinen sei. Nachdem der Straßburger Psychiatrie-Professor Wollenberg als Zweitgutachter zu einem gleichlautenden Ergebnis gekommen war, wurde das Verfahren eingestellt. Der dem Fallbeil entkommene Wagner durfte den Rest seines Lebens in der Heilanstalt Winnenthal verbringen, wo er 1938 an Lungentuberkulose starb.78 Die auf Grund der psychiatrischen Gutachten getroffene Gerichtsentscheidung sollte allerdings auf die tiefe Empörung der Öffentlichkeit stoßen, die den Fall in der Presse verfolgt hatte. Auch der Psychiater Gaupp musste wüste Beschimpfungen über sich ergehen lassen; so erhielt er eine anonyme Postkarte mit dem Text: »Rindvieh, psychiatrisches.«79 Tatsächlich geschah es selten, dass ein grausamer Mörder wegen Unzurechnungsfähigkeit unbestraft blieb. Insofern bildete der Fall Wagner eine Ausnahme. Möglicherweise hat die Zugehörigkeit zur Mittelschicht dem Hauptlehrer Wagner, der dem psychiatrischen Sachverständigen keineswegs als »furchtbarer Gewaltmensch«, sondern »in seinem ganzen Benehmen [als] ein gebildeter Mensch« erschien, die Todesstrafe erspart.80 Allerdings befanden sich die beiden Gutachter völlig im Einklang mit der zeitgenössischen forensisch-psychiatrischen Fachliteratur, als sie sich wegen der diagnostizierten chronischen Paranoia für die Zubilligung der Unzurechnungsfähigkeit aussprachen. So war in einem einschlägigen gerichtspsychiatrischen Handbuch der Jahrhundertwende zu lesen, »dass ein chronischer Paranoiker strafrechtlich wohl stets als unzurechnungsfähig gelten muss.«81 Diese eindeutige Fest76 Ebd., S. 164. 77 Ebd., S. 179. 78 Gaupp, Krankheit und Tod, S. 48. 79 Ebd., S. 68. 80 Vgl. Gaupp, Zur Psychologie des Massenmords, S. 184. Evans, S. 479, hebt diesen Aspekt der Klassenjustiz besonders hervor. 81 Cramer, S. 153; vgl. Krafft-Ebing, Lehrbuch, S. 127; Siemerling, S. 165.

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stellung gründete auch auf der Erfahrung, dass »in der Regel [...] sich bei diesen Taten [der chronischen Paranoiker, d. Vf.] ein kausaler Zusammenhang der Straftat mit den bestehenden Wahnideen nachweisen« ließ.82 Neben der Frage der Zurechnungsfähigkeit wurde in der Fachliteratur auch die besondere kriminelle Gefährlichkeit der paranoisch Kranken thematisiert: »Die forensische Bedeutung dieser Fälle von Verfolgungswahn ist eine eminente. Sie ergibt sich daraus, dass dem Kranken die Aussenwelt feindlich gegenübersteht, dass er in irgend einer Weise einmal feindlich gegen sie auftritt und sich dabei in der Stellung des in seinen Existenzbedingungen und edelsten Gütern bedrohten, zu vermeintlicher Nothwehr Berechtigten fühlt. Dadurch werden diese Kranken gemeingefährlich.«83

Die Fachwelt teilte mit der öffentlichen Meinung die Vorstellung, dass ein Wahnsinniger zu kriminellen Handlungen disponiert sei; strittig war eher die Frage, welche Konsequenzen die erfolgte Tat nach sich ziehen sollte. Nur ein geringer Teil der von psychisch Kranken begangenen Delikte war derart monströser Natur wie die Mordtaten des Hauptlehrers aus Degerloch. Harmloser und insofern auch eher repräsentativ für den Justizalltag war ein Betrugsfall, der im Frühjahr 1894 vor dem Berliner Landgericht verhandelt wurde.84 Im Winter 1893/94 hatte der 17-jährige Sohn eines Bankbeamten mehrfach unter falschem Namen eine Equipage mit Gummirädern bestellt und Spazierfahrten mit ihr unternommen, ohne die Rechnung zu begleichen. Der Angeschuldigte H. galt schon lange als Sorgenkind seiner Familie. Erst im Alter von acht Jahren hatte er sprechen gelernt. Privatunterricht und der Besuch von insgesamt sechs Schulen brachten nur geringe Lernerfolge. Als Kaufmannslehrling wechselte er bis zu seiner Verhaftung zwölfmal die Lehrstelle. In der Verhandlung am 23. April 1894 beantragte der ärztliche Sachverständige, den die Familie des Angeschuldigten bereits zwei Jahre zuvor aus Sorge um den Geisteszustand ihres Sohnes konsultiert hatte, die Beobachtung des H. in einer psychiatrischen Anstalt gemäß § 81 StPO. Der Angeschuldigte wurde daraufhin für die Dauer von sechs Wochen in die Irrenabteilung der Charité eingewiesen. Das abschließende Gutachten, das sich auf die Beobachtung und auf die »Angaben, welche wir über sein früheres Leben besitzen,« stützte, attestierte dem Angeschuldigten »Schwachsinn erheblichen Grades«, welcher ein »Ausfluss fehlerhafter Familienanlage« sei. »Alle Fähigkeiten des Geistes« seien bei H. »in gleicher Weise gering entwickelt«, weshalb auch »seine Charakterbildung, insbesondere nach der moralischen Seite hin, verkümmert« sei, und das »Triebleben« bei ihm vorherrsche. Zudem fehle dem Angeschuldigten »jedes Bewusstsein seiner Grausamkeit« sowie das Verständnis für 82 Siemerling, S. 165. 83 Krafft-Ebing, Lehrbuch, S. 128. 84 Vgl. Köppen, S. 10ff.

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die gegen ihn erhobene Anklage: »Davon, dass er sich durch die Nennung und Unterschrift eines fremden Namens schuldig gemacht hat, hat er keine Vorstellung. Er meint, er sei angeklagt wegen eines Sittlichkeitsverbrechens, und zwar sei es gegen die Sitte, mit Gummirädern zu fahren.« Das forensische Gutachten schloss mit dem Resümee: »Wir haben gezeigt, wie nach allen Richtungen hin die Intelligenz des H. zurückgeblieben ist, und wie die moralischen Anschauungen, die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht nicht zur Ausbildung gekommen sind, wie dass Schuldbewusstsein fehlt, und wie der p. H. jeder triebartigen Regung aus Mangel an der Fähigkeit zu überlegen erliegt. Wir geben daher unser Gutachten dahin ab, dass 1. der p. H. geisteskrank ist (Imbecillitas), und dass er sich auch 2. zur Zeit der Begehung der incriminierten Handlungen in einem Zustande krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befunden hat, durch welchen seine freie Willensbestimmung im Sinne des § 51 aufgehoben war.«85

Auch in diesem Fall stellte das Gericht auf Grund des psychiatrischen Gutachtens das Verfahren ein. Der Prozess hätte auch eine für den Angeklagten ungünstigere Wendung nehmen können, denn im Gegensatz zum hochgradigen Schwachsinn (Idiotie) galt die Diagnose der Imbezillität als schwierig.86 Die Grenzziehung zwischen leichtem Schwachsinn und noch ›normaler‹ Dummheit war eigentlich eine Ermessenssache. Im Fall des Kutschfahrten-Betrügers H. fiel die Imbezillität vor dem Hintergrund der vergeblichen bürgerlichen Bildungsbemühungen auf. Erst das Scheitern an zahlreichen höheren Schulen und Lehrstellen manifestierte die Geistesschwäche. Bei einem Jugendlichen aus der Unterschicht, der ohnehin mit geringeren intellektuellen Anforderungen konfrontiert wurde, wäre ein gleich großes Intelligenzdefizit womöglich nicht aufgefallen oder aber als nichtkrankhaft eingestuft worden. Die Unfähigkeit, das »Triebleben« und die »niedrigen Instinkte« im Zaum zu halten, erschien gerade angesichts der in bürgerlichen Familien geübten disziplinierten Lebensführung als abnorm. Indem das Gutachten einen kausalen Zusammenhang zwischen dem krankheitsbedingten Mangel an Selbstkontrolle und den kriminellen Handlungen feststellte, traf es implizit eine kriminologische Aussage. Die ›Triebhaftigkeit‹ und ›Impulsivität‹ der Schwachsinnigen wurde auch in der forensisch-psychiatrischen Fachliteratur als ein kriminalätiologischer Faktor angeführt. 87 Als typische Delikte der Schwachsinnigen galten »Bettelei, Diebstahl, Teilnahme an Betrügereien, Beleidigung, Verbrechen gegen das Leben, Brandstiftung, Sittlichkeitsverbrechen«.88 85 Ebd., S. 18. 86 Vgl. Cramer, S. 261ff; Krafft-Ebing, Lehrbuch, S. 62ff.; Siemerling, S. 451ff.; Sommer, Kriminalpsychologie, S. 117ff. 87 Vgl. Krafft-Ebing, Lehrbuch, S. 75; Siemerling, S. 456. 88 Leppmann, Die Sachverständigen-Thätigkeit bei Seelenstörungen, S. 85.

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Auch den Epileptikern schrieben die Psychiater der Jahrhundertwende eine besondere Disposition zu kriminellen Handlungen zu.89 Nicht die eigentlichen epileptischen Krampfanfälle, sondern die anschließenden Dämmerzustände begründeten die kriminelle Gefährlichkeit der Kranken. So nähmen Epileptiker häufig »in diesem Zustande veränderten Bewusstseins anscheinend bewusst und willkürlich Handlungen vor, welche sie in schweren Konflikt mit dem Strafgesetzbuch bringen«. »Anklagen wegen Diebstahls, Mordes, Brandstiftung und anderer Verbrechen sind nicht selten die Folgen davon«, heißt es in einem Handbuch für »Gerichtliche Psychiatrie« aus dem Jahr 1900.90 Darüber hinaus wurde eine schleichende Charakterveränderung bei Epileptikern festgestellt, die mit einem Verfall des ethischen Empfindens einherging: »Die Hauptsymptome der epileptischen Degeneration sind eine exzessive Reizbarkeit, Neigung zu Affektausbrüchen, zu unüberlegtem brutalen Handeln und Abschwächung der moralischen und intellektuellen Fähigkeiten. [...] Die Kranken sind leicht empfindlich, gereizt, verstimmt, geraten in Streit mit ihrer Umgebung. Es kommt zu heftigen Wutausbrüchen und Gewalttaten. Die ethischen Defekte machen sich in der Regel bei den Kranken früher bemerkbar, als die intellektuellen. Es sind schroffe, rücksichtslose, brutale Egoisten, die zu Lügen, zu Verläumdungen neigen. Ihre Urteilsschwäche leidet, ihren eigenen und fremden Verhältnissen bringen sie eine ganz falsche Beurteilung entgegen, sind äusserst misstrauisch, hinterlistig.«91

Die subjektiv gefärbte und äußerst abwertende Schilderung des ›epileptischen Charakters‹ durch den Psychiatrie-Professor und Geheimrat Siemerling mag den heutigen Leser befremden, ist jedoch symptomatisch für die Haltung der meisten Psychiater des Kaiserreichs in ihrer Doppelrolle als Therapeuten und verbeamtete Ordnungsgaranten. Gerade im Umgang mit kriminellen Geisteskranken siegte der Sicherheitsgedanke häufig über einfühlende Humanität. Das große Verständnis, das die deutschen Psychiater für staatliche Sicherheitsinteressen aufbrachten, begünstigte die Entstehung der naturwissenschaftlich ausgerichteten Kriminologie. Die Psychiater selbst stellten ihr durch die forensische Gutachtertätigkeit gewonnenes Wissen über den vermeintlich engen Zusammenhang von psychischer Krankheit und Kriminalität der kriminologischen Wissenschaft und der Kriminalpolitik zur Verfügung. Dabei blieb der Personenkreis, den die Kriminalpsychiatrie in den Blick nahm, keineswegs auf Paranoiker und Schwachsinnige, Epileptiker und andere im engeren Sinne Geisteskranke beschränkt. 89 Vgl. Cramer, S. 174ff.; Krafft-Ebing, Lehrbuch, S. 214ff.; Siemerling, S. 605ff.; Sommer, Kriminalpsychologie, S. 29ff. 90 Cramer, S. 182. 91 Siemerling, S. 608.

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b) Krankheit oder soziales Problem: Trunkenheit und Trunksucht Nach einer zeitgenössischen Schätzung von Richard von Krafft-Ebing, dem Verfasser des bekannten »Lehrbuchs der Gerichtlichen Psychopathologie«, kamen im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts »etwa 50 % aller Verbrechen und Vergehen unter dem Einfluss der Alkoholexcesse zu Stande.«92 Damit besaß der Alkoholmissbrauch eine weitaus größere kriminologische Relevanz als andere psychiatrische Krankheitsbilder. Doch handelte es sich hierbei überhaupt um eine krankhafte Erscheinung? Alkoholgenuss – auch in größeren Mengen – gehörte damals wie heute zur Alltagskultur. Der Alkoholrausch war eine Erfahrung, die jedermann gemacht hatte und die deshalb nicht als ›abnorm‹ galt. Folglich beurteilte nur selten ein medizinischer Sachverständiger die Zurechnungsfähigkeit eines Betrunkenen. So ist im »Handbuch der gerichtlichen Medizin« aus dem Jahr 1906 zu lesen: »Die Beurteilung des gewöhnlichen Rausches [Hervorhebung im Original] und seines Grades fällt nicht in die Kompetenz des Sachverständigen. Das deutsche Strafgesetz erwähnt die Worte Trunk und Rausch in Beziehung auf Zurechnungsfähigkeit überhaupt nicht. Den Grad der Trunkenheit und des Rausches stellt der Richter fest und beurteilt ihn nach dem meist recht trügerischen äusseren Verhalten des Betreffenden (lallende Sprache, schwankender Gang, verändertes Aussehen). Auch das Verhalten der Erinnerung findet unter Umständen Berücksichtigung, um festzustellen, ob sinnlose Trunkenheit, oder welcher Grad der Trunkenheit vorgelegen hat. Sinnlose Trunkenheit gilt als Ausschliessungsgrad der Strafe, hochgradige kann als strafmildernd berücksichtigt werden.«93

Im Gegensatz zum »Rechtsbewußtsein unseres Volkes«, nach dem die Handlungsfähigkeit und Verantwortlichkeit durch mäßigen Alkoholgenuss nicht beeinträchtigt werde, vertrat Cramer als Psychiater die Auffassung, dass »rein wissenschaftlich gedacht [...] das Vorhandensein auch schon eines mäßig schweren Rausches eine schwere pathologische Erscheinung infolge einer Vergiftung des Gehirns durch Alkohol« sei.94 Der Nervenarzt Hoppe charakterisierte den Rausch gar als »eine sehr schnell vorübergehende (transitorische) Psychose mit ganz typischem Verlauf und günstigem Ausgang.«95 Der folgende Beispielfall mag verdeutlichen, wie schwierig es für einen psychiatrischen Sachverständigen angesichts des »Widerspruch[s] zwischen wissenschaftlichen Thatsachen und dem in der Praxis eingeschlagenen Verfah92 93 94 95

Krafft-Ebing, Lehrbuch, S. 180f. Siemerling, S. 416. Cramer, S. 247. Hoppe, S. 41.

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ren«96 war, vor Gericht eine alkoholische Geistesstörung als Strafausschließungsgrund geltend zu machen: Am Abend des 27. März 1901 gab der Berliner Arbeiter Stanislaus D. nach einem Wirtshausbesuch mehrere Pistolenschüsse auf seine Lebensgefährtin, die Zeitungsträgerin B., ab und floh anschließend. Nachdem die an Kopf und Brust getroffene Frau in ein Krankenhaus gebracht worden war, schlich Stanislaus D. sich nachts in die gemeinsame Wohnung und schnitt sich die Pulsader des linken Arms mit einem Rasiermesser auf. Kurz darauf wurde er von der Polizei entdeckt. Nach der Behandlung im Krankenhaus wurde er in das Untersuchungsgefängnis Moabit gebracht, wo er dem Prozess wegen versuchten Mordes entgegensah. Doch bevor es zur Hauptverhandlung kam, wurde Stanislaus D., der als Trinker galt, zur Untersuchung seines Geisteszustandes in die Irrenabteilung der Charité eingewiesen.97 In seinem Gerichtsgutachten vermerkte der Krankenhausarzt, der Stanislaus D. beobachtet hatte, dass dieser »während des sechswöchentlichen Aufenthaltes in der Königlichen Charité keine Anzeichen von Geistesstörung geboten«, sondern nur »über nervöse Störungen, wie Kopfschmerzen und Schwindel« geklagt habe. Dennoch ergebe »das Studium der Vorgeschichte eine Reihe von Thatsachen, die beweisen, dass bei D. die krankhafte Grundlage vorhanden war, die eine plötzliche Umnachtung seines Geistes wohl verständlich machen konnte«. An diese einleitenden Bemerkungen schließt sich eine ausführliche Schilderung der Krankheitsäußerungen an, durch welche die Unzurechnungsfähigkeit des D. dem Gericht dargelegt wird: So sei D. bereits »im Jahre 1897 an Bleivergiftung erkrankt« und habe »im Anschluss daran Beschwerden gehabt, die auf eine krankhafte Reizung des Gehirns hinweisen«. Ferner sei er »seit Jahren Trinker« und habe »täglich grosse Quantitäten Alkohol zu sich genommen«, wodurch eine »sittliche Entartung« hervorgerufen worden sei. »Wohl auf den Einfluss des Bleies und den Alkohol zusammen« seien auch »Anfälle von Schwindel und Bewusstlosigkeit zurückzuführen«. Da diese Befunde dem Gutachter noch »nicht ausreichend« erschienen, »um die Zurechnungsfähigkeit des D. unbedingt anzuzweifeln«, richtete er den Blick auf »die That selbst«, um »auf das genaueste zu prüfen und zu untersuchen, ob sie selbst in ihrer Entstehung oder in ihrem Verlauf die Kennzeichen der That eines Geisteskranken an sich trägt«. Das »Revolverattentat« wird im Gutachten als eine »That der Leidenschaft« charakterisiert und auf »Eifersucht« und »Verfolgungsideen« zurückgeführt. Ferner wird bemerkt, dass D. »am Morgen nach der That in besinnungslosem Zustande aufgefunden worden« sei; zudem hätten Augenzeugen das »Benehmen des D.« als »im höchsten Grade auffallend« geschildert. Das Gutachten endet mit der Stellungnahme: 96 Cramer, S. 247. 97 Vgl. Köppen, S. 495ff.

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»Dieses sonderbare Verhalten erweckt, zusammengehalten mit der Erinnerungslosigkeit, allerdings den starken Verdacht, dass die That in einem krankhaften Zustand von Sinnesverrückung ausgeführt ist, zumal wir es ja mit einem Menschen zu thun haben, der ein ausgesprochener Säufer ist, Bleivergiftung gehabt hat, an Anfällen epileptischer Natur leidet, an dem betreffenden Tage sehr viel Alkohol zu sich genommen hatte und unter dem Einflusse eines sehr starken Affektes stand. Wir geben daher unser Gutachten dahin ab, dass D. aller Wahrscheinlichkeit nach zur Zeit der Begehung der incriminierten Handlung sich in einem Zustande krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befunden hat, durch welchen im Sinne des § 51 des St.-G.-B. seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.«98

Auf Grund dieses Gutachtens wurde das Verfahren gegen Stanislaus D. eingestellt. Betrachtet man die diskursive Struktur dieser Expertise, so sticht der große Begründungsaufwand, mit dem die Unzurechnungsfähigkeit nahegelegt wurde, ins Auge. Alkoholkonsum und Bleivergiftung, Schwindelanfälle, Eifersuchtswahn, Bewusstlosigkeit und Verhaltensauffälligkeiten werden nicht nur protokollartig aufgelistet, sondern auf geschickte Weise zu einer Argumentationskette arrangiert. Der rhetorische Aufwand zeugt nicht nur vom persönlichen Eifer des Gutachters, sondern auch von der Diskrepanz zwischen der psychiatrischen und der juristischen Bewertung des Alkoholkonsums. Obwohl die meisten Psychiater zur Zeit der Jahrhundertwende bereits davon überzeugt waren, dass allein starker Alkoholgenuss bereits zu unkontrolliertem kriminellen Verhalten führen könne, reichte die Feststellung der Trunkenheit des Täters in der Regel nicht für dessen Exkulpation aus. Nur wenn der Beschuldigte sich durch zusätzliche pathologische Erscheinungen wie Alkoholintoleranz oder Alkoholepilepsie, Delirien oder alkoholische Wahnzustände, Dipsomanie (Quartalstrunksucht) oder sinnlose Betrunkenheit eindeutig von einem ›gewöhnlichen‹ Trinker oder Betrunkenem unterschied, hatte er eine reelle Chance, wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen zu werden.99 Der Psychiater Krafft-Ebing betonte wie die meisten seiner auf forensischem Gebiet erfahrenen Berufsgenossen die Gefährlichkeit auch der ›normalen‹ Alkoholiker: »Die Gefährlichkeit der Trunksüchtigen und die Möglichkeit strafbarer Handlungen ergibt sich aus ihrem sittlichen und intellektuellen Schwachsinn, der unsittliche egoistische Gelüste und zudem vielfach abnorm heftige Affekte nicht mehr zu beherrschen vermag. Diebstahl, Unterschlagung, Meineid, Unzucht, Brutalitäten, Körperverletzungen, Todtschlag an Familienangehörigen und Fremden, Auflehnungen

98 Ebd., S. 501f. 99 Vgl. Cramer, S. 240ff.; Krafft-Ebing, Lehrbuch, S. 180ff.; Siemerling, S. 409ff.; Straßmann, Medizin und Strafrecht, S. 360ff.

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gegen das Gesetz, Misshandlung der Organe desselben, sind die gewöhnlichsten Vergehen und Verbrechen, wegen deren sich Säufer zu verantworten haben.«100

Im Jahr 1899 veröffentlichte Gustav Aschaffenburg, der sich bereits als Privatdozent mit forensisch-psychiatrischen und kriminologischen Fragen befasste, eine Studie mit dem Titel »Alkolgenuß und Verbrechen«.101 Gestützt auf experimentalpsychologische Erkenntnisse seines Lehrers Emil Kraepelin über die Auswirkung geringer Alkoholgaben auf das Reaktionsvermögen schilderte Aschaffenburg die beachtliche kriminologische Relevanz des sozial akzeptierten ›gelegentlichen Alkoholgenusses‹. Die Eigenschaft des Alkohols, die Reaktionszeit auf Kosten der Wahrnehmungsgenauigkeit zu verringern, mache sich auch »im Wirtshause und in der Nachwirkung auf der Straße« bemerkbar: »Der Reiz wird gebildet durch eine Äußerung, ein Schimpfwort, eine drohende Bewegung, ein zufälliges Zusammenstoßen; die Reaktion ist die Beleidigung, der Schlag mit der Faust, dem Stock, dem Bierglase, der Stoß mit dem Messer.«102 Statistiken über das zeitliche Zusammentreffen von Körperverletzungen mit Lohn- und Feiertagen dienten Aschaffenburg als Beleg für diese kriminologische Erkenntnis: »Die Erklärung liegt ungemein nahe. Am Sonnabend, dem Lohntage, wird stets ein Teil des mühsam in der Woche verdienten Lohnes vertrunken; Sonntags bleibt dem Arbeiter, dessen Heim nur selten genügend Anziehungskraft besitzt, kein anderer Zufluchtsort, zumal bei schlechtem Wetter, als das Wirtshaus, und Montags wird vielfach unter der körperlichen und physischen Nachwirkung der sonntäglichen Exzesse die Arbeit versäumt, ›blau gemacht‹.«103

Dieses »traurige Bild« werde bestehen bleiben, »so lange es dem Arbeiter, dem jungen Kaufmann nicht möglich ist, seinen Sonntag zweckmäßig anzuwenden, so lange ihm als Aufenthaltsort nur die Kneipe bleibt.«104 Im ganzen gesehen sei der »Gelegenheitstrunk« sogar gefährlicher als der »Gewohnheitstrunk«: »Natürlich wird auch der chronische Alkoholist der akuten Alkoholwirkung unterliegen und im Rausche, vielleicht noch eher als der sonst solide Arbeiter durch den 100 Krafft-Ebing, Lehrbuch, S. 184; ähnlich Cramer, S. 243: »Der chronische Alkoholist ist ein ethisch total verkommener Mensch, kann bei dem geringsten Anlass in hochgradige Wut verfallen, er kann dann wieder in einer rührseligen Stimmung alles gute versprechen, obschon er weiss, dass ihm jede Energie fehlt, sein Versprechen zu halten, er ist geneigt zum Lügen und lässt sich leicht zu irgend einem Verbrechen verleiten. Dabei findet sich häufig bei Trinkern eine sehr gesteigerte Schreckhaftigkeit, welche sie gelegentlich veranlasst, unter dem Einfluss eines solchen Schreckes in ganz unüberlegter und gefährlicher Weise zu reagieren. [...] Der chronische Alkoholist bietet eine stete Gefahr für seine Umgebung und namentlich für seine Familie.« 101 Aschaffenburg, Alkoholgenuß und Verbrechen. 102 Ebd., S. 95. 103 Ebd., S. 86. 104 Ebd., S. 89.

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völligen Wegfall aller ethischen Vorstellungen und Gegenmotive eine Körperverletzung begehen; die auslösende Ursache würde auch in diesem Fall der Alkoholexzeß des Abends sein. Wie viel mehr gilt das für die unzähligen Arbeiter, die jungen Kaufleute und Studenten, die im Rausche zum Verbrecher werden und die Ausschreitung eines Augenblickes mit Gefängnis, Entehrung, Zerstörung der Laufbahn zu büßen haben.«105

Indem Gustav Aschaffenburg den kriminalpsychiatrischen Blick auf die Trinkgewohnheiten der psychisch gesunden »sonst soliden Arbeiter« lenkte, überschritt er die Grenze der ›Kriminalpsychopathologie‹ und leistete einen Beitrag zur allgemeinen Kriminologie. Zugleich zeigt die Studie, dass das psychiatrische Wissen, das in die Kriminologie einfloss, nicht notwendig zu einer biologistischen Reduktion führen musste. Sozialmedizinische und lebensreformerische Vorstellungen, wie sie bei Aschaffenburg anklingen, konnten durchaus zu einer schärferen Wahrnehmung von sozialen Missständen als Verbrechensursachen führen.

c) Sexuelle Devianz als Straftatbestand und Krankheitssymptom: konträre Sexualempfindung Die forensische Beurteilung sexueller ›Perversionen‹ gestaltete sich für einen psychiatrischen Sachverständigen insofern äußerst schwierig, als moralische, juristische und medizinische Begriffe auf diesem Gebiet auf das engste miteinander verflochten waren. Das Sexualstrafrecht des Reichsstrafgesetzbuchs, das noch nicht auf die Sicherung sexueller Selbstbestimmung, sondern auf den Schutz des ›sittlichen Empfindens‹ abhob, stellte neben dem Exhibitionismus und der Sodomie auch homosexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe. Zugleich erschienen derartige sexuelle Vorlieben den meisten Psychiatern als krankhaft oder zumindest als Ausdruck einer psychopathischen Veranlagung. Der Psychiater Richard von Krafft-Ebing (1840–1902), ein Enkel des Juristen Karl Josef Anton Mittermaier, galt im ausgehenden 19. Jahrhundert unbestritten als größte Kapazität auf dem neuen Forschungsfeld der Sexualpsychopathologie. In seinem Standardwerk »Psychopathia sexualis«106, das zwischen 1886 und 1920 in 19 Auflagen erschien, entwickelte Krafft-Ebing eine noch heute geläufige Systematik der sexuellen Perversionen mit den vier Hauptgruppen Sadismus, Masochismus, Fetischismus und Homosexualität. Folgenreich für die forensische Psychiatrie war seine Unterscheidung von ›Perversion‹ und ›Perversität‹: 105 Ebd., S. 96. 106 Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis; im Folgenden wird aus der 7. Auflage von 1892 zitiert. Siehe auch Klabundt.

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»Perversion des Geschlechtstriebs ist [...] nicht zu verwechseln mit Perversität geschlechtlichen Handelns, denn dieses kann auch durch nicht psychopathologische Bedingungen hervorgerufen sein. Die concrete perverse Handlung, so monströs sie auch sein mag, ist nicht entscheidend. Um zwischen Krankheit (Perversion) und Laster (Perversität) unterscheiden zu können, muss auf die Gesammtpersönlichkeit des Handelnden und auf die Triebfeder seines perversen Handelns zurückgegangen werden.«107

Erst diese Abgrenzung der krankheitsbedingten perversen Handlungen von den freiwilligen ›Perversitäten‹ machte es möglich, die ›Perversion‹ als Schuldausschließungsgrund geltend zu machen und Straflosigkeit zumindest für einen Teil der Angeklagten zu erreichen. Hingegen wäre der Versuch, allein aus der perversen Handlung die Unzurechnungsfähigkeit abzuleiten, a priori zum Scheitern verurteilt gewesen. Denn nach dem Willen des Gesetzgebers waren derartige Handlungen ja grundsätzlich strafbar. Das besondere Interesse Krafft-Ebings galt der Homosexualität, der so genannten ›conträren Sexualempfindung‹. Während das Gros der Psychiater seiner Zeit die Homosexualität als eine durch Verführung erzeugte Verirrung des Geschlechtstriebs begriff, vertrat Krafft-Ebing die Auffassung, dass die ›conträre Sexualempfindung‹ teils angeboren sei, teils auf der Basis einer neuropathischen Konstitution sich entwickelt habe. Neben diesen krankhaften und tief in der Persönlichkeit verwurzelten Geschlechtsempfindungen gebe es auch Fälle, in denen geistig gesunde ›Wollüstlinge‹ aus mangelnder Gelegenheit oder Überdruss an normalem Geschlechtsverkehr homosexuelle Praktiken ausübten. Im Gegensatz zur ›echten‹ Konträrsexualität sei dieses lasterhafte Verhalten moralisch äußerst verwerflich.108 Die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts angedachte und nun von KrafftEbing ausbuchstabierte Auffassung der ›conträren Sexualempfindung‹ als einer krankhaften Entartung bedeutete einen Paradigmenwechsel im Umgang mit angeklagten Homosexuellen.109 Krafft-Ebing selbst schrieb hierzu: »Die Forschungen über conträre Sexualempfindung haben die mannmännliche Liebe in ein ganz anderes Licht gestellt, als das, in welchem die aus ihr hervorgehenden Unzuchtsdelikte, speciell die Päderastie, zur Zeit der Abfassung der Gesetzbücher standen. Die Thatsache einer psychopathologischen Begründung vieler Fälle von conträrer Sexualempfindung lässt keinen Zweifel darüber zu, dass auch die Päderastie die Handlung eines Unzurechnungsfähigen sein kann und zwingt dazu, ferner in foro

107 Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis, S. 56 (Hervorhebungen im Original); vgl. auch ebd., S. 378f. 108 Vgl. ebd., S. 188ff. 109 Vgl. Hutter, S. 88ff. Der Psychiater Carl Westphal prägte 1869 den Begriff der »conträren Sexualempfindung«; bereits 1852 hatte der Gerichtsmediziner Johann Ludwig Casper die Vermutung geäußert, dass es Fälle angeborener Homosexualität gebe.

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nicht bloss die That, sondern auch den geistigen Zustand des Thäters zu berücksichtigen.«110

»Gesellschaft und Forum« müssten, so Krafft-Ebing weiter, den »Thatsachen«, nämlich der durch eine »krankhafte Disposition und Naturanlage« verursachten Notlage der Homosexuellen, »gerecht werden; die erstere, indem sie solche Unglückliche bedauert, nicht verachtet, das letztere, indem es sie straflos lässt, insofern sie sich innerhalb der Schranken bewegen, die überhaupt der Bethätigung des Sexualtriebes gezogen sind.«111 Konsequenterweise setzte sich Krafft-Ebing im Jahr 1894 mit einer Denkschrift für die Abschaffung der gegen Homosexuelle gerichteten Strafbestimmungen ein.112 Bis zur Erreichung dieses Ziels sollten die entsprechenden Paragraphen sehr eng ausgelegt werden, indem nur die »wirkliche Päderastie« zu bestrafen sei, wobei außerdem entlastende psychopathologische Momente zu berücksichtigen seien.113 Die Autoren der forensisch-psychiatrischen Lehr- und Handbücher folgten den Gedanken Krafft-Ebings zunächst nur zögerlich. Insbesondere die Lehre, dass die Homosexualität eine angeborene psychische Abnormität sei, galt als wissenschaftlich unbegründet oder nur für einen geringen Teil der Homosexuellen zutreffend.114 Die Auffassung, dass eine homosexuelle Handlung allein zwar nicht die Unzurechnungsfähigkeit bedinge, aber dennoch in vielen Fällen als Symptom einer Geisteskrankheit oder psychopathischen Degeneration aufzufassen sei, durch welche die Schuldfähigkeit beeinträchtigt werde, findet sich durchgängig auch in der forensisch-psychiatrischen Literatur.115 Ausgehend von der Prämisse, dass homosexuelle Neigungen auf dem Boden einer neuropathischen Konstitution gedeihen, suchten psychiatrische Sachverständige, wenn sie denn in Verfahren wegen widernatürlicher Unzucht eingeschaltet wurden, gezielt nach weiteren Krankheitszeichen; fand man sie, waren ein Freispruch oder die Zubilligung mildernder Umstände wahrscheinlich. Insofern ging die Pathologisierung der Homosexualität mit einer partiellen Entkriminalisierung einher. Dieser emanzipatorische Aspekt der »Pathologisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität durch die Psychiatrie«116 erscheint bemerkenswert, nicht zuletzt weil es in der Folge der Foucault-Rezeption üblich geworden ist, Medikalisierungstendenzen vornehmlich als 110 Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis, S. 408. Abweichend vom heutigen Sprachgebrauch bezeichnete »Päderastie« hier und im Allgemeinen den Analverkehr. 111 Ebd., S. 409f. 112 Vgl. Krafft-Ebing, Der Conträrsexuale vor dem Strafrichter. 113 Vgl. ders., Psychopathia sexualis, S. 413. 114 Vgl. Bischoff, S. 138f.; Cramer, S. 280f.; Siemerling, S. 674. 115 Vgl. Aschaffenburg, Zur Psychologie der Sittlichkeitsverbrecher, S. 413; Bischoff, S. 140f.; Cramer, S. 279ff.; Jolly, Perverser Sexualtrieb, S. 203; Siemerling, S. 672ff.; Sommer, Kriminalpsychologie, S. 250f. 116 Hutter, S. 88.

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Disziplinierungs- und Kontrollmaßnahmen wahrzunehmen. So führt Jörg Hutter als Beleg für seine These eines repressiven »medizinisch-juristischen Komplexes« das Argument ins Feld: »Obwohl Mediziner abweichende Sexualität als krankhaft definierten, konnte nur ein besonders hoher Grad von Geistesstörung die Annahme eines Schuldausschlusses begründen.«117 Eine solche Einschätzung verkennt jedoch die Tatsache, dass es angesichts der bestehenden Strafnorm in jedem Einzelfall notwendig war, die Unzurechnungsfähigkeit mit einer besonderen Krankhaftigkeit zu begründen, da der Gesetzgeber eine Generalexkulpation nicht vorgesehen hatte. Betrachtet man auch psychiatrische Expertisen aus Strafverfahren wegen anderer Delikte, so wird deutlich, dass Psychiater gerade in Fällen von ›widernatürlicher Unzucht‹ geneigt waren, den Täter als schuldunfähig einzustufen. Das medizinisch-psychiatrische Bild der Homosexualität wurde im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts noch einmal drastisch revidiert. Sah man bis ca. 1900 in den ›echten Konträrsexualen‹ bedauernswerte Kranke, die eher einer Therapie als einer Strafe bedurften, so galt ab ca. 1910 Homosexualität den meisten Sexualwissenschaftlern nicht einmal mehr als Krankheit; die Strafbestimmung des § 175 RStGB erschien jetzt nur noch als ein absurdes Relikt einer unaufgeklärten Epoche. Ein markantes Beispiel für den abrupten Wandel der medizinischen Deutungen, der auch kriminalpolitische Konsequenzen nach sich zog, bilden die Schriften des Berliner Sexualpathologen Iwan Bloch. Noch 1902 hatte Bloch in seinen »Beiträge[n] zur Aetiologie der Psychopathia sexualis« geschrieben: »Die ›angeborenen‹ Fälle von Homosexualität existieren wohl überhaupt nicht. [...] Die gänzliche Aufhebung des bekannten § 175 des Strafgesetzbuches wäre gleichbedeutend mit einer offiziellen Sanktionierung der Homosexualität [...]. Die Folge wäre unfehlbar eine fortschreitende moralische und physische Entartung des Menschengeschlechts.«118 Fünf Jahre später beklagte der gleiche Autor die Repressionen gegen Homosexuelle und meinte, »Abhilfe für alle diese Übelstände, die Selbstmorde sowohl wie die Erpressung,« könne »nur durch Aufklärung des ganzen Volkes [...] und durch bedingungslose Aufhebung des § 175 geschaffen werden.«119 Der plötzliche Gesinnungswandel erklärt sich wohl weniger aus neuen empirischen Wissenschaftserkenntnissen als aus einer Skandalgeschichte, die sich zwischenzeitlich ereignet hatte und die Homosexualität zum Gegenstand der Klatschpresse wie auch der politischen Berichterstattung werden ließ: die ›Eulenburg-Affäre‹.

117 Ebd., S. 171. 118 I. Bloch, Beiträge zur Aetiologie der Psychopathia sexualis, Bd. 1, Dresden 1902, S. 11 u. S. 251f., zitiert nach Klabundt, S. 122f. 119 I. Bloch, Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen Kultur, Berlin 19084, S. 580, zitiert nach Klabundt, S. 123.

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Im November 1906 erschien in der Wochenschrift »Die Zukunft« der erste einer Reihe von Zeitungsartikeln des Publizisten Maximilian Harden, die sich kritisch mit dem Einfluss des ›Liebenberger Kreises‹ auf Kaiser Wilhelm II. auseinander setzten.120 Harden, »der Augstein jener Jahre« (Th. Nipperdey), nahm den kaiserlichen Freundes- und Beraterkreis um den Fürsten Philipp Eulenburg-Hertefeld unter Beschuss, um diese ›Kamarilla‹, die in seinen Augen eine pazifistische Verweichlichung der Reichspolitik zu verantworten habe, politisch kaltzustellen. Zur Verwirklichung dieses Ziels schreckte der Journalist auch nicht vor Anspielungen auf homophile Neigungen Eulenburgs und des Berliner Stadtkommandanten Kuno Graf Moltke zurück. Als die Gerüchte über homosexuelle Ausschweifungen innerhalb seines engsten Beraterkreises im Mai 1907 den Kaiser erreichten, reagierte dieser entsetzt und enthob Eulenburg und Moltke ihrer Ämter. Letzterer versuchte seine Ehre wiederherzustellen, indem er eine Verleumdungsklage gegen Maximilian Harden erhob, nachdem dieser ein Duell abgelehnt hatte. Der Prozess geriet zu einer Schlammschlacht, in der intime Details aus dem Privatleben Moltkes öffentlich ausgebreitet wurden. Der Skandal war perfekt, als mit dem Freispruch Hardens der Vorwurf der Homosexualität quasi eine gerichtliche Bestätigung erfuhr. In dem aufgeheizten Klima in Berlin wurde nun auch Reichskanzler Bülow der Homosexualität bezichtigt. Obwohl diese Anschuldigung offensichtlich unbegründet war und wohl nur dazu dienen sollte, die Absurdität des berüchtigten § 175 zu demonstrieren, setzte sich Bülow gerichtlich zur Wehr und gewann im November 1907 den Prozess gegen den Verleumder. Allerdings sollte dieses Verfahren für Philipp Eulenburg zum Verhängnis werden. Als Zeuge geladen, versicherte er unter Eid, niemals strafbare Handlungen im Sinne des § 175 begangen zu haben. Maximilian Harden nutzte diese Aussage, um ›Phili‹ Eulenburg endgültig zu diskreditieren. In einem in München inszenierten Verfahren gelang es Harden mit Hilfe zweier Fischer, die bezeugten, Jahre zuvor am Starnberger See sexuelle Kontakte mit Eulenburg gehabt zu haben, den Fürsten des Meineids zu überführen. Am 8. Mai 1908 wurde Eulenburg verhaftet und erst nach Zahlung einer Kaution wieder freigelassen. Dem Strafverfahren entzog sich der blamierte und entmachtete Freund des Kaisers durch ärztliche Atteste, die seine Verhandlungsunfähigkeit begründeten. Die Eulenburg-Affäre war ein gesellschaftlicher und politischer Skandal ersten Ranges. Den engsten Vertrauten des Kaisers wurden in aller Öffentlichkeit die nach zeitgenössischem Verständnis verabscheuungswürdigsten perversen Handlungen nachgewiesen. Die breite Diskussion über Homosexualität in den höchsten Schichten der Gesellschaft bescherte den Eliten des wilhelminischen Kaiserreichs einen gewissen Autoritätsverlust; doch im Ge120 Zur Eulenburg-Affäre vgl. Mommsen, Homosexualität.

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genzug erfuhr die Homosexualität, deren Ort im öffentlichen Bewusstsein nicht länger nur die Bahnhofstoilette war, im gleichen Maß einen Ansehensgewinn. Auf jeden Fall wurde dem Publikum durch die Pressekampagne und die zahlreichen inszenierten Prozesse vor Augen geführt, wie leicht es durch die Strafdrohung gegen Homosexuelle zu Erpressungen und Denunziationen kommen konnte. Um das Jahr 1910 herum befürwortete die Mehrheit der deutschen Psychiater die Abschaffung des Unheil stiftenden § 175. Auch auf wissenschaftlichem Gebiet erfuhr die Homosexualität eine Aufwertung. Der Arzt Magnus Hirschfeld löste den 1902 verstorbenen Krafft-Ebing als größte Autorität innerhalb der Sexualwissenschaft ab. Seine Auffassung von Homosexualität als einer ›natürlichen Varietät‹121, die sich deutlich von dem Konzept einer Perversion auf degenerativer Grundlage unterschied, setzte sich mehr und mehr durch. Im Anschluss an Hirschfeld äußerte auch der Psychiater und Kriminologe Paul Näcke im Jahr 1914, dass »die Homosexualität meist angeboren ist und an sich keine Entartung oder gar Krankheit darstellt.«122 Von der forensischen Psychiatrie gingen somit zur Zeit der Jahrhundertwende Impulse zur Entkriminalisierung der Homosexualität und schließlich sogar zu ihrer Anerkennung als natürlicher Spielart aus. In diesem Fall besteht das Verdienst der Psychiatrie ausnahmsweise darin, ein Kapitel aus dem Buch der Kriminologie gestrichen zu haben.

d) Weiblichkeit und Schuldfähigkeit: Hysterie, Gravidität, Menstruation Die Erforschung der ›weiblichen Kriminalität‹ bildete eine besondere Herausforderung für die Kriminologie. Zum einen stellte sich die Frage, weshalb Frauen weit seltener Straftaten begingen als Männer, zum anderen war der Erklärungsbedarf bei den wenigen Taten der ›Verbrecherinnen‹ umso größer. Während die Kriminalität von Männern noch als ein übersteigerter Ausdruck männlicher Tugenden wie Kraft, Aktivität, Erwerbssinn oder sexueller Potenz verstanden werden konnte, präsentierte sich weibliche Devianz als eine doppelte Normverletzung: Der Rechtsbruch bedeutete zugleich auch eine Abweichung vom herrschenden Bild der tugendhaften, duldenden Frau. In den Augen der Zeitgenossen musste die Ursache für das ›weibliche‹ kriminelle Verhalten zunächst in der besonderen ›Natur des Weibes‹ gesucht werden; begingen Frauen jedoch männertypische Delikte, erschienen sie als ›nicht normal‹. In beiden Fällen schien die Schuldfähigkeit zweifelhaft, so dass die Chance, wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen zu werden, für Frau121 Vgl. Hirschfeld. 122 Näcke, Homosexualität, S. 329.

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en vielfach größer war.123 Die psychiatrischen Sachverständigen legten – wie in dem nachfolgend vorgestellten Fall – bei der Begutachtung des Geisteszustandes krimineller Frauen häufig einen besonderen Maßstab an. Am 10. April 1886 wurde die 24 Jahre alte Magd B. F. für sechs Wochen zur Beobachtung in die Irrenanstalt zu Illenau eingewiesen.124 Im Verlauf einer gerichtlichen Untersuchung wegen einiger ihr zu Last gelegter Brandstiftungen im Haus der Dienstherren waren »Bedenken rege geworden hinsichtlich des Geisteszustandes der Angeklagten zur Zeit des criminellen Akts«. Es waren wohl die Umstände der Taten, die das Gericht am Gemütszustand der B. F. zweifeln ließen: Nachdem der Magd am 20. Dezember 1885 nach fünfjähriger Dienstzeit das Arbeitsverhältnis gekündigt worden war, machte sie am nächsten Morgen »ihre Dienstfrau darauf aufmerksam, dass ein Kasten im Magazine, welcher Streichfeuerzeug enthielt, in Gefahr der Verbrennung stehe, da einige Feuerzeuge entzündet waren.« Zur Belohnung wurde daraufhin die Dienstkündigung zurückgenommen. Nun geschah es, dass B. F. an den Abenden des 20. und 21. Januar jeweils wieder ein Feuer ›entdeckte‹. Als es am 22. Januar abends noch einmal im Hause brannte, schien die Urheberschaft eindeutig, und es kam zur Anklageerhebung. Der untersuchende Irrenarzt Dr. Stark vermerkte nach einigen Gesprächen mit B. F., dass diese »fleissig, religiös und nach dem Ausspruche der Eltern in jeder Hinsicht brav« sei, dass sie aber sehr unter den Ehestreitigkeiten ihrer Arbeitgeber gelitten hatte, in welche sie mitunter hineingezogen wurde. In klinischer Hinsicht diagnostizierte er eine »angeborene neuropathische Constitution«, »Angstaffecte« und einen »hysterischen Charakter«. Zudem sah er einen zeitlichen und kausalen Zusammenhang zwischen Menstruationsbeschwerden, welche die ohnehin »anormale Gemüthsreizbarkeit« noch verstärkten, und den vier Brandlegungen.125 So lautete das Schlussgutachten, das dann am 16. Juni 1886 zum Freispruch durch die Geschworenen führen sollte: »Die hereditär veranlagte, von früh auf psychisch hyperästhetische Patientin leidet also an einer chronischen hysterischen Neurose, gekennzeichnet einerseits durch eine Reihe somatischer Beschwerden (Dysmenorrhoe, Ovarialhyperästhesie, Cephalalgie, Agrypnie, Dyspepsie), andererseits durch significante intellectuelle und charakterologische Eigenthümlichkeiten (siehe Epikrise), besonders aber durch transitorische Anfälle von Sinnesverwirrung. Dieselben werden ausgelöst durch Gemüthsbewegungen (pathologischer Affect), treten jedoch im Anschlusse an die Menses auch unvermittelt auf. [...] Patientin vollführte die criminelle Handlung in dem vorbeschriebenen deliranten Zustande, der ihr gleichwohl noch gestattete, mit der Aussenwelt zu verkehren. Aber gerade dieser Verkehr zeitigte bei der jeglichen Ueberlegung und Willensfreiheit baa123 Vgl. oben, Abschnitt A, II, 2. 124 Vgl. Stark. 125 Vgl. ebd., S. 261ff.

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ren Kranken schliesslich den monströsen, pathologischen Trieb der Selbstverbrennung. Das Product derselben, die vorliegende That, trägt deshalb auch in ihrem ganzen Mechanismus, wie die Epikrise des Näheren erwiesen, den Stempel des Unbewussten und Unfreien. Die Bewusstseinsstörung erhellt insbesondere noch aus dem fragmentaren Erinnerungsvermögen, das sich nachträglich vorwiegend auf den Inhalt der traumartig wirr durcheinander gemischten Vorstellungen einengte. Da somit der von der Inculpatin begangene Act auf psychisch-pathologischen Vorgängen basirt, die der Erkenntniss und dem Willen jener entzogen waren, so kann solcher derselben auch nicht zugerechnet werden.«126

Dieses Gutachten ist in mancherlei Hinsicht charakteristisch für die Haltung ärztlicher Sachverständiger gegenüber Straftäterinnen. Zunächst fällt die wohlwollende Grundeinstellung auf, mit welcher der Arzt der jungen Frau begegnet, die er hier sogar als seine »Patientin« bezeichnet. Die Explorandin wird nicht als ethisch defekte Verbrecherpersönlichkeit gezeichnet oder mit abwertenden Attributen belegt, wie sie sich häufig in Gutachten über männliche Täter finden; stattdessen erscheint die Brandstifterin als ein sensibles, eigentlich moralisch zuverlässiges Mädchen, das angesichts seiner schwachen nervlichen Konstitution in einer Konfliktsituation zum Opfer seiner Affekte wurde. Der Gutachter sucht geradezu nach entlastenden Momenten und spricht sich für die Exkulpation aus, obwohl er keine eigentliche Geisteskrankheit, sondern nur eine durch Menstruationsbeschwerden komplizierte neuropathische Konstitution zu entdecken vermag. Typisch für psychiatrische Expertisen in Strafsachen gegen Frauen ist auch der Krankheitsbefund. Ein »hysterischer Charakter« wurde häufig und gerne bei Frauen diagnostiziert. Die Hysterie war eine Modekrankheit des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Gerade wegen des uneinheitlichen klinischen Erscheinungsbildes und des unscharf umrissenen Krankheitsbegriffs ließen sich viele auffällige Verhaltensweisen und körperliche Beschwerden als Symptome der Hysterie deuten. Geltungssucht, exaltiertes Auftreten, demonstratives Leiden, die Schilderung unglaublicher Erlebnisse, das Gefühl, zurückgesetzt zu werden, und funktionelle Störungen ohne organischen Befund, wie z.B. Gehstörungen und Sensibilitätsausfälle, Atemnot und Krampfanfälle gelten auch heute noch als Merkmale des Syndroms, das jedoch nicht mehr als Krankheit, sondern als ›Hysterische Persönlichkeitsstörung‹ klassifiziert wird.127 Noch vielschichtiger als die Phänomene sind die medizinischen Deutungen dieses Leidens. Genetische Veranlagung, frühkindliche Sozialisationsdefizite und traumatische Erfahrungen konkurrieren heute als Erklärungsmodelle. Aus 126 Ebd., S. 265f. 127 Vgl. Cramer, S. 196ff.; Krafft-Ebing, Lehrbuch, S. 243ff.; Siemerling, S. 535ff.; Sommer, Kriminalpsychologie, S. 80ff.; Straßmann, Medizin und Strafrecht, S. 415ff. Zur Sicht der heutigen Psychiatrie vgl. Tölle, S. 110ff.

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kulturanthropologischer Perspektive erscheint die Hysterie auch als weibliche Reaktion auf die Zumutungen einer patriarchalisch zugeschnittenen Lebenswelt, die es Frauen nicht erlaubt, ihre Bedürfnisse auf angemessene Weise zur Geltung zu bringen.128 Die wilhelminischen Psychiater sahen die Ursachen der Hysterie freilich eher in der weiblichen Natur. Obschon die ältere Vorstellung, bei der Hysterie handele es sich um eine Erkrankung der Gebärmutter (griechisch ›hystéra‹), längst überwunden war, brachten Psychiater – wie in dem folgenden Zitat August Cramer – das Leiden mit der Biologie der Fortpflanzung in Verbindung: »Die hysterische Seelenstörung kommt namentlich dann zur Entwicklung, wenn eine degenerative Charakterentwicklung zur Ausbildung kommt. Wir finden sie am häufigsten bei weiblichen Individuen. Meist sind es unverheiratete oder Frauen, welche keine Kinder haben. [...] Namentlich zur Zeit der Menses sind derartige Hysterische gefährlich für die Ruhe ihrer Umgebung wie ein explosibles Gemisch.«129

Auch ohne Vorliegen einer hysterischen Geistesstörung beeinträchtigte der Menstruationsvorgang in den Augen Richard von Krafft-Ebings die Zurechnungsfähigkeit der Frau: »Bei den meisten Frauen zeigt sich vor, während oder auch im Anschluss an die Menstruation eine gesteigerte nervöse und auch gemüthliche Erregbarkeit. [...] In fliessenden Uebergängen ergeben sich von diesen alltäglichen, immerhin pathologischen und die Milde des Richters bei einer etwaigen Strafausmessung beanspruchenden Reactionserscheinungen, Fälle, in welchen es zu Zuständen von vollkommener (transitorischer) Geistesstörung kommt, in welchen von einer rechtlichen Verantwortlichkeit nicht mehr die Rede sein kann. [...] Aus der degenerativen Grundlage des centralen Nervensystems bei diesen menstrualen Irrsinnsfällen erklärt sich wohl die Häufigkeit, mit welcher Zwangsvorstellungen und impulsive Motive zu strafbaren Handlungen treiben. [...] Die krankhaften Impulse sind vorwiegend auf Brandstiftung, Mord oder auch Selbstmord gerichtet.«130

In dem voranstehenden Zitat klingen die zeittypischen Wahrnehmungsmuster weiblicher Kriminalität an: Das Verhalten der Frau galt als impulsiv, weniger vernunftkontrolliert und durch solche biologische Vorgänge beeinflusst, die mit den »besonderen der Erhaltung der Art dienenden Aufgaben des Weibes«131 in Verbindung stehen. Folglich könnten Frauen nicht in gleichem Maße wie 128 Vgl. Schaps; Showalter; Micale; Weickmann. 129 Cramer, S. 200f.; vgl. auch Krafft-Ebing, Lehrbuch, S. 251; Siemerling, S. 542; Straßmann, Medizin und Strafrecht, S. 417. 130 Krafft-Ebing, Lehrbuch, S. 330ff. Vgl. auch den auf der Stuttgarter Landesversammlung der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung am 27. Mai 1904 gehaltenen Vortrag des Tübinger Psychiaters Wollenberg. 131 Wollenberg, S. 37.

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Männer für ihre Handlungen verantwortlich gemacht werden. Sie seien deshalb milder zu bestrafen oder wegen mangelnder Schuldfähigkeit freizusprechen. Noch deutlicher wird der vermeintlich enge Zusammenhang zwischen »Generationsvorgängen«, Kriminalität und schuldausschließender Geisteskrankheit in der 1914 veröffentlichten Kieler Habilitationsschrift von Hans König zum Ausdruck gebracht: Wie die Kriminalstatistik zeige, sei »bei bestimmten Vergehen der Prozentsatz der Frauen grösser als der Männer und zwar sind das jene Vergehen, die mit dem Geschlechts- und Familienleben zusammenhängen. Es liegt nun nahe, auch daran zu denken, dass bei geisteskranken Frauen die Kriminalität in intimeren Beziehungen zu diesen Faktoren steht. Das Geschlechtsleben, die Generationsvorgänge bei der Frau, stehen ja auch mit der Entstehung von psychischen Störungen häufig in Zusammenhang, und dadurch auch die kriminellen Handlungen, die in diesen krankhaften Zuständen begangen werden. [...] Wenn wir von den Generationsvorgängen bei der Frau sprechen, so verstehen wir allgemeinen [sic!] darunter Pubertät, Menstruation, Gravidität, Geburt, Wochenbett und Laktation und schliesslich Menopause. Alle diese Phasen nun haben ihre bestimmten Relationen zu mehr oder minder hochgradigen und tiefgehenden Abweichungen von der psychischen Norm und alle können infolgedessen mit kriminellen Handlungen verquickt sein.«132

Die Verschmelzung medizinisch-biologischen Wissens mit alltagskulturellen Geschlechtsstereotypen war in der Zeit des wilhelminischen Kaiserreichs recht populär, was auch der Verkaufserfolg beweist, den die einschlägigen Veröffentlichungen einiger Psychiater und Nervenärzte erfuhren.133 Im Jahr 1894 erschien das Buch »Das Weib als Verbrecherin und Prostituirte« des Turiner Irrenarztes und Kriminalanthropologen Cesare Lombroso und des Historikers Guglielmo Ferrero in deutscher Sprache.134 Da es unmöglich sei, »die Anthropologie der Verbrecherin zu untersuchen, ohne vorher das normale Weib, ja das weibliche Geschlecht im Thierreiche zu untersuchen«,135 leiteten die beiden Autoren ihre kriminologische Betrachtung der Frau mit einem knapp 200 Seiten starken Abschnitt über Zoologie, Anatomie, Biologie, und Psychologie des weiblichen Geschlechts ein. Dort finden sich einige dem heutigen Leser kurios anmutende biologistische Erklärungen des weiblichen Geschlechtscharakters.136 Die Darstellung mündet in der Kernaussage, dass Frauen wegen ihrer »physische[n] Schwäche und spärliche[n] Intelligenz« weniger 132 König, S. 687f. 133 Vgl. Planert, S. 79ff. 134 Lombroso u. Ferrero. Übrigens hatte eine Frau das Band zwischen den beiden Autoren geknüpft: Ferrero war Lombrosos Schwiegersohn. 135 Ebd., S. 1. 136 So wird beispielsweise die »Verlogenheit« des Weibes mit der »sexuellen Zuchtwahl« erklärt, welche die Frau zwinge, »alles, was sie in den Augen des Mannes herabsetzen könnte, – wie ihr Alter, körperliche Fehler, Krankheiten, etc. – zu verbergen und Reichthum und Wohlstand zu heucheln«. Ebd., S. 146.

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»eigentliche Verbrechen« begingen und stattdessen die Prostitution die »specifische Form der weiblichen Kriminalität« repräsentiere. Diejenigen Frauen, welche »schwere Verbrechen begangen haben«, besäßen »stets monströse Anomalien« sowie »auch in biologischer Beziehung männliche Charaktere«.137 In dieser Lesart schlossen sich Kriminalität und Weiblichkeit im Grunde gegenseitig aus; das verbrecherische ›Mannweib‹ bildete bloß die Ausnahme, welche die Regel von der Prostitution als dem weiblichen Äquivalent zur männlichen Kriminalität bestätigte. Ähnliche Vorstellungen von der ›Natur des Weibes‹ finden sich auch in der vielzitierten populärwissenschaftlichen Broschüre »Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes« aus dem Jahr 1900, die aus der Feder des Leipziger Neurologen und Privatgelehrten Paul Julius Möbius stammt.138 Möbius charakterisierte das Weib in körperlicher und geistiger Hinsicht als »ein Mittelding zwischen Kind und Mann«.139 Angesichts der »geistigen Inferiorität des Weibes« forderte er einen rechtlichen Sonderstatus für das weibliche Geschlecht: »Auch das Gesetz sollte auf den physiologischen Schwachsinn des Weibes Rücksicht nehmen. Unsere Gesetze sind im großen und ganzen nur für Männer gemacht; für die Minderjährigen ist gesorgt, das erwachsene Weib aber wird im Strafrechte (um nur von diesem zu reden) dem erwachsenen Manne gleich geachtet, und nicht einmal für einen mildernden Umstand gilt irgendwo weibliches Geschlecht. Mit Unrecht. Zu den bisher angestellten Erwägungen kommt noch hinzu, daß das Weib während eines beträchtlichen Teiles seines Lebens als abnorm anzusehen ist. Ich brauche vor Ärzten nicht über die Bedeutung der Menstruation und der Schwangerschaft für das geistige Leben zu reden, darauf hinzuweisen, daß beide Zustände, ohne eigentliche Krankheit, das geistige Gleichgewicht stören, die Freiheit des Willens im Sinne des Gesetzes beeinträchtigen. Bedenkt man nun die früher besprochenen Geisteseigentümlichkeiten des Weibes, besonders die Unfähigkeit, Affektstürmen zu widerstehen, und den Mangel an Rechtsinn, so muß man einsehen, daß es eine große Ungerechtigkeit ist, beide Geschlechter mit gleichem Maße zu messen.«140

Zweifellos handelte es sich bei dieser Broschüre des wegen seiner früheren Forschungsarbeiten anerkannten Neurologen um eine polemische »Streitschrift zur Frauenfrage«141, die keineswegs beanspruchen konnte, den Stand 137 Ebd., S. 576. 138 Möbius. 139 Ebd., S. 28. Nach eigenem Bekunden wollte der Autor die Frauen nicht verunglimpfen: »Sehen wir uns genötigt, das normale Weib für schwachsinnig im Vergleiche mit dem Manne zu erklären, so ist damit doch nichts zum Nachteile des Weibes gesagt. Ihre Vorzüge liegen eben anderswo als die Vorzüge des Mannes, und die ›Differenzierung‹ der Geschlechter erscheint uns als eine zweckmäßige Einrichtung der Natur, bei der Mann und Weib nicht schlecht fahren.« Ebd., S. 46. 140 Ebd., S. 44f. 141 So die Charakterisierung in einer Besprechung aus der renommierten »Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie«, abgedruckt ebd., S. 145f.

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der medizinischen Wissenschaft zu repräsentieren. Doch die weite Verbreitung dieses Pamphlets – innerhalb eines Jahrzehnts erschienen neun Auflagen – zeugt von der Popularität der Vorstellung einer biologisch begründeten intellektuellen Minderbegabung der Frau, aus der eine Minderverantwortlichkeit resultierte. Der Blick in die gerichtspsychiatrischen Handbücher und Gutachten hat gezeigt, dass dieses kulturelle Deutungsmuster von Weiblichkeit auch in forensischer Hinsicht praxisrelevant war. In der Kriminologie galt kriminelles Verhalten von Frauen als potentiell pathologisch.

e) Die Verbrecherpersönlichkeit: moralischer Schwachsinn, Degeneration, Psychopathie Die Diagnose einer psychischen Abnormität veranlasste die psychiatrischen Gerichtssachverständigen nicht immer zu einer Bescheinigung der Schuldunfähigkeit. Insbesondere solche Täter, die dem Bild des gemeinen Verbrechers zu entsprechen schienen, durften sich wenig Hoffnung auf ihre Exkulpation machen. Einer dieser psychopathischen, aber dennoch strafrechtlich verantwortlichen Täter war der 1872 geborene, konfessionslose Arbeiter Emil S. aus Dortmund.142 Im Sommer des Kriegsjahres 1918 stand er vor Gericht, weil er sich Brotmarken erschlichen hatte. Zwischen 1896 und 1914 war Emil S. bereits neun Mal verurteilt worden, u.a. wegen Diebstahls, Beleidigung, Betrugs und Sittlichkeitsverbrechen. Das zweifelhafte Vorleben des Angeklagten beeindruckte offenbar auch den begutachtenden Arzt der Irrenanstalt Eickelborn, in die Emil S. auf Beschluss des Schöffengerichts Dortmund zur Beobachtung eingewiesen wurde. In der Gerichtsexpertise vom 2. November 1918, die sich auf die Ermittlungsakten, »die hiesigen Personalakten« und »das Ergebnis der eigenen sechswöchigen Beobachtung« stützte, war zu lesen: »Die Herabsetzung des Hornhaut- und des Würgereflexes, die leichte Steigerung der übrigen Reflexe, die geschilderten Störungen der Beweglichkeit, die Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit sind beweisend für das Bestehen nervöser Störungen, die in dieser Form stets als Begleiterscheinungen seelischer Abweichungen anzusehen sind. Diese sind bei S. allerdings aus dem Gesamtbild seiner bisherigen Lebensführung und dem Ergebnis der hiesigen Beobachtung zu erkennen in seiner gleichmütigen Grundstimmung bei gelegentlicher Erregbarkeit, seiner ausgesprochenen Willensschwäche und der Neigung zum absoluten Nichtstun, der moralischen Haltlosigkeit, die jede Diebstahlsgelegenheit ganz unbekümmert benutzt, dem hündischen Benehmen, dem Mangel an Ehrgefühl bei gesteigertem Selbstgefühl und der Neigung zum Lügen. Daneben ist seine Nörgelsucht und die ständige Anschauung,

142 ALWL, Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt Eickelborn, Aufnahme-Nr. 4161 (unfoliierte Krankenakte).

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sich benachteiligt und ungerecht beurteilt zu fühlen, als krankhaft nicht zu verkennen. Das Zusammentreffen der aufgezählten Kennzeichen läßt keinen Zweifel an dem Bestehen eines bestimmten Krankheitsbildes, der psychopathischen Konstitution, einer angeborenen krankhaften geistigen Veranlagung. [...] S. leidet an psychopathischer Konstitution. Zur Zeit der ihm zur Last gelegten strafbaren Handlung befand er sich nicht in einem Zustande der Bewußtlosigkeit oder krankhaften Störung der Geistestätigkeit, der die freie Willensbestimmung ausschloß. Seine abnorme geistige Veranlagung kann gegebenenfalls als Grundlage für die Zubilligung mildernder Umstände gelten.«143

Dieses Gutachten ist typisch für die psychiatrische Beurteilung von ›Gewohnheitsverbrechern‹ zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Verhalten des Angeklagten wird zweifellos als pathologisch bewertet, dennoch soll er bestraft werden. Die Expertise unterscheidet sich im klinischen Befund nur wenig von den bisher betrachteten Gutachten über ebenfalls ›nur‹ konstitutionell belastete Alkoholiker, Homosexuelle und Frauen; allein die rechtliche Beurteilung fällt hier anders aus. Auch macht der Gutachter aus seinem Abscheu gegenüber dem Exploranden kein Hehl. Die diffamierenden Zuschreibungen des »hündischen Benehmens« und der »Nörgelsucht« bekunden, dass der Arzt in dem Angeklagten alles andere als einen bedauernswerten Patienten sieht. Der Begriff der kriminologisch relevanten, aber die Schuldfähigkeit nicht ausschließenden ›psychopathischen Konstitution‹ ist in der Zeit der Jahrhundertwende aus den Erfahrungen und Bedürfnissen der forensisch-psychiatrischen Gutachterpraxis heraus entwickelt worden. Er kann als das Ergebnis eines Arrangements zwischen Justiz und Psychiatrie gesehen werden.144 Zuvor gestaltete sich die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit äußerst konfliktreich, sofern das kriminelle Verhalten des Angeklagten das einzige oder vorwiegende Symptom der Geistesstörung bildete. Psychiatrische Krankheitsbegriffe, die kriminelles Verhalten mit Geisteskrankheit identifizierten, konnten sich in der gutachterlichen Praxis nicht bewähren. Dieses Schicksal musste bereits das zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Frankreich aufgekommene Konzept der Monomanie erfahren.145 Jean143 Gutachten vom 2.11.1918, ebd. (unfoliiert). 144 Insofern ist den Ausführungen über die Abhängigkeit der psychiatrischen Begriffsbildung von »rechts- und gesellschaftspolitischen Interessen« bei Güse u. Schmacke, Bd. 2, S. 266, zuzustimmen. Fraglich erscheint es allerdings, hierin nur einen Verrat der Psychiatrie an ihren »emanzipatorischen Zielen« (vgl. ebd., S. 320f.) und eine unangemessene »Sorge um die Erhaltung von Recht, Ordnung und der herrschenden traditionellen Strafrechtsprinzipien« (ebd., S. 274) zu sehen. Im Folgenden soll vielmehr deutlich werden, dass die Psychiater, solange die von ihnen erstrebte Strafrechtsreform noch nicht verwirklicht war, ihre Professionsinteressen im Rahmen des bestehenden Rechts taktisch geschickt durchzusetzen suchten. 145 Zur Definition und Rezeption des Monomanie-Konzepts vgl. Ackerknecht, S. 47ff.; Castel, Die Ärzte und die Richter; ders., Die psychiatrische Ordnung, S. 183ff.; Goldstein, S. 152ff.

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Etienne-Dominique Esquirol (1772–1840) hatte die Monomanie als eine partielle Verrücktheit beschrieben, die durch einseitige impulsive Zwangshandlungen bei sonst unbeeinträchtigtem Denken und Fühlen gekennzeichnet war. Demnach konnten Brandstiftung oder Diebstahl auch bei völlig gesund erscheinenden Tätern als krankheitsbedingte Triebhandlungen – als Pyromanie bzw. Kleptomanie – aufgefasst werden. Dass die Richter diesem Krankheitsverständnis nur geringe Wertschätzung entgegenbrachten, kann nicht verwundern. Doch auch die Irrenärzte wandten sich spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von diesem Konzept ab, das mit den materialistisch-naturwissenschaftlichen Vorstellungen der neueren Psychiatrie schwerlich zu vereinbaren war. In der wilhelminischen Epoche war die Monomanie innerhalb der psychiatrischen Wissenschaft längst passé;146 allenfalls in Kriminalromanen konnte sie ihren Platz behalten. Auf eine etwas größere wissenschaftliche Akzeptanz stieß der – juristisch nicht minder prekäre – Begriff der ›moral insanity‹, den der englische Psychiater James Cowles Prichard (1785–1848) geprägt hat.147 Das ›moralische Irresein‹, der ›moralische Schwachsinn‹ – so die gängigsten Übersetzungen des Begriffs – war dadurch charakterisiert, dass dem Kranken auf Grund eines hirnorganischen Defekts das moralische Empfinden fehlte. Krafft-Ebing lieferte eine Schilderung der »sittlichen Farbenblindheit« dieser »ethisch defekten« Menschen: »Interesselos für alles Edle und Schöne, stumpf für alle Regungen des Herzens, befremden diese unglücklichen Defektmenschen früh schon durch Mangel an Kindesund Verwandtenliebe, Fehlen aller socialen geselligen Triebe, Herzenskälte, Gleichgültigkeit gegen das Wohl und Wehe ihrer nächsten Angehörigen, durch Interesselosigkeit für alle Fragen des socialen Lebens. Natürlich fehlt auch jegliche Empfänglichkeit für sittliche Werthschätzung oder Missbilligung Seitens Anderer, jegliche Gewissensregung und Reue.«148

Der Begriff des ›moralischen Schwachsinns‹ ließ sich im Gegensatz zum Monomanie-Konzept gut mit den Grundannahmen der im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts vorherrschenden ›Gehirnpsychiatrie‹ vereinbaren. So teilten denn auch die meisten Psychiater die Auffassung, dass es so etwas 146 Bischoff, S. 132: »Die alte Lehre von den Monomanien ist von der falschen Annahme ausgegangen, daß ein Individuum von einer einzigen krankhaften Idee, einem krankhaften Triebe beherrscht, sonst aber gesund sei. Nun ist es aber längst bekannt, daß es krankhafte Veränderungen einer einzelnen Vorstellung eines einzelnen Triebes etc., wo sie auftreten, nur eines der Symptome einer psychopathischen Veränderung sind, die die Geistestätigkeit in viel weiterem Umfang stört.« Vgl. auch Cramer, S. 221. 147 Vgl. Ackerknecht, S. 52; Cramer, S. 264ff.; Delbrück, Gerichtliche Psychopathologie, S. 197ff.; Krafft-Ebing, Lehrbuch, S. 291ff.; Leppmann, Die Sachverständigen-Thätigkeit bei Seelenstörungen, S. 64f.; Longard; Näcke, »moral insanity«; Schlager u.a., S. 462ff.; Schlockow, Der Preußische Physikus, S. 494f. 148 Krafft-Ebing, Lehrbuch, S. 293.

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wie eine organisch bedingte Morallosigkeit gebe. Dennoch war der Krankheitsbegriff problematisch. Die Aufgabe, den unzurechnungsfähigen »moralisch irrsinnigen Scheinverbrecher« von dem »im äusseren Bild ganz gleichen Gewohnheitsverbrecher aus defekter Erziehung und willkürlicher Hingabe an das Laster« zu unterscheiden, war kaum lösbar.149 Skeptische Gerichtspsychiater wie August Cramer hielten es für praktisch unmöglich, »einen Verbrecher, einen schlechten Menschen an sich, von dem moralischen Idioten zu trennen«. Daraus ergebe sich »mit zwingender Notwendigkeit« der Schluss: »Wenn wir die moralische Idiotie als eine Art von Krankheit auffassen wollen, müssen wir das auch mit bestimmten Verbrecherkategorien, ja vielleicht mit dem grössten Teil der Verbrecher thun, namentlich aber mit einem Teil von Verbrechern, welche unsere geringste Sympathie verdienen.«150 Diese letzte Konsequenz für die Kriminalpolitik war es auch, die den rein wissenschaftlich durchaus akzeptierten Begriff der ›moral insanity‹ zum Scheitern verurteilte. Das Reichgericht lehnte in einer Grundsatzentscheidung vom 14. Dezember 1886151 die ›moral insanity‹ als Schuldausschließungsgrund ab und entsprach damit den Wünschen konservativer Juristen – einige Strafverteidiger ausgenommen. Auch viele Irrenärzte beanstandeten den Begriff des ›moralischen Schwachsinns‹ wegen seiner praktischen Folgen. Ganz unverblümt sprach sich der Psychiater C. G. Jung – noch bevor er als Psychoanalytiker berühmt wurde – für »ein Aufgeben der naturwissenschaftlichen Auffassung des moralischen Defektes in praxi« aus, denn: »Verteten wir nun auch in praxi unsere Theorie von dem Kranksein des moralisch Defekten, so erleben wir es, daß mit zunehmender psychologischer Bildung der Gerichtsbehörden unsere Anstalten mit Verbrechern gefüllt werden, dank unseren altruistischen Gutachten. Dadurch wird binnen kurzer Frist der Zustand in einer Anstalt unhaltbar.«152 Die füh149 Ebd., S. 295; vgl. Schlager u.a., S. 464f.; Schlockow, Der Preußische Physikus, S. 494f. 150 Cramer, S. 265. 151 Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, Jg. 15, 1887, S. 97ff., hier S. 99: »Die neuere Theorie hat das Vorhandensein von Irreseinszuständen angenommen, in welchen die logischen Prozesse ungestört von statten gehen, die äußere Besonnenheit erhalten ist und Wahnideen und Sinnestäuschungen ganz fehlen, gleichwohl aber die Bedingungen der Zurechnungsfähigkeit geschmälert sind bis zur Aufhebung derselben, insofern das Individuum statt ethisch rechtlicher Motive nur Begriffe der Nützlichkeit und Schädlichkeit zu verwerten weiß, das Strafgesetz von diesem eigenartigen inferioren Standpunkte nur als eine Art polizeilicher Vorschrift zu beurteilen vermag und bei diesem sittlichen und intellektuellen Defekte mehr oder weniger widerstandslos seinen egoistischen unsittlichen Antrieben preisgegeben ist. Ob diese Theorie von dem ›moralischen Irresein‹ für eine spätere Gesetzgebung verwertet werden kann, muß hier ungeprüft bleiben. Soviel ist indes klar, daß nach den dem deutschen Strafgesetzbuche zu Grunde liegenden Anschauungen durch den von der Theorie angenommenen Mangel jeglichen moralischen Haltes die Zurechnungsfähigkeit nur dann für ausgeschlossen gelten kann, wenn der Mangel aus krankhafter Störung zu erklären ist.« 152 Jung, S. 697.

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renden Kriminalpsychiater verwarfen den Krankheitsbegriff – sozusagen wider besseres Wissen – aus rein pragmatischen Erwägungen.153 Mit dem Konzept des ›moralischen Schwachsinns‹ eng verwandt war die Degenerationstheorie, die zeitweilig das psychiatrische Verständnis von Kriminalität dominierte.154 Der in Wien geborene französische Psychiater Benedict Augustin Morel (1809–1873) entwickelte in seiner Abhandlung »Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l‹epèce humaine et de ses causes qui produisent ces variétés maladives« aus dem Jahr 1857 eine Theorie der Vererbung psychischer Krankheiten. »Die Degenerationen sind«, so die Definition Morels, »krankhafte Abweichungen vom normalen menschlichen Typ, sind erblich übertragbar und entwickeln sich progressiv bis zum Untergang.«155 Nach Morel konnte die Degeneration durch Vergiftung (Alkohol u.a.), das soziale Milieu, krankhaftes Temperament, moralische Erkrankung, angeborene oder erworbene Schäden oder Erblichkeit entstehen. Körperliche Abnormitäten wie z.B. ungewöhnliche Formen des Schädels oder der Ohren galten als äußerlich erkennbare Stigmata der Degenerierten. Das ›Morelsche Gesetz‹ der progressiven Degeneration postulierte die Vererbung auch der erworbenen Defekte sowie eine von Generation zu Generation fortschreitende Verschlimmerung des Zustandsbildes, bis schließlich das Stadium der Idiotie die weitere Fortpflanzung verhinderte. Die Morelsche Degenerationstheorie geriet in das Fahrwasser der populären Darwin-Rezeption und wuchs zu einem kulturpessimistischen Bedrohungsszenario aus. Indem sie lasterhaften Lebenswandel mit dem Erblichkeitsparadigma verknüpfte, fügte sie sich nahtlos in sozialdarwinistische Gesellschaftsvorstellungen.156 Der italienische Psychiater Cesare Lombroso griff die in Frankreich entwickelte Degenerationsidee auf und bezog sie auf das ›Verbrechertum‹.157 Sein 1876 erschienenes Hauptwerk »Uomo delinquente«158 begründete die Kriminalanthropologie. Lombroso hatte den Ehrgeiz, das Verbrechen als eine ›Na153 Gerade die prominentesten und zudem auch kriminalpolitisch engagierten Repräsentanten der forensischen Psychiatrie verwarfen den Krankheitsbegriff der ›moral insanity‹: Aschaffenburg, Die rechtlichen Grundlagen der gerichtlichen Psychiatrie, S. 38f.; Näcke, »moral insanity«, S. 37. 154 Zum Begriff der Degeneration vgl. Ackerknecht, S. 53ff.; Pick, S. 44ff.; Weindling, S. 80ff.; Weingart u.a., S. 47ff. 155 Zitiert nach Ackerknecht, S. 54f. 156 Vgl. Hawkins; Marten; Mayer, S. 271ff.; Mommsen, Bürgerliche Kultur, S. 94ff.; Sieferle, S. 61ff.; Smith, Politics and the Sciences of Culture, S. 91ff. 157 Lombroso gilt in der Medizingeschichte als ein wissenschaftlich sprunghafter Eklektiker, der mit den bunt zusammengewürfelten Ideen anderer berühmt wurde. Vgl. Ackerknecht, S. 57; Huertas. 158 Die deutsche Ausgabe von Lombroso, Der Verbrecher, erschien erst elf Jahre später. Zu Lombrosos Lehre vom ›geborenen Verbrecher‹ vgl. Strasser, S. 41ff.; Becker, Physiognomie des Bösen.

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turerscheinung‹ zu erklären. Seine Hauptthese lautete, dass rund ein Drittel der Verbrecher einer atavistischen Menschenspezies entstammten, die durch einen angeborenen Hang zum Verbrechen sowie durch körperliche Anomalien gekennzeichnet sei. »Der grösste Theil der [...] Eigenschaften des Wilden, sowohl der körperlichen als auch der geistigen, findet sich bei dem Verbrecher wieder«, heißt es in der deutschen Ausgabe von 1887.159 Lombrosos Lehre vom ›geborenen Verbrecher‹ wurde in der Fachwelt zwiespältig aufgenommen.160 Die Vorstellung, dass der Kern des Verbrechertums eine Art primitiver Rasse darstelle, wurde schon von den Zeitgenossen als abstrus angesehen. Auch wurde der diagnostische Wert der körperlichen Degenerationszeichen relativiert, da diese nicht bei allen Verbrechern, dafür aber auch bei nichtkriminellen ›Degenerierten‹ zu finden seien.161 Dennoch stieß die Theorie eines angeborenen Hangs zur Kriminalität in psychiatrischen Kreisen auf allgemeine Zustimmung. Typisch für die Haltung des Mainstreams der forensischen Psychiatrie in Deutschland ist die Überzeugung des Gießener Psychiatrieprofessors Robert Sommer. Die Lehre Lombrosos hielt er »in anatomischer Beziehung für unhaltbar«; doch losgelöst von dem Problem der »morphologischen Kennzeichen« sei die Frage, »ob es geborene Verbrecher gibt, [...] rein auf Grund von Beobachtung psychischer Funktionen unbedingt zu bejahen«.162 Der Begriff des ›geborenen Verbrechers‹, des ›degenerierten‹ Kriminellen beschrieb im Grunde das gleiche Phänomen, welches zuvor als ›moral insanity‹ bezeichnet worden war. Für den einflussreichen Psychiater Emil Kraepelin wie auch für Lombroso selbst war der geborene Verbrecher mit dem moralisch Irren identisch.163 Der Unterschied zwischen beiden Konzepten ergab sich weniger aus der naturwissenschaftlichen Erklärung des Beobachteten als aus der sozialen Wertung. Der moralisch Irre galt als eine Randerscheinung und sollte als psychisch Kranker exkulpiert werden. Hingegen zählte der geborene Verbrecher zum eigentlichen Kern des Verbrechertums, und seine dauernde Verwahrung in einem Zuchthaus zum Schutz der Allgemeinheit schien angebracht. Aus der Sicht der Irrenärzte war das Konzept des ›degenerierten‹ Anlageverbrechers dem Begriff des ›moralischen Schwachsinns‹ vorzuziehen, da so die psychiatrischen Anstalten von dieser unangenehmen Klientel verschont bleiben könnten. Problematisch war die Auffassung vom ›geborenen Verbrecher‹ eher deshalb, weil sie sich schwerlich mit dem bestehenden Vergeltungsstrafrecht vereinbaren ließ. Die Strafe hatte sich nach dem 159 Lombroso, Der Verbrecher, S. 535. 160 Zur Rezeptionsgeschichte in Deutschland und Frankreich vgl. Gadebusch Bondio; Wetzell, Criminal Law Reform, S. 84ff.; ders., Inventing the Criminal, S. 40ff.; Nye, S. 97ff. 161 Vgl. Näcke, Degeneration; ders., Über den Wert der sog. Degenerationszeichen. 162 Sommer, Kriminalpsychologie, S. 311. 163 Vgl. Kraepelin, Einführung in die psychiatrische Klinik, S. 341; Lombroso, Der Verbrecher, S. 451ff. u. 532f.

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Grad der Schuld und nicht der Gefährlichkeit zu bemessen – und das sollte nach dem Wunsch konservativer Juristen auch so bleiben. Die Auffassungen der kriminalanthropologischen Schule stellten einen Affront gegen die überkommenen sittlichen Prinzipien der Strafrechtspflege dar. Die Vorstellung, dass einem großen Teil der Verbrecher – und zwar dem harten Kern – nicht mit den Kategorien von Schuld und Sühne beizukommen sei, musste die Rechtsgelehrten irritieren. Wohl aus diesem Grund konnte sich letztendlich nur ein gemäßigteres Konzept bei Juristen und Psychiatern durchsetzen: die ›Psychopathie‹. Inhaltlich geht das Psychopathie-Konzept auf den Irrenarzt Julius Ludwig August Koch zurück. Koch, der Direktor der Staatsirrenanstalt Zwiefalten, hat sich Ende des 19. Jahrhunderts systematisch mit den Grenzzuständen zwischen psychischer Krankheit und Gesundheit beschäftigt, für die er den Begriff der ›psychopathischen Minderwertigkeiten‹ schuf.164 Indem er die psychische Anomalie ohne Krankheitswert nicht mehr nur als Vorstufe oder Nährboden einer Psychose betrachtete, sondern sie zu einer Kategorie sui generis erhob, begründete er ein neues Feld der psychiatrischen Wissenschaft. Unter dem Ausdruck ›psychopathische Minderwertigkeit‹ fasste er »alle, sei es angeborenen, sei es erworbenen, den Menschen in seinem Personleben beeinflussenden psychischen Regelwidrigkeiten zusammen, welche auch in schlimmen Fällen doch keine Geisteskrankheiten darstellen, welche aber die damit beschwerten Personen auch im günstigsten Falle nicht als im Vollbesitze geistiger Normalität und Leistungsfähigkeit erscheinen lassen.«165 In strafrechtlicher Hinsicht waren die psychopathisch Minderwertigen, solange das positive Recht noch keine verminderte Zurechnungsfähigkeit kannte, als schuldfähig anzusehen; allenfalls konnte die psychische Verfassung als mildernder Umstand geltend gemacht werden. Der Begriff der ›psychopathischen Minderwertigkeit‹ erwies sich in forensischer Hinsicht als recht praktikabel, gerade weil er »kein eigentlicher 164 Vgl. Koch. Die Bezeichnung ›Minderwertigkeit‹ hatte natürlich noch nicht die auf die nationalsozialistische Rassenpolitik verweisende Konnotation, die der heutige Leser vernimmt. Dennoch war sich auch schon der Schöpfer dieses Begriffs der Problematik eines mit Werturteilen verbundenen psychiatrischen Begriffs bewusst: »Was freilich den von mir gewählten Ausdruck ›psychopathische Minderwertigkeit‹ an sich selbst betrifft, so habe ich eine Zeit lang lebhaft nach einer anderen Bezeichnung des ganzen Gebietes gesucht, weil zu befürchten stand, daß für manchen der Ausdruck Minderwertigkeit eine gewisse Anrüchigkeit einschließen möchte. Wer aber das Beiwort ›Psychopathische‹ nicht übersieht, wer den Umstand genügend beachtet, daß über den absoluten Wert des sittlichen und intellektuellen Lebens und Strebens eines psychopathisch Minderwertigen mit der Bezeichnung Minderwertigkeit noch nichts ausgemacht werden soll, daß diese Bezeichnung immer nur etwas Relatives ausdrückt, daß viele Minderwertige in ihrem psychischem Leben mehr wert sind als manche andere, die im Vollbesitz der Gesundheit stehen, – wer dies nicht außer acht läßt, der wird an dem Ausdruck psychopathische Minderwertigkeit wohl keinen Anstoß nehmen.« (ebd., S. VI). 165 Ebd., S. 1.

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Krankheitsbegriff ist, sondern vielmehr ein Wertungsbegriff für die praktischen Zwecke der forensischen Psychiatrie«.166 Die Psychiater konnten mit einer naturwissenschaftlichen Erklärung kriminellen Verhaltens aufwarten, ohne dass ihnen die Verantwortung für die Verwahrung der betroffenen Täter aufgebürdet wurde. Die Juristen akzeptierten den psychiatrischen Begriff, weil er den Einfluss der Mediziner einzudämmen versprach. Denn anders als die Begriffe des ›moralischen Schwachsinns‹ oder des ›geborenen Verbrechers‹ zog er eine scharfe Grenzlinie zwischen Krankheit und Kriminalität; das ›Behandlungsmonopol‹ der Strafrechtspflege gegenüber den Verbrechern blieb unangetastet. Strafjustiz und forensische Psychiatrie hatten somit ihren Modus Vivendi gefunden. Der Begriff der ›psychopathischen Minderwertigkeit‹ oder ›psychopathischen Konstitution‹ verdrängte in der forensisch-psychiatrischen Handbuchliteratur rasch seine juristisch problematischeren Vorgänger.167 Nach dem Ersten Weltkrieg sollte der Aschaffenburg-Schüler und Psychiatrie-Professor Kurt Schneider (1887–1967) dem Konzept der Psychopathie, das noch heute unter dem Signet ›Persönlichkeitsstörung‹ weiterexistiert, seine vollendete Form geben. Schneiders inzwischen klassische Definition lautete: »Psychopathische Persönlichkeiten sind solche abnorme Persönlichkeiten, die an ihrer Abnormität leiden, oder unter deren Abnormität die Gesellschaft leidet.«168 Dabei bedeutete Abnormität ganz wertneutral eine Abweichung von der Bandbreite durchschnittlicher Charaktere, nicht vom Ideal psychischer Gesundheit.169 Erst der Aspekt des ›Leidens‹ machte eine abnorme Persönlichkeit zu einer psychopathischen Persönlichkeit. Von den Krankheiten wollte Schneider den Begriff der ›Psychopathie‹ strikt getrennt wissen.170 Aus dieser aus »praktischen Gründen«171 entwickelten Definition ›folgte‹ für die forensische Psychiatrie: »Es mag ganz allgemein gesagt werden, daß von der Auffassung aus, daß psychopathische Persönlichkeiten keine kranken Menschen, sondern charakterologische Spielarten sind, eine Exkulpation grundsätzlich 166 Der außerwissenschaftliche Ursprung des Psychopathie-Konzepts war den Zeitgenossen durchaus bewusst, wie die Äußerung bei Straßmann, Medizin und Strafrecht, S. 419, aus dem Jahr 1911 belegt. 167 Beispielsweise enthielt der »Schlockow« aus dem Jahr 1886 noch einen eigenen Abschnitt über ›Moralisches Irresein‹ als Strafausschließungsgrund; in der Ausgabe von 1906 werden die ›moralisch Schwachsinnigen‹ nur noch als eine Untergruppe der ›Minderwertigkeiten‹ rubriziert. Vgl. Schlockow, Der preußische Physikus, S. 494f. u. Schlockow, Kreisarzt, Bd. 2, S. 198f. 168 Schneider, Die psychopathischen Persönlichkeiten, S. 16. Unmittelbar darauf folgt der bemerkenswerte Satz: »Diese Abgrenzung geschieht nicht aus wissenschaftlichen, sondern aus praktischen Gründen, und sie ist willkürlich.«. 169 Ebd., S. 13. 170 Ebd., S. 18. 171 Siehe Anm. 168.

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nicht stattfinden kann, es sei denn, daß Kombinationen mit höheren Schwachsinnsgraden oder Bewußtseinstrübungen vorliegen.«172 Gleichwohl sah Schneider einen engen Zusammenhang zwischen Kriminalität und gewissen psychopathischen Persönlichkeitstypen, nämlich den »gemütlosen«, den »willenlosen« und den »explosiblen Psychopathen«.173 Insgesamt hat die Beschäftigung der forensisch tätigen Psychiater mit der ›Verbrecherpersönlichkeit‹ die psychiatrische Begriffsbildung zur Zeit der Jahrhundertwende dahingehend beeinflusst, dass bis in die Gegenwart hinein zwischen Psychosen und Psychopathien streng unterschieden wird. Mit dem Konzept des verbrecherischen ›Psychopathen‹ war auch der Grundstein für jene täterzentrierte Kriminologie gelegt, deren biologische Paradigmen in Deutschland bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts nahezu unbestritten blieben.

4. Von der gerichtlichen Psychopathologie zur Kriminologie Die Entstehungsgeschichte der Kriminologie als einer selbstständigen Erfahrungswissenschaft ist auf das engste mit der Entwicklung der forensischen Psychiatrie verknüpft.174 Zweifellos hat die ›Wissenschaft vom Verbrecher‹ auch außermedizinische Wurzeln. So erlebte das Räsonnieren über die Ursachen des Verbrechens mit den philanthropischen Bestrebungen der Aufklärungsepoche eine erste Blütezeit. Doch den philosophischen »Ideen zu einer Criminalpsychologie«175 folgten zunächst keine empirischen Forschungstaten. Allein die Bezeichnung ›Kriminalpsychologie‹ konnte sich – als Synonym für ›Kriminologie‹ – bis in das 20. Jahrhundert hinein halten. Einen anderen Weg beschritt Avé-Lallemant Mitte des 19. Jahrhunderts mit seiner kulturhistorischen Unterwelt-Studie über »Das deutsche Gaunerthum«176, bloß wollte ihm niemand folgen. In methodischer Hinsicht richtungweisend waren hingegen die Arbeiten der Moralstatistiker André-Michel Guerry (1802–1866) und Adolphe Jacques Quetelet (1796–1874) in Frankreich sowie Georg von Mayrs (1841–1925) in Deutschland. An ihre statistischen Analysen über die Abhän172 Schneider, Die psychopathischen Persönlichkeiten, S. 7. 173 Vgl. ebd., S. 75ff., 79ff. u. 85ff. Der Begriff des ›gemütlosen Psychopathen‹ ist in phänomenologischer Hinsicht deckungsgleich mit dem der ›moral insanity‹. 174 Zur Geschichte der Kriminologie siehe: Becker, Verderbnis und Entartung; Wetzell, Inventing the Criminal sowie die historischen Überblickskapitel bei Kaiser, Kriminologie, S. 108ff. und Schneider, Kriminologie, S. 90ff.; eine kursorische Übersicht über die Positionen zahlreicher Autoren – besonders des frühen 19. Jahrhunderts – bietet Engelhardt. 175 So der Titel der 1792 erschienenen Schrift des Philosophen Schaumann. Siehe hierzu Kürzinger. 176 Avé-Lallemant.

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gigkeit des ›Hangs zum Verbrechen‹ von Alter und Geschlecht, Beruf und Erziehung, Klima und Jahreszeit sollte später die moderne Kriminalsoziologie anknüpfen.177 Allerdings konnte die sozialstatistische Kriminalitätsforschung kaum zur Institutionalisierung der Kriminologie beitragen, solange die Soziologie selbst noch nicht als Disziplin im Wissenschaftsbetrieb verankert war. Die Gerichtsmediziner und Psychiater verfügten über einen wissenschaftsorganisatorischen Vorsprung, den die Kriminalsoziologen zumindest im deutschen Sprachraum nicht mehr aufholten. Die auf dem Gebiet der forensischen Psychiatrie tätigen Mediziner bildeten – abgesehen von den Juristen – die einzige Berufsgruppe, die sich ihrer Profession wegen mit den Entstehungsbedingungen der Kriminalität zu beschäftigen hatte. Die Akkumulation kriminologischen Wissens vollzog sich folglich vorwiegend innerhalb des institutionellen Gefüges der medizinischen Wissenschaft. Ein Blick in das zeitgenössische Schrifttum zeigt, dass Mediziner wie J. B. Friedreich (1796–1862) und J. C. A. Heinroth (1773–1843) bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Feld der von Philosophen begründeten ›Kriminalpsychologie‹ dominierten.178 Gerichtspsychiatrische Vorlesungen und Lehrbücher, die sich auch an ein juristisch gebildetes Publikum richteten, vermittelten kriminologisches Denken, lange bevor spezielle kriminologische Lehr- und Forschungseinrichtungen existierten. Einen kräftigen Entwicklungsschub erfuhr die deutschsprachige Kriminologie mit der um 1880 einsetzenden Lombroso-Rezeption.179 In gewisser Weise kann man den Turiner Gefängnisarzt und Psychiater Cesare Lombroso auch heute noch als den ›Begründer‹ der modernen Kriminologie verstehen. Die breite Wirkung seiner Lehre vom geborenen Verbrecher resultierte freilich weniger aus ihrer Überzeugungskraft als aus ihrer Abenteuerlichkeit. Verallgemeinernde Aussagen der Art, dass Henkelohren, volles Haupthaar, spärlicher Bartwuchs, kleiner Schädel, fliehende Stirn und starke Kieferknochen die ›Stigmata‹ des geborenen Verbrechers seien,180 provozierten die Fachwelt. Eine kritische empirische Überprüfung der Thesen schien auch deshalb geboten, weil Lombroso es versäumt hatte, die Häufigkeit körperlicher ›Degenerationszeichen‹ in einer Kontrollgruppe aus unbescholtenen Bürgern zu untersuchen. Wohl nicht zuletzt aufgrund dieser methodischen Unzulänglichkeiten hatte Lombroso mit seinem 1876 veröffentlichten Hauptwerk »Uomo delinquente« eine Lawine losgetreten. 177 Vgl. Blasius, Bürgerliche Gesellschaft und Kriminalität, S. 10ff.; Hering, S. 145ff.; Kaiser, Kriminologie, S. 113; Schneider, Kriminologie, S. 97ff. 178 Vgl. Heinroth, System der psychisch-gerichtlichen Medizin; ders., Grundzüge der Criminal-Psychologie; Friedreich, Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie; ders., Compendium der gerichtlichen Anthropologie. Einen bibliographischen Überblick zur Frühgeschichte der Kriminologie bieten Huelke u. Etzler. 179 Vgl. hierzu und zum Folgenden Wetzell, Inventing the Criminal, S. 40ff. 180 Vgl. Lombroso, Der Verbrecher, S. 253.

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In den folgenden Jahren erschien in Deutschland eine Reihe empirischstatistischer Studien von Gefängnis- und Irrenärzten, die sich ebenfalls dem Zusammenhang zwischen Kriminalität und geistig-körperlicher Konstitution widmeten. Die Resultate fielen freilich anders aus als bei Lombroso. Im Jahr 1884 veröffentlichte der Anstaltspsychiater und ehemalige Gefängnisarzt Knecht in der »Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie« eine Arbeit »Ueber die Verbreitung physischer Degeneration bei Verbrechern«.181 Zwar stellte er fest, dass bei den 1 214 untersuchten Gefangenen Geistesstörungen weiter verbreitet seien als in der »freien Bevölkerung«, doch das bedeute nicht notwendig, dass »zwischen der neuropathischen Disposition und dem Verbrechen eine engere Beziehung besteht«. Vielmehr lege die Kriminalstatistik nahe, »dass die Häufigkeit des Verbrechens im wesentlichen durch sociale Momente beeinflusst wird«. Allenfalls einen indirekten Zusammenhang zwischen Neuropathie und Verbrechen vermochte er anzuerkennen: »Dass neuropathische Individuen vermöge ihrer verminderten Widerstandsfähigkeit und der Schwankungen, die in ihrem Nervenleben so häufig stattfinden, in ihrem Fortkommen, ihrer Geltung in der Gesellschaft, ihrer Erwerbsfähigkeit, kurz, im Kampfe um das Dasein ungünstiger gestellt sind, als Menschen mit normalem Nervensystem und infolge dessen leichter als diese in Armuth und Noth, in Aufregung und Leidenschaft verfallen, halte ich nicht für zweifelhaft. Und insofern diese Zustände häufig die Quelle von Verbrechen werden, ist ein, wenn auch entfernter, Zusammenhang zwischen neuropathischer Disposition und Verbrechen vorhanden.«182

Ebenfalls aus dem Jahr 1884 stammt eine Untersuchung von Wilhelm Sommer, dem Assistenzarzt und späteren Direktor der ostpreußischen ProvinzialIrrenanstalt Allenberg. Sommer berichtete, dass sich unter »Irren [...] etwa 25 mal soviel Verbrecher als unter einer gleichen Zahl nicht geisteskranker Individuen« befänden.183 Auch Wilhelm Sander und Alfred Richter sahen bei ihren Patienten in der Irrenanstalt Dalldorf die »nahen Beziehungen zwischen den Geisteskrankheiten und den Verbrechen« bestätigt.184 Carl Moeli, ebenfalls ein Mitarbeiter der Anstalt Dalldorf, konstatierte 1888, dass rund 38 % der angeblich im Gefängnis geisteskrank gewordenen Verbrecher bereits zur Zeit der Straftat krank gewesen seien; auch das war ein Hinweis auf die kausale Verknüpfung von Geisteskrankheit und Kriminalität.185 Die wohl wichtigste Untersuchung legte 1893 Abraham Adolf Baer vor.186 Der Oberarzt am Strafgefängnis Berlin-Plötzensee ging mit Lombroso hart ins Gericht. Baer fand zwar das häufigere Vorkommen von ›Degenerationszeichen‹ bei Verbrechern bestä181 182 183 184 185 186

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Knecht, Ueber die Verbreitung physischer Degeneration. Alle Zitate ebd., S. 611. Sommer, Beiträge zur Kenntniss der criminellen Irren, S. 110. Sander u. Richter, S. 150. Vgl. Moeli, Ueber irre Verbrecher, S. 115. Baer.

tigt, doch gebe es »keine einzige dieser Anomalien, welche nicht auch bei vollkommen unbescholtenen, ehrlichen Menschen angetroffen wird«.187 Selbst wenn den »körperlichen Bildungsmängel[n]«, die auf eine »Minderwerthigkeit der somatischen Organisation« hinweisen, »nicht selten gleichzeitig auch eine geistige und sittliche Inferiorität« entspreche, handele es sich nicht um eine direkte Ursache-Folge-Beziehung.188 Vielmehr seien schlechte Lebensverhältnisse die gemeinsame Ursache von Kriminalität und Degeneration: »Der Verbrecher trägt die Spuren der Entartung an sich, welche in den niederen Volksklassen, denen er meist entstammt, häufig vorkommen, welche durch die sozialen Lebensbedingungen erworben und vererbt, bei ihm bisweilen in potenzirter Gestalt auftreten. Wer die Verbrechen beseitigen will, muss die sozialen Schäden, in denen das Verbrechen wurzelt und wuchert, beseitigen, muss bei den Feststellungen der Strafarten und bei ihrem Vollzuge mehr Gewicht auf die Individualität des Verbrechers als auf die Kategorie des Verbrechens legen.«189

Baer vertrat mit seiner radikalen Milieu-Theorie eine Extremposition im kriminalpsychopathologischen Diskurs der Jahrhundertwende. Die meisten empirischen Studien dieser Frühphase der Kriminologie legten eher einen komplizierteren Zusammenhang der beiden kriminalätiologischen Faktoren Anlage und Umwelt nahe. Doch alle Untersuchungen in der Folge Lombrosos teilten eine Grundprämisse: das deterministische Verständnis von Kriminalität. Der Verbrecher galt nicht als autonomes Subjekt, sondern als ein Objekt naturwissenschaftlicher Betrachtung. Die Ursachen der Devianz schienen in der Anlage-Umwelt-Formel aufzugehen; Eigenverantwortlichkeit war in der Matrix der Kriminalpsychopathologie nicht vorgesehen. Neben den Anstalts- und Gefängnisärzten begannen auch die Größen der akademischen Psychiatrie sich mit Lombroso auseinanderzusetzen. Im Jahr 1885 stellte Emil Kraepelin in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft wohlwollend-kritisch den zu dieser Zeit noch nicht ins Deutsche übersetzten ›Uomo delinquente‹ vor.190 Obwohl Kraepelin deutlich zum Ausdruck brachte, dass er wenig von der Atavismus-Theorie hielt und an der Evidenz der statistischen Daten zweifelte, würdigte er die »hohe Bedeutung« von Lombrosos ›Uomo delinquente‹, die »nicht in dem vielfach angreifbaren und lückenhaften Detail« liege, sondern, »vor allem in dem bahnbrechenden Gedanken, den Verbrecher nicht mehr vom bequemen Standpunkte der moralischen Entrüstung als ein verabscheuungswürdiges Scheusal, sondern einfach als ein Objekt wissenschaftlicher Forschung anzusehen und mit voller Unbefangenheit seine Entwickelungsgeschichte, seine Persönlichkeit sowie sein 187 188 189 190

Ebd., S. 190. Ebd., S. 395. Ebd., S. 411. Kraepelin, Lombrosos Uomo delinquente.

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Leben und Handeln zum Gegenstande eines sorgfältigen Studiums zu machen.«191 Mit anderen Worten: Lombroso stelle die richtige Frage, gebe aber falsche Antworten. In den neunziger Jahren – nachdem die deutsche Übersetzung von Lombrosos Hauptwerk erschienen war – ging man mit ›deutscher Gründlichkeit‹ daran, die ›richtigen‹ Antworten zu formulieren.192 Hans Kurella, der Lombroso nicht nur als seinen »maestro« verstand, sondern ihn auch so anredete,193 trug mit seinen Übersetzungen und mit eigenen Schriften194 zur Verbreitung der Gedanken des »Meisters« im deutschen Sprachraum bei. Freilich blieb er hier der einzige orthodoxe Lombrosianer. Die meisten der publizistisch aktiven Psychiater – gleich, ob sie sich subjektiv als Gegner oder Verteidiger Lombrosos sahen195 – nahmen eine mittlere Position zwischen den Antipoden Lombroso und Baer ein. Die Vorstellung von einem an äußerlichen Degenerationszeichen erkennbaren geborenen Verbrecher mit atavistischem Einschlag war ebenso wenig akzeptabel wie die These, dass Verbrechen und Degeneration ausschließlich auf das Milieu zurückzuführen seien. Vielmehr setzte sich das Konzept der Psychopathie durch, das sich ja auch in der gerichtlichen Praxis bewährte.196 In theoretischer Hinsicht besaß es darüber hinaus den Vorteil, dass es Konstitution und Milieu vermittelte. An die Stelle eines positiven Drangs zum Verbrechen setzte es die konstitutionell bedingte Unfähigkeit, sich auf legale Weise in der Umwelt zu behaupten. Im Jahr 1894 pries J. L. A. Koch seine Lehre von den »psychopathischen Minderwertigkeiten« als Antwort auf die »Frage nach dem geborenen Verbrecher« an.197 Zum einen gebe es »psychopathisch Minderwertige« mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Prädisposition zum Verbrechen, bei denen »in der That das Milieu es verschuldet, wenn sie zu Verbrechern werden oder vor dem Verbrechen bewahrt bleiben«. Darüber hinaus existierten aber auch »psychopathische Menschen« mit einer »krankhafte[n], angeborene[n] oder erworbene[n] sittliche[n] Schwäche«.198 Letztere seien durchaus als »geborene Verbrecher« zu begreifen. Dagegen seien die von Lombroso beschriebenen Degenerations191 Ebd., S. 680. 192 Die nationalistische Färbung der Lombroso-Kritik in Deutschland wird besonders hervorgehoben von Gadebusch Bondio, S. 157f. 193 Vgl. den bei Gadebusch Bondio, S. 250, abgedruckten Brief an Lombroso aus dem Jahr 1904. 194 Kurella, Cesare Lombroso und die Naturgeschichte des Verbrechers; ders., Naturgeschichte des Verbrechers; ders., Cesare Lombroso als Mensch und Forscher. 195 Die trennscharfe Gegenüberstellung der ›Gegner‹ (Aschaffenburg, Baer, Näcke) und der ›Verteidiger‹ (Koch, Bleuler, Kraepelin) Lombrosos bei Wetzell, Criminal Law Reform, S. 153f., verwischt diese starken Gemeinsamkeiten. 196 Vgl. oben, Abschnitt A, I, 3, e. 197 Koch, Die Frage nach dem geborenen Verbrecher. 198 Ebd., S. 33f.

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zeichen »kein Hilfsmittel für die Verbrecherdiagnose«.199 Ähnlich äußerte sich auch der bekannte Schweizer Psychiater Eugen Bleuler 1896 über den wahren »geborenen Verbrecher«. Er plädierte für die »Auffassung des Verbrechertypus als einer psychologisch definierten Gruppe«, während die Degenerationszeichen »von secundärer Bedeutung« seien.200 Im Jahr 1904 fasste der Heidelberger Psychiater Robert Gaupp den Forschungs- und Diskussionsstand zusammen: »In Deutschland überwiegt wohl im ganzen folgende Auffassung: Unter den zahlreichen rückfälligen und unverbesserlichen Verbrechern [...] befinden sich viele körperlich und geistig Minderwertige [...], die zwar nicht moralisch schwachsinnig sind, aber intellektuell und sittlich auf niederer Stufe stehen, unter dem Einfluß mangelhafter Erziehung und widriger Lebensschicksale in die Verbrecherlaufbahn kommen. Zu dieser Gruppe unsozialer und minderwertiger Elemente gehören auch die meisten der ›geborenen Verbrecher‹ Lombrosos; nur ein kleiner Teil hat auf den Namen ›delinquente nato‹ wirklich berechtigten Anspruch.«201

Gaupp hielt die Unterscheidung zwischen milieugeschädigten und geborenen Verbrechern letztlich für unwesentlich, und den Streit zwischen den Lombrosianern und ihren Gegnern führte er auf eine bloß »scheinbare Meinungsdifferenz« zurück, denn: »Das Problem ist ja doch das, ob ein Mensch infolge seiner natürlichen Anlagen in der Welt, in der er leben muß, mit Notwendigkeit von früh auf zum Verbrecher wird, so daß Erziehung, Strafe, geschützte soziale Lage ihn nicht hindern können, unsittliche Handlungen zu begehen.«202 Sprich: wer so beschaffen ist, dass er unter den einmal gegebenen Bedingungen Verbrechen begeht, ist eigentlich ein »geborener Verbrecher«. Hier verbindet sich – wie nicht selten in der deutschen Kultur – anthropologischer Pessimismus mit gesellschaftspolitischem Fatalismus: Weder die Persönlichkeit noch die sozialen Verhältnisse werden als veränderbar verstanden. Ironischerweise bestärkte die Mitberücksichtigung des Umweltfaktors nur das Anlageparadigma, anstatt es zu relativieren. Während Lombrosos Atavismustheorie mit ihren postulierten ›Stigmata‹ leicht zu widerlegen war, handelte es sich bei der Anlage-Umwelt-Formel um ein im Prinzip immunes System. Da die sichtbaren Degenerationszeichen von den deutschen Psychiatern bald als unspezifisch erkannt wurden, geriet der Anlagefaktor zu einer ›unsichtbaren‹ Größe, die gleichwohl im Hintergrund immer mitspielte: Hatte jemand trotz günstiger Lebensbedingungen eine Straftat begangen, musste der Anlagefaktor gewirkt haben. War das Milieu ungünstig, könnten dennoch zusätzlich ›endogene‹ Faktoren den letzten Ausschlag für die Begehung der Tat gegeben haben – schließlich wurde ja nicht jeder in Not geratene Mensch kriminell; außerdem ist der Täter möglicherweise erst durch seine angeborene 199 200 201 202

Ebd., S. 30. Bleuler, Der geborene Verbrecher (Hervorhebung im Original). Gaupp, Lehre vom ›geborenen Verbrecher‹, S. 40 (Hervorhebungen im Original). Ebd., S. 41 (Hervorhebung im Original).

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›Minderwertigkeit‹ in schlechte Verhältnisse geraten. Eine kriminogene Prädisposition war sogar bei nicht straffällig gewordenen Personen denkbar, sofern die Umweltverhältnisse den Durchbruch dieses Hangs verhinderten. Gerade weil der Anlagefaktor nicht greifbar war und sich einer wissenschaftlichen Prüfung entzog, eignete er sich als universelle kriminologische Erklärungskategorie. Auch wenn Lombroso im deutschen Sprachraum nur partiell auf Zustimmung stieß, regte er dennoch mit seinem Werk einen kriminalätiologischen Diskurs an, der wesentlich zur Institutionalisierung der Kriminologie beitrug. Zwischen 1885 und 1911 wurden sieben internationale Kongresse für Kriminalanthropologie abgehalten, auf denen Psychiater und Juristen über die Forschungen der ›positiven Schule‹ Lombrosos und ihre strafrechtlichen und kriminalpolitischen Implikationen debattierten.203 Die Kongresse stellten ein Forum und Netzwerk der Kriminologie dar, lange bevor die ersten Lehrstühle eingerichtet wurden. Die forensische Psychiatrie wurde zu einem wichtigen institutionellen Stützpfeiler der neu entstehenden Wissenschaft. Die ›Kriminalpsychiater‹ betrachteten ihre Klientel fortan nicht mehr ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Zurechnungsfähigkeit; ihr Interesse galt vermehrt den Ursachen des ›kriminellen Hangs‹. Aus dieser Forschungsperspektive ging ein neues Genre der psychiatrischen Fachliteratur hervor, das man als ›Kriminalpsychopathologie‹ bezeichnen kann. Robert Sommer legte im Jahr 1904 ein Buch über »Kriminalpsychologie und Strafrechtliche Psychopathologie«204 vor, mit dem er die diagnostischen Methoden der Psychiatrie für die Erklärung der Verbrechensentstehung fruchtbar machen wollte. Dabei ging es ihm ausdrücklich nicht darum, den mit Unzurechnungsfähigkeit einhergehenden Krankheitsbegriff auszuweiten.205 Einen noch bedeutenderen Beitrag zu einer ›Kriminalpsychopathologie‹ jenseits der Zurechnungsfrage leistete der Psychiater Karl Birnbaum mit seinem Werk »Die psychopathischen Verbrecher«.206 Birnbaum selbst begriff seine Darstellung als »einen ersten Versuch, das gesamte umfangreiche forensische Gebiet der psychopathischen Grenzzustände einmal ganz zu umspannen.«207 Das knapp 600 Seiten umfassende, kasuistisch angelegte Werk aus dem Jahr 1914 lotete die kriminalätiologische Bedeutung der »Grenzzustände zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit« aus, die einst von Koch als ›psychopathische Minderwertigkeiten‹ beschrieben worden waren. Sieben Jahre später folgte eine gestraffte und systematisierte Ausgabe mit dem prägnanten Titel »Kriminalpsycho-

203 204 205 206 207

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Vgl. hierzu Gadebusch Bondio, S. 123ff. Sommer, Kriminalpsychologie. Ebd., S. 3. Birnbaum, Die psychopathischen Verbrecher. Ebd., S. 7.

pathologie«.208 Ein Vergleich dieser kriminalpsychopathologischen Darstellungen mit forensisch-psychiatrischen Handbüchern aus der ›Zeit vor Lombroso‹ zeigt, wie stark sich das Verbrecherbild in den Jahrzehnten zwischen 1880 und 1910 gewandelt hat. Mitte des 19. Jahrhunderts konnte nur ein voll zurechnungsfähiger Mensch als Verbrecher gelten, während ein Geisteskranker per definitionem kein Verbrecher war. Hingegen begriff man zu Beginn des 20. Jahrhunderts kriminelle Handlungen als kausal erklärbare Naturerscheinungen; der degenerierte Psychopath, dessen Handeln als vorwiegend erbbiologisch determiniert galt, wurde zum Sinnbild des Verbrechers schlechthin. Die Bedeutung verhaltensdeterminierender Faktoren wurde höher eingeschätzt; im Gegenzug musste das Kriterium der Verantwortlichkeit als Strafvoraussetzung niedriger gehängt werden – entweder durch eine grundsätzliche Änderung des Strafrechts oder aber durch die Neudefinition von psychischen Störungen ohne Krankheitswert. Freilich ergäbe es ein allzu simples Bild, würde man den Blick nur auf die biologistischen Richtungen der forensischen Psychiatrie und Kriminologie richten. Schließlich hatten die eigene Gutachtererfahrung der Psychiater und die kritische Auseinandersetzung mit Lombroso zu einem Kriminalitätsverständnis geführt, das durch die Anlage-Umwelt-Formel charakterisiert war. Insofern kann es nicht verwundern, dass auch das erste gesamtkriminologische Lehrbuch in deutscher Sprache, das die Erkenntnisse der Kriminalsoziologie und -anthropologie vereinigte, aus der Feder eines Psychiaters stammt: Gustav Aschaffenburg, ein Schüler des großen Klinikers Emil Kraepelin, veröffentlichte im Jahr 1903 sein bahnbrechendes Buch »Das Verbrechen und seine Bekämpfung«.209 In bewusster Analogie zur klinischen Methodik nähert sich der Autor dem Verbrechertum, das er in Anlehnung an Corres auch als »wunde[n] Punkt am sozialen Körper« bezeichnet. Der medizinischen Ätiologie und Symptomatologie entsprächen die Erforschung der Ursachen und der »verschiedenen Formen« der Kriminalität; die Differentialdiagnose decke »sich mit der Frage nach der Einteilung der Verbrecher«, und die Kriminalpolitik schließlich sei das Gegenstück zur Therapie.210 Das Lehrbuch gliedert sich in drei gleichgewichtige Kapitel über die »sozialen« (I.) und »individuellen Ursachen des Verbrechens« (II.) und den »Kampf gegen das Verbrechen« (III.). Zu den »sozialen Ursachen« zählt Aschaffenburg neben Alkohol, sozialer Lage und Beruf auch Faktoren wie die Jahreszeit oder die Rasse. Unter den »individuellen Ursachen« finden sich außer den »körperlichen« und »geistigen Eigenschaften des Verbrechers« u.a. die Kategorien Erziehung, Altersstufen und Familienstand. Somit ist die Gegenüberstellung von 208 Birnbaum, Kriminalpsychopathologie. 209 Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung. 210 Ebd., S. 4f.

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individuellen und sozialen Faktoren keineswegs deckungsgleich mit der Dichotomie von Anlage und Umwelt, die ein Autor mit erbbiologischem Interessenschwerpunkt wohl bevorzugt hätte. Aschaffenburgs Ansatz orientierte sich eher an der durch den Sozialdarwinismus aufgeworfenen Frage nach der Durchsetzungsfähigkeit eines Individuums unter widrigen sozialen Bedingungen. Demnach war es zweckmäßig, zunächst die allgemein vorzufindenden kriminalitätsbegünstigenden Faktoren zu betrachten und erst anschließend die darüber hinausgehenden individuellen Eigenschaften, die letztlich für die Begehung oder Unterlassung einer Straftat entscheidend seien. In der Sicht Aschaffenburgs waren beide Ursachen gleich bedeutsam, ja sogar miteinander verschränkt: »Die sozialen Ursachen geben den Anstoß zum Verbrechen, aber während ein großer Teil der Menschen sich im Gleichgewicht zu halten vermag, erliegt ein anderer bald schneller, bald langsamer. Es bedarf daher einer eingehenden Betrachtung, welche Eigenschaften des Individuums seine soziale Widerstandfähigkeit so weit schwächen, daß es zum Verbrecher wird.«211

An verschiedenen Stellen benennt Aschaffenburg Armut und Alkoholmissbrauch als die bedeutendsten sozialen Ursachen der Kriminalität; da diese Faktoren darüber hinaus negative Auswirkungen auf die Entwicklung der Nachkommen zeitigten, galten sie ihm zugleich auch als Wurzeln des individuellen verbrecherischen Hangs.212 »Das Verbrechen und seine Bekämpfung« wurde zu einem Standardwerk der Kriminologie, nicht zuletzt weil es aus dem Schatten Lombrosos heraustrat und einen mehrdimensionalen Ansatz begründete. Der Verfasser reüssierte auch mit seinem zweiten publizistischen Unternehmen auf dem Gebiet der Kriminologie – der Gründung der »Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform« im Jahr 1904. Als interdisziplinäres Diskussionsforum für Psychiater und Juristen angelegt, entwickelte sich die Zeitschrift zu einem einflussreichen Organ der Strafrechtsreformbewegung. Bereits 1898 hatte Hans Groß das »Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik« ins Leben gerufen. Somit waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts die strukturellen Voraussetzungen für die Verselbstständigung der Kriminologie bereits gegeben, auch wenn die Einrichtung kriminologischer Lehrstühle in Deutschland noch Jahrzehnte auf sich warten ließ.213 Die Entstehungsgeschichte der Kriminologie war zugleich eine Erfolgsgeschichte der Psychiatrie. Die Durchsetzung der naturwissenschaftlich-psychiatrischen Deutungsmuster von Kriminalität hatte freilich – als Nebenwirkung – zur Folge, dass biologistische Klischees zum Gemeingut wurden. So 211 Ebd., S. 100. 212 Ebd., passim, bes. S. 162. 213 Vgl. Kaiser, Kriminologie, S. 70.

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wurde in Maximilian Hardens Publikumszeitschrift »Die Zukunft« die Popularisierung der lombrosianischen Lehre vom »geborenen Verbrecher« betrieben.214 Gerade naturwissenschaftliche Laien gerieten ins Schwärmen angesichts der Verheißung, mit einer auf ›harte‹ wissenschaftliche Erkenntnisse gestützten Kriminalpolitik das Verbrechen künftig besiegen zu können. Die Existenz einer ›Verbrechernatur‹ wurde insbesondere von denjenigen zum Dogma erhoben, die nicht begriffen, dass erst unter Verzicht auf dogmatische Denkweisen gesicherte Erkenntnisse überhaupt gewonnen werden können. Vor diesem Hintergrund konnte zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Art Vulgärkriminologie gedeihen. Einer ihrer rührigsten Vertreter war der Dresdener Staatsanwalt und Hobby-Autor Erich Wulffen (1862–1936). Die Lesefrüchte seiner kriminalpsychiatrischen Bemühungen glaubte er einem breiten Publikum vorstellen zu müssen. Inhaltlich vermischten sich in seinen Veröffentlichungen eigene kriminalistische Erfahrungen, angelesene psychiatrische Wissenschaftserkenntnisse und literaturwissenschaftliche Betrachtungen zu einem Gewirr aus Science und Fiction.215 Auch derartige Veröffentlichungen konnten vom Nimbus der Naturwissenschaft profitieren. Schließlich war es nicht nur die Evidenz der wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern auch – und vor allem – die Wissenschaftsgläubigkeit der Nichtnaturwissenschaftler, der Strafjuristen und Politiker, welche der Kriminologie im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einer großen sozialen Wirkmächtigkeit verhalf. Die Rationalisierung der Verbrechensauffassung wurde von einer szientistischen Weltsicht begleitet und angetrieben, die selbst irrationale Züge trug. Der Wandel des Verbrecherbildes und die durch ihn hervorgerufene Neuausrichtung der Kriminalpolitik lässt sich freilich nicht nur auf ideengeschichtliche und wissenschaftsimmanente Entwicklungen zurückführen; denn die Definitionen von ›Verbrechen‹ und ›Gefährlichkeit‹, ›Unzurechnungsfähigkeit‹ und ›Strafe‹ waren mit handfesten realhistorischen Implikationen verbunden. Nicht zuletzt die praktischen Probleme der Internierung und Behandlung von Verbrechern und ›gemeingefährlichen Irren‹ führten zu einer Neubewertung von Devianz. Sie sind deshalb Gegenstand des folgenden Kapitels.

214 Vgl. Weindling, S. 82f. 215 Vgl. die Veröffentlichungen Wulffens vor dem Ersten Weltkrieg: Gauner- und Verbrechertypen; Gerhart Hauptmann vor dem Forum der Kriminalpsychologie und Psychiatrie; Ibsens Nora vor dem Strafrichter und Psychiater; Kriminalpsychologie und Psychopathologie in Schillers Räubern; Psychologie des Verbrechers; Der Sexualverbrecher; Shakespeares große Verbrecher.

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II. Anstaltspsychiatrie und Strafvollzug 1. ›Irre Verbrecher‹ und ›verbrecherische Irre‹: das Problem der Unterbringung geisteskranker Rechtsbrecher Die Psychiater betrieben nicht nur kriminologische Ursachenforschung; als Anstaltsärzte sahen sie sich auch mit praktischen Problemen der Kriminalpolitik konfrontiert. Gerade zur Zeit des Kaiserreichs stieg die Zahl der Anstaltspatienten mit krimineller Vergangenheit rasant an. Die Betreiber und ärztlichen Leiter der Irrenanstalten hatten nun – eher unfreiwillig – für die zweckmäßige Unterbringung der geisteskranken Rechtsbrecher Sorge zu tragen. Der Problemdruck, der auf der Anstaltspsychiatrie lastete, veranlasste zahlreiche Irrenärzte dazu, sich für eine Reform des Strafrechts zu engagieren. Denn die Überbürdung der Irrenanstalten mit der Verwahrung ›verbrecherischer Elemente‹ resultierte auch aus dem überkommenen Vergeltungsstrafrecht, das die nicht schuldfähigen Täter vom Strafvollzug ausschloss. Die Anstaltspsychiater hatten im Wesentlichen zwei rechtlich unterschiedlich qualifizierte Gruppen von psychisch kranken Rechtsbrechern zu betreuen: ›verbrecherische Irre‹ und ›irre Verbrecher‹. Bei Ersteren handelte es sich um diejenigen Täter, bei denen wegen Unzurechnungsfähigkeit ein Freispruch oder eine Verfahrenseinstellung erfolgt war.1 Im Sinne des Strafgesetzbuchs waren sie ›unschuldig‹ und folglich keine ›Verbrecher‹. Mit der Anerkennung der Unzurechnungsfähigkeit verlor die Justiz jegliches Verfügungsrecht gegenüber den ›verbrecherischen Irren‹. Die Zwangsunterbringung in einer Irrenanstalt war lediglich im Polizeirecht notdürftig geregelt.2 In der Regel ging dieser reine Verwaltungsakt, der für den betroffenen ›Irren‹ weit gravierendere Folgen nach sich ziehen konnte als die Verurteilung zu einer befristeten Freiheitsstrafe, nach folgendem Muster vonstatten: Sobald ein Rechtsbrecher wegen Geisteskrankheit außer Verfolgung gesetzt wurde, verständigte der Staatsanwalt die zuständige Ortspolizeibehörde, d.h. den Amtsvorsteher, Bürgermeister oder Landrat.3 Diese hatte nun zu entscheiden, ob der Täter 1 Vgl. § 51 RStGB und § 203 RStPO. 2 Eine eindeutige gesetzliche Regelung fehlte. Der Internierungsgrund der Gemeingefährlichkeit war in Preußen bis in die Weimarer Zeit nur durch Verordnungen und Erlasse definiert, die sich auf eine Generalklausel des Allgemeinen Landrechts von 1794 bezogen. Vgl. Kuban, S. 29ff., 36ff. u. 59ff. 3 Zur Behördenorganisation der Polizei: Deutsche Verwaltungsgeschichte, S. 703ff.

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wegen seiner ›Gemeingefährlichkeit‹ in eine Irrenanstalt einzuliefern war. Meist wurde der Kreisarzt beauftragt, den Unzurechnungsfähigen im Hinblick auf seine Gefährlichkeit zu begutachten. Bisweilen gab die Verwaltung auch ohne ein solches Gutachten grünes Licht für die Zwangsinternierung. Es genügte bereits ein Vermerk, dass dem Begehren der Staatsanwaltschaft nichts im Wege stehe, um einen unzurechnungsfähigen Rechtsbrecher auf unbestimmte Zeit in einer Irrenanstalt verschwinden zu lassen.4 Die ›irren Verbrecher‹ unterschieden sich von der vorgenannten Gruppe dadurch, dass sie bereits rechtskräftig verurteilt waren. Erst im Strafvollzug hatte man bei ihnen eine Geisteskrankheit diagnostiziert. Nun gab es zwei Möglichkeiten: Der erkrankte Sträfling konnte zur Heilbehandlung in eine Irrenanstalt überführt werden; in diesem Fall wurde die Strafe unterbrochen und der Aufenthalt in der Irrenanstalt nicht auf die Haftdauer angerechnet.5 Sofern keine Aussicht auf Heilung bestand, konnte der ›irre Verbrecher‹ aus dem Strafvollzug entlassen werden; damit verlor die Strafvollstreckungsbehörde ihr Verfügungsrecht, aber auch ihre Versorgungspflicht gegenüber dem Straftäter. Wie auch bei den ›verbrecherischen Irren‹ musste dann die polizeilich festgestellte ›Gemeingefährlichkeit‹ als Internierungsgrund herhalten. Eine gewisse Sonderstellung zwischen beiden Hauptgruppen nahmen diejenigen Angeklagten ein, die per Gerichtsbeschluss zur Prüfung ihrer Zurechnungsfähigkeit für die Dauer von maximal sechs Wochen in einer öffentlichen Irrenanstalt beobachtet werden sollten.6 Da sie (noch) nicht verurteilt waren, galten sie auch nicht als ›irre Verbrecher‹. Doch im Gegensatz zu den exkulpierten ›verbrecherischen Irren‹ befanden sie sich noch im Griff der Justizbehörden. Insgesamt stellten die Kriminellen – auf welchem Weg auch immer sie in die Psychiatrie gerieten (siehe Abbildung 1) – einen nicht unbeträchtlichen Anteil der Anstaltspatienten. Einige Zahlen aus der preußischen Rheinprovinz mögen die Größenordnung verdeutlichen: In einem Schreiben vom 22. September 1903 wies der Landeshauptmann den Oberpräsidenten darauf hin, dass »in den 6 Rheinischen Provinzial-Heil-und Pflegeanstalten am 1. April 1903 nicht weniger als 509 irre Verbrecher (Männer), d.h. 17,8 % des Gesamtbestandes, unter4 So scheint die Ortspolizeibehörde von Münster im Jahr 1913 die ihr zustehende Entscheidungskompetenz als ein bloßes Vetorecht gegenüber der Staatsanwaltschaft verstanden zu haben. Eine entsprechende Bescheinigung vom 25.9.1913 bestand nur aus dem Satz: »Der Aufnahme des geisteskranken Karl Sch. in eine Heilanstalt stehen diesseits Bedenken nicht entgegen.« (ALWL, Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Eickelborn, Aufnahme-Nr. 2575, unfoliiert). 5 Letzteres war in Preußen gängige Praxis, obwohl § 493 RStPO bestimmte, dass »die Dauer des Aufenthalts in der Krankenanstalt in die Strafzeit einzurechnen« sei. Vgl. Aschaffenburg, Die rechtlichen Grundlagen der gerichtlichen Psychiatrie, S. 168f. 6 Vgl. § 81 RStPO.

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Abbildung 1: Unterbringung geisteskranker Rechtsbrecher im Deutschen Reich 1877–1933 (vereinfachtes Modell)

gebracht waren«.7 Freilich hatte der Landeshauptmann als Vertreter des Provinzialverbandes stillschweigend auch die vielen nur zur Beobachtung eingewiesenen Untersuchungsgefangenen den ›irren Verbrechern‹ zugerechnet,8 um den staatlichen Stellen die Dramatik der Situation zu vermitteln. Eine 7 GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Adh. 1, Bd. 9, unfoliiert (Hervorhebungen im Original). 8 Die Verwaltungsberichte der Anstalten, auf denen diese Zahlenangabe beruht, weisen ohne genauere Differenzierung die »unmittelbar aus der Untersuchungs- oder Strafhaft eingelieferten Personen« in einer gemeinsamen Kategorie nach. Vgl. die Anstaltsberichte in: ALVR, PV 1, Nr. 7904 und Nr. 14805.

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differenziertere Statistik existiert für das Jahr 1896.9 So waren am 1. Februar 1896 in den sechs Provinzialanstalten und in elf unter der Aufsicht des Provinzialverbandes stehenden Privat-Irrenanstalten insgesamt 94 ›irre Verbrecher‹ (75 Männer und 19 Frauen) sowie 81 ›verbrecherische Irre‹ (54 Männer und 27 Frauen) untergebracht. Dieselbe Statistik enthält auch eine Auflistung der zuletzt begangenen Straftaten. Vergleicht man die beiden RechtsbrecherGruppen, wird deutlich, dass die ›irren Verbrecher‹ sich keineswegs nur durch ihren formaljuristischen Status von den ›verbrecherischen Irren‹ unterschieden. Das Spektrum der von den ›irren Verbrechern‹ begangenen Straftaten reichte von »Bettelei und Unfug« über »Majestätsbeleidigung« und »Straßenraub« bis hin zum »Raubmord«. Doch nur wenige der 94 geisteskranken Sträflinge entsprachen dem Klischee des unkontrollierten Mörders, Brandstifters oder Kinderschänders, das man heute mit dem Begriff des ›irren Verbrechers‹ assoziiert.10 Vier Täter waren wegen Mordes und jeweils zwei wegen Brandstiftung und »Sittlichkeitsverbrechen mit Kindern« verurteilt worden. Das Gros der ›irren Verbrecher‹ war wegen gewaltloser Eigentumsdelikte wie Diebstahl, Einbruch, Betrug, Unterschlagung (33 Fälle) oder wegen Bettelei, Landstreicherei oder Vagabondage (18 Fälle) in den Strafvollzug geraten. Ein gegensätzliches Erscheinungsbild boten die ›verbrecherischen Irren‹. Von diesen 81 unzurechnungsfähigen Tätern hatten 27 eine »verbrecherische Neigung« zu »Körperverletzungen und Thätlichen Angriffen«, jeweils 16 zu »Sittlichkeitsvergehen« und »Verbrechen gegen das Leben« und zwölf zu »Brandstiftung« unter Beweis gestellt. Einen Hang zu »Eigenthumsvergehen« und zu »Landstreicherei und Bettelei« – den typischen Delikten der ›irren Verbrecher‹ – hatten nur jeweils vier der ›verbrecherischen Irren‹ zu erkennen gegeben.11 Wie erklären sich diese signifikanten Abweichungen in der Häufigkeit der Deliktarten bei ›irren Verbrechern‹ und ›verbrecherischen Irren‹? Das Überwiegen der ›Leidenschaftsverbrechen‹ bei den exkulpierten Tätern steht im Einklang mit der Vorliebe der Justiz, die Irrationalität einer Handlung zum Maßstab für die Unzurechnungsfähigkeit zu machen. Die krasse Häufung der Gewalttäter in der Gruppe der ›verbrecherischen Irren‹ spiegelt darüber hinaus auch die divergierenden Ziele der Anstaltsunterbringung wider. Die konkurrierenden Zwecke der Heilung und der Sicherung waren zwischen den beiden Tätergruppen nämlich unterschiedlich gewichtet. Die psychisch er9 Verhandlungen des 40. Rheinischen Provinzial-Landtags vom 7. bis 18. März 1897, Anlage 6, S. 234ff. 10 Vgl. Blasius, »Einfache Seelenstörung«, S. 96. 11 Verhandlungen des 40. Rheinischen Provinzial-Landtags vom 7. bis 18. März 1897, Anlage 6, S. 244f. Die dort auftauchende leicht missverständliche Spaltenüberschrift »Art der verbrecherischen Neigung« ist dem Wortlaut des Strafgesetzbuchs geschuldet. Die ›verbrecherischen Irren‹ hatten die entsprechende Tat sehr wohl begangen, bloß konnte die Handlung eines Unzurechnungsfähigen laut § 51 RStGB keine »strafbare Handlung«, mithin auch keines der genannten Verbrechen oder Vergehen sein.

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krankten Strafgefangenen wurden in die Irrenanstalt überführt, um dort zu genesen. Bei den ›irren Verbrechern‹ trat insofern die Heilungs- bzw. Pflegebedürftigkeit in den Vordergrund, zumal der ihnen eigentlich zugedachte Aufenthaltsort, das Zuchthaus oder Gefängnis, ohnehin eine größere Ausbruchssicherheit gewährleistete als die Irrenanstalt. Hingegen bildete der Sicherungsaspekt bei den ›verbrecherischen Irren‹ den eigentlichen Grund für die Unterbringung in der psychiatrischen Anstalt. Schließlich hatte das Justizsystem keinerlei Handhabe mehr gegenüber diesen unzurechnungsfähigen Tätern. Nur die Psychiatrie blieb als Ultima Ratio, um die kriminellen Geisteskranken von der Gesellschaft fernzuhalten. Da die ›Gemeingefährlichkeit‹ das rechtliche Kriterium für die Zwangsinternierung der exkulpierten Täter darstellte, kann es nicht verwundern, dass Gewalttäter unter den in der Anstaltsstatistik erfassten ›verbrecherischen Irren‹ überrepräsentiert waren. Dagegen gaben die ›irren Verbrecher‹ im Hinblick auf die Deliktstruktur ein Spiegelbild der Gefängnis- und Zuchthaus-Bevölkerung ab. Wegen ihrer quantitativen Bedeutung wie auch wegen ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen Gefährlichkeit stellten die geisteskranken Rechtsbrecher eine Belastung für die Irrenanstalten dar. Das gilt umso mehr, als der Ausbau der Anstaltskapazitäten während der Zeit des Kaiserreichs mit dem Anstieg der Patientenzahlen ohnehin nicht Schritt hielt. So stieg die Zahl der öffentlichen Irrenanstalten in Preußen zwischen 1875 und 1900 von 46 auf 104; doch die »Verpflegungsfälle« nahmen im gleichen Zeitraum von 14 512 auf 58 554 zu. Mit dieser Vervierfachung der Patientenzahl ging ein Rückgang der Heilungsquote von 8,08 % auf 4,37 % einher (siehe Tabelle 1).12 Offenbar wurden die Irrenanstalten zunehmend als Asyle für kaum heilbare und dauerhaft arbeitsunfähige ›Irre‹ genutzt. Auch die Arzt-Patienten-Relation von ca. 1 : 150 belegt diesen Verwahranstalts-Charakter der öffentlichen Irrenanstalten in Preußen.13 Was waren die Ursachen für die strukturelle Überlastung des Anstaltswesens, die sich trotz des enormen Kapazitätsausbaus immer weiter zuspitzte? Das Bevölkerungswachstum kann nur einen geringen Teil zu dieser Entwicklung beigetragen haben.14 Vielmehr war die Expansion der Anstaltspsychiatrie mit dem säkularen Trend der Erweiterung der kommunalen Daseinsvorsorge 12 Vgl. Grunau, S. 5 u. 40. Die Zahl der in den Privat-Irrenanstalten versorgten Personen stieg gleichzeitig von 4 249 auf 17 788 (ebd., S. 5). 13 Diese Verhältniszahlen beziehen sich auf die Anstalten der – nicht besonders strukturschwachen – Provinz Westfalen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit Beginn des Weltkriegs verschlechterte sich die Relation noch einmal drastisch. Vgl. Kersting, S. 21ff., insbesondere Graphik 4 auf S. 29. 14 Während der Bevölkerungszuwachs sich in Preußen zwischen 1880 und 1910 auf 48 % belief, nahmen die Anstaltsfälle in diesem Zeitraum um 429 % zu. Vgl. Blasius, »Einfache Seelenstörung«, S. 74f. u. 78.

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und der Ausbildung des sozialen Interventionsstaats vermittelt. Die institutionelle und sachliche Verknüpfung von Armenfürsorge und Anstaltspflege ermöglichte diesen »Hospitalisierungsschub« (D. Blasius). Die Unterstützung der Armen zählte in Deutschland traditionell zu den Aufgaben der Gemeinden.15 Häufig erschöpfte sich diese ›Hilfe‹ darin, die unterstützungsbedürftigen Personen in den kommunalen Armen- oder Krankenhäusern zu verwahren. Umgekehrt wurde ein auf Erwerbsarbeit angewiesener ›Irrer‹ spätestens mit der Unterbringung in einer Anstalt zu einem Fall für die Armenunterstützung. Armut und Anstaltspflegebedürftigkeit bedingten sich in diesem System der kommunalen Daseinsvorsorge wechselseitig. Das preußische Verwaltungs- und Sozialfürsorge-System wies freilich noch eine Besonderheit auf, die der Hospitalisierung der Armen zusätzlich Vorschub leistete: Neben den Gemeinden existierten noch die Provinzialverbände, die als kommunale Zusammenschlüsse auf Provinzebene ebenfalls Fürsorgeaufgaben wahrnahmen.16 Letztere waren für diejenigen Aufgaben der kommunalen Selbstverwaltung zuständig, die von einer einzelnen Gemeinde oder einem Kreis kaum zu leisten waren. Auf dem Gebiet der Armenfürsorge oblag den Provinzialverbänden die Unterstützung der ›Landarmen‹ (ohne festen Wohnsitz), während die Fürsorge für die ›Ortsarmen‹ in die Zuständigkeit der Gemeinden fiel. Die Unterhaltung von Irrenanstalten zählte ursprünglich zu den freiwilligen Leistungen der Provinzialverbände. Im Gegensatz zu den kommunalen Verwahrinstitutionen waren die Provinzialanstalten ausdrücklich als Heilanstalten konzipiert.17 Auch ›Ortsarme‹ konnten in ihnen Aufnahme finden, sofern der zuständige Ortsarmenverband, d.h. die Gemeinde, die Kosten übernahm. Die Entscheidung über Aufnahme und Entlassung nach Maßgabe des Heilungserfolgs blieb jedoch der Leitung der Provinzialanstalt vorbehalten. Einen radikalen Bruch mit dieser Praxis bewirkte die Novelle zum Gesetz über den Unterstützungswohnsitz vom 11. Juli 1891.18 Dieses im April 1893 in Kraft getretene Gesetz machte die »Bewahrung, Kur und Pflege der hülfsbedürftigen Geisteskranken« zu einer Pflichtaufgabe der Provinzialverbände. In Folge dieser Regelung verloren die Provinzial-Irrenanstalten ihr Vorrecht, ausschließlich heilbare Patienten aufzunehmen. Noch gravierender wirkte sich allerdings die neue Festlegung der Kostenträgerschaft aus. Der unterstützungspflichtige Ortsarmenverband hatte nur noch ein Drittel der individuellen Verpflegungskosten eines ›Irren‹ aufzubringen, während der Provinzialverband die Generalkosten für Bau und Betrieb der Anstalt und der

15 Vgl. Sachße u. Tennstedt, S. 23ff.; Deutsche Verwaltungsgeschichte, S. 600ff. 16 Vgl. Deutsche Verwaltungsgeschichte, S. 572. 17 Vgl. Blasius, »Einfache Seelenstörung«, S. 65. 18 Hierzu und zum Folgenden: ebd., S. 66ff.; Walter, Fürsorgepflicht und Heilungsanspruch, S. 77ff.; ders., Psychiatrie und Gesellschaft, S. 120ff.; Frie, S. 30ff.

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Kreis, dem der Ortsarmenverband angehörte, die restlichen Verpflegungskosten übernahmen. Für die Gemeinden war somit die »Verführung [...] groß, bei geringsten Anlässen Arme zu ›psychiatrisieren‹«19 und auf diese Weise die Armenpflegekosten auf die Provinz abzuwälzen. Und in der Tat erfuhr der Trend zur Hospitalisierung der Armut nach Inkrafttreten der Novelle eine weitere Beschleunigung.20 Man mag die skizzierte Entwicklung der Anstaltspsychiatrie als »Übergang von einem eher psychiatrisch-medizinischen zum gesellschaftspolitisch-sozialstaatlichen Begründungszusammenhang«21 oder aber als eine vom »Sicherheits- und Ordnungskalkül« geleitete »bürokratische Überformung der Psychiatrie«22 charakterisieren – jedenfalls sahen sich die Anstaltsärzte seit den 1880er Jahren und verstärkt seit 1893 mit Patienten konfrontiert, die ihnen aus außermedizinischen Gründen durch die Bürokratie zugeführt worden waren. Vor diesem Hintergrund musste ihnen die Pflicht zur Verwahrung geisteskranker Rechtsbrecher als ein weiterer Affront gegen das medizinische Selbstverständnis erscheinen. Insbesondere die den Irrenanstalten aufgetragene Unterbringung der ›irren Verbrecher‹ wurde als eine Zumutung empfunden, wie die nachfolgend zitierte Stellungnahme des Rheinischen Provinzialausschusses aus dem Jahr 1897 belegt: »Eine[r] der von jeher und überall am lebhaftesten beklagten Uebelstände der Irrenpflege ist die übliche Behandlung und Unterbringung der irren Verbrecher in den Irrenanstalten. Eine fast unübersehbare Fülle von Broschüren und Abhandlungen geringeren oder größeren Umfanges ist über diesen Gegenstand erschienen und von der Tagesordnung der Versammlungen der Psychiater wie auch Strafanstaltsbeamten ist die Frage seit Jahrzehnten nicht verschwunden. Man ist sich darüber einig, daß die Vermischung von irren Verbrechern: von Mördern, Einbrechern, Straßenräubern u. s. w. mit schuldlosen Kranken eine Inhumanität ersten Ranges gegen die letzteren, eine Beleidigung der Geisteskranken wie der Angehörigen darstelle und in vielen Fällen durch die Nothwendigkeit strengster Vorsichts-

19 Blasius, »Einfache Seelenstörung«, S. 67. 20 Beispielsweise stieg die »Zahl der Patienten [...] in den westfälischen Provinzialheilanstalten von 1545 Personen im Jahre 1890, über 2296 (1900) und 4316 (1910) auf 6012 Personen im Jahre 1915« (Walter, Fürsorgepflicht und Heilungsanspruch, S. 81). Allerdings stellte das Jahr 1893 keine scharfe Zäsur in der Anstaltsstatistik dar, denn auch zuvor war bereits ein exponentieller Anstieg zu verzeichnen (vgl. das Diagramm ebd., S. 80). Die in der heutigen Literatur häufig begegnende Stilisierung des Gesetzes von 1891 zum eigentlichen Auslöser des Anstaltsbooms geht auf die zeitgenössischen Klagen der Provinzialverbände zurück. Diese benutzten die durch die Novelle hervorgerufenen ›fremdverschuldeten‹ Lasten als Argument, um höhere Dotationen einzufordern. So begründete z.B. der Provinzialausschuss auf dem Rheinischen Provinziallandtag 1897 seine Forderungen mit ebendiesem Gesetz (vgl. Verhandlungen des 40. Rheinischen Provinzial-Landtags vom 7. bis 18. März 1897, Anlage 6, S. 150ff.). 21 Walter, Fürsorgepflicht und Heilungsanspruch, S. 96. 22 Blasius, »Einfache Seelenstörung«, S. 81f.

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maßregeln gegen Fluchtversuche die Aufgabe des Krankenhauses in die eines Zuchthauses umwandle.«23

Die Gegenüberstellung von Krankenanstalt und Zuchthaus ist ein Topos, der immer wieder bemüht wurde, wenn es darum ging, die Irrenanstalten von ›verbrecherischen Elementen‹ frei zu halten. Doch es wäre allzu blauäugig, wollte man aus diesem Selbstverständnis der Anstaltsbetreiber einen grundsätzlichen ideologischen Gegensatz zwischen einer um humanitären Fortschritt bemühten provinzialen Selbstverwaltung und einer rückwärtsgewandten, repressiven Staatsbürokratie ableiten. Schließlich teilten auch die Vertreter der Provinzialverbände die Auffassung, dass ›irre Verbrecher‹ dauerhaft unschädlich gemacht werden müssten, – bloß seien die psychiatrischen Krankenhäuser für diesen Zweck nicht geeignet. So verknüpfte der Landeshauptmann der Rheinprovinz seinen scharfen Protest gegen die Tendenz, den Irrenanstalten »Aufgaben polizeilicher Natur« aufzubürden, mit der Forderung, kriminelle Geisteskranke »in besonderen staatlichen Verwahranstalten« dauernd zu internieren.24 Tatsächlich waren Humanität und Repression eng miteinander verflochten. In gewisser Hinsicht waren die ›sanften‹ Repressionstechniken des Irrenwesens sogar eine Errungenschaft des bürgerlichen Fortschrittsgeistes. Das Bestreben der Bürokratie, den Anstalten möglichst viele ›Irre‹ zuzuführen, galt den Zeitgenossen geradezu als »Symptom einer Hebung des kulturellen Niveaus«25, denn »je organisirter und cultivirter, ceteris paribus, die Verwaltung eines Landes ist, desto größer wird sich das Aufnahmebedürfniß in Anstalten herausstellen.«26 Die massenhafte Aufnahme der gefährlichen oder hilfsbedürftigen Geisteskranken in die Anstalten wurde als Fortschritt gegenüber jener Zeit angesehen, »wo man es zuliess, dass diese Unglücklichen sich auf den Strassen umhertrieben, bettelten, allerlei Unfug trieben, Kindern und albernem Volk zur Kurzweil dienten und unbeachtet im Elend verkamen.«27 Gerade im Hinblick auf die Behandlung der kriminellen Geisteskranken, für die der Zuchthausaufenthalt die einzige Alternative zur Irrenanstalt darstellte, dürften die Worte Hermann Grunaus aus dem Jahr 1905 noch heute plausibel erscheinen:

23 Verhandlungen des 40. Rheinischen Provinzial-Landtags vom 7. bis 18. März 1897, Anlage 6, S. 165f. 24 Landeshauptmann der Rheinprovinz an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz, 22.9.1903, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Adh. 1, Bd. 9, unfoliiert. 25 A. Hoche, Geisteskrankheit und Kulturfortschritt (1910), abgedruckt in: Kaiser u.a., Politische Biologie, S. 28. 26 Denkschrift der Anstaltsdirektoren Koster und Vorster zum Ausbau des Irrenwesens in der Provinz Westfalen (1873), abgedruckt in: Küster, S. 308–322, hier S. 310. 27 Grunau, S. 7.

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»Ferner ist als kultureller Fortschritt das zunehmende Bestreben zu erachten, die Gefängnisse und Zuchthäuser frei von Geisteskranken zu halten. Schon bei der Aburteilung vor Gericht wird jetzt gründlicher erwogen, ob der Angeklagte nicht etwa geisteskrank sei und eventuell zur Feststellung seines Geisteszustandes gemäss § 81 der St. P. O. in eine öffentliche Irrenanstalt zu senden sei. Auch unter den schon in Strafhaft befindlichen Personen werden die Geisteskranken jetzt mehr ausgesondert. Es fehlte früher für die hunderte von Gefängnissen und Zuchthäusern an einer genügenden Zahl psychiatrisch geschulter Ärzte, um die inhaftierten ›irren Verbrecher‹ bezw. ›verbrecherischen Irren‹ zu erkennen, und vor allem auch an Einrichtungen, um die Beobachtung der als geisteskrank Verdächtigen zu ermöglichen.«28

Die therapeutische Pflicht gegenüber den psychisch kranken Rechtsbrechern war im Kaiserreich ebenso wenig umstritten wie die Notwendigkeit, dieselben ausbruchsicher unterzubringen. Strittig war allein die Frage, welche Institution diese unliebsamen Personen aufzunehmen hatte und wem letztlich die Verpflegungskosten in Rechnung gestellt werden sollten. Inwiefern diese Finanzund Kompetenz-Streitigkeiten zwischen Staat, Provinzialverbänden und Gemeinden das Sicherheits-Problem verschärften und weshalb die Unterbringung der ›Gemeingefährlichen‹ zum Politikum werden konnte, soll im Folgenden deutlich gemacht werden. Die aus den Verwaltungsakten der Provinzialverbände wie auch der staatlichen Behörden ersichtlichen Konfliktfälle offenbaren die strukturellen Defizite der Anstaltsunterbringung von geisteskranken Rechtsbrechern im Kaiserreich. Kompetenzwirrwarr und widersprüchliche Rechtsnormen sorgten dafür, dass der Behörden-Streit nicht nur auf zweifelhafte Sonderfälle beschränkt blieb. Ein großer Teil dieser Streitfälle resultierte daraus, dass die Irrenanstalten sich der ›irren Verbrecher‹ entledigen wollten, da diese den geordneten Anstaltsbetrieb störten. So erläuterte die Direktion der Rheinischen Provinzial-Irrenanstalt zu Andernach im Jahr 1892 dem Landesdirektor die aus der Unterbringung dieser Patientengruppe erwachsenden Probleme: »Diese Schwierigkeit [der Unterbringung von Untersuchungsgefangenen, d. Vf.] würde aber sehr viel geringer sein, wenn die Anstalt nicht ohne dies schon von einer ganzen Zahl geisteskranker Verbrecher in Anspruch genommen wäre, die vielleicht mit einer Ausnahme der Anstaltspflege dauernd verfallen sind, und also dauernd die Kräfte der Anstalt in ganz besonderem Maße in Anspruch nehmen, ohne daß damit, da sie unheilbar sind, mehr geleistet wird, als daß sie für die menschliche Gesellschaft unschädlich gemacht werden. Zu diesem Zwecke bedürfen sie besonderer Aufsicht und besonderer Vorsichtsmaßregeln und fallen so entweder der Wach- oder der Isolir (Tob) abtheilung anheim.«29

28 Ebd., S. 6. 29 Direktor der Provinzial-Irrenanstalt Andernach an den Landesdirektor, 4.2.1892, ALVR, PV 1, Nr. 79927, Bl. 62ff.

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Die Gefährlichkeit der ›irren Verbrecher‹ und der hohe Bewachungsaufwand, der einer dem ›No Restraint‹-Prinzip verpflichteten Heilanstalt wesensfremd sei, waren die immer wieder angeführten Argumente der Irrenärzte. Als im April 1904 der Direktor der elsässischen Anstalt Stephansfeld-Hördt Johannes Vorster bei der Morgenvisite von einem ›irren Verbrecher‹ erstochen wurde,30 war das ein weiterer Anlass, die Entfernung der Straftäter aus der Irrenanstalt zu verlangen. Bereits zuvor waren von den Provinzial-Irrenanstalten Versuche unternommen worden, die Aufnahme von Häftlingen zu verweigern. Beispielsweise musste im Jahr 1891 der Oberpräsident der Provinz Westfalen seinen rheinischen Amtskollegen um die »einstweilige Unterbringung« eines ›irren Verbrechers‹ ersuchen, da wegen des »Zustand[s] vollständiger Überfüllung, in welchem sich die sämmtlichen Provinzial-Irren-Anstalten der hiesigen Provinz befinden«, keine westfälische Anstalt sich bereit fand, diesen Gefangenen aufzunehmen.31 Bisweilen wurde sogar die Aufnahmepflicht grundsätzlich bestritten. So hatte der Landeshauptmann des westfälischen Provinzialverbandes die Anstaltsdirektoren angewiesen, ab dem 1. Oktober 1897 Untersuchungs- und Strafgefangene nicht mehr aufzunehmen, da der Staat für deren Pflege verantwortlich sei.32 Doch letztlich war an der rechtlichen Verpflichtung, die Gefangenen aufzunehmen, nicht zu rütteln.33 Da die Direktoren der Irrenanstalten kaum Einfluss auf die Einlieferung der geisteskranken Rechtsbrecher hatten, blieb ihnen nur das Entlassungsverfahren als Regulativ. Die rasche ›Heilung‹ und Entlassung der ›irren Verbrecher‹ und ›verbrecherischen Irren‹ war ein gangbarer Weg, um den Anteil der Kriminellen an der Gesamtpatientenzahl gering zu halten. In der Praxis führte dies dazu, dass diese lästigen Patienten nach kurzer Verweildauer wieder in den Strafvollzug oder in die Freiheit gelangten. Mitunter wanderten ›irre Verbrecher‹ wie bei einem Pingpong-Spiel zwischen Irren- und Strafanstalten hin und her. Einen krassen Beispielfall dieser Art findet man unter den Patientenakten der Irrenanstalt Eickelborn. Dem Gefangenen Karl Sch. wurde im Jahr 1913 von dem Münsteraner Gefängnisarzt Többen eine Geisteskrankheit be30 Schäfer, Johannes Vorster Nekrolog. Über den Täter heißt es dort: »In Stephansfeld war seit mehreren Jahren der wegen Gewalttätigkeit wiederholt bestrafte U. untergebracht, bei welchem sich unter dem Einfluß des Strafvollzugs ein Verfolgungswahn allgemein querulierender Art ohne Sinnestäuschungen ausgebildet hatte. Es war einer jener lästigen, selbstbewußten, reizbaren Kranken, deren leidlich gute Intelligenz sich ganz auf die Geltendmachung ihres stets gekränkten Ichs zu konzentrieren scheint, und die zur Befriedigung ihrer Absichten alles für erlaubt halten. Er war schon wiederholt aus der Anstalt entwichen, er drohte stets auf die zynischste Weise und war der Gegenstand der beständigen Sorge der Wärter und Ärzte.« (S. 615). 31 Oberpräsident der Provinz Westfalen an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz, 28.9.1891, ALVR, PV 1, Nr. 7927, Bl. 59. 32 Vgl. PrMdI an PrJM, 8.7.1897, GStA PK, HA I, Rep. 84 a, Nr. 1008, Bl. 170a. 33 Vgl. PrMdI an die Oberpräsidenten, 30.5.1899, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Bd. 4, unfoliiert.

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scheinigt. Sch. wurde daraufhin aus der Haft entlassen und in die Irrenanstalt Eickelborn überführt. Das hierfür ausschlaggebende ärztliche Gutachten lässt die eigentlichen Beweggründe durchscheinen: »Der Gefangene [war] der lästigste und im täglichen Umgang unangenehmste Kranke, den ich jemals erlebt habe. Er schrieb zahllose Eingaben an alle möglichen Behörden und Instanzen, chikanierte und verdächtigte in unerhörter Weise das Personal, beschwerte sich über seine früheren Ärzte und den Unterzeichneten, verlangte überall Ausnahmen und Bevorzugungen.« 34 Aus der Krankenakte geht auch hervor, dass Karl Sch. bereits zuvor eine Odyssee durch zahlreiche Haftanstalten und mindestens sieben Irrenanstalten durchlitten hatte. Kurz nach Haftantritt wurde er stets als Geisteskranker in eine Irrenanstalt überführt; dort angekommen, galt er alsbald wieder als gesund. Auch die Leitung der Irrenanstalt Eickelborn, in die er nun gelangt war, sorgte dafür, dass dieser querulierende Patient nach sechs Wochen wieder die Anstalt verließ. Der bürokratische Kleinkrieg um die Unterbringung der kriminellen Geisteskranken erklärt sich freilich nicht nur aus dem Bemühen der Direktoren, die Anstaltsordnung aufrechtzuerhalten. Nicht zu vernachlässigen ist schließlich auch die finanzielle Dimension dieser Konflikte. Da der Strafvollzug zu den staatlichen Aufgaben zählte, war die Justizverwaltung eigentlich verpflichtet, auch für die Versorgung der erkrankten Strafgefangenen finanziell aufzukommen. Doch die preußischen »Staatsbehörden [hatten] die Gepflogenheit [...], die ›irren Verbrecher‹ unter dem üblichen Vorbehalt ›der Wiedereinziehung im Falle der Genesung‹ aus der Strafhaft zu ›entlassen‹, worauf dieselben dann auf Antrag der Ortspolizeibehörde unweigerlich von der Provinzial-Irrenanstalt aufgenommen werden müssen.«35 Mit dem Verlust des Gefangenen-Status fielen die ›irren Verbrecher‹ der Armenpflege anheim, so dass der Provinzialverband bzw. die Kommune nicht nur für die sichere Unterbringung zu sorgen hatte, sondern auch noch die Pflegekosten übernehmen musste.36 Es kann nicht verwundern, dass die Vertreter der Provinzen gegen 34 Vgl. ALWL, Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Eickelborn, Aufnahme-Nr. 2575, unfoliiert. 35 Verhandlungen des 40. Rheinischen Provinzial-Landtags vom 7. bis 18. März 1897, Anlage 6, S. 166. Diese verwaltungsrechtlich zweifelhafte Praxis der preußischen Strafvollzugsbehörden wurde häufig geschildert und auch kritisiert. Vgl. z.B. Erlenmeyer, S. 159. 36 Ein Runderlass des Innenministers vom 3.8.1886 begründete die geforderte rasche Entlassung aus dem Strafvollzug ganz unverhohlen mit dem Kostenproblem: »Im Hinblick auf die bedeutenden Kosten und die vielfachen Schwierigkeiten, welche der Strafanstaltsverwaltung durch die Heilungsversuche und durch die Detention von geisteskranken Gefangenen während der Dauer des oft sehr langwierigen Entmündigungsverfahrens erwachsen, ist es wünschenswerth, die Entlassung von solchen Gefangenen aus der Haft nicht von dem Abschluß des durch §§. 593ff. der Civilprozeßordnung vorgeschriebenen Verfahrens abhängig zu machen [...].« (Ministerial-Blatt für die gesammte innere Verwaltung in den Königlich Preußischen Staaten 1886, S. 185).

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diese Praxis protestierten oder zumindest verlangten, dass die »Kostenerstattung aus Justizfonds anstandslos zugesichert« werden solle.37 Mindestens ebenso umstritten war die Finanzierung des Anstaltsaufenthalts der ›verbrecherischen Irren‹. Bei ihnen überlappten sich zwei unterschiedlich geartete Versorgungspflichten: Die Geisteskrankheit (in Verbindung mit Armut) begründete die Verpflichtung der Armenverbände; die Verwahrung wegen ›Gemeingefährlichkeit‹ ging als eine sicherheitspolizeiliche Aufgabe hingegen zu Lasten der Staatskasse. Da ein ›verbrecherischer Irrer‹ mit jeweils gleicher Berechtigung als Armenpflegefall oder als ›Gemeingefährlicher‹ betrachtet werden konnte, waren finanzielle Konflikte programmiert. Die Provinzial-Irrenanstalten waren tendenziell bemüht, die eingelieferten ›verbrecherischen Irren‹ für gesund zu erklären.38 Damit wurden die Polizeibehörden genötigt, entweder die ›Gemeingefährlichkeit‹ als vorwiegenden Internierungsgrund anzuerkennen oder aber der Entlassung zuzustimmen. In beiden Fällen entfiel die armenrechtliche Versorgungspflicht der Provinz. Auch die Staatsbehörden bedienten sich ihrerseits unlauterer Methoden, um die eigenen finanziellen Interessen durchzusetzen. So gibt ein Briefwechsel zwischen zwei staatlichen Stellen Auskunft über die behördeninterne Handhabung des Unterbringungsrechts: Auf die Anfrage des Regierungspräsidenten in Hannover, wie die sichere Unterbringung eines unzurechnungsfähigen, aber nun angeblich nicht mehr geisteskranken Exhibitionisten zu erreichen sei, gab das preußische Innenministerium die Auskunft: Zunächst sei die Armenpflegebedürftigkeit zu prüfen, und nur wenn die armenrechtliche Unterbringung nicht möglich sei, solle eine Einweisung durch die Ortspolizeibehörde veranlasst werden.39 37 Vgl. Landesdirektor der Provinz Brandenburg an PrMdI, 9.12.1901, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Bd. 5, unfoliiert. Bemerkenswert ist, dass der Chef der Provinzialverwaltung den Sicherheitsaspekt als Argument für diese finanzielle Forderung bemühte: So sollte die Justiz von der formellen Entlassung aus dem Strafvollzug absehen und die Kosten für die Unterbringung der ›irren Verbrecher‹ übernehmen, »damit nicht die ohnehin schon stark verbreitete Meinung, daß Geisteskrankheit von der verwirkten Strafe befreie, fortgesetzt neue Nahrung erhält und, wie es hier z.B. vorgekommen ist, ein zum Tode verurtheilter und zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigter Mörder schließlich nach Wegfall der Anstaltspflegebedürftigkeit die volle Freiheit wiedererlangt.« 38 Für diese Neigung der provinzialen Institutionen, die ›Gemeingefährlichkeit‹ stärker zu betonen als die Krankheit, existieren aus naheliegenden Gründen nur indirekte Belege. So verlangte z.B. der Landeshauptmann der Provinz Westfalen, dass »behufs Prüfung der Frage, ob im Einzelfalle eine gesetzliche Verpflichtung des diesseitigen Landarmenverbandes zur Uebernahme der Fürsorge besteht« die Gutachten der Strafanstaltsärzte neben der Krankheit auch die Gefährlichkeit der in die Irrenanstalten überführten Kriminellen berücksichtigen sollten. Vgl. Landeshauptmann der Provinz Westfalen an den Landeshauptmann der Rheinprovinz, 15.4.1904, ALVR, PV 1, Nr. 7927, Bl. 296. 39 Vgl. Regierungspräsident Hannover an PrMdI, 4.3.1901 und das Antwortschreiben vom 26.3.1901, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Adh. 1, Bd. 8, unfoliiert.

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Alle diese Verwaltungsprobleme hätten kaum die Ebene der Politik berührt, wenn aus ihnen nicht ein als bedrohlich empfundenes Sicherheitsproblem hervorgegangen wäre. Dadurch, dass alle an der Unterbringung der geisteskranken Rechtsbrecher beteiligten Institutionen sich dagegen sperrten, diese unliebsamen Personen zu versorgen, taten sich gerade an den Nahtstellen des Internierungssystems Schlupflöcher auf. Eine Möglichkeit, die Freiheit wiederzuerlangen, bot sich einem ›verbrecherischen Irren‹ dann, wenn das Gericht ihn als unzurechnungsfähig freisprach und die Ortspolizeibehörde ihn nicht als einen verwahrungsbedürftigen ›Gemeingefährlichen‹ einstufte: »Der Betreffende wird dann entlassen, und das Rechtsbewußtsein des Volkes nimmt mehr oder weniger gerechten Anstoß daran, daß der Verbrecher sich der Nutznießung der angenehmen Folgen seiner Geisteskrankheit erfreut, ohne der unangenehmen teilhaftig zu werden.«40 Die Ortspolizeibehörde konnte unabhängig von der Justiz entscheiden und folglich auch diejenigen Täter in die Freiheit entlassen, die der Richter lieber in der Irrenanstalt gesehen hätte. Zwar unterstanden sämtliche Gliederungen der Polizei den Weisungen des preußischen Innenministeriums, doch institutionell war die Ortspolizeibehörde mit der Kommunalverwaltung und dem Ortsarmenverband identisch. Ihren Ermessensspielraum dürfte sie deshalb im Zweifelsfall eher im Interesse der Gemeinde genutzt haben, das sich nicht unbedingt mit den sicherheitspolizeilichen Interessen des Staates deckte. Als eine weitere Sicherheitslücke entpuppte sich das Recht der Provinzialverwaltung, über den Zeitpunkt der Entlassung zu entscheiden. Maßgeblich sollte hierbei eigentlich der Heilungserfolg sein; doch die Sorge um die Aufrechterhaltung der Anstaltsordnung und die Berücksichtigung finanzieller Interessen der Provinz dürfte in dem einen oder anderen Fall zu einer allzu optimistischen Einschätzung des Gesundheitszustands geführt haben. Aus den gleichen Gründen wurden anscheinend auch nicht immer hinreichende Vorkehrungen gegen Ausbruchversuche unternommen. Jedenfalls verrät eine Stellungnahme des Direktors der Irrenanstalt Eichberg anlässlich der Entweichung eines ›irren Verbrechers‹ nicht nur ein ausgeprägtes ärztliches Standesbewusstsein, sondern auch eine gewisse Nonchalance: So brachte er zum Ausdruck, »daß der Hauptzweck der Irrenanstalt in Heilung und Besserung der Kranken bestehe und daß der Neigung der Einzelnen zu entfliehen nicht mit der nöthigen Sicherheit begegnet werden könne wie in Strafanstalten und Zuchthäusern, wo trotzdem solche Fälle noch häufig genug vorkämen. [...] Müssen jene [›irre Verbrecher‹, d. Vf.] überhaupt in der Irren-Anstalt Aufnahme und Behandlung finden, so bleibt dem Staate anscheinend nichts anderes übrig als sie auch wie Kranke behandeln zu lassen, also entsprechend ihren Krankheitsäußerungen. [...] Außerdem bin ich der Meinung, 40 Mönkemöller, S. 691f.

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daß die Einrichtung von besonderen Abtheilungen für irre Verbrecher an den Provinzial-Irren-Anstalten einen ungeheuerlichen Rückschritt bedeuten würde.«41

Solange selbst die Anstaltsdirektoren besondere Sicherheitsvorkehrungen als »Rückschritt« betrachteten, war es ein Leichtes für einen ›gemeingefährlichen‹ Geisteskranken, die Anstaltsmauern zu überwinden. Sicherlich ist zu bezweifeln, dass alle ›irren Verbrecher‹ und ›verbrecherischen Irren‹ tatsächlich ›gefährlich‹ im eigentlichen Sinne des Wortes waren. Die Bedrohung der öffentlichen Sicherheit wurde von den Zeitgenossen jedenfalls hoch veranschlagt. Selbst in liberalen Kreisen wurde ein entschiedeneres Vorgehen des Staates gegen die ›Gemeingefährlichen‹ gefordert, so z. B. von dem freisinnigen Abgeordneten Peltasohn vor dem Preußischen Abgeordnetenhaus am 19. Februar 1907: »Die tägliche Erfahrung lehrt, daß Verbrecher, denen durch Gutachten und durch freisprechende Urteile attestiert wird, daß sie nicht bestraft werden können, darin einen Freibrief sehen, der es ihnen erlaubt, Verbrechen zu verüben, und daß sie in der Tat im höchsten Grade gemeingefährlich wirken. [...] Man darf wohl nicht [...] hier die medizinische Fürsorge in den Vordergrund schieben, sondern es muß der Schutz des Publikums in erster Linie hervorgehoben werden, und es handelt sich wesentlich darum, diesen Schutz auch zu gewähren. Es sind nicht medizinische Erwägungen, sondern polizeiliche Maßregeln, die die Oberhand gewinnen müssen. Der Staat darf nicht davor zurückschrecken, dafür auch Mittel aufzuwenden, und darf es nicht den Provinzen überlassen, in dieser Beziehung zu sorgen.«42

Mag das Bedrohungsempfinden auch unangemessen gewesen sein, enthält die Kritik an der Unterbringungspraxis doch einen wahren Kern. Denn das komplexe Gefüge der staatlichen, provinzialen und kommunalen Verwahrinstitutionen und die verwirrende Rechtssituation konnten eine sichere Unterbringung der – vermeintlich oder tatsächlich – ›gemeingefährlichen Irren‹ nicht gewährleisten. Dieses Sicherheitsdefizit resultierte letztlich daraus, dass die Entscheidungskompetenz hinsichtlich der Unterbringung auf drei Instanzen verteilt war: Die Strafjustiz entschied darüber, ob ein Täter in den Strafvollzug gelangte oder wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen wurde. Die Ortspolizeibehörde traf die Entscheidung, ob ein unzurechnungsfähiger Täter wegen ›Gemeingefährlichkeit‹ in eine Irrenanstalt eingewiesen wurde oder in Freiheit blieb. Die Anstaltsärzte bestimmten, wann ein Patient als geheilt entlassen wurde. Jede dieser drei Instanzen hatte die Möglichkeit, sich durch den eigenen Beschluss ihrer Unterbringungspflicht zu entziehen.

41 Direktion der Heil- und Pflegeanstalt Eichberg an den Landesdirektor der Provinz Hessen-Nassau, 20.12.1898, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Adh. 1, Bd. 6, unfoliiert. 42 GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Bd. 7, unfoliiert.

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2. Administrative Lösungsversuche: Kompetenzklärung per Erlass Die Probleme der Unterbringung geisteskranker Rechtsbrecher blieben der preußischen Ministerialbürokratie nicht verborgen. Mittels zahlreicher Erlasse und Verfügungen suchten die Minister – stets den Sicherheitsaspekt vor Augen – die Nahtstellen des Unterbringungssystems zu flicken. Dazu war die Kooperation verschiedener Ressorts notwendig.43 Dem Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten oblag – bis zur Übergabe der Medizinalabteilung an das Innenministerium im Jahr 1910 – die Aufsicht über das Irrenwesen. Zum Kompetenzbereich des Innenministers gehörte neben dem Polizeiwesen auch ein wesentlicher Teil des Strafvollzugs. Erst im Jahr 1918 wurde der Dualismus der Gefängnisverwaltung überwunden, indem sämtliche Gefängnisse und Zuchthäuser der Justizverwaltung unterstellt wurden.44 Die Aufsicht über die Strafrechtspflege und die Gerichtsgefängnisse zählte bereits zuvor zu den Kernaufgaben des Justizressorts. Somit waren insgesamt drei Fachminister in die Auseinandersetzungen um die Internierung der ›irren Verbrecher‹ und ›verbrecherischen Irren‹ involviert. Eine weitere Erschwernis der Aufsicht erwuchs aus der Doppelstruktur der preußischen Mittelbehörden: Die Kompetenzen zwischen den – parallel geschalteten – Regierungspräsidenten auf Bezirksebene und Oberpräsidenten auf Provinzebene waren nicht genau abgesteckt. Ungeachtet dieses komplizierten Verwaltungsaufbaus vermochten es die staatlichen Behörden, eine gemeinsame Politik bei der Behandlung geisteskranker Rechtsbrecher zu verfolgen. Denn die Hauptkonfliktlinie verlief nicht zwischen den Ressorts, sondern zwischen Staat und Provinzialverbänden. Bereits im Jahr 1882 verständigten sich das Kultus- und das Innenministerium auf ein Verfahren, das die Kommunikation zwischen Justizbehörden und Polizei verbessern sollte. Den Anstoß hierzu gab die Entlassung eines wegen Geisteskrankheit freigesprochenen Mörders aus dem Untersuchungsgefängnis Moabit. Die Wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen, das Beratungsorgan des Kultusministers, sah sich durch diesen Fall veranlasst anzuregen, dass »die Beamten der Staatsanwaltschaft [...] für befugt und verpflichtet zu erachten sind, so gemeingefährliche Personen, welche aus der Untersuchungs- oder Strafhaft vom Gericht entlassen werden müssen, der Polizeibehörde des Ortes zu überweisen, damit diese die im Interesse der öffentlichen Sicherheit erforderlichen Maßregeln [...] treffe«.45 Der Innen43 Zur Organisation der preußischen Verwaltung vgl. Deutsche Verwaltungsgeschichte, S. 678ff. 44 Ebd., S. 463f. 45 Äußerung der Wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen vom 21.6.1882 (Anlage zum Schreiben des PrMdgUMA an den PrMdI, 6.7.1882), GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Bd. 1, unfoliiert.

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minister entsprach dieser Anregung, die auch vom Kultusminister unterstützt wurde, mit einer Allgemeinen Verfügung vom 25. Oktober 1882. Nun hatte bei anstehender »Entlassung geisteskranker Gefangenen« der »Gefängnißvorsteher den Gefangenen der Polizeibehörde des Entlassungsortes zu überweisen«.46 Obwohl die Ortspolizeibehörde weiterhin die Möglichkeit hatte, von der Zwangseinweisung in eine Irrenanstalt abzusehen, wurde es für ›irre Verbrecher‹ und ›verbrecherische Irre‹ schwieriger, in die Freiheit zu gelangen. Die preußische Ministerialbürokratie unternahm zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Versuch, auch die Entlassungspraxis der Irrenanstalten zu steuern. Eine gemeinsame Verfügung des Kultus- und des Innenministers vom 15. Juni 190147 räumte der Polizeibehörde ein Mitspracherecht bei der »Entlassung gefährlicher Geisteskranker aus den öffentlichen Irrenanstalten« ein, da das bisher geübte Verfahren »den Interessen der öffentlichen Sicherheit nicht« genüge. Geisteskranke Rechtsbrecher und sonstige ›gemeingefährliche Irre‹ durften von nun an »aus den öffentlichen Irrenanstalten nicht entlassen werden, bevor dem Landrath, in Stadtkreisen der Ortspolizeibehörde des künftigen Aufenthaltsortes [...] Gelegenheit zur Aeußerung gegeben ist.« Dieser Erlass ist als Kompromiss aus langwierigen Verhandlungen zwischen den drei beteiligten Ministerien hervorgegangen.48 Ursprünglich hatten der Justiz- und der Innenminister ein Vetorecht für die »Centralinstanzen« gefordert, doch das Kultusministerium weigerte sich, die Entscheidung über die Entlassung den Justiz- und Polizeibehörden zu überantworten; denn angesichts der Überfüllung der Irrenanstalten befürchtete man, dass eine »unbedingte Bindung der Entlassung aller polizeilich Zugeführten an die Zustimmung der Behörde [...] öfter eine nicht unbeträchtliche Verlängerung der Anstaltsbehandlung zur Folge haben« könnte.49 Da die Anstaltsleitung nicht an das Votum der Polizeibehörde gebunden war, erwies sich der Erlass aus dem Jahr 1901 – gemessen an den Erwartungen des Justiz- und des Innenministers – als ein Fehlschlag. Auch einige nachträgliche Verschärfungen50 änderten nichts an der Tatsache, dass immer wieder 46 Allgemeine Verfügung vom 25.10.1882, Justiz-Ministerial-Blatt für die preußische Gesetzgebung und Rechtspflege 1882, S. 325. 47 Ministerial-Blatt für die gesammte innere Verwaltung in den Königlich Preußischen Staaten 1901, S. 197. 48 Vgl. die Schriftwechsel in: GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Bd. 4. 49 PrMdgUMA an PrJM und PrMdI, 19.11.1900, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Bd. 4, unfoliiert. Der Geheime Medizinalrat Karl Moeli – ein erfahrener Anstaltspsychiater – hatte sich zuvor als Vertreter des Kultusministeriums bei einer kommissarischen Beratung »mit Entschiedenheit gegen eine Mitwirkung der Centralbehörden« ausgesprochen und stattdessen eine bloße Konsultationspflicht vorgeschlagen. Vgl. die Protokolle der kommissarischen Beratung vom 20.11.1899, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Bd. 4, unfoliiert und Rep. 84 a, Nr. 1009, Bl. 150ff. 50 Eine gemeinsame Verfügung des Kultus- und des Innenministers vom 16.12.1901 bestimmte, dass die Polizeibehörde ihrerseits eine Stellungnahme der Staatsanwaltschaft einzuho-

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»geisteskranke Verbrecher trotz polizeilicherseits erhobener Bedenken aus Provinzial-Irrenanstalten zur Entlassung« gelangten.51 Vielleicht war es gerade die inflationäre und undifferenzierte Äußerung solcher polizeilicher Bedenken, die den Einspruch in den Augen der Anstaltsdirektoren wertlos erscheinen ließ. Jedenfalls berichtete ein schlesischer Anstaltspsychiater, »daß die Polizeibehörde ausnahmslos Einspruch erhob«, über den sich der Provinzialverband mit gleicher Regelmäßigkeit hinwegsetze. Dennoch sei es verfehlt, »das ganze vorgeschriebene Entlassungsverfahren als illusorisch anzusehen«, denn immerhin steigere der »polizeiliche Einspruch [...] das Bewußtsein der Verantwortlichkeit bei den Ärzten«.52 Gerade das war die eigentliche Wirkung des Erlasses: Der Schutz der öffentlichen Sicherheit wurde als Unterbringungszweck im Verwaltungsrecht verankert – und in den Köpfen der Zeitgenossen verinnerlicht. Diese ausdrückliche Festschreibung des Sicherheitsgedankens konnte freilich von den Provinzialverbänden als Argument im Streit um die Unterbringungskosten instrumentalisiert werden. So betonte der Landeshauptmann der Rheinprovinz in einem Schreiben an den Oberpräsidenten vom 22. September 1903 die »Divergenz der polizeilichen und armenrechtlichen Aufgaben« und bestritt die Zuständigkeit des Provinzialverbandes für die reine »Unschädlichmachung«: »Gestaltet sich der Gesundheitszustand des Patienten derartig, dass vom ärztlichen Standpunkte und im persönlichen Gesundheitsinteresse eine längere Behandlung und Festhaltung in einer Irrenanstalt nicht mehr erforderlich, ja als schädlich anzusehen ist, so entfällt der Rechtsgrund für eine fernere Detinierung in der Irrenanstalt; es tritt der Gesichtspunkt der armenrechtlichen Hülfsbedürftigkeit, welcher die rechtliche Grundlage der Irrenfürsorgepflicht der Landarmenverbände ist, hinter den Gesichtspunkt des rein sicherheitspolizeilichen Interesses der Unschädlichmachung behufs Verhütung etwa möglicher weiterer Konflikte mit der Gesellschaftsordnung zurück.«53

Einen Monat später sollte sich die Situation noch weiter zuspitzen. Am 24. Oktober 1903 bestätigte das Bundesamt für das Heimatwesen, die Schiedsstelle für Konflikte zwischen Kommunen und Provinzialverbänden, »daß die

len und in strittigen Fällen oder »Fällen von besonderer Wichtigkeit und Schwierigkeit« die »Entscheidung des Regierungspräsidenten nachzusuchen« habe (Ministerial-Blatt für die gesammte innere Verwaltung in den Königlich Preußischen Staaten 1902, S. 18). Ein ergänzender gemeinsamer Erlass vom 20.5.1904 legte fest, dass auch in minder wichtigen Fällen der Regierungspräsident eingeschaltet werden sollte (GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Bd. 5, unfoliiert; auch abgedruckt in: MschrKrim, Bd. 1, 1904/05, S. 434). 51 Dies beklagte der Oberpräsident der Rheinprovinz in einem Schreiben an den Landeshauptmann vom 18.8.1910, ALVR, PV 1, Nr. 7928, Bl. 273. 52 Kunowski, S. 133ff. 53 GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Adh. 1, Bd. 9, unfoliiert (Hervorhebungen im Original).

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Landarmen-Verbände nicht zur Unterbringung solcher Geisteskranken verpflichtet sind, welche nur im polizeilichen Interesse, nicht in ihrem eigenen der Übernahme in eine Irrenanstalt bedürfen«, worauf »sich eine große Anzahl der Landarmen-Verbände [berief], um ihre Verpflichtung zur Übernahme geisteskranker Verbrecher abzulehnen«.54 Aus Sicht der preußischen Staatsbürokratie erwies sich der Erlass vom 15. Juni 1901 als kontraproduktiv. Er verschärfte die Spannung zwischen Armenverbänden und staatlichen Sicherheitsbehörden, ohne dass die Letzteren wirksamen Einfluss auf die Entlassungspraxis nehmen konnten. Angesichts dieser Situation beraumte der Innenminister im Februar 1904 eine Krisensitzung an. Das Einladungsschreiben an das Justiz-, Kultus- und Finanzministerium enthält eine durchaus scharfsichtige Zusammenfassung der zu behebenden Missstände: »Die Provinzial- und Landarmenverbände [...] sind teils nicht imstande, eine größere Zahl der in Rede stehenden Irren in einer dem öffentlichen Sicherheitsinteresse entsprechenden Weise unterzubringen [...], teils suchen sie sich unter Anführung von Scheingründen und unter Berufung auf die Rechtsprechung oberster Verwaltungsgerichtshöfe, insbesondere des Bundesamtes für das Heimatswesen jener Verpflichtung zu entziehen. [...] Ein Teil der Provinzialverwaltungen ist auch tatsächlich dazu übergegangen, ohne den Einspruch der Polizeibehörden zu beachten, die Entlassung der Kranken lediglich auf Grund des Gutachtens der Anstaltsärzte und gestützt auf die bezüglichen Anstaltsreglements anzuordnen. [...] Die Folge der geschilderten Mißstände ist die, daß gemeingefährliche Geisteskranke, die im öffentlichen sicherheitspolizeilichen Interesse unbedingt in einer ihre Entweichung ausschließenden Weise sicher untergebracht werden müssen, in größerer Anzahl entweder infolge unzureichender Einrichtungen in den öffentlichen Irrenanstalten sich selbst die Freiheit wieder zu verschaffen wissen, oder von den Anstaltsdirektoren über kurz oder lang in Freiheit gesetzt werden und dann gewöhnlich das frühere, gemeingefährliche Treiben wieder aufnehmen.«55

In der kommissarischen Beratung sollte u.a. geklärt werden, welche Mittel »den staatlichen Aufsichtsbehörden zu Gebote [stünden], um bei einer Weigerung der Provinzialverbände die Erfüllung der diesen obliegenden Verpflichtungen zu erzwingen«. Das Ergebnis dieser Besprechung war ein Erlass des Innenministers, der die Ortspolizeibehörden anwies, die jeweiligen Armenverbände unter Hinweis auf ihre armenrechtliche Verpflichtung »zur schleunigen Unterbringung« der »gemeingefährlichen Geisteskranken« aufzufor-

54 Landeshauptmann der Provinz Sachsen an den Oberpräsidenten, 27.5.1904, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Bd. 5, unfoliiert. 55 PrMdI an PrJM, PrMdgUMA, PrFM, 2.2.1904, GStA PK, HA I, Rep. 84a, Nr. 1010, Bl. 183ff.

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dern und – falls notwendig – die »Durchführung [der Anordnung] mit den gegebenen Zwangsmitteln zu sichern.«56 Willkommene Unterstützung erhielt die Staatsbürokratie vom Oberverwaltungsgericht, das die Rechtsauffassung des Innenministers letztinstanzlich bestätigte: Der rheinische Provinzialverband hatte im März 1904 gegen den Willen der Polizei die Entlassung eines mehrfach wegen Diebstahls vorbestraften ›irren Verbrechers‹ aus der Irrenanstalt Grafenberg angeordnet, »weil er nach Ansicht der Anstaltsverwaltung der Anstaltspflege seiner selbst wegen nicht bedurfte«. Die Aufhebung dieses Entlassungsbeschlusses durch die staatliche Aufsichtsbehörde erklärte das Preußische Oberverwaltungsgericht in seiner Grundsatzentscheidung vom 20. Juni 1905 für rechtens.57 Somit war die juristische Streitfrage, ob die Irrenanstalten zur Unterbringung eines geisteskranken Rechtsbrechers auch dann verpflichtet waren, wenn diese aus ärztlicher Sicht nicht notwendig war, eindeutig geklärt: Das öffentliche Sicherheitsinteresse hatte Vorrang gegenüber dem persönlichen Gesundheitsinteresse des Patienten wie auch gegenüber den finanziellen Interessen der Armenverbände. Der preußische Innenminister Theobald von Bethmann Hollweg zeigte sich nach dieser Gerichtsentscheidung zuversichtlich. Er glaubte sich »nunmehr der Erwartung hingeben zu dürfen, daß nach dieser autoritativen Kundgebung des obersten Verwaltungsgerichtshofes der Monarchie die Schwierigkeiten, welche im Laufe der letzten Jahre in den Bezirken einzelner Provinzial- und Landarmenverbände hinsichtlich der Unterbringung gemeingefährlicher Geisteskranker hervorgetreten sind, sich nicht mehr wiederholen werden.«58 Doch Bethmann Hollweg musste einige Jahre später einsehen, dass dieser Optimismus unangemessen war. Im Januar 1913 – inzwischen zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten aufgestiegen – sah er sich genötigt, den Innenminister darauf aufmerksam zu machen, »daß seit Juli 1910 von den auf Veranlassung des hiesigen Polizeipräsidiums in Irrenanstalten der Stadt Berlin untergebrachten gemeingefährlichen Geisteskranken 27 entwichen sind, und zwar in 19 Fällen, obwohl der Polizeipräsident einer Entlassung oder Beurlaubung ausdrücklich, zumteil mehrmals, widersprochen hatte«.59

56 Erlass des preußischen Ministers des Innern vom 13. Juli 1904, abgedruckt in: Kaiser u.a, Politische Biologie, S. 23–25. 57 Entscheidung des Königlich Preußischen Oberverwaltungsgerichts vom 20.6.1905, ALVR, PV 1, Nr. 13057, Bl. 1ff. Vgl. Blasius, »Einfache Seelenstörung«, S. 98f. 58 PrMdI an die Oberpräsidenten, 14.10.1905, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Bd. 6, unfoliiert. 59 Reichskanzler Bethmann Hollweg an PrMdI, 23.1.1913, GStA PK, HA I, Rep. 84 a, Nr. 1012, Bl. 275.

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In der Tat häuften sich seit 1905 die Berichte über Entweichungen von ›gemeingefährlichen Irren‹.60 Im Jahr 1907 wandte sich der Justizminister, dem »allein aus den beiden letzten Jahren [...] etwa 70 solcher Fälle« zur Kenntnis gelangt waren, an das Innenministerium, um schärfere Maßregeln anzumahnen.61 Es war indes ein offenes Geheimnis, dass die Anstaltsdirektoren diejenigen polizeilich zugeführten Insassen, welche nicht entlassen werden durften, zu gegebener Zeit entlaufen ließen. So berichtete der Berliner Polizeipräsident, es gehöre »leider nicht zu den Seltenheiten, daß gemeingefährliche Geisteskranke, deren von der Anstaltsleitung befürwortetes Entlassungsgesuchen polizeilich im öffentlichen Interesse widersprochen werden mußte, kurze Zeit darauf aus den städtischen Irrenhäusern entweichen.«62 Von dem Moment an, als die Staatsbehörden sämtliche undichten Stellen des Verwahrsystems auf dem Verwaltungsweg gekittet hatten und zudem das höchste Gericht die Unterbringungspflicht unzweideutig festgestellt hatte, blieb den überforderten Irrenanstalten nur noch die tolerierte Entweichung als Ventil. Je dichter das juristische Netz geknüpft wurde, desto durchlässiger wurden die Anstaltsmauern. Der Versuch, die sichere Verwahrung der ›irren Verbrecher‹ und ›verbrecherischen Irren‹ durch administrative Maßnahmen zu gewährleisten, war gescheitert.

3. Institutionelle Lösungsversuche: Spezialanstalten für geisteskranke Rechtsbrecher Die Separierung der ›verbrecherischen Irren‹ und ›irren Verbrecher‹ in besonderen Verwahranstalten galt als eine erfolgversprechende Möglichkeit, das Unterbringungsproblem zu lösen. Diese institutionelle Lösungsstrategie hatte den Vorteil, dass das geltende Straf- und Irrenrecht nicht abgeändert werden musste. Es waren in erster Linie die Anstaltspsychiater, die diesen Weg propagierten. Der Vorstand des Vereins der deutschen Irrenärzte – der Standesorganisation der Anstaltspsychiater – forderte bereits im Jahr 1876 in einer Petition an das Reichskanzleramt die Einrichtung von »Sträflingsirrenstationen«, d.h. 60 Vgl. die zahlreichen zur Kenntnis des Justizministeriums gelangten Zeitungsberichte in GStA PK, HA I, Rep. 84 a, Nr. 11009. 61 PrJM an PrMdI, 13.12.1907, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Bd. 7, unfoliiert. Auch der Regierungspräsident in Oppeln meldete im gleichen Jahr: »Die Fälle von Entweichungen gemeingefährlicher Geisteskranker aus öffentlichen Irrenanstalten haben sich in den letzten Jahren in bedenklichem Maße gemehrt.« (Regierungspräsident Oppeln an PrMdI, 11.2.1907, ebd.). 62 Polizeipräsident Berlin an PrMdI, 18.5.1904, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Bd. 5, unfoliiert.

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Anstalten, »welche mit Strafanstalten in unmittelbarer Verbindung und unter sachverständiger ärztlicher Leitung stehen«.63 Die Landesdirektoren der preußischen Provinzialverbände konnten sich auf diese Bekundung der Standesorganisation der Anstaltspsychiater berufen, als sie danach strebten, »die Provinzial-Irren-Anstalten von der Aufnahme geisteskranker Verbrecher zu befreien«.64 Neue Munition in ihrem gemeinsamen Kampf gegen die Unterbringungspflicht erhielten die Provinzialverwaltungen von den organisierten Irrenärzten im Jahr 1882. Auf der Jahresversammlung des Vereins der deutschen Irrenärzte wurde ein Thesenpapier diskutiert, das die Einrichtung von »mit grösseren Strafanstalten verbundenen Irrenlazarethen« propagierte, in denen ›irre Verbrecher‹ gegebenenfalls auch über die Strafdauer hinaus verwahrt werden sollten.65 Die letzte These lautete: »Zu Aerzten an Strafanstalten eignen sich nur solche Mediciner, welche mit der Psychiatrie theoretisch und praktisch vertraut sind«. Es war allzu offensichtlich, dass kriminalpolitische Zweckerwägungen sich hier mit einem professionspolitischen Kalkül verbanden. Verabschiedet wurde schließlich eine etwas konzilianter formulierte Resolution, die ebenfalls das Ziel der psychiatrischen Behandlung innerhalb der Strafanstalt zum Ausdruck brachte.66 In Preußen wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts Einrichtungen für kriminelle Irre geschaffen, die den Vorstellungen der psychiatrischen Standespolitiker recht nahe kamen. Freilich vollzog sich die Separierung der geisteskranken Rechtsbrecher im Rahmen des vorhandenen Anstaltssystems: Zum einen wurden in einigen Strafanstalten Irrenstationen eingerichtet, die jedoch nur für eine kurzfristige Behandlung oder Beobachtung ausgelegt waren; zum anderen gingen die Provinzialverbände dazu über, in größeren Irrenanstalten ausbruchsichere ›Bewahrungshäuser‹ für ›gemeingefährliche‹ Patienten zu errichten. Auf eine Verbrecherirrenanstalt sui generis, wie sie z.B. im englischen Broadmoor existierte, wurde zugunsten der genannten Irren- und Strafanstalts-Annexe verzichtet. Die an Irrenanstalten angeschlossenen ›Bewahrungshäuser‹ wurden um die Jahrhundertwende errichtet. Im Jahr 1911 verfügte jede der preußischen Provinzen – mit Ausnahme Westpreußens und Hessen-Nassaus – über wenigstens eine derartige Einrichtung.67 Die Provinzialverbände hatten sie errichtet, 63 Vorstand des Vereins der deutschen Irrenärzte an das Reichskanzleramt, 15.7.1876, ALVR, PV 1, Nr. 7922, Bl. 193ff. 64 Vgl. Landesdirektor der Provinz Sachsen an den Landesdirektor der Rheinprovinz, 7.6.1881, ALVR, PV 1, Nr. 7922, Bl. 170f. 65 Vgl. »Versorgung der geisteskranken oder der Geisteskrankheit verdächtigen Personen, welche wegen Begehung eines Verbrechens, eines Vergehens oder einer Uebertretung angeschuldigt, angeklagt oder verurtheilt und einer Anstaltspflege bedürftig sind« (Thesenpapier Zinns vom 6.8.1882), ALVR, PV 1, Nr. 7927, Bl. 27f. 66 Vgl. Günther, S. 2f. 67 Vgl. die Übersicht bei Aschaffenburg, Sicherung, S. 56.

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um mit baulichen Maßnahmen das Sicherheitsproblem zu entschärfen, das sich aus der Pflicht zur Verwahrung krimineller Geisteskranker ergab. Die Vorreiterrolle bei der Separierung der ›irren Verbrecher‹ übernahm die Rheinprovinz. Der 40. Rheinische Provinziallandtag beschloss im Jahr 1897 den Bau eines durch vergitterte Fenster und eine vier Meter hohe Mauer besonders gesicherten Pavillons auf dem Gelände der Heil- und Pflegeanstalt zu Düren.68 ›Irre Verbrecher‹ und ›verbrecherische Irre‹ aus der gesamten Provinz sollten dort Aufnahme finden, um die übrigen Anstalten zu entlasten. Im August 1900 wurde das für 48 ›Bewahrte‹ ausgelegte Haus in Betrieb genommen. Die Hoffnungen, die der Provinzialverband an diese Institution knüpfte, wurden rasch widerlegt. Ein Bericht des Anstaltsarztes Gustav Flügge über seine Erfahrungen in den ersten drei Jahren seit der Eröffnung69 kam einer Bankrotterklärung gleich: Wegen der geringen Belegungskapazität konnten »nur die schlimmsten und unbändigsten Elemente [...], die in anderen Anstalten absolut nicht zu halten waren, aufgenommen werden. [...] Sämtliche Insassen waren irre Verbrecher. [...] Die Mehrzahl bestand aus Gewohnheitsverbrechern, die langjährige Gefängnis- und Zuchthausstrafen bereits verbüßt hatten.«70 Acht Entweichungen und ein Selbstmord ereigneten sich bereits in den Anfangsjahren, denn bei »Erstellung des neuen Hauses hatte man zu sehr dem Zuge der Zeit Rechnung getragen, der für Anstaltsbauten heute maßgebend ist, und die Gefährlichkeit der künftigen Insassen zu niedrig eingeschätzt.«71 Das Verhalten der ›Bewahrten‹ schilderte Flügge wie folgt: »Mißmut und Verdrossenheit stellten sich ein; man steckte die Köpfe zusammen, hetzte und stachelte sich gegenseitig auf. Klagen und Nörgeleien nahmen kein Ende, Widerspenstigkeit und offener Hohn machten sich breit. [...] Exzesse aller Art, wüstes Zerstören und Demolieren häuften sich in wahrhaft erschreckender Weise. Die loci minoris resistentiae des Hauses wurden mit großer Findigkeit entdeckt, die zu schwachen Gitter auseinandergebogen, was zu Entweichungen führte, Röhrenleitungen abgerissen, Verschraubungen gelöst; Eisenteile, Stangen, Klammern und Nieten verschwanden plötzlich, um gelegentlich als Ausbruchs- oder Angriffsinstrumente wieder aufzutauchen. Bei Gewinnung und beim Verstecken dieser Gegenstände wurde planmäßig, mit verteilten Rollen vorgegangen, einer deckte dem anderen den Rücken. [...] Wurden die Haupträdelsführer allein gelegt, dann fing die Not erst recht an, da die zu schwachen Einzelzimmer in kurzer Zeit zerstört, und die Türen mit den Trümmern verbarrikadiert wurden. Man war froh, wenn schließlich der mit Holzund Eisenteilen um sich schlagende Kranke glücklich aus der Zelle wieder herausgeholt, und größeres Unheil an Leib und Leben vermieden war. Als ultima ratio mußte

68 Vgl. Verhandlungen des 40. Rheinischen Provinzial-Landtags vom 7. bis 18. März 1897, Anlage 6, S. 167f. u. 246ff. Hierzu auch: »Bewahrungshaus«. 69 Flügge, Abteilung für irre Verbrecher; siehe auch: ders., Bewahrungshaus. 70 Ebd., S. 350. 71 Ebd.

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in einzelnen Fällen zur Feuerspritze gegriffen werden, die in der Hand des Irrenarztes zur Zeit des no restraint und des Offentürsystems ein etwas eigentümlich berührendes Instrument darstellt.«72

Einen »Grund der hier beobachteten potenzierten Neigung zum Exzedieren« sah der Autor in der »gegenseitige[n] Influenz«: »Sie verhetzen sich, was der eine nicht weiß, lernt er vom anderen; jeder will sich hervortun; die Sucht, unter Gleichgesinnten eine hervorragende Persönlichkeit zu sein, treibt sie zu Dingen, an die in einem anderen Milieu kaum gedacht würde.«73 Kurzum: gerade die örtliche Konzentration der ›irren Verbrecher‹, die eigentlich zur Entschärfung der Situation dienen sollte, mache diese noch gefährlicher. Nur durch die Zuführung harmloserer Patienten als »Verdünnungsmaterial« könne der Betrieb des ›Bewahrungshauses‹ überhaupt aufrechterhalten werden.74 Angesichts dieser niederschmetternden Erfahrungen schien es manchen Irrenärzten immer noch besser, die ›Gemeingefährlichen‹ auf verschiedene Anstalten zu verteilen, als sie in einem ›Bewahrungshaus‹ zu einer hochexplosiven Mischung zu vereinen.75 Der Landeshauptmann der Rheinprovinz nahm im Jahr 1903 die schlechten Erfahrungen im Zusammenhang mit der Separation der ›irren Verbrecher‹ in Düren zum Anlass, ein stärkeres Engagement des preußischen Staates einzufordern: »Die Erfahrungen, welche mit diesem Unternehmen [dem Bewahrungshaus in Düren, d. Vf.] gemacht worden sind, haben die herrschende Ansicht bestätigt, dass die hier überwiegend untergebrachten degenerierten Verbrechernaturen in zweckentsprechender Weise nur im Anschluss an eine Strafanstalt, nicht aber von einer Irrenanstalt verwahrt werden können.«76 Um die zentralen ›Bewahrungshäuser‹ der übrigen Provinzen war es kaum besser bestellt. Die 1904 fertiggestellte Verbrecherabteilung der westfälischen Irrenanstalt Eickelborn war von vornherein als eine reine Verwahrinstitution angelegt, in der therapeutische Ansprüche hintangestellt werden mussten.77 72 Ebd., S. 351. 73 Ebd., S. 352. 74 Ebd., S. 356f. 75 Einer solchen »Dezentralisierung« redete z.B. der Dürener Anstaltsarzt Geller das Wort, auch wenn sich die Lage im ›Bewahrungshaus‹ Düren bis zum Jahr 1907 ein wenig entspannt zu haben schien. Vgl. Geller, S. 26. 76 Landeshauptmann der Rheinprovinz an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz, 22.9.1903, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Adh. 1, Bd. 9, unfoliiert. 77 Selbst der Landeshauptmann, der als Vertreter der provinzialen Selbstverwaltung ansonsten stets bemüht war, den Heilanstaltscharakter der Provinzialanstalten zu betonen und zu verteidigen, räumte dem Sicherheitsaspekt in diesem Fall uneingeschränkte Priorität ein: »Die in anderen Provinzen namentlich in der Rheinischen Anstalt zu Düren gemachten Erfahrungen weisen darauf hin, daß die Abteilung für geisteskranke Verbrecher in ihren Sicherheitsvorkehrungen völlig den Charakter des Gefängnisses behalten muß und nur in der Behandlung der Kranken durch ein besonders geschultes Pflegepersonal, sowie in der Einrichtung von Wachabteilungen die bei der Irrenpflege geltenden Grundsätze zur Anwendung gelangen können.«

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Den verantwortlichen Ärzten war bereits vor der Eröffnung klar, dass eine Heilung »durch die Versetzung in das Bewahrungshaus vereitelt« würde.78 Folglich sollte diese Abteilung den unheilbaren ›Gemeingefährlichen‹ vorbehalten bleiben. Um diese zu bändigen, schien freilich jedes Mittel recht: »Schliesslich haben wir in den verschiedenen Narkoticis ein die Behandlung unterstützendes Mittel, die nicht allein aus rein ärztlichen Gründen verabreicht werden, sondern auch zur zeitweisen Unschädlichmachung und Bändigung besonders widerstrebender und aufrührerischer Elemente gute Dienste leisten können.«79 Dennoch ereignete sich im Jahr 1912 im Eickelborner ›Bewahrungshaus‹ eine Meuterei, die, nur weil das vorgewarnte und bewaffnete Wachpersonal gewaltsam einschritt, niedergeschlagen werden konnte. Dieser Vorfall führte den Anstaltsärzten erneut vor Augen, »daß derartig geistig minderwertige Individuen mit schwersten verbrecherischen Neigungen nicht in die Irrenanstalt gehören, sondern besser in Annexen der Strafanstalt untergebracht werden.«80 Das Bedürfnis, die ›irren Verbrecher‹ an die Strafanstalten abzuliefern, bestand seitens der Provinzialverbände weiterhin. Doch mit der Errichtung der ›Bewahrungshäuser‹ wurde es zunehmend schwieriger, die Zuständigkeit für die Verwahrung der ›irren Verbrecher‹ abzustreiten. Zwar hatte der Rheinische Provinzialausschuss 1897 – im Zusammenhang mit der Bewilligung der Mittel für das ›Bewahrhaus‹ – ausdrücklich betont, dass »eine rechtliche Verpflichtung der Provinzialverbände, die ›irren Verbrecher‹ in ihre Anstalten aufzunehmen«, nicht in jedem Fall anerkannt werden könne;81 schließlich wollte man eine »Verschiebung der Fürsorgepflicht in Betreff der irren Verbrecher gegenüber und zu Gunsten der staatlichen Strafvollzugsgewalt« vermeiden.82 Doch faktisch geriet die provinziale Selbstverwaltung durch den Bau von Separatanstalten für kriminelle Patienten immer mehr in die Defensive. Nun konnten sich die Verantwortlichen im Falle einer geglückten Entweichung eines ›irren Verbrechers‹ nicht mehr auf das Argument zurückziehen, die Irrenanstalt sei nun einmal in erster Linie ein Krankenhaus und kein Gefängnis.83 (Landeshauptmann der Provinz Westfalen an den Oberpräsidenten der Provinz Westfalen, 3.1.1903, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Bd. 5, unfoliiert). 78 Berichte Schaefers und Kleffners auf der Konferenz der Anstaltsdirektoren, 20./21. Juli 1904, Münster (Durchschrift), abgedruckt in: Küster, S. 389–398, hier S. 392. 79 Ebd., S. 397. 80 Hermkes an Hammerschmidt, 1. Februar 1912, Eickelborn (behändigte Ausfertigung), abgedruckt in: Küster, S. 514–516, Zitat S. 516. 81 Verhandlungen des 40. Rheinischen Provinzial-Landtags vom 7. bis 18. März 1897, Anlage 6, S. 166. 82 »Bewahrungshaus«, S. 433. 83 So musste der Landeshauptmann der Rheinprovinz sich im Jahr 1902 den Vorwurf gefallen lassen, wegen der unterlassenen Einweisung eines ›irren Verbrechers‹ in das neu errichtete ›Bewahrungshaus‹ für dessen Flucht aus der Irrenanstalt St. Thomas zu Andernach verantwort-

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Das vergitterte und ummauerte ›Bewahrungshaus‹ bildete ein steinernes Sinnbild dafür, dass die Provinzialverbände sich dem »Sicherheits- und Ordnungskalkül der Bürokratie« (D. Blasius) beugten, gegen das sie sich aus finanziellen Gründen verwahrt hatten. Auch die preußische Staatsbürokratie ging gegen Ende des 19. Jahrhunderts dazu über, besondere Einrichtungen für ›irre Verbrecher‹ zu schaffen. Nach dem Vorbild des königlich sächsischen Zuchthauses Waldheim, dem seit 1876 eine Irrenabteilung angegliedert war,84 wurden auch an einigen preußischen Strafanstalten Irrenstationen eingerichtet. Nach der Eröffnung der Irrenabteilung bei der Strafanstalt Moabit bei Berlin folgte die Gründung ähnlicher Einrichtungen in Breslau (1899), Köln (1900), Halle (1901), Münster und Graudenz (1902). Die Aufgabe dieser Abteilungen bestand darin, die psychisch auffälligen Gefangenen einer Region einem Heil- oder Beobachtungsverfahren zu unterziehen. Der Aufenthalt in der Irrenabteilung sollte im Regelfall nicht länger als sechs Monate dauern. Im Fall einer Heilung oder eines aufgedeckten Simulationsversuchs wurde der Gefangene wieder in den regulären Strafvollzug überführt; war auch nach Ablauf der sechs Monate keine Heilung in Sicht, konnte der ›irre Verbrecher‹ in eine öffentliche Irrenanstalt eingewiesen werden.85 Die Irrenabteilungen der Strafanstalten unterschieden sich bei den Disziplin- und Sicherheitsproblemen nur wenig von den ›Bewahrungshäusern‹ der Irrenanstalten. Oft gab die Renitenz, Gewalttätigkeit oder Unreinlichkeit eines Gefangenen den Anlass, an dessen geistiger Gesundheit zu zweifeln. Folglich sammelten sich in den Irrenstationen alle jene Häftlinge, die unwillig oder unfähig waren, die Regeln des Anstaltslebens zu befolgen. Bald sah das Innenministerium sich gezwungen, besondere Vorkehrungen für die Irrenabteilungen zu schaffen, die über die in Zuchthäusern üblichen Sicherheitsstandards noch hinausgingen. So bewilligte man den »besonders gefährdeten« Aufsichtsbeamten der Irrenabteilungen eine Schutzkleidung, da deren Uniformen »häufig durch Gefangene, welche sich an dem Personal vergreifen, oder die überwältigt werden sollen, stark verunreinigt und beschädigt« würden.86 Ein Erlass aus dem Jahr 1905 erlaubte die Bewaffnung der »Nachtauflich zu sein. Vgl. Regierungspräsident Koblenz an den Landeshauptmann der Rheinprovinz, 1.3.1902, ALVR, PV 1, Nr. 4140, Bl. 286. 84 Zur Irrenstation in Waldheim siehe: Knecht, Die Irrenstation bei der Strafanstalt Waldheim; Schröter. 85 Vgl. Aschaffenburg, Sicherung, S. 38ff. Dort findet sich auch eine Beschreibung der einzelnen Anstalten. Zu den Einzugsgebieten der Irrenabteilungen siehe: PrMdI an die Regierungspräsidenten und an den Polizeipräsidenten in Berlin, 15.2.1901, GStA PK, HA I, Rep. 84 a, Nr. 1009, Bl. 252f. 86 Regierungspräsident Marienwerder an PrMdI, 26.3.1911, HStA Düsseldorf, BR 1001, Nr. 22, Bl. 41 (Anlage zum Schreiben des PrMdI an den Regierungspräsidenten Köln, 5.4.1911, ebd., Bl. 40).

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seher der Irrenabteilungen« mit »Seitengewehr und Revolver«.87 Vorausgegangen war ein ernster Vorfall, der den Beamten vor Augen führte, dass »die Insassen der Irrenabteilungen in erster Linie Gefangene sind, die wie alle Gefangenen sicher verwahrt werden müssen«: »In der Irrenabteilung bei dem Strafgefängnisse zu Halle sind 8 Gefangene aus einem gemeinsamen Schlafsaale ausgebrochen, haben den ersten Nachtwächter überfallen, geknebelt, erwürgt, den zweiten ebenfalls geknebelt und unschädlich gemacht, sich der Schlüssel bemächtigt und sind dann entflohen.«88 Der Psychiater Gustav Aschaffenburg, der zu dieser Zeit die Irrenabteilung des Strafgefängnisses in Halle leitete, führte diesen Vorfall rückblickend auf die »außerordentliche Infektionsgefahr solcher Abteilungen« zurück: »Die ganz sinnlose Teilnahme an Revolten, Beschwerden, Ausbrüchen und Angriffen seitens sonst ganz friedlicher Menschen« bilde in den Irrenabteilungen, »wo sich immer einzelne brutale und rücksichtslose Menschen befinden, eine besonders große Gefahr«, welche noch dadurch erhöht würde, »daß die Kranken, die sich mit fortreißen lassen, infolge ihrer geistigen Defekte noch weniger Widerstandskraft gegen die suggerierte Massenerregung haben, als gesunde Menschen.«89 Die Zusammenballung der besonders renitenten mit den besonders labilen Gefangenen schien die Gefährlichkeit der in den Irrenabteilungen verpflegten Häftlinge zu potenzieren. Nach den Erfahrungen Aschaffenburgs waren es gerade die aus klinischer Sicht eher harmlosen Fälle, welche die Sicherheit gefährdeten: »Besonders schwierige Elemente waren fast ausnahmslos diejenigen Kranken, die nicht an schweren Psychosen litten, sondern die dem Grenzgebiete entstammenden, die Schwachsinnigen, Epileptiker und die Hysterischen. Sie waren auch stets diejenigen, die andauernd mit Klagen kamen, sich gegenseitig durch Beschwerden aufregten und aufhetzten.«90 Offenbar war die Verlockung groß, diese »schwierigen Elemente« in die öffentlichen Irrenanstalten abzuschieben. Die psychiatrischen Gutachten, die Strafanstaltsärzte verfasst haben, um die Überführung eines ›irren Verbrechers‹ in eine rheinische Heil- und Pflegeanstalt zu begründen, vermitteln den Eindruck, dass nicht der Krankheitsgrad, sondern der Grad der ›Lästigkeit‹ den Ausschlag für die ›Strafvollzugsunfähigkeit‹ gegeben hat.91 Ein Ärztlicher Bericht aus der Irrenabteilung des Gefängnisses in Köln, der im Hinblick auf die Diagnose wie auch auf das soziale Verhalten des Gefangenen typisch erscheint, sei im Folgenden exemplarisch wiedergegeben:

87 88 89 90 91

Erlass des PrMdI vom 12.4.1905, HStA Düsseldorf, BR 1001, Nr. 31, Bl. 175. Erlass des PrMdI vom 3.11.1903, HStA Düsseldorf, BR 1001, Nr. 31, Bl. 94. Aschaffenburg, Sicherung, S. 53. Ebd., S. 49. Ausgewertet wurden die Gutachten in: ALVR, PV 1, Nr. 3490–3495.

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Cöln, den 23. Mai 1906 »Ärztlicher Bericht Der 26 Jahre alte Schlosser Hubert K., wiederholt vorbestraft, verbüßt seit dem 4. 2. 04 im Gefängnis zu Wittlich eine Strafe von 3 Jahren. Im Mai 1905 fiel er daselbst auf durch freches, unbotmäßiges Benehmen gegenüber den Anstaltsbeamten, er wurde schließlich erregt und verwirrt und erwies sich als ein gegen Personen und Sachen gefährlicher Mensch. Am 9. 11. 1905 kam er in die Irrenabteilung. In der ersten Zeit war er lebhaft erregt; er erging sich in wüsten Schimpfreden über die Beamten, war mit allem unzufrieden, stieß Drohungen aus etc. In der Folge beruhigte er sich, doch trat schon damals bei ihm ein ausgesprochener Schwachsinn klar zu Tage. Er sprach im Renomirton von seiner Person[,] seinen Eigenschaften und Fähigkeiten, betrachtete sich permanent im Spiegel, stolzierte geschniegelt und gebügelt und sehr selbstbewußt auf der Abteilung umher. Am 21. Dezember 1905 kam er in den geordneten Strafvollzug zurück nach Wittlich. Trotz allen Entgegenkommens seitens der dortigen Beamten benahm sich K. in Wittlich wieder in der unbotmäßigsten Weise. Er arbeitete nichts, stieß andauernd Drohungen aus, wurde gewalttätig, sodaß er am 14. 3. 06 wieder der Irrenabteilung zugeführt werden mußte. Die Abteilung betrat er in lebhafter Erregung; bei dem geringsten Anlaß brach er in wüste Schimpfereien aus. Auf die übrigen Kranken übte er einen so ungünstigen Einfluß aus, daß er allein gelegt werden mußte. Er glaubt sich von allen Seiten benachteiligt, beeinträchtigt und verfolgt. Indes, auch das unbedeutenste [sic!] Ereignis bringt er in Beziehung zu seiner Person und färbt es im Sinne seiner Verfolgungsvorstellung. Er schreibt beständig Eingaben quärulatorischen Inhalts an die Verwaltungsbehörden, in denen er die hiesigen Beamten aller denkbaren Verbrechen beschuldigt. In seiner Stimmungs- und Gemütslage ist er ungemein erregt und verbittert. Schon der bloße Anblick der Anstaltsbeamten lößt [sic!] bei ihm lebhafte Zornesexplosionen aus. K. leidet an Schwachsinn mit Beeinträchtigungs- und Überschätzungsideen. Er ist nicht mehr strafvollzugsfähig. Ich beantrage seine Entlassung aus dem Strafvollzug und seine Überführung in eine öffentliche Irrenanstalt. [Unterschrift]«92

Charakteristisch für die Gutachten über Strafvollzugsunfähigkeit ist die Ableitung des Befundes aus den »quärulatorischen« Handlungen des Gefangenen.93 Eine allein auf das Verhalten gestützte Diagnose widerspricht nicht unbedingt den Regeln der psychiatrischen Kunst. Doch es fällt auf, dass bei besonders 92 ALVR, PV 1, Nr. 3490, Bl. 2. 93 Die von der Verwaltung implizit unterstellte Entsprechung von Krankheit und Untauglichkeit wurde von dem Psychiater Gustav Achaffenburg als Zumutung empfunden: »Die Beurteilung eines Kranken von dem Stadium seiner offiziellen Strafvollzugsfähigkeit abhängig zu machen, mutet dem Arzt mehr zu, als er vor seinem Gewissen verantworten kann.« (Aschaffenburg, Sicherung, S. 50.).

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widerspenstigen Häftlingen bereits eine geringfügig ausgeprägte seelische oder intellektuelle Abweichung zur Feststellung der Strafvollzugsunfähigkeit führen konnte; Beispiele für einen umgekehrten Fall – die Strafunterbrechung bei einem sich äußerlich konform verhaltenden Kranken (z.B. bei Depressionen) – finden sich in den ausgewerteten Akten nicht. Stattdessen begegnen ein Tuberkulöser, der mit seinem Auswurf »in der nachlässigsten Weise« umging,94 ein »unreiner« Gefangener, der »seine Kleider und seine Zelle mit Urin [beschmutzte]«,95 und ein Häftling, der wegen »Quärulantenwahnsinns«96 nicht für den Strafvollzug geeignet schien. Angesichts derartiger Fälle von Abschiebungen lästiger Gefangener aus den Beobachtungsstationen stellt sich die Frage nach der Funktion der zuchthauseigenen Irrenabteilungen im Gesamtsystem der Unterbringung geisteskranker Rechtsbrecher. Immer dann, wenn die Provinzialverbände ein größeres staatliches Engagement für die Behandlung der ›irren Verbrecher‹ einforderten, entgegnete die Staatsbürokratie, dass bereits die neu eingerichteten Irrenstationen an den Strafanstalten zu einer Entlastung der Irrenanstalten führen dürften.97 Doch die Realität sah anders aus. In der Praxis erwiesen sich die Irrenabteilungen als Durchgangsstationen für die Abschiebung kranker Gefangener an die Irrenanstalten. Die Strafvollzugsabteilung im Innenministerium schrieb diese Ventilfunktion der Gefängnis-Irrenstationen in einem Erlass vom 14. Oktober 1901 fest und forcierte gleichzeitig die Abschiebepraxis: »Nachdem ein großer Theil der den Strafanstaltsirrenabtheilungen in der ersten Zeit nach ihrer Eröffnung zugewiesenen Gefangenen inzwischen als unheilbar erkannt und deshalb aus der Strafhaft entlassen worden ist, bieten nunmehr diese Abtheilungen hinreichend Platz, um mit den übrigen noch in den Anstalten befindlichen geisteskranken Gefangenen nach dem diesseitigen Erlaß vom 2. Februar 1879 [...] zu verfahren. Euere Hochwohlgeboren ersuche ich deshalb, die Vorsteher und Aerzte der Strafanstalten und Gefängnisse meines Geschäftsbereichs anzuweisen, die Ueberführung geisteskranker oder der Geisteskrankheit verdächtiger Gefangener in die zuständige Irrenabtheilung [...] unverzüglich zu beantragen, sobald die ersten Feststellungen, welche auf Geisteskrankheit schließen lassen, getroffen worden sind. 94 Ärztlicher Bericht der Irrenabteilung des Gefängnisses Köln, 28.5.1911, ALVR, PV 1, Nr. 3491, Bl. 361. 95 Ärztlicher Bericht der Irrenabteilung des Zuchthauses Münster, 17.6.1911, ALVR, PV 1, Nr. 3491, Bl. 376ff. 96 Ärztlicher Bericht der Irrenabteilung des Gefängnisses Köln, 24.5.1914, ALVR, PV 1, Nr. 3494, Bl. 248f. 97 Vgl. die Niederschrift über die kommissarische Beratung (»über die Petition des Provinzialausschusses der Provinz Sachsen und der Vertreter der kommunalen Verwaltungen mehrerer Provinzen und Bezirksverbände an den Landtag«), 30.11.1897, GStA PK, HA I, Rep. 84 a, Nr. 1008, Bl. 400ff.; Niederschrift über die Sitzung des Staatsministeriums, 25.4.1898, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 1354, Nr. 1, Bd. 3, Bl. 136f. (auch in: Rep. 84 a, Nr. 1008, Bl. 238f.); PrJM an PrMdI, 5.3.1908, GStA PK, HA I, Rep. 84 a, Nr. 1012, Bl. 30ff.

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Die schleunige Behandlung dieser Anträge Seitens aller betheiligten Behörden wird hiermit erneut zur Pflicht gemacht.«98

Der Erlass sprach den offiziellen Bekundungen Hohn, dass die Irrenabteilungen zur Entlastung der Provinzial-Irrenanstalten dienen sollten. Freilich hätte es dieser behördlichen Bemühung, die Ausmusterung der Geisteskranken aus dem Strafvollzug zu beschleunigen, eigentlich gar nicht bedurft. Allein die Tatsache, dass durch die zunehmende Beschäftigung psychiatrisch ausgebildeter Gefängnisärzte auch immer mehr Geisteskrankheiten bei den Gefangenen diagnostiziert wurden, führte bereits zu einer Entlastung der Gefängnisse und im Gegenzug zu einer Belastung der Irrenanstalten.99 So berichtete der Magistrat der Stadt Halle im Jahr 1904 dem Innenminister von »größten Schwierigkeiten«, die den überbelegten kommunalen Anstalten durch die aus der Irrenstation entlassenen Verbrecher erwüchsen: »Seit Errichtung der Irrenabteilung am Königlichen Strafgefängnis hierselbst werden von der Direktion desselben zahlreiche in Geisteskrankheit verfallene und vom Anstaltsarzt, Professor Dr. Aschaffenburg, für gemeingefährlich erklärte Verbrecher nach Aufhebung der Strafhaft entweder der hiesigen Polizeiverwaltung oder meistens unserer Armen-Direktion behufs Unterbringung in eine Irrenanstalt überwiesen.«100 Die Irrenstationen an den Strafanstalten trugen nicht nur zur Verschärfung des Überlastungsproblems der öffentlichen Irrenanstalten bei, sondern heizten auch die Auseinandersetzung über die Unterbringungskosten zusätzlich an. Denn in den Gemeinden, in denen sich eine der wenigen Strafanstalten mit angeschlossener Irrenabteilung befand, konzentrierten sich strafentlassene ›irre Verbrecher‹ mit unterschiedlichen Unterstützungswohnsitzen, bisweilen auch aus anderen Provinzen. Die Klärung der armenrechtlichen Für-

98 Erlass der PrMdI vom 14.10.1901, HStA Düsseldorf, BR 1001, Nr. 31, Bl. 35. 99 Hermann Grunau zählte im Jahr 1905 das Bestreben, »die Gefängnisse und Zuchthäuser frei von Geisteskranken zu halten«, zu den kulturellen Fortschritten, die schließlich die Überfüllung der Irrenanstalten bewirkt haben: »Es fehlte früher für die hunderte von Gefängnissen und Zuchthäusern an einer genügenden Zahl psychiatrisch geschulter Ärzte, um die inhaftierten ›irren Verbrecher‹ bezw. ›verbrecherischen Irren‹ zu erkennen, und vor allem auch an Einrichtungen, um die Beobachtung der als geisteskrank Verdächtigen zu ermöglichen. Eine Überweisung der letzteren an die Irrenanstalten war schwer angängig. Diesen Übelständen ist abgeholfen worden durch die Errichtung psychiatrischer, an die Zuchthäuser angegliederter Beobachtungsstationen. [...] Seitdem ist der Zufluss der als geisteskrank erkannten Strafgefangenen in die Irrenanstalten sehr gestiegen, da dieselben wegen ihrer Gefährlichkeit nur zum kleineren Teil in Freiheit gelassen werden können.« (Grunau, S. 6). 100 Magistrat Halle an PrMdI, 5.5.1904, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Bd. 5, unfoliiert. Gustav Aschaffenburg berichtete seinerseits, dass er versucht habe, »die Kranken so lange wie möglich im Strafvollzuge zu behalten«, obwohl es ihm »oft schon am ersten Tage klar [war], daß es sich um Kranke handelte.« Doch er habe den ›irren Verbrechern‹, denen der vorübergehende Aufenthalt in einer Irrenanstalt nicht auf die Strafe angerechnet würde, eine Verlängerung der Haft ersparen wollen. (Aschaffenburg, Sicherung, S. 50f.).

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sorgepflicht verlief derart konfliktreich, dass sie schließlich zum Gegenstand von Beratungen auf Ministerialebene wurden.101 Die Hoffnung, das Unterbringungsproblem durch neue Institutionen zur Separierung geisteskranker Rechtsbrecher lösen zu können, erfüllte sich nicht. Es fand jedoch eine Lastenverschiebung zu Ungunsten der Irrenpflege statt. Die ›Bewahrungshäuser‹ der Irrenanstalten untermauerten die Bewahrungspflicht der Provinzialverbände, und die Irrenstationen der Strafanstalten fungierten letztlich als Durchgangsschleusen für die Psychiatrisierung lästiger Gefangener. Das Grundproblem des Unterbringungssystems – die aufgesplitterte Entscheidungskompetenz – konnte durch bauliche Maßnahmen nicht behoben werden. Nach wie vor versuchte jede Anstalt, die ihr anvertrauten ›irren Verbrecher‹ und ›verbrecherischen Irren‹ an andere Institutionen weiterzureichen.102 Die in den Verwaltungsbetrieb eingebundenen medizinischen Experten ließen sich bei der Erstellung der Gutachten von den Interessen ihrer eigenen Institution leiten. Die jeweils unterschiedliche Behörden-Rationalität stand einer bürokratisch-rationalen Gesamtlösung des Unterbringungsproblems im Weg, solange eine legislative Klärung der Kompetenzfrage ausblieb.

4. Legislative Lösungsversuche: die Auseinandersetzung um ein ›Irrengesetz‹ Seit den 1890er Jahren wurden Stimmen laut, die auf eine gesetzliche Regelung der Einweisungs- und Entlassungsmodalitäten der Irrenanstalten drangen. Die Bestrebungen zur Reform des Irrenrechts mündeten zu Beginn des 101 Vgl. PrMdI an PrJM, PrMdgUMA, PrFM, 2.2.1904, GStA PK, HA I, Rep. 84 a, Nr. 1010, Bl. 183ff.; Niederschrift über die kommissarische Beratung, 5.12.1904, ebd., Bl. 285f.; PrMdI an PrJM, 23.5.1905, GStA PK, HA I, Rep. 84 a, Nr.1011, Bl. 2. 102 Das Bestreben, die geisteskranken Rechtsbrecher an andere Institutionen abzugeben, manifestierte sich auch in der Diskussion der Unterbringungsfrage. Psychiater, die selbst als Gefängnisärzte in einer Irrenabteilung gearbeitet hatten (Aschaffenburg, Heilbronner), sprachen sich für die Unterbringung der ›irren Verbrecher‹ in öffentlichen Irrenanstalten aus. Die meisten Irrenanstaltsärzte (z.B. Günther, Näcke, Schaefer) plädierten für die Verwahrung derselben in zuchthauseigenen Irrenstationen. Irrenärzte, die an einer Anstalt mit einem besonders hohen ›Verbrecheranteil‹ beschäftigt waren (Flügge, Geller, Richter, Sander), forderten eine gleichmäßige Verteilung der kriminellen Geisteskranken auf alle Irrenanstalten. Carl Moeli, der später als Medizinalreferent in das Kultusministerium berufen wurde, vertrat als Leiter der Irrenanstalt Dalldorf mit seiner ›Bewahrungshaus‹-Option eine – politisch genehme – Außenseiterposition unter den Psychiatern. Vgl. Aschaffenburg, Sicherung, S. 221f. u. 287; Heilbronner, S. 303; Günther, S. 96ff.; Näcke, Unterbringung, S. 38 u. 53; Schaefer, Revision, S. 21; Flügge, Abteilung für irre Verbrecher, S. 357; ders., Bewahrungshaus, S. 278; Geller, S. 26; Sander u. Richter, S. 352; Moeli, Ueber irre Verbrecher, S. 161f.

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20. Jahrhunderts in die Diskussion um eine allgemeine Strafrechtsreform ein. Dieser öffentliche Diskurs, der sich nach der Jahrhundertwende vor allem auf die Einführung strafrechtlicher Zwangsmaßnahmen gegen vermindert zurechnungsfähige ›Gemeingefährliche‹ konzentrierte, wurzelte ursprünglich in der Empörung über Fälle von vermeintlich ungerechtfertigten Einsperrungen und Misshandlungen von Geistesgesunden in Irrenanstalten. Zur Zeit des Kaiserreichs, die zugleich eine Zeit des Irrenanstalts-Booms wie auch der aufblühenden Massenpresse war, trat eine neue ›Literaturgattung‹ der exzentrischen Art in Erscheinung. Ehemalige Patienten veröffentlichten – häufig im Selbstverlag – ihre Erlebnisse in der Irrenanstalt.103 Zumeist widerlegten bereits Diktion und Inhalt dieser Broschüren mit Titeln wie »Räuber der Vernunft oder sechs Jahre geistig lebendig begraben« oder »Moderne Folterkammern« das, was die Autoren suggerieren wollten: die geistige Gesundheit des Verfassers. Dennoch konnten einige Fälle, die geeignet waren, das Vertrauen in die Psychiatrie zu erschüttern, die Aufmerksamkeit der bürgerlichen Öffentlichkeit auf sich ziehen. Zu einem »Renommierfall für die Antipsychiater«104 geriet die Leidensgeschichte von Hermann Feldmann. Der 1831 geborene, aus einfachen Verhältnissen stammende Feldmann war in Amerika zu einem ansehnlichen Vermögen gekommen. Nach Deutschland zurückgekehrt, unternahm er zwei Selbstmordversuche und zeigte darüber hinaus die Symptome »hypochondrischer Verrücktheit mit zeitweilig auftretenden Erregungszuständen«.105 So gelangte er im Jahr 1883 in die Irrenanstalt Grafenberg bei Düsseldorf und wurde bald entmündigt. Die nächsten Jahre verbrachte er mit kurzen Unterbrechungen in verschiedenen Irrenanstalten der Rheinprovinz. Diese Krankengeschichte hätte kaum Aufsehen erregt, wenn nicht Frau Feldmann das Vermögen ihres entmündigten Gatten als Kapital in die marode Baufirma ihres Liebhabers eingebracht hätte. Im Zusammenhang mit dem Konkursverfahren des Bauunternehmers Hemmerling kamen sowohl die eheliche Untreue von Frau Feldmann als auch die von ihr begangene Veruntreuung ans Tageslicht. Das daraufhin eingeleitete Strafverfahren gegen Frau Feldmann und ihren Gefährten wurde von der Presse aufmerksam verfolgt. Insbesondere das in mehreren Tageszeitungen wiedergegebene Plädoyer des Staatsanwalts brachte eine massive Kritik an der Praxis der Irrenpflege zum Ausdruck, die eine aus kriminellen Motiven betriebene Entmündigung und Internierung möglich gemacht habe:

103 Eine knapp 200 Titel umfassende Bibliographie findet sich bei Beyer, S. 649ff. 104 So die Charakterisierung des Falls in der apologetischen Darstellung des Psychiaters Beyer (S. 240). Eine ausführliche Schilderung des Falls bietet Blasius, Der verwaltete Wahnsinn, S. 124ff.; vgl. auch Schmiedebach, S. 151f. 105 Beyer, S. 242.

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»Das jetzige Entmündigungsverfahren ist zu beklagen, es müssen bessere Garantien bei der Entmündigung in jeder Hinsicht geboten werden, damit solche Vorkommnisse, wie sie hier in so trauriger Weise in die Erscheinung traten, sich nicht wieder ereignen können. Dann sollte auch darauf gedrungen werden, daß die Irrenanstalten mit den Strafanstalten nicht auf eine Stufe gestellt und dafür angesehen werden. Es gelang schließlich Herrn Feldmann, aus der Dürener Anstalt zu entfliehen; nach dem, was wir über diese Anstalt hier gehört haben, habe ich die Flucht nur als eine Erlösung des armen Mannes ansehen können.«106

Das Strafverfahren endete mit der Verurteilung der beiden Angeklagten; zudem wurde im März 1894 die Entmündigung Feldmanns aufgehoben. Das ohnehin zweifelhafte Image der psychiatrischen Wissenschaft hatte Schaden genommen, zumal ein Psychiater der älteren Generation den Fall Feldmann dazu nutzte, den ›modernen‹ psychiatrischen Massenbetrieb anzuprangern. Der Bonner Extraordinarius Karl-Maria Finkelnburg, ein bis dato angesehener Psychiater, hatte sich energisch für die Aufhebung der Entmündigung Feldmanns eingesetzt und in diesem Zusammenhang sogar dazu verstiegen, den Patienten zur Dissimulation aufzufordern.107 In der Strafsache ›Feldmann-Hemmerling‹ fungierte er als Zeuge der Staatsanwaltschaft. Außerdem verfasste er das Vorwort zu einer Broschüre,108 in der Hermann Feldmanns Rechtsanwalt den Fall im Sinne seines Klienten dokumentierte. Die Psychiatriekritiker hatten in Finkelnburg einen Kronzeugen gefunden, während er unter Standesgenossen fortan als Nestbeschmutzer galt und in einer vom Psychiatrischen Verein der Rheinprovinz einstimmig verabschiedeten Resolution verurteilt wurde.109 Die von der Presse ausgeschlachtete Skandalgeschichte um den von seiner – im doppelten Wortsinne ›untreuen‹ – Ehefrau mit ärztlicher Hilfe kaltgestellten Hermann Feldmann ist in mancherlei Hinsicht charakteristisch für die verzerrte öffentliche Wahrnehmung der Psychiatrie zur Zeit der Jahrhundertwende. Zunächst ist festzustellen, dass es sich bei dem ›Opfer‹ um einen sozial und finanziell bessergestellten Patienten handelt. Das ist typisch für die bekannt gewordenen Fälle ›ungerechtfertigter‹ Zwangsunterbringung in einer Irrenanstalt, jedoch untypisch für die reale Zwangsunterbringungspraxis. Da finanziell unabhängige ›Irre‹ die Möglichkeit hatten, als Privatpatient einen Psychiater zu konsultieren oder sich in eine private Nervenheilanstalt zu bege106 Zitiert nach Blasius, Der verwaltete Wahnsinn, S. 127. 107 Vgl. Beyer, S. 246ff. In einem Brief an Hermann Feldmann vom 6. Juli 1888, der in die Gerichtsakten gelangt ist, riet Finkelnburg, einen Brief, der »einen krankhaften Eindruck machen würde«, nicht abzuschicken und auch nicht »von Freimaurern, Juden, Ultramontanen usw. in einem solchen Sinne zu sprechen«, als sei er von ihnen beeinträchtigt worden, was »ganz bestimmt als Verfolgungswahn gedeutet werden« würde. Stattdessen empfahl er »strengste Ruhe, Selbstbeherrschung und vorsichtigste Zurückhaltung«. (zitiert nach Beyer, S. 246). 108 Reinartz. 109 Schmiedebach, S. 152.

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ben, wurden diese eher selten zum Objekt der öffentlichen Irrenpflege. Hingegen war die Gefahr, zwangspsychiatrisiert zu werden, für einen zum Armenfürsorgefall abgestiegenen Unterschichtangehörigen durchaus gegeben. Die fatale Verflechtung von Armenfürsorge und Irrenpflege und die aus ihr resultierende Internierungsdynamik wurde in der psychiatriekritischen Berichterstattung freilich nicht thematisiert. Ein weiteres typisches Merkmal der Rezeption des Falls Feldmann ist die Betonung des Verschwörungsmoments. Die Geschichte war geeignet, verborgene Bedrohungsgefühle wachzurufen; die Sorge um das Vermögen und um die Treue der Ehefrau mag manchem Leser vertraut gewesen sein; auch wer selbst einen Abscheu gegen die ›Irren‹ hegte, konnte sich mit Feldmann – dem Opfer einer Intrige – identifizieren. Die dritte Gemeinsamkeit mit anderen an die Öffentlichkeit gelangten psychiatrischen Fallgeschichten liegt darin, dass man die Missstände vorwiegend der psychiatrischen Profession zuschrieb, Bedrohungsgefühle wurden auch dann auf die Vertreter jener ›obskuren Pseudowissenschaft‹ projiziert, wenn der Grund des Übels außerhalb der Psychiatrie zu finden war. Sicherlich wird Feldmann in den streng reglementierten und permanent überfüllten Provinzial-Irrenanstalten unangenehme Erfahrungen gemacht haben,110 doch im Kern drehte sich der Skandal um die juristischen Modalitäten des Entmündigungsverfahrens und der treuhänderischen Vermögensverwaltung. In den Augen der Öffentlichkeit aber erschienen die Psychiater als übereifrige Kerkermeister, die Juristen als Befreier. Auch die im Jahr 1890 eingeleitete Pressekampagne zur Rehabilitierung des Rechtsreferendars Morris de Jonge, der sich zu Unrecht in eine Irrenanstalt eingewiesen wähnte, spiegelte die genannten Merkmale – Zugehörigkeit zu einer gehobenen Schicht, Intrigen, unsachliche Psychiatriekritik – wider. Doch dieser Fall enthielt zusätzlich politischen Sprengstoff. Es war kein Zufall, dass ein hochkonservatives Blatt wie die »Kreuzzeitung« (»Neue Preußische Zeitung«) Morris de Jonge die Möglichkeit bot, seinen Fall in einer Reihe von Artikeln mit der Überschrift »Ein Akt moderner Tortur!« darzulegen.111 Der 24-jährige Jurist de Jonge hatte sich mit seiner Familie zerstritten und war, nachdem er einige ungehörige Schmähbriefe an seine Verwandten geschickt hatte, im Oktober 1889 in die Schöneberger Privatirrenanstalt »Maison de Santé« eingeliefert worden, aus der er im Juni 1890 als »gebessert« – nicht »geheilt« – entlassen wurde. Politisch brisant waren die weltanschaulichen 110 Der Staatsanwalt äußerte in seinem Plädoyer in der Strafsache ›Feldmann-Hemmerling‹, dass Hermann Feldmann in der Dürener Anstalt »dreißig Tage lang in einer nackten Isolierzelle liegen mußte – zur Strafe, weil er den Wärter bestochen.« (zitiert nach Blasius, Der verwaltete Wahnsinn, S. 126). Vgl. dagegen Beyer, S. 253f. 111 Morris de Jonge, Ein Akt moderner Tortur!, in: Neue Preußische Zeitung, 17.7.1890, 21.7.1890, 25.7.1890, 1.8.1890; vgl. dagegen die Darstellung aus psychiatrischer Sicht bei Beyer, S. 179ff.

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Hintergründe dieser Krankengeschichte, die de Jonge detailliert öffentlich ausbreitete: So sei er »auf Betreiben einer Reihe den jüdischen Börsenkreisen von Köln, Berlin und Paris angehöriger Personen, an deren Spitze mein eigener Vater, der Rentner frühere Bankier Jakob de Jonge, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde zu Köln, stand,« in die Irrenanstalt eingeliefert worden. Auch der an der Zwangseinweisung beteiligte Berliner Kreisphysikus Dr. Abraham Baer gehörte dem Judentum an. In den fraglichen Briefen, die den Anlass für die Internierung boten, habe er, Morris de Jonge, sich »in scharfen Worten über den platt-materiellen und idealitätslosen, von Geldsucht und Gelddünkel erfüllten, vaterlandslosen und in vieler Hinsicht für die deutsche Kultur gradezu gefährlichen Geist, der innerhalb der internationalen Börsenkreise genährt wird,« ausgesprochen. »Der Zweck des Vorgehens« gegen ihn sei gewesen, sein »literarisches Eintreten für die Berechtigung eines maßvollen Antisemitismus, insbesondere soweit er sich gegen das internationale Börsenjudenthum richtet, zu verhüten«. »Ebenso sollte offenbar« – so de Jonge – »mein beabsichtigter Uebertritt zum Christenthum, wenn auch nicht verhütet, so doch als der Schritt eines Unzurechnungsfähigen hingestellt werden.«112 Dieser Fall eines vaterländisch gesinnten Christen, der anscheinend allein seiner treudeutschen Geisteshaltung wegen auf Betreiben seiner dem »Börsenjudenthum« zugehörigen Familie und mit Hilfe jüdischer Ärzte in die Irrenanstalt verfrachtet wurde, fügte sich passgenau in das Weltbild der agrarisch-konservativ und antisemitisch orientierten Stammleserschaft der »Kreuzzeitung« ein. Die jüdisch beeinflusste Welt des Handels und der medizinisch-psychiatrischen Wissenschaft machte das »Moderne« an dieser vermeintlichen »Tortur« aus. Morris de Jonge selbst gab einige Jahre später seine Verfolgungsidee auf, bekannte sich wieder zum Judentum und verfasste – noch immer ein wenig exzentrisch – eine prophetische Schrift, in der er das unmittelbar bevorstehende Erscheinen des Messias ankündigte.113 Trotz dieser blamablen Wendung fungierte die »Kreuzzeitung« auch weiterhin als Speerspitze der konservativen Psychiatriekritik. Der ehemalige Berliner Hofprediger Adolf Stoecker, ein politischer Kampfgefährte des Chefredakteurs der »Kreuzzeitung« Freiherr von Hammerstein,114 initiierte einen Aufruf, der im Juli 1892 in dem Blatt veröffentlicht wurde. Insgesamt 111 namhafte Männer – neben zahlreichen Pastoren und Mitgliedern des Preußischen Herrenhauses auch Gelehrte wie Ihering und Treitschke – hatten mit ihrer Unterschrift das im Folgenden auszugsweise wiedergegebene Manifest bekräftigt: 112 Neue Preußische Zeitung, 17.7.1890. 113 Vgl. Beyer, S. 193ff. 114 Vgl. Greschat, S. 48f.

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»Auf keinem Gebiet unseres Rechtslebens ist dem Irrthum, der Willkür und der bösen Absicht ein solcher Spielraum gewährt, als auf dem der Irrsinns-Erklärung. Eine Anzahl Fälle sind in den letzten Jahren ans Tageslicht gekommen, in welchen Leute, die nach der Auffassung weiter Kreise durchaus bei Verstand waren, für geisteskrank erklärt oder gar ins Irrenhaus gesperrt worden sind. [...] Dem als geisteskrank Angeschuldigten ist die Vertheidigung so gut wie unmöglich gemacht, dem im Irrenhause Begrabenen ist sie vollständig genommen. [...] Desto nöthiger ist es, dass sich zum Schutze der durch die jetzige Praxis bedrohten staatsbürgerlichen Rechte Männer vereinigen, welche aus den in die Oeffentlichkeit gedrungenen Fällen oder aus der über dies Gebiet vorhandenen Litteratur die Ueberzeugung gewonnen haben, daß hier ein Schutz und eine Aenderung der Gesetzgebung dringend erforderlich ist.«115

Bei aller dieser Rechtssicherheits-Rhetorik ging es den Initiatoren des Aufrufs keineswegs darum, die Freiheitsrechte des Individuums über die Erfordernisse der öffentlichen Sicherheit zu stellen. Vielmehr zielte die Kritik auf die vermeintliche Unfähigkeit der fachwissenschaftlichen Experten, die nach allgemeiner Auffassung Gesunden von den tatsächlich Internierungsbedürftigen zu unterscheiden: »Die unschätzbaren Güter des Verstandes, der Rechtsfähigkeit und der Freiheit bedürfen eines wirksameren Schutzes als das freie Ermessen des Richters und das Gutachten der von ihm oder von der Polizeibehörde beauftragten ›Sachverständigen.‹ Einen solchen Schutz können wir nur darin erblicken, daß hierbei nicht juristische und medizinische, sondern lediglich die praktischen Gesichtspunkte der erwiesenen Hülflosigkeit oder Gefährlichkeit ausschlaggebend sein dürfen. Es muß die Entscheidung über jede Entmündigung wegen Geisteskrankheit und über jede Internirung in eine Irrenanstalt, bei der es sich nicht um einen plötzlich in gefahrdrohender Weise hervortretenden Ausbruch von Geistesstörung handelt, in die Hand einer Kommission unabhängiger Männer gelegt werden, die das Vertrauen ihrer Mitbürger genießen.«116

Im Kern ging es Stoecker und seinen Gesinnungsgenossen darum, die Definitionsmacht der Psychiatrie einzuschränken. Im Einklang mit der sich in dem Aufruf offenbarenden Geringschätzung der medizinischen Wissenschaft steht auch das dort propagierte Konzept der Irrenanstalt als einer reinen Pflege- und Detentionsanstalt für ›Hülflose‹ und ›Gefährliche‹.

115 Neue Preußische Zeitung, 9.7.1892. 116 Ebd. In einem dem Aufruf vorangestellten Artikel mit der Überschrift »Die Anzweiflung des Geistes-Zustandes« wird in gleichem Sinne vor der doppelten Gefahr eines allzu weit gefassten Begriffs der Geisteskrankheit gewarnt: »Kann alles, was manche Leute irrig und abnorm finden, als Ausfluß von Geisteskrankheit hingestellt werden, so giebt es offenbar keine Schranken mehr! Die harmlosesten Menschen sind der Gefahr ausgesetzt, plötzlich als geisteskrank verdächtigt und dann höchstwahrscheinlich dafür erklärt zu werden und der verschmitzteste Verbrecher, der mit raffinierter Klugheit seinen Plan zur Ausführung gebracht hat, hofft, statt ins Zuchthaus, auf einige Zeit ins Irrenhaus zu kommen.«

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Diese konservativ gefärbte Psychiatriekritik lässt sich nur vor dem Hintergrund jenes Weltanschauungskampfes verstehen, der die Gesellschaft des Kaiserreichs spaltete: der Konkurrenz zwischen einer traditional-christlichen und einer säkular-naturwissenschaftlichen Weltdeutung. Die »Kreuzzeitung« war das Sprachrohr der hochkonservativen Opposition gegen die liberal-konservative Kartellpolitik.117 Die auf dem rechten Flügel der Deutschkonservativen angesiedelte ›Kreuzzeitungspartei‹ um Stoecker und Hammerstein wollte die politische Hegemonie der Bismarckianer liberaler und konservativer Provenienz brechen und die durch den Kulturkampf geprägte Frontstellung auflösen, um gemeinsam mit dem politischen Katholizismus für die Wiederherstellung der gottgewollten ständischen Ordnung zu kämpfen. Mit ihrer kompromisslosen klerikalen und antiliberalen Ausrichtung gerieten die Hochkonservativen seit Mitte der achtziger Jahre weitgehend in die Isolation. In dieser Situation konnte die ›Kreuzzeitungspartei‹ mit ihrer populären Kritik an der naturwissenschaftlichen Psychiatrie nicht nur ihr weltanschauliches Profil schärfen, sondern darüber hinaus auch auf Zustimmung aus anderen politischen Lagern hoffen. Im März 1892 wurde das Preußische Abgeordnetenhaus zum Austragungsort dieses professionspolitisch überformten Weltanschauungskampfes.118 Der Abgeordnete Langerhans, der nach eigenem Bekunden »18 Jahre verantwortlicher Arzt an einer kleinen Privatirrenanstalt gewesen« war,119 kritisierte vor dem Plenum die durch »Parteiabsichten« verzerrte Berichterstattung über den Fall Morris de Jonge. Die bestehenden rechtlichen Bestimmungen ließen es ihm »undenkbar« erscheinen, dass »im preußischen Staate gesunde Leute gegen ihren Willen in Zwangsanstalten untergebracht sind«.120 Adolf Stoecker, der einen Sitz für die Deutschkonservative Partei innehatte, erwiderte daraufhin, dass es sich keineswegs um einen »unmäßig aufgebauschten« Einzelfall von ungerechtfertigter Einsperrung handele, sondern »daß viele Fälle der Art vorgekommen sind«. Die mangelnde Kompetenz der begutachtenden Ärzte habe diese Freiheitsberaubungen ermöglicht: »Oft sind es Gutachten irgend welcher Aerzte, auf die hin Familienglieder das Recht gewinnen, Verwandte ins Irrenhaus zu sperren. Aber auch bei einem Kreisphysikus ist es in keiner Weise garantirt, daß die Sache richtig gehandhabt wird. Es giebt eine Menge von Kreisphysici, die von Psychiatrie keine Ahnung haben, (Widerspruch) gar keine, – das haben mir berühmte Irrenärzte gesagt; sie urtheilen nach ihrem Sentiment.«121 117 Vgl. Wehler, S. 1244. 118 Vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 28. Dezember 1891 einberufenen beiden Häuser des Landtages, Haus der Abgeordneten, Bd. 2, Berlin 1892, S. 960ff. (33. Sitzung am 16. März 1892). 119 Ebd., S. 963. 120 Ebd., S. 961. 121 Ebd., S. 962.

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Mit diesen Worten provozierte der ehemalige Hofprediger den Widerspruch der Mediziner unter den Abgeordneten. Virchow suchte die Ehre des angegriffenen Berufsstandes zu verteidigen und verglich die vielen Berichte über zu Unrecht eingesperrte Geistesgesunde mit den Zeitungsnotizen über »die Fälle des Lebendigbegrabenwerdens«, die sich nach ihrer Überprüfung jedes Mal als »eine Ente« erwiesen hätten.122 Es war kein Zufall, dass sich bei dieser Debatte ein Geistlicher und zwei Ärzte als Antipoden gegenüberstanden. Denn beide Berufsgruppen kämpften um die Vorherrschaft auf dem Gebiet der Irrenpflege. Aus der Sicht des Lengericher Anstaltspsychiaters Schaefer stellte sich die von Kirchenvertretern wie Stoecker oder Bodelschwingh betriebene Kampagne als ein »Feldzug gegen die Irrenärzte« dar, der darauf abzielte, »die angeblich völlige Verirrung der psychiatrischen Wissenschaft als die Folge des Truges der materialistischen Weltanschauung« hinzustellen.123 Die Psychiater warfen den Geistlichen ihrerseits vor, »nach Abschaffung der Wissenschaft« die dem Irresein zu Grunde liegenden krankhaften Zustände des Zentralnervensystems »auf den Begriff der Sünde und des Besessenseins zurückführen und die Irrenanstalten an die Kirche oder die innere Mission und zwar an den auf extremstem Standpunkt stehenden Teil derselben ausliefern« zu wollen. Die Irrenpflege drohe »um Jahrhunderte zurückgebracht« zu werden, und es sei deshalb die Pflicht der Psychiater, »die Staatsbehörden auf die Gefahren aufmerksam zu machen, welche den Irren drohen, wenn sie wieder dem theologischen Unverstande ausgeliefert werden sollen«.124 In der Tat boten die konfessionellen Irrenanstalten, in denen zumeist unheilbare Irre unter Verzicht auf irrenärztliche Betreuung gepflegt wurden,125 einige Angriffspunkte. Der reichsweit aufsehenerregende ›Alexianer-Skandal‹ des Jahres 1894 führte der Öffentlichkeit die Missstände in einer katholischen Irrenanstalt vor Augen.126 Dem Iserlohner Gastwirt Mellage war zu Ohren 122 Ebd., S. 963. 123 Schaefer an Overweg, 8. Januar 1893, Lengerich (behändigte Ausfertigung), abgedruckt in: Küster, S. 549–552, hier S. 549f. 124 So die Psychiater Zinn und Siemerling in ihrem Referat »Psychiatrie und Seelsorge« auf der Versammlung des Vereins der deutschen Irrenärzte in Frankfurt am 25. und 26. März 1893, zitiert nach Beyer, S. 428f.; eine von den beiden Referenten ausgearbeitete Resolution wurde einstimmig angenommen; vgl. Jahressitzung des Vereins der deutschen Irrenärzte zu Frankfurt a. M. am 25. und 26. Mai 1893, Thesen zu No. 3 der Tagesordnung (Psychiatrie und Seelsorge), in: AZP, Jg. 50, 1894, S. 335–338. 125 Vgl. Blasius, »Einfache Seelenstörung«, S. 66. Jochen-Christoph Kaiser sieht in dem seit den 1890er Jahren zu verzeichnendem Trend zur Unterteilung der Wohlfahrts-Klientel in eine in öffentlichen Anstalten zu resozialisierende Gruppe und in an kirchliche Anstalten abzuschiebende Gruppe von ›Unbrauchbaren‹ ein »Strukturproblem«, das sich später bis zur totalitären Selektionspraxis verschärft habe. Vgl. Kaiser, Protestantismus und Sozialpolitik, S. 108. 126 Die Darstellung des ›Alexianer-Skandals‹ stützt sich auf Blasius, Der verwaltete Wahnsinn, S. 129ff.; siehe auch Schaffer, S. 165ff.

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gekommen, dass in der vom Alexianer-Orden betriebenen Anstalt Mariaberg in Aachen ein durchaus geistesgesunder Priester als Patient festgehalten werde. Tatsächlich war der schottische Geistliche Forbes, nachdem er sich mit der Kirchenobrigkeit überworfen hatte, als ein geistesgestörter »chronischer Trinker« in die Alexianer-Anstalt gelangt. Um den gegen seinen Willen Eingesperrten zu befreien, erstattete Mellage »Anzeige gegen die Anstalt wegen einer an Forbes begangenen Freiheitsberaubung«. Zwar wurde das Verfahren niedergeschlagen, doch die polizeilichen Ermittlungen ergaben, dass Forbes nicht anstaltspflegebedürftig gewesen sei, so dass er das Kloster verlassen durfte. In einigen Presseartikeln und einer selbstverfassten Broschüre brachte der ›Befreier‹ die zweifelhaften Disziplinierungsmethoden ans Tageslicht, mit denen die Ordensbrüder ›renitente‹ Kranke bedachten. Abgedruckt wurde auch der Brief eines Wärters, der über die Züchtigungsmittel Auskunft gab: »Um nun von oben erwähnten Mißhandlungen zu sprechen, die teils von Brüdern, teils von ihnen untergeordneten Wärtern verübt wurden, was nicht immer ohne blutige Folgen abging, so gehören dazu das Schlagen mit dem Schlüsselbunde, das Stoßen oder Werfen der Kranken auf den Boden, das Treten und Stoßen mit den Füßen, das Schleppen oder Schleifen über den Boden, das Schlagen ins Gesicht mit den Händen etc. Doch das ist in meinen Augen noch alles nichts gegen eine andere Züchtigung, die dort gehandhabt und die nach den Schilderungen eines Bruders und verschiedener Kranken folgendermaßen angewandt wird: Die Kranken, welche diese Strafe erleiden, werden zuvor in eine Extrazelle gebracht, in welcher ein hoher Wasserbehälter sich befindet. Dann werden ihnen die Kleider ausgezogen, und jetzt werden die Kranken mit einer sog. Schwimmhose angetan, sozusagen nackt auf den Boden gelegt und an Händen und Füßen gefesselt. So geknebelt, werden sie dann rücklings in den Wasserbehälter gebracht, in welchem sich ganz kaltes Wasser befindet. Dann erfaßt ein Bruder den unglücklichen Kranken, der sich absolut nicht helfen kann, an dem an den Füßen befindlichen Riemen und hebt die Füße in die Höhe, damit der Kopf gut unter Wasser bleibt. So liegt das arme Opfer in der Erstickungsnot, bis das Wasser über seinem Munde zischt und Blasen wirft – ein Zeichen, daß er am Ertrinken ist. Nunmehr werden die Füße nach unten gedrückt, damit der Kopf jenseits aus dem Wasser kommt. Der Kranke kann jetzt ein wenig Luft schnappen, und dann geht’s von neuem an.«127

Die Anstaltsleitung reagierte auf diese Vorwürfe mit einer Beleidigungsklage gegen Mellage. Doch dieser Prozess mündete in einen Triumph für den Beklagten, denn die Schilderungen der ›Foltermethoden‹ erwiesen sich vor Gericht als wahr, und die Prozessbeobachter konnten die als Beweismittel herbeigeschafften Zwangsinstrumente bestaunen. Der ›Alexianer-Skandal‹ brachte die Missstände einer kirchlichen Irrenanstalt ans Tageslicht, die ohne einen angestellten Psychiater auskommen wollte. 127 Mellage, 39 Monate bei gesundem Geiste als irrsinnig eingekerkert, Hagen 1894, S. 48, zitiert nach Blasius, Der verwaltete Wahnsinn, S. 132f.

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Der für Mariaberg zuständige Mediziner Capellmann war ein praktischer Arzt, der nebenberuflich und auf Honorarbasis auch die Anstaltsinsassen betreute, ohne über eine psychiatrische Ausbildung zu verfügen. Zudem zählte er als Verfasser des Buches »Pastorale Medizin« zu den extremen Außenseitern seiner Zunft.128 Dennoch warf der Fall Forbes einen Schatten auf das gesamte System der Irrenpflege. Das Negativ-Image der Irrenanstalten färbte auf die Psychiater ab, auch wenn diese – aus naheliegenden Gründen – am vehementesten vor den kirchlichen Anstalten ohne irrenärztliche Leitung gewarnt hatten. Nach dem ›Alexianer-Skandal‹ wurde die Irrenfrage auch auf Reichsebene zu einem Gegenstand der politischen Auseinandersetzung. Der freisinnige Abgeordnete Lenzmann, der im Beleidigungsprozess gegen den ›Befreier‹ Mellage die Verteidigung übernommen hatte, brachte am 16. Januar 1897 den Antrag in den Reichstag ein, »die verbündeten Regierungen zu ersuchen, baldigst einen Gesetzentwurf vorzulegen, wodurch die Aufnahme und Unterbringung von Patienten in Heilanstalten für Geisteskranke reichsgesetzlich geregelt wird«.129 Lenzmann begründete seinen Antrag mit einer »Reihe von Fällen, aus denen unzweifelhaft hervorgeht, daß Personen gesunden Geistes auf lange Jahre in Irrenanstalten untergebracht sind«. Diese Fälle seien möglich geworden, weil »es gar kein bequemeres Mittel giebt [...], sich unbequemer Leute zu entledigen, als daß man sie dem Irrenhause überliefert. Was in Rußland im Wege der Verbannung nach Sibirien gemacht wird, was in früheren Jahrhunderten auf dem Wege der lettres de cachet zustande gebracht wurde, kann man in Deutschland nicht mehr durch Verbannung und Gefängniß erreichen [...]. Das erreicht man demzufolge dadurch, daß man für unbequeme Personen die Pforten des Irrenhauses öffnet [...]«.130 Auch wenn diese Polemik stark an den Kreuzzeitungs-Aufruf erinnert, ging es dem freisinnigen Abgeordneten eben nicht darum, psychiatrische Expertisen durch praktische Erwägungen zu ersetzen. Vielmehr kritisierte er, dass »die Frage, ob einer unterzubringen ist in einer Irrenanstalt, und ob er darin zu behalten ist, sehr häufig nicht gelöst wird vom Gesichtspunkte der hygienischen Psychiatrie aus, sondern sehr häufig vom Gesichtspunkte der polizeilichen Zweckmäßigkeit«.131 Im Gegensatz zu den konservativen Psychiatriekritikern um Stoecker hielt Lenzmann auch die Zwangsunterbringung der tatsächlich Geisteskranken für bedenklich: Es müsse »mit dem Aberglauben gebrochen werden, als ob die Freiheitsentziehung das einzige Mittel wäre, einen angeblich Wahnsinnigen naturgemäß zu behandeln«. Vielmehr solle »die Freiheitsentziehung nur 128 Vgl. Beyer, S. 444. 129 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, 4. Session, 1895/97, Bd. 6, Berlin 1897, S. 4081. 130 Ebd., S. 4082. 131 Ebd., S. 4083.

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die Ausnahme sein, ungefähr eine ähnliche Maßnahme, wie man wüthende Hunde an die Kette legt, um sie unschädlich zu machen«. In der Regel solle, »wenn es irgend möglich ist«, die Familie »unter der Bewachung des Staates« die Pflege übernehmen.132 Trotz aller ideologischen Gegensätze zur ›Kreuzzeitungspartei‹ gelangte Lenzmann in letzter Konsequenz zu einem ganz ähnlichen Vorschlag: »Nicht das Urtheil eines beliebigen Arztes – und sei es auch eines Kreisphysikus – , nicht das polizeiliche Attest darf genügen, sondern die Frage, ob jemand gegen seinen Willen in eine [sic!] Irrenanstalt untergebracht werden soll [...], muß nach meiner Meinung durch ein Kollegium entschieden werden, bestehend aus Aerzten, aus Juristen und auch aus Laien«.133 Im weiteren Verlauf der Debatte wurde kein grundsätzlicher Widerspruch geäußert, so dass der Antrag in leicht veränderter Form einstimmig verabschiedet werden konnte. Der Bundesrat war nun aufgefordert, den Entwurf eines Gesetzes auszuarbeiten, das die »Grundsätze« für die Aufnahme und Entlassung reichsweit festlegte. Die Frage der Unterbringung geisteskranker Rechtsbrecher stand bei der Debatte über das Reichsirrengesetz nicht im Vordergrund; dennoch hätte ein solches Gesetz die Probleme auf diesem Gebiet mildern können. Die Bündelung der Entscheidungsbefugnisse über Einweisung und Entlassung bei einer aus Juristen, Medizinern und Laien zusammengesetzten Instanz hätte dem Kompetenzwirrwarr ein Ende bereitet. Es wäre für die Irrenanstalten und Gefängnisse, Provinzialverbände und Gemeindeverwaltungen schwieriger geworden, die lästigen ›Gemeingefährlichen‹ nach kurzzeitiger Verpflegung wieder einer anderen Institution zu überantworten. Doch das sollte nicht geschehen. Der Bundesrat leitete die Reichsrats-Resolution an den Reichskanzler weiter. Der Staatssekretär des Innern Graf Posadowsky-Wehner bat daraufhin im Auftrag des Kanzlers das preußische Staatsministerium um eine Stellungnahme, nicht ohne anzumerken, dass es ihm »zweifelhaft« erscheine, »ob es räthlich sein wird, dem Beschlusse des Reichstags Folge zu geben«.134 Das Staatsministerium beschloss dementsprechend, »daß der bezüglichen Resolution des Reichstags keine Folge zu geben sei.«135 So erhielt der Reichstag in der Sitzung am 28. Januar 1899 den ablehnenden Bescheid des Reichskanzlers.136 132 Ebd., S. 4090. 133 Ebd., S. 4091. 134 RK an das preußische Staatsministerium, 4.10.1897, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Bd. 3, unfoliiert. 135 Protokoll der Sitzung des preußischen Staatsministeriums vom 18.12.1897, GStA PK, HA I, Rep. 84 a, Nr. 1008, Bl. 196. Die diesem Beschluss zugrunde liegenden negativen Voten des Kultusministers (9.11.1897), des Innenministers (25.11.1897) und des Justizministers (30.11.1897) finden sich in GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Bd. 3, unfoliiert. 136 Vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, 1. Session, 1898/1900, Bd. 1, Berlin 1899, S. 495f.

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Dieses Spiel wiederholte sich noch einmal im Jahr 1902, als der Reichstag einen gleichlautenden Antrag Lenzmanns annahm,137 der wiederum vom Bundesrat an den Reichskanzler überwiesen wurde.138 Doch diesmal bat der Kanzler – Bülow hatte inzwischen Hohenlohe abgelöst – sämtliche Länder um eine Stellungnahme. Die süddeutschen Staaten, das Königreich Sachsen und einige Kleinstaaten sprachen sich für eine reichsgesetzliche Regelung des Irrenwesens aus, während Preußen – unterstützt durch die meisten norddeutschen Kleinstaaten – bei seiner ablehnenden Haltung blieb. Angesichts dieser abweichenden Voten bat der Reichskanzler die beteiligten preußischen Ressortminister im April 1904, ihren Standpunkt zu überdenken, da ein solches Reichsgesetz lediglich die Voraussetzungen für die Anstaltsunterbringung »gleichmäßig festzustellen« hätte, ohne die Kompetenz der Bundesstaaten für die Irrenfürsorge zu beschneiden.139 In ihrem gemeinsamen Antwortschreiben signalisierten die Minister, dass ihre Bedenken erst dann beseitigt wären, wenn »die Grundlage, auf welcher die Verhältnisse in Preußen – im allgemeinen in anerkannt zweckmäßiger Weise – sich entwickelt haben, auch bei einer reichsgesetzlichen Regelung im wesentlichen innegehalten« würden. Im übrigen erachteten sie es für empfehlenswert, an der preußischen Praxis festzuhalten, »die Zurückhaltung in der Anstalt gegen den Willen des Kranken und seines gesetzlichen Vertreters lediglich von der Wahrung genau zu prüfender Interessen der öffentlichen Sicherheit abhängig zu machen«.140 Während die preußische Ministerialbürokratie es zuvor kategorisch abgelehnt hatte, sich durch ein Reichsgesetz binden zu lassen, sah sie nun die Chance, ihre repressive Verwaltungspraxis reichsgesetzlich abzusichern. Eine Antwort des Reichskanzlers blieb jedoch aus, und die Irrenrechtsreform geriet in den folgenden Jahren ins Stocken. Erst im Winter 1917/18 kam wieder Bewegung in diese Angelegenheit. Nun ergriff das preußische Innenministerium die Initiative. In einem Schreiben an den Reichskanzler vom 12. Februar 1918 brachte der Innenminister zum Ausdruck, dass er »eine gesetzliche Neuregelung des Irrenwesens für angezeigt« halte.141 Auch der Grund für diesen Sinneswandel wurde angeführt: Die 137 Vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 10. Legislaturperiode, 2. Session, 1900/1903, Bd. 5, S. 3888. 138 Vgl. hierzu und zum Folgenden die zusammenfassende Darstellung in der undatierten internen »Denkschrift, betreffend die reichsgesetzliche Regelung des Irrenwesens« des Reichsamts des Innern, BA, R 15.01, Nr. 11905, Bl. 4ff.; siehe zu diesem Vorgang auch die diversen Schriftwechsel aus dem Bestand des preußischen Innenministeriums, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Bd. 5, unfoliiert. 139 RK an PrMdgUMA, PrJM, PrMdI, 9.4.1904, GStA PK, HA I, Rep. 84 a, Nr. 1010, Bl. 226f. 140 PrMdgUMA, PrJM, PrMdI an RK, 22.3.1905, GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Bd. 6, unfoliiert. 141 PrMdI an RK, 12.2.1918, BA, R 15.01, Nr. 11907, Bl. 187ff., hier Bl. 187.

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»Reichsgesetzgebung« beabsichtige, mit dem Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches »in das bisher landesrechtlich geordnete Gebiet des Irrenwesens insofern einzugreifen [...], als sie in dem Entwurf über die Verwahrung gemeingefährlicher, wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit freigesprochener Personen Vorschriften vorgesehen« habe.142 Die preußische Bürokratie sah sich in die Defensive gedrängt. In den Jahren 1904 und 1905 war zwischen Psychiatern und Juristen eine Debatte über die Verwahrung und strafrechtliche Würdigung der ›vermindert Zurechnungsfähigen‹ entbrannt; zur gleichen Zeit hatte das Reichsjustizamt die Vorarbeiten für eine Strafrechtsreform in Angriff genommen.143 Auch einige mit der Verwaltung des Irrenwesens befasste Praktiker riefen nach einer strafrechtlichen Regelung der Zwangsunterbringung.144 Um den Status quo aufrechtzuerhalten, schien es in dieser Situation ratsam, die bisherige Praxis der Irrenpflege durch ein Reichsirrengesetz sanktionieren zu lassen, um einer Bevormundung durch das Reich im Zusammenhang mit der Strafrechtsreform zu entgehen. Die Bemühungen um eine gesetzliche Regelung des Irrenwesens wurden zur Zeit der Weimarer Republik fortgeführt, doch zur Verabschiedung eines Reichsirrengesetzes kam es nicht.145 Auch diese Chance, das Problem der Unterbringung geisteskranker Rechtsbrecher zu lösen, wurde vertan. Gleichwohl blieb die breite Diskussion über die Irrenrechtsreform nicht folgenlos. Zum einen wurden die juristische und die psychiatrische Profession zusammengeführt, indem sich die Irrenärzte mit dem Unterbringungsrecht und die Juristen mit den medizinischen Ursachen der ›Gemeingefährlichkeit‹ vertraut machten; diese Erfahrungen flossen auch in die Debatte über die Strafrechtsreform ein, die gleichfalls die Frage der psychiatrisch begründeten Zwangsunterbringung berührte. Zum anderen dürften die Anfeindungen von links und rechts, unter denen die Irrenärzte zu leiden hatten, eine mentale Prägung 142 Ebd., Bl. 190. 143 Siehe unten, Abschnitt A, III. 144 Beispielsweise sprach sich der Oberpräsident der Provinz Brandenburg in einem Schreiben an den Innenminister vom 11.4.1905 für die Schaffung einer »reichsgesetzliche[n] Vorschrift des Inhaltes« aus, »dass das erkennende Gericht bei Freisprechungen auf Grund des § 51 des Reichsstrafgesetzbuches zugleich über die Gemeingefährlichkeit und Unterbringung des Angeklagten befinde« (GStA PK, HA I, Rep. 77, Tit. 298, Nr. 1, Bd. 6, unfoliiert). 145 Der Entwurf eines ›Irrenschutzgesetzes‹ aus dem Jahr 1923 wurde – nicht zuletzt wegen des Widerstandes der psychiatrischen Standesorganisationen – nicht verabschiedet. Der Entwurf war von dem Bestreben getragen, die Patienten vor einer ungerechtfertigten Anstaltsunterbringung zu bewahren. Die Verwirklichung dieser wohlwollenden Absicht hätte freilich eine aus psychiatrischer Sicht nicht zu akzeptierende Konsequenz gezeitigt: Die Heilanstalten wären zu bloßen Verwahrinstitutionen für den harten Kern der sozial auffälligen Geisteskranken zurückgestuft worden; sämtliche Anstaltspatienten wären mit dem Stigma der ›Gemeingefährlichkeit‹ belastet worden. Zur Weimarer Irrenrechtsreform siehe: BA, R 15.01, Nr. 11908; GStA PK, HA I, Rep. 84 a, Nr. 1013 sowie Rittershaus.

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hinterlassen haben. Zwischen die Fronten des Weltanschauungskampfes geraten, sahen die Psychiater sich mit den Vorwürfen konfrontiert, einerseits durch ihren deterministischen Materialismus die sittlichen Grundlagen des christlichen Abendlandes auszuhöhlen, andererseits dem reaktionären Obrigkeitsstaat als willfährige Kerkermeister zu dienen. Angesichts derart disparater Beschuldigungen konnten sich verschiedene Abwehrhaltungen zu einem seltsam anmutenden Einstellungs-Set verbinden. So pries August Forel, einer der einflussreichsten deutschsprachigen Psychiater seiner Zeit, die im Kampf gegen die Kirche errungenen humanitären Fortschritte in der Behandlung der Irren,146 um im nächsten Atemzug die »blinde Humanität unserer gegenwärtigen Gesellschaft« zu beklagen und größeren Mut zur Ergreifung von »Präventivmassregeln« gegen das Verbrechen und seine biologischen Ursachen einzufordern.147 Die für das 20. Jahrhundert charakteristische Anlehnung der Psychiatrie an den – sozialen oder auch rassistischen – Interventionsstaat wurde durch die doppelte Abwehrstellung gegen klerikale Kräfte wie auch gegen liberale Bürgerrechtler begünstigt. Der Anteil der Irrenärzte an der Umgestaltung des Strafrechts im Sinne präventiver Sozialintervention soll im folgenden Kapitel in den Blick genommen werden. Denn das Bestreben der Psychiatrie, ihre Definitionsmacht auszuweiten und größere Entscheidungskompetenz in der Unterbringungsfrage zu erlangen, setzte sich in der Strafrechtsreform-Diskussion fort.

146 Forel, Verbrechen und konstitutionelle Seelenabnormitäten, S. 170f.: »Wer aber sind besonders die Leute, die die Irrsinnigen misshandelt, gefesselt und verbrannt haben? Das sind die Kirche und die unwissenschaftliche Ignoranz. Wer hat im Gegenteile die Ketten und die Zwangsjacken dieser Unglücklichen beseitigt? Das sind die Irrenärzte Pinel und Conolly.« 147 Ebd., S. 179.

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III. Psychiatrie und Strafrechtsreform 1. Kriminalpolitische Forderungen und juristische Antworten: die Psychiatrie und der ›Schulenstreit‹ der Strafrechtswissenschaft Informiert man sich in der rechtsgeschichtlichen Literatur über die Anfänge der Strafrechtsreformbewegung im Deutschen Kaiserreich, wird man stets auf den Namen Franz von Liszt verwiesen.1 Der Rechtsgelehrte Franz von Liszt (1851–1919) – ein Vetter des gleichnamigen Komponisten – gilt gemeinhin als Vorkämpfer für eine zweckrationale, präventive Kriminalpolitik. In seiner bahnbrechenden Marburger Antrittsvorlesung im Jahr 1882 plädierte er dafür, die Strafe als einen »zweckbewußten Rechtsgüterschutz« neu zu definieren. Nicht Sühne, sondern Kriminalprävention durch Besserung, Abschreckung oder Unschädlichmachung des Rechtsbrechers nach Maßgabe seiner individuellen Gefährlichkeit und Besserungsfähigkeit sollte Zweck der Strafe sein. Strafrechtsdogmatik, Kriminalstatistik, Kriminalanthropologie und Kriminalpsychologie galt es zu einer ›gesamten Strafrechtswissenschaft‹ zusammenzuführen, um die Verbrechensbekämpfung auf eine naturwissenschaftliche Grundlage zu stellen. Durch seine wissenschaftsorganisatorische Tätigkeit begründete Liszt die ›moderne Schule‹ der Strafrechtswissenschaft. Freilich entzündete sich an dieser rein utilitaristischen Strafrechtskonzeption eine innerjuristische Debatte, die als der Schulenstreit in die Rechtsgeschichte eingegangen ist. Jahrzehnte lang sollten sich zwei Lager gegenüberstehen: die ›moderne‹ Liszt-Schule und die ›klassische‹ Strafrechtsschule um Karl Binding (1841–1920) und Karl von Birkmeyer (1847–1920). Letztere wollte die tradierte Vergeltungsstrafe verteidigen, die sich nach der Tat, nicht nach der Persönlichkeit des Täters ausrichtete. In der hier nur knapp skizzierten rechtshistorischen Perspektive erscheinen Kriminologen und Psychiater als Gehilfen der ›modernen‹ Strafrechtsreformer im gemeinsamen Kampf um die Verwissenschaftlichung der Strafrechtspflege, während die ›Klassiker‹ das Strafrecht von dem Einfluss der Naturwissenschaften freizuhalten suchten.2 Auch der Historiker Richard Wetzell beschreibt die Geschichte der deutschen Strafrechtsreform als ein gemeinsames Bemühen von Psychiatern und fortschrittlichen Juristen um die 1 Vgl. z.B. Schmidt, Einführung, S. 357ff.; Rüping, S. 88. 2 Vgl. Schmidt, Einführung, S. 364ff.

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Ver(natur)wissenschaftlichung der Strafrechtspflege und benennt »the medicalization of criminal justice« als »the most powerful trend in reformist thinking«.3 Andere Autoren haben die Bedeutung der empirischen Wissenschaften für die ›moderne‹ Strafrechtsschule relativiert, ohne die gemeinsame Stoßrichtung der juristisch und psychiatrisch ausgebildeten Strafrechtsreformer grundsätzlich anzuzweifeln.4 Im Folgenden gilt es, bezogen auf die zentralen kriminalpolitischen Forderungen zu zeigen, dass die Konfliktlinien in der Auseinandersetzung um die Strafrechtsreform keineswegs so eindeutig verliefen. Zwar definierte sich die ›klassische‹ wie auch die ›moderne‹ Strafrechtsschule durch ihr jeweiliges – ablehnendes bzw. positives – Verhältnis zu den Erfahrungswissenschaften. Bezieht man die Psychiatrie und Kriminologie jedoch in die wissenschaftshistorische Betrachtung der Reformdiskussion mit ein, dann entpuppt sich die gängige Formel »›moderne Schule‹ mit Erfahrungswissenschaften versus ›klassische Schule‹« eher als eine Selbststilisierung der rivalisierenden juristischen Schulen; der Gegensatz zwischen den Disziplinen tritt schärfer hervor, und der innerjuristische Schulenstreit erscheint eher als ein Ringen um die angemessene Reaktion auf eine von außen angetragene Herausforderung: die Medikalisierung des Strafsystems.

a) Schutzstrafe statt Vergeltungsstrafe Das idealtypische Modell einer Medikalisierung der Strafrechtspflege besteht darin, das kriminelle Verhalten selbst als eine Art Geisteskrankheit zu betrachten und den Täter gleichsam als Kranken zu therapieren. Aus medizinischer Sicht müsste der Schuldbegriff, der für die Strafrechtsdogmatik von zentraler Bedeutung ist, als haltlos erscheinen; schließlich kann der Kriminelle, dessen Tat im Sinne einer naturwissenschaftlichen Kausalauffassung als determiniertes Verhalten verstanden wird, nicht als verantwortlich angesehen werden. Zur Bekämpfung der ›Krankheit‹ Kriminalität schiene es geboten, den Täter in einer Anstalt psychiatrischen Zuschnitts zu behandeln, bis er von seiner Devianz ›geheilt‹ ist. Die ›unheilbaren‹ Verbrecher wären dementsprechend wegen ihrer Gefährlichkeit zu isolieren wie die Träger ansteckender Krankheiten. Das medizinische Paradigma in dieser reinen, denkbar radikalsten Form auf den Umgang mit Straftätern zu beziehen war ein gewagtes Unterfangen. Dennoch unternahm der Psychiater Emil Kraepelin im Jahr 1880 einen entschiedenen Schritt in diese Richtung. Seine Schrift »Die Abschaffung des Strafmaßes«5 sollte dem Strafrechtsdenken völlig neue Impulse geben. Freimütig und 3 Vgl. Wetzell, Criminal Law Reform, S. 59 (Zitat); ders., Medicalization, S. 278 u. 283. 4 Vgl. Kempe; Frommel, Erfahrungswissenschaften; Fijnaut. 5 Kraepelin, Abschaffung. Wie der Autor im Vorwort bekundet (S. IIIff.), hatte ihn die polemische Streitschrift des Hamburger Oberlandesgerichtsrats Mittelstädt, Gegen die Freiheitsstra-

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ohne taktische Rücksichtnahme legte der 24-jährige Kraepelin seine Vorstellungen von einer Strafrechtspflege auf naturwissenschaftlicher Grundlage dar. Bereits auf der ersten Seite brüskierte er die Juristen unter den Lesern mit der Feststellung, »daß die mächtigen Umwälzungen, welche der Fortschritt naturwissenschaftlicher Forschung auf den meisten Wissensgebieten hervorgerufen hat, an dem Lehrgebäude der Jurisprudenz fast einflußlos vorübergegangen sind.« Um diesem Mangel abzuhelfen, bezog der Psychiater den aus der naturwissenschaftlichen »Lehre von den geistigen Vorgängen« entlehnten »Grundsatz präsumirter ausnahmsloser Gesetzmäßigkeit« auf den rechtsbrechenden Menschen: »Wir sind weit davon entfernt, alle Verbrecher als Geisteskranke zu betrachten, aber es ist durchaus unleugbar, daß es zahllose Uebergänge zwischen beiden Kategorien gibt, sowie daß Beide in ihrem Denken und Handeln derselben Gesetzmäßigkeit unterworfen sind, wie jeder andere Organismus. Beide sind eben auch die nothwendigen Produkte aus der erblichen Anlage und den Verhältnissen, in die sie durch die dira necessitas des Weltmechanismus hineingeworfen werden.«6

Insbesondere im Hinblick auf die »sogenannten Gewohnheitsverbrecher« – »Menschen, die, vielleicht von Hause aus pervers angelegt, zum größten Theil ohne Erziehung unter den ungünstigsten Verhältnissen aufgewachsen und sittlich verwahrlost sind«7 – erweise sich das traditionelle, auf die Sühne zielende Strafrecht als absurd: »Die Strafzeit ist vorbei, das Gerechtigkeitsgefühl ist befriedigt, also wird ruhig das Raubthier wieder auf das Publikum losgelassen, bis es den angestrengten Bemühungen der Polizei mit Hilfe des ad hoc zusammengestellten ›Verbrecheralbums‹ gelingt, den gefährlichen Verbrecher N.N., der bereits so und so oft rückfällig geworden ist, wiederum auf einige Jahre, so lange es gerade das neue reat verlangt, dingfest zu machen.«8

Als Konsequenz verlangte Kraepelin nicht weniger, als den »Begriff der Strafe« in den eines »Schutzmittels« umzuwandeln, wobei die »Idee einer Vergeltung [...] selbstverständlich fort[falle]«. Bei der Beantwortung der sich nun aufdrängenden Frage, »welche Maßregeln geeignet sind, in den verschiedenen Fällen am zweckmäßigsten den geforderten Schutz zu gewähren«, machte Kraepelin Anleihen bei der Anstaltspsychiatrie: »Um die menschliche Gesellschaft vor allen ihr von einem Excedenten drohenden weiteren Schädigungen irgend welcher Art zu schützen, würden wir demnach von fe, – ein Plädoyer für die Ersetzung der Freiheitsstrafen durch Todes- und Körperstrafen – zur Abfassung der Broschüre provoziert. Zu den Bezügen und Gegensätzen zwischen beiden Texten siehe Wetzell, Criminal Law Reform, S. 44ff. 6 Kraepelin, Abschaffung, S. 10f. 7 Ebd., S. 20. 8 Ebd., S. 21.

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unserem Standpunkte aus eine Freiheitsentziehung in Anwendung bringen, und zwar hätte dieselbe genau so lange, aber auch nur so lange zu dauern, als von dem betreffenden Individuum noch irgend welche Gefahr drohte. Selbstverständlich vermag über diesen Punkt im Allgemeinen nicht der Richter von vorn herein zu entscheiden, sondern eine genaue Beobachtung während der Gefangenschaft ist allein im Stande, den Zeitpunkt zu ermitteln, in welchem die anfangs vorhandene Gemeingefährlichkeit als beseitigt anzusehen ist. Aus dieser Ueberlegung geht klar hervor, daß die Feststellung eines bestimmten Strafmaßes bei der Verurtheilung vom Standpunkte der Schutztheorie völlig sinnlos ist.« 9

Kraepelin war nicht darauf bedacht, diese Kernforderung – die Ersetzung der Vergeltungsstrafe durch eine allein dem Zweck des Gesellschaftsschutzes verpflichtete, unbefristete Freiheitsentziehung – den Juristen auf konziliante Weise nahe zu bringen. Stattdessen hielt er ihnen ziemlich ungestüm die Irrenanstalten als »praktisches Vorbild« vor Augen, »da in ihnen bereits diejenigen Grundsätze praktische Anwendung finden, deren Ausdehnung auf die gesammte Strafrechtspflege anzustreben wir auch uns als Aufgabe gestellt haben«.10 Auch die vorgeschlagene separate Unterbringung der Gelegenheitsverbrecher in »Besserungsanstalten« und der »Unverbesserlichen« in »Arbeitshäusern« wird mit einer Analogie aus der Anstaltspsychiatrie begründet: »Wie die Irrenpflegeanstalten den Heilanstalten gegenüberstehen, so müssen auch verschiedenartige Institute für die Unterbringung der Gelegenheits- und der Gewohnheitsverbrecher geschaffen werden.«11 Die professionspolitischen Interessen schimmerten allzu deutlich durch, als dass ein Strafrechtler die Vorschläge Kraepelins hätte gutheißen können. Nach dessen Vorstellung hätte der Richter »nur noch Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu ermitteln, d.h. lediglich die Thäterschaft zu konstatieren und dann, eventuell unter Zuziehung von Sachverständigen, die Verbringung in eine Irren-, Erziehungs- oder Strafanstalt anzuordnen [...]; dagegen würde die Bestimmung des Entlassungstermins einzig und allein in die Hände der resp. Anstaltsdirektionen gelegt werden, wie es ja bei den Irrenanstalten schon heute der Fall ist.«12 Nicht »ausgediente Militärs und im Subalterndienste ergraute Bureaukraten«, sondern pädagogisch und medizinisch ausgebildete Persönlichkeiten sollten in den höheren Strafanstaltsdienst übernommen werden.13 9 Ebd., S. 28f. 10 Ebd., S. 55; weiter heißt es an dieser Stelle: »Wie für jene Institute, so soll für die Strafgefängnisse das Streben, die für das menschliche Zusammenleben untauglich Gewordenen der Gesellschaft wieder zuzuführen, der einzige leitende Gesichtspunkt werden; wie dort, so soll auch hier die Zeit des Aufenthalts der einzelnen Individuen nicht durch ein verknöchertes Schema, sondern allein durch den Erfolg der zweckbewußten, auf die Festigung des sittlichen Bewußtseins gerichteten Behandlung bestimmt werden.« 11 Ebd., S. 72. 12 Ebd., S. 62. 13 Ebd., S. 63.

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»Das praktische Bedürfniß der Psychiatrie« habe, so Kraepelin weiter, »im Laufe eines Jahrhunderts aus der Zahl der Aerzte eine Reihe von Männern erstehen lassen, die [...] den Gefängnißdirektoren der Zukunft als leuchtende Vorbilder dienen könnten.«14 Kraepelins Broschüre wurde in der Fachwelt durchaus wahrgenommen; doch nur wenige Juristen wagten es, sie zu zitieren.15 Der junge Mediziner, der die Abhandlung neben dem Militärdienst und der Arbeit an seiner Dissertation eiligst verfasst und nur mühsam einen Verlag gefunden hatte,16 dürfte den Rechtsgelehrten kaum als ›satisfaktionsfähig‹ gegolten haben. Als sein Erstlingswerk »Die Abschaffung des Strafmaßes« veröffentlicht wurde, war Kraepelin noch weit von seinem späteren Ruhm als Begründer einer klinischen Systematik der Psychiatrie entfernt. Dass seine Ideen dennoch Einzug in die Strafrechtsdiskussion halten konnten, war nur deshalb möglich, weil der Nachwuchspsychiater den Geist der gerade anbrechenden kulturellen Moderne getroffen hatte. Kraepelins Einfluss auf das Rechtsdenken blieb freilich ein indirekter. Seine Vorschläge mussten erst in das ›Juristische‹ übersetzt werden, bevor sie von den Rechtsexperten ernst genommen wurden. Franz von Liszt nahm die Herausforderung an. Wie der Psychiater Kraepelin gehörte auch der Jurist Liszt jener jungen Akademiker-Generation an, die in den achtziger Jahren auf die Lehrstühle drängte.17 Franz von Liszt war 1851 als Sohn des ranghöchsten österreichischen Staatsanwalts in Wien geboren worden. Von 1869 bis 1873 hatte er u.a. bei Adolf Merkel und Rudolf von Ihering in Wien studiert. Nach der Richteramtsprüfung, weiteren Studienaufenthalten in Göttingen und Heidelberg und der Habilitation in Graz wurde Liszt 1879 als Professor für Strafrecht nach Gießen berufen. In seinen Gießener Jahren gründete er gemeinsam mit Adolf Dochow die »Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft« (1880) und veröffentlichte sein »Lehrbuch des deutschen Strafrechts« (1881). Im Jahr 1882 wechselte Liszt auf den Lehrstuhl in Marburg. Seine aufsehenerregende Antrittsvorlesung über den »Zweckgedanken im Strafrecht«18, die als ›Marburger Programm‹ bekannt wurde, begründete seinen Ruf als Vorkämpfer für ein zweckrationales Präventionsstrafrecht. Nicht Kraepelins polemische Streitschrift, sondern Liszts Marburger Antrittsvorlesung wurde zum Manifest der sich formierenden Strafrechtsreformbewegung. 14 Ebd., S. 64. 15 Zur Rezeption der Schrift vgl. Aschaffenburg, Die Abschaffung des Strafmaßes. 16 Vgl. Kraepelin, Lebenserinnerungen, S. 18. 17 Zur Biographie Liszts vgl. Schmidt, Einführung, S. 357ff.; Ostendorf, Einführung, in: ders. Von der Rache zur Zweckstrafe, S. 7–21. 18 Liszt, Zweckgedanke. Die Antrittsvorlesung wurde zunächst im »Marburger Universitätsprogramm«, dann auch in der »Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft«, Jg. 3, 1883, S. 1–47 abgedruckt.

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Liszt schildert in seinem »Zweckgedanken im Strafrecht« die historische Entwicklung des Strafens als eine stetige Rationalisierung einer urprünglich primitiven »Triebhandlung«.19 Aus dieser darwinistisch gefärbten Sicht resultiert ein vorpositiver, soziologischer – besser: soziobiologischer – Begriff des Verbrechens: »Die primitive Strafe als, wenn auch nur mittelbarer, Ausfluß des Arterhaltungstriebes muß von allem Anfange an gesellschaftlichen Charakter tragen, als soziale Reaktion gegen soziale Störungen erscheinen.«20 Die Herausbildung des Strafrechts beschreibt Liszt als »Objektivierung der Strafe«.21 Im Rekurs auf die Rechtsgüterlehre und die von Ihering begründete Interessenjurisprudenz sieht Liszt im »Zweckgedanken« das »Wesen des Rechts«.22 Die »Anpassung der Strafe an ihren Zweckgedanken: Rechtsgüterschutz zu sein«, werde »im Laufe der geschichtlichen Entwickelung einer immer größeren Vervollkommnung zugeführt«, und »in dieser Entwickelung« sei »die Bahn des Fortschrittes vorgezeichnet.«23 Nach den Vorstellungen Liszts bedurfte in erster Linie das »Maßprinzip der Strafe« einer Vervollkommnung unter Zugrundelegung des Zweckgedankens. Das Vergeltungsprinzip als Bemessungsgrundlage für die Strafe wird als ungerecht verworfen, denn nur »die notwendige Strafe« könne als »gerecht« gelten. Die Strafe sei »Mittel zum Zweck«, und der »Zweckgedanke« verlange die »Anpassung des Mittels an den Zweck und möglichste Sparsamkeit in seiner Verwendung«. Diese Forderung gelte »ganz besonders der Strafe gegenüber«; denn sie sei »ein zweischneidiges Schwert: Rechtsgüterschutz durch Rechtsgüterverletzung.«24 In dem Kapitel »Die Strafe als zweckbewußter Rechtsgüterschutz« entwirft Liszt schließlich – gewissermaßen als Zielpunkt der »Bahn des Fortschrittes« – sein Konzept einer vernunftgeleiteten Kriminalpolitik.25 Zunächst benennt er »Besserung, Abschreckung, Unschädlichmachung« als die »unmittelbaren Wirkungen der Strafe«.26 Diesen Strafarten ordnet der Autor drei Verbrechertypen zu: 19 Vgl. ebd., S. 133ff. 20 Ebd., S. 138. 21 Ebd., S. 145ff. 22 Ebd., S. 144. 23 Ebd., S. 150. 24 Ebd., S. 161; weiter heißt es: »Es läßt sich eine schwerere Versündigung gegen den Zweckgedanken gar nicht denken als verschwenderische Verwendung der Strafe, als die Vernichtung der körperlichen, ethischen, nationalökonomischen Existenz eines Mitbürgers, wo diese nicht unabweislich durch die Bedürfnisse der Rechtsordnung gefordert wird. So ist die Herrschaft des Zweckgedankens der sicherste Schutz der individuellen Freiheit gegen jene grausamen Strafarten früherer Zeiten, welche – es ist gut, sich daran zu erinnern – nicht durch die glaubensstarken Idealisten der Vergeltungsstrafe, sondern durch die Vorkämpfer des ›flachen Rationalismus‹ beseitigt worden sind.« 25 Ebd., S. 163ff. 26 Ebd., S. 164.

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»Wenn aber Besserung, Abschreckung, Unschädlichmachung wirklich die möglichen wesentlichen Wirkungen der Strafe und damit zugleich die möglichen Formen des Rechtsgüterschutzes durch Strafe sind, so müssen diesen drei Strafformen auch drei Kategorien von Verbrechern entsprechen. Denn gegen diese, nicht aber gegen die Verbrechensbegriffe, richtet sich die Strafe; der Verbrecher ist der Träger der Rechtsgüter, deren Verletzung oder Vernichtung das Wesen der Strafe ausmacht. Diese logische Forderung wird durch die bisherigen Ergebnisse der Kriminalanthropologie im wesentlichen bestätigt. Doch gestattet die Lückenhaftigkeit und Unsicherheit der bisher gewonnenen Resultate keine abschließenden, ins einzelne gehenden Schlußfolgerungen. Im allgemeinen aber dürfte folgende Einteilung zum Ausgangspunkte weiterer Betrachtungen genommen werden können: 1) Besserung der besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Verbrecher; 2) Abschreckung der nicht besserungsbedürftigen Verbrecher; 3) Unschädlichmachung der nicht besserungsfähigen Verbrecher.«27

Dem Autor ist wegen dieser Sätze häufig der Vorwurf gemacht worden, er habe die Tätertypen aus den Strafwirkungen abgeleitet.28 Problematisch ist jedoch nicht nur die apriorische Begriffsbildung. Liszt ging auch davon aus, dass die Zugehörigkeit eines Täters zu einer der drei Verbrecherkategorien – besserungsbedürftige Gewohnheitsverbrecher, nicht besserungsfähige Gewohnheitsverbrecher, nicht besserungsbedürftige Gelegenheitsverbrecher – bereits vor Strafantritt empirisch feststellbar sei. Doch die rationalistisch konstruierten Lisztschen Tätertypen decken sich nicht notwendig mit bestimmten Erscheinungsformen der Kriminalität oder mit den aus dem kriminalistischen Erfahrungsschatz destillierbaren Realtypen des Verbrechertums. In der Tat blieb die sichere Identifizierung der unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher das große ungelöste Problem der ›modernen‹ Zweckstrafe. Liszt selbst vertraute auf die künftigen Erkenntnisleistungen der Kriminologie, wollte diese jedoch nicht erst abwarten: »Der Kampf gegen das Gewohnheitsverbrechertum setzt die genaue Kenntnis desselben voraus. Diese fehlt uns noch heute. [...] Ehe wir das vagabondierende Gaunertum nicht sozialethisch festgestellt haben, ist es vergebliches Bemühen, das Gewohnheitsverbrechertum als solches fassen zu wollen. Viel wird hier die Moralstatistik, viel insbesondere ihre Anwendung auf die heute noch einer verläßlichen Methode entbehrende Kriminalanthropologie leisten können. Aber – wir dürfen nicht warten, bis diese Leistungen zu Tage gefördert wird [sic!]. Und wir brauchen es nicht.«29

Von seiner Tätertypologie ausgehend unterbreitet Liszt konkrete Vorschläge zur Umgestaltung des Strafsystems. Besonderes Gewicht legt er auf die angemessene Behandlung der Gewohnheitsverbrecher: »Der energische Kampf gegen das Gewohnheitsverbrechertum ist eine der dringendsten Aufgaben der 27 Ebd., S. 166. 28 Vgl. Schmidt, Einführung, S. 376. 29 Liszt, Zweckgedanke, S. 167.

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Gegenwart. Wie ein krankes Glied den ganzen Organismus vergiftet, so frißt der Krebsschaden des rapid zunehmenden Gewohnheitsverbrechertums sich immer tiefer in unser soziales Leben.«30 Aus der Rückfallstatistik schließt er kurzerhand, »daß mindestens die Hälfte aller jener Personen, welche Jahr aus, Jahr ein unsere Strafanstalten bevölkern, unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher sind. Solche Leute in Zellengefängnissen um teures Geld bessern zu wollen, ist einfach widersinnig; sie nach Ablauf von einigen Jahren gleich einem Raubtier auf das Publikum loszulassen, bis sie, nachdem sie wieder drei bis vier neue Verbrechen begangen haben, in ein oder zwei Jahren neuerdings eingezogen und wiederum ›gebessert‹ werden: das ist mehr und ist etwas anderes als widersinnig.[...] Gegen die Unverbesserlichen muß die Gesellschaft sich schützen; und da wir köpfen und hängen nicht wollen und deportieren nicht können, so bleibt nur die Einsperrung auf Lebenszeit (bezw. auf unbestimmte Zeit).«31

Zur »Unschädlichmachung« der unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher wird eine Änderung des Strafgesetzbuches vorgeschlagen, die es dem Richter ermögliche, bei der dritten Verurteilung eines Täters auf »Einschließung auf unbestimmte Zeit« zu erkennen. Diese Strafe werde dann »in besonderen Anstalten (Zucht- oder Arbeitshäusern) in Gemeinschaft verbüßt. Sie besteht in ›Strafknechtschaft‹ mit strengstem Arbeitszwang und möglichster Ausnutzung der Arbeitskraft; als Disziplinarstrafe wäre die Prügelstrafe kaum zu entbehren«. Da »Irrtümer des Richters« nicht auszuschließen seien, solle in Ausnahmefällen die Überführung in eine »Besserungsanstalt« möglich sein.32 Diese »Besserungsanstalten« möchte Liszt für die zweite Gruppe der »besserungsbedürftigen, durch vererbte und erworbene Anlagen zum Verbrechen hinneigenden, aber noch nicht rettungslos verlorenen« Gewohnheitsverbrecher einrichten. Die Aufenthaltsdauer in einer Anstalt dieses Typs solle sich nach dem Erziehungserfolg richten, jedoch mindestens ein Jahr und maximal fünf Jahre betragen. Von einer gestuften, vom Verhalten des Gefangenen abhängigen Behandlung verspricht Liszt sich eine Rettung dieser »Anfänger auf der Verbrecherlaufbahn«. Die Strafe solle mit Einzelhaft beginnen; bei »guter Führung« könne »widerrufliche Versetzung in progressive Gemeinschaft durch den Aufsichtsrat ausgesprochen werden«. »Arbeit und Elementarunterricht« seien »als Mittel zur Stärkung der Widerstandskraft zur Anwendung zu bringen«, während »Prügelstrafe als Disziplinarmittel [...] unbedingt ausgeschlossen« sei.33 Die dritte Gruppe der Gelegenheitsverbrecher, bei denen »die Gefahr einer öfteren Wiederholung der begangenen strafbaren Handlung eine minime« sei, 30 31 32 33

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Ebd., S. 166. Ebd., S. 168 f. Ebd., S. 170. Ebd., S. 171f.

benötige hingegen keine »systematische Besserung«. Um die »Autorität des übertretenen Gesetzes« wiederherzustellen, genügten hier die abschreckenden Strafen des alten Strafgesetzbuches. Allenfalls empfehle es sich, kurze Freiheitsstrafen durch Geldstrafen zu ersetzen, Freiheitsstrafen auf zehn Jahre zu begrenzen und die Todesstrafe abzuschaffen.34 Mit dem Slogan »Unschädlichmachung der Unverbesserlichen, Besserung der Besserungsfähigen«35 gab Franz von Liszt den Reformern der kommenden Jahrzehnte das Stichwort. Zugleich gibt diese Formel auch die Ambivalenz jener utilitaristischen Strafrechtskonzeption zu erkennen, die sowohl repressive als auch humanisierende Züge aufweist, aber nur das eine Ziel der Verbrechensverhütung kennt.36 Der im ›Marburger Programm‹ ausgeführte Gedanke der Spezialprävention sollte das Strafrecht des 20. Jahrhunderts prägen. Doch wie originell waren die Vorschläge Liszts? Wie verhielten sie sich zu dem von Kraepelin entwickelten Modell einer Medikalisierung des Strafsystems? Dass Liszt die zwei Jahre zuvor veröffentlichte Broschüre Kraepelins kannte, gab er in zwei Anmerkungen zu erkennen. Und in der Tat erinnern die Kernideen des ›Marburger Programms‹ in vielerlei Hinsicht an Kraepelins »Die Abschaffung des Strafmaßes«: So findet sich der Gedanke, dass sich die aus einem primitiven Racheinstinkt entsprungene Strafe zunehmend zu einer zweckbewussten Behandlung der Verbrecher im Interesse der Gesellschaft hin entwickle, bereits bei Kraepelin.37 Liszt hat diese utilitaristische Idee indes näher ausgeführt und mit der im Zivilrecht bereits akzeptierten Zweck- und Interessenlehre Iherings und dem Rechtsgutbegriff in Beziehung gesetzt, um sie für Juristen ›salonfähig‹ zu machen. Insbesondere das Hauptkapitel des ›Marburger Programms‹ mit der Überschrift »Die Strafe als zweckbewußter Rechtsgüterschutz« mutet auf den ersten Blick wie ein Abklatsch der Kraepelinschen Bro34 Ebd., S. 172f. 35 Ebd., S. 173. 36 Wegen dieser strafrechtspolitischen Ambivalenz wird Liszt gerade von liberalen Strafrechtswissenschaftlern noch immer kontrovers eingeschätzt. Den linksliberalen Reformern der sechziger und siebziger Jahre gilt er als Vorkämpfer für ein progressives Resozialisierungsstrafrecht, während kritischere Autoren an den rechtstaatswidrigen Zügen einer interventionistischen, nur dem Gesellschaftsschutz verpflichteten Kriminalpolitik Anstoß nehmen. Vgl. als Beispiele für die ›Verteidiger‹ Liszts: Frisch, Marburger Programm; Ostendorf, Franz von Liszt als Kriminalpolitiker; Schöch, Marburger Programm; für die ›Kritiker‹: Baurmann; Naucke, Die Kriminalpolitik des Marburger Programms. 37 Kraepelin, Abschaffung, S. 39: »Wir brauchen wohl kaum darauf hinzuweisen, daß in diesem System [der unbefristeten Schutzstrafe; d. Vf.] von einem elegischen oder krankhaften Hyperhumanismus nichts zu finden ist, daß dasselbe vielmehr ausschließlich das wahre Interesse der menschlichen Gesellschaft so viel wie möglich im Auge hat. [...] Wir aber setzen unsern Stolz darein, vom Standpunkte echter Humanität durch eine menschlichere Beurtheilung und Behandlung der Verbrecher das Wohl der menschlichen Gemeinschaft zu fördern und an Stelle der primitiven Anschauungen uncivilisirter Jahrhunderte die Rücksicht auf die Glückseligkeit der Gesammtheit als den Maßstab für die Kritik aller menschlichen Handlungen hinzustellen.«; auf S. 55 spricht Kraepelin von einer »zweckbewußten Behandlung« der Täter.

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schüre an. Nicht nur die Konzeption einer unbefristeten, täterspezifischen Schutzstrafe, sogar sprachliche Details sind Kraepelins »Abschaffung des Strafmaßes« entlehnt. So hat Liszt z.B. die Bezeichnungen »Arbeitshaus« und »Besserungsanstalt« wie die Metapher des »Raubtiers«, das immer wieder »auf das Publikum losgelassen« wird, von Kraepelin übernommen. Auch die Ablehnung der Todesstrafe und der Hinweis auf die Unmöglichkeit der Deportation finden sich in ganz ähnlicher Form in der zwei Jahre zuvor erschienenen Schrift des jungen Psychiaters.38 Trotz aller dieser Gemeinsamkeiten bestanden deutliche Unterschiede zwischen dem Medikalisierungs-Konzept Emil Kraepelins und dem juristischen Modell Franz von Liszts: Während Kraepelin die Entscheidung über die Dauer der Freiheitsentziehung in die Hände medizinisch ausgebildeter Gefängnisbeamter legen wollte, ging es Liszt um die Festschreibung der richterlichen Kompetenz. Der Richter sollte vorab darüber entscheiden dürfen, ob ein Täter zeitlich befristet oder auf unbegrenzte Zeit einzusperren sei. Eine klinische Beurteilung der Täterpersönlichkeit war dabei nicht vorgesehen. Allein aus der Deliktart sollte auf den Tätertyp und somit auf die angemessene Behandlungsweise geschlossen werden. So stellte Liszt in seiner Marburger Antrittsvorlesung einen Katalog jener Straftaten auf, die für Gewohnheitsverbrecher charakteristisch seien: »Es sind in erster Linie die Eigentums-, in zweiter gewisse Sittlichkeitsdelikte; also jene Verbrechen, welche auf den stärksten und ursprünglichsten menschlichen Trieben beruhen. Genauer ließen sich folgende Verbrechen hierher rechnen: Diebstahl, Hehlerei, Raub, Erpressung, Betrug, Brandstiftung, Sachbeschädigung, gewaltsame Unzucht und Unzucht gegen Kinder. Eine Ergänzung oder Berichtigung dieser Liste auf Grund genauerer Beobachtung ist natürlich nicht ausgeschlossen.«39

Ebenso formal wie die Ableitung des kriminellen Hangs allein aus der Deliktart war auch Liszts Kriterium für die Feststellung der Unverbesserlichkeit: Das Strafgesetzbuch sollte einfach bestimmen, »daß bei dritter Verurteilung wegen

38 Ebd., S. 42: »Todesstrafe [ist] von diesem Standpunkte aus absolut zu verwerfen. [...] Es wäre absurd, dem Individuum, das man zu bessern die Absicht hat, das Leben zu nehmen.«; ebd., S. 44: »Wir sind durchaus geneigt, die Deportation als einen entschieden glücklichen Gedanken zu vertheidigen, trotzdem derselbe ja für unser Vaterland wegen des Mangels an passenden Kolonien zur Zeit noch kein praktisches Interesse hat.« 39 Liszt, Zweckgedanke, S. 169f.; Liszt sprach sich zwar für eine genauere Erforschung des Gewohnheitsverbrechertums aus, doch die Kriminologen sollten lediglich diesen allgemeinen Merkmalskatalog vervollständigen. Dies bedeutet keineswegs, dass sie als Sachverständige im Strafverfahren oder im Strafvollzug über einzelne Täter zu gutachten hätten: »Es wird Aufgabe der Kriminalstatistik sein, nachzuweisen, welche Verbrechen überhaupt gewohnheitsmäßig begangen zu werden pflegen; die Kriminalanthropologie wird ihr dabei wesentliche Dienste zu leisten in der Lage sein. Aber schon auf Grund der heute vorliegenden Ergebnisse können wir mit einiger Bestimmtheit den Umkreis dieser Verbrechen ziehen.« (ebd., S. 169).

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eines der oben genannten Verbrechen auf Einschließung auf unbestimmte Zeit zu erkennen sei.«40 Der Angelpunkt dieser Ausführungen besteht darin, dass jeder Strafrichter ohne Hinzuziehung eines psychiatrischen oder kriminologischen Sachverständigen allein anhand der aktuellen Straftat und des Vorstrafenkontos die nicht besserungsfähigen, also dauerhaft einzusperrenden Gewohnheitsverbrecher ausmachen sollte. Auch die Entscheidung über den Entlassungsantrag wollte Liszt beim Gericht angesiedelt sehen.41 Es ging ihm eben nicht darum, den empirischen Wissenschaften größeren Einfluss auf die Rechtspflege zu gewähren und einer Medikalisierung des Strafsystems Vorschub zu leisten. Das Gegenteil war der Fall: Durch eine utilitaristische Umgestaltung des Strafrechts sollte die juristische Definitionsmacht gesichert und zugleich den naturwissenschaftlich ausgerichteten Strafrechts-Kritikern der Wind aus den Segeln genommen werden. Dass das ›Marburger Programm‹ in diesem Sinne bewusst defensiv angelegt war, mögen zwei Äußerungen Liszts belegen. So heißt es zu Beginn des Vortrags über die von Lombroso beeinflusste »junge ›anthropologische Schule‹ Italiens«: »Sie bestreitet dem Strafrecht den Charakter einer juristischen Disziplin und verwandelt es in einen Zweig der Gesellschaftswissenschaft; sie mißtraut den Wirkungen der Strafe und will diese auf einem großen Gebiete ihrer bisherigen Herrschaft ersetzen durch Präventivmaßregeln (›Strafsurrogate‹); sie nimmt dem Strafprozesse seine juristische Gestaltung und verwandelt ihn in eine fachmännische psychiatrisch-anthropologische Untersuchung des Verbrechers.«42

Später legt Liszt dar, dass seine Vorschläge geeignet seien, die Forderung nach kriminalpolitischer Zweckrationalität mit den Interessen des juristischen Berufsstandes zu vereinbaren: Sie sollten »zunächst nur den Beweis liefern, daß die Durchführung des durch den Zweckgedanken geforderten Prinzips des Strafmaßes durchaus möglich ist, und zwar ohne daß an den Fundamentalsätzen des in den Kulturländern geltenden Strafrechtes gerüttelt zu werden braucht«. Das »System der Strafrahmen« werde »zwar umgestaltet und eingeschränkt, aber nicht umgestoßen; weder die Abschaffung des Strafmaßes, noch die Beseitigung der richterlichen Strafzumessung« sei das Ziel seiner Vorschläge.43 Liszts kriminalpolitische Reformoffensive wies in professionspolitischer Hinsicht somit durchaus defensive Züge auf. In der durch den ›Schulenstreit‹ strukturierten Wahrnehmung der Zeitgenossen – wie auch der Rechtshistoriker – ging dieser Aspekt jedoch unter. Die ›moderne‹ Liszt-Schule galt als Tür-

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Ebd., S. 170. Ebd., S. 170 u. 172. Ebd., S. 131. Ebd., S. 173.

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öffnerin der empirischen Wissenschaften, die ›klassische Schule‹ als Verteidigerin eines ›reinen‹, von außerjuristischen Einflüssen freien Strafrechts. Liszt selbst trug durch seine wissenschaftsorganisatorische Tätigkeit zur polarisierenden Schulbildung wesentlich bei. So versammelte er in seinem mit privaten Mitteln eingerichteten ›Kriminalistischen Seminar‹ einen Kreis von Schülern, dem u.a. die später einflussreichen Rechtsgelehrten Robert von Hippel und Eduard Kohlrausch, Moritz Liepmann und Alexander Graf zu Dohna, Franz Exner, Gustav Radbruch und Eberhard Schmidt angehörten.44 Im Jahr 1889 gründete Liszt gemeinsam mit dem Belgier Adolphe Prins und dem Niederländer Gerard Anton van Hamel die ›Internationale Kriminalistische Vereinigung‹.45 Die erste Satzung der IKV enthielt ein für alle Mitglieder verbindliches ›Glaubensbekenntnis‹ in Form von neun Grundsätzen, die sich eng an das ›Marburger Programm‹ anlehnten.46 Die IKV fungierte nicht nur als ein kriminologischer Debattierklub, sie entwickelte sich alsbald zu einer einflussreichen Lobby der Strafrechtsreformer in Europa. Die ›Klassiker‹ bildeten hingegen keine Schule im eigentlichen Sinne. Sie wurden eher durch ihre gemeinsame Gegnerschaft gegen die ›modernen‹ Ideen der Liszt-Schule zusammengehalten. Ihnen ging es um die Rettung des Vergeltungsgedankens. Teils betrachteten sie im Sinne der absoluten Straftheorien Kants und Hegels die Sühne als sittlich gebotenen Selbstzweck, teils propagierten sie als Anhänger einer relativen Theorie in der Nachfolge Anselm Feuerbachs die Vergeltungsstrafe als ein Instrument der Abschreckung zum Zweck des Schutzes positiver Normen. Allerdings hatte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Gedanke der Generalprävention, d.h. der Sicherung der Rechtsordnung durch allgemein abschreckende Strafdrohungen, auch bei denjenigen Rechtsgelehrten eingeschlichen, die rhetorisch noch immer auf den Sühnegedanken rekurrierten.47 Ungeachtet der unterschiedlichen theoretischen Schattierungen teilten alle Anhänger der ›klassischen Schule‹ die Prämisse, dass sich das Strafmaß nach der schuldhaften Tat – nicht nach der Persönlichkeit des Täters – zu richten habe. Franz von Liszt dürfte 1882, als er das ›Marburger Programm‹ vorstellte, mit dem entschiedenen Widerstand der traditionell orientierten Rechtsgelehrten gerechnet haben. Interessanterweise blieb die Resonanz jedoch zunächst ver44 Vgl. Schmidt, Einführung, S. 359. 45 Zur IKV siehe: Bellmann; Kitzinger. 46 Vgl. die Satzung der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung vom 1.1.1889, abgedruckt in: Bellmann, S. 216–219. Die Grundsätze reichen von der allgemeinen Feststellung, dass die »Aufgabe der Strafe [...] die Bekämpfung des Verbrechens als sozialer Erscheinung« sei, bis hin zu der konkreten Forderung: »Unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher hat die Strafgesetzgebung, und zwar auch dann, wenn es sich um die oftmalige Wiederholung kleinerer Vergehungen handelt, für eine möglichst lange Zeitdauer unschädlich zu machen«. 47 Monika Frommel spricht in diesem Zusammenhang von einer Vorherrschaft »verdecktrelativer Straftheorien im absoluten Gewand«; vgl. Frommel, Präventionsmodelle, S. 104ff.

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halten. Insbesondere der Leipziger Ordinarius Karl Binding, der wie kaum ein anderer die ›herrschende Lehre‹ auf dem Gebiet des Strafrechts repräsentierte, vermied eine direkte öffentliche Auseinandersetzung und versuchte stattdessen, das ›klassische‹ Gedankengut in den Handbüchern zu zementieren.48 Wohl um die Diskussion anzuheizen, gab Liszt auch seinen Gegnern die Gelegenheit, ihre Ansichten in seiner »Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft« zu veröffentlichen.49 Die Reaktionen Adolf Merkels und Otto Mittelstädts aus dem Jahr 1892 nahm Liszt zum Anlass, seine kriminalpolitischen Vorstellungen als die einzig mögliche Konsequenz einer deterministischen Weltsicht zu verteidigen.50 Doch erst um die Jahrhundertwende, als Franz von Liszt auf den prestigeträchtigen Berliner Lehrstuhl für Strafrecht wechselte (1899), in das wissenschaftliche Komitee des Reichsjustizamts berufen wurde (1902) und die Vorarbeiten für eine Strafrechtsreform anliefen, erreichte der ›Schulenstreit‹ seinen Höhepunkt. Nun trat der Münchner Rechtsgelehrte Karl von Birkmeyer als streitbarer Führer der ›klassischen Schule‹ hervor.51 Inhaltlich berührte der Streit zwischen ›klassischer‹ und ›moderner‹ Schule im Wesentlichen drei Aspekte: die Begründung der Strafe, das Problem der rechtsstaatskonformen Strafbemessung und die Abgrenzung der Strafrechtspflege gegenüber der Verwaltung (Polizei und Fürsorge). Das Hauptargument gegen die von Liszt propagierte Schutzstrafe schöpften die ›Klassiker‹ aus dem Begriff der Strafe selbst. Da nur die schuldhaft begangene Tat strafwürdig sei, müsse mit der Leugnung der Willensfreiheit auch der Begriff der Strafe entfallen.52 Das deterministische Menschenbild und das utilitaristische Strafverständnis würden in letzter Konsequenz »notwendig zur Auflösung des ganzen Strafrechtes«53 führen. Wenn Liszt dennoch den Schutzgedanken im Rahmen des Strafrechts verwirklichen wolle, sei das auf die logische Unstimmigkeit seiner Straftheorie zurückzuführen. Auch Reichsgerichtsrat Maximilian von Buri polemisierte gegen die vermeintliche Inkonsistenz des ›modernen‹ Reformprogramms und wunderte sich, dass Liszt die Menschen mit verbrecherischer Neigung erst nach der Begehung einer Straftat zu belangen beabsichtigte. Wolle man nämlich den 48 Zur Biographie Bindings und seiner Haltung im Schulenstreit siehe Westphalen, S. 221ff. 49 Zu den wenigen frühen Reaktionen der ›Klassiker‹ zählt der Aufsatz von Buri, Zweckgedanke, aus dem Jahr 1884. 50 Vgl. Merkel; Mittelstädt, Schuld und Strafe; Liszt, Die deterministischen Gegner der Zweckstrafe. 51 Vgl. Birkmeyer, Gedanken; ders., Schutzstrafe und Vergeltungsstrafe; ders., Was läßt Liszt vom Strafrecht übrig?; ferner gab Birkmeyer gemeinsam mit Johannes Nagler die Schriftenreihe »Kritische Beiträge zur Strafrechtsreform« heraus. 52 Vgl. Buri, Determinismus, S. 375f. 53 Birkmeyer, Was läßt Liszt vom Strafrecht übrig?, S. 1. Die im Titel gestellte Frage beantwortet der Verfasser auf S. 93 mit »So gut wie nichts«.

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Vergeltungsgedanken durch den Schutzgedanken ersetzen, dann sei »nicht ersichtlich, warum nur derjenige soll bestraft werden können, welcher eine strafbare That begangen, und es müßte vielmehr jeder zu dem Zwecke bestraft werden, daß er dieThat nicht thue, welcher auch in irgend einer andern Weise zu erkennen gegeben hat, er werde sich derselben schuldig machen.«54 Ähnlich widersinnig sei es, dass Liszt als Verfechter eines deterministischen Kriminalitätsverständnisses an der Unterscheidung zwischen verantwortlichen und unzurechnungsfähigen Tätern festhalte.55 Ferner schien die im ›Marburger Programm‹ propagierte Beibehaltung fester Strafrahmen gegenüber den Gelegenheitsverbrechern dem Schutz- und Besserungsgedanken zu widersprechen.56 Ironischerweise waren sich die Verteidiger des ›klassischen‹ Vergeltungsstrafrechts mit ihren radikalsten Gegnern, den Verfechtern einer psychiatrischen Kriminalpolitik, darin einig, dass die Schutzstrafe nur unter Preisgabe juristischer Methoden und Kompetenzen zu verwirklichen sei. Die ›Klassiker‹ verkannten jedoch, dass Franz von Liszts scheinbar schlecht durchdachter Vorschlag, das Ziel der Spezialprävention mit fachjuristischen Mitteln zu erreichen, letztlich professionspolitisch motiviert war. Liszt begegnete im Jahr 1892 dem Einwand, dass es inkonsequent sei, mit der Besserung bzw. Unschädlichmachung abzuwarten, »bis die verbrecherische That begangen ist«, mit einem Hinweis auf die Errungenschaften des Rechtsstaats: Denn würde man »die Berechtigung jener Schlußfolgerung zugeben, dann wäre in der That für das Strafrecht die letzte Stunde gekommen [...]; die richterliche Thätigkeit wäre überhaupt zu Ende [...]; die begriffliche Abgrenzung der Verbrechen von einander [...] wäre völlig wertlos, weil widersinnig. Nur von Verwaltung wäre die Rede, auch wenn wir sie in die Hände von ›Richtern‹ legen wollten; denn Rechtspflege ist nicht denkbar ohne juristisch-logische Methode, ohne Rechtsbegriffe und Rechtsregeln«. Er, Liszt, »ziehe jene Folgerung nicht«, weil das Strafrecht die »rechtlich begrenzte Strafgewalt des Staates« sei: »Rechtlich begrenzt nach Voraussetzung und Inhalt; rechtlich begrenzt im Interesse der individuellen Freiheit« – und so paradox es klinge: »das Strafgesetzbuch ist die magna charta des Verbrechers.«57 Liszt, der das »heranwachsende sozialistische Geschlecht« an den Grundlagen des Rechtsstaats rütteln sah,58 ging es darum, das Strafrechtswesen durch einige Modifikationen in das kommende Zeitalter der Massengesellschaft und 54 Buri, Zweckgedanke, S. 171. 55 Vgl. ebd., S. 177. 56 Ebd., S. 182: »Die Anhänger der Besserungstheorie fordern von ihrem Standpunkt aus mit vollem Rechte die Abschaffung des Strafmaßes. Denn im Falle man auch zugibt, daß in der Unfreiheit eine Besserung überhaupt erzielt werden könne, so läßt sich doch zum voraus die Zeit des Eintritts derselben unmöglich feststellen.« 57 Liszt, Gegner der Zweckstrafe, S. 355ff. 58 Ebd., S. 357.

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der Naturwissenschaften hinüberzuretten. Er wagte denn auch die optimistische Prognose: »Die Strafgewalt auch des sozialistischen Staates wird begrenzt bleiben nach Voraussetzung und Inhalt. Die Strafgesetzbücher werden nicht ersetzt werden durch den einzigen Paragraphen: ›Der Gemeingefährliche wird unschädlich gemacht.‹ Nach wie vor werden wir die Voraussetzungen einzeln aufzählen, unter welchen allein die staatliche Strafe eintreten darf; werden also die Begriffsbestimmungen der einzelnen Verbrechen im Gesetzbuch festgelegt, von der Wissenschaft nach der juristisch logischen Methode zergliedert, vom Richter nach derselben Methode angewendet werden. Nach wie vor werden wir Art und Maß der Strafe im Gesetz und im Richterspruch bestimmen. Das Strafrecht wird bleiben und mit ihm die Strafrechtswissenschaft wie die Strafrechtspflege. Wir werden weder das Strafgesetzbuch noch die Kommentare verbrennen; und der Strafrichter wird an Bedeutung nicht verlieren, sondern gewaltig gewinnen.«59

Die bei Liszt unverkennbare Verschränkung des Rechtsstaatsarguments mit den juristischen Standesinteressen ist ein charakteristisches Beispiel für die rhetorische Vereinnahmung der ›staatsbürgerlichen Freiheit‹ im ›Schulenstreit‹. Auch – und gerade – die ›klassische Schule‹ nahm für sich in Anspruch, den liberalen Rechtsstaat gegen polizeistaatliche Ambitionen zu verteidigen.60 Karl von Birkmeyer etwa sah in dem »sog. unbestimmte[n] Strafurtheil«, das ein wesentliches Element der Schutzstrafe sei, eine Gefährdung der Rechtssicherheit: Die »mit der Adoptirung der Sicherungsstrafe unvermeidlich verbundenen Konsequenzen« bedeuteten für ihn »ein Aufgeben derjenigen Garantieen der bürgerlichen Freiheit, welche im gesetzlichen Strafmass gegenüber richterlicher Willkür, und im richterlichen Strafmass gegenüber der Willkür der Vollstreckungsorgane enthalten sind«.61 Auch in dieser Hinsicht bestand zwischen dem konsequentesten Verteidiger des Vergeltungsstrafrechts und den psychiatrischen Befürwortern der Schutzstrafe eine seltsame Übereinstimmung. Gerade die Gerichtspsychiater hatten einen geschärften Blick für das im Sicherungsgedanken enthaltene autoritäre Moment. Da sie sich häufig den Vorwurf anhören mussten, durch ihre Gutachten die Verbrecher vor ihrer gerechten Strafe zu bewahren, betonten sie geradezu die mit der Schutzstrafe einhergehende »Stärkung der staatlichen Autorität«.62 59 Ebd., S. 358. 60 Vgl. zum Folgenden auch Wetzell, Criminal Law Reform, S. 181ff. 61 Birkmeyer, Gedanken, S. 74. 62 Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung, S. 245: »Die Anpassung der sozialen Reaktion an die Individualität des Rechtsbrechers führt nicht zu einer Schwächung der staatlichen Autorität, sondern zu einer Stärkung. Was könnte das Bewußtsein von der Macht der staatlichen Organisation mehr heben als das Gefühl, vor den Angriffen derer geschützt zu sein, die sich der Rechtsordnung nicht fügen wollen oder nicht fügen können, was mehr als die zielbewußte Behandlung der Verbrecher, die sich auch vor dem schwersten Schritte, der dauern-

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So häufig die Rechtsstaatlichkeit und die individuelle Freiheit im ›Schulenstreit‹ als Argument bemüht wurden, so gering waren letztlich die materiellen Differenzen in dieser Frage. Denn auch der Wortführer der ›modernen Schule‹ Franz von Liszt bekannte sich zum Liberalismus; als Abgeordneter der Freisinnigen Volkspartei im Preußischen Landtag (seit 1908) und Mitglied des Reichstags (1912–1918) vertrat er linksliberale Positionen.63 Sein ›Marburger Programm‹ wie auch die ›modernen‹ Reformvorschläge der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung enthielten mit der beabsichtigten Rehabilitierung der ›Gelegenheitsverbrecher‹ und der ›besserungsfähigen Gewohnheitsverbrecher‹ auch Elemente strafrechtspolitischer Liberalität. Umgekehrt hatten die meist eher liberal-konservativ gesinnten ›Klassiker‹ gegen den Polizeistaat nichts einzuwenden, solange nur die Justiz autonom blieb. Selbst diejenigen strafrechtsflankierenden Verwaltungsmaßnahmen, die massive Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht darstellten, fanden die Zustimmung der traditionell orientierten Juristen. Das gilt sowohl für die Verwahrung der ›verbrecherischen Irren‹ in psychiatrischen Anstalten als auch für die Praxis der ›korrektionellen Nachhaft‹, d.h. der polizeilichen Unterbringung von Bettlern, Landstreichern und Prostituierten in einem Arbeitshaus unmittelbar nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis.64 Sogar ein erbitterter Gegner der Sicherungsstrafe wie Maximilian von Buri gestand dem Staat das Recht zu, in einer »Notlage« noch weiter reichende »verbrechensverhütende Maßregeln« zu erlassen; doch dürften diese »nicht als Strafen im Sinne des bestehenden Strafrechts bezeichnet werden [...], damit nicht die Versuchung herantritt, die Ausnahme der Regel zu unterschieben.«65 Franz von Liszt, dem es eher um die kriminalpolitische Wirkung als um die rechtsphilosophische Begründung der Schutzstrafe ging, wollte diese allgemeine Akzeptanz spezialpräventiver Maßnahmen jenseits der Strafe zur »Grundlage eines legislatorischen Kompromisses« machen: »Das ist ja die liebenswürdigste Seite in dem Verhalten unsrer Gegner, daß sie zufrieden sind, wenn die altehrwürdigen Etiketten geschont werden. In der ›Bestrafung‹ des Gewohnheitsverbrechers darf das ›Gleichmaß zwischen Schuld und Sühne‹ nicht überschritten werden; aber gegen lebenslange oder doch sehr langwierige ›Sicherheitsmaßregeln‹ nach verbüßter Strafe haben die Gegner nichts einzuwenden. Zwei

den Ausscheidung, nicht scheut, wenn es notwendig ist?«; vgl. auch Bumke, Gerichtliche Psychiatrie, S. 127f. und Sommer, Kriminalpsychologie, S. 309f., der ausführt, dass die deterministische Verbrechensauffassung Lombrosos keineswegs die »Grundlagen des Staates« erschüttere, sondern dass diese »bei unkritischer Anwendung vielmehr Gefahr läuft, zu einem gemeingefährlichen Mittel eines Polizeistaats zu werden.« 63 Zur politischen Orientierung Liszts vgl. Ostendorf, Franz von Liszt als Kriminalpolitiker, S. 2ff. 64 Siehe hierzu: Ayaß, Die »korrektionelle Nachhaft«. 65 Buri, Zweckgedanke, S. 183f.

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Jahre Gefängnis gegen den unverbesserlichen Landstreicher gestattet die ›vergeltende‹ Gerechtigkeit nicht; aber fünf Jahre des wesentlich empfindlicheren Arbeitshauses würden uns die Gegner wohl zugestehen. Laßt es uns also Sicherungsmaßregel und Arbeitshaus nennen; laßt uns nehmen, was wir bekommen können.«66

Als der Wortführer der ›klassischen Schule‹ Karl von Birkmeyer in seinen »Gedanken zur bevorstehenden Reform der deutschen Strafgesetzgebung« aus dem Jahr 1901 die Regelung von »Präventivmassregeln« im Strafgesetzbuch für unbedenklich erklärte,67 zeigte sich, dass Liszts Kalkül aufgegangen war. Die begriffliche Trennung von vergeltender Strafe und vorbeugenden Maßregeln wurde zum Basiskompromiss der deutschen Strafrechtsreform im 20. Jahrhundert.

b) ›Verminderte Zurechnungsfähigkeit‹ und die Verwahrung der ›Gemeingefährlichen‹ Vom Standpunkt der forensischen Psychiatrie stellte sich die Regelung der Unzurechnungsfähigkeit in § 51 des Strafgesetzbuchs als besonders reformbedürftig dar. Im Gegensatz zur Rechtstradition vieler Partikularstaaten kannte das Reichsstrafgesetzbuch keine ›geminderte Zurechnungsfähigkeit‹ als Strafmilderungsgrund.68 Vielmehr folgte es seinen Vorläufern – dem Preußischen StGB und dem StGB des Norddeutschen Bundes – und verlangte den Richtern und Sachverständigen ab, einen Täter entweder als zurechnungsfähig zu betrachten oder ihn wegen Unzurechnungsfähigkeit völlig straflos zu lassen. Zweifellos trug diese Bestimmung zur Verschärfung der oben geschilderten Missstände auf den Gebieten der gerichtlichen und der Anstaltspsychiatrie bei. Da die Grenzzustände zwischen Geisteskrankheit und psychischer Gesundheit rechtlich nicht angemessen zu würdigen waren, konnten die ›geistig minderwertigen‹ Täter bald als strafwürdige Verbrecher, bald als schuldunfähige Psychiatriepatienten eingestuft werden. Das ›Weiterreichen‹ dieser oftmals lästigen Klientel wurde erleichtert. Die widersprüchlichen Gutachten, die sich vielleicht in der Diagnose glichen, doch unterschiedliche juristische Schlussfolgerungen zogen, schadeten zudem der wissenschaftlichen Reputation der Sachverständigen und unterhöhlten den Anspruch der Psychiatrie, eine exakte Naturwissenschaft zu sein.

66 Liszt, Gegner der Zweckstrafe, S. 367f. 67 Birkmeyer, Gedanken, S. 78: »Sofern also nur daran festgehalten wird, dass solche Präventivmassregeln keine Strafe sind, sondern eine neben der Strafe einherlaufende und mit ihr nur auf dem Weg der Personalunion verbundene ›Verbrechens-Prophylaxe‹, hat die Regelung derselben im Strafgesetzbuch nichts Bedenkliches.« 68 Vgl. Gschwend, S. 326ff.

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Angesichts dessen verwundert es nicht, dass auch in diesem Punkt ein Irrenarzt als Erster zur Reform des Strafrechts aufrief. Professor Friedrich Jolly, der spätere Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité, führte in einem Vortrag auf der Versammlung des Vereins deutscher Irrenärzte im September 1887 aus, »dass das praktische Bedürfniss Bestimmungen über geminderte Zurechnungsfähigkeit verlangt«. Die bei einigen bestimmten Delikten bestehende Möglichkeit, ›mildernde Umstände‹ zuzubilligen, sei nur ein unzureichender Notbehelf, zumal der Gesetzgeber hierbei nicht an geistige Defekte gedacht habe.69 Die Versammlung stimmte dem Anliegen prinzipiell zu, beschloss jedoch aus politischen Opportunitätserwägungen, die Petition erst einmal zurückzustellen und zunächst wissenschaftliches Material zusammenzutragen.70 In der Tat hätte das Unterfangen zu diesem Zeitpunkt kaum eine Aussicht auf Erfolg gehabt. Angesichts der in der Strafrechtslehre vorherrschenden Idee der Schuldvergeltung hätte die Einführung der ›verminderten Zurechnungsfähigkeit‹ eine Verkürzung der Haftdauer zur Folge gehabt – und zwar bei denjenigen Tätern, die am wenigsten zur Selbstkontrolle fähig waren. Ein solcher Vorschlag – zudem noch von den ohnehin in der Kritik stehenden Irrenärzten unterbreitet – war politisch nicht durchsetzbar. Im Laufe der neunziger Jahre änderten sich diese Bedingungen. Die ›verminderte Zurechnungsfähigkeit‹ konnte man sich nun in Verbindung mit einer unbefristeten Verwahrung der Betroffenen vorstellen. Ausschlaggebend hierfür waren drei oben bereits geschilderte Entwicklungen: Zum einen stieß der von der ›modernen Strafrechtsschule‹ und der IKV propagierte Gedanke der Schutzstrafe auf zunehmende Akzeptanz. Des weiteren rückten durch die Lombroso-Rezeption und die Diagnose einer ›psychopathischen Minderwertigkeit‹ bei zahlreichen Rückfalltätern gerade die Grenzgänger zwischen Geisteskrankheit und Gesundheit in das Zentrum der kriminalpolitischen Diskussion. Ferner setzte die Irrenrechtsreformbewegung die gesetzliche Festlegung der Voraussetzungen für die psychiatrische Zwangsinternierung auf die Tagesordnungen der Parlamente. Mitte der neunziger Jahre brachte Franz von Liszt die an eine unbefristete Zwangsunterbringung gekoppelte ›verminderte Zurechnungsfähigkeit‹ in die Diskussion ein. In seinem Vortrag über »Die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit« auf dem 3. Internationalen Psychologen-Kongress in München 1896 gab Liszt der radikalen Position Ausdruck, dass die »Unterscheidung zwischen der Sicherungsstrafe gegen unverbesserliche Verbrecher und der Verwahrung gemeingefährlicher Geisteskranker [...] grundsätzlich zu verwerfen« sei.71 Am 69 Jolly, Über geminderte Zurechnungsfähigkeit, S. 478. 70 Vgl. den Bericht über die Jahressitzung des Vereins der deutschen Irrenärzte 1888 in Bonn, in: AZP, Jg. 45, 1889, S. 523–547. 71 Liszt, Die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit, S.82; vgl. hierzu und zum Folgenden: Wetzell, Criminal Law Reform, S. 230ff.

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Beispiel der vermindert Zurechnungsfähigen versuchte er, den Zuhörern die Absurdität des traditionellen Vergeltungsstrafrechts vor Augen zu führen. Da nach bestehendem Recht psychische Abnormitäten unterhalb der Krankheitsschwelle die Zurechnungsfähigkeit nicht aufheben könnten, sei »die Voraussetzung für die Verurteilung zur Strafe gegeben. Das Schuldurteil vernichtet den Anspruch des Irrenarztes. Aber die Kosten dieses Sieges der Juristen trägt [...] die Rechtsordnung.«72 Denn der dem Schuldprinzip verpflichtete Richter müsse wegen der verminderten Schuld auf eine mildere Strafe erkennen, so dass der Täter »›von Rechts wegen‹ [auf die Gesellschaft] losgelassen wird wie ein wildes Tier.«73 Franz von Liszt schwebte eine Lösung für derart gelagerte Fälle vor: »Hat der vermindert Zurechnungsfähige durch die Begehung eines Verbrechens seine Gemeingefährlichkeit bewiesen, so ist seine Verwahrung in einer Anstalt zur Sicherung der Gesellschaft notwendig. Aus der Verwahrung darf der Thäter erst entlassen werden, wenn der Zustand der Gemeingefährlichkeit sein Ende gefunden hat. Endet er erst mit dem Tode des Unglücklichen, so ist die Verwahrung eine lebenslange. Der Name der Anstalt thut nichts zur Sache. Ob allgemeine Irren- oder Nervenanstalt, ob Sonderanstalt für bestimmte Krankheitsformen (Asyle für Trinker, Morphinisten, Epileptiker usw.), ist gleichgültig. Nur von Strafanstalten dürfen wir nicht sprechen. Denn was wir wollen, ist Heilung des Kranken, und wenn diese nicht mehr erhofft werden kann, Verpflegung des Siechen. Nicht das Richtschwert, sondern der Äskulapstab ist das Sinnbild für die Zwecke dieser Anstalten.«74

Dieser Vorschlag war ein geschickter Schachzug im Kampf für die Schutzstrafe. Die (vorläufige) Beschränkung der sichernden Verwahrung auf den Kreis der ›psychopathisch minderwertigen‹ Verbrecher war eher akzeptabel als eine vollständige Abkehr vom Vergeltungsprinzip. Das gilt umso mehr, als Liszt bloß die altbekannte Praxis der polizeilichen Zwangsunterbringung von unzurechnungsfähigen ›Gemeingefährlichen‹ in Irrenanstalten auch auf die ›vermindert Zurechnungsfähigen‹ übertragen wollte. Liszt machte den Anhängern der ›klassischen Schule‹ sogar noch ein weiteres Zugeständnis: »Mag man immerhin, um ängstliche Gemüter nicht zu schrecken, zwei Schritte vorwärts und einen rückwärts thun: mit der Verpflegung die Bestrafung verbinden. So hat nach dem Entwurf eines Strafgesetzbuchs für die schweizerische Eidgenossenschaft der Richter gegen den nur vermindert zurechnungsfähigen Thäter, dessen Gemeingefährlichkeit durch die Begehung eines Verbrechens bewiesen ist, auf gemilderte Strafe und daneben auf Verwahrung in einer Anstalt zu erkennen. Die Verwahrung 72 Liszt, Die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit, S. 78. 73 Das Zitat bezieht sich auf den Beispielfall eines zwölfjährigen Kindermädchens, welches »das ihrer Pflege anvertraute zweijährige Kind kaltblütig gemordet [hat], um ihm die bescheidenen Ohrgehänge wegzunehmen und mit dem Erlös ihre Naschsucht zu befriedigen.«; ebd., S. 78f. 74 Ebd., S. 79f.

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geht der Bestrafung voran, sie wird auf die Dauer der erkannten Strafe angerechnet; und zum Strafvollzuge kommt es nur dann, wenn vor Ablauf der urteilsmäßigen Strafdauer Entlassung aus der Anstalt wegen eingetretener Heilung stattfinden sollte.«75

Dieses Modell der an eine Vergeltungsstrafe gekoppelten Internierung in einer psychiatrischen Anstalt ließ sich auch mit den Vorstellungen der ›klassischen‹ Juristen vereinbaren. Denn der Angelpunkt dieses Vorschlags bestand in einer Beschränkung des psychiatrischen Einflusses. Die Anstaltspsychiatrie sollte zwar für Vollzugszwecke vereinnahmt werden, doch die Entscheidungskompetenz bliebe dem Strafrichter belassen.76 In den folgenden Jahren legten verschiedene Organisationen Gesetzentwürfe vor, die ebenfalls eine mit der Strafe vermittelte Verwahrung der vermindert Zurechnungsfähigen zum Ziel hatten. Im Juni 1898 verabschiedete die Forensisch-psychiatrische Vereinigung zu Dresden – ein Zusammenschluss von Juristen, Gerichtsmedizinern und Anstaltspsychiatern auf lokaler Ebene – den Vorschlag, den Unzurechnungsfähigkeits-Paragraphen des Strafgesetzbuchs um einen § 51 a zu ergänzen, der die Behandlung der vermindert Zurechnungsfähigen in Anlehnung an das Jugendstrafrecht regelt.77 Demnach sollte dieser Personenkreis in den Genuss einer Strafmilderung kommen, wobei die »erkannte Freiheitsstrafe in besonderen, zur Vollstreckung von Strafen an Personen verminderter Zurechnungsfähigkeit bestimmten Anstalten oder Räumen« zu vollziehen sei. Darüber hinaus war für den Fall, dass der »Zustand der verminderten Zurechnungsfähigkeit ein andauernder oder seiner Natur nach wiederkehrender« war und »der Thäter durch wiederholte Bestrafungen Anlass zu der Befürchtung gegeben [hat], dass er nach Verbüssung der erkannten Strafe weitere Strafthaten begehen werde«, eine über die Strafdauer hinausgehende Verwahrung in der gleichen Anstalt vorgesehen. Diese sollte jedoch an die Zustimmung des Vormundschaftsgerichts gebunden sein. Der Vorschlag der Dresdener Forensisch-psychiatrischen Gesellschaft ging unverkennbar auf die Diskussion über die Reform des Irrenrechts und die zweckmäßige Unterbringung der ›irren Verbrecher‹ zurück. Indem die Verwahrung der vermindert Zurechnungsfähigen in Separatanstalten zur Angelegenheit des Strafvollzugs erklärt wurde, entsprach der Entwurf dem Wunsch 75 Ebd., S. 80. 76 So pflichtete z.B. der Straßburger Strafrechtslehrer Fritz van Calker – in einer ansonsten überaus kritischen Besprechung des Münchener Vortrags – Liszt in dem einen Punkt bei, dass der Strafrichter über die Verwahrung der ›Gemeingefährlichen‹ entscheiden solle. Vgl. Calker, Die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit, S. 29. 77 Vgl. die Verhandlungen der Forensisch-psychiatrischen Vereinigung zu Dresden, 39. Sitzung am 30. Juni 1898, in: AZP, Jg. 56, 1899, S. 451f.; der Gesetzentwurf wurde in den führenden Zeitschriften der Psychiatrie und der Strafrechtslehre von Mitgliedern der Forensisch-psychiatrischen Vereinigung erläutert; vgl. Ilberg; Weingart, Die verminderte Zurechnungsfähigkeit.

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der Irrenärzte nach einem Ausschluss der Kriminellen aus den psychiatrischen Anstalten; die Überweisung des vermindert Zurechnungsfähigen an das Vormundschaftsgericht kam der Forderung der ›Irrenschutzbewegung‹ entgegen, die dauerhafte Internierung mit rechtsstaatlichen Garantien zu verbinden. In den folgenden Jahren nahm die Debatte um die strafrechtliche Berücksichtigung der verminderten Zurechnungsfähigkeit an Intensität zu. Ein allgemein als skandalös empfundenes Strafurteil des Bayreuther Schwurgerichts vom Oktober 1903 hatte zur Folge, dass auch die breite Öffentlichkeit den Blick auf die Behandlung der ›geistig Minderwertigen‹ richtete. Der überregionalen Tagespresse war zu entnehmen, dass der 24-jährige Student Dippold zwei ihm zur Erziehung anvertraute Kinder auf sadistische Weise gequält hatte, bis das jüngere von ihnen an den Misshandlungen starb. Dippold, der im psychopathologischen Sinne als ›minderwertig‹ galt, wurde wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit tödlichem Ausgang zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Das empörte Publikum empfand dieses Urteil, das die zulässige Höchststrafe um sieben Jahre unterschritt, als weit unzureichend, und der Verurteilte wäre beinahe der Lynchjustiz zum Opfer gefallen, als er aus dem Gerichtssaal abgeführt wurde. Einige Juristen kommentierten diesen Fall in der Fachpresse und versuchten ihn für ihre strafrechtspolitischen Ziele zu instrumentalisieren. Der konservative Freiburger Rechtslehrer von Rohland wertete die Strafe als zu milde und verlangte die gesetzliche Einführung der »Körperstrafe als wirksame[r] Zugabe zur Freiheitsstrafe«.78 Ferner demonstriere das Urteil, wie wichtig es sei, dass die Rechtspflege mit den Rechtsanschauungen des Volkes im Einklang bleibe. »Die Zweckstrafe«, so von Rohland, »verkennt also die psychologischen Grundlagen der Strafe und tritt mit den Anforderungen unseres Rechtsbewußtseins in Widerspruch.«79 Franz von Liszt erwiderte als Wortführer der ›modernen Schule‹, dass gerade »die Vergeltungsidee in einem Fall ausgesprochener Minderwertigkeit [...] mildere Strafe verlange«, während das »Rechtsbewußtsein des Volkes« nach einer dauerhaften Unschädlichmachung der »gemeingefährlichen Minderwertigen« rufe.80 Auch der Psychiater Paul Näcke sprach sich für eine – möglichst nicht in einer Irrenanstalt zu vollziehende – unbefristete Verwahrung der »Entarteten« vom Schlage eines Dippold aus.81 Im Jahr 1904 erreichte die Diskussion über die Behandlung der vermindert Zurechnungsfähigen ihren Höhepunkt. Gustav Aschaffenburg räumte diesem Problem im ersten Band seiner »Monatsschrift für Kriminalpsychologie 78 Rohland, S. 488. 79 Ebd. 80 Liszt, Nochmals zum Fall Dippold, S. 540f.; ähnlich argumentierte Kohlrausch, Der Kampf der Kriminalistenschulen; siehe auch: Stooss, Zum Falle Dippold; Liepmann, Vergeltungsstrafe und Zweckstrafe. 81 Vgl. Näcke, Randglossen, S. 366f.

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und Strafrechtsreform« breiten Raum ein.82 Vor allem aber setzten die Internationale Kriminalistische Vereinigung und der Deutsche Juristentag die ›Verwahrung der Minderwertigen‹ auf ihre Tagesordnungen. Nachdem der Bremer Irrenanstaltsdirektor Delbrück auf der Versammlung der Deutschen Landesgruppe der IKV im Jahr 1902 die Frage der ›geminderten Zurechnungsfähigkeit‹ zur Sprache gebracht hatte, wurde auf der nächsten Jahresversammlung eine Kommission mit der Ausarbeitung eines entsprechenden Gesetzentwurfs beauftragt.83 Der unter der Federführung Franz von Liszts erarbeitete »Entwurf eines Gesetzes betreffend die Verwahrung gemeingefährlicher geisteskranker und vermindert Zurechnungsfähiger«84 wurde auf der Stuttgarter Tagung der Deutschen Landesgruppe im Mai 1904 vorgestellt und diskutiert. Der Entwurf, der die Strafmilderung (bei den ›vermindert Zurechnungsfähigen‹) bzw. den Freispruch (der ›Unzurechnungsfähigen‹) mit einem zivilrechtlichen Entmündigungsverfahren und anschließender Einweisung in eine Irrenanstalt verknüpfen sollte, wurde in der Sache allgemein gebilligt. Sogar die vorgeschlagene Einführung der ›Gemeingefährlichkeit‹ als Entmündigungsgrund auch für solche Personen, die sich überhaupt noch nicht kriminell betätigt hatten, stieß auf keinerlei Bedenken. Strittig erschien in erster Linie die Wortwahl. Oberregierungsrat Krohne, der Ressortexperte für das preußische Gefängniswesen, wollte die Bezeichnung »gemindert Zurechnungsfähige« durch »geistig Minderwertige« ersetzt wissen; die Psychiater Aschaffenburg und Sommer plädierten für die Termini »krankhafte Minderwertigkeit« bzw. »mit Geistesschwäche Behaftete«. Dabei verfolgten alle Diskussionsteilnehmer – einschließlich Liszt – mit ihren um Präzision bemühten Begriffen das gleiche Ziel: den »wiederholt rückfälligen, gewerbs- und gewohnheitsmäßigen Verbrecher« von der Strafmilderung und der Psychiatrisierung auszunehmen.85 Schließlich hatten die Irrenärzte unter den IKV-Mitgliedern kein Interesse daran, Schwerverbrecher in ihre Anstalten aufzunehmen, und die Strafjuristen wollten die Entscheidung über die Internierung der Gewohnheitsverbrecher keineswegs dem Entmündigungsrichter überlassen. Die Zwi82 Der erste Band der MschrKrim aus dem Jahr 1904/05 enthält u.a. folgende einschlägige Beiträge: Liszt, Schutz der Gesellschaft; Bleuler, Zur Behandlung Gemeingefährlicher; Delbrück, Zum Schutz der Gesellschaft; Hoegel, Die Behandlung der Minderwertigen; Ziemke, Der Schutz der Gesellschaft vor den vermindert Zurechnungsfähigen; Kraepelin, Zur Frage der geminderten Zurechnungsfähigkeit. 83 Kitzinger, S. 137; vgl. die Verhandlungen der Versammlung der Deutschen Landesgruppe der IKV in Dresden 1903 zum Thema »Die vermindert Zurechnungsfähigen«, in: Mitteilungen der IKV, Jg. 11, 1904, S. 593–613. 84 Abgedruckt in: Mitteilungen der IKV, Jg. 11, 1904, S. 637–658; der von Liszt eigenständig erarbeitete Vorentwurf wurde zuvor in der Aerztlichen Sachverständigen-Zeitung vom 15.1.1904 und 1.2.1904 (enthalten in BA, R 30.01, Nr. 6077, Bl. 42ff.) veröffentlicht. 85 Vgl. die Verhandlungen der Versammlung der Deutschen Landesgruppe der IKV in Stuttgart 1904, in: Mitteilungen der IKV, Jg. 12, 1905, S. 265–286, insbesondere S. 269, 273f., 276, 281.

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schenschaltung dieser zivilrechtlichen Instanz schien jedoch notwendig, um auch die noch nicht mit dem Strafgesetz in Konflikt geratenen ›Gemeingefährlichen‹ unschädlich machen zu können.86 Die Ausklammerung der habituellen Verbrecher war somit keineswegs nur eine Konzession der ›modernen‹ Strafrechtsreformer an den ›klassischen‹ Vergeltungsgedanken.87 Es ging Liszt vielmehr darum, zusätzliche präventive Maßregeln zuzulassen, ohne die schon bestehenden strafjuristischen Entscheidungsbefugnisse preiszugeben. Diesem Gedanken folgten auch die Beschlüsse der Versammlung. Nach der abschließenden Abstimmung wurde der Vorstand beauftragt, den Gesetzgeber zu ersuchen, ein Gesetz nach folgenden Grundsätzen auszuarbeiten: »1. Vermindert Zurechnungsfähige sind milder zu bestrafen. 2. Gegenüber den wegen ausgeschlossener Zurechnungsfähigkeit Freigesprochenen oder wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit milder Bestraften sind, soweit sie gemeingefährlich sind, die geeigneten Sicherungsmittel zur Anwendung zu bringen. 3. Solche Sicherungsmaßregeln sind auch denjenigen noch nicht verbrecherisch gewordenen Personen gegenüber notwendig, die infolge von ausgeschlossener oder verminderter Zurechnungsfähigkeit gemeingefährlich sind. 4. Die endgültige Verhängung dieser Sicherungsmaßregeln erfolgt in einem besonderen Verfahren, das dem Entmündigungsverfahren analog zu gestalten ist.«88

Während die IKV die ›moderne‹ Richtung der Strafrechtswissenschaft repräsentierte, trafen auf dem 27. Deutschen Juristentag in Innsbruck im September 1904 die Anhänger beider Strafrechtsschulen zusammen. Umso erstaunlicher ist es, dass der Juristentag zu einem ganz ähnlichen Ergebnis gelangte. Gerade die Essentials der IKV-Beschlüsse, die Anstaltsverwahrung der vermindert Zurechnungsfähigen im unmittelbaren Anschluss an die Verbüßung einer reduzierten Strafe, wurden übernommen. Dass mit Wilhelm Kahl hier ein Anhänger der ›klassischen Schule‹ das Reformvorhaben vorstellte, mag zur Verständigung beigetragen haben. Der Berliner Rechtsprofessor, der sich auf dem Gebiet des Kirchenrechts profiliert hatte, aber mit eigenen Strafrechtsvorlesungen auch seinem Fakultätskollegen Franz von Liszt Konkurrenz machte, legte dem Juristentag ein ausführliches Gutachten über »Die strafrechtliche Behandlung der geistig Minderwertigen« vor.89 Obwohl er dem Vergeltungsgedanken anhing, wollte er den »Erfahrungstatsachen der Psychiatrie«, die auf eine Reform drangen, Rechnung tragen:

86 Vgl. Liszt, Entwurf, S. 646. 87 Vgl. dagegen Wetzell, Criminal Law Reform, S. 251: »The only explanation is that the reformers were somehow caught in the retributivist logic and therefore didn’t want the sentences of habitual criminals to be reduced.« 88 Beschlüsse der Versammlung der Deutschen Landesgruppe der IKV in Stuttgart 1904, in: Mitteilungen der IKV, Jg. 12, 1905, S. 286. 89 Kahl, Die strafrechtliche Behandlung der geistig Minderwertigen.

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»Die für die Notwendigkeit einer Reform entscheidenden beiden Tatsachen, das häufige Vorkommen der geistigen Minderwertigkeit in der Verbrecherwelt einerseits und die völlig unzulängliche Beachtung dieser Personenklasse in der Strafgesetzgebung andererseits stehen heute schon fest. Das Unzulängliche liegt nur zum geringsten Teile in der gerade bei schwereren Verbrechen häufigen Unmöglichkeit einer milderen Bestrafung. Denn die letztere ist nach dem durch die Psychiatrie vertieften Stande des Problems längst nicht mehr die Hauptsache. [...] Das wahrhaft Unzulängliche liegt vielmehr in der Unmöglichkeit einer zweckgemäßen Sicherung. [...] Die Psychopathologie läßt uns wissen, daß in der Freiheit mit einer Art von Naturnotwendigkeit die Bedingungen wiederkehren, welche den Minderwertigen dem Verbrechen zuführen.«90

Das Gutachten schloss mit fünf Leitsätzen, in denen Kahl seine aus den empirischen Erkenntnissen der Psychiatrie abgeleiteten praktischen Reformvorschläge zusammenfasste. So sollten nur Täter, welche sich bei Begehung der Tat in einem »andauernd krankhaften Zustande« befunden hatten, als vermindert zurechnungsfähig eingestuft und somit milder bestraft werden. Für die Strafvollzugsfähigen unter ihnen sah Kahl eine Strafverbüßung in einer regulären Strafanstalt mit anschließender »Beaufsichtigung« vor. Die nicht für den normalen Strafvollzug geeigneten Täter sollten hingegen in neu zu errichtenden »zentrale[n], dem Strafvollzug und der Verwahrung dienende[n] Sicherungsanstalten« so lange untergebracht werden, wie es die Anstaltsbeamten für erforderlich hielten. Die Entscheidung über die angemessene Vollzugsart wollte Kahl dem Strafrichter überlassen.91 Nach längerer Diskussion und einigen Abänderungen wurden die Leitsätze verabschiedet.92 Die wichtigste Modifikation ging auf den Korreferenten Arthur Leppmann zurück. Der ärztliche Leiter der Irrenstation der Strafanstalt Moabit nahm in seinem Zweitgutachten Anstoß an der impliziten Gleichsetzung von Strafvollzugsunfähigkeit und Gemeingefährlichkeit. Des Weiteren lehnte Leppmann die von Kahl angeregte Schaffung von Sicherungsanstalten als »Mitteldinge zwischen Strafanstalt und Irrenanstalt« ab, da er dies »für einen Rückschritt in dem modernen Humanitätsgedanken der Irrenbehandlung und Verwahrung und außerdem für praktisch nachteilig« hielt.93 Auch andere Teilnehmer des Juristentags warnten – teils aus einem ›klassischen‹ Strafverständnis, teils aus ärztlichem Heilungsverständnis heraus – vor einer Vermischung von Strafe und Anstaltsbehandlung.94 So wurde eine Petition be90 Ebd., S. 199f. 91 Ebd., S. 246ff. Die Leitsätze sind auch abgedruckt in: MschrKrim, Bd. 1, 1904/05, S. 120f. 92 Vgl. Verhandlungen des 27. Deutschen Juristentages, Bd. 4 (Stenographische Berichte), S. 396–466. 93 Leppmann, Die strafrechtliche Behandlung der geistig Minderwertigen, bes. S. 143ff. und S. 146ff., Zitat S. 146. 94 Vgl. insbesondere die Wortbeiträge von Emil Kraepelin und August Finger, in: Verhandlungen des 27. Deutschen Juristentages, Bd. 4 (Stenographische Berichte), passim; siehe auch:

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schlossen, die eine auf den Vollzug der gemilderten Strafe folgende Anstaltsunterbringung der vermindert Zurechnungsfähigen forderte.95 Strafe und Therapie waren nach dem vorgeschlagenen Prozedere begrifflich, zeitlich und institutionell getrennt, wenngleich der vermindert zurechnungsfähige Täter beides über sich ergehen lassen sollte. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs wurden noch einige Beiträge zum Problem der Behandlung der ›geistig Minderwertigen‹ verfasst,96 doch das für die Strafrechtsreform maßgebliche Modell war bereits im Jahr 1904 mit den Beschlüssen der Deutschen Landesgruppe der IKV und des Deutschen Juristentags gefunden worden. Wie auch in der Diskussion um die Sicherungsstrafe hatte man sich auf einen Kompromiss verständigt, dessen Kernelement die Trennung von Vergeltungsstrafe und sichernder Maßnahme war. Nur sollte die Unterbringung der vermindert Zurechnungsfähigen in einer psychiatrischen Institution erfolgen, während die auf die Gewohnheits- und Berufsverbrecher gemünzte Sicherungsverwahrung in den Bereich des Strafvollzugs fiel. Eine weitere Parallele besteht darin, dass auch hier ein Vorschlag aus den Reihen der Psychiater von Strafjuristen in einer Form adaptiert wurde, die der Strafjustiz weitreichende Kompetenzen beließ. Die Leidtragenden dieses Kompromisses waren die Anstaltspsychiater, denen nun – zusätzlich zur Unterbringung der im Strafvollzug erkrankten Häftlinge und der Unzurechnungsfähigen – die Verwahrung einer weiteren Gruppe von Kriminellen aufgebürdet werden sollte, ohne dass sie nennenswerten Einfluss auf die gerichtliche Entscheidung nehmen dürften.97 Doch die eigentlichen Opfer waren die ›geistig Minderwertigen‹ selbst. Um der semantischen Reinheit des Strafbegriffs willen sollte bei deren Behandlung »the worst of both worlds«98 kombiniert werden: das Stigma der Bestrafung und die unbefristete Anstaltsunterbringung.

Aschaffenburg, Gerichtsärztliche Wünsche; Calker, Die strafrechtliche Behandlung der geistig Minderwertigen. 95 Vgl. Verhandlungen des 27. Deutschen Juristentages, Bd. 4 (Stenographische Berichte), S. 462–466. 96 Neben der umfangreichen Zeitschriftenliteratur u.a.: Aschaffenburg, Sicherung; Über die Zurechnungsfähigkeit; Göring. 97 Der Irrenarzt August Cramer hatte auf dem Juristentag mit den altbekannten Argumenten gemahnt, die öffentlichen Irrenanstalten nicht für Zwecke des Strafvollzugs zu missbrauchen. Vgl. den Wortbeitrag in: Verhandlungen des 27. Deutschen Juristentages, Bd. 4 (Stenographische Berichte), Berlin 1904, S. 408–417, hier S. 416. 98 So die treffende Formulierung bei Wetzell, Criminal Law Reform, S. 265.

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c) Kriminalpolitik und Eugenik »Wir treten also einem Verbrecher nicht deshalb gegenüber, weil er eine Schuld auf sich geladen hat, sondern weil er Ursache eines Übels ist, gerade wie wir einen reissenden Bach eindämmen oder einen pathogenen Bacillus bekämpfen.«99 Mit solch drastischer Metaphorik legte der berühmte Psychiater Eugen Bleuler im Jahr 1896 die »Allgemeine[n] theoretische[n] Consequenzen«100 seiner Erkenntnisse über den »geborenen Verbrecher« dar. Bezeichnend ist dieses Zitat in zweierlei Hinsicht: Einmal verbildlicht es das utilitaristische – geradezu technische – Strafrechtsverständnis, das aus einer medizinischen Perspektive erwachsen kann. Zum anderen demonstriert es, dass eine am therapeutischen Modell ausgerichtete Kriminalpolitik nicht notwendig die ›Besserung‹ des individuellen Täters zum Ziel hat. Nicht dem Verbrecher als »pathogenem Bacillus«, sondern dem durch diesen bedrohten ›Volkskörper‹ gelten die ärztlichen Bemühungen. In diesem Sinne bezeichnete Emil Kraepelin das Verbrechen auch als »soziale Krankheit«.101 Aus dieser kriminologischen Makroperspektive leitet sich das kriminalpolitische Ziel ab, nicht nur das verbrecherische Individuum unschädlich zu machen, sondern generell die ›Verbrecherpopulation‹ zu reduzieren. Angesichts des in der kritischen Auseinandersetzung mit Lombroso konstatierten Zusammenhangs zwischen Devianz und ›Degeneration‹ lag es gerade für die Mediziner unter den Kriminologen nahe, den ›endogenen Verbrechern‹ mit dem Skalpell zu Leibe zu rücken, um die Vererbung krimineller Dispositionen zu verhindern. In der Tat fand die Sterilisation als verbrechensverhütende Maßnahme zu Beginn des 20. Jahrhunderts Eingang in den deutschen kriminalpolitischen Diskurs. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch den internationalen Erfolg der Eugenik. Nachdem in den US-Bundesstaaten Michigan (1897) und Pennsylvania (1901 und 1905) Gesetzentwürfe zur Regelung der eugenisch indizierten Unfruchtbarmachung gescheitert waren, gelangte 1907 in Indiana das erste Sterilisationsgesetz der Welt zur Verabschiedung.102 Auch den deutschen juristisch-kriminologischen Fachkreisen gelangten diese Gesetzesinitiativen zur Schaffung eines neuen Mittels, »der Begehung von Verbrechen vorzubeugen, das weit radikaler ist als alle bisherigen«, zur Kenntnis.103 In der Schweiz setzten sich Psychiater wie Forel und Bleuler für die Legalisierung der bisweilen an Anstaltspatienten ausgeführten Sterilisierungen ein.104 In Deutschland warn99 100 101 102 103 104

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Bleuler, Der geborene Verbrecher, S. 61. So die Kapitelüberschrift auf S. 52. Kraepelin, Das Verbrechen als soziale Krankheit. Müller, Sterilisation, S. 34; Reilly, S. 41ff. Vgl. Lederer, S. 446; Ziertmann; Maier, Die Nordamerikanischen Gesetze. Müller, Sterilisation, S. 37ff.

ten die darwinistisch inspirierten Gründerväter der Rassenhygiene Wilhelm Schallmayer und Alfred Ploetz vor der »drohende[n] körperliche[n] Entartung der Kulturmenschheit«, da die natürliche Selektion durch die moderne Sozialpolitik aufgehoben werde und die ›Untüchtigen‹ sich ungehindert fortpflanzten. Neben der allgemeinen Geburtenförderung schien ihnen eine künstliche Selektion durch Eheverbote und Anstaltsunterbringung für die ›Minderwertigen‹ geboten.105 Die Sterilisation, das spätere Standardinstrument der negativen Eugenik, wurde in Deutschland zunächst nicht von den Rassenhygienikern propagiert, sondern in einem kriminalpolitischen Diskussionszusammenhang ins Spiel gebracht. Der Psychiater Paul Näcke, der sich mit der Degenerationslehre Lombrosos kritisch auseinandergesetzt hatte106 und auch die aktuelle eugenische Diskussion in den Vereinigten Staaten verfolgte, regte im Jahr 1900 im »Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik« die »Kastration bei gewissen Klassen von Degenerirten« an.107 Der Oberarzt der Irrenanstalt Hubertusburg in Sachsen hatte sich als einer der schärfsten Kritiker der Lehre vom ›geborenen Verbrecher‹ profiliert und im Zusammenhang mit der Degenerations-Problematik stets auf die Dominanz sozialer Faktoren verwiesen.108 Auch äußerte er Zweifel an der seinerzeit weitverbreiteten Auffassung, dass ein permanenter Anstieg der Zahl der Geisteskranken und Verbrecher zu verzeichnen sei.109 Gleichwohl schloss er eine solche Entwicklung für die Zukunft nicht aus. Die »unzähligen Degenerirten, die wir thatsächlich schon jetzt in unserer Mitte und zum grossen Theile in Kranken- und Irrenhäusern, Gefängnissen und anderen Anstalten bewahren und pflegen«, erschienen ihm als ein »Mene Tekel«.110 Auf der Suche nach einem »probaten Mittel, der Entartung überhaupt oder wenigstens den Haupterscheinungen derselben Einhalt zu thun«, dachte er zunächst an die Sozialpolitik: »Beseitigung aller hygienischen und socialen Uebel, weil im Grunde, wie ich glaube, jede Degeneration, die dann weiter vererbt wird, darauf zurückgeführt werden kann. Freilich ist dieses Ideal, wie alle Ideale überhaupt, unerreichbar, und wir müssen uns mit dem Erreichbaren begnügen.«111

105 Vgl. Schallmayer, Über die drohende körperliche Entartung; ders., Vererbung und Auslese; Ploetz. Zur Frühgeschichte der deutschen Rassenhygiene siehe: Weingart u.a., S. 188ff.; Weiss, Race Hygiene; dies., Rassenhygienische Bewegung; Schmuhl, S. 29ff.; Weindling, S. 123ff.; Reyer, S. 14ff. 106 Siehe oben, Abschnitt A, I. 107 Näcke, Kastration. Vgl. hierzu und zur Rezeption des Vorschlags: Müller, Sterilisation, S. 47ff. und Wetzell, Criminal Law Reform, S. 307ff. 108 Vgl. Näcke, Degeneration. 109 Vgl. Näcke, Kastration, S. 59ff. 110 Ebd., S. 68. 111 Ebd., S. 69.

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Angesichts der geringen Aussicht auf eine allgemeine Hebung der sozialen Verhältnisse erwog Näcke ersatzweise einige »radicale Mittel« aus dem rassenhygienischen Arsenal von Alfred Ploetz. Eheverbote, »Einsperrung der Entarteten« und »die Einschränkung der Zeugung durch bekannte anticonceptionelle Mittel« schienen ihm wegen der geringen Zuverlässigkeit bzw. der hohen Kosten als wenig praktikabel. So bleibe »also nur die Castration übrig, die man in gewissen Fällen anwenden könnte und sollte, eine Methode, die uns zwar noch sehr fremd vorkommt, aber von ausländischen Gelehrten neuerdings ventilirt und empfohlen ward«.112 Paul Näcke unterschied mit seiner Begrifflichkeit noch nicht zwischen Kastration und Sterilisation.113 Es ging dem Autor jedenfalls um die Unfruchtbarmachung; die Verhütung von Sexualstraftaten stand nicht im Vordergrund, obgleich sie als Nebeneffekt willkommen war. Jene »kleine Operation«, die im Vergleich zur Anstaltsunterbringung »nur als ein winziger Eingriff in die persönlichen Rechte« erscheine, sollte in erster Linie dazu dienen, »die Vermehrung der degenerirtesten Elemente zu verhindern«.114 Zu diesen »zur Operation vorzuschlagenden Entarteten« zählten: »Zunächst manche Gewohnheitsverbrecher, nicht aber solche, die nur aus Noth immer recidiviren; Verbrecher aus impulsivem Triebe – gewiss eine seltene Species; ausgeprägt verbrecherische Naturen, die vor keiner Gewaltthat zurückscheuen; endlich Sittlichkeitsverbrecher, deren Individualität so beschaffen ist, dass sie immer wieder dieselben oder ähnliche Delicte begehen müssen.«115 Näcke äußerte selbst Zweifel an der politischen Durchsetzbarkeit seines Vorschlags. Aus taktischen Gründen wollte er zunächst nur die »degenerirtesten Elemente« unschädlich gemacht sehen: »Anfänglich würden nur die Insassen von Gefängnissen, Irren- und anderen Anstalten berücksichtigt werden müssen, nicht aber die Entarteten der freien Bevölkerung, die viel schwerer zu fassen sind und wahrscheinlich die grössere Masse darstellen, wenn auch vielleicht die minderen Grade. Später allerdings müsste der Staat auch diese Elemente ins Auge fassen, die um so gefährlicher sind, als sie mehr Gelegenheit haben Kinder zu zeugen, als zeitweilig Internirte. Eine Hauptschwierigkeit läge jedenfalls darin, dass die Entarteten bis in die höchsten Kreise hinaufreichen und der Widerstand somit fast unüberwindlich erscheint. Vielleicht wird aber auch hier dereinst der allein wahrhafte Grundsatz: ›Salus populi suprema lex‹ siegen!«116

112 Vgl. ebd., S. 71ff., Zitat S. 74. 113 Auch die Vasektomie – eine reine Sterilisationsmethode – galt dem Autor als eine Art der »Castration«; vgl. ebd, S. 75. 114 Ebd., S. 77. 115 Ebd., S. 78. 116 Ebd., S. 80.

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Näckes Skepsis im Hinblick auf die kurzfristige Realisierbarkeit seines Konzepts einer biologischen Kriminalprävention war durchaus berechtigt. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs konnte ein solches Sterilisationsprojekt selbst in psychiatrischen Fachkreisen kaum Zustimmung finden.117 Die Forderung nach einer eugenisch bzw. kriminalpolitisch indizierten Unfruchtbarmachung blieb zunächst eine Außenseiterposition. Das musste auch Hans W. Maier erfahren, als er auf dem 7. Internationalen Kongress für Kriminalanthropologie in Köln 1911 ein Referat über die Sterilisationen in den USA und der Schweiz hielt.118 Gustav Aschaffenburg zog als Vorsitzender des Kongresses aus den Diskussionsbeiträgen das Resümee: »Das Wesen der Entartung und die Gesetze der Vererbung sind uns noch nicht mit solcher Genauigkeit bekannt, daß wir die Indikation zur Sterilisierung aus [...] eugenetischen Gründen zweifelsfrei angeben können. Und ohne eine solche zuverlässige Indikationsstellung ist eine gesetzliche Regelung unmöglich.«119 Zweifellos wurde der rassenhygienische Gedanke von der Psychiatrie gespeist; doch gerade die kompetenten Psychiater schätzten den Nutzen der Eugenik nüchterner ein als mancher Laie. Die ohnehin raren befürwortenden Äußerungen über fortpflanzungshemmende eugenische Maßnahmen fielen eher verhalten aus.120 Der psychiatrische Mainstream versprach sich angesichts der sozialen Wurzeln der ›Degeneration‹ – die auch Paul Näcke keineswegs bestritt – nicht allzu viel von der Sterilisation. Der Gießener Psychiatrieprofessor Oswald Bumke kam 1912 in seiner Abhandlung »Über nervöse Entartung« – besser bekannt unter dem Titel der 2. Auflage »Kultur und Entartung« – zu dem Ergebnis, »daß auch die nervöse Degeneration eine soziale Erscheinung ist.« Den in Laienkreisen verbreiteten kulturpessimistischen Untergangsbefürchtungen hielt er die positiven Auswirkungen einer auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse gerichteten Sozialpolitik entgegen.121 Ähnlich argumentierten die führenden Kriminalpsychiater. So setzte Gustav Aschaffenburg seine kriminalpolitischen und sozialhygienischen Hoffnungen eher in die Bekämpfung des Alkoholismus und der Armut.122 Robert Sommer, ebenfalls Psychiater und Kriminologe, äußerte sich höchst abfällig über die Bestrebung, das Strafrecht als ein rassenhygienisches Selektionsinstrument zu 117 Vgl. Müller, Sterilisation, S. 52; Schmuhl, S. 100. 118 Vgl. Maier, Erfahrungen über die Sterilisation. 119 Zitiert nach Schmuhl, S. 100. 120 So führte beispielsweise Emil Kraepelin die fortpflanzungshemmende Wirkung der Internierung als Argument für den Ausbau des psychiatrischen Anstaltswesens ins Feld, und der Psychiater Matthias Heinrich Göring, ein Vetter des späteren ›Reichsmarschalls‹, hielt die Sterilisation oder Kastration eines Straftäters in Einzelfällen für angebracht, sofern sie mit Einwilligung des Betroffenen erfolge und ihm eine längere Internierung ersparen könne. Vgl. Kraepelin, Die psychiatrischen Aufgaben des Staates, S. 16f.; Göring, S. 137. 121 Bumke, Über nervöse Entartung, S. 104f.; ders., Kultur und Entartung, S. 106ff. 122 Vgl. Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung, S. 181ff.

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missbrauchen: Es fehle »dieser blutdürstigen Pseudo-Naturwissenschaft, die sich in neuerer Zeit breit macht, durchaus eine sichere Grundlage.«123 Wie wurde der Vorschlag, ›degenerierte‹ Verbrecher unfruchtbar zu machen, von den Strafjuristen aufgenommen? Es mag zunächst verwundern, dass die Frage der Sterilisation nicht Gegenstand des ›Schulenstreits‹ geworden ist, obwohl eine derart einschneidende Präventionsmaßnahme doch eigentlich den Widerstand der ›Klassiker‹ hätte herausfordern sollen. Womöglich schien der Vorschlag aus dem Jahr 1900 vorerst noch zu gewagt und unausgegoren, um eine ernsthafte Diskussion auslösen zu können. Es dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass die medizinische Operation – im Gegensatz etwa zur Sicherungsverwahrung – sich phänomenologisch derart von der Freiheitsstrafe unterschied, dass konservative Juristen ihr Terrain gar nicht verletzt sahen. Jedenfalls begegnet man sowohl im ›modernen‹ als auch im ›klassischen‹ Lager vereinzelt Befürwortern einer strafrechtlichen Sterilisation. Die Mehrheit der Strafrechtler hielt es in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg aber nicht für erforderlich, sich mit diesem Thema überhaupt auseinander zu setzen. Das gilt auch für Franz von Liszt, der die Unfruchtbarmachung in der 14. Auflage seines Lehrbuchs aus dem Jahr 1905 nicht einmal erwähnt.124 Seine Veröffentlichungen zeugen jedoch von einer großen Skepsis gegenüber biologischen Ansätzen der Verbrechensbekämpfung. Liszt hatte schon früh darauf hingewiesen, dass Lombrosos Lehre vom ›geborenen Verbrecher‹ »wissenschaftlicher Kritik gegenüber nicht stand[hielt]«125 und »daß es eine besondere Veranlagung zur Begehung von strafbaren Handlungen nicht gibt, sondern daß es von den äußeren Verhältnissen, von den Lebensschicksalen in ihrer Gesamtheit abhängt, ob die Störung des seelischen Gleichgewichtes zum Selbstmord, zum Wahnsinn, zu schweren Nervenleiden, zu körperlichen Krankheiten, zu unstetem abenteuerlichen Lebenswandel oder aber zum Verbrechen führt.«126 Liszt sprach der biologischen Betrachtung des Verbrechens nicht jegliche Berechtigung ab, doch galt ihm die »größere ›Dignität‹ der gesellschaftlichen Faktoren«127 als gesicherte Erkenntnis. So wurde die ›moderne‹ Liszt-Schule auch als ›soziologische Schule‹ der Strafrechtswissenschaft bezeichnet. Liszt prägte gleichfalls das bekannte Diktum von der Sozialpolitik als der »beste[n] und wirksamste[n] Kriminalpolitik«.128 Der Grazer Strafrechtsprofessor Hans Groß (1847–1915), der dem Umfeld der ›modernen Schule‹ zugerechnet werden kann, wenngleich er sich im Ge123 Sommer, Kriminalpsychologie, S. 328; dieses Zitat bezieht sich auf die rassenhygienische Begründung der Todesstrafe. 124 Vgl. Liszt, Lehrbuch. 125 Liszt, Kriminalpolitische Aufgaben, S. 301. 126 Ebd., S. 310f. 127 Liszt, Das Verbrechen als sozial-pathologische Erscheinung, S. 235; vgl. auch ders., Lehrbuch, S. 68ff. 128 Liszt, Das Verbrechen als sozial-pathologische Erscheinung, S. 246.

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gensatz zu Liszt für eine vom Strafrecht emanzipierte Kriminologie einsetzte, hegte hingegen keinerlei Bedenken gegenüber einer biologistischen Kriminalpolitik. Als Herausgeber hatte er Paul Näcke im Jahr 1900 ermöglicht, seinen Aufsatz über die »Kastration bei gewissen Klassen von Degenerirten« im »Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik« zu publizieren.129 Dreizehn Jahre später plädierte Groß selbst für die Kastration und Sterilisation von Kriminellen.130 Bedenken gegen derartige Maßnahmen wischte er mit den Worten beiseite: »Wir haben lange genug von der Humanität gegen die Verbrecher gesprochen, reden wir jetzt einmal von der Humanität gegen die übrige Gesellschaft; diese ist auf das Äußerste durch eine erschreckend große Zahl degenerierter und verbrecherisch veranlagter Leute gefährdet«.131 Groß begründete die Sterilisationsforderung mit einem vulgärdarwinistischen Argument: »Ich habe einmal darzutun versucht, daß Degeneration nur negative Zuchtwahl und als solche Kulturprodukt sei; die Natur scheidet alle Individuen, die eine Spur von Degeneration zeigen, sofort oder wenigstens noch eher aus, bevor sie sich und ihr degeneratives Wesen fortpflanzen können; die Kultur erhält und pflegt aber auch die elendste Mißgeburt, das verkommenste Kind und sorgt so für Erhaltung der Degeneration. [...] Natürlich denkt niemand daran die genannten Wohltätigkeitsanstalten zu beseitigen, aber wir können Einspruch dagegen erheben, daß die dort Geretteten und der Welt Übergebenen, ihr Unglück fortsetzen und noch ärger Degenerierte ins Leben setzen.«132

Indem Hans Groß in bestechender Schlichtheit die ›Degeneration‹ als ein rein erbbiologisches Phänomen schilderte, entfernte er sich vom zeitgenössischen Degenerations-Konzept der Psychiatrie, dessen Charakteristikum gerade in der Verklammerung von endogenen und exogenen Faktoren lag. Auch Groß’ Ausführungen zur Kastration stützten sich nicht auf den medizinischen Kenntnisstand seiner Zeit. Die Vorstellung, die Kastration nicht nur zur Behandlung von Sexualverbrechern, sondern auch zur »Bändigung und Brauchbarmachung gefährlicher Elemente«133 wirksam einsetzen zu können, hatte Groß kurzerhand aus der Praxis der landwirtschaftlichen Tierhaltung abgeleitet.134 129 Von Hans Groß stammt auch die einleitende Anmerkung: »Es ist kaum anzunehmen, dass der vorliegende Vorschlag des berühmten Psychiaters jemals irgendwo zur Durchführung gelangen wird. Es ist aber von grösster symptomatischer Bedeutung und zeigt, wie festbegründet in den Reihen der wissenschaftlichen Anthropologen die Annahme von Degenerationsvererbung heute dasteht und wie sehr wir Juristen mit diesem nun einmal nicht mehr wegzuleugnenden Factor zu rechnen haben.« (ArchKrim, Bd. 3, 1900, S. 58). 130 Vgl. Groß. 131 Ebd., S. 320. 132 Ebd., S. 321f. 133 Ebd., S. 325. 134 Ebd., S. 324: »Aber gehen wir weiter, reden wir einmal ohne Ziererei, offen und gerade-

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Das wohl radikalste Konzept einer biologistischen Kriminalpolitik stellte Hans von Hentig kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs vor. Der frisch promovierte Jurist, der auch ein Studium der Psychiatrie bei Emil Kraepelin begonnen hatte und später als Kriminologe zu internationalem Ansehen gelangen sollte, legte 1914 eine Abhandlung mit dem Titel »Strafrecht und Auslese« vor, in der er die Wirkungen des Strafrechts im Lichte der Darwinschen Selektionstheorie betrachtete.135 Im Unterschied zu Näcke und Groß ging es ihm nicht darum, die Eugenik in den Dienst der Kriminalpolitik zu stellen; vielmehr fasste er das Strafrecht in seiner Gesamtheit als ein »Instrument sozialer Auslese« und als Mittel der »Eliminierung des asozialen Menschen« auf:136 »Es erscheint eigentlich selbstverständlich, daß eine Ordnung gesellschaftlichen Zusammenlebens die Eigenschaft zu züchten allen Grund hätte, die ein solches soziales Leben ermöglicht, und alle Qualitäten zu unterdrücken oder zu vernachlässigen, die die Stellung des Menschen zu gesellschaftsfremden Faktoren zu verbessern geeignet sind. [...] Wenn es dem Menschen gelungen ist, hornloses Rindvieh (Suffolkcattle) und Pflaumen ohne Kern dadurch zu züchten, daß man eine günstige Variation aufgriff und festhielt, die gekernten Pflaumen und die gehörnten Rinder aber aus dem Fortpflanzungsprozeß ausschaltete, so weiß ich nicht, warum es nicht ebenso gelingen sollte, einen moralischen Menschenschlag systematisch zu züchten. Solange wir noch keine ganz genaue Kenntnis der Vererbungsgesetze haben, wird uns das grobe Mittel der Auslese diesem Ziel näher zu bringen haben.«137

Hans von Hentig befürwortete in diesem Zusammenhang die Sterilisation.138 Hauptsächlich sollte jedoch die unbefristete Freiheitsstrafe die »Vererbung krimineller Tendenzen« verhüten. Die kleineren Freiheitsstrafen und Geldstrafen stellten insofern eine »Verfeinerung des selektiven Prozesses« dar, als sie den nicht anpassungsfähigen Tätern gegenüber eine kumulative Wirkung zeitigten, während die sozial tüchtigen Gelegenheitstäter durch diese einmalige Daseinsbeschränkung nicht nennenswert beeinträchtigt würden.139 Da unter aus: wie machen wir es denn mit unseren Arbeitstieren? Hengst und Stier sind zur Arbeit zumeist gar nicht oder nur dann zu gebrauchen, wenn wir sie mit allen möglichen Quälereien fügsam machen. Wollen wir aber ihre oft unentbehrliche Arbeitshilfe nicht missen, ohne sie zu mißhandeln, ohne aber auch uns allerlei Gefahren auszusetzen, so kastrieren wir sie und Wallachen und Ochsen sind wertvolle, ungefährliche zu tausend Zwecken leicht verwendbare Arbeitsgehilfen, denen man sich ohne Stock und Nasenring nähern kann, die also durch die Schutzmaßregel der Kastration nicht einmal nennenswert zu leiden haben. Der Vergleich mit den Arbeitstieren wird gewiß vielfach Anstoß erregen, er ist aber naturwissenschaftlich zulässig und man wird bei ruhiger Überlegung doch zugeben, daß wir ein zweifellos vorhandenes Analogon vorliegen haben«. 135 Hentig, Strafrecht und Auslese; siehe auch: ders., Zur selektiven Funktion des Strafrechts. 136 Hentig, Strafrecht und Auslese, S. 2 u. 21. 137 Ebd., S. 10 u. 13. 138 Vgl. ebd., S. 53ff. 139 Ebd., S. 223f.; ders., Zur selektiven Funktion, S. 498.

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ungünstigen Milieubedingungen »auch für den normalen Menschen die Kriminalität bisweilen als eine ganz zweckmäßige Reaktion erscheinen muß«, sollte das Strafrecht auch Möglichkeiten zur Strafmilderung bereithalten. Hans von Hentig bezeichnete – im Einklang mit der ›modernen Schule‹ – die Einführung der »unbestimmten Verurteilung«, der »bedingten Verurteilung« (Bewährungsstrafe), der (vorzeitigen) »bedingten Entlassung« und der »Rehabilitation« als die »Hauptforderung und Konsequenz unserer Auffassung«.140 Hans von Hentig kleidete die kriminalpolitischen Forderungen der LisztSchule und der IKV in ein biologistisches Gewand. Die Idee, dauerhaft sozialschädliche Täter auszusondern und hierbei die Wirksamkeit der ersten Strafe als Prüfstein für die Sozialtauglichkeit zu benutzen, findet sich bereits in Liszts ›Marburger Programm‹ aus dem Jahr 1882. Originell war jedoch Hentigs Vorschlag, diese strafrechtliche Selektion als eine biologische Selektion im darwinistischen Sinne zu betrachten. Während es Liszt bei seinem ›Ausleseverfahren‹ darum ging, die für einen konkreten Täter bestgeeignete Form der Individualprävention zu finden, strebte Hentig die Ausmerzung der Kriminellenpopulation à la longue an. Hans von Hentig war eine der schillerndsten Figuren der Kriminologie und auch in politischer Hinsicht ein Querdenker.141 Seine in »Strafrecht und Auslese« entwickelten Ideen sind in ihrer Radikalität nicht repräsentativ für die Strafrechtswissenschaft seiner Zeit. Charakteristisch für einen nicht geringen Teil der jüngeren Juristengeneration der spätwilhelminischen Ära ist jedoch die Wissenschaftsgläubigkeit und die optimistische Erwartung, mit dem Rüstzeug halb verstandener humanbiologischer Erkenntnisse eine hocheffiziente ›naturwissenschaftliche‹ Kriminalpolitik begründen zu können. Gleichfalls charakteristisch ist, dass sich die Bewunderung für die Naturwissenschaften mit dem Ehrgeiz verband, die »verlorenen Positionen« für das Strafrecht »zurück[zu]erobern«142 und mit juristischem Biologismus gleichsam die Biologie zu überholen. Sozialdarwinistische Erklärungsmuster verfingen auch bei einigen Anhängern der ›klassischen Schule‹. Friedrich Ludwig Gerngroß, ein Schüler des 140 Hentig, Strafrecht und Auslese, S. 223. Wetzell, Criminal Law Reform, S. 328, versteht Hentigs Konzept einer strafrechtlichen Selektion dagegen als völlige Abkehr von der »idea of rehabilitation«. 141 Hans von Hentig (1887–1974) hatte sowohl bei Liszt in Berlin als auch bei Birkmeyer in München studiert. Am Ersten Weltkrieg nahm er als Frontoffizier teil. In der Nachkriegszeit war er als einer der führenden Nationalbolschewisten am Aufbau einer deutschen ›Roten Armee‹ beteiligt. Einem Verfahren wegen Hochverrats entzog er sich durch die Flucht in die Sowjetunion. Nach Deutschland zurückgekehrt, habilitierte Hentig sich in Gießen und erhielt in Kiel einen Lehrstuhl. Nach der Amtsenthebung im Jahr 1934 emigrierte er in die USA, wo er an verschiedenen Universitäten lehrte und die Viktimologie, die kriminologische Lehre von den Täter-Opfer-Beziehungen, entwickelte. 1951 kehrte er nach Deutschland zurück und übernahm eine Professur in Bonn. Vgl. Condrau, S. 221f. 142 Hentig, Strafrecht und Auslese, S. 22.

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Erlanger Strafrechtsprofessors Philipp Allfeld, plädierte in seiner 1913 veröffentlichten Dissertation für die Einsetzung der »Sterilisation und Kastration als Hilfsmittel im Kampfe gegen das Verbrechen«.143 Auf originelle Weise wandte Gerngroß die ›Degeneration‹ als Argument gegen die Prämissen der ›modernen Strafrechtsschule‹: So hätten die »Gegner unseres geltenden Strafrechts« den »wahren Grund für das Fehlschlagen unserer bisherigen Bemühungen im Kampfe gegen das Verbrechen« – nämlich die überproportionale Vermehrung der ›Minderwertigen‹ – »nicht oder doch nur teilweise erkannt«.144 Folglich bedürfe es keiner Abkehr vom überkommenen Vergeltungsstrafrecht, sondern zusätzlicher Vorkehrungen gegen die Fortpflanzung jener Personen, welche sich bedingt durch ihre ›Minderwertigkeit‹ von einer vergeltenden Strafe nicht beeindrucken lassen. Straftäter mit einem »eingewurzelten verbrecherischen Trieb«145 sollten deshalb unfruchtbar gemacht werden. Entsprechend dem ›klassischen‹ Rechtsverständnis sollte die Sterilisation nicht als Strafe, sondern als »sichernde Maßnahme« gesetzlich verankert werden.146 Die Furcht vor einem weiteren Anstieg des ›Gewohnheitsverbrechertums‹, die durch die psychiatrisch-kriminologische Degenerations-Forschung begründet schien, einte die Anhänger der ›klassischen‹ und der ›modernen‹ Strafrechtsschule. Während die ›Modernen‹ mit dem Hinweis auf die ›geistige Minderwertigkeit‹ eines Großteils der Straftäter ihre Vorstellungen von einem Sicherungs- und Besserungsstrafrecht untermauerten, benutzten die ›Klassiker‹ die zunehmende ›Degeneration‹ als Entlastungsargument zur Verteidigung des Schuld- und Vergeltungsstrafrechts, dessen relative Wirkungslosigkeit externe Ursachen habe und keineswegs in seiner inneren Logik angelegt sei. Zur Zeit der Jahrhundertwende stimmten beide Parteien dahingehend überein, dass das tradierte Strafrecht einer Ergänzung um sichernde Maßnahmen bedürfe, um auch den ›degenerierten‹ Kriminellen gegenüber seine Wirksamkeit entfalten zu können. 143 Gerngroß, Sterilisation und Kastration. Auch Gerngroß huldigte einem simpel gestrickten Sozialdarwinismus: »Und genau so, wie hier gegen eine Seuche, deren Ausbrechen nur eben im Bereich der Möglichkeit liegt, muß sich der Staat gegen die Gefahr schützen, die ihm mit Naturnotwendigkeit aus der stetigen Zunahme der körperlich und geistig Defekten erwachsen muß. Alle Kosten, die die Irrenpflege und der Strafvollzug [verursachen, ] müssen die Gesunden aufbringen. Diese sind dadurch in ihrem Fortkommen gehemmt und, berücksichtigt man noch die ständig größere Zunahme der Entarteten gegenüber den Gesunden, so wird man zu dem Ergebnis gelangen, daß einmal der Augenblick kommen muß, wo sie an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit angelangt sein werden. Und dabei wird noch die ganze Rasse durch die nicht zu vermeidende Vermischung der Minderwertigen mit den Gesunden stetig verschlechtert.« (S. 10). 144 Ebd., S. 6. 145 Ebd., S. 16. 146 Vgl. ebd., S. 17ff.

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2. Strafrechtsreform als defensive Modernisierung Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schien das Klima für eine umfassende Reform des Strafrechts günstig. Im ›Schulenstreit‹ deutete sich ein gewisser Minimalkonsens an, auf den sich die beiden Lager der Strafrechtswissenschaft verständigen konnten. Die Ergänzung der traditionellen Vergeltungsstrafe durch spezialpräventive Maßnahmen, wie sie u.a. der Vorentwurf zum Schweizerischen Strafgesetzbuch vorsah,147 war ein solches Modell, das über die Lagergrenzen hinweg auf Zustimmung stieß. Für die ›Klassiker‹ waren Maßregeln wie die Unterbringung in einem Arbeitshaus oder in einer Trinkerheilanstalt ein Mittel, die ›moderne‹ Forderung nach der unbefristeten Sicherungsstrafe abzuwehren und das Vergeltungsstrafrecht in seinem Kernbestand zu erhalten. Die Anhänger der ›modernen Schule‹, denen es ohnehin mehr auf die kriminalpolitische Effizienz als auf die dogmatische Begründung des Strafrechts ankam, befürworteten die Einführung sichernder und bessernder Maßregeln; schließlich konnte auf diese Weise ihre Hauptforderung nach einer spezialpräventiven Behandlung des Täters umgesetzt werden, wobei die – aus ihrer Sicht inkonsequente – begriffliche Trennung von Strafe und Maßregel ein durchaus akzeptables Zugeständnis darstellte. Beide Schulen fanden so eine gemeinsame Reformperspektive, ohne dass freilich der dogmatische Dissens aufgehoben wurde. Als im Jahr 1901 sogar der exponierteste Vertreter des ›klassischen‹ Lagers Karl von Birkmeyer in seinen »Gedanken zur bevorstehenden Reform der deutschen Strafgesetzgebung« den »Präventivmassregeln« sein Plazet gab,148 war auf wissenschaftlichem Gebiet der Boden für eine Strafrechtsreform im Sinne der ›Zweispurigkeit‹ von Strafe und Maßregeln bereitet. Die Reformbestrebungen wurden durch einen weiteren Faktor begünstigt. Die Furcht vor einem Anstieg der Kriminalität einte Laien und Strafrechtsgelehrte unterschiedlicher Couleur. Die im Jahr 1882 eingeführte reichseinheitliche Kriminalstatistik schien diese Befürchtungen empirisch zu untermauern. Obwohl das vom Kaiserlichen Statistischen Amt zusammengestellte Tabellenwerk, das auf Meldungen der Gerichtsurteile beruhte, eigentlich eine Geschäftsstatistik der Strafrechtspflege war, sah man es als Spiegel der realen Kriminalität an.149 Gerade die ›modernen‹ Strafrechtsreformer griffen gerne auf diese Zahlen zurück, um die Dringlichkeit ihres Reformvorhabens zu verdeutlichen. Vor dem Hintergrund der durch Lombroso angestoßenen Debatte widmete man der verzeichneten Rückfallkriminalität besondere Aufmerksamkeit, da sie Erkenntnisse über eingewurzelte Verbrecherpersönlichkeiten 147 Vgl. Stooss, Schweizerisches Strafgesetzbuch. 148 Vgl. Birkmeyer, Gedanken, S. 78. 149 Zur Entstehung und Erhebungstechnik der amtlichen Kriminalstatistik siehe: Graff, S. 51ff.

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zu versprechen schien. So schloss Franz von Liszt im Jahr 1898 aus dem Anstieg des Anteils der Vorbestraften unter den Verurteilten von 25% (1881) auf 37,7% (1895) auf eine Zunahme des Gewohnheitsverbrechertums und konstatierte ein Versagen des »heutigen Strafsystems«: »Unsere Strafen wirken nicht bessernd und nicht abschreckend, sie wirken überhaupt nicht präventiv, d. h. vom Verbrechen abhaltend; sie wirken vielmehr geradezu als eine Verstärkung der Antriebe zum Verbrechen. Von Jahr zu Jahr steigt gerade infolge der Bestrafungen das Heer derjenigen, die das Verbrechen zum Lebensberuf sich erwählt haben.«150 Zwei Jahre später griff Liszt dieses Argument in einem vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin gehaltenen Vortrag wieder auf: Die Rückfallstatistik belege die »doppelte Thatsache«: »1. Wir haben ein täglich sich ausbreitendes gewerbsmäßiges Verbrechertum, ein immer stärker anschwellendes Heer von antisozialen Existenzen; und 2. dieser gefahrdrohenden Erscheinung gegenüber ist unser geltendes Strafrecht völlig machtlos.«151 Tatsächlich dürfte es sich bei dem Anstieg der Rückfallziffer in erster Linie um ein statistisches Phänomen gehandelt haben. Mit der Einführung der einheitlichen Reichskriminalstatistik wurde auch die Erfassung der Vorstrafen systematisiert. Freilich bedurfte es einiger Zeit, bis das Zahlenwerk den realen Anteil der – zuvor nur ungenau erfassten – Vorbestraften widerspiegelte. Obwohl ihm derartige kritische Erwägungen bekannt waren,152 bemühte Liszt die Rückfallstatistik als Argument für eine Strafrechtsreform. Als politisch denkender Mensch hatte er erkannt, dass er seinem modernistischen Programm einer Rationalisierung des Strafsystems einen kulturkonservativen Anstrich geben musste, um mit ihm in den einflussreichen Kreisen der wilhelminischen Gesellschaft Anklang zu finden. Zu diesem Zweck war es opportun, den autoritären Gehalt des Reformprogramms hervorzuheben und im Gegenzug den Resozialisierungsaspekt hintanzustellen. Liszts Bemühen, das bestehende Strafrecht auf den »einem fremden Volksgeiste entsprungenen code pénal« zurückzuführen, um ein »dem Rechtsbewußtsein des deutschen Volkes« entsprechendes »neues Strafgesetzbuch« zu fordern, zeugt ebenfalls von solcher Rhetorik.153 Der Appell an konservative Wertvorstellungen verhallte nicht wirkungslos. Es gelang Liszt, seinen Berliner Kollegen Wilhelm Kahl, einen gemäßigten Vertreter der ›klassischen Schule‹, für das Reformprojekt zu gewinnen. Mit dem erklärten Einverständnis Franz von Liszts rief Kahl im Vorfeld des Berliner Juristentags in der »Deutschen Juristen-Zeitung« vom 1. Juli 1902 dazu auf, »den Schulenstreit insoweit zurückzustellen, als dies für die praktischen 150 Liszt, Das Verbrechen als sozial-pathologische Erscheinung, S. 241; ähnlich auch Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung, S. 172ff. 151 Liszt, Das gewerbsmäßige Verbrechen, S. 137. 152 Vgl. Liszt, Das Verbrechen als sozial-pathologische Erscheinung, S. 241. 153 Vgl. Liszt, Das gewerbsmäßige Verbrechen, S. 121.

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Aufgaben der Gesetzgebung unerläßlich ist«.154 Nur zwei Wochen später setzte der Staatssekretär des Reichsjustizamts Arnold Nieberding, unter dessen Ägide bereits das Bürgerliche Gesetzbuch erarbeitet worden war, die Vorarbeiten für eine Neukodifikation des Strafrechts in Gang.155 Am 16. Juli betraute er ein freies wissenschaftliches Komitee mit der Aufgabe, »die wissenschaftlichen Unterlagen für eine Strafrechtsreform in einer vergleichenden Darstellung des in den wichtigeren Kulturstaaten geltenden Strafrechts zu beschaffen«.156 Das achtköpfige Komitee setzte sich aus Vertretern beider Strafrechtsschulen – unter ihnen auch Liszt, Kahl und Birkmeyer – zusammen; zu seinem weiteren Mitarbeiterkreis zählten fast sämtliche deutschen Strafrechtsprofessoren sowie der Psychiater Gustav Aschaffenburg.157 Noch während die Strafrechtsgelehrten mit der Zusammenstellung der auf 16 Bände angelegten Materialsammlung beschäftigt waren, berief Nieberding zur Erarbeitung eines Vorentwurfs zu einem Strafgesetzbuch insgeheim eine kleine Kommission ein, der ausschließlich Ministerialbeamte und Richter angehörten. Unter dem Vorsitz des Leiters der Strafrechtsabteilung im preußischen Justizministerium Hermann Lucas hielt die Kommission in den Jahren 1906 bis 1909 insgesamt 117 Sitzungen ab, um schließlich am 22. April 1909 den Vorentwurf nebst Begründung vorzulegen.158 Der »Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch«159 stellte als die erste offiziöse Verlautbarung zur Strafrechtsreform die Weichen für die weitere Diskussion. Seine Verfasser – allesamt hochrangige und etablierte Strafrechtspraktiker – hatten sich den Forderungen der ›modernen‹ Strafrechtswissenschaft nur mit äußerster Vorsicht genähert. Auch das künftige Strafgesetzbuch sollte nach ihrer Auffassung im Schuldprinzip seine Letztbegründung finden. Konzessionen an den ›modernen‹ Sicherungs- und Besserungsgedanken enthielt der Vorentwurf lediglich dort, wo sie im Sinne eines kriminalpolitischen Pragmatismus dringend geboten schienen. Immer wieder scheint das Bemühen durch, auch diese punktuell aufgenommenen Präventionsmaßnahmen als eine gerechte Vergeltung der Schuld zu verbrämen. Dementsprechend verwarf der Vorentwurf die »Abschaffung des Strafmaßes« (E. Kraepelin) und behielt die durch das Urteil festzulegende (lebenslängliche oder zeitige) Freiheitsstrafe, Geldstrafe sowie die Todesstrafe bei. Der Forderung nach einer individualisierten Behandlung des Täters kam er insofern entgegen, als die Strafrahmen erweitert wurden. Bezeichnenderweise sollte sich die Straf154 Kahl, Revision des Strafgesetzbuches, S. 301. 155 Einen knappen Überblick über den Verlauf der Vorarbeiten bieten die Einführung des Herausgebers in: Schubert, Protokolle, Bd. 1, S. XVIIff. sowie Schmidt, Einführung, S. 394ff. 156 Vermerk Nieberding, 14.6.1904, BA, R 30.01, Nr. 5805, Bl. 41ff., hier Bl. 41. 157 Ebd., Bl. 43. 158 Vgl. Schubert, Protokolle, Bd. 1, S. XIX. 159 Vorentwurf, Bd. 1 (enthalten in: BA, R 30.01, Nr. 5806 u. R 15.01, Nr. 8422).

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bemessung an der »verbrecherische[n] Gesinnung«160 ausrichten. Der mehr oder minder stark ausgeprägte »verbrecherische Wille« begründete eine Verschärfung bzw. Milderung der Strafe.161 Dem Resozialisierungsgedanken kamen die »bedingte Strafaussetzung«,162 die »Wiedereinsetzung in die bürgerlichen Ehrenrechte«163 und die »Löschung der Bestrafung in dem Strafregister«164 entgegen, die in erster Linie jugendlichen oder bislang unbescholtenen Tätern zugedacht waren. Ebenfalls vorgesehen war ein System »sichernder Maßnahmen«. Das aus dem Schulenstreit hervorgegangene Kompromissmodell wurde allerdings recht inkonsequent umgesetzt, denn eine für Gewohnheitsverbrecher bestimmte unbefristete Sicherungsverwahrung fehlte im Vorentwurf. Im Wesentlichen umfassten die »sichernden Maßnahmen« die Unterbringung in einem Arbeitshaus,165 in einer Trinkerheilanstalt166 und in einer psychiatrischen Anstalt.167 Damit knüpfte der Vorentwurf an die landesrechtlich geregelte Praxis der Zwangsunterbringung von Landstreichern und Bettlern, Alkoholikern und Geisteskranken an. Neu war jedoch, dass die Landespolizeibehörde nur noch für den Vollzug zuständig sein sollte, während die Entscheidung über die Einweisung dem Strafgericht zugedacht war. Die »Einführung der richterlichen Entscheidung« sollte – so ist es der Begründung zu entnehmen – »eine doppelte Gewähr darbieten, nämlich für das Gemeinwesen, daß die sichernde Maßnahme auch wirklich und rechtzeitig stattfindet, wo sie nötig ist, und für den Angeklagten, der vor dem bloßen administrativen Ermessen geschützt und dessen Einsperrung durch Verweisung in eine Irrenanstalt mit den Garantien der richterlichen Unabhängigkeit umkleidet werden soll.«168 Mit dieser Regelung entsprach die Kommission einer verbreiteten Forderung aus der Debatte über das Irrenrecht.169 Als Ersatz für die insbesondere von der ›modernen Schule‹ geforderte unbefristete Sicherungsverwahrung sah der Vorentwurf für »gewerbs- und gewohnheitsmäßige Verbrecher« eine empfindliche, wenngleich zeitlich be160 Ebd., § 81. 161 Ebd., §§ 83 u. 84. 162 Ebd., §§ 38–41. 163 Ebd., § 50. 164 Ebd., § 51. 165 Ebd., § 42. Die auf maximal drei Jahre befristete Unterbringung in einem Arbeitshaus setzte voraus, dass die »strafbare Handlung auf Liederlichkeit oder Arbeitsscheu zurückzuführen« sei. 166 Ebd., § 43. Dieser Paragraph beinhaltet auch die Möglichkeit, ein »Wirtshausverbot« zu verhängen. 167 Ebd., § 65. Diese Maßnahme war an einen Freispruch wegen Unzurechnungsfähigkeit bzw. an eine Verurteilung unter Berücksichtigung einer geminderten Zurechnungsfähigkeit geknüpft. 168 Vorentwurf, Bd. 2, S. 164. 169 Siehe oben, Abschnitt A, II.

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grenzte Verlängerung der Freiheitsstrafe vor. Voraussetzung für eine solche verschärfte Bestrafung eines Täters waren mindestens fünf erhebliche Vorstrafen und ein erneutes qualifiziertes »Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen, das ihn in Verbindung mit seinen Vorstrafen als gewerbs- oder gewohnheitsmäßigen Verbrecher erscheinen läßt«.170 Ganz im Sinne des ›klassischen‹ Strafverständnisses bildete auch hier die »schuldhafte strafbare Handlung« – nicht die negative Sozialprognose oder eine medizinisch diagnostizierte ›Minderwertigkeit‹ – den Grund für die Internierung. In der Begründung wurde der Vergeltungscharakter dieser verschärften Strafe unmissverständlich zum Ausdruck gebracht: Der Vollzug sei »so einzurichten, daß die Verurteilten in sicherer Verwahrung gehalten werden und daß sie die Freiheitsentziehung zugleich als ein wirkliches Strafübel empfinden«; sie sollten »unter strengem Arbeitszwang und straffer Disziplin gehalten werden.«171 Von einer äußerst konservativen Umsetzung der kriminalpolitischen Forderungen zeugt auch die Regelung der Unzurechnungsfähigkeit im Vorentwurf: »Nicht strafbar ist, wer zur Zeit der Handlung geisteskrank, blödsinnig oder bewußtlos war, so daß dadurch seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen wurde.«172 Das Vorhandensein einer geistigen Beeinträchtigung bildete also die notwendige, jedoch nicht hinreichende Voraussetzung für die Exkulpation; auch künftig sollte es dem Ermessen des Richters überlassen bleiben, ob durch den vom ärztlichen Sachverständigen diagnostizierten pathologischen Zustand die »freie Willensbestimmung« ausgeschlossen sei.173 Ferner enthielt der Vorentwurf eine Bestimmung, nach der vermindert Zurechnungsfähige milder bestraft und anschließend einer Heil- oder Pflegeanstalt überwiesen werden sollten. Die Kommission ist mit der »Berücksichtigung der verminderten Zurechnungsfähigkeit« einer »fast allgemeinen Forderung der juristischen und medizinischen Wissenschaft«174 nachgekommen. Wegen der »vom kriminalpolitischen Standpunkt aus nicht unerhebliche[n] Bedenken«175 gegen eine solche Strafmilderung hatte sie sich jedoch für eine 170 Vorentwurf, Bd. 1, § 89. 171 Vorentwurf, Bd. 2, S. 254. 172 Vorentwurf, Bd. 1, § 63. 173 Die Autoren des Vorentwurfs lehnten eine rein »biologische Bestimmung des Begriffs der Unzurechnungsfähigkeit« ab, da diese den »Schwerpunkt der Entscheidung zu sehr in die Hände des Sachverständigen legt«. (ebd., S. 157). 174 Vorentwurf, Bd. 2, S. 158. 175 Ebd., S. 159. Es folgt eine ausführliche Darlegung dieser Bedenken: »Eine nachteilige Einwirkung auf die Generalprävention kann eintreten. Es ist zu besorgen, daß das Verbrechertum bestrebt sein werde, eine solche Bestimmung auszunutzen, um unter Vortäuschung geistiger Minderwertigkeit, welche leichter gelingt als die der Unzurechnungsfähigkeit, der vollen verdienten Bestrafung sich zu entziehen. Über die bloße Minderung, nicht die Ausschließung der Zurechnungsfähigkeit können ferner die Ansichten im einzelnen Falle besonders subjektiv gefärbt sein, sodaß die Gefahr einer zu weitgehenden, mit dem Schutz der Gesellschaft vor dem Verbrecher nicht mehr zu vereinbarenden Schwäche in der Anwendung des Strafgesetzes hier nicht gänzlich auszuschließen ist.«

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restriktive Ausformung entschieden: »War die freie Willensbestimmung durch einen der vorbezeichneten Zustände [Geisteskrankheit, Blödsinn, Bewußtlosigkeit] zwar nicht ausgeschlossen, jedoch in hohem Grade vermindert, so finden hinsichtlich der Bestrafung die Vorschriften über den Versuch (§ 76) Anwendung. Zustände selbstverschuldeter Trunkenheit sind hiervon ausgenommen.«176 Es wurde somit nicht nur eine hochgradige Verminderung der »freien Willensbestimmung«, sondern im Prinzip auch die gleichen pathologischen Zustände vorausgesetzt, die bereits für die Begründung der völligen Unzurechnungsfähigkeit in Frage kamen. Mit dieser Formulierung war die ›verminderte Zurechnungsfähigkeit‹ hauptsächlich eine Alternative zur ›Unzurechnungsfähigkeit‹. Die ›mildere‹ Strafe sollte dort greifen, wo bislang Straflosigkeit herrschte. Die Strafbarkeit würde somit nicht eingeschränkt, sondern vielmehr auf den Kreis der psychisch abnormen Täter ausgedehnt.177 Diese Regelung stellte somit keineswegs eine Konzession an ›moderne‹ deterministische Erklärungsmuster der Kriminologie dar; vielmehr stärkte sie das ›klassische‹ Prinzip der individuellen Verantwortlichkeit, indem sie auch gewissen geisteskranken Tätern eine begrenzte Schuldfähigkeit beimaß. Alles in allem blieb der Vorentwurf mit seinem demonstrativen – nicht immer bloß rhetorischen – Bekenntnis zum Schuldprinzip hinter den allgemeinen Erwartungen zurück. Seine Verfasser hatten sich in ihrem Bemühen, die Traditionslinien der Vergeltungsstrafe fortzuschreiben, weniger kompromissbereit gezeigt als selbst mancher der ›klassischen‹ Strafrechtsgelehrten. Der Vorentwurf wurde noch im Jahr 1909 veröffentlicht und der Fachwelt zur Diskussion gestellt. Die publizistische Resonanz fiel äußerst umfangreich aus. Eine 1911 im Reichsjustizamt gefertigte »Zusammenstellung der gutachtlichen Äußerungen über den Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch« umfasst weit mehr als 400 Seiten, obgleich sie nur knappe Zusammenfassungen der Kritiken enthält.178 Das Echo war ebenso gespalten wie der Vorentwurf selbst mit seiner eigentümlichen Mischung aus ›klassischen‹ Prinzipien und ›modernem‹ Pragmatismus. Wohl um die weiteren Reformarbeiten 176 Vorentwurf, Bd. 1, § 63 Abs. 2. 177 Vorentwurf, Bd. 2, S. 160: »Der Entwurf bestimmt daher den Begriff der geminderten Zurechnungsfähigkeit lediglich negativ in strengem Anschluß an den der völligen Unzurechnungsfähigkeit. Er fordert die nämlichen abnormen geistigen Zustände wie dort, jedoch nur eine geringere Wirkung derselben, nämlich nicht den Ausschluß, sondern nur die Verminderung der freien Willensbestimmung, und zwar, damit nicht auch nur geringfügige geistige Defekte zu einer ausnahmsweise milden Bestrafung führen können, daß diese Verminderung eine hochgradige sein müsse. [...] Durch diese Regelung ist einerseits den berechtigten Wünschen der Zeit Rechnung getragen und andererseits die Bedeutung der oben vorgetragenen Bedenken erheblich abgeschwächt. Denn die Beschränkung auf gewisse krankhafte Zustände des geistigen und intellektuellen Lebens schließt eine mißbräuchliche Anwendung auf bloße sittliche Verwirrungen geistig gesunder Menschen, soweit dies überhaupt möglich ist, aus.« 178 Vgl. Zusammenstellung (enthalten in: BA, R 30.01, Nr. 5887).

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nicht zu gefährden, lobten Vertreter der ›modernen Schule‹ wie Karl von Lilienthal den Vorentwurf als eine Grundlage, »auf der der Bau einer neuen, den Bedürfnissen unserer Zeit entsprechenden Strafrechtsordnung wohl als möglich erscheint«.179 Franz von Liszt sprach sogar davon, dass der Vorentwurf der Forderung nach einer individualisierten Behandlung des Täters »weit über die Erwartungen hinaus, die im Jahre 1902 wohl die meisten von uns zu hegen wagten«, Rechnung getragen habe.180 Freilich ging er ihm noch nicht weit genug: Zwar nehme der Entwurf »den Sicherungszweck in die Strafe auf« und breche »dadurch mit einem der schlimmsten Vorurteile der Vergeltungstheoretiker«, aber er gewähre »der Strafe nicht jene Spannkraft, ohne die sie der neuen Aufgabe unmöglich gerecht zu werden vermag« und sei insgesamt »auf halbem Wege stehen« geblieben.181 Der ›Klassiker‹ Karl von Birkmeyer würdigte hingegen das sich im Vorentwurf manifestierende Vergeltungsprinzip; doch die einzelnen Zugeständnisse, die seine Verfasser der ›modernen Schule‹ gemacht haben, seien »mit dem prinzipiellen Standpunkt des Entwurfs unvereinbar«.182 Die Anhänger beider Strafrechtsschulen begrüßten – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – den Vorentwurf als Arbeitsgrundlage und suchten ihrem jeweiligen Standpunkt durch Änderungen im Detail Geltung zu verschaffen. Zu diesem Zweck machten sich vier jener Strafrechtsgelehrten, welche die Reform bislang wissenschaftlich begleitet hatten, aber bei der Ausarbeitung des Vorentwurfs übergangen worden waren, daran, einen alternativen Entwurf auszuarbeiten. Dieser im Jahr 1911 von den Professoren Kahl und Lilienthal, Liszt und Goldschmidt vorgestellte »Gegenentwurf«183 orientierte sich stärker an dem Diskussionsstand, der auf den Deutschen Juristentagen der vergangenen Jahre erreicht worden war. So sah der Gegenentwurf an Stelle der verlängerten Strafe für Gewohnheitsverbrecher eine als ›sichernde Maßnahme‹ etikettierte unbefristete Verwahrung vor;184 die Voraussetzungen der Unzurechnungsfähigkeit hatten ebenfalls eine konsensfähigere Fassung erhalten als im Vorentwurf.185 179 Lilienthal, S. 547. 180 Liszt, Strafbemessung, S. 374. 181 Ebd., S. 399f. 182 Birkmeyer, Stellung des Vorentwurfs, S. 30. Noch kritischer äußerte sich Birkmeyers Mitstreiter Binding (Behandlung der Schuld, S. 22), der die Abschnitte des Vorentwurfs über die Schuld und die Strafausschließungs- und Milderungsgründe für »vollständig verunglückte Arbeit« hielt. 183 Kahl u.a., Gegenentwurf. 184 Vgl. ebd., § 98. 185 Ebd., § 13 Abs. 1: »Eine Handlung ist straflos, wenn der Täter zur Zeit der Handlung wegen Bewußtseinsstörung oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit nicht die Fähigkeit besaß, die Strafbarkeit seiner Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäß zu handeln.«; diese Formulierung vermied die umstrittenen Begriffe der ›Bewusstlosigkeit‹ und der ›freien Willensbestimmung‹.

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Auch in psychiatrischen Fachkreisen wurde der Vorentwurf gründlich rezipiert. Gustav Aschaffenburg bescheinigte ihm, »daß er einen gewaltigen Fortschritt gegen unser bestehendes Gesetz bedeutet«.186 Scharf fiel allerdings die Kritik im Detail aus. Die Regelung der Zurechnungsfähigkeit wurde von allen psychiatrischen Kritikern beanstandet. So seien die Begriffe des ›Blödsinns‹ und der ›Bewusstlosigkeit‹ wegen ihrer unterschiedlichen Bedeutung im medizinischen und alltäglichen Sprachgebrauch missverständlich, und auch auf den nicht weniger uneindeutigen metaphysischen Begriff der ›freien Willensbestimmung‹ hätte man lieber verzichten sollen.187 Einhellig abgelehnt wurde des Weiteren die allzu restriktive Ausgestaltung der ›verminderten Zurechnungsfähigkeit‹. Durch die enge Anlehnung an den Begriff der (völligen) Unzurechnungsfähigkeit verfehle diese Bestimmung ihren eigentlichen Zweck der »Absperrung der wegen psychischer Mangelhaftigkeit zum wiederholten Rechtsbruch Geneigten«.188 Es stehe vielmehr zu befürchten, »daß Zustände, die heute allgemein als Geisteskrankheit im Sinne des Gesetzes betrachtet werden, nach Einführung der verminderten Zurechnungsfähigkeit unter diesen Begriff fallen und somit ausgesprochen Geisteskranke einem, wenn auch milderen Strafvollzuge unterworfen werden könnten«.189 Der Präsident des Kaiserlichen Gesundheitsamts Franz Bumm machte sich die psychiatrische Kritik in seiner ausführlichen Stellungnahme zum Vorentwurf vom März 1911 zu Eigen.190 Die Reaktionen der medizinisch-psychiatrischen Experten zeugen davon, dass diese sich nicht über den konservativen und – im Sinne einer juristischen Standespolitik – defensiven Charakter des Vorentwurfs täuschten. Die psychiatrischen Kritiker waren sich darüber im Klaren, dass die Verfasser des Entwurfs eine Begrenzung des Einflusses der Sachverständigen bezweckt hatten. Mitte des Jahres 1910 leitete das Reichsjustizamt die Ausarbeitung eines nunmehr amtlichen Entwurfs ein. In Abstimmung mit dem preußischen Justizministerium setzte der Staatssekretär ein Schreiben auf, in dem die Reichsleitung den Kaiser um die Erlaubnis bat, eine »erweiterte Kommission« mit der Erstellung eines »neuen verbesserten Entwurfe[s]« auf der Grundlage

186 Aschaffenburg, Vorentwurf, S. 2176. 187 Vgl. ebd., S. 2068ff.; Berger, S. 215ff.; Juliusburger, S. 458ff.; Wilmanns, Psychiatrische Bemerkungen, S. 190ff. 188 Moeli, Allgemeine Übersicht des Vorentwurfs, S. 23. 189 Wilmanns, Bestimmungen über die verminderte Zurechnungsfähigkeit, S. 139; desgleichen: Aschaffenburg, Vorentwurf, S. 2123; Frank, S. 236f. Selbst der ›klassische‹ Strafrechtsgelehrte Wilhelm Kahl teilte diese Befürchtung; vgl. Kahl, Verminderte Zurechnungsfähigkeit und Jugend, S. 788. 190 Vgl. Kaiserliches Gesundheitsamt an RAdI, 31.03.1911, BA, R 30.01, Nr. 5807, Bl. 123ff.

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des Vorentwurfs zu betrauen.191 Das Vorhaben wurde mit der Reformbedürftigkeit des veralteten, auf dem »durch den französischen code pénal stark beeinflußten preußischen Strafgesetzbuche« beruhenden Strafrecht begründet. Der konservative Grundzug des Unternehmens wurde besonders hervorgehoben: »Sollten sich die auf die Revision drängenden Strömungen nicht in bedenkliche Bahnen verirren und der Führung durch die Staatsbehörden entrückt werden, so mußte die Reichsverwaltung möglichst frühzeitig Fühlung mit der Bewegung zu gewinnen suchen, um deren Kräfte für eine ruhige und sachgemäße Vorbereitung der Reform zu verwerthen.«192 Ferner wollte man dem Kaiser das Reformprojekt mit dem Hinweis auf die »im allgemeinen günstige Beurteilung« des Vorentwurfs »in der juristischen Fachliteratur als auch in der Tagespresse der bürgerlichen Parteien« schmackhaft machen; der Hinweis, dass dieser »nur in der sozialdemokratischen Presse [...] als ein rückschrittliches Machwerk in Pausch und Bogen verworfen« werde, zielte in die gleiche Richtung.193 Das Schreiben erzielte die gewünschte Wirkung, und das Reichsjustizamt durfte die ›große Kommission‹ einberufen.194 Die erweiterte Kommission setzte sich aus 16 Justizpraktikern sowie den Hochschullehrern Kahl, Frank und von Hippel zusammen, die im ›Schulenstreit‹ allesamt eine kompromissbereite Haltung an den Tag gelegt hatten. Am 4. April 1911 wurde die erste von insgesamt 208 Sitzungen der 1. Lesung abgehalten; die 2. Lesung erfolgte unter dem Vorsitz von Wilhelm Kahl in 69 Sitzungen vom Februar bis zum September 1913.195 Als Ergebnis der 30-monatigen Beratungen, in deren Verlauf sich die drei Professoren als die treibenden und die erneut in die Kommission berufenen Autoren des Vorentwurfs als die beharrenden Kräfte erwiesen hatten, verabschiedete die Kommission am 27. September 1913 ihren Gesetzentwurf, der zunächst jedoch nicht veröffentlicht, sondern nur als Manuskript für den internen Gebrauch gedruckt wurde.196 Der Kommissionsentwurf enthielt im Vergleich zum Vorentwurf noch größere Zugeständnisse an die ›moderne Schule‹. Insbesondere die Abschnitte »Bedingte Strafaussetzung und vorläufige Entlassung« (§§ 74–82) und »Strafbemessung« (§§ 110–121) gewährten dem Richter einen größeren Spielraum, um die Strafe nach Maßgabe der Täterpersönlichkeit zu mildern oder zu verschärfen. Die einschneidendste Veränderung bildete das ausdifferenzierte Sys191 RK an den Kaiser, 17.06.1910 (Konzept des Reichsjustizamts mit Korrekturen des preußischen Justizministeriums), BA, R 30.01, Nr. 5806, Bl. 148ff.; dieses Schreiben gibt auch Auskunft über die beabsichtigte Zusammensetzung der Kommission. 192 Ebd., Bl. 148. 193 Ebd., Bl. 149. 194 Vgl. Kaiser an RK, 25.6.1910, BA, R 30.01, Nr. 5806, Bl. 151. 195 Die Protokolle der Sitzungen sind abgedruckt bei: Schubert, Protokolle; siehe auch BA, R 30.01, Nr. 5808 und Nr. 5809. 196 Die letztlich verabschiedete Fassung ist abgedruckt bei: Schubert, Entwürfe, S. 249–361.

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tem der »Maßregeln der Besserung und Sicherung« (§§ 95–109), das nunmehr trennscharf von der Strafe unterschieden wurde. In einem eigenen Abschnitt wurden Maßregeln wie Schutzaufsicht über Jugendliche, Wirtshausverbot, Trinkerheilanstalt, Verwahrung bei fehlender oder verminderter Zurechnungsfähigkeit, Arbeitshaus oder Reichsverweisung zusammengefasst und den Strafen gegenübergestellt. Die wichtigste Neuerung gegenüber dem Vorentwurf stellte die bereits im Gegenentwurf angeregte Maßregel der »Verwahrung gefährlicher Gewohnheitsverbrecher« (§ 106) dar. Der Kommissionsentwurf sah die Unterbringung in einer »Verwahrungsanstalt« im Anschluss an die Freiheitsstrafe vor, wenn ein erheblich vorbestrafter »gewerbs- oder gewohnheitsmäßiger, für die Rechtssicherheit gefährlicher Verbrecher« erneut straffällig wurde. Die für die Unterbringung zuständige Landespolizeibehörde sollte auch über den Entlassungszeitpunkt entscheiden, wobei eine Fortdauer der Verwahrung über einen Zeitraum von drei Jahren hinaus von der Zustimmung des Gerichts abhängig war (§ 107). Diese Maßregel entsprach weitgehend jener Hauptforderung der ›modernen Schule‹ nach einer zeitlich unbefristeten »Unschädlichmachung« der »Unverbesserlichen«. Dennoch wäre es verfehlt, den Kommissionsentwurf einseitig als einen Triumph der ›modernen‹ Ideen Liszts zu werten.197 Zu deutlich zeigte sich der kulturkonservative Grundtenor des Kommissionsentwurfs, sei es in der Beibehaltung der kurzen Freiheitsstrafen, in den Strafbestimmungen gegen die »Verletzung der Sittlichkeit« (§§ 313–332) – einschließlich der Strafbarkeit homosexuellen Verkehrs – oder in der Wiederaufnahme des ›Kanzelparagraphen‹ (§ 217). Noch weniger als von einem Sieg der ›modernen Schule‹ kann im Zusammenhang mit den Strafgesetzentwürfen aus der Zeit des Kaiserreichs von einer Medikalisierung des Strafsystems gesprochen werden. Die im Zuge der Reform angestrebte Individualisierung des Strafens ging zwar unverkennbar auf psychiatrisch-kriminologische Forderungen zurück, doch die hierzu erforderliche Beurteilung der Täterpersönlichkeit sollte durch das Gericht erfolgen. Die Verfasser der Entwürfe wollten – das zeigen die Begründungen – dem Vordringen der psychiatrischen Sachverständigen in die Gerichtssäle und Strafanstalten einen Riegel vorschieben. Die Bemühungen von Psychiatern wie Emil Kraepelin oder Gustav Aschaffenburg um eine Medikalisierung der Strafjustiz mögen langfristig zur Rationalisierung des Strafens beigetragen haben, in professionspolitischer Hinsicht blieben sie weitestgehend wirkungslos. Der Kommissionsentwurf aus dem Jahr 1913 hingegen wirkte als letzter Meilenstein der Reformbestrebungen vor dem Weltkrieg stilbildend für die weitere Strafrechtsentwicklung – gerade auch im Hinblick auf die Verschrän197 Vgl. dagegen Wetzell, Criminal Law Reform, S. 296f.

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kung von ›modernen‹ und ›klassischen‹ Elementen: Die Vergeltungslogik wird nicht außer Kraft gesetzt, sondern ihr wird eine Präventionslogik übergestülpt. Diese Kompromisskonstruktion führt zu einer Ausweitung des strafrechtlichen Interventionsrahmens. Durch ihre Verschmelzung werden beide Strafkonzepte ihrer spezifischen Grenzsetzungen beraubt: Im Namen des ›modernen‹ Sicherungsprinzips darf das ›klassische‹ Maß der ›gerechten Vergeltung‹ überschritten werden; umgekehrt behindert das beibehaltene Schuldvergeltungsprinzip jene Strafmilderung, die im Sinne der ›modernen Schule‹ eigentlich gegenüber Gelegenheitstätern angezeigt wäre. Das Strafen wird potentiell entgrenzt – und dies nicht wegen der übertrieben einseitigen Umsetzung eines Strafrechtskonzepts, sondern gerade durch die Vermengung ›moderner‹ und ›klassischer‹ Strafgründe. Die Gefährlichkeit eines solchen zugleich auf Vergeltung und Prävention gründenden Strafrechts offenbarte sich nach der zwei Jahrzehnte später erfolgten Einführung entsprechender »Maßregeln der Sicherung«. Vorerst aber wurde die Strafrechtsreform durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs unterbrochen. Bevor der Verlauf der Reformdiskussion in der Weimarer Republik in Kapitel B, II weiter verfolgt wird, sollen zunächst jene durch den Weltkrieg hervorgerufenen kulturellen und sozialen Brüche skizziert werden, welche das psychiatrische und kriminologische Denken nachhaltig veränderten.

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B. Reformpolitik und Kriminalbiologie in der Weimarer Republik

I. Die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die Wahrnehmung von Geisteskrankheit und Kriminalität Der Erste Weltkrieg führte nicht nur zum politischen Zusammenbruch des Kaiserreichs; er erschütterte auch die deutsche Gesellschaft und bewirkte nicht zuletzt einen Mentalitätswandel, der mit einer Neubewertung von Gewalt und Tod, Individualismus und kollektiver Identität einherging. Für diese Untersuchung sind zwei Aspekte von besonderer Bedeutung: der mit einem neuen Selbstverständnis der Psychiatrie verbundene Siegeszug der Eugenik und das durch die Nachkriegskriminalität hervorgerufene Bedrohungsgefühl.

1. Von der Kriegspsychiatrie zur Nachkriegs-Eugenik Während bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs die damals nur vereinzelt erhobene Forderung nach einer erbbiologisch begründeten Unfruchtbarmachung selbst in psychiatrischen Kreisen mehrheitlich abgelehnt oder schlicht ignoriert wurde, fanden die eugenischen Bestrebungen in den zwanziger Jahren eine große und weitgehend ungebrochene Akzeptanz. Inzwischen hatte sich das Menschenbild der Psychiatrie ebenso wie das Arzt-Patienten-Verhältnis durch die Erfahrungen des Weltkriegs grundlegend gewandelt.1 Viele Irrenärzte hatten ihre Dienstpflicht als Militärpsychiater abgeleistet.2 Nicht das Wohlergehen der ihnen anvertrauten Patienten, sondern die rasche Wiederherstellung der Kriegsverwendungsfähigkeit hatten sie als ihre Handlungsmaxime verinnerlicht. Durch eine möglichst leidvolle ›Behandlung‹ hatten sie ›Kriegsneurotiker‹ und vermeintliche Simulanten wieder in die Schützengräben zurückgetrieben.3 Psychische Ausnahmezustände nach Granatexplosio1 Vgl. Blasius, »Einfache Seelenstörung«, S. 116ff. 2 Vgl. zum Folgenden: Riedesser u. Verderber, S. 23ff.; Komo, S. 65ff.; Lerner, »Ein Sieg des deutschen Willens«; ders., Psychiatry and Casualties of War. 3 Vgl. Riedesser u. Verderber, S. 42ff.

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nen oder extremen Schreck-Erfahrungen waren als hysterische Reaktionen von ›konstitutionellen Psychopathen‹ gedeutet worden.4 Das klinische Modell der anlagebedingten ›psychopathischen Minderwertigkeit‹ erfuhr eine Aufwertung und mit ihm die erbbiologische Perspektive innerhalb der Psychiatrie.5 Das Konzept der psychopathischen Persönlichkeitsstörung ohne Krankheitswert, das sich bereits in forensischer Hinsicht bei der Eindämmung der Unzurechnungsfähigkeit praktisch bewährt hatte, eignete sich nun auch zur Abwehr der Rentenansprüche von psychisch beeinträchtigten Kriegsteilnehmern.6 Stärker als je zuvor wurde die Psychiatrie in den Dienst der Sozialdisziplinierung gestellt. Doch nicht nur die Militärpsychiater ließen sich vom Staat in die Pflicht nehmen und stellten nationale Interessen über ihr ärztliches Berufsethos; auch die in der Heimat verbliebenen Anstaltspsychiater hatten Anteil an der Enthumanisierung ihres Berufszweigs. Rund 70 000 Insassen psychiatrischer Anstalten verhungerten während des Ersten Weltkriegs unter der Obhut der Irrenärzte.7 Die allgemeine Versorgungskrise traf die Insassen »totaler Institutionen« (E. Goffman), die keine Möglichkeit hatten, die ihnen zugewiesenen Nahrungsrationen zu ergänzen, besonders hart. Zwar hatten die Anstaltsleiter die Mangelsituation nicht verschuldet, doch »überwiegend scheint das Geschehen aus ›patriotischen‹ Gründen in Kauf genommen worden zu sein.«8 So scheute Karl Bonhoeffer, der Vorsitzende des Deutschen Vereins für Psychiatrie, sich nicht, das Hungersterben »fast gutzuheißen in dem Gedanken, daß durch diese Opfer vielleicht Gesunden das Leben erhalten bleiben könnte.«9 Das wohl markanteste publizistische Zeugnis jener enthumanisierten Nachkriegs-Psychiatrie stellt die 1920 veröffentlichte Schrift »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« dar. Ihre Verfasser – der Freiburger Psychiater und Neuropathologe Alfred E. Hoche und der prominente, dem ›klassischen‹ Lager zuzurechnende Strafrechtslehrer Karl Binding – forderten nicht nur die Legalisierung der Sterbehilfe, sondern auch die Einführung eines rechtsförmigen Verfahrens zur Tötung geistig beeinträchtigter Menschen, sogenannter »Ballastexistenzen«. Der Gedanke, »durch Freigabe der Vernichtung völlig wertloser, geistig Toter eine Entlastung für unsere nationale Über-

4 Vgl. ebd., S. 23ff.; Kaufmann, Psychiatry. 5 Als Resümee der »Kriegserfahrungen auf dem Gebiete der Psycho- und Neuropathologie« erschien 1922 ein entsprechend thematisch gewichteter Sammelband (Schjerning) mit Beiträgen u.a. von Karl Bonhoeffer, Otto Biswanger, Robert Gaupp, Gustav Aschaffenburg. Wenig später veröffentlichte Kurt Schneider (Die psychopathischen Persönlichkeiten) seine klassisch gewordene Systematik der Persönlichkeitsstörungen. 6 Vgl. Riedesser u. Verderber, S.90ff.; siehe auch Stier. 7 Zahlenangaben nach Faulstich, S. 25ff. und Siemen, S. 29. 8 Faulstich, S. 67f. 9 Zitiert nach Riedesser u. Verderber, S. 79.

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bürdung herbeizuführen«,10 fand nur wenige Befürworter. Eine der wenigen positiven Rezensionen stammt von dem Tübinger Psychiater Robert Gaupp, der auch aufgrund seiner Erfahrungen als Anstaltsleiter Verständnis für den »Binding-Hocheschen Vorstoß« aufbrachte: »Aus persönlicher Erfahrung füge ich hinzu: es ist mir im Winter 1916/17, als unser Volk mit dem Hungertod kämpfte, oft nicht leicht geworden, die frühere Sorgfalt bei der Pflege wertloser Leben unheilbarer Geisteskranker aufzubringen und um ihre reichliche Ernährung mich zu mühen, während draußen im Leben der Hunger die vollwertigen Menschen schwächte und manche aufs Krankenlager tuberkulösen Siechtums warf; ich hätte z.B. die reichlich eingehenden Butter- und Fleischpakete, die solche unheilbaren Geisteskranken aus bäuerlichen Kreisen von ihren Familien oft erhielten, manchmal lieber an wertvollere Menschen verteilen mögen.« 11

Auch wenn kein zwingender sachlogischer Konnex zwischen der ›Vernichtung lebensunwerten Lebens‹ und der eugenisch indizierten Sterilisation besteht,12 sind dennoch beide Maßnahmen Ausdruck einer psychiatrischen Haltung, die das nationale Interesse über den individuellen Menschen stellt. Vor dem Hintergrund der durch Binding und Hoche entfachten Euthanasie-Diskussion präsentierte sich die Unfruchtbarmachung von Geisteskranken, Behinderten und Gewohnheitsverbrechern als eine geradezu ›humane‹ Alternative im Umgang mit »Ballastexistenzen«. Die Neufokussierung der Humanwissenschaften vom Individuum auf die ›Bevölkerung‹ ging einher mit einem institutionellen Ausbau jener interdisziplinären Wissenschaftsbewegung, die einen unmittelbaren bevölkerungspolitischen Anwendungsbezug versprach: die Rassenhygiene bzw. Eugenik.13 In vielen Städten entstanden neue Ortsgruppen der »Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene«, die 1916 aus der »Internationalen Gesellschaft für Rassenhygiene« hervorgegangen war.14 Auch die Zahl der an deutschen Universitäten abgehaltenen Vorlesungen zur Rassenhygiene stieg in den zwanziger Jahren sprunghaft an.15 München und Berlin waren die beiden – auch in programmatischer Hinsicht – rivalisierenden Zentren der eugenischen Bewegung. In München förderte der völkische Verleger Julius F. Lehmann eine Rassenhygiene ›nordischer‹ Prägung. In seinem Verlag erschien 1921 auch das Standardwerk von Erwin Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz »Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene«.16 Fritz Lenz erhielt 1923 in 10 Binding u. Hoche, S. 55f. 11 Gaupp, Freigabe, S. 336. 12 Vgl. Schwartz, Kritische Anfragen; ders., »Euthanasie«-Debatten. 13 Zur Institutionalisierung der Rassenhygiene/Eugenik nach dem Ersten Weltkrieg vgl. Labisch u. Tennstedt, S. 161ff.; Schmuhl, S. 93ff.; Weingart u.a., S. 230ff. 14 Zu den internationalen Verflechtungen der Eugenik siehe auch Kühl. 15 Vgl. Schmuhl, S. 79f. 16 Baur u.a.

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München ein Extraordinariat für Rassenhygiene, das an das Hygienische Institut der Medizinischen Fakultät angebunden war. Ein weiterer Stützpunkt der Münchener Rassenhygiene war die von Emil Kraepelin gegründete Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie mit ihrer von Ernst Rüdin geleiteten Abteilung für Genealogie und Demographie. In bewusster Abgrenzung gegenüber den einseitig konservativ-nationalistisch ausgerichteten Münchener Rassenhygienikern schlossen sich die Berliner Eugeniker 1925 im »Deutschen Bund für Volksaufartung und Erbkunde« zusammen. Der »Bund« pflegte enge Kontakte zur Ministerialbürokratie Preußens und des Reichs. Zu seinen Mitgliedern zählten Eugeniker unterschiedlichster Weltanschauungen: der sozialdemokratische Sozialmediziner Alfred Grotjahn ebenso wie der Jesuitenpater und Biologe Hermann Muckermann. Muckermann übernahm auch die Leitung der Eugenik-Abteilung des 1927 in Berlin-Dahlem gegründeten »KaiserWilhelm-Instituts für Anthropologie, Menschliche Erblehre und Eugenik«. Die Verbesserung der Erbgesundheit des Volkes galt Mitte der zwanziger Jahre quer durch alle politischen Lager als ein wissenschaftlich berechtigtes und gesellschaftlich notwendiges Anliegen. Strittig waren allenfalls die Mittel zur Erreichung dieses Ziels. Die um eine breite gesellschaftliche Akzeptanz bemühten Eugeniker hatten aus taktischen Gründen in ihrer Propagandatätigkeit die allgemeine Geburtenförderung herausgestellt und als Maßnahmen der negativen – d.h. fortpflanzungshemmenden – Eugenik vorwiegend Eheberatung, Gesundheitszeugnisse und äußerstenfalls Anstaltspflege genannt; die Sterilisation hingegen galt, sofern sie freiwillig erfolgen sollte, als moralisch zweifelhaft und in Form einer staatlichen Zwangsbehandlung zudem als politisch nicht durchsetzbar. Erst durch die aggressive Kampagne eines wissenschaftlichen Außenseiters geriet die Diskussion über die eugenische Unfruchtbarmachung in Gang. Der Zwickauer Amtsarzt Gustav Emil Boeters legte im Mai 1923 der sächsischen Landesregierung eine Denkschrift mit dem selbst verfassten Entwurf eines Sterilisierungsgesetzes vor.17 Gefordert wurde darin eine faktische Zwangssterilisation von behinderten und geisteskranken Anstaltsinsassen, Sittlichkeitsverbrechern, Eltern unehelicher Kinder und vorzeitig aus der Strafhaft entlassenen Verbrechern. Boeters flankierte seine Initiative durch Aufrufe, die er an die Ärzteschaft und die Öffentlichkeit richtete, und weitere Eingaben an Regierungsstellen und Parlamente; schließlich führte er selbst illegal Operationen aus, die er durch eine Selbstanzeige und dann durch eine Anzeige gegen die nicht einschreitende Staatsanwaltschaft bekannt machte. Die fanatische Propaganda- und Prozesstätigkeit des Bezirksarztes verebbte erst, als Boeters 17 Vgl. Die Eingabe des Kreisarztes Dr. Gerhard Boeters/Zwickau an die Sächsische Staatsregierung (21. Mai 1923), abgedruckt in: Kaiser u.a., Politische Biologie, S. 95ff.; Zu Boeters’ Sterilisations-Kampagne vgl. Müller, Sterilisation, S. 60ff. u. S. 68ff.; Schwartz, Sozialistische Eugenik, S. 274ff.

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nach seiner Dienstsuspendierung auch noch die Entmündigung wegen Querulantenwahnsinns drohte.18 Die sächsische Regierung lehnte nach einer eingehenden Prüfung die Boetersschen Vorschläge zur Zwangssterilisierung als zu weitgehend ab, sprach sich aber für die Aufhebung der Strafbarkeit einer freiwillig erfolgten Unfruchtbarmachung aus eugenischen Gründen aus.19 Doch das Reichsjustizministerium verfolgte diesen Vorschlag für eine entsprechende Ergänzung des Körperverletzungs-Paragraphen im Strafgesetzbuch nicht weiter.20 Erst im Zusammenhang mit den Reichstagsverhandlungen über die Strafrechtsreform wandte sich die Politik 1928 dieser Frage wieder zu.21

2. Nachkriegskriminalität und die Furcht vor dem ›Gewohnheitsverbrecher‹ Der Weltkrieg blieb nicht ohne Einfluss auf die Kriminalitätsentwicklung. Es waren nicht die Kriegsereignisse selbst, sondern die Kriegsfolgen, welche die Kriminalität ansteigen ließen: die Demobilisierung und Arbeitslosigkeit, die latente und bisweilen auch manifeste Bürgerkriegssituation der Jahre 1919 bis 1923, die Abwicklung der kriegsbedingten Staatsschulden auf dem Weg der Inflation. Einen Anhaltspunkt für die Kriminalitätsentwicklung bietet die offizielle Kriminalitätsstatistik (siehe Tabelle 2).22 Als Verurteiltenstatistik ist sie eine Geschäftsstatistik der Justiz, die nur einen Teil der tatsächlich begangenen Straftaten erfasst; zudem bildet sie eventuelle Schwankungen in der Intensität der Strafverfolgung ab, wodurch die Aussagekraft über das Ausmaß der Kriminalität eingeschränkt wird. Berücksichtigt man diese Aspekte, lässt sich aus der Statistik ein grobes Bild von Bewegung und Struktur der Kriminalität gewinnen, auch wenn die Zahlen Exaktheit nur vortäuschen. Die seit 1882 geführte Kriminalstatistik des Statistischen Reichsamts berechnete die jährliche Zahl der Verurteilungen bezogen auf 100 000 Personen 18 Die gerichtlich festgestellten »querulatorischen Wahnvorstellungen« waren den Regierungsbehörden bekannt. Vgl. z.B. Sächsisches Justizministerium an RJM, 27.7.1931, BA, R 30.01, Nr. 6094, Bl. 68. Die genannte Akte des RJM enthält einen umfangreichen Schriftwechsel mit und über Boeters. 19 Vgl. Müller, Sterilisation, S. 68f. 20 Selbst der Bitte der sächsischen Regierung, ein Rechtsgutachten »über die Frage der Zulässigkeit der Unfruchtbarmachung Geisteskranker, Schwachsinniger und Verbrecher aus Anlage« zu erstellen, wollte das Reichsjustizministerium nicht entsprechen. Vgl. RJM an die sächsischen Minister des Innern, der Justiz und der auswärtigen Angelegenheiten, 11.6.1925, BA, R 30.01, Nr. 6094, Bl. 19. 21 Siehe unten, Abschnitt B, II, b. 22 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Müller, Kriminalpolitik als Rassenpolitik, S. 7ff.

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der strafmündigen Bevölkerung. Für den Zeitraum 1900 bis 1933 ergaben sich somit die folgenden ›Kriminalitätsziffern‹ (siehe Abbildung 2):

Abbildung 2: Verurteilungen pro 100 000 Personen der strafmündigen Bevölkerung im Deutschen Reich 1900–1933

Quelle: Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 370, S. 56 u. Bd. 478, S. 15.

Es lässt sich feststellen, dass die Kriminalitätsziffer vor dem Krieg relativ konstant bei der Marke 1 200 verharrte. Für die Jahre 1915 bis 1918 liegen keine Verhältniszahlen vor, da jeweils ein beträchtlicher, jedoch nicht genau bezifferbarer Teil der männlichen Bevölkerung im Felde stand und somit in der amtlichen Bevölkerungsstatistik unberücksichtigt blieb. Für die folgenden Jahre ist ein deutlicher Anstieg der Kriminalitätsziffern zu verzeichnen, den das Statistische Reichsamt auf den »Verfall der Währung, die Zerrüttung der Wirtschafts- und Lebensverhältnisse und die hierdurch hervorgerufene allgemeine wirtschaftliche Not«23 zurückführte. Mit der wirtschaftlichen und politischen Konsolidierung der Republik sank die registrierte Kriminalität schließlich wieder. Im Rückblick erscheint die Kriminalitätsentwicklung in der Weimarer Republik wenig spektakulär: Nach einem kurzzeitigen Kriminalitätsanstieg in einer Ausnahmesituation erreichte die Kriminalitätsbelastung rasch wieder 23 Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 478, S. 32.

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das niedrige Niveau der Vorkriegszeit. Doch für einen Beobachter des Jahres 1923 stellte sich die Entwicklung dramatisch dar, zumal die amtliche Kriminalstatistik immer erst mit dreijähriger Verzögerung veröffentlicht wurde, so dass erst im Jahr 1927 ›Entwarnung‹ gegeben werden konnte. Anlass zu Besorgnis gab den Zeitgenossen auch der kontinuierlich steigende Anteil der Vorbestraften. Von den im Jahr 1921 verurteilten Tätern galten 18,6 % als bereits vorbestraft; bis 1932 stieg der Anteil der Vorbestraften an den Verurteilten kontinuierlich auf 42,9 % an (siehe Tabelle 3). Freilich war bereits im Kaiserreich ein ähnlicher Anstieg des Vorbestraftenanteils zu verzeichnen gewesen. Das Statistische Reichsamt verwies diesbezüglich nüchtern auf die gewandelte Registrierung der Vorstrafen, die diesen rein statistischen Effekt bewirkt habe: »Diese erhebliche Steigerung [des Vorbestraftenanteils in der Vorkriegszeit, d. Vf.] ist wohl weniger auf die Zunahme des gewerbs- und gewohnheitsmäßigen Verbrechertums als auf eine in Verbindung mit der Vervollkommnung des Strafregisters genaueren [sic!] Erfassung der Vorbestrafungen zurückzuführen. [...] Nach dem Krieg wird die Erfassung der Vorbestraften durch das am 1. Juli 1920 in Kraft getretene ›Gesetz über beschränkte Auskunft aus dem Strafregister und die Tilgung von Strafvermerken‹ beeinflußt, dessen Auswirkungen durch einen Rückgang in der Zahl der verurteilten Vorbestraften in Erscheinung treten, da eine nicht geringe Zahl tatsächlich Vorbestrafter infolge der Tilgung ihrer Strafvermerke im Strafregister bei einer neuen Verurteilung nicht mehr als Vorbestrafte gelten.«24

Der Einfluss des Straftilgungsgesetzes auf die Rückfallstatistik dürfte auch deshalb so gravierend gewesen sein, weil die Vorbestraften in ihrer Militärdienstzeit wenig Gelegenheit hatten, ihr Vorstrafenkonto weiter anzufüllen. Die Tilgung länger zurückliegender Strafen und der kriegsbedingte Rückgang der Verurteilungen bildeten somit gemeinsam den Grund für das plötzliche Absacken des Vorbestraftenanteils im Jahr 1921. Der erneute Anstieg ab 1921 stellte insofern nur eine Normalisierung der Verhältnisse dar. Doch nicht jeder sah die statistischen Zusammenhänge so nüchtern wie die Statistiker selbst. Den weniger informierten Zeitgenossen suggerierte die Rückfallstatistik über die gesamte Lebensdauer der Weimarer Republik hin eine stetige Zunahme des Gewohnheitsverbrechertums. In der Tat ist der Anstieg des Vorbestraftenanteils erklärungsbedürftig, auch wenn es sich nur um eine Annäherung an die Vorkriegsverhältnisse handelte. In den Quellen dominiert die Auffassung, eine zunehmend mildere Strafzumessungspraxis habe es Verbrechernaturen ermöglicht, ihre kriminellen Aktivitäten kurze Zeit nach der Verurteilung wieder aufzunehmen.25 »Wäh24 Die Entwicklung der Kriminalität im Deutschen Reich seit 1882 (=Drucksachen des Reichstages, III. Wahlperiode, 1924/27, Nr. 3390, Anlage II), S. 12. 25 Vgl. Exner, Strafzumessungspraxis; Hippel, S. 548f.

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rend man zu Anfang des vorigen Jahrhunderts noch exemplarische Rückfallstrafen verhängte, sind die Strafen im Laufe der letzten Jahrzehnte immer milder geworden. Man hat dem Berufsverbrecher immer mehr Gelegenheit gegeben, rasch zur Arbeit zurückzukehren«, schrieb Robert Heindl, Kriminalist und Herausgeber des »Archivs für Kriminologie«, Mitte der zwanziger Jahre in seiner vielbeachteten Darstellung »Der Berufsverbrecher«.26 Gewiss besteht ein – zumindest statistischer – Zusammenhang zwischen dem steigenden Vorbestraftenanteil und der Tendenz zu kürzeren Freiheitsstrafen bzw. Geldstrafen.27 Doch es muss noch ein weiterer Erklärungsfaktor in den Blick genommen werden: Die Kriminalpolizei bediente sich bei ihren Ermittlungen zunehmend naturwissenschaftlich-technischer Methoden bei der Spurensicherung. Mit der Einführung von Fingerabdruckkarteien und Lichtbildalben von Verbrechern wurde auch die erkennungsdienstliche Tätigkeit in den zwanziger Jahren ausgeweitet.28 Naturgemäß griffen diese neuen Methoden nur bei Tätern, die der Polizei bereits von früheren Straftaten her bekannt waren. Diese erhöhte polizeiliche Aufmerksamkeit gegenüber den Wiederholungstätern konnte nicht ohne Auswirkung auf den Vorbestraftenanteil der Kriminalstatistik bleiben. Außer der Kriminalpolizei wandte sich auch die Massenpresse verstärkt dem ›Gewohnheitsverbrechertum‹ zu. Zahlreiche in der Sensationspresse erschienene Berichte über Kriminalfälle und Reportagen aus der Unterwelt, populärwissenschaftliche Beiträge von Kriminologen und Berichte über die Polizeiarbeit belegen den hohen Unterhaltungswert von Kriminalität und deren Präsenz im öffentlichen Bewusstsein.29 Zur Legende wurden beispielsweise die Brüder Saß, die als bekennende – jedoch nicht konkret geständige – Berufsverbrecher am öffentlichen Leben Berlins teilnahmen, ohne ernstlich belangt zu werden; nachdem sie bei einem Einbruchversuch gestellt worden waren, konnten sie nur wegen Hausfriedensbruchs zu einem Monat Gefängnis verurteilt werden, da sie angeblich nur ihr Einbruchswerkzeug in einem Keller hatten verstecken wollen; in einem Fall von vorbereiteter Geldfälschung mussten sie freigesprochen werden, weil ihre Version, bloß Pässe fälschen zu wollen, nicht widerlegt werden konnte.30 Die Brüder Saß wurden als Volkshelden gefeiert, doch sie führten der Öffentlichkeit auch die Ohnmacht von Kriminalpolizei und Strafjustiz unter den Bedingungen des Weimarer 26 An gleicher Stelle plädierte der Autor für die lebenslängliche Einsperrung von ca. 1000 besonders geschäftigen Berufsverbrechern und verband hiermit die Hoffnung, die Gesamtkriminalität spürbar eindämmen zu können; vgl. Heindl, S. 200. 27 Vgl. den Abschnitt »Die Entwicklung der Strafen im Deutschen Reich seit 1882«, in: Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 384, S. 64ff. 28 Vgl. Liang, Berliner Polizei, S. 140; Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher, S. 79ff.; ders., Feindbild »Berufsverbrecher«. 29 Vgl. Kreutzahler; Classen. 30 Vgl. Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher, S. 172ff.

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Rechtsstaats vor Augen. Angesichts der gleichfalls in der Sensationspresse ausgebreiteten Mordserien von Fritz Haarmann und Peter Kürten31 erschien die Schwäche des Strafverfolgungssystems durchaus bedrohlich. Die Polizei selbst trug mit ihrer neuen Öffentlichkeitsarbeit in der Weimarer Zeit zur allgemeinen Verbrechensfurcht bei. So meldete die Berliner Kriminalpolizei seit 1919 sämtliche Kapitalverbrechen der Presse und forderte die Bevölkerung zur Mithilfe bei der Aufklärung auf. Sogar in den Kinopausen wurden Fotos gesuchter Verbrecher gezeigt.32 Kriminalisten traten mit Schilderungen ihrer Erfahrungen mit der Unterwelt an die Öffentlichkeit, reproduzierten und popularisierten so das Klischee des liederlichen Berufsverbrechers: »Nur tagsüber hält sich der Verbrecher hier [in den Mietskasernen im östlichen Berlin; d. Vf.] verborgen, abends, wenn es dunkel geworden ist und die Straßen einsam werden, wagt er sich aus seinem Versteck heraus. Dann führt ihn der Weg zu seinen Berufskollegen, die in irgendeinem Keller oder einer anderen Kaschemme sich zusammengefunden haben, um sich hier gemütlich zu unterhalten oder aber wichtige Pläne für neue Verbrechen zu verabreden.«33

Ähnlich wie der Kriminalpolizist Engelbrecht suchte auch Heindl den typischen Verbrecher in licht- und arbeitsscheuen subproletarischen Kreisen: »Der Verbrecher ist [...] meist ein Resultat geistiger und körperlicher Minderwertigkeit, wobei geistige Minderwertigkeit keineswegs Geistesschwäche, sondern nur lückenhafte Intelligenz, mangelnde geistige Spannkraft und Ausdauer bedeuten soll. [...] Nur der Kräftigere und geistig Überlegene freut sich am Überwinden von Schwierigkeiten. Der Schwache sucht im struggle for life den Weg des mindesten Widerstandes. [...] Das Gros der gewerbsmäßigen Verbrecher sind körperlich heruntergekommene Denkfaule. Alkohol, Kokain, zu wenig Schlaf, unregelmäßiges Leben, Aufenthalt in stinkigen Löchern, Onanie und sonstige Exzesse sorgen dafür.«34

Die Zitate transportieren das Bild von einem Gewohnheitsverbrecher, dessen Charakteristika eine minderwertige Konstitution sowie eine undisziplinierte Lebensführung sind. Zugleich deuten sie darauf hin, wie populär das psychiatrische Modell der ›psychopathischen Minderwertigkeit‹ inzwischen geworden war. Eugenik und Strafrechtsreform waren die vielversprechenden Mittel im Kampf gegen ›Entartung‹ und Verbrechen. Nicht selten gingen Rassenhygiene und Kriminalpolitik eine Allianz ein, wie in den nächsten beiden Kapiteln über die Strafrechtsreform und den Strafvollzug der Weimarer Republik gezeigt wird.

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Vgl. Evans, S. 530ff. u. 591ff. Liang, Berliner Polizei, S. 132ff. Engelbrecht, S. 95. Heindl, S. 148.

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II. Die politische Auseinandersetzung um die Strafrechtsreform In der Weimarer Republik wurde die durch den Ersten Weltkrieg unterbrochene Strafrechtsreform fortgeführt. Die Politik konnte auf die Vorarbeiten aus dem Kaiserreich zurückgreifen; das in der Vorkriegszeit entwickelte Kompromissmodell eines Nebeneinanders von Vergeltungsstrafe und präventiven Maßnahmen wurde nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt. Trotz dieser Kontinuität nahm die Reformdiskussion in der Weimarer Zeit einen anderen Charakter an: Der vormalige Expertendiskurs, der durch die Auseinandersetzung zwischen der medizinischen und der juristischen Profession sowie durch latente politisch-kulturelle Differenzen geprägt war, wich einer offenen und öffentlichen politischen Auseinandersetzung. In den unterschiedlichen Gesetzesvorlagen und Änderungsanträgen, Plenardebatten und Ausschusssitzungen manifestierten sich die ideologischen Positionen, mit denen das Reformprojekt aufgeladen wurde. Dass sich Form und Inhalt der Strafrechtsreformdebatte verlagerten, hatte verschiedene Gründe: Gerade weil die Grundzüge des Projekts einer Rationalisierung des Strafens bereits ausgehandelt waren, trat der Professionskonflikt, in dem sich die Juristen behauptet hatten, in den Hintergrund. Des Weiteren stand erst jetzt die politische Durchsetzung des neuen Strafgesetzbuchs an, die naturgemäß mit parteipolitischem Streit im Parlament verbunden war. Bereits im Jahr 1908 hatte der Privatdozent der Heidelberger Juristischen Fakultät Gustav Radbruch eine »politische Prognose der Strafrechtsreform« gewagt und gemutmaßt, dass nicht das »allgemeine Reformprogramm« zum Gegenstand parteipolitischer Konflikte werden würde; vielmehr werde der »erbitterte Kampf« um »den besonderen Teil des neuen Strafgesetzbuches, um Duell, Majestätsbeleidigung und Gotteslästerung, um Preßvergehen und Streikdelikt gehen, nicht um den Gelegenheits- und den Gewohnheitsverbrecher, sondern um den Überzeugungsverbrecher.«1 Dass dieser »Kampf«, in den Radbruch als Reichsjustizminister der frühen Weimarer Republik selbst involviert wurde, noch erbitterter ausfiel als zuvor geahnt, war dem politischen Umbruch geschuldet. Das Parteienspektrum hatte sich – auch wegen der Erfahrung von Krieg, Revolution und Gegenrevolution – erheblich ausgeweitet, was sich im demokratischen System der Weimarer Republik in einer Radikalisierung der Formen der politischen Auseinandersetzung bemerkbar machte. 1 Radbruch, Prognose, S. 7.

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1. Die Entstehung der Strafgesetzentwürfe von 1919 bis 1927 Obwohl der Erste Weltkrieg die Reform des Strafrechts unterbrochen hatte, konnte aufgrund der personellen Kontinuität der Staatsbürokratie in der Weimarer Republik nahtlos an die Planungen aus der Vorkriegszeit angeknüpft werden. Paul von Krause, der nach dem Sturz Bethmann Hollwegs im Sommer 1917 zum Staatssekretär des Reichsjustizamts ernannt worden war und dieses Amt bis zum Februar 1919 bekleidete, nahm die Reformarbeiten schon vor Kriegsende wieder auf und überführte sie in die neue Epoche. Am 15. April 1918, als nach dem Friedensschluss von Brest-Litowsk ein glücklicher Ausgang des Krieges nahe schien, fand im Reichsjustizamt eine Besprechung statt, die »der Wiederaufnahme der Strafrechtsreform« galt.2 Der Staatssekretär beauftragte die anwesenden Herren Joel und Ebermayer, Cormann, Bumke und Schäfer mit der Überarbeitung des Strafgesetzentwurfs aus dem Jahr 1913. Er riet, den Allgemeinen Teil des alten Kommissionsentwurfs »in weitem Umfang unverändert zu lassen«, aber den »Besonderen Teil daraufhin zu prüfen, inwieweit die Wandlung der Anschauungen, die der Krieg mit sich gebracht habe, zu einer veränderten Stellungnahme gegenüber gewissen Problemen des Besonderen Teiles nötige.« Die ›Revisionsbedürftigkeit‹ des Entwurfs von 1913 erklärt sich aus dem Bestreben des nationalliberalen JustizStaatssekretärs, die in der Folge der ›Burgfriedens‹-Politik eingetretenen Verschiebungen des Verfassungsgefüges für die kommende Friedenszeit festzuschreiben. So führte Krause – nach den Aufzeichnungen seines Mitarbeiters Schäfer – weiter aus: »Eine durchgreifende Wandlung hätte im Kriege insbesondere die Auffassung des Verhältnisses von Staat und Volk erfahren. Staats- und Volksgenossen seien jetzt durch viel engere und festere Bande mit einander verknüpft als zuvor. Daher dränge sich die Frage auf, ob nicht bei denjenigen Vorschriften, welche die Beziehungen des Staates zu seinen Gliedern regeln, der Gesichtspunkt des Vertrauens des Staates zu den Volksgenossen mehr als bisher in den Vordergrund zu stellen sei.«3

Die neu einberufene Kommission hielt bis zum 21. November 1919 insgesamt 101 Sitzungen ab. Im Verlauf dieser Beratungen musste sie nicht nur den während des Krieges eingeschlichenen, sondern auch den nach Kriegsende revolutionär durchgesetzten Verfassungsänderungen Rechnung tragen. Die Zusammensetzung der Kommission verbürgte – ungeachtet der politischen Umbrüche – eine inhaltliche Kontinuität der Strafrechtsreform. Alle Mitglieder hatten bereits vor Kriegsausbruch an der Strafrechtsreform mitgewirkt, 2 Vgl. die von Schäfer gefertigte Niederschrift über die Besprechung vom 15.04.1918, BA, R 30.01, Nr. 5969, unfoliiert. 3 Ebd.

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was ihrer Karriere in der Weimarer Republik durchaus förderlich war.4 So verwundert es nicht, dass der aus den Beratungen hervorgegangene Entwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1919 »im großen ganzen eine Wiederholung des Kommissionsentwurfs von 1913«5 darstellte. Auf Anweisung von Reichsjustizminister Eugen Schiffer (DDP)6 wurde der neue Entwurf zusammen mit dem bislang unveröffentlichten Kommissionsentwurf von 1913 in Buchform präsentiert.7 Dennoch handelte es sich nicht um einen amtlichen Regierungsentwurf, sondern um eine unverbindliche Diskussionsvorlage, die nun – im Winter 1920/21 – der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Die Resonanz fiel derart wohlwollend aus, dass Rudolf Heinze (DVP), der im Juni 1920 vierter Reichsjustizminister der jungen Republik geworden war, die »Strafrechtsreform auf der Grundlage dieser Entwürfe weitergeführt« sehen wollte.8 Das positive Echo der Strafrechtswissenschaft erklärt sich auch daraus, dass man den neuen Entwurf nicht mit dem – bislang ja nicht bekannt gegebenen – Kommissionsentwurf von 1913, sondern mit dem ersten Vorentwurf von 1909 bzw. mit dem geltenden Recht verglich. So sehr der Entwurf den altgedienten Strafrechtsexperten in Bürokratie und Wissenschaft behagte, so wenig passte er in das Konzept jener demokratischen Reformpolitiker, die den für die Weimarer Republik grundlegenden Sozialstaatsgedanken auch auf das Strafrecht ausdehnen wollten. Moritz Liepmann, Strafrechtslehrer an der 1919 gegründeten Hamburger Universität und Schüler des im gleichen Jahr verstorbenen Franz von Liszt, repräsentierte als aktives Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei und Vorstandsmitglied der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung den in den Anfangsjahren der Weimarer Republik einflussreichen ›linken‹ Flügel der Strafrechtsreformbewegung.9 Ohne die Fortschritte gegenüber dem geltenden Recht zu bestrei4 Erwin Bumke (Oberregierungsrat im Reichsjustizministerium) wurde 1920 zum Ministerialdirektor befördert, von 1929 bis 1945 war er Präsident des Reichsgerichts; Paul Cormann (Geh. Oberjustizrat im Preußischen Justizministerium) wurde 1919 zum Präsidenten des Oberlandesgerichts Stettin ernannt; Ludwig Ebermayer (Reichsgerichtsrat) wurde 1921 Oberreichsanwalt in Leipzig; Curt Joel (Direktor im Reichsjustizamt) diente von 1921 als Staatssekretär im Reichsjustizministerium, bis er schließlich im zweiten Kabinett Brüning noch selbst Reichsjustizminister wurde; Leopold Schäfer (Amtsgerichtsrat und Mitarbeiter des Reichsjustizamts) wurde 1920 Ministerialrat im Reichsjustizministerium, 1935 Ministerialdirektor im Preußischen und im Reichsjustizministerium. Vgl. die Kurzbiographien bei Schubert u.a., Quellen, I. Abt., Bd. 1, S. XXIVff. sowie die ergänzenden Angaben bei Godau-Schüttke, Die gescheiterten Reformen. 5 Schmidt, Einführung, S. 398. 6 Vgl. Vermerk (Schäfer) vom 29.10.1919, BA, R 30.01, Nr. 5810, Bl. 122. 7 3 Entwürfe zu einem Deutschen Strafgesetzbuch. Veröffentlicht auf Anordnung des Reichs-Justizministeriums, Berlin 1920, abgedruckt bei Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 1, S. 3ff. 8 Vgl. Rundschreiben des RJM an die Reichsminister und die Landesregierungen, 06.05.1921, BA, R 30.01, Nr. 5810, Bl. 299. 9 Vgl. Frommel, Art. »Liepmann, Moritz«, S. 534f.

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ten, unterzog er den Entwurf von 1919 einer eingehenden Kritik aus radikalliberaler Perspektive.10 Unter dem Rubrum »Veraltetes und problematisches Recht im Entwurf«11 kritisierte er z.B. die Privilegierung des Zweikampfes und die Beibehaltung solcher ›Sittlichkeitsdelikte‹ wie Abtreibung, Ehebruch oder Kuppelei. Seine Kritik des im Entwurf vorgesehenen Strafensystems verband er mit eigenen Forderungen, die auf die Abschaffung der Ehrenstrafen, die Einführung eines »Zweistrafensystems« mit Haft- und Gefängnisstrafe (ohne die stigmatisierende Zuchthausstrafe), die Ersetzung von Arbeitshaus und Sicherungsverwahrung durch Erziehungsstrafen und auf die Abschaffung der Todesstrafe zielten.12 Die Abhandlung Liepmanns ist ein Belegbeispiel dafür, dass sich die Reformdiskussion zunehmend in den Bereich des Politischen verlagerte. Zwar tobte der ›Schulenstreit‹ auch in der Weimarer Republik weiter,13 doch seit dem Kompromiss zwischen Liszt und Kahl aus dem Jahr 1902 und den daraufhin angelaufenen behördlichen Vorbereitungen für eine Strafrechtsreform war er nur mehr rein akademischer Natur. Die Gesetzgebung konnte er kaum noch beeinflussen. Es ging – so schien es – nicht mehr um die Durchsetzung, sondern nur noch um die Ausgestaltung der Reform. Nachdem der kaiserliche Obrigkeitsstaat überwunden war, glaubten einige frühere Liszt-Schüler auf jene taktische Rücksichtnahme auf konservative Befindlichkeiten verzichten zu können, mit der ihr akademischer Lehrer die Strafrechtsreform seinerzeit ›eingestielt‹ hatte. So konnte eine neue Frontlinie zwischen liberalen und autoritären Strafrechtspolitikern entstehen, die quer lag zu dem alten Gegensatz zwischen ›moderner‹ und ›klassischer‹ Schule. Polarisierend in diesem Sinne wirkte auch eine Reforminitiative aus dem Jahr 1922. Nachdem Gustav Radbruch, einer der wenigen Strafrechtsprofessoren mit sozialdemokratischem Parteibuch, im Oktober 1921 Reichsjustizminister des Kabinetts Wirth geworden war, betrieb er mit Elan die Weiterführung der Strafrechtsreform. Dabei zeigte er sich aufgeschlossen gegenüber dem österreichischen Wunsch nach einer Rechtsangleichung im Zuge der deutsch-österreichischen Vereinigungsbestrebungen. Radbruch lud den Vertreter des Österreichischen Bundesministeriums für Justiz Ferdinand Kadecka, der einen »Österreichischen Gegenentwurf« zum Entwurfs von 1919 verfasst hatte, zu gemeinsamen Beratungen ein.14 Im September 1922 10 Vgl. Liepmann, Reform. 11 Ebd., S. 86ff. 12 Ebd., S. 122ff. 13 Vgl. Seidl. 14 Vgl. RJM an das Österreichische Bundesministerium für Justiz, 03.06.1922, BA, R 30.01, Nr. 5811, Bl. 157. Der »Österreichische Gegenentwurf zu dem Allgemeinen Teil des Ersten Buches des Deutschen Strafgesetzentwurfes vom Jahre 1919« ist abgedruckt bei Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 1, S. 115ff.; zu den deutsch-österreichischen Vereinigungsbestrebungen, die gerade auch von österreichischen Sozialisten forciert wurden, siehe Panzerböck.

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legte der Reichsjustizminister schließlich den »Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches« vor.15 Während die früheren Strafgesetzentwürfe allenfalls den Status eines unverbindlichen Referentenentwurfs hatten, stellte diese Kabinettsvorlage von 1922 erstmals die Willensäußerung eines verantwortlichen Regierungsmitglieds dar. Der Entwurf aus dem Jahr 1922 trug so unverkennbar die Handschrift seines Verfassers, dass er zumeist als »Entwurf Radbruch« bezeichnet wurde. Das augenfälligste Merkmal des Radbruchschen Entwurfs war die Beseitigung der Todesstrafe. In den »Bemerkungen« zum Entwurf heißt es zur Todesstrafe: »Sie ist schon im bisherigen Strafsystem ein Fremdkörper. Sie war das natürliche Endglied einer Strafenreihe gewesen, die sich von peinlicher Gefangenschaft, körperlicher Züchtigung, verstümmelnder Leibesstrafe bis zu der in sich noch vielfältig abgestuften Todesstrafe steigerte. Sie ist als einziger Rest dieser Reihe stehen geblieben und steht jetzt, durch eine unüberbrückbare Kluft von den andern Strafarten getrennt, völlig verbindungslos und unvergleichbar in einem auf Geldstrafe und Freiheitsentziehung aufgebauten Strafensystem.«16

Der Entwurf hob sich auch in anderer Hinsicht durch Humanisierungstendenzen von seinen Vorgängern ab. So sind die Ehrenstrafen beseitigt, um der »moralische[n] Lynchjustiz« nicht Vorschub zu leisten, »welche leider die Gesellschaft vielfach gegen Vorbestrafte übt, und die das schwerste Hindernis ihrer Wiedereingliederung in die Gesellschaftsordnung bildet.«17 Die Umetikettierung der Zuchthausstrafe zur Strafe des »strengen Gefängnisses« (§ 30) sollte gleichfalls der Resozialisierung dienen. Des Weiteren sah der Entwurf die Möglichkeit vor, die Strafe zur Bewährung auszusetzen (»bedingter Straferlaß«, §§ 35ff.), Freiheitsstrafen durch Geldstrafen zu ersetzen (§§ 72f.) und in »besonders leichten Fällen« die Strafe »nach freiem Ermessen« zu mildern (§ 75). Neben allen diesen Resozialisierungsbestrebungen sah der Entwurf andererseits »ein scharfes Durchgreifen gegen das Gewohnheitsverbrechertum«18 vor: ein auf bis zu 15 Jahre »strenges Gefängnis« erhöhtes Strafmaß für mehrfach rückfällig gewordene, »für die öffentliche Sicherheit gefährliche Gewohnheitsverbrecher« (§ 77). Zusätzlich sollte bei diesem Täterkreis auch die zeitlich unbestimmte »Sicherungsverwahrung« verhängt werden können (§ 45). Der Katalog der »Maßregeln der Besserung und Sicherung« (§ 42) enthielt außer der »Sicherungsverwahrung« noch die »Unterbringung in einer 15 BA, R 30.01, Nr. 5811, Bl. 220ff.; im Folgenden zitiert nach Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 1, S. 145ff. 16 Ebd., S. 191. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 193.

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öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt«, die »Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt«, die »Schutzaufsicht«, das »Wirtshausverbot«, die »Reichsverweisung«, den »Verlust der Amtsfähigkeit«, den »Verlust des Wahl- und Stimmrechts«, die »Urteilsbekanntmachung« und die »Einziehung«. Ein Teil der im Entwurf fallen gelassenen Ehrenstrafen sollte somit durch die Hintertür und unter anderer Bezeichnung wieder Eingang in das Strafrecht finden. Der Entwurf Radbruchs wich von der ›klassischen‹ Trennung von vergeltenden Strafen und sichernden Maßregeln insofern ab, als Freiheitsstrafe und Unterbringungsmaßregeln sich gegenseitig ersetzen konnten (§§ 47f.). Die Durchführung der gerichtlich angeordneten »Unterbringung« legte der Entwurf in die Hände der Verwaltungsbehörden (§ 46), freilich ohne der Exekutive auch das Entlassungsrecht zuzugestehen (§ 49). Die Maßregeln der Sicherungsverwahrung und der Anstaltsunterbringung kamen in dieser Fassung dem ›modernen‹ Konzept der unbestimmten Sicherungsstrafe sehr nahe. Vergleicht man den Entwurf aus der Feder des sozialdemokratischen Reichsjustizministers mit den strafrechtspolitischen Forderungen seiner Partei aus der Vorkriegszeit, treten gerade in den Kernfragen Differenzen zutage. Zwar entsprach der Radbruchsche Entwurf weitgehend den auf dem Mannheimer Parteitag von 1906 erhobenen Forderungen nach »Abschaffung der Todesstrafe, Beseitigung aller Mindeststrafmaße, Zulassung mildernder Umstände bei allen strafbaren Handlungen, [...] weitgehende[r] Zulassung der bedingten Verurteilung, Zulassung der Geldstrafe für alle strafbaren Handlungen anstelle der kurzzeitigen Freiheitsstrafen«19. Doch die im Entwurf vorgesehene Erweiterung des richterlichen Ermessensspielraums im Interesse des Gesellschaftsschutzes war kaum zu vereinbaren mit der alten sozialdemokratischen Forderung nach »Beseitigung aller dehnbaren Begriffe aus dem Strafgesetzbuch«.20 Selbst bei der aus rechtsstaatlicher Sicht ohnehin bedenklichen Sicherungsverwahrung hatte Radbruch die Vorschriften noch elastischer gefasst, als es die Entwürfe von 1913 und 1919 vorsahen.21 Der von Gustav Radbruch verantwortete »Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches« erlaubte größere Milde ebenso wie größere Härte gegenüber den Verletzern der Rechtsordnung. Man mag ihn mit Eberhard Schmidt als eine »von gesunden sozialen Einsichten und mutigem Fortschrittsgeist getragene Leistung« charakterisieren.22 »Sozial« war der Entwurf freilich im doppelten Sinne: Resozialisierung neben sozialer Verteidigung.

19 Zitiert nach Dochow, S. 116. 20 Ebd., S. 115. 21 Der Entwurf Radbruch (§ 45 in Verbindung mit § 77) setzte hier nur zwei erhebliche Vorstrafen (statt fünf) voraus. Freilich sollte die Strafverschärfung und Verhängung der Sicherungsverwahrung bei »Gewohnheitsverbrechern« nicht mehr obligatorisch sein. 22 Schmidt, Einführung, S. 406.

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Am 13. September 1922 sandte Gustav Radbruch seinen »Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches« an die Reichskanzlei, woraufhin diese Angelegenheit auf die Tagesordnung der Kabinettssitzung am 5. Oktober gesetzt wurde. In der Kabinettsrunde trug der Justizminister vor, »daß der nach 20jährigen Vorstudien im Reichsjustizministerium ausgearbeitete Entwurf eines neuen Strafgesetzbuchs nur bei größter Selbstzucht aller Beteiligten Aussicht habe, je Gesetz zu werden.« Er schlug daher vor, »daß das Kabinett ebenso wie seinerzeit bei der Beratung der Reichsverfassung sich damit begnüge, der Einbringung des Entwurfs seine Zustimmung zu geben, von einer Erörterung der Einzelheiten aber absehe. Es würde eine unabsehbare Zeit dazu gehören, wenn die unvermeidlichen weltanschaulichen und parteipolitischen Fragen [...] erst im Kabinett und dann noch einmal im Reichstag diskutiert würden.« Das Kabinett erklärte sich mit dem Vorschlag einverstanden, die Beratung auf reine Ressortanträge zu beschränken.23 Zu einer solchen Beratung kam es in der Amtszeit des Kabinetts Wirth jedoch nicht mehr. Radbruchs Nachfolger in der Regierung Cuno, der nationalliberale Justizminister Rudolf Heinze, zeigte kein besonderes Interesse am Fortgang der Strafrechtsreform. Allerdings wurden auf dem Weg der Einzelgesetzgebung bis zum Sommer 1923 einige Strafrechtsänderungen vorgenommen, die auf die Resozialisierung des Täters abzielten. Bereits vom 9. April 1920 datiert das »Gesetz über beschränkte Auskunft aus dem Strafregister und die Tilgung von Strafvermerken«,24 das mit Mitteln des Datenschutzes die Wiedereingliederung der Vorbestraften in die Gesellschaft erleichtern sollte. Das Jugendgerichtsgesetz vom 16. Februar 192325 entzog die jugendlichen Rechtsbrecher der allgemeinen Strafrechtspflege und schuf für diese Klientel ein abgestuftes System von Erziehungsmaßregeln von der Verwarnung bis hin zur Fürsorgeerziehung. Das Geldstrafengesetz vom 27. April 192326 sollte die kurzen Freiheitsstrafen weitgehend durch an die Vermögensverhältnisse des Täters angepasste Geldstrafen ersetzen. Die Diskussion um die Gesamtreform kam erst wieder in Gang, als Radbruch am 13. August 1923 erneut die Leitung des Reichsjustizministeriums übernahm. Wenige Tage nach seinem Amtsantritt forderte Radbruch das Kabinett erneut auf, seine Vorlage unverzüglich zu verabschieden, da ansonsten ein österreichischer Alleingang drohe, der »naturgemäß den Plan, ein einheitliches Strafrecht in Deutschland und Österreich zu schaffen, ernstlich gefährden« würde. Er schlug daher vor, die »Aussprache im Kabinett [...] auf einige

23 Kabinettssitzung vom 5. Oktober 1922, 16.30 Uhr, in: Schulze-Bidlingmaier, Die Kabinette Wirth I und II, Bd. 2, S. 1114f. 24 Reichsgesetzblatt 1920, S. 507ff. 25 Reichsgesetzblatt 1923 I, S. 135ff. 26 Reichsgesetzblatt 1923 I, S. 254.

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besonders wichtige Fragen, wie z.B. die Abschaffung der Todesstrafe und die Beseitigung des Namens Zuchthaus« zu beschränken.27 Auch diesmal blieb ihm der Erfolg verwehrt. Zweifellos war das Kabinett im Krisenjahr 1923 mit existenziellen innen-, außen- und wirtschaftspolitischen Problemen befasst, deren Lösung dringlicher schien als die vom Justizminister angemahnte »Erledigung des Entwurfs«. Doch die dilatorische Behandlung der Kabinettvorlage erklärt sich zum Teil auch durch das Unbehagen an dem Strafgesetzentwurf selbst. Die Verquickung von Strafen und sichernden Maßregeln unter der Prärogative der Rechtsprechung stieß auf Vorbehalte der Inneren Verwaltung. Das im »Entwurf Radbruch« vorgesehene Recht des Gerichts, Strafen und Maßregeln gegeneinander auszutauschen und die Dauer der Unterbringung zu bestimmen, betrachtete man im Reichsinnenministerium als Einmischung der Judikative in ureigene Belange der Verwaltung.28 Innenminister Köster (SPD) beanstandete in seinem Votum vom 9. November 1922, obgleich er den Entwurf im großen und ganzen für eine »glückliche Lösung der grossen Aufgabe« hielt, die Vorschriften zu den Maßregeln der Besserung und Sicherung, »die in die Verwaltung eingreifen«. Mit seinem Änderungsvorschlag rührte er gerade an das Hauptanliegen des ›modernen‹ Strafrechtsdenkens seit Franz von Liszts ›Marburger Programm‹, das Prinzip der täterorientierten Sanktionsbemessung durch den Strafrichter: »Ich glaube nicht, dass der Strafrichter nach der ganzen Art und Weise, in der sich seine Tätigkeit mit Notwendigkeit vollziehen muss, geeignet erscheint, die ihm von dem Entwurf zugedachten zum Arbeitsgebiet der inneren Verwaltung gehörenden Aufgaben zu erfüllen, und möchte daher nochmals anregen, dem Strafrichter in den gegebenen Fällen lediglich die Zulässigkeit und allenfalls bei Gefahr im Verzuge die vorläufige Anordnung sichernder Massnahmen aussprechen zu lassen, die weiteren Massnahmen aber den Behörden der Verwaltung zu überlassen.«29

Diese Bedenken waren auch deshalb von politischem Gewicht, weil sich hier ein Ressortanliegen sowohl auf das traditionelle Strafverständnis als auch auf starke preußische Verwaltungstraditionen stützen konnte, wie die Verhandlungen im Reichsrat später zeigen sollten. Auf noch größere Vorbehalte stieß der Radbruchsche Strafgesetzentwurf wegen seines Verzichts auf die Todesstrafe. Bereits in der Weimarer National27 RJM an Reichsregierung, 21.8.1923, BA, R 30.01, Nr. 5811, Bl. 486. 28 Schon im Vorfeld hatten Vertreter des Innenministeriums in einer Besprechung mit den zuständigen Beamten des Reichsjustizministeriums darauf gedrungen, die sichernden Maßregeln weitgehend dem Polizeirecht zu überlassen. Das geplante »Reichsirrengesetz« führten sie als Argument gegen eine im Strafgesetzbuch geregelte »zwangsweise Unterbringung gemeingefährlicher Geisteskranker« ins Feld. Vermerk, 12.6.1922, BA, R 30.01, Nr. 5811, Bl. 160f. 29 RMdI an RJM, 9.11.1922, BA, R 30.01, Nr. 5811, Bl. 417ff., hier Bl. 417. Auch hier wurde zur Unterstreichung der Verwaltungskompetenzen auf geplante Gesetze hingewiesen: das Reichsirren- und das Reichsverwahrungsgesetz, die letztlich beide nicht realisiert wurden.

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versammlung hatte der sozialdemokratische Antrag, die Todesstrafe in der Reichsverfassung für unzulässig zu erklären, keine Mehrheit gefunden.30 Die Gegner der Todesstrafe setzten ihre Hoffnungen nunmehr in die Strafrechtsreform. Doch in der am Rande eines Bürgerkriegs stehenden Republik der frühen zwanziger Jahre waren die Umstände für ein solches Unterfangen denkbar ungünstig. Seit der Niederschlagung des »Spartakus-Aufstands« vom Januar 1919 sahen auch die demokratischen Politiker die Anwendung militärischer Gewalt als ein unverzichtbares Mittel der innenpolitischen Auseinandersetzung an. Die häufig geübte, jedoch bislang juristisch zweifelhafte Praxis standrechtlicher Erschießungen im Rahmen militärischer Ausnahmezustände wurde im Frühjahr 1920 durch eine Präsidialverordnung gedeckt. Um die aus der Streikbewegung gegen den Kapp-Putsch entstandene ›Rote Ruhrarmee‹ zu zerschlagen, wurden per Notverordnung des Reichspräsidenten vom 19. März 1920 »außerordentliche Kriegsgerichte« mit der Befugnis ausgestattet, die Todesstrafe gegen Aufständische zu verhängen; zugleich gestattete die Verordnung dem Reichswehrminister die Bildung von »Standgerichten«, für die folgende Verfahrensregeln galten: »Das Standgericht hat innerhalb 24 Stunden nach der Ergreifung des Angeklagten zu entscheiden. Das Urteil kann nur auf Todesstrafe lauten. Es unterliegt keinem Rechtsbehelf. Es bedarf der Bestätigung durch den Inhaber der vollziehenden Gewalt und wird nach der Bestätigung durch Erschießen vollstreckt.«31 Nach den Attentaten auf Erzberger und Rathenau und im Zusammenhang mit den Putschplänen Hitlers erfolgte eine neue Welle von repressiven Republikschutz-Maßnahmen, die diesmal »unzweideutig auf die kriminellen Aktivitäten rechtsradikaler Kreise gerichtet« waren.32 Ausnahmezustände, Notverordnungen und Gesetze mit scharfen Strafdrohungen gegen politische Delikte wechselten bis 1923 in rascher Folge.33 In dieser Situation hatten die 30 Vgl. Evans, S. 491ff. 31 Verordnung des Reichspräsidenten auf Grund des Artikel 48 Abs. 2 der Reichsverfassung, betreffend die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Bezirke des Reichswehrgruppenkommandos 1 nötigen weiteren Maßnahmen vom 19.März 1920, Reichsgesetzblatt 1920, S. 467ff.; Vizekanzler und Justizminister Schiffer (DDP) hatte die Notverordnung in Vertretung des nach Stuttgart geflohenen Reichspräsidenten unterzeichnet; vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 7, S. 95f.; Evans, S. 502. 32 Blasius, Geschichte der politischen Kriminalität, S. 99. 33 Verordnung betreffend die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in den Regierungsbezirken Düsseldorf, Arnsberg, Münster und Minden vom 11. Januar 1920, Reichsgesetzblatt 1920, S. 41; Erste Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze der Republik vom 29. August 1921, Reichsgesetzblatt 1921, S. 1239; Zweite Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze der Republik vom 28. September 1921, Reichsgesetzblatt 1921, S. 1271; Erste Verordnung zum Schutze der Republik vom 26. Juni 1922, Reichsgesetzblatt 1922 I, S. 521; Zweite Verordnung zum Schutze der Republik vom 29. Juni 1922, Reichsgesetzblatt 1922 I, S. 532; Gesetz zum Schutze der Republik vom 21. Juli 1922, Reichsgesetzblatt 1922 I, S. 585; Verordnung des Reichspräsidenten zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ord-

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Gegner der Todesstrafe einen schweren Stand. Sie konnten nur aus der Defensive heraus argumentieren. Schon in der Begründung zu seinem Strafgesetzentwurf äußerte Radbruch im Hinblick auf die absehbaren Anfechtungen, dass der Entwurf mit dem Verzicht auf die Todesstrafe »der Entscheidung darüber nicht vorgreifen [will], ob im Rahmen von Maßnahmen nach Art. 48 der Reichsverfassung auch in Zukunft die Todesstrafe soll angedroht werden können.«34 Als dann im Zuge der Kabinettsberatungen Reichswirtschaftsminister von Raumer (DVP) sich angesichts der innenpolitischen Unruhen gegen die Abschaffung der Todesstrafe wandte, argumentierte der sozialdemokratische Innenminister Sollmann im Sinne seines Parteifreunds Radbruch: »Wenn ein staatlicher Notstand besteht, wenn insbesondere sich gegen die Staatsgewalt organisierter Widerstand erhebt«, werde »es vielleicht auch künftig nötig sein, die Verhängung der Todesstrafe zuzulassen«; seines Erachtens liege aber »kein Grund vor, eine Strafart, die im Falle besonderer Staatsgefährdung vielleicht notwendig ist, nun auch für normale Zeiten beizubehalten, in denen sie sehr wohl entbehrt werden kann.«35 Diese Argumentation konnte nicht überzeugen. Wer die Exekution von Staatsfeinden situativ für geboten hielt, erschien unglaubwürdig als Gegner der gesetzlich angedrohten Todesstrafe für gemeine Mörder. Im Grunde offenbarte die Diskussion nur, welchen geringen Stellenwert das Recht auf Leben auf der Prioritätenskala der politischen Parteien einnahm, die sich immer auch als potentielle Bürgerkriegsparteien verstanden. Der Radbruchsche Entwurf konnte in dieser Form keine Unterstützung von der Mehrheit der Kabinettsmitglieder finden. Erst als Staatssekretär Curt Joel, der bereits im Kaiserlichen Reichsjustizamt an den Reformarbeiten beteiligt gewesen war, geschäftsführender Reichsjustizminister im ersten Kabinett Marx wurde, nahm dieser den Vorgang wieder auf. Joel sah sich – obgleich der DVP nahestehend – als unpolitischen Staats- und Rechtsdiener.36 Als solcher wollte er die Gesetzesvorlage von ihren vermeintlichen sozialistisch-parteipolitischen Verzerrungen befreien und den »Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches« schließlich in bereinigter Form zur Verabschiedung bringen. Seine Version des Strafgesetzentwurfs, die u.a. wieder die Todes- und die Zuchthausstrafe enthielt, sandte er am 5. Juli 1924 an die Reichsregierung. In dem Begleitschreiben begründete Joel seine Bitte, »den Entwurf nung vom 10. August 1923, Reichsgesetzblatt 1923 I; S. 768; Verordnung des Reichspräsidenten betreffend die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für das Reichsgebiet nötigen Maßnahmen vom 26. September 1923, Reichsgesetzblatt 1923 I, S. 905. 34 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches. Bemerkungen, abgedruckt in: Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 1, S. 188ff., hier S. 191. 35 RMdI an den Staatssekretär in der Reichskanzlei, 13.10.1923, BA, R 30.01, Nr. 5812, Bl. 23. 36 Vgl. Godau-Schüttke, Rechtsverwalter, S. 53ff.

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in möglichst naher Zeit, jedenfalls aber noch im Sommer d.J., zu verabschieden«, – wie zuvor Gustav Radbruch – mit dem ansonsten drohenden Scheitern der deutsch-österreichischen Rechtsangleichung und der Zerfaserung des Strafrechts durch eine Vielzahl von Einzelnovellen. Ferner führte er aus, dass nach der Verabschiedung des Jugendgerichtsgesetzes und der Geldstrafengesetze nun auch »die Verstärkung der Machtmittel des Staates gegen das gewerbsmäßige Verbrechertum und gegen verbrecherische Irre sowie eine Regelung der Frage des Rechtsirrtums« dringend geboten seien.37 Das war ein neues Argumentationsmuster in der Reformdiskussion, das unwillkürlich auch auf den Inhalt der Reform zurückwirkte. Nach der bereits erfolgten Einführung resozialisierender Maßnahmen auf dem Weg der Strafrechtsnovellierung wollte man nun – um das Strafrecht wieder ins Lot zu bringen – auch die repressiven Elemente des ›modernen‹ Reformprogramms umsetzen. Strafverschärfungen und Sicherungsmaßnahmen gegen ›unverbesserliche‹ Täter rückten folglich in den Mittelpunkt der Reformbestrebungen. Mit dieser neuen Zielfokussierung und unter Beibehaltung der ›bewährten‹ Todes- und Zuchthausstrafe war der Strafgesetzentwurf auch für die bürgerlichen Kabinettsmitglieder akzeptabel. Am 12. November 1924 nahm das Reichskabinett die Vorlage ohne weitere Änderungen an. Stellungnahmen zu Einzelfragen sollten erst im Zuge der Reichsratsverhandlungen erfolgen. Weiterhin erklärte sich das Kabinett mit der Veröffentlichung des Entwurfs einverstanden.38 Am 17. November wurde der »Amtliche Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs« dem Reichsrat zugeleitet; der breiten Öffentlichkeit wurde er 1925 in einer Buchhandelsausgabe zugänglich gemacht.39 Der »Entwurf 1925« stieß auf unerwartet großen Widerstand, nicht zuletzt weil er trotz der vorgenommenen Änderungen noch immer mit dem ›sozialistischen‹ Politiker Radbruch in Verbindung gebracht wurde. Gleich nach der Veröffentlichung des Amtlichen Strafgesetzentwurfs organisierten sich die Gegner der Strafrechtsreform in der von Friedrich Oetker gegründeten »Deutschen strafrechtlichen Gesellschaft«.40 Auch Strafrechtsexperten, wel37 RJM an die Reichsregierung, 5.7.1924, BA, R 30.01, Nr. 5812, Bl. 56f.; Joel erläuterte die Neufassung des Entwurfs auch mündlich in der Kabinettssitzung am 1. September 1924, vgl. den Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Reichsministeriums, 1.9.1924, BA R 30.01, Nr. 5812, Bl. 80f. 38 Kabinettssitzung vom 12. November 1924, 16.30 Uhr, in: Abramowski, Die Kabinette Marx I und II, Bd. 2, S. 1172ff., hier S. 1173. 39 Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs, BA, R 30.01, Nr. 5812, Bl. 124ff.; Amtlicher Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs nebst Begründung, 2 Bde., Berlin 1925, abgedruckt bei: Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 1, S. 199ff. 40 Vgl. Oetker, Sp. 1300f.; von dem gespannten Verhältnis zwischen dem Reichsjustizministerium und der Deutschen strafrechtlichen Gesellschaft zeugen zahlreiche Schreiben in den Ministerialakten, vgl. BA, R 30.01, Nr. 6040–6042.

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che die Reform befürwortet und wissenschaftlich begleitet hatten, äußerten sich nun kritisch. Die zwiespältige Haltung politisch konservativ gesinnter Reformbefürworter offenbart ein vertraulicher Briefwechsel zwischen dem Göttinger Strafrechtsprofessor Robert von Hippel und dem Leiter der Strafrechtsabteilung im Reichsjustizministerium Erwin Bumke. Ministerialdirektor Bumke, der als ›unpolitischer‹ Beamter seine DNVP-Mitgliedschaft sogar vor seinen engsten Freunden verheimlichte,41 wollte, da »gegen den Strafgesetzentwurf von 1925 ein wahres Kesseltreiben veranstaltet wird«, den prominenten Strafrechtslehrer als Fürsprecher gewinnen; dabei ließ er durchblicken, dass die beanstandeten Neuerungen des Entwurfs »in der Hauptsache auf Gedanken von Radbruch und Kadecka« beruhten.42 Robert von Hippel ließ sich jedoch nicht zu einer befürwortenden Stellungnahme bewegen. Seine ablehnende Haltung gegenüber dem »Entwurf 1925« begründete er damit, »dass nicht, wie bis zum Entwurf 1913, allein strafrechtlich-sachliche, sondern politische Gesichtspunkte massgebend wurden«. Zwar schätze er Radbruch, aber dieser sei »kriminalpolitisch [...] ebenso wie politisch sehr links eingestellt«. Auch die Hinzuziehung des Österreichers Kadecka sei »wieder das Ergebnis politischer Erwägungen gewesen«. Die »wörtliche Rechtseinheit mit Oesterreich« sei »zum angeblich nationalen Dogma geworden«. Doch wichtig sei eigentlich allein, »dass wir das sachlich denkbar beste Strafgesetz bekommen. Wollen die Oesterreicher es schlechter oder für ihre Bedürfnisse anders haben, so mögen sie doch.«43 Die zögerliche Behandlung des Strafgesetzentwurfs durch den Reichsrat bildete den Hintergrund dieses Briefwechsels. Am 13. Juli 1925 hatten die zuständigen Reichsratsausschüsse einen Zeitplan für die geschäftliche Behandlung des Entwurfs erstellt, der die Verabschiedung des Strafgesetzbuchs durch den Reichstag noch in der aktuellen Legislaturperiode ermöglichen sollte. Doch die Länder durchkreuzten diesen Plan, indem sie ihre Anträge nicht bis zum vereinbarten Abgabetermin Ende Dezember 1925 fertig stellten oder aber ihre ausgearbeiteten Anträge »absichtlich zurück[hielten]«.44 Im Oktober 1926, rund zwei Jahre nach der Überstellung des Entwurfs an den Reichsrat, waren die Vorarbeiten endlich so weit gediehen, dass mit den mündlichen Verhandlungen begonnen werden konnte. In vier Sitzungsblöcken zwischen dem 8. Oktober 1926 und dem 5. April 1927 berieten die zuständigen Reichsratsausschüsse über den Entwurf, die eingebrachten Anträge

41 Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 1, S. XXV. 42 Bumke an Hippel, 20.2.1926, BA, R 30.01, Nr. 5813, Bl. 276ff., hier Bl. 276 u. Bl. 280. 43 Hippel an Bumke, 8.3.1926, BA, R 30.01, Nr. 5813, Bl. 289ff., hier Bl. 290f. (Hervorhebungen im Original). 44 Letzteres taten laut Bumke »einige süddeutsche Länder«; vgl. Bumke an Hippel, 20.2.1926, BA, R 30.01; Nr. 5813, Bl. 276ff., hier Bl. 276.

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der Länder und die Kompromissanträge der Reichsregierung.45 Die Beratungen waren meistenteils juristisch-technischer Natur; auf eine »Generaldebatte« wurde zunächst bewusst verzichtet.46 Gleichwohl wurde um einige das politische Strafrecht betreffende Bestimmungen heftig gerungen. Insbesondere die preußischen Vertreter wollten die »Einschließung« – so der neue Begriff für die Festungshaft – als privilegierte Sanktion für republikfeindliche Überzeugungstäter aus dem Entwurf gestrichen sehen. Preußen setzte sich auch für die Aufnahme neuer Staatsschutz-Bestimmungen in das Allgemeine Deutsche Strafgesetzbuch ein.47 Das alles waren Fragen, die von den tagespolitischen Auseinandersetzungen über den Republikschutz und die ›Vertrauenskrise‹ der Justiz herrührten; den Kern des Reformprogramms trafen sie nicht. Das Land Preußen strebte aber auch gravierende Einschnitte in das ›moderne‹ Behandlungs- und Sicherungskonzept an. Ein Antrag vom 13. Dezember 1926 zielte auf die ersatzlose Streichung der »Unterbringung in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt« (§ 43) und der »Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt« (§ 44) aus dem Entwurf. Für den Fall der Beibehaltung dieser beiden Maßregeln wurde beantragt, die Anordnung der Unterbringung den Verwaltungsbehörden zu überlassen; das Gericht sollte lediglich die »Zulässigkeit« einer eventuellen Anstaltseinweisung erklären dürfen.48 Dieser Antrag des weitaus größten Landes bedeutete einen harten Schlag für die Strafrechtsreformer. Von Beginn an hatten alle Reformbestrebungen darauf abgezielt, die Kompetenzen bei der Behandlung von Rechtsbrechern jedweden Geisteszustandes zu bündeln. Die ungeklärte Zuständigkeit in Fällen zweifelhafter Zurechnungsfähigkeit und die mangelnde strafrechtliche Handhabe gegen psychisch abnorme Täter galt nicht nur den Anhängern der ›modernen Schule‹ als das Hauptübel des überkommenen Schuld- und Vergeltungsstrafrechts.

45 Vgl. die von den Kommissaren des Reichsjustizministeriums gefertigten Protokolle: Niederschrift über die Beratung der Reichsratsausschüsse III, V und VII über den Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs am 8. bis 11. Oktober 1926, BA R 30.01, Nr. 5817, Bl. 119ff.; Niederschrift über die Beratung am 15. bis 19. November 1926, ebd., Bl. 139ff.; Niederschrift über die Beratung am 20. bis 22. Dezember 1926, ebd., Bl. 171ff.; Niederschrift über die Beratungen vom 28. bis 30. März und vom 5. April 1927, BA, R 30.01, Nr. 5818, Bl. 250ff.; im Folgenden zitiert nach Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 2, S. 1ff. 46 Vgl. die Niederschriften über die Beratungen vom 8. bis 11.10.1926 und vom 15. bis 19. 11. 1926, in: Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 2, S. 1 u. 18. 47 Vgl. die Zusammenstellung der Anträge des Reichs und der Länder zu dem Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs, in: Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 2, S. 117ff. sowie die preußischen Einzelanträge Nr. 11, ebd., S. 321ff.; Nr. 64, ebd., S. 567ff.; Nr. 73, ebd., S. 588ff. 48 Vgl. den Einzelantrag Nr. 37: »Anträge und Bemerkungen Preußens vom 13.12.1926 zu den Abschnitten 6 und 7 des Allgemeinen Teils des Ersten Buches des Entwurfs«, ebd., S. 463ff., hier S. 466ff.

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Der preußische Antrag erfolgte – wie die Begründung freimütig bekundete – »in erster Linie aus finanziellen Gründen«: »Wenn jetzt die Unterbringung geisteskranker und trunksüchtiger Verbrecher zu einem Akt der Strafjustiz gemacht und auch bei bloßer geistiger Minderwertigkeit eine Verwahrung zugelassen würde, so würden die Provinzen sich gegen die Tragung der Kosten für die von dem Strafrichter angeordnete Unterbringung wehren und deren Übernahme auf die Staatskasse verlangen.«49 Die komplizierte preußische Verwaltungsstruktur mit provinzialen Selbstverwaltungsorganen und vielfach gegliederten staatlichen Verwaltungsebenen verschärfte nicht nur das Unterbringungsproblem,50 sie behinderte nun auch eine gesetzliche Lösung des Problems. Tatsächlich wurde diese Frage im Reichsrat kontrovers diskutiert. Obwohl sich in der Ersten Lesung zumindest zum preußischen Eventualantrag eine partielle Zustimmung abzeichnete,51 hielten die preußischen Vertreter an ihren Maximalforderungen fest.52 Ebenso wenig kompromissbereit zeigte sich in der Zweiten Lesung Ministerialdirektor Bumke als Vertreter der Reichsregierung. Er wies darauf hin, »daß die Reichsregierung großen Wert darauf lege, daß die Vorschrift unverändert erhalten bleibe. Es müsse, und das liege auf der ganzen Linie des Gesetzes, die Unterbringung vom Gericht unbedingt angeordnet werden; eine Zulassung genüge nicht. [...] Die Psychiater wollten im allgemeinen diese Leute nicht in ihren Anstalten haben, weil ihre Behandlung meist schwierig sei; deshalb würden sie oft erklären, daß der Betreffende nicht ins Irrenhaus gehöre, oder sie würden ihn vorzeitig als geheilt entlassen. Dann begehe er meistens ein neues Verbrechen. Das alles werde vermieden, wenn das Gericht die bindende Anweisung zur Unterbringung geben könne.«53

Daraufhin wurde der Antrag Preußens auf Änderung der Bestimmung im Ausschuss mit 12 gegen 7 Stimmen abgelehnt.54 Erst in den abschließenden Plenarsitzungen konnte Preußen – hier über 27 der insgesamt 68 Stimmen verfügend – seine Vorstellung von einer bloßen Zulässigkeitserklärung durchsetzen.55 Der gegenüber der ursprünglichen Vorlage in wesentlichen Details 49 Ebd., S. 467. Tatsächlich forderte die Landesdirektoren-Konferenz der preußischen Provinzen in ihrer Stellungnahme zum Strafgesetzentwurf die Erstattung der entstehenden Mehrkosten für »die Durchführung der den Provinzen obliegenden neuen Aufgaben« durch den Staat; Verband der preußischen Provinzen an RJM, 28.3.1927, BA, R 30.01, Nr. 5897, unfoliiert. 50 Siehe oben, Abschnitt A, II. 51 Vgl. die Niederschrift über die Beratungen vom 20. bis 22.12.1926, in: Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 2, S. 49ff., hier S. 61ff. 52 Vgl. den Einzelantrag Nr. 64: »Anträge und Bemerkungen Preußens vom 23.3.1927«, ebd., S. 567ff., hier S. 569. 53 Niederschrift über die Beratungen vom 28. bis 30.3. und 5.4.1927, ebd., S. 79ff., hier S. 84. 54 Ebd., S. 85. 55 Der Antrag Preußens wurde mit 43 gegen 25 Stimmen angenommen; vgl. die Niederschrift über die Plenarberatungen im Reichsrat vom 5.4.1927, ebd., S. 107ff., hier S. 108.

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abgeänderte Entwurf wurde am 13. April 1927 verabschiedet und einen Monat später durch den Reichsjustizminister im Reichstag eingebracht.56 Die Tendenz der Abkehr von den »gesunden sozialen Einsichten« (E. Schmidt) des Radbruchschen Entwurfs hatte sich in der Reichstagsvorlage – auch »Entwurf 1927« genannt – weiter fortgesetzt. Diverse Möglichkeiten zur Strafmilderung, die sich noch im »Entwurf 1925« wiederfanden, waren gestrichen worden.57 An den repressiven Maßregeln der Anstaltsunterbringung hatte der Reichsrat festgehalten; doch abgesehen von der Sicherungsverwahrung waren sie zu einem Verwaltungsvorgang degradiert worden, der den betroffenen Tätern nicht die besonderen rechtsstaatlichen Garantien eines Strafverfahrens bot. Gustav Radbruch erschienen diese Änderungen derart gravierend, dass er sich von dem Ergebnis der Reichsratsberatungen öffentlich distanzierte. Unter der Überschrift »Der neue Kurs in der Strafrechtsreform« wurde ein Aufsatz Radbruchs am 10. Mai 1927 in der einflussreichen »Vossischen Zeitung« als Leitartikel platziert. »Die Strafrechtsreform« schien dem ehemaligen Reichsjustizminister »auf schiefer Ebene mit zunehmender Geschwindigkeit bergab zu gleiten.«: »Das Zerstörungswerk an dem Entwurf von 1922, das im Reichskabinett begonnen hat, hat im Reichsrat seinen Fortgang genommen. Es trifft schon nicht mehr nur Einzelheiten, sondern den Geist des Entwurfs. [...] Das Schwergewicht der Strafrechtsreform ruht nicht auf dem Besonderen, sondern auf dem Allgemeinen Teil. Aus dem Allgemeinen Teil ist aber beinahe alles verschwunden, was uns den Entwurf bisher begehrenswert erscheinen ließ und uns seine unleugbaren Gefahren hätte in Kauf nehmen lassen.«58

Der nationalkonservative Ministerialdirektor Bumke, der nach eigenem Bekunden »stets bemüht war, [Radbruchs] wissenschaftlichen Grundanschauungen Verständnis entgegenzubringen«,59 versuchte seinen früheren Chef zu beschwichtigen. In einem persönlichen Schreiben an Radbruch verteidigte er die auf einen autoritären Kurs getrimmte Reichstagsvorlage und wies im übrigen darauf hin, »daß die von Ihnen beanstandeten Änderungen des Entwurfs zu einem großen Teil auch von Preußen gewollt worden sind und daß Preußen in entscheidenden Fragen noch weiter von dem Entwurf hat abweichen wollen.«60 Der Hinweis auf das von einem sozialdemokratischen Ministerpräsi56 Vgl. die Niederschrift über die Plenarberatungen im Reichsrat vom 13.4.1927, ebd., S. 113ff., hier S. 116; Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs (Drucksachen des Reichstages, III. Wahlperiode, 1924/27, Nr. 3390), auch in: Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 1, S. 437ff. 57 Vgl. die Gegenüberstellung der beiden Entwürfe bei Schäfer, Synoptische Gegenüberstellung. 58 Radbruch, Der neue Kurs in der Strafrechtsreform, S. 241 u. 244 (Hervorhebungen im Original). 59 Bumke an Radbruch, 25.5.1927, BA, R 30.01, Nr. 5819, Bl. 276ff., hier Bl. 276. 60 Ebd., Bl. 277.

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denten regierte Land Preußen konnte freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Strafgesetzentwurf im Zuge der Reichsratsbehandlungen ein gutes Stück nach rechts gerückt worden war. Der »Entwurf 1927« vermischte das ›klassische‹ Vergeltungsprinzip mit dem ›modernen‹ Sicherungsgedanken; der ebenfalls zum ›modernen‹ Strafrechtsdenken gehörende Resozialisierungsaspekt war dabei hintangestellt worden. Die Vernachlässigung des Besserungsgedankens fiel auch den in der Tradition Emil Kraepelins stehenden Kriminalpsychiatern auf. Gustav Aschaffenburg erinnerte daran, dass nach Kraepelin – dem psychiatrischen Inspirator der Strafrechtsreform – »die Dauer der Strafe nicht vom Strafgericht bestimmt«, sondern vom Besserungserfolg abhängiggemacht werden sollte.61 Nach dem grundsätzlichen Sieg der Zweckstrafe über die Vergeltungstheorie sei »die schwierige Aufgabe zu lösen, wie der verbrecherische Mensch in seiner ganzen Persönlichkeit erfaßt werden kann, damit er gebessert werden kann und nur da, wo die Besserung sich als unmöglich erweist, aus dem Gesellschaftskörper ausgeschieden wird«.62 Die medizinisch-psychiatrischen Standesorganisationen und Politikberatungsgremien hatten sich eingehend mit den Bestimmungen der Entwürfe befasst, ohne einen nennenswerten Einfluss auf den Verlauf der administrativen Reformplanungen ausüben zu können.63 Erst als der Entwurf im Reichstag eingebracht wurde, boten sich den Gesundheitsexperten und ärztlichen Standespolitikern unter den Abgeordneten Möglichkeiten, die Strafrechtsreform im Sinne des von ihnen favorisierten Behandlungsmodells zu beeinflussen. Auch der bislang hinter juristisch-technischen Argumenten versteckte Streit zwischen liberalen und autoritären Strafrechtspolitikern konnte im Reichstag offen ausgetragen werden.

61 Aschaffenburg, Der Einfluß Kraepelins, S. 90. 62 Ebd., S. 95; ähnlich die Einschätzung bei Gruhle, Kraepelins Stellung zur Verbrechensbekämpfung, S. 214f.: »Wenn auch Kraepelins Forderung der Abschaffung des Strafmaßes auch im neuen Strafgesetzentwurf [von 1925, d. Vf.] noch nicht erfüllt ist, so sind wir doch auf dem besten Wege dazu. [...] Dem künftigen Richter ist eine solch gewaltige Macht über die persönliche Freiheit des Rechtsbrechers gegeben, daß er sie zum Wohle des Staates nur ausüben kann, wenn er gründlichste Kenntnisse über das Verbrechen als soziale Erscheinung und über das Wesen der verschiedenen Typen des Rechtsbrechers besitzt. Der einzig mögliche Vermittler dieser Kenntnisse ist der Psychiater als Kriminalpsycholog.« 63 Vgl. Schultze, Psychiatrie und Strafrechtsreform; ders., Reichstagsentwurf; Aschaffenburg, Die Stellung des Psychiaters zur Strafrechtsreform; Der neue Entwurf des Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches vom ärztlichen Standpunkte.

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2. Die Diskussion im Reichstag Am 14. Mai 1927 brachte Reichsjustizminister Oskar Hergt (DNVP) den aus den Beschlüssen des Reichsrats zusammengestellten Strafgesetzentwurf als Reichstagsvorlage ein. In der Generaldebatte am 21. Juni umriss er die Zielsetzung des Reformvorhabens: »Dem Entwurf liegt nichts ferner als etwa eine Verwässerung des Strafschutzes, als etwa eine Humanitätsduselei. [...] Bei der Unruhe und Ungeklärtheit unserer Zeit, bei der Aufpeitschung der Massen, bei den vielen Versuchungen, die an die Jugend herangebracht werden, bei der Unmoral und Halbmoral, die sich leider, leider in unserem Volke findet, bedarf es gerade jetzt des verstärkten Schutzes unserer deutschen Kultur und unserer deutschen Wirtschaft, die ja vornehmlich für den deutschen Wiederaufbau verantwortlich ist, diesen Wiederaufbau dem deutschen Volke schuldet.«64

Die Strafrechtsreform war nun, nachdem die sozialdemokratischen Konturen des ursprünglichen Entwurfs von 1922 gründlich abgeschliffen worden waren, ein politisches Anliegen der das 4. Kabinett Marx tragenden MitteRechts-Koalition. Mit der grundsätzlichen Zustimmung der Parteien des ›Bürgerblocks‹ zur Strafrechtsreform konnte somit gerechnet werden; Sozialdemokraten und Linksliberale gehörten ohnehin zu den treibenden Kräften der Reformbewegung. Auch wenn es in der 3. Legislaturperiode im Reichstag nur wenige prinzipielle Reformgegner gab, bot der Strafgesetzentwurf doch einiges Konfliktpotential in weltanschaulich aufgeladenen Detailfragen. Die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse der späten zwanziger Jahre erforderten weitgespannte Koalitionen, so dass eine Einigung über ideologisch belastete Bestimmungen, wie z.B. die Beibehaltung der Todesstrafe oder die Strafbarkeit der Gotteslästerung, sich schwierig gestaltete. Der Abgeordnete Wilhelm Kahl (DVP), der sich bereits im Jahr 1902 als Vertreter der ›klassischen Schule‹ mit Franz von Liszt auf eine gemeinsame Kompromisslinie verständigt und dann auch an den Reformplänen des Kaiserlichen Reichsjustizamts mitgewirkt hatte,65 fungierte in dieser Situation als Moderator und Integrationsfigur. Als Vorsitzender des Strafrechtsausschusses bemühte er sich um eine »Entpolitisierung der Strafrechtsreform«.66 Als die 64 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, III. Wahlperiode, 1924/27, S. 10939. 65 Siehe oben, Abschnitt A, III, 2. 66 So Kahl in der Plenardebatte am 21. Juni 1927; weiter führte er aus: »Beim Strafgesetzbuch handelt es sich in der Tat um eine Jahrhundertfrage. Daher darf nicht das Schicksal des ganzen davon abhängig gemacht werden, daß gleich von Anfang an eine politische Partei kommt und sagt: Das verlangen wir: entweder oder; wenn nicht, lassen wir die ganze Reform fallen. So können wir das nicht machen. Wir müssen in dem hohen Geist der Entpolitisierung, in dem

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Regierungskrise des Frühjahrs 1928 den Fortgang der Beratungen gefährdete, wurde ein von Kahl initiiertes »Gesetz zur Fortführung der Strafrechtsreform« verabschiedet;67 dieses Überleitungsgesetz sicherte die Kontinuität der parlamentarischen Beratungen über die Neuwahlen vom 20. Mai 1928 hinaus. Bei der nächsten Reichstagsauflösung im Juli 1930 kam keine Mehrheit für ein erneutes Überleitungsgesetz zustande; stattdessen legte Wilhelm Kahl dem Reichstag der 5. Legislaturperiode einen eigenen Strafgesetzentwurf (»Entwurf 1930« oder »Entwurf Kahl«) vor, der auf den Ergebnissen der früheren Ausschussberatungen beruhte.68 Bis zu seinem Tod am 14. Mai 1932 sorgte der Doyen der Strafrechtsreform für den Fortgang der parlamentarischen Beratungen. Der 6. Reichstag vom 31. Juli 1932, in dem die Reformgegner aus KPD und NSDAP über eine rechnerische Mehrheit verfügten, befasste sich indes nicht mehr mit der Strafrechtsreform. Im Folgenden gilt es, die politische Dimension der geplanten Rationalisierung des Strafrechts näher zu beleuchten. Die Fülle der von Plenum, Strafrechtsausschuss und sogenannten »deutschen und österreichischen Strafrechtskonferenzen« im Laufe von drei Legislaturperioden beratenen Gegenstände zwingt hierbei zu einer Konzentration auf das Wesentliche. Die »Hauptziele der Reform« waren laut Wilhelm Kahl die »schärfere psychologische Differenzierung des Verbrechertums«, die »Verbindung der Sicherung mit der Strafe« und die »Erweiterung der Freiheit des richterlichen Ermessen«.69 Diese drei Gesichtspunkte bündeln sich in der Diskussion über die mit einer Anstaltsunterbringung verbundenen »Maßregeln der Besserung und Sicherung«. Zwar nicht zum Kern des Reformprogramms gehörig, aber für die Leitfrage nach der Medikalisierung und Biologisierung des Strafrechts bedeutend ist die Debatte über die eugenisch indizierte Sterilisation. Berücksichtigung sollen schließlich auch jene Einzelbestimmungen finden, die politisch polarisierend wirkten und somit zum Scheitern des Gesetzesvorhabens beitrugen.

Gedanken, daß es sich um etwas viel Größeres handelt als um Parteien, an dieses große Werk herantreten.«; Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, III. Wahlperiode, 1924/27, S. 10948. 67 Gesetz zur Fortführung der Strafrechtsreform vom 31.3.1928, Reichsgesetzblatt 1928 I, S. 135. 68 Vgl. den Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs (Drucksachen des Reichstages, V. Wahlperiode, 1930, Nr. 395). 69 Vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, III. Wahlperiode, 1924/27, S. 10944f.

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a) Sicherungsverwahrung und Rechtsstaatlichkeit Die mit einer Zwangsunterbringung verbundenen »Maßregeln der Besserung und Sicherung« zählten als kriminalpolitisch wirksame Instrumente zu den wichtigsten Neuerungen des Strafgesetzentwurfs. Sie sollten nicht der Vergeltung und Abschreckung dienen, sondern im Sinne der Spezialprävention individuell auf den Täter einwirken und ihn von der Begehung weiterer Straftaten abhalten. Der »Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs« von 1927 sah vier verschiedene Arten der Verwahrung vor (§§ 55–63): für Unzurechnungsfähige und vermindert Zurechnungsfähige die »Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt«, für Rauschtäter die »Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt oder in einer Entziehungsanstalt«, für Bettler, Landstreicher und Prostituierte die »Unterbringung in einem Arbeitshaus« und für Gewohnheitsverbrecher die »Sicherungsverwahrung« in einer Anstalt der Justizverwaltung. Die Maßregeln gingen auf die ›moderne‹ Forderung zurück, die Sanktionen nicht an der in der Vergangenheit aufgeladenen Schuld, sondern an der zukünftigen Sozialschädlichkeit des Rechtsbrechers auszurichten. Allerdings sahen alle deutschen Strafgesetzentwürfe seit 1909 die sichernden Maßregeln nur als eine Ergänzung zur Strafe an. Die im Namen der Rechtsstaatlichkeit von den ›Klassikern‹ durchgesetzte strikte Trennung von Vergeltungsstrafe und präventiven Maßregeln bedeutete für die betroffenen Delinquenten faktisch eine doppelte Bestrafung. Denn nach diesem ›zweispurigen‹ Modell setzte die Verwahrung zum Zweck der Besserung und Sicherung just zu dem Zeitpunkt ein, an dem der Gefangene die Freiheit wiedererlangt hätte: nach Verbüßung der Freiheitsstrafe oder nach dem Freispruch wegen Unzurechnungsfähigkeit. Die freiheitsentziehenden Maßregeln bezweckten eine aus rechtsstaatlicher Perspektive fragwürdige Internierung von – im Rechtssinne – ›unschuldigen‹ Personen. In der Plenardebatte am 21. und 22. Juni 1927 zeigte sich, dass die Vertreter sämtlicher Parteien sich der besonderen Problematik der Rechtssicherheit im Zusammenhang mit der Verwahrung bewusst waren. Trotz ihrer Bedenken befürworteten alle Redner aus den bürgerlichen Parteien die Zwangsunterbringungs-Maßregeln einschließlich der zeitlich unbestimmten Sicherungsverwahrung von Gewohnheitsverbrechern. Die Akzeptanz der Sicherungsverwahrung wies freilich ein deutliches Rechts-Links-Gefälle auf. Der deutschnationale Reichsjustizminister Hergt begrüßte diese Maßregel als ein »wirksames Bekämpfungsmittel« gegen Gewohnheitsverbrecher; die Ausscheidung dieser »Schädlinge« aus der menschlichen Gesellschaft sei »sicherlich ein tiefer Eingriff in die persönliche Freiheit des einzelnen«, doch angesichts der im Entwurf vorgesehenen Kautelen mochte er »glauben, daß die Zulassung einer solchen Internierung [...] für die Reinigung des Volks198

lebens gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann und daher allgemein gebilligt werden muß«.70 Der Abgeordnete Georg Barth, ebenfalls aus den Reihen der DNVP, erachtete die vorgesehene Regelung, dass »die Gerichte in Abständen von drei Jahren über die Fortdauer einer verhängten Sicherungsverwahrung jeweils wieder zu erkennen haben«, als eine hinreichende Garantie. Er schätzte diese Kautele aber auch deshalb, weil sie den Gerichten »die erste Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung wesentlich erleichtern« werde.71 Auch der Nationalsozialist Wilhelm Frick, für den die Zeit für eine Erneuerung des Strafrechts eigentlich noch nicht reif war, begrüßte im Namen seiner Partei »die Möglichkeit der Sicherungsverwahrung von asozialen Elementen, das heißt von gefährlichen Gewohnheitsverbrechern«72 Die Parteien der bürgerlichen Mitte knüpften ihre Zustimmung zur Sicherungsverwahrung an weitergehende Vorkehrungen gegen ihre missbräuchliche Anwendung. So bezeichnete Wilhelm Kahl als DVP-Abgeordneter einerseits die Sicherung der Gesellschaft gegen kriminelle Psychopathen und Gewohnheitsverbrecher als jene »Hauptsache«, gegenüber der »all dieser organisatorische Streit, in welches Verhältnis Strafe und Sicherung zueinander zu setzen seien, [...] absolut oder jedenfalls relativ gleichgültig« sei. Andererseits galt es ihm als selbstverständlich, dass »Vorsorge dafür getroffen werden [müsse], daß die Anwendung dieser sichernden Maßnahmen in keiner Weise etwa zur Zerstörung der Rechtssicherheit des Bestraften dienen kann«.73 In diesem Sinne äußerten sich auch die Abgeordneten Hans Bell für das Zentrum74 und Ludwig Haas für die Deutsche Demokratische Partei.75 Auch der Abgeordnete 70 Ebd., S. 10939. 71 Ebd., S. 10961. 72 Ebd., S. 10992. 73 Ebd., S. 10946. 74 Ebd., S. 10970: »Der Grundgedanke auch bei diesen Sicherungsmaßnahmen ist sicherlich zutreffend. Ich glaube, eine gerechte Kritik wird das bei zutreffender Auswertung der praktischen Lebenserfahrungen zugeben müssen. Wir werden allerdings darauf Obacht geben müssen, daß die Sicherungsmaßnahmen mit den notwendigen Kautelen versehen werden, damit nicht über den Grund und Zweck der Sicherungsmaßnahmen hinaus eine Praxis sich entwickelt, die in ihrer Auslegung und in ihrer Ausdehnung bedenklich und gefährlich werden könnte.« 75 Ebd., S. 10976: »Wir stehen zunächst auf dem Standpunkt, daß der Staat und die Gesellschaft geschützt werden müssen. Dieser Gedanke steht für uns über alle Theorien hinweg im Vordergrund. Wir wollen insbesondere, daß es weiterhin nicht möglich ist, daß ein gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher frei herumläuft und unsere Jugend und andere Menschen in ihrem Leben und in ihrer Gesundheit bedrohen kann. Wenn ich aber an Gewohnheitsverbrecher auf anderen Gebieten denke, dann könnte doch die jetzige Formulierung recht leicht dazu führen, daß ein armer Teufel, der sich, nicht weil er besonders schlecht ist, sondern weil er in besonders schlechten sozialen Verhältnissen lebt, zum dritten Male vergeht, und zwar auf ganz verschiedenartigen Gebieten, trotzdem als Gewohnheitsverbrecher abgestempelt, mit schwerer Zuchthausstrafe belegt wird. Hier brauchen wir also klarere und sicherere Formulierungen, damit

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der Bayerischen Volkspartei Erich Emminger, der als Reichsjustizminister 1924 durch finanziell motivierte Einschnitte in die Gerichtsverfassung und die Strafprozessordnung den Rechtsstaat angekratzt hatte,76 äußerte nun im Hinblick auf die Sicherungsverwahrung Skrupel: »Auch ich gebe zu, es ist eine ungeheure, höchst verantwortliche Machtfülle, die hier dem Gerichte und den Richtern gegeben ist, und es ist eine Machtfülle, die zu vielen Fehlurteilen und Fehlgriffen führen kann. Aber der Grundgedanke als solcher ist zweifellos richtig.«77 Der politischen Linken bereitete die Sicherungsverwahrung weit mehr Kopfzerbrechen. Gustav Radbruch hatte diese Maßregel zwar seinerzeit in seinen eigenen Strafgesetzentwurf aufgenommen, doch innerhalb der Sozialdemokratie stand er mit dieser Position recht isoliert da. Angesichts des »scharfen Gegensatz[es], in dem sich die Sozialdemokratie zu einer Anzahl der wichtigsten Bestimmungen des Strafgesetzentwurfes befindet«, sah Radbruch sich 1927 genötigt, das Reformwerk in den »Sozialistischen Monatsheften« zu rechtfertigen: »Es ist dagegen der Sinn der gegenwärtigen Strafrechtsentwickelung, [...] das Strafrechtsverhältnis als einen durch und durch gesellschaftlichen Vorgang: als Selbstheilung des erkrankten Gesellschaftskörpers, anzusehen. Das aber ist, dem Wort wie dem Sinn nach, die ›sozialistische‹ Auffassung von Verbrechen und Strafe.«78 Ein in diesem Sinne ›sozialistisches‹ Strafverständnis teilten freilich auch die Völkischen. Dem eigentlichen Dilemma der sozialdemokratischen Strafrechtspolitik stand auch Radbruch ratlos gegenüber. So bekannte er, »daß es eine mißliche Aufgabe für Sozialisten ist, überhaupt ein Strafgesetzbuch zu schaffen, da in einer Klassengesellschaft die Vorteile des Strafrechts überwiegend auf die Seite der herrschenden Klasse, fast die ganze Last des Strafrechts aber auf die Seite der unterdrückten Klasse fällt.«79 Diese Gefahr einer einseitigen Klassenrechtsprechung war es, die den sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Otto Landsberg – gleichfalls Reichsjustizminister a.D. – zur Ablehnung der Sicherungsverwahrung bewegte: »Genau so wenig können meine Freunde sich befreunden mit der Zulassung der Sicherheitsverwahrung sogenannter Gewohnheitsverbrecher. In dieser Bestimmung kommt ein ungeheures Vertrauen zum Richterstande zum Vorschein. [...] Um mit einer solchen Vollmacht keinen Mißbrauch zu treiben, muß man ein ausgezeichneter nicht die Gefahr entsteht, daß die soziale Not übersehen wird, wenn einer wiederholt ein Delikt begeht.« 76 Vgl. Rüping, S. 89; Schmidt, Einführung, S. 418f. 77 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, III. Wahlperiode, 1924/27, S. 10988. 78 Radbruch, Sozialismus und Strafrechtsreform, S. 270f. 79 Ebd., S. 274.

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Soziologe, ein vorzüglicher Psychologe und ein hervorragender Erzieher sein. [...] Ein x-beliebiger junger Mensch, der mit Gott weiß was für Vorurteilen, die ihm seine Klassen- oder seine politische Einstellung eingegeben hat, in die Praxis hineinkommt, kann mit einer solchen Vollmacht vielleicht noch mehr Unheil anrichten als der Gewohnheitsverbrecher, der nach Verbüßung seiner Strafe wieder auf die Menschheit losgelassen wird.«80

Die SPD befürwortete die Strafrechtsreform zwar im Allgemeinen, insbesondere aber der Resozialisierungstendenzen wegen. Während im Zweckdenken der ›modernen‹ Strafrechtsschule ›Sicherung‹ und ›Besserung‹ Hand in Hand gingen, erschien die Sicherungsverwahrung den meisten Sozialisten geradezu als ein Widerspruch zum Besserungsgedanken. So argumentierte Landsberg im Reichstag, dass die Sicherungsverwahrung den Resozialisierungszweck der Strafe dementieren würde: »Wenn man neben der Strafe, die erst verbüßt und deren bessernde Wirkung ausgeprobt werden soll, von vornherein gleich die Sicherheitsverwahrung für die Zeit nach der Verbüßung der Strafe setzt, so bringt man doch dadurch eigentlich den erheblichen Zweifel an der Möglichkeit zum Ausdruck, durch die Strafe einen Menschen zu bessern.«81 Die sozialdemokratische Fraktion betrachtete die Sicherungsverwahrung als einen Fremdkörper in einem im großen und ganzen fortschrittlichen Gesetzentwurf. In dieser Hinsicht unterschied sie sich von den Kommunisten, die gleich das ganze Reformvorhaben bekämpften. Der kommunistische Abgeordnete Wilhelm Koenen drückte gleich zu Beginn seiner Rede aus, dass seine Fraktion »gegenüber diesem Gesetz die Verpflichtung [habe], den Standpunkt der Verfolgten, der Unterdrückten, der Opfer des Strafrechts zu vertreten«.82 Nur »um die Rechtsordnung der kapitalistischen Gesellschaft, um die Rechtsordnung des Ausbeuterstaats noch mehr gegen die Angriffe [...] des proletarischen Klassenkampfes zu befestigen«, hätten »die tüchtigen Juristen ein technisch verbessertes Instrument geschaffen« – »ungefähr so, als wenn bei der Reichswehr ein moderneres Maschinengewehr eingeführt worden wäre«.83 Ungeachtet der platten Klassenkampf-Rhetorik traf diese Diagnose den Kern des ›modernen‹ Strafmodells, dessen Modernität in einem »zweckbewußten Rechtsgüterschutz« (F. von Liszt) und eben nicht in einer Humanisierung des Strafens bestand. Auch im Hinblick auf den vermeintlichen Anstieg des Gewohnheitsverbrechertums, welcher in den Augen der bürgerlichen Abgeordneten die drastische Maßnahme der Sicherungsverwahrung rechtfertigte, bewies Koenen nüchterne analytische Fähigkeiten. Er erklärte den statistischen Anstieg der Rückfallkriminalität mit dem »Engerziehen der Straf80 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, III. Wahlperiode, 1924/27, S. 10955ff. 81 Ebd., S. 10956. 82 Ebd., S. 10976. 83 Ebd., S. 10977.

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rechtsmaschen« seit 1871.84 Entsprechend bitter fiel die kommunistische Kritik an der Sicherungsverwahrung von Gewohnheitsverbrechern aus: »Gerade das Gegenteil von dem geschieht, was vom sozialen Standpunkt aus logisch ist, sich aus der Not und dem Elend dieser Zeit ergibt! Statt Erleichterungen zu schaffen, werden die niederträchtigsten, infamsten Mittel, um diese Allerärmsten noch mit den schlimmsten Mitteln zu unterdrücken, in diesem Gesetzentwurf ausgeknobelt, als habe man sich zusammengesetzt, um mit allem Raffinement nur ja irgendwelchen Weg zu finden, um diejenigen, die die Opfer der Verhältnisse geworden sind, die Sie geschaffen haben, endgültig zu vernichten.«85

Koenen schloss seine Rede mit der Erklärung, dass angesichts der geringen Erfolgschancen der kommunistischen Änderungsvorschläge der »Kampf [...] nur gegen das Gesetz als solches geführt werden« könne. Das im Ausschuss zu vertretende Ziel sei, »gegenüber dem alten Strafrecht eine Reihe von Novellen zu schaffen, um die schlimmsten Giftzähne im Interesse des Proletariats auszubrechen«.86 Während im Plenum die unterschiedlichen Grundsatzpositionen der Parteien hervorgehoben wurden, herrschte im Strafrechtsausschuss, dem der Gesetzentwurf zur Beratung überwiesen wurde, eine Atmosphäre der Kooperations- und Kompromissbereitschaft. Der Ausschuss befasste sich erstmals in seiner 31. Sitzung am 23. November 1927 mit den Maßregeln der Besserung und Sicherung.87 Es zeichnete sich rasch die parteiübergreifende Tendenz ab, die Anordnung der Unterbringung dort, wo der Reichsrat eine bloße Zulässigkeitserklärung vorgesehen hatte, wieder dem Gericht zu überantworten. Ansonsten verteidigten die Bürgerblock-Parteien im Allgemeinen die Regierungsvorlage; die Sozialdemokraten suchten die Besserungsmaßregeln gegenüber dem Strafprinzip zu stärken; die kommunistischen Ausschussmitglieder zeigten sich insofern kooperationsbereit, als sie ihren aussichtslosen fundamentaloppositionellen Änderungsanträgen regelmäßig diskussionswürdige Eventualanträge anfügten. Neue Akzente erhielt die Verwahrungsdiskussion im Ausschuss dadurch, dass hier neben den Fachjuristen auch Experten aus den Bereichen der Pädagogik, der Fürsorge und der Medizin beteiligt waren. Insbesondere in den 84 Ebd., S. 10978. Diese Einschätzung entspricht durchaus den Erkenntnissen der modernen Kriminalsoziologie. Dass eine Ausweitung der ›strafrechtlichen Sozialkontrolle‹ sich in einer erhöhten Zahl statistisch erfasster Straftaten abbildet, gehört zu den Grundprämissen des ›Labeling‹-Ansatzes; vgl. Kaiser, Kriminologie, S. 274ff. Eine vom Statistischen Reichsamt erarbeitete Zusammenstellung mit dem Titel »Die Entwicklung der Kriminalität im Deutschen Reich seit 1882« war dem Strafgesetzentwurf als Anlage beigefügt worden; vgl. Drucksachen des Reichstages, III. Wahlperiode, 1924/27, Nr. 3390, Anlage II. 85 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, III. Wahlperiode, 1924/27, S. 10980. 86 Ebd., S. 10986. 87 Vgl. Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 3,1, S. 302ff.

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SPD-Anträgen spiegelte sich der therapeutisch-erzieherische Anspruch wider. So begründete der praktische Arzt Julius Moses den sozialdemokratischen Antrag, gegenüber vermindert Zurechnungsfähigen im Interesse einer unverzüglichen Heilbehandlung auf die vorhergehende Freiheitsstrafe zu verzichten, laut Protokoll damit, dass »es sich um kranke Menschen [handle], und die Hauptaufgabe sei die Heilung. Bringe man aber einen Kranken erst in die Haft, dann werde die Krankheit verschlimmert.«88 Mit der Forderung, bei vermindert Zurechnungsfähigen generell auf den Strafvollzug zu verzichten, konnten sich die Sozialdemokraten im Ausschuss allerdings nicht durchsetzen.89 Dass der therapeutische Enthusiasmus der SPD-Fraktion nicht immer unbedenklich war, zeigt die Diskussion über die Arbeitshaus-Unterbringung von Bettlern, Landstreichern und Prostituierten. Im Namen der SPD wandte sich die Volksschullehrerin Toni Pfülf gegen eine Bestrafung dieser Personen; das Arbeitshaus solle nicht – wie im Entwurf vorgesehen – auf die Strafe folgen, sondern diese ersetzen: »Ein Erfolg sei nur von einer langsamen und längeren Arbeitserziehung zu erwarten. Wenn man einen Bettler oder Landstreicher ins Gefängnis setze, werde er als Bettler oder Landstreicher wieder herauskommen. Die Strafe sei daher kein zweckmäßiges Mittel.«90 Die Verwirklichung dieses Vorschlags hätte für die Betroffenen ernste Konsequenzen gehabt. An die Stelle der – nach Tagen bemessenen – Freiheitsstrafe wäre obligatorisch die in der Regel zweijährige Arbeitshaus-Unterbringung getreten, und zwar auch dann, wenn das Gericht eine geringfügige Strafe als ausreichend erachtet hätte. Angesichts dieses SPD-Vorschlags erinnerte sogar Ministerialrat Bumke, der eigentlich als strafrechtspolitischer Hardliner bekannt war, daran, dass im Zuge der Reichsratsberatungen geltend gemacht worden sei, »daß gerade dort, wo der Asoziale noch am Anfang seiner Laufbahn stehe, eine Strafe wohlgeeignet sein könne, ihn auf den rechten Weg zurückzuführen, und daß insbesondere solchen Anfängern gegenüber die Maßnahme des Arbeitshauses eine allzu wuchtige Waffe sei«.91 So fand der SPD-Antrag, die Arbeitshaus-Unterbringung aus dem Strafrecht auszuklammern, um sie einer verwaltungsrechtlichen Regelung im geplanten ›Bewahrungsgesetz‹ zu überlassen, letztlich keine Mehrheit. Die materiellen Änderungen an der Vorlage beschränkten sich somit im Wesentlichen auf die Wiederherstellung der richterlichen Zuständigkeit für die Anordnung der Maßregeln.92 88 33. Sitzung, 25.11.1927, ebd., S. 316. 89 Vgl. ebd., S. 317. 90 34. Sitzung, 29.11.1927, ebd., S. 324. 91 Ebd. 92 Vgl. 35. Sitzung, ebd., S. 337. Das geplante ›Bewahrungsgesetz‹ – so lautete die euphemistische Bezeichnung für die Zwangsverwahrungsnorm – wurde in der Weimarer Republik nicht mehr verwirklicht. Auch das entsprechende nationalsozialistische Projekt eines ›Gemeinschafts-

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Zu einem echten Kompromiss gelangte man bei der Sicherungsverwahrung von Gewohnheitsverbrechern. Das ist umso erstaunlicher, als sich gerade in dieser Frage die bürgerlichen und die sozialistischen Parteien in der Plenardebatte in einem scharfen Gegensatz befunden hatten. Auch im Ausschuss wurden von SPD und KPD zunächst Anträge auf eine Streichung der Sicherungsverwahrung eingebracht, während die Sprecher des Zentrums, der DVP und der DNVP für die unveränderte Verabschiedung der entsprechenden Bestimmung plädierten.93 Den kommunistischen Abgeordneten ging es jedoch in erster Linie darum, die Verhängung der Sicherungsverwahrung gegen politische Straftäter auszuschließen. Der KPD-Abgeordnete Siegfried Rädel gab zu bedenken: »Der ganze Paragraph stelle eine furchtbare Gefahr für alle diejenigen dar, die in der politischen Bewegung gegen die herrschende Gesellschaftsordnung Stellung nähmen; denn sie kämen sehr oft mit den Strafgesetzen in Konflikt und würden im Sinne der herrschenden gesellschaftlichen Auffassung Verbrecher. Die Strafjustiz werde sicherlich von den Bestimmungen über die Sicherungsverwahrung Gebrauch machen, wenn es sich um die Unschädlichmachung politischer Gegner handele.«94

Für den mehr als wahrscheinlichen Fall, dass der Antrag auf Streichung des Paragraphen abgelehnt würde, beantragte Rädel die Ergänzung der Bestimmung um den Satz: »Ausgenommen sind politische Vergehen und Verbrechen.«95 Der Sozialdemokrat Landsberg ließ gleichfalls durchblicken, dass seine Partei unter Umständen der Sicherungsverwahrung zustimmen könnte, sofern die Regierung Zusagen über ihre Ausgestaltung machen würde. Wenn man die Sicherungsverwahrung zu einer »wohltätigen Einrichtung« machen wolle, könne man »nicht jedem beliebigen Richter die Kontrolle der Gewohnheitsverbrecher überlassen sowie die Entscheidung darüber, wie lange sie in der Anstalt bleiben müßten, damit der Zweck der Unterbringung erreicht werde.«96 In der Tat bot der Wortlaut des geplanten § 59 kaum rechtsstaatliche Garantien: »Wird jemand, der schon einmal zum Tode oder zu Zuchthaus verurteilt war, nach § 78 als ein für die öffentliche Sicherheit gefährlicher Gewohnheitsverbrecher zu einer Strafe verurteilt, so kann das Gericht daneben auf Sicherungsverwahrung erkennen.« Die Unterbringung sollte nach § 60 so lange dauern, »als es ihr Zweck erfordert«; sie sollte »drei Jahre nur übersteigen

fremdengesetzes‹, dessen Inkrafttreten für den 1. April 1945 geplant war, sollte nicht mehr realisiert werden. Vgl. Wollasch; Wagner, Gesetz; Ayaß, »Asoziale« im Nationalsozialismus, S. 202ff.; Werle, S. 621ff. 93 Vgl. 36. Sitzung, 1.12.1927, in: Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 3,1, S. 338ff. 94 Ebd., S. 344. 95 Ebd., S. 338. 96 Ebd., S. 346.

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[dürfen], wenn das Gericht sie vor Ablauf dieser Frist von neuem [...] anordnet.«97 Angesichts derart vager Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung legten die sozialdemokratischen Ausschussmitglieder einen Eventualantrag vor, der auf eine Beschränkung des betroffenen Personenkreises auf mindestens 30 Jahre alte, fünffach zu erheblichen Strafen verurteilte Täter zielte, welche sich bestimmter Delikte schuldig gemacht hatten.98 Nachdem die Eventualanträge von KPD und SPD eine lagerübergreifende Verständigung in den Bereich des Möglichen gerückt hatten, erklärten sich die Abgeordneten August Wegmann (Z), Johannes Wunderlich (DVP) und Hans Bell (Z) ihrerseits zu einem Entgegenkommen bereit.99 Wenige Wochen später präsentierte Wegmann den Kompromissvorschlag, den ein eigens gebildeter Unterausschuss ausgearbeitet hatte: Die Sicherungsverwahrung sollte nur dann zulässig sein, wenn der Rückfalltäter mindestens 21 Jahre alt sei und die aktuell erkannte Strafe nicht geringer ausfalle als ein Jahr Gefängnis; darüber hinaus war ein Deliktkatalog vorgesehen, der eine Reihe von Straftaten – insbesondere solche politischer Natur – enthielt, die für eine Verurteilung als ›Gewohnheitsverbrecher‹ nicht angerechnet werden dürften.100 Der Kompromissantrag wurde in dieser Form vom Strafrechtsausschuss verabschiedet.101 Auch die mit der Strafrechtsreform befassten Reichstagsausschüsse der vierten und der fünften Legislaturperiode übernahmen die im Jahr 1927 beschlossene Regelung der ›Maßregeln der Besserung und Sicherung‹ ohne wesentliche Änderungen.102 Die bürgerlichen Parteien waren dem sozialdemokratischen Wunsch nach einer gesetzlichen Beschränkung der Sicherungsverwahrung ein Stück weit entgegengekommen, und sogar der kommunistischen Forderung nach einer Ausklammerung der politischen Straftaten hatte man inhaltlich Rechnung getragen. Es fehlten jedoch noch immer rechtsstaatliche Garantien für jene Täter, die auch nach dem Ausschluss der minderjährigen und der politisch motivierten Straftäter zum Kreis der potentiellen ›gefährlichen Gewohnheitsverbrecher‹ zählten. Hinsichtlich der Sicherungsverwahrung – der schärfsten und bedenklichsten Waffe der Strafjustiz – hatten die Parteien eine seltene Bereitschaft zur demokratischen Kompromissfindung an den Tag gelegt.

97 Zitiert nach Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 1, S. 443. Der § 78, auf den der § 59 Bezug nimmt, sah eine Strafverschärfung für mehrfach vorbestrafte, »für die öffentliche Sicherheit gefährliche Gewohnheitsverbrecher« vor; vgl. ebd. S. 445. 98 Vgl. 37. Sitzung, 2.12.1927, in: Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 3,1, S. 350f. 99 Ebd., S. 351f. 100 Vgl. 44. Sitzung, 20.12.1927, ebd., S. 420f. 101 Ebd., S. 423. 102 Vgl. Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 3,2, S. 127ff. (12., 13. und 14. Sitzung, 26., 29. und 30.10.1928); ebd., Bd. 3,4, S. 92ff. (10. und 11. Sitzung, 5. und 6.2.1931).

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b) Straftatbestand oder kriminalpolitische Maßnahme: die eugenische Sterilisation Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs enthielt keinerlei Bestimmungen über die Unfruchtbarmachung von Straftätern. Wer eine eugenisch-kriminalpolitisch begründete Sterilisation durchführen wollte, wäre gar selbst mit dem Strafrecht in Konflikt geraten. Schließlich galt nach herrschender Rechtsauffassung jede nicht medizinisch indizierte Sterilisation als Körperverletzung. Zwar klammerte der Strafgesetzentwurf »Eingriffe und Behandlungen, die der Übung eines gewissenhaften Arztes entsprechen« (§ 263) aus dem Straftatbestand der Körperverletzung aus, doch das sollte – wie die Überschrift zum Ausdruck bringt – nur für eine »Heilbehandlung« gelten. Die eugenisch indizierte Unfruchtbarmachung verblieb auch de lege ferenda in einer juristischen Grauzone. Im Kontext der Strafrechtsreform-Diskussion im Reichstag brachte erstmals Erich Emminger, der ehemalige Reichsjustizminister aus den Reihen der BVP, den »neuen Gedanken der Ausscheidung der asozialen Elemente von der Fortpflanzung« zur Sprache. In der Plenardebatte am 22. Juni 1927 regte er vorsichtig an, sich mit dieser Frage auseinander zu setzen: »Die moderne erbbiologische und kriminalbiologische Forschung hat es höchst wahrscheinlich gemacht, daß es unglückliche Geschöpfe und unglückliche Familien gibt, die infolge erbbiologischer krankhafter Veranlagung geradezu Verbrecherfamilien darstellen, so daß es unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Allgemeinheit notwendig sein kann, hier mit ungeheuer schweren und schwerwiegenden Maßnahmen einzugreifen. Ich möchte diese Frage hier nicht vertiefen. Sie ist keineswegs spruchreif. Unsere erbbiologische Forschung hat noch nicht jenen Grad der Sicherheit erreicht, daß man heute schon aus ihren Erkenntnissen Konsequenzen ziehen dürfte. Jedenfalls kann an diese Frage nur mit äußerster Vorsicht herangegangen werden. Aber wenn man weiß, daß ein sehr erheblicher Prozentsatz aller schwereren Delikte auf die Gewohnheitsverbrecher, auf die Angehörigen von Verbrecherfamilien zurückzuführen ist, so kann man diese Frage natürlich nicht ohne weiteres mit einer Handbewegung erledigen.«103

Es verwundert kaum, dass der nationalsozialistische Rechtspolitiker Wilhelm Frick die von Emminger gestreifte »Frage der Sterilisation« aufgriff und seinerseits »die Verhinderung der Fortpflanzung von Gewohnheitsverbrechern« sowie weitere strafrechtliche »Bestimmungen für Rasseschutz und Rassereinheit« forderte.104 Im Strafrechtsausschuss des Reichstags wurde das Thema Sterilisation erst am 30. Oktober 1928 angesprochen – mehr als ein Jahr nach den Ausführun103 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, III. Wahlperiode, 1924/27, S. 10988. 104 Ebd., S. 10994.

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gen Emmingers vor dem Plenum. Noch bevor mit den Beratungen über die Strafbarkeit der Unfruchtbarmachung im Zusammenhang mit dem Tatbestand der Körperverletzung begonnen wurde, gelangte die eugenische Sterilisation an unerwarteter Stelle auf die Tagesordnung. Ein von den Abgeordneten Zapf (DVP), Emminger (BVP), Lobe (Volksrechtspartei) und Wunderlich (DVP) unterstützter Antrag platzte in die Diskussion über die Sicherungsverwahrung. Der § 62, der die Entlassung aus der Verwahrung regelte, sollte demnach ergänzt werden um den Satz: »Die Zustimmung des Gerichts kann insbesondere dann erteilt werden, wenn der Untergebrachte sich der Sterilisation unterzogen hat.«105 Dieser Vorschlag fiel völlig aus dem Diskussionszusammenhang; schließlich ging es bei den mit einer Zwangsunterbringung verbundenen Maßregeln der Besserung und Sicherung um die Verhinderung weiterer Straftaten eines konkreten Täters. Zweifellos war die Sterilisation kein geeignetes Mittel, um einen Verbrecher im kriminalpolitischen Sinne ›unschädlich‹ zu machen. Die Verhinderung der Vererbung vermeintlicher ›kriminogener‹ Erbanlagen an künftige Generationen widersprach zudem dem für die Sicherungsmaßregeln grundlegenden Gedanken der Individualprävention. Vordergründig verwundert auch die – zumindest hinsichtlich kultureller und (sexual-)moralischer Belange – seltene Allianz von katholisch-konservativen und protestantisch-liberalen Unterstützern des Antrags. Freilich gab es ein gemeinsames Merkmal, das alle vier Antragsteller verband: Sie hatten im Dienste einer Landesjustizbehörde gestanden, welche die kriminalbiologische Forschung aktiv förderte. Oberlandesgerichtsrat Erich Emminger und der Geheime Justizrat Albert Zapf waren Justizpraktiker aus Bayern, dessen Justizministerium auf Betreiben Theodor Viernsteins einen institutionell mit den Strafvollzugsanstalten verzahnten Kriminalbiologischen Dienst eingerichtet hatte; der Landgerichtsrat und spätere Senatspräsident am Reichsgericht Adolf Lobe und der Landgerichtsdirektor Johannes Wunderlich wirkten in Sachsen, dessen Justizministerium die kriminalbiologische Datensammlung des Dresdener Eugenikers Rainer Fetscher förderte.106 Albert Zapf begründete seinen Antrag mit einem hohen Aufwand an Defensivrhetorik. Er verwies auf die gegenwärtige Notlage und sprach von der »ungeheuren sozialen Aufgabe, die in Deutschland noch zu lösen sei, wenn eine wirkliche Besserung der Verhältnisse erzielt werden solle.« Es »dränge sich das Problem der Eugenik, d.h. das Problem auf, Wege zu suchen, die Vererbung von asozialen und krankhaften Veranlagungen nach Möglichkeit einzuschränken.« Möglichen Bedenken aus dem katholisch-konfessionellen und 105 14. Sitzung, 30.10.1928, in: Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 3,2, S. 151ff., hier S. 159. 106 Biographische Angaben nach Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 3,1, S. XXXIIff. und Schumacher; zur kriminalbiologischen Forschung siehe unten, Abschnitt B, III.

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dem sozialistischen Lager suchte er mit einem Hinweis auf pro-eugenische Publikationen »der Sozialistin Oda Odberg« [richtig: Olberg; d. Vf.] und »des katholischen Geistlichen Dr. Joseph Mayer« entgegenzutreten. Auch verwies er auf ausländische Sterilisationsgesetze und versicherte abschließend, der Antrag »sei so vorsichtig wie möglich formuliert«.107 Als zweiter Unterstützer des Antrags trat Erich Emminger auf den Plan, der als Abgeordneter der katholischen BVP mit Anfeindungen seitens überzeugter Sterilisationsgegner aus dem eigenen Milieu rechnen musste. Emminger erinnerte an seine Reichstagsrede, in der er für eine äußerst vorsichtige Annäherung des Strafrechts an die Eugenik und Kriminalbiologie plädiert hatte, und beteuerte daraufhin, dass er »noch heute auf diesem Standpunkt« stehe, aber »für einen kleinen Kreis von Kriminellen könne man den Versuch wagen.« Mit Blick auf die Hüter der katholischen Sexualmoral gab er zu Protokoll, »daß aus dem Antrag keinerlei Schlüsse auf eine Erlaubnis zur freiwilligen Sterilisierung hergeleitet werden könnten, die übrigens in der heutigen Zeit leider bei Frauen viel häufiger vorkomme, als die Öffentlichkeit glaube, und die durch den Antrag weder eine Legitimation noch eine Ermunterung bekommen solle.«108 Es lässt sich rückblickend schwerlich klären, ob Emminger die Sicherungsverwahrten als Probanden für eine künftig umfassendere eugenische Politik nutzen oder ob er mit dem recht punktuellen Antrag einer allgemeinen Zulassung der Sterilisation im Rahmen des Körperverletzungs-Paragraphen zuvorkommen wollte. Die nicht wörtlich protokollierte abschließende Äußerung Emmingers lässt beide Lesarten zu: »Redner tritt dafür ein, den für die ganze Menschheit so folgenschweren, aber auch so heilsamen Gedanken in der beantragten Form für das engbegrenzte Gebiet der Maßregeln der Sicherung gesetzlich anzuerkennen.«109 Wäre Erich Emminger ein strikter Gegner der Eugenik gewesen, hätte er dieses Thema allerdings kaum als erster Redner und Antragsteller zur Sprache gebracht. Eine ähnlich ambivalente Haltung zur Frage der Sterilisation von Gewohnheitsverbrechern nahm der sozialdemokratische Abgeordnete Julius Moses ein. Er pflichtete dem Einwand des Reichsjustizministers Erich Koch-Weser bei, »daß die ganze Frage der Sterilisation eigentlich nicht an dieser Stelle gesetzlich zu behandeln sei«, da ein sterilisierter Verbrecher »trotzdem asozial« bleibe.110 Umso bemerkenswerter ist es, dass Moses für seine Fraktion erklärte, sie trete »aber trotzdem« für den Antrag ein, und zwar: 107 14. Sitzung, 30.10.1928, in: Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 3,2, S. 151ff., hier S. 159f. 108 Ebd., S. 161. 109 Ebd. 110 Ebd., S. 162. Reichsjustizminister Koch-Weser (DDP) hatte zuvor gegenüber dem Strafrechtsausschuss erklärt, »es sei dankenswert, daß das Problem der Sterilisation bei der Beratung des Strafgesetzbuchs hier zur Erörterung komme. [...] Aber an dieser Stelle des Entwurfs

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»um auch nach außen hin zu erkennen zu geben, daß man den Bestrebungen, die in der Wissenschaft heute mehr und mehr in den Vordergrund treten, eine Berechtigung einräumen und auf diesem wissenschaftlich noch sehr unklaren Gebiet vorwärts gehen müsse. [...] Von einer großen Anzahl von Ärzten und bedeutenden Forschern werde es als ein Fortschritt angesehen, wenn auf diesem Gebiete ein Anfang gemacht werde.«111

Während der konservative Rechtspolitiker Emminger verhalten zu erkennen gab, dass er einen kleinen Kreis von Gewohnheitsverbrechern für einen Probelauf der Rassenhygiene verwenden wollte, zeigte sich in den Äußerungen des sozialdemokratischen Mediziners Moses ein weithin ungebrochener Fortschrittsoptimismus, gepaart mit sozialtechnischer Experimentierfreude. Die SPD-Ausschussmitglieder schlossen sich dem liberal-konservativen ›Antrag Zapf‹ an, um ein Bekenntnis zur modernen Wissenschaft abzulegen. Doch diese szientistische Grundhaltung ist nicht zu verwechseln mit einer uneingeschränkten Unterstützung der eugenischen Bestrebungen oder gar mit einer biologistischen Weltanschauung.112 Moses selbst hob hervor, »daß die Vertreter der Eugenik heute hauptsächlich Männer seien, die im politischen Leben durchaus reaktionär eingestellt seien. Das müsse natürlich in bezug auf die ganze Propaganda der Eugenik stutzig machen. Man habe die Erfahrung gemacht, daß Eugeniker die Sterilisation benutzen wollen, um in gewissem Sinne eine biologische Abbiegung der ganzen sozialen Verhältnisse erreichen zu können.«113 Für die SPD war die Eugenik keine Weltanschauungsfrage, sondern eine sozialmedizinische Sachfrage, die von Experten zu diskutieren sei. Selbst der prominenteste Vertreter einer »sozialistischen Eugenik« (M. Schwartz) – der am rechten Rand der SPD angesiedelte Alfred Grotjahn – hatte seine eugenischen Vorschläge zunächst im Kontext eines allgemeinen Handbuchs der Sozialmedizin unterbreitet.114 Insofern war es kein Zufall, dass die SPD-Fraktion als Bedingung für die Entlassung aus der Sicherungsverwahrung sei die Sterilisation verfehlt. In der Sicherungsverwahrung sei jeder zu behalten, solange er eine Gefahr für die menschliche Gesellschaft sei. Durch die Sterilisation werde aber die Gefahr eines Verbrechens, auch eines Sittlichkeitsverbrechens nicht beseitigt.« (ebd., S. 160). Auch Oberregierungsrat Hesse vom Reichsgesundheitsamt hatte als Regierungsvertreter erklärt, dass wegen der fehlenden Heilwirkung »die Sterilisation nicht als ein Ersatz für eine Sicherungsverwahrung angesehen werden könne«. (ebd., S. 162). 111 Ebd., S. 162. 112 Vgl. dagegen Schwartz, Sozialistische Eugenik, S. 293ff.; Schwartz charakterisiert die SPD-Mitglieder des Strafrechtsausschusses als grundsätzliche Eugenik-Befürworter, die auf eine Abwehrfront katholischer Sterilisationsgegner stießen. Diese Schilderung fand auch Eingang in die kirchenoffiziöse Darstellung Richter, S. 230ff. 113 14. Sitzung, 30.10.1928, in: Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 3,2, S. 151ff., hier S. 162. 114 Vgl. Grotjahn, Soziale Pathologie; speziell zur Eugenik: ders, Die Hygiene der menschlichen Fortpflanzung; Zum wissenschaftlichen und politischen Wirken Grotjahns siehe auch: Kaspari; Tutzke; Schwartz, Kriminalbiologie, S. 44ff.; ders., Sozialistische Eugenik, S. 70ff.

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einen Arzt zu dieser Frage Stellung nehmen ließ. Auch der Reichstagsabgeordnete Julius Moses erachtete die Eugenik nicht als eine politische Heilslehre, sondern als einen jungen Wissenschaftszweig, dessen Entwicklungsrichtung und gesellschaftliche Relevanz noch nicht eindeutig abzuschätzen sei. Letztendlich lief Moses‹ Diskussionsbeitrag auf das gleiche Ziel hinaus, das auch Emminger ins Auge gefasst hatte: Um gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse auf dem neuen Terrain der Eugenik zu erlangen, sollte die Sterilisation zunächst an einer kleinen Versuchsgruppe erprobt werden.115 Als die Beratungen am folgenden Tag fortgesetzt wurden, nahm die Diskussion einen unerwarteten Verlauf. Zunächst riet Ministerialdirektor Bumke als Vertreter des Reichsjustizministeriums dringend, den Sterilisations-Antrag abzulehnen; abgesehen von Bedenken juristisch-technischer Natur wies er darauf hin, dass von einer freiwilligen Sterilisation in diesem Zusammenhang nicht gesprochen werden könne: »Wenn z.B. jemand, der unter dem Druck der Sicherungsverwahrung stehe, gesagt werde, er könne freikommen, wenn er sich der Sterilisation unterwerfe, so sei das ein offensichtlicher Druck«.116 Gleich anschließend erklärte Helene Weber ebenso knapp wie entschieden, dass die Zentrumspartei den Antrag aus grundsätzlichen Erwägungen heraus ablehne: »Der Einzelmensch habe nicht nur aus Gründen der Sitte, sondern auch aus Gründen der Sittlichkeit nicht das Recht, eine Sterilisation an sich vornehmen zu lassen. Zu diesem sittlichen Grunde komme der medizinische Gesichtspunkt. Tatsächlich seien die Fragen der Erbbiologie wissenschaftlich noch so wenig geklärt, daß man einen solchen Antrag nicht unterstützen könne.«117 Weiterhin machte sie »grundsätzliche Erwägungen vom Standpunkt des Staates« geltend: »Der Staat habe zwar in gewissem Umfange das Recht, in das Leben des einzelnen einzugreifen; aber in diesem Falle sei ihm dieses Recht nicht ohne weiteres zuzusprechen. [...] Man dürfe auch nicht übersehen, daß der Staat eine solche Bestimmung parteipolitisch oder rassenpolitisch, ja sogar klassenpolitisch ausnutzen könne.«118 Diese Skrupel sind bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass Helene Weber eine Fürsprecherin jenes Zwangsverwahrungsgesetzes war, das den ›geistig Minderwertigen‹ neben der Möglichkeit zur Fortpflanzung auch noch jedwede persönliche Freiheit genommen hätte.119 Die Ablehnung der Sterilisati115 14. Sitzung, 30.10.1928, in: Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 3,2, S. 151ff., hier S.162: »Redner [Julius Moses; d. Vf.] bittet um Zustimmung zu dem Antrag Nr. 60, weil es sich einerseits um eine Förderung der Wissenschaft handele und weil andererseits vorläufig nur wenige Fälle für den Eingriff in Frage kommen werden. Mit dem Antrage solle der Anfang auf dem Gebiete gemacht werden, der je nach den Erfahrungen mit der Sterilisierung weiter ausgebaut werden könne.« 116 15. Sitzung, 31.10.1928, ebd., S. 163ff., hier S. 164. 117 Ebd. 118 Ebd. 119 Helene Weber zählte u.a. zu den Unterzeichnerinnen eines Antrags »zur baldigen Vor-

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on bei gleichzeitiger Befürwortung der Zwangsasylierung von verwahrlosten oder geistig beeinträchtigten Menschen war freilich charakteristisch für die ambivalente Haltung des politischen Katholizismus in der Eugenikfrage; schließlich verbot die katholische Sexualmoral ›künstliche‹ Maßnahmen zur Geburtenkontrolle, während die Unterbringung von Behinderten in kirchlichen Anstalten unter dem Gebot sexueller Enthaltsamkeit eine lange Tradition hatte. Doch trotz der Unstimmigkeit der von Helene Weber vorgebrachten Argumente, wog die religiös motivierte Fundamentalopposition gegen die Sterilisation schwer, zumal der Zentrumspartei eine wichtige Scharnierfunktion innerhalb der Großen Koalition zukam. Nach diesen Vorlagen konnte der kommunistische Abgeordnete Eduard Alexander seine Argumente gegen die Sterilisation von Gewohnheitsverbrechern süffisant ausspielen. Die ansonsten politisch völlig isolierte KPD machte sich zum Teil die »von Regierungsseite gegen den Antrag Nr. 60 vorgebrachten« Gründe zu Eigen. Speziell gegen die ideologisch unzuverlässige SPD wandte sich Alexanders Biologismus-Vorwurf: »Wer die Sterilisierung als kriminalpolitische Maßnahme einführen wolle, leugne in der Konsequenz die soziale Bedingtheit des Verbrechens und die Pflicht des Staates, durch sozialpolitische Maßnahmen einzugreifen. Redner weist insbesondere die Sozialdemokraten darauf hin, daß sie dadurch, daß sie der biologischen Auffassung von der Ursache des Verbrechens Konzessionen machten, gewissermaßen behaupteten, daß die sozialen Verhältnisse nicht geändert werden könnten.«120

Wie üblich unterbreiteten die KPD-Ausschussmitglieder ungeachtet ihrer grundsätzlichen Oppositionshaltung einen Eventualantrag zur ›Entschärfung‹ der Strafrechtsklauseln; in diesem Fall zielte der Antrag auf die Garantie einer juristischen und medizinischen Beratung des Gefangenen vor seiner Zustimmung zur Sterilisation.121 Der BVP-Abgeordnete Emminger, der sich zuvor von kommunistischer Seite den Vorwurf hatte anhören müssen, er huldige mit seiner »Erbmassenvorstellung« einem »platten und beschränkten Materialismus«,122 zog nun überraschend seine Unterschrift unter den Zapf-Antrag zurück. Den buchstäblich über Nacht erfolgten Sinneswandel versuchte er mit dem »privat von medizinischer Seite« erhaltenen Hinweis zu erklären, dass die Sterilisation

lage des Entwurfs eines Verwahrungsgesetzes«, den die Zentrumsabgeordnete Agnes Neuhaus am 6. Juni 1924 an den Reichstag gerichtet hatte; vgl. Richter, S. 184. 120 15. Sitzung, 31.10.1928, in: Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 3,2, S. 163ff., hier S. 165. 121 Vgl. Antrag Nr. 75, ebd., S. 163. Die liberalen und sozialdemokratischen Sterilisationsbefürworter konterten daraufhin mit einem Zusatzantrag, der die Sterilisationsbeschlüsse an »Gutachten von fachärztlichen Sachverständigen« binden sollte; vgl. Antrag Nr. 78, ebd., S. 165. 122 Ebd., S. 165.

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durch einen operativen Eingriff wieder rückgängig zu machen sei.123 Freilich wollte Emminger sich auch nicht gegen das Reichsjustizministerium stellen, das er selbst einst geleitet hatte, und dessen sachliche Kritik doch recht plausibel anmutete. Der massive Druck kirchlicher Lobbyisten dürfte ebenfalls dazu beigetragen haben, dass »Emminger in kürzester Zeit zum Sterilisierungsgegner mutierte«.124 Nachdem auch noch der linksliberale Abgeordnete Adolf Lobe von seiner ursprünglichen Unterstützung des Antrags Abstand genommen hatte,125 verblieb lediglich eine Minderheit aus sozialdemokratischen und rechtsliberalen Ausschussmitgliedern, die für eine Regelung der Unfruchtbarmachung im Zusammenhang mit der Sicherungsverwahrung eintrat. In dieser aussichtslosen Situation griffen die Sozialdemokraten einen früheren Vorschlag des Deutschnationalen Alfred Hanemann auf, indem sie die Einsetzung eines Unterausschusses beantragten. Dieser Antrag fand noch eine Stimmenmehrheit, so dass die Frage der Sterilisierung von Gewohnheitsverbrechern der Geschäftsordnung entsprechend »vorläufig erledigt« war.126 Zu einer Beratung der Frage im Unterausschuss kam es jedoch nicht mehr.127 Erst nach dem Bruch der Großen Koalition wurde die Diskussionen durch den neuen Strafrechtsausschuss des im September 1930 gewählten fünften Reichstags wieder aufgenommen. Die sozialdemokratischen Ausschussmitglieder knüpften an den Diskussionsstand von 1928 an, indem sie beantragten, die ›Unfruchtbarmachung‹ in den Katalog der ›Maßregeln der Besserung und Sicherung‹ aufzunehmen und den folgenden § 64a in das Strafgesetzbuch einzufügen: »Ein für die öffentliche Sicherheit gefährlicher Gewohnheitsverbrecher (§ 78) kann mit seiner Zustimmung unfruchtbar gemacht werden, wenn nach fachärztlichem Gutachten zu befürchten ist, daß seine schlechten Erbanlagen bei der Nachkommenschaft wieder auftreten werden.«128 Dieser Antrag hatte mit dem liberal-konservativen ›Antrag Zapf‹ von 1928 gemein, dass die Frage der eugenischen Sterilisation mit den kriminalpolitischen Maßregeln verknüpft und somit implizit auf einen Kreis bestimmter Straftäter beschränkt wurde. Allerdings wurde der Aspekt der Freiwilligkeit insofern gestärkt, als nunmehr der Zusammenhang zwischen der Einwilligung in die Operation und der Entlassung aus der Sicherungsverwahrung formell aufgehoben war. Auch bezog sich die Maßregel der freiwilligen Unfruchtbarmachung nach dem SPD-Antrag ausschließlich auf die als ›gefähr123 Ebd., S. 166f. 124 Vgl. Richter, S. 236ff.; Zitat S. 238. 125 Vgl. 15. Sitzung, 31.10.1928, in: Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 3,2, S. 163ff., hier S. 167. 126 Ebd., S. 168. 127 Vgl. 11. Sitzung, 6.2.1931, in: Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 3,4, S. 102ff., hier S. 110 (Erläuterung und Stellungnahme von Ministerialrat Schäfer). 128 Antrag Nr. 59, 11. Sitzung, 6.2.1931, ebd., S. 107.

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liche Gewohnheitsverbrecher‹ verurteilten Täter und nicht mehr auf die Insassen von Arbeitshäusern, Heil- und Pflegeanstalten oder Trinkerheilanstalten. Mit dieser Entschärfung des Sterilisationsparagraphen hatten die Sozialdemokraten der Kritik am ›Antrag-Zapf‹ im Wesentlichen Rechnung getragen. Insofern bedeutete die Tatsache, dass die SPD nun selbst die Initiative ergriff, anstatt sich wie 1928 einem bürgerlichen Sterilisationspostulat anzuschließen, keineswegs eine Radikalisierung der sozialistischen Eugenik-Politik.129 Der Reichstagsneuling und nachmalige bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner, der den SPD-Antrag begründete, hatte die alten AusschussProtokolle gründlich gelesen. Ausdrücklich bezog er sich auf den 1928 »mit Recht« geäußerten Einwand, »die Freiwilligkeit der Zustimmung zur Unfruchtbarmachung sei nicht mehr gewährleistet, wenn man die Entlassung davon abhängig mache«.130 Zur Rechtfertigung des erneuten, jedoch gemäßigteren Sterilisations-Vorstoßes verwies Hoegner auf den »Notstand der Gesellschaft« und auf die neuen kriminalbiologischen Forschungsergebnisse, insbesondere auf die Untersuchungen Rainer Fetschers in Dresden. Ähnlich wie sein Parteifreund Moses im Jahr 1928 verstand auch er die eugenische Kriminalpolitik als ein Experiment im Dienste des wissenschaftlichen und sozialen Fortschritts: »Es handle sich bei der Unfruchtbarmachung um einen neuen Weg, der die Bekämpfung des Gewohnheitsverbrechertums erleichtere. Jedenfalls sei die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß dieser Weg zu einem gewissen Erfolg für die Gesellschaft führe. Deshalb dürfe man die Tür, die hier aufgetan sei, nicht wieder ins Schloß fallen lassen.«131 Die SPD-Fraktion war – ungeachtet der Detailkorrekturen – ihrer mittleren Linie in der Sterilisationspolitik treu geblieben. Diese sozialdemokratische Position umfasste einerseits die Befürwortung der einvernehmlichen Unfruchtbarmachung, andererseits die strikte Ablehnung von Zwangsoperationen. Die Aufgeschlossenheit gegenüber der freiwilligen Unfruchtbarmachung wurde nicht zuletzt aus dem feministischen Diskurs über die selbstbestimmte Geburtenkontrolle und die Legalisierung der sozial indizierten Abtreibung gespeist.132 Gerade weil die Sterilisation nach sozialistischen Wertmaßstäben ein emanzipatorisches Potential barg, war sie für SPD in Gestalt einer Zwangsmaßnahme inakzeptabel. So mahnte die sozialdemokratische Abgeordnete Marie Kunert: 129 Vgl. dagegen Schwartz, Kriminalbiologie, S. 61. 130 11. Sitzung, 6.2.1931, in: Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 3,4, S. 102ff., hier S. 107. 131 Ebd., S. 108. 132 Der sozialdemokratische Abgeordnete Julius Moses bestritt in den Ausschussberatungen über die eugenische Sterilisation gar die Möglichkeit einer klaren »Scheidung zwischen medizinischer, eugenischer und sozialer Indikation«; vgl. 12. Sitzung, 11.2.1931, ebd., S. 114ff., hier S. 115.

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»Bei jeder Form der Unfruchtbarmachung sei die größte Vorsicht geboten. Ein Zwang zur Sterilisierung könne unter Umständen zu einer Lex Hitler werden, die sich auf angebliche Forschungsergebnisse des Rassenforschers Dr. Günther-Jena stütze. Die Nationalsozialisten hätten wiederholt ausgesprochen, die Juden seien in ihren Augen minderwertig, und Hitler selbst solle gesagt haben, ihre Unfruchtbarmachung sei wünschenswert. Unter allen Umständen müsse man eine Zwangssterilisation für Verbrecher mit erblichen Defekten ablehnen. Möglich sei dagegen eine auf absoluter Freiwilligkeit sich gründende Sterilisierung; diese und nur diese fordere der sozialdemokratische Antrag.«133

Die sozialdemokratische Eugenik-Politik stieß an zwei Fronten auf Widerstand. Während 1928 noch in allen politischen Lagern eine vorsichtige und häufig unausgegorene Haltung zur Sterilisation dominierte, hatte der Meinungsbildungsprozess inzwischen zu einer Polarisierung geführt, so dass die SPD sich mit ihrer Initiative gleichsam zwischen den Stühlen wiederfand. Nach dem päpstlichen Machtwort der Enzyklika »Casti connubii« vom Dezember 1930134 hatte sich die ursprüngliche Skepsis innerhalb des katholischen Milieus zu einer prinzipiellen Ablehnung der Sterilisation verdichtet; auf der anderen Seite hielten viele der Befürworter von rassenhygienischen Maßnahmen nun angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise aus Gründen der Staatsräson sogar die Zwangssterilisation für geboten. Dass der NS-Rechtsexperte Hans Frank für die »Zwangssterilisation im Interesse einer Steigerung der Volkskraft und Rasse« plädierte und den gemäßigten SPD-Antrag als eine »Etappe« auf dem Weg zu einer radikaleren Rassenhygiene unterstützte,135 fiel politisch kaum ins Gewicht – auch wenn es der Vorrednerin, die den SPD-Antrag als Damm gegen eine »Lex Hitler« gepriesen hatte, peinlich gewesen sein mag. Bemerkenswert ist jedoch die pro-eugenische Wende des Reichsjustizministeriums, das 1928 noch die sterilisationspolitischen Initiativen ausgebremst hatte. Ministerialrat Schäfer dankte den sozialdemokratischen Ausschussmitgliedern »für die Stellung eines maßvollen Antrags, mit dem sie die Sache zur Sprache gebracht hätten«.136 Zwar wiederholte er den formaljuristischen Einwand, dass eine freiwillige Unfruchtbarmachung nicht als kriminalpolitische Sicherungsmaßregel, sondern als eine Form der straflosen Körperverletzung im Sinne des § 264 eingeführt werden sollte.137 Doch dieser Einwand des Vertreters des Reichsjustizministeriums zielte letztlich auf eine weit umfassendere Legalisierung der Unfruchtbarmachung, als es der SPD-Antrag vorsah.138 Mit § 264 des Strafgesetzentwurfs sollte aktu133 134 135 136 137 138

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11. Sitzung, 6.2.1931, ebd., S. 112. Siehe hierzu Richter, S. 257ff. 11. Sitzung, 6.2.1931, in: Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 3,4, S. 112. Ebd., S. 108. Ebd. Schäfer sah bei dem SPD-Antrag die Gefahr, »daß aus der Erwähnung im § 64a per

ell die eugenische wie auch die soziale Indikation anerkannt und langfristig eine Perspektive für die Einführung der Zwangssterilisation eröffnet werden: »Wenn die bisher bestehenden rechtlichen Hemmnisse gegen die Zulässigkeit einer mit Einwilligung des Behandelten oder seines gesetzlichen Vertreters aus eugenischen oder sozialen Gründen gebotenen Sterilisation durch Aufrechterhaltung des § 264 im Strafgesetzbuch aus dem Wege geräumt werden, ist alles getan, was nach unserer Auffassung im Augenblick möglich erscheint, um einer in vernünftigen Grenzen anzuwendenden Sterilisation minderwertiger Personen, von denen nur ebenso minderwertige Nachkommenschaft erwartet werden darf, die Wege zu ebnen. Werden auf diesem Wege umfangreichere Erfahrungen gesammelt, so mag es Aufgabe einer späteren Zukunft sein, die Sterilisation zwangsweise einzuführen.«139

Die nicht mehr nur von den Nationalsozialisten geforderte, sondern nun auch von Regierungsseite langfristig in Aussicht gestellte Zwangssterilisation verhärtete freilich die Abwehrfront der Eugenik- bzw. Sterilisationsgegner. Die KPD, die »grundsätzliche Bedenken gegen die Unfruchtbarmachung im Gegenwartsstaat« hegte,140 verweigerte dem SPD-Antrag ihre Zustimmung. Helene Weber lehnte »namens der Zentrumsfraktion« den Antrag ebenfalls ab. Sie sah durch die vorausgegangene Diskussion ihre Befürchtung bestätigt, »daß die freiwillige Unfruchtbarmachung nur eine Etappe zu einer späteren Zwangsmaßnahme darstelle«; und es »sei klar, daß ein solcher Zwang auch für machtpolitische Zwecke ausgenutzt werden könne«. Ferner wandte sie sich »gegen die Auffassung, als ob die wissenschaftlichen Fragen der Unfruchtbarmachung sämtlich geklärt wären«; denn »neuerdings sei man in Deutschland in Dingen der Wissenschaft nicht so sorgfältig, wie es erforderlich wäre«.141 Auch Erich Emminger von der BVP drückte erneut seine Zweifel an der wissenschaftlichen Begründung der Sterilisation aus: Er »unterschätze den Wert erbbiologischer Forschung gewiß nicht, [...] habe aber den Eindruck, als ob sich durch die Erörterungen 1928 im Ausschuß plötzlich auch die Mode dieses Themas bemächtigt habe. Das sei unwissenschaftlich. Die erbbiologischen Forschungen, soweit sie sich auf den Menschen beziehen, stünden erst am Anfange und brauchten Generationen, bis sie zu einigermaßen gesicherten Ergebnissen kommen«.142 Auch wenn das Argument der mangelnden Wissenschaftlichkeit hier möglicherweise als eine Rationalisierung eigentlich religiöser Bedenken zu werten ist, hatten die Vertreter des politischen Katholizismus ein deutliches Zeichen gegen eine unreflektiert szientistische Bevölkerungs-

argumentum e contrario geschlossen werde, daß in allen anderen Fällen eine Sterilisation strafbar sei«; 12. Sitzung, 11.2.1931, ebd., S. 114. 139 11. Sitzung, 6.2.1931, ebd., S. 110. 140 So der Abgeordnete Fritz Löwenthal, 11. Sitzung, 6.2.1931, ebd., S. 112. 141 Ebd. 142 Ebd., S. 112f.

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politik gesetzt. Erich Emminger verlieh seinen Mahnungen noch zusätzlich Nachdruck, indem er drohte, die Sterilisationsfrage zum Prüfstein »für die fernere Einstellung der Bayerischen Volkspartei zur Strafrechtsreform« zu machen.143 Trotz der genannten Differenzen gelangte der Strafrechtsausschuss bei der geschäftsmäßigen Behandlung des SPD-Antrags rasch zu einer Einigung. Sterilisationsgegner und Befürworter verständigten sich darauf, die Frage der freiwilligen Unfruchtbarmachung nicht im Zusammenhang mit den Maßregeln der Besserung und Sicherung zu entscheiden, sondern sie bis zur Beratung des § 264 zurückzustellen.144 Die Abgeordneten Alfred Hanemann (DNVP) und Wilhem Kahl (DVP) hatten sich von den Ausführungen des Ministerialrats Schäfer überzeugen lassen;145 die katholisch-konservativen Ausschussmitglieder August Wegmann (Z) und Erich Emminger (BVP) begrüßten diese Vorgehensweise im Zuge ihrer dilatorischen Verhandlungstaktik;146 und den Sozialdemokraten war es letztlich »gleichgültig, wo man die Bestimmung über die Unfruchtbarmachung unterbringe«.147 Der besagte § 264 stand erst am 28. Januar 1932 zur Beratung an. Dieser Paragraph behandelte nicht explizit die Unfruchtbarmachung, sondern allgemein die »Einwilligung des Verletzten« in eine Körperverletzung. Der Wortlaut der von Wilhelm Kahl als Antrag eingebrachten Vorlage war identisch mit dem ursprünglichen Entwurf von 1927: »Wer eine Körperverletzung mit Einwilligung des Verletzten vornimmt, wird nur bestraft, wenn die Tat trotzdem gegen die guten Sitten verstößt.«148 Die Bedeutung der SittenwidrigkeitsKlausel im Hinblick auf die Sterilisation erläuterte der ehemalige Oberreichsanwalt Ebermayer vor dem Strafrechtsausschuss anhand plastischer Beispiele: »Wenn z.B. eine Proletarierfrau, die schon 7 oder 8 Kinder habe und sie kaum ernähren könne, zum Arzt gehe und um Sterilisierung bitte und der Arzt ihrem Verlangen nachkomme, so verstoße das nicht gegen die guten Sitten. Wenn aber eine junge kräftige Frau die Sterilisierung vom Arzt verlange, bloß um durch Geburten ihre Schönheit nicht zu beeinträchtigen oder aus Furcht vor den Schmerzen einer Entbindung, so verstoße das gegen die guten Sitten. Bekanntlich stünden in gewissen Kreisen Sterilisierte ziemlich hoch im Kurse, weil sie bei gleichem Vergnügen ungefährlich seien. Wer etwa zu solchem Zwecke die Sterilisierung verlange, würde zweifellos damit gegen die guten Sitten verstoßen, und eine solche Sterilisierung dürfte auf keinen Fall straffrei bleiben.«149 143 Ebd., S. 113. 144 Vgl. 12. Sitzung, 11.2.1931, ebd., S. 116. 145 Vgl. 11. Sitzung, 6.2.1931, ebd., S. 111; 12. Sitzung, 11.2.1931, ebd., S. 115. 146 12. Sitzung, 11.2.1931, ebd., S. 115f. 147 So Wilhelm Hoegner, 11. Sitzung, 6.2.1931, ebd., S. 111; sinngemäß auch Kurt Rosenfeld, ebd. 148 Drucksachen des Reichstages, V. Wahlperiode, 1930, Nr. 395, S. 26. 149 28. Sitzung, 28.1.1932, in: Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 3,4, S. 244ff., hier S. 245.

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Der § 264 bedeutete demnach keine Pauschalerlaubnis zur freiwilligen Unfruchtbarmachung. Eine klare Grenzziehung zwischen Sittenwidrigkeit und legitimen Sterilisationsbegehren fehlte jedoch. Gerade die Stellung der eugenisch indizierten Sterilisation blieb dabei im Ungewissen. »Wie es mit der eugenischen Indikation zu halten sei«, mochte selbst Oberreichsanwalt i.R. Ebermayer »nicht entscheiden«.150 Hermann Fischer – ein Abgeordneter der Staatspartei – eröffnete die Ausschussberatungen über den § 264 als Berichterstatter mit einer Zusammenfassung des Diskussionsstandes und plädierte für die Verabschiedung dieser Strafrechtsbestimmung.151 Doch die eugenische Sterilisation hatte im Zuge der geänderten politischen Kräfteverhältnisse inzwischen eine Umwertung erfahren, wodurch auch die Ausschussverhandlungen beeinflusst wurden. Zum einen sah die Regierung Brüning, die mit der Kabinettsumbildung weiter nach rechts gerückt war, in der eugenischen Unfruchtbarmachung eine Möglichkeit, die Wohlfahrtsausgaben zu reduzieren. So präsentierte Ministerialrat Schäfer den Ausschussmitgliedern eine statistische Aufstellung über die öffentlichen Ausgaben für »wirtschaftlich Tote«, d.h. »Insassen von Krankenhäusern, Armenhäusern, Taubstumme, Blinde, Krüppelhafte«, um daran zu erinnern, dass bei der Sterilisationsfrage »auch wirtschaftliche Gesichtspunkte nicht ganz außer Betracht bleiben könnten«.152 Zum anderen erschien die Rassenhygiene in ihrer kruden nationalsozialistischen Variante als eine reale Bedrohung, seitdem die NSDAP einflussreiche Bündnispartner gewonnen hatte und das wackelige Brüning-Kabinett einer starken ›nationalen Opposition‹ gegenüberstand. Die Eugenik war tendenziell zu einem Anliegen der politischen Rechten geworden, während ihre modernistisch-szientistisch gesinnten Fürsprecher aus den Reihen der Sozialdemokraten und Liberalen sich in Zurückhaltung übten. Da die Nationalsozialisten und Deutschnationalen im Zuge ihrer ›Harzburger-Front‹-Politik die Mitarbeit im Strafrechtsausschuss eingestellt hatten, gab es im Januar 1932 kaum noch offene Befürworter der eugenischen Sterilisation unter den Ausschussmitgliedern. Selbst Julius Moses, der 1928 die eugenische Sterilisation von Gewohnheitsverbrechern noch als ein verheißungsvolles wissenschaftliches Experiment erachtet hatte, zeigte sich nun skeptisch. Der sozialdemokratische Abgeordnete räumte ein, dass die »Vererbungslehre [...] in der Tat vorläufig noch auf sehr schwankenden Füßen« stehe. Auch hatte er zur Kenntnis genommen, dass »sich die nationalsozialistische Partei, im besonderen Adolf Hitler, für die Sterilisierung einsetze«. Mit einem Hinweis auf die Schriften des nationalsozialistischen Euthanasie-Propagandisten Ernst Mann warnte er vor den Rassenpolitikern, welche »die Eugenik in einer Weise anwenden [wollten], die 150 Ebd. 151 Vgl. ebd, S. 244. 152 Ebd., S. 245.

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einem heute geradezu als ein Verbrechen erscheine«. Angesichts solch radikaler Ausmerzungsvorstellungen »fehle einem heutzutage der Mut, in bezug auf die Eugenik überhaupt noch irgend etwas Fortschrittliches zu tun«. Mit Blick auf die medizinische Indikation plädierte er für die Verabschiedung des § 264, dessen Fassung »nach seiner Ansicht ganz glücklich gewählt« sei und auch »den Anschauungen, die in Ärztekreisen herrschten« entspreche.153 Gerade weil die Zulässigkeit der eugenischen Sterilisation nach § 264 zweifelhaft blieb, konnte der zum Eugenik-Skeptiker gewandelte sozialdemokratische Arzt der Vorlage zustimmen. Die Abgeordneten der KPD und des Zentrums lehnten den § 264 indes ab. Der Kommunist Fritz Löwenthal nahm Anstoß an der beabsichtigten »Einfügung des Kautschukbegriffes ›Verstoß gegen die guten Sitten‹« – auch deshalb weil die in das Richteramt drängenden nationalsozialistischen Jungakademiker eine neue Dimension der Klassenjustiz befürchten ließen: »Wenn solchen Leuten dann ein solcher Paragraph wie der § 264 in die Hand gegeben sei, könne man sich vorstellen, wie sich das praktisch auswirken werde. Dann würde das, was man jetzt als Klassenjustiz beklagen und bekämpfen müsse, noch ins Ungeheuerliche ausgedehnt werden. Diese Klassenjustiz würde sich dann auch gegen Geistesrichtungen und politische Richtungen wenden, die heute noch nicht darunter zu leiden hätten.«154

Von noch grundsätzlicherer Art war die negative Haltung des Zentrums zur ›Einwilligung in die Körperverletzung‹, die einen »Freibrief« für die eugenische Sterilisation darstelle und »in der Praxis« zu einem »Mißbrauch« führen würde, wie der Abgeordnete Hans Bell ausführte. Der Zentrumspolitiker wehrte »sich gegen jeden zwangsweisen Eingriff in die Natur, gleichviel, ob es sich hier um staatliche Zwangsmaßnahmen handele oder um Eingriffe in die Natur, die mit Einwilligung des Beteiligten geschehen«.155 Neben der ›Gefahr‹ einer missbräuchlichen Anwendung der eugenischen Indikation zum Zweck der Familienplanung führte Bells Parteifreundin Helene Weber noch ein weiteres Argument ins Feld. Sie verwahrte sich energisch gegen das von Ministerialrat Schäfer angesprochene Kostenargument: »Man sehe heute schon bei allen möglichen Behörden eine Streichung aller Mittel für Gefährdete und Verwahrloste. Auch die vorbeugende Fürsorge werde eingeschränkt mit der Begründung, daß das alles den Staat nichts anginge. Wenn vom Staat solche Begründungen gegeben würden, so greife das über auf das Volk, dann komme man zu jener harten, übermännlichen Auffassung des Staates, wie ihn [sic!] manche Nationalsozialisten verträten, die nach spartanischem Muster alles ausmerzen wollten, was

153 Ebd., S. 246. 154 Ebd. 155 Ebd., S. 246f.

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nicht völlig gesund sei, wobei die Gefahr bestehe, daß schließlich auch alles ausgemerzt werde, was den Nationalsozialisten nicht in ihr Programm passe.«156

Die Kritik der katholischen Sozialpolitikerin am sozial-selektiven Um- und Rückbau des Wohlfahrtsstaats traf eigentlich die Sparpolitik des ZentrumsKanzlers Brüning, jedoch weniger die sozialdemokratischen Diskussionsgegner. Die Aussprache wurde ohne die Erreichung eines Konsenses geschlossen. In der Abstimmung wurde der § 264 – mit einer kleinen redaktionellen Änderung – mit der denkbar knappen Mehrheit von neun gegen sieben Stimmen angenommen.157 Ein politisch tragfähiges Ergebnis war das kaum, da die sozialdemokratischen und liberalen Befürworter dieser Regelung weit davon entfernt waren, im Reichstag eine Mehrheit zu stellen. Die allgemeine Aufgeschlossenheit gegenüber der Eugenik, die 1928 noch weit in das katholische Lager gereicht hatte, war einer parteiübergreifenden Skepsis gewichen. Auch die Unterstützer des § 264 hatten eher die Begrenzung der eugenisch motivierten Sterilisationspraxis im Sinn als deren Förderung. Entscheidend für das Abstimmungsverhalten war nicht in erster Linie die Haltung zur Eugenik, sondern die weltanschauliche Stellung zur Empfängnisverhütung. Insgesamt hatten die Mitglieder des Strafrechtsausschusses in der Sterilisationsdebatte ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein bewiesen.158 Jede Art der Zwangssterilisation galt lagerübergreifend – mit Ausnahme der Nationalsozialisten – als inakzeptabel. Die freiwillige Unfruchtbarmachung von Gewohnheitsverbrechern in Form einer ›Maßregel der Besserung und Sicherung‹ wurde nach gründlichen sachlichen und juristischen Erwägungen verworfen. Und auch die Straflosigkeit der freiwilligen Sterilisation wurde einem ethischen Vorbehalt unterworfen. Dennoch leistete die Diskussion über die Strafrechtsreform indirekt einer künftigen außerstrafrechtlichen Regelung der eugenischen Sterilisation Vorschub. Denn der eine klare Entscheidung umgehende Formelkompromiss des § 264 verlangte geradezu nach einer anderweitigen Klärung der Sterilisationsfrage. Ferner bewirkten die gemeinsamen Beratungen von Medizinern, Juristen und Ministerialbürokraten in den mit der Strafrechtsreform befassten Expertengremien einen sterilisationspolitischen Synergieeffekt. Die Verwaltungs- und Gesetzgebungsfachleute wurden mit den Gedanken der Eugenik vertraut und waren – im Gegensatz zu den Sozialmedizinern und Rassenhygienikern – in der Lage, das Sterilisationspostulat in einen juristisch stichfesten und politisch realisierbaren Gesetzentwurf zu übersetzen. 156 Ebd., S. 248. 157 Vgl. ebd.; die verabschiedete Fassung des § 264 lautet: »Wer eine Körperverletzung mit Einwilligung des Verletzten vornimmt, handelt nur dann rechtswidrig, wenn die Tat trotzdem gegen die guten Sitten verstößt.« 158 Vgl. Wetzell, Inventing the Criminal, S. 252.

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Das in dieser Hinsicht einflussreichste Expertengremium war der beim Volkswohlfahrtsministerium angesiedelte Preußische Landesgesundheitsrat. Bereits im Vorfeld der Reichsratsverhandlungen war ein erweiterter Ausschuss des Landesgesundheitsrats um eine gutachtliche Stellungnahme zum neuen Strafgesetzbuchentwurf gebeten worden. Die Beratungen, zu denen auch Wilhelm Kahl als Strafrechtsexperte geladen war, fanden am 30. und 31. Oktober 1925 statt.159 Der Sozialhygieniker Alfred Grotjahn regte in diesem Zusammenhang die Legalisierung der eugenischen Unfruchtbarmachung durch die Hinzufügung eines Paragraphen folgenden Wortlauts an: »Eine strafbare Körperverletzung liegt nicht vor, wenn ein Arzt eine Person zeugungsunfähig macht, die an ausgeprägtem Schwachsinn, einwandfrei nachgewiesener Epilepsie oder einer erblich bedingten Geistesstörung leidet oder gelitten hat, und diese Operation mit ihrer Einwilligung oder bei Unmündigen mit Einwilligung des gesetzlichen Vertreters unter Zustimmung des zuständigen staatlichen Medizinalbeamten vorgenommen worden ist.«160

Dieser Antrag fand jedoch keine einhellige Zustimmung. Wilhelm Kahl bestritt – gegen den »Widerspruch des Herrn Grotjahn« – , dass der Ärztestand »die Aufgabe der Volksbeglückung und der Sorge für die Zukunft« habe; die »Einschmuggelung des eugenischen Prinzips in das Strafrecht auf diesem Wege« könne er »niemals verantworten«; also werde er »nicht nur mit einem Arm, sondern mit beiden Armen dagegen stimmen«.161 Grotjahns Antrag wurde schließlich mit 11 gegen 5 Stimmen abgelehnt,162 nicht zuletzt weil Kahl seine ganze Autorität als Strafrechts-Koryphäe in die Waagschale geworfen hatte. Im Jahr 1932 sollte sich der Preußische Landesgesundheitsrat erneut mit der Materie der eugenischen Sterilisation befassen. Die Voraussetzungen waren nun völlig andere: Es zeichnete sich zum einen ab, dass die Strafrechtsreform, sofern sie überhaupt zustande käme, keine umfassende und eindeutige Regelung der Sterilisation bringen würde; zum anderen drängten die preußischen Behörden – mit dem zentrumsdominierten Volkswohlfahrtsministerium an der Spitze163 – auf eine eugenische Flankierung des Sozialabbaus. Am 20. Januar 1932 hatte der Preußische Staatsrat, die Vertretung der Gemeinden, Kreise und Provinzen, unter dem Vorsitz von Konrad Adenauer das Preußische Staatsministerium ersucht, »den anerkannten Lehren der Eugenik eine größe-

159 Vgl. das veröffentlichte Protokoll der Beratungen: Der Neue Entwurf des Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches vom ärztlichen Standpunkte. 160 Ebd., S. 67. 161 Ebd., S. 100. 162 Ebd., S. 105. 163 Zur »sterilisationspolitischen Wende« der Zentrumspartei in Preußen siehe: Richter, S. 288ff.

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re Verbreitung und Beachtung zu verschaffen« und »zu veranlassen, daß mit möglichster Beschleunigung die von den Gemeinden, Kreisen, Provinzen und dem Staate für die Pflege und Förderung der geistig und körperlich Minderwertigen aufzuwendenden Kosten auf dasjenige Maß herabgesenkt werden, das von einem völlig verarmten Volke noch getragen werden kann«.164 Dieser Resolution bedurfte es eigentlich gar nicht, um die preußische Ministerialbürokratie für ein eugenisches Sofortprogramm zu gewinnen. Ministerialdirektor Heinrich Schopohl, der Leiter der Gesundheitsabteilung des Volkswohlfahrtsministeriums, hatte schon im November 1931 eine einschlägige Tagung des Landesgesundheitsrats angekündigt, die dann am 2. Juli 1932 stattfand.165 Auch für diese Sitzung zum Thema »Die Eugenik im Dienste der Volkswohlfahrt«166 hatte man mit Eduard Kohlrausch einen prominenten Strafrechtsreformer als Referenten gewinnen können. Nachdem der katholische Eugeniker Hermann Muckermann ein »umfassendes eugenikpolitisches Aktionsprogramm«167, das auch die Sterilisation mit einschloss, dargelegt und der Psychiater Johannes Lange über den Stand der Erbforschung referiert hatten, sprach der Berliner Strafrechtslehrer über die juristische Seite der eugenischen Sterilisation. Kohlrausch plädierte für eine das Strafrecht ergänzende verwaltungsrechtliche Regelung, da eine lediglich die Strafbarkeit der Unfruchtbarmachung aufhebende Strafrechtsbestimmung kein positiv-anordnendes Gesetz ersetzen könne.168 Ferner verwies der dem rechten Flügel der ›modernen‹ Strafrechtsschule zuzurechnende Jurist auf die geistesgeschichtliche Verwandtschaft von Eugenik und modernem Rechtsdenken: »Und es sollte ebensowenig der Betonung bedürfen, daß gerade der tiefere Sinn unserer Strafrechtsreform [...] in der stärkeren Betonung der sozialen Abwehr und des Gemeinschaftsdenkens liegt und in dem Abbau manchen liberalen Erbgutes. Verbinden wir die eugenische Sterilisation vorläufig [!] mit dem Erfordernis der Zustimmung des zu Sterilisierenden, so ist entgegenstehenden weltanschaulichen Bedenken zur Genüge und weit über das Maß hinaus Rechnung getragen, in dem die ausländischen Sterilisationsgesetze Rücksicht auf den einzelnen nehmen.«169

164 Zitiert nach Müller, Sterilisation, S. 93. Mit Ausnahme der KPD, die als einzige Partei im Staatsrat »noch die alten wohlfahrtspolitischen Standards der Weimarer Republik verteidigte«, unterstützten alle vertretenen Parteien diese Forderung nach einer eugenischen Differenzierung der Fürsorge; vgl. Schwartz, Sozialistische Eugenik, S. 315. 165 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Müller, Sterilisation, S. 95ff.; Schwartz, Sozialistische Eugenik, S. 318ff. 166 Die Eugenik im Dienste der Volkswohlfahrt. 167 Schwartz, Sozialistische Eugenik, S. 318. 168 Vgl. Müller, Sterilisation, S. 96f. 169 Ebd., S. 97f.; Kohlrausch plädierte auch in der »Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft« für eine solche gesetzliche Regelung der eugenischen Sterilisation; vgl. Kohlrausch, Sterilisation und Strafrecht.

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In der anschließenden Aussprache drang u.a. Leonardo Conti, der spätere ›Reichsgesundheitsführer‹, auf die Einführung eines Zwangsverfahrens, doch die Mehrheit der Ausschussmitglieder sprach sich für das von Kohlrausch vorgeschlagene »vorläufige« Erfordernis der Einwilligung des Sterilisanden aus und beauftragte eine kleinere Kommission mit der Ausarbeitung entsprechender Grundsätze für eine gesetzliche Regelung. Die dreizehnköpfige Kommission legte am 30. Juli neben den Leitsätzen gleich einen fertigen Gesetzentwurf mit Begründung vor. Der Paragraph 1 dieses Entwurfs eines Sterilisationsgesetzes lautete: »Eine Person, die an erblicher Geisteskrankheit, erblicher Geistesschwäche, erblicher Epilepsie oder an einer sonstigen Erbkrankheit leidet oder Träger krankhafter Erbanlagen ist, kann operativ sterilisiert werden, wenn sie einwilligt und nach den Lehren der ärztlichen Wissenschaft bei ihrer Nachkommenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit schwere körperliche oder geistige Erbschäden vorauszusehen sind.«170 Obwohl Minister Heinrich Hirtsiefer inzwischen im Zuge des ›Preußenschlags‹ entmachtet worden war, konnten die Zentrumsbeamten aus der Gesundheitsabteilung des Volkswohlfahrtsministeriums die Gesetzesinitiative weiterverfolgen. Ministerialdirektor Schopohl, der zugleich Präsident des Landesgesundheitsrats war, empfahl den Entwurf in einem Begleitschreiben vom 27. Oktober 1932 dem geschäftsführenden Volkswohlfahrtsminister. In diesem Zusammenhang hob er den Konnex mit der Strafrechtsreform hervor: »Ich darf darauf hinweisen, daß die anwesenden Strafrechtler, obwohl sie vor einiger Zeit noch eine gegenteilige Auffassung hatten, auf Grund der wissenschaftlichen Ergebnisse nunmehr uneingeschränkt für die eugenische Sterilisierung eingetreten sind, sie sind dabei auch dem Referate von Professor Kohlrausch gefolgt. Von ihnen wurde auch auf den Weg eines Verwaltungsgesetzes hingewiesen, weil ein Einbau der eugenischen Sterilisierung in das Strafrecht bei dem schleppenden Gange der Strafrechtsreform ganz ungewiß bliebe.«171

Zwei Tage später wurde das Volkswohlfahrtsministerium aufgelöst und seine Abteilungen auf andere Ressorts verteilt. Die für Fragen der Eugenik zuständige Gesundheitsabteilung wurde dem Innenministerium zugeschlagen. Nun fiel das Sterilisationsgesetz in das Ressort des kommissarischen Innenministers Franz Bracht, der am 3. Dezember auch das Amt des Reichsinnenministers im Kabinett Schleicher übernahm.172 In einem Rundschreiben an die preußischen Reichskommissare, das wörtlich an die Ausführungen Schopohls angelehnt war, warb Bracht in seiner Eigenschaft als kommissarischer Preußischer Innenminister für die »Einführung eines Gesetzes zur freiwilligen euge170 Zitiert nach Schmuhl, S. 103. 171 Präsident des Landesgesundheitsrats an den Preußischen Minister für Volkswohlfahrt, 27.10.1932, GStA PK, Rep. 84a, Nr.871, Bl. 72ff. 172 Vgl. Schwartz, Sozialistische Eugenik, S. 323f.

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nischen Sterilisierung« und bat, einen entsprechenden Antrag an den Reichsinnenminister – also an ihn selbst – zu richten.173 Nachdem das Problem des Dualismus zwischen Preußen und dem Reich im Sinne der autoritären Präsidialkabinette Papen und Schleicher gelöst worden war und der ›Doppelminister‹ Bracht seine Unterstützung für die Eugenik-Initiative bekundet hatte, waren die Realisierungschancen für ein Sterilisationsgesetz auf Reichsebene deutlich gestiegen. Das größte Hindernis auf dem Gesetzgebungsweg stellte nun der weitgehend handlungsunfähige Reichstag dar. Zweifelhaft war zudem, ob die Zentrumsabgeordneten die sterilisationspolitische Wende ihrer Partei mit vollzogen hatten und die neue »stärker gouvernementale ›Zentrums-Eugenik‹«174 unterstützen würden. Erst mit der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes am 23. März 1933 wurde diese Hürde aus dem Weg geräumt. Die neuen nationalsozialistischen Machthaber konnten nun auf die Vorarbeiten des Preußischen Landesgesundheitsrats zurückgreifen, um ein rassenpolitisch motiviertes Sterilisationsgesetz nach eigenem Gusto zu erlassen. Das ›Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‹ wurde am 14. Juli 1933 vom Kabinett Hitler verabschiedet.175 Das sogenannte Erbgesundheitsgesetz folgte den Empfehlungen des Landesgesundheitsrats insofern, als es auf die – seinerzeit von den nationalsozialistischen Mitgliedern des Strafrechtsausschusses geforderte – Unfruchtbarmachung von Gewohnheitsverbrechern verzichtete und nur klinisch fassbare Erbkrankheiten als Indikation gelten ließ. Im Gegensatz zum preußischen Entwurf sah es jedoch jene Zwangssterilisation vor, welche der Strafrechtsausschuss des Reichstags im Jahr zuvor um jeden Preis hatte verhindern wollen.

c) Das Scheitern der Strafrechtsreform Die Diskussion über die eugenische Sterilisation hat gezeigt, wie sehr ideologisch-weltanschauliche Bindungen die Verständigung behindern konnten – selbst zwischen denjenigen Parteien, welche die Strafrechtsreform grundsätzlich befürworteten. An strittigen Einzelbestimmungen, die sich an kaum verhandelbaren Grundüberzeugungen dieser oder jener Partei stießen, mangelte es dem Strafgesetzentwurf indes nicht. Nach den Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928, welche die Bildung einer Großen Koalition erforderlich gemacht hatten, verschärfte sich das Problem der strafrechtspolitischen Kompromissbildung. Ein internes Strategiepapier, das ein Sachbearbeiter des Reichsjustiz173 Vgl. PrMdI (Reichskommissar) an das Preußische Staatsministerium (Reichskommissare), 19.12.1932, GStA PK, Rep. 84a, Nr. 871, Bl. 71. 174 Schwartz, Sozialistische Eugenik, S. 322. 175 Zum nationalsozialistischen Erbgesundheitsgesetz siehe: Müller, Sterilisation, S. 105ff.; Schmuhl, S. 154ff.; Bock, Zwangssterilisation.

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ministeriums vor der 2. Lesung des Strafgesetzentwurfs Anfang 1930 erstellt hatte, um den Minister für seine Stellungnahme zur Strafrechtsreform zu präparieren, enthält entsprechende parteien-arithmetische Erwägungen.176 Folgende politisch noch nicht geklärten Punkte, zu denen das Kabinett Stellung nehmen müsse, werden aufgeführt: Todesstrafe, Lebenslanges Zuchthaus, Hochverrat, Landesverrat, Schutz der Farben, Gotteslästerung, Abtreibung, Zweikampf, Sodomie, Unzucht zwischen Männern, Unzüchtige Schriften, Ehebruch, Strafantrag bei Vermögensdelikten.177 Bei »Fragen vorwiegend kriminalpolitischer Art« sowie bei »Fragen vorwiegend weltanschaulicher Art« hätten im Ausschuss »Zentrum und Rechtsparteien zusammen gegen die Linke gestimmt«; bei »Fragen mit allgemein politischem Charakter« habe »das Zentrum, mehrfach unter starken Vorbehalten, mit der Linken gegen die Rechte gestimmt«. Für die Entscheidung des Kabinetts sei »es zunächst von großer Bedeutung, ob an der Absicht festgehalten wird, den Entwurf mit einer ganz großen Mehrheit, also mit den Parteien von den Deutschnationalen bis zur Sozialdemokratie zu verabschieden, oder ob die Möglichkeit ins Auge gefaßt wird, im Notfall auf die deutschnationalen Stimmen zu verzichten.«178 Da die »Abstimmungsverhältnisse im Ausschuß sich nicht [...] mit den Stimmenverhältnissen im Plenum« deckten, enthält das Papier auch eine Aufstellung von 239 Stimmen der Linken und 252 Stimmen der Rechten im Reichstagsplenum. Diese Gegenüberstellung ergebe, »daß in allen überhaupt zu entscheidenden Fragen das Zentrum den Ausschlag geben wird«. Dem Reichsjustizministerium stellte sich nun die Aufgabe, »Vorschläge zu machen, die allen Parteien, mit Ausnahme der Nationalsozialisten und Kommunisten, die Zustimmung zum Strafgesetzentwurf ermöglichen«. Dabei mussten gerade den katholischen Parteien, die sich in der strategisch günstigsten Position befanden, »schwer erträgliche Konzessionen in weltanschaulichen Fragen« abverlangt werden, ohne welche »die Sozialdemokratie für eine Zustimmung zum Entwurf kaum zu bewegen sein wird.«179 Die Strafrechtsreform war in der vierten Legislaturperiode des Reichstags zu einem politischen Spagat geraten. Im März 1930 zerbrach die Große Koalition an ihren inneren Spannungen, die sich auf dem Feld der Sozialpolitik noch stärker ausnahmen als in der Strafrechtsdebatte. Im Juli wurde der Reichstag nach einem aufreibenden haushaltspolitischen Machtgerangel mit dem Präsidialkabinett Brüning aufgelöst. Aus den Neuwahlen des Reichstags vom 14. September 1930 gingen die nationalsozialistischen und kommunistischen Gegner der Strafrechtsreform gestärkt hervor. Die NSDAP versiebenfachte ihren Stimmenanteil auf 18,3 %; 176 177 178 179

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Zusammenstellung (undatiert), BA, R 30.01, Nr. 5824, Bl. 167ff. Ebd., Bl. 167. Ebd., Bl. 168. Vgl. ebd., Bl. 168f.

die KPD konnte ihren Stimmenanteil von zuvor 10,6 % auf 13,1 % ausbauen. Der doppelte Rechtsruck durch Regierungswechsel und Reichstagswahl legte es auf den ersten Blick nahe, den Weltanschauungsstreit in der Strafrechtspolitik im Sinne einer Mitte-Rechts-Allianz zu lösen. Doch die Verabschiedung einer rein ›bürgerlichen‹ Strafrechtsreform ohne die Stimmen der sozialdemokratischen Abgeordneten war im neuen Reichstag rechnerisch nicht mehr möglich. Die Strafrechtsreform hatte in dieser Situation nur noch eine Realisierungschance, wenn sich Sozialdemokratie, politischer Katholizismus und weite Teile des bürgerlich-protestantischen Lagers zur Unterstützung eines gemeinsamen Entwurfs bereit fänden. Am 10. Dezember 1930 beriet der neue Reichstag über den von Wilhelm Kahl eingebrachten Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs, der auf den bisher erzielten Beschlüssen des alten Strafrechtsausschusses basierte. Der politisch versierte Strafrechtsexperte Kahl wollte durch diesen Geschäftsordnungstrick die Kontinuität der Reformarbeiten sichern. Durch die Redebeiträge des Staatssekretärs des Reichsjustizministeriums Joel und der Abgeordneten Munten (Christlich-Sozialer Volksdienst) und Rosenfeld (SPD) erfuhr er Unterstützung für sein Anliegen. Die Kommunisten und Nationalsozialisten hingegen bekundeten – sich im Verlauf der tumultuarischen Debatte immer wieder gegenseitig beleidigend – ihre Ablehnung einer Strafrechtsreform unter den Bedingungen des bestehenden Systems.180 Schwerer noch als der zu erwartende Widerstand der Flügelparteien wog die unverhohlene Drohung, die der Abgeordnete August Wegmann im Namen des Zentrums und der BVP aussprach: »Die Beschlußfassungen im Ausschuß haben indes ergeben, daß in einer Reihe von äußerst wichtigen Fragen unverzichtbare Forderungen, die wir insbesondere auch vom Standpunkte unseres Volkes und unserer Weltanschauung stellen mußten, keine Berücksichtigung fanden. Der vorliegende Gesetzentwurf hat auch diejenigen Beschlüsse des Strafrechtsausschusses, die das gesamte Gesetzgebungswerk für uns unannehmbar machten, wieder aufgenommen. Wir halten uns für verpflichtet, schon jetzt unsere Bedenken und Vorbehalte mit allem Ernst anzumelden.«181

Die Drohung mit einer Ablehnung des gesamten Reformvorhabens ist zwar als ein taktisches Manöver zu werten, das die günstige Verhandlungsposition der unbeschadet aus den Wahlen hervorgegangenen katholischen Parteien unterstreichen sollte, die nun als Mehrheitsbeschaffer unverzichtbar waren. Doch die mangelnde Kompromissbereitschaft des Zentrums in religiös-weltanschaulichen Fragen behinderte den Fortgang der Reform.

180 Vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, V. Wahlperiode, 1930, S. 497ff. 181 Ebd., S. 510.

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Kahl gelang es schließlich noch, die Reichstagsmehrheit zur Überweisung des Entwurfs an den Ausschuss zu bewegen. Der am folgenden Tag sich neu konstituierende Strafrechtsausschuss des Reichstags konnte bald – wiederum unter der Leitung Wilhelm Kahls – an die mitten in der zweiten Lesung abgebrochenen Beratungen anknüpfen.182 Seit der 12. Sitzung blieben die Vertreter der NSDAP und der DNVP dem Ausschuss fern.183 Der Boykott erlaubte einerseits einen zügigeren Verlauf der Diskussion, andererseits entsprach die Zusammensetzung des Gremiums fortan nicht mehr den Mehrheitsverhältnissen des Reichstags. Am 18. März 1932 tagte der Strafrechtsausschuss zum letzten Mal.184 Man war in dieser 36. Sitzung zwar beim letzten Paragraphen angelangt, doch einige vorerst zurückgestellte politische Streitfragen harrten noch ihrer Klärung. Das Reichsjustizministerium, nun unter der Leitung des ›Fachmanns‹ Kurt Joel, bemühte sich während der Endphase der Reformdiskussion um eine interfraktionelle Einigung über diese strittigen Punkte. Sachbearbeiter Rudolf Lehmann stellte im November 1931 die parteipolitisch kontroversen Positionen sowie mögliche Vermittlungsvorschläge zu folgenden Punkten zusammen: Erhöhung des Strafmündigkeitsalters, Todesstrafe, Hochverrat, Landesverrat, Gotteslästerung, Eidesdelikte, Abtreibung, Unzucht mit Tieren, Unzucht zwischen Männern, Unzüchtige Schriften, Ehebruch, Vivisektion und Schächtfrage.185 Anfang 1932 fand eine Besprechung mit acht führenden Mitgliedern des Strafrechtsausschusses statt, in der die genannten Streitfragen einer Lösung zugeführt werden sollten.186 Vertreter der reformgegnerischen Parteien, zu denen jetzt neben KPD und NSDAP auch die DNVP zählte, fehlten, während die grundsätzlich reformbereiten, jedoch in Weltanschauungsfragen kapriziösen Parteien des politischen Katholizismus mit drei Abgeordneten deutlich überrepräsentiert waren. In der Aussprache wurden in jenen weltanschaulich prekären Fragen, die zwischen SPD und Zentrum strittig waren, Einigungen erzielt, die dem katholischen Standpunkt weitestgehend Rechnung trugen. So konnte das Zentrum die Strafbarkeit der Gotteslästerung, der Abtreibung und des Ehebruchs sowie die Beibehaltung des Eides durchsetzen. Auch signalisierte die SPD, die eine Erhöhung des Strafmündigkeitsalters auf 16 Jahre gefordert hatte, dass sie »eine etwaige Überstimmung in der Frage hinnehmen« werde. Dort wo sich auch bürgerliche Parteien den Zentrums-Forderungen nach einer rigiden Bestrafung entgegenstellten, wurde hingegen keine Einigung erzielt; dies betraf die Strafvor182 Vgl. 1. Sitzung, 11.12.1930, in: Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 3,4, S. 3. 183 Vgl. die Mitteilung des Vorsitzenden zu Beginn der 12. Sitzung, ebd., S. 114. 184 Vgl. 36. Sitzung, 18.3.1932, ebd., S. 336ff. 185 Vgl. Zusammenstellung von Rudolf Lehmann vom 5./6.11.1931 über die im Strafrechtsausschuß kontrovers gebliebenen Fragen, BA, R 30.01, Nr. 5825, Bl. 95ff., abgedruckt bei: Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 3,1, S.LIff. 186 Vgl. die Niederschrift vom 9.2.1932, BA, R 30.01, Nr. 5824, Bl. 172ff., auf der auch die nachfolgenden Ausführungen basieren.

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schriften über den Zweikampf, die Unzucht mit Tieren, die Unzucht zwischen Männern und die Verbreitung unzüchtiger Schriften. Strittig blieben auch jene Fragen, die sich durch eine scharfe Rechts-Links-Polarität auszeichneten: die Beibehaltung oder Abschaffung der Todesstrafe, die Definition und Bestrafung des Hochverrats sowie des Landesverrats. Einvernehmen herrschte zwischen den anwesenden Parteivertretern einzig über die – vom Zentrum beantragte – »strafrechtliche Tolerierung des Schächtens«, da Deutschnationale und Nationalsozialisten nicht zugegen waren. Möglicherweise hätte der Strafgesetzentwurf noch die Zustimmung des Reichstags gefunden, wenn es im Plenum zu einer separaten Abstimmung über die im Ausschuss ungeklärt gebliebenen Streitfragen gekommen wäre. Doch mit dem Tod des 82-jährigen Wilhelm Kahl am 14. Mai 1932 verloren die Strafrechtspolitiker ihren Antreiber und Moderator, der es immer wieder verstanden hatte, das Reformprojekt in verfahrenen Situationen zu retten. In der Folgezeit geriet die Strafrechtsreform in den Strudel der untergehenden parlamentarischen Demokratie. Zwei Wochen nach Kahls Tod stürzte das Kabinett Brüning. Reichsjustizminister Kurt Joel, der die parlamentarischen Bemühungen um die Strafrechtsreform unterstützt hatte, musste seinen Amtssessel für den deutschnational gesinnten vormaligen bayerischen Justizminister Franz Gürtner freimachen. Das neue Präsidialkabinett unter der Leitung Franz von Papens konnte und wollte nicht auf die Unterstützung durch den Reichstag bauen. Am 4. Juni 1932 sprach Reichspräsident Paul von Hindenburg die Auflösung des Reichstags aus; die Neuwahlen setzte er auf den letztmöglichen Termin, den 31. Juli, fest. Das Wählervotum vom Juli 1932 bescherte den Gegnern der Weimarer Republik eine rechnerische Mehrheit. Der ohnehin kaum handlungsfähige sechste Reichstag nahm die Beratungen über die Strafrechtsreform nicht mehr auf. Just in der Entscheidungsphase des sich über 30 Jahre erstreckenden Gesetzgebungsverfahrens mangelte es an einem funktionsfähigen Gesetzgeber. Erst nach der nationalsozialistischen ›Machtergreifung‹ wurden – in einem völlig gewandelten politischen Kontext – wesentliche Elemente der Strafrechtsreform in Form einer Novelle verwirklicht.187 Das auf dem preußischen Strafgesetzbuch von 1851 basierende StGB erfuhr auch in den folgenden Jahrzehnten zahlreiche Novellierungen, doch eine Neukodifikation ist bis heute nicht zustande gekommen. Unterhalb der Gesetzgebungsebene – auf dem Gebiet der Strafvollzugsverwaltung – hielt der Gedanke der Spezialprävention jedoch bereits zur Zeit der Weimarer Republik Einzug. Das Zusammenwirken von Gefängnisbürokratie und medizinischen Experten, das weitreichende Folgen für die Entwicklung der deutschen Kriminologie hatte, ist Gegenstand des folgenden Kapitels.

187 Siehe unten, Kapitel C.

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III. Stufenstrafvollzug und Kriminalbiologie 1. Der Strafvollzug als Experimentierfeld der Kriminalpolitik Die kriminalpolitischen Reformbestrebungen blieben nicht auf das materielle Strafrecht beschränkt, vielmehr erstreckten sie sich auch auf den Strafvollzug. Von der Einzelhaft versprachen sich die Gefängnisreformer des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine Besinnung der Gefangenen oder doch zumindest die Ausschaltung der negativen Beeinflussung durch die Mitgefangenen. Ein auf diesem Gedanken fußender »Entwurf eines Gesetzes über die Vollstreckung von Freiheitsstrafen«, den die Reichsleitung am 19. März 1879 dem Bundesrat zugeleitet hatte, scheiterte jedoch am Widerstand der Länder, welche die Kosten für den erhöhten Zellenbedarf scheuten.1 Die ersatzweise getroffene Ländervereinbarung aus dem Jahr 1897 blieb unverbindlich in ihrem Inhalt und ihrer Rechtsnatur. Erst in der Weimarer Republik befassten sich das Reichsjustizministerium und der Reichsrat – parallel zur Arbeit an dem neuen Strafgesetzbuch – erneut mit der Ausarbeitung eines Strafvollzugsgesetzes.2 Mit der Strafrechtsreform scheiterte freilich auch dieser Versuch, den Strafvollzug auf der Grundlage eines Reichsgesetzes zu vereinheitlichen und zu reformieren; denn die entsprechende Reichstagsvorlage sollte erst nach der – niemals erfolgten – Verabschiedung des Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs verhandelt werden. So blieb der Strafvollzug während der Jahre der Weimarer Republik dem jeweiligen Landesrecht unterworfen. Doch gerade weil eine straffe reichseinheitliche Regelung ausblieb, konnte das Gefängniswesen zur Spielwiese für experimentierfreudige Kriminalpolitiker unterschiedlicher Couleur werden. Ähnlich der Strafrechtsreform standen auch hier die Reformversuche im Zeichen einer der individuellen Täterpersönlichkeit gerecht werdenden Spezialprävention. Der Erziehungsgedanke bildete das Leitmotiv für die Individualisierung der Freiheitsstrafe, gleichviel ob die Erziehung auf eine moralische Läuterung im christlich-konservativen Sinne zielte oder als ein sozialpädagogisches Training für ein gesetzestreues Leben in Freiheit verstanden wurde. Der sogenannte Stufenstrafvollzug sollte den institutionellen Rahmen für die Erziehung der Gefangenen bilden. Den Straftätern wurde eine Anstalts1 Zur Strafvollzugsgesetzgebung vgl. Müller-Dietz, S. 6ff.; Quedenfeld, S. 2ff. 2 Die Entwürfe sind abgedruckt bei: Schubert, Quellen, I. Abt., Bd. 5, S. 1ff.

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karriere in Aussicht gestellt, in deren Verlauf sie nach Maßgabe des individuellen Erziehungserfolgs in höhere Vollzugs-›Stufen‹ aufrücken konnten, die ihnen ein größeres Maß an Freiheit und Eigenverantwortlichkeit böten. Die »Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen«, auf die sich die Länder angesichts der fehlenden reichsgesetzlichen Regelung im Jahr 1923 geeinigt hatten, skizzierten mit groben Strichen das Ziel und die Gestalt des Experiments eines solchen »Strafvollzugs in Stufen«: »Bei längeren Strafen ist der Vollzug in Stufen anzustreben. Er soll die sittliche Hebung dadurch fördern, daß dem Gefangenen Ziele gesetzt werden, die es ihm lohnend erscheinen lassen, seinen Willen anzuspannen oder zu beherrschen. Der Vollzug in Stufen soll auf der Grundlage aufgebaut sein, daß der Strafvollzug je nach dem Fortschreiten der inneren Wandlung des Gefangenen seiner Strenge entkleidet und durch Vergünstigungen, die nach Art und Grad allmählich gesteigert werden, gemildert und schließlich so weit erleichtert wird, daß er den Übergang in die Freiheit vorbereitet.«3

Eine »Vereinbarung einheitlicher Grundsätze für den Vollzug in Stufen« sollte getroffen werden, »sobald die erforderlichen Erfahrungen gewonnen sind«.4 Die Länder machten sich mit durchaus unterschiedlichem Eifer und Tempo daran, Erfahrungen mit dem ›progressiven‹ Vollzug zu gewinnen. Zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Grundsätze waren einige Länder »schon im Besitz praktischer Erfahrungen; in anderen Ländern stand man dem ganzen Gedanken noch kühl, wenn nicht ablehnend gegenüber«.5 Bayern hatte bereits im Herbst 1921 das Stufensystem in den Strafanstalten eingeführt. Im Jahr 1922 war in der thüringischen Landesstrafanstalt Untermaßfeld sowie in Hamburg ein fürsorgerisch und pädagogisch flankiertes Progressivsystem eingeführt worden.6 Bis zum Frühjahr 1926 trugen auch die übrigen deutschen Länder – meist nur durch jederzeit revidierbare Erlasse – zögerlich dem Erziehungsgedanken Rechnung.7 Insbesondere Preußen »verhielt sich gegenüber dem Stufenstrafvollzug zurückhaltend«.8 Mit den preußischen »Richtlinien für den Strafvollzug in Stufen« vom 2. Januar 1925 wurde für einen Teil der Gefangenen ein gestuftes System von Vergünstigungen eingeführt, das eher eine disziplinierende als erzieherische Wirkung zu entfalten vermochte.9 Die preußi3 § 130 der Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen, vom 7. Juni 1923, Reichsgesetzblatt II, 1923, S. 263ff. 4 Ebenda, § 131. 5 So Ministerialdirektor Bumke in seinem Vorwort zu einem Tagungsband, der die durchaus differierenden Erfahrungsberichte der Strafvollzugsreferenten aus Bayern, Thüringen, Sachsen und Hamburg versammelt: Bumke, Der Strafvollzug in Stufen, S. 27. 6 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Koch, System, S. 59ff.; zum thüringischen Strafvollzug siehe auch: Gefängnisse in Thüringen; Sagaster. 7 Vgl. die Übersicht bei Schattke, S. 156f. 8 Koch, System, S. 60. 9 Der Stufenstrafvollzug wurde »versuchsweise für alle Gefangenenanstalten mit einem ausreichenden Gefangenenbestande eingeführt«; Gefangene »mit kürzerer Strafzeit« und »Über-

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sche »Verordnung über den Strafvollzug in Stufen« vom 7. Juni 1929 sollte diesem Mangel abhelfen;10 die nun vorgesehene Einrichtung von getrennten »Eingangsanstalten«, »Anstalten für Geförderte«, »Ausgangsanstalten« und »Sonderanstalten« für »Kurzfristige«, Jugendliche, »Schwersterziehbare« sowie »Gefangene von abnormer geistiger Beschaffenheit schweren Grades« war jedoch stärker dem Separationsgedanken der Gefängniskunde des 19. Jahrhunderts als dem modernen Resozialisierungsgedanken verpflichtet. Die beabsichtigte Umgestaltung des preußischen Strafvollzugs nach dem Muster eines Verschiebebahnhofs erwies sich in organisatorischer Hinsicht letztlich als zu aufwändig, so dass die Verordnung »niemals in vollem Umfang zu praktischer Bedeutung« gelangte.11 Ein gemeinsames Merkmal aller Experimente mit unterschiedlichen Varianten des Stufenstrafvollzugs war die Verbindung von Erziehung und Selektion. Optimistische Strafvollzugsreformer wollten sämtlichen Gefangenen eine ›Erziehung‹ angedeihen lassen; innerhalb eines solchen sozialpädagogischen Vollzugsmodells ergab sich die (unerwünschte) Selektion notwendig aus dem ›Sitzenbleiben‹ der unangepassten Gefangenen in der untersten Stufe. Pessimistischere Strafvollzugskonzeptionen setzten von Beginn an auf die Aussonderung der vermeintlich ›Unerziehbaren‹. Wie der Strafrechtswissenschaftler und Rechtshistoriker Eberhard Schmidt rückblickend bemerkte, war den Strafvollzugspraktikern nicht daran gelegen, an »Besserungsunfähige[n] Erziehungsversuche zu verschwenden«; vielmehr sei die »Absonderung dieser schädlichen Elemente innerhalb der Anstalten [...] für erfahrene Strafvollzugsorgane eine selbstverständliche Voraussetzung für die Arbeit an den noch besserungsfähigen Insassen« gewesen.12 Aber auch die als ›besserungsfähig‹ eingestuften Gefangenen mussten einen weiteren Selektionsschritt erfolgreich durchlaufen, um in eine höhere Stufe aufzurücken. Die Erforschung und Beurteilung der Persönlichkeit des Gefangenen bildete für den Stufenstrafvollzug insofern eine sachliche Notwendigkeit. Hier boten sich Anknüpfungsmöglichkeiten für kriminologisch interessierte Gefängnisärzte und Psychiater, die ein Anwendungsgebiet für ihre Forschungen suchten. Die zeugungstäter« waren von ihm ausgeschlossen; des Weiteren konnten »dauernd Kranke, ganz arbeitsunfähige, stark minderwertige Personen« ausgeschieden werden. Die Vergünstigungen in den höheren Stufen bestanden »hauptsächlich in Verkürzung der Fristen für die Briefe und Besuche, in der vermehrten Zulassung von Zusatznahrungsmitteln, in der Vermehrung der Freistunden und des Lesestoffes, in der Erlaubnis, eigene Bücher, Zeitungen und eigenes Schreib- und Zeichenmaterial sich zu halten, in der Ausschmückung und längeren Beleuchtung der Zelle«; ferner wurde »den Gefangenen in den höheren Stufen eine zunehmende Bewegungsfreiheit eingeräumt, die beweist, daß ihnen allmählich ein größeres Vertrauen geschenkt wird«; vgl. Ellger, S. 109f. 10 Vgl. die kritische Würdigung der Verordnung bei Sieverts, Verordnung. 11 Koch, System, S. 70. 12 Schmidt, Einführung, S. 422.

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Persönlichkeitsforschung im Rahmen des progressiven Strafvollzugs trug wesentlich zur Institutionalisierung der Kriminologie bei. Zugleich verlagerten sich die Forschungsinteressen einseitig in die Richtung einer täterzentrierten Kriminologie, für die sich rasch die Bezeichnung ›Kriminalbiologie‹ durchsetzte. Soziale Ursachen kriminellen Verhaltens interessierten in dieser Perspektive nur, sofern sie zur Formung der ›Verbrecherpersönlichkeit‹ beitrugen. Die medizinisch orientierte Richtung der Kriminologie konnte in Deutschland durch ihre Verflechtung mit dem Strafsystem einen organisatorischen Vorsprung gegenüber den wenigen, isoliert forschenden Vertretern einer kritischen Kriminalsoziologie erzielen. Darüber hinaus wurden die durch die kriminalbiologische Infrastruktur gewonnenen Einzeldaten in einigen Ländern zentral gesammelt und der Forschung zur Verfügung gestellt; die zu praktischen Zwecken erhobenen – und nicht immer wissenschaftlichen Kriterien genügenden – Daten beeinflussten die Ergebnisse der psychiatrischen, erbbiologischen, rassenhygienischen und kriminologischen Forschung und flossen bisweilen in die entsprechende Handbuch-Literatur ein. Wie schon bei der Einführung des Stufenstrafvollzugs schritt Bayern auch bei der Institutionalisierung der kriminalbiologischen Forschung als Pionierland voran, während die preußische Justizverwaltung sich einmal mehr als strukturkonservative Beharrungskraft erwies.13 Das bayerische Justizministerium führte im Juli 1923 einen einheitlichen Fragebogen als verbindliche Basis für die kriminalbiologische Persönlichkeitsforschung in allen Strafanstalten ein; ein halbes Jahr später wurde im Zuchthaus Straubing eine zentrale Sammelstelle zur Archivierung und Erschließung der Erhebungsbögen eingerichtet. Der bayerische Justizminister Franz Gürtner verwandte sich zudem beim Reichsjustizministerium und den übrigen Landesjustizverwaltungen für eine reichsweite Ausdehnung der erbbiologischen Untersuchung der Gefangenen.14 Auch in Württemberg, Baden und Thüringen wurden die kriminalbiologischen Untersuchungen an den Strafvollzugsanstalten durch Verwaltungsvorschriften eingeführt und systematisiert. Das sächsische Justizministerium förderte ab 1925 eine von dem Sozialhygieniker Rainer Fetscher eingerichtete »Erbbiologische Kartei«, in der sukzessive die kriminalbiologisch relevanten Daten der Gefangenen aufgenom13 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf den Überblick über die Kriminalbiologischen Dienste bei Oberthür, S. 6ff. 14 Bayerischer Justizminister (Gürtner) an RJM, 8.5.1925, BA, R 30.01, Nr. 5688, Bl. 1: »Die erbbiologische Untersuchung der Gefangenen scheint mir – und diese Anschauung wird von dem bayerischen Obermedizinalausschusse vollkommen geteilt – für die künftige Entwicklung des Strafvollzugs und der Strafrechtspflege, für den polizeilichen Erkennungsdienst und für die Wissenschaft von solcher Bedeutung zu sein, dass es meines Erachtens wünschenswert wäre, wenn dieses Verfahren nicht auf Bayern beschränkt bliebe, sondern auch von anderen Ländern übernommen würde; nur dann könnten die zu erwartenden Ergebnisse der gesamten deutschen Strafrechtspflege nutzbar gemacht werden.«

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men wurden.15 Der Dresdener Privatdozent warb für dieses ehrgeizige Forschungsvorhaben mit dem Hinweis auf die »praktischen Zwecke«, denen sie diene: Die Daten sollten »zur Beurteilung im Strafverfahren«, zur Erleichterung der »angestrebte[n] individuelle[n] Behandlung« der Strafgefangenen, zur Unterstützung der »Strafentlassenenfürsorge« sowie später als Entscheidungshilfe bei der »Unfruchtbarmachung Minderwertiger« genutzt werden.16 Institutionell war die »Erbbiologische Kartei« jedoch nicht mit dem Stufenstrafvollzug verbunden. In Preußen wurden – vergleichsweise spät – im Jahr 1930 durch eine Ministerialverfügung bei neun Gefangenenanstalten »Kriminalbiologische Forschungsstellen« eingerichtet; das Untersuchungsgefängnis in Berlin-Moabit fungierte zudem als »Zentralstelle für die Sammlung der Forschungsergebnisse«.17 Offenbar griff die Justizverwaltung einfach auf die bestehende Infrastruktur der Irrenstationen zurück.18 Der Erlass begrenzte den Kreis der zu untersuchenden Gefangenen auf Fälle von Tötungs- und Sittlichkeits-, Raubund Brandstiftungsdelikten sowie auf »Straftaten berufs- (gewerbs- oder gewohnheits-) mäßiger Verbrecher« und »›Schwersterziehbare‹ im Sinne der Stufenverordnung«. Die Gefängnisärzte, die nun neben ihrer gewohnten Tätigkeit die kriminalbiologischen Untersuchungen durchzuführen hatten, waren derart überlastet, dass nur ein Bruchteil des bezeichneten Personenkreises tatsächlich berücksichtigt werden konnte.19 In quantitativer Hinsicht war die kriminalbiologische Erfassung des Gefangenenbestandes in Bayern zur Zeit der Weimarer Republik weiter fortgeschritten als in den übrigen Teilen des Deutschen Reichs. Doch darüber hinaus wirkte auch die Struktur des bayerischen Kriminalbiologischen Dienstes mit anstaltseigenen Untersuchungsstellen und einer zentralen Sammelstelle bei15 Vgl. Fetscher, Aufgaben und Organisation; ders., Die wissenschaftliche Erfassung. 16 Fetscher an das Sächsische Justizministerium, 29.8.1925, HStA Dresden, Sächsisches Justizministerium, Nr. 1587, Bl. 78ff., hier Bl. 80. 17 Kriminalbiologische Forschungsstellen bei den preußischen Gefangenenanstalten. AV. d. JM. v. 29.7.1930, in: Justizministerialblatt für die preußische Gesetzgebung und Rechtspflege, Bd. 92, 1939, S. 266f.; siehe auch Weddige, S. 222f. 18 Die in der Allgemeinen Verfügung vom 29.7.1930 aufgeführten Standorte legen diesen Schluss nahe: Berlin-Moabit, Breslau, Münster, Köln, Wittlich, Frankfurt/M., Gollnow, Rheinbach, Halle; zu den Irrenstationen vgl. oben, Abschnitt A, II, 3. 19 So berichtete die kriminalbiologische Forschungsstelle in Celle, dass sie nach einem Jahr insgesamt 34 Untersuchungen durchgeführt und lediglich 12 Abschlussgutachten fertiggestellt hatte. In Halle hatte der verantwortliche Anstaltsarzt im gleichen Zeitraum keine einzige kriminalbiologische Untersuchung vorgenommen, was er mit seiner Arbeitsbelastung begründete. Lediglich die Forschungsstelle in Münster konnte auf 130 untersuchte Gefangene verweisen. Bei diesen Zahlen ist zu berücksichtigen, dass die kriminalbiologischen Forschungsstellen nicht nur für die anstaltseigenen Gefangenen zuständig waren, sondern eigentlich auch die Insassen der übrigen Gefangenenanstalten der jeweiligen Region zu untersuchen hatten. Vgl. Simon, S. 151.

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spielgebend für andere Länder; sie wurde schließlich in der NS-Zeit, als das Reichsjustizministerium vom ehemaligen bayerischen Justizminister Gürtner geleitet wurde, zur Grundlage eines reichsweiten kriminalbiologischen Netzes.20 Durch die enge Kooperation zwischen der Sammelstelle und der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München bildete Bayern auch das Zentrum des kriminalbiologischen Wissenstransfers. Unter dem Gesichtspunkt der historischen Wirkmächtigkeit lohnt es also, den Blick einmal von der ansonsten oftmals maßstabsetzenden preußischen Verwaltung abzuwenden, um die Praxis der Verflechtung von Strafvollzug, kriminalbiologischer Einzeluntersuchung und psychiatrischer Grundlagenforschung am bayerischen Fallbeispiel zu betrachten.

2. ›Besserungsfähige‹ und ›unverbesserliche‹ Gefangene – Stufenstrafvollzug und Kriminalbiologie in Bayern Die Etablierung des bayerischen ›Erziehungsstrafvollzugs‹ stand im Kontext jener staatsautoritären Restauration, die nach der gewaltsamen Niederwerfung der Münchener Räterepublik und der Ablösung der sozialdemokratisch geführten Regierung Hoffmann unter dem Ministerpräsidenten Gustav Ritter von Kahr eingeleitet wurde. Im Windschatten des Kapp-Putsches hatte von Kahr mit der Unterstützung des bayerischen Landeskommandanten Arnold Ritter von Möhl die Regierungsmacht an sich gerissen. Nach der Landtagswahl vom 6. Juni 1920 wurde seine bürgerliche Koalitionsregierung umgebildet und um die Bayerische Mittelpartei erweitert, in der sich die Deutschnationalen Bayerns organisiert hatten.21 Fortan stellten die Deutschnationalen mit Christian Roth – und ab August 1922 mit Franz Gürtner – den Justizminister. Wenige Tage nach dem am 16. Juli 1920 erfolgten Amtsantritt des zweiten Kabinetts von Kahr sandte das Justizministerium ein Schreiben an die Verwaltungen der Strafanstalten, in dem es angesichts des vermeintlichen sittlichen Tiefstands der Bevölkerung vermehrte Erziehungsbemühungen gegenüber den Gefangenen anmahnte, die in zunehmender Zahl die Gefängnisse und Zuchthäuser füllten: Die »tiefgreifende sittliche Entartung weiter Kreise unseres Volkes« sei eine der »unseligsten Folgen des langen Krieges und des Umsturzes«. »Hemmungslose Vergnügungssucht, krassester Egoismus und Materialismus« herrschten überall vor sowie »eine fast unbegreifliche Verständnislosigkeit für die Not und die wahre Lage unseres Volkes, ein beängstigender Mangel an Gemeinsinn, Opferwilligkeit, vaterländischem Gefühl und 20 Vgl. Möhler, S. 129f.; Oberthür, S. 16. 21 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 782ff. u. Bd. 7, S. 68f.

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an Verständnis dafür, dass nur Arbeit, Fleiss und Sparsamkeit uns allmählich wieder emporführen können«. Unter den »derzeitigen Verhältnissen« müsse das »Hauptziel der Behandlung der Gefangenen, während der Strafverbüssung erzieherischen Einfluss auf sie zu gewinnen, den besseren Eigenschaften in ihnen zum Durchbruch zu verhelfen und brauchbare Menschen aus ihnen zu machen, [...] mit besonderem Eifer verfolgt werden«.22 Die larmoyante Klage über die Ablösung vaterländischer Werte durch »Materialismus« und »Vergnügungssucht« verrät eine kulturpessimistische Grundhaltung, die dem pädagogischen Fortschrittsoptimismus, der die Strafvollzugsreform in anderen Ländern begleitete, diametral entgegenstand. Auch bei der Wahl der Mittel, mit denen die ›Besserung‹ erreicht werden sollte, dachte man in Bayern weniger an eine Vorbereitung der Gefangenen auf die Anforderungen des modernen Erwerbslebens als an die ›bewährten‹ Methoden der Einzelhaft, der Seelsorge und der schulischen Unterweisung: Der Gefahr, dass die Strafanstalten, die »bei der jetzigen Zusammensetzung des Gefangenenstandes die Sammelbecken unlauterer, sittlich entarteter Elemente« seien, zu »Brutstätten verbrecherischer Gesinnung, zu wahren Verbrecherschulen werden«, müsse »mit allen Mitteln entgegengearbeitet werden«. Der »Pflege des kirchlichen Lebens in den Strafanstalten« und dem »Schulunterricht« komme deshalb eine erhöhte Bedeutung zu. Es sei »unbedingt notwendig, dass Hausgeistliche und Hauslehrer ständig auf die ihnen anvertrauten Gefangenen einwirken, dass sie in der Tiefe ihres Seelen- und Gemütslebens schürfen, persönliche Fäden zu ihnen anknüpfen und so durch genaue Kenntnis der Individualität des Gefangenen den richtigen Weg zu seiner Behandlung, Besserung und Erziehung finden«. Das Justizministerium warnte in seinem Rundschreiben noch davor, »die Arbeit als Erziehungsmittel einseitig zu bevorzugen«, da die »Erziehungsmittel der Kirche und Schule [...] dem der Arbeit mindestens ebenbürtig« seien. Die »Geistlichen und Lehrer« wurden schließlich ersucht, vierteljährlich über »ihre im Schulunterricht, beim Gottesdienst und Religionsunterricht, bei den Zellenbesuchen und bei ihrem sonstigen erzieherischen Einwirken auf die Gefangenen gemachten Erfahrungen« zu berichten.23 Nach der Auswertung der eingegangenen Berichte sah der Strafvollzugsreferent des Justizministeriums Richard Degen in den geschilderten Erfahrungen einen neuen Beweis dafür, »wie wichtig die Seelsorge in den Strafanstalten und wie notwendig es ist, dass ihr Einfluss immer mehr gestärkt wird«.24 Er unterstützte den Vorschlag, vermehrt Nachmittagsgottesdienste abzuhalten; auch gab er die Anregung eines Anstaltsgeistlichen weiter, »einen 22 BJM an Strafanstalten, 26.7.1920, HStA München, M Ju, 22504 (unfoliiert). 23 Ebd. 24 BJM an Strafanstalten, 16.4.1921, HStA München, M Ju, 22504 (unfoliiert).

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allgemeinen Sonntagsnachmittagsunterricht, vielleicht mit kleiner Schlussandacht, abzuhalten«. Dabei sollten wichtige »Stücke aus Geschichte, Naturwissenschaft, Menschenkunde, Lebenserfahrung« ihren Platz finden sowie »weltlich-religiöse Grenzfragen« besprochen werden, »z.B. beim 4. Gebot christliche Auffassung von Staat und Gesellschaft, Familie, Autorität, der Gemeinschaftsgedanke, beim 6. Gebot hygienisch-sittliche Pflichten, Arbeitsund Zufriedenheitspflicht, beim 7. Gebot Steuermoral, Streikrecht, Eigentumsrecht u.s.w.«. Freilich wurden auch Probleme festgestellt, die den Erziehungserfolg beeinträchtigten. So litten die erzieherischen Bestrebungen »unter der Überfüllung der Strafanstalten und der Unmöglichkeit, in den Strafanstalten mit vorwiegender Gemeinschaftshaft die schlechteren Elemente unter den Gefangenen in wünschenswerter Weise von den besseren Elementen abzusondern«. Um diesem »Übelstande wenigstens einigermassen abzuhelfen«, sollten die Gefangen möglichst nicht allein nach Maßgabe ihrer Beschäftigung den verschiedenen Abteilungen zugewiesen werden. Die »Rücksicht auf die Arbeit und ihren finanziellen Ertrag« dürfe »nicht soweit führen, dass besserungsfähige und nicht oder nur unwesentlich vorbestrafte Gefangene dem Einfluss von Wühlern und Hetzern oft der radikalsten Gesinnung ausgesetzt und so verdorben werden.« Aus diesem Grund verfügte das Justizministerium, »eigene Abteilungen für solche Gefangene zu errichten, deren Vorleben, Gesinnung und Führung dafür sprechen, dass sie bessernden Einflüssen zugänglich sind«. Diese Maßnahme sollte im Vorgriff auf eine grundlegende Umgestaltung des Strafvollzugs erfolgen: »Das Staatsministerium der Justiz beabsichtigt ohnehin, der Einführung einer Art von Progressivsystem in den bayerischen Strafanstalten näherzutreten, soweit es sich bei den Einrichtungen dieser Strafanstalten durchführen lässt, jedenfalls aber den Strafvollzug gegen typische Verbrecher und Rückfällige strenger und abschreckender zu gestalten, als es bisher der Fall ist. Die Absonderung der besseren Elemente in gemeinschaftlichen Abteilungen von den übrigen Gefangenen bildet für diese Massnahmen einen Vorläufer.«25

Angesichts neuerer historischer Studien, die den bayerischen Stufenstrafvollzug und die mit ihm verbundene kriminalbiologische Untersuchung unter dem Gesichtspunkt der Modernität beleuchtet haben,26 verdient es festgehalten zu werden, dass die Trennung der ›Besserungsfähigen‹ von der ›Unverbesserlichen‹ bereits vor der Einführung des eigentlichen Stufenstrafvollzugs zu den Maximen der bayerischen Strafvollzugspolitik gehörte, der Erziehungsgedanke einem traditionellen christlich-konservativen Konzept verpflichtet war und die Einführung des »Progressivsystems« von dem Gedanken getragen 25 Ebd. 26 Vgl. Liang, Criminal-Biological Theory, Discourse, and Practice, S. 63ff.; Wetzell, Inventing the Criminal, S. 128ff.; Wachsmann, Prisons and Penal Policy, S. 104ff.; Simon, S. 101ff.

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wurde, den Strafvollzug für einen großen Teil der Gefangenen »strenger und abschreckender« zu gestalten.

a) Selektive Erziehung: die Organisation des Stufenstrafvollzugs Der ›Strafvollzug in Stufen‹ wurde durch eine Verfügung des Justizministeriums vom 3. November 1921 in allen bayerischen Strafanstalten eingeführt.27 Die Separation der ›unverbesserlichen‹ Gefangenen, die als eine notwendige Voraussetzung für den Erziehungserfolg gegenüber den ›Besserungsfähigen‹ galt, wurde nun zum verbindlichen Strukturprinzip des Strafvollzugs erhoben: »Es muß danach getrachtet werden, daß die besserungsfähigen, erzieherischen Einflüssen zugänglichen Gefangenen unter allen Umständen von den unverbesserlichen Gefangenen, den Gewohnheitsverbrechern und den Gefangenen mit ausgesprochener verbrecherischer Gesinnung getrennt werden und daß auch die besserungsfähigen Gefangenen nach bestimmten Gesichtspunkten in Gruppen geschieden werden, in denen sie der individualisierenden Behandlung leichter, richtiger und eingehender unterzogen werden können. Eine solche Trennung ist nur möglich auf Grund einer sorgfältigen Auslese, die wieder eine längere Erprobung voraussetzt. Einer solchen Erprobung hätten sich in der Regel alle neu zugehenden Gefangenen zu unterziehen, ihr Ergebnis hätte die Grundlage für die weitere Behandlung des Gefangenen während der Strafverbüßung zu bilden. Diese Erprobung bildet von selbst einen scharf getrennten Abschnitt in der Behandlung des Gefangenen. Erst wenn er sich erprobt hat, wird die während dieses Abschnittes strenge und zurückhaltende Behandlung einer milderen Gestaltung des Strafvollzugs weichen müssen, die den Gefangenen gewisse Vergünstigungen gewährt.«28

Es gehörte zu den Eigentümlichkeiten des bayerischen Stufenstrafvollzugs, dass die Gefangenen nicht generell schrittweise zur Eigenverantwortlichkeit und Freiheit erzogen werden sollten, wie es der Progressionsgedanke eigentlich verlangt hätte; vielmehr wurden die pädagogischen Anstrengungen auf die hoffnungsvollen Fälle konzentriert. Die Stufung des Vollzugs stellte insofern weniger ein Erziehungsmittel als ein Selektionsinstrument dar. Das Zurückbleiben eines Teils der Gefangenen in der untersten Stufe war von vornherein einkalkuliert und nicht erst die traurige Folge fehlgeschlagener Erziehungsbemühungen. Indem Richard Degen in seinem Erlass von ›Individualisierung‹, ›Besserung‹ und Separation der ›unverbesserlichen‹ Gefangenen sprach, griff er auf 27 Ministerialentschließung vom 3.11.1921, abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 1, S. 10–18. 28 Ebd., S. 12f.

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programmatische Schlagworte der modernen Strafrechtsreformbewegung zurück. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Forderungen aus Liszts ›Marburger Programm‹ nahezu in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Während Franz von Liszt die Überwindung des Vergeltungs- und Abschreckungsprinzips anstrebte und es allenfalls noch im Sinne eines »Denkzettels« für die »nicht besserungsbedürftigen Gelegenheitsverbrecher« gelten lassen wollte,29 setzte die Ministerialentschließung vom 3. November 1921 auf eine verstärkte Abschreckung – gerade auch in der ersten Stufe, die alle Gefangenen zu durchlaufen hatten: »Hier soll der Vergeltungszweck vor allem betont werden; hier soll der Gefangene die abschreckende Wirkung der Strafe in ihrer ganzen Schwere kennen lernen.«30 Besondere Strenge war im bayerischen Stufenstrafvollzug auch dem »rückfälligen Gewohnheitsverbrecher« zugedacht: »Gegen diese unverbesserlichen Gefangenen, denen der Aufstieg in die höheren Stufen ohnehin verschlossen ist, ist jede Strenge am Platze; bei ihrer Behandlung kann der Vergeltungs- und Abschreckungszweck der Strafe gar nicht genug betont werden. Es ist gar kein Zweifel, daß gerade diese Gefangenen in den Strafanstalten bisher viel zu milde behandelt wurden.«31 Franz von Liszt setzte bei den »unverbesserlichen Gewohnheitsverbrechern« auf die unbefristete Einsperrung, doch er betrachtete die »rückfälligen Gewohnheitsverbrecher« – anders als das bayerische Justizministerium – nicht pauschal als »unverbesserlich«; gerade im »Gewohnheitsverbrechertum«, das sich aus »den besserungsbedürftigen, durch vererbte und erworbene Anlagen zum Verbrechen hinneigenden, aber noch nicht rettungslos verlorenen Individuen rekrutiert«, sah Liszt die eigentliche Zielgruppe der Erziehungsbemühungen.32 Für diese »besserungsbedürftigen Gewohnheitsverbrecher« hatte er »Besserungsanstalten« mit einer milden, dem Progressionsprinzip verpflichteten Vollzugspraxis gefordert.33 Im bayerischen Stufenstrafvollzug hingegen waren nennenswerte Haftmilderungen und Resozialisierungsmaßnahmen auf eine Elite der Gefangenen beschränkt, die der Urvater der Strafrechtsreform wohl gar nicht als ›besserungsbedürftig‹ erachtet hätte. Denn in die dritte Stufe des bayerischen Strafvollzugs durfte »nur der Gefangene aufrücken, der sich in der zweiten Stufe, von entschuldbaren leichteren Verfehlungen abgesehen, tadellos geführt hat und von dem die Beamtenkonferenz die Überzeugung gewonnen hat, daß die Strafe ihren Zweck erfüllt und daß er den ernstlichen Willen 29 Liszt, Zweckgedanke, S. 166 u. 172. 30 Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 1, S. 14. 31 Ebd., S. 14f. 32 Liszt, Zweckgedanke, S. 171. 33 Ebd.: »Die Strafe beginnt mit Einzelhaft. Bei guter Führung kann widerrufliche Versetzung in progressive Gemeinschaft durch den Aufsichtsrat ausgesprochen werden. Arbeit und Elementarunterricht sind als Mittel zur Stärkung der Widerstandskraft zur Anwendung zu bringen. Prügelstrafe als Disziplinarstrafe ist unbedingt ausgeschlossen«.

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und die sittliche Kraft hat, nach seiner Entlassung ein ordentlicher Mensch zu werden und zu bleiben.«34 Die verschiedenen – nach Tätergruppen und Vollzugsphasen differenzierten – Strafziele sollten sich in der Vollzugspraxis manifestieren. Die unterste Stufe, in der Gefängnisgefangene mindestens sechs Monate, Zuchthausgefangene mindestens neun Monate nach ihrer Einlieferung verbringen mussten, war durch eine ernste Behandlung und strenge Disziplin gekennzeichnet; »Vergünstigungen« gab es »überhaupt nicht«; die »in der ersten Stufe befindlichen Gefangenen« mussten »sich rücksichtslos jeder Arbeit unterziehen, die ihnen aufgetragen« wurde; sie sollten »besonders mit schweren und anstrengenden, aber auch mit unangenehmeren Arbeiten beschäftigt werden«; über den Zeitpunkt des »Aufstiegs in die zweite Stufe (wie später in die dritte Stufe)« hatte die Beamtenkonferenz zu entscheiden.35 Mit der zweiten Stufe waren »hausordnungsmäßige Vergünstigungen« verbunden. Erst in der dritten Stufe, für deren Erreichen noch einmal die gleichen Mindestwartezeiten galten, erhielten die Gefangenen »Freiheiten, die den Strafvollzug seines strengen Charakters entkleiden«; die Gefangenen dieser höchsten Stufe erhielten »statt der typischen Gefangenenkleidung eine der Arbeitskleidung der freien Arbeiter angenäherte Kleidung, eine wesentlich höhere Arbeitsbelohnung, besser und freundlicher ausgestattete Hafträume«; für sie sollten ferner »an den Sonntagnachmittagen« Vorträge veranstaltet werden; »die Obsorgetätigkeit, die für ihr Fortkommen nach der Entlassung sorgt«, hatte bei diesen Gefangenen »besonders rege« zu sein.36 Die Erziehungsarbeit oblag den Seelsorgern und Lehrern.37 So verlockend die langfristig in Aussicht gestellten Vergünstigungen auch gewesen sein mögen, die Einführung des Stufenstrafvollzugs bewirkte für die Gefangenen zunächst eine deutliche Verschlechterung ihrer Situation. Jeder Insasse einer Strafanstalt wurde der untersten Stufe zugeteilt, in der im Gegensatz zur bisherigen Handhabung ›hausordnungsmäßige Vergünstigungen‹ grundsätzlich ausgeschlossen waren. Wer nach dem Aufstieg in eine höhere Stufe wegen einer disziplinären Verfehlung wieder zurückgestuft wurde, hatte »jedes Anrecht, wiederholt in eine höhere Stufe vorzurücken, unwiederbring-

34 Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 1, S. 15. 35 Ebd., S. 14f. u. 17. 36 Ebd., S. 15. 37 Ebd., S. 17: »Besonders am Herzen liegt mir, wie ich wiederholt betone, die Ausnützung der Sonntage zur erzieherischen Einwirkung auf die Gefangenen. Sie setzt voraus, daß sich die Hausgeistlichen und die Hauslehrer an den Sonntagen noch mehr, als es bisher der Fall zu sein scheint, in den Dienst ihrer vornehmsten Aufgabe stellen, Erzieher und Volksbildner zu sein und den ihrer Fürsorge anvertrauten Gefangenen die Lehren der Religion, sittliche Ideen, praktische Lebenskunde und all die edlen und unvergänglichen Werte zu vermitteln, an denen unsere Kultur so reich ist.«

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lich verwirkt«.38 Den Gefangenen der zweiten Stufe drohte somit bei der geringsten Verfehlung der endgültige Verlust jedweder Vergünstigung. In der Praxis stellte sich unmittelbar nach der Einführung des Stufenstrafvollzugs das Problem, wie mit den Häftlingen zu verfahren sei, die sich zuvor wegen ihrer guten Führung gewisse Privilegien verdient hatten. Das Justizministerium entschied, dass bereits gewährte »Vergünstigungen mit der Zuteilung zu Stufe 1 nicht ohne weiteres entzogen werden« sollten, verwies jedoch auf die Möglichkeit, dieses »bei der nächsten Verfehlung gegen die Hausordnung« nachzuholen.39 Nach den Erfahrungen des ersten Jahres konstatierte das Justizministerium, »daß die Einführung des Stufensystems unter den Gefangenen Erbitterung hervorgerufen habe«; doch diese Feststellung sowie »Äußerungen von Gefangenen, wie ›es sei ja jetzt im Zuchthause gar nicht mehr schön‹, belegten, »wie notwendig es war, gerade gegenüber denjenigen Gefangenen, die es meisterhaft verstanden haben, sich das Leben in der Strafanstalt so angenehm als möglich zu machen, die Strenge des Strafvollzugs mehr zu betonen.«40 Offenbar war nicht nur die Gestaltung der Haftbedingungen in der ersten Stufe, sondern auch die Einstufungspraxis durch Strenge geprägt. Nach einer Statistik des Justizministeriums befanden sich am Stichtag 30. September 1927 von den insgesamt 4 827 Insassen bayerischer Strafanstalten nur 157 in der dritten Stufe.41 Auch hielten sich die besonderen ›Freiheiten‹, die diese 3,3 % der Gefangenen genießen durften, in engen Grenzen: Zuchthausgefangene erhielten eine »bessere Raumausstattung«, »Lichterlaubnis bis 9 Uhr«, »Sprecherlaubnis bei der Arbeit« und konnten eine »eigene Tageszeitung« abonnieren; Gefängnisgefangene durften darüber hinaus auch »Rauchtabak« erwerben und an »Turnspielen« teilnehmen.42 Vor diesem Hintergrund geriet der Stufenstrafvollzug von zwei Seiten aus in die Kritik. Zum einen fiel der aus der Verteilung der Gefangenen auf die Stufen ablesbare Effekt der ›Besserung‹ geringer aus als erwartet; zum anderen empörte sich die Boulevard- und Rechtspresse – in Verkennung der Fakten – über die ›Luxusversorgung‹ und die ›Freizeitunterhaltung‹, die der ›neuzeitliche‹ Strafvollzug den Verbrechern an Stelle der verdienten Sühne angedeihen lasse. Richard Degen, inzwischen zum Abteilungsleiter im Justizministerium aufgestiegen, zog auf einer Besprechung der Strafvollzugsreferenten der Län38 Ebd., S. 16. 39 Ministerialentschließung vom 2.8.1922, abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 1, S. 19–21, hier S. 20. 40 Ministerialentschließung vom 2.11.1922, ebd., S. 21–25, hier S. 21. 41 Vgl. Statistik zum Strafvollzug in Stufen, undatiert, HStA München, M Ju, 22507 (unfoliiert). 42 Vgl. die »Übersichten über die Unterscheidungsmerkmale der einzelnen Stufen« (Anlage zur Ministerialentschließung vom 17.4.1924), abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 1, S. 44f.

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der im Januar 1930 eine äußerst ernüchternde Bilanz aus den bayerischen Erfahrungen mit dem Stufenstrafvollzug: »Ich bekenne, daß ich seinerzeit mit großen Erwartungen an die Einführung des Erziehungsstrafvollzugs in den Strafanstalten herangegangen bin. [...] Es schien mir möglich, bei entsprechender Einwirkung auf die Gefangenen doch bei einem guten Teil von ihnen einen Wandel in der Gesinnung und der Einstellung zu Staat und Gesellschaft herbeiführen zu können. Wenn ich nüchtern, ohne mich selbst zu belügen, die Erfahrungen abwäge, die bisher gemacht worden sind, so muß ich mir sagen, daß die Erfolge, die ich seinerzeit erwartet habe, nicht eingetreten sind. [...] Ein großer Teil der Gefangenen in den Strafanstalten ist, wir müssen das leider zugeben, nachhaltigen erzieherischen Einwirkungen nicht in dem Maße zugänglich, daß darauf die Hoffnung aufgebaut werden könnte, sie zu einem brauchbaren Staatsbürger zu machen.«43

Richard Degen ging auch auf die kritischen Stimmen »aus der Bevölkerung« ein. »Weite Bevölkerungskreise, und nicht nur Menschen ohne Urteil, sondern auch gebildete Kreise« kämen »mit manchen Einrichtungen unserer Strafanstalten, besonders soweit sie der bloßen Unterhaltung der Gefangenen dienen, schon nicht mehr mit«. Man könne ihnen »nicht verständlich machen, »daß Gefangene Konzerte haben und Sport betreiben, ihre Hafträume ausschmücken, Pflanzen und Vögel halten und auf Staatskosten bis 10 Uhr Licht brennen dürfen, wenn wir nicht hinsichtlich der Gefangenen, die derartige Freiheiten genießen sollen, die strengste Auslese treffen und wenn wir nicht Erziehungserfolge bei ihnen aufweisen können«. Degens selbstkritisches Resümee mündete in den Vorschlag, den Großteil der Gefangenen vom Stufenstrafvollzug auszuschließen, ihnen aber den Aufstieg in »Führungsklassen« zu ermöglichen, da die Vergünstigungen sich immerhin positiv auf die Anstaltsdisziplin ausgewirkt hätten. Die wenigen für den progressiven Vollzug geeigneten Gefangenen, die eine über das »äußerliche Verhalten« und den »guten Willen« hinausgehende »innere Veranlagung« hätten, »das Gehörte und Gelernte mit Erfolg in sich aufzunehmen und künftig darnach zu handeln«, sollten in »besonderen Anstalten« oder Abteilungen zusammengefasst werden. Auch bei der »Entlassenenfürsorge« sei eine »strenge Auslese« angebracht, denn es hieße »die ohnehin knappen Mittel für Entlassenenfürsorge verzetteln und vergeuden, wenn sie in Form von Almosen an Entlassene, vielleicht dazu noch Unwürdige, hinausgegeben werden«.44 Die schonungslose Bestandsaufnahme des höchsten bayerischen Strafvollzugsbeamten erinnert an die »Grenzen der Sozialdisziplinierung«, die Detlev Peukert am Gegenstand der Weimarer Jugendfürsorge diagnostiziert hat, wo 43 Manuskript »Besprechung der Strafvollzugsreferenten der Länder über den Entwurf d. Strafvollzugsgesetzes am 18. Jan. 1930, Referat Degen«, HStA München, M Ju, 22507 (unfoliiert). 44 Ebd.

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ein überspannter sozialpädagogischer Fortschrittsoptimismus enttäuscht wurde und unter den Sparzwängen der Weltwirtschaftskrise in einen Selektionsdiskurs und eine Ausgrenzungspraxis umschlug.45 Freilich begleitete die Aussonderungspraxis den bayerischen Erziehungsstrafvollzug von Beginn an.46 Mehr noch: die Einführung des Stufensystems ging aus der Überlegung hervor, den Strafvollzug strenger und abschreckender zu gestalten. Auch zeugen die traditionellen seelsorgerischen Erziehungsmethoden keineswegs von einem pädagogischen Optimismus, der auf dem Glauben an die sozialtechnische Lösbarkeit gesellschaftlicher Probleme basierte. Bedenklich erscheint ferner die Stichhaltigkeit der durch das bayerische Justizministerium festgestellten ›Unerziehbarkeit‹ der allermeisten Gefangenen. Schließlich stützte sich die kritische Bilanz Richard Degens aus dem Jahr 1930 nicht auf eine Statistik der Rückfallhäufigkeit nach der Strafverbüßung, sondern auf die große Zahl der anstaltsintern als ›unverbesserlich‹ Eingestuften. Deshalb soll im Folgenden der Blick auf die Praxis der Einstufung und der kriminalbiologischen Untersuchung gerichtet werden, durch welche die ›Unverbesserlichkeit‹ nicht nur ›objektiv‹ festgestellt, sondern auch definiert wurde.

b) Die Bestimmung der ›Unverbesserlichkeit‹: die kriminalbiologische Untersuchung Der bayerische Kriminalbiologische Dienst verdankt seine Entstehung einer besonderen Konstellation. Die wissenschaftlichen und persönlichen Ambitionen eines einfachen Gefängnisarztes trafen auf den neuen Wissenschaftsbedarf der Strafvollzugsadministration, die ein Verfahren zur Identifizierung der vom Erziehungsstrafvollzug auszuschließenden ›Unverbesserlichen‹ entwickeln musste. Theodor Viernstein, der ›Hausarzt‹ des Zuchthauses Straubing, nutzte nach der Einführung des Stufenstrafvollzugs die Gunst der Stunde und versuchte, Richard Degen für seinen Plan zu gewinnen, die routinemäßige ärztliche Eingangsuntersuchung der Gefangenen um erbbiologische Aspekte zu ergänzen, um die entsprechenden Befunde als Einstufungskriterium zu verwenden und sie für weitergehende Forschungen aufzubereiten. Der 1878 als Sohn des Ministerialrats im bayerischen Finanzministerium Lorenz Ritter von Viernstein geborene Mediziner hatte nach dem Studium und der Volontärarztzeit in München als praktischer Arzt in der bayerischen Provinz gearbeitet, bis er im Jahr 1907 in den Staatsdienst eintrat.47 Zunächst wirkte Viernstein als Anstaltsarzt im Zuchthaus Kaisheim; im Jahr 1916 wurde er in die größte 45 Vgl. Peukert, Grenzen der Sozialdisziplinierung, S. 240ff. u. 305ff. 46 Vgl. Wachsmann, Prisons and Penal Policy, S. 115. 47 Angaben aus der Personalakte Theodor Viernsteins, HStA München, M Inn, 85264; siehe auch Burgmair u.a.

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bayerische Strafanstalt, das Zuchthaus Straubing, versetzt, wo er die Leitung der Krankenabteilung übernahm. Nach dem Ersten Weltkrieg trat Viernstein als überzeugter Monarchist in die BVP ein; er pflegte wissenschaftliche Kontakte zu den führenden Vertretern der Münchener Rassenhygiene und zeigte sich auch in seinen eigenen Schriften völkischen Ideen gegenüber äußerst aufgeschlossen; insofern dürfte der spätere Anschluss an die NS-Bewegung für ihn nur ein kleiner Schritt gewesen sein.48 Bereits vor der Einführung des Stufenstrafvollzugs suchte Viernstein sich neben seiner eigentlichen Arbeit als Anstaltsarzt mit kriminologischen Forschungen an den zu betreuenden Gefangenen wissenschaftlich zu profilieren.49 Als er im Herbst 1922 um die Erlaubnis nachsuchte, einen Anthropologen der Universität München für anthropometrische Untersuchungen an den Straubinger Gefangenen zuzuziehen, beschied ihm Justizminister Gürtner: »Die wissenschaftlichen Forschungen des Hausarzts Medizinalrat Dr. Viernstein verdienen jede Förderung.«50 Auf diese Weise ermutigt, trat Viernstein im Februar 1923 mit dem Vorschlag, die von ihm in Straubing bereits praktizierte erweiterte Zugangsuntersuchung für alle Strafanstalten vorzuschreiben, an das Justizministerium heran. Als wissenschaftliche Referenz benannte er die Münchener Rassenhygieniker Professor Ernst Rüdin und Privatdozent Fritz Lenz.51 Wenige Tage später lieferte er eine ausführliche rassenhygienische Begründung für die vorgeschlagene erb- und konstitutionsbiologische Bestandsaufnahme nach. »Das Gedeihen der Rasse« müsse, so Viernstein, »heute für uns Deutsche Gegenstand der wichtigsten Sorge sein, nachdem durch die ungünstige Auslesewirkung des Krieges kolossale Massen besonders hochwertiger Rasseelemente generativ ausgeschaltet worden sind«. Wichtig sei es »in heutiger Zeit, die genaue biologische Zusammensetzung derjenigen, sich ständig mehrenden Elemente kennen zu lernen, welche durch Gesetzesüber48 In einem Empfehlungsschreiben anlässlich der geplanten Ernennung zum Honorarprofessor im Jahr 1936 äußerte Fritz Reu im Namen der Dozenten der Juristischen Fakultät der Universität München, »dass V.[iernstein] von 1918 bis 1933 Mitglied der BVP war. Da er aber von jeher antiklerikal eingestellt war, kann die Annahme Glauben finden, dass er bei der Revolte von 1918 aus monarchistisch-nationalen Gründen Anschluss an diese Partei gesucht hat«. Viernstein selbst gab im Zusammenhang mit der Durchführung des Berufsbeamtengesetzes an, erst 1927 der BVP beigetreten zu sein. Ab 1934 diente Viernstein als Sturmarzt in der SA; nach der Aufhebung des Aufnahmestopps wurde er 1937 in die NSDAP aufgenommen. Vgl. Fritz Reu an den Rektor der Universität München (undatiert), HStA München, M K, 35772 (unfoliiert); Fragebogen zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 sowie Fragebogen über Zugehörigkeit in NS-Organisationen vom 14.3.1938, HStA München, M Inn, 85264 (unfoliiert). 49 Vgl. Viernstein, Ärztliche Untersuchungen; ders. u. Hentig, Sittlichkeitsverbrecher; siehe auch das »Verzeichnis der Veröffentlichungen«, HStA München, M K, 35772, Bl. 254. 50 Vgl. Viernstein an BJM, 29.10.1922 und BJM (Gürtner) an Viernstein, 9.11.1922, HStA München, M Ju, 22504 (unfoliiert). 51 Vgl. Viernstein an BJM, 25.2.1923, HStA München, M Ju, 22504 (unfoliiert).

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tretungen Schaden stiften und für die Ordnung und Sicherheit, für das Leben der Person und die Integrität des Eigentums eine mehr oder minder große Gefahr bilden und die überdies, ohne selbst zu verdienen, dem Staate nur Kosten verursachen«.52 Wiederum gelang es Theodor Viernstein, das Justizministerium für seine Pläne zu erwärmen. Durch eine Ministerialentschließung vom 7. Juli 1923 wurde angeordnet, »die ärztlichen Aufnahmeberichte« unter Zugrundelegung eines von Viernstein entworfenen Formblatts »zu erweitern und zu vertiefen«. Zu erfassen seien »nicht nur das körperliche und geistige Bild des Gefangenen [...], sondern auch die wichtigsten vererbungsmäßigen Geistes- und Charakteranlagen, sowie das soziale Verhalten bei den Mitgliedern des väterlichen und mütterlichen Stammes«; ferner sollte »der Entwickelungsgang und das gesellschaftliche Lebensbild des Gefangenen eingehend« erhoben und »verbrecherischen Neigungen und deren mutmaßlicher innerer oder äußerer Verursachung Beachtung« geschenkt werden. Zusätzlich zur ärztlichen Erhebung waren mittels gesonderter Fragebögen Auskünfte von den Behörden des Heimatorts des Gefangenen einzuholen.53 Dem Forscherehrgeiz Theodor Viernsteins war mit diesem ersten Schritt bei weitem noch nicht genüge getan. Der Straubinger Gefängnisarzt beabsichtigte, alle diese aus zweiter oder dritter Hand zusammengetragenen Informationen über die Persönlichkeit und Lebensführung der Gefangenen nebst ihrer Verwandten in einer zentralen Kartothek zusammenzuführen, um sie nach erbbiologischen und kriminologischen Gesichtspunkten auszuwerten. Viernstein, der freimütig bekundete, dass mit der Einführung des Stufenstrafvollzugs eine »nie mehr wiederkommende günstige Gelegenheit« gekommen sei, »um insbesondere den hausärztlichen Dienst auf höhere Grundlage zu stellen«, wandte sich im April 1923 mit einer weiteren Denkschrift an Ministerialrat Degen: Die kriminalbiologischen Befundbögen dürften »ganz unmöglich im Lande verstreut bleiben bezw. in den Registraturen der verschiedenen Anstalten sang- und klanglos verschwinden. Ein solcher Gedanke wäre m. E. geradezu grausam gegenüber dem schreienden Bedürfnis der biologischen Wissenschaften, Tatsachenmaterial zu bekommen«. Es sei daher wünschenswert, dass das Material »gesammelt und zentral deponiert werde«. Als Sitz einer solchen Zentrale komme »nur München, der Sitz aller erstklassigen Institute und Einrichtungen in Frage«. Dort könnten »ernsten Wissenschaftlern, Rassebiologen, Soziologen, Juristen, Psychiatern, Anthropologen, Psychologen usw. gewünschte Teile des Materiales zur Bearbeitung an Ort und Stelle zugänglich gemacht werden gegen Zusicherung vollster Verschwiegenheit«.54 52 Viernstein an BJM, 28.2.1923, HStA München, M Ju, 22504 (unfoliiert). 53 Ministerialentschließung vom 7.7.1923, abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 1, S. 26–38, hier S. 29. 54 Viernstein an BJM, 19.4.1923, HStA München, M Ju, 22504 (unfoliiert).

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Viernsteins Hoffnung, seine Gefängnisarztstelle in der niederbayerischen Provinz gegen die Position eines kriminalbiologischen Institutsleiters in der Landeshauptstadt tauschen zu können und in die Wissenschaftsgemeinde der Münchener Rassenhygieniker aufgenommen zu werden, sollte sich noch nicht erfüllen. Doch das Justizministerium bewilligte im Februar 1924 die Einrichtung einer Sammelstelle »bei der Verwaltung des Zuchthauses Straubing«, mit deren Leitung »der Hausarzt Medizinalrat Dr. Viernstein betraut« wurde. »Die Ergebnisse der sämtlichen erbbiologischen Untersuchungen von Gefangenen in den Strafanstalten« sollten dort »gesammelt und übersichtlich geordnet« werden, »um sie zur raschen Verfügung für Polizeibehörden, Staatsanwälte, Gerichte und Strafanstalten bereit zu halten und auch der wissenschaftlichen Forschung zuzuführen«.55 Nach der bald erfolgten Umsetzung der Ministerialverfügung stand das Grundgerüst des bayerischen kriminalbiologischen Dienstes mit den beiden Säulen der erbbiologischen Einzeluntersuchung durch den jeweiligen Anstaltsarzt und einer zentralen Sammelstelle zur Archivierung und weiteren Verwendung der Daten. In den folgenden zehn Jahren liefen in der Sammelstelle Untersuchungsberichte über 17 500 Gefangene mit insgesamt 100 000 erfassten Verwandten ein.56 Den Angelpunkt des dualen Untersuchungsprogramms bildete der den kriminalbiologischen Einzelerhebungen zugrunde liegende Fragebogen. Bis 1925 wurde eine von Theodor Viernstein verfasste »Anleitung zur ärztlichen Untersuchung der Zugänge«57 herangezogen, die in wesentlichen Teilen auf die Feststellung der moralischen Standfestigkeit des Exploranden und seiner Verwandten abhob. So sollte der Gefangene Auskunft geben über »Alter. Todesursache. Trunksucht. Kriminalität. Wirtschaftliche Lage und soziales Verhalten. – Geistige u. gemütliche Veranlagung (Temperamentstyp, Reaktionsweise)« seiner Eltern, Großeltern, Onkel, Tanten und Geschwister. Auch der »Frage über Mutters hausfrauliche und mütterliche Einstellung, über ihr Verhalten gegen den Mann und die Nachbarschaft, über ihre sittliche und erzieherische Qualität, Streit- oder Putzsucht« wurde im Zusammenhang mit der ärztlichen Untersuchung Relevanz beigemessen. Im Übrigen waren »sonstige Auffälligkeiten im Stamme« festzuhalten. Als medizinische Kategorien – im mehr oder weniger engen Sinne – berücksichtigte das Untersuchungsschema das »Psychische Bild des Gefangenen«, die »Klinisch-psychiatr. Diagnose«, den »Temperamentstyp« nach Ernst Kretschmer und die »Körperli55 Ministerialentschließung vom 27.2.1924, abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 1, S. 40–42, hier S. 41. 56 Zahlenangaben nach dem Stand vom Juni 1933 aus der Denkschrift Viernsteins »Kriminalbiologie und Erneuerung der Rechtsordnung« aus dem Jahr 1933, HStA München, M Ju, 22512 (unfoliiert). 57 Anlage zur Ministerialentschließung vom 7.7.1923, HStA München, M Ju, 22504 (unfoliiert)

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che Untersuchung«. Bei der für die Stufenzuordnung des Gefangenen bedeutsamen »Vorläufigen sozialen Prognose« hatte der untersuchende Arzt die Auswahl zwischen den Prädikaten »besserungsfähig« und »unverbesserlich«. Eine ebenfalls von Viernstein erstellte Musteruntersuchung58 diente den übrigen Gefängnisärzten als Vorlage. Angaben über die Lebensführung des Gefangenen und seiner Familie beanspruchen hier rund 80 % des Textes. Im Untersuchungsbericht wird z.B. über die Mutter notiert: »lebt, 64 J., fleißig, war nur zu gut gegen die Kinder, nicht streitig, ruhig, hat Tage, an denen sie auffallend lacht, sehr lebhaft ist, ›spinnt‹, gibt dann keine Antworten auf Fragen, dann wird sie wieder ruhig & vernünftig; genaue Angaben sind von dem Gefangenen nicht zu erreichen; die Mutter stammt von Iglheim, geb. L.; über ihre Eltern nichts bekannt; Bruder Ludwig L., 58 J. , ledig, lebt in der elterlichen Familie des Gefangenen, ist Heizer, hat seine Frau erschlagen, saß deshalb im Zuchthaus Straubing, war nie geisteskrank, ist fleißig, hat auch die Eigenschaft, daß er an einzelnen Tagen sehr lustig ist; [...]«

Zu den übrigen Kategorien – einschließlich der medizinischen Befunde – finden sich nur knappe Notizen: »Psychisch: sagt, er sei geistig minderwertig, leicht aufgeregt, aber nicht verrückt; macht abgerißenen polternden Eindruck, lacht zeitweise, kratzt sich an den Armen, gibt widerstrebend Auskunft, kommt ab & zu in einen Redestrom hinein; queruliert dann gegen die Ungerechtigkeit, die gegen ihn geübt würde u.s.w., läßt sich wieder ablenken.– Typ: Schizothym – mit zyklothymen Zügen. Vorl. soz. Progn.: Uv. [=Unverbesserlich] Körperlicher Befund: Athletischer Typ; kein Bruch; Gebiß gut, lückenhaft; Unterkiefer hoch, etwas vorstehend; Herz & Lunge gesund; Pupillen in Ordnung; P.S.R. schwach +;– Größe 166 cm, Gewicht 61½ kg.– Einzelhaft: nicht geeignet. Arbeitsfähigkeit: für die eingeführten Betriebe, Arbeiten ohne gefährliche Werkzeuge notwendig. Besond. Bemerkg.: erscheint psychisch gefährdet.–«

Eine ausdrückliche Anweisung, nach welchen Kriterien die ›soziale Prognose‹ zu stellen sei, hatten die mit diesem Rüstzeug ausgestatteten Anstaltsärzte nicht. Der auf die Feststellung aller »Auffälligkeiten im Stamme« zugeschnittene Fragebogen legte es jedoch nahe, bei einer vermeintlich vorliegenden ›erblichen Belastung‹ von der ›Unverbesserlichkeit‹ des Gefangenen auszugehen. Ferner deutete die vorgesehene Erfassung von Körperbau- und Temperamentstypen darauf hin, dass eine Interpretation der Untersuchungsergebnisse im Sinne der Konstitutionslehre Kretschmers angedacht war. Der Tübinger 58 Zugangsuntersuchung Franz O., 6.1.1923 (Anlage zur Ministerialentschließung vom 7.7.1923), HStA München, M Ju, 22504 (unfoliiert).

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Privatdozent der Psychiatrie und Neurologie Ernst Kretschmer hatte eine ebenso populäre wie wissenschaftlich umstrittene59 Persönlichkeitstypologie entwickelt, gemäß der auch geistig gesunde Personen auf einer Skala zwischen den Polen der Zyklothymie (manisch-depressives Irresein) und der Schizophrenie verortet werden konnten. Die kriminologische Relevanz dieser Theorie ergab sich aus der von Kretschmer behaupteten Entsprechung von bestimmten Körperbautypen und Charaktertypen. Ähnlich der Lombrososchen Theorie vom ›geborenen Verbrecher‹ sollte diese Konstitutionslehre es ermöglichen, eine auf Körpermessungen gestützte individuelle Kriminalprognose aufzustellen.60 Mit Recht haben sowohl zeitgenössische Kritiker als auch Historiker die wissenschaftliche Validität des von Viernstein entwickelten Untersuchungsverfahrens angezweifelt. Ferdinand von Neureiter, der nach belgischem Vorbild den kriminalbiologischen Dienst Lettlands aufgebaut hatte, kritisierte das unausgereifte Untersuchungsschema, das einen Abgleich der Daten erschwere.61 Kritik war auch von den bayerischen Strafanstaltsärzten zu vernehmen, die Viernstein bei seinem privaten Vorstoß gegenüber dem Justizministerium übergangen hatte. So berichtete die Direktion der Gefangenenanstalt Amberg im Mai 1924, dass die Anstaltsärzte sich dagegen wandten, »dass aus einer so unsicheren, verschwimmenden Sache, wie Körpertypus und Reaktionstypus, die nur ausnahmsweise rein sind und so doch nur schätzungsweise erhoben werden können, weitere Schlüsse gezogen werden sollen auf die Besserungsfähigkeit«; schließlich hätten »Psychiater vom Fach [...] sich schon recht abfällig 59 Der Psychiater Kurt Schneider bemerkte im Jahr 1938 im Hinblick auf Kretschmer: »Die Tatsache aber, daß seine Lehre in verdünnter Form außerordentlich eingängig ist und gewissermaßen in einem Nachmittag gelernt werden kann, hat dazu geführt, daß sie vorschnell aufs äußerste popularisiert wurde und daß nicht-psychiatrische Ärzte, Strafrechtler, Pädagogen, Psychologen sich dieses scheinbar bequeme Werkzeug allzu rasch angeeignet haben. Kretschmers Begriffe wurden in der Praxis recht unheilvoll.«; Schneider, Über Psychopathen, S. 358; siehe auch: ders., Typenbildung in der Kriminalistik. 60 Vgl. Kretschmer, Körperbau und Charakter; ders., Biologische Persönlichkeitsdiagnose. 61 Viernstein nutzte die kritischen Äußerungen Neureiters als Argument für eine Ausweitung seines eigenen Erfassungsschemas; im Übrigen hielt er seine Untersuchungsmethode für überlegen, da sie verstärkt erbbiologische Aspekte berücksichtige: »Der Unterschied zwischen dem belgisch-lettländischen und meinem Schema scheint mir hauptsächlich darin zu liegen, daß ich unter Zugrundelegung der biologisch-erbbiologischen Arbeitsmethode den Probanden in erster Linie als Träger bestimmter Erbmassen und Glied einer blutsmäßig zu ihm gehörigen Entwicklungskette auffasse, dann erst als Träger persönlicher Eigenschaften und Produkt individueller Umweltverhältnisse [...] Belgien dagegen klammert sich überwiegend mit seinem Schema an die alleinige Person des Probanden selbst und zieht die übrigen Stammesangehörigen offensichtlich weit weniger heran. Nach meiner Überzeugung verblaßt dadurch das endgültige Gesamtbild und entbehrt so unzweifelhaft der packenden Plastik, die allein geeignet ist, die so mühsam geförderten Erhebungen nicht nur zu toten Aktenbündeln zu ballen, sondern zu einem lebenswarmen Gemälde zu gestalten.«; vgl. Viernstein an BJM, 12.10.1924 und 22.10.1924 (Zitat), HStA München, M Ju, 22511 (unfoliiert).

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über diese Angelegenheit geäußert und von ›Pseudowissenschaft‹, von ›wissenschaftlichen Bocksprüngen‹ gesprochen«.62 In neueren historischen Studien werden insbesondere die »eklektische Mischung verschiedener wissenschaftlicher und – auch nach damaligen Maßstäben – pseudowissenschaftlicher Theorien«,63 die Unzuverlässigkeit der vom Gefangenen selbst und von den ›Heimatbehörden‹ gelieferten Informationen sowie das überragende Gewicht ›unwissenschaftlicher‹ Kategorien, wie z.B. der Lebensführung oder des Charakters, beanstandet, die ein Einfallstor für subjektive Wertungen und bürgerliche Vorurteile bildeten.64 Diese methodischen Mängel sind – wie bereits die oben zitierte Musteruntersuchung zeigt – so offensichtlich, dass ihnen an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden soll. Freilich litt das kriminalbiologische Untersuchungsverfahren darüber hinaus noch an einem grundsätzlicheren Geburtsfehler: Die Untersuchung war einerseits als eine reine Datenerhebung konzipiert, die das Material für künftige massenstatistische Forschungen über den Kausalzusammenhang von Persönlichkeitsmerkmalen bzw. Erbanlagen und kriminellen Dispositionen liefern sollte; andererseits bildete sie unmittelbar die Grundlage für eine individuelle ›soziale Prognose‹ zum Zweck der Einstufung des Gefangenen. Grundlagenforschung und Anwendung der ›Wissenschaft‹ fielen bei der kriminalbiologischen Untersuchung zusammen. Möglicherweise hätte die Datensammlung – nach einer Korrektur der zweifelhaften Kategorien und Erhebungsmethoden – dazu dienen können, die seinerzeit diskutierten Theorien über die kriminellen Neigungen bestimmter ›Psychopathen‹ (Kurt Schneider) oder ›Charaktertypen‹ (Ernst Kretschmer) empirisch zu überprüfen. Vielleicht hätte man auch anhand einer gründlichen Auswertung des über die Jahre angesammelten Materials Kriterien für die statistische Wahrscheinlichkeit der ›Besserung‹ oder der ›Rückfälligkeit‹ eines bestimmten Täters gewinnen können. Doch vorerst mangelte es noch an empirisch abgesicherten Kriminalitätstheorien. Die kriminalbiologischen Einzeluntersuchungen konnten ihrem unmittelbaren praktischen Zweck prinzipiell nicht gerecht werden, solange derartige Modelle fehlten. Insofern war es eigentlich nur konsequent, dass den Gefängnisärzten keine Anleitung gegeben wurde, wie sie 62 Gefangenenanstalt Amberg an BJM, 12.5.1924 (Hervorhebung im Original), HStA München, M Ju, 22511 (unfoliiert). 63 Burgmair u.a., S. 256. 64 Vgl. Wetzell, Inventing the Criminal, S. 136ff.; Simon, S. 111 u. 122; Wachsmann, Prisons and Penal Policy, S. 110 u. 115; insbesondere Oliver Liang hat intensiv die subjektive moralische Färbung der kriminalbiologischen Untersuchungen herausgearbeit und u.a. aus diesen Befunden die weitreichende These von einer Sinnstiftungsfunktion der Kriminalbiologie abgeleitet: »Criminal-biology was an integrative worldview which sought to provide meaning and sense where religion and classical law had failed in Germany’s early tumultuous relationship with modernity.«; vgl. Liang, Criminal-Biological Theory, Discourse, and Practice, S. 106ff., 321ff., Zitat S. 325.

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ausgehend von den ermittelten Daten zu der ihnen abverlangten ›sozialen Prognose‹ gelangen sollten. Wie die Gefängnisärzte bei der individuellen Untersuchung und Beurteilung der Gefangenen eine Wissenschaft bereits anwenden sollten, deren empirische Grundlage noch fehlte und erst durch Massen-Befunde geschaffen werden sollte, blieb das ungelöste Problem der Viernsteinschen Kriminalbiologie. Das kriminalbiologische System war mit der doppelten Aufgabe der möglichst objektiven Datenerfassung zu statistischen Zwecken und der Legitimation konkreter Einstufungsentscheidungen nicht nur strukturell überfordert; vielmehr blockierten sich die mit der kriminalbiologischen Untersuchung verbundenen praktischen und wissenschaftlichen Bestrebungen gegenseitig. Durch die unmittelbare verwaltungspraktische Funktion der Einzeluntersuchung wurde das Gesamtergebnis der Erhebungen verfälscht; und umgekehrt wirkte sich die einseitig an den Forschungsinteressen der Erbbiologie ausgerichtete Methode verhängnisvoll auf die Behandlung der Gefangenen im Rahmen des Stufenstrafvollzugs aus, wie im Folgenden gezeigt wird.

c) Die Beeinträchtigung der kriminalbiologischen Forschung durch die Vollzugspraxis Die Leistungsfähigkeit des kriminalbiologischen Dienstes litt darunter, dass auf das vorhandene, teils nur nebenberuflich in der Strafanstalt beschäftigte ärztliche Personal zurückgegriffen werden musste. Das aber war mit der medizinischen Betreuung der Gefangenen bereits hinreichend ausgelastet. Die »vermehrte Arbeitslast« habe »unter den Anstaltsärzten nicht überall reine Freude erregt«, wie der mit Viernstein kooperierende Kriminologe Hans von Hentig bald feststellen musste. »Diese mangelnde Sympathie« käme »in negativer Weise zum Ausdruck, indem die geforderten statistischen Angaben nicht immer allen Ansprüchen an Genauigkeit und Vollzähligkeit« entsprächen.65 Das Justizministerium hatte bei der Einführung der kriminalbiologischen Untersuchung durchaus versucht, die wissenschaftlichen Forschungsinteressen mit den Erfordernissen des anstaltsärztlichen Dienstes in Einklang zu bringen. In Anbetracht der »sonstigen Dienstaufgaben der Hausärzte« blieb die »erweiterte Untersuchung der Gefangenen bis auf weiteres darauf beschränkt [...], daß in jeder Strafanstalt an jedem Arbeitstage mindestens 1 Gefangener dieser Untersuchung unterzogen wird«.66 Das Justizministerium nahm mit dieser Regelung bewusst in Kauf, dass nicht alle Gefangenen krimi65 Hans von Hentig an BJM, 4.5.1924, HStA München, M Ju, 22504 (unfoliiert). 66 Ministerialentschließung vom 7.7.1923, abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 1, S. 26–38, hier S. 30.

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nalbiologisch begutachtet wurden. Offenbar rangierte das wissenschaftliche Ziel der möglichst repräsentativen statistischen Erfassung des ›Gefangenenmaterials‹ zunächst vor dem praktischen Zweck der Erstellung einer ›sozialen Prognose‹ für die weitere Behandlung im Stufenstrafvollzug. Für die Auswahl der Untersuchungskandidaten legte Richard Degen ein Verfahren fest, das eine Zufallsauslese garantieren sollte: Die Probanden mussten in gleichmäßigen Abständen – ohne Rücksicht auf etwaige körperliche oder geistige Auffälligkeiten – aus der Reihe der Neuzugänge herausgegriffen werden; die Zahl der jeweils zu überspringenden Gefangenen errechnete sich aus der Menge der zugegangenen Gefangenen und der verfügbaren Arbeitstage eines Monats.67 Gerade dieser Auswahlschlüssel stieß auf den erbitterten Widerstand der Anstaltsärzte. Es ist anzunehmen, dass sie sich nicht immer an diese strengen Vorgaben hielten, insbesondere dann, wenn im Zuge einer anstehenden Einstufungsentscheidung oder einer Heilbehandlung auch die Untersuchung von nicht ausgelosten Gefangenen ratsam schien. Obermedizinalrat Dr. Bauernfeind äußerte als Vorsitzender der »Vereinigung der Strafanstaltsärzte Bayerns« in einem Schreiben an das Justizministerium, dass die erweiterte Eingangsuntersuchung in erster Linie dazu dienen solle, »einen Heilungsplan aufzustellen, wie die soziale Erkrankung bekämpft, der Weg zur Besserung gefunden werden kann«. Es möge daher »den Strafanstaltsärzten gestattet werden, diese Form der Untersuchung bei denjenigen Gefangenen nach eigener Auswahl vornehmen zu dürfen, welche für die höhere Einstufung in Frage kommen sollen, ferner – der individuellen Behandlung wegen – bei all jenen, die den Verdacht der geistigen Minderwertigkeit erregen. Damit würde dem dienstlichen Zwecke viel mehr gedient sein, als wenn wir zu rein statistischen Zusammenstellungen jeden 3. oder 4. Mann untersuchen«.68 Die Vereinigung der Strafanstaltsärzte wandte sich ferner energisch gegen die nach bloßem Augenschein vorzunehmende Typisierung nach Kretschmer, aus der nie »ein Urteil über die Besserungsfähigkeit« geschöpft werden könne: »Sie beruht auf einer einfachen Schätzung und ist daher wissenschaftlich wertlos. Eine Statistik, die darauf gebaut werden wollte, hätte keinen Anspruch fürernst genommen zu werden. Wir fühlen täglich bei unsern diesbezüglichen ›Feststellungen‹ etwas, was man wissenschaftliche Gewissensbisse nennen möchte.«69 Theodor Viernstein reagierte auf diese Anfechtungen mit einer umfangreichen »Denkschrift über die wissenschaftlichen Grundlagen für den Betrieb

67 Ebd. 68 Bauernfeind im Auftrag der Vereinigung der Strafanstaltsärzte Bayerns an BJM, 29.5.1924, HStA München, M Ju, 22511 (unfoliiert). 69 Bauernfeind im Namen der Vereinigung der Strafanstaltsärzte Bayerns an BJM, 13.7.1924, HStA München, M Ju, 22511 (unfoliiert).

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einer kriminalbiologischen Sammelstelle«.70 Er begründete die »große Bedeutung« der Kretschmerschen Typisierung mit der Notwendigkeit der »Erforschung und Herausschälung« der »erbmäßig bedingten Charakter- und Temperamentsanlage« des »kriminellen Menschen«. Viernstein bekräftigte seinen Standpunkt, »daß das Spiel des Zufalles bei der Auswahl [der zu untersuchenden Gefangenen; d. Vf.] wissenschaftlich die einzige Möglichkeit ist, um eine Einseitigkeit und damit ein unrichtiges Bild zu vermeiden«. Überließe man die Entscheidung den Ärzten, wäre »eine Auswahl der schwereren Psychopathen und Grenzzuständler die Folge«; man erhielte in diesem Fall »ein vollkommen falsches wissenschaftliches Bild von der Gesamtkriminalität, von den Anlagen, Eigenschaften und Umweltsverhältnissen dieser Klasse von Volksgenossen«. Der Vorrang der erbbiologischen Grundlagenforschung gegenüber der individuellen medizinischen Betreuung wurde mit dem wertvollen Dienst gerechtfertigt, den die Rassenhygiene der Rechtspflege erweisen könne: »Wir Ärzte müssen heute mehr als je schon aus allgemein völkischen Gründen [...] den rassebiologischen Standpunkt in die Kriminologie sowohl wie in die Strafrechtswissenschaft und deren praktischen Teil, Strafrecht bezw. Strafvollzug, hineintragen. [...] Der Verbrecher muß biologisch-rassewissenschaftlich daher nach dem Grade seiner Rasse- bezw. Rechts- und Kulturschädlichkeit abgestuft und eingeteilt werden. [...] Denn Rassegefährdung und Gefährdung der Rechtssicherheit decken sich. Rassegedeih ist ja nur möglich unter Voraussetzung rechtssicherer Zustände im Volke. [...] Biologie und Strafrecht, hauptsächlich aber Biologie und Strafvollzug haben demgemäß außerordentlich breite Berührungsflächen, aber auch ein identisches Ziel, nämlich eine selektive Aufgabe, wobei die zu eliminierenden Volksbestandteile von beiden Betrachtungsreihen aus gleicher Weise als Minusvarianten, als Schädlinge gewertet sind.«71

Der vom wissenschaftlichen Ehrgeiz und rassenhygienischen Missionsdrang getriebene Theodor Viernstein und die an der Wahrnehmung ihrer eigentlichen Aufgaben gehinderten Anstaltsärzte standen sich Ende 1924 unversöhnlich gegenüber. Das Justizministerium stellte sich in diesem Konflikt mit einem Bündel von Maßnahmen an die Seite Viernsteins: Man beauftragte Viernstein mit der Ausarbeitung eines Plans zur Umstrukturierung des kriminalbiologischen Dienstes.72 Im April 1925 fand ein viertägiger »kriminalbiologischer Einführungs-Kurs für Strafanstaltsärzte« im Anthropologischen Institut der Universität München statt, in dem u.a. Max von Gruber, Ernst Rüdin und Fritz Lenz über erb- und rassebiologische Fragen informierten und der 70 Zuchthaus Straubing (Kriminalbiologische Sammelstelle) an BJM, 27.9.1924, HStA München, M Ju, 22511 (unfoliiert). 71 Ebd. 72 Vgl. Viernstein, Entwickelung und Aufbau eines kriminalbiologischen Dienstes im bayerischen Strafvollzug, abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 1, S. 68–85.

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Assistent des anthropologischen Instituts Dr. Gieseler die Ärzte mit den für die Typisierung nach Kretschmer wichtigen anthropometrischen Techniken vertraut machte.73 Der kriminalbiologische Fragebogen wurde – weitgehend nach den Wünschen Viernsteins – erweitert, das Untersuchungsschema ausdifferenziert, und zusätzlich zur Auskunft der Polizeibehörde sollten nun auch das Pfarramt und die Lokalschulbehörde des Heimatorts des Gefangenen konsultiert werden.74 Die Aufgaben der Kriminalbiologischen Sammelstelle erfuhren eine Aufwertung, da ihr Leiter neben der Archivierung und Bereithaltung der Untersuchungsberichte nun auch mit der Erstellung »biostatistischer Tabellen« für die »drei Gruppen der Affektverbrecher, der Gewohnheitsverbrecher und der Gelegenheitsverbrecher« beauftragt wurde; ferner erhielt die Sammelstelle einen aus Wissenschaftlern und leitenden Beamten zusammengesetzten Beirat.75 Um die Autorität Viernsteins gegenüber den übrigen Anstaltsärzten zu erhöhen, wurde diesem der Titel eines Obermedizinalrats verliehen.76 Die bedeutendste dieser Maßnahmen war die Erweiterung des kriminalbiologischen Befundbogens durch die Ministerialentschließung vom 26. April 1925. Der neue Fragebogen umfasste insgesamt 51 Punkte, die meist noch vielfach untergliedert waren.77 Zusätzlich zur Erfassung der Lebensgeschichte und Auffälligkeiten des Gefangenen und seines »Stammes« war das »psychische Bild des Zuganges« nach dem »belgisch-lettländischen Schema« sowie nach dem »Ewald’schen Schema« zu erheben.78 Die Strafanstaltsärzte durften nun die umstrittene charakterologische Typisierung nach Kretschmer auslas73 Vgl. Ministerialentschließung vom 9.4.1925, abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 1, S. 54f.; Viernstein, Bericht über den kriminalbiologischen Einführungskurs für die Strafanstaltsärzte, ebd., S. 127–134; Hellstern. Im Juli 1927 fand ein weiterer Fortbildungslehrgang statt; vgl. Fortbildungs-Lehrgang für Strafanstalts-Oberbeamte in München vom 4. bis 6. Juli 1927, abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 2, S. 77–182. 74 Vgl. Ministerialentschließung vom 26.4.1925, abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 1, S. 56–58. 75 Dem Beirat sollten regelmäßig angehören: »3 Vertreter der Wissenschaft und zwar ein Rassehygieniker, ein Erbbiologe und ein Anthropologe, der jeweilige Medizinalreferent im Staatsministerium des Innern, der Oberstaatsanwalt beim Oberlandesgerichte München, ein Strafanstaltsarzt und ein Strafanstaltsvorstand.«; vgl. Ministerialentschließung vom 8.5.1925, abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 1, S. 102–104. 76 Vgl. hierzu den Vermerk Degens, 17.12.1925, HStA München, M Ju, 22847 (unfoliiert): »Viernstein erfüllt alle Voraussetzungen; er überragt seine Kollegen an Fähigkeiten und Wissen um ein Beträchtliches. Mit der erbbiologischen Untersuchung an den Gefangenen ist er bahnbrechend vorausgegangen. Er ist auch Leiter der Kriminalbiologischen Sammelstelle. Er verdient also die Auszeichnung; sie ist aber auch in dienstlichem Interesse geboten, da Viernstein die von seinen Kollegen gewonnenen erbbiologischen Ergebnisse nachzuprüfen und zu verwerten hat und es schon deshalb angezeigt ist, seine Stellung ihnen gegenüber zu heben.« 77 Vgl. Fragebogen zur ärztlichen Untersuchung der Strafhauszugänge, abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 1, S. 86–92. 78 Zum Ewaldschen Schema siehe Trunk.

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sen, anders als zuvor waren sie jedoch verpflichtet, detaillierte biometrische Messungen vorzunehmen, damit bei einer späteren Auswertung des Befundbogens diese Typisierung nachgeholt werden konnte. Diese Regelung ging auf den Vorschlag des Rassenhygienikers Max von Gruber zurück, der als Mitglied des bayerischen Obermedizinalausschusses ein Gutachten über Viernsteins Denkschrift verfasst hatte. Gruber kam einerseits mit diesem Vorschlag dem Wunsch der Strafanstaltsärzte entgegen; andererseits wollte er somit eine »möglichst unbefangene Feststellung der Tatsachen« erreichen, die eine »Grundbedingung für wissenschaftliche Erkenntnis« sei.79 Mit der Modifizierung des kriminalbiologischen Untersuchungsschemas hatte das Justizministerium den Primat der Grundlagenforschung gegenüber den praktischen Anwendungszwecken unterstrichen. Der nun mit vier Stunden veranschlagte Zeitaufwand für die Erstellung eines einzelnen kriminalbiologischen Berichts war wesentlich größer als zuvor. Angesichts dessen war »künftig in der Regel nur an jedem dritten Arbeitstage eine erweiterte Untersuchung vorzunehmen«.80 Das von der Vereinigung der Strafanstaltsärzte beklagte Grundproblem, das den Ausgangspunkt für die Revision des kriminalbiologischen Dienstes gebildet hatte, stellte sich nach der Abänderung des Fragebogens sogar in verschärftem Ausmaß: Die Zahl der – nach statistischen Repräsentativitätskriterien – für die erweiterte Untersuchung herausgegriffenen Gefangenen war gesunken und damit auch die Wahrscheinlichkeit, jene aus ›dienstlichen Gründen‹ besonders Untersuchungsbedürftigen zu erfassen. Nach den Verfahrensänderungen des Jahres 1925 war eigentlich zu vermuten, dass die statistische Qualität der Untersuchungen künftig steigen würde. Indes brachten die administrativen Bemühungen um eine Hebung des wissenschaftlichen Niveaus auch Gegeneffekte hervor. Weil es nötig war, die Höherstufung oder den Ausschluss aus dem Stufenstrafvollzug in jedem Einzelfall zu begründen, erschien die Beschränkung der Untersuchungen auf einen geringen Bruchteil des Gefangenenbestandes auf die Dauer nicht hinnehmbar. Im Dezember 1927 musste Richard Degen eingestehen, dass die als langfristiges Ziel angepeilte kriminalbiologische Durchleuchtung des gesamten Gefangenenbestandes ohne eine – allerdings nicht finanzierbare – Verdoppelung des medizinischen Personals nicht durchführbar war. Da die »Lücke, die noch besteht, [...] aber geschlossen werden« müsse, spannte das Justizministerium die nichtärztlichen Strafanstaltsbeamten in das Forschungsprogramm ein.81 Alle dem Stufenstrafvollzug unterworfenen Gefangenen mussten fortan »unter besonderer Berücksichtigung der für ihre Behandlung in der 79 Gutachten, 19.12.1924, abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 1, S. 59– 65. 80 Vgl. Ministerialentschließung vom 26.4.1925, ebd., S. 56–58, hier S. 56. 81 Vgl. Ministerialentschließung vom 14.12.1927, abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 2, S. 26–31, hier S. 29.

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Anstalt wichtigen Gesichtspunkte in psychologischer und soziologischer Beziehung untersucht werden«. Um »schon bei Strafbeginn eine vorläufige Unterlage für die Behandlung« zu schaffen, sollten die Oberbeamten und Nebenbeamten, Geistlichen und Lehrer an allen kriminalbiologisch nicht erfassten Insassen eine »verkürzte Untersuchung« vornehmen. Auf diese Weise wurde es den Beamten ermöglicht, »mehr als bisher andere als rein ärztliche Gesichtspunkte für die Beurteilung der Gefangenen geltend zu machen – ein Wunsch, der besonders von den Geistlichen wiederholt lebhaft geäußert wurde – und so zu einem möglichst lückenlosen Gesamturteil über die Persönlichkeit des Gefangenen beizutragen«. Das Ergebnis der Untersuchung war mit den Ergebnissen der Heimatberichte in einem »psychologisch-soziologischem Befundbogen« festzuhalten. Der für die Untersuchung grundlegende »verkürzte Fragebogen« entsprach weitgehend dem kriminalbiologischen Fragenkatalog, der bis 1925 verwendet worden war; freilich blieben spezifisch medizinische Aspekte unberücksichtigt.82 Das Hauptgewicht des – nach einer Vorlage Viernsteins entwickelten – psychologisch-soziologischen Befundbogens lag auf der Feststellung der Charakterzüge, Lebenswege und Auffälligkeiten des Gefangenen nebst seiner Familie.83 Obwohl die Bezeichnung dieses Befundbogens das Attribut ›biologisch‹ vermissen ließ, schloss das Justizministerium eine erbbiologische Auswertung der von medizinischen Laien erhobenen Befunde nicht aus. Abschriften der Befundbögen mussten an die kriminalbiologische Sammelstelle gesandt werden, wo sie getrennt von den kriminalbiologischen Berichten archiviert und für eine eventuell später vorzunehmende statistische Auswertung bereitgehalten werden sollten.84 Zeitgleich mit der Einführung der psychologisch-soziologischen Befundbögen ergänzte das Justizministerium die ansonsten unveränderte kriminalbiologische Untersuchung um eine wissenschaftlich zweifelhafte Kategorie. Auch hier ging es darum, – notfalls unter Preisgabe naturwissenschaftlicher Standards – die praxisrelevante Beurteilung des Gefangenen zu erleichtern. Die seit 1925 stark formalisierten und mit Messergebnissen überfrachteten kriminalbiologischen Befundbögen vermochten schwerlich »ein wirklich anschauliches Bild von dem unmittelbaren Eindruck des Gefangenen [...] zu vermitteln«. Deshalb wurden die Ärzte angehalten, »künftig diesen unmittelbaren subjektiven Eindruck am Schlusse jedes Befundberichtes kurz zusammenzufassen«. »Ausdrücke wie ›sympathisch, angenehm, widerwärtig‹ usw., 82 Vgl. Verkürzter Fragebogen zur Untersuchung von Strafgefangenen für den Stufenstrafvollzug (Anlage zur Ministerialentschließung vom 14.12.1927), ebd., S. 32–34. 83 Siehe auch die drei von Viernstein erstellten Musteruntersuchungen, die der Ministerialentschließung vom 14.12.1927 als Anlage beigefügt waren, ebd. S. 39–50; Originale in: HStA München, M Ju, 22512 (unfoliiert). 84 Vgl. Ministerialentschließung vom 14.12.1927, abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 2, S. 51f.

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die in den objektiven Erhebungen keinen Platz haben, werden sich hier nicht vermeiden lassen.«85 Durch die Einbindung der nichtmedizinischen Beamten in das Forschungsprojekt und die bewusste Berücksichtigung subjektiver Wertungen wurde der Anspruch konterkariert, den Strafvollzug auf eine positivistischnaturwissenschaftliche Grundlage zu stellen. Zusätzlich beeinträchtigte die enge Verklammerung der Untersuchung mit der Gefangenenbehandlung die Objektivität der Erhebungen. Es ist unwahrscheinlich, dass die untersuchenden Lehrer, Geistlichen und Ärzte die praktischen Konsequenzen ihrer Beurteilung völlig ignorierten. Die kriminalbiologischen bzw. psychologisch-soziologischen Befunde konnten auch dazu genutzt werden, die Zuordnung eines Gefangenen zu einer bestimmten Stufe zu legitimieren. Die Einstufungsentscheidung jedoch richtete sich in der Praxis bisweilen nach Gesichtspunkten des Anstaltsbetriebs oder nach sonstigen nicht-kriminologischen Motiven. Die Quellenlage gestattet keine quantitativen Aussagen darüber, inwiefern die offiziellen Kriterien bei der Einstufung der Gefangenen tatsächlich zum Tragen kamen. Die Niederschriften der Beamtenbesprechungen, in denen die Entscheidungen festgehalten und begründet werden mussten, sind nicht überliefert; zudem wären normwidrige Entscheidungen wohl meist mit solchen Begründungen kaschiert worden, die im Einklang mit den Verwaltungsvorschriften standen. Gleichwohl finden sich Hinweise auf eine elastische Auslegung der normativen Vorgaben in einigen Fällen, bei denen betriebliche oder politische Interessen berührt waren. Denjenigen Gefangenen, die wegen ihres Fehlverhaltens aus einer höheren Stufe wieder zurückversetzt worden waren, blieb in der Regel der Wiederaufstieg versagt. Ausnahmen von dieser Regel bedurften der Genehmigung des Justizministeriums. Die jeweilige Strafanstaltsdirektion hatte in diesen Fällen ihren Antrag auf ›Wiederversetzung eines Gefangenen in eine höhere Stufe‹ ausführlich zu begründen. Diese Anträge lassen ein stets gleiches Grundmuster erkennen: Einzelne disziplinarische Verfehlungen hatten zur Zurückversetzung geführt, die beabsichtigte erneute Höherstufung wurde mit der inzwischen ›guten Führung‹ und dem ›Fleiß‹ des Gefangenen begründet; doch es bedurfte darüber hinaus noch besonderer Gründe, die sich individuell unterschieden. Beispielsweise wollte die Direktion des Zuchthauses Straubing den Gefangenen E., der seinen »Vertrauensposten als Schreiner« in einer Strafanstalt »zu Unterschleifen und Unterstützung strafbarer Handlungen von Freiheitspersonen zum Schaden der Anstalt gröblich mißbraucht hatte« und deshalb in die Stufe I zurückversetzt worden war, wieder in die Stufe II aufrücken lassen, denn: »Die Führung war seitdem tadellos. E. ist der beste Schreiner und ein

85 Ministerialentschließung vom 14.12.1927, ebd., S. 26–31, hier S. 26f.

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sehr fleissiger Arbeiter. Er hat alles daran gesetzt, die Scharte wieder auszuwetzen«.86 Nicht von dem Bestreben nach Ausnutzung besonderer beruflicher Qualifikationen, sondern von politischer Sympathie zeugt ein anderer Antrag aus Straubing. Der Gefangene M. war »zu 14 Jahren Zuchthaus wegen Beteiligung am ›Gesellenmord‹87 verurteilt« worden. Die Direktion hielt in ihrem Plädoyer für die Höherstufung vor allem einen Gesichtspunkt für relevant: »Er war Vizefeldwebel der Regierungstruppen, die München von der Räteherrschaft gesäubert haben. [...] Bei den Mitgefangenen hat er als verhältnismässig gebildeter Mann und gerade als ehemaliger Regierungssoldat einen sehr harten Standpunkt. Er leidet daher doppelt stark unter der Zurückstufung, er scheint seelisch stark gedrückt.«88 Ein anderer Gefangener, der »wegen Tötung seiner von ihm schwangeren Geliebten« im Zuchthaus Ebrach einsaß, sollte wieder in die zweite Stufe versetzt werden, da »es sich bei Z., seinem Delikt und seiner Persönlichkeit nach wohl nur um einen Zufallsverbrecher handelt und er sich nun Jahre hindurch wieder einer guten Führung befleißigt hat«.89 In allen Fällen entsprach das Justizministerium dem Wunsch der Anstaltsleitung. Die genannten Beispiele betreffen Ausnahmefälle von besonders genehmen Strafgefangenen; sie sind sicherlich nicht repräsentativ für die Einstufungspraxis. Dennoch zeugen sie davon, dass Sympathien oder betriebliche Nützlichkeitserwägungen in die Beurteilung der Gefangenen einfließen konnten. Weit häufiger dürften andere, ebenfalls nicht-kriminologische Gesichtspunkte zu einer negativen Beurteilung geführt haben. Der kriminalbiologische oder psychologisch-soziologische Befund mit der ›sozialen Prognose‹ konnte nicht nur als ›objektives‹ Kriterium, sondern auch als Argument für eine bestimmte Stufenzuordnung genutzt bzw. missbraucht werden. Auch die Gefangenen kalkulierten die praktischen Konsequenzen der Exploration ein. Nach wie vor bildeten die eigenen Angaben des Untersuchungskandidaten die wichtigste ›empirische‹ Basis für den Befund. Aus Sicht der Gefangenen war es ein Gebot der Klugheit, belastende Fakten zu ver86 Direktion des Zuchthauses Straubing an BJM, 30.7.1926, HStA München, M Ju, 22506 (unfoliiert). 87 Im Zuge der Zerschlagung der Münchener Räterepublik hatten die bayerischen Truppen am 6. Mai 1919 21 Mitglieder eines katholischen Gesellenvereins festgenommen und – in der Annahme, es handle sich um Spartakisten – ohne Verfahren erschossen; vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 1125. 88 Direktion des Zuchthauses Straubing an BJM, 1.8.1926, HStA München, M Ju, 22506 (unfoliiert). Angesichts des besonderen ›Sühnecharakters‹ der Stufe I und der ›inneren Wandlung‹ als offizieller Voraussetzung für den Aufstieg in die Stufe II war diese Begründung eigentlich rechtlich irrelevant. 89 Direktion des Zuchthauses Ebrach an BJM, 1.3.1929, HStA München, M Ju, 22506 (unfoliiert).

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schleiern. Das gilt umso mehr, als der gesamte Fragenkatalog darauf zugeschnitten war, Belastungsmaterial zusammenzutragen. Beispielsweise konnten einzelne kriminelle oder alkoholkranke Familienangehörige die ›soziale Prognose‹ negativ beeinflussen, einzelne straffreie oder abstinente Mitglieder einer ›asozialen Sippe‹ rechtfertigten dagegen keinesfalls die Einstufung als ›besserungsfähig‹. Angesichts der Einseitigkeit des Untersuchungsverfahrens durfte ein Gefangener nur dann auf eine günstige ›soziale Prognose‹ hoffen, wenn keine ›Auffälligkeiten‹ bekannt wurden. Die vom Justizministerium als Muster veröffentlichten psychologisch-soziologischen Befundbögen veranschaulichen diese innere Logik des Untersuchungsverfahrens. So wurde dem Gefangenen Adolf M., der als freiwilliger Feuerwehrmann aus »Freude über das Feuer« mehrere Anwesen seines Heimatortes in Brand gesetzt hatte, eine günstige soziale Prognose ausgestellt. Im Befundbogen ist in der Rubrik »Elternhaus« vermerkt: »Elterliche Ehe: Harmonisch; Vater trinkt nicht; die Kinder wurden nie auf Bettel geschickt; Eltern nicht bestraft. – Die Eltern gehen in die Kirche. – Charakter: Vater: schimpft nie, gutmütig, ruhig, freundlich mit jedermann, tüchtig im Geschäft, fleißig (hat das beste Geschäft im Orte gehabt). – Mutter ist ruhig, gut, warmherzig. – In den Stämmen: Keine Auffälligkeiten; niemand eingesperrt. – Trunksucht: Kein Anhaltspunkt. –«90

Die Tücken des Untersuchungsverfahrens und dessen Konsequenzen für das Schicksal der Untersuchten sprachen sich mit der Zeit unter den Gefangenen herum. Der Anstaltsarzt der Gefangenenanstalt Amberg berichtete im Juli 1931, dass nach seinem Eindruck »die Kenntnis der Untersuchungen schon recht weit durchgedrungen sei in die Kreise der Straffälligen, weil bei manchen die Antworten, die manchmal gegeben wurden, so prompt erfolgten, dass man unwillkürlich das Empfinden hatte, als seien sie erwartet worden«. Das Bestreben der Gefangenen, »Tatsachen zu verschleiern«, sei nicht zu verkennen.91 Das Untersuchungsverfahren der ›Autoanamnese‹, das in der ärztlichen Praxis wertvolle diagnostische Hinweise liefern kann, musste als Mittel einer 90 Psychologisch-soziologischer Befundbogen über den Gefangenen Adolf M., abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 2, S. 39–42, hier S. 39. 91 Hausarzt an die Direktion der Gefangenenanstalt Amberg, 10.7.1931, HStA München, M Ju, 22508 (unfoliiert); ähnlich der Bericht des Hausarztes der Strafanstalt Ebrach, 12.1.1933, HStA München, M Ju, 22509 (unfoliiert): »Der Wert der Untersuchungen wird leider dadurch sehr beeinträchtigt, daß die Gefangenen von ihren Kameraden vorher über die Untersuchung entsprechend instruiert werden. In den Antworten liegt dann schon ein Widerstreben, das man deutlich fühlt. [...] Der intelligentere Gefangene weicht geschickt aus bei den ihm unangenehmen Fragen (Politik, Religion, Sexualität usw.) und der unintelligente äußert sich entweder garnicht oder entsprechend seinem geistigen Niveau sehr dürftig.«

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objektiven kriminologischen Datenerhebung versagen. Doch die von den – alles andere als unbefangenen – Kriminellen selbst preisgegebenen Informationen bildeten zusammen mit den Leumundszeugnissen der Schul-, Pfarrund Polizeibehörden und dem subjektiven Werturteil der Strafanstaltsbeamten das ›empirische‹ Material für die ›naturwissenschaftliche‹ kriminologische Täterforschung.

d) Die Beeinträchtigung der Resozialisierung durch die kriminalbiologische Forschung Die kriminalbiologische Forschung wurde durch subjektive Vorurteile verfälscht, doch zugleich produzierte und verbreitete sie diese auch. Durch die kriminologische Erfassung wurde ein landesweiter Kommunikationsprozess in Gang gesetzt, durch den sich die Gesellschaft über die Verdorbenheit bestimmter ›Verbrechersippen‹ verständigte. Zur Ergänzung der kriminalbiologischen Untersuchung wurden zunächst von den Polizeibehörden des Heimatorts des jeweiligen Gefangenen zusätzliche Informationen eingeholt. Nicht zuletzt weil die Polizei sich über den enormen Zeitaufwand beklagte, den die Bearbeitung der Fragebögen erforderte,92 wurde dieses Verfahren im Jahr 1925 geändert: »Der bisherige sehr umfangreiche Fragebogen an die Polizeibehörden wurde in einen solchen an die Polizeibehörden einerseits und einen solchen an das Pfarramt und die Lokalschulbehörde andererseits geteilt.«93 Der neue an das Pfarramt und die Lokalschulbehörde gerichtete Fragebogen umfaßte 14 Punkte – von Personenstandsangaben bis zu intimen Fragen nach den Familienangehörigen des Gefangenen, z.B.: »Was kann über Vaters und Mutters Charakter und Lebensverhältnisse gesagt werden?« oder »Hatte die Frau vorehelich von anderen Männern oder v. Gef. Kinder? Religiös-sittliches und berufliches Vorleben der Frau.« In der letzten Formularzeile wurde nach der »Adresse einer oder mehrerer glaubwürdiger Auskunftspersonen über die Familie« gefragt.94 Mit der Einführung der ›psychologisch-soziologischen‹ Untersuchung im Jahr 1927 wurden schließlich zu sämtlichen Gefangenen derartige ›Heimatberichte‹ angefordert.95 Die nicht einfach nach Aktenlage zu beantwortenden Fragen dürften zu internen Gesprächen und zu weiteren Nachforschungen 92 Vgl. Polizeidirektion München an BMdI, 3.10.1923; BMdI an BJM, 28.3.1924; BJM an BMdI, 8.5.1925, HStA München, M Ju, 22516 (unfoliiert). 93 Ministerialentschließung vom 26.4.1925, abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 1, S. 56–58, hier S. 56. 94 Vgl. die Anlage zur Ministerialentschließung vom 26.4.1925, ebd., S. 95–97. 95 Vgl. Ministerialentschließung vom 14.12.1927, abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 2, S. 26–31, hier S. 30.

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der lokalen Behörden geführt haben. Datenschutzaspekte spielten keine Rolle. Was das für den einzelnen Gefangenen und dessen Familie bedeuten konnte, geht aus dem ironisch-verbitterten Erfahrungsbericht eines ehemaligen Insassen des Zuchthauses Straubing hervor, dessen Veröffentlichung die München-Augsburger Abendzeitung ablehnte: »Aus dem Neuzugegangenen, der als Objekt des kriminalbiologischen Forschungsdranges geeignet erachtet wird, holt die [...?] Verwandtenadressen und anderes heraus; dann wandert ein vielseitiger Fragebogen ins Land hinaus, an Kirche und Schule, an Bürgermeistereien etc. Natürlich unter Diskretion, die keinesfalls immer gewahrt wird. Und siehe da, da ist so ein Mensch 20, 30, 40 Jahre von seiner ländlichen oder kleinstädtischen Heimat weg, tat nun etwas ausgefallenes, und nun landet bei dem neuen Pfarrer – der alte Erzieher und auch der Schullehrer sind längst tot – eine umfangreiche Frageschrift mit dem verheissungsvollen ›Zuchthaus Straubing‹ am Kopfe, dem schönen Vermerk ›Vertraulich‹: der N.N. befindet sich wegen einer schweren Straftat in unserem Hause, was wissen Sie über denselben und dessen Verwandtschaft? etc. etc. Das ist die Verfemung des Gefangenen und die Infamierung ganzer alteingesessener Familiensippen, verehrter Herr Kriminalbiologe!«96

Während auf Reichsebene das »Gesetz über beschränkte Auskunft aus dem Strafregister und die Tilgung von Strafvermerken« vom 9. April 192097 der Resozialisierung ehemaliger Straftäter den Weg ebnen sollte, erreichte in Bayern die ›Verfemung‹ der Gefangenen im Zuge der kriminalbiologischen Erfassung nie gekannte Ausmaße. Die Chance, nach der Entlassung wieder Unterkunft und Arbeit im Heimatort zu finden, sank dementsprechend. Einen verhängnisvollen Einfluss auf den Lebensweg der Gefangenen konnten auch die Gutachten der kriminalbiologischen Sammelstelle haben. Von Beginn an zählte neben der Archivierung und Forschung auch die Amtshilfe gegenüber Behörden und Gerichten zu den Aufgaben der Sammelstelle. Die kriminalbiologischen Befunde sollten »den Polizeibehörden, den Strafverfolgungsbehörden und den Gerichten in Strafverfahren gegen rückfällige Gefangene wertvolle Dienste leisten«. Der praktische Nutzen der Untersuchung würde – so glaubte man im Justizministerium – nach »der Einführung des Begriffs der verminderten Zurechnungsfähigkeit im Strafgesetze und der Verbrechensbekämpfung durch Einführung der Verurteilung auf unbestimmte Dauer und der Sicherungsverwahrung Unverbesserlicher und gemeinge96 Der Ingenieur und freie Mitarbeiter der München-Augsburger Abendzeitung Eugen G. hatte diesen Artikel mit der Überschrift »Kriminalbiologie« nach einem Insiderbericht (»Die Wahrheit über Straubing«) und den Angaben eines wegen Landesverrats bestraften Gewährsmanns verfasst; der Hauptschriftleiter lehnte die Veröffentlichung jedoch ab und übersandte den Text nebst Begleitschreiben an den Justizminister; vgl. München-Augsburger Abendzeitung an BJM, 19.9.1929; Eugen G. an München-Augsburger Abendzeitung, 30.8.1929, HStA München, M Ju, 22512 (unfoliiert). 97 Reichsgesetzblatt 1920, S. 507ff.

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fährlicher Gewohnheitsverbrecher« im Zuge der Strafrechtsreform noch weiter zunehmen.98 Das Justizministerium bestimmte, dass die »Auskunftserteilung nicht in der bloßen Übersendung der bei der Sammelstelle liegenden Untersuchungsergebnisse bestehen kann, die der in erbbiologischen Fragen nicht geschulte Laie richtig zu würdigen nicht imstande wäre, sondern in der Form eines diese Ergebnisse wissenschaftlich verarbeitenden Gutachtens erfolgen muß, das ein biologisches Gesamtbild des Untersuchten und Aufschluß über seine mutmaßliche soziale Prognose gibt«.99 Nach dieser offiziellen Vorgabe sollte Viernstein als Leiter der Sammelstelle weitreichende Schlussfolgerungen aus den kriminalbiologischen Daten ziehen, was in vielerlei Hinsicht problematisch war. Wie bereits geschildert, erlaubten die gesammelten Informationen allein keine weitergehenden Rückschlüsse, da wissenschaftlich gesicherte Prognoseverfahren noch fehlten. Zudem widersprach eine solche Persönlichkeitsbeurteilung nach Aktenlage den sonst üblichen Standards der Medizin wie auch des Strafverfahrens. Selbst der Professor für Rassenhygiene Max von Gruber hatte in seiner insgesamt positiven Stellungnahme zum kriminalbiologischen Arbeitsprogramm Viernsteins vor »übertriebene[n] Erwartungen bezüglich der praktischen Leistungsfähigkeit der erbbiologischen Untersuchung« gewarnt. Schließlich sei die »Menge der vererblichen Anlagen [...] zu groß, die Zahl ihrer möglichen Kombinationen zu ungeheuer, ebenso der Einfluß der in jedem einzelnen Fall anders liegenden Kombinationen der Umweltbedingungen auf die Entfaltung der ererbten Anlagenkombination zu unübersehbar, als daß es je möglich sein wird, die Formel zu ermitteln, welche die Beschaffenheit des Individuums aus seiner Entstehung restlos erklären und berechnen lassen würde.«100 Dessen ungeachtet erstattete Theodor Viernstein als Leiter der Sammelstelle allein im Zeitraum vom Mai 1927 bis Januar 1928 insgesamt 82 Gutachten über Gefangene, die ihm in der Regel nicht persönlich bekannt waren. Die Expertisen beeinflussten die richterliche Strafzumessung sowie Entscheidungen über vorzeitige Entlassungen oder Gnadengesuche, des weiteren polizeiliche Aufenthaltsbewilligungen und Maßnahmen zur »Bekämpfung der Zigeuner, Landfahrer und Arbeitsscheuen«.101 Den Gutachten lag ein schlichtes Analyseverfahren zugrunde: Häuften sich ›Auffälligkeiten‹ im verwandtschaftlichen ›Blutskreis‹ des Gefangenen, wurde dieser dem Typ des ›Anlageverbrechers‹ zugerechnet – mit entsprechend ungünstiger sozialer Prognose; fehlten derartige Hinweise, wurde im Umkehrschluss von der Wirksamkeit 98 Ministerialentschließung vom 27.2.1924, abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 1, S. 40–42, hier S. 40. 99 Ministerialentschließung vom 8.5.1925, ebd., S. 102–104, hier S. 103. 100 Gutachten, 19.12.1924, ebd., S. 59–65, hier S. 62. 101 Vgl. Viernstein an BJM, 27.1.1928 und die als Anlage beigefügten Gutachten, HStA München, M Ju, 22512 (unfoliiert).

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von Umwelteinflüssen ausgegangen, und der Täter durfte auf eine günstige Prognose hoffen.102 Da die Fragebögen in erster Linie auf die Feststellung erblicher Faktoren, nicht auf Begleitumstände der Straftat abhoben, wirkten sich die Gutachten für die betroffenen Personen tendenziell negativ aus. Ein exemplarisches Gutachten,103 das im Juni 1930 auf Ersuchen der Staatsanwaltschaft für ein Strafverfahren erstellt worden ist, verdeutlicht diesen Zusammenhang von Erhebungsmethode und Schlussfolgerung.104 Den weitesten Raum nehmen hier lebensgeschichtliche Details ein. Insbesondere werden negativ zu wertende Auffälligkeiten des Angeklagten und seiner Verwandten herausgepickt. So vermerkt der Gutachter, dass die Mutter »unter Tags« arbeitete, »so dass die Kinder sich selbst überlassen waren«, während über die nicht berufstätige Schwester, die ebenfalls Kinder hatte, berichtet wird, sie lasse »sich von einem Freunde aushalten«. Festgehalten wird auch, dass zwei Brüder vorbestraft waren. Die anderen – offenbar wohlgeratenen – Geschwister, über die »nichts besonderes zu berichten« sei, werden nicht weiter berücksichtigt. Auf die aufwändig erstellten anthropometrischen und charakterologischen Befunde, die noch am ehesten als Ergebnis medizinisch fundierter Untersuchungsmethoden gewertet werden könnten, wird überhaupt nicht eingegangen. Der knappe psychische Befund (»haltloser, arbeitsscheuer Psychopath«, »sittlich abgestumpfter herabgekommener Trinker«) vermischt sich mit moralischen Werturteilen und wird nicht näher begründet. Das Gutachten endet mit der Bemerkung: »K. wurde bei seiner Entlassung aus der Strafanstalt Zweibrücken im März 1929 als unverbesserlicher Zustandsverbrecher bezeichnet, ein Urteil, dem wir uns an dieser Stelle anschliessen können. Er wäre ein Objekt für die Dauerverwahrung.« Dass der Delinquent von einem derartigen Gutachten keine Vorteile zu erwarten hatte, ist offensichtlich. Oftmals hing jedoch die Gewährung resozialisierender Maßnahmen von solchen ›Expertisen‹ ab. In diesem konkreten Fall ging es freilich um ein Strafverfahren. Da für die kriminalbiologisch indizierte ›Dauerverwahrung‹ des K. noch keine gesetzliche Grundlage existierte, wurde er zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt, die er in Zweibrücken verbüßte. Dort beklagte K. sich beim Gefängnisarzt über das kriminalbiologische Gutachten, das »ein vernichtendes Urteil über ihn« fälle und ihn »als einen der schlechtesten Menschen« schildere. Die bayerische Strafvollzugsverwaltung 102 Vgl. Viernstein, Typen; ders., Stufenstrafvollzug, S. 142: »Der Stärkeanteil von Anlage und Umwelt ist in weitestem Ausmaße verschieden. Die Bedeutung der erblichen Anlagen genießt jedoch nach heute gültiger Anschauung den Vorrang vor den Umweltswirkungen. Die Aufstellung zweier großer Gruppen von Verbrechern: der vorwiegend anlagig und der vorwiegend umweltlich motivierten erscheint zulässig. Die Ermittelung dieser individuellen Verhältnisse durch biologische Untersuchung und Typisierung der Zugänge ist für die strafhäusliche Behandlung unerläßlich. Sie ist unentbehrlich auch wegen der nur so abmeßbaren sozialen Prognose.« 103 Kriminalbiologisches Gutachten, 14.6.1930, HStA München, M Ju, 22512 (unfoliiert). 104 Vgl. auch die zeitgenössische Kritik an den kriminalbiologischen Gutachten bei Rosenfeld.

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nahm jedoch nicht an dem subjektiven Verdammungsurteil Anstoß, sondern an der Tatsache, dass es im Rahmen des Prozesses zur Kenntnis des Angeklagten und der Öffentlichkeit gelangt war.105 Die kriminalbiologischen Untersuchungen wirkten sich nicht nur nachteilig auf die Rehabilitationschancen der Gefangenen nach der Strafentlassung aus, sie untergruben auch den Erziehungsanspruch des Stufenstrafvollzugs. Die Strategie Richard Degens, den Erziehungserfolg durch die Ausgrenzung der ›Unverbesserlichen‹ zu sichern, und das kriminalbiologische Bestreben, »so rasch als möglich die Prognose der Unverbesserlichkeit« zu stellen,106 entfalteten gemeinsam eine unheilvolle Dynamik. Bei ihrer Einführung wurde der kriminalbiologischen Untersuchung von offizieller Seite noch keine übermäßige praktische Relevanz zugemessen. Sie sollte »keineswegs für die Beurteilung des Gefangenen allein maßgebend oder gar ausschlaggebend sein«.107 Das änderte sich jedoch, nachdem die uneinheitliche Einstufungspraxis immer wieder Kurskorrekturen durch das Justizministerium erzwungen hatte, die jedoch keine nachhaltige Wirkung zeitigten. So stellte Strafvollzugsreferent Degen im Juli 1924 fest, dass »bisher nur ein kleiner Teil der Gefangenen die Versetzung in die Stufe 2 erreicht« habe, weshalb er sich für eine »etwas weichherzigere Auffassung« der Richtlinien aussprach.108 Im folgenden Jahr sah sich das Justizministerium genötigt, erneut gegenzusteuern: Das Stufensystem möge »nicht dazu dienen, nach außen hin mit einer möglichst großen Zahl von Gefangenen in der Stufe 2 zu paradieren, sondern es soll eine sorgfältige und ernst zu nehmende Auslese unter den Gefangenen treffen«. Die Beurteilung sollte nun »nach Möglichkeit durch die erbbiologische Untersuchung des Gefangenen unterstützt werden«.109 Die erste Stufe, die als eine besonders streng reglementierte Eingangsstufe für die Neuzugänge konzipiert war, geriet in der Folge zunehmend zum Auffangbecken für die wachsende Zahl vermeintlich hoffnungsloser Fälle. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, griff das Justizministerium zu einem drastischen Mittel. Im April 1927 verfügte es, diejenigen Gefangenen aus dem Stufenstrafvollzug auszuschließen, bei denen »eine Erziehungsarbeit im Strafvollzug in Stufen vergeblich« sein würde; das betraf »in der Hauptsache« die Gefangenen, »die infolge ihrer Veranlagung als unverbesserlich gesellschaftsfeindlich zu erachten sind oder die den erzieherischen Einflüssen bewußt bös105 Vgl. Hausarzt der Gefangenenanstalt Zweibrücken an Kriminalbiologische Sammelstelle, 18.3.1931 (Zitat); Kriminalbiologische Sammelstelle an BJM, 27.3.1931; BJM an Kriminalbiologische Sammelstelle, 17.6.1931, HStA München, M Ju, 22512 (unfoliiert). 106 So die Formulierung aus dem Gutachten Max von Grubers vom 19.12.1924, abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 1, S. 59–65, hier S. 59. 107 Ministerialentschließung vom 7.7.1923, ebd., S. 26–38, hier S. 31. 108 Ministerialentschließung vom 30.7.1924, ebd., S. 49–51, hier S. 49. 109 Der weitere Ausbau des Strafvollzugs in Stufen (Anlage zur Ministerialentschließung vom 28.11.1925), ebd., S. 116–125, hier S. 118f.

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willig widerstreben«. Die kriminalbiologische Untersuchung sollte, »wenn irgendwie möglich«, vor dem Ausschließungsentscheid durchgeführt werden, in jedem Fall aber war »wenigstens eine schriftliche Äußerung des Anstaltsarztes zu erholen«.110 Die neue Ausschlussregelung führte zu der absurden Situation, dass die gänzlich vom Stufenstrafvollzug ausgeschlossenen Gefangenen bessere Haftbedingungen vorfanden als die in der ersten Stufe verbleibenden Gefangenen, denen jedwede Vergünstigung versagt blieb.111 Wiederum ging die verschärfte Exklusionspraxis mit einer kriminalbiologischen Jagd auf die ›Unverbesserlichen‹ einher. Am Jahresende konstatierte Richard Degen, dass einige Strafanstalten die Ausschlussbestimmung »mit einer Ausdehnung angewendet« hätten, »die nicht im Sinne des Staatsministeriums der Justiz lag«.112 Nicht zuletzt die geringe Zahl der tatsächlich in die höheren Stufen gelangten Gefangenen war es, die den Strafvollzugsreferenten im Jahr 1930 zu dem Eingeständnis führte, dass die Erziehung »sich als viel schwieriger herausgestellt« habe, »als es anfänglich schien«.113 Doch noch immer sah Richard Degen in der Kriminalbiologie nicht die Ursache, sondern die Lösung dieses Problems: »Man möchte, so wie die Verhältnisse liegen, an der Durchführbarkeit einer systematischen erzieherischen Einwirkung auf die Gefangenen überhaupt beinahe zweifeln, käme uns hier nicht die Kriminalbiologie zu Hilfe, die nach meiner Überzeugung im Erziehungsstrafvollzuge unentbehrlich ist und die auf dem besten Wege ist, einen sicheren Platz im Strafvollzug und in der Strafrechtspflege überhaupt zu erobern.«114

Das Justizministerium beauftragte nun Theodor Viernstein damit, ein Gutachten über die Möglichkeit einer fundierten sozialen Prognose zu erstellen. Viernstein stützte seine gutachtliche Äußerung auf eine gemeinsam mit dem neuen Straubinger Anstaltsarzt Hans Trunk vorgenommene Untersuchungsreihe. Die beiden Forscher hatten mehr als 3 000 Gefangene anhand der vorliegenden kriminalbiologischen Befunde den beiden Gruppen der »Endogeniker« (Verbrecher aus Anlage) und »Exogeniker« (Verbrecher aus Umweltbedingungen) zugeordnet. Zusätzlich hatten sie für beide Gruppen eine Auf-

110 Ministerialentschließung vom 27.4.1927, abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 2, S. 16f. 111 Vgl. z.B. Anstaltsgeistlicher an die Direktion des Zuchthauses Straubing, 15.12.1932, HStA München, M Ju, 22509 (unfoliiert): »Die Gefangenen der Stufe I [...] beschweren sich immer wieder in der erbittertsten Form über ungerechte Behandlung, die darin bestehe, daß die moralisch unter ihnen stehenden Ausgestuften es besser haben als sie.« 112 Ministerialentschließung vom 3.12.1927, abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 2, S. 19–26, hier S. 24. 113 Manuskript »Besprechung der Strafvollzugsreferenten der Länder über den Entwurf d. Strafvollzugsgesetzes am 18. Jan. 1930, Referat Degen«, HStA München, M Ju, 22507 (unfoliiert). 114 Ebd.

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stellung der sozialen Prognosen angefertigt. Als Ergebnis stellten sie fest, dass die Endogeniker sich zu 81 % als unverbesserlich, die Exogeniker dagegen zu 79 % als besserungsfähig »erwiesen« hatten.115 Diese hohe positive Korrelation von ›anlagebedingter Kriminalität‹ und prognostizierter ›Unverbesserlichkeit‹ kann eigentlich kaum verwundern, denn der ursprünglichen sozialen Prognose des Anstaltsarztes und der nachträglich durch Viernstein und Trunk vorgenommenen Zuordnung zur Gruppe der Endogeniker lagen dieselben Ausgangsdaten über die ›erbliche Belastung‹ des jeweiligen Gefangenen zugrunde. Bemerkenswert erscheint auch, dass Viernstein und Trunk nicht die reale Rückfälligkeit, sondern bloß die anstaltsinterne Etikettierung als Indikator der ›Unverbesserlichkeit‹ berücksichtigt hatten. Trotzdem glaubte Theodor Viernstein allen Ernstes, »mit eindrucksvoller Deutlichkeit« den naturwissenschaftlichen Beweis dafür erbracht zu haben, »daß die Aussicht, welche ein Krimineller für künftige Wiedereinordnung in die Gesellschaft und für künftiges gesetzmäßiges Leben bietet, in sehr hohem Maße von seiner Zugehörigkeit zur einen oder anderen der beiden großen Gruppen von Verursachungen krimineller Betätigung abhängt«. Deshalb empfahlen die Autoren, künftig eine exakte Zuordnung der Gefangenen zu den Gruppen der Endogeniker und Exogeniker vorzunehmen »und ebenso möglichst klar und verantwortungsfreudig die soziale Prognose abzumessen«. Es erschien ihnen aufgrund der statistischen Befunde »richtig und notwendig, von vorneherein die Hälfte aller Strafgefangenen als für das Stufensystem untauglich zu erklären«.116 Der Psychiater und Kriminologe Gustav Aschaffenburg hatte wohl derartige ›wissenschaftliche‹ Studien vor Augen, als er einem Freund schrieb, dass das »dilettantische Verwerten von Psychoanalyse, Individualpsychologie und Kriminalbiologie« zu Beschlüssen führen könne, »die den Strafvollzug völlig zum Scheitern bringen werden«.117 Der Leiter des Zuchthauses Ebrach führte die primitive Anlage-Umwelt-Dichotomie Viernsteins, die noch hinter die von einer Wechselwirkung ausgehenden Degenerationstheorien des späten 19. Jahrhunderts zurückfiel, mit einer einfachen logischen Überlegung ad absurdum: »Man sagt gerne: Der Vater war kriminell, also wird es der Sohn oder Enkel auch sein. Warum aber zieht man nicht den Rückschluß: Der Sohn ist kriminell, also muß der Vater oder Großvater es auch gewesen sein. Vater oder Großvater waren aber doch angesehene Leute. Oder wurden sie vielleicht nur nicht entlarvt? Und warum werden soviele mit schlechtem Erbgut nicht kriminell?«118

115 Gutachten, 4.2.1930, HStA München, M Ju, 22507 (unfoliiert). 116 Ebd. 117 Vgl. Aschaffenburg an Eckert, 3.6.1930, Universitätsarchiv Köln, 9/2, Bl. 219. 118 Direktion des Zuchthauses Ebrach an BJM, 14.5.1930, HStA München, M Ju, 22507 (unfoliiert).

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Doch das bayerische Justizministerium nahm Viernsteins Vorschläge dankbar auf. Vorbehaltlich einer endgültigen Anordnung empfahl es mit Bezug auf das Gutachten von Viernstein und Trunk, eine »strengere Auslese« der für den Stufenstrafvollzug geeigneten Gefangenen zu treffen. Der für die Versetzung in die zweite Stufe maßgebliche Begriff »erzieherischer Einwirkung zugänglich« müsse künftig »strenger ausgelegt« werden; zudem sollte nach sechs bzw. neun Monaten in der Stufe I jeder Gefangene aus dem Stufenstrafvollzug ausgeschlossen werden, der die Voraussetzungen für den Aufstieg in die Stufe II nicht erfüllt; denn: »bei wem dann noch zweifelhaft ist, ob er erziehbar ist, den weiter im Erziehungsstrafvollzuge mitzuschleppen, hat keinen Wert«. Das Rundschreiben des Justizministeriums enthielt auch einen Ausblick auf die zukünftige Entwicklung: »Es ist zu erwarten, daß durch diese strengere Auslese die Zahl der Gefangenen, die die Stufe 2 erreichen, wesentlich geringer werden wird als bisher. Eine solche Einschränkung des Kreises der Gefangenen in der Stufe 2 scheint mir aber eine wesentliche Verbesserung des Systems und möglicherweise sogar eine Bürgschaft wirklicher Erziehungserfolge zu sein. Vielleicht ist es im Laufe der Zeit möglich, alle Gefangenen der Stufe 2 in besonderen Anstalten zu vereinigen und für diese Anstalten dann die tüchtigsten Erziehungsbeamten auszuwählen und ihre Einrichtung so auszubauen, daß sie allen Anforderungen des Erziehungsstrafvollzugs in vollkommener Weise gewachsen sind.«119

Die in Aussicht gestellte Auslagerung der besserungsfähigen Restgefangenen in Sonderanstalten kam einer Bankrotterklärung des allgemeinen Erziehungsstrafvollzugs gleich. Zur Einrichtung solcher Elite-Gefängnisse sollte es nicht mehr kommen, doch mit der ›strengeren Auslese‹ wurde sofort Ernst gemacht. Ende 1931 berichtete der Straubinger Zuchthausarzt Hans Trunk, »dass die Beurteilung der Gefangenen strenger und damit sicher den tatsächlichen Verhältnissen entsprechender geworden ist«. Der Anteil der in der Stufe I untergebrachten Gefangenen sei seit 1929 von 44 % auf 60 % gestiegen; der Anteil der als ›unverbesserlich‹ bezeichneten Insassen habe gar von 37 % auf 62 % zugenommen. Trunk vermeldete im Einklang mit den Vorgaben des Justizministeriums: »der anfängliche Optimismus hinsichtlich der Besserungsfähigkeit schwindet. Von meinen Erfahrungen ausgehend möchte ich annehmen, dass auch die Zugangsprognosen Uv. [=Unverbesserlich] noch zunehmen werden.«120 Als Hans Trunk beflissen von der raschen Umsetzung der neuen Linie der Strafvollzugspolitik berichtete, hatte er einen Aspekt übersehen: Die Prozentzahlen demonstrierten auch, dass die Prognose der ›Unverbesserlichkeit‹ beliebig manipulierbar und keineswegs eine objektiv-natur119 Ministerialentschließung vom 2.4.1930, HStA München, M Ju, 22507 (unfoliiert). 120 Zuchthaus Straubing, Anstaltsärztlicher Bericht über den Stufenstrafvollzug im 2. Halbjahr 1931, 10.12.1931, HStA München, M Ju, 22508 (unfoliiert).

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wissenschaftliche Feststellung war. Doch auf letzterer Annahme beruhte sein gemeinsam mit Viernstein verfasstes Gutachten, das die ›Unverbesserlichkeit‹ von 81 % der ›Endogeniker‹ vermeintlich objektiv ›bewiesen‹ hatte. Das aber hatte die politische Kurskorrektur Richard Degens erst hervorgerufen. Bilanziert man die Ergebnisse des bayerischen Stufenstrafvollzugs in der Weimarer Republik, ergibt sich folgendes Bild: Die konservative Auslese-Pädagogik und die auf einer oberflächlichen Rezeption der Rassenhygiene basierende Kriminalbiologie hatten sich wechselseitig in ihren selektiven Tendenzen bestärkt und bis zum Beginn der dreißiger Jahre bewirkt, dass der Großteil der bayerischen Gefangenen als ›unverbesserlich‹ aufgegeben wurde.121 Eine Rationalisierung des Strafens hatte nicht stattgefunden. Dass die pseudowissenschaftlich legitimierte Aussonderung von ›Unverbesserlichen‹, an denen erst gar keine Besserungsversuche erprobt worden waren, mit den Zielen einer modernen Strafvollzugsreform wenig gemein hatte, erkannte auch ein Kreis von Juristen um den Hamburger Strafrechtslehrer Moritz Liepmann.122 Rudolf Sieverts, der nach dem Tod Liepmanns dessen Lehrstuhl übernommen hatte, schrieb im Jahr 1932: »Sollte jetzt in Bayern von oben tatsächlich in dieser Weise einer weit verbreiteten reaktionären Stimmung in der Strafvollzugspraxis nachgegeben werden, so müßte wenigstens mit allem Nachdruck dagegen protestiert werden, diesem frühzeitigen Aufgeben der Strafvollzugsreform, bevor sie über das heutige allererste Vorstadium zum Erziehungsstrafvollzug hinausgelangt ist, den Mantel einer exakt-wissenschaftlichen Begründung durch die Kriminalbiologie umzuhängen, wie Viernstein es tut.«123

Linksliberale wie Liepmann und Sieverts, Bondy und Petrzilka waren Außenseiter unter den Kriminalpolitikern der späten Weimarer Republik. Für eine Strafvollzugsreform, die aufwändige erzieherische Bemühungen um alle Gefangenen und die Einstellung zusätzlichen sozialpädagogisch ausgebildeten Gefängnispersonals verlangt hätte, fehlten zu Beginn der dreißiger Jahre finanzielle Mittel und politische Unterstützung. Populärer waren Ansichten, wie sie der Arzt der Gefangenenanstalt Zweibrücken in seinem Bericht vom 6. Januar 1933 äußerte: »Ich muß immer wieder betonen, daß die Untersuchungen mich zu der Überzeugung gebracht haben, daß die Anlage als Verbrechensursache den Hauptfaktor bildet. [...] Die Bekämpfung des Verbrechens 121 Vgl. dagegen die Charakterisierung des bayerischen Stufenstrafvollzugs bei Simon, S. 127: »Das moderne Element des Stufenstrafvollzuges mit dem dahinterstehenden Grundgedanken der Erziehung und Besserung der Gefangenen und der rassenhygienische Ansatz – gleichermaßen modern und auf der Höhe des damaligen wissenschaftlichen Diskurses – verbanden sich zu einem in sich widersprüchlichen Konzept.« 122 Vgl. Liepmann, Die Problematik des ›Progressiven Strafvollzugs‹; Bondy, Zur Frage der Erziehbarkeit; Petrzilka, S. 39ff.; Sieverts, Gedanken über den kriminalbiologischen Dienst; eine ausführliche Würdigung dieser kritischen Abhandlungen findet sich bei Wetzell, Inventing the Criminal, S. 137ff. 123 Sieverts, Gedanken über Methoden, S. 598.

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ist nicht ein erzieherisches, sondern ein biologisches Problem.«124 So fragwürdig Theodor Viernsteins kriminalbiologische Vorstellungen auch waren, mit dem historischen Urteil in eigener Sache lag er nicht völlig falsch: »Wenn es nun gelang, den extrem milieutheoretischen Zug der Zeitseele einzudämmen, so war dies dem Umstand zuzuschreiben, daß der Stufenstrafvollzug die wissenschaftlichen Behelfe der Biologie als Grundlage nahm«.125

3. Kriminalbiologie und Strafrechtslehre Der Begriff ›Kriminalbiologie‹ geht auf Franz von Liszt zurück. Der Strafrechtslehrer verstand hierunter »die wissenschaftliche Untersuchung der körperlichen und geistigen Eigenart des Verbrechers und die Feststellung der in dieser gelegenen Bedingungen des Verbrechens«.126 Der Terminus erfüllt bei Liszt eine doppelte Funktion: Zum einen sollte er als Sammelbegriff für die vielfältigen medizinischen Richtungen innerhalb der Kriminologie den einseitigen – durch Lombroso geprägten – Begriff der ›Kriminal-Anthropologie‹ ersetzen; zum anderen bildete die ›Kriminalbiologie‹ das komplementäre Gegenstück zur ›Kriminalsoziologie‹, deren Aufgabe »die wissenschaftliche Untersuchung des Verbrechens als einer eigenartigen Erscheinung des gesellschaftlichen Lebens und die darauf gestützte Klarlegung der sozialen Bedingungen des Verbrechens« war.127 Nach dem Ersten Weltkrieg erfuhr der Begriff jedoch allmählich eine Bedeutungsverschiebung einerseits in Richtung allgemeiner Kriminologie, andererseits in Richtung Erbbiologie. Im Nationalsozialismus schließlich war die erbbiologisch verengte ›Kriminalbiologie‹ derart dominant, dass sie von der ›Kriminalbiologie‹ im allgemeinen Sinne nicht mehr zu unterscheiden war. Diese Begriffsverschiebungen muss sich der Historiker vergegenwärtigen, um ahistorische Rückprojektionen und Fehlurteile zu vermeiden, denn im heutigen Sprachgebrauch ist der Begriff durch seine Bedeutung in der NS-Zeit geprägt und belastet. Kriminalbiologische Forschung im Sinne Liszts wurde in der Weimarer Republik hauptsächlich von Psychiatern betrieben. Neben Karl Birnbaum128 wa124 Gefangenenanstalt Zweibrücken, Bericht des Anstaltsarztes, 6.1.1933, HStA München, M Ju, 22509 (unfoliiert); weiter heißt es an dieser Stelle: »Durch fortpflanzungshygienische Maßnahmen möge man der Hochzucht verbrecherischer Anlagen vorbeugen. Es wäre allerdings heute schon viel erreicht, wenn der unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher aus der menschlichen Gesellschaft eliminiert würde. Aber auch diese Forderung wird wohl noch lange auf die Verwirklichung warten müssen.« 125 Viernstein, Stufenstrafvollzug, S. 134. 126 Liszt, Kriminalpolitische Aufgaben, S. 296. 127 Ebd., S. 312. 128 Birnbaum, Kriminalpsychopathologie; vgl. oben, Abschnitt, A, I, 4.

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ren es vor allem Schüler und unmittelbare Kollegen Emil Kraepelins, die sich die kriminologische Täterforschung als ihr psychiatrisches Spezialgebiet auserkoren hatten:129 Kurt Schneider befasste sich im Zusammenhang mit seinen Studien über die ›psychopathischen Persönlichkeiten‹ auch mit kriminologischen Aspekten. Johannes Lange erforschte in Kooperation mit Ernst Rüdin die Kriminalität unter erbbiologischen Gesichtspunkten. Hans Gruhle und Gustav Aschaffenburg richteten aus medizinisch-psychologischer Perspektive ihren Blick auf die kriminelle Persönlichkeit. Sie alle waren angesehene Psychiater, die in einem medizinischen Wissenschaftskontext über Kriminalität arbeiteten. Um einen Anwendungsbezug für ihre kriminologische Grundlagenforschung zu finden, bedurfte es guter Kontakte zu Justizpraktikern, Strafrechtswissenschaftlern und Politikern. In dieser Beziehung hatte ihnen der einfache Zuchthausarzt Theodor Viernstein einiges voraus. Viernstein war gewissermaßen der einzige hauptberufliche Kriminologe in der Weimarer Republik. Seine Forschungen waren eingebettet in den institutionellen Rahmen des bayerischen Stufenstrafvollzugs und hatten somit einen unmittelbaren Praxisbezug. Auf dem Dienstweg verkehrte er mit dem bayerischen Justizminister Franz Gürtner, der ab 1932 als Reichsjustizminister die Strafrechtspolitik beeinflussen sollte. Zudem waltete Viernstein über die gesammelten kriminalbiologischen Befunde, weshalb er zur Anlaufstelle für kriminologisch forschende Psychiater wie auch für kriminologisch interessierte Strafrechtswissenschaftler wurde. Diese Schlüsselstellung konnte Viernstein ausnutzen, um einseitig die Konstitutions- und Erbbiologie zu fördern und die Kriminalbiologie insgesamt in eine rassenhygienische Richtung zu lenken. Schon zu Beginn seiner kriminalbiologischen Tätigkeit suchte Viernstein die Nähe zu den Münchener Rassenhygienikern um Fritz Lenz und Ernst Rüdin. Beide hatte er in seiner Denkschrift für den Ausbau des Kriminalbiologischen Dienstes als wissenschaftliche Referenz angeführt.130 Lenz und Rüdin konnte er neben dem Konstitutionsbiologen Ernst Kretschmer auch als Referenten für seine kriminalbiologischen Fortbildungs-Lehrgänge gewinnen.131 Im Jahr 1930 gab das Justizministerium einem Gesuch Viernsteins nach und genehmigte den Umzug der Kriminalbiologischen Sammelstelle in die Räumlichkeiten der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München.132 Dieses Institut war 129 Vgl. die differenzierte Darstellung der verschiedenen Richtungen der Weimarer Kriminalbiologie bei Wetzell, Inventing the Criminal, S. 125ff. 130 Vgl. Viernstein an BJM, 25.2.1923, HStA München, M Ju 22504 (unfoliiert); Viernstein an BJM, 27.9.1924, HStA München, M Ju, 22511 (unfoliiert). 131 Vgl. Kriminalbiologischer Einführungs-Kurs für Strafanstaltsärzte in München vom 27. bis 30. April 1925, abgedruckt in: Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 1, S. 55; Fortbildungs-Lehrgang für Strafanstalts-Oberbeamte in München vom 4. bis 6. Juli 1927, ebd., Bd. 2, S. 78. 132 Vgl. Viernstein an BJM, 14.2.1927; Vermerk Degen, 26.2.1928; BJM an Bayerisches

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1917 auf Initiative Emil Kraepelins errichtet und 1924 an die Kaiser-WilhelmGesellschaft angegliedert worden. Die Instituts-Abteilung für Genealogie und Demographie entwickelte sich unter der Leitung von Ernst Rüdin zu einem Zentrum der Rassenhygiene. Im Jahr 1931 übernahm Rüdin auch die Gesamtleitung der Forschungsanstalt.133 Aus der Zusammenarbeit zwischen der Sammelstelle und den Wissenschaftlern der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie sind einige empirische Untersuchungen hervorgegangen, die das erbbiologische Paradigma innerhalb der Kriminologie stützten. Insbesondere die unter dem populären Titel »Verbrechen als Schicksal« publizierte Zwillingsstudie von Johannes Lange gab dem kriminalbiologischen Anlagedenken Auftrieb. Der Leiter der Klinischen Abteilung der Forschungsanstalt hatte anhand des Materials der Sammelstelle 13 ein- und 17 zweieiige Zwillingspaare berücksichtigt, um die kriminologische Bedeutung von Anlage- und Umweltfaktoren zu erforschen. Trotz der geringen Fallzahl, die seriöse statistische Schlüsse nicht zuließ, leitete Lange aus seiner kasuistischen Untersuchung den »ganz bestimmte[n] Schluß« ab, »daß bei unseren heutigen sozialen Verhältnissen für den Verfall in Kriminalität die Erbanlage eine überwiegende Bedeutung hat«.134 Mitte der dreißiger Jahre erschienen zwei wichtige Studien von Friedrich Stumpfl, der seit 1930 als Assistent an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie beschäftigt war.135 Stumpfl legte 1935 eine ›Sippenstudie‹ als Habilitationsschrift und im Jahr darauf eine Zwillingsstudie vor.136 Auch diese Arbeiten sollten die Relevanz des Anlagefaktors unterstreichen. Nicht alle kriminologisch forschenden Psychiater teilten derartige Auffassungen. Der eher klinisch-psychologisch forschende Hans Gruhle, aber auch Karl Birnbaum und Kurt Schneider, die auf dem Gebiet der PsychopathenLehre arbeiteten, standen der erbbiologischen Kriminalbiologie äußerst kritisch gegenüber. Andere Psychiater wie Gustav Aschaffenburg oder Hans Luxenburger glaubten zwar an die überragende Wirksamkeit erbbiologischer Dispositionen, warnten aber vor deterministischen Übertreibungen.137 Hans Gruhle sah sich angesichts des durch Theodor Viernstein ausgelösten Booms der konstitutions- und erbbiologischen Kriminalbiologie sogar genötigt, die Richter und Strafvollzugsbeamten vor der Anwendung dieser Wissenschaft zu warnen. In einem Aufsatz in einer kriminalistischen Fachzeitschrift äußerte er Finanzministerium, 28.12.1928; Viernstein an BJM, 5.7.1930, HStA München, M Ju, 22512 (unfoliiert). 133 Vgl. Weber, »Ein Forschungsinstitut für Psychiatrie...«; ders., Psychiatrie als »Rassenhygiene; ders., Ernst Rüdin, S. 114ff. u. 148ff. 134 Lange, S. 82. 135 Vgl. Weber, Ernst Rüdin, S. 173. 136 Stumpfl, Erbanlage und Verbrechen; ders.; Die Ursprünge des Verbrechens. 137 Vgl. Wetzell, Inventing the Criminal, S. 177f.; Simon, S. 81.

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im Jahr 1928, dass »vorläufig für den Kriminalpraktiker aus der Körperbaulehre nicht der geringste Gewinn an Erkenntnis zu erzielen« sei; die Annahme der Erblichkeitsforschung, »daß der Sohn eines Verbrechers mit der Neigung zum Verbrechen erblich belastet sei«, sei eine »sehr unbestimmte, ja recht unwahrscheinliche Annahme«; die »heutige Kriminalbiologie in der eben mitgeteilten Bedeutung vermag also weder dem Kriminalbeamten, noch etwa dem Richter oder Strafvollzugsbeamten etwas praktisch Brauchbares zu bieten«.138 Die kriminalbiologische Forschung war zwar in erster Linie eine Angelegenheit der Psychiatrie, doch die Lehre – im Rahmen der Juristenausbildung – war eine Domäne der Strafrechtswissenschaft. Diese der Kriminalbiologie eigentümliche Form der Interdisziplinarität hatte naturgemäß zur Folge, dass die eigentlich kompetenten Forscher keinen direkten Einfluss auf die durchaus praxisrelevanten Lehrinhalte hatten, während die Auswahl und Bewertung der zu vermittelnden Forschungsergebnisse in der Hand von ›Laien‹ lag. Die Strafrechtslehrer konnten ihre Definitionsmacht beliebig ausnutzen und sich – wie es beispielsweise Moritz Liepmann in Hamburg tat139 – der Kriminalsoziologie zuwenden oder eben der Kriminalbiologie oder auch beiden Richtungen. Im deutschen Sprachraum waren es in erster Linie Edmund Mezger in München, Franz Exner in Leipzig und Adolf Lenz in Graz, die sich der Kriminalbiologie verschrieben hatten, freilich ohne die Kriminalsoziologie gänzlich zu vernachlässigen. Adolf Lenz veröffentlichte im Jahr 1927 als Erster einen »Grundriß der Kriminalbiologie«; in der NS-Zeit folgten auch Mezger und Exner mit kriminalbiologischen Lehrbüchern.140 Der Austausch zwischen medizinischen Forschern und juristischen Lehrern hing von organisierten Zusammenkünften und persönlichen Bekanntschaften ab. Auch in dieser Beziehung konnte Theodor Viernstein eine Vermittlerrolle einnehmen. Bereits im Jahr 1924, als der Kriminalbiologische Dienst noch im Aufbau begriffen war, stand er in einem regen Austausch mit Edmund Mezger, der auch den Kontakt zu Franz Exner vermittelte.141 Als der interdisziplinäre Austausch durch die Gründung einer »Kriminalbiologischen Gesellschaft« im Jahr 1927 institutionalisiert wurde, war Theodor Viernstein als Vorstandsmitglied maßgeblich beteiligt.142 Obwohl Viernstein selbst nicht mit nennenswerten Forschungsleistungen glänzen konnte, fungierte er als wichtiger Vermittler zwischen Rassenhygiene, Strafrechtswissenschaft und Politik. Das durch Theodor Viernstein zusammengehaltene Netzwerk aus erbbiologisch interessierten Psychiatern und Juristen gewann in den dreißiger 138 Gruhle, Kriminalbiologie und Kriminalpraxis, S. 241f. 139 Vgl. Wetzell, Inventing the Criminal, S. 109ff. 140 Vgl. Lenz, Grundriß der Kriminalbiologie; zur NS-Zeit siehe unten, Kapitel C. 141 Vgl. Viernstein an BJM, 3.3.1924, HStA München, M Ju, 22511 (unfoliiert). 142 Zur Kriminalbiologischen Gesellschaft siehe Schöch, Die gesellschaftliche Organisation; Simon, S. 152ff.

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Jahren großen Einfluss. Edmund Mezger und Franz Exner, Johannes Lange und Friedrich Stumpfl zählten später zum inneren Zirkel der Kriminalbiologie der NS-Zeit.143 Das seit Mitte der zwanziger Jahre zunehmende Gewicht des erbbiologischen Paradigmas innerhalb der Kriminologie spiegelte sich auch in den Inhalten der Strafrechtsdogmatik. Noch bevor Ansätze für eine Tätertypenlehre entwickelt wurden,144 nahm sich die Strafrechtswissenschaft der Schuldproblematik an. Der Gegensatz zwischen der deterministischen ›modernen‹ Schule und der ›klassischen‹ Schule, die von der Willensfreiheit des Täters ausging, geriet durch die Kriminalbiologie ins Wanken. Auch viele ›Klassiker‹ ließen sich davon überzeugen, dass ein nicht zu vernachlässigender Teil der Verbrecher erbbiologisch zum Verbrechen disponiert sei. Das bedeutete jedoch nicht, dass sie deshalb das Schuldprinzip als Strafgrund aufgaben. Vielmehr finden sich in der rechtswissenschaftlichen Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre einige Beispiele dafür, dass alle Register der Rabulistik gezogen wurden, um das Schuldstrafrecht mit dem biologischen Determinismus zu vereinbaren. Autoren aus beiden Lagern versuchten die »Gefährlichkeit als Schuldmoment«145 zu definieren. Adolf Lenz konstruierte einen »biologischen Schuldtatbestand« und einen »Schuldvorwurf aus der Persönlichkeit«.146 Originell ist auch Edmund Mezgers Versuch, der erbbiologischen Täterforschung die Qualität einer rechtsstaatlichen Garantie zuzuschreiben: »Eine vertiefte Erblichkeitsforschung gibt uns heute in der Tat die Befugnis, eine systematische Erforschung menschlicher Persönlichkeitstypen zu wagen. Deshalb scheint uns das nächste Ziel einer wissenschaftlichen Kriminalpolitik zu sein: biologisch begründete kriminelle Persönlichkeitstypen zu erforschen und zu gestalten, an Hand deren die Gesetzgebung neben einer scharf umrissenen Tathaftung eine ähnliche umschriebene Täterhaftung begründen kann. Denn auch hier muß zwar der Richter dem Gesetz schließlich die Vollendung und das Leben geben; aber auch hier darf seine Tätigkeit nicht in schrankenloses Ermessen ausarten.«147

Alle diese strafrechtsdogmatischen Verrenkungen teilten einen gemeinsamen Aspekt: Die Sicherungsverwahrung sollte nicht im ›modern‹-utilitaristischen Sinn als eine eigentlich unverdiente, jedoch zum Schutz der Allgemeinheit erforderliche ›Maßnahme‹ gelten, sondern zur ›Strafe‹ aufgewertet werden. Damit stand auch ihrer Ausgestaltung als empfindliches Strafübel gemäß dem Sühnegedanken nichts mehr im Weg. Sicherung und Sühne wurden kaum mehr – wie auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen ›moderner‹ 143 144 145 146 147

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Vgl. Dölling. Vgl. Marxen, Strafrechtsdogmatik. So der Titel einer Abhandlung von Grünhut. Vgl. Lenz, Die biologische Vertiefung des Schuldproblems. Mezger, Persönlichkeit und strafrechtliche Zurechnung, S. 42.

und ›klassischer Schule‹ in der wilhelminischen Zeit – als Gegensätze, sondern als gleichwertige Bestandteile einer autoritären Strafrechtspolitik auf kriminalbiologischer Grundlage wahrgenommen. Die Rezeption der Kriminalbiologie hatte die ›Überwindung des Schulenstreits‹ vorbereitet, die sich bald – freilich im Geiste des Nationalsozialismus – vollziehen sollte.

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C. Strafrechtspolitik zwischen Reformtradition und rassistischer Neubestimmung: ein Ausblick auf das Dritte Reich

Spätestens seit Martin Broszats »Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus«1 aus dem Jahr 1985 ist die Verortung der NS-Zeit in der Langzeitgeschichte der deutschen Gesellschaft zu einem Hauptanliegen der zeitgeschichtlichen Forschung geworden. Durch eine »periodenübergreifende Betrachtung« würden, so Broszat, schon lange vor der ›Machtergreifung‹ »angelegte problematische Modernisierungstendenzen und Sozialpathologien sichtbar werden, die, im Nationalsozialismus legitimiert und zusammengerafft, in äußerste Gewaltsamkeit umschlugen«.2 In der Folge ist eine Kontroverse über das Verhältnis von Nationalsozialismus und Modernisierung entbrannt, die sich nicht nur um das Selbstverständnis der NS-Bewegung, sondern auch um die Bewertung der industriegesellschaftlichen Moderne dreht.3 Gerade die hier untersuchten Entwicklungen – die Durchsetzung eines utilitaristischen Zweckstrafrechts und die Biologisierung von Kriminalität – werfen die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen nach der ›Machtergreifung‹ auf: Ist die Kriminalbiologie der Weimarer Zeit als Wegbereiter einer rassistischen NS-Kriminalpolitik zu verstehen? Bereitete die Konzeption eines ›individualisierenden‹ Präventionsstrafrechts mit seiner Dichotomie von Besserung und Sicherung die nationalsozialistische Selektions- und Vernichtungspolitik vor? War das von Franz von Liszt entworfene ›moderne‹ Zweckstrafrecht in besonderer Weise einer Instrumentalisierung zu nationalsozialistischen Zwecken zugänglich? Oder ist die terroristische Strafpraxis im Dritten Reich eher als eine überspitzte Form des ›klassischen‹ Vergeltungsprinzips aufzufassen? Da diese Fragen nicht nur für die Charakterisierung des Nationalsozialismus, sondern auch für die Gewinnung eines historischen Urteils über die Verbrechensbekämpfung der Klassischen Moderne relevant sind, wird im Folgenden der Blick über den Horizont des eigentlichen Untersuchungszeitraums hinaus ausgeweitet. Dieser Ausblick auf das Dritte Reich ist insofern als 1 Broszat, Plädoyer. 2 Ebd., S. 384. 3 Einen Überblick über die zeithistorische Modernisierungs-Debatte bieten: Frei; Schildt; Hehl, S. 100ff.

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Nachspann angelegt und beginnt entsprechend mit einer Skizze der Lebensläufe jener Kriminologen und Strafrechtsreformer, deren Wirken in den vorangegangenen Kapiteln behandelt worden ist: Der durch die völkische Rassenhygiene inspirierte Kriminalbiologe Theodor Viernstein konnte im Dritten Reich eine relativ steile Karriere machen.4 Gleich nach der ›Machtergreifung‹ diente er sich dem Regime mit einer Denkschrift an, in der er unter Hinweis auf die Ziele der nationalsozialistischen Rassenpolitik für eine reichsweite Ausdehnung seines Kriminalbiologischen Dienstes plädierte.5 Noch im Jahr 1933 trat Viernstein als Ministerialrat in den Dienst des bayerischen Innenministeriums. Im gleichen Jahr erhielt der Gefängnisarzt einen Lehrauftrag an der Juristischen Fakultät der Universität München; drei Jahre später wurde er zum Honorarprofessor ernannt. Auch nach seiner Pensionierung im Jahr 1942 blieb Viernstein Leiter der Kriminalbiologischen Sammelstelle. Zwar blieben ihm politische Entscheidungspositionen versagt, doch die akademischen Würden, die ihm nach 1933 zuteil wurden, obwohl die wissenschaftliche Qualität seiner Arbeiten in Fachkreisen immer wieder angezweifelt worden war, zeugen von einer neuen Wertschätzung seiner spezifischen Variante der Kriminalbiologie. Viernsteins größter Erfolg dürfte die Einrichtung eines Kriminalbiologischen Dienstes auf Reichsebene gewesen sein; bezeichnenderweise wurde der Erziehungsstrafvollzug, dem die Kriminalbiologie ursprünglich ihren Aufstieg verdankte, in der NS-Zeit zugunsten einer harten Abschreckungspraxis aufgegeben.6 Die Karriere des angesehenen Kriminologen Gustav Aschaffenburg, der von einer psychiatrisch-fachwissenschaftlichen Warte aus die ›dilettantischen‹ Bestrebungen mancher Kriminalbiologen kritisiert hatte, verlief geradezu spiegelverkehrt zum Aufstieg Viernsteins.7 Der Kölner Ordinarius für Psychiatrie zog 1932 aufgrund antisemitischer Anfeindungen seine Kandidatur für das Rektoramt zurück. Als ehemaligem Frontkämpfer blieb ihm die Entlassung gemäß dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 trotz seiner jüdischen Abstammung zunächst erspart; jedoch sah 4 Die biographischen Angaben sind den Personalakten Viernsteins entnommen; vgl. HStA München, M Inn, Nr. 85264 und M K, Nr. 19138. 5 »Kriminalbiologie und Erneuerung der Rechtsordnung«; die Denkschrift wurde dem Reichsjustizministerium übersandt und von dort als Abdruck an die Landesjustizministerien mit der Bitte um Stellungnahme weitergeleitet; vgl. RJM an Landesjustizverwaltungen, 15.8.1933, HStA München, M Ju, Nr. 22512 (unfoliiert). 6 Die vom Reichsjustizminister erlassene »Verordnung über den Vollzug von Freiheitsstrafen« vom 14.5.1934 (RGBl. I 1934, S. 383) zielte ganz auf Sühne und Abschreckung: »Durch die Verbüßung der Freiheitsstrafe sollen die Gefangenen das begangene Unrecht sühnen. Die Freiheitsentziehung ist so zu gestalten, daß sie für die Gefangenen ein empfindliches Übel ist und auch bei denen, die einer inneren Erziehung nicht zugänglich sind, nachhaltige Hemmungen gegenüber der Versuchung, neue strafbare Handlungen zu begehen, erzeugt.«; zur Praxis des Strafvollzugs der NS-Zeit siehe auch Möhler. 7 Vgl. Busse, S. 8ff.

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er sich wegen des politischen Drucks 1934 genötigt, seine vorzeitige Emeritierung zu beantragen. Ein Jahr später musste er auch die Schriftleitung der »Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform« aufgeben. 1939 emigrierte Aschaffenburg in die Schweiz, später in die USA, wo er 1944 starb. Auch der SPD-nahe Dresdener Sozialhygieniker Rainer Fetscher, der mit Unterstützung des sächsischen Justizministeriums eine ›Erbbiologische Kartei‹ der Gefangenen erstellt hatte, wurde nach der ›Machtergreifung‹ aus der kriminologischen Scientific Community verdrängt.8 Nachdem er 1933 aus allen Ämtern entlassen worden war, zog er sich beruflich in seine Privatpraxis zurück. Er pflegte Verbindungen zu Widerstandsgruppen und wurde am 8. Mai 1945 von der SS erschossen, als er versuchte, mit sowjetischen Truppen Kontakt aufzunehmen. Die in der Weimarer Republik bereits festzustellende Tendenz zu einer fachlichen Aufsplitterung von kriminologischer Forschung und Lehre setzte sich im Dritten Reich weiter fort. Während die kriminalbiologische Einzelfallund Grundlagenforschung zu einem großen Teil von Gefängnis- und Gerichtsärzten bzw. Psychiatern betrieben wurde, war die kriminologische Lehre institutionell überwiegend in den Strafrechtsabteilungen der Juristischen Fakultäten verankert.9 Juristen wie Edmund Mezger oder Franz Exner verfassten die einschlägigen Lehrbücher, in denen die von den meist medizinisch ausgebildeten Kriminologen erarbeiteten Theorien und empirischen Studien zusammengefasst, bewertet und für die Strafrechtslehre aufbereitet wurden.10 Der Münchener Ordinarius Edmund Mezger, der einer der einflussreichsten Strafrechtslehrer der NS-Zeit war und später in der Adenauer-Zeit – nach einer kurzzeitigen Unterbrechung seiner Karriere durch das Entnazifizierungsverfahren – sogar zum stellvertretenden Vorsitzenden der ›Großen Strafrechtskommission‹ berufen wurde,11 bewertete in seinem Standardwerk aus dem Jahr 1934 den Nutzen der unterschiedlichen Richtungen der Kriminologie für das nationalsozialistische Rechtssystem: Zur »psychopathologischen Verbrechensauffassung« bemerkte er, dass der »Anspruch auf liebevolle Pflege verbrecherischer Urtriebe im Sinne der psychoanalytischen oder individualpsychologischen Theorie [...] ebenso bestimmte, wie radikale Ablehnung« verdiene.12 Die »soziologische Verbrechensauffassung« sei »mit dem totalen Staat und der von ihm geforderten persönlichen Verantwortlichkeit unvereinbar«.13 Die »kriminalpolitischen Folgerungen der biologischen Verbrechens8 Vgl. die Kurzbiographie bei Labisch u. Tennstedt, S. 401f. 9 Zur Kriminologie der NS-Zeit siehe: Wetzell, Inventing the Criminal, S. 179ff.; Schütz; Dürkop; Dölling; Streng. 10 Vgl. Mezger, Kriminalpolitik; Exner, Kriminalbiologie. 11 Vgl. Thulfaut, S. 17ff.; eine kritischere Sicht der Tätigkeit Mezgers im Dritten Reich findet sich bei Rehbein. 12 Mezger, Kriminalpolitik, S. 66. 13 Ebd., S. 174.

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auffassung« seien hingegen »für die Rechtsauffassung des totalen Staates von weittragender Bedeutung«: »Denn dieser totale Staat lehnt nicht nur eine abstrakte, und unterschiedslose Freiheit des Individuums zugunsten einer nach Eigenart und Leistung differenzierten Behandlungsweise des Einzelnen ab, sondern rückt bei der zentralen Bedeutung, die in ihm der Rassegedanke beansprucht, naturgemäß eine biologische Betrachtungsweise in den Vordergrund. [...] So wird die erb- und konstitutionsbiologische Verbrechensauffassung zu einem Eckstein künftigen deutschen Strafrechts werden.«14

Dieses souveräne Urteil, das Mezger als juristischer Generalist hier über die unterschiedlichen erfahrungswissenschaftlichen Einzelströmungen der Kriminologie fällt, zeugt von der äußerst selektiven ›Pflege‹ wissenschaftlicher Traditionen unter dem NS-Regime. Mit Recht hat der Historiker Richard Wetzell hervorgehoben: »a considerable portion of mainstream criminological research in the Nazi era was not characterized by the crude genetic determinism and racism [...]; a considerable amount of ›normal science‹ continued under the Nazi regime«.15 Doch auch wenn die in der NS-Zeit einflussreichen Kriminologen an wissenschaftlichen Standards festhielten, repräsentierten sie nicht die gesamte Bandbreite der Weimarer Kriminologie. Auch auf dem Gebiet der Strafrechtsreform ist eine Kontinuitätslinie auszumachen, die nach 1933 deutlich erkennbare Verwerfungen aufweist, den Bezug zu den Weimarer Traditionen jedoch nicht völlig abreißen lässt. Im April 1933 regte Franz Gürtner, der als Reichsjustizminister in das Kabinett Hitler übernommen worden war, in einer Kabinettssitzung an, eine bei seinem Ministerium angesiedelte Kommission zu bilden, die sich der Wiederbelebung der in der Weimarer Republik steckengebliebenen Strafrechtsreform annehmen sollte.16 Die daraufhin einberufene »amtliche Strafrechtskommission« nahm im November 1933 die Beratungen auf der Basis der – nun »von den liberalistischen, individualistischen Schlacken« gesäuberten17 – Reichstagsvorlage von 1927 auf. Ihr gehörten der Reichsjustizminister, die beiden Staatssekretäre Schlegelberger und Freisler, ›Reichsjustizkommissar‹ Frank, der preußische Justizminister Kerrl, sechs Justizpraktiker sowie fünf Strafrechtsprofessoren an.18 Aufschlussreich ist die Auswahl der in die Kommission berufenen Rechtswissenschaftler: Georg Dahm und Wenzel Graf Gleispach hatten sich bereits vor der ›Machtergreifung‹ als Gegner der ›liberalistischen‹ Strafrechtsreform profiliert und sich nationalsozialistischen Positionen weitge14 Ebd., S. 138. 15 Wetzell, Inventing the Criminal, S. 231. 16 Zu den Strafrechtsreformbestrebungen des Reichsjustizministeriums zwischen 1933 und 1939 vgl. Gruchmann, S. 753ff. 17 So Freisler, zitiert nach Gruchmann, S. 760. 18 Gruchmann, S. 754.

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hend angenähert;19 der dem rechten Flügel der ›modernen Schule‹ zuzurechnende Liszt-Schüler Eduard Kohlrausch hingegen hatte das Reformprojekt gegen den Liberalismus-Vorwurf verteidigt, indem er die »Pflicht der Einordnung und Unterordnung des Ich in das Ganze« als »Sinn und Ziel der Reformbewegung« bezeichnete;20 Johannes Nagler hatte einst als Mitherausgeber der »Kritischen Beiträge zur Strafrechtsreform« zu den profiliertesten Vertretern des ›klassischen‹ Lagers im ›Schulenstreit‹ gezählt; in den dreißiger Jahren bemühte er sich mit einer ›neuklassischen Auffassung‹ um Anschluss an den autoritären Zeitgeist;21 Edmund Mezger, der ein für die ›Klassiker‹ untypisches Engagement für die Kriminalbiologie zeigte, war ebenfalls ein Anhänger des Vergeltungsstrafrechts. Die Strafrechtskommission versammelte somit Vertreter unterschiedlichster Richtungen, deren einzige Gemeinsamkeit darin bestand, dass sie politisch rechts von der Mitte angesiedelt waren. Für die Auswahl der Experten, die das Strafgesetzbuch des ›Tausendjährigen Reichs‹ erarbeiten sollten, war nicht die Orientierung an ›moderner‹ Zweckrationalität oder ›klassischem‹ Sühnegedanken ausschlaggebend, sondern die Bereitschaft, an einer Strafrechtserneuerung im autoritären Geiste mitzuwirken. Linksliberale, sozialistische und jüdische Strafrechtsreformer gerieten, sofern sie nicht von schlimmeren Verfolgungsmaßnahmen betroffen waren, zumindest ins politische und akademische Abseits. Der Sozialdemokrat Gustav Radbruch wurde 1933 aus dem Lehramt entlassen; Hermann Kantorowicz, Max Grünhut und andere Strafrechtslehrer jüdischer Herkunft mussten emigrieren.22 Der Strafrechtskommission des Reichsjustizministeriums gelang es, bis Ende 1936 einen Strafgesetzentwurf vorzulegen, der anschließend im Kabinett ausführlich beraten wurde. Das Kodifikationsvorhaben, das den Attacken von radikalen Vertretern der NS-Bewegung ausgesetzt war, scheiterte im Dezember 1939 endgültig am Veto Hitlers.23 Gleichwohl schritt die Strafrechtsreform auf dem Weg der Einzelgesetzgebung bereits unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme voran. In diesem Zusammenhang ist in erster Linie das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 193324 zu nennen. Mit dieser Novelle verwirklichte der nationalsozialistische Gesetzgeber – in verschärfter Form – wichtige Forderungen der Strafrechtsreformbewegung, die bereits sechs Jahrzehnte lang für eine Rationalisierung des Strafsystems gestritten hatte. Freilich bediente man sich im Jahr 1933 ein19 Vgl. Marxen, Kampf, S. 93ff. u. 103ff. 20 Kohlrausch, Die geistesgeschichtliche Krise des Strafrechts, S. 19. 21 Vgl. Marxen, Kampf, S. 128. 22 Vgl. Schmidt, Einführung, S. 427. 23 Vgl. Gruchmann, S. 821f. 24 Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24.11.1933, Reichsgesetzblatt I, 1933, S. 995; hierzu und zum Folgenden: Müller, Kriminalpolitik als Rassenpolitik; ders., NS-Strafrecht.

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seitig jener repressiven Elemente des ›modernen‹ Reformprogramms, die sich für eine autoritär-konservative ›Abschreckungspolitik‹ im Sinne Gürtners oder auch für die nationalsozialistische Rassenpolitik instrumentalisieren ließen. Der Aspekt der Resozialisierung, der nach dem Verständnis der ›modernen‹ Schule ein mindestens gleichwertiger Bestandteil der Strafrechtsreform sein sollte, blieb weitgehend unberücksichtigt. Das Gewohnheitsverbrechergesetz, das am 1. Januar 1934 in Kraft trat, erlaubte eine Strafschärfung gegenüber ›gefährlichen Gewohnheitsverbrechern‹; vor allem aber führte die Novelle die ›Maßregeln der Sicherung und Besserung‹ sowie die ›verminderte Zurechnungsfähigkeit‹ in das deutsche Strafrecht ein. Von nun an konnte die Strafjustiz zu Präventionszwecken die Sicherungsverwahrung von Gewohnheitsverbrechern, die ›Entmannung‹ von Sittlichkeitsverbrechern, die Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt, in einer Entziehungsanstalt oder in einem Arbeitshaus sowie einige weitere Maßregeln anordnen. Da das Gesetz auf älteren Reformplänen beruhte und auch nach 1945 in Kraft blieb, wird es in der Literatur meist nicht den spezifisch nationalsozialistischen Gesetzen zugerechnet, vielmehr hat die Rechtsgeschichte dieser scheinbar unpolitischen Rechtsnorm gleichsam den ›Persilschein‹ zuerkannt.25 Nur vereinzelt sind in den letzten Jahren auch kritischere Stimmen laut geworden.26 In einem gewissen Gegensatz zum Normalitäts-Befund des rechtshistorischen Mainstreams steht die Würdigung der Strafrechtsnovelle durch Edmund Mezger aus dem Jahr 1934: »Das neue ›Täterstrafrecht‹ als Ganzes stellt einen wichtigen und bedeutsamen Schritt auf dem Wege zur Verwirklichung eines wahrhaften und wehrhaften nationalsozialistischen Strafrechts dar. Es ist in allen seinen Teilen eine wirkungsvolle Kampfansage an das gefährliche Berufs- und Gewohnheitsverbrechertum und stellt die deutsche Strafrechtspflege vor neue umfassende Aufgaben. Es bedeutet einen Markstein in der Entwicklung des neuen Staates, der sich die Verantwortlichkeit des einzelnen gegenüber dem Ganzen und die Ausscheidung volks- und rasseschädlicher Bestandteile aus der Volksgemeinschaft zum Ziele gesetzt hat.«27

25 Vgl. Kroeschell, S. 107; Schmidt, Einführung, S. 430ff.; Stolleis, Sp. 886; Schreiber, S. 167f.; Peters, S. 166. 26 Thomas Vormbaum hat u.a. am Beispiel des Gewohnheitsverbrechergesetzes die rechtsstaatswidrigen Züge des modernen Präventionsstrafrechts herausgestellt. Monika Frommel hat – die Kontinuitätsthese relativierend, doch ebenfalls in kritischer Absicht – auf die inhaltlichen Abweichungen von den Weimarer Strafgesetzentwürfen und auf den besonderen kriminalpolitischen Kontext der NS-Zeit hingewiesen. Vgl. Vormbaum, Aktuelle Bezüge; Frommel, Verbrechensbekämpfung. Zum Stellenwert des Gewohnheitsverbrechergesetzes im Gesamtzusammenhang der Kriminalpolitik im Dritten Reich vgl. auch: Gruchmann, S. 719ff. u. 838ff.; Werle, S. 86ff. u. 197ff. 27 Mezger, Täterstrafrecht, S. 161.

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Im Folgenden gilt es zu untersuchen, welchen Anteil ältere Reformtraditionen und nationalsozialistische Intentionen an der Ausarbeitung und Anwendung des Gewohnheitsverbrechergesetzes hatten. Die Initiative zur Novellierung des Strafrechts ging 1933 nicht von der Kriminal-, sondern von der Rassenpolitik aus. Die ›Aufartung‹ des deutschen Volkes im Sinne der Rassenhygiene war das Ziel der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik.28 Zu diesem Zweck galt es, die Fortpflanzung der ›Minderwertigen‹ zu verhindern. Das am 14. Juli 1933 beschlossene ›Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‹ sollte die rechtliche Grundlage für die Zwangssterilisation bilden. Ursprünglich hatte das für die Ausarbeitung des Gesetzes verantwortlich zeichnende Reichsinnenministerium geplant, nicht nur die im medizinischen Sinne ›erbkranken‹ Menschen, sondern auch Personen mit ›kriminogenen‹ Erbanlagen zu erfassen. Letztlich sah man jedoch hiervon ab, »um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, die Unfruchtbarmachung stelle eine Strafe für die betroffene Person dar«,29 wie es aus dem um die Akzeptanz der Erbgesundheitspolitik besorgten Innenministerium hieß. Hitler drängte jedoch darauf, die ›Fortpflanzung der Kriminellen‹ dennoch zu verhindern. In der Kabinettssitzung, bei der das Sterilisationsgesetz beschlossen wurde, beauftragte er den Reichsjustizminister mit der Ausarbeitung eines »Sondergesetzes«, das – als Vorwegnahme der Bestimmungen eines künftigen Strafgesetzbuchs – die »Entmannung von gemeingefährlichen Sexualverbrechern und die Unfruchtbarmachung von Gewohnheitsverbrechern« regeln und gemeinsam mit dem Erbgesundheitsgesetz am 1. Januar 1934 in Kraft treten sollte.30 Franz Gürtner, der als Deutschnationaler bereits unter den Reichskanzlern Papen und Schleicher als Justizminister gedient hatte, schien dieser Aufgabe nur wenig zugetan, zumal die Verquickung von Rassenpolitik und Rechtspflege seine Ressortautonomie bedrohte. Sein Ziel war es hingegen, den Einfluss übereifriger Parteijuristen vom Schlage Freislers oder Kerrls zu begrenzen und die 1932 abgebrochene Strafrechtsreform unter einem autoritären Vorzeichen zu vollenden.31 Gürtner verstand es, den Auftrag zur kurzfristigen Ausarbeitung eines Sondergesetzes für seine eigenen strafrechtspolitischen Ziele umzumünzen, indem er in den Gesetzentwurf neben der von Hitler geforderten Kastration von Sittlichkeitsverbrechern auch die bereits zur Weimarer Zeit 28 Zur nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik siehe: Bock, Zwangssterilisation; Ganssmüller. 29 Gütt (Medizinalreferent im RMdI) an das Reichsgesundheitsamt, 14.8.1933, BA, R 15.01, Nr. 26248, Bl. 337. Zuvor hatte Reichsjustizminister Gürtner für die »getrennte Behandlung von Verbrechern und Erbkranken« plädiert, vgl. ebd., Bl. 279. 30 Vgl. Vermerk Gütts, 14.7.1933, ebd., Bl. 331; Gütt an das Reichsgesundheitsamt, 14.8.1933, ebd., Bl. 337; Rundschreiben des RJM, 21.9.1933, BA, R 30.01, Nr. 5982, Bl. 22. 31 Zur Biographie Gürtners vgl. Gruchmann, S. 9ff.; Reitter.

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geplanten sichernden Maßregeln einarbeiten ließ. Die entsprechenden Bestimmungen des Strafgesetzentwurfs von 1927 dienten als direkte Vorlage für den ersten Referentenentwurf des Gewohnheitsverbrechergesetzes; einige Änderungen wurden noch vorgenommen, um dem Richter die Anordnung der Sicherungsverwahrung zu erleichtern.32 Den Auftrag, auch die Sterilisierung von Straftätern zu regeln, ignorierte man im Reichsjustizministerium schlichtweg – mit der Folge, dass diese schließlich weder im Erbgesundheitsgesetz noch im Strafrecht verankert wurde. Der »Vorläufige Referentenentwurf« wurde Mitte September 1933 zusammen mit der Einladung zu einer für den 11. Oktober angesetzten kommissarischen Besprechung an die Landesjustizminister, den Reichswirtschaftsminister, den preußischen und den Reichsminister des Innern versandt. Letzterer – Wilhelm Frick – wollte sich das Heft jedoch nicht aus der Hand nehmen lassen, schließlich fiel die Rassen- und Erbgesundheitspolitik in sein Ressort. So beraumte der Innenminister seinerseits für den 10. Oktober eine Sitzung des Sachverständigenbeirats für Bevölkerungs- und Rassenpolitik an, zu der er auch einen Vertreter des Justizministeriums einlud.33 Bei dieser Vorbesprechung brachten Medizinalreferent Gütt und die Sachverständigen ihre rassenhygienisch motivierten Änderungswünsche vor, die auf eine Ausweitung der »fortpflanzungshemmenden« Maßregeln abzielten: Das im Referentenentwurf vorgesehene Mindestalter bei der Entmannung sollte von 25 auf 21 bzw. 18 Jahre gesenkt werden, die Verwahrung vermindert schuldfähiger Täter in Heil- und Pflegeanstalten mindestens so lange dauern wie die Freiheitsstrafe bei gesunden Tätern. Zu einer Einigung mit dem Reichsjustizministerium kam es jedoch noch nicht.34 Bei der kommissarischen Beratung am folgenden Tag griff Gütt seine Forderung nach einer Senkung der Altersgrenze wieder auf, obwohl Justizminister Gürtner in der Frage der Entmannung »eine gewisse Zurückhaltung auch angesichts der geringen Erfahrungen, die über die Wirkung der Kastration vorliegen«, angemahnt hatte. Änderungswünsche, deren Verwirklichung eine extensive Anwendung der Maßregeln ermöglichte, wurden am 11. Oktober auch von den Vertretern der Landesjustizministerien vorgebracht. Alfred Dürr regte im Namen des bayerischen Justizministeriums an, die Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen Gewohnheitsverbrecher nicht mehr in das Ermessen des Richters zu stellen, sondern verbindlich vorzuschreiben, »wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert«. Weitere Vorschläge

32 Vgl. den Text des Referentenentwurfs, BA, R 30.01, Nr. 5982, Bl. 23ff. 33 RJM an Landesjustizverwaltungen, 21.9.1933, ebd., Bl. 22ff.; RMdI an RJM, 5.10.1933, ebd., Bl. 83. 34 Vgl. Protokoll, 10.10.1933, BA, R 15.01, Nr. 26249, Bl. 100ff.; Vermerk, 11.10.1933, BA, R 30.01, Nr. 5982, Bl. 84f.; vgl. Bock, Zwangssterilisation, S. 94f.

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zielten auf die Möglichkeit, die Sicherungsverwahrung auch rückwirkend anzuordnen.35 Im Reichsjustizministerium trug man den bei der kommissarischen Beratung vorgebrachten Änderungswünschen bei der Ausarbeitung der Kabinettsvorlage Rechnung. Der endgültige Entwurf des Gewohnheitsverbrechergesetzes wurde am 14. November im Kabinett beraten und, nachdem auf Anregung Fricks das Mindestalter für die Entmannung auf 21 Jahre beim Zeitpunkt der Urteilsverkündung (statt zur Zeit der Begehung der Tat) festgelegt worden war, verabschiedet.36 Am 24. November 1933 wurde das ›Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung‹ schließlich ausgefertigt. Inhaltlich unterschied sich die Novelle von den Strafgesetzentwürfen der Weimarer Republik vor allem durch die neu hinzugekommene Maßregel der Entmannung und durch die wesentlich erweiterte Möglichkeit, die Sicherungsverwahrung anzuordnen. Dem konservativen Justizminister Gürtner war es gelungen, das zweispurige System von Vergeltungsstrafe und Sicherungsmaßregeln im Strafrecht zu verankert. Auf diese Weise wurde auch seine Position bei den Auseinandersetzungen um eine neue Gesamtkodifikation gegenüber den Verfechtern eines radikalen nationalsozialistischen Willensstrafrechts gestärkt.37 Innerhalb der Rechtswissenschaft stieß das Gewohnheitsverbrechergesetz überwiegend auf Zustimmung. Zur großen Akzeptanz der Novelle trug auch das Festhalten am Kompromiss der Zweispurigkeit bei. So konnte der LisztSchüler Franz Exner schreiben, dass mit dem Gewohnheitsverbrechergesetz essentiellen Forderungen der ›modernen Schule‹ Rechnung getragen werde.38 Aber auch die Anhänger eines strengen Vergeltungsstrafrechts sahen ihre Positionen verwirklicht. Beispielsweise würdigte Edmund Mezger die Beibehaltung des Tatprinzips. Mit der Entscheidung für die Zweispurigkeit habe der Gesetzgeber den Sühnecharakter der Strafe festgeschrieben, und für die Zuordnung zu einem Tätertyp bleibe letztlich die »symptomatische Bedeutung der Tat« ausschlaggebend.39 Der radikale Verfechter eines völkischen Willensstrafrechts Georg Thierack sah hingegen die nationalsozialistische Forderung erfüllt, »Menschen, die als Gewohnheitsverbrecher oder als triebhafte Sittlichkeitsverbrecher der Volksgemeinschaft geschadet haben und von denen zu be35 Vgl. Vermerk, 17.10.1933, BA, R 15.01, Nr. 26249, Bl. 97f.; Vermerk, 19.10.1933, BA, R 30.01, Nr. 5982, Bl. 89ff. 36 Vgl. die Niederschrift über die Sitzung des Reichsministeriums am 14. Nov. 1933, in: Minuth, Die Regierung Hitler, Teil I, Bd. 2, S. 946f. 37 Bereits im Sommer war die Denkschrift »Nationalsozialistisches Strafrecht« des preußischen Justizministers Kerrl erschienen, in der das Vergeltungsstrafrecht ebenso wie das Prinzip der Zweispurigkeit verworfen wurde zugunsten einer am ›verbrecherischen Willen‹ ausgerichteten Strafbemessung. 38 Vgl. Exner, Maßregeln. 39 Vgl. Mezger, Täterstrafrecht, S. 161.

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sorgen ist, daß sie noch weiteren Schaden stiften werden, entweder von der Volksgemeinschaft fernzuhalten oder ihren hemmungslosen und andere in schwere Gefahr bringenden Trieb zu beseitigen.«40 Aus der Sicht des konservativen Justizministers war die Verabschiedung des Gewohnheitsverbrechergesetzes ein großer taktischer Erfolg. Es war ihm gelungen, strafrechtspolitische Fakten zu schaffen, die den weiteren Verlauf der nationalsozialistischen ›Strafrechtserneuerung‹ möglicherweise in eine gemäßigte Bahn lenken würden, und im Falle eines Scheiterns der Gesamtkodifikation bliebe das zweispurige Strafrecht, das in Form der ›provisorischen‹ Novelle die Zustimmung Hitlers gefunden hatte, eben dauerhaft bestehen. Allerdings lud das Gewohnheitsverbrechergesetz auch zu einem Missbrauch der neuen Maßregeln für rassenhygienische Zwecke ein, denn die formalen Hürden und Rechtsgarantien des Strafgesetzentwurfs von 1927 hatte man nicht übernommen. Offenbar war Gürtner sich dieser Gefahr bewusst, als er auf einer Pressekonferenz »die bestimmte Erwartung und das Vertrauen zu den Gerichten« äußerte, dass die Sicherungsverwahrung »maßvoll angewandt und Mißbrauch vermieden werde.« Die Gesamtzahl der Gewohnheitsverbrecher, gegenüber denen die Sicherungsverwahrung angezeigt sei, schätzte er auf 800 bis 1000 Personen.41 In der Rechtsprechungspraxis fanden die neuen Bestimmungen des Gewohnheitsverbrechergesetzes jedoch eine ausgedehnte Anwendung. Die Zahl der Fälle, bei denen das Gericht eine Maßregel der Sicherung und Besserung anordnete, übertraf die Schätzungen des Reichsjustizministeriums um ein Vielfaches (siehe Tabelle 4). Allein im Jahr 1934 wurden nach Angaben des Statistischen Reichsamts 3 723 ›gefährliche Gewohnheitsverbrecher‹ zur Sicherungsverwahrung verurteilt, bis Ende des Jahres 1939 insgesamt 9 689 Personen. 1 808 Sittlichkeitsverbrecher wurden im gleichen Zeitraum zur Entmannung verurteilt. In 7 503 Fällen erfolgte zwischen 1934 und 1939 wegen geringfügiger Vergehen wie Bettelei oder Prostitution die Unterbringung in einem Arbeitshaus. 5 142 nicht oder nur vermindert zurechnungsfähige Täter wurden in einer Heil- oder Pflegeanstalt untergebracht. Die einzige Maßregel, die eindeutig einen Resozialisierungscharakter aufweist, kam vergleichsweise selten zur Anwendung: In 885 Fällen wurden alkoholkranke oder drogenabhängige Täter innerhalb des genannten Zeitraums in eine Trinkerheil- bzw. Entziehungsanstalt eingewiesen.42 Im Laufe der dreißiger Jahre erfuhr die Zahl der Verurteilungen zu Sicherungsverwahrung starke Schwankungen. Nach dem Rekordjahr 1934 sank die 40 Thierack, Sp. 916f. 41 Deutsche Allgemeine Zeitung vom 17.11.1933, BA, R 30.01, Nr. 5982, Bl. 325. 42 Zahlenangaben nach: Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 507, S. 27 u. 174ff., Bd. 577, S. 18f., 26, 34, 100ff. u. 254ff.

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Zahl der jährlichen Verurteilungen auf nur noch 765 im Jahr 1937. Das lag zum einen daran, dass die Fälle, in denen vor 1934 verurteilte Strafgefangene nachträglich mit der Sicherungsverwahrung bedacht wurden, naturgemäß rasch abnahmen; zum anderen wirkte die Rechtsprechung des Reichsgerichts bremsend.43 Ferner machte sich bemerkbar, dass immer weniger Gewohnheitsverbrecher sich in Freiheit befanden. Zum Schwund dieses Kreises der potentiellen Sicherungsverwahrten trug auch die zunehmend ausgeübte Praxis der Polizei bei, ›Berufsverbrecher‹ in Vorbeugungshaft zu nehmen. Ein Erlass des preußischen Innenministers vom 13. November 1933 regelte erstmals die »Anwendung der vorbeugenden Polizeihaft gegen Berufsverbrecher«.44 Auf dieser Grundlage sollten zunächst insgesamt 525 polizeilich bekannte Berufs- und Gewohnheitsverbrecher in Konzentrationslager verbracht werden, um die »Lücken« des Gewohnheitsverbrechergesetzes zu schließen. Schon bald übernahmen auch andere Länder dieses Institut der polizeilichen Vorbeugungshaft. Stand anfangs noch die beabsichtigte abschreckende Wirkung im Vordergrund, galten die kriminellen KZ-Insassen später als eine wichtige Ressource für die Wirtschaftsunternehmen der SS. Eine Sonderaktion der Kriminalpolizei am 9. März 1937, in deren Verlauf rund 2000 Personen verhaftet wurden, diente nicht zuletzt der Rekrutierung zusätzlicher Arbeitskräfte. Durch einen Erlass des Reichs- und Preußischen Ministers des Innern vom 14. Dezember 1937 wurde die ›Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei‹ einschließlich der KZ-Haft für Kriminelle reichseinheitlich geregelt. Der Reichsjustizminister kehrte in dieser Situation von seiner ursprünglichen Linie ab und reagierte auf die massive Inhaftierungspraxis, die an der Justiz vorbeilief, mit einer Forcierung der Sicherungsverwahrung. Mittels einer Allgemeinen Verfügung vom 3. März 193845 ersuchte Gürtner die Staatsanwaltschaft um Zusammenarbeit mit der Kriminalpolizei und um die Einholung kriminalbiologischer Gutachten, damit die Anträge auf Sicherungsverwahrung besser begründet würden. Auch waren die Staatsanwälte nun verpflichtet, Rechtsmittel einzulegen, wenn das Gericht die beantragte Sicherungsverwahrung ablehnte, und einer Entlassung aus der Sicherungsverwahrung zu widersprechen, wenn sie nicht von der Anstaltsleitung empfohlen wurde. Die ab 1938 wieder steigende Zahl der Sicherungsverwahrungs-Urteile46 zeigt, dass die Bemühungen nicht erfolglos blieben (siehe Tabelle 5). Reichsjustizminister Gürtner erwartete, »daß die polizeiliche Vorbeugungs43 Vgl. Pauli, S. 91ff.; Topp. 44 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Terhorst, S 72ff.; Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher, S. 191ff. 45 Veröffentlicht in: Deutsche Justiz, Bd. 100, 1938, S. 323–325. 46 Vgl. die Tabelle nach der Statistik des Reichsamts, in: Deutsche Justiz, Bd. 105, 1943, S. 377.

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haft gegen das gefährliche Gewohnheitsverbrechertum mit der fortschreitenden Aburteilung der Gewohnheitsverbrecher durch die Gerichte und ihrer Verbringung in die gerichtliche Sicherungsverwahrung sich von selbst mehr und mehr erübrigen« werde.47 Diese Rechnung sollte freilich nicht aufgehen, schließlich handelte es sich nicht um ein Nullsummenspiel. Vielmehr führte das Bemühen von Justiz und Polizei, die jeweils andere Partei im Wettlauf um die Verwahrung der habituellen Straftäter zu überholen, dazu, dass der in den Blick genommene Personenkreis immer weiter ausgedehnt wurde. Obwohl sich das Kontingent der ›eigentlichen‹ Gewohnheitsverbrecher zunehmend erschöpfte, ließ die Verhaftungspraxis der Polizei nicht nach. SS und Kriminalpolizei griffen nunmehr verstärkt auf – nicht oder nur geringfügig kriminelle – ›Asoziale‹ zurück, so z.B. bei der Aktion ›Arbeitsscheu Reich‹ im Juni 1938.48 Institutionelle Konkurrenz und Kompetenz-Chaos – beides typische Merkmale des nationalsozialistischen Herrschaftssystems – ließen die Kriminalprävention eskalieren. Im Laufe des Zweiten Weltkriegs und besonders nach dem Tod Gürtners im Januar 1941 zerschlug das Regime auch die letzten Rudimente des Rechtsstaats. Das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 4. September 1941 schrieb die Verhängung der Todesstrafe gegen gefährliche Gewohnheits- und Sittlichkeitsverbrecher vor, »wenn der Schutz der Volksgemeinschaft oder das Bedürfnis nach gerechter Sühne es erfordern.«49 Nachdem der fanatische Parteijurist Georg Thierack im August 1942 zum Reichsjustizminister ernannt worden war, wich der zuvor gepflegte Ressort-Egoismus einer gezielten Zusammenarbeit zwischen Justizbehörden und Polizei. In der Folge geriet die ›Verbrechensbekämpfung‹ endgültig in den Sog der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Nach Gesprächen mit Hitler und Goebbels vereinbarte Thierack am 18. September 1942 mit Himmler als dem Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei die »Auslieferung asozialer Elemente aus dem Strafvollzug an den Reichsführer SS zur Vernichtung durch Arbeit.«50 Zum betroffenen Personenkreis zählten auch die Sicherungsverwahrten als »unwertes Leben in höchster Potenz«.51 Von den 12 658 bis zum 1. April 1943 zur »Vernichtung durch Arbeit« in Konzentrationslager verbrachten Sicherungsverwahrten hatten bis zu diesem Stichtag bereits 5 934 den Tod gefunden.52 47 Schreiben an den Reichsminister der Finanzen, 8.1.1939, BA, R 22, Nr. 1259, Bl. 18ff. 48 Siehe hierzu: Ayaß, »Ein Gebot der nationalen Arbeitsdisziplin; Buchheim. 49 Reichsgesetzblatt I, 1941, S. 549. 50 Die schriftliche Vereinbarung ist abgedruckt bei Roth, S. 21; vgl. Klee, S. 356ff.; Gruchmann, S. 745; Terhorst, S. 167f.; Werle, S. 513ff. 51 So die Äußerung Thieracks bei einer Besprechung mit den Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälten im Reichsjustizministerium; vgl. Protokoll der Besprechung vom 29.9.1942, BA, R 22, Nr. 4199, Bl. 35ff., hier Bl. 38. 52 Zahlenangaben nach Terhorst, S. 168.

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Das war nur die Zwischenbilanz nach einem halben Jahr; das Sterben in den Konzentrationslagern sollte noch zwei Jahre anhalten. Mit dem Zusammenbruch des Dritten Reichs wurde der Mordpolitik ein Ende gemacht, doch das Gewohnheitsverbrechergesetz blieb weiterhin in Kraft. Lediglich die Bestimmung über die Zwangskastration hob der Alliierte Kontrollrat auf, da sie auf nationalsozialistisches Gedankengut zurückzugehen schien.53 Bis zum Inkrafttreten des 1. Strafrechtsreformgesetzes am 1. Januar 1970 behielt das Gewohnheitsverbrechergesetz in der Bundesrepublik ansonsten seine Gültigkeit. Die Sicherungsverwahrung kam in den fünfziger und sechziger Jahren allerdings weit seltener zur Anwendung als in der NSZeit. Zwischen 1950 und 1964 lag die jährliche Zahl der Anordnungen zwischen 95 und 230.54 Offenbar schwenkte die Justiz nun ebenso bereitwillig auf eine rechtsstaatlich-liberale Linie ein, wie sie 1938 der Aufforderung zu einer rigiden Verbrechensbekämpfung nachgekommen war. Die exzessive und inhumane Handhabung der Sicherungsverwahrung während der NS-Herrschaft lässt sich somit nicht allein mit dem Gesetzestext erklären und erst recht nicht mit der ›Bindung‹ der Richter an das positive Recht entschuldigen. Die Anwendung des Gewohnheitsverbrechergesetzes interessiert nicht nur in quantitativer Hinsicht; zur Klärung des Verhältnisses von kriminologischer Wissenschaft und Strafpraxis ist vielmehr die Definition des Tätertyps ›Gewohnheitsverbrecher‹ von Belang. Wie bereits in anderem Zusammenhang dargelegt,55 hatte der Begründer der ›modernen‹ Strafrechtsschule Franz von Liszt die Existenz des ›Gewohnheitsverbrechers‹ schlichtweg aus dem Strafzweck abgeleitet und der Kriminologie die Aufgabe zugewiesen, die empirischen Merkmale dieses – eigentlich zunächst nur postulierten – Tätertyps zu eruieren. Doch bis zum Beginn der NS-Zeit war es der Kriminologie, die sich zunehmend als täterorientierte Kriminalbiologie verstand, nicht gelungen, die Charakteristika des Gewohnheitsverbrechers festzustellen. Wer sich in dem 1933 erschienenen Handwörterbuch der Kriminologie über die typischen Merkmale des Gewohnheitsverbrechers informieren wollte, wurde – da »der Begriff Gewohnheitsverbrecher völlig klar sich nur aus der Antithese Gelegenheitsverbrecher« ergebe – auf den Artikel über den »Gelegenheitsverbrecher« verwiesen, um dort zu erfahren, dass dessen »Charakteristikum geradezu darin [beruhe], daß er nicht besonders gekennzeichnet ist«.56 Ähnlich vage fiel auch die Definition nach dem Wortlaut des Gewohnheitsverbrechergesetzes aus. Die Strafschärfung war demnach gegen einen die formalen Voraussetzungen erfüllenden Rückfalltäter anzuordnen, wenn »die 53 Vgl. Neu, S. 12. 54 Vgl. die Übersicht bei Geisler, S. 205. 55 Siehe oben, Abschnitt, A, III, 1. 56 Vgl. Art. »Gewohnheitsverbrecher« und Art. »Gelegenheitsverbrecher«, in: Elster u. Lingemann, Bd. 1, S. 621f. u. 567.

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Gesamtwürdigung der Taten« ihn als einen »gefährlichen Gewohnheitsverbrecher« erscheinen ließ (§ 20a StGB). Die unbefristete Sicherungsverwahrung war zusätzlich anzuordnen, »wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert« (§ 42e StGB). Angesichts dieser subjektiven Merkmale war der Ermessensspielraum des Strafrichters außerordentlich groß. Das gilt umso mehr, als die formellen Hürden für die Anordnung der Sicherungsverwahrung wesentlich niedriger lagen als im Strafgesetzentwurf von 1927. Einer zeitgenössischen Untersuchung ist zu entnehmen, dass von 384 Mehrfachtätern nach dem ›Entwurf 1927‹ 45 (= 11,7 %) »formal verwahrungsreif« waren, nach dem Gewohnheitsverbrechergesetz aber 337 (= 88,7 %).57 Da es selbst unter den Bedingungen der NS-Herrschaft undenkbar war, alle formal verwahrungsfähigen Rückfalltäter unbefristet einzusperren,58 büßte das Kriterium der Vorbestraftheit seine Bedeutung für die Entscheidung über die Sicherungsverwahrung ein. Es kam keineswegs zu »einem Automatismus von Vorstrafen, Attribuierung eines ›Hangs‹ und Sicherungsverwahrung«,59 vielmehr rückte die subjektive Einschätzung der Täterpersönlichkeit bei der Urteilsfindung in den Vordergrund. Da eine klare Definition des ›Gewohnheitsverbrechers‹ sowohl in der kriminologischen Literatur als auch im Gesetzestext und in den Kommentaren fehlte, lag es nun an den Strafrichtern, diesen Begriff mit Inhalt zu füllen. Urteile aus der NS-Zeit, in denen die Anordnung der Sicherungsverwahrung begründet wurde, zeigen, wie der verwahrungsbedürftige Gewohnheitsverbrecher schließlich in der Justiz-Praxis definiert wurde. Aus einer qualitativen Auswertung der im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf einsehbaren Strafakten von Sicherungsverwahrten lassen sich die typischen Argumentationsmuster gewinnen. So kann man erkennen, dass in den Urteilsbegründungen regelmäßig die Zahl der Vorstrafen herausgestellt wurde. Doch diese allein war nicht ausschlaggebend für das Verwahrungsurteil, denn der Großteil der vielfach Vorbestraften blieb von der Sicherungsverwahrung verschont, obwohl ihre Verhängung möglich gewesen wäre. In der Regel musste noch mindestens ein weiterer Faktor hinzukommen. Lagen keine besonders schwerwiegenden Straftaten vor, genügte auch schon der Hinweis auf die ›asoziale‹ Lebensführung des Delinquenten. So verurteilte das Bonner Schöffengericht im Jahr 1934 einen Landstreicher, der Wohlfahrtsunterstützung bezogen hatte, ohne anzugeben, dass ihm als ehemaligem Fremdenlegionär eine geringfügige Pen57 Vgl. Wend, S. 14. 58 Die amtliche Kriminalstatistik (vgl. Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 507, S. 22; Bd. 577, S. 14 u. 21) weist für die dreißiger Jahre jährlich rund 50 000 Fälle nach, in denen ein mindestens viermal vorbestrafter Täter erneut verurteilt wurde. Die Zahl der formal verwahrungsfähigen Täter dürfte noch deutlich höher gewesen sein, denn auch ohne Vorstrafe war in bestimmten Fällen die Strafschärfung und damit auch die Anordnung der Sicherungsverwahrung möglich. 59 So Frommel, Verbrechensbekämpfung, S. 56.

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sion zustand, wegen Betrugs im Rückfall zu zwei Jahren Zuchthaus und anschließender Sicherungsverwahrung. In der Urteilsbegründung heißt es: »Er ist in seinem ganzen Leben einer längeren und geregelten Arbeit noch nicht nachgegangen, obwohl er hierzu durchaus in der Lage gewesen wäre. Er ist körperlich gesund und verfügt über eine mehr als durchschnittliche Intelligenz. Aber der Angeklagte ist vollständig arbeitsscheu und im Lauf der Jahre innerlich haltlos geworden.«60 Ähnlich wie innere Haltlosigkeit machte auch mangelnder familiärer Halt die Anordnung der Sicherungsverwahrung wahrscheinlich. Häufig finden sich in den Urteilen Formulierungen wie die folgende: »Auch die Lebensverhältnisse, in die der Angeklagte nach Verbüßung der Strafe kommen wird, lassen erwarten, daß der Angeklagte wieder rückfällig werden wird. Die Eltern des Angeklagten sind tot, seine einzige Schwester will nichts mit ihm zu tun haben, von seiner Frau ist er schuldig geschieden, sodaß der Angeklagte, der sowieso ein willensschwacher Mensch ist, nach Verbüßung der Strafe völlig haltlos dastehen wird.«61 In einzelnen Fällen wurde auch angedeutet, dass die Sicherungsverwahrung aus rassenhygienischen Gründen angezeigt sei: »Nach den Ausführungen des Sachverständigen [...] entstammt [der Angeklagte] einer erblich belasteten Familie. Sein Vater und ein Großvater scheinen Trinker gewesen zu sein. Mehrere von seinen Geschwistern sind schwachsinnig; die meisten von ihnen sind in Fürsorgeerziehung gewesen, ohne aber dadurch sittlich gebessert worden zu sein. Seine Brüder M., W. und J. sind auch bereits mit Zuchthaus bestraft worden. Vor einigen Jahren hatte der Angeklagte ein Verhältnis mit einer Frau S. T. Aus dieser Verbindung stammt ein noch lebendes uneheliches Kind; bei der Geburt des zweiten Kindes ist sie mit diesem gestorben. Er hat dann ein anderes Verhältnis angefangen, aus dem kürzlich ein uneheliches Kind hervorgegangen ist. Das hat zwar mit seiner verbrecherischen Veranlagung und Einstellung unmittelbar nichts zu tun, zeigt aber schon auf diesem Gebiete, wie hemmungslos und verantwortungslos er handelt.«62

Wahrscheinlich wurde hier der rassenhygienische Zweck der Sicherungsverwahrung bewusst nur angedeutet, da nach dem Gewohnheitsverbrechergesetz nur die kriminelle, nicht aber die erbbiologische Gefährlichkeit des Täters als Grund geltend gemacht werden konnte. Insgesamt lassen die Urteilsbegründungen vermuten, dass ein mehrfach vorbestrafter Täter insbesondere dann mit der Sicherungsverwahrung zu rechnen hatte, wenn er dem Bild des asozialen ›Gemeinschaftsfremden‹ entsprach. Darauf deutet auch die Art der Delikte hin, derentwegen das Verwahrungsurteil ausgesprochen wurde. Im Jahr 1934 erfolgte die Anordnung 60 Urteil Amtsgericht Bonn, 15.3.1934, HStA Düsseldorf, Rep. 195, Nr. 44, Bl. 73f. 61 Urteil Amtsgericht Düren, 20.6.1934, HStA Düsseldorf, Rep. 87, Nr. 45, Bl. 73ff. 62 Urteil Landgericht Aachen, 20.9.1937, HStA Düsseldorf, Rep. 87, Nr. 64, Bl. 140ff.

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der Sicherungsverwahrung in 67,4 % der Fälle wegen Diebstahls oder Unterschlagung. Die übrigen Fälle entfallen auf Betrug und Untreue (17,8 %), Sittlichkeitsdelikte (4,3 %), Raub und Erpressung (2,6 %), Begünstigung und Hehlerei (1,8 %), Tötungsdelikte (1,6 %), Urkundenfälschung (1,2 %), sonstige Delikte (3,3 %).63 Noch aussagekräftiger werden diese Zahlen, wenn man die in der Kriminalstatistik erfassten Rückfalltäter als Vergleichsgruppe heranzieht. Dann zeigt sich nämlich, dass Diebstahl und Unterschlagung, aber auch Gewaltverbrechen (Tötungsdelikte, Raub und Erpressung) überproportional häufig zur Anordnung der Sicherungsverwahrung führten, während WhiteCollar-Kriminelle (Begünstigung und Hehlerei, Betrug und Untreue, Urkundenfälschung) unter den Sicherungsverwahrten eher unterrepräsentiert waren.64 Es scheint demnach, als seien die wenigen wirklich gefährlichen Gewalttäter besonders häufig vom Strafrichter mit dem Etikett ›gefährlicher Gewohnheitsverbrecher‹ versehen worden; dennoch rekrutierten sich mehr als 80 % der Sicherungsverwahrten aus nicht gewalttätigen Dieben und Betrügern. Letztere waren es, die das Bild des Gewohnheitsverbrechers prägten. Das deutet darauf hin, dass der Ermessensspielraum, den das Gewohnheitsverbrechergesetz den Richten ließ, im Sinne rassenbiologischer Vorstellungen genutzt worden ist. Die Kriminalbiologie hatte nun, nachdem 1934 die ersten Urteile gegen ›gefährliche Gewohnheitsverbrecher‹ im Sinne des Strafgesetzbuchs gefällt worden waren, endlich ihren lang ersehnten Forschungsgegenstand: Kriminelle, deren ›Unverbesserlichkeit‹ amtlich besiegelt war. Zahlreiche Studien widmeten sich in den dreißiger Jahren den Sicherungsverwahrten, um die Charakteristika des ›chronisch Kriminellen‹, des ›endogenen Verbrechers‹ mit statistischen Mitteln zu erfassen.65 Obwohl auf diese Weise eigentlich nur die äußerst subjektiven Auswahlkriterien nachgezeichnet wurden, mit denen sich die Richter in den ersten Jahren mangels genauerer Definitionen behalfen, galten Arbeitsscheu und Ehelosigkeit in der kriminologischen Literatur bald als empirisch gesicherte Merkmale des ›verbrecherischen Hangs‹, die sich noch in aktuellen juristischen Lehrbüchern und Kommentaren wiederfinden.66 63 Eigene Berechnungen nach den Angaben in: Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 507, S. 27. 64 Von den im Jahr 1934 erfolgten Verurteilungen von mindestens vierfach Vorbestraften entfallen 4,2 % auf Sittlichkeitsdelikte, 0,6 % auf Tötungsdelikte, 31,8 % auf Diebstahl und Unterschlagung, 0,6 % auf Raub und Erpressung, 2,3 % auf Begünstigung und Hehlerei, 22,3 % auf Betrug und Untreue, 3,1 % auf Urkundenfälschung, 35,1 % auf sonstige Delikte; vgl. ebd., S. 22. 65 Vgl. z.B. Lotz; Möller; Exner, Wie erkennt man den gefährlichen Gewohnheitsverbrecher?; siehe auch die nach dem Krieg entstandene Untersuchung von Hellmer. 66 Wer sich heute in einem Standardkommentar zum Strafgesetzbuch über die Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung informiert, stößt noch immer auf die rassistisch gefärbten

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Die bewusst unpräzise gehaltenen Bestimmungen des Gewohnheitsverbrechergesetzes, die dem Richter eine subjektive Einschätzung des inneren Wesens des Täters abverlangten, hatten mit einer Rationalisierung der Strafrechtspflege allenfalls noch indirekt zu tun: Max Weber hätte das Tätertypenstrafrecht des Nationalsozialismus wohl jenen »irrationalistischen Spielarten der Abkehr von der [...] rein logischen Rechtssystematik« zugerechnet, die »auch wieder Konsequenzen der sich selbst überschlagenden wissenschaftlichen Rationalisierung und voraussetzungslosen Selbstbesinnung des Rechtsdenkens« sind.67 Da es auch mit Hilfe der Kriminologie nicht zu bewerkstelligen war, die ›Unverbesserlichkeit‹ formalrechtlich präzise zu fassen, wie es Franz von Liszt einst gefordert hatte, lag die »Flucht in das Irrationale« nahe.

Merkmale des Gewohnheitsverbrechers, die Franz Exner 1943 zusammengetragen hatte: u.a. »Arbeitsscheu« und Abstammung »aus einer Familie, in der Psychopathie, Trunksucht oder Kriminalität vorkommt«. Vgl. Schönke u. Schröder, S. 804ff., bes. S. 807f. Der Aufsatz des Strafrechtsprofessors und Liszt-Schülers Exner, Wie erkennt man den gefährlichen Gewohnheitsverbrecher?, auf den der Kommentar hier zurückgreift, zeugt von der Annäherung einer schrankenlosen Kriminalprävention an die rassenpolitisch motivierte Vernichtungspolitik. Im Jahr 1943, als bereits die Todesstrafe für Gewohnheitsverbrecher eingeführt worden und die Überführung der Sicherungsverwahrten in Konzentrationslager zur »Vernichtung durch Arbeit« angelaufen war, beklagte Exner, dass unter den verurteilten Rückfalltätern immer noch »allzu viele Gewohnheitsverbrecher unerkannt geblieben sind«. 67 Max Weber verweist auf den sich mit der Rationalisierung des Rechts verschärfenden Widerspruch zwischen dem materialen Prinzip der zweckrationalen Interessenabwägung und dem formalen Prinzip der Geltung rational gesatzter objektiver Normen; vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 505–509 (Die antiformalen Tendenzen in der modernen Rechtsentwicklung), Zitat S. 509.

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Schlussbetrachtung

Die Medikalisierung der Kriminalität im Gesamtzusammenhang der – für das Zeitalter der Klassischen Moderne charakteristischen – Verwissenschaftlichung des Sozialen bildete den roten Faden dieser Untersuchung. Konkret ging es um drei inhaltliche Leitfragen: Gelang es den Psychiatern, ihre eigenen Professionsinteressen durchzusetzen, indem sie Einfluss auf die Kriminalpolitik nahmen? Inwiefern waren die Bestrebungen zur Reform des Strafrechts mit Disziplinierungsaspekten und politischen Kalkülen verbunden? Erfolgte durch eine zunehmende Orientierung an gesellschaftlichen Zwecken und wissenschaftlichen Methoden eine Rationalisierung des Strafens? Die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Psychiatrie und Strafrechtswesen in Wissenschaft und Praxis sind analysiert worden. Psychiater und Amtsärzte äußerten sich als Experten zur Frage der Zurechnungsfähigkeit oder ›Besserungsfähigkeit‹ von Straftätern, was sich auf wissenschaftlicher Ebene in der Entstehung der Kriminal-Psychopathologie und Kriminalbiologie niederschlug. Anstaltspsychiater wurden mit der Verwahrung von ›irren Verbrechern‹ und ›verbrecherischen Irren‹ betraut; im Gegenzug suchten sie Einfluss auf die Gestaltung des Strafrechts und des Strafvollzugs zu nehmen. Und auch die Strafrechtspflege beeinflusste die Entwicklungsrichtung der Psychiatrie nachhaltig. Das zeigt sich beispielsweise beim Psychopathie-Konzept, das als »Wertungsbegriff für die praktischen Zwecke der forensischen Psychiatrie«1 entwickelt worden ist, um den Rechtsbegriff der Unzurechnungsfähigkeit zu unterlaufen und die Irrenanstalten somit zu entlasten. Doch ging die Verklammerung von Psychiatrie und Strafrechtspflege auf eine Professionalisierungsstrategie der Ärzte zurück? Sicherlich wurde gelegentlich die Forderung laut, bei Gerichten und Strafanstalten Stellen für psychiatrische Experten zu schaffen. In dieser Hinsicht konnte jedoch lediglich die Gerichtsmedizin Erfolge verzeichnen, die nach 1900 durch die Einrichtung von Gerichtsarztstellen und Universitätsinstituten ausgebaut wurde. Die forensische Psychiatrie fristete während des gesamten Untersuchungszeitraums ein Kümmerdasein an den Medizinischen Fakultäten; sie wurde hauptsächlich durch die persönlichen Forschungsinteressen von Professoren wie Emil Kraepelin oder Gustav Aschaffenburg aufrechterhalten. Die nur spärlich vergütete 1 So die zeitgenössische Charakterisierung bei Straßmann, Medizin und Strafrecht, S. 419.

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forensisch-psychiatrische Sachverständigentätigkeit galt vielen als eine lästige Pflichtübung. Das vorrangige professionspolitische Ziel der Psychiatrie bestand darin, als vollwertige Teildisziplin der Medizin anerkannt zu werden. Zu diesem Zweck unterstrichen die Irrenärzte den Krankenhaus-Charakter ihrer Anstalten, und die Universitätspsychiater wandten sich naturwissenschaftlichen Methoden zu. Zwangsverwahrung und soziale Werturteile, die mit der Behandlung von Kriminellen notwendig verbunden sind, passten schwerlich zu dieser Strategie. Wenn die Psychiatrie dennoch entscheidende Impulse für eine Strafrechtsreform gab, lag das kaum an ihren ökonomischen Interessen. Maßgeblich für das kriminalpolitische Engagement der Psychiater war zum einen das ideelle Interesse, dem therapeutischen Gedanken und der naturwissenschaftlichen Erklärung abweichenden Verhaltens Geltung zu verschaffen; vor allem aber sollten jene praktischen Missstände behoben werden, die das Image und die Arbeitsbedingungen der Psychiater beeinträchtigten. Gerade den forensisch tätigen Irrenärzten wurde der Vorwurf gemacht, gefährliche Verbrecher durch die Bescheinigung der Unzurechnungsfähigkeit ihrer gerechten Bestrafung zu entziehen. Die Psychiater verlangten daher, die Internierung der Kriminellen in Strafanstalten künftig nicht mehr von ihrer Schuldfähigkeit, sondern von ihrer Gefährlichkeit abhängig zu machen. Sie versuchten, eine größere Definitionsmacht auf strafrechtlichem Gebiet zu erlangen, nicht um sich der Verbrecher anzunehmen, sondern um sie von den eigenen ›Heilanstalten‹ fernzuhalten. Emil Kraepelins Maximalforderung nach einer »Abschaffung des Strafmaßes« wie auch die Minimalforderung nach einer rechtlichen Würdigung der ›verminderten Zurechnungsfähigkeit‹ sind nur vor diesem Hintergrund angemessen zu verstehen. Über die kriminalpolitischen Forderungen der Psychiatrie entzweite sich die Strafrechtswissenschaft. Die ›moderne‹ Strafrechtsschule um Franz von Liszt griff den Gedanken der zeitlich unbestimmten Sicherungsstrafe, den Kraepelin 1880 dargelegt hatte, auf und brachte ihn in die Strafrechtslehre ein; die ›klassische‹ Schule dagegen verteidigte das überkommene Vergeltungsstrafrecht, das die Sanktion allein nach der Schuld bemaß. Freilich diente auch Liszts Reformprogramm – so sehr es an Kraepelins Vorschlag angelehnt war – der Abwehr psychiatrischer Einmischungsversuche. Denn Franz von Liszt ging es darum, die für die zweckorientierte Behandlung erforderliche Beurteilung der Täterpersönlichkeit juristisch so zu formalisieren, dass das Gericht ohne Anhörung eines medizinischen Sachverständigen die entsprechenden Sanktionen für Gewohnheits- oder Gelegenheitsverbrecher verhängen konnte. Konkrete Schritte zur Reform des Strafrechts unternahm die Reichsleitung erst nach der Jahrhundertwende, nachdem die beiden rivalisierenden Strafrechtsschulen sich zu einer Verständigung durchgerungen hatten. Der Dualismus von schuldvergeltender ›Strafe‹ und präventiver ›Maßregel‹ wurde zum 292

Basiskompromiss der deutschen Strafrechtsreform; verwirklicht wurden die ›Maßregeln der Sicherung und Besserung‹ jedoch erst im Zuge einer Strafrechtsnovellierung im November 1933. Die Strafrechtsreform ist im doppelten Sinne als eine ›defensive Modernisierung‹ zu verstehen: Die ›moderne‹ Strafrechtsschule ließ sich auf eine utilitaristisch-rationale Neudefinition der Strafe ein, um juristische Methoden und Kompetenzen gegen psychiatrische Anfechtungen zu verteidigen; die ›klassische‹ Schule nahm die Einführung sichernder ›Maßregeln‹ für spezielle Tätergruppen in Kauf, um das Vergeltungsstrafrecht im Allgemeinen zu erhalten. Beide Verteidigungsstrategien gingen auf. Die Psychiatrie konnte keinen nennenswerten Einfluss auf die Gestaltung des Strafrechts gewinnen. Mit der Verankerung der Sicherungsverwahrung und der ›verminderten Zurechnungsfähigkeit‹ im Strafrecht erfüllte der Gesetzgeber zwar alte psychiatrische Reformvorschläge, doch in der zentralen Frage der Definitionshoheit, die eigentlich hinter diesen Forderungen steckte, entschied er zugunsten der Juristen. Das Gericht bestimmte fortan über die Einweisung und Entlassung der zu Verwahrenden. Die wirklichen Opfer der kompromisshaften Strafrechtsreform waren jedoch die betroffenen ›Gewohnheitsverbrecher‹ und ›vermindert Zurechnungsfähigen‹ selbst; sie wurden gewissermaßen doppelt bestraft: Nachdem sie ihre schuldgemäße Strafe verbüßt hatten, verschwanden sie zu Präventionszwecken für unbestimmte Zeit hinter den Mauern einer Sicherungs- bzw. Irrenanstalt. Sowohl ›Kriminalpsychiater‹ wie Emil Kraepelin als auch ›moderne‹ Strafrechtler wie Franz von Liszt strebten eine zweckrationale Kriminalpolitik an. ›Besserung‹ und ›Sicherung‹ gingen Hand in Hand und dienten demselben Ziel der Verbrechensverhütung. Das utilitaristische Strafverständnis war blind gegenüber wertrationalen Vorstellungen von Sühne, Vergebung oder Humanisierung. Der Humanisierungsaspekt, der im 18. Jahrhundert bei der ›Geburt des Gefängnisses‹ und der gleichzeitigen Abkehr von grausamen Strafexempeln den Kontroll- und Disziplinierungseffekt der neuen, subtileren Strafpraxis verhüllte,2 spielte bei der ›Geburt der Sicherungsverwahrung‹ im 20. Jahrhundert keine herausragende Rolle. Eine an Michel Foucault angelehnte Interpretation der Kriminalpolitik als einer humanitär verbrämten Sozialdisziplinierung liefe für den Untersuchungszeitraum der Klassischen Moderne insofern ins Leere, als der Disziplinierungszweck der ›modernen‹, d.h. präventiven, Strafe (bzw. Maßregel) unstrittig war. Selbst traditionelle Juristen aus dem ›klassischen‹ Lager befürworteten präventive Maßregeln gegen jene ›abnormen‹ Täter, bei denen die Abschreckungs- und Vergeltungslogik nicht verfing. Kurzum: über das Ziel eines effektiveren Schutzes der Rechtsordnung –

2 Vgl. Foucault, Überwachen und Strafen.

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und damit auch der Herrschafts- und Besitzordnung – waren sich alle Strafrechtsreformer einig. Dennoch verbanden die kriminalpolitischen Akteure bisweilen völlig unterschiedliche politische Vorstellungen mit dem Reformprojekt. Zur Zeit des Kaiserreichs traten die politischen Differenzen noch nicht offen zutage; der Reformdiskurs war in hohem Maße verfachlicht und versachlicht. Es lassen sich jedoch grob zwei weltanschauliche Lager unterscheiden, die sich mit den strafrechtswissenschaftlichen Schulen der ›Modernen‹ und der ›Klassiker‹ weitgehend decken. Die psychiatrischen und juristischen Strafrechtsreformer verstanden sich im weitesten Sinne als Liberale. Sie teilten – gleich, ob sie ›freisinnig‹ wie Liszt oder eher nationalistisch wie Kraepelin orientiert waren – eine säkular-naturwissenschaftliche Weltsicht; gerade die Psychiater waren in der Regel antiklerikal eingestellt, was nicht zuletzt aus der Auseinandersetzung mit der Kirche um die Vorherrschaft auf dem Gebiet der Irrenpflege resultierte. Die Verteidiger des Vergeltungsstrafrechts zeichneten sich durch ihre Nähe zum konservativ-nationalliberalen Establishment des Kaiserreichs aus. Liberale Positionen im Sinne eines bürgerrechtlich-freiheitlichen Individualismus finden sich kaum. Die Kritik der Sozialdemokraten, die aus den Erfahrungen mit dem Sozialistengesetz gespeist wurde, blieb zunächst ohne Einfluss auf die fachwissenschaftlichen und administrativen Reformvorbereitungen. Die Strafrechtsreformbewegung vertraute auf staatliche Sozialintervention. Die ›Klassiker‹ pflegten zwar eine Rechtsstaats-Rhetorik und beriefen sich auf die Trennung von Verwaltung und Justiz, doch sie hatten gegen repressive Polizeimaßnahmen gegenüber ›Gemeingefährlichen‹ und ›Asozialen‹ nichts einzuwenden, solange diese nicht als ›Strafe‹ etikettiert wurden. Die Reformbewegung konnte die politisch maßgeblichen konservativen Kräfte nur mit dem Hinweis auf ein vermeintlich »täglich sich ausbreitendes gewerbsmäßiges Verbrechertum«3 von der Notwendigkeit der Strafrechtserneuerung überzeugen. Bewusst betonte Liszt die repressive Seite seines Reformprogramms und brachte das unzulängliche Strafgesetzbuch von 1871 mit dem »einem fremden Volksgeiste entsprungenen code pénal«4 in Verbindung. Diese kulturkonservative Übertünchung der ›modernen‹ Strafrechtsrichtung hat Thomas Nipperdey übersehen, als er – quasi als einen erstaunlichen Beleg für die Modernität des Kaiserreichs – hervorhob, dass »sich eine so ›progressive‹, nämlich psychologisierende und soziologisierende Richtung der Normveränderung und Reform durchsetzen konnte, daß Liszt, immerhin in Berlin, immerhin linksliberaler Politiker und Reichstagsabgeordneter, nicht nur zum akademischen und offiziellen Establishment gehörte, sondern zum Führer

3 Liszt, Das gewerbsmäßige Verbrechen, S. 137. 4 Ebd., S. 121.

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einer ganzen Wissenschaftsrichtung, zur nationalen und internationalen Koryphäe werden konnte«.5 In der Weimarer Republik setzte eine offene politische Diskussion über die Strafrechtsreform ein. ›Linke‹ Strafrechtsreformer wie Moritz Liepmann oder Gustav Radbruch nahmen nun keine Rücksicht mehr auf konservative Befindlichkeiten; freilich brachten sie auf diese Weise auch jene bürgerlichen Kräfte gegen das Reformprojekt in Stellung, die es im Kaiserreich noch befürwortet hatten. Erst nachdem wesentliche Sanktions-Verschärfungen eingearbeitet worden waren, konnte der Strafgesetzentwurf den Reichsrat passieren. Das parlamentarische System ging unter, bevor es die Strafrechtsreform verabschieden konnte. Bis dahin stritten sich die Parteien im Reichstag in erster Linie um Detailbestimmungen des Besonderen Teils; insbesondere das Zentrum war nicht zu Kompromissen in Weltanschauungsfragen bereit. Der Allgemeine Teil des Strafgesetzentwurfs, der die wesentlichen Neuerungen enthielt, war weit weniger umstritten. Die Bedenklichkeit der SicherungsMaßregeln in rechtsstaatlicher Hinsicht war allen Mitgliedern des Strafrechtsausschusses bewusst; doch auf grundsätzliche Ablehnung stießen sie nicht. Die Vertreter der bürgerlichen Parteien glaubten, mit einzelnen Kautelen eine missbräuchliche Anwendung der Bestimmungen verhindern zu können. Die Sozialdemokraten versuchten, den Resozialisierungsgedanken gegenüber dem Vergeltungsgedanken zu stärken und legten dabei gelegentlich einen naiven Glauben an den Segen einer fürsorgerischen Anstaltsunterbringung an den Tag, auch wenn diese wesentlich länger dauern konnte als die durch das Vergeltungsprinzip begrenzte Freiheitsstrafe. Allein die Kommunisten schätzten die mit den präventiven Maßregeln verbundene Gefahr realistisch ein; freilich galt ihre Sorge in erster Linie den politischen Straftätern, und die grundsätzliche Ablehnung der Zwangsverwahrung bezog sich nur auf den kapitalistischen »Gegenwartsstaat«. Wie berechtigt die Furcht vor einem Missbrauch der sichernden Maßregeln war, zeigte sich nach der Verabschiedung des Gewohnheitsverbrechergesetzes durch das NS-Regime. Die Sicherungsverwahrung wurde im Dritten Reich nicht nur gegen ›Schwerverbrecher‹, sondern im großen Stil auch gegen ›Asoziale‹ angewandt. Freilich setzten die nationalsozialistischen Machthaber das Reformprojekt nicht in der Form um, wie es die Reichstagsentwürfe aus der Zeit der Weimarer Republik vorgesehen hatten. Vielmehr nahm der nationalkonservative Reichsjustizminister Gürtner erhebliche Verschärfungen vor und machte das Gewohnheitsverbrechergesetz somit zum Instrument seiner autoritären Strafrechtspolitik. ›Moderne‹ kriminalpolitische Reformvorstellungen interessierten ihn nur, sofern sie sich in seine eher rückwärtsgewandte strafrechtliche ›Abschreckungspolitik‹ einflechten ließen. 5 Nipperdey, S. 664f.

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Auch in anderer Hinsicht verließ das NS-Regime den strafrechtspolitischen Reformpfad, der in der Weimarer Republik eingeschlagen worden war. Hitler hatte die Ausarbeitung des Gewohnheitsverbrechergesetzes in Auftrag gegeben, um rassenhygienische Zwangsmaßnahmen im Strafrecht zu verankern. Vertreter des Reichsinnenministeriums erwirkten bei den kommissarischen Beratungen über den Gesetzentwurf eine Ausweitung der Möglichkeit, rassenhygienisch relevante Maßregeln wie die ›Entmannung‹ oder die Sicherungsverwahrung anzuordnen. Die Justiz machte das Gewohnheitsverbrechergesetz zwischen 1934 und 1945 auch in der Praxis zu einem Hilfsmittel der Rassenpolitik, indem sie die unbefristete Sicherungsverwahrung besonders häufig gegen ›erbbiologisch minderwertige‹, doch kaum gefährliche Täter anwandte. Die ausgedehnte Anwendung der Sicherungsverwahrung ging, abgesehen von rassenideologischen Beweggründen, nicht zuletzt auch auf die spezifische Struktur des NS-Herrschaftssystems zurück. Ungeklärte Kompetenzabgrenzungen zwischen Justiz und Polizei führten zu einem Konkurrenzkampf um die Inhaftierung habitueller Rechtsbrecher. Wie gewichtig dieser ›Systemfaktor‹ war, wird deutlich, wenn man die erheblich niedrigeren Zahlen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung aus der Zeit nach 1945 zum Vergleich heranzieht. Das Ausufern der nationalsozialistischen Verbrechensbekämpfung war somit keineswegs die notwendige Folge einer Rationalisierung des Strafrechts. Vielmehr griff das NS-Regime einseitig die repressiven Elemente aus den Plänen der Reformbewegung heraus und stellte sie in den Dienst einer – auch ihrem Selbstverständnis nach – antimodernen Strafrechtspolitik, die einerseits auf die ›Wiederbelebung des Sühnegedankens‹, andererseits auf die ›Ausmerzung der Gemeinschaftsfeinde‹ zielte. In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage nach den kriminologischen Traditionen des Rassismus auf. Wenn man das an der biologischen Konstitution festgemachte Werturteil über Menschen als wesentliches Definitionskriterium des Rassismus betrachtet, liegt es nahe, in der Verklammerung der biologisch ausgerichteten Psychiatrie mit dem soziale Wertvorstellungen schützenden Strafrecht eine Wurzel des Rassismus zu sehen. Ein derart weitgefasster Rassismusbegriff schließt große Teile der Kriminologie mit ein. Lombrosos Lehre vom ›geborenen Verbrecher‹ zählt eindeutig zu den rassistischen Strömungen der Kriminologie; psychiatrische Degenerationskonzepte, die von einem Zusammenspiel von Anlage- und Milieufaktoren ausgehen, können auch hinzugezählt werden, desgleichen die eugenische Bestrebung, ›Anlageverbrecher‹ an der Fortpflanzung zu hindern. Die forensische Psychiatrie war an der Entwicklung aller dieser Konzepte beteiligt, aber auch an ihrer kritischen Überprüfung. Lombrosos kriminologische Vorstellungen zählten zwar zum populärwissenschaftlichen Bildungs296

schatz der Illustrierten-Leser, bei den deutschen Psychiatern fanden sie jedoch keine Akzeptanz. Der in einem kriminalpolitischen Kontext vorgebrachte Vorschlag des Psychiaters Paul Näcke, »gewisse Klassen von Degenerirten« unfruchtbar zu machen, stieß in Fachkreisen zunächst auf Skepsis, gerade weil das Degenerationskonzept die sozialen Faktoren der ›Entartung‹ ins Blickfeld der medizinischen Forschung gerückt hatte. Erst die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs bewirkten einen Boom des erbbiologischen Paradigmas innerhalb der Psychiatrie. Aufgabe der Militärpsychiater war es, sogenannte ›Kriegsneurotiker‹ möglichst schnell wieder verwendungsfähig zu machen. Nervenzusammenbrüche, die einige – jedoch nicht alle – Soldaten nach traumatischen Kriegserfahrungen erlitten hatten, wurden auf eine ›minderwertige Konstitution‹ zurückgeführt. Zudem schien es einigen Anstaltspsychiatern angesichts des Massensterbens an der Front und des Hungers in der Heimat geradezu widersinnig, die knappen Ressourcen für die Pflege von ›Ballastexistenzen‹ zu ›verschwenden‹. Insgesamt führten diese Erfahrungen zu einer Neufokussierung der Psychiatrie vom Individuum zur Bevölkerung. Auch die Wissenschaftsrichtungen der Sozialmedizin und der Eugenik konnten von dieser Entwicklung profitieren. Mit ihrem utilitaristischen Bestreben, das ›größte Glück der größten Zahl‹ zu erzielen, und ihrer Bereitschaft, einzelnen Menschen im Interesse der Allgemeinheit besondere Härten zuzumuten, waren sie der ›modernen‹ Strafrechtsschule wesensverwandt. ›Rassistisch‹ waren diese gesellschaftsfixierten Humanwissenschaften freilich nur im allerweitesten Sinne. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik ging indes auf eine spezifisch politische Variante des ›wissenschaftlichen Rassismus‹ zurück, die nicht mehr das Glück der Mehrzahl, sondern den Fortbestand des rassereinen ›Volkskörpers‹ zum Ziel hatte; erst in dieser ›völkischen‹ Perspektive verliert das individuelle Leben jeden Eigenwert. Die völkische Rassenhygiene, die u.a. der Kraepelin-Schüler Ernst Rüdin repräsentierte, unterschied sich von den konkurrierenden sozialistischen und katholischen Varianten der Eugenik durch ihre potentielle Mordbereitschaft. Auch der Rassismus im engeren Sinne weist Traditionen auf, die in die Kriminologie der Weimarer Zeit zurückreichen. Hier war es hauptsächlich der Zuchthausarzt Theodor Viernstein, der eine rassenhygienisch inspirierte Kriminalbiologie entwickelte und durch seine Kontakte zu führenden Strafrechtswissenschaftlern verbreitete. In methodischer und theoretischer Hinsicht fiel Viernsteins Kriminalbiologie weit hinter die wissenschaftlichen Standards ihrer Zeit zurück. Die kriminalbiologischen Untersuchungen waren mit dem autoritär-konservativ geprägten bayerischen Stufenstrafvollzug institutionell verflochten; die administrative Vorgabe, den Sühnecharakter der Strafe zu betonen und erzieherische Maßnahmen von vornherein auf ›besserungsfähige‹ Gefangene zu beschränken, und die Suche nach den erbbiologi297

schen Wurzeln der Kriminalität gingen eine Symbiose ein, die letztlich statt Erziehungserfolgen nur noch ›Unverbesserlichkeit‹ produzierte. Wie gezeigt wurde, ist die Geschichte der Strafrechtsreform reich an Beispielen dafür, dass ›moderne‹ Reform-Initiativen ausgebremst, politisch instrumentalisiert und schließlich rassistisch umgebogen wurden. Gerade die wiederholten Verschärfungen, welche die Gesetzentwürfe in einem autoritärkonservativ geprägten politischen Umfeld bis 1933 erfahren hatten, bereiteten der inhumanen Rechtsprechungspraxis im Dritten Reich den Weg. Mit diesem Befund ist freilich noch nichts über die Funktionsfähigkeit – oder gar Wünschbarkeit – einer ungebremsten utilitaristischen Kriminalpolitik gesagt. Gerade die angestrengten Versuche, die Rationalisierung der Verbrechensbekämpfung zu beschleunigen, führten immer wieder zu Fehlsteuerungen. An der Wende zum 20. Jahrhundert wollte man ein bestimmtes Ausmaß an Kriminalität nicht länger als eine anthropologische Konstante hinnehmen. Man begnügte sich nicht mehr damit, ein moralisches Werturteil über die Tat zu fällen und den Täter seine Schuld sühnen zu lassen; vielmehr wurde ›dem Verbrechen‹ im großen Stil der Kampf angesagt. Der Krieg gegen das Verbrechertum wurde mit allen Waffen geführt, die der moderne Anstaltsstaat bereithielt: Gesetze und Anstalten, Wissenschaften und Behörden, Fachbeamte, Geheimräte, Sachverständigen-Gutachten, – und wenn diese versagten – in zweiter Linie: Verwaltungsvorschriften und Spezialanstalten, Forschungsförderung und Sonderbehörden, Beamten-Schulungen, Experten-Gremien, Obergutachten. Der Umgang mit geisteskranken Rechtsbrechern veranschaulicht die Aporien einer auf Bürokratie, Fachwissen und Fürsorge gestützten Verbrechensbekämpfung: Verurteilte ›irre Verbrecher‹ unterschieden sich von den unzurechnungsfähigen ›verbrecherischen Irren‹ dadurch, dass ihre Geistesstörung nicht durch den Gerichtsmediziner, sondern erst durch den Gefängnisarzt festgestellt worden war. Sie wechselten zwischen Straf- und Irrenanstalten, dann zwischen Strafanstalts-Irrenabteilungen und Irrenanstalts-Verbrecherabteilungen; bald wurden sie als ›strafvollzugsunfähig‹ entlassen, dann als ›gemeingefährlich‹ zwangspsychiatrisiert, später als ›geheilt‹ ins Gefängnis zurückgeschickt, dort in der Irrenabteilung beobachtet und für krank befunden; wieder in der Irrenanstalt angelangt, ließ man sie entweichen, falls die Polizei der Entlassung in die Freiheit widersprach. Verwaltungsvorschriften wurden erlassen und umgangen; Mauern wurden gebaut, um ›irre Verbrecher‹ sicher zu verwahren – und Hintertüren geöffnet, um sich ihrer zu entledigen. Stets waren Mediziner beteiligt, die als Geheimräte, Irren-, Amts-, Gerichts- oder Gefängnisärzte die widersprüchlichen Entscheidungen der Ministerien, der Irrenanstalten, der Polizei, des Gerichts und des Strafvollzugs durch Expertisen legitimierten. Das Bemühen, die Verwaltungsentscheidungen auf Expertenwissen zu stützen, hatte eine Ausrichtung der Expertisen an den jeweils 298

unterschiedlichen Erfordernissen der Behörden zur Folge, wodurch die Rationalität der bürokratischen Herrschaftspraxis beeinträchtigt wurde. Die Strafrechtsreform war auch der Versuch, dieses Kompetenz-Chaos aufzulösen. Die Entscheidungsgewalt über die Behandlung der Kriminellen sollte gebündelt und die bislang im Streit untereinander verzettelten Kräfte in eine einheitliche Richtung der Verbrechensbekämpfung gelenkt werden. Das schien auch deshalb erforderlich, weil die moderne Psychiatrie im Begriff war, die Grundprämisse des schuldbasierten Vergeltungsstrafrechts zu zerstören: die Annahme, dass die Zurechnungsfähigkeit des Täters in der Regel gegeben sei. Die im Laufe des 19. Jahrhunderts allgemein gestiegene Wertschätzung medizinischer Experten und die damit einhergehende Zunahme der Unzurechnungsfähigkeits-Expertisen untergrub allmählich das traditionelle Schuldprinzip. Deshalb sollte im künftigen Strafrecht nach dem Willen der Strafrechtsreformer die ›Gefährlichkeit‹ und ›Besserungsfähigkeit‹ des Täters für die Sanktionsbemessung ausschlaggebend sein. Dieser strategische Wandel der modernen Kriminalpolitik rief jedoch Probleme völlig neuer Art hervor. Richteten die forensischen Experten ihren Blick bis dato auf die Vergangenheit (bei der Prüfung der Schuldfähigkeit) oder auf die Gegenwart (bei der Prüfung der Strafvollzugsfähigkeit), wurde ihnen nun eine Verhaltensprognose abverlangt. Damit aber stieß die Naturwissenschaft an ihre Grenzen. Das neue Paradigma der sozialtechnischen Kriminalitätsbewältigung erzeugte einen Wissenschaftsbedarf, der die Wissenschaft regelmäßig überforderte. Immer wieder wurde die Kluft zwischen den verwaltungspraktischen Anforderungen an die medizinischen ›Experten‹ und deren realen Erkenntnismöglichkeiten durch den Kredit überbrückt, den die Naturwissenschaft im Zeitalter der Klassischen Moderne genoss. Die Wissenschaftsgläubigkeit, nicht der wissenschaftliche Fortschritt war die treibende Kraft hinter der ›Rationalisierung‹ des Strafens. Bereits Emil Kraepelins Vorschlag, die Strafanstalten nach psychiatrischem Vorbild zu ›Besserungsanstalten‹ umzufunktionieren, zeugt von einer hybriden Überschätzung der medizinischen Wissenschaft; denn die psychiatrischen ›Heilanstalten‹ konnten ihrem therapeutischen Anspruch bei weitem nicht gerecht werden (siehe Tabelle 1), und Kraepelin selbst sollte nicht als Therapeut, sondern als Diagnostiker und Systematisierer klinischer Krankheitsbilder berühmt werden.6 Doch es war nicht nur die Selbstüberschätzung und Selbstermächtigung der Psychiater, die hinter der Verwissenschaftlichung der Strafrechtspflege steckte. Gerade auch naturwissenschaftliche Laien waren von den Verheißungen einer auf wissenschaftlich erhärtete Fakten gestützten Kriminalpolitik derart begeistert, dass sie die empirischen Erkenntnisse gar nicht erst abwarten woll6 Vgl. Blasius, »Einfache Seelenstörung«, S. 124.

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ten. Das prominenteste Beispiel hierfür ist der unumstrittene Führer der Strafrechtsreformbewegung selbst. Franz von Liszt wollte die Sachverständigen zwar aus dem Gerichtssaal verbannen, doch er wies den empirischen ›Hilfswissenschaften‹ die Aufgabe zu, einen Kriterienkatalog zu erstellen, der dem Richter die Beurteilung der Täterpersönlichkeit erlauben sollte. Die drei Tätertypen des ›Gelegenheitsverbrechers‹, des ›unverbesserlichen‹ und des ›besserungsfähigen Gewohnheitsverbrechers‹ hatte er einfach aus den drei Strafwirkungen ›Abschreckung‹, ›Sicherung‹ und ›Besserung‹ abgeleitet. Die Kriminologie sollte die charakteristischen Merkmale dieser Tätertypen eruieren, denn – so Liszt in seinem ›Marburger Programm‹ von 1882: »Der Kampf gegen das Gewohnheitsverbrechertum setzt die genaue Kenntnis desselben voraus. Diese fehlt uns noch heute. [...] Ehe wir das vagabondierende Gaunertum nicht sozialethisch festgestellt haben, ist es vergebliches Bemühen, das Gewohnheitsverbrechertum als solches fassen zu wollen. Viel wird hier die Moralstatistik, viel insbesondere ihre Anwendung auf die heute noch einer verläßlichen Methode entbehrende Kriminalanthropologie leisten können. Aber – wir dürfen nicht warten, bis diese Leistungen zu Tage gefördert wird (sic!).«7

Franz von Liszt wollte als Verfechter juristischer Professionsinteressen gewissermaßen die empirischen Wissenschaften ›überholen, ohne sie einzuholen‹. Das gleiche Grundmuster eines dem tatsächlichen Wissensstand vorauseilenden Szientismus zeigt sich auch am Beispiel des Kriminologischen Dienstes in den Strafanstalten. Der konservativ geprägte bayerische Stufenstrafvollzug der Weimarer Republik hatte mit den ›modernen‹ kriminalpolitischen Ideen wenig gemein, doch das tat der Wissenschaftsgläubigkeit keinen Abbruch. Um diejenigen Gefangenen auszuwählen, die als ›Besserungsfähige‹ in den Genuss vaterländischer Vorträge und religiöser Erbauung kommen sollten, vertraute das bayerische Justizministerium auf die Kriminalbiologie. Die kriminalbiologische Untersuchung sollte das empirische Material für künftige Kriminalitätstheorien erst liefern – und doch vorab schon eine soziale Prognose ermöglichen. Die als ›unverbesserlich‹ klassifizierten Täter dienten der Kriminalbiologie später als ›Beleg‹ für die Existenz ›kriminogener Erbanlagen‹; die zuvor unterstellte ›Unverbesserlichkeit‹ galt fortan als erwiesen. Als nach einem halben Jahrhundert die von Liszt geforderte Sicherungsverwahrung für unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher gesetzlich eingeführt wurde, mangelte es noch immer an einer genauen Definition des ›Gewohnheitsverbrechers‹; das Gewohnheitsverbrechergesetz selbst gab nur vage Anhaltspunkte: Ein mehrfach straffällig gewordener Täter konnte als ›Gewohnheitsverbrecher‹ verurteilt werden, wenn »die Gesamtwürdigung der Taten« ihn als einen »gefährlichen Gewohnheitsverbrecher« erscheinen ließ; in die 7 Liszt, Zweckgedanke, S. 167.

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Sicherungsverwahrung musste er überführt werden, »wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert«.8 Die Kriminologie hatte keine Antwort auf die Frage, wodurch sich ein ›normaler‹ Rückfalltäter von einem ›unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher‹ unterschied, weshalb die Richter auf ihre Intuition vertrauen mussten. Die Kriminalbiologie wollte der Justiz zu Hilfe eilen, indem sie die ›objektiven‹ Merkmale des Gewohnheitsverbrechertyps erforschte. Dadurch, dass sie die Sicherungsverwahrten als Untersuchungsmaterial heranzog, fand sie jedoch nur eine ›wissenschaftliche Bestätigung‹ der für die Verurteilung ausschlaggebenden richterlichen Vorurteile. Der Verlauf der ›Rationalisierung‹ des Strafens von den ersten Forderungen nach einer präventiven Täterbehandlung und wissenschaftlichen Täterforschung bis zu ihrer Verwirklichung lässt sich in einer Schrittfolge zusammenfassen: (1.) der Glaube an die Wissenschaft und der Wille zur Prävention, (2.) die Betonung der spezialpräventiven Strafwirkungen der Besserung und Sicherung gegenüber der Vergeltung in der Strafrechtsdogmatik, (3.) die Postulierung von Tätertypen, die den Strafwirkungen der Besserung und Sicherung entsprechen, (4.) die Neuorientierung des Strafvollzugs an Besserung und Sicherung, (5.) die apriorische Klassifizierung der Gefangenen als ›besserungsfähig‹ oder ›unverbesserlich‹, (6.) die ›empirische‹ Erforschung der ›Besserungsfähigkeit‹ anhand der formalen Klassifikation, (7.) die Verankerung von ›Maßregeln der Sicherung und Besserung‹ im Strafrecht, (8.) die Verurteilung von ›Gewohnheitsverbrechern‹ auf der Grundlage einer intuitiven ›Wesensschau‹, (9.) die ›empirische‹ Erforschung des ›verbrecherischen Hangs‹ anhand der verurteilten ›Gewohnheitsverbrecher‹. Immer wieder wurde die zukunftsgerichtete Kriminalpolitik zunächst an vor-wissenschaftlichen Postulaten ausgerichtet. Dann erst setzte die kriminologische Forschung ein, die sich nun an den bürokratisch-justiziell vorsortierten Tätergruppen orientierte. Da die Kriminologen nicht berücksichtigten, dass die Zusammensetzung des untersuchten ›Gefangenenmaterials‹ durch nichtwissenschaftliche Verwaltungs- und Justizentscheidungen bestimmt worden war, glaubten sie, mit ihren statistischen Untersuchungen die Kennzeichen der – aus dem Präventionsgedanken geborenen – ›Unverbesserlichkeit‹ wissenschaftlich exakt geklärt zu haben. Die ›Rationalisierung‹ des Strafens erweist sich insgesamt als ein einziger großer Zirkelschluss. In der Bilanz ergeben die geschilderten Entwicklungen das Bild einer seit dem Kaiserreich stufenweise eskalierenden Verbrechensbekämpfung, die im Nationalsozialismus schließlich selbst verbrecherische Züge annahm. Um zu einem historischen Urteil über die Kriminalpolitik der Klassischen Moderne 8 §§ 20a und 42e StGB, eingeführt durch das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24.11.1933, Reichsgesetzblatt I, 1933, S. 995.

301

zu gelangen, müssen zwei Ebenen analytisch getrennt werden: die Eigenlogik der spezifisch modernen utilitaristischen, auf Wissenschaft, Besserungs-, und Sicherungsanstalten gestützten Kriminalprävention und die Gestaltungsspielräume der Akteure. Es hat sich gezeigt, dass der Versuch, die Täter durch eine der individuellen ›Besserungsfähigkeit‹ angemessene Behandlung ›unschädlich‹ zu machen, zum Scheitern verurteilt war (und noch ist), solange die Wissenschaft keine gesicherte Verhaltensprognose liefern kann. Die Eskalation der Kriminalpolitik wurde durch die Enttäuschung angesichts überzogener Erwartungen an präventive Maßnahmen gefördert. Erklärungsbedürftig bleibt jedoch, dass diese Eskalation in einer Forcierung der Sicherungsverwahrung bei gleichzeitiger Wiederbelebung des Sühnegedankens bestand und nicht in der eigentlich nahe liegenden Ausdehnung der – zuvor nur halbherzig betriebenen – Maßnahmen zur ›Besserung‹ der Straftäter. Welche Bahn die Verbrechensbekämpfung einschlug, welche Forderungen der Strafrechtsreformbewegung aufgegriffen oder abgeblockt wurden, hing von politischen Weichenstellungen ab. Wiederholt traf das moderne Reformprojekt mit seiner ambivalenten Mischung aus Besserungs- und Sicherungsmaßnahmen auf ein konservatives politisches Umfeld: auf den Widerstand von Strafrechtlern der ›klassischen‹ Schule, welche die vermeintliche Notwendigkeit der ›Unschädlichmachung‹ von Gewohnheitsverbrechern ›einsahen‹, Strafmilderungen bei Gelegenheitstätern aber ablehnten; auf ein Reichsjustizamt, das auf einer weitgehenden Beibehaltung des Vergeltungsprinzips beharrte; auf bürgerliche Politiker, welche die von Gustav Radbruch beabsichtigte Stärkung der Resozialisierung als eine sozialistische Pervertierung des Strafrechts verdammten; auf konservative Gefängnisbeamte, welche die Differenzierung des Strafvollzugs dazu nutzten, diesen abschreckender zu gestalten. Das nationalsozialistische Regime verschärfte die traditionelle Vergeltungsstrafe, nutzte die Sicherungsverwahrung zur ›Ausmerzung‹ von ›Asozialen‹ und kappte das zweite Standbein der modernen Spezialprävention – die Resozialisierung. Insofern ist Detlev Peukert zuzustimmen, wenn er vom Nationalsozialismus als dem »Versuch einer Kurskorrektur« spricht, »die bestimmte Tendenzen von Modernisierung und Rationalisierung bestärken und andere ausschalten sollte«.9 Mit der ›Korrektur‹ des modernen Strafrechtsreformkurses setzte das NS-Regime jedoch auch eine ältere Tendenz fort und radikalisierte sie: die allmähliche Verschmelzung des modernen Sicherungsgedankens und des klassischen Vergeltungsprinzips zu einer insgesamt illiberalen Kriminalpolitik. In dieser Perspektive erscheint der Nationalsozialismus nicht nur als die »fatalste Entwicklungsmöglichkeit der Moderne«, sondern auch als die fatalste Entwicklungsmöglichkeit einer durch autoritäre Traditionen geprägten Gesellschaft.

9 Peukert, Max Webers Diagnose der Moderne, S. 82.

302

Anhang

Tabelle 1: Verpflegungsfälle und Heilungen in den öffentlichen Irrenanstalten Preußens 1875–1900 Jahr

Verpflegungsfälle

Heilungen

Heilungsprozente

1875 1876 1877 1878 1879 1880 1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900

14.512 15.808 17.265 19.241 19.959 20.791 22.019 24.139 25.363 26.913 28.439 29.416 30.492 31.830 33.558 35.172 37.184 38.501 40.470 43.395 45.454 47.182 51.500 52.676 55.356 58.554

1.173 1.198 1.527 1.746 1.780 1.938 1.958 2.261 2.328 2.329 2.449 2.560 2.489 1.981 2.189 2.295 2.275 2.054 2.193 2.322 2.343 2.490 2.432 2.407 2.681 2.559

8,08 7,58 8,84 9,07 8,92 9,32 8,89 9,36 9,02 8,65 8,61 8,70 8.16 6,22 6,52 6,55 6.12 5,33 5,42 5,35 5,15 5,30 4,70 4,57 4,84 4,37

Durchschnitt

33.277

2.152

6,47

Quelle: H. Grunau, Ueber Frequenz, Heilerfolge und Sterblichkeit in den öffentlichen preussischen Irrenanstalten von 1875 bis 1900, Halle 1905, S. 40.

303

Tabelle 2: Die Kriminalität im Deutschen Reich 1882–1925 Jahr

Wegen Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze Verurteilte1

Kriminalitätsziffer5

1882 1885 1890 1895 1900 1905 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 19192 1920 19213 1922 19234 19244 19254

315.849 325.122 362.163 436.319 456.479 508.102 538.225 544.861 573.976 555.527 454.064 287.535 287.500 294.584 k.A. 348.247 k.A. 651.148 k.A. 823.902 696.668 575.745

996 1.006 1.049 1.200 1.164 1.205 1.184 1.182 1.224 1.169 k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. 1.353 k.A. 1.693 1.494 1.217

Quelle: Die Entwicklung der Kriminalität im Deutschen Reich seit 1882 (Drucksachen des Reichstages, III. Wahlperiode, 1924/1927, Nr. 3390, Anlage II), S. 5. 1 Von 1882 bis 1913 ausschließlich der wegen Wehrpflichtverletzung (§140 StGB) Verurteilten, 1914 bis 1917 auch ohne die Zuwiderhandlungen gegen die aus Anlass des Krieges erlassenen Strafvorschriften. 2 Einschließlich Saargebiet, Oberschlesien und Danzig. 3 1919 bis 1925 ausschließlich der aus Anlass des Krieges oder der Übergangszeit erlassenen Strafvorschriften, ab 1921 auch ausschließlich der Verstöße gegen das Militärstrafgesetzbuch. 4 Ohne Saargebiet. 5 1882 bis 1913 auf 100 000 der strafmündigen Zivilbevölkerung, ab 1921 auf 100 000 der strafmündigen Bevölkerung.

304

Tabelle 3: Die Kriminalität der Vorbestraften im Deutschen Reich 1882–1932 Jahr

Verurteilte insgesamt

1882 1885 1890 1895 1900 1905 1910 1913 1921 1923 1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1932

315.849 325.122 362.163 436.319 456.479 508.102 538.225 555.527 651.148 823.902 696.668 575.745 589.611 608.356 585.862 593.707 594.610 564.479

davon vorbestraft

82.292 93.841 124.921 172.008 193.709 228.167 247.225 251.882 120.832 178.545 171.890 143.892 160.102 177.522 191.567 211.755 227.332 242.396

Vorbestrafte in % der Verurteilten insgesamt 26,1 28,9 34,5 39,4 42,4 44,9 45,9 45,3 18,6 21,7 24,7 25,0 27,2 29,2 32,7 35,7 38,2 42,9

Quelle: Die Entwicklung der Kriminalität im Deutschen Reich seit 1882 (Drucksachen des Reichstages, III. Wahlperiode, 1924/1927, Nr. 3390, Anlage II), S. 5 u. 12; E. Roesner, Die Kriminalität der Vorbestraften im Deutschen Reich, in: Deutsche Justiz, Bd. 96, 1934, S. 1196f.

305

Tabelle 4: Anordnung der Maßregeln der Sicherung und Besserung 1934–1939

Heil- oder Pflegeanstalt TrinkerheiloderEntziehungsanstalt

1934

1935

1936

553

728

880

1937

902

1938

1939

992

1.087

97

126

138

150

148

226

Arbeitshaus

1.832

1.409

1.413

1.094

1.026

729

Sicherungsverwahrung

3.723

1.464

946

765

964

1.827

Entmannung

613

343

230

189

195

238

Untersagung der Berufsausübung

131

158

215

252

269

294

Quelle: Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 507, S. 27 u. 174ff.; Bd. 577, S. 18 f., 26, 34, 100ff., 254ff.

Tabelle 5: Anordnung der Sicherungsverwahrung 1934–1942 Jahr

Fälle

1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 (1.–3. Quartal)

3.723 1.464 946 765 964 1.827 1.916 1.651 1.095

Quelle: Deutsche Justiz, Bd. 105, 1943, S. 377.

306

Abkürzungen ALR ALVR ALWL ArchKrim AZP

Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 Archiv des Landschaftsverbands Rheinland, Brauweiler Archiv des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe, Münster Archiv für Kriminal-Anthropologie/Archiv für Kriminologie Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin BA Bundesarchiv BJM Bayerisches Justizministerium BMdI Bayerisches Ministerium des Innern DDP Deutsche Demokratische Partei DNVP Deutschnationale Volkspartei DVP Deutsche Volkspartei GG Geschichte und Gesellschaft GStA PK Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem HStA Hauptstaatsarchiv HZ Historische Zeitschrift IKV Internationale Kriminalistische Vereinigung KPD Kommunistische Partei Deutschlands MschrKrim Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei OStA Oberstaatsanwalt(-schaft) PrFM Preußisches Finanzministerium PrJM Preußisches Justizministerium PrMdgUMA Preußisches Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten PrMdI Preußisches Ministerium des Innern RAdI Reichsamt des Innern RGBl. Reichsgesetzblatt RJM Reichsjustizministerium RK Reichskanzler RMdI Reichsministerium des Innern RStGB Reichsstrafgesetzbuch RStPO Reichsstrafprozeßordnung SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands VfZ Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte VGM Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen ZfG Zeitschrift für Geschichtswissenschaft ZStW Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

307

Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Archivalien Bundesarchiv Berlin: R 22, Reichsjustizministerium R 30.01, Reichsjustizministerium R 15.01, Reichsministerium des Innern R 49.01, Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung R 43, Reichskanzlei R 8034 II, Reichslandbund/Pressearchiv

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin: Rep. 84 a, Preußisches Justizministerium Rep. 77, Preußisches Innenministerium Rep. 76, Preußisches Kultusministerium

Bayerisches Hauptstaatsarchiv München: M Ju, Bayerisches Justizministerium M Inn, Bayerisches Innenministerium M K, Bayerisches Kultusministerium

Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden: Sächsisches Justizministerium

Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf: BR 1001, Regierung Köln

308

Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Außenstelle Kalkum: Rep. 72, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Mönchengladbach Rep. 87, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Aachen Rep. 156, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Köln Rep. 195, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Bonn Rep. 321, Generalakten der Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht Düsseldorf

Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland Pulheim-Brauweiler: PV 1, Psychiatrie und Erweiterte Armenpflege

Archiv des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe Münster: Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Eickelborn

Universitätsarchiv Köln: Psychiatrische und Nervenklinik

2. Periodika Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin Ärztliche Sachverständigen-Zeitung Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik Archiv für Kriminologie Blätter für Gefängniskunde Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie Deutsche Juristen-Zeitung Deutsche Justiz-Statistik Der Gerichtssaal

309

Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung Mitteilungen der Kriminalbiologischen Gesellschaft Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

3. Gedruckte Quellen und zeitgenössische Literatur Abramowski, G. (Bearb.), Die Kabinette Marx I und II, Bd. 2, Boppard 1973 (Akten der Reichskanzlei, Weimarer Republik) Appelius, H., Die Reformbestrebungen auf dem Gebiet der Strafrechtspflege und das heutige Strafrecht, in: ZStW, Jg. 12, 1892, S. 1–33 Aschaffenburg, G., Die Abschaffung des Strafmaßes, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Bd. 101, 1926, S. 45–55 –, Alkoholgenuß und Verbrechen, in: ZStW, Jg. 20, 1899, S. 80–100 – (Hg.), Bericht über den VII. Internationalen Kongreß für Kriminalanthropologie Köln a. Rhein 9.–13. Oktober 1911, Heidelberg 1912 –, Der Einfluß Kraepelins auf die Kriminalpsychologie und Kriminalpolitik, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 87, 1929, S. 87–95 –, Gerichtsärztliche Wünsche bei der Revision der Strafgesetzgebung, in: MschrKrim, Bd. 1, 1904/05, S. 435–438 –, Eine Lücke in der Strafprozeßordnung, in: MschrKrim, Bd. 11, 1914/18, S. 328– 331 –, Die rechtlichen Grundlagen der gerichtlichen Psychiatrie, in: A. Hoche (Hg.), Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie, Berlin 19092, S. 3–178 –, Die Sicherung der Gesellschaft gegen gemeingefährliche Geisteskranke, Berlin 1912 –, Die Stellung des Psychiaters zur Strafrechtsreform unter Berücksichtigung des neuen Entwurfs, in: MschrKrim, Bd. 16, 1925, S. 145–166 –, Das Verbrechen und seine Bekämpfung. Kriminalpsychologie für Mediziner, Juristen und Soziologen, ein Beitrag zur Reform der Strafgesetzgebung, Heidelberg 1903 –, Der Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift, Jg. 35, 1909, S. 2067–2070, 2121–2124 u. 2173–2176 –, Zur Psychologie der Sittlichkeitsverbrecher, in: MschrKrim, Bd. 2, 1905/06, S. 399–416

310

Aschrott, P.F. u. F. von Liszt (Hg.), Die Reform des Reichsstrafgesetzbuchs. Kritische Besprechung des Vorentwurfs zu einem Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, Bd. 1: Allgemeiner Teil, Berlin 1910 Avé-Lallemant, F.C.B., Das deutsche Gaunerthum, in seiner social-politischen, literarischen und linguistischen Ausbildung zu seinem heutigen Bestande, 4 Bde., Leipzig 1858–1862, ND Hildesheim 1980 Baer, A.A., Der Verbrecher in anthropologischer Beziehung, Leipzig 1893 Baur, E. u.a., Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, 2 Bde., München 1921 Bayerisches Staatsministerium der Justiz (Hg.), Der Stufenstrafvollzug und die kriminalbiologische Untersuchung der Gefangenen in den bayerischen Strafanstalten, 3 Bde., München 1926–1929 Bemerkungen zum Vorentwurf des Strafgesetzbuchs, hg. v. der Justiz-Kommission des Deutschen Vereins für Psychiatrie, Jena 1910 Berger, H., Psychiatrische Betrachtungen über den Vorentwurf des Strafgesetzbuches, in: Der Gerichtssaal, Jg. 80, 1912, S. 209–224 Das ›Bewahrungshaus‹ (Pavillon für geisteskranke Verbrecher) bei der ProvinzialHeil- und Pflegeanstalt zu Düren, in: Psychiatrische Wochenschrift, Jg. 2, 1901, S. 433–436 Beyer, B., Die Bestrebungen zur Reform des Irrenwesens, Halle 1912 Binding, K., Die Behandlung der Schuld in dem Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch, in: Der Gerichtssaal, Jg. 77, 1911, S. 22–55 – u. A.E. Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920 Birkmeyer, K. von, Gedanken zur bevorstehenden Reform der deutschen Strafgesetzgebung, in: Archiv für Strafrecht und Strafprozeß, Jg. 48, 1901, S. 67–100 –, Schutzstrafe und Vergeltungsstrafe, in: Der Gerichtssaal, Jg. 67, 1906, S. 401–423 –, Die Stellung des Vorentwurfs gegenüber dem Streit der Strafrechtsschulen, Leipzig 1910 –, Was läßt Liszt vom Strafrecht übrig? Eine Warnung vor der modernen Richtung im Strafrecht, München 1907 Birnbaum, K., Kriminalpsychopathologie. Systematische Darstellung, Berlin 1921 –, Die psychopathischen Verbrecher. Die Grenzzustände zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit in ihren Beziehungen zu Verbrechen und Strafwesen, Berlin 1914 Bischoff, E., Lehrbuch der Gerichtlichen Psychiatrie für Mediziner und Juristen, Berlin 1912 Bleuler, E., Der geborene Verbrecher. Eine kritische Studie, München 1896 –, Zur Behandlung Gemeingefährlicher, in: MschrKrim, Bd. 1, 1904/05, S. 92–99 Börner, P., Das deutsche Medicinalwesen, Berlin 1885 Bondy, C., Zur Frage der Erziehbarkeit, in: ZStW, Jg. 48, 1927, S. 329–334 Bumke, E. (Hg.), Der Strafvollzug in Stufen, Hamburg 1926 Bumke, O., Gerichtliche Psychiatrie, in: G. Aschaffenburg (Hg.), Handbuch der Psychiatrie, Allgemeiner Teil, 5. Abteilung, Leipzig 1912, S. 3–190 –, Kultur und Entartung, Berlin 19222 –, Über nervöse Entartung, Berlin 1912

311

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Register

1. Personenregister Adenauer, Konrad 220, 275 Alexander, Eduard 211 Aschaffenburg, Gustav 32, 52, 79f., 107, 110, 145f., 153, 161, 166, 168, 195, 263, 267f., 274f., 291

Ebermayer, Ludwig 181, 216f. Emminger, Erich 200, 206–212, 215f. Eulenburg-Hertefeld, Philipp Fürst zu 57 Exner, Franz 136, 269f., 275, 281, 289

Baer, Abraham Adolf 74f., 115 Barth, Georg 199 Bell, Hans 205, 218 Bethmann Hollweg, Theobald von 100, 181 Binding, Karl 125, 137, 172f. Birkmeyer, Karl von 125, 137, 139, 141, 159, 161, 165 Birnbaum, Karl 78f., 266, 268 Bleuler, Eugen 77, 150 Bloch, Iwan 56 Boeters, Gustav Emil 174f. Bonhoeffer, Karl 172 Bosse, Robert 29 Bracht, Franz 222f. Brüning, Heinrich 217, 219, 224, 227 Bumke, Erwin 181, 191, 193f., 203, 210 Bumke, Oswald 37, 153 Bumm, Franz 166 Buri, Maximilian von 137, 140

Feldmann, Hermann 112–114 Fetscher, Rainer 207, 213, 231f., 275 Finkelnburg, Karl-Maria 113 Fischer, Hermann 217 Forel, August 37, 124, 150 Frank, Hans 214, 276 Freisler, Roland 276 Frick, Wilhelm 199, 206, 280f.

Conti, Leonardo 222 Dahm, Georg 276f. Degen, Richard 234, 236, 239–243, 249, 252, 261f., 265 Dohna, Alexander Graf zu 136 Dürr, Alfred 280

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Gaupp, Robert 44f., 77, 173 Gerngroß, Friedrich Ludwig 157f. Gleispach, Wenzel Graf 276f. Griesinger, Wilhelm 32 Groß, Hans 80, 154f. Grotjahn, Alfred 174, 209, 220 Gruber, Max von 250, 252, 259 Grünhut, Max 277 Gruhle, Hans 27, 267–269 Grunau, Hermann 89 Gürtner, Franz 227, 231, 233, 267, 276, 278–284, 295 Gütt, Arthur 280 Hanemann, Alfred 216 Harden, Maximilian 57, 81 Heindl, Robert 178f. Hentig, Hans von 156f., 248 Hergt, Oskar 196, 198 Hindenburg, Paul von 227

Hippel, Robert von 136, 167, 191 Hirschfeld, Magnus 58 Hirtsiefer, Heinrich 222 Hitler, Adolf 188, 214, 217, 223, 276, 279, 282, 296 Hoche, Alfred E. 172f. Hoegner, Wilhelm 213 Ihering, Rudolf von 115, 129f., 133 Joel, Curt 181, 189, 225–227 Jolly, Friedrich 142 Jonge, Morris de 114f. Kadecka, Ferdinand 183, 191 Kahl, Wilhelm 147f., 160, 165, 167, 183, 196f., 199, 216, 220, 225–227 Kahr, Gustav Ritter von 233 Kantorowicz, Hermann 277 Kerrl, Hanns 276 Koch, Julius Ludwig August 70, 76 Koch-Weser, Erich 208 Koenen, Wilhelm 201f. Kohlrausch, Eduard 136, 221, 277 Kraepelin, Emil 11, 32, 36, 41, 52, 69, 75, 79, 126–129, 133f., 150, 168, 174, 195, 267f., 291, 293f., 297, 299 Krafft-Ebing, Richard von 49, 51, 53–55, 61 Kretschmer, Ernst 244–246, 267 Kunert, Marie 213f. Kurella, Hans 76 Landsberg, Otto 200f., 204 Lange, Johannes 221, 267f. Lenz, Adolf 269f. Lenz, Fritz 173f., 242, 250, 267 Leppmann, Arthur 148 Liepmann, Moritz 136, 182f., 265, 269 Lilienthal, Karl von 165 Liszt, Franz von 125, 129–147, 154, 157, 160, 165, 182f., 237, 266, 285, 292– 294, 300 Lobe, Adolf 207, 212 Löwenthal, Fritz 218 Lombroso, Cesare 62f., 68f., 73, 296

Lucas, Hermann 161 Luxenburger, Hans 268 Maier, Hans W. 153 Merkel, Adolf 129, 137 Mezger, Edmund 37, 42, 269f., 275–278, 281 Möbius, Paul Julius 63 Möhl, Arnold Ritter von 233 Moeli, Carl 74 Moses, Julius 203, 208–210, 213 Muckermann, Hermann 174, 221 Näcke, Paul 58, 145, 151–153, 155, 297 Nagler, Johannes 277 Neureiter, Ferdinand von 246 Nieberding, Arnold 161 Oetker, Friedrich 190 Papen, Franz von 223, 227 Pfülf, Toni 203 Ploetz, Alfred 151 Radbruch, Gustav 136, 180, 183, 186, 190f., 194, 200, 277 Rädel, Siegfried 204 Roth, Christian 233 Rüdin, Ernst 174, 242, 250, 267f., 297 Schäfer, Leopold 181, 214f., 217 Schallmayer, Wilhelm 151 Schlegelberger, Franz 276 Schleicher, Kurt von 222f. Schmidt, Eberhard 18, 136, 185, 194, 230 Schneider, Kurt 71f., 247, 267f. Schopohl, Heinrich 221f. Sieverts, Rudolf 265 Sommer, Robert 78, 146, 153f. Sommer, Wilhelm 74 Stoecker, Adolf 115–118 Straßmann, Fritz 39 Stumpfl, Friedrich 268, 270 Thierack, Georg 281, 284 Trunk, Hans 262f., 264

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Viernstein, Theodor 207, 241–246, 249– 253, 259, 262–269, 274, 297 Wagner, Ernst 44f. Weber, Helene 210f., 215, 218 Weber, Max 11f., 21, 34, 289

Wegmann, August 205, 216, 225 Wilhelm II. 57, 166f. Wulffen, Erich 81 Wunderlich, Johannes 205, 207 Zapf, Albert 207

2. Sachregister Alkoholismus 49–53, 80 Anstaltsstaat 12f., 298f. Armenfürsorge 87f., 92–94, 99f., 110f., 114 Bewahrungsgesetz 203, 210 Bewahrungshaus 102–106 Epilepsie 48 Erbgesundheitsgesetz 223, 279 Eugenik/Rassenhygiene 150–158, 171– 175, 206–223, 231, 242, 250, 265, 267, 274, 279–282, 287, 296 Euthanasie 172f., 217, 284f. Frauenkriminalität 42f., 58–64 Gemeingefährlichkeit 82–86, 93, 95, 141–149, 298 Gewohnheitsverbrecher 65, 67, 127f., 131–134, 146, 149, 160, 162f., 165, 168, 175–179, 184, 198–205, 212, 232, 237, 251, 259, 278–289, 293, 300 Gewohnheitsverbrechergesetz 277–289, 295f. Homosexualität 53–58 Hysterie 59–61 Internationale Kriminalistische Vereinigung 136, 142, 146f., 149, 182

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Irrenrechtsreform 111–124, 142, 144f., 162 Kastration 152, 155, 278–282, 285, 296 Kriminalanthropologie 68, 78, 153, 266 Kriminalbiologie 207, 231–233, 241– 271, 274, 283, 288, 297f., 300 Kriminalbiologische Gesellschaft 269 Kriminalpolizei 14f., 178f., 283f. Kriminalstatistik 159f., 175–178, 288 Kriminologie 15–17, 35, 43–81, 131, 153, 231, 266–271, 275f., 285, 288f., 301 Maßregeln der Sicherung und Besserung 140f., 147, 149, 158f., 162, 168f., 180, 184f., 187, 192, 194, 197–205, 207, 212, 216, 219, 278–282, 295 Medikalisierung 12, 20, 55, 126, 134f., 168, 291–294 Minderwertigkeit 70, 75f., 78, 179 Modernisierung 11–14, 235, 273, 293, 302 Paranoia 44–46 Psychiatrie – Anstaltspsychiatrie 28, 30, 33, 82–124, 172f., 193 – gerichtliche Psychiatrie 24–81, 139, 141 – kriminalpolitische Forderungen 126– 158

– Militärpsychiatrie 171–175, 297 – Professionalisierung 20, 31–34, 291– 294 – Psychiatriekritik 111–124 – psychiatrische Wissenschaft 32f., 75– 81, 246f., 266f. Psychopathie 64f., 70–72, 76, 172, 179 Rassismus/Rassenpolitik 13f., 173f., 209f., 217, 242, 250, 276, 278–280, 284f., 296–298 Rechtsprechung 35–43, 177f., 282–288 Rechtsstaatlichkeit 116f., 130, 137–140, 169, 179, 198–205, 210, 270, 294f. Republikschutz 188, 192 Schulenstreit 125–159, 162, 167, 183, 270f., 292 Schutzstrafe/Sicherungsstrafe 126–143, 159, 185 Schwachsinn 46f. Sicherungsverwahrung 162, 165, 168, 184f., 194, 198–205, 207, 258, 270, 278, 280–288, 293, 295f., 300f. Sterilisation 150–158, 171–175, 206– 223, 232, 279f. Strafgesetzentwürfe – Vorentwurf 1909 161–166

– Gegenentwurf 1911 165 – Entwurf 1913 166–169 – Entwurf 1919 182f. – Entwurf 1922 (Radbruch) 183–189 – Entwurf 1925 190–194 – Entwurf 1927 194–197, 276, 282, 286 – Entwurf 1930 (Kahl) 197, 216, 225 – Entwurf 1936 277 Strafrechtsreform 18, 123, 125f., 140f., 149, 158–169, 180–227, 276f., 279, 292f., 299 Strafrechtswissenschaft 125–169, 182, 190f., 270f., 276f., 281f., 288f., 292 Strafvollzug 15, 83–86, 96, 102, 106–111, 228–265, 274, 297f., 300 Todesstrafe 132, 134, 184, 187–190, 196, 224, 226, 284 Unzurechnungsfähigkeit 24–26, 35–43, 82, 94, 141, 163, 165f., 172, 198, 299 verminderte Zurechnungsfähigkeit 141– 149, 163f., 166, 198, 203, 258, 278, 292f. Wissenschaftsgläubigkeit 81, 157, 209, 215, 299–301

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