Abweichung und Normalität: Psychiatrie in Deutschland vom Kaiserreich bis zur Deutschen Einheit [1. Aufl.] 9783839421406

Die Entwicklung der Psychiatrie im Deutschland des 20. Jahrhunderts war von Radikalität, Stagnation und Reformwillen gle

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German Pages 410 Year 2014

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Inhalt
Abweichung und Normalität als Problem der Psychiatrie im 20. Jahrhundert
Zwischen Kur und »Irrenanstalt«. Die »Volksnervenheilstättenbewegung« und die Legitimation eines staatlichen Sanatoriumsbetriebs am Beispiel der »Rasemühle« bei Göttingen
Psychotherapie jenseits des Heroismus? Der Dissens zwischen theoretischem Diskurs und klinischer Umsetzung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
»Mein jahrelanger Kampf gegen den Psychiater Größenwahn«. »Irrenbroschüren« als Form einer Psychiatriekritik um 1900
Nervenschwäche, Neurasthenie und »sexuelle Frage« im deutschen Kaiserreich
Die Etablierung der psychiatrischen Genetik, ca. 1900-1960. Wechselbeziehungen zwischen Psychiatrie, Eugenik und Humangenetik
Psychiatrie und Politik. Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Nationalsozialismus
Ein Blick von innen. Anstaltsgeschichtliche Aspekte in Krankenakten von Opfern der »Aktion T4«
Malereien im Verwahrhaus. Das Werk Julius Klingebiels (1904-1965)
»Die Erbschaft, die ich antrat, war sehr unerfreulich.« Hadamar nach dem Krankenmord
Wahr-Nehmungen. Öffentliche Deutungskultur und die Aufarbeitung der NS-»Euthanasie« in den Familien der Opfer
»Gesellschaftsunwürdige Volksgenossen«. Psychiatrisierung von Tuberkulosekranken im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit
Gewalt und Trauma. Zur Verwandlung psychiatrischen Wissens in Ost- und Westdeutschland seit dem Zweiten Weltkrieg
Psychotherapie als Reformbewegung im Nachkriegsdeutschland
Von der Normalität des Unglücklichseins. Überlegungen zum Phänomen Psychotherapie als Teil des Alltagslebens ab den 1960er Jahren
Weltpsychiatrischer Universalismus versus kulturdistinkte Psychiatrie. Ethnopsychiatrische Diskurse in den 1970er und 1980er Jahren
Die Transformation der Psychiatrie in Ostdeutschland nach 1989 aus der Perspektive des Klinikpersonals. Eine Rekonstruktion von Deutungsmustern im Umbruch
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Abweichung und Normalität: Psychiatrie in Deutschland vom Kaiserreich bis zur Deutschen Einheit [1. Aufl.]
 9783839421406

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Christine Wolters, Christof Beyer, Brigitte Lohff (Hg.) Abweichung und Normalität

Christine Wolters, Christof Beyer, Brigitte Lohff (Hg.)

Abweichung und Normalität Psychiatrie in Deutschland vom Kaiserreich bis zur Deutschen Einheit

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Daniela Draschner Lektorat & Satz: Christof Beyer, Christine Wolters, Andreas Siegwarth Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2140-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Abweichung und Normalität als Problem der Psychiatrie im 20. Jahrhundert

Christine Wolters, Christof Beyer, Brigitte Lohff | 9 Zwischen Kur und »Irrenanstalt« Die »Volksnervenheilstättenbewegung« und die Legitimation eines staatlichen Sanatoriumsbetriebs am Beispiel der »Rasemühle« bei Göttingen

Heiner Fangerau | 25 Psychotherapie jenseits des Heroismus? Der Dissens zwischen theoretischem Diskurs und klinischer Umsetzung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Brigitte Lohff, Claudia Kintrup | 43 »Mein jahrelanger Kampf gegen den Psychiater Größenwahn« »Irrenbroschüren« als Form einer Psychiatriekritik um 1900

Rebecca Schwoch | 71 Nervenschwäche, Neurasthenie und »sexuelle Frage« im deutschen Kaiserreich

Doris Kaufmann | 97 Die Etablierung der psychiatrischen Genetik, ca. 1900-1960 Wechselbeziehungen zwischen Psychiatrie, Eugenik und Humangenetik

Volker Roelcke | 111 Psychiatrie und Politik Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Nationalsozialismus

Hans-Walter Schmuhl | 137

Ein Blick von innen Anstaltsgeschichtliche Aspekte in Krankenakten von Opfern der »Aktion T4«

Maike Rotzoll | 159 Malereien im Verwahrhaus Das Werk Julius Klingebiels (1904-1965)

Thomas Röske | 187 »Die Erbschaft, die ich antrat, war sehr unerfreulich.« Hadamar nach dem Krankenmord

Georg Lilienthal | 199 Wahr-Nehmungen Öffentliche Deutungskultur und die Aufarbeitung der NS-»Euthanasie« in den Familien der Opfer

Alfred Fleßner | 219 »Gesellschaftsunwürdige Volksgenossen« Psychiatrisierung von Tuberkulosekranken im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit

Christine Wolters | 243 Gewalt und Trauma Zur Verwandlung psychiatrischen Wissens in Ost- und Westdeutschland seit dem Zweiten Weltkrieg

Svenja Goltermann | 279 Psychotherapie als Reformbewegung im Nachkriegsdeutschland

Sigrid Stöckel | 309 Von der Normalität des Unglücklichseins Überlegungen zum Phänomen Psychotherapie als Teil des Alltagslebens ab den 1960er Jahren

Brigitte Lohff | 325 Weltpsychiatrischer Universalismus versus kulturdistinkte Psychiatrie Ethnopsychiatrische Diskurse in den 1970er und 1980er Jahren

Wielant Machleidt | 357

Die Transformation der Psychiatrie in Ostdeutschland nach 1989 aus der Perspektive des Klinikpersonals Eine Rekonstruktion von Deutungsmustern im Umbruch

Kathrin Franke | 385 Autorinnen und Autoren | 403

Abweichung und Normalität als Problem der Psychiatrie im 20. Jahrhundert C HRISTINE W OLTERS , C HRISTOF B EYER , B RIGITTE L OHFF

Veränderte Persönlichkeitszustände sind seit über zweihundert Jahren Gegenstand der »Psychiaterie«1. Seitdem sind ihre Wahrnehmung und Behandlung in den Fokus einer wissenschaftlichen und »modernen« Auffassung von Medizin gerückt. Theorie und Praxis der Psychiatrie sind dabei nicht nur an das ärztliche Verständnis, was wissenschaftlich sei, sondern auch an implizite oder explizite gesellschaftliche Werthaltungen gebunden. Diese gesellschaftliche Durchdringung medizinischen Handelns ist kein Spezifikum der Psychiatrie, wird aber an ihr besonders deutlich í denn die Rationalisierung seelisch abweichenden Verhaltens ist auch ein Selbstverständigungsprozess einer Gesellschaft darüber, was vernünftiges Denken und Handeln sei.2

1

So die ursprüngliche Begriffsprägung durch Johann Christian Reil in seinem Aufsatz »Ueber den Begriff der Medicin und ihre Verzweigungen, besonders in Beziehung auf die Berichtigung der Topik der Psychiaterie« von 1808. Zur Person Reils und seiner Wortschöpfung vgl. Marneros, Andreas/Pillmann, Frank: Das Wort Psychiatrie … wurde in Halle geboren. Von den Anfängen der deutschen Psychiatrie, Stuttgart/New York: Schattauer 2005.

2

Vgl. Tanner, Jakob: »Ordnungsstörungen: Konjunkturen und Zäsuren in der Geschichte der Psychiatrie«, in: Marietta Meier et al., Zwang zur Ordnung. Psychiatrie im Kanton Zürich, 1870-1970, Zürich: Chronos 2007, S. 271-306, hier S. 277. Zum Zusammenhang von Entstehung der Psychiatrie und bürgerlicher Subjektivität vgl. Kaufmann, Doris: Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die »Erfindung« der Psychiatrie in Deutschland, 1770-1850, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995.

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In diesem Prozess kommen die unterschiedlichen Bedeutungen der Begriffe Norm und »Normalität« zum Tragen.3 Beschreibt die Norm eine präskriptive Setzung, die u.a. an gesellschaftliche Erwartungen an soziales Verhalten sowie deren juristische Kontrolle gekoppelt ist, stellt »Normalität« zunächst originär eine deskriptive Feststellung der Regelhaftigkeit eines vorgefundenen Sachverhalts dar. Die statistische Feststellung von »Normalität« hat dabei ihre Wurzeln in der Soziologie, nicht in der Medizin. Die Gewinnung medizinischer »Normalwerte« unter Laborbedingungen folgte u.a. noch mit Claude Bernard einem idealtypischen Modell von »Normalität«4. Der mit der Aufklärung geschaffene Idealtypus von verstandesgemäßem Handeln konstituierte das Feld der seelischen Abweichung nicht neu, sondern anders: als Problem der Wissenschaft, als Objekt der Verwaltung und als Ziel der Heilung. Die historische Wandlung dieses Umgangs mit dem existenziellen Phänomen geistigen Leidens als Gegenstand der Psychiatrie musste auch das Verständnis der Begriffe Abweichung und »Normalität« verändern, die ihrerseits nur historisch zu begreifen sind. Was bedeuten nun Abweichung und »Normalität« in der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts? Auf der formalen Ebene der Diagnostik erscheint diese Frage zunächst relativ klar: Mit der von Emil Kraepelin geleisteten Entwicklung einer psychiatrischen Krankheitsklassifikation – Grundlage heutiger Systematiken – lagen um 1900 wesentliche Kategorien vor, um seelisches Leiden nach medizinischen Ansprüchen zu »sortieren«.5 Die klinische Beobachtung von

3

Zum philosophiegeschichtlichen Hintergrund des Begriffes Normalität und insbesondere auch zum »Ineins des deskriptiven und normativen Elements des ›Normalen‹« als »durch die Geschichte bleibendes Charakteristikum dieses Begriffs« vgl. Kudlien, Fridolf/Ritter, Hans Henning: »Normal, Normalität«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel/Stuttgart: Schwabe 1984, S. 919-925.

4

Vgl. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 42009, S. 112-113.

5

Zum Überblick über Leben und Werk Kraepelins vgl. Schott, Heinz/Tölle, Rainer: Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen, München: C.H. Beck 2006, S. 118-124, zur Bedeutung seiner Krankheitsklassifikation für die Konsolidierung des Faches Psychiatrie vgl. Roelcke, Volker: »Unterwegs zur Psychiatrie als Wissenschaft: Das Projekt einer ›Irrenstatistik‹ und Emil Kraepelins Neuformulierung der psychiatrischen Klassifikation, in: Eric J. Engstrom/Volker Roelcke (Hg.), Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur Geschichte von psychiatrischen Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum, Basel: Schwabe 2003, S. 169-188, insbesondere S. 177-188.

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Krankheitsverläufen, die dieser Einteilung zugrunde lag, resultierte dabei aus einer bereits bestehenden Praxis, die im Wesentlichen eine soziale war: Die dauerhafte Unterbringung von Patienten in Heil- und Pflegeanstalten und die Auswirkungen des dortigen Milieus führten Kraepelin u.a. zur Überzeugung, dass die Dementia Praecox einen »gesetzmäßig versandenden Verlauf« haben müsse6. Diese Annahme wurde bald durch das psychodynamische Schizophreniekonzept Eugen Bleulers differenziert. Dabei entwickelte Bleuler einen mehr sozialen als medizinischen Krankheitsbegriff, was allerdings nicht seine Befürwortung der negativen Eugenik ausschloss – so war er gleichzeitig biologisch und psychologisch orientiert.7 In diesen Beispielen zeigt sich das Wesen der Psychiatrie als soziale und medizinische Praxis8, und seit ihrer Etablierung »pendelt« sie in ihrer Krankheitsdeutung zwischen diesen beiden Aspekten – bis heute.9 Über den Begriff »Normalität«, die in diesem Kontext mit geistiger Gesundheit gleichgesetzt wurde, ist damit allerdings noch wenig gesagt. Geht man mit Georges Canguilhem davon aus, dass die Grenze zwischen Normalem und

6

Trenckmann, Ulrich: Mit Leib und Seele. Ein Wegweiser durch die Konzepte der Psychiatrie, Bonn: Psychiatrie-Verlag 1988, S. 44-45.

7

Tölle, Rainer: »Eugen Bleuler (1857-1939) und die deutsche Psychiatrie«, in: Nervenarzt 79 (2008), S. 90-98, hier S. 96. Gleichzeitig kritisierte Bleuler den unscharfen Begriff der Krankheit 1919: »Krank und Gesund sind etwa Begriffe wie Warm und Kalt. Was würde der Physiker sagen, wenn wir ihm zumuten würden, mit diesen zu operieren?«, Bleuler, Eugen: Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung (Nachdruck der 5. Auflage von 1919), Berlin/Göttingen/ Heidelberg: Springer 1963, S. 57-58.

8

Fangerau, Heiner: »Psychische Erkrankungen und geistige Behinderung«, in: Stefan Schulz et al. (Hg.), Geschichte, Theorie und Ethik in der Medizin. Eine Einführung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 386-398, hier S. 386.

9

Der Begriff des »Pendelns« ist entlehnt: Finzen, Asmus: Das Pinelsche Pendel. Die Dimension des Sozialen im Zeitalter der biologischen Psychiatrie, Bonn: Edition Das Narrenschiff 1998. Aktuell wird davon ausgegangen, dass psychischen Erkrankungen ein »komplexes multikausales Geschehen aus genetisch-biologischen und psychosozialen Faktoren« zugrunde liegt. Vgl. Schneider, Frank (Hg.): Facharztwissen Psychiatrie und Psychotherapie, Berlin/Heidelberg: Springer 2012, S. 6-8. In der derzeitigen Forschungsförderung überwiegen neurologische und neurowissenschaftliche Themen leicht. Vgl. Ders./Falkai, Peter/Maier, Wolfgang (unter Mitarbeit von Juliane Amlacher): Psychiatrie 2020. Perspektiven, Chancen und Herausforderungen, Berlin/ Heidelberg: Springer 2011, S. 12-14 und S. 22-23.

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Pathologischem verwische, da »das Normale nicht die Starre eines kollektiven Zwanges, sondern die Elastizität einer Norm besitzt, die sich dem individuellen Bedingungen entsprechend« verändere10, so können »Normalität« und Abweichung nur individuell bestimmt werden. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, dass Leiden an seelischen Zuständen individuelle Realität besitzt und gegebenenfalls zur Inanspruchnahme psychiatrischer Versorgung führt. Dieses Leiden ist allerdings ebenso wenig mit Abweichung wie mit Krankheit gleichzusetzen. Mit Blick in psychiatrische Patientenakten zeigt sich, dass diese verschiedenen Aspekte meist ineinanderlaufen, wie ein Beispiel eines Aufnahmeszenarios einer 23-jährigen Arbeiterin in die Nervenklinik Langenhagen bei Hannover 1939 verdeutlicht: »Heute früh fiel auf, dass sie aufgeregt war, Angstzustände hatte und mit ihrer Arbeit nicht fertig wurde. Sie machte auf der Sanitätsstation, wohin man sie gebracht hatte, einen Selbstmordversuch, indem sie sich mit einem Handtuch würgte. […] Eigene Angaben der Patientin: Sie sei so aufgeregt gewesen, weil sie mit ihrer Arbeit nicht so schnell fertig geworden war. Bei der Arbeit in der Fabrik arbeite sie mit vielen zusammen an einem Tisch. Die anderen machten immer Spass, und da sie immer sehr still wäre und sich für sich alleine hielte, hätten es die anderen auf sie abgesehen. Weil sie so aufgeregt gearbeitet habe, sei der Werkmeister gekommen und habe ihre Arbeit beobachtet. Da sei sie noch viel aufgeregter geworden.«11

In dieser Passage finden sich Hinweise individuelle »Normalität« (stille Person), individuelles Leiden (Aufregung, Angst vor Arbeitskollegen) und soziale Faktoren von Abweichung und Auffälligkeit (verringerte Arbeitsleistung, Beobachtung durch Arbeitskollegen und Vorgesetzte), die in das Ereignis münden, das zum Entstehen der psychiatrischen Krankenakte führt. Erst an dieser Stelle wird eine medizinische Definition der Abweichung produziert. Die Arbeiterin, nun Patientin, erhält die Diagnose »reaktive Depression bei konstitutioneller Neurasthenie«12.

10 Canguilhem, Georges: »Krankheit, Genesung, Gesundheit«, in: Karl Eduard Rothschuh (Hg.): Was ist Krankheit? Erscheinung, Erklärung, Sinngebung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975, S. 154-174, hier S. 170. 11 Stadtarchiv Hannover, Best. Nervenklinik Langenhagen, Nr. 20093 (Hervorh. i. Orig.). 12 Ebd.

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Medizinhistoriker13 sind nun oft mit jenen Spuren befasst, die erst nach der Übertretung jener Grenze entstehen, die psychiatrische Kliniken und Anstalten rein materiell darstellen.14 An diesen Stellen wird seelische Abweichung »offiziell«: Was im Vorfeld einer Einweisung in die Klinik oder des Aufsuchens psychiatrischer Hilfe im fließenden Übergangsbereich noch tragbaren Verhaltens – für eine Person selbst, ihre Familie, ihren Arbeitsplatz – stattfindet, wird nun manifestes Ziel psychiatrischer Diagnostik. Anamnese, Kostenübernahmefragen, juristische Formalitäten einer Einweisung, Krankengeschichte und Egodokumente von Patienten und Angehörigen werden papierne Zeugen des Übergangs in das Feld psychiatrischen Handelns. Hier findet eine Objektivierung seelischer Abweichung statt, um Maßnahmen zur »Besserung«, »Heilung« oder – bei Zwangseinweisungen – »Sicherung«15 ergreifen zu können. Die an diese Begriffe gekoppelte zumindest teilweise Wiederherstellung eines psychischen »Normalzustands« ist notwendigerweise mit Interpretationsspielräumen und Wertungen verbunden, die eine Einschätzung der »Sozialität« von Menschen mit psychischen Abweichungen und damit auch der »akzeptierten Formen menschlichen Zusammenlebens«16 beinhalten.

13 Mit der Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint. 14 Zu psychiatrischen Einrichtungen als Materialisierung des »gesellschaftlichen Ortes« der Psychiatrie, der die »Irren« als »soziale Kategorie« erst herstellt, sowie zu ihren Besonderheiten der »Schwelle zur Anstalt« als »Verbindung zwischen Medizinischem und Nicht-Medizinischem« vgl. insbesondere Brink, Cornelia: Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1880-1980, Göttingen: Wallstein 2010, S. 12-13 und S. 20-26. 15 Vgl. zur Geschichte der Auseinandersetzung um »Rechtsbrecher« in der Psychiatrie u.a. Müller, Christian: Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform in Deutschland 1871-1933, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004; Brink, Cornelia: »Zwangseinweisungen in die Psychiatrie«, in: Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945 bis 1980, Göttingen: Wallstein 2002, S. 467-507. Zum Faktor der »Krankheitseinsicht«, der auf die »Autonomie als Grundproblem« in der Psychiatrie verweist H. Fangerau: Psychische Erkrankungen, S. 387-391. Vgl. dazu auch Maio, Giovanni: »Ethische Reflexionen zum Zwang in der Psychiatrie«, in: Wulf Rössler/Paul Hoff (Hg.), Psychiatrie zwischen Autonomie und Zwang, Heidelberg: Springer 2005, S. 145-164. 16 J. Tanner: Ordnungsstörungen, S. 277.

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Die jeweils historisch gültige Norm des wissenschaftlichen Kenntnisstandes ist dabei nicht mit jener »Normalität« gleichzusetzen, welche die Praxis in psychiatrischen Institutionen unterschiedlichen Zuschnitts bestimmte. Die verschiedenen Konjunkturen dessen, was im Verlauf des 20. Jahrhunderts die theoretischen Grundlagen der Psychiatrie ausmachen sollte, bildeten das Erkenntnisraster, nach dem Psychiater ihre Klassifikation und Einschätzung seelischer Erkrankungen vornahmen.17 Die daraus abgeleiteten Handlungs- und Behandlungsmuster sind ebenso den institutionellen Rahmenbedingungen geschuldet wie der nicht-medizinische Umgang mit seelischen Erkrankungen vom häuslichen und sozialen Umfeld18 abhängt. Die »medizinische Begegnung« zwischen Patient und Arzt19 bedeutet so auch die Kollision oder Verbindung mehrerer Perspektiven, die ihrerseits in einen umfassenderen Kontext eingebunden sind. Ob und wie psychische Störungen behandelt werden, hängt so »mit gesellschaftlichen Toleranzschwellen ebenso zusammen wie mit persönlichen Spielräumen, emotionalen Dispositionen, dem dominierenden Verständnis von ›Krankheit‹ und ›Heilung‹ und der Professionalisierungsstrategie von Expertenkohorten.«20 Das Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin der Medizinischen Hochschule Hannover veranstaltete im Jahr 2011 eine Ringvorlesung mit dem Thema »Psychiatrie im 20. Jahrhundert. Kontinuitäten und Brüche«, welche die Entwicklungsverläufe der verschiedenen Ausdeutungen von Abweichung und »Normalität« zum Gegenstand hatte, wie sie sich aus der Entwicklung der psychiatrischen Profession, öffentlichen Debatten, institutionellen Dynamiken und nicht zuletzt aus der Perspektive der Patienten und ihrer Angehörigen dar-

17 Zur historischen Entwicklung der Erklärungsmodelle psychischen Krankseins vgl. u.a. U. Trenckmann: Seele. 18 So reduziert sich die Feststellung von »Normalität« und Abweichung nicht auf die Konfrontation eines Individuums mit einer Institution, die Rolle von Dritten muss hierbei Berücksichtigung finden. Vgl. dazu Brändli, Sybille/Lüthi, Barbara/Spuhler, Georg: »›Fälle‹ in der Geschichte von Medizin, Psychiatrie und Psychologie im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Dies. (Hg.), Zum Fall machen, zum Fall werden. Wissensproduktion und Patientenerfahrung in Medizin und Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Campus 2009, S. 7-29, hier S. 21-22. 19 Porter, Roy: »The Patient's view. Doing medical history from below«, in: Theory and Society 14 (1985), S. 167-174. 20 Tanner, Jakob: »Der ›fremde Blick‹: Möglichkeiten und Grenzen der historischen Beschreibung einer psychiatrischen Anstalt«, in: Rössler/Hoff, Autonomie und Zwang (2005), S. 45-66, hier S. 60.

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stellt. Ein Schwerpunkt wurde dabei auf die Entwicklung in Deutschland nach 1945 gelegt, zu der nach wie vor nur wenige Untersuchungen vorliegen.21 Der wesentliche Teil der Beiträge dieses Sammelbandes ist aus dieser Ringvorlesung hervorgegangen und zeichnet ein facettenreiches Bild der Geschichte der Psychiatrie, ihrer Institutionen und Praktiken im 20. Jahrhundert.22 Die so in diesem Sammelband verfolgte Längsschnittperspektive verdeutlicht die Wandelbarkeit der Aushandlungsprozesse, die mit der Definition von psychischer Krankheit im Kontext von Abweichung und »Normalität« verbunden sind. In diesen Verhandlungen verbinden sich die individuelle, gesellschaftliche und wissenschaftliche Akzeptanz und Ablehnung der Definition dieser Kategorien und die daraus resultierenden Handlungsimplikationen. Die diachrone Perspektive macht dabei das Gewicht psychiatrischer Definitionsmacht ebenso deutlich wie die relative Unschärfe des Interpretationsspielraums, auf dem die Kategorisierung psychischer Erkrankung fußt. Mit Blick auf die Entwicklung des Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders scheint dies am Beginn des 21. Jahrhunderts, folgt man dem Medizinhistoriker Roy Porter, nach wie vor der Fall zu sein: Im Manual fänden

21 Zur Psychiatriegeschichte in der Bundesrepublik vgl. Kersting, Franz-Werner (Hg.): Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre. Paderborn: Schöningh 2003; Ders.: »Abschied von der ›totalen Institution‹? Die westdeutsche Anstaltspsychiatrie zwischen Nationalsozialismus und den Siebzigerjahren«, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 267292; sowie u.a. Studien zu einzelnen Einrichtungen: Majerus, Benoît: »Psychiatrie im Wandel. Das Fallbeispiel Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik 1960-1980«, in: Medizinhistorisches Journal 43 (2008), S. 344-371; Beddies, Thomas/Dörries, Andrea (Hg.): Die Patienten der Wittenauer Heilstätten in Berlin 1919-1960, Husum: Matthiesen 1999; Hanrath, Sabine: Zwischen »Euthanasie« und Psychiatriereform. Anstaltspsychiatrie in Westfalen und Brandenburg (1945-1962), Paderborn: Schöningh 2002; Engelbracht, Gerda: Von der Nervenklinik zum Zentralkrankenhaus Bremen-Ost. Bremer Psychiatriegeschichte 1945-1977, Bremen: Edition Temmen 2004; Kersting, FranzWerner: »Die Landesheilanstalt Hadamar in den ersten Nachkriegsjahren«, in: Uta George et al. (Hg.), Hadamar. Heilstätte ಥ Tötungsanstalt ಥ Therapiezentrum. Marburg: Jonas 2006, S. 327-343. Zur Geschichte der Psychopharmaka in der Bundesrepublik vgl. auch Balz, Viola: Zwischen Wirkung und Erfahrung – Eine Geschichte der Psychopharmaka. Neuroleptika in der Bundesrepublik Deutschland 1950-1980, Bielefeld: transcript 2010. 22 Die Herausgeber danken Andreas Siegwarth für seine wertvolle Mitarbeit an der Erstellung der Druckvorlage.

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sich »unterschiedliche, oft inkompatible oder sich überschneidende Terminologien, die von Ausgabe zu Ausgabe kommen und gehen.«23 Dafür hat sich der Umfang des Manuals von der ersten Ausgabe 1952 bis zum Jahr 2000 fast verzehnfacht. Dies ist auch ein Indiz dafür, dass im Wechselspiel zwischen Psychiatrie, Gesellschaft und Individuum im Lauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Grenzen zwischen »Normalität« und Abweichung flexibler und durchlässiger geworden sind: Die »stete[] Ausbreitung der Psychiatrie« führt einerseits zu immer feineren und neuen Bestimmungen seelischer Abweichungen, andererseits resultiert daraus auch eine höhere Wahrscheinlichkeit des individuellen Risikos, irgendwann im Leben eine psychiatrische Diagnose zu erhalten – was spezifische Erkrankungen zumindest statistisch im Bereich des »Normalen« ansiedelt24. Damit ist das Problem der gesellschaftlichen und sozialen Stigmatisierung seelischen Leidens nach wie vor nicht behoben. Georges Canguilhems Feststellung, das »Normale« sei »kein statischer und friedlicher Begriff, sondern ein dynamischer und polemischer«25, ist so auf die verschiedenen Faktoren des medizinischen und gesellschaftlichen Umgangs mit seelischer Abweichung übertragbar.

D IE B EITRÄGE Der Band eröffnet mit einem Beitrag von Heiner Fangerau zur »Volksnervenheilstättenbewegung«, deren Ziel die Schaffung von aus öffentlichen Geldern getragenen Sanatorien war. »Nervenschwäche« und nervliche Überreizung, deren inflationäre Thematisierung um 1900 ebenso der fortschreitenden Industrialisierung wie auch einem gesellschaftlichen Gefühl des Fin de siècle geschuldet

23 Porter, Roy: Wahnsinn. Eine kleine Kulturgeschichte, Zürich: Dörlemann 2005 (engl. Orig. 2002), S. 205. 24 Ebd.: S. 206 und 209. Zur »Flexibilisierung« des Normalen vgl. auch J. Link: Normalismus, S. 53-59 und – mit konkreten Bezug auf Psychiatrie und Psychotherapie – S. 71 und S. 389-407. Nach jüngeren Untersuchungen erkranken etwa 43 Prozent der Bundesbürger im Laufe ihres Lebens psychisch, wobei Depressionen, Angststörungen und somatoforme Störungen die häufigsten Diagnosen sind, vgl. Jacobi, F. et al.: »Prevalence, co-morbidity and correllates of mental disorders in the general population: results from the German Health Interview and Examination survey (GHS)«, in: Psychological Medicine 4 (2004), S. 597-611. 25 Canguilhem, Georges: Das Normale und das Pathologische, München: Hanser 1974, S. 163.

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waren26, erschienen zwar vorrangig als ein Problem der gebildeten und auch wohlhabenden Schichten. Die grundsätzliche Frage, wie mit Grenzphänomenen seelischer Abweichung in der Grauzone zwischen Gesundheit und manifester psychischer Erkrankung umgegangen werden sollte, warf allerdings auch das Problem therapeutischer Angebote für weniger finanzkräftige Menschen auf. Neurasthenie als »Volkskrankheit« schien die Schaffung von Einrichtungen notwendig werden lassen, deren Gestalt den Sanatorien für Privatpatienten ähneln sollte, allerdings auch von nervlich erschöpften Arbeitern und einfachen Angestellten in Anspruch genommen werden konnten. Das 1903 eröffnete »Provinzial-Sanatorium Rasemühle« bei Göttingen, das Fangerau in den Mittelpunkt seiner Darstellung rückt, zeigt dabei in seiner Entwicklungsgeschichte bis in die 1920er Jahre ein Reaktionsverhältnis zwischen Psychiatrie und Gesellschaft, das sich in der Interaktion zwischen Patienten und Therapeuten widerspiegelt. Hieran schließen die Ausführungen von Brigitte Lohff und Claudia Kintrup zur »Psychotherapie jenseits des Heroismus« an. Ihr Beitrag zeichnet den Fachzeitenschriftendiskurs über die Psychotherapie als relevante Behandlungsform in der Psychiatrie und insbesondere bei nervösen bzw. hysterischen Störungen nach, wie er nach dem Ersten Weltkrieg bis in die 1930er Jahre geführt wurde. Die Stellung psychotherapeutisch verstandener Behandlungsformen in den Handlungsmöglichkeiten der Ärzte wird im Fachdiskurs beleuchtet, um daran anschließend die Relevanz dieses Diskurses für die therapeutische Praxis am Beispiel von Patientenakten aus dem Sanatorium »Rasemühle« auszuloten. An dieser Stelle erscheinen Widersprüche und Brüche zwischen Theorie und Praxis, die sich im Einzelfall sowohl in einer Vielfalt nebeneinander stehender Diagnosen als auch an kontingent erscheinenden Behandlungsmethoden zeigen. Die Aushandlungsprozesse um das Vorhandensein und die Schwere seelischer Abweichung werden im Beitrag von Rebecca Schwoch zur öffentlichen Psychiatriekritik um 1900 aus der Perspektive der »unfreiwilligen« Patienten betrachtet. Die besondere Quellengattung der »Irrenbroschüren«, in denen vermeintlich ungerechtfertigt internierte Personen öffentlich die Psychiater anklagten, bietet die Basis für die Untersuchung jener Argumentationsstrategien, mit denen die Autoren der Broschüren den vehementen Versuch unternahmen, ihre seelische Integrität öffentlich zu behaupten. In Verteidigung ihrer »Normalität« argumentierten sie auf der Grundlage der »Flexibilisierung der Übergänge zwischen krank und gesund, normal und anormal«27, die ebenso an

26 Vgl. Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998. 27 C. Brink: Grenzen, S. 185.

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die Konsolidierung und Ausweitung psychiatrischer Definitionsmacht gekoppelt war, wie sie auch individuelle »Denormalisierungsangst«28 hervorrief. Unter dem besonderen Aspekt der »sexuellen Frage« im Kaiserreich werden im Beitrag von Doris Kaufmann die damaligen Debatten um das Phänomen Neurasthenie und ihr Bezug zu den Indikatoren »normalen« Verhaltens beleuchtet. Auf der Grundlage des breit thematisierten Feldes der Nervenschwäche im »Grenzbereich von normalen und pathologischem Gefühlsverhalten« zur vorletzten Jahrhundertwende untersucht Kaufmann die Entstehung einer psychiatrisch dominierten Sexualwissenschaft, die Eingang in das Alltagsleben fand. Auseinandersetzungen um die psychiatrische Deutungsmacht in diesem Bereich verliefen entlang der Konfliktlinien hinsichtlich der Relevanz des Sexuellen für die seelische Gesundheit und der Bestimmung der Übergänge zwischen »normalem« und pathologischem sexuellen Verhalten. Spannungsfelder zwischen individuellem »Normalverhalten« und der Etablierung neuer bzw. veränderter Normen des Sexualverhaltens im Hinblick auf die Erhaltung geistiger Gesundheit funktionierten hierbei stets mit dem Rückgriff auf vermeintlich objektive naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Volker Roelcke untersucht in seinem Beitrag zur »Etablierung der psychiatrischen Genetik« die innerwissenschaftlichen Aushandlungsprozesse um eine naturwissenschaftliche Fundierung des psychiatrischen Krankheitsverständnisses. Mit der Rückführung seelischer Abweichung auf physische Korrelate sollte die Psychiatrie dem »naturwissenschaftlichen« Anspruch der somatischen Medizin entsprechen und gleichzeitig das Instrumentarium geschaffen werden, Abweichungen genauer fassbar und »objektivierbar« zu machen. Die Abgrenzung psychischer Krankheiten als biologische Entitäten wirkte insofern entindividualisierend, als die Entwicklung der Nosologie den sozialen Bedingungen psychisch erkrankter Menschen keinen Raum gab und somit den Patienten allein als Krankheitsträger begriff. Im selben Zuge verfolgte die genetische Auslegung seelischer Abweichung auch sozialhygienische Ziele, indem sie – mit radikalsten Konsequenzen aus der Rassenhygiene und der negativen Eugenik im Nationalsozialismus – aus der Krankheitslehre das Versprechen auf eine »leidensfreie Gesellschaft« ableitete29. Gleichzeitig zeigt das Beispiel des deutsch-jüdischen Psychiaters Franz Kallmann die internationale Etablierung der psychiatrischen Genetik, die auch nach 1945 ihre Forschung im Interesse eines »Kollektivwohls« betrieb.

28 Ebd.; vgl. dort auch S. 145-192. 29 Vgl. Dörner, Klaus: Tödliches Mitleid. Zur sozialen Frage der Unerträglichkeit des Lebens (Fortgeschriebene Neuauflage), Gütersloh: Jakob v. Hoddis 2007.

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Den damit verbundenen Anspruch der Psychiatrie als gesellschaftliche Leitwissenschaft untersucht Hans-Walter Schmuhl anhand der Gründung und Entwicklung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Nationalsozialismus. Damit wird die professionspolitische Seite thematisiert. Denn für die Fachdisziplin war es von entscheidender Bedeutung, wie sie die Norm ihres psychiatrischen Handelns definierte. Im Kontext der euphemistisch als »Euthanasie« bezeichneten Krankenmorde im Nationalsozialismus war eine Dialektik von Heilen und Vernichten entstanden.30 In der Folge bezogen im Zweiten Weltkrieg prominente Vertreter der Fachdisziplin Stellung dazu, wie auf der Grundlage von Zwangssterilisationsgesetzgebung und Krankentötungen eine zukünftige Psychiatrie aussehen sollte. Diese Frage stand auch deshalb im Raum, weil die NS»Euthanasie« und die Zwangssterilisationen die Psychiatrie in der Öffentlichkeit diskreditierten und sie aus administrativer Sicht langfristig überflüssig machte. Damit wird auch das Problem angesprochen, dass die Praxis der Ausgrenzung als potentieller Teileffekt psychiatrischen Handelns in der Gesellschaft sich nicht in der Gegenüberstellung von Gesellschaft als Ort der »Normalität« und psychiatrischen Institutionen als Orten der Abweichung erschöpft. Die von Schmuhl analysierten Zukunftsentwürfe der NS-Psychiater zeigen eindrücklich, dass im Zusammenhang mit den spezifischen Vorstellungen über ihre Zuständigkeit die Eliminierung bestimmter Krankengruppen, die innerhalb der Institutionen selbst unerwünscht waren, billigend in Kauf genommen wurde. Anschließend an diese Analyse der professionsinternen Debatte im Nationalsozialismus nimmt Maike Rotzoll einen Perspektivwechsel vor, indem sie die Geschichten von Anstaltspatienten in den Fokus rückt, die Opfer der NS-»Euthanasie« wurden. Ihr »Blick von innen« verdeutlicht die Qualität von Krankenakten als Quelle, die fragmentarisch die Identität von Patienten widerspiegeln, insbesondere wenn sie Egodokumente wie Schriftzeugnisse und Zeichnungen enthalten. »Zwischen den Aktendeckeln« erlauben verschiedene Lesarten einen Bezug zur konkreten, individuellen Person und ihrer Subjektivität, die in schriftlichen und zeichnerischen Dokumenten aufscheint – und die im fachpsychiatrischen Diskurs jener Zeit, wie ihn Schmuhl schildert, kaum eine Rolle spielten. Als besonderes Beispiel darf dabei die Geschichte von Julius Klingebiel gelten, wie sie der Beitrag von Thomas Röske beschreibt. Klingebiels Anstaltskarriere beginnt im »Dritten Reich« und reicht bis in die Bundesrepublik. Die Besonderheit seiner Spuren, die sein Verschwinden in der Menge der Göttinger

30 Vgl. dazu u.a. Aly, Götz: »Der saubere und der schmutzige Fortschritt«, in: Ders. et al., Reform und Gewissen. »Euthanasie« im Dienst des Fortschritts, Berlin: Rotbuch 1985, S. 9-78.

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Klinikpatienten verhinderten31, hängt vor allem mit den Bedingungen des dortigen forensischen »Festen Hauses« und Klingebiels langjähriger Internierung zusammen. Seine »Malereien im Verwahrhaus« repräsentieren so die subjektive Verarbeitung eines Lebens in den Grenzen eines Sonderbereiches der psychiatrischen Anstalt. Die Frage des institutionellen Umgangs mit den Psychiatrieverbrechen im Nationalsozialismus direkt nach Kriegsende beleuchtet der Beitrag von Georg Lilienthal zur »Erbschaft« der Tötungsanstalt Hadamar, wie sie von den damaligen Akteuren innerhalb der Klinik und von administrativer Seite – hier dem Bezirkskommunalverband Wiesbaden und den US-amerikanischen Alliierten – gesehen und »verwaltet« wurde. Insbesondere hinsichtlich der Lebensmittelversorgung lassen sich hier Gemeinsamkeiten und Veränderungen an der Schwelle zur Bundesrepublik der Nachkriegszeit herausstreichen, die ein spezifisches Licht auf die Rekonsolidierung der »Normalität« psychiatrischer Versorgung werfen. Daneben zeigt der Umgang mit dem in die NS-»Euthanasie« involvierten Anstaltspersonal, wie mit der Hypothek der Tötungsanstalt Hadamar verfahren wurde. Alfred Fleßner ergänzt diesen Aspekt um die Untersuchung der öffentlichen und familiären Thematisierung der Psychiatrieverbrechen in der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Wehnen bei Oldenburg. Dabei wird deutlich, dass Verarbeitungsprozesse im öffentlichen Diskurs und im Bereich der Opferangehörigen einem spezifischen Verständnis von der Psychiatrie im Nationalsozialismus als Abweichung vom »normalen« Umgang mit Patienten gehorchen. Einerseits zeigt sich der schwierige Aufarbeitungsprozess in den Familien, wie er auch an das Thema der Gedenkstättenkultur mit Bezug auf die NS-Psychiatrieverbrechen gekoppelt ist. Andererseits wird ersichtlich, dass die Reaktionen und Thematisierungen im regionalen Umfeld der Anstalt als öffentliche »Deutungskultur« ein spezifisches diskursives Verhältnis von Gesellschaft und Psychiatrieverbrechen herstellen. An die institutionellen Kontinuitäten in der Psychiatrie über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinaus schließt Christine Wolters mit ihrem Beitrag über die »Psychiatrisierung von Tuberkulosekranken« an. Das Themenfeld der zwangsasylierten Tuberkulosekranken eröffnet dabei den Bereich von Heil- und Pflegeanstalten als besonderen Ort in der Gesundheitsversorgung, der Elemente von Behandlung und Freiheitsentzug verbindet. Das Spezifische der Abwei-

31 Vgl. dazu Foucault, Michel: Das Leben der infamen Menschen, Berlin: Merve 2001 (franz. Orig. 1977), S. 15-17, wie auch die entsprechenden Ausführungen von Maike Rotzoll in diesem Band.

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chung dieser Patientengruppe ist nicht ihre somatische Erkrankung, sondern ihre Behandlungsunwilligkeit – ein Faktor, der an das diffizile Moment der »Krankheitseinsicht« in der Psychiatrie erinnert. Anders als »normale« Tuberkulosekranke stellen die »behandlungsunwilligen« eine potentielle Infektionsgefahr dar, die letztendlich auf ihre »abnorme« Persönlichkeit zurückgeführt wurde. Die Radikalisierung der Psychiatrie gegenüber diesen »gesellschaftsunwürdigen« Patienten im Nationalsozialismus setzte sich in abgewandelter Form durch die Debatte um Zwangsasylierungspraxis in der Bundesrepublik fort. Einer weiteren besonderen Zielgruppe psychiatrischen Handels und Wissens widmet sich Svenja Goltermann in ihrer Auseinandersetzung mit der medizinischen Wahrnehmung von Kriegsheimkehrern und Opfern von politischer Repression und Terror. Sie spannt dabei einem weiten Bogen, der von 1945 bis in die Gegenwart reicht und sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR miteinbezieht. Gerade dieser breite Horizont verdeutlicht die Relevanz und den Wandel der Psychiatrie als »Lieferantin von Deutungsmustern«, die sich auf die gesellschaftliche Wahrnehmung und Akzeptanz diagnostischer Kategorien wie dem Trauma beziehen. Wie die psychiatrische Praxis in Berentungsfragen bereits nach dem Ersten Weltkrieg zeigt32, steigt die Relevanz ihrer Definitionsmacht in dem Maße, in dem hieraus konkrete fiskalische Konsequenzen in Form von Entschädigungsansprüchen erwachsen. Sigrid Stöckel schließt an das Thema von Svenja Goltermann an, indem sie sich mit der »Psychotherapie als Reformbewegung im Nachkriegsdeutschland« befasst. Am Beispiel von zwei Vertretern der Psychosomatik in der Bundesrepublik ಥ Arthur Jores und Alexander Mitscherlich ಥ geht sie der Frage nach, wie diese Disziplin das Verständnis der Arzt-Patient-Beziehung nach dem Zweiten Weltkrieg neu zu formulieren suchte. Gleichzeitig macht ihr Beitrag deutlich, wie psychosomatische Ansätze einer teilweise harschen Kritik durch Psychiater ausgesetzt waren. Auch Brigitte Lohff geht auf die Psychotherapie in der Nachkriegszeit ein, indem sie sich die »Normalität des Unglücklichseins« und das »Menschenbild« dieser Disziplin in den 1960er Jahren zum Thema nimmt. Der Aufschwung psychotherapeutischer Modelle in dieser Zeit erscheint maßgeblich an Generationskonflikte gekoppelt, die sich aus einem spezifischen Klima des Schweigens über die unmittelbaren Erfahrungen des »Dritten Reiches« sowie die Beteiligung der

32 Vgl. dazu u.a. Neuner, Stephanie: Politik und Psychiatrie. Die staatliche Versorgung psychisch Kriegsbeschädigter in Deutschland 1920-1939, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, sowie auch der Beitrag von Brigitte Lohff und Claudia Kintrup in diesem Band.

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damaligen Elterngeneration an den und das Wissen um die Verbrechen des Nationalsozialismus ergaben. Der Einsatz und die Rezeption der Re-Education durch die Alliierten bildeten dabei eine Basis für die Verbreitung psychotherapeutischer Modelle. Die Herausstellung und Thematisierung der eigenen seelischen Vulnerabilität der 1968er-Generation stellte in der Folge ein Gegenmodell zur »Fassaden-Normalität«33 dar, die in den 1950er Jahren von den Nutznießern, Mitwissern und Tätern des Nationalsozialismus aufgebaut wurde. Das »Zauberwort ›Selbsterfahrung‹«, wie es Lohff beschreibt, resultierte dabei auf der einen Seite aus der historischen Erfahrung, die Abwehr der Eltern gegenüber der Reflexion ihrer Position innerhalb eines verbrecherischen politischen Systems kompensieren zu müssen, auf der anderen Seite sollte eine neue »Innerlichkeit« gegen solche antireflektorischen Impulse immunisieren. Die Auseinandersetzung mit und Infragestellung von überkommenen gesellschaftlichen Vorstellungen von »Normalität« in den 1960er Jahren bildet auch die Basis für Wielant Machleidts Beitrag zu den Diskursen der Ethnopsychiatrie in den 1970er und 1980er Jahren. Ausgehend von Emil Kraepelins Forschungen in Java 1904 werden von ihm die wesentlichen Konfliktlinien zwischen »weltpsychiatrischem Universalismus« und »kulturdistinkter Psychiatrie« nachgezeichnet, wie sie sich in ethnopsychiatrischen Theorieansätzen und auch in empirischen Forschungsprogrammen – wie der »International Pilot Study of Schizophrenia« der World Health Organisation der 1970er Jahre – niederschlugen. Wesentlicher Aspekt ist dabei die Reflexion der spezifischen »Normalität« unvertrauter Kulturzusammenhänge durch Psychiater bzw. Psychoanalytiker, und damit ebenfalls die Reflexion des eigenen therapeutischen Verständnisses von Abweichung. Machleidts Beitrag zeigt dabei, dass die historische Entwicklung der Ethnopsychiatrie nicht ohne die in den 1960er Jahren einsetzende Kritik an psychiatrischen Denk- und Versorgungsmodellen betrachtet werden kann. Mit dem abschließenden Beitrag von Kathrin Franke wird der Bogen vom Wandel psychiatrischen Handelns mit dem Blick auf zweierlei »Normalität« in der Bundesrepublik und der DDR geschlossen. Hier wird die Wahrnehmung der Psychiatrie durch Pflegende und Psychiater selbst in den Mittelpunkt gerückt, wie sie nach der »Wende« miteinander kollidierten. Die Psychiatriereform auf dem Gebiet der ehemaligen DDR nach 1990 wird dabei auf ihre Auswirkungen auf die »Träger und Gestalter institutioneller Narrative« befragt, also auf die pflegerischen und psychiatrischen Mitarbeiter, die mit jeweils verschiedenen Sichtweisen eines »Normalbetriebs« psychiatrischer Institutionen in Ost und West konfrontiert wurden. Die Befragung von involvierten Pflegern und

33 Zu diesem Begriff vgl. J. Link: Normalismus, S. 55.

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Psychiatern zu dieser Umbruchphase macht deutlich, dass auf Seiten der DDRPsychiatrie ein »Opfernarrativ« im Vordergrund steht, das die Kehrseite eines ungebrochenen Fortschrittsoptimismus von Seiten der Psychiater der Bundesrepublik darstellt. Die Überwindung vermeintlicher oder real bestehender Rückständigkeit in der therapeutischen Versorgung ist dabei ein Motiv, das die Psychiatrie seit ihrer Entstehung begleitet34 und hier in der unmittelbaren Vergangenheit wieder erscheint. Als definitorischer Kampf darum, was die »richtige« Psychiatrie sei, schließt sich hier der Kreis der Auseinandersetzungen um »Normalität« und Abweichung in der psychiatrischen Praxis, die das 20. Jahrhundert von Beginn an bestimmen.

34 Vgl. C. Brink: Grenzen.

Zwischen Kur und ªIrrenanstalt© Die ªVolksnervenheilstättenbewegung© und die Legitimation eines staatlichen Sanatoriumsbetriebs am Beispiel der »Rasemühle« bei Göttingen1 H EINER F ANGERAU

Seit dem Bestehen der institutionellen »Irrenpflege« stehen ihre Legitimation und ihre Kritik in einem untrennbaren Spannungsverhältnis. Die Kritik erfolgte zumeist auf drei sich in Teilen überschneidenden, in Teilen widersprechenden Ebenen. Zum einen wurde die Existenz von psychiatrischen Krankheitsentitäten

1

Der vorliegende Text basiert auf einem Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung »Die Psychiatrie im 20. Jahrhundert – Kontinuitäten und Brüche ihrer Entwicklung«. Wesentliche Textpassagen sind bereits in den im Folgenden genannten Publikationen erschienen. Auf Einzelnachweise zu diesen Publikationen wird im Text verzichtet: Fangerau, Heiner: »›Geräucherte Sülze, mit Schwarten durchsetzt, teilweise kaum genießbar…‹ – Patientenkritik und ärztliche Reaktion in der Volksnervenheilstätte 19031933«, in: Heiner Fangerau/Karen Nolte (Hg.), »Moderne« Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert – Legitimation und Kritik, Stuttgart: Steiner 2006, S. 371393; Ders.: »Politik und Nervosität: Gründung und Betrieb der ersten deutschen Volksnervenheilstätte ›Rasemühle‹ bei Göttingen zwischen 1903 und 1914«, in: Krankenhauspsychiatrie 16 (2005), S. 25-32; Ders.: »Ein Sanatorium im Kriegszustand: Die ›Rasemühle‹ bei Göttingen zwischen zivilen und soldatischen Nervenleiden 19141918«, in: Archiwum Historii I Filozofii Medycyny 68 (2005), S. 147-161. Zu den Quellen siehe u.a. auch ders.: »Krankenhausgeschichten – ›Anstaltsfeste‹, Dankschreiben und Beschwerden«, in: Historia Hospitalium 27 (2011), S. 63-69.

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angezweifelt, zum anderen wurden die Zustände in psychiatrischen Versorgungsinstitutionen kritisiert oder es wurde zuletzt deren Effizienz in der Behandlung von Seelenstörungen angezweifelt. »Irrenärzte« der Vergangenheit begegneten derartigen Einwendungen gelegentlich mit der Strategie, auf der Basis ihres wissenschaftlichen, medizinischen Wissens aufklärerisch institutionelle Reformen anzuregen. Mit der Gründung von sogenannten Volksnervenheilstätten wurde eine derartige Reform auch im Zuge der Debatten um eine im Fin de Siècle im deutschen Kaiserreich laut werdende Psychiatriekritik vorgeschlagen. Eine Besonderheit dieser Psychiatriekritik, die von Psychiatern als »Antipsychiatrie« bezeichnet wurde, lag darin, dass sie von einer breiten Bevölkerungsbasis getragen wurde. Neben nicht akademisch gebildeten »Laien« trugen Akademiker, darunter viele Juristen, Künstler, (nicht psychiatrisch tätige) Ärzte und zuletzt die Tagespresse diese Kritik mit. Anders als die auf die Französische Revolution folgende, romantisch orientierte französische Psychiatriekritik hundert Jahre zuvor oder die späte Antipsychiatrie der 1960er und 1970er Jahre stellte die Debatte um 1900 die Psychiatrie nicht grundsätzlich in Frage. Vielmehr argumentierte sie rationell, auf empirischer Basis, systemimmanent, naturwissenschaftlich orientiert und auf der Grundlage des ärztlichen Wissensstandes. Auf diesem Fundament sollte nicht die Psychiatrie revolutioniert werden. Es sollten Reformvorschläge angestrebt werden, wie die vorhandene institutionelle Unterbringung von Geisteskranken verbessert werden könnte.2 Die zunächst u.a. von Paul Möbius 1896 vorgeschlagene Schaffung einer öffentlich finanzierten Sanatoriumskultur zur Behandlung von nicht chronisch nervenkranken Patienten fügte sich in diese Reformstrategie relativ erfolgreich ein.3

2

Zur Antipsychiatrie vgl. Berlim, Marcelo T./Fleck, Marcelo P.A./Shorter, Edward: »Notes on antipsychiatry«, in: European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience 253 (2003), S. 61-67; Dieckhöfer, Klemens: »Frühe Formen der Antipsychiatrie und die Reaktion der Psychiatrie«, in: Medizinhistorisches Journal 19 (1984), S. 100-111, Kick, H.: »Antipsychiatrie um 1900: Zur Tradition des Konfliktes zwischen Psychiatrie und Presseberichterstattung«, in: Nervenarzt 53 (1982), S. 299-300; Ders.: »Antipsychiatrie und die Krise im Selbstverständnis der Psychiatrie«, in: Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie 58 (1990), S. 367-74; Ders.: »The ethical crisis in psychiatry: consequences for a comprehensive diagnosis and therapeutic practice«, in: Psychopathology 32 (1999), S. 159-167.

3

Möbius, Paul Julius: »Ueber die Behandlung Nervenkranker«, in: Münchener Medizinische Wochenschrift 43 (1896), S. 1044-1046; Ders.: Ueber die Behandlung von Nervenkranken und die Errichtung von Nervenheilstätten. Berlin: Karger 21896.

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Sein Ansatz wurde breitenwirksam als »Volksnervenheilstättenbewegung« popularisiert und die Entwürfe dieser »Bewegung« konnten zwischen 1896 und 1914 zumindest teilweise in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Doch erreichte die Idee der »Volksnervenheilstätten« nie die Schubkraft, die anderen zu dieser Zeit als »Bewegung« bezeichneten Initiativen in der Retrospektive zugestanden wird. Schon wohlwollende Zeitgenossen begleiteten die Entwicklung der »Bewegung« eher vorsichtig. Wie der Psychiater Robert Sommer (1864-1937) im Vorwort zu einer Schrift über Nervenheilstätten von Robert Götze 1907 bemerkte, kam sie »nach anfänglich raschem Anlauf verhältnismäßig doch nur langsam zum Durchbruch«, sie teile dabei, so Sommer, das »Schicksal aller wirklichen Kulturarbeit, die den vielen Widerständen des täglichen Lebens gegenüber nur langsam durchgeführt werden kann.«4 Diese Widerstände, der ständige Streit um Legitimation und Kritik einer bestimmten Krankenhausgattung, ihres Konzeptes und ihrer von Patienten erlebten Wirklichkeit konturieren das Thema dieses Beitrags. Nach einer kurzen Skizzierung der »Volksnervenheilstättenbewegung«, ihrer Ziele und ihres Therapieverständnisses sowie der Darstellung des Gründungsprozesses der ersten aus dieser Bewegung hervorgegangenen Einrichtung wird der Kampf der Institution um ihre Daseinsberechtigung und schwierigeren und ruhigeren Zeiten vorgestellt. Im Zentrum der Betrachtung steht dabei neben dem fortwährenden Ringen eines staatlichen Sanatoriums um Legitimation bei Patienten und Kostenträgern das Krisenmoment des Ersten Weltkriegs. Ein Ziel dieser Analyse besteht (neben dem Leisten eines Beitrags zur Regionalgeschichte der medizinischen Versorgung in der Provinz Hannover) darin, Legitimations- und Kritikmuster innerhalb der Psychiatrie sowie den Zusammenhang zwischen medizinischen Diagnosen, wirtschaftlichen Erwägungen und gesellschaftlichen Entwicklungen aus historischer Perspektive zu rekonstruieren.

4

Götze, Rudolf: Über Nervenkranke und Nervenheilstätten. Halle a.S.: Marhold 1907.

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»V OLKSNERVENHEILSTÄTTENBEWEGUNG «, N ERVOSITÄT UND DIE E INRICHTUNG DER »R ASEMÜHLE « BEI G ÖTTINGEN In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts erlebten nach der »Ära« psychiatrischer Heilanstalten private Sanatorien für »Nervenkranke« eine Konjunktur. Es entwickelte sich neben den bestehenden psychiatrischen Einrichtungen eine Infrastruktur für wohlhabende, nicht schwer »geisteskranke« Patienten. Hauptindikation für eine Aufnahme in ein derartiges Privatsanatorium stellte die Diagnose »Nervosität« dar.5 Der unter den Namen »Nervosität« oder Neurasthenie subsumierte Symptomkomplex, der in seinen nosologischen und gesellschaftlichen Dimensionen in den letzten Jahren umfassend historiografisch aufgearbeitet worden ist, stellt in der retrospektiven Betrachtung gleichzeitig sowohl eine Erkrankung als auch einen im Fin de Siècle kulminierenden Kulturzustand dar. Die Diagnose »Nervosität« umschrieb ein weitreichendes Krankheitskonzept, das ein ganzes Symptomspektrum von reizbarer Schwäche über Schlaflosigkeit, Mattigkeit, Ermüdbarkeit bis hin zu Verdauungsstörungen umfasste. Die Zeitgenossen erklärten das Auftreten der »Nervosität« mit einer Reaktion der »Nerven« auf die modernen Lebensumstände. Neben endogenen Ursachen galten vor allem die Hektik des modernen Daseins, Technikeinflüsse und ein Mangel an Ruhe als auslösende exogene Faktoren. Zwar nahm man an, dass die »Nervosität« unter Umständen in eine sogenannte Geisteskrankheit übergehen könnte, doch war diese Diagnose deutlich von der Diagnose einer Geisteskrankheit abgegrenzt. So galt »Nervosität« im Gegensatz zu den chronischen Geisteskrankheiten als prinzipiell heilbar. Besonders im bürgerlichen Milieu der Mittelklasse wurde sie umfassend popularisiert und trat im öffentlichen Diskurs als »Massenphänomen« in Erscheinung. Als therapeutische Maßnahmen gegen das Nervössein galten vor allen Dingen Ruhe, Ablenkung vom aufreibenden

5

Vgl. zur im Folgenden beschriebenen »Nervosität« und Neurasthenie u.a. GijswijtHofstra, Marijke/Porter, Roy (Hg.): Cultures of neurasthenia from Beard to the First World War. Amsterdam/New York: Rodopi 2001; Hofer, Hans Georg: Nervenschwäche und Nervenstärke: der Umgang mit der Nervosität (1880-1920). Wien u.a.: Böhlau 2000; Nolte, Karen: Gelebte Hysterie: Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900. Frankfurt a.M./New York: Campus 2003; Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität: Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München: Econ-Ullstein-List 2000; Roelcke, Volker: »Electrified Nerves, Degenerated Bodies: Medical Discourse on Neurasthenia in Germany, circa 1880-1914«, in: Gijswijt-Hofstra/Porter, Cultures of neurasthenia (2001), S. 177-197.

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Alltag, moderate Arbeitstherapie, Turnen sowie Elektrotherapie. Unterstützt werden sollten diese Maßnahmen durch eine aus Ortswechsel und Kurbetrieb in Nervensanatorien bestehende Milieutherapie. Die Privatsanatorien für Nervenkranke, die derartige Therapien anboten, distanzierten sich ausdrücklich von bestehenden psychiatrischen Institutionen wie Heil- und Pflegeanstalten.6 Schon in ihrer Eigenbezeichnung wird dieses Abgrenzungsbestreben deutlich: Die Betonung der anatomisch sichtbaren Nerven im Namen als Ursache eines psychischen Leidens sollte auf die Patienten weniger stigmatisierend wirken als eine rein seelische, psychiatrische Erkrankung. Damit sollte auch der Besuch eines Nervensanatoriums weniger negativ konnotiert sein als der Aufenthalt in einer sogenannten Irrenanstalt. Kuren in Privatsanatorien für nervöse Patienten waren allerdings für Personen der sogenannten unteren und mittleren Schichten um 1900 unerschwinglich, so dass bald Rufe nach der Einrichtung derartiger Institutionen für die weniger finanzkräftigen Stände laut wurden. In Analogie zur »Volksheilstätten-Bewegung«, die die Gründung von Lungen-Sanatorien für die ärmere Bevölkerung zur Bekämpfung der Tuberkulose propagierte, sollten staatliche oder private Träger »Volksnervenheilstätten« finanzieren, um auch den unteren Schichten Sanatoriumsaufenthalte zu ermöglichen. Man hoffte auf diese Weise auch bei ärmeren Personen einer möglichen Invalidität oder einem Übergehen der »Nervosität« in eine Geisteskrankheit vorbeugen zu können. Neben dem oben genannten Paul Möbius schlossen sich viele andere prominente Psychiater dieser Forderung an, so dass

6

Vgl. Shorter, Edward: »Heilanstalten und Sanatorien in privater Trägerschaft, 18771933«, in: Alfons Labisch/Reinhard Spree (Hg.), »Einem jeden Kranken in einem Hospitale sein eigenes Bett«: Zur Sozialgeschichte des Krankenhauses in Deutschland im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M./New York: Campus 1996, S. 320-333; Ders.: »Private Clinics in Europe 1850-1933«, in: Social History of Medicine 3 (1990), S. 159195. Die fortwährende Verwechslung der im Folgenden vorgestellten »Volksnervenheilstätte« mit einer »Irrenanstalt« sorgte bei einigen Patienten und bei der die Einrichtung tragenden Provinz auch noch sechs Jahre nach ihrer Eröffnung für Unmut, so dass in einer Landtagssitzung, in der der Haushalt des Sanatoriums für 1909 besprochen werden sollte, die anwesenden Pressevertreter ausdrücklich aufgefordert wurden, die Sachlage in ihren Artikeln richtig zu stellen. Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover (=HStAH), Anonymous: Protokolle des 43. Hannoverschen Provinziallandtags. Fünfte Sitzung am 15. März 1909, 1909.

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bis 1913 im ganzen Reichsgebiet zumindest acht Nervenheilsanatorien für Minderbemittelte entstanden waren.7 Als erste rein staatliche »Volksnervenheilstätte« ging aus dieser Bewegung im Jahre 1903 das Sanatorium »Rasemühle« bei Göttingen hervor.8 Die Gründung dieser »Volksnervenheilstätte« wurde vollständig von der Provinz Hannover finanziert, ihr Betrieb durch diese subventioniert. Der in Verbindung mit dem Zweck der Nervenheilstätte zweideutige Name »Rasemühle« rührte nicht vom Begriff »rasen« im Sinne von »toben« her, sondern vom Flüsschen Rase, an dem ein Mühlengelände lag, das die Provinz eigentlich zur Sicherung der Trinkwasserversorgung ihrer Landesheil- und Pflegeanstalt Göttingen angekauft hatte und das sie nun auf Anraten des Direktors dieser Anstalt, August Cramer (1860-1912), zusätzlich für die Einrichtung eines Sanatoriums nutzen wollte. Cramer hatte vor dem Landtag diese Ausgaben vor allem mit dem auch volkswirtschaftlich prophylaktischen Wert einer derartigen Einrichtung zu legitimieren versucht, indem er betonte: »Ganz allgemein sei vorausgeschickt, dass in allen Zweigen der praktischen Betätigung des Staats auf dem Gebiet des Medizinalwesens die Prophylax [sic], […] obenansteht. [...] Der Verlauf dieser nervösen Zustände ist [...] gewöhnlich der, dass die Kur in einem Sanatorium entweder gar nicht versucht, oder zu frühzeitig abgebrochen wird und der Patient dem Schicksal der meisten derartigen Kranken verfällt, schon im 4. oder 5. Lebensjahrzehnt für seinen Beruf unbrauchbar zu werden und mit seiner Familie der größten Not zu verfallen, oder das Opfer einer schleichend sich entwickelnden Geisteskrankheit zu werden. [...] Es muß Gelegenheit geschaffen werden, auch den nicht Bemittelten einen Aufenthalt in einem zweckmäßig eingerichteten und geleiteten Sanatorium zu ermöglichen. Auf diese Weise wird in nicht wenigen Fällen dem vorgebeugt werden, dass die unterstützungsverpflichteten Gemeinwesen dauernd arbeitsunfähige und chronische Geisteskranke zur dauernden Fürsorge erhalten.«9

7

Bresler, Johannes: »Die deutschen Volksnervenheilstätten im Jahre 1913«, in: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 15 (1913), S. 1-26.

8

Die erste für finanziell minderbemittelte Kreise geschaffene »Volksnervenheilstätte« war das 1899 gegründete Haus Schönow in Berlin, das aus einer privaten Stiftung hervorging. Vgl. Amberger, Renate Ulrike: Haus Schönow: Von der Heilstätte für Nervenkranke zur Klinik für Akutgeriatrie. Diss. med. Berlin 2001.

9

HStAH, Akten des Provinziallandtages betreffend den Ankauf der Rasemühle bei Göttingen, Hannover; Cramer, August: Bericht Cramers an Provinzialausschuß vom 20.07.1902 über Bedeutung und Wert einer solchen Einrichtung in Anlage 1 zu Drucksache 30, 1902.

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In Analogie zu privaten Häusern bemühte Cramer sich auch in dieser »Volksnervenheilstätte«, »den Charakter einer Anstalt nach jeder Richtung hin zu vermeiden, um den Aufenthalt in dem Sanatorium zu einem möglichst behaglichen und angenehmen zu gestalten.« Das Sanatorium sollte eher den »Charakter einer Familienpension« als den eines Krankenhauses aufweisen.10 Um dieses Ziel zu erreichen, verfolgte Cramer dabei auch das unter seinen Zeitgenossen nicht unumstrittene Konzept, in seinem Sanatorium keine grundsätzliche Trennung der Geschlechter vorzunehmen. So lagen die Schlafräume für Männer und Frauen zwar getrennt, doch wurden die Mahlzeiten gemeinsam eingenommen. Auch alle Tages- und Erholungsräume konnten gemeinschaftlich genutzt werden. Möglichen Kritikern der Aufhebung der Geschlechtertrennung hielt Cramer entgegen: »Gerade der ungezwungene Verkehr zwischen den beiden Geschlechtern hat viel zu dem behaglichen Tone im Sanatorium beigetragen; die Männer und Frauen nehmen sich bei den gemeinschaftlichen Mahlzeiten mehr zusammen, sie kleiden sich besser und achten aufeinander, daß nichts vorkommt, weder in Worten noch in Werken.«11

Denkbare, auf den Luxusaspekt einer staatlich finanzierten Erholung für nicht lebensbedrohlich Erkrankte abzielende, ideelle Einwände zerstreute Cramer, indem er betonte, dass die Anstalt sicherlich kein Ort für Müßiggänger sein werde, da die vornehmlich angewandte Therapie gerade aus Körper und Nerven stählender Arbeit bestehe.12 Cramer war unmittelbarer Leiter des Sanatoriums. Er bestimmte über Aufnahme und Entlassung von Patienten sowie die Anstellungen des Personals. Ihm zur Seite gestellt war ein Hausarzt im Range eines Oberarztes. Seine wichtigsten

10 Cramer, August: »Die Heil- und Pflegeanstalten für psychische und Nervenkranke in Göttingen. Unter besonderer Berücksichtigung des Sanatoriums ›Rasemühle‹«, in: Klinisches Jahrbuch (1905), S. 1-40; Ders.: »Verhandlungen psychiatrischer Vereine. Deutscher Verein für Psychiatrie. Die Heil- und Unterrichtsanstalten in Göttingen unter besonderer Berücksichtigung des Sanatoriums Rasemühle«, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin (1904), S. 734-735. 11 A. Cramer: Die Heil- und Pflegeanstalten. Zur Auseinandersetzung um Geschlechtertrennung siehe auch Beyer, Ernst: »Die Heilstättenbehandlung der Nervenkranken«, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin (1908), S. 535-539. 12 HStAH, Anonymous: Protokolle des 36. Hannoverschen Provinziallandtags, 6. Sitzung am 24.2.1903, 1903. Text abgedruckt bei A. Cramer: Die Heil- und Pflegeanstalten.

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Aufgaben waren die Untersuchung der neu aufgenommenen Patienten, die Überwachung der Arbeitstherapie, die Kontrolle der anderen Behandlungen und nicht zuletzt die Durchführung einer täglichen Sprechstunde. Diese diente als Ersatz für tägliche Visiten. Durch die Sprechstunden, in denen die Patienten nur bei Bedarf und nur zu bestimmten Stunden den Arzt aufsuchen konnten, sollte vermieden werden, dass die Patienten ständig auf ihre Beschwerden hingewiesen werden. So hofften die Ärzte durch Verknappung ihrer Gesprächszeit, den Heilungsprozess bei nervösen Patienten beschleunigen zu können. Die wichtigsten Therapieformen des Hauses zielten auf Ablenkung von der Erkrankung und sollten reizumstimmend wirken. Somit standen Gymnastik und Arbeitstherapie im Freien sowie Massagen und Elektrotherapie im Vordergrund. Auch der Ernährung kam eine wichtige Rolle zu í Ziel war es, bei den Erkrankten eine Gewichtszunahme zu erzielen. Die Pharmakotherapie spielte vor dem Hintergrund dieser Sozio-, Milieu- und Physiotherapie eine untergeordnete Rolle. Die Patienten, die letztendlich als Selbstzahler oder von Versicherungen und Kassen finanziert die »Rasemühle« für einen Kuraufenthalt aufsuchten, entstammten vornehmlich wie vorgesehen den unteren Bevölkerungsschichten und dem Mittelstand. Die meisten männlichen Patienten kamen aus der Arbeiterschaft (ca. 24%), dem Handwerk (ca. 20%) sowie der mittleren und unteren Beamtenschaft (ca. 19%). Bei den Frauen verzeichnet die Statistik am häufigsten Ehefrauen und Witwen (ca. 39%), Arbeiterinnen (ca. 11%), ledige Damen ohne Beruf (11%) und Hausangestellte (ca. 8%). Vor dem Ersten Weltkrieg zahlte mehr als die Hälfte der Patienten seinen Sanatoriumsaufenthalt selbst, nach 1925 sank der Selbstzahleranteil.13 Nach einem erfolgreichen Beginn in reformerischem Eifer war dieses Sanatorium bald überregional als erste staatliche Nervenheilstätte etabliert und anerkannt. Dennoch standen die »Rasemühle« und alle anderen »Volksnervenheilstätten« bereits elf Jahre später vor ihrem Ende. Krieg und Konzeptwandel Am 5. August 1914, drei Tage nach Beginn des Ersten Weltkriegs, berichtete der nach Cramers Tod im Jahr 1912 leitende Arzt der »Rasemühle«, Dr. Georg Quaet-Faslem (1872-1927), seinem Dienstherrn, dem Landesdirektorium von Hannover: »Das Sanatorium ist zur Zeit von Patienten bis auf 3 noch nicht transportfähige Patientinnen, die voraussichtlich Anfang kommender Woche fahren

13 H. Fangerau: »Geräucherte Sülze«.

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werden und bis auf das Isolierhaus mit 7 in der Rekonvalescenz befindlichen Scharlachkranken völlig freigemacht und wird augenblicklich als Lazarett eingerichtet.«14 Von zivilen Patienten weitgehend geräumt, war damit die Zukunft des Sanatoriums ungewiss und seine Bestimmung, eine Nervenheilstätte für finanziell Minderbemittelte zu sein, vorerst ausgesetzt. Doch schon am 3. Oktober kamen neben verwundeten Soldaten auch wieder zivile »nervöse« Patienten zur Aufnahme. Bis zum Ende des Krieges wurde der Sanatoriumsbetrieb auf diese Weise aufrecht gehalten, so dass während des Krieges insgesamt mehr als 1900 Soldaten neben mehr als 1500 zivilen Patienten behandelt wurden. In der ärztlichen Terminologie und folglich auch in der ärztlichen Praxis der »Rasemühle« war die »Nervosität« den sogenannten funktionellen Neurosen zugeordnet15, womit zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass es sich um eine von den Nerven abgeleitete Erkrankung ohne sichtbares anatomisches Korrelat handele. Ebenfalls den funktionellen Neurosen zugeordnet und der »Nervosität« sehr verwandt war die Hysterie. Eine Unterscheidung der beiden Krankheitsbilder stellte schon Zeitgenossen vor Probleme. Als Hauptunterscheidungsmerkmal galten die nur der Hysterie eigenen »Convulsionen« oder »Paroxysmen«. War die Hysterie zunächst eine eher weiblich konnotierte Erkrankung, so wurde sie ab der Mitte des 19. Jahrhunderts als eine beide Geschlechter betreffende Nervenkrankheit angesehen. Dennoch spricht einiges dafür, dass auch um 1900 männliche Patienten eher als »neurasthenisch« und weibliche eher als »hysterisch« diagnostiziert wurden. Mit Ausbruch und im Verlauf des Ersten Weltkrieges trat unter deutschen Psychiatern eine Verschiebung im Umgang mit Hysterie und »Nervosität« ein. Hatte man zunächst geglaubt, das »Stahlbad« des Krieges könne auf Neurastheniker heilend wirken, stellte sich bald heraus, dass der Krieg das Gegenteil bewirkte.16 Während des Ersten Weltkrieges traten unter deutschen Soldaten gehäuft funktionelle Neurosen in beinahe epidemischem Ausmaß

14 Archiv Tiefenbrunn, Akte »Verwendung des Sanatoriums im Mobilmachungsfalle zu Zwecken des Krankendienstes«, Brief an das Landesdirektorium der Provinz Hannover, 5.8.1914, A 53. 15 Fischer-Homberger, Esther: Die traumatische Neurose: Vom somatischen zum sozialen Leiden, Bern: Hans Huber 1975. 16 Vgl. zu diesem Komplex und dem Folgenden u.a. Lerner, Paul: Hysterical Men. War, Psychiatry, and the Politics of Trauma in Germany, 1890-1930, Ithaca: Cornell Univ. Press 2003; Hofer, Hans Georg: Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880-1920), Wien u.a.: Böhlau 2004.

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auf. Laut Sanitätsbericht über das Deutsche Heer stieg der Anteil der Nervenerkrankungen an allen Krankheiten der Soldaten im Verlauf des Stellungskrieges von 19,4 Prozent im Jahre 1914 auf 96,2 Prozent zum Ende des Krieges.17 Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war mit dem Konzept der »traumatischen Neurose« respektive »Unfallneurose« eine Diagnose für hysterieähnliche Symptome eingeführt worden, die als Folge von Unfällen oder ähnlichen Traumen aufgetreten waren. Derart erkrankte Personen hatten das Recht, nicht nur in einer »Volksnervenheilstätte« behandelt zu werden, sondern auch eine Unfallrente zu beantragen. Dies führte dazu, dass unter Medizinern ein Streit darum entbrannte, wie Simulanten zu erkennen und von der Rentenzahlung auszuschließen seien. In diesem Zusammenhang war dann bald von »Rentenneurose« und »Begehrungsneurose« die Rede, wenn die Grenzziehung zwischen erkrankt oder nicht erkrankt, Simulation oder berechtigter Beantragung einer Unfallrente nicht eindeutig zu ziehen war.18 Im Krieg brannte diese Debatte wieder auf, da in den Lazaretten gehäuft Soldaten mit »hysterischen« Symptomen auftraten, deren Ätiologie in die Nähe der traumatischen Neurose gerückt wurde. Die Symptome wurden u.a. auf Granaterschütterungen in der Nähe der Erkrankten zurückgeführt. Die wegen vielfältiger Konvulsionen, Lähmungs- oder Krampferscheinungen als »Kriegszitterer« bezeichneten Verwundeten stellten wegen ihrer großen Zahl bald eine Gefahr sowohl für die Kampfkraft des deutschen Heeres, als auch für die Rententräger dar. Nachdem kriegsuntauglichen Soldaten zunächst noch zu Kriegsbeginn Entschädigungen bewilligt worden waren, wurde nun versucht, die Zahl berechtigter Empfänger möglichst gering zu halten. In der Folge setzte unter der Mehrheit der deutschen Psychiater ein Umdenken in ihrer Sicht auf hysterische und neurasthenische Soldaten ein. Sie versuchten, auf die neuen,

17 Lemmens, Franz: »Zur Entwicklung der Militärpsychiatrie in Deutschland zwischen 1870 und 1918«, in: Rolf Winau/Heinz Müller-Dietz (Hg.), »Medizin für den Staat – Medizin für den Krieg«. Aspekte zwischen 1914 und 1945. Gesammelte Aufsätze, Husum: Matthiesen 1994, S. 35-44. 18 Aus den vielen Publikationen zu dieser Thematik siehe z.B. Schwoch, Rebecca/ Schmiedebach, Heinz-Peter: »›Querulantenwahnsinn‹, Psychiatriekritik und Öffentlichkeit um 1900«, in: Medizinhistorisches Journal 42 (2007), S. 30-60; Schmiedebach, Heinz-Peter: »Post-traumatic neurosis in nineteenth-century Germany: a disease in political, juridical and professional context«, in: History of Psychiatry 10 (1999), S. 27-57; Thomann, Klaus-Dieter/Rauschmann, Michael: »Von der railway spine zum Schleudertrauma: Zur Historizität psychoreaktiver Störungen nach entschädigungspflichtigen Ereignissen«, in: Alfons Labisch/Norbert Paul (Hg.), Historizität: Erfahrung und Handeln – Geschichte und Medizin, Stuttgart: Steiner 2004, S. 153-169.

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kriegsbedingten, staatlichen und gesellschaftlichen Anforderungen an ihr Fach im Sinne des Staates zu reagieren. Besondere Bedeutung wird hier in der jüngeren Geschichtsschreibung der Kriegstagung des Deutschen Vereins für Psychiatrie vom September 1916 eingeräumt, die einen formellen Wendepunkt im ideellen und therapeutischen Umgang der Psychiater mit funktionellen Neurosen darstellte. Hier vollzog sich innerhalb der Gemeinschaft der Psychiater der Wechsel von einer Interpretation der Kriegsneurosen als mehr oder weniger somatische Reaktionen auf die Schrecken des Krieges hin zu einer rein psychischgenetischen Ätiologie. Die Kriegsneurose konnte nun im Sinne des Militärwesens nicht mehr als durch den Krieg verursacht gedeutet, sondern dem schwächlichen Wesen der Erkrankten zugeschrieben werden. Nicht das anfangs für heilsam erachtete »Stahlbad des Krieges« war Schuld an den Erkrankungen, sondern die kranken Soldaten selbst waren psycho-konstitutionell zu schwach und damit schuld an ihren Leiden. Vielfach wurde das psychische Leiden auch als Versuch gewertet, der Front zu entkommen, so dass in Analogie zur sogenannten Begehrungsneurose »Kriegszitterer« vielfach als Simulanten stigmatisiert wurden. Es galt die Annahme, dass wenn sie nur wollten, sie auch wieder gesund würden. Letztendlich führte dies zu einer Radikalisierung der Behandlungsmethoden der Psychiater, die sich im Laufe des Krieges von den klassischen Therapien der Nervosität wie Ruhe, Massagen, Zuspruch und Suggestion hin zu schmerzhaften Zwangsbehandlungen nach der »Kaufmannmethode« entwickelten. Diese wurde als Kurzzeitbehandlung in gegen Ende des Krieges zum Teil direkt hinter der Front liegenden Lazaretten durchgeführt. Die vor allem nach 1916 angewandte Therapie bestand aus Stromschlägen in Kombination mit Gewalt- und Zwangsexerzieren sowie Arbeitstherapie.19

19 Zur Geschichte der Psychiatrie im Ersten Weltkrieg und besonders zum Themenkomplex der Neurosen und des »Kriegszitterns« siehe v.a. Lerner, Paul: »Psychiatry and casualties of war in Germany, 1914-1918«, in: Journal of Contemporary History 35 (2000), S. 13-28; Kaufmann, Doris: »Science as cultural practice: Psychiatry in the First World War and Weimar Germany«, in: Journal of Contemporary History 34 (1999), S. 125-144; P. Lerner: Hysterical Men; Ders.: »›Ein Sieg des deutschen Willens‹: Wille und Gemeinschaft in der deutschen Kriegspsychiatrie«, in: Wolfgang U. Eckart/Christoph Gradmann (Hg.), Die Medizin und der Erste Weltkrieg, Pfaffenweiler: Centaurus 1996, S. 85-107; Malleier, Elisabeth: »Formen männlicher Hysterie: Die Kriegsneurosen im Ersten Weltkrieg«, in: Elisabeth Mixa et al. (Hg.), Körper – Geschlecht – Geschichte: Historische und aktuelle Debatten in der Medizin, Innsbruck u.a.: Studien-Verlag 1996, S. 147-163; Komo, Günther: »Für Volk und Vaterland«: Die Militärpsychiatrie in den Weltkriegen, Münster u.a.: Lit-Verlag 1992. Zu den

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Somit stand auch die »Volksnervenheilstätte« »Rasemühle« im während des Ersten Weltkrieges offenbar werdenden Spannungsfeld zwischen »heilender Fürsorge« und nationalem Nutzen der Psychiatrie. Auch für sie galt die militärische Forderung nach effektiver Entlarvung von Simulanten und schneller Heilung der Erkrankten. Die ständige gleichzeitige Belegung mit sowohl männlichen als auch weiblichen Zivilpatienten allerdings stellte eine Besonderheit im Vergleich mit anderen spezialisierten Nervenlazaretten dar, die wohl dazu geführt hat, dass auch die Lazarettpatienten mit dem zivilen Behandlungskonzept behandelt wurden. Während der Kriegsjahre stieg nach einem stetigen Rückgang in den Jahren 1910 (54,4 Tage) bis 1914 (41,28 Tage) im Jahre 1915 die Belegzeit sprunghaft an auf 55,96 Tage und sank nach einem Höhepunkt im Jahr 1917 wieder ab. Die durchschnittliche Belegzeit der Soldaten hielt sich etwas unterhalb dieses Niveaus. Den Anstieg der Belegzeit 1915 erklärte sich Quaet-Faslem damit, dass durch den Krieg »durchschnittlich nur schwerere Fälle zur Behandlung« gekommen seien. Blieben die Diagnosen der zivilen Patienten während des Krieges bis auf Änderungen in den Untergruppen relativ konstant, so spiegelte sich bei den Lazarettpatienten der »Rasemühle« das eingangs beschriebene Ansteigen der Nervenkrankheiten unter den deutschen Soldaten deutlich wider. Wurden noch 1914 und 1915 vornehmlich Verwundete (mit Durchschüssen, Gas- und anderen Verletzungen) behandelt, so stieg der Anteil der an nervösen Erkrankungen leidenden Soldaten bis 1917 auf über 58 Prozent an.20 Für den Klinikalltag bedeutete der Krieg neben der durch die Einrichtung des Reservelazaretts bedingten Militarisierung in erster Linie Einschränkungen. Diese Militarisierung fand neben der ohnehin schon großen Präsenz der Soldaten ihren Niederschlag darin, dass »patriotische Abende« abgehalten wurden, an denen entsprechende Lieder gesungen, anhand von Karten über die Kriegsereignisse informiert und Vorträge patriotischen oder gemeinnützigen Inhalts gehalten wurden. Die Einschränkungen der Leistungen fanden für die Patienten ihren ersten Niederschlag in dem Umstand, dass der zweite Arzt und von sechs

Zwangsbehandlungen siehe v.a. Riedesser, Peter/Verderber, Axel: »Maschinengewehre hinter der Front«: Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie, Frankfurt: Mabuse 22004; Putzke, Michael/Groß, Herwig: »Kriegszitterer in Köppern während des Ersten Weltkrieges«, in: Christina Vanja/Helmut Siefert (Hg.), »In waldig-ländlicher Umgebung...«. Das Waldkrankenhaus Köppern: Von der agrikolen Kolonie der Stadt Frankfurt zum Zentrum für Soziale Psychiatrie Hochtaunus, Kassel: Euregio 2001, S. 112-124. 20 H. Fangerau: Kriegszustand.

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Pflegern bis 1915 fünf eingezogen wurden. Nach und nach wurden für die Eingezogenen Kriegsbeschädigte eingestellt, doch erreichte das Pflegepersonal während des Krieges nie wieder die übliche Personalstärke. Gleichzeitig wurden zusätzlich zu den Patienten und Soldaten ab 1917 auch noch unterernährte Ferienkinder zur Pflege aufgenommen. Dank der kleinen zur »Rasemühle« gehörenden, von Patienten besorgten eigenen Landwirtschaft und dank teilweiser Versorgung der Soldaten durch die Heeresverwaltung, die wegen der gemeinsamen Küche auch den zivilen Patienten zu Gute kam, herrschte im Sanatorium zwar kein zum Tode führender Hunger, doch im Jahr 1918 wurden die Ernährungsverhältnisse so schlecht, dass es zu mehreren ernsthaften Beschwerden kam. Als 18 Patienten Erster Klasse unter Berücksichtigung der schwierigen Versorgungslage in einer gemeinsamen Eingabe an Quaet-Faslem erklärten, dass eine bessere Verpflegung als die ihnen zukommende »doch möglich sein müszte [sic]«, antwortete Quaet-Faslem seinerseits mit einer sibyllinischen Bekanntmachung an die Patienten, in welcher er ihnen mitteilte, »Raufereien auf Grund von Eingaben« störten den Hausfrieden, könnten von ihm unter nervenkranken, gesitteten Menschen nicht geduldet werden und führten schließlich zu auch ihm unangenehmen Maßnahmen.21 Diese barsche Reaktion erklärt sich aus der 1918 in der »Rasemühle« herrschenden gespannten Situation, die Quaet-Faslem darauf zurück führte, dass »die schon normaler Weise oft zu erheblichem Grade gesteigerte Reizbarkeit, Empfindlichkeit und Unzufriedenheit der Nervenkranken [...] durch die Zeitverhältnisse zur Siedehitze gesteigert« worden sei. »Negativismus und Pessimismus« hätten ein bisher unerkanntes Maß erreicht.22 Beschwerden Die Feststellung Quaet-Faslems, dass »schon normaler Weise«, also in Friedenszeiten, »Reizbarkeit, Empfindlichkeit und Unzufriedenheit der Nervenkranken« herrschten, führt zur letzten Frage des Beitrags, nämlich wie neben der Politik auch Patienten das reformerische Konzept der »Rasemühle« kritisch begleiteten und wie die Anstaltsleitung vor jeweils geänderten krankheitsbezogenen und politischen Rahmenbedingungen vor und nach den besonderen Umständen des

21 Archiv Tiefenbrunn, Akte »Beschwerden der Patienten und Berufsgenossenschaften«, Tiefenbrunn, Anonymous: Eingabe von Patienten der I. Klasse an Quaet-Faslem 3.8.1917, Antwort Quaet-Faslems undatiert, 1917. 22 Archiv Tiefenbrunn, Akte »Generalia-Jahresberichte«, Manuskript zum »Jahresbericht 1918 der Nervenheilstätte ›Rasemühle‹ der Provinz Hannover«, enthält zugleich die zusammengefassten Jahresberichte 1914, 1915, 1916 und 1917.

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Krieges auf Kritik reagieren musste. Zur Beantwortung dieser Frage erscheint zunächst eine Übersicht über die von Patienten dem Sanatorium gegenüber vorgebrachten Beschwerden und über die darauf folgenden Reaktionen der ärztlichen Leitung hilfreich zu sein23: Patientenbeschwerden konzentrierten sich gebündelt zunächst vor allem auf drei Bereiche: 1. Essen und Unterbringung, 2. den pflegerischen und ärztlichen Führungsstil sowie 3. Störungen durch andere Patienten, sei es in Form unsittlichen Betragens, durch Streitereien, Unordnung oder Lärm. Therapien oder medizinische Anwendungen wurden nur selten kritisiert. Die Konzentration der Beschwerden auf Basisbelange der Versorgung erklärt sich großteils aus dem Sanatoriumsanspruch der »Rasemühle«, ein Ort der Erholung zu sein. Folglich erwarteten Selbstzahler wie Kassenpatienten einen Kuraufenthalt unter medizinischer Observation. Das größte Enttäuschungspotential lag in den das Milieu bestimmenden Faktoren. Die Reaktionen der Sanatoriumsleitung auf die Beschwerden sind vor allem durch Rechtfertigungstendenzen gegenüber der vorgesetzten Behörde oder Kostenträgern gekennzeichnet. Den Patienten gegenüber unterblieb zumeist eine Erklärung. Zwar wurde in fast allen Reaktionen gezielt auf jede einzelne Beschwerde differenziert eingegangen, die dabei angewandten Rechtfertigungsstrategien aber ähneln sich. Neben einer grundlegenden Zurückweisung der Beschwerde wurden immer wieder zufriedene Patienten als Beleg für die Grundlosigkeit der Klage angeführt. Daneben wurde versucht, die Argumentationskraft der Beschwerde mit einem Verweis auf die Krankheit des Beschwerenden zu entkräften, individuell wurde der »querulatorische Charakter« einiger Beschwerdeführer hervorgehoben und zuletzt wurde zur Schwächung ihrer Position darauf hingewiesen, dass der Kritiker auch für andere Patienten störend gewesen sei. Darüber hinaus wurden Klagen auch auf die politische Gesinnung oder auf den niedrigen Bildungsgrad der Beschwerdeführer zurückgeführt. Als »Volksnervenheilstätte« für weniger Wohlhabende war die »Rasemühle« gerade für eine Klientel niedrigeren Bildungsgrades konzipiert. Daher kam die Erklärung der Direktion, »Wir haben namentlich bei den Angehörigen der ungebildeten Stände, welche sich überhaupt durch schwer zu befriedigende Ansprüche auszeichnen,

23 Vgl. ausführlich H. Fangerau: »Geräucherte Sülze«.

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im Anfang Schwierigkeiten gehabt«24, einer Generalentschuldigung für alle Beschwerden gleich. Der niedrige Stand der Patienten und ihre Ansprüche wurden als Ursache von Klagen gesehen, nicht die Zustände im Sanatorium selbst. Ähnlich generalisierend wurden die behandelten Krankheitsentitäten als Beschwerdeursache abgetan. Mehrfach wies die Sanatoriumsleitung z.B. darauf hin, dass Querulieren zur Psychopathologie der im Sanatorium behandelten Krankheiten gehöre. Nervenkranke, so hieß es, seien leicht erregbar, verstimmt und unzufrieden, trieben Egoismus und seien »Negativisten«. Darüber hinaus seien sie leicht beeinflussbar und gäben schlechten Einflüssen eher nach als guten.25 Vor dem Hintergrund dieser ärztlichen Argumentation liegt das Ergebnis der meisten Beschwerden auf der Hand. Die durch Erfahrung und medizinisches Wissen gestützte Argumentation der Ärzte setzte sich gegen die von den Patienten, den medizinischen Laien, geäußerten Klagen durch. Zwar wurde in den meisten Fällen von Kostenträgern oder dem Landesdirektorium zumindest ein Bericht des Sanatoriums angefordert. Dieser blieb aber fast immer ohne Konsequenz. Wenn eine Kritik einmal nicht folgenlos blieb, so war das Ergebnis meistens die vorzeitige Abreise des Patienten. Da Patienten sich freiwillig in dem Sanatorium aufhielten, konnten sie es auch jederzeit verlassen ಥ allerdings liefen nicht selbst zahlende Patienten in diesen Fällen Gefahr, keinen weiteren Aufenthalt von möglichen Kostenträgern finanziert zu bekommen. Ein differenziertes Bild ergibt sich in der exemplarischen Betrachtung einiger Beschwerden, aus der sich ein Muster im Wandel des Umgangs mit Kritik zumindest skizzieren lässt. Vor allem in der direkten Nachfolge des Krieges und in den Folgejahren änderten sich Beschwerden und der Umgang mit ihnen. Auf die Beschwerde einer Patientin über zu kärglich bemessene Portionen bei den Mahlzeiten hatte Quaet-Faslem noch 1905 mit dem ärztlichen Hinweis reagiert, dass »seitens der Beschwerdeführerin voraussichtlich in extrem socialistischen Zeitungen gegen das Sanatorium und dessen Leitung polemisiert« werden dürfte, da sie zum »Vorstand der anarchistisch gefärbten Gruppe der

24 Cramer, August: »Die weitere Entwicklung der Anstalten für psychische und Nervenkranke in Göttingen unter besonderer Berücksichtigung der Aufnahmestation, des Verwahrungshauses für unsoziale Geisteskranke und der neuen Villa für Patienten I. Klasse im Sanatorium Rasemühle«, in: Klinisches Jahrbuch (1909), S. 339-374, hier S. 353. 25 Siehe u.a. Archiv Tiefenbrunn, Akte »Beschwerden der Patienten und Berufsgenossenschaften«, Tiefenbrunn, Quaet-Faslem, G.: Brief Quaet-Faslem an die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte vom 1.11.1919, Beantwortung eines Beschwerdevorganges, 1919.

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socialistischen Reformpartei Hamburgs« gehöre.26 Die sich hier andeutende Politisierung der Krankheit Neurasthenie oder andersherum der Pathologisierung des Sozialismus wurde in der Folge des Sturzes des Kaisers und vor dem Hintergrund der herrschenden politischen Unsicherheit 1919 von Quaet-Faslem noch deutlicher hervorgehoben, als der sich nach eigenen Angaben bei den Mehrheitssozialisten engagierende Maurer Willy R. Vorwürfe gegen QuaetFaslem erhob. U.a. hatte er dem Arzt vorgeworfen, ihn im Speisesaal vor den anderen Patienten als Lump beschimpft zu haben, als er die Entfernung eines Kaiserbildes gefordert habe.27 Quaet-Faslem trat den Beschuldigungen entgegen, indem er den Beschwerdeführer politisierte und pathologisierte. Weitere Beschwerden antizipierend schrieb er dem Direktorium der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte, an welche die meisten Klagen gegangen waren: »Ich möchte bemerken, dass voraussichtlich noch weitere Beschwerden einlaufen werden: […] Diese […] Patienten bildeten unter der sehr energischen Führung eines socialdemokratischen Agitators und eines ausserordentlich unzufriedenen, gereizten und infolge Schädelverletzung schwer nervösen Südafrikaners, die beide durch ihr Wühlen und zum Teil auch durch ihre ausgesprochene parteipolitische Agitation dem Unterzeichneten [sic] lange Zeit schwer zu schaffen gemacht haben, eine festzusammenhaltende Gruppe der Unzufriedenen […]. Bemerken möchte ich, […] dass es sich um Beschwerden Nervenkranker handelt, die dementsprechend zu bewerten sein müssten.«28

26 Archiv Tiefenbrunn, Akte »Beschwerden der Patienten und Berufsgenossenschaften«, Tiefenbrunn, Quaet-Faslem, G.: Brief Quaet-Faslems vom 3.9.1905, vermutlich an das Landesdirektorium sowie anliegende Korrespondenz (u.a. Landesversicherungsanstalt der Hansestädte Geschäftsbuchnummer 2810 IVa an die Verwaltung des Sanatoriums Rasemühle vom 26.8.1905), 1905. 27 Archiv Tiefenbrunn, Akte »Beschwerden der Patienten und Berufsgenossenschaften«, Tiefenbrunn, Anonymous: Beschwerdebriefe diverser Patienten an die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte von September bis Oktober 1919, 1919, Archiv Tiefenbrunn, Akte »Beschwerden der Patienten und Berufsgenossenschaften«, Tiefenbrunn, R., Willy: Beschwerdebrief von Willy R. an den Zentralarbeiterrat Hannover vom 1.10.1919, 1919. 28 Archiv Tiefenbrunn, Akte »Beschwerden der Patienten und Berufsgenossenschaften«, Tiefenbrunn, Quaet-Faslem, G.: Brief von Quaet-Faslem an das Direktorium der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte vom 1.11.1919 und zugehörige Korrespondenz, 1919.

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Neben diesem Aspekt der Politisierung von Krankheit zeigt sich am Beispiel der »Rasemühle« aber auch, wie eine selbst aus der Psychiatriekritik erwachsene Institution zwischen den Fronten ihres konzeptionellen Anspruchs und ihrer Finanzierung agieren musste. Strebten die Geldgeber nach günstiger Ernährung, verlangten die Patienten gutes Essen; wollte das Sanatorium vor den Geldgebern den Eindruck vermeiden, es sei ein Ort für Faulenzer, so musste es vor den Patienten seine Arbeitstherapie als therapeutische Maßnahme stilisieren und Ablehnung derselben als zum Genesungsprozess zugehörig nivellieren. Die Skizzierung der Patientenkritik und der ärztlichen Antworten an die entscheidenden Kosten- bzw. Sanatoriumsträger weist darauf hin, dass zumindest in den ersten Jahren des Bestehens des Sanatoriums die Direktion in ihrer Legitimation eher stur auf die eigene Autorität in Krankheitsfragen setzte, als dass sie auf die Patientenkritik einging. Durch die staatliche Subvention des Betriebes und die Allgegenwärtigkeit der akzeptierten Krankheitsentität »Nervosität« hatte das Sanatorium bis zum Ersten Weltkrieg kaum Mühe, genügend Patienten anzuziehen, so dass es das Fernbleiben von Unzufriedenen verschmerzen konnte und eher auf die Durchführung der eigenen therapeutischen Konzepte und vor allem eine Befriedigung der Interessen der Kostenträger setzte. Der Rückbezug der Sanatoriumsärzte auf die eigene medizinische Autorität, ohne dass Patienteninteressen eine tiefere Berücksichtigung erfahren hätten, änderte sich erst, als nach den geschilderten konzeptuellen Veränderungen während des Krieges und nach der Inflation Mitte der 1920er Jahre die Krankheitsentität »Nervosität« als Modeerscheinung nahezu vollständig von der Bildfläche verschwand. Von Psychiatern und der Öffentlichkeit wurde sie nun als degeneratives Dispositionsleiden aufgefasst. Die Zahl der für das Sanatorium als Klientel verfügbaren Patienten ging in der Folge zurück. Aus einer Situation um 1900, in der aus Sicht der Politik zu vielen Kranken zu wenig »Volksnervenheilstätten« gegenübergestanden hatten, entwickelte sich eine gegenteilige Konstellation, die mit einem Konkurrenzkampf unter Nervenheilstätten um die Patienten einherging. Auch der Druck auf die »Rasemühle«, selbständig Patienten zu akquirieren, um noch wirtschaftlich arbeiten zu können, verstärkte sich. An diesem Punkt nun deutet sich ein Wechsel in der ärztlichen Reaktion auf Kritik an, eine Verschiebung in der Wertschätzung der Patientenkritik, die sich Anfang der 1930er Jahre in aller Deutlichkeit offenbarte. Zum einen wurde der Umgang mit Kritik freundlicher, werbend und verbindlicher, zum anderen wurde gleichzeitig die medizinische Definitionsmacht über Belange der Sanatoriumsleistungen durch eine politische ersetzt. Als sich beispielsweise 1930 ein Patient beim Oberpräsidenten der Provinz Hannover beschwerte, dass in der zweiten Behandlungsklasse die Matratzen morsch und übelriechend, die Bettvorlagen eher

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Lumpen, das Essen schlecht und die Schwestern unfreundlich seien, Badetücher acht Wochen nicht gewechselt würden und es in der »Rasemühle« ebenso laut wie unordentlich zugehe, führte diese Klage nicht wie noch Jahre zuvor zu einer Pathologisierung des Beschwerdeführers, sondern zu einer Besichtigung des Sanatoriums durch eine eigens vom Landesdirektorium eingesetzte Prüfungskommission.29

S CHLUSS Die Selbstlegitimation einer Einrichtung wie der »Volksnervenheilstätte« »Rasemühle« und die Kritik an ihr sowie die Reaktion ihrer Leitung auf eben diese Kritik spiegelte folglich auch den gesellschaftlichen Umgang mit der »Nervosität«. Einhergehend mit sinkenden Patientenzahlen passte eine neue Psychiatergeneration ihren Umgang mit Kritik an. Sie reagierte ähnlich flexibel auf die neuen Anforderungen wie 25 Jahre zuvor die Generation der Volksnervenheilstättenbefürworter auf den gesellschaftlichen Bedarf nach preiswerten Sanatorien reagiert hatte. Mit dem Ausbleiben der von ihren Kassen bzw. Versicherungen »zwangsweise« eingewiesenen Patienten und einer sinkenden Zahl an Selbstzahlern während und nach dem Ersten Weltkrieg war ein autoritärer Verweis der Kritiker nicht mehr opportun. Im Gegenteil, jetzt musste auf Patienten eingegangen werden, sie mussten umsorgt und ihre Kritik musste ernst genommen werden. Nach der Weltwirtschaftskrise zuletzt mussten Patienten auch für das staatliche Nervensanatorium als Kurkunden definiert werden, wie sie das für das private Sanatorium schon immer gewesen waren. Das Dreieck aus Krankheit, Politik und Wirtschaft drehte sich und verschob die Argumentationsgewichte. Ob diese Befunde generalisiert werden können bzw. ob sich die Geschichte der »Volksnervenheilstätten« als ein Muster für ähnliche Krankheitsgeschichten zwischen Konzept, Institution, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft eignet, bleibt eine spannende Frage, die in dem vorliegenden Band immer wieder gestellt werden kann.

29 Archiv Tiefenbrunn, Akte Patientenbeschwerden, H.V.: Beschwerdebrief von H.V. an den Oberpräsidenten der Provinz Hannover vom 17.10.1930 und anliegender Vorgang, 1930.

Psychotherapie jenseits des Heroismus? Der Dissens zwischen theoretischem Diskurs und klinischer Umsetzung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts B RIGITTE L OHFF , C LAUDIA K INTRUP

»Es besteht ein allgemeines Bedürfnis nach Psychotherapie. Das moderne Leben erzeugt soviel an qualvoller Angst, ein Bedürfnis nach Aussprache und Erlösung, der Kranke will sich’s von der Leber reden, er will mit dem Arzt nicht nur über seine Leber sprechen. Eine Sozialisierung der Psychotherapie ist darum dringend notwendig. Die Psychotherapie darf nicht mehr, wie bisher, ein Vorrecht der begüterten Volksschichten sein. Wir wollen sie auch dem letzten unbekannten Soldaten […], nicht dem Toten, sondern dem Lebenden und Leidenden zukommen lassen.«1

Dieser in die Zukunft weisende Aufruf für eine Integration der Psychotherapie in die medizinische Behandlung äußerte 1927 der Münchener Psychiater und Psychotherapeut Wladimir Eliasberg2. Ort dieser Zukunftsperspektive war seine 1

Eliasberg, Wladimir: »Rückblick und Ausblick der Psychotherapie. Eröffnungsrede«, in: Ders. (Hg.), Psychotherapie, Halle: Marhold 1927 S. 6-11, hier S. 9.

2

Wladimir Gottlieb Eliasberg (1889-1969), deutsch-jüdischer Psychiater und Psychotherapeut, studierte Medizin, Mathematik und Philosophie in Berlin und Heidelberg. Er wurde von Arthur Kronfeld, Karl Jaspers und Hans W. Gruhle in die Psychiatrie eingeführt. Zusammen mit seinem Lehrer Kronfeld war er an der Gründung der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie am 1.12.1927 beteiligt. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten floh Eliasberg mit seiner Familie über Wien und Prag in die USA, wo er als Psychotherapeut arbeitete und sich vereinspolitisch engagierte. Vgl. Zeller, Uwe: Psychotherapie in der Weimarer Zeit: Die Gründung der

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Eröffnungsrede vor fünfhundert europäischen Ärzten, Psychotherapeuten und Psychiatern, die auf ihrem »Allgemeinen Ärztlichen Kongress für Psychotherapie« über die Rolle der Psychotherapie für die Medizin diskutierten. Eliasbergs Rede beinhaltete zugleich das Programm für die im gleichen Jahr gegründete Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie (AÄGP). In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, was unter den Psychiatern und Ärzten als psychotherapeutische Methode diskutiert wurde bzw. wie sie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts diesen Begriff interpretierten. Psychotherapie wurde als Beschreibung für psychoanalytische Methoden, Hypnose, Suggestionstherapie oder für »heroische« Verfahren wie Fieberoder Krampftherapien verwandt; der Begriff wies aber durchaus auch Überschneidungen mit Ordnungstherapien und der damaligen Sozialpsychiatrie auf.3 Vor dem Krieg bestand seitens der Ärzte, wie Eugen Bleuler es bei seinem Vortrag 1913 zusammenfasste, eine »Psychophobie«, was dazu führen musste, dass, »solange die Pfuscher bessere Psychologen sind als Ärzte, […] sie unbesiegbare Konkurrenten« seien4. Das Phänomen der psychisch kranken Soldaten, deren Traumatisierung mit der Diagnose Kriegsneurose oder, wie sich anhand von Patientenakten zeigt, mit Hysterie, Psychopathie, Hypernervosität oder Depression beschrieben wurden, konfrontierte Ärzte damit, dass Menschen psychische Verhaltensauffälligkeiten ohne somatische Grundlage entwickeln konnten. Diese erstmalige Erfahrung der Ärzte hatte durchaus ambivalente Folgen für das Phänomen Verhaltensauffälligkeiten.5 Einerseits musste von den Ärzten eine reaktive Form seelischer

Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie. Diss. med. Tübingen 2001, S. 276-277. 3

Vgl. dazu Schmiedebach, Hans Peter/Priebe, Stefan: »Open psychiatric care and social psychiatry in the 19th and early 20th century Germany«, in: Volker Roelcke/ Eric J. Engstrom (Hg.), Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur Geschichte von psychiatrischen Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum, Basel: Schwabe 2003, S. 263-281, sowie: Roelcke, Volker: »Rivalisierende ›Verwissenschaftlichung des Sozialen‹: Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie im 20. Jahrhundert«, in: Jürgen Reulecke/Volker Roelcke (Hg.), Wissenschaften im 20. Jahrhundert. Universitäten in der modernen Wissenschaftsgesellschaft, Stuttgart: Steiner 2008, S. 131-148, hier S. 142-145.

4

Zit. nach Heim, Edgar: Die Welt der Psychotherapie. Entwicklungen und Persönlichkeiten, Stuttgart: Klett-Cotta 2009, S. 27.

5

Vgl. dazu Hofer, Hans-Georg: Nervenschwäche und Krieg. Modernitätsbewältigung und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie, Wien: Böhlau 2004;

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Erkrankungen anerkannt werden, die man von den rein organisch bedingten psychischen Erkrankungen zu unterscheiden hatte. Sie versuchten dieses unbekannte medizinische Problem durch Suggestionstherapie und Hypnose zu behandeln6 und stellten fest, dass eine Symptomverbesserung mit diesen Therapien auch zu erreichen war. Andererseits wurde ein Zusammenhang von charakterlich bedingter Anfälligkeit für nicht somatisch bedingte Verhaltensauffälligkeiten konstruiert, was zur Folge hatte, dass das Phänomen der psychischen Traumatisierung ignoriert und in charakterliche Minderwertigkeit umgedeutet wurde.7 Diese Ambivalenz zeigte sich, wenn Therapeuten versuchten, z.B. bei »willensstarken« sogenannten »Kriegszitterern« und insbesondere bei Offizieren Suggestionstherapie und Hypnose anzuwenden. Bei »willensschwachen« »einfachen Soldaten« versprachen sie sich Therapieerfolge mit der Faradisierung – d.h. einer Behandlung mit elektrischem Strom, in speziellen Fällen mit steigender Stromstärke nach der Kaufmannmethode.8 Auch wurde Ferdinand Kehrers Methode des Zwangsexerzierens als erfolgreiches Behandlungskonzept angesehen.9

Riedesser, Peter/Verderber, Axel: »Maschinengewehre hinter der Front«. Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie, Frankfurt a.M.: Fischer 1996. 6

Vgl. Steinau-Steinrück, Eduard v.: »Über die Verwertung psychotherapeutischer Kriegserfahrungen, insbesondere über Hypnose«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 69 (1921), S. 209-219.

7

Vgl. Friedländer, Adolf A.: »Grundlinien der psychischen Behandlung. Eine Kritik der psychotherapeutischen Methoden«, in: Zeitschrift für die gesamten Neurologie und Psychiatrie 42 (1918), S. 99-139, hier S. 103.

8

Bezüglich der durchgeführten Behandlungen von Kriegsneurosen vgl. A. Friedländer, Kritik, S. 108-121. Dass sich diese Einschätzung von Soldaten bezüglich ihrer psychischen Belastbarkeit und Widerstandskraft gegen Traumata bis zum Zweiten Weltkrieg nicht geändert hatte, zeigt sich an Robert Gaupps Äußerung 1940: »Handelte es sich um früher nervengesunde Menschen von guter Willenskraft, so waren diese Störungen meist bald wieder überwunden. Anders bei schwachnervigen, von Haus aus nervösen oder psychopathischen Männern. Je stärker die krankhafte Veranlagung war, desto geringer konnte die auslösende Ursache sein und desto hartnäckiger erwies sich der abnorme Zustand.« Gaupp, Robert: »Die psychischen und nervösen Erkrankungen des Heeres im Weltkrieg«, in: Der Deutsche Militärarzt. Zeitschrift für die gesamte Wehrmedizin 5 (1940), S. 358-368, hier S. 359.

9

Zu Ferdinand Kehrer vgl. Mamali, Ioanna: Psychiatrische und Nervenklinik Münster – Anfänge der Universitätspsychiatrie in Westfalen zur Zeit des Nationalsozialismus. Diss. rer. med. Münster 2011.

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Selbst die künstliche Erzeugung von Todesängsten durch Atemnot10 war für Ärzte eine Therapie des »heilsamen« Einwirkens auf die Seele.11 Somit wurden psychisch bedingte Verhaltensauffälligkeiten wie Neurasthenie, Hysterie und Kriegsneurosen zum Übungsfeld der Psychiater für diese Therapieformen, die sich dort bewähren sollten oder sich – je nach Einschätzung – bewährten. In der Weimarer Republik war nach Jahren einer deutlich skeptischen bis ablehnenden Haltung eine positivere Sicht auf die medizinische Psychologie und psychotherapeutische Verfahren zu verzeichnen. Im theoretischen Diskurs wurde nach dem Ersten Weltkrieg immer seltener die Hypnose als psychotherapeutische Methode thematisiert, und auch die Suggestionstherapie verlor als Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung an Bedeutung, da diese Verfahren sich in der psychotherapeutischen Praxis etabliert hatten. Die erst nach dem Ersten Weltkrieg stattfindende inhaltliche Auseinandersetzung mit Therapien, denen ein Einfluss auf die Psyche zugeordnet wurde, soll in ihren Diskussionen und Kontroversen zwischen verschiedenen Professionen (Ärzten, Psychiatern und Psychotherapeuten meist psychoanalytischer Grundausbildung) und den unterschiedlichen Schulen durch den ZeitschriftenDiskurs12 verfolgt werden. Dadurch lässt sich erschließen, wie weit der theore-

10 Dabei handelte es sich um Kehlkopfsonden, die der Essener Neurologe Otto Muck für die Behandlung von traumatisierten Soldaten anzuwenden empfahl, um die durch Schock erfolgte Aphonie zu therapieren. Vgl. dazu auch: Muck, Otto: »Heilung von Stimmverlust im Krieg«, in: Münchener Medizinische Wochenschrift 41 (1916), S. 60. 11 Vgl. Rauh, Philipp/Quinkert, Babette/Winkler, Ulrike (Hg.): Krieg und Psychiatrie 1914-1950, Göttingen: Wallstein 2010 und U. Zeller: Gründung, S. 39-84. 12 Zur Bedeutung des Zeitschriften-Diskurses allgemein vgl. Stöckel, Sigrid/Lisner, Wiebke/Rüve, Gerlind (Hg.): Das Medium Wissenschaftszeitschrift seit dem 19. Jahrhundert. Verwissenschaftlichung der Gesellschaft – Vergesellschaftung von Wissenschaft, Stuttgart: Steiner 2009; zu den medizinischen Fachpublikationen vgl. Lisner, Wiebke: »Fachzeitschriften als Selbstvergewisserungsinstrumente der ärztlichen Profession? Zu den Funktionen und Profilen der medizinischen Wochenschriften: Münchner Medizinische Wochenschrift, Deutsche Medizinische Wochenschrift, British Medical Journal und The Lancet 1919-1932«, in: Stöckel/Lisner/Rüve, Medium (2009), S. 111-138. In Hinsicht auf die Übertragung des Politischen in die Psychiatrie bzw. des Psychiatrischen auf politische Entscheidungen vgl. Neumeister, Romy: Diskurs über Schizophrenie in der »Münchner Medizinischen Wochenschrift« und der »Medizinischen Welt« in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Diss. med. dent. Hannover 2011; Kintrup, Claudia: Diskurs über

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tische Diskurs über Psychotherapie bis Ende des Zweiten Weltkrieges in der Ärzteschaft geführt und als professionelle Selbstverständigung akzeptiert wurde. Daran anschließend wird die Relevanz dieser Debatten für die praktische Anwendung anhand von Patientenakten des Sanatoriums »Rasemühle« der preußischen Provinz Hannover beispielhaft betrachtet. Die Diskussion über Psychotherapie wird anhand der Analyse der Fachzeitschriften »Deutsche Medizinische Wochenschrift« und »Fortschritte der Psychiatrie, Neurologie und ihrer Grenzgebiete« für die 1920er und 1930er Jahre nachvollzogen.13 Häufig ging es dabei in den Debatten um die Grenzen oder die Methoden der Psychotherapie. Zwei grundlegende Tendenzen und Argumentationsweisen über die richtigen Voraussetzungen für die Anwendung psychotherapeutischer Methoden lassen sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung zwischen den Ärzten beobachten: 1. Der Arzt ist als Arzt bereits schon Psychotherapeut, da er sich der Methode der Suggestion bzw. der Überredungskunst (Persuasion) genuin bedient. So kam Adolf Friedländer14 1918 in seiner Beschäftigung mit den unterschiedlichsten Formen der »kausalen Therapie durch Beeinflussung der Psyche (Willenstherapie)« zu dem Schluss: »Diese [die Anwendung der Suggestion und Hypnose, BL] setzt ein gründliches allgemein medizinisches Wissen voraus. Ein Teil dieses ist die – rationelle Psychotherapie. Sie verlangt eine besondere Eignung, Lebenserfahrung, Menschenkenntnis und Menschenliebe. Mit ihrer Hilfe gelingt es, bei den Kranken je nach ihrer Veranlagung und Weltanschauung die schlummernden Kräfte der Seele – Sittlichkeit, Religion, Verantwortlichkeits-, Pflichtgefühl, Ehrgeiz, Entsagung – zu wecken. Wir Ärzte müssen von der Zielvorstellung

Schizophrenie und Geisteskrankheiten in der »Deutschen Medizinischen Wochenschrift« und der Zeitschrift »Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete« in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Diss. med. dent. Hannover 2012. 13 Vgl. dazu C. Kintrup: Schizophrenie, S. 53-69. 14 Adolf A. Friedländer (1870-1949) war ein in Dornbach b. Wien geborener jüdischer Neurologe und Psychiater. Er war Assistent von Ludwig Binswanger in Jena und Emil Sioli in Frankfurt a.M., erhielt 1903 die deutsche Approbation und konnte in Oberursel die Privatklinik Hohen Mark gründen, die er bis zum Verkauf 1918 leitete. 1910 wurde ihm der Professorentitel verliehen. Ab 1919 lebte er in Freiburg und ging 1936 zurück nach Österreich. 1938 musste Friedländer seine Praxis aufgeben. Vgl. Obermeyer-Marnbach, Eva (Hg.): Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950, Bd. 1, S. 363-364. Online-Version einzusehen unter: http://www.biographien.ac.at/.

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geleitet werden, zu den Erziehern und Führern des Volkes empor zu wachsen. Sind wir von dieser Vorstellung durchdrungen, dann verleiht sie uns die Kraft, auf unsere Kranken suggestiv zu wirken und, das sei in diesem Zusammenhang auch nicht verschwiegen: Rentenansprüche und Anstaltskosten von psychisch belasteten Kriegsteilnehmern einzusparen.«15

Das medizinische bzw. neurophysiologische Erklärungsmodell für die Wirkmechanismen von Suggestion und Hypnose beschrieb der Breslauer Psychiater Max Serog 1924 wie folgt:

»Die Suggestibilität ist eine primäre und primitive Eigenschaft der Psyche bzw. des Gehirns, die in nichts anderem besteht und sich äußert, als in der Tatsache der Beeinflußbarkeit von Psychischem durch Psychisches. Das Wirken der Suggestibilität ist nicht nur eng geknüpft an die Affektivität, sondern Suggestibilität und Affektivität sind überhaupt nur zwei verschiedene Seiten der gleichen Funktion, die in ihrer ursprünglichen Form im Wesentlichen an die Tätigkeit subcorticaler Zentren gebunden ist. Diese primitive und – ontogenetisch wie phylogenetisch – wohl als erste auftretende psychische Funktion hat die Bedeutung, daß sie zu einer Bahnung bzw. Hemmung des psychischen Geschehens und mit ihm verknüpften körperlichen Vorgängen führt.«16

2. In den 1920er Jahren kristallisierte sich die Negation der Annahme heraus, dass Ärzte ohne Ausbildung psychotherapeutische Behandlungen anwenden könnten. Deshalb wurde gefordert, dass es professionell ausgebildete psychotherapeutisch geschulte Ärzte geben müsse. Arthur Kronfeld17 und Ernst Simmel erwogen z.B. für Psychotherapeuten eine Ausbildung von anderthalb Jahren in der Inneren Medizin und Psychiatrie sowie eine zusätzliche spezielle psychotherapeutische Schulung für mindestens zwei Jahre. Auch Max Serog forderte zur Minimierung des Risikos von iatrogenen Schäden infolge einer unprofessionellen psychotherapeutischen Behandlung eine bestimmte Eignung und Vorbildung

15 A. Friedländer: Kritik, S. 138. 16 Serog, Max: »Die Suggestibilität, ihr Wesen und ihre experimentelle Untersuchung nebst einer neuen Methode der Suggestibilitätsprüfung«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 88 (1924), S. 439-458, hier S. 447. 17 Kronfeld, Arthur: »Der psychotherapeutische Gedanke in der gegenwärtigen Medizin«, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift (=DMW) 54 (1928), S. 685-687.

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des Arztes.18 Als Voraussetzung für erfolgreiches psychotherapeutisches Handeln gehörte aus Sicht psychoanalytisch ausgebildeter Ärzte auch, dass Mediziner eine etwa halbjährige Selbstanalyse durchlaufen hatten.19 Die von Eliasberg im Eingangszitat von 1927 vermittelte Aufbruchsstimmung und die damit verbundene Forderung, dass die Psychotherapie integraler Teil der Medizin zu sein habe, fand sich auch bei Robert Gaupp20 wieder. Dieser fragte sich, »warum Väter und Großväter keine Spezialwissenschaft Psychotherapie gekannt und keine psychotherapeutischen Kongresse abgehalten« haben. Es musste nach Gaupp »offensichtlich etwas Neues hinzugekommen [sein]. Psychotherapie ist nicht mehr nur Sache künstlerischer Begabung, ärztlichen Taktes, kluger Menschenbeherrschung, sie ist nicht nur vielgestaltig ausgeübte Suggestion«.21 Gaupp verortete 1927 die moderne Psychotherapie in der Analyse der Sinn- und Zweckbestimmung psychisch abweichenden Verhaltens, so dass der Begriff der Verdrängung in der ärztlichen Gemeinschaft anerkannt sei, die entlastende Wirkung des Abreagierens eines Konfliktes verstanden wäre und die Bildung körperlicher Krankheitssymptome im zeitlichen Zusammenhang mit der Verdrängung sich erwiesen habe.22 Insofern wurde hier von den Psychiatern trotz aller Skepsis gegen Freuds Libidotheorie die Sinnhaftigkeit und Bedeutung der psychoanalytischen Technik für eine angewandte Psychotherapie in der Krankenbehandlung akzeptiert. Diese Auffassung ist insofern hervorzuheben, da sie – aus heutigem Verständnis – eine andere Sicht auf die Vielzahl traumatisierter Soldaten des Ersten Weltkrieges ermöglicht hätte. Zudem bot das psychoanalytische Vorgehen die Chance, Verhaltensauffälligkeiten aus traumatisierenden Erlebnissen zu interpretieren und zielgerichtet auf den psychischen Konflikt des Patienten einzuwirken. Hier befand sich Gaupp in Übereinstimmung mit der Auffassung von Carl G.

18 Steinbrinck, Walther (Berichterstatter): »M. Serog, Prinzipien und Methoden der Psychotherapie«, Schlesische Gesellschaft für vaterländische Kultur, 19.11.1926, Breslau, in: DMW 53 (1927), S. 131. 19 Vgl. dazu die ausführliche Begründung von Jung, Carl G.: »Das Problem der modernen Psychotherapie« [1929] in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 16, Zürich: Rascher 1958, S. 37-81, hier S. 75. 20 Der Psychiater und Neurologe Robert Gaupp war ab 1906 ordentlicher Professor und Direktor der Universitätsklinik für Gemüts- und Nervenkrankheiten in Tübingen. 21 Gaupp, Robert: »Über Psychotherapie«, in: DMW 53 (1927), S. 821-823, S. 868-870, hier S. 821. 22 Ebd.: S. 822.

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Jung, der 1929 den Ausgangspunkt aller Psychoanalyse in der ärztlichen Praxis verortete, da Psychotherapie angewandte medizinische Psychologie sei.23 Ein fortwährender Disput wurde seit Ende der 1920er Jahre über die Gefahr geführt, dass durch eine »überbordende« Psychotherapie möglicherweise eine somatische Ausschlussdiagnostik vernachlässigt werden könnte. Allerdings räumten auch Skeptiker gegenüber der Psychotherapie ein, dass der Arzt den Patienten hinsichtlich seiner »Gutartigkeit« oder »Minderwertigkeit« des Charakters zu analysieren habe, um dadurch einen Beitrag zum Ausschluss echter Hypochondrie oder Simulation leisten zu können.24 Der Rostocker Psychiater Max Rosenfeld forderte eine systematische Untersuchungsmethodik in der praktischen Psychiatrie, die auch innere Organe und den neurologischen Status beinhalten solle.25 Dass Psychotherapie bei Erkrankungen von Herz, Magen und Darm helfen würde und die erkrankten Organe durch Psychotherapie geheilt werden könnten26, fügte sich in das Konzept der sogenannten »Organneurose«27 und fand zunehmend auch bei Ärzten wie z.B. Johannes H. Schultz Anerkennung, die zunächst Gegner dieser »medizinischen Therapie« gewesen waren: »[I]n Fällen, wo ausreichende und vielseitige psychologische Durcharbeitung keinerlei erklärende Allgemeinmechanismen oder Verständniszusammenhänge nachweisen kann, [ist] immer das Vorliegen einer örtlichen materiellen Organerkrankung für sehr naheliegend zu halten. Hier kann psychotherapeutische Bearbeitung Wahrscheinlichkeitsgründe für das Bestehen einer Organerkrankung beibringen«.

Dennoch konstatierte er: »Psychotherapie kritischer Auffassung ist nur auf biologischer Basis denkbar und dadurch prinzipiell von nicht-ärztlicher seelischer Behandlung geschieden. Damit ist der Ort der Psychotherapie bestimmt, die überall in Frage kommen kann, wo Funktionsschwankungen

23 C.G. Jung: Psychotherapie, S. 59. 24 Hoffmann, Hermann: »Über psychogene Beschwerden«, in: DMW 54 (1928), S. 2014-2017. 25 Rosenfeld, Max: »Repetitorium der praktischen Psychiatrie. I. Untersuchungsmethodik«, in: DMW 53 (1927), S. 2079-2082. 26 E. Fränkel: Innere Medizin, S. 944-945. 27 Hansen, Karl: »Analyse, Indikation und Grenze der Psychotherapie beim Bronchialasthma«, in: DMW 53 (1927), S. 1462-1464.

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vorliegen […]. [J]eder psychotherapeutischen Bearbeitung auch bei sog. Psychoneurosen [ist eine] eingehende internistisch-klinische Prüfung vorauszuschicken.«28

Ebenso wurde vor den vielfältigen Fallstricken durch eine kaum zu übersehende Fülle nebeneinander existierender Therapieformen gewarnt: »rationale und irrationale«, »zudeckende« und »aufdeckende« Behandlung, »Milieutherapie und persönlicher Psychotherapie, Suggestiv- und Erziehungstherapie, einfache und kombinierten Methoden, palliative und kausale Behandlung, und […] negative Psychotherapie«, d.h. iatrogene Schäden, die durch falsche Behandlung auf seelischem Gebiete hervorgerufen werden.29 1928 ging Arthur Kronfeld in einem längeren Beitrag in der »Deutschen Medizinischen Wochenschrift« auf die Auseinandersetzung innerhalb der Ärzteschaft über Sinn bzw. Un-Sinn der Psychotherapie ein: »Der psychotherapeutischen Welle, die in den letzten Jahren mit zunehmender Kraft durch die medizinische Forschung und Praxis hindurchströmte, stellt sich in jüngster Zeit eine immer stärkere Gegenströmung in den Weg. Aus Kündern werden Kritiker, aus Führern Verneiner. […] Homburger warnt vor den ›Gefahren der Ueberspannung des psychotherapeutischen Gedankens‹. […] v. Bergmann mahnt zum ›Abbau der Organneurosen‹. Er fordert eine Verfeinerung der somatologischen Diagnostik; [und] die pathophysiologische Deutung unter dem Blickwinkel von ›Korrelationsstörungen humoraler oder neuraler Art‹ […] Hoche […] nennt [die Psychotherapie, BL] eine ›moralisierende Art, die Dinge zu sehen. Sie trübe uns vielfach den Blick für die Kernfrage: ›was denn bei einer hysterischen Symptombildung od. dgl. eigentlich psychophysisch vorsichgehe. Es sei ein eigentümlicher Denkfehler, zu glauben, daß man durch Kenntnis eines Motivs etwas über die Art der dadurch ausgelösten Vorgänge erführe […]. Es die wichtigste Aufgabe, die in Frage stehenden Symptomgruppen aus zeitlichen Sonderauffassungen herauszulösen und sie in bekannte Tatsachen der allgemeinen pathologischen Physiologie‹ einzureihen.«30

28 Schulz, Johannes Heinrich: »Zur Psychotherapie der Organneurose«, in: Klinische Wochenschrift 7 (1928), S. 770 (Hervorh. i. Orig.). 29 R. Gaupp: Psychotherapie, S. 869. So anders ist das 50 Jahre später auch nicht, als Josef Wachtel oder auch Marvin R. Goldfried eine Integration theoretischer (psychoanalytischer und verhaltenstheoretischer) Positionen zu einer neuen Theorie der integrativen Psychotherapie vorschlugen. Vgl. dazu Kiernan, Thomas: Psychotherapie. Kritischer Führer durch Theorien und Praktiken, Frankfurt a.M.: Fischer 1974. 30 A. Kronfeld: Der psychotherapeutische Gedanke, S. 683.

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Die vom Universitätspsychiater Alfred Hoche gestellte Prognose, dass eine psychotherapeutische Deutung der Symptomgruppe neurotischen Verhaltens letztlich nur eine zeitliche begrenzte »Sonderauffassung« sei, führte Kronfeld zu der bis heute noch gültigen Grundfrage: »Gibt es eine besondere medizinische Psychologie, und was hat sie in der medizinischen Forschung und Lehre und somit auch in der wissenschaftlichen Therapie zu suchen? [Oder hat, BL] in der Medizin ausschließlich der biologische Arbeitsgesichtspunkt zu gelten, und zwar für die Ganzheit der Person, und somit auch für deren kulturelle Produkte«?31

Kornfeld kommentierte die aus seiner Sicht von Hoche unerlaubte Gleichsetzung von biologischer mit psychologischer Interpretation von Lebensäußerungen mit der lakonischen Feststellung: »Vor einer Vermischung wesensverschiedener, unvergleichbarer Fragestellungen sei zu warnen.«32 Besonders kritisch betrachtet wurde von den Ärzten die Daseinsberechtigung psychoanalytischer Theorien in der Medizin.33 Zwar erkannte man Freuds psychoanalytische Methodik im Kern als wertvolle Basis für die moderne Psychotherapie an.34 Die Psychiater übten in den 1920er Jahren aber zunehmend Kritik an seiner Libidotheorie, Trieblehre und der zentralen Bedeutung der Sexualität, die Freud bei der Entstehung von seelischen Störungen annahm.35 Ende der 1920er Jahre hatte sich dennoch Freuds psychotherapeutische Technik durchgesetzt und wurde wie bereits erwähnt auch von den meisten Psychiatern anerkannt. Hypnose, hypnotische Suggestion und freie Assoziation waren Techniken, die sich auch in der psychiatrischen Klinik anwenden ließen. Freud hatte bereits 1912 darüber nachgedacht, wie sich Techniken der Psychoanalyse von Übertragung, Traumdeutung etc. in die psychiatrischen Anstalten übertragen ließen. Er gab dabei für die klinisch tätigen Psychiater zu bedenken:

31 Ebd.: S. 685. 32 Ebd.: S. 686. 33 Ebd. 34 Kretschmer, Ernst: »Zur Weiterentwicklung der psychotherapeutischen Technik, speziell der Psychoanalyse«, in: DMW 54 (1928), S. 599-601. 35 Da sich die Methode der Konfliktanalyse als erfolgreiches Vorgehen bewährt hatte, kam der Psychiater Martin H. Göring 1937 zu der platten Formulierung, dass trotz der Anwendung der psychoanalytischen Technik in der »arischen« Psychiatrie Freud und Adler damit nicht »nicht-jüdisch« seien. Göring, Martin H.: »Grundlage der Psychotherapie«, in: DMW 63 (1937), S. 1442-1446, hier S. 1443.

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»Es ist allerdings praktisch nichts dagegen zu sagen, wenn ein Psychotherapeut ein Stück Analyse mit einer Portion Suggestivbeeinflussung vermengt, um in kürzerer Zeit sichtbare Erfolge zu erzielen, wie es zum Beispiel in Anstalten notwendig wird, aber man darf verlangen, dass er selbst nicht im Zweifel darüber sei, was er vornehme, und dass er wisse, seine Methode sei nicht die der richtigen Psychoanalyse.«36

Oswald Bumke37 setzte sich in diesem Zusammenhang z. B. entschieden dafür ein, dass bei der Diagnose Hysterie das »Recht und die Pflicht«38 des Arztes zu einer psychologischen Analyse bestehe, selbst wenn es eine »pathologische Anatomie«, also eine somatische Grundlage für die Krankheit gebe.39 Ausführlich spekulierten die Ärzte darüber, was die Heilfaktoren der Psychoanalyse seien. Dazu wurde erneut genannt, Unbewusstes bewusst zu machen, um Verdrängungen aufzuheben. Bei unbewussten Komplexen hoffte man auf die ablenkende und disziplinierende Wirkung von Arbeits- und Ordnungstherapie. Wenn der Patient uneingeschränkt reden durfte, setzten die Therapeuten bei diesem »ungehemmten Sprechen«40 darauf, dass dieses ein Gefühl des Verstandenseins bewirke. Die Gefühlsbindung des Patienten an den Arzt sollte Hoffnung auf Heilung versprechen, die Suggestion sollte dazu verhelfen, Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle positiv zu verändern.41 Eine Fülle weiterer Therapieansätze wurde immer wieder auf den allgemeinärztlichen Kongressen für Psychotherapie in den 1920er und 1930er Jahren ausführlich und kontrovers diskutiert. Max Serog zählte 1926 zu den Methoden der Psychotherapie u.a. Persuasion, Übungstherapie, Arbeitstherapie und Hypnose. Max Rosenfeld beschrieb acht Formen der Psychotherapie: 1. Belehrungs- und

36 Zit. nach Henzler, Andrea: Zur Technik in Ludwig Binswangers ersten psychoanalytisch orientierten Behandlungen. Diss. med. Tübingen 2007, S. 50; ausführlich zu den unterschiedlichen Techniken vgl. Mertens, Wolfgang/Waldvogel, Bruno (Hg.): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe (überarbeitete und erweiterte Ausgabe), Stuttgart: Kohlhammer 32008. 37 Der Psychiater und Neurologe Oswald Bumke war Kraepelins Nachfolger auf dem Psychiatrie-Lehrstuhl in München. Er leitete die Psychiatrische Universitätsklinik München für 22 Jahre. 38 Bumke, Oswald: »Abbau der Organneurosen?«, in: DMW 54 (1928), S. 604-605, hier S. 605. 39 Ebd.: S. 604. 40 Gemeint ist damit die Methode der freien Assoziation. 41 Herzberg, Alexander: »Die Heilfaktoren in der psychoanalytischen Behandlung«, in: Klinische Wochenschrift 7 (1928), S. 770.

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Persuasionsmethode, 2. Isolierungstherapie, 3. Arbeits- und Beschäftigungstherapie, 4. Willenstherapie, 5. Wachsuggestion, 6. Überrumplungstherapie 7. hypnotische Therapie, 8. psychoanalytische Methoden.42 Robert Gaupp ergänzte dieses therapeutische Kaleidoskop durch Leibesübungen, Ruhekur nach Hirschlaff, »Willensgymnastik«, systematische Übungen der Atmung, Gedankenkonzentration, Erziehung zur Hemmung von Bewegungen, zur Ordnung und regelmäßiger Arbeit sowie zur Vermeidung schädlicher Genussgifte.43 Diese unterschiedlichen Behandlungen sollten mit der Erklärung verändernd auf die Seele des Kranken wirken, dass Psychotherapie letztlich durch Suggestion wirke. Suggestion sei durch ärztliche Führung44 und das »Ethos des Arztes«45 erreichbar: »Jede körperliche Behandlung, wenn sie Erfolg haben soll, muss von einer gewissen seelischen Beeinflussung begleitet sein«46. Im ärztlichen Selbstverständnis der 1930er Jahre ließen sich nach dem Psychiater und Psychotherapeuten Johannes H. Schultz47 unterschiedliche Stile der Patientenführung des Arztes auch spezifischen psychotherapeutischen Methoden zuordnen: rationelle Wachpsychotherapie – Arzt als »hilfsgewillter Mitmensch«; Hypnose alten Stils – Arzt in führender Rolle; autogenes Training – selbständige Mitarbeit des Kranken; Psychotherapie – Mitarbeiterverhältnis; Psychoanalyse –

42 W. Steinbrinck: Prinzipien und Methoden, S. 131. 43 R. Gaupp: Psychotherapie, S. 870. 44 Ebd.: S. 868-870. 45 Fränkel, Ernst (Berichterstatter): »Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin, Wiesbaden, 25.-28.04.1927«, in: DMW 53 (1927), S. 944-946, hier S. 945. 46 Pinoff, Wolfgang: »Somatische Behandlung in der Psychotherapie«, in: DMW 61 (1935) S. 342-343, hier S. 342. 47 J.H. Schultz entwickelt 1926 die Technik des autogenen Trainings und war Mitglied im Gründungsausschuss der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie. Ab 1933 war er Vizepräsident des Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie (das sogenannte »Göring-Institut«), setzte sich vehement für die Verfolgung von homosexuellen Männern ein und propagierte die »Euthanasie« von erbkranken Menschen. 1959 gründete er die »Deutsche Gesellschaft für ärztliche Hypnose«. Vgl. Brunner, Jürgen/Steger, Florian: »Johannes Heinrich Schultz (18841970), Begründer des Autogenen Trainings. Ein biographischer Rekonstruktionsversuch im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik«, in: BIOS 19 (2006), S. 16-25. Zur Geschichte des Deutsche Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie, in dem eine »deutsche« Psychotherapie verfolgt werden sollte, vgl. Lockot, Regine: Erinnern und Durcharbeiten. Zur Geschichte der Psychoanalyse und Psychotherapie im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M.: Pychosozial-Verlag 22002.

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scheinbar völlig inaktive und abwartende Haltung des Arztes; Individualpsychologie – aktive, stark pädagogische Haltung des Arztes.48 Deshalb fordert Schultz auch ein gewisses Grundrepertoire an psychotherapeutischen Methoden, die jeder »deutsche« Arzt beherrschen solle. Der Wiener Pädiater Franz Hamburger relativierte die Bedeutung dieser Therapieform noch weitgehender, da die beste Psychotherapie diejenige sei, bei der der Patient nicht merke, dass er psychisch behandelt werde. Dabei sei der »Dualismus, entweder somatische oder psychische Behandlung, […] von vornherein falsch«.49 Diese Diskussion führte letztlich dazu, dass Psychotherapie als Behandlungsangebot für psychisch Kranke obsolet wurde. Johann H. Schultz charakterisierte in seinen »Klinische Vorlesungen über Psychotherapie« in der DMW von 1935 die Psychotherapie als eine Krankenbehandlung durch seelische Beeinflussung, und nicht als Behandlung seelischer Symptome oder seelisch Kranker. Die unterschiedlichen psychotherapeutischen Verfahren dienten nach seiner Ansicht lediglich der Unterstützung des Arztes in seiner Funktion »als Erzieher«.50 Bei der Psychotherapie gab es – da waren sich die Psychiater durchaus einig – ein besonderes Arzt-Patienten-Verhältnis im Vergleich zu den nur körperlich erkrankten Patienten.51 Trotz aller Diskussion zwischen den beiden Weltkriegen über die Rolle der Psychotherapie als ärztliche Behandlungsmethode lässt sich zusammenfassend festhalten, dass unter den Ärzten eine deutlich anti-psychotherapeutische Haltung gegenüber Kranken mit traumatischen Neurosen bestand. Daraus ergab sich für die traumatisierten Soldaten nach dem Ersten Weltkrieg eine ausgesprochen fatale Situation, die zur Folge hatte, dass sie hinsichtlich ihrer Ansprüche auf

48 Schultz, Johannes Heinrich: »Klinische Vorlesungen über Psychotherapie: Psychotherapie und Allgemeinpraxis«, in: DMW 61 (1935) 2012-2015. 49 Hamburger, Franz: »Somatische Behandlung in der Psychotherapie. Bemerkungen zu der Arbeit von Pinoff in Nr. 9«, in: DMW 61 (1935), S. 1011-1012. 50 Erziehung des Patienten könne nach Schultz durch Aufklärung, Belehrung, Ermutigung, Ermahnung, Verbot, Suggestion, Führung zu Selbstklärung, Selbstbesinnung, sachlichem Abstand von der eigenen Person und Persönlichkeitsführung erfolgen. Vgl. Schultz, Johannes Heinrich: Klinische Vorlesungen, S. 1685-1687. Auch ließen sich psychotherapeutische Methoden kennzeichnen anhand von Aufgabe, Ziel, Grenzen, Empfänger, notwendigem Zeitaufwand und Beziehung des Arztes zum Patienten. Vgl. ebd.: S. 1971-1975. 51 W. Steinbrinck: Prinzipien und Methoden, S. 131.

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Therapie und Kriegsrente von Psychiatern und Nervenärzten begutachtet wurden, die kaum Erfahrungen eines unmittelbaren Fronteinsatzes besaßen: »Die Experten in der ›Neurosefrage‹ waren daher im Gegensatz zu den Lazarettärzten an der Front nicht unmittelbar mit psychisch versehrten Soldaten konfrontiert gewesen. Dementsprechend kannten sie die faktischen Bedingungen des Kriegsalltags weder aus eigener Erfahrung, noch teilten sie die faktischen Bedingungen der mannigfaltigen Kriegserlebnisse der Soldaten.«52

Aufgrund dieses Defizits, kombiniert mit der »wissenschaftlich« begründeten Auffassung, dass die Entwicklung einer Hysterie von dem Kräfteverhältnis zwischen dem Ereignis und der charakterlichen Struktur abhänge53, sahen es Gutachter wie z.B. Theodor Naegeli, Karl Bonhoeffer, Alfred Hoche und Robert Gaupp als Hauptaufgabe des Psychiaters an, gegen eine »rentensüchtige Einstellung«54 vorzugehen. Kretschmer schlug diesbezüglich bereits 1919 vor, einen einheitlichen Begutachtungsplan für Kriegs- und Unfallneurosen einzuführen. Vom Kranken wurde eine moralische Haltung gegenüber den Gesunden gefordert und die »Überwindung armseliger Selbstsucht«55 genannt. In diesem Kontext fand »Adlers großer Heilgedanke, der in dem Lebendigwerden eines neuen Gemeinschaftsgefühls gipfelt«, noch Anerkennung.56 Der »weltanschauliche Hintergrund, aus dem die Individualpsychologie herausgewachsen ist, und den zu bereichern und zu klären ihre kulturelle Mission sein dürfte«, wurde dahingehend bewertet, dass Adlers psychoanalytische Theorie »nicht mehr der naturwissenschaftliche Fatalismus des ausgehenden vorigen Jahrhunderts, sondern das ethisch gewandte soziale Lebensgefühl der Gegenwart« erfasst habe.57 Diesem »ethisch gewandelten sozialen Lebensgefühl« sollte in der Beurteilung von psychisch auffällig gewordenen Soldaten Rechnung getragen werden.

52 Neuner, Stephanie: Politik und Psychiatrie: Die staatliche Versorgung psychisch Kriegsbeschädigter in Deutschland 1920–1939, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, S. 94. 53 Ebd.: S. 115. 54 R. Gaupp: Psychotherapie, S. 870. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 Künkel, Fritz: »Individualpsychologie und Psychoanalyse«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 81 (1927), S.431-497, hier S. 437.

P SYCHOTHERAPIE JENSEITS DES H EROISMUS ?

Abb. 1: Kretschmer, Ernst: »Entwurf zu einem einheitlichen Begutachtungsplan für Kriegs- und Unfallneurosen«

Quelle: Münchner Medizinische Wochenschrift 66 (1919), S. 1271.

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Um den steigenden Therapiebedarf von Patienten zu decken, die zwischen den Kriegen in die Heil- und Pflegeanstalten eingewiesen wurden, spekulierte Ernst Simmel über eine Umorganisation der Heil- und Pflegeanstalten, um geschultem Krankenpflegepersonal in geeigneten Fällen die psychoanalytische Heilung der Kranken zu ermöglichen.58 Wurde Anfang der 1930er Jahre das Bedürfnis des Kranken nach Zuspruch, Verständnis und – mit Bezug auf die Patientengruppe der »Psychopathen« – das Schaffen eines »Nestgefühls« hervorgehoben59, um sie zur freiwilligen Einordnung in die bürgerliche Gemeinschaft zu bewegen60, so rückte doch zunehmend die erbbiologische oder konstitutionelle Interpretation psychischer Verhaltensauffälligkeiten des Patienten in den Mittelpunkt der Diskussion.61 Für das ärztliche Informationsbedürfnis wurde zwar ab 1932 in der »Münchener Medizinischen Wochenschrift« die Rubrik »Psychotherapie« neben der bereits ab 1930 bestehenden Rubrik »Erblichkeit, Eugenik« neu eingefügt. Thematisiert wurden unter dieser Überschrift allerdings vornehmlich Fragen zum Komplex »Erb- und Geisteskranken«.62 Nach 1933 gewann die rassenbiologische Diskussion in Folge des »Gesetzes zur Vermeidung erbkranken Nachwuchses« von 1933 in den Zeitschriften mehr Raum. Zusätzlich mit der Auseinandersetzung über die neuen Schocktherapien wurde im Zeitschriftendiskurs die publizistische Befassung mit der Psychotherapie als Behandlungsangebot für psychisch Kranke hiervon überlagert und z.B. nur mehr gelegentlich in ihrer Rolle als Nachbehandlung für Insulinschocks thematisiert. Welche Form der Psychotherapie dabei in Erwägung gezogen wurde, bleibt unklar.63 Berichte über psychotherapeutische Kongresse thematisierten vorwiegend Zusammenhänge von Psychotherapie und Rasse, Konstitution sowie Fragen der Erblichkeit und auf dieser Grundlage »Ehegesundheitszeugnisse« und Zwangssterilisation64. Polemisiert wurde gegen Therapien als »jüdisch«, die damit als unbrauchbar deklassiert wurden, wie die folgende Aussage von Hans Luxenburger zeigt:

58 Ebd.: S. 219. 59 Herzberg, Alexander: »Psychologie für die ärztliche Praxis«, in: DMW 56 (1930), S. 1943-1946. 60 Hoeflmayr, L. (Referent): »Ärztlicher Verein und Neurologisch- Psychiatrische Gesellschaft, 18.02.1932, München«, in: DMW 58 (1932), S. 875. 61 Bergmann, Gustav v.: »Zur Psychotherapie«, in: DMW 55 (1929), S. 946-948. 62 Vgl. W. Lisner: Fachzeitschriften, S.11-12. 63 Vgl. R. Neumeister: Schizophrenie, S. 122-153; C. Kintrup: Schizophrenie, S. 97-127. 64 Zu den Veränderungen in der Diskussion unter den Ärzten in den 1930er Jahren vgl. ausführlich R. Neumeister: Schizophrenie; C. Kintrup: Schizophrenie.

P SYCHOTHERAPIE JENSEITS DES H EROISMUS ?

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»Eine Methode wird dadurch nicht unjüdisch, dass man Freud und Adler eine arische Maske vorbindet. Die Psychoanalyse sowohl als auch die Adlersche Psychotherapie sind Methoden, die durchaus im jüdischen Geiste wurzeln und ohne diese Geisteshaltung nicht denkbar sind. Der und jener mag darin eine Stärke der Methoden sehen – das ist Auffassungssache. […] Wir haben heute ausbaufähige, zeitgemäße und zukunftsreiche deutsche psychotherapeutische Methoden.«65

Nach 1933 wurden Neurosen nicht mehr als Folge eines psychischen Traumas aufgefasst, sondern mit einer somatogenen Erklärung unterlegt: »Wer eine Neurose behandelt, muß also den Besonderheiten ihrer Lage gerecht werden, eingedenk der grundlegenden Tatsache, daß er [der Arzt, BL] nicht das Ergebnis einer normalen schicksalshaften Entwicklung vor sich hat, sondern den Ausdruck einer biologischen Besonderheit, deren Eigenart es in erster Linie zu erfassen gilt.«66

B EHANDLUNGSPRAXIS

IM

S ANATORIUM »R ASEMÜHLE «

Infolge der vielfältigen Auseinandersetzungen über Psychotherapie zwischen den Weltkriegen stellt sich die Frage, ob Spuren dieses Diskurses sich in der Behandlung von Patienten wiederfinden lassen. Wie wurden Patienten therapiert, wenn aufgrund ihrer Diagnosen, wie schwankend und undifferenziert sie auch sein mochten, nach dem damaligen wissenschaftlichen Debatten eine Anwendung von psychotherapeutischen Techniken in Erwägung hätte gezogen werden können? Zur Annäherung an diese Frage soll eine Aktenstichprobe aus dem Bestand des Sanatoriums »Rasemühle« bei Göttingen herangezogen werden. Diese Einrichtung wurde 1903 als erstes öffentlich finanziertes Sanatorium im Deutschen Reich zur Behandlung leichterer nervöser Erkrankungen auch für weniger finanzkräftige Bevölkerungsschichten eröffnet. Durch dieses grundsätzliche Konzept der »Volksnervenheilstätte«, die organisatorische Verbindung mit der Heilund Pflegeanstalt Göttingen als Verlegungsort für schwerere seelische Erkrankungen und die Schwerpunktsetzung in der »Sozio-, Milieu- und Physiothera-

65 Luxenburger, Hans: »Rückblick auf die wissenschaftlichen Sitzungen der II. Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater in Frankfurt a.M., 22.-25.08.1936«, in: DMW 62 (1936), S. 1701-1703, hier S. 1702. 66 Kant, Otto: »Gefahren der Neurosebehandlung«, in: Münchner Medizinische Wochenschrift 83 (1936), S. 1495-1498, hier S. 1498.

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pie«67 erscheint dieser Behandlungsort als besonders geeignet, den Niederschlag der dargestellten Debatten in der therapeutischen Praxis beispielhaft zu überprüfen. Dies gilt auch für das Diagnosespektrum der aufgenommenen Patienten, das bereits in den ersten zwanzig Jahren des Bestehens der »Rasemühle« sich überwiegend aus »funktionellen Neurosen«, darunter Neurasthenie, Hysterie und »endogener Nervosität« zusammensetzte.68 Um einen Überblick über die Anzahl von Patienten mit Diagnosen zu gewinnen, bei denen auf der Grundlage des damaligen Fachdiskurses eine psychotherapeutische Behandlung in Erwägung hätte gezogen werden können, wurden zur groben Orientierung für das Sanatorium »Rasemühle« alle Eingangsdiagnosen, bei denen eine Depression bzw. Hysterie oder Neurose69 attestiert wurde, in den Pool aufgenommen. Dabei wurde das jeweilige Alter der männlichen und weiblichen Patienten bei der Erstdiagnose mit berücksichtigt. Um erste Hinweise auf zeitliche Eigenheiten in der Diagnosevergabe zu erhalten, wurden zum Vergleich für den Zeitraum zwischen den Weltkriegen (1919 bis 1939) auch der Zeitraum von 1900 bis 1918 und von 1940 bis 194270 entsprechenden Eingangsdiagnosen nach Alter und Geschlecht ausgezählt.71

67 Vgl. Fangerau, Heiner: »Politik und Nervosität. Gründung und Betrieb der ersten deutschen Volksnervenheilstätte ›Rasemühle‹ bei Göttingen zwischen 1903 und 1914«, in: Krankenhauspsychiatrie 16 (2005), S. 25-32; siehe auch ders.: »›Geräucherte Sülze, mit Schwarten durchsetzt, teilweise kaum genießbar…‹ – Patientenkritik und ärztliche Reaktion in der Volksnervenheilstätte 1903-1932«, in: Ders./Karen Nolte, »Moderne« Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert. Legitimation und Kritik, Stuttgart: Steiner 2007, S. 371-394 sowie den Beitrag von Heiner Fangerau in diesem Band. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Umbenennung 1952 in »Niedersächsisches Landeskrankenhaus Tiefenbrunn« wurden auch psychosomatische und psychoanalytische Therapieansätze verfolgt. 68 H. Fangerau: Politik, S. 30. 69 Dabei ist zu bedenken, dass in dem betrachteten Zeitraum sehr zeit- und schulabhängige unspezifische Diagnosen existierten, wo durchaus Hysterie, Psychopathie, reaktive Depression, endogene Depression und Schizophrenie zugleich oder nacheinander bei einem einzelnen Patienten diagnostiziert werden konnten. 70 Die Anstalt wurde 1942 aufgrund des Ausbleibens von Patienten geschlossen, zwischenzeitlich als Lazarett genutzt und 1947 als Nervenheilanstalt wiedereröffnet. Vgl. H. Fangerau: Politik, S. 31. 71 Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover (=HStAH), Hann. 155 Tiefenbrunn, Gesamtzahl vorhandener Akten.

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Tab. 1: HStAH, Hann. 155 Tiefenbrunn. Diagnosen bei erstmaliger Aufnahme 1900-1918 (D = Depression, H = Hysterie, N = Neurose) Alter

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Tab. 2: HStAH, Hann. 155 Tiefenbrunn. Diagnosen bei erstmaliger Aufnahme 1919-1939 Alter

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Tab. 3: HStAH, Hann. 155 Tiefenbrunn. Diagnosen bei erstmaliger Aufnahme 1940-1942 Alter

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Von den insgesamt 3165 überlieferten Patientenakten wurden von 1903 bis 1942 256 Patienten und 304 Patientinnen mit einer der erwähnten Diagnosen in der »Rasemühle« behandelt. Eine geschlechterspezifische Zuordnung der Diagnose Hysterie ist eindeutig in dem Zeitraum 1900 bis 1918 zu registrieren: von 73 Patientinnen wurden 60 Frauen mit einer Eingangsdiagnose Hysterie aufgenommen. Bei den männlichen Patienten lässt sich in diesem Zeitraum kein relevanter Unterschied bei den Diagnosen Hysterie (18), Depression (22) und Neurose (15) erkennen. Zwischen den Kriegen wurde bei zweihundert aufgenommenen Frauen insgesamt nur 47 Mal Hysterie diagnostiziert; dagegen nahm der Anteil der Eingangsdiagnose Depression bei Frauen deutlich zu. Bei den männlichen

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Patienten verschwand im Zeitraum von 1919 bis 1939 zunehmende die Diagnosekategorie Hysterie, während die Eingangsdiagnose Depression bzw. Neurose annähernd gleich häufig in den Akten verzeichnet wurde. Die Zufallsauswahl von Patientenakten aus dem Sanatorium »Rasemühle« kann also einen beispielhaften Eindruck davon geben, wie die Anwendung des in den 1920 und 1930er Jahren diskutierten psychotherapeutischen Instrumentariums in einer Einrichtung ausgesehen hat, die explizit für leichtere »nervöse« Störungen zuständig sein sollte. Was bleibt vom Fachdiskurs unter den Psychiatern und Ärzten in der Praxis übrig, der sich in der Wahrnehmung der psychisch Kranken von Seiten der Ärzte und der von ihnen angewiesenen Therapie widerspiegelt? Aus den analysierten Krankenakten seien hier folgende charakteristische Krankengeschichten dargestellt, die zugleich auch ein Beispiel für gutachterliche Kontroversen in Hinblick auf die Anerkennung kriegsbedingter Krankheitsfolgen und denen daraus abzuleitende Rentenansprüchen bzw. Kostenübernahme durch die Versicherung sind.72 Krankengeschichte Fritz H. Der 25-jährige Verwaltungsbeamte Fritz H. kam 1916 zum ersten Aufenthalt in das Sanatorium »Rasemühle«73 mit den Diagnosen »Nervosität und Herzneurose«. Als Therapie erhielt er »allgemeine Massagen, Stirn- und Nackenmassagen, Kiefernadelbäder, elektrische Kopfduschen und Brom«. Er wurde nach einem Monat als gebessert und für berufsfähig erklärt, aber mit dem Hinweis »Verdacht auf beginnende Psychose (nicht ganz von der Hand zu weisen)« entlassen. 1918 kam Fritz H. erneut in das Sanatorium, dieses Mal mit den Diagnosen »Hysterie, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Zittern sowie Bewusstlosigkeit«. Bei diesem zweiten Aufenthalt wurde er mit »Massagen, Kiefernadelbädern und beruhigender Medizin« behandelt. Nach drei Monaten wird H. mit der Diagnose »Symptomatische Besserung, geringere Reizbarkeit, aber leichte Erregbarkeit« entlassen. Ein Jahr später folgte der dritte Aufenthalt. Nun lautete die Diagnose »psychopathische Minderwertigkeit«. Zu diesem Zeitpunkt enthalten die Akten erstmalig eine ausführlichere Anamnese. Aus dieser erschließt sich, dass Fritz H. als Landsturmmann in den Ersten Weltkrieg eingezogen worden war und die Aufnahme in die »Rasemühle« 1916 wegen »Wut- und Schreianfällen in der Öffentlichkeit sowie Krampfanfällen« erfolgte. 1918 hatte man Fritz H. wegen »Nervenleiden und Radikalope-

72 Vgl. zu den politischen, rechtlichen als auch psychiatrischen Hintergründen S. Neuner: Politik und Psychiatrie, S. 88-90, 155-165. 73 HStAH, Hann. 155 Tiefenbrunn Acc. 2004/089 Nr. 910.

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ration (des linken Ohres)« aus dem Kriegsdienst entlassen, weil zwei Kuraufenthalte keine Besserung der Beschwerden herbeigeführt hatten. H. litt seitdem an ständigen Entzündungen am operierten Ohr. Zusätzlich wurde ihm eine leichte Einschränkung der geistigen Tätigkeit attestiert. Eine Kriegsverletzung sei nicht auszuschließen, stellte der Anstaltsarzt 1919 fest. Im gleichen Jahr erhielt Fritz H. als Therapie »Allgemeine Massage«, zwei Vollbäder mit nachfolgender Abreibung, eine Ruhekur und zusätzlich Milch. Man überlegte, ob dem Vorschlag des einweisenden Arztes gefolgt werden solle, »Hypnose und Elektrizität« anzuwenden. Nachdem 1921 eine eitrige Knochenentzündung des Kopfes in der Universitätsklinik Göttingen diagnostiziert wurde, erfolgte der vierte Aufenthalt in der »Rasemühle«. Mit der Diagnose »überreizter Psychopath«74 wurde ihm für eine Woche einen Therapieplatz75 zugewiesen. Wie einem Briefwechsel zu entnehmen ist, weigerte man sich zuvor, ihn in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg76 aufzunehmen. Der Lüneburger Psychiater Dr. Pförtner schlug eine Einweisung in die Bodelschwinghschen Anstalten Bethel oder stattdessen Ruhe

74 Im Oktober 1921 erfolgte eine Anfrage des Reichsversorgungsgerichts, ob das 1916 gebesserte Nervenleiden sich aufgrund des erneuten Kriegsdienstes bis 1918 verschlechtert habe. Dies wurde vom Gutachter und Leiter der »Volksnervenheilstätte« Dr. Georg Quaet-Faslem verneint, da der Patient nur in einer Schreibstube habe tätig sein müssen. In einem Gutachten vom August 1922 wurde vom Gutachter der Heilund Pflegeanstalt Göttingen ein weiterer Aufenthalt in der »Volksnervenheilstätte« gefordert mit der Begründung, dass sich H.s »hochgradige […] Nervosität« durch den Kriegsdienst »verschlimmert« habe. Der ärztliche Gutachter Dr. Singer schlug am 8.6.1923 für den »überreizten Psychopathen« eine erneute Kur in der Rasemühle vor. Wie sehr der Patient selber sich um eine erneute Behandlung bemühte, wird daran deutlich, dass er bereits am 11. Juni schriftlich angefragt hatte, welche Kosten für eine Woche zu erwarten seien. Aufgrund der Inflation stiegen die Aufenthaltskosten rasant an. Betrugen Mitte Juni die Aufenthaltskosten in der Ersten Verpflegungsklasse 15.000 Reichsmark und in der Zweiten Klasse 13.000 Reichsmark ohne Nebenkosten, so waren die Aufenthaltskosten Ende Juli bereits auf 57.000 bzw. 49.800 Reichsmark pro Tag gestiegen. Ab 15. August 1923 wurde von der Verwaltung angekündigt, dass 208.400 bzw. 179.300 Mark pro Tag zu zahlen seien. HStAH, Hann. 155 Tiefenbrunn Acc. 2004/089 Nr. 910. 75 Die Kurkosten von rund 50.712 Reichsmark für den Aufenthalt 1921 wurden von Reichsversorgungsanstalt beglichen, da auf Grundlage ärztlicher Gutachten aus der Universitätsnervenklinik Göttingen die Schmerzen und Entzündung des Knochens als Kriegsfolge angesehen wurden. 76 Brief vom 26.4.1921, HStAH, Hann. 155 Tiefenbrunn Acc. 2004/089 Nr. 910.

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als Therapie vor, da im Fall von Fritz H. »ärztliche Behandlung Nebensache« sei. Der fünfte Aufenthalt erfolgte schließlich vom 21. August bis zum 8. September 1923. Die Therapie bestand jetzt aus Vollbädern und elektrischen Massagen. Fritz H. wurde wiederum als »gebessert« entlassen. Eine letzte Karte vom 31. Dezember 1924 enthält »mit militärischen Gruß« den Dank und den Hinweis von Fritz H., dass es ihm besser gehe. Krankengeschichte von Adolf A. und Heinrich D. Dass in der Zwischenkriegszeit häufig die Feststellung der Arbeitsfähigkeit Grund der Aufnahme war, zeigt sich an dem Fall des 42-jährigen Arbeiters Adolf A.77, der 1921 mit der Diagnose »nervöse Symptome mit hysterischer Komponente« eingewiesen wurde. Adolf A. wurde bei der Entlassung eine »Kriegsneurose« attestiert. Der behandelnde Arzt stufte ihn als »ungeheilt aber arbeitsfähig« ein, nachdem er für vier Wochen Liegekuren, heiße Bäder, Frottage und Massagen erhalten hatte. Trotz aller theoretischer Diskussion über Neuroseentwicklung von Kriegsteilnehmern aufgrund traumatischer Erlebnisse und des kathartischen Effekts durch Bewusstmachen unterhalb der Bewusstseinsschwelle liegender Traumata78 war das Therapieprogramm in diesem Fall ganz und gar nicht psychotherapeutisch in Hinsicht auf eine psychoanalytische »Aufdeckung des Konfliktes«. Hierfür steht auch das Beispiel des 29-jährigen Lokomotivführers Heinrich D., der 1920 zur Beobachtung und Feststellung seiner Arbeitsfähigkeit in die »Rasemühle« eingewiesen wurde.79 Er klagte über unerträgliche Schmerzen in Beinen und Rücken, aufgrund derer er häufig krank- und arbeitsunfähig geschrieben wurde und seinen Beruf als Lokomotivführer nicht ausüben konnte. Aufgenommen wurde er auf Antrag seines Arbeitgebers, der Deutschen Reichsbahn, mit der Diagnose »Neurose aus Eisenbahnunfall«. Heinrich D. war 1915 als Lokführer eines Munitionszugs mit einem Lazarettzug zusammengestoßen. Bei dem Unfall gab es 17 Tote, der damals 24-jährige Heinrich D. wurde an Bein und Rücken verletzt. Medizinisch war er geheilt, aber die Schmerzsymptomatik und die »Unfall-Neurose« bestanden weiterhin. Als Therapie wurden in der »Rasemühle« Vollbäder, »Galvano-Faradisation der Beine« und Höhensonne verordnet. Man entließ ihn als »geheilt und dienstfähig«, er sollte aber zunächst

77 HStAH, Hann. 155 Tiefenbrunn Acc. 2004/089 Nr. 830. 78 C.G. Jung: Psychotherapie, S. 63. 79 HStAH, Hann. 155 Tiefenbrunn Acc. 2004/089 Nr. 759.

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nicht mehr als Zugführer eingesetzt werden. Auch bei D. ist keine psychotherapeutische Auseinandersetzung mit seiner unfallbedingten Traumatisierung dokumentiert. Krankengeschichte Maria E. Die unterschiedliche Sicht vonseiten der Anstaltsärzte und der außerhalb der Anstalt eine Patientin behandelnden Ärzte zeigt die Krankengeschichte der 46jährigen, verheirateten Maria E., die 1915 das erste Mal mit der Diagnose »endogene Nervosität« in die »Rasemühle« aufgenommen wurde. Innerhalb ihres dreimonatigen Aufenthaltes behandelt man sie mit allgemeinen Massagen, Bädern, elektrischer Reiztherapie (Faradisierung), Brombädern. Entlassen wird sie mit der Diagnose »Zwangsgedanken und Depression«. Im Mai 1926 wird Maria E. zum zweiten Mal in das Sanatorium aufgenommen.80 Die Einweisung veranlasste ihr Arzt Dr. Wittmann, nachdem ihr zweiter Ehemann 1924 nach einem Selbstmordversuch in eine geschlossene Anstalt eingewiesen wurde. Bei ihrer zweiten Aufnahme erhält Maria E. die Diagnose »Zwangsgedanken, Vitium cordis (Herzklappenfehler) und Hypermetropsie«. Nach einer Therapie von Kiefernadel- und Kohlensäurebäder, Massagen und Bromammonit wird sie mit der Diagnose »Zwangs- und Selbstmordgedanken, Epilepsie, Geisteskrankheit und Berührungsängste« im Juli 1926 entlassen. Dieser vernichtenden Diagnose des Sanatoriums widersetzten sich ihre Ärzte81. Sie betonten, dass ihre Patientin nicht an »Epilepsie, Geisteskrankheit etc.« leide und begründeten ihre Auffassung mit dem Hinweis auf ihren langjährlichen ärztlichen Kontakt zur Patientin. Da sowohl ihre Ärzte und ihr Bruder, Direktor einer Fahrradfabrik, sich um Maria E. kümmerten, lebte sie weitere zehn Jahre nach ihrer Entlassung unauffällig. Ihr dritter Aufenthalt mit der Einweisungsdiagnose »Zwangsneurose« dauerte 1936 einen Monat, ohne dass ersichtlich wäre, welche Behandlung Maria E. erhalten hat. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt. Krankengeschichte Frederike D. Dass ein Aufenthalt in der Psychiatrie zu einer Stigmatisierung führen konnte, zeigt auch die Krankengeschichte der 51-jährigen Frederike D. Nach einem Unfall im Herbst 1926 in einer Garnspinnerei, bei dem D. zwischen einem Webstuhl und einer Maschine eingeklemmt wurde, erfolgte im Dezember 1926 ihre Einweisung in die »Rasemühle« mit der Diagnose »abnorme seelische Reaktion

80 HStAH, Hann. 155 Tiefenbrunn Acc. 2004/089 Nr. 2500. 81 HStAH, Hann. 155 Tiefenbrunn Acc. 2004/089 Nr. 2500, Brief vom 27.8.1926.

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auf Unfall und Involutionsmelancholie«82. Die Therapie mit Bädern, Massagen und Gymnastik brachte keine Besserung, und im Verlauf ihres Aufenthaltes veränderte sich ihre Eingangsdiagnose dahingehend, dass es sich um eine »hypochondrische« Patientin handele »mit der Symptomatik einer Psychose, die keine Folge des Unfalls« sei. Frederike D. wird nach drei Monaten mit der Diagnose »ungebessert, aber arbeitsfähig« entlassen. Es liegt nahe, dass aufgrund des Ausbleibens eines Behandlungserfolges der Anstaltsarzt das Leiden der Patientin umdeutete und er deshalb eine »seelischen Reaktion« als Folge des Unfalls negierte. Infolge dessen qualifizierte er den Zustand der Patientin als »hypochondrisches Verhalten mit psychotischer Symptomatik«, was damit auch den Therapiemisserfolg quasi »erklärte«. Krankengeschichte Arnold R. Ein eindrucksvolles Beispiel für die verschiedenartige psychiatrische bzw. und medizinische Einschätzung eines Schmerzpatienten lässt sich an der Leidensgeschichte des 42-jährigen Schlossers Arnold R. aufzeigen83, der seit Sommer 1935 aufgrund von unerträglichen Leibschmerzen häufiger in der Klink war, aber stets ohne Besserung entlassen wurde. 1936 stellte sein Arbeitgeber einen Antrag auf medizinische Behandlung. In die »Rasemühle« eingewiesen wurde Arnold R. mit der Diagnose »Spastische Obstipation infolge Nikotinabusus und Darmkoliken«. Die Behandlung erfolgte mit Belladonna-Zäpfchen. Man entließ ihn als »nicht gebessert, aber arbeitsfähig« mit dem Zusatzvermerk »Colon spasmum; psychogene Ursache«. Damit wurde der mögliche Anspruch des Patienten auf Rente erschwert. Die Diagnose »psychogen« legte aus damaliger psychiatrischer Auffassung den Schluss nahe, dass es sich um »eingebildete Schmerzen« handele. Dieser Einschätzung widersprach der behandelnde Internist von Arnold R., der Vernarbungsschmerzen infolge einer kriegsbedingten Magenerkrankung sowie eines schlecht verheilten Darmgeschwürs vermutete. Welche Schlussfolgerungen aus diesem Widerspruch des Internisten gegen die psychiatrische Diagnose »psychogen« gezogen wurden, ist den Akten nicht zu entnehmen.

82 HStAH, Hann. 155 Tiefenbrunn Acc. 2004/089 Nr. 1246. 83 HStAH, Hann. 155 Tiefenbrunn Acc. 2004/089 Nr. 249.

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Krankengeschichte Helene D. und Mathilde D. Bei den Patienten mit einer diagnostizierten »Hysterie« lässt sich ein etwas anderes therapeutisches Vorgehen feststellen, als bei jenen mit der Diagnose Depression: Die schon mehrfach mit der Diagnose »Hysterie« eingelieferte verheirate Helene D.84 wurde 1935 mit der Diagnose »Hysterie mit Paranoia und Erschöpfung« in die »Rasemühle« aufgenommen. Sie erhielt als Therapien Neurogenund Kiefernadelbäder, Fußbäder, Massagen, Bromnervacit, Calcipot, Vollkost, Iodbromtropfen, »Elektroden an den Ohren«, Lubrium und Ruhe im »Liegestuhl«. Entlassen wurde sie mit dem Zusatz »Allgemeine Erschöpfung und nervöse Alteration des Hörnervens«. Die verheiratete Mathilde D.85 war seit ihrem 36. Lebensjahr fünf Mal für jeweils etwa vier Wochen in die »Rasemühle« mit der Diagnose »Hysterie« eingewiesen worden. 1938 erhielt sie »Ferr. Reduct (Eisen), Natr. Bicarbonic, Rad. Valerian« und »Neurogen« sowie Kiefernadelbäder, eine »elektrische Kopfdusche«, Beinmassagen, Luminal, Milch und Hypnose. Ohne Behandlungserfolg wird sie mit der Diagnose »schwere Hysterie« aus dem Sanatorium entlassen. Wie das weitere Schicksal dieser beiden Patientinnen war, ist nicht bekannt. Betrachtet man das Umgehen mit »hysterischen« Patienten anhand der beschriebenen Beispiele, so wurden diese in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg unter dem Konzept der Nervosität mit Bädern, Massagen und/oder einer elektrischen Reiztherapie behandelt. Die Patienten wurden meist ungebessert entlassen. In den 1930er Jahren sind noch Bäder und elektrische Behandlung geblieben, nur das Arsenal der Beruhigungstropfen wurde erweitert. Wenn gar nichts half, wurde auf Hypnoseverfahren zurückgegriffen. Obwohl die Hypnose im theoretischen Diskurs in den 1930er Jahren kaum mehr eine Rolle spielte, da sie als psychotherapeutische Technik anerkannt war, verwundert es, dass sich diese therapeutische Möglichkeit nur einmal in den betrachteten Patientenakten wiederfand. Vermerke bezüglich der Chancen einer Konfliktbearbeitung durch psychotherapeutische Therapien auf der Grundlage der psychoanalytischen Technik sind in den untersuchten Akten selten zu finden. Eine Ausnahme bildet der folgende Fall der Anna D.

84 HStAH, Hann. 155 Tiefenbrunn Acc. 2004/089, Nr. 2518. 85 HStAH, Hann. 155 Tiefenbrunn Acc. 2004/089, Nr. 2639.

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Krankengeschichte Anna D. Die 38-jährige Anna D. wurde im August 1941 mit der Diagnose »Psychoneurose«86 in die »Rasemühle« eingewiesen. Über den Grund der Psychoneurose geben die Akten leider keine Auskunft. Während ihres sechswöchigen Aufenthaltes erhielt Anna D. als Therapie Kiefernadelbäder, Kopfduschen und Bauchmassagen. Zudem wurde auch die in Fällen von Neurosen häufig verordneten Liegekuren bei ihr angeordnet. Bei Anna D. ist aber zusätzlich eine Psychotherapie in Hinsicht auf Psychokatharsis als Therapieanordnung verzeichnet. Nach dem Ablauf ihres Aufenthalts entließ man Anna D. als »gebessert«. Zur weiteren Behandlung wurde eine zweiwöchige psychotherapeutische Behandlung empfohlen. Die Ausnahme der Anna D. hinsichtlich der ärztlichen Verordnung von Psychotherapie verdeutlicht die in den untersuchten Akten zu beobachtende Differenz zwischen Theorie und Praxis derartiger Therapien. So stellt sich die Frage, wie diese Differenz im betrachteten Zeitraum zwischen den Kriegen zu erklären ist. Eine Äußerung des Heidelberger Psychiaters Albert Homburger könnte dafür überlegenswerte Hinweise geben. Homburg schrieb 1928 in dem Einleitungsbeitrag des ersten Heftes der Fachzeitschrift »Der Nervenarzt«: »In diesem Rahmen [des Krieges, BL] von Befehlsgewalt, Gehorsam und Primitivität lernten viele Ärzte die Psychotherapie allererst kennen. Nicht wenigen von ihnen fühlten sich allein aufgrund ihres damaligen Erfolges [in der Anwendung der Hypnose, Suggestionstherapie Psychokatharsis, BL] zu Psychotherapeuten vom Fach berufen. Andere lernten kennen und belächeln, mit wie wenig Wissen und Weisheit Menschen herrschen und beherrscht werden können. Sie stellten dar, wie man Psychotherapeut und Menschenver87

ächter in einer Person werden kann.«

Könnte diese Einstellung der durch den Krieg geprägten Ärzte den Verzicht auf die damals entwickelten modernen psychotherapeutischen Verfahren in den Heil- und Pflegeanstalten begründen? Die in den Psychiatrien arbeitenden Ärzte hatten kaum Erfahrung noch Verständnis für das Phänomen der Traumatisierung und ihrer psychischen und somatischen Auswirkungen. Diese Chance, die in dieser anderen Therapieform bestand – so muss man für die Zwischenkriegszeit konstatieren – wurde ignoriert. Dies zeigt sich auch aus den ersten Ergebnissen

86 HStAH, Hann. 155 Tiefenbrunn Acc. 2004/089, Nr. 2766. 87 Homburger, Alfred: »Die Gefahr der Überspannung des psychotherapeutischen Gedankens«, in: Nervenarzt 1 (1928), S. 1-6, zit. nach Schröder, Christine: Fachstreit um das Seelenheil, Frankfurt a.M.: Lang 2007, S. 178.

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aus den Patientenakten des Sanatoriums »Rasemühle« der preußischen Provinz Hannover, wo aufgrund des therapeutischen Auftrags der Einrichtung die Anwendung der damals diskutierten psychotherapeutischen Verfahren erwartbar gewesen wäre. Wie weit der Weg noch war, bis Patienten überhaupt eine »Gesprächstherapie« als Behandlungsmethode in den psychiatrischen Anstalten angeboten wurde, zeigt sich daran, dass in den 1950er Jahren gelegentlich in den Krankenakten als Behandlung »Gespräch« verzeichnet wurde. So kann man für den betrachteten Zeitraum durchaus zu folgendem Schluss kommen: Eine »Therapie der Seele« wurde in den 1920er Jahren von einem Teil der Ärzteschaft eingefordert. Über deren Bedeutung für die Gesellschaft äußerte sich C.G. Jung 1929 wie folgt: »Deshalb erhebt die Psychologie Anspruch darauf, Allgemeingut zu werden, und zwar noch in höherem Maße, als die vorangegangenen Stufen [der Psychotherapie, BL], die jede für sich schon Träger einer allgemeingültigen Wahrheit sind. Aber zwischen diesem Anspruch und der heutigen Wirklichkeit liegt ein Abgrund, über den keine Brücke führt. Sie muss noch Stein für Stein gebaut werden.«88

Jung hatte damals die Lage durchaus realistisch eingeschätzt, und an dieser »Brücke« wurde lange Zeit nicht weitergebaut. Offenbar war die Zeit für das weitgesteckte Ziel noch nicht gekommen, mit einer wissenschaftlichen begründeten Therapie, die »heilsam« auf die Psyche des Menschen einwirkt eine therapeutische Rückführung hin zur »Normalität« oder »psychische Gesundheit« herbeizuführen. Das zeigt sich auch an dem langen Weg, bis man bestimmte Formen seelischer Erkrankung und deren Behandlung bzw. Heilung durch spezifische Psychotherapien als eine Aufgabe professionellen ärztlichen Handelns ansah und eine entsprechende Ausbildung in diesem Bereich anbot.

88 C.G. Jung: Psychotherapie, S. 81.

»Mein jahrelanger Kampf gegen den Psychiater Größenwahn« ªIrrenbroschüren© als Form einer Psychiatriekritik um 1900 R EBECCA S CHWOCH

E INFÜHRENDES Die sich in den 1880er Jahren entwickelnde psychiatriekritische Bewegung war mindestens vierzig Jahre lang aktiv. In den beiden Dezennien um die Jahrhundertwende sind die meisten psychiatriekritischen Aktivitäten zu verzeichnen, wurden die meisten psychiatriekritischen Schriften publiziert. Wann diese Bewegung definitiv aufhörte zu existieren, ist nicht zu beziffern. In den 1920er Jahren, aber vor allem gegen Ende des zweiten Dezenniums ebbten die Veröffentlichungen zu psychiatriekritischen Themen enorm ab. Im Januar 1922 erschien die letzte überlieferte Ausgabe der »Irrenrechts-Reform« des Bundes für Irrenrecht und Irrenfürsorge, dem bedeutendsten unter den psychiatriekritischen Vereinen, dessen »internationale volkstümliche Zeitschrift« eine Auflage von immerhin 10.000 Exemplaren1 erreichte. In diesem letzten eruierten Heft wurde noch enthusiastisch von »unseren Erfolgen« berichtet.2 Eine Ankündigung hinsichtlich einer Auflösung des Bundes resp. seiner Zeitschrift konnte bisher nicht gefunden werden, weswegen weitere, nachfolgende Hefte nur vermutet werden können. Noch 1927 hat der Hamburger Psychiater und Verfechter der Rassenhygiene,

1

Vgl. Lomer, Georg: »Ein antipsychiatrisches Zentralorgan«, in: Psychiatrisch-Neu-

2

Vgl. Anonym: »Aus unseren Erfolgen (Nur ein kleiner Ausschnitt)«, in: Nachrichten-

rologische Wochenschrift 11 (1909/10), S. 273-275, hier S. 275. blatt für Irrenrechts-Reform, hg. vom Bunde für Irrenrecht und Irrenfürsorge E.V. [14] (1922) Nr. 70 (Januar), o. S.

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Ernst Rittershaus (1881-1945), das Verfassen eines Buches über die »Irrengesetzgebung in Deutschland« für nötig erachtet, das sich explizit an Ärzte, Juristen und gebildete Laien wandte. D.h., gegen Ende der 1920er Jahre war dieses Thema noch nicht vom Tisch. Zudem schrieb Rittershaus in seinem Nachtrag, dass während des Buchdruckes »wiederum einige Meldungen von angeblichen widerrechtlichen Internirungen durch die Presse« gegangen seien; aber keiner dieser Fälle habe einen »psychisch völlig normalen, geistig gesunden Menschen« getroffen.3 Noch immer war also die Psychiatriekritik Thema der Öffentlichkeit. Die psychiatriekritische Bewegung in Deutschland entwickelte sich etwa parallel mit dem akademischen Etablierungsprozess der Psychiatrie und der dadurch zunehmenden Deutungsmacht der Psychiater. Die Kritiker warfen den Psychiatern Machtmissbrauch vor. Dieser Vorwurf konzentrierte sich im Wesentlichen auf die Anstaltskontrolle, Einweisung bzw. Entlassung sowie Entmündigung. Die Psychiatriekritiker, zu denen Psychiatrieerfahrene, Juristen, Journalisten, einige wenige Ärzte, Politiker u.a. gehörten, scheuten keine Mittel, um auf sich aufmerksam zu machen: Sie veröffentlichten Artikel in Zeitungen und Zeitschriften, schrieben Bücher und Broschüren, gründeten Verbände und Zeitschriften, initiierten im Reichstag und in Länderparlamenten Debatten zu vermeintlichen oder tatsächlichen Missständen in der Psychiatrie. Die »Irren« wollten so ihr eigenes Schicksal der Öffentlichkeit vermitteln; die Unterstützer, die selbst keine eigenen Erfahrungen mit der Psychiatrie gemacht haben, wollten die Öffentlichkeit ob dieser Missstände aufrütteln. Psychiatriekritiker nahmen kein Blatt vor den Mund; im Gegenteil, sie gingen mit ihren »Feinden« hart ins Gericht. So schrieb 1895 ein Dr. Düsing auf antisemitischer Basis, es sei bekannt, dass fortgesetzt gesunde Personen in »Irrenanstalten« gesperrt und entmündigt würden, wobei ersteres straflos bleibe, bei letzterem sogar die Gerichte mitwirken würden. Bei vielen Irrenärzten herrsche eine wahre Einsperrungssucht.4 Friedrich Kretzschmar, selbst offensichtlich kein Psychiatrieerfahrener, meinte gar: »Jede Abnormität nicht nur, jede Ungewöhnlichkeit im alltäglichen Leben begegnet sofort dem Schlagwort

3

Rittershaus, E[rnst]: Die Irrengesetzgebung in Deutschland nebst einer vergleichenden

4

Düsing: Die Verjudung der Ärzte und das dadurch veranlasste Eindringen des Cynis-

Darstellung des Irrenwesens in Europa, Berlin/Leipzig: de Gruyter 1927, S. 257. mus in die Medizin. Ein Beitrag zur Frauenärztinnen-Frage, Münster: Johs. Basch 1895, S. 22-23.

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›Krankheit‹!«5 Der Präsident des Zürcher Irrenrechts-Reformvereins, Ludwig Fliegel, meinte zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die psychiatrische Wissenschaft stecke noch zu sehr in den Kinderschuhen, weswegen sie noch nicht in der Lage sein könne, auf den Geisteszustand eines Menschen sicher schließen zu können. Aber gerade deshalb sei es gefährlich, »daß diese junge Wissenschaft die Macht erhält, das Todesurteil über einen Menschen zu fällen«. Im Übrigen ließen auch die Person und der Geisteszustand mancher Irrenärzte selbst sehr viel zu wünschen übrig.6 Psychiatriekritiker bedauerten geradezu, dass »die stolze Wissenschaft nicht zugeben will, daß viele ihrer Lehren auf bloßem Glauben bestehen und nicht bewiesen sind«.7 So sprachen sie auf der einen Seite dem »Seelen-Piraten«8 jede Kompetenz ab, die eigene jedoch wurde selbstbewusst aufgewertet: »Statt thatsächliche, auch dem Laien oder dem unbefangenen Psychologen nicht entgehende Geisteskrankheiten zu heilen, mühen sie sich ab, durch spitzfindige, ellenlange, gelehrte Gutachten ganz gesunde Menschen zu ›Irren‹ zu stempeln.«9 Psychiatriekritikern wie Ernst Böttger war klar: Irrenärzte litten an einem »Ausfluß einer Ueberschätzung des eigenen wissenschaftlichen Wertes«.10 Dennoch wird in vielen dieser Schriften auch eine Position deutlich, die zwar der jungen, noch wenig sicheren Wissenschaft die Macht absprechen mochte, jedoch keine grundsätzlichen Bedenken gegen die vielleicht in Zukunft einmal wirkende, reife und sichere psychiatrische Wissenschaft äußerte.

5

Kretzschmar, F[riedrich]: Die Unvollkommenheit der heutigen Psychiatrie und die Mangelhaftigkeit der deutschen Irrengesetzgebung mit Entwurf einer neuen Irrenprocessordnung. Ein Wort zur Irrenfrage an Laien, Aerzte und Juristen, Leipzig: Rudolf Uhlig 1891, S. 3.

6

Fliegel, L[udwig]: Dunkle Punkte im Irrenwesen. Ein Mahnruf! Zürich: Conzett & Cie 31904, S. 25.

7

Franz, S.: »Anhang«, in: L. Fliegel: Dunkle Punkte im Irrenwesen, S. 44.

8

Anonym [Konsul Loehnert]: Entspricht das Irrenwesen der deutschen Bundesstaaten dem Kultur- und Rechtszustand des deutschen Reiches und warum ist ein ReichsIrrengesetz dringendes Bedürfniß? Ein Wort zur Irrenfrage an Laien, Ärzte und Juristen, Leipzig: Rudolf Uhlig 1899, S. 54.

9

Ebd.

10 Böttger, Ernst: Die Entmündigung des Kreisarztes Dr. med. W. … wegen Querulantenwahnes. Juristisch-psychologische Kritik eines ärztlichen Gutachtens nach aktenmäßiger Darstellung. Mit einem offenen Brief an den Gerichtspsychiater, Herrn Geheimen Medizinalrat Dr. Binswanger, o.ö. Professor an der Universität Jena, Berlin: K.G.Th. Scheffer 1913, S. 96.

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Mit dem Gang in die Öffentlichkeit war es möglich, dieselbe zu nutzen, um die Autorität medizinischer Experten, aber auch juristischer Fachleute anzugreifen und gleichermaßen zu untergraben.11 Der sich akademisch festigenden Psychiatrie wurde auf diese Weise eine vielgestaltige Kraft entgegengehalten, die sowohl das Bild der Psychiater und ihrer Wissenschaft beeinflusste als auch die Psychiater selbst in Zugzwang zu versetzen vermochte. Auf verschiedene Art und Weise versuchten die beteiligten Akteure ihre jeweiligen Positionen argumentativ in der Öffentlichkeit zu platzieren. Neben diesen in den unterschiedlichen Sektoren des öffentlichen Raumes zur Wirkung kommenden Stellungnahmen gab es auch ein direktes Aufeinandertreffen zwischen einzelnen Personen aus den unterschiedlichen Lagern, wenn beispielsweise im Rahmen eines Gerichtsprozesses psychiatrische Experten die Geschäftsfähigkeit einer konkreten Person zu begutachten hatten.12 Aus den vielen und vielfältigen autobiografischen Berichten, auch »Irrenbroschüren« genannt, sollen in diesem Aufsatz exemplarisch einige hervorgehoben werden; damit sei gleichzeitig betont, dass andere psychiatriekritische Publikationen hier nicht weiter im Mittelpunkt stehen. Die Titel dieser »Irrenbroschüren« waren oft ziemlich reißerisch: »Räuber der Vernunft oder sechs Jahre geistig lebendig begraben«13, »Bis zur Flucht im Irrenhause«14 oder »Mein jahrelanger

11 Vgl. Goldberg, Ann: »A Reinvented Public: ›Lunatics’ Rights‹ and Bourgeois Populism in the Kaiserreich«, in: Eric J. Engstrom/Volker Roelcke (Hg.), Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur Geschichte von psychiatrischen Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum, Basel: Schwabe 2003, S. 189-217, hier S. 198; Schwoch, Rebecca/Schmiedebach, Heinz-Peter: »›Querulantenwahnsinn‹, Psychiatriekritik und Öffentlichkeit um 1900«, in: Medizinhistorisches Journal 42 (2007), S. 30-60, hier S. 34. 12 Vgl. z.B.: R. Schwoch/H.-P. Schmiedebach: »Querulantenwahnsinn«; Schwoch, Rebecca: »Ernst F. Müller contra Carl Wernicke – Eine psychiatriekritische Auseinandersetzung um 1900«, in: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 14 (2008), S. 171-198; Dies.: »Richterliche Macht und psychiatrisches Expertenurteil. Zum Entmündigungsprozess des Dr. med. Weißgerber wegen Querulantenwahnsinns um 1900«, in: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 17 (2011), S. 123-148. 13 Fixson, Karl: Räuber der Vernunft oder sechs Jahre geistig lebendig begraben. Ein neuer Justizmord auf dem Gebiete des Entmündigungswesens wegen angedichteter Geisteskrankheit; ein Zeit- und Sittengemälde Preußens und Deutschlands am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, Berlin: Selbstverlag 1897.

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Kampf gegen den Psychiater Größenwahn«15. Diese Veröffentlichungen haben zum einen Aufsehen erregt – teilweise mehr, teilweise weniger –, zum anderen wurde damit aber auch die Öffentlichkeit zum »Schlachtfeld«, wie der Psychiatriekritiker Friedrich Kretzschmar 1896 schrieb16. Diese besondere Gattung verschriftlichter und publizierter Psychiatriekritik gibt eine Menge Informationen preis: Informationen zur Biografie des Autors, zum (ungewollten) Kontakt zur Psychiatrie – dazu gehören meist auch Auszüge aus den entsprechenden psychiatrischen Gutachten – oder zu laufenden resp. abgeschlossenen juristischen Verfahren. Die Adressatin dieser Publikationen, die Öffentlichkeit, erfuhr so manches geradezu Intime, sei es etwas über Gewalt in der Ehe17, seien es Ängste in Bezug auf Gefühlsstörungen18 oder über den (vermeintlichen) Liebhaber der Ehefrau19. Diese »novel-legal-brief-documentary sourcebook form«20 scheinen wahre Schilderungen sehr persönlicher Erfahrungen zu sein, die es sich lohnt auszuwerten; dieses soll in diesem Aufsatz an einigen Beispielen versucht werden.

14 Pohlmann, Georg: Bis zur Flucht im Irrenhause. Selbsterlebnisse während meiner sechsmonatigen Einsperrung, Gronau i. Westf.: Selbstverlag o. J. [1916]. 15 Schild, Huldreich: Dunkle Fäden. Mein jahrelanger Kampf gegen den Psychiater Größenwahn des »weltberühmten« Professors Dr. Binswanger in Jena, Jena: Selbstverlag o. J. [1912]. 16 Kretzschmar, Friedrich: Die Irrenfrage am Ausgange des 19. Jahrhunderts. Eine Einführung in das Studium der Irrenfrage für alle Gebildeten. 1. Theil: Die Irrenfrage vom allgemeinen und culturhistorischen Standpunkt, Großenhain i.S.: Herrmann Starke 1896, S. 254. 17 Wie es beispielsweise Ernst F. Müller in seinen Irrenbroschüren beschrieben hat; vgl. R. Schwoch: Müller. 18 Wie es beispielsweise Paul Weißgerber in seinen Irrenbroschüren über sich selbst beschrieben hat; vgl. R. Schwoch: Macht. 19 Wie es Adolph Ahrens in seiner Irrenbroschüre berichtet hat; vgl. Brink, Cornelia: »›Anti-Vernunft‹ und ›geistige Gesundheit‹: Eine Fallgeschichte über Norm, Normalität und Selbstnormalisierung im deutschen Kaiserreich«, in: Sibylle Brändli/ Barbara Lüthi/Gregor Spuhler (Hg.), Zum Fall machen, zum Fall werden. Wissensproduktion und Patientenerfahrung in Medizin und Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./New York: Campus 2009, S. 121-141. 20 A. Goldberg: Public, S. 167.

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Abb. 1: Huldreich Schild: Dunkle Fäden, o. J. [1912]

Quelle: Fotografie R. Schwoch.

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Die Psychiatrie war in ihrer Ausdehnungsphase in einer paradoxen Situation: Einerseits schlug ihr, trotz ihres sich stark auf Humanität und Philanthropismus gründenden Selbstbildes, immer wieder Misstrauen der Bevölkerung entgegen; andererseits empfanden die maßgebenden Instanzen der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts die psychiatrisch-medizinische Form des Umgangs mit all denjenigen, die als unvernünftig und krank galten, als angemessen. Diese Einstellung entsprach der damaligen humanitären Sozialethik und dem Effizienzdenken der neuen industriell-bürgerlichen Gesellschaft.22 Dieser Tenor lässt sich auch in den psychiatriekritischen Erfahrungsberichten finden. Nur sie selbst – das ist der entscheidende Unterschied – fühlten sich nicht zu diesen kranken Psychiatriepatienten zugehörig. Damit ist klar, dass die Psychiatriekritiker psychiatrische Einrichtungen an sich zwar für notwendig hielten, aber eben nicht in der Art, wie sie bestanden, und vor allem nicht für diejenigen, die sich selbst als nichtkrank bezeichneten. Dies hat beispielsweise der Psychiatriekritiker Eduard

21 Der Forschungsstand zur Geschichte der psychiatriekritischen Bewegung um 1900 ist bereits bemerkenswert. Hier seien beispielsweise genannt: Brink, Cornelia: »›Nicht mehr normal und noch nicht geisteskrank…‹ Über psychopathologische Grenzfälle im Kaiserreich«, in: WerkstattGeschichte 3 (2002), S. 22-44; Dies.: »Anti-Vernunft«; Dahm, Andreas: Zum Phänomen der Antipsychiatrie seit dem 19. Jahrhundert. Diss. med. Bonn 1983; Dieckhöfer, Klemens: »Frühe Formen der Antipsychiatrie und die Reaktion der Psychiatrie«, in: Medizinhistorisches Journal 19 (1984), S. 100-111; Feger, Gabi/Schneider, Hans: »›Antipsychiatrische‹ Bewegung und Sozialpsychiatrische Ansätze von der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten. Zur Geschichte der Antipsychiatrie«, in: Stefan Lundt (Hg.), Rebellion gegen das Valiumzeitalter. Überlegungen zur Gesundheitsbewegung, Berlin: Verlagsgesellschaft Gesundheit 1981, S. 191-211; Goldberg, Ann: »The Mellage Trial and the Politics of Insane Asylums in Wilhelmine Germany«, in: The Journal of Modern History 74 (2002), S. 1-32; Schindler, Thomas-Peter: Psychiatrie im Wilhelminischen Deutschland im Spiegel der Verhandlungen des Vereins der deutschen Irrenärzte (ab 1903: Deutscher Verein für Psychiatrie) von 1891-1914. Diss. med. Berlin 1990; Schmiedebach, Heinz-Peter: »Eine ›antipsychiatrische Bewegung‹ um die Jahrhundertwende«, in: Martin Dinges (Hg.), Medizinkritische Bewegungen im Deutschen Reich (ca. 1870-ca. 1933), Stuttgart: Steiner 1996, S. 127-159. 22 Schmiedebach, Heinz-Peter: »Vom Zwang zur freien Behandlung der Irren: zur Psychiatrie im 19. Jahrhundert«, in: Heinz Schott (Hg.), Medizin, Romantik und Naturforschung, Bonn: Bouvier 1993, S. 59-86, hier S. 59.

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August Schröder, selbst kein ehemaliger Psychiatriepatient, deutlich hervorgehoben: »Irrenhäuser« sollten Asyle für diejenigen sein, »die wirklich geisteskrank sind und für die der Aufenthalt darin keine Qual, sondern eine Linderung ihres Zustandes bedeutet«.23 Und Schröder weiter: »Irrenhäuser« seien aber angefüllt mit Potatoren der mittellosen Bevölkerung, mit Simulanten, »welche ohne Subsistenz für die rauhe Jahreszeit ein Heim suchen« bzw. mit solchen, die eine strafbare Handlung begangen hätten, und nicht zuletzt mit Opfern des »Irrenrechts«, »die aus Irrtum oder Absicht oder Mitleid dem schrecklichen Los der ungerechtfertigten Beschränkung der persönlichen Freiheit unter dem Verdachte der Geisteskrankheit anheimgefallen sind«.24 Unter den Opfern sah Schröder beispielsweise »blos nervöse Leute«, die jedoch fatalerweise für geisteskrank gehalten würden.25 Deutlich wird in diesen Positionen ein weiteres Charakteristikum des spannungsgeladenen Wechselspiels zwischen Psychiatriekritikern und Psychiatern: Es ging um Grenzziehungen zwischen denen, die als »verrückt« in die Anstalt und unter die Betreuung der Psychiater sollten, und denen, die wegen »leichterer« Störungen nicht in den direkten Machtbereich psychiatrischen Wirkens einzuweisen waren. Die Definitionen und Entscheidungen in diesen Fragen sollten nicht mehr allein den wissenschaftlichen Experten überlassen werden. Vielmehr beanspruchten auch die Betroffenen selbst zumindest eine Mitsprache, wenn nicht gar ein Entscheidungsrecht. Manche Personen aus der psychiatriekritischen Bewegung gaben recht weitreichende Beurteilungen auf der Basis des »gesunden Menschenverstandes« über Geisteszustände anderer ab und überschritten damit die Grenze zur psychiatrischen Fachexpertise deutlich. Andererseits achteten viele der Kritiker darauf, eine deutliche Grenze zwischen den »wirklich« Geisteskranken und den zu Unrecht als solche Stigmatisierten zu ziehen. Dies bedeutete aber auch, dass Geisteskrankheit als eine real existierende

23 Schröder, Eduard August: Das Recht im Irrenwesen. Kritisch, systematisch und kodifiziert. Mit Benützung einer Nachricht über den Gesetzentwurf Leon Gambetta’s, Zürich/Leipzig: Orell Füssli & Co 1890, S. 87. 24 Ebd.: S. 88. 25 Ebd.: S. 36. Eduard August Schröder war im Übrigen kein »ehemaliger Jura-Student«, wie Brink noch 2010 geschrieben hat; Schröder hatte sich vielmehr an der Philosophischen sowie Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Wiener Universität inskribiert, eine Fülle verschiedener Vorlesungen und Seminare besucht, sein Studium allerdings nicht beendet; später war er ein recht erfolgreicher wissenschaftlicher Buchautor; zu Schröder vgl. Schwoch, Rebecca: »Eduard August Schröder – ein Protagonist der Psychiatriekritik um 1900«, in: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 13 (2007), S. 207-232.

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Krankheit auch von der psychiatriekritischen Bewegung anerkannt war. Die Existenz von »Wahnsinn« stand außer Frage; die Kritik wendete sich dagegen, dass er von Seiten der Psychiater zu häufig unbegründet diagnostiziert werde. Es verwundert nicht, dass in den zeitgenössischen Quellen, vor allem Tageszeitungen, auch von »Irrenhausskandalen« zu lesen ist. Psychiatriekritiker empfanden zudem eine »Anstaltsinternierung« im Allgemeinen als schlimmer und zerstörerischer, als in ein Gefängnis zu kommen. Die sich in solchen Positionen manifestierende fehlende Anerkennung der Psychiatrie als Wissenschaft war auch den Eingriffen der Psychiatrie in äußerst sensible Bereiche des gesellschaftlichen Lebens geschuldet: Psychiater schrieben Gerichtsgutachten, sie beteiligten sich direkt an Entmündigungsverfahren, in ihre »Irrenanstalten« wurden »gemeingefährliche Geisteskranke und Verbrecher« nach § 51 StGB26 aufgenommen.27 Einigen Psychiatern war dabei offensichtlich durchaus klar, dass sie »mit großer Prätention in die höchstbewerteten Rechte der Persönlichkeit eingreift und eingreifen muß«.28 Im 19. Jahrhundert erweiterte sich die Kompetenz der Psychiater auf forensischem Gebiet, und damit stieg auch die Begutachtungstätigkeit bei sogenannten zweifelhaften Geisteszuständen unter einer wachsenden Beachtung und Adaption der aus der französischen Psychiatrie stammenden Degenerationslehre, die den Vererbungsvorgängen einen ätiologischen Faktor bei der Genese von Geisteskrankheiten zusprach. So nahmen die Psychiater in der modernen Gesellschaft bald die Rolle von Experten und Ratgebern ein, die in allen Fragen der sozialen Auffälligkeit oder Abnormität von staatlichen, kommunalen und gesellschaftlichen Institutionen gehört wurden. Damit konnten soziale Konflikte zu einem gewissen Teil in medizinische Probleme transformiert werden. Dieses heißt auch, dass das psychiatrische Expertenurteil zunehmend an Gewicht gewann. In einigen Forschungsprojekten konnte herausgearbeitet werden,

26 Vgl. § 51 Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich (StGB), 1.1.1872: »Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.« http://lexetius.com/StGB/51 vom 27.1.2012. 27 Vgl. H.-P. Schmiedebach: Bewegung; Ders.: »›Zerquälte Ergebnisse einer Dichterseele‹ – Literarische Kritik, Psychiatrie und Öffentlichkeit um 1900«, in: Heiner Fangerau/Karen Nolte (Hg.), »Moderne« Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert – Legitimation und Kritik, Stuttgart: Steiner 2006, S. 259-281. 28 Dobrick, [Georg]: »Odium psychiatricum«, in: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 13 (1911/1912), S. 381-383, hier S. 382.

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dass »die Psychiatrie als Vertreterin und Vollstreckerin« des sozialen Prinzips und somit als Inbegriff des »bürgerlichen Todes« um 1900 gelten könne29, die Fachjustiz durch die Psychiatrie gar »entmündigt« worden sei30. Verschiedene Einzelfalluntersuchungen haben jedoch ergeben, dass eine solche anzunehmende Interessenkonvergenz zwischen der Justiz und der Psychiatrie nicht pauschal vorhanden war. Die »Fälle« Johannes Georg Lehmann-Hohenberg (1851-1925), Ernst F. Müller oder Paul Weißgerber (1850-1938) haben vielmehr gezeigt, dass sich die jeweiligen Richter nicht an die entsprechenden psychiatrischen Gutachten gehalten haben und sich ihre eigene Meinung bildeten. Hier trat eher eine Dominanz richterlicher Macht zu Tage.31 Psychiatrische Gutachten mögen um 1900 zwar an Bedeutung und auch Macht gewonnen haben, aber ihre Macht war nicht die ausschließliche oder gar die höchste oder dominante. Über dem Psychiater stand stets der Richter, der das Urteil über eine Anstaltsinternierung oder -entlassung genauso fällte wie über eine Entmündigung oder deren Aufhebung. Somit richtete sich die Psychiatriekritik auch nicht ausschließlich gegen die medizinischen Fachvertreter, sondern ebenso gegen die Justiz mit ihren Vertretern.

»I RRENBROSCHÜREN « ALS F ORM EINER P SYCHIATRIEKRITIK Seit den 1880er Jahren erschienen vermehrt Publikationen, mit denen die Autoren auf sich und ihr Schicksal aufmerksam machen wollten. Darunter befanden sich Heftchen von wenigen Seiten Umfang, aber auch Bücher, in denen entsprechend detailliert berichtet wurde. Der Bonner Psychiater Carl Pelman (18381916) konstatierte 1896, »in der jüngsten Zeit« wüchsen diese »Broschüren

29 Bernet, Brigitta: »›Der bürgerliche Tod‹: Entmündigungsangst, Psychiatriekritik und die Krise des liberalen Subjektentwurfs um 1900«, in: Marietta Meier et al. (Hg.), Zwang zur Ordnung. Psychiatrie im Kanton Zürich, 1870-1970, Zürich: Chronos 2007, S. 117-153, hier S. 153. 30 Vgl. Germann, Urs: »›Entmündigung der Fachjustiz‹ oder ›Reserveengel der Jurisprudenz‹? Psychiatrische Deutungsmacht im Kontext justizieller Entscheidungsprozesse. Das Beispiel der gerichtspsychiatrischen Begutachtungspraxis im Kanton Bern 18851920«, in: Eric J. Engstrom/Volker Roelcke (Hg.), Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur Geschichte von psychiatrischen Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum, Basel: Schwabe 2003, S. 219-244, hier S. 240. 31 Vgl. R. Schwoch/H.-P. Schmiedebach: »Querulantenwahnsinn«; R. Schwoch: Müller; Dies.: Macht.

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gegen Irrenärzte und Irrenanstalten« wie die Pilze aus der Erde hervor. Laut Pelman haben sich diese Veröffentlichungen »nur nach der mehr oder weniger guten Bildung und literarischen Befähigung des Verfassers« unterschieden. Seine hervorgehobene Gemeinsamkeit all dieser Veröffentlichungen bezieht sich lediglich darauf, dass sie zumeist den eigenen Fall behandelten, nicht ganz unparteiisch, noch weniger sine ira et studio abgefasst seien.32 Dass man diese Broschüren, die von Psychiatern als »Laienbroschüren«33, »Schmähschriften«34, »antipsychiatrische Broschüren«35 oder »Hetzbrochüren«36 [sic] bezeichnet worden sind, zumal aus der Retrospektive differenzierter betrachten kann, soll an dieser Stelle verdeutlicht werden. Die psychiatrische Diagnose verstand sich als rational hergeleitete, wissenschaftlich legitimierte Klassifizierung eines sozial auffälligen Menschen. Dieser aber beugte sich in den auch von Cornelia Brink geschilderten Fällen dieser medizinischen Diagnose mit ihren sozialen Folgen nicht, sondern griff zu einer sich in der modernen Gesellschaft darbietenden Möglichkeit des sich Wehrens. Er publizierte seine Erfahrungen und seine Bewertungen und präsentierte diese damit der Öffentlichkeit. Hier trafen zwei für die moderne Gesellschaft typische Phänomene aufeinander: auf der einen Seite die verwissenschaftlichte Beurteilung und Bewertung menschlichen Verhaltens durch eine neue, unpersönliche, gesellschaftlich akzeptierte Macht, und auf der anderen Seite die persönliche Reaktion auf diese verobjektivierende Einordnung, die durch die Publikation zu einer öffentlichen Angelegenheit, zu einem paradigmatischen Fall werden konnte, dessen Konsequenzen weit über die private Betroffenheit hinausreichten, indem die Fallgeschichte eine für jeden bedrohliche Gefahr aufzeigte. Die Untersuchung von Einzelfallgeschichten, so wie sie diese »Irrenbroschüren«

32 Pelman: »Über mehrere Broschüren gegen Irrenärzte und Irrenanstalten aus der letzten Zeit. Referat auf der 55. ordentlichen Versammlung des psychiatrischen Vereins der Rheinprovinz am 15. Juni 1895 in Bonn«, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medicin 52 (1896), S. 670-672, hier S. 670. 33 Anonym: »Bemerkungen«, in: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 11 (1909/ 1910), S. 44. 34 Jolly, F[riedrich]: Über Irrthum und Irrsinn. Rede, gehalten zur Feier des Stiftungstages der Militär-Ärztlichen Bildungsanstalten, Berlin: August Hirschwald 1893, S. 27. 35 Beyer, Bernhard: Die Bestrebungen zur Reform des Irrenwesens. Material zu einem Reichs-Irrengesetz. Für Laien und Ärzte, Halle: Carl Marhold 1912, S. 26. 36 Scholz [Friedrich]: »Was weiß das Publikum von den Geisteskrankheiten?« In: Die Irrenpflege. Monatsschrift für Irren- und Krankenpflege zur Belehrung und Fortbildung 7 (1903/04), S. 3-10, hier S. 3.

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darstellen, lässt das Wechselspiel zwischen Angriff und Verteidigung deutlich zutage treten.37 Gerade in dieser Quellengattung finden wir auch die Ausdrucksweise des »bürgerlichen Todes« wieder. »Im Begriff des ›bürgerlichen Tods‹, der bei der Problematisierung der Psychiatrie immer wieder auftauchte«, so Brigitta Bernet, »kam weit mehr zur Sprache als die Erfahrung eines individuellen Übergriffs.« Er stand für eine diffuse »Depotenzierungs- und Entmündigungsangst«, für die das vormundschaftlich-fürsorgliche Auftreten der Irrenärzte ein gewichtiger Anlass war.38 Die Gründe für die Veröffentlichung dieser »Irrenbroschüren« sind so vielfältig wie offenkundig: Ohne die Diagnose »geisteskrank« hätte vermutlich kaum einer der Betroffenen jemals ein Buch oder ein Büchlein geschrieben, wie Cornelia Brink betont.39 Für die Psychiatrieerfahrenen hatte das Verfassen und Veröffentlichen ihrer Erlebnisse eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Adolf Ahrens umschrieb dieses in seinem 1890 publizierten »Appell an Hamburgs Bürger« folgendermaßen: »Aber dieses ›schreiben‹ hat eine Bedeutung, die der flüchtige Leser nicht ahnt! Es ist Nothruf einer entsetzlich gequälten und gemarterten Seele; es ist der Hilfeschrei eines Schwachen an seine Mitbürger, ihm gegen einen übermächtigen Gegner beizustehen, es ist der Ausdruck des Zornes einer tiefbeleidigten Mannesseele gegen ihr zugefügte schwere Unbill, es ist das Toben des Ingrimmes über triumphirende Rechtlosigkeit in der Brust eines Mannes.«40

37 Vgl. C. Brink: Grenzfälle; Dies.: »Anti-Vernunft«; Meier, Marietta: »Der ›Fall Hägi‹ am Zürcher Burghölzli. Zur Reaktion von Psychiatrie und Behörden auf Kritik an staatlichen Anstalten«, in: Fangerau/Nolte, »Moderne« Anstaltspsychiatrie (2006), S. 239-257; R. Schwoch/H.-P. Schmiedebach: »Querulantenwahnsinn«; R. Schwoch: Schröder; Dies.: Müller; Dies.: Macht; Wecker, Regina: »›Eine Blüte baslerischer Irrenpflege …‹: Der Fall Emil Mertz und die Konstruktion bürgerlicher Identität, in: Brändli/Lüthi/Spuhler, Zum Fall machen (2009), S. 142-158. 38 B. Bernet: Tod, S. 118. Ann Goldberg analysierte in einem Aufsatz einige Exemplare solcher Patientenpublikationen, die sie als neue Literaturform betrachtet. Vgl. A. Goldberg: Public. 39 C. Brink: Grenzfälle, S. 24 und S. 32. 40 Ahrens, Ad[olf]: Ein Appell an Hamburgs Bürger. Einige Bemerkungen über Physicatsgutachten, Hamburg: Pontt & v. Döhren 1890, S. 41. Über den »Fall« Adolf Ahrens vgl. C. Brink: »Anti-Vernunft«.

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Zudem hatten die »Irrenbroschüren« eine Art Vorwarn- oder Vorbildfunktion für andere. Ohne die Broschüre »Hetzjagd auf Menschen« von Ferdinand Draak aus dem Jahre 188441 hätte Adolf Ahrens sich nach seinen eigenen Worten niemals vorstellen können, welch ernsthafte Bedeutung ein psychiatrisches Gutachten haben könnte. Durch die draaksche Broschüre habe er aber gewusst, »woran ich war, und ging dagegen an, als es noch Zeit war«.42 Andere wiederum versuchten mit ihrer Broschüre aufzuklären und Anregung zur Abschaffung zu geben von »an maßgebender Stelle unbekannten Mißständen«43. Elise Hegemann-Vorster, eine der wenigen Autorinnen solcher Publikationen, die ihr Selbsterlebtes in sieben »Irrenanstalten« in drei Veröffentlichungen beschrieben hat44, hat die potentiellen Leser um Meinungsäußerung gebeten: »War ich geisteskrank? Ja oder nein?«45 Der Landwirt Huldreich Schild forderte am Ende seiner Broschüre auf: »Möge der Leser selbst urteilen.«46 Cornelia Brink hat Recht, wenn sie schreibt, dass diese Broschürenschreiber aus einer gesellschaftlichen Gruppe kommen, »die sich üblicherweise nicht öffentlich artikuliert« hat.47 Aber gerade Diagnosen wie »schwachsinnig«, »geisteskrank« oder »irrenanstaltsbedürftig« mit ihren rechtlichen und sozialen Folgen – und die betonen alle mir bekannten Autoren von »Irrenbroschüren« – verlangten aus der Sicht der Autoren geradezu, dass das erlebte Schicksal öffentlich gemacht wurde. Zum einen erhofften sie sich eine Unterstützung aus der Bevölkerung, zum anderen galt eine solche Schrift als Beweis für einen gesunden Geist. Hin und wieder ist auch eine gewisse Genugtuung zu spüren, wenn sie – nun frei – ihre Peiniger unverblümt und ungehemmt

41 Vgl. Draak, F[erdinand]: Eine Hetzjagd auf Menschen oder wie man einen geistig völlig gesunden Menschen seines Geldes wegen und aus Rache in’s Irrenhaus zu sperren versuchte und wie der Plan misslang. Bei der Affaire sind betheiligt die Aerzte Dr. Ebert …, Berlin: Selbstverlag 1884. 42 A. Ahrens: Appell, S. 34. 43 Anonym: Zustände in der Heidelberger Universitäts-Irren-Klinik oder 5 Tage lebendig begraben. Verfaßt von einem dort irrtümlich fünf Tage Internierten, Heidelberg: Jünger & Co 1908, S. 5. 44 Vgl. Hegemann-Vorster, Elise: Was ist Geisteskrankheit? Was ist Irrenanstaltsbedürftigkeit? Was ist Wahrheit? Selbsterlebtes in 7 deutschen Irrenanstalten, o. O. [Bern: Berliner Tageblatt] o.J. [1900]; Dies.: Irrenhaustragödie in der Anstalt Waldau bei Bern (Schweiz), Leipzig: Demme o.J. [1901]; Dies.: Im Lichte der Öffentlichkeit. Mein angeblich »unheilbarer Irrsinn«, Leipzig: Edmund Demme o.J. 45 E. Hegemann-Vorster: Geisteskrankheit, S. 45. 46 H. Schild: Fäden, S. 26. 47 C. Brink: Grenzfälle, S. 31.

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angreifen und mit einer moralischen Beschuldigung belasten konnten. Dr. phil. Ernst F. Müller, dessen Entmündigung nach dreijährigem Kampf durch ein Obergutachten wieder aufgehoben wurde, hatte in seinen Protestschriften z.B. seinen »Inquisitionsrichter«, den Breslauer Ordinarius Carl Wernicke (18481905), unerbittlich und zynisch zugleich angegriffen: »Sie treffen es nun einmal nicht, Herr Professor! Und alle Ihre Combinationen halten vor der überzeugenden Gewalt der Thatsachen nicht Stich!«48 Aus welchen Gründen nun all diese Schriften auch geschrieben sein mögen, sie haben alle einen gemeinsamen Nenner, so wie es auch Cornelia Brink schon formuliert hat: Sie bieten subjektiv geprägte Bilder, Wahrnehmungen und Deutungen, Einschätzungen und Bewertungen an, die sich diese »Irren«, ob sie es nun waren oder nicht, von psychischer Krankheit und Gesundheit, von Psychiatern, »Irrenanstalten« und deren Praktiken gemacht haben. Diese öffentlich präsentierte Form galt stets als Nachweis ihrer jeweiligen individuellen geistigen »Normalität«, womit sie an allgemeine Vorstellungen von »Normalität und Normativität« anzudocken versuchten.49 Ob diese Psychiatrieerfahrenen ihre Schriften auch wirklich selbst geschrieben haben, ist nicht mit Sicherheit bei jedem einzelnen zu sagen. Manche haben bereits vorher publiziert – freilich über andere Themen als die Psychiatrie(kritik), was eine eigene Autorenschaft annehmen lässt.50 Cornelia Brink vermutet bei der Schrift von J. Andreas Rodig beispielsweise einen Ghostwriter.51 Manche dieser Broschürenschreiber haben – wohl zur Untermauerung einer Glaubwürdigkeit und Authentizität – einen Doktor oder gar Professor dafür gewinnen können, ihren Berichten ein paar Worte voranzustellen. Elise Hegemann-Vorster zum Beispiel hatte einen Arzt gefunden, der sich ihrer annahm: Der Königliche Sanitätsrat Eugen Bilfinger aus Ueberlingen am Bodensee52, betonte in der »Irrenhaustragödie«: »Nachfolgende Schrift hat die Verfasserin in

48 Müller, Ernst F.: Irrenärzte auf Irrwegen. Offener Brief an Herrn Universitätsprofessor und Medizinalrat Dr. C. Wernicke in Breslau betreffend den Fall Müller-Breslau, Dresden-A.: Selbstverlag 1899, S. 14-15. 49 Vgl. C. Brink: Grenzfälle, S. 33. 50 Vgl. Eduard August Schröder mit seinen Schriften über Wirtschaftsrecht oder mykologische Studien, oder Ernst F. Müller, der zur landwirtschaftlichen Ausbildung publiziert hat. Vgl. dazu: R. Schwoch: Schröder; Dies.: Müller. 51 Vgl. C. Brink: Grenzfälle, S. 32. 52 Bilfinger war Naturarzt und möglicherweise ab 1901 ärztlicher Leiter des Gossmannschen Sanatoriums in Wilhelmshöhe bei Kassel. Vgl. E. Hegemann-Vorster: Lichte, S. III; K. Dieckhöfer: Formen, S. 106.

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der Irrenanstalt Waldau bei Bern ganz selbständig verfasst und niedergeschrieben, sowie sie gedruckt vorliegt; ich selbst habe nicht das Geringste daran geändert.«53 Der psychiatrische Blick auf die psychische »Normalität« war und ist ein anderer als der von Nichtpsychiatern. Mit Hilfe einer »Naturlehre der gesunden Seele« wollte schon Johann Christian Reil (1759-1813) eine Gesetzmäßigkeit für eine Norm der kranken Seele entwickeln.54 Bestrebungen zu Durchschnitts- und Normalitätsdefinitionen wurden im 19. Jahrhundert nicht nur auf dem Gebiete der Psychiatrie, sondern auch in anderen gesellschaftlichen Gebieten deutlich. Mit der Diskussion über Durchschnitt, »Normalität« und Zweckmäßigkeit im Bereich psychischer Funktionen um 1900 beteiligte sich die Psychiatrie an der Bestimmung von Verhaltensmustern, die nicht losgelöst von anderen Gruppen der Gesellschaft formuliert wurden. Die Psychiatrie versuchte, eine wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskussion für ihre fachspezifischen Zwecke zu nutzen, um auf der allgemeineren Ebene der kulturellen Wertbestimmungen Orientierungen anzubieten.55 Die Betroffenen, aber auch einige Psychiater, haben sich immer wieder über schwammige Diagnosen beschwert, die nicht genau zu stellen, zu deuten oder einzugrenzen waren, wie es z.B. auch für die Diagnose »Querulantenwahnsinn« zutraf.56 Carl Pelman fragte sich 1893, als er über die neuesten Angriffe gegen Irrenärzte und »Irrenanstalten« sprach, wohlwissend, dass bestimmte Diagnosen auch unter den Psychiatern zu heftigen Diskussionen führten: »Was in aller Welt haben hier so unklare Begriffe wie moralisches Irresein oder gar der Querulantenwahnsinn – eine sehr beliebte Bezeichnung – zu thun […].«57 »Normalität« und ihre gesuchten Grenzen waren einfach nicht in Schablonen zu fassen, fließende Übergänge waren allgegenwärtig, auch wenn

53 Bilfinger, [Eugen]: »Geleitswort«, in: E. Hegemann-Vorster: Irrenhaustragödie, S. 18, hier S. 1. 54 Vgl. Schmiedebach, Heinz-Peter: »›Abweichung vom Durchschnitt im Sinne der Zweckwidrigkeit‹ – Der psychiatrische Blick auf die psychische Normalität«, in: Volker Hess (Hg.), Die Normierung der Gesundheit. Messende Verfahren als kulturelle Praktiken um 1900, Husum: Matthiesen 1997, S. 39-56. 55 Vgl. H.-P. Schmiedebach: Abweichung, S. 56. 56 Vgl. zum »Querulantenwahnsinn« R. Schwoch/H.-P. Schmiedebach: »Querulantenwahnsinn«. 57 Pelman: »Die neuesten Angriffe gegen Irrenärzte und Irrenanstalten. Vortrag gehalten auf der 50. ordentlichen Versammlung des psychiatrischen Vereins der Rheinprovinz«, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medicin 49 (1893), Heft 5, S. 693-697, hier S. 696.

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viele Psychiater davon überzeugt waren, dass Internierung und auch Entmündigung einen wohltätigen Einfluss auf Patienten ausüben konnten.58 Die Unbestimmtheit machte einerseits die Psychiater angreifbar, andererseits eröffnete sie einen großen Definitionsspielraum, erweiterte den Kreis potentieller Patienten und legitimierte nicht zuletzt die Psychiater als »Experten für Grenzziehungen zwischen Verschrobenheit und Wahn, Irrtum und Irrsinn«.59 Einig waren sich alle Broschürenschreiber darüber, dass sie niemals psychisch krank gewesen seien, demnach als vollkommen »normal« anzusehen seien; zumindest habe ihr Zustand niemals eine Internierung in eine »Irrenanstalt« gerechtfertigt: »Die Irren, das waren die Anderen.«60 So fragte sich Georg Pohlmann, Königlicher Eisenbahn-Gütervorsteher aus Gronau in Westfalen: »Warum sperrte man mich hier ein, warum behandelte man mich, einen Nervös-Kranken, nicht in anderer, sachgemäßerer Weise; warum hatte man nicht wenigstens den Versuch einer Heilung im Krankenhause oder in einer sonstigen Heilanstalt gemacht?«61

Im eigenen Bewusstsein war der psychische Zustand durch Nervosität geprägt, was aber die Experten verkannten, dafür aber unter Gewaltanwendung – so die autobiografische Sichtweise – einen Aufenthalt in der Anstalt durchsetzten. Auch Ernst F. Müller wusste um sein eigentliches Problem: »Ich litt nämlich an dem heut so weit verbreiteten Leiden der Neurasthenie (Nervenschwäche), und zwar der besonderen Form, welche mit Herz- oder Gefäßneurose bezeichnet zu werden pflegt, insofern dabei die an Herz und Blutgefäßen, weiterhin an den Organen der Verdauung, Athmung und Secretion verlaufenden Nerven – in erster Linie der nervus vagus mit seinen Verzweigungen – nach der heutigen Annahme nicht normal functioniren sollen.«62

58 Wernicke hatte dies über seinen ehemaligen Patienten Ernst F. Müller behauptet, nachdem dessen Entmündigung aufgehoben worden ist; vgl. R. Schwoch: Müller, S. 191-192. 59 C. Brink: Grenzfälle, S. 41-42. 60 Ebd.: S. 39; Brink, Cornelia: Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860-1980, Göttingen: Wallstein 2010, S. 169. 61 G. Pohlmann: Flucht, S. 9. 62 Müller, Ernst F.: Drei Monate ohne Grund im Irrenhause. Erlebnisse eines Preußischen Staatsbürgers im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts als Beweis für die Notwendigkeit einer schleunigen Reform des Irrenwesens, Dresden-A.: Selbstverlag, S. 9-10.

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Einige der Broschürenschreiber sahen sich selbst als Prototypen des »Zeitalters der Nervosität«63, womit sie eine psychische Verfassung wählten, deren Bedeutung zwar als sehr ambivalent eingeschätzt wurde, die aber für den modernen Menschen fast als typisch galt und deren Ursache im überhasteten, überreizten und lauten Großstadtleben zu sehen war64, was aber mit Geisteskrankheit nichts zu tun haben konnte. Aber wie konnten Betroffene um 1900 den Beweis antreten, entgegen ärztlicher, fachmännischer und autorisierter Diagnose sowie juristischer Bestätigung, »normal« zu sein? »Normal« und damit gesund zu sein zeigten Broschürenschreiber schon allein mit der Tatsache, dass sie in der Lage waren, eine Publikation zu verfassen: »Im Uebrigen bin ich so anmaßend, zu behaupten«, so Ernst F. Müller, »daß auch diese Broschüre einen Schluß auf meinen Geisteszustand zuläßt, und für die völlige Normalität desselben den unanfechtbaren Beweis liefert. Doch nein! Die Psychiatrie lehrt ja, es könne Jemand völlig logisch seine Gedanken zum Ausdruck bringen und in dieser Beziehung den Eindruck eines voll zurechnungsfähigen Menschen machen, und trotzdem geisteskrank sein.«65

Ein weiterer Beweis für die eigene »Normalität« waren, so auch Cornelia Brink, ebenso Angaben über den Beruf des Vaters, das öffentliche Ansehen der Familie, eine Militär- und Arbeitstauglichkeit oder Gehorsam gegenüber Autoritäten.66 Damit verließ die Beweisführung psychischer »Normalität« jede abstrakte Form und wurde konkret. Dieses Konkretwerden brachte eine Offenlegung oft sehr privater Informationen mit sich. Ernst F. Müller hat beispielsweise die Gewalt an seiner Ehefrau, die er allerdings anders gewichtet und gedeutet hat, so deutlich beschrieben, wie es eigentlich kaum jemand öffentlich zugeben würde.67 Da aber die Gewalt an seiner Frau von entscheidender Bedeutung für die psychiatrischen Gutachten war, aus denen er ausführlich zitiert hat, musste er sich in dieser Hinsicht wohl erklären und die häusliche Situation aus seiner Sicht darlegen. Und da er meinte, recht gehandelt zu haben, empfand er wohl auch die »6-8

63 Vgl. Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München/Wien: Carl Hanser 1998. 64 Gijswijt-Hofstra, Marijke/Porter, Roy (Hg.): Cultures of Neurasthenia. From Beard to the First World War, Amsterdam/New York: Rodopi 2001. 65 E.F. Müller: Monate, S. 81. 66 C. Brink: Grenzfälle, S. 33-34; Dies.: Grenzen, S. 165-192. 67 Vgl. E.F. Müller: Monate, S. 7-8, S. 33, S. 37; Ders.: Irrenärzte, S. 16.

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Ohrfeigen« als Recht eines Hausherrn und nicht als Offenlegung privatester Angelegenheiten, verbunden mit einer Gewalt im sozialen Nahraum.68 Nicht selten wurden Ereignisse detailliert nacherzählt, wobei nicht mit der Nennung von Namen dritter Personen gespart wurde – mit Pseudonymen haben nur wenige gearbeitet.69 Ob dies in dem einen oder anderen Fall zu weiteren Prozessen geführt hat, weil die Genannten wegen Verleumdung Klage erhoben haben, ist mir nicht bekannt. Hier sei das Beispiel des Bauern Wilhelm Kuhnle genannt, der über eine »verhängnisvolle Schultheißenwahl« berichtete, mit deren Ergebnis »mein Unglück« anfing. Kuhnle hatte nahezu vier Jahre in den württembergischen Staatsirrenanstalten Winnenthal und Schussenried verbracht. In seiner Broschüre nannte er unverblümt die Namen von Schultheißen, Regierungsräten, Polizeidienern und selbstverständlich auch von Ärzten, die er allesamt mit seinem Unglück in Verbindung brachte.70 Ein weiterer Punkt, der in vielen »Irrenbroschüren« thematisiert wurde, ist der Vergleich von »Irrenanstalten« mit Gefängnissen: Man fühlte sich »verurteilt« und »eingesperrt«. Dazu gehörte schon die Wahrnehmung der Aufnahme in eine »Irrenanstalt«, die oft als »Internierung« bezeichnet wurde. Ernst F. Müller war 1894 »mit Hülfe der Polizei wie ein schwerer Verbrecher ins Irrenhaus geschleppt« worden.71 Wilhelm Kuhnle wurde in »früher Morgenstunde durch einen Fahnder aus dem Bette geholt – nach der Irrenanstalt«.72 Georg Pohlmann habe »bei vollem Verstande unter der Schmach hinter hohen Mauern, in erbärmlichen Zellen, bei vergitterten Fenstern und verschlossenen Türen« ge-

68 Bei der hier beschriebenen Gewalt an der Ehefrau muss jedoch auch betont und beachtet werden, dass dem Ehemann zu dieser Zeit noch ein »Züchtigungsrecht« gegenüber der Ehefrau zustand, weshalb diese Gewalt in den meisten Fällen nicht einmal strafbar war. Umso erstaunlicher ist, dass Carl Wernicke im »Fall« Müller gerade das Leben der Olga Müller »für bedroht halten musste« und sie vor dieser häuslichen Gewalt schützen wollte. Meine 2008 zwar formulierte, aber bezweifelte Hypothese, die Psychiatrie könne als Instanz für Schutz vor häuslicher Gewalt vermutet werden, muss nach wie vor in Frage gestellt werden. Vgl. R. Schwoch: Müller, S. 181-182. 69 Dies gilt beispielsweise für die 1908 anonym herausgegebene Schrift über die Zustände in der Heidelberger Universitäts-Irren-Klinik. 70 Vgl. Kuhnle, Wilhelm: Vier Jahre unschuldig in württembergischen Irrenanstalten. Geheime Vehme und moderne Bastille. Auf Grund eigener Erlebnisse erzählt, Stuttgart: Robert Lutz 1894. 71 E.F. Müller: Monate, S. 11. 72 W. Kuhnle: Jahre, S. 18.

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litten.73 So ist in den Broschüren von »Verschleppung«74 genauso die Rede wie von einer »Einsperrungssucht«75 oder »kerkerartigen Gefangenschaft«76, vom »modernen Vehmgericht«77 oder von »Irrengefängnissen«78. Diese Sprache vermittelt das »Odium«79, das den »Irrenanstalten« vielfach anhaftete. Doch hätten offensichtlich viele eine Gefängnisstrafe eher in Kauf genommen, als in die »Irrenanstalt« verfrachtet zu werden. Johannes Georg Lehmann-Hohenberg, der unermüdliche Psychiatrie- und Justizkritiker, wurde selbst mit der Diagnose »Querulantenwahnsinn« konfrontiert. Er sollte sich zwecks einer Untersuchung in eine »Irrenanstalt« begeben. Aber er war nicht gewillt, sich von Männern, die er wissenschaftlich nicht ernst nehmen könne, auf seinen Geisteszustand hin untersuchen und seinen Ruf schädigen zu lassen; der Psychiatrie hatte er den Wert einer exakten Wissenschaft definitiv abgesprochen. Er machte geltend, dass eine Internierung in einer psychiatrischen Klinik zerstörerischer wirke als eine Gefängnisstrafe. Im Laufe eines langjährigen Prozesses wegen Offiziersbeleidigung wurde die ins Auge gefasste Diagnose »Querulantenwahnsinn« dann doch zurückgewiesen, so dass Lehmann-Hohenberg zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Doch dieser entzog er sich durch Flucht ebenso wie schon zuvor der Internierung in eine »Irrenanstalt«.80 In den »Irrenbroschüren« und psychiatriekritischen Schriften bzw. Äußerungen ist häufig zu lesen, dass eine Einweisung in eine »Irrenanstalt« sowie psychiatrische Diagnosen (»geisteskrank«, »schwachsinnig« oder »querulatorisch«) den direkten Weg zum »bürgerlichen Tode« ebnen würden. Die schwerste Art des Menschenraubes, so drückte es Gustav v. Bröcker aus, sei die Verbringung in ein »Irrenhaus«.81 Er verglich Psychiater mit den indischen

73 G. Pohlmann: Flucht, S. 9. 74 K. Fixson: Räuber, S. 6. 75 Düsing: Verjudung, S. 23. 76 Anonym: Irrenwesen, S. 4. 77 Herrmann, Carl: Das moderne Vehmgericht – eine sociale Gefahr! Erlebnisse eines für unheilbar irrsinnig Erklärten, Berlin: Cassirer & Danziger o.J. [1890]. 78 Anonym: Irrenwesen, S. 73. 79 Wittken von: »Zur Reform des Irrenwesens«, in: Neue Preußische Zeitung, AbendAusgabe vom 9.8.1892, Titelseite. 80 Vgl. R. Schwoch/H.-P. Schmiedebach: »Querulantenwahnsinn«. 81 Honestus [=Gustav v. Bröcker]: Mordsgedanken, Leipzig: Kommissions-Verlag von Reinhold Werther 1895, S. 32.

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Thugs, einer verbrecherischen Geheimorganisation, und schrieb der »Psychiatersekte« Bandenmeineid und Bandenmord zu.82 Häufig lässt sich eine gewisse Naivität der Verfasser finden, wenn sie in ihren Schriften betonen, dass ihnen nicht klar gewesen sei, wohin man sie brachte und warum. Pohlmann »verblieb gar keine Zeit zum Nachdenken und kam in der Bestürzung dieser Aufforderung ohne jegliche Einwendungen nach, um so mehr, als mir die frische Luft willkommen schien.«83 Ebenso unabsehbar schien auch der Privatier August Menn 1889 in die »Irrenanstalt« gekommen zu sein, wenn er schreibt: »Statt meine Sache in zweiter Instanz am kgl. Landgerichte in Stuttgart verhandelt zu sehen, kam ich am 31. Mai 1889 in das Bürgerspital Stuttgart, mußte in der dortigen Irrenabtheilung bis 14. Juni verbleiben […].«84 Ob dies nur unglückliche oder uneindeutige Formulierungen sind, kann nicht gesagt werden. Aber es klingt doch eine gewisse Überraschung aus dem Geschriebenen Menns heraus. Ein Dr. Schulz aus Koblenz habe sich aus ihm unbekannten Gründen in seine Angelegenheiten eingemischt. Warum sein Geisteszustand untersucht werden sollte, sei ihm stets unerfindlich, denn Menn habe seinen Verstand »noch niemals, auch nicht auf einen Augenblick verloren«.85 Einem weiteren abgedruckten Brief des ersten Staatsanwalts in Menns Broschüre, der seine Anzeige gegen Schulz ablehnte, ist jedoch zu entnehmen, dass Menn von der städtischen Verwaltungsbehörde zu Stuttgart in die »Irrenabteilung« des Bürgerspitals und von dort in die »Irren-Heilanstalt« zu Göppingen gebracht worden sei.86 Menn selbst gab sich dagegen überzeugt, von seiner Internierung überrascht worden zu sein. Viele dieser Autoren waren ungeübt im Schreiben, was möglicherweise Verzerrungen bei Darstellung und Gewichtung mit sich bringen konnte. Psychiater wiederum kannten viele dieser »Irrenbroschüren« und haben wohl aus diesem Grund hervorgehoben, dass man auf »die literarischen Angriffe von Seiten ungeheilter Geisteskranker« im Allgemeinen nicht einzugehen brauche87, wes-

82 Ebd.: S. 33 und S. 36. 83 G. Pohlmann: Flucht, S. 7. 84 Menn, August: »Hallucinationen« und Gegenbeweise. Ein Rechtsfall, Salzburg: Selbstverlag 1897, S. 5. 85 Ebd.: S. 5-6. 86 Ebd.: S. 8. 87 Wernicke, Carl: »Ueber die Broschüre des Dr. phil. E.F. Müller: 3 Monate grundlos im Irrenhause. Vortrag gehalten auf der 75. Sitzung des Vereins ostdeutscher Irrenärzte zu Breslau am 26. Februar 1898«, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 55 (1898), S. 449-465, hier S. 449.

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wegen solche explizit formulierten oder indirekt transportierten Empfindungen des sich zu Unrecht interniert Fühlenden keine Resonanz erzeugten; abgesehen davon, dass wahrscheinlich viele Psychiater eine ungerechtfertigte Internierung in der großen Mehrzahl ohnehin nicht für gegeben hielten. So stellte sich Bernhard Beyer, Oberarzt am Sanatorium Herzogshöhe zu Bayreuth und Autor der wohl umfangreichsten Antwort auf die »Antipsychiater«, die Frage: »Woher wissen denn die Irrenreformer, daß der Inhalt der Broschüre nicht der größte Schwindel ist?!«88 Und ein Anonymus war sich 1882 sicher: »In keinem Culturlande ist trotz socialer Verdächtigungen bisher die Einsperrung eines Geistesgesunden in einer Irrenanstalt constatirt worden.«89 Diese Überzeugung teilte Ernst Rittershaus, der 1913 in einer Abhandlung über »Irrsinn und Presse« schrieb, immer und immer wieder würde die Legende verbreitet und geglaubt, »daß unzählige geistig Gesunde ›unschuldig‹ hinter deutschen Irrenanstaltsmauern schmachten« würden.90 Dass Betroffene resp. Mitstreiter in diesem Punkt anderer Meinung waren, verwundert nicht. Alle Broschürenschreiber lehnten sich gegen diese Ungerechtigkeit auf, welche ihnen der eigenen Empfindung nach widerfahren war und gegen die gekämpft werden musste. Da all diese Autoren weder gegen die Psychiater noch gegen die Richter etwas in ihrem Sinne hatten ausrichten können, blieb wohl nur noch der Gang in die Öffentlichkeit, um hier eine breite Unterstützung zu suchen und eventuell auch zu finden. Es war allen klar: Eine solche Ungerechtigkeit, die praktisch jedermann jederzeit geschehen konnte, musste in der Gesellschaft doch auf Verständnis und Aufruhr stoßen! Hier fanden sich so auch die Psychiatriekritiker wieder, die selbst keine persönliche Erfahrung mit einer »Irrenanstalt« gemacht haben. So fragte Huldreich Schild seine potentiellen Leser: »Was ist in unserem Vaterlande stärker: Das Recht oder der Einfluß eines einzelnen Mannes, der einen wissenschaftlichen Ruf besitzt [damit war Otto Binswanger (1852-1929) gemeint, RS] und diesen benützt[,] um sich nach Vorbild des römischen Papstes in eine Unfehlbarkeitsglorie zu hüllen.«91

88 B. Beyer: Bestrebungen, S. 32. 89 Anonym: »Rez. zu Pelman: Rechtschutz der Irren. (Deutsche med. Woch., No. 51.)«, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 38 (1882), S. 21-22, hier S. 21. 90 Rittershaus, E[rnst]: Irrsinn und Presse. Ein Kulturbild, Jena: Gustav Fischer 1913, S. 154. 91 H. Schild: Fäden, S. 26.

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Schild wusste nicht, wer diesen Kampf gewinnen würde, aber er war sich sicher, für sein Recht »bis zum letzten Atemzug« zu kämpfen, um wieder als ein »geistig normaler Mann angesehen zu werden«.92 Die Literaturgattung »Irrenbroschüre« wurde vielfach im Selbstverlag – was immerhin genügend eigenes Kapital verlangte – oder von Vereinen resp. Organisationen gedruckt.93 Damit gehörten sehr viele dieser Broschüren zur sogenannten grauen Literatur, die nicht über den Buchhandel vertrieben wurde. Eine Ankündigung oder Werbung einer Broschüre erfolgte offenbar weniger über die Tageszeitungen94 als wohl vielmehr über die Zeitschriften der jeweiligen »psychiatriekritischen« Vereine bzw. über eine Mund-zu-Mund-Propaganda. Hier sei vor allem die Zeitschrift des Bundes für Irrenrechtsreform genannt, die in fast jeder Ausgabe einen kürzeren oder längeren Hinweis auf eine »Irrenbroschüre« bot.95 Da die mir bisher bekannten »Irrenbroschüren« nicht über eine

92 Ebd., S. 26. 93 Zu den Verlagen, die »Irrenbroschüren« in ihr Programm aufnahmen, gehörte aber beispielsweise auch ein Verlag wie der von Max Spohr, der ebenso als Verleger homosexueller oder sexualaufklärerischer Schriften bekannt war. Vgl. Weißgerber, Paul: Schwere Schädigung bei der Regelung von Eisenbahnunfällen und die Notwendigkeit einer Rechtspflege-Hygiene. Ausführungen zu seinem Prozeß gegen den preußischhessischen Eisenbahnfiskus, Leipzig: Max Spohr 1907; Ders.: Unhaltbare Rechtszustände. Darf Professor Binswanger in Jena noch weiter Gutachten abgeben? Leipzig: Max Spohr 1914. 94 In den von mir untersuchten Tageszeitungen Hamburger Fremdenblatt, Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung) und Vorwärts zwischen 1892 und 1900 tauchten nur vereinzelt Hinweise auf »Irrenbroschüren« auf. 95 Vgl. die bisher nachweisbaren Ausgaben, die sehr lückenhaft überliefert sind: Volkstümliche Zeitschrift des Bundes für Irrenrechts-Reform und Irrenfürsorge. Psychiatrische Gruppe des Allgemeinen Deutschen Kulturbundes 1 (1909); 1910 umbenannt in: Internationale Volkstümliche Zeitschrift des Bundes für Irrenfürsorge und Irrenrechts-Reform, hg. von der Psychiatrischen Gruppe des Allgemeinen Deutschen Kulturbundes 2 (1910)-evtl. 3 (1911); 1911 umbenannt in: Die IrrenrechtsReform. Internationale volkstümliche Zeitschrift des Bundes für Irrenfürsorge und Beseitigung der Irrenhausmißstände ohne Jahr (evtl. 3 [1911]); im selben Jahr umbenannt in: Die Irrenrechts-Reform. Internationale volkstümliche Zeitschrift des Bundes für Irrenrecht und Irrenfürsorge, E.V. (Schutzbund gegen Freiheitsberaubung und ungerechte Entmündigung), ohne Jahr (evtl. 3 [1911]); 1920 umbenannt in:

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Auflagenhöhe aufklärten, wäre eine nennenswerte Verbreitung nur zu erahnen. Eine tatsächliche Wirkung auf die Adressaten, d.h. auf Psychiater, aber auch auf beteiligte Juristen und auf die Gesellschaft insgesamt, kann nur anhand veröffentlichter Reaktionen untersucht werden. Diese Wirkung, wie bisher untersuchte Einzelfälle gezeigt haben, war in Quantität und Qualität sehr heterogen. Während auf Ernst F. Müller beispielsweise nur wenige reagiert haben, konnte sich Eduard August Schröder größerer Aufnahme erfreuen, obwohl beide mit jeweils mehreren psychiatriekritischen Veröffentlichungen aufwarten konnten. Ebenso zeigt die Reaktion des Gutachters Carl Wernicke auf den ehemaligen Entmündigten Ernst F. Müller, dass dessen Veröffentlichungen bezüglich der Aufhebung seiner Entmündigung, die durch eine höhere Instanz vorgeschlagen worden war, den Breslauer Ordinarius enorm in die Ecke gedrängt hatte: Wernicke hat sich in einer semiöffentlichen Runde zu diesem prekären Fall geäußert, und zwar vor seinen Psychiaterkollegen, wohl meinend, er könne oder er müsse diese Unannehmlichkeit, die Müller mit seinen Publikationen provoziert hatte, irgendwie gerade rücken. Wernicke begründete seine Stellungnahme mit der Veröffentlichung Müllers erster Broschüre. Ohne eine solche Publikation hätte Wernicke sich sicher nicht zu seiner unglücklichen Rolle in dieser Angelegenheit geäußert, was schließlich in der »Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medicin« seinen Platz fand.96 In den psychiatrischen Fachzeitschriften sind gerade in den Jahren um 1900, der Blütezeit der psychiatriekritischen Bewegung, verstärkt Reaktionen auf »Irrenbroschüren« zu finden. Diese zunehmende teilöffentliche Reaktion zeigt, dass zumindest die sich zu Wort meldenden Psychiater meinten, auf diese Angriffe reagieren zu sollen oder zu müssen, um sich zu verteidigen oder um eine Gegenwehr zu konzipieren. Hätten die Psychiater die »Irrenbroschüren« als unwichtig und schadlos aufgenommen, hätte es keinen Grund gegeben, sich damit beispielsweise in den verschiedenen Versammlungen zu beschäftigen. Dem war aber offensichtlich nicht so.

Nachrichtenblatt für Irrenrechts-Reform, hg. vom Bunde für Irrenrecht und Irrenfürsorge e. V. 12 (1920)-14 (1922). 96 Vgl. C. Wernicke: Broschüre, S. 449-465.

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A BSCHLIESSENDES »Irrenbroschüren« können als Beteiligung an der öffentlichen Debatte zur »Irrenfrage« gelesen werden, wobei sie aber über die medizinischen und juristischen Belange einer Reformbewegung hinausgingen und ebenso an derzeitige gesellschaftliche Probleme anknüpften, die in der Zeit um 1900 viele verunsicherten. Friedrich Kretzschmar hatte 1896 betont, dass die »Irrenfrage« »der Angelpunkt für die Lösung der wichtigsten allgemeinen Culturfragen der Gegenwart« sei. Er meinte damit die »gewaltigen Reformbewegungen« jener Zeit, wie die Rechtsreform, die hygienische Reform, aber auch die Erziehungs- und Bildungsfrage und nicht zuletzt die »bekannteste und allgemeinste jener Fragen«, die soziale Frage.97 Cornelia Brink knüpft hier an, indem sie die sich im Umbruch befindende soziale Wirklichkeit betont, in der die Konfigurationen von »Normalverhalten« konturiert und eingeübt würden: »Die lange Zeit vorgegebene und individuell nachzuvollziehende Ordnung hatte für den Einzelnen spürbare Risse bekommen und damit auch die Gewissheit, was ›normal‹ […] war und was nicht.«98 Die Definitionen und Entscheidungen in diesen Fragen wollten die Psychiatriekritiker nun nicht mehr allein den wissenschaftlichen Experten überlassen. Vielmehr beanspruchten auch die Betroffenen selbst zumindest eine Mitsprache, wenn nicht gar ein Entscheidungsrecht. Was »normal« und was »nicht normal« war, was demnach krank und was gesund bedeutete, das glaubten die Laien besser einschätzen zu können als die Experten; und vor allem die Betroffenen selbst meinten mit ihren »Irrenbroschüren« geradezu den Beweis angetreten zu haben, dass sich die medizinischen Experten, aber auch die involvierten Juristen bei ihnen nicht nur vergriffen, sondern ihnen damit auch unheilvolles Unrecht angetan hatten. Während andere medizinkritische Bewegungen jener Zeit – zu nennen wären hier beispielsweise die Naturheilbewegung99 – offensiv als medizin- und professionskritische Öffentlichkeit agierten, ging die psychiatriekritische Bewegung weiter und griff auch das bestehende Rechts-

97 F. Kretzschmar: Irrenfrage, S. 62-64. 98 C. Brink: »Anti-Vernunft«, S. 128. 99 Vgl. z.B. Regin, Cornelia: »Zwischen Angriff und Abwehr. Die Naturheilbewegung als medizinkritische Öffentlichkeit im Deutschen Kaiserreich«, in: M. Dinges (Hg.), Medizinkritische Bewegungen im Deutschen Reich (ca. 1870-ca. 1933) (1996), S. 39-58.

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system vehement an oder forderte eine »soziale Gerechtigkeit für Alle«100 oder einfach »Ein Recht für Alle«101. Der Psychiatrie- und Justizkritiker LehmannHohenberg stellte zudem sowohl die Kompetenz der Psychiater als auch der Juristen in Frage: »In der Psychiatrie und im Rechtswesen kommen Dinge vor, die zum Himmel schreien!«102 Als »nicht normal« zu gelten hat dem individuellen Ansehen in der Gesellschaft geschadet und ist noch heute ein schwieriges Thema. Die Autoren von »Irrenbroschüren« waren um eine Wiederherstellung ihres gesellschaftlichen Ansehens bemüht, das durch die angeblich grundlose »Internierung« in eine Anstalt oder durch eine Entmündigung als verletzt oder gar zerstört empfunden worden ist. Die Beweisführung meinten die Betroffenen mit einem Erfahrungsbericht antreten zu können, um damit die »Normalität« unter Beweis zu stellen. Die eigene Gewissheit über ihre eigene »Normalität« ist dabei offensichtlich. Ob auch die Leser dieser Broschüren (die Psychiater ausgenommen) von der »Normalität« des Autors überzeugt waren, bleibt müßig zu beantworten. Was den Autobiografen gelang, ist neben einer wahrscheinlich erreichten eigenen Genugtuung oder Befriedigung eine Herstellung von Öffentlichkeit. Damit wurden einige dieser Broschürenschreiber durchaus »für kurze Zeit prominent«103, wobei die Weite dieses Prominentenkreises fraglich bleibt. Nicht fraglich bleibt hingegen, dass die psychiatriekritische Bewegung, und allen voran die Broschürenschreiber, wenigstens dem Ansehen der angegriffenen Psychiater, ihrem Fach und ihrem Berufsstand erheblich zu schaffen gemacht haben. Eine Erbostheit über diese »Hetzbrochüren [sic] mit ihrem grellfarbigen Umschlag, ihren scheußlichen Bildern und schaudererweckenden Titeln«104 konnte da nicht ausbleiben.

100 Lehmann-Hohenberg, [Johannes Georg]: Naturwissenschaft und Bibel. Beiträge zur Weiterbildung der Religion. Ausblicke auf eine neue Staatskunst. Eine naturwissenschaftliche Antwort auf das Glaubensbekenntnis Kaiser Wilhelm II., Jena 1904, S. 149. 101 Hirschberg, Gertrud: 17 Tage Irrenhaus! Selbsterlebtes, Berlin: Hermann Walther Verlagsbuchhandlung 1904, S. 56. 102 Lehmann-Hohenberg, [Johannes Georg]: »Psychiater und Psychiatrie. (Die Wahrheit im Prozeß Hüger)«, in: Rechtshort. Unabhängige Zeitschrift zur Einleitung einer neuen Reformation durch Germanisierung des Rechts 3 (1907), S. 371-377, hier S. 377. 103 C. Brink: »Anti-Vernunft«, S. 136. 104 F. Scholz: Publikum, S. 4.

Nervenschwäche, Neurasthenie und »sexuelle Frage« im deutschen Kaiserreich D ORIS K AUFMANN

In meinem Beitrag wird es um die Verbindung zwischen dem deutschen Neurastheniediskurs vor dem Ersten Weltkrieg und dem Aufkommen einer sogenannten sexuellen Frage gehen. Diese »sexuelle Frage« wurde in einem neuen psychiatrischen Feld, dem des wissenschaftlichen sexuellen Wissens, geschaffen. Sie markierte für die Psychiater eine entscheidende Wegmarke in ihrem Bemühen, ihre Zuständigkeit für geistige und seelische Krankheiten zusätzlich auf den Bereich des Alltagslebens auszudehnen und sich als oberste Autorität auch für dessen Ordnung und Regelung zu etablieren. Dieser Anspruch blieb nicht unbeantwortet. Parallel und mit Beteiligung von Psychiatern entstand eine sexuelle Reformbewegung und gab es eine fast obsessiv zu nennende Beschäftigung von Politikern, Schriftstellern, Künstlern, Frauenbewegten, kurz »der Öffentlichkeit« mit der sogenannten sexuellen Frage. Gestritten wurde über die Bedeutung und den Bereich von Sexualität und über die Grenzen zwischen Normalität und Devianz von sexuellem Verhalten.

1

Der Text erschien erstmals in dem Sammelband Alltag als Politik – Politik im Alltag. Dimensionen des Politischen in Vergangenheit und Gegenwart. Ein Lesebuch für Carola Lipp, herausgegeben von Michaela Fenske, Lit-Verlag Berlin 2010 (Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Lit-Verlages). Nicht berücksichtigt werden konnte deshalb das neue Buch von Putz, Christa: Verordnete Lust. Sexualmedizin, Psychoanalyse und die Krise der Ehe, 1870-1930, Bielefeld: transcript 2011.

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1880 beschrieb der amerikanische Psychiater und Elektrotherapeut George M. Beard in einer Monografie das Krankheitsbild Neurasthenie, das in der deutschen Psychiatrie alsbald eine begeistert zustimmende Rezeption erfuhr2. Ein ganzes Bündel von Beschwerden, zumeist von den Betroffenen nur vage beschrieben und für die Ärzte unklassifizierbar – wie dauernde Müdigkeit und Erschöpfung, diffuse Schmerzen, Ängste, Schwindel, Aufgeregtheit und sexuelle Funktionsstörungen – fasste Beard unter die neue Krankheitseinheit Neurasthenie zusammen. Sie war angeblich auf eine Schwäche des Nervensystems zurückzuführen und stand in direktem Wirkungszusammenhang mit »modern civilization« und »modern life«. Die Krankheit breitete sich deshalb vor allem bei dessen Hauptträgern aus: bei männlichen Hirnarbeitern der Großstädte, die angeblich eine hohe Sensibilität und damit Anfälligkeit für nervöse Zustände besaßen, die zugleich auch ein Zeichen ihres gesellschaftlichen und ökonomischen Erfolgs darstellten3. Schon die Zeitgenossen beschäftigte der rasante Erfolg des Neurastheniekonzepts, sichtbar z.B. an der wachsenden Menge einschlägiger medizinischer Literatur4 und zunehmenden Patientenzahlen. Neben der Erleichterung, nun endlich eine Krankheitsbezeichnung für die breite Palette an nervösen Symptomkomplexen zu besitzen, die ein Dach für die bisherigen uneinheitlichen Annahmen, Beschreibungen und Ideenversatzstücke über Nervenkrankheiten bildete, schätzten Ärzte insbesondere das klare klinische Bild der Neurasthenie, das ihnen half, eine deutliche Abgrenzungslinie gegenüber den Geisteskrankheiten zu ziehen. Genau dies beruhigte die jetzt neurasthenisch genannten Patienten, die nichts mehr fürchteten, als geisteskrank zu werden oder als geisteskrank zu gelten. Eine Reihe von Personen, die zuvor als an Hypochondrie oder Hysterie erkrankt diagnostiziert worden waren, wurde nun dem Lager der Neurastheniker zugeschlagen. Obwohl auch in den medizinischen Kleinschriften, Handbüchern

2

Beard, George M.: A Practical Treatise on Nervous Exhaustion (Neurasthenia), its Symptoms, Nature, Frequencies, Treatment. New York: Wood 1880 (dt. Übersetzung: Die Nervenschwäche [Neurasthenie], ihre Symptome, Natur, Folgezustände und Behandlung, Leipzig: Vogel 1881).

3

Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Hitler und Bismarck. München u.a.: Hanser 1998; Roelcke, Volker: Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter 1790-1914, Frankfurt a.M.: Campus 1999.

4

Siehe die ausführliche Bibliographie bei Müller, Franz Carl (Hg.): Handbuch der Neurasthenie, Leipzig: Vogel 1893, S. 1-18.

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und ärztlichen Praxisratgebern stets auf die Unterschiede zwischen Neurasthenie und Hysterie eingegangen wurde, beherrschte explizit und implizit die Anerkennung der grundsätzlichen Ähnlichkeiten zwischen diesen beiden sogenannten funktionellen Neurosen den psychiatrischen Diskurs5. Die Mainstream-Psychiatrie unterschied sich hier – trotz der »Entdeckung« der männlichen Hysterie durch den französischen Psychiater Jean-Martin Charcot und der späteren Studien von Sigmund Freud – nicht wesentlich von der allgemeinen außermedizinischen Meinung, dass Neurasthenie und Hysterie gemischtgeschlechtliche Zwillinge seien. Hysterie betraf danach hauptsächlich alle Frauen und zudem auch Männer unterer Klassen und war mit der Diagnose einer angeborenen, erblichen psychopathischen Persönlichkeit verbunden. Neurasthenie betraf dagegen in erster Linie die männlichen Mitglieder der oberen Mittelschichten und einige ihrer weiblichen Mitglieder, denen die Hysteriediagnose erspart werden sollte. Jedoch erwarteten einige Psychiater eine Zunahme an Neurasthenikerinnen, sollten Frauen vermehrt in den wirtschaftlichen »Kampf ums Dasein« hineingezogen werden6. Die meisten ärztlichen Autoren hielten die Grenze zwischen Neurasthenie und Gesundheit für fließend. Aber diese Einschätzung unterstrich nur, warum Beards Neurastheniekonzept für die gesamte psychiatrische scientific community so wichtig war: Neurasthenie konnte nun als somatische, d.h. auf körperlichen Ursachen beruhende Krankheit etabliert werden. 1883 stellte zum Beispiel der Arzt V. Holst aus Riga in einer Kleinschrift fest, dass es vor Beard keinen Platz für die Neurasthenie in der Neuropathologie gegeben habe.7 Er hoffte, dass jetzt funktionelle Neurosen nicht länger als Stiefkinder der Wissenschaft behandelt werden würden und dass sich der Graben zwischen medizinisch-psychiatrischer Forschung und den praktischen Alltagsbedürfnissen von Ärzten und Patienten schließen werde. Dieser Graben existierte nach Holst wegen des unterschiedlichen Zugangs von Psychiatern zu Patienten, die unter funktionellen Neurosen litten. Zwar repräsentierten Universitätskliniken ohne Zweifel den Ort, an dem wissenschaftlicher Fortschritt erlangt werde; die neurasthenischen Patienten seien jedoch nicht dort, sondern in den privaten Arztpraxen zu finden. Zudem

5

Z.B. Dunin, Theodor: Grundsätze bei der Behandlung der Neurasthenie und Hysterie,

6

Müller, Franz Carl: »Die Uebergangsformen der Neurasthenie in psychische Erkran-

Berlin: Hirschwald 1902. kungen und die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Neurastheniker«, in: Ders. (Hg.), Handbuch der Neurasthenie (1893), S. 212-260, hier S. 238-239. 7

Holst, Valentin: Die Behandlung der Hysterie, der Neurasthenie und ähnlicher allgemeiner functioneller Neurosen, Stuttgart: Enke 1883.

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nehme »die exakte wissenschaftliche Forschung« Klagen von Patienten über subjektive Beschwerden nicht ernst, geschweige denn mache sie zum wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand. So war es dann letztlich, so Holst, Aufgabe der praktischen Ärzte, die subjektiven Zeichen von Leid in »objektiver«, d.h. wissenschaftlicher Weise zu erforschen und zu heilen. Holsts Selbstbewusstsein und -vertrauen war ebenso wie seine kritische Haltung gegenüber den universitären psychiatrischen Vordenkern keine Ausnahme. Beards Neurastheniekonzept stärkte zum einen die Stellung der außerhalb der Kliniken tätigen Psychiater und Nervenärzte, die mit der großen Zahl von »nervösen Störungen« leidenden Patienten konfrontiert waren, die sie nun mit einer einheitlichen konsistenten und gültigen psychiatrischen Diagnose versehen konnten. Zudem begannen sie unter Hinweis auf ihre in den Arztpraxen erlangten größeren Erfahrungen mit dieser Patientengruppe, die Begrenzungen der psychiatrischen (universitären) Forschung zu kritisieren. Sie versäume es, den ganzen Patienten mit allen seinen Ausdrucksformen von Leid adäquat in den Blick zu nehmen. Zum anderen schlug die somatische Begründung der Neurasthenie als Erschöpfung und/oder Überstimulation des zentralen Nervensystems, die sich in zerstörtem Nervengewebe manifestiere, jedoch auch eine theoretische Brücke zur gehirnorientierten psychiatrischen Forschung und ebnete damit den Weg auch dort für mehr Aufmerksamkeit gegenüber funktionellen Neurosen. 1896 gab Otto Binswanger, Professor für Psychiatrie und Direktor der psychiatrischen Universitätsklinik in Jena, in seinem Lehrbuch »Die Pathologie und Therapie der Neurasthenie« zu, dass die psychiatrische klinische Forschung sich möglicherweise zu stark auf die Untersuchung »objektiv nachweisbarer Krankheitserscheinungen« konzentriert und ausschließlich der physikalischen Untersuchung, der chemischen Reaktion und den mikroskopischen Befunden Raum gegeben habe8. Andere methodische Zugangsweisen bei der Untersuchung der Patienten seien unterschätzt worden. Seinen studentischen Lesern machte er zur Aufgabe, die subjektiven Symptome der Kranken ernst zu nehmen. Solange die physio-pathologische Ursache der Neurasthenie unbestimmt sei, sollten psychiatrische Ärzte versuchen, so viel Erfahrung wie möglich durch die Beobachtung der intellektuellen und affektiven Störungen zu gewinnen, die funktionale Neurosen charakterisierten9. Am Schluss seines Buches gab Binswanger Ratschläge, wie mit neurasthenischen Patienten umzugehen sei, nämlich mit Festigkeit, Überzeugungskraft und Vorsicht. Auf jeden Fall sollten keine unnötigen

8

Binswanger, Otto: Die Pathologie und Therapie der Neurasthenie. Vorlesungen für Studierende und Ärzte, Jena: Fischer 1896.

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Ebd.: S. 3.

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Anstrengungen und Mühen auf die »nicht geringe Zahl neurasthenischer Bummler« verwendet werden, »welche sich mit ihrem Leiden in dem Sinne abgefunden haben, dass es ihnen ein willkommener Vorwand ist, alle Pflichten von sich abzuwälzen […] und sich einer fehlerhaften Lebensführung hinzugeben«10. Binswangers Ausführungen sind in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Sie zeigen einerseits, dass psychiatrische »Spitzenforscher« für die Anerkennung und Untersuchung sogenannter nicht-objektiver Symptome eine Tür geöffnet hatten, und sie machen andererseits deutlich, dass die Möglichkeiten des neuen expandierenden Neurastheniemarktes für die Psychiatrie erkannt worden waren. Neurastheniker blieben eine Minderheit in dem sich ebenfalls ausweitenden System von staatlichen psychiatrischen Krankenhäusern und Universitätskliniken, in denen hauptsächlich arme Patienten, die zumeist an schweren Geisteskrankheiten litten, behandelt wurden. Die mit Neurasthenie diagnostizierten Mittel- und Oberschichtspatienten besuchten die privaten Praxen und Kurkliniken von Ärzten, die sich auf Nervenkrankheiten spezialisierten und die als neue Experten die Internisten ablösten.11 Diese Entwicklung unterstützte und beförderte die Herausbildung der Psychiatrie als Wissensordnung ebenso wie als institutionelles System. Beards Konzept ging von einer organischen Ursache der Neurasthenie aus. Nicht nur die betroffenen Patienten klammerten sich an diese Annahme, auch der Großteil der medizinischen Literatur gab dieser Erklärung breiten Raum. Allerdings wurde das Thema der Wechselbeziehung zwischen verletztem zentralen Nervensystem und den Anforderungen des modernen Lebens als Auslöser nur auf sehr allgemeiner Ebene abgehandelt, um dann zu beschreiben, was die meisten ärztlichen Autoren und die Leserschaft vor allem interessierte: die Erfahrungen mit den verschiedenen Behandlungsmethoden der Neurasthenie. Letztlich bestand Einigkeit, dass alle Erfolge bei der Behandlung sich auf die starke Persönlichkeit des psychiatrischen Arztes zurückführen ließen, der als Ratgeber und Führer zu einem besseren, gesünderen, emotional ausgewogenen, ökonomischen und rationalen Leben fungierte. Die praktischen therapeutischen Vorschläge und Maßnahmen nahmen Bezug auf Ideen der Lebensreformbewegung wie Bewegung in der frischen Luft, leichtes Essen, bequeme Kleidung und einen regelhaften täglichen Arbeitsrhythmus12.

10 Ebd.: S. 371. 11 Shorter, Edward: Geschichte der Psychiatrie, Berlin: Fest 1999, hier S. 184-197. 12 Z.B. Wilke, Wilhelm: Nervosität und Neurasthenie und deren Heilung. Vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus bearbeitet, Hildesheim: Borgmeyer 1903.

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Nach der Jahrhundertwende setzte sich eine psychologische Erklärung der Ursache für Neurasthenie und Hysterie im psychiatrischen Diskurs durch. Beards Annahme einer verborgenen Verletzung des zentralen Nervensystems wurde allein noch für traumatische Neurosen aufrechterhalten, die insbesondere nach Eisenbahnunfällen diagnostiziert wurden. Emil Kraepelin, der Gründungsdirektor des prestigeträchtigen ersten psychiatrischen Forschungsinstituts Deutsche Forschungsanstalt in München, inkorporierte nur noch einzelne Symptome der Neurasthenie und auch der Hysterie in die Beschreibung von Psychosen und gab ihnen damit eine somatische Begründung.13 Die medizinische Beschäftigung mit der Neurasthenie verschob sich auf die Untersuchung des Grenzbereichs zwischen normalem und pathologischem Verhalten. Damit weitete sich das Gebiet für die psychiatrische Forschung und das psychiatrische Eingreifen in letztlich alle Verhaltensweisen im Alltags- und im Intimleben der Menschen aus. Schulbeispiel für diesen Prozess war die Verbindung des Diskurses über Neurasthenie mit der »sexuellen Frage« im Wilhelminischen Deutschland. Im Jahr 1908 publizierte Sigmund Freud einen Aufsatz, dessen Titel – »Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität« – einen spezifischen Erklärungsrahmen für das zeitgenössische Leiden an der Nervosität lieferte14. Freud kritisierte zunächst, dass der aktuelle psychiatrische Diskurs nur recht allgemein und unspezifisch die Verbindung zwischen moderner Zeit und Neurasthenie beschrieb. Namentlich erwähnte er in diesem Zusammenhang Wilhelm Erb, Otto Binswanger und Richard von Krafft-Ebing. Freud warf seinen berühmten Kollegen vor, die wichtigste krankheitsbegründende Ursache zu vernachlässigen, nämlich die zerstörerische Unterdrückung des Sexuallebens durch die Kultur und ihre Sexualmoral. Obwohl die Psychiater, die Freud in seinem Artikel zitierte, seine Ansicht von der sexuellen Verursachung der Neurasthenie nicht in allen Punkten teilten und seine frühere Schrift »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« von 1905 kritisch beurteilten, war Freuds Vorwurf doch irreführend. Nicht nur die genannten Psychiater gaben dem Thema des schädigenden Einflusses von sozialen Umständen und kulturellen Vorgaben für das sexuelle Leben breiten Raum und boten Beschreibungen und Erklä-

13 Kraepelin, Emil: »Die Diagnose der Neurasthenie«, in: Münchener Medizinische Wochenschrift 49 (1902), S. 1641-1644.; Ders.: Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, Leipzig: Barth 1883. Das Lehrbuch erschien zwischen 1883 und 1927 in insgesamt neun überarbeiteten Auflagen. 14 Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt a.M.: Fischer 62000, hier S. 109-132.

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rungen über die »Natur« der Sexualität und ihre Beziehungen zur Kultur. Dieser Themenbereich war von Beginn an sehr sichtbar und blieb im Mittelpunkt der psychiatrischen und öffentlichen Aufmerksamkeit. Angefangen mit Beard (1885) veröffentlichten Psychiater und Neurologen zahlreiche Einzelstudien über sexuelle Störungen als Symptom ebenso wie als Ursache der Neurasthenie wie das Buch »Sexualleben und Nervenleiden«, ein vielzitierter Titel von Leo Löwenfeld15. Michel Foucault hat argumentiert, dass Sexualität als Wissensfeld im 19. Jahrhundert insbesondere durch Psychiater geschaffen wurde, die die Normalität und Pathologie sexuellen Verhaltens definierten und sexuelle Beichten ihrer Patienten zugleich produzierten und medikalisierten16. In der Tat, nach Binswangers Ausführungen im oben erwähnten Lehrbuch waren die Sprechzimmer im späten Kaiserreich überfüllt mit Patienten, »die über Krankheitserscheinungen der Genitalsphäre, entweder in epischer Breite oder in heimlich scheuer, zaghafter Weise«17 vortrugen und dabei die große Bedeutung, die sie als Betroffene selbst diesen Symptomen zumaßen, erkennen ließen. Binswanger urteilte: »Es liegt für viele neuropathische Menschen ein eigentümlicher Reiz darin, ihre sexuellen Empfindungen und Vorgänge genau zu beobachten, darüber zu grübeln und mündlich und schriftlich den Arzt um Rat anzugehen, ob ihre sexuellen Funktionen der Norm entsprechen oder nicht. Besonders bei Männern veranlasst jede geschlechtliche Erregung ausgeprägte hypochondrische Befürchtungen und Selbstquälereien.«18

Künftigen und bereits behandelnden Ärzten riet er, »diese ängstlichen Gemüter« zu beruhigen und ihr Selbstvertrauen zu stärken, da eine klinische Beobachtung oft zeige, dass »ihre Klagen über eine gesteigerte oder herabgeminderte Geschlechtstätigkeit durchaus grundlos« seien.19 Die Wahrnehmung psychischen Leidens und das Reden der Betroffenen darüber waren mit dem ärztlichen Neurasthenie-Diskurs auf direkte Weise verknüpft. Letzterer bot ein Reservoir von kulturellen Ausdrucksmitteln an, d.h. er lieferte sprachliche Formen und Erklärungsmodelle ebenso wie er die Defini-

15 Löwenfeld, Leo: Sexualleben und Nervenleiden. Die nervösen Störungen sexuellen Ursprungs, Wiesbaden: Bermann 21899. 16 Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. 17 O. Binswanger: Pathologie, S. 266. 18 Ebd. 19 Ebd.

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tionen von Verhaltensmustern und Bildern von Neurasthenie beschrieb, die von Personen genutzt werden konnten, ihrem Leid und ihrem Dissens gesellschaftlich verständlich Ausdruck zu geben. Die wachsende Bedeutung von wissenschaftlichen Experten und in unserem Fall von psychiatrischen Erklärungen sozialer Krisenphänomene im deutschen Kaiserreich beförderte deren öffentliche Verbreitung und Akzeptanz. Der psychiatrische Neurastheniediskurs erlangte nahezu eine Monopolstellung auch als sprachlicher »Ausdruckspool« für psychisches Leiden. Es existierte also ein doppelter Prozess: Auf der einen Seite konstruierte und in gewisser Weise produzierte die Psychiatrie die diagnostizierte Neurasthenie selbst, z.B. durch das neue Genre der neurasthenischen Fallgeschichte mit sexuellen Störungen im Mittelpunkt. Auf der anderen Seite lebten die vielen Betroffenen, die ihren Dissens in der Sprache der Neurasthenie ausdrückten, in einer (von ihnen selbst geschaffenen) Gesellschaft, die Leiden hervorrief – beides ist im Diskurs über Neurasthenie sichtbar. Kehren wir noch einmal zu Binswanger und seinen Ausführungen über die männlichen Neurastheniker zurück, die sich unsicher fühlten, ob ihr sexuelles Leben der Norm entsprach und deshalb psychiatrische Ärzte aufsuchten. Die vielen Fallgeschichten, die Joachim Radkau in seinem Buch »Das Zeitalter der Nervosität« vorstellt20 bestätigen, dass neurasthenische männliche Patienten sehr oft ihre Ängste artikulierten, unfähig zu sein, beides – berufliche und sexuelle Erwartungen – zu erfüllen. Die Sprechzimmer der Ärzte boten einen Raum für die Artikulation und erhoffte Hilfe bei sexuellen Problemen. Das große Dach Neurasthenie stellte den medizinischen Rahmen bereit, in dem die angedeuteten »subjektiven Schwierigkeiten«, wie die Ärzte sie nannten, erklärt werden konnten. Sie tauchen in der medizinisch-psychiatrischen Literatur der Zeit auf als nervöse Impotenz, ejaculatio praecox und sexuelle Organstörungen. Diese Leiden wurden nach dem eingeführten Erklärungsmuster von Übererregung und Erschöpfung/Schwäche des Nervensystems erklärt. Die Vorstellung von Sexualität als messbarer Prozess von anatomischen und physiologischen Substraten21 gewann im späten 19. Jahrhundert in Deutschland an Boden und bestimmte die individuelle Wahrnehmung – jedenfalls in den gebildeten Schichten – ebenso wie die öffentliche Debatte. Das entstehende Feld der Sexualwissenschaft, dessen Repräsentanten vor allem Psychiater waren, die neurasthenische Patienten in ihren Praxen behandelten, lieferte dafür die Grundlage mit den Imperativen: dass das Sexualleben die wichtigste Ursache für persönliches Glück oder Krankheit

20 J. Radkau: Nervosität. 21 Vgl. Krafft-Ebing, Richard v.: Psychopathia sexualis, München: Matthes & Seitz 1993 (Nachdruck der Ausgabe 1912, erstmals Stuttgart 1886), hier S. III-IV.

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war, dass sexuelles Verhalten den Anforderungen von Gesundheit (gleich Natur) folgen musste und dass gesellschaftliche Verhältnisse, die das verhinderten, geändert werden mussten, nicht zuletzt auch im übergreifenden rassenhygienischen Interesse22. Aber was charakterisierte nun ein »normales Sexualleben«? Und wie konnte sexueller Neurasthenie vorgebeugt werden? Diese Fragen erforderten eine Antwort und wurden wichtiges Thema der medizinischen Neurasthenieliteratur mit einer zentralen These über die verschiedenen Arten krankmachenden Sexualverhaltens: Wenn die Ökonomie der Sexualität verletzt, d.h. die Balance zwischen Erzeugung und Verbrauch von Nervenenergie nicht eingehalten wurde, hieß das Ergebnis immer Nervenkrankheit. Dies traf ebenso auf sexuelle »Exzesse« zu wie auf sexuelle Abstinenz. Zwar gab es einige Ärzte, die an eine vererbte unmäßige libido sexualis glaubten, wie der Psychiater und Sexualwissenschaftler Albert Freiherr von Schrenck-Notzing, der Neurasthenie als ersten Schritt auf dem Weg zu einem abnormen, psychopathischen sexuellen Verhalten sah23; andere Psychiater beurteilten die Ausdrucksformen des Sexualtriebes allerdings als abhängig von den äußeren sozialen Umständen, die ihn förderten oder unterdrückten24. In seinem Buch »Nervosität und Kultur« charakterisierte der Psychologe Willy Hellpach seine Zeit als eine des sexuellen Wandels.25 Die kapitalistische Ära offeriere ein ganzes Bündel an sensorischen sexuellen Stimuli, insbesondere in Großstädten, ohne Möglichkeit der Befriedigung. Dies gefährde fortwährend die Stabilität des Nervensystems, das sich zudem als weitere Folge der Zeit ständig verfeinert habe. Für Hellpach war die Zeit der Abstinenz und Prüderie für immer vorbei, und als positives Zeichen dafür sah er die Zunahme außerehelichen Geschlechtsverkehrs. Der männliche Sexualtrieb stelle eine »mächtige Kraft« dar, dem im Interesse eines gesunden Nervensystems auch Genüge zu tun sei. Aber hier tat sich ein Problem auf. Der Wandel des Sexualverhaltens, den

22 Für vergleichbare Entwicklungen in anderen Ländern vgl. Nye, Robert A.: »The History of Sexuality in Context: National Sexological Traditions«, in: Science in Context 4 (1991), S. 387-406; Porter, Roy/Hall, Leslie (Hg.): The Facts of Life. The Creation of Sexual Knowledge in Britain, 1650-1950, New Haven u.a.: Yale Univ. Press 1995; Engelstein, Laura: The Keys to Happiness. Sex and the Search for Modernity in Finde-Siècle Russia, Ithaca/London: Cornell Univ. Press 1992. 23 Schrenk-Notzing, Albert Freiherr v.: »Die psychische und suggestive Behandlung der Neurasthenie«, in: F.C. Müller, Handbuch (1893), S. 518-584, hier 522-523. 24 Dornblüth, Otto: Die Psychoneurosen. Neurasthenie, Hysterie und Psychasthenie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, Leipzig: Veit 1911, S. 172. 25 Hellpach, Willy: Nervosität und Kultur, Berlin: Räde 1902, S. 159-183.

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Hellpach begrüßte, war nämlich u.a. gekennzeichnet durch ein Anwachsen der Prostitution, der Geschlechtskrankheiten und der Zahl unehelicher Kinder. Die Gefahr, dass Männer mit Syphilis für die Gesundheit ihrer Nerven zahlten, war in der Literatur über Neurasthenie und Sexualität sehr präsent. Zudem führten die Kampagnen der abolitionistischen Gruppen in der deutschen Frauenbewegung zu einer öffentlichen Aufmerksamkeit gegenüber der sozialen Not, die Frauen in die Prostitution zwang26. Hellpach schlug, um die Gesundheitsgefahren für die Männer ebenso wie eine Propagierung von gewerblicher Prostitution zu vermeiden, das »Verhältnis« als Übungs- und Erfüllungsort für männliche sexuelle Praxis vor der Ehe vor. Er warb für eine Beziehung zwischen einem jungen oberen Mittelschichtsmann mit einer unteren Mittelschichtsfrau. Hellpachs Vorschlag – Ausdruck einer »Herrenmoral«27 – reflektierte nicht zuletzt eine gesellschaftliche Situation. Eine frühe Heirat war für die meisten Männer der gebildeten und oberen Mittelschichten, die im Zentrum des NeurasthenieDiskurses standen, fast unmöglich geworden, da Ausbildung und Aufstieg lange Jahre mit begrenztem Einkommen bedeuteten. Insbesondere der männliche Single schien prädestiniert dafür, wegen sexueller Abstinenz an Neurasthenie zu erkranken, während unverheiratete und verwitwete Frauen damit angeblich besser umgehen konnten. Aber auch die Ehe stellte keineswegs eine Garantin für ein befriedigendes Sexualleben und damit für nervliche Gesundheit dar.28 Laut der zeitgenössischen psychiatrischen Literatur war besonders die verbreitete Praxis des coitus interruptus Ursache für nervliche Störungen und Neurasthenie. Zwar unterstützten die psychiatrischen Beiträger zum Thema Neurasthenie und Sexualität zumeist die Geburtenkontrolle, die sich nach der Jahrhundertwende in den gebildeten Schichten durchgesetzt hatte. Leo Löwenfeld z.B. billigte den Wunsch nach einer Zwei-Kinder-Familie angesichts des immer begrenzteren ökonomischen Spielraums der Mittelschichtsfamilien, geißelte aber die Praxis des coitus interruptus als schädlich für die Frauen, denen damit nicht nur sexuelle Befriedigung verweigert werde, sondern denen auch durch die berechtigte Angst, ungewollt schwanger zu werden, eine Neurasthenieerkrankung drohe.29 Die medizinische Diskussion über den coitus interruptus brachte erstmals die Sexualität von Frau-

26 Pappritz, Anna: Einführung in das Studium der Prostitutionsfrage, Leipzig: Barth 1919. 27 Pappritz, Anna: Herrenmoral, Leipzig: Verlag der Frauen-Rundschau 1903. 28 Hösslin, Rudolph von: »Aetiologie«, in: Müller, Handbuch (1893), S. 85; O. Dornblüth: Psychoneurosen, S. 400ff., L. Löwenfeld: Sexualleben, S. 116ff. 29 L. Löwenfeld: Sexualleben, S. 125ff.

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en in den Neurastheniediskurs ein. Einzelne psychiatrische Ärzte gestanden Frauen eine libido sexualis zu und einige kritisierten vorsichtig Ehemänner für ihr egoistisches sexuelles Verhalten. Solche frauenfreundlichen Tendenzen gewannen einzelne Psychiater offensichtlich aus ihren praktischen Erfahrungen in der Neurastheniebehandlung, wie das Beispiel von Dornblüth zeigt, der sogar die Erwerbstätigkeit von Frauen zu den Fortschrittsindikatoren des deutschen Kaiserreichs zählte. Insbesondere die Lehrerinnen hätten alle Befürchtungen, aufgrund ihrer Arbeit von Nervenkrankheiten heimgesucht zu werden, glänzend widerlegt. Sein Lob gipfelte in der für seine Berufsgruppe außergewöhnlichen Bemerkung, Frauen hätten das gleiche Recht wie Männer auf Ausbildung und Leistung30. Andere Psychiater sahen im Gegenteil genau hier den Beginn der Zerstörung von Geschlechtergrenzen. Albert von Schrenck-Notzing kritisierte seine Kollegen, das Problem von Neurasthenie und Sexualität lediglich auf eine technische Frage, im Sinne von ordentlich funktionierenden Sexualorganen, zu reduzieren.31 Sexualität sei vielmehr eine Frage der andauernden Befestigung und Wiederbefestigung der Geschlechterordnung. Die traditionelle Arbeitsteilung der Geschlechter, basierend auf zwei separaten weiblichen und männlichen Geschlechtscharakteren, zu denen ein bestimmtes sexuelles Verhalten gehöre, sei unter allen Umständen beizubehalten. Erziehung müsse, in der Kindheit beginnend, verhindern, dass das Individuum sogenannte konträre Sexualempfindungen ausbilde. Es könne bereits, so Schrenck-Notzing, eine pathologische Bedeutung haben, wenn Jungen weibliche und Mädchen männliche Aktivitäten liebten, wie etwa das Mädchen das Reiten, das Jagen und die Lektüre wissenschaftlicher Bücher. Wenn also das Umfeld der »sexuellen Frage« den breiteren Raum der Geschlechterordnung umfasste, dann war die Aufgabe für die Psychiater in ihrem eigenen Selbstverständnis klar. Sie hatten wissenschaftliche Berater in sexuellen Fragen zu sein, die sich aber letztlich auf alle Bereiche des Alltagslebens erstreckten. Ausgangspunkt und Legitimation für diesen Anspruch waren die neurasthenischen Krankheitsbilder, die ein kulturell bekanntes und akzeptiertes Phänomen darstellten, das genau den Grenzbereich von normalem und pathologischem Gefühlsverhalten betraf. Diese psychiatrische Argumentation durchzog die verschiedenen Zweige der Sexualreformbewegung von Beginn an. Prominente Mitglieder und Unterstützer wie die Sexualwissenschaftler Max Marcuse, Iwan Bloch, Leo Löwenfeld, Sigmund Freud und August Forel gehörten der psychiatrischen Profession an.

30 O. Dornblüth: Psychoneurosen, S. 386. 31 A. v. Schrenck-Notzing: Behandlung, S. 529ff.

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Unter dem Banner der Durchsetzung psychiatrischer bzw. naturwissenschaftlicher Ergebnisse kämpfte die Sexualreformbewegung für die Reform der sozialen und rechtlichen Vorgaben und Gesetze, die die sexuelle Selbstbestimmung verhinderten und ihrer Meinung nach ein gesundes Sexualleben unmöglich machten. Dies lässt sich am Beispiel der Argumentation und der Aktivitäten von Helene Stöcker verdeutlichen, die als Führerin des radikal-feministischen Bundes für Mutterschutz und Sexualreform eine »Neue Ethik« propagierte. In deren Mittelpunkt stellte sie die Forderung nach der gleichberechtigten Freiheit für Frauen, ihr sexuelles Leben selbst zu bestimmen und zu genießen. Sie forderte Sexualerziehung in den Schulen, die allgemeine Zugänglichkeit von Verhütungsmitteln, die Legalisierung der Abtreibung, die Anerkennung der freien Liebe und eine staatliche Unterstützung für unverheiratete Mütter und uneheliche Kinder.32 In ihrem programmatischen Artikel »Zur Reform der sexuellen Ethik« von 1905 berief sie sich dabei auf die Autorität der Wissenschaft: »Jetzt freilich, wo das Ziel der Menschheit nicht mehr im Jenseits, nicht in einer fernen Ewigkeit liegt, sondern wo es sich darum handelt, dieses Leben, unser Leben so zu gestalten, daß es wert wäre, ewig gelebt zu werden, nun freilich müssen wir eine Ethik suchen, die uns hier schon diesem höchsten Ziele zuführt. Dazu müssen alle Wissenschaften uns helfen, nachdem die Wissenschaften es gewesen sind, die die alte Ethik als schädlich, die alte Weltanschauung überhaupt als unhaltbar nachgewiesen haben.«33

Diese Meinung wurde nicht von allen Teilnehmerinnen in der Debatte über die sexuelle Frage geteilt. Der mehrheitliche, sogenannte gemäßigte Teil der deutschen Frauenbewegung hielt die Idee der freien Liebe, die sich auf die Ergebnisse der Sexualwissenschaft berief, für unannehmbar, weil sie die sozialen Umstände, d.h. den gesellschaftlichen Kontext nicht berücksichtigte, in dem Frauen lebten. Frauen (ebenso wie Männer) sollten nicht verurteilt sein, ihren Naturinstinkten und wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten folgen zu müssen, um

32 Über Helene Stöcker zuletzt Schaser, Angelika: Frauenbewegung in Deutschland 1848-1933, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, S. 69-76. 33 Stöcker, Helene: »Zur Reform der sexuellen Ethik«, in: Marielouise Janssen-Jurreit (Hg.), Frauen und Sexualmoral. Frankfurt a.M.: Fischer 1986, S. 110-118, hier S. 111.

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Nervenschädigungen zu vermeiden; beide Geschlechter sollten sich vielmehr bemühen, einer Verantwortungsethik und eigener Wertsetzung zu folgen.34 Dieser Versuch der Kritikerinnen der Sexualreformbewegung, Frauenpolitik von einer naturwissenschaftlichen Begründung wieder zu lösen, hatte à la longue keine Chance auf Erfolg. Die weitere historische Entwicklung zeigt, dass soziale Bewegungen fortfuhren und fortfahren, ihre Forderungen nach Reform und Veränderung auch ausdrücklich mit Berufung auf die Ergebnisse der Wissenschaft, insbesondere der Naturwissenschaften, zu legitimieren. Im Kaiserreich wurde das psychiatrische Neurastheniekonzept zum einflussreichen Deutungsmuster eines Krisenphänomens, das zudem eine Sprache anbot, in der Leiden und Dissens ausgedrückt werden konnte. Darüber hinaus beförderte der Diskurs über »Nervenschwäche« das Entstehen einer neuen psychiatrisch dominierten Sexualwissenschaft und nicht zuletzt eine Ausweitung des psychiatrischen Raums in das Alltagsleben.

34 Siehe dazu die Schriften von Marianne Weber, der wichtigsten Opponentin H. Stöckers. Z.B. Weber, Marianne: Frauenfragen und Frauengedanken. Gesammelte Aufsätze, Tübingen: Mohr 1919; Dies.: Die Ideale der Geschlechtergemeinschaft, Berlin: Herbig 1929.

Die Etablierung der psychiatrischen Genetik ca. 1900-1960 Wechselbeziehungen zwischen Psychiatrie, Eugenik und Humangenetik V OLKER R OELCKE

Die psychiatrische Genetik stellt einen Traditionsstrang innerhalb der breiteren Psychiatrie des 20. Jahrhunderts dar, der in seiner Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Die Idee, dass psychische Störungen Resultate von Vererbungsprozessen seien, hatte erhebliche Implikationen für Vorstellungen und Praktiken im Zusammenhang mit der Therapierbarkeit und Prävention von psychischen Erkrankungen, aber auch für Forschungsstrategien und mobilisierbare Ressourcen, für die Verwissenschaftlichung und die Politisierung der Psychiatrie, und nicht zuletzt für die impliziten Menschenbilder, mit denen innerhalb der Disziplin und ebenso in der breiten Öffentlichkeit argumentiert und gehandelt wurde. Die Geschichte des Vererbungsparadigmas in der Psychiatrie steht in einem engen und weitgehend komplementären Wechselverhältnis zu soziologischen oder psychodynamischen Theorien zur Entstehung psychischer Störungen. Alle drei Deutungspole sind in ihren Konjunkturen jeweils eng verbunden mit zeitlich parallelen breiteren politischen, ökonomischen und kulturellen Strömungen. Die jeweils dominierenden psychiatrischen Deutungsmodelle und damit verbundenen Praktiken können als Kristallisationspunkte verstanden werden, die Einblicke in gesellschaftliche Normalitäts- und Ordnungsvorstellungen sowie die oft diskontinuierliche Dynamik soziokulturellen Wandels erlauben.1 1

Vgl. etwa Tanner, Jakob: »Ordnungsstörungen. Konjunkturen und Zäsuren in der Geschichte der Psychiatrie«, in: Marietta Meier et al. (Hg.), Zwang zur Ordnung. Psychiatrie im Kanton Zürich, 1870-1970, Zürich: Chronos 2007, S. 271-306; vgl.

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Der Prozess der institutionellen Etablierung der psychiatrischen Genetik lässt sich durch drei Jahreszahlen markieren: •





1896 gilt als das Jahr, in dem die moderne psychiatrische Krankheitslehre und Klassifikation in ihrer Grundstruktur von Emil Kraepelin publiziert wurde, mit der zentralen Annahme, dass psychische Störungen klar abgrenzbare biologische Einheiten seien2; 1917 wurde mit der Genealogisch-Demographischen Abteilung an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München die weltweit erste Institution zur psychiatrischen Genetik gegründet; der Leiter war Ernst Rüdin, ein Schüler von Kraepelin3; 1936 entstand am New York State Institute of Psychiatry in Verbindung mit der Columbia University die erste amerikanische Institution zur psychiatrischen Genetik; Gründer war Franz Kallmann, ein Schüler von Rüdin.4

exemplarisch zur antagonistischen Dynamik von soziogenetischen und biologistischen Deutungsmodellen und damit verbundenen breiteren soziokulturellen Veränderungen Roelcke, Volker: Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter, 1800-1914, Frankfurt a.M.: Campus 1999. 2

Roelcke, Volker: »Unterwegs zur Psychiatrie als Wissenschaft: Das Projekt einer ›Irrenstatistik‹ und Emil Kraepelins Neuformulierung der psychiatrischen Klassifikation«, in: Eric J. Engstrom/Volker Roelcke (Hg.), Psychiatrie im 19. Jahrhundert: Forschungen zur Geschichte von psychiatrischen Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum, Basel: Schwabe 2003, S. 169-188.

3

Roelcke, Volker: »Programm und Praxis der psychiatrischen Genetik an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie unter Ernst Rüdin: Zum Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Rasse-Begriff vor und nach 1933«, in: Medizinhistorisches Journal 37 (2002), S. 21-55; sowie ders.: »Ernst Rüdin. Renommierter Wissenschaftler – radikaler Rassenhygieniker«, in: Nervenarzt 83 (2012), S. 303-310.

4

Roelcke, Volker: »Die Etablierung der psychiatrischen Genetik in Deutschland, Großbritannien und den USA, ca. 1910-1960. Zur untrennbaren Geschichte von Eugenik und Humangenetik«, in: Acta Historica Leopoldina 48 (2007), S. 173-190; Cottebrune, Anne: »Franz Josef Kallmann (1897-1965) und der Transfer psychiatrisch-genetischer Wissenschaftskonzepte vom NS-Deutschland in die USA. Wissenschaftstransfer im Kontext nordamerikanischer Eugenik«, in: Medizinhistorisches Journal 44 (2009), S. 296-324.

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Die drei genannten Psychiater sind zentrale und exemplarische Akteure in der Geschichte der psychiatrischen Genetik bis in die 1960er Jahre. Im Folgenden soll diese Genealogie über drei Generationen als roter Faden für die Darstellung des biologischen Verständnisses und der Genetik in der Psychiatrie dienen. Wie sich zeigen wird, ist diese Geschichte nicht nur eine wichtige Dimension in der Entwicklung der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts; sie ist gleichzeitig auch untrennbar verwoben mit der Geschichte der Eugenik und der Humangenetik vor und nach 1945.5 Sie soll im Folgenden – orientiert an den genannten Akteuren – in drei Schritten dargestellt werden: Im ersten Schritt werden die Voraussetzungen für die Entstehung der Erbforschung in der Psychiatrie in den Jahrzehnten um 1900 skizziert; der zentrale Kontext hierfür waren die professionspolitischen Bestrebungen der Psychiater zur Verwissenschaftlichung der eigenen Disziplin. Im zweiten Teil wird die Institutionalisierung und zeitweilig hegemoniale Stellung der psychiatrischen Genetik in Deutschland in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus in den Blick genommen werden; der zentrale Kontext hierfür war die zeitgenössische Konjunktur der Eugenik bzw. Rassenhygiene. Der dritte Teil skizziert schließlich die Institutionalisierung der psychiatrischen Genetik auf internationaler Ebene; zentrale Kontexte hierfür waren einerseits die Institutionalisierung der Humangenetik, andererseits – und in enger Verbindung hiermit – die Internationalisierung der Eugenik im Sinne einer Entnationalisierung eugenischer Zielsetzungen. Diese Entnationalisierung war verbunden mit der weitgehenden Tabuisierung von Begriffen, welche die eigene politische Gruppe als biologische Einheit zu fassen versuchten, wie Volkskörper oder Rassenhygiene – jedoch bei gleichzeitiger Beibehaltung von Grundideen der Eugenik.

5

Vgl. hierzu Roelcke, Volker: »Eugenic concerns, scientific practices: International relations and national adaptations in the establishment of psychiatric genetics in Germany, Britain, the US and Scandinavia, ca. 1910-1960«, in: Björn Felder/Paul J. Weindling (Hg.), Eugenics in the Baltic States, Budapest: Central European Univ. Press 2012 (im Druck).

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V ERWISSENSCHAFTLICHUNG UND B IOLOGISIERUNG DER P SYCHIATRIE In den Jahrzehnten um 1900 durchlief die um 1800 entstandene Disziplin Psychiatrie einen erheblichen Veränderungsprozess: Sie entwickelte sich von einem Arbeitsfeld, das wesentlich durch staatliche Ordnungsinteressen und auch durch philanthropische Aspekte geprägt und mit der Entstehung der ersten Heil- und Pflegeanstalten und Nervenheilanstalten verbunden war, hin zu einer universitär basierten medizinischen Disziplin mit eigenen Lehrstühlen, Universitätskliniken sowie Fachzeitschriften.6 Dieser Prozess der akademischen Etablierung der Psychiatrie war eng verbunden mit Bestrebungen zur Verwissenschaftlichung des Arbeitsfelds, und zwar orientiert am Wissenschaftsverständnis der bereits universitär verankerten medizinischen Fächer. Die Leitwissenschaften für die universitäre Medizin waren seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst die Physiologie im Anschluss an Helmholtz und Du Bois-Reymond, die Pathologie im Anschluss an Virchow, und schließlich seit den 1880er Jahren die Bakteriologie geworden. Der privilegierte Ort der Wissensproduktion war das Labor.7 Zentrale Bestandteile des an den Naturwissenschaften orientierten Wissenschaftsverständnisses waren die Betrachtung des gesunden und kranken Menschen als biologischen Organismus; die Annahme klar nachweisbarer Kausalitätsbeziehungen, in welche dann therapeutische oder präventive Interventionen

6

Zur Entstehung der Disziplin in den Jahrzehnten um 1800, vgl. Kaufmann, Doris: Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die »Erfindung« der Psychiatrie in Deutschland, 1770-1850, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995; zur Entwicklung um 1900, vgl. Roelcke, Volker: »Die Entwicklung der Psychiatrie zwischen 1880 und 1932: Theoriebildung, Institutionen, Interaktionen mit zeitgenössischer Wissenschafts- und Sozialpolitik«, in: Rüdiger v. Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Steiner 2002, S. 109-124; Engstrom, Eric J.: Clinical Psychiatry in Imperial Germany. A History of Psychiatric Practice, Ithaca/London: Cornell Univ. Press 2003.

7

Zur Experimentalisierung von Biologie und Medizin seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, vgl. exemplarisch Cunningham, Andrew/Williams, Perry (Hg.): The Laboratory Revolution in Medicine, Cambridge: Cambridge Univ. Press 1992; Rheinberger, Hans-Jörg/Hagner, Michael (Hg.): Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950, Berlin: Akademie-Verlag 1993.

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eingreifen könnten; sowie die Annahme von der Quantifizierbarkeit und Messbarkeit von relevanten physiologischen oder klinischen Phänomenen. Wie sah nun die Orientierung der Psychiater an diesen Leitwissenschaften aus? In Umrissen skizziert lässt sich sagen, dass es seit den 1870er Jahren zunächst eine starke Fokussierung auf eine morphologische Betrachtungsweise im Anschluss an die Pathologie zur Untersuchung der organischen Grundlage für psychische Normalfunktionen und Störungen gab. Das bedeutete eine Konjunktur der Neuroanatomie und Neuropathologie innerhalb der Psychiatrie, mit Repräsentanten wie Theodor Meynert, Carl Wernicke und Paul Flechsig. Bereits als Kritik an der neuropathologischen »Hirnmythologie« mit der zwar umfangreichen Sammlung von deskriptiven morphologischen Daten, jedoch nach wie vor fehlendem Verständnis für die Entstehungs- und Veränderungsprozesse psychischer Störungen, gab es ab etwa 1880 eine an Wilhelm Wundts »physiologischer Psychologie« orientierte Richtung einer »physiologischen« Psychopathologie, die versuchte, psychopathologische Phänomene in Elementarprozesse zu zergliedern und diese durch experimentelle Messungen im Labor zu analysieren. Exemplarische Vertreter dieser Orientierung waren der frühe Kraepelin, ebenso Robert Sommer oder Theodor Ziehen.8 Nachdem morphologische und physiologische Ansätze jedoch die in sie gesetzten Hoffnungen weitgehend enttäuscht hatten und insbesondere keine Erträge für die Therapie oder Prävention von psychiatrischen Erkrankungen gebracht hatten, versprach die sich um 1900 formierende Vererbungswissenschaft bzw. Genetik, der Psychiatrie eine naturwissenschaftliche Grundlage geben zu können. Beobachtungen zur familiären Häufung psychischer Störungen hatte es schon durch das 19. Jahrhundert hin gegeben.9 Die bis Ende des Jahrhunderts existierende »babylonische Sprachverwirrung« in Bezug auf die psychiatrische

8

Vgl. exemplarisch zur »physiologischen« Psychopathologie des frühen Kraepelin Roelcke, Volker: »Laborwissenschaft und Psychiatrie. Prämissen und Implikationen bei Emil Kraepelins Neuformulierung der psychiatrischen Krankheitslehre«, in: Christoph Gradmann/Thomas Schlich (Hg.), Strategien der Kausalität. Konzepte der Krankheitsverursachung im 19. und 20. Jahrhundert, Pfaffenweiler: Centaurus 1999, S. 93-116.

9

Vgl. für das ausgehende 19. Jahrhundert etwa Sioli, Emil: »Über direkte Vererbung von Geisteskrankheiten«, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 16 (1885), S. 113-150, 353-409, 599-636; Harbolla, Max: Beitrag zur Frage der direkten Vererbung von Geisteskrankheiten, Breslau: Breslauer Genossenschafts-Buchdruckerei 1893.

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Terminologie und Klassifikation10, sowie unterschiedlichste Vorstellungen über die »Natur« psychischer Störungen hatten aber eine systematische empirische Forschung zu dieser Frage nicht möglich gemacht, da Statistiken zu Krankheitshäufigkeiten in unterschiedlichen Generationen einer Familie offenkundig nur bei einem Konsens über das, was gezählt werden sollte, möglich waren. Der Wunsch nach einer vereinheitlichten Terminologie und Klassifikation, der für die Verwissenschaftlichung der Psychiatrie essentiell war, traf sich mit den staatlichen Bedürfnissen nach einer verlässlichen reichsweiten »Irrenstatistik« zur Abschätzung und Planung der Versorgung psychisch Kranker sowie Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung.11 Kraepelin gelang in dieser Situation eine Neuformulierung der psychiatrischen Krankheitslehre, allerdings nicht – wie noch heute oft behauptet wird – primär auf der Grundlage von empirischer klinischer Forschung, sondern aufbauend auf spezifischen prä-empirischen Voraussetzungen, die aus den Laborwissenschaften übernommen waren, und die erst sekundär empirisch untermauert wurden. Ausgehend von der aus der Physiologie und Bakteriologie übernommenen Prämisse, dass psychische Krankheiten ebenso wie die Krankheiten der anderen medizinischen Fächer abgrenzbare biologische Einheiten seien, mit jeweils spezifischer Ursache, klinischer Symptomatik sowie Verlauf, richtete Kraepelin für seine klinische Beobachtung und Forschung den Blick selektiv auf bestimmte Merkmale, die sich über sein Dokumentationssystem rekonstruieren ließen (die berühmten »Zählkarten«): Parameter waren etwa das Vorhandensein von Halluzinationen, von affektiven oder psychomotorischen Normabweichungen, aber auch die familiäre Häufung von psychischen Auffälligkeiten. Die Subjektivität des Kranken sowie seine sozialen Beziehungen wurden nicht dokumentiert und fanden damit auch keinen Niederschlag in den aus der empirischen Forschung abgeleiteten Krankheitseinheiten.12 Die fünfte Auflage von Kraepelins Lehrbuch von 1896 gilt üblicherweise als die »Geburtsstunde« dieser Krankheitsauffassung und Einteilung, sie hat aber, wie gerade skizziert, selbst eine höchst relevante Vorgeschichte . Die darauf aufbauende Struktur der Krankheitslehre, mit der Einteilung in manisch-depressive Erkrankungen, Schizophrenien (bzw. zunächst Dementia praecox) und anderen, zeitweise als neurotisch bezeichneten Krankheiten (Neu-

10 Diese Situation ist ausführlich rekonstruiert in V. Roelcke: Unterwegs. 11 Ebd. 12 Ebd.; diese Interpretation zur Entstehung von Kraepelins Krankheitslehre ist erstmals skizziert in Roelcke, Volker: »Die wissenschaftliche Vermessung der Geisteskrankheiten. Emil Kraepelins Lehre von den endogenen Psychosen«, in: Heinz Schott (Hg.), Meilensteine der Medizin, Dortmund: Harenberg 1996, S. 389-395 u. S. 661.

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rasthenie, Hysterie, Angstneurose) hat Nachwirkungen bis in die Gegenwart.13 Sie erlaubte es auch, für die einzelnen angenommenen Krankheiten nach der postulierten spezifischen Ursache, dem somatischen Korrelat und der ebenfalls postulierten spezifischen Prognose zu suchen. Diese professionspolitisch gesehen erfolgreiche Orientierung an den Laborwissenschaften war allerdings konstitutiv verbunden mit einer Einengung des psychiatrischen Blickfelds auf die somatischen Ursachen und Korrelate psychischer Erkrankungen, während die subjektive und die soziale Dimension des Kranken für diese spezifische Form des wissenschaftlichen Blicks marginal wurde.14 Die Vorteile der neuen Krankheitslehre für Zwecke der »Irrenstatistik« und Epidemiologie waren offensichtlich – wie aber würden sich aus dem neuen Krankheitsverständnis Möglichkeiten für effektive Interventionen entweder therapeutischer oder präventiver Art ergeben? Hier boten sich durch die um 1900 neu entstehende Genetik Ansatzpunkte für weitere Forschungen zum Verständnis der Entstehung und zur Prävention psychischer Erkrankungen. Um 1900 wurden die Mendel’schen Regeln der Vererbung wieder »entdeckt« bzw. in ihren Implikationen erkannt. In den nächsten Jahren formierten sich vor allem innerhalb der Biologie, aber auch der Veterinär- und Humanmedizin sowie Statistik Arbeitsgruppen, die sich systematisch mit Vererbungsfragen beschäftigten. Innerhalb weniger Jahre wurden zentrale Begriffe und Konzepte geprägt, wie etwa die Begriffe Gen, Genotyp und Phänotyp.15 Die zumindest in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts enge, wenn nicht konstitutive Verknüpfung von Humangenetik und Eugenik führte auch dazu, dass die an genetischen Fragen orientierte Verwissenschaftlichung der Psychiatrie eng mit eugenischer Programmatik verbunden war. Die Psychiater, denen zuvor keine effizienten therapeutischen Optionen zur Verfügung standen, hatten mit den eugenischen Präventionsversprechungen ein willkommenes Argument, um ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen zu können. Eugenische Programmatik wurde daher nicht als Problem oder gar Belastung gesehen,

13 Vgl. etwa Blashfield, Roger K.: The classification of psychopathology. NeoKraepelinian and quantitative approaches, New York: Plenum Press 1984; Wilson, Mitchell: »DSM-III and the transformation of American Psychiatry. A History«, in: American Journal of Psychiatry 150 (1993), S. 399-410; Hoff, Paul: Emil Kraepelin und die Psychiatrie als klinische Wissenschaft, Heidelberg/Berlin: Springer 1994. 14 V. Roelcke: Vermessung; V. Roelcke: Unterwegs. 15 Vgl. dazu die relevanten Passagen in Rheinberger, Hans-Jörg/Müller-Wille, Steffan: Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts, Frankfurt a.M.: Fischer 2008.

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sondern vielmehr als das in jeder Hinsicht erwünschte Anwendungspotential einer wissenschaftlich-genetischen Betrachtungsweise. Die Geschichte der psychiatrischen Genetik kann somit als ein zentrales Kapitel in der Geschichte der Verwissenschaftlichung der Psychiatrie verstanden werden. Dieser Verwissenschaftlichungsprozess hatte massive Implikationen hinsichtlich Menschenbild, Krankheitsverständnis sowie der politischen und normativ-ethischen Dimension von psychiatrischem Denken und Handeln. Nach der Stabilisierung der psychiatrischen Krankheitslehre und Klassifikationen und in zeitlichem Kontext mit der Gründung der Kaiser-WilhelmGesellschaft forderte der Gießener Psychiatrie-Ordinarius Robert Sommer 1910 eine zentrale Forschungsabteilung bzw. ein Forschungsinstitut für Psychiatrie, das an das Reichsgesundheitsamt angegliedert sein sollte. Diese Forderung wurde von Kraepelin selbst, seinem Schüler, dem Breslauer Ordinarius Alois Alzheimer, und von weiteren Psychiatern unterstützt. Ein durchgängiges zentrales Argument bei diesen Plädoyers war der Verweis auf die drängenden Fragen zur Verbreitung psychiatrischer Erkrankungen sowie insbesondere zur Rolle der Erblichkeit bei deren Entstehung, um hieraus möglicherweise Interventionsstrategien ableiten zu können. Alzheimer sprach in diesem Zusammenhang ausdrücklich von der Notwendigkeit für effiziente eugenische bzw. rassenhygienische Maßnahmen.16 Nach langwierigen Auseinandersetzungen um die Finanzierung wurde schließlich 1917 in München die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie (DFA) gegründet. In dieser neuen Forschungsinstitution wurde neben anderen, an somatisch-medizinischen Disziplinen orientierten Abteilungen (wie solchen zu Neuroanatomie und -pathologie) auch eine eigene GenealogischDemographische Abteilung (GDA) eingerichtet. Die Aufgabenstellung der GDA war die Erforschung der Epidemiologie und Genetik psychiatrischer Erkrankungen, nach Kraepelins Einschätzung die wichtigste Forschungsrichtung innerhalb der Gesamtinstitution.

16 Sommer, Robert: »Eine psychiatrische Abteilung des Reichsgesundheitsamtes«, in: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 12 (1910), S. 295-298; Alzheimer, Alois: »Ist die Einrichtung einer psychiatrischen Abteilung im Reichsgesundheitsamt erstrebenswert?«, in: Zeitschrift für Neurologie 6 (1911), S. 242-246; ausführlicher dazu Roelcke, Volker: »›Prävention‹ in Hygiene und Psychiatrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Krankheit, Gesellschaft, Vererbung und Eugenik bei Robert Sommer und Emil Gotschlich«, in: Ulrike Enke (Hg.), Die Medizinische Fakultät der Universität Gießen: Institutionen, Akteure und Ereignisse von der Gründung 1607 bis ins 20. Jahrhundert, Stuttgart: Steiner 2007, S. 394-416.

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Die DFA war die weltweit erste Institution, die ausschließlich der psychiatrischen Forschung gewidmet war, und die GDA war damit die international erste Einrichtung für psychiatrische Genetik. 1924 wurde die DFA und mit ihr die GDA in die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (die Vorläuferinstitution zur MaxPlanck-Gesellschaft) eingegliedert. Ernst Rüdin war der Leiter der GDA von 1917 bis 1945. Ab 1931 war er auch der Direktor der gesamten Forschungsanstalt.17

E RNST R ÜDIN UND DIE PSYCHIATRISCHE G ENETIK IN D EUTSCHLAND BIS 1945 Im breiteren kulturellen Kontext des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit rasch zunehmenden Problemen in der Folge von Urbanisierung und Industrialisierung und dem Entstehen einer politisch relevanten Arbeiterklasse verbreiteten sich vor allem im Bildungsbürgertum Untergangsängste, die in wissenschaftlicher Form als Degenerations- oder Entartungsideen eine rasante Konjunktur hatten. Die Befürchtung war, dass durch sinkende Geburtenraten, die Ausschaltung der vermeintlich »natürlichen« Selektion infolge verbesserter medizinischer und sozialer Einrichtungen und schließlich durch die überproportionale Vermehrung der unteren sozialen Schichten mit vermeintlich schlechten Erbanlagen das kollektive Erbmaterial des Volkes oder der Nation in Gefahr sei, so dass hier dringendster Handlungsbedarf sei. Eugenik bzw. Rassenhygiene lieferten in dieser Situation plausible, von renommierten Wissenschaftlern autorisierte Deutungsangebote und Interventionsmöglichkeiten.18 Die Wissenschaft der Eugenik, in den 1880er Jahren von Francis Galton als »science of human improvement« proklamiert, sollte mit den Methoden der Biologie und der Statistik zur Erhaltung oder Verbesserung der Gesundheit von sozialen Gruppen beitragen. Bereits von Galton wurde in diesem Kontext explizit der Begriff »Rasse« (race) für die Zielpopulationen solcher wissenschaftlicher Bemühungen verwendet. Im Kontext der Degenerationsängste und -debatten kam es in den Jahrzehnten nach 1900 in ganz Europa zu einem rasch zunehmenden Interesse an der eugenischen Programmatik, und zwar sowohl unter Biologen und Medizinern als auch im breiteren gebildeten Publikum, insbesondere bei

17 V. Roelcke: Programm. 18 Weindling, Paul: Health, Race, and German Politics between National Unification and Nazism, 1870-1945. Cambridge: Cambridge Univ. Press 1989; V. Roelcke: Kulturkritik, Kap. 5.

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Juristen, Lehrern und Politikern. Weitgehend synonym für Eugenik wurde vor allem im deutschsprachigen und skandinavischen Kontext häufig der Begriff Rassenhygiene verwendet.19 Die Eugenik/Rassenhygiene wurde durchgehend als angewandte Wissenschaft verstanden, die zur Grundlagenwissenschaft Genetik im gleichen Verhältnis stand wie die Hygiene zur Bakteriologie. Bei der Gründung von eugenischen bzw. rassenhygienischen Gesellschaften sowie Forschungsinstitutionen, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts für ganz Mittel- und Nordeuropa sowie Nordamerika breit dokumentiert ist, wurde diese Konstellation von gesundheits- und bevölkerungspolitischer Zielsetzung auf der Grundlage fundierter genetischer Wissenschaft regelmäßig explizit formuliert. In dieser Entwicklung ist auch in Deutschland – entgegen der Darstellung von vielen Humangenetikern – mit dem Jahr 1933 keine eindeutige Zäsur festzustellen. Vielmehr war die deutsche Humangenetik sowohl vor als auch nach 1933 fast durchgängig eugenisch motiviert und international vernetzt und galt bis weit in die 1930er Jahre als internationales Vorbild. Erhebliche Teile der internationalen Humangenetik waren noch bis in die 1960er Jahre hinein eugenisch inspiriert, wie etwa das Beispiel der psychiatrischen Genetik und insbesondere der in diesem Feld führenden Arbeitsgruppe um Ernst Rüdin sowie seinen Schülern zeigt. Ebenso wie Eugenik/Rassenhygiene selbst waren auch die Ängste zu Geburtenrückgang und kollektiver Verschlechterung des Erbguts bzw. Degeneration nicht auf Deutschland beschränkt, sondern vielmehr ein internationales Phänomen, das allerdings in jeweils unterschiedlichen nationalen Kontexten durchaus erheblich variierte. Der weit überwiegende Teil der in den unterschiedlichen nationalen Kontexten tätigen Eugeniker bzw. Rassenhygieniker verfolgte Zielsetzungen, die primär auf die Regeneration, d.h. Stabilisierung und Verbesserung der biologischen Qualität und Quantität der eigenen Bevölkerung gerichtet waren.20 In diesem Sinne kann einerseits von Eugenik/Rassenhygiene als einem

19 Weindling, Paul: »International Eugenics: Swedish Sterilization in Context«, in: Scandinavian Journal of History 24 (1999), S. 179-197. 20 Vgl. z.B. Pick, Daniel: Faces of Degeneration. A European Disorder, ca. 1848-1918, Cambridge: Cambridge Univ. Press 1989; Noordman, J.: Om de kwaliteit van het nageslacht, 1900-1950, Nijmegen: SUN 1989; Schneider, William H.: Quality and Quantity. The Quest for Biological Regeneration in Twentieth Century France, Cambridge: Cambridge Univ. Press 1990; McLaren, Angus: Our Own Master Race. Eugenics in Canada, 1885-1945, Toronto: McLelland & Stewart 1990; Mazumdar, Pauline: Eugenics, Human Genetics and Human Failings. The Eugenics Society, its

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internationalen Phänomen gesprochen werden. Die inhaltlichen Ziele und damit verbundenen Wertsetzungen der großen Mehrzahl der Eugeniker bzw. Rassenhygieniker waren jedoch auf die jeweils eigene Nation, den eigenen »Volkskörper« bzw. die eigene »Rasse« gerichtet und folgten in diesem Sinne einer nationalistischen Hierarchie von Populationen bzw. Nationen. Das schloss nicht aus, dass es schon vor Mitte der 1930er Jahre eine Minderheit, und dann in Reaktion auf die Situation im nationalsozialistischen Deutschland eine rasch zunehmende Zahl von Stimmen unter Eugenikern gab, die sich ausdrücklich gegen die nationalistischen bzw. rassistischen Implikationen einer solchen Eugenik/Rassenhygiene aussprachen, wie etwa der spätere Nobelpreisträger Hermann Muller. Ernst Rüdin war in den 1930er Jahren sowohl der international führende Repräsentant der psychiatrischen Genetik als auch einer der internationalen Hauptakteure im Bereich der Eugenik/Rassenhygiene, u.a. als zeitweiliger Präsident der International Federation of Eugenic Organisations (IFEO). Er war geborener Schweizer und – wie bereits erwähnt – ein Schüler von Kraepelin. Wie Kraepelin und viele andere Zeitgenossen, war Rüdin geprägt von den um 1900 weit verbreiteten Degenerationsängsten.21 In diesem breiteren Kontext, und ebenso im spezifischeren Zusammenhang der Bemühungen um die Etablierung eines zentralen deutschen Forschungsinstituts für Psychiatrie, formulierte Rüdin um 1910 ein umfassendes Forschungsprogramm zur psychiatrischen Genetik, das er in den folgenden Jahrzehnten in eine sehr erfolgreiche Forschungspraxis umsetzte.22 Bereits dieses Forschungsprogramm macht eine eugenische und auch volkswirtschaftliche Motivation der von Rüdin verfolgten Wissenschaft explizit, u.a. wenn von der Zielsetzung gesprochen wurde, zukünftige finanzielle Belastungen durch Menschen mit »schlechtem« Erbgut vom Staat abzuwenden.23

Sources and its Critics in Britain, London: Routledge 1992; Paul, Diane: Controlling Human Heredity, 1865 to the Present, New Jersey: Humanities Press 1995. 21 Kraepelin, Emil: »Zur Entartungsfrage«, in: Zentralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie 31, N. F. 19 (1908), S. 745-751; sowie Rüdin, Ernst: »[Kommentar zu] Emil Kraepelin. Zur Entartungsfrage«, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 6 (1909), S. 254-257. 22 Rüdin, Ernst: »Einige Wege und Ziele der Familienforschung, mit Rücksicht auf die Psychiatrie«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 7 (1911), S. 487-585. 23 Dazu ausführlicher V. Roelcke: Programm; sowie Roelcke, Volker: »Funding the scientific foundations of race policies: Ernst Rüdin and the impact of career resources on psychiatric genetics, ca. 1910-1945«, in: Wolfgang U. Eckart (Hg.), Man, Medicine,

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1916 legte Rüdin die erste umfassende Studie überhaupt zur Genetik der Dementia praecox/Schizophrenie vor. In dieser Studie formulierte er im Anschluss an den Statistiker Wilhelm Weinberg die zeitgenössisch innovative »Probandenmethode«. Damit errechnete er die Häufigkeit von Dementia praecox und anderen Psychosen unter den Nachkommen gesunder sowie an dieser Erkrankung leidender Eltern. Die Diagnosen erfolgten entsprechend der Krankheitslehre von Kraepelin, die psychiatrische Krankheiten als biologische Entitäten voraussetze. Rüdin kam aufgrund der Analyse seiner an etwa 700 Probanden gewonnenen Daten zu der Hypothese, dass die Schizophrenie durch das Zusammenwirken zweier rezessiv vererbter Gene zustande käme.24 Allerdings zeigten seine Ergebnisse auch die Grenzen einer Interpretation des Erbgangs der Schizophrenie nach den Mendel’schen Gesetzen: Die von Rüdin errechneten Wahrscheinlichkeiten für das Auftreten von Schizophrenien bei Geschwistern und Kindern von manifest Erkrankten waren deutlich geringer, als dies bei einem rein rezessiven Erbgang zu erwarten gewesen wäre. Das führte Rüdin und seine Arbeitsgruppe dazu, die Datenbasis für neue Studien auszuweiten und zusätzliche statistische Korrekturmethoden einzuführen. Das Ziel war es, die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Schizophrenien und anderen psychiatrischen Erkrankungen bei einem Probanden auf der Grundlage der bekannten Krankheitsmanifestation bei den nächsten Verwandten zu errechnen.25 Die neue Methode wurde als »empirische Erbprognose« bekannt und international rezipiert. In den 1920er Jahren erlebte die Eugenik u.a. sowohl wegen der vermeintlichen Einsparungspotentiale durch die zukünftige Verhütung von Erbkrankheiten im breiteren Kontext der Wirtschaftskrisen als auch auf der Grundlage der Fortschritte innerhalb der Genetik einen erheblichen Aufschwung. International wurde eine größere Zahl von eugenisch-genetischen Forschungsinstituten gegründet, so etwa in Zürich, Prag, Kopenhagen und Uppsala. Auch die Rockefeller Foundation als weltweit größte Institution zur Forschungsförderung investierte in großem Umfang international in eugenisch motivierte genetische Forschung.26 Im Deutschen Reich entstanden erste universitäre Abteilungen und Institute für

and the State: The Human Body as an Object of Government Sponsored Medical Research in the 20th Century, Stuttgart: Steiner 2006, S. 73-87. 24 Rüdin, Ernst: Zur Vererbung und Neuentstehung der Dementia praecox, Berlin: Julius Springer 1916. 25 Vgl. z.B. Schulz, Bruno: »Zum Problem der Erbprognose-Bestimmung. Die Erkrankungs-Aussichten der Neffen und Nichten Schizophrener«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 102 (1926), S. 1-37. 26 P. Weindling: Eugenics.

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Eugenik bzw. Rassenhygiene, und die elitäre Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gründete mit dem Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1928 nach der GDA nun eine zweite Forschungseinrichtung, die sich eugenisch motivierter humangenetischer Forschung auch jenseits neurologisch-psychiatrischer Erkrankungen widmen sollte.27 In diesem breiteren Kontext der materiellen und symbolischen Aufwertung eugenisch motivierter humangenetischer Forschung und der wachsenden kulturellen und politischen Akzeptanz eugenischer Deutungen biologischer und sozialer Phänomene erfolgte auch innerhalb der Psychiatrie eine Umdeutung und Neubewertung von schon vorhandenen empirischen Wissensbeständen. Ein exemplarischer und instruktiver Indikator hierfür sind die unterschiedlichen Aussagen des Nachfolgers von Kraepelin auf dem Münchener Lehrstuhl für Psychiatrie, Oswald Bumke, zur Bedeutung der Genetik bei der Entstehung der Schizophrenie: In der zweiten Auflage seines »Lehrbuchs der Geisteskrankheiten« (1924) erklärte Bumke zunächst noch in kritischer Abgrenzung zur Kraepelinschen Schule, dass die Kategorie Dementia praecox (oder Schizophrenie) als Bezeichnung für eine biologisch fundierte psychiatrische Krankheitseinheit obsolet geworden sei.28 Mit der Auflösung der Krankheitseinheit Schizophrenie sei auch die Frage nach ihrer Erblichkeit erledigt.29 In der dritten Auflage des »Lehrbuchs« aus dem Jahr 1929 kam Bumke jedoch zu einer ganz anderen Bewertung: Jetzt argumentierte er, dass die Existenz einer Subgruppe von Schizophreniefällen mit hoher Erbkomponente die Schlussfolgerung sehr wahrscheinlich mache, dass auch alle anderen Subgruppen der Schizophrenie vermutlich

27 Schmuhl, Hans-Walter: Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, 1927-1945, Göttingen: Wallstein 2005. 28 Bumke, Oswald: Lehrbuch der Geisteskrankheiten, München: J. F. Bergmann 21924, S. 8-11 und 14. 29 In einem im gleichen Jahr publizierten Aufsatz wird diese Einschätzung von Bumke rhetorisch noch zugespitzt: »[…] die bisher vorliegenden Erblichkeitsstudien bei der Dementia praecox [mahnen] ganz allgemein zur größten Vorsicht in der Beurteilung. Ich kann nicht leugnen, dass mich die sorgfältigen und gründlichen Arbeiten, die über dieses Problem vorliegen, gelegentlich an Virchows Bemerkung erinnert haben, dass nämlich auch die Krätze solange für eine erbliche Krankheit gegolten hätte, bis es gelungen wäre, ihren Erreger zu finden«. Bumke, Oswald: »Die Auflösung der Dementia praecox«, in: Klinische Wochenschrift 3 (1924), S. 437-440, hier S. 439.

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eine genetische Ursache hätten, und dass die weitere Forschung in diese Richtung in den nächsten Jahren die genauen Erbgänge würde aufklären können.30 Bemerkenswert ist nun, dass in den fünf Jahren zwischen der Publikation der zweiten und der dritten Auflage von Bumkes »Lehrbuch« praktisch keine einzige Studie erschienen war, die neue empirische Evidenz für die genetische Verursachung der Schizophrenie präsentiert hätte.31 Die Existenz einer Subgruppe der Schizophrenie mit hoher Erblichkeit, die von Bumke als zentrales Argument in beiden Einschätzungen angeführt wurde, war bereits in der erwähnten Studie von Rüdin im Jahr 1916 postuliert und von Eugen Kahn 1923 mit Modifikationen bestätigt worden.32 Anders formuliert: Bumke stützte sich für sein »progenetisches« Urteil von 1929 auf die gleichen empirischen Daten wie für sein »antigenetisches« Urteil von 1924. Die veränderte Deutung und Bewertung der gleichen empirischen Daten war vielmehr das Resultat veränderter Plausibilitäten über die »Natur« von psychischen Störungen und über die Rolle genetischer Forschung bei der Erklärung dieser »Natur«. Man könnte auch sagen: Unter sich verändernden politischen und kulturellen Rahmenbedingungen hatten sich auch die Evidenzkriterien zugunsten einer genetischen Deutung verschoben. Unter diesen Rahmenbedingungen stieg auch Rüdins Ansehen und seine Position als führender Vertreter der eugenisch inspirierten psychiatrischen Genetik innerhalb der deutschen Psychiatrie enorm. Dies lässt sich ablesen an den Umständen seiner Rückkehr nach München 1928, nachdem er zunächst 1925 auf den

30 Bumke, Oswald: Lehrbuch der Geisteskrankheiten, München: J.F. Bergmann 31929, S. 680-681; ähnlich auch dort in der Einleitung: S. 11-12; zu den kritischen Debatten zum Schizophreniekonzept vor allem während der 1920er Jahre, vgl. Roelcke, Volker: »Naturgegebene Realität oder soziales Konstrukt? Die Debatte über die ›Natur‹ der Schizophrenie, 1906-1932«, in: Fundamenta Psychiatrica 14 (2000), S. 44-53. 31 Vgl. dazu die folgenden zeitgenössischen Übersichten und Sammelreferate: Kahn, Eugen: »Erbbiologisch-psychiatrische Übersicht«, in: Zeitschrift für induktive Abstammungs- und Vererbungsforschung 38 (1925), S. 75-83; Entres, Josef Lothar: »Vererbung, Keimschädigung«, in: Oswald Bumke (Hg.), Handbuch der Geisteskrankheiten, Bd. 1, Allg. Teil, Berlin: Julius Springer 1928, S. 50-307; Luxenburger, Hans: »Die wichtigsten neueren Fortschritte der psychiatrischen Erblichkeitsforschung«, in: Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie 1 (1929), S. 82-102; Luxenburger, Hans: »Erblichkeit, Keimschädigung, Konstitution, Rasse 1929«, in: Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie 2 (1930), S. 374-407. 32 E. Rüdin: Vererbung; Kahn, Eugen: Schizoid und Schizophrenie im Erbgang. Beitrag zu den erblichen Beziehungen der Schizophrenie und des Schizoids, Berlin: Julius Springer 1923.

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psychiatrischen Lehrstuhl nach Basel berufen worden war: Als Bedingung für die Rückkehr akzeptierten die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und deren Geldgeber eine Verdreifachung des Etats der GDA sowie für Rüdin persönlich das höchste individuelle Gehalt unter allen Direktoren der Kaiser-Wilhelm-Institute.33 Die Geldgeber waren neben der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft (später Deutsche Forschungsgemeinschaft/DFG), die Rockefeller Foundation sowie der Freistaat Bayern.34 Die von Rüdin erarbeiteten Verfahren der psychiatrischen Genetik sowie die sich daran anschließenden methodischen und theoretischen Konzepte (wie insbesondere die »empirische Erbprognose«) wurden zum dominierenden Paradigma für eine ganze Generation von psychiatrischen Genetikern. Hierfür lassen sich einige exemplarische Indikatoren nennen: So förderte die Rockefeller Foundation von 1930 bis 1934 ein deutschlandweites Verbundprojekt für eine reichsweite »anthropologisch-genetische Bestandsaufnahme«. Dieses Forschungsprogramm ergänzte ein entsprechendes Programm der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft. Von den insgesamt 17 beteiligten universitären und außeruniversitären Forschergruppen erhielten Rüdin und die GDA mit etwa einem Drittel der Gesamtsumme einen erheblich überproportionalen Anteil der von Seiten der Rockefeller-Foundation zur Verfügung gestellten Mittel. Ein weiterer Indikator ist die Rezeption der Arbeiten von Rüdin und seiner Gruppe in der internationalen scientific community: 1934 wurde das erste englische Handbuch zur Humangenetik publiziert. Im Kapitel zur psychiatrischen Genetik formulierte Aubrey Lewis (1900-1975), der in der Mitte des 20. Jahrhunderts die zentrale Persönlichkeit in der britischen Psychiatrie wurde, das folgende Urteil: »Während der letzten zwanzig Jahre hat sorgfältige Arbeit zwei Vorwürfe gegenüber der psychiatrischen Genetik beseitigt: Dass dies schlechte Psychiatrie, und dass es schlechte Genetik sei. Dies ist einigen Männern gutzuschreiben, unter denen Rüdin der führende ist. Seine Untersuchungen waren der Ausgangspunkt und das Modell für fast alles Wertvolle, was in diesem Arbeitsfeld bisher geleistet wurde« [Übers. VR].

35

33 Vgl. Roelcke, Volker: »Psychiatrische Wissenschaft im Kontext nationalsozialistischer Politik und ›Euthanasie‹: Zur Rolle von Ernst Rüdin und der Deutschen Forschungsanstalt/Kaiser-Wilhelm-Institut für Psychiatrie«, in: Doris Kaufmann (Hg.), Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus: Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Göttingen: Wallstein 2000, S. 112-150, hier S. 117. 34 Vgl. dazu V. Roelcke: Funding. 35 Lewis, Aubrey: »Inheritance of Mental Disorders«, in: Charles P. Blacker (Hg.), The Chances of Morbid Inheritance, London: Lewis 1934, S. 86-133, hier S. 87.

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Die GDA galt international als ein »Mekka« für junge Forscher im Bereich der psychiatrischen Genetik. Im Laufe der 1930er Jahre, auch deutlich nach 1933, waren zahlreiche Nachwuchswissenschaftler häufig mit Stipendien der Rockefeller Foundation am Münchener Institut tätig, u.a. Eliot Slater (1904-1983) aus Großbritannien, Erik Strömgren (1909-1993) aus Dänemark sowie Erik EssenMöller (1901-1992) und Torsten Sjögren (1896-1974) aus Schweden, die sämtlich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu den international führenden psychiatrischen Genetikern zählten.36 Noch im Frühjahr 1939 wurde Rüdin zu einem Plenarvortrag beim Weltkongress für Genetik eingeladen, der im August 1939 in Edinburgh stattfand.37 Dies ist insbesondere deshalb bemerkenswert, weil als Vorsitzender des Vorbereitungskomitees für den Weltkongress der schwedische Genetiker Gunnar Dahlberg (1893-1956) fungierte, ein sehr expliziter Kritiker der deutschen »Erbgesundheits- und Sterilisationspolitik«. Schließlich ist festzuhalten, dass eine ganze Reihe von Publikationen aus den 1930er und den frühen 1940er Jahren, die in der GDA unter Rüdin entstanden, noch in den 1950er und 1960er Jahren in anglo-amerikanischen Fachzeitschriften und Handbüchern zur psychiatrischen Genetik und zur allgemeinen Genetik zitiert wurden.38 Diese Indikatoren für die internationale Führungsposition der Münchener Arbeitsgruppe um Rüdin in der Zeit vor und nach 1933 geben aber nur die wissenschaftliche Seite der Medaille wider. Auf der anderen Seite findet sich das Engagement von Rüdin und fast allen seinen Mitarbeitern und Schülern im Bereich der Eugenik bzw. Rassenhygiene, und zwar ebenfalls vor und nach 1933:

36 So entwickelte Strömgren Mitte der dreißiger Jahre neue methodische Ansätze wie etwa das Konzept der »Bezugsziffer«, die noch heute unter dem Namen StrömgrenMethode geläufig ist. Zu Essen-Möller vgl. V. Roelcke: Eugenic concerns; zur positiven Bewertung dieser Wissenschaftler aus der Sicht der heutigen Humangenetik, vgl. Schulze, Thomas G./Fangerau, Heiner/Propping, Peter: »From degeneration to genetic susceptibility, from eugenics to genethics, from Bezugsziffer to LOD score: the history of psychiatric genetics«, in: International Review of Psychiatry 16 (2004), S. 246259, hier S. 252-253. 37 V. Roelcke: Programm, S. 45. 38 Vgl. etwa Stern, Curt: Principles of Human Genetics, San Francisco/London: Freeman 2

1960, S. 581-584; Slater, Eliot: »A Review of Earlier Evidence on Genetic Factors in

Schizophrenia«, in: David Rosenthal (Hg.), The Transmission of Schizophrenia, Oxford: Pergamon Press 1968, S. 15-26; Slater, Eliot/Cowie, Valerie: The Genetics of Mental Disorders, London: Oxford Univ. Press 1971, S. 379, 389.

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Von Beginn seiner Karriere an, d.h. seit dem ersten Jahrzehnt nach 1900 war Rüdin in seiner Tätigkeit durch eugenische Zielsetzungen inspiriert.39 Durchgängig war es seine Auffassung, dass seine Forschungen wissenschaftliche Grundlagen für gesundheits- und sozialpolitische Maßnahmen auf der Basis biologischer Gesetzmäßigkeiten schaffen sollten, und dass das kollektive Wohl des Volkes, der Nation oder der Rasse dem Wohl des Individuums übergeordnet sei – eine Wertsetzung, die er mit einem sehr großen Teil seiner Zeitgenossen teilte. 1905 gehörte Rüdin zu den Mitbegründern der Gesellschaft für Rassenhygiene, 1911 organisierte er zusammen mit dem Münchener Hygieniker Max von Gruber den rassenhygienischen Teil auf der »Internationalen Hygieneausstellung« in Dresden. Ebenfalls bereits seit dieser Zeit proklamierte er den Ausschluss von erblich »Belasteten« von der Fortpflanzung. Eine genaue Analyse von Rüdins politischen, wissenschaftlichen und ethischen Auffassungen dokumentiert, dass in seinem Fall keine eindeutige Zäsur zwischen einer wissenschaftlich produktiven und politikfreien und einer späteren unproduktiven, »ideologischen« und politisch kontaminierten Arbeitsphase existiert. Vielmehr war seine wissenschaftliche Tätigkeit bereits vor 1933 durchgehend politisch und sozialethisch im o.g. Sinne motiviert. Auch nach Beginn seiner engen Zusammenarbeit mit den Instanzen des nationalsozialistischen Staates genossen er und sein Institut in der internationalen scientific community sehr hohes Ansehen. Rüdin und andere Protagonisten im Arbeitsfeld von Eugenik und menschlicher Erbforschung/Genetik, wie Eugen Fischer (1874-1967) oder Fritz Lenz (18971991), begrüßten die politische Zäsur 1933 und die Ankunft des nationalsozialistischen »neuen Staates«, wie es in der Sprache der Zeit hieß. Sie erwarteten, dass sie nun die praktische Umsetzung ihrer wissenschaftlichen Anstrengungen erleben würden, und dass sie und die von ihnen repräsentierten Institutionen und Wissenschaftszweige am Umbau der Gesellschaft und des Sozialsystems nach den Gesetzen der Biologie maßgeblich beteiligt sein würden. Ebenso hofften sie auch, ihren eigenen Status in der scientific community zu stabilisieren oder noch zu verbessern, und Zugang zu neuen Ressourcen zur Erweiterung ihrer Forschungsaktivitäten zu bekommen. Für Rüdin und seine Arbeitsgruppe in München ist diese Kooperation mit politischen Instanzen detailliert belegt. Die verschiedenen Machtinstanzen in Staat und Partei erwarteten umgekehrt eine wissenschaftliche Fundierung und Legitimation für ihre Gesundheits- und Rassenpolitik, wie etwa für das bereits kurz nach dem Machtwechsel verabschiedete »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«,

39 Vgl. etwa E. Rüdin: Entartungsfrage; zum Folgenden mit weiteren Details und Quellen V. Roelcke: Programm, sowie V. Roelcke: Rüdin.

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das de facto ein Gesetz zur Zwangssterilisation war. Insgesamt lässt sich feststellen, dass es für eine staatlich aufgezwungene Ideologisierung im Bereich der psychiatrischen Genetik wie in der breiteren Humangenetik/menschlichen Erbforschung keine historischen Belege gibt. Gleichzeitig mit dem Inkrafttreten des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« erschien ein umfangreicher offizieller Kommentar, verfasst vom Ministerialdirektor im Innenministerium Arthur Gütt, dem Juristen Falk Ruttke, sowie Rüdin. In diesem Kommentar wird wiederholt an zentraler Stelle auf »systematische erbprognostische Untersuchungen« zur konkreten Feststellung der Erblichkeit in Einzelfällen hingewiesen. Damit war die von Rüdin formulierte und an der GDA praktizierte Methode der empirischen Erbprognose zum offiziellen Bestandteil der staatlichen Sozialpolitik geworden. Für Rüdin und seine Mitarbeiter war jedoch völlig klar, dass die Liste der »Erbkrankheiten« im Gesetz auf Prämissen basierte, die erst noch durch weitere empirisch-statistische Untersuchungen, z.B. an Zwillingen, sowie letztlich auch durch experimentelle Studien belegt werden mussten. Trotzdem hielten sie die Erbkomponente bei den genannten Erkrankungen für sehr hoch und waren gleichzeitig zuversichtlich, die noch fehlenden empirischen Daten durch zukünftige Forschungen liefern zu können. Dieses Auseinanderklaffen zwischen gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis, praktischer Anwendung von medizinischem Wissen und öffentlicher Proklamation ist sicher unbefriedigend, es ist jedoch keinesfalls ein Spezifikum von Medizin und Wissenschaft im Nationalsozialismus. Die weitere wissenschaftliche Untermauerung der staatlichen Gesundheitsund insbesondere der Selektionspolitik war auch das zentrale Argument, mit dem Rüdin in den nächsten Jahren erfolgreich erhebliche Forschungsgelder von verschiedenen staatlichen Machtinstanzen einwerben konnte.40 Seine zentrale Stellung für Politikberatung und Rechtssprechung in Fragen der Erbgesundheit ist dokumentiert durch seine Mitgliedschaft im Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik des Reichsinnenministeriums und seine Tätigkeit als Beisitzer am »Erbgesundheitsobergericht« München. Die schon zuvor von der Notgemeinschaft/DFG und der Rockefeller Foundation finanzierte »erbbiologische Bestandsaufnahme« möglichst weiter Bevölkerungskreise wurde nun mit staatlicher Finanzierung und insbesondere bezogen auf psychiatrische Erkrankungen massiv ausgebaut und mit erheblichem Ressourcenaufwand durchgeführt. Im November 1934 verschickte der Präsident des Reichsgesundheitsamtes einen Rundbrief an die Direktoren aller Heil- und Pflegeanstalten, in dem er die

40 Dazu V. Roelcke: Funding.

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»karteimäßige Erfassung der erbkranken Sippen« ankündigte, um die Voraussetzungen für eine systematische Erforschung der »Erbverhältnisse« zu schaffen. Im Arbeitsalltag der Heil- und Pflegeanstalten wurden daraufhin Zeit- und Personalressourcen für Aktivitäten im Sinne der »Bestandsaufnahme« reserviert. Rüdins tonangebende Stellung in der gesamten deutschen Psychiatrie nach 1933 und die Kongruenz seiner Forschungsinteressen mit der staatlichen Gesundheitspolitik führten dazu, dass diese »Bestandsaufnahme« auch außerhalb der DFA von vielen ambitionierten jüngeren Psychiatern mitgetragen wurde. Sie sahen hier ein sowohl für die psychiatrische Prävention als auch für die Forschung viel versprechendes Arbeitsfeld, in dem erhebliche Gelder und attraktive Karrieremöglichkeiten verfügbar waren.41 Rüdin war auch an der wissenschaftlichen Rechtfertigung der systematischen Krankentötungen – der sogenannten »Euthanasie« – beteiligt. Schließlich unterstützte er finanziell und personell Forschungen an »Euthanasie«-Opfern. Diese Forschungen hatten eine eugenisch-genetische Fragestellung: die Identifizierung von differentialdiagnostischen Kriterien zwischen vererbten und nicht-vererbten Formen der Debilität. Nach extensiven klinischen, psychologischen und labordiagnostischen Untersuchungen war die Tötung der Versuchspersonen mit dem Ziel der Obduktion und histopathologischen Untersuchung des Gehirns ein obligatorischer Bestandteil des Forschungsplans.42 Rüdin und die GDA dokumentieren somit eindeutig die konstitutive Verknüpfung von innovativer und international angesehener genetischer Wissenschaft innerhalb der Psychiatrie mit eugenischer Programmatik sowie Politikberatung.

41 Ebd.; zur Illustration des entsprechenden Verhaltens bei einem exemplarischen ambitionierten jungen Psychiater, vgl. Roelcke, Volker: »Kontinuierliche Umdeutungen: Biographische Repräsentationen am Beispiel der Curricula vitae des Psychiaters Julius Deussen (1906-1974)«, in: Kornelia Grundmann/Irmtraut Sahmland (Hg.), Concertino. Ensemble aus Kultur- und Medizingeschichte. Festschrift für Gerhard Aumüller, Marburg: Univ.-Bibliothek 2008, S. 221-232. 42 V. Roelcke: Wissenschaft, sowie V. Roelcke: Rüdin.

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F RANZ K ALLMANN UND DIE PSYCHIATRISCHE

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IN DEN

USA

Kallmann wurde 1897 in Schlesien in eine protestantische Pastorenfamilie mit jüdischen Vorfahren geboren.43 Er war aktiver Teilnehmer am Ersten Weltkrieg und studierte anschließend in Breslau Medizin. Nach vorübergehender Tätigkeit als Chirurg erhielt er ab 1926 eine Weiterbildungsstelle für Psychiatrie und Neuropathologie an der Charité in Berlin bei Karl Bonhoeffer. 1928 wurde er zum Leiter der Prosektur und des neuropathologischen Labors an der Berliner Heilund Pflegeanstalt Herzberge für psychisch Kranke ernannt. Hier begann er, systematisch Krankenakten von Schizophreniepatienten seit dem späten 19. Jahrhundert zu sammeln und mit Blick auf die Frage der Erblichkeit statistisch auszuwerten. Die noch in Herzberge und anderen Berliner Anstalten befindlichen Patienten untersuchte er psychiatrisch und »erbbiologisch«, d.h. auf Merkmale, die möglicherweise mit vererbbaren Krankheiten assoziiert sein konnten, sowie auf entsprechende Merkmale in der Familie. Um seine genetischen Studien intensivieren zu können, beantragte Kallmann eine mehrmonatige Beurlaubung von seiner Berliner Stelle. 1931 konnte er in dieser Zeit als Gastwissenschaftler an der GDA bei Rüdin in München arbeiten. Auch in den folgenden Jahren bis 1936 verbrachte er regelmäßig mehrere Wochen in München und korrespondierte intensiv vor allem mit Rüdins Mitarbeitern Hans Luxenburger und Bruno Schulz. 1933 konnte Kallmann trotz seiner jüdischen Abstammung wegen der sogenannten »Frontkämpfer-Klausel« seine Stelle in Berlin zunächst beibehalten. Rüdins wiederholte Versuche, Kallmann an die DFA zu holen, scheiterten allerdings. Rüdin konnte jedoch durchsetzen, dass Kallmann 1935 einen Vortrag auf dem »Internationalen Kongress für Bevölkerungswissenschaften« in Berlin halten durfte. In diesem Referat analysierte Kallmann das Fortpflanzungsverhalten von verschiedenen Subgruppen der über 1000 Schizophrenen, deren Daten er ausgewertet hatte. Er kam zu dem Schluss, dass hebephrene und katatone Patienten derartig geringe Vermehrungsquoten hätten, dass für sie die geltende nationalsozialistische Sterilisationsgesetzgebung ausreichend sei. Die Patienten mit schubweise auftretender psychotischer, vorwiegend paranoider Symptomatik würden jedoch in den oft langen symptomfreien Intervallen nicht ausreichend als Schizophrene diagnostiziert und hätten auch eine gegenüber der

43 Zu den Umrissen von Kallmanns Biografie vgl. A. Cottebrune: Kallmann.

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Durchschnittsbevölkerung deutlich erhöhte Nachkommensrate, so dass hier ein dringender Handlungsbedarf zur Ergänzung des Gesetzes gegeben sei. Wörtlich heißt es in diesem Text: »Bei dieser Sachlage ist der Weg zu einer schnellen und gesicherten Ausmerze der schizophrenen Erbanlage klar vorgezeichnet. Frühsterilisierung aller Erbkranken bei Beginn der Fruchtbarkeitsperiode sowie die Ausschaltung auch der heterozygoten und manifestationsbehinderten Anlageträger sind seine wichtigsten Meilensteine, und die differentialdiagnostische Sicherung und zuverlässige Erkennbarkeit der prä-psychotischen und hetero44

zygoten Persönlichkeitstypen seine dringendste Voraussetzung«.

Kallmann forderte also auf der Grundlage seiner genetischen Untersuchungen eine deutliche Ausweitung des nationalsozialistischen Gesetzes zur Zwangssterilisation, und zwar mit eugenischen und bevölkerungspolitischen Argumenten. Zu seinem expliziten Bedauern wurde Kallmann im Frühjahr 1936 wegen seiner jüdischen Herkunft und trotz seiner eugenischen Überzeugungen aus der Gesellschaft für Rassenhygiene ausgeschlossen. Bereits 1935 war er wegen der verschärften Situation im Zusammenhang mit dem sogenannten »Reichsbürgergesetz« wie alle anderen noch im öffentlichen Dienst beschäftigten »Juden« aus seiner Stelle entlassen worden. 1936 verlor er seine Pensionsansprüche und suchte nun dringend nach einer Anstellung im Ausland. Im Spätjahr 1936 gelang es Kallmann aus Deutschland auszureisen, wobei ihm der amerikanische Ethnologe Franz Boas behilflich war. Er bekam durch einen Nothilfe-Fond für emigrierte jüdische Wissenschaftler zunächst eine Projektstelle am New York State Psychiatric Institute, wo er dann im Verlauf der nächsten Jahre mit Hilfe von Geldern aus der Rockefeller Foundation eine eigene Abteilung für psychiatrische Genetik einrichten konnte. Dies ist umso bemerkenswerter, als in dieser Zeit – also in den 1940er Jahren – in der amerikanischen Psychiatrie psychodynamische und umweltbezogene Erklärungsansätze die wissenschaftliche Diskussion und auch die Forschungsförderung eindeutig dominierten. Kallmann war aufgrund seiner Studien in Berlin und München zu der Überzeugung gekommen, dass die Prädisposition zur manisch-depressiven Psychose durch ein dominantes Gen vererbt würde und die Prädisposition zur

44 Kallmann, Franz: »Die Fruchtbarkeit der Schizophrenen«, in: Hans Harmsen/Franz Lohse (Hg.), Bevölkerungsfragen. Bericht des Internationalen Kongresses für Bevölkerungswissenschaft, Berlin, 26.8.-1.9.1935, München: Lehmanns 1936, S. 725-729.

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Schizophrenie durch ein rezessives Gen in homozygoter Form. 1938, als er bereits zwei Jahre in den USA tätig gewesen war, veröffentlichte er seine zunächst auf Deutsch verfasste Monografie über die Genetik der Schizophrenie in New York.45 Im Vorwort dankte er Rüdin und der Arbeitsgruppe in München ausdrücklich für ihre wissenschaftliche Unterstützung. Anknüpfend an diese Forschungen entstand in den 1940er Jahren eine Reihe von weiteren Arbeiten zur Erbkomponente der Schizophrenie. In einer abschließenden Monografie analysierte er u.a. die Biografie von eineiigen Zwillingsschwestern, die kurz nach der Geburt in verschiedene Familien adoptiert worden waren.46 Seine Befunde und Interpretationen wurden in der allgemeinen Humangenetik breit und positiv aufgenommen. So finden sich die Resultate und Interpretationen sowohl von Kallmann als auch von Hans Luxenburger, einem anderen RüdinSchüler, in den »Principles of Human Genetics« dargestellt, einem Lehrbuch und Referenzwerk aus dem Jahr 1960 von Curt Stern aus Berkeley, einem der führenden amerikanischen Genetiker.47 Mit seiner Ankunft in New York gründete Kallmann – wie bereits erwähnt – am New York State Psychiatric Institute eine Arbeitsgruppe zur psychiatrischen Genetik, die nach ersten Jahren einer unsicheren Finanzierung über projektgebundene Gelder schließlich in ein Department mit regulärem Etat, assoziiert mit der Columbia University, übergeleitet werden konnte. Ab Mitte der 1940er Jahre bis zu seinem Tod 1965 war Kallmann Professor für Psychiatrie an der Columbia University. Die von ihm gegründete Abteilung war nicht nur die erste Einrichtung speziell für psychiatrische Genetik in den USA, sondern nach der Arbeitsgruppe am Lehrstuhl für Medical Genetics an der Ohio State University unter Laurence H. Snyder auch die zweite Institutsgründung überhaupt im breiteren Feld der amerikanischen Humangenetik. Das von Kallmann geleitete Department war nach der Einschätzung zeitgenössischer Fachkollegen Anfang der 1960er Jahre eines der führenden humangenetischen Institute in den USA und

45 Kallmann, Franz: The Genetics of Schizophrenia. A Study of Heredity and Reproduction in the Families of 1087 Schizophrenics, New York: Augustin 1938. 46 Kallmann, Franz: »The genetic theory of schizophrenia: An analysis of 691 schizophrenic twin index families«, in: American Journal of Psychiatry 103 (1946), S. 309322; Ders.: Heredity in Health and Mental Disorder, New York: W. Norton 1953. 47 C. Stern: Principles, S. 581-584.

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u.a. Vorbild für entsprechende Abteilungen an den Universitäten Minnesota und Michigan.48 Im Jahr 1948 gehörte Kallmann zusammen mit dem Nobelpreisträger Hermann J. Muller sowie Laurence H. Snyder zum Gründungskomitee der American Society of Human Genetics. Nach Muller, Snyder sowie Lee R. Dice wurde Kallmann im September 1952 zum vierten Präsidenten dieser Gesellschaft gewählt. Daneben gehörte Kallmann ebenfalls zu den Mitbegründern und der ersten Herausgebergruppe des »American Journal of Human Genetics« sowie zum Organisationskomitee der »First und Second International Conference of Human Genetics« in Kopenhagen 1956 und Rom 1961. Sein großes Renommee wird etwa dadurch deutlich, dass ein Nachruf auf ihn in der »New York Times« erschien, wo insbesondere seine Verdienste um die Zwillingsforschung gerühmt wurden. Bis zu seinem Lebensende war Kallmann überzeugter Anhänger eugenischer Programmatik. Noch Ende der 1930er Jahre hatte er, bereits in den USA, mit eugenischer Argumentation die Sterilisation von erblich »minderwertigen« Nachkommen von psychiatrischen Patienten gefordert.49 Er vermied allerdings nach 1945 die öffentliche Verwendung des Begriffs Rassenhygiene und rückte auch nach Kriegsbeginn 1939 von seinen bisherigen Forderungen nach unbedingter Notwendigkeit von staatlichen Eingriffen in die menschliche Reproduktion ab. Entsprechend dem nun demokratisch-pluralistischen Umfeld proklamierte er nun den Vorrang von Aufklärung und Erziehung. Seine Verweise auf das übergeordnete Wohl der Gesamtpopulation wurden nun nicht mehr explizit mit der »eigenen« Bevölkerung bzw. Nation oder Begriffen wie »Volkskörper« in Verbindung gebracht, sie konnten jetzt auch als Rekurs auf das Kollektivwohl der Menschheit generell verstanden werden. Gleichwohl blieb das Primat des Kollektivwohls über das Individualwohl erhalten, und ebenso das Primat des Expertenwissens über die Einstellungen des betroffenen Individuums.50 Dies wird u.a. sichtbar in seinen Äußerungen im Kontext der Tagung »Expanding

48 Herndon, C. Nash: »Medical Genetics in the United States«, in: Franz Kallmann (Hg.), Expanding Goals of Genetics in Psychiatry, New York: Grune & Stratton 1962, S. 244-249, S. 245. 49 Kallmann, Franz: »Heredity, Reproduction, and Eugenic Procedure in the Field of Schizophrenia«, in: Eugenical News 23 (1938), S. 105-113, 105; Ders.: »Eugenic Birth Control in Schizophrenic Families«, in: Journal of Contraception 3 (1938), no. 11, S. 195-199. 50 Für eine genauere Analyse dieses Übergangs vgl. A. Cottebrune: Kallmann, sowie V. Roelcke: Eugenic Concerns.

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Goals of Genetics in Psychiatry«, die 1961 an der Columbia University abgehalten wurde und zum Ziel hatte, eine Bilanz bisheriger Forschungen in der psychiatrischen Genetik und ihre Zukunftsperspektiven zu formulieren: Nach Kallmann sollte der Humangenetiker ein »Expertenratgeber« (expert guide) für alle Fragen sein, die sich mit der Qualität des menschlichen genetischen Codes beschäftigen, und sich dazu aller modernen wissenschaftlichen und technischen Methoden bedienen. Für die Humangenetiker insbesondere aus dem Bereich der psychiatrischen Genetik bestehe die Aufgabe darin, die menschliche Evolution auf uneingeschränkte Gesundheitspotentiale (unimpaired health potentials) hin auszurichten. Noch allgemeiner werde es zukünftig möglich sein, dass der Mensch seine eigene Evolution in die Hand nehmen könne. Daher müsse auch die genetische Selektion gesteuert werden: Da die potentiell schädlichen Wirkungen von Mutationen durch eine verbesserte Umwelt nur verzögert und abgemildert statt beseitigt würden, müsse eine befriedigende Bevölkerungspolitik schon bei der Selektion vor der Geburt beginnen.51 Der kranke oder leidende einzelne Mensch kommt in dieser Programmatik nicht vor. Stattdessen greift Kallmann eine der Grundideen der Eugenik/Rassenhygiene aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert auf, nämlich den Gedanken der Kontraselektion: Im Gegensatz zu einem »naturbelassenen« Evolutionsprozess, wo durch den »Kampf ums Dasein« die »schlechten« Erbanlagen auf natürliche Weise ausgeschaltet werden, behindern demnach in den modernen, zivilisierten Gesellschaften die Institutionen der Medizin und Sozialfürsorge Interventionen diesen natürlichen Vorgang, womit letztlich der Prozess der Auslese/Selektion »guter« Erbanlagen durch einen Prozess der Kontraselektion unterlaufen wird.

S CHLUSS Die hier vorgestellten exemplarischen Stationen aus der Geschichte der psychiatrischen Genetik dokumentieren einen Traditionsstrang innerhalb der Psychiatrie, der in den 1920er Jahren rasch an Bedeutung gewann und in der Zeit des Nationalsozialismus zusammen mit seiner Anwendungsseite, der eugenisch-rassenhygienischen »Erbgesundheitspolitik«, die Psychiatrie sogar dominierte. Die erste Station zeigte für die Jahrzehnte um 1900 als Voraussetzung für die Entstehung der psychiatrischen Genetik eine spezifische Form der Krankheitslehre, die

51 Kallmann, Franz: »Genetic Research and Counselling in the Mental Health Field, Present and Future«, in: Ders., Expanding Goals (1962), S. 250-255.

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psychische Störungen als abgrenzbare biologische Einheiten postulierte und demgegenüber die biografische und soziale Dimension von psychischer Erkrankung weitgehend ausblendete. Die zweite Phase dieser Geschichte ist eng verbunden mit der rasanten Karriere von Eugenik und Rassenhygiene seit den 1920er Jahren, mit einem erneuen Schub ab 1933. Diese Geschichte war aber nur in ihrer radikalsten Ausprägung 1945 beendet. Das dritte Kapitel der Geschichte zeigt, dass die eugenisch inspirierte psychiatrische Genetik schon vor 1945 eine internationale Ausbreitung erlebte, und dass spätestens ab 1945 auch eine Internationalisierung im Sinne einer zumindest terminologischen Abwendung von national verstandenen biologischen Einheiten als Bezugspopulationen eugenischer Interventionen erfolgte, ohne dass jedoch zentrale Postulate der Eugenik aufgegeben wurden. Grundideen der Eugenik wurden von international hoch angesehenen Humangenetikern wie Kallmann auch noch um 1960 vertreten. Bei renommierten Vertretern der psychiatrischen Genetik war in dieser Zeit das Interesse am Wohlergehen des kollektiven Erbgutes oder Genpools eine zentrale Motivation für ihre wissenschaftliche Arbeit – eine Motivation, neben der das Wohlergehen des Einzelnen wie im Falle von Kallmann weitgehend in den Hintergrund tritt. Die durchgängige Orientierung am Kollektivwohl als zentraler Motivation für genetische Forschung und die Umsetzung ihrer Erkenntnisse im »präventiven« Umgang mit der menschlichen Reproduktion sowie die damit verbundenen Wertehierarchien machen deutlich, dass die Geschichte der psychiatrischen Genetik sich nicht ohne diejenige der Eugenik erklären lässt – und umgekehrt.

Psychiatrie und Politik Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Nationalsozialismus H ANS -W ALTER S CHMUHL

Vom 1. bis 4. September 1935 trat die erste Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater (GDNP) in Dresden zusammen.1 Bei dieser Gelegenheit präsentierte der neu ernannte »Reichsleiter«, Prof. Ernst Rüdin (1874-1952), Direktor der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München2, den versammelten Psychiatern und Neurologen den auf Veranlassung des Reichsinnenministeriums erfolgten Zusammenschluss des Deutschen Vereins für Psychiatrie und der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte als vollendete Tatsache. Schon 1933 war der Deutsche Verband für psychische Hygiene dem Deutschen

1

Der vorliegende Beitrag bündelt erste Ergebnisse eines von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde in Auftrag gegebenen Forschungsprojekts. Gekürzte englische Fassung: Schmuhl, Hans-Walter: »›Resources for each other.‹ The society of German neurologists and psychiatrists and the Nazi ›health leadership‹, in: European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience 261 (2011), Supplementband 2, S. 197-201. Die Geschichte der psychiatrischneurologischen Fachgesellschaft(en) im Nationalsozialismus ist bislang nur unzureichend erforscht. Vgl. Ehrhardt, Helmut E.: 130 Jahre Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde, Wiesbaden: Steiner 1972; Fellmann, Sabine: Die Tätigkeit der medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaften und Vereine im Bereich der Neurologie und Psychiatrie in Deutschland zwischen 1933 und 1945. Diss. med. Leipzig 2000.

2

Weber, Matthias M.: Ernst Rüdin. Eine kritische Biographie, Berlin u.a.: Springer 1993.

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Verein für Psychiatrie angeschlossen worden, auch er ging in der neuen ärztlichen Gesellschaft auf. Ebenso war die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene über ihren »Reichskommissar« Rüdin locker mit der neuen Fachgesellschaft verbunden. Es sei, so rechtfertigte Rüdin die Fusion, »ein Wunsch sowohl vieler Psychiater und Neurologen, als auch der Reichsregierung« gewesen, »den auseinanderstrebenden Tendenzen des Spezialistentums wieder zusammenführende Tendenzen entgegenzusetzen.« Ungeachtet aller Widerstände aus den Reihen der Internisten warb Rüdin für das engere Zusammenrücken von Psychiatrie und Neurologie, die Bündelung der regionalen »Sonderwege« in der deutschen Psychiatrie und die Einbindung der psychischen Hygiene und nach Möglichkeit auch der Psychotherapie in den neuen Fachverband, indem er die möglichen Synergieeffekte hervorhob. Vor allem aber, so Rüdin, sei die Vereinigung von Psychiatrie und Neurologie eine Forderung der »grundlegende[n] neue[n] Einstellung des deutschen Staates in der Heilkunst«. Der Grundsatz, »dass Vorbeugen besser als Heilen« sei, werde im nationalsozialistischen Staat durch die Rassenhygiene »auf den Gesamtkörper unseres Volkes« übertragen. Da psychiatrische und neurologische Krankheiten »in größtem Umfange erblich bedingt, also nur durch Rassenhygiene einzudämmen und zu beseitigen« seien, müssten auch Psychiater und Neurologen rassenhygienisch tätig sein. Ein Staat, der die Rassenhygiene zur Staatsdoktrin erhoben hatte, musste auf die rassenhygienische Ausrichtung der Psychiatrie und Neurologie den größten Wert legen, und weil Psychiater und Neurologen auf »das Wohlwollen der Behörden und der Bewegung heute mehr als irgendwann angewiesen« seien, müssten sie sich der Rassenhygiene öffnen. Die Bildung der neuen ärztlichen Gesellschaft sei daher »nur eine aus dem Geiste der neuen Zeit geborene zwangsläufige Entwicklung«, »um nicht bloß die rassenhygienischen […] Bestrebungen der deutschen Regierung, der Partei, der Öffentlichkeit und der Privaten nach allen Kräften zu unterstützen, sondern um umgekehrt auch den deutschen Behörden und der Bewegung ein Objekt wohlwollender Fürsorge und Förderung darzubieten, eben unsere neue, große, ärztliche Vereinigung«.

Rüdin skizzierte mithin ein Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit: »So braucht der neue deutsche Staat den rassenhygienisch vorgebildeten und tätigen Psychiater und Neurologen, aber auch umgekehrt: Der rassenhygienisch eingestellte

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Neurologe und Psychiater braucht die nationalsozialistische Bewegung und den neuen Staat«.3 Der unmittelbare Ansprechpartner saß unten im Saal, denn gleich eingangs seiner Eröffnungsansprache hatte Rüdin Ministerialdirektor Dr. Arthur Gütt (1891-1949) aus dem Reichsministerium des Innern begrüßt. Gütt und Rüdin waren die treibenden Kräfte, die hinter dem Zusammenschluss des Deutschen Vereins für Psychiatrie und der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte standen. Der »Alte Kämpfer« Arthur Gütt, vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten Kreisarzt in Wandsbek, war im Mai 1933 zum Leiter der Abteilung Volksgesundheit im Reichsinnenministerium ernannt worden. Als Ministerialrat, seit 1934 als Ministerialdirektor – und auch als Mitglied des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS – war Gütt bis 1938 der starke Mann in der staatlichen »Gesundheitsführung«.4 Seine Stellung war freilich nie völlig unangefochten, musste er sich doch in ständigen Kompetenzkonflikten der Versuche der parteiamtlichen »Gesundheitsführung« unter dem »Reichsärzteführer« Gerhard Wagner (18881939) erwehren, Einfluss im öffentlichen Gesundheitswesen zu gewinnen.5 Gütts Trumpf war, dass die Umsetzung der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik, insbesondere des Sterilisationsprogramms nach dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (GzVeN), in sein Ressort fiel. Dazu benötigte er dringend Expertenwissen aus dem Bereich der psychiatrischen Genetik, und folgerichtig setzte er alles daran, nicht nur die bedeutendsten Forschungsinstitute auf diesem Feld – die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie in München und das Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Anthropologie, menschliche Erblehre

3

Rüdin, Ernst/Nitsche, Paul: »I. Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater Dresden (1.-4.IX.1935)«, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 104 (1936), S. 1-143, Zitate: S. 4, 6-7.

4

Labisch, Alfons/Tennstedt, Florian: Der Weg zum »Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens« vom 3. Juli 1934. Entwicklungslinien und -momente des staatlichen und kommunalen Gesundheitswesens in Deutschland, Bd. 2, Düsseldorf: Akademie für öffentliches Gesundheitswesen 1985, S. 423-424.

5

Bock, Gisela: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Münster: Monsenstein & Vannerdat 2010 (Nachdruck der Erstausgabe), S. 339-349; Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung »lebensunwerten Lebens«, 1890-1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 21992, S. 164-168.

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und Eugenik in Berlin6 – an sich zu binden, sondern auch die wissenschaftlichen Fachgesellschaften auf rassenhygienischen Kurs zu bringen. Dazu schien es sinnvoll, sie unter einem Dach zu vereinen und der Führung von Psychiatern zu unterstellen, welche die Erbgesundheitspolitik des neuen Deutschlands rückhaltlos unterstützten. Hier nun trafen sich Gütts Interessen mit denen Ernst Rüdins. Der gebürtige Schweizer, seit 1907 Assistenzarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik in München bei Emil Kraepelin (1856-1926), gehörte zu den Mitbegründern der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene. Seit 1917 leitete er die Genealogisch-Demographische Abteilung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie, 1931 stieg er – nach einem Zwischenspiel als Professor für Psychiatrie in Basel – zum Geschäftsführenden Direktor der gesamten Forschungsanstalt auf. Die von seinem Forschungsteam entwickelte Methode der »Empirischen Erbprognose« wurde wegweisend für die psychiatrische Genetik in Deutschland. In der ausgehenden Weimarer Republik war Rüdins Einfluss auf die deutsche rassenhygienische Bewegung und die von ihr geleistete wissenschaftliche Politikberatung jedoch deutlich zurückgegangen. Die »Berliner Richtung« der Rassenhygiene unter Führung des Direktors des KWI für Anthropologie, Eugen Fischer (1874-1967) – übrigens ein Erzrivale Rüdins –, hatte bestimmenden Einfluss auf die von Zentrum und Sozialdemokratie getragene »Weimarer Eugenik« gewonnen, die »Münchner Richtung« unter Rüdin war ins Hintertreffen geraten. Bezeichnend war, dass bei den Beratungen des Gesetzentwurfs zur freiwilligen Sterilisierung aus eugenischer Indikation im Preußischen Landesgesundheitsrat im Juli 1932 Fischer die beherrschende Gestalt war, während Rüdin und seine Mitarbeiter völlig ausgebootet waren.7 Mit der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten kam es indessen zu einer dramatischen Verschiebung der Machtverhältnisse. Während Eugen Fischer unter starken politischen Druck geriet und Mühe hatte, sich im Amt zu halten, rückte Rüdin weit in den Arkanbereich der Macht vor. Seit 1933 Mitglied des Sachverständigenbeirats für Bevölkerungs- und Rassenpolitik des Reichsinnenministeriums, Reichskommissar für Rassenhygiene und – als Nachfolger Fischers – Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene, wurde Rüdin im Juli 1933 als stellvertretender Vorsitzender in den Vorstand des Deutschen Vereins für Psychiatrie kooptiert – eine unmittelbare Folge der Fusion des Deutschen Verbandes für Psychische Hygiene mit dem

6

M. Weber: Rüdin, S. 180-183; Schmuhl, Hans-Walter: Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, 19271945, Göttingen: Wallstein 2005, S. 165-166, 178-181, 186-187, 190-193.

7

H.-W. Schmuhl: Grenzüberschreitungen, S. 141-148.

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Deutschen Verein für Psychiatrie. Mit Hilfe Arthur Gütts – die beiden verfassten 1934 zusammen mit Falk Ruttke (1894-1955) den Kommentar zum GzVeN8 – drängte Rüdin den langjährigen Vorsitzenden Karl Bonhoeffer (1868-1948), der der NS-Erbgesundheitspolitik mit einer gewissen Skepsis gegenüberstand, an den Rand und setzte den Zusammenschluss des Deutschen Vereins für Psychiatrie und der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte unter seiner Leitung durch. Die der neuen Gesellschaft oktroyierte, vom Reichsinnenministerium abgesegnete Satzung schaffte die ordentlichen Mitgliederversammlungen ab, übertrug deren Rechte einem Beirat, dessen Mitglieder vom »Reichsleiter« handverlesen wurden, und gab Ernst Rüdin nahezu uneingeschränkte Handlungsfreiheit. Als stellvertretender »Reichsleiter« und Leiter der Abteilung Neurologie trat ihm Prof. Heinrich Pette (1887-1964), Direktor der Neurologischen Universitätsklinik in Hamburg, als Geschäftsführer Prof. Hermann Paul Nitsche (1876-1948), Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein bei Pirna und Nestor der deutschen Anstaltspsychiatrie, zur Seite. Eine wichtige Rolle spielten ferner Dr. Hans Roemer (1878-1947), Direktor der badischen Heil- und Pflegeanstalt Illenau, als Geschäftsführer des Deutschen Verbandes für Psychische Hygiene sowie Prof. Ernst Kretschmer (1888-1964), Direktor der Universitätsnervenklinik Marburg, der auf Rüdins Anregung versuchen sollte, die Psychotherapie unter das Dach der neuen ärztlichen Fachgesellschaft zu bringen. Diese Gruppe bestimmte in den nächsten Jahren den Kurs der GDNP. An dieser Stelle sei eine kurze Reflexion darüber eingeschoben, wie eine wissenschaftliche Fachgesellschaft als Forschungsgegenstand eigentlich aufzufassen ist. Eine rein institutionengeschichtliche Perspektive greift zu kurz: Eine wissenschaftliche Fachgesellschaft ist mehr als ein auf eine bestimmte scientific community zugeschnittener Verein, dessen durch die Satzung bestimmte Zwecke, Organe und Regularien, seine Versammlungen, Veranstaltungen und Veröffentlichungen – all das ist nicht unwichtig, konstituiert es doch eine wissenschaftliche Fachgesellschaft als juristische Person und legt damit ihre formale Position im staatlichen und gesellschaftlichen Gefüge fest. Sie ist aber zugleich viel mehr als das, existiert doch jenseits dieser formellen eine informelle Ebene, ein dichtes Gewebe aus Beziehungen zwischen einzelnen Wissenschaftlern, universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, zwischen Wissenschaft und Akteuren in der Verwaltung, der Politik, der Öffentlichkeit usw. Kurz: Ein netzwerkanalytischer Zugriff versteht eine wissenschaftliche Fachgesellschaft primär als eine Verdichtung in einem

8

Gütt, Arthur/Rüdin, Ernst/Ruttke, Falk: Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 nebst Ausführungsverordnungen, München: Lehmanns 1934.

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weitgespannten und engmaschigen Beziehungsgeflecht innerhalb eines disziplinären Systems.9 Impulse aus anderen Teilen dieses Beziehungsgeflechts wirken auf den Knotenpunkt der wissenschaftlichen Fachgesellschaft ein. Umgekehrt beeinflussen Impulse, die von diesem Knotenpunkt ausgehen, das gesamte epistemische Feld, d.h. konkret: seine Außengrenzen, Binnenstrukturen, seine Paradigmen, Konzepte, Begriffe, Objekte, Methoden, die Verschränkung von Theorie und Praxis – also die Anwendung wissenschaftlichen Wissens, auch seine Popularisierung, seine Übersetzung in politische Praxis und soziokulturellen Diskurs, damit auch die finanzielle Ausstattung, die Organisation von Forschung und Praxis, die Rekrutierung und Ausbildung des Nachwuchses, den sozialen Status der Mitglieder des disziplinären Systems usw. Bei der Gründung der GDNP erkennt man ein Machtspiel auf mehreren Ebenen. Da ist erstens das Zweckbündnis zwischen zwei Männern, einem politischen Funktionär, der sich in der Konkurrenz des polykratischen Herrschaftssystems des Nationalsozialismus, und einem Wissenschaftler, der sich innerhalb seiner scientific community durchsetzen wollte. Der Funktionär übte politischen Druck aus, um den ihm genehmen Wissenschaftler in eine Schlüsselposition zu bringen, der Wissenschaftler nutzte die so gewonnenen Einflussmöglichkeiten, um die scientific community im Sinne der Politik des Funktionärs auf Kurs zu bringen. Zweitens deckten sich die persönlichen Ambitionen der historischen Akteure weitgehend mit den institutionellen Interessen: Im Sinne eines do ut des stellte die staatliche »Gesundheitsführung« in Aussicht, die Standespolitik der Psychiater zu fördern, während diese sich anboten, die Erbgesundheitspolitik der NS-»Gesundheitsführung« wissenschaftlich zu begründen und zu rechtfertigen, bei ihrer praktischen Umsetzung mitzuwirken, sie forschend zu begleiten und zu evaluieren, sie in der deutschen Öffentlichkeit zu propagieren und auf dem glatten Parkett internationaler Konferenzen auch außenpolitisch zu verteidigen. Psychiatrie und Neurologie als medizinische Praxis und Wissenschaft und die biopolitische Entwicklungsdiktatur des Nationalsozialismus fungierten hier, wie unschwer zu erkennen ist, als »Ressourcen füreinander«.10 Drittens zog diese wechselseitige Instrumentalisierung von Wissenschaft und Politik eine Neuord-

9

Vgl. Fangerau, Heiner/Halling, Thorsten (Hg.): Netzwerke. Allgemeine Theorie oder Universalmetapher in den Wissenschaften? Ein transdisziplinärer Überblick, Bielefeld: transcript 2009.

10 Ash, Mitchell: »Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander«, in: Rüdiger v. Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Steiner 2002, S. 32-49.

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nung des epistemischen Feldes nach sich: Indem Psychiatrie, Neurologie, psychische Hygiene und Rassenhygiene unter dem Dach einer einzigen, eindeutig von der Psychiatrie dominierten wissenschaftlichen Gesellschaft vereinigt wurden, schien der Traum der Weimarer Reformpsychiatrie, das eigene Fach zu einer gesellschaftlichen Leitwissenschaft zur Steuerung sozialer und biologischer Entwicklung auszubauen, konkrete Gestalt anzunehmen. Die in den folgenden Jahren gestarteten Versuche, die Psychotherapie einerseits und die Kinder- und Jugendpsychiatrie und Heilpädagogik andererseits unter das Dach der neuen Fachgesellschaft zu holen, zielten darauf ab, das neue wissenschaftliche Feld zu arrondieren. Viertens schließlich ordnet sich das Geschehen ein in den langgestreckten Prozess der rassenhygienischen Durchdringung der ärztlichen Wissenschaften, der nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in Gang gekommen war und im »Dritten Reich« auf breiter Front voranschritt. Das rassenhygienische Paradigma strahlte auf das gesamte Feld aus, von der psychischen Hygiene und der Psychiatrie auf die Neurologie, aber auch auf jene Bereiche, die man letztlich nicht den disziplinenimperialistischen Ambitionen der Psychiatrie unterwerfen konnte: die Kinder- und Jugendpsychiatrie, die Heilpädagogik, die Psychotherapie und Psychologie. Betrachtet man die Berichte, Vorträge und Diskussionsbeiträge der ersten und der zweiten, vom 22. bis 25. August 1936 in Frankfurt a.M. tagenden Jahresversammlung der GDNP, so springt die starke Ausrichtung auf die nationalsozialistische Erbgesundheitspolitik unmittelbar ins Auge. Zahlreiche Beiträge befassten sich mit der »Erbbiologie« psychiatrischer und neurologischer Erkrankungen, wobei die von Otmar Frhr. v. Verschuer (1896-1969) entwickelte Zwillingsmethode noch unbestritten als Königsweg galt.11 Nicht selten wurde unmittelbar Bezug auf die »erbbiologische Bestandsaufnahme«, die Eheberatung und die Sterilisation nach dem GzVeN genommen. So forderte Berthold Ostertag (1895-1975), der neue Direktor des Virchow-Krankenhauses in Berlin, die Heranziehung von »geschulten Fachpathologen« zur Klärung strittiger Fragen bei der »erbbiologischen Bestandsaufnahme«. Wilhelm Weygandt (1870-1939), Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Hamburg, beklagte die unbefriedigenden Erfahrungen mit den eugenischen Eheberatungsstellen: »Viele Ehekandidaten fragen lieber Heilmystiker als ernste Beratungsstellen.« Die Menschen, die in die Beratungsstellen kämen, befolgten »die Ratschläge, besonders das Abraten, nur ausnahmsweise«. Mit einer freiwilligen Beratung komme man daher nicht weiter, es müsse »zu gesetzlichen Vorschriften über Eheverbot und

11 Vgl. aber H.-W. Schmuhl: Grenzüberschreitungen, S. 258-263.

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-erlaubnis auf erbbiologischer Grundlage kommen«12, eine Forderung, die einen Monat nach diesem Vortrag mit dem »Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes« vom 18. Oktober 1935 vom Gesetzgeber erfüllt wurde. 1936 berichteten u.a. Werner Villinger (1887-1961), damals noch Chefarzt in Bethel, über »kollektive Methoden in der Psychotherapie« für »schwierige haltlose Psychopathen« »aus gehobener Schicht« in einem »Arbeitsdienstlager« in der Betheler Moorkolonie Freistatt13, Felix Stemplinger, Nürnberg, über die intellektuelle Nachreife von Hilfsschulkindern, Heinrich Lottig (1900-1941), Leitender Oberarzt am Jugendamt in Hamburg, über die Berücksichtigung von anlagebedingten Charakteranomalien bei Adoptionsfällen, Friedrich Stumpfl (19021994) von der Deutschen Forschungsanstalt in München über eine Zwillingsstudie zur Psychopathie, Albert Harrasser (1903-1977), ebenfalls ein Mitarbeiter Rüdins, über »Konstitution und Rasse bei oberbayerischen endogenen Psychotikern«.14 Freilich wurde 1936 auch sehr lebhaft – und kontrovers – über die ersten Erfahrungen mit der Insulinschockbehandlung diskutiert. Bei aller Begeisterung für die Rassenhygiene war doch auch das Interesse an der Individualtherapie nicht erloschen. Aus dem Blickwinkel des genetisch-rassenhygienisch ausgerichteten Psychiaters und Neurologen ergänzten sich Eugenik und Therapie. Die Hoffnung der Standesvertreter war, im Windschatten der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik Ressourcen auch für die praktische Psychiatrie, für den Ausbau der in den 1930er Jahren entwickelten neuartigen Therapieformen mobilisieren zu können.

12 E. Rüdin/P. Nitsche: I. Jahresversammlung, S. 10, 12. 13 Vgl. Holtkamp, Martin: Werner Villinger (1887-1961). Die Kontinuität des Minderwertigkeitsgedankens in der Jugend- und Sozialpsychiatrie, Husum: Matthiesen 2002; Schmuhl, Hans-Walter: Ärzte in der Anstalt Bethel 1870-1945, Bielefeld: BethelVerlag 1998, S. 80-86; Ders.: »Zwischen vorauseilendem Gehorsam und halbherziger Verweigerung. Werner Villinger und die nationalsozialistischen Medizinverbrechen«, in: Der Nervenarzt 73 (2002), S. 1058-1063. Zur Betheler »Moorkolonie« Freistatt im Nationalsozialismus: Benad, Matthias: »Die Fürsorgeerziehung in Freistatt von 1899 bis in die frühe Bundesrepublik«, in: Ders./Hans-Walter Schmuhl/Kerstin Stockhecke (Hg.), Endstation Freistatt. Fürsorgeerziehung in den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel bis in die 1970er Jahre, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 22011, S. 55-140, hier S. 114-133. 14 Rüdin, Ernst/Nitsche, Paul: »2. Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater Dresden (23.-25.8.1936)«, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 105 (1937), S. 153-236, Zitate: S. 210, 229-230.

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Doch sollte sich diese Hoffnung auf ein »goldenes Zeitalter« der Psychiatrie nicht erfüllen. Indem die GNDP ihr Teil dazu beitrug, Psychiatrie und Neurologie der Erbgesundheits- und Rassenpolitik des Regimes nutzbar zu machen und Expertenwissen für die Durchführung der »erbbiologischen Bestandsaufnahme«, des GzVeN und des »Ehegesundheitsgesetzes« zur Verfügung zu stellen, half sie, die Psychiatrie »in eine tiefe Legitimationskrise«15 zu manövrieren. Gegen Ende der 1930er Jahre kehrte Ernüchterung ein. Zum einen war die Psychiatrie in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit nachhaltig diskreditiert. Das hatte mit dem propagandistischen Dauerfeuer gegen die vermeintlich »erblich minderwertigen« Menschen mit psychischen Krankheiten und geistigen Behinderungen zu tun – auch der Profession der Psychiater und Neurologen haftete mittlerweile ein ausgeprägtes Negativimage an. Während dieser Zusammenhang den Fachvertretern klar vor Augen stand, wurde eine gegenläufige Unterströmung von ihnen nicht wahrgenommen: Die massenhaften Zwangssterilisierungen nach dem GzVeN stießen in breiten Schichten der Bevölkerung auf Kritik, weil sie viele bis dahin nicht psychiatrisierte Menschen trafen. Die Psychiatrie wurde deshalb in manchen Kreisen mittlerweile als eine Art »Erbgesundheitspolizei« mit Misstrauen betrachtet. Zum anderen sah sich die praktische Psychiatrie gegen Ende der 1930er Jahre mit einer radikalen Sparpolitik der Fürsorgeverwaltungen in den Ländern und Provinzen konfrontiert. In den Heil- und Pflegeanstalten musste vielerorts rigoros gespart werden, selbst an Heizung und Verpflegung, wodurch es manchmal bereits zu einem Anstieg der Sterberaten kam. Die Anstalten waren überfüllt, es fehlte an qualifiziertem Personal, die Behandlung drohte gerade in dem Augenblick zum Erliegen zu kommen, als das therapeutische Arsenal sich infolge der Entwicklung innovativer Therapieformen ausweitete. Gerechtfertigt wurde die Sparpolitik mit dem Hinweis, in den Heil- und Pflegeanstalten würden ohnehin nur »erblich minderwertige Ballastexistenzen« verwahrt. Auf der Prioritätenliste der NS-»Gesundheitsführung« rückten die Heil- und Pflegeanstalten immer weiter nach unten. Die GDNP sah die Gefahren sehr deutlich und versuchte gegenzusteuern. Auf der fünften Jahresversammlung, die vom 27. bis zum 30. März 1939 in Wiesbaden stattfand, warnte Rüdin in seiner Eröffnungsansprache, dass für das Ansehen des Psychiaters die Gefahr einer Krise »von außen her« drohe. Die Psychiatrie werde »als auf verlorenem Posten stehend […] diskreditiert und als

15 Sandner, Peter: »Auf der Suche nach dem Zukunftsprojekt. Die NS-Leitwissenschaft Psychiatrie und ihre Legitimationskrise«, in: Heiner Fangerau/Karen Nolte (Hg.), »Moderne« Anstaltspsychiatrie im 19. Jahrhundert und 20. Jahrhundert ಥ Legitimation und Kritik, Stuttgart: Steiner 2006, S. 117-142, hier S. 117.

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nutzlos hingestellt«. Es bestehe »die Gefahr, dass die Nichtachtung gegenüber den Erbkranken […] sich auf die Ärzte überträgt, welche für sie verantwortlich zu sorgen haben.« Mit Blick auf den um sich greifenden Nachwuchsmangel betonte Rüdin, wie wichtig es sei, eine ausreichende Zahl tüchtiger junger Ärzte für die Psychiatrie und Neurologie zu gewinnen, nicht nur für die Differentialdiagnostik zur Unterscheidung von »Erbkrankheiten« und »Umweltkrankheiten«, sondern auch für die »Pflege und erstklassige Behandlung«, auf welche die psychisch Kranken »das gleiche Anrecht« hätten wie »innere, Ohren- oder Augenkranke«.16 Das läge auch im finanziellen Interesse der Verwaltung, da ja durch die Behandlung auch die Anstaltsdauer abgekürzt würde. Das wirtschaftliche Argument wurde aber bald darauf auf barbarische Weise entkräftet. Denn mit der »Aktion T4«, der Vergasung von mehr als 70.000 Patienten und Patientinnen aus deutschen Heil- und Pflegeanstalten, wurden die Ausgaben für die »geschlossene Geisteskrankenfürsorge« drastisch gesenkt. Führende Vertreter der GDNP wirkten an diesem Massenmord mit, allen voran Hermann Paul Nitsche, Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein bei Pirna, bis 1939 Geschäftsführer der Gesellschaft und seit 1940 ärztlicher Leiter des »Euthanasie«-Programms17, aber auch der Vorsitzende Ernst Rüdin, der in die Begleitforschung zur »Euthanasie« verstrickt war.18 Sie taten dies in der

16 Rüdin, Ernst/Nitsche, Paul: »Bericht über die V. Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater vom 26. bis 28. März 1939 in Wiesbaden«, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 114 (1940), S. 164-208, hier S. 165-166. 17 Mäckel, Kathrin: Prof. Dr. med. Hermann Paul Nitsche. Sein Weg als Reformpsychiater zum Mittäter an der Ermordung chronisch-psychisch Kranker zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland. Diss. med. Leipzig 1993. 18 Vgl. Roelcke, Volker: »Psychiatrische Wissenschaft im Kontext nationalsozialistischer Politik und ›Euthanasie‹: Zur Rolle von Ernst Rüdin und der Deutschen Forschungsanstalt/Kaiser-Wilhelm-Institut für Psychiatrie«, in: Doris Kaufmann (Hg.), Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus, Bd. 1, Göttingen: Wallstein 2000, S. 112-150; Roelcke, Volker/Hohendorf, Gerrit/Rotzoll, Maike: »Erbpsychologische Forschung im Kontext der ›Euthanasie‹. Neue Dokumente zu Carl Schneider, Julius Deussen und Ernst Rüdin«, in: Fortschritte der Neurologie – Psychiatrie 66 (1998), S. 331-336; Dies.: »Psychiatrische Genetik und ›Erbgesundheitspolitik‹ im Nationalsozialismus. Zur Zusammenarbeit zwischen Ernst Rüdin, Carl Schneider und Paul Nitsche«, in: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 6 (2000), S. 59-73; Roelcke, Volker: »Programm und Praxis der psychiatrischen Genetik an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie unter Ernst Rüdin. Zum Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Rasse-Begriff vor und nach

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Hoffnung, dass es gelingen würde, auf der Basis des Massenmordes zu einer Modernisierung des gleichsam »gesundgeschrumpften« Anstaltswesens zu gelangen. Eine Denkschrift zur künftigen Gestaltung der Psychiatrie aus dem Jahre 1943 ist beredter Ausdruck für diese Haltung.19 Doch war dies ein Versuch, zu retten, was noch zu retten war. Denn »mit der Ermordung ihrer Klientel machten die Psychiater sich und ihre Wissenschaft eigentlich überflüssig«.20 In dieser Krise der Psychiatrie agierte die GDNP immer defensiver. Im Vorfeld ihrer – dann doch nicht zustande gekommenen – sechsten Jahresversammlung, die 1941 in Würzburg stattfinden sollte, stellten die Verantwortlichen Überlegungen an, was zu tun sei. Paul Nitsche schrieb dazu am 9. April 1941 eine Aktennotiz an Viktor Brack (1904-1948), den Oberdienstleiter der Kanzlei des Führers, der an der Spitze der Administration der laufenden »Euthanasie«Aktion stand. Nitsche forderte, den »in Psychiaterkreisen um sich greifenden Irrtum zu bekämpfen, dass die Psychiatrie künftig als minderwertiges Fachgebiet abgestempelt sein werde. […] Tatsache ist doch, dass künftig gerade die psychiatrische Arbeit sich auf höherer Ebene abspielen und damit der ganze Berufsstand gehoben sein wird.«

Die höhere Ebene – das meinte die Heilung des »Volkskörpers« unter Preisgabe der chronisch psychisch kranken und schwer geistig behinderten Menschen. Um nun dem »Irrtum«, dass die Psychiatrie künftig ein minderwertiges Fachgebiet sein werde, entgegenzuarbeiten, hielt es Nitsche »für dringend wünschenswert, dass nunmehr, wenn irgend möglich, daran gegangen wird, nicht nur einzelne Ärzte, sondern möglichst alle Psychiater über die wirklichen Grundlagen dieser Aktion, über die damit verbundenen Ziele und über die zugrunde liegende gesetzliche Regelung aufgeklärt werden.«

1933«, in: Hans-Walter Schmuhl (Hg.), Rassenforschung an Kaiser-WilhelmInstituten vor und nach 1933, Göttingen: Wallstein 2003, S. 38-67; Roelcke, Volker: »Ernst Rüdin. Rennomierter Wissenschaftler, radikaler Rassenhygieniker«, in: Nervenarzt 83 (2012), S. 303-310. 19 Vollständig abgedruckt in: Kersting, Franz-Werner/Schmuhl, Hans-Walter (Hg.): Quellen zur Geschichte der Anstaltspsychiatrie in Westfalen, Bd. 2: 1914-1955, Paderborn u.a.: Schöningh 2004, S. 619-625. 20 P. Sandner: Suche, S. 126.

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Dann wurde Nitsche konkreter: Es sei »zu prüfen, ob nicht eine in diesem Jahre abzuhaltende Tagung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater den geeigneten Rahmen für eine solche Aufklärung bieten würde.« Nitsche, der sich im Jahr zuvor gegen eine Jahresversammlung der GDNP ausgesprochen hatte, gab sich »überzeugt«21, dass die Unterrichtung der versammelten Psychiater und Neurologen von der laufenden Mordaktion eine Hebung des Berufsstandes bewirken würde. Viktor Brack ließ sich von dieser Argumentation offensichtlich überzeugen: Die »Kanzlei des Führers« förderte die anstehende Jahresversammlung der GDNP mit einem Zuschuss von 10.000 Reichsmark.22 Die Vorbereitungen zu der Jahresversammlung schritten daraufhin zügig voran. Als Tagungsort wurde Würzburg gewählt, die organisatorischen Fragen vor Ort besprochen, Referenten und Referatsthemen festgelegt, das Programm nahm immer festere Gestalt an. Doch stellte der Kriegsverlauf – mit dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion trat der Zweite Weltkrieg in seine entscheidende Phase ein – das Zustandekommen der Jahresversammlung wieder in Frage. Um sie zu retten, wandte sich Nitsche am 30. August 1941 an Prof. Dr. Karl Brandt (1904-1948), Begleitarzt Hitlers und einer der beiden »Euthanasie«Bevollmächtigten, und legte ihm dar, welche Gründe »vom psychiatrischen Standpunkt aus« für die Abhaltung der geplanten Tagung sprachen. In diesem Schreiben wurde Nitsche noch konkreter: »Die den Irrenärzten obliegende Verpflichtung, unzählige, hoffnungslos unheilbare, verblödete, sich selbst zur Last fallende Menschenruinen am Leben zu erhalten, bedeutet von jeher eine schwere innere Belastung aller derjenigen gesund empfindenden Ärzte, die aufgrund ihrer inneren Hinneigung zur psychiatrischen Wissenschaft sich diesem Berufe gewidmet haben. Es lässt sich auch nicht leugnen und ist erklärlich, dass die erwähnte Schattenseite des Berufes in weiten Kreisen, namentlich auch in der Partei, das Ansehen der Irrenärzte überhaupt herabgemindert hat […] Wenn also tatsächlich gerade der nationalsozialistische Staat der wissenschaftlichen und praktischen Psychiatrie durch ihren Einsatz bei der Durchführung rassenhygienischer und rassenpflegerischer Maßnahmen Aufgaben von grundlegender Bedeutung für die gesundheitliche Förderung und Aufartung gestellt hat, Aufgaben, die nur von qualitativ hochstehenden Ärzten gelöst werden können, so muss doch betont werden, dass viele unter den

21 Bundesarchiv Koblenz, All. Proz. 7, Roll 12, Frame 220, Aktennotiz Paul Nitsche v. 9.4.1941. 22 National Archives Washington (=NAW), Record Group 549, Stack 290, Row 59, Comp. 17, Bl. 125819, Rüdin an Philipp Bouhler, 19.7.1941.

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heutigen Irrenärzten nach Persönlichkeit, innerer Einstellung und Können solchen Aufgaben nicht gewachsen sind. Es ist deshalb dringend notwendig, das menschliche und wissenschaftliche Niveau der Psychiater zu heben […]«.23

Die Bemühungen Nitsches und anderer waren erfolglos. Die Würzburger Jahresversammlung wurde, da der wissenschaftliche Tagungsbetrieb aufgrund der Kriegsentwicklung fast vollständig zum Erliegen kam, kurzfristig abgesagt. Wegen der hohen Bedeutung, welche die Veranstalter dieser Versammlung zugeschrieben hatten, lohnt es sich dennoch, einen genaueren Blick auf das Programm der Würzburger Tagung zu werfen.24 Der erste Sitzungstag am 5. Oktober 1941 stand unter dem Oberthema »Kriegserfahrungen bei Verletzungen des Gehirns«. Hier sollte das seit 1939 geschaffene System zur Therapie und Rehabilitation hirnverletzter Wehrmachtssoldaten der Fachöffentlichkeit präsentiert werden. Dieses sehr ausdifferenzierte, finanziell gut ausgestattete, als mustergültig geltende System reichte von den Hirnchirurgischen Bereitschaften der Luftwaffe, die in den Feldlazaretten tätig wurden, über das Auffanglazarett der Luftwaffe auf dem Olympischen Sportfeld in Berlin, das an das KWI für Hirnforschung angegliedert war, bis zu den acht Sonderlazaretten zur Rehabilitation von Hirnverletzten.25 Diese Präsentation war geeignet, das hohe Niveau der Neurochirurgie und ihre militärische Bedeutung ins rechte Licht zu rücken – nicht zuletzt in Richtung auf die Wehrmacht und SS, deren höchste Sanitätsoffiziere ausdrücklich nach Würzburg eingeladen waren. Der zweite Sitzungstag, der 6. Oktober 1941, stand unter dem Oberthema »Therapie der Psychosen«. Als Berichterstatter waren Prof. Carl Schneider (1891-1946), Heidelberg, mit einem Referat »Die modernen Behandlungsverfahren bei der Therapie endogener Psychosen« und Prof. Willi Enke (1885-1974), Bernburg,26 mit einem Referat über »Die Heilanzeigen und Erfolgsaussichten bei

23 Bundesarchiv Koblenz, All. Proz. 7, Roll 10, Frame 884, Nitsche an Brandt, 30.8.1941. 24 Erster gedruckter Entwurf in: NAW, Record Group 549, Stack 290, Row 59, Comp. 17, Bl. 125827-125834; Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 43 (1941), S. 359-360. 25 Vgl. Schmuhl, Hans-Walter: »Hirnforschung und Krankenmord. Das Kaiser-WilhelmInstitut für Hirnforschung 1937-1945«, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 50 (2002), S. 559-609, hier S. 588-594. 26 Zu seiner Rolle in der »Aktion T4« vgl. Schulze, Dietmar: »Euthanasie« in Bernburg. Die Landes-Heil- und Pflegeanstalt/Anhaltische Nervenklinik in der Zeit des Nationalsozialismus, Essen: Die blaue Eule 1999; Göbel-Braun, Peter: »Prof. Dr. med.

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der Behandlung endogener Psychosen« vorgesehen. Von Schneiders Referat sind die »Schlussbemerkungen« erhalten, die unter der Überschrift »Wissenschaftliche, wirtschaftliche und soziale Bedeutung und Zukunft der psychiatrischen Therapien« standen – dazu später mehr. Interessant ist, dass sowohl die Referate der beiden Berichterstatter – beide tief in die »Euthanasie« verstrickt – als auch die sich anschließenden Kurzvorträge den Fokus, einmal mehr Heilung und Vernichtung miteinander verschränkend, auf die Fortschritte der Therapie der endogenen Psychosen legten: Die meisten der Kurzvorträge behandelten die ersten Erfahrungen mit der zu dieser Zeit gerade neu eingeführten Elektrokrampftherapie und der Insulin- bzw. Cardiazolschockbehandlung. Der dritte Sitzungstag stand unter dem Oberthema »Suggestion und Training« mit einem Schwerpunkt auf dem autogenen Training. Diese inhaltliche Akzentuierung verweist auf die wissenschaftspolitischen Konfliktlagen, die sich in den Monaten der Tagungsvorbereitung herauskristallisiert hatten. Zum einen war das Netzwerk um Rüdin bemüht, zu »verhüten, dass den Psychiatern die Psychotherapie weggenommen wird«. Sie sollte »an den Hochschulen in ein gediegenes Fahrwasser gelenkt«27 werden. Dazu wollte man Matthias H. Göring (1879-1945), den Direktor des Reichsinstituts für psychologische Forschung und Vorsitzender der 1933 gegründeten Deutschen allgemeinen ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie in den Beirat der GDNP einbinden, was jedoch auf den energischen Widerstand Ernst Kretschmers stieß. Im Juli 1941 bekam Göring Oberwasser, als Pläne des Reichserziehungsministeriums bekannt wurden, einen Studiengang für Diplom-Psychologen mit starkem medizinischen Anteil zu schaffen, »also eine neue Kurpfuscher-Gruppe!«28, wie Nitsche klagte. Zum anderen versuchten Rüdin und sein Kreis, die 1940 gegründete Deutsche Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik enger an die GDNP anzubinden. Der Vorsitzende der kinderpsychiatrischen Gesellschaft, Prof. Paul

Willi Enke – ›deutsch, evangelisch, arischer Abstammung‹«, in: Hans-Walter Schmuhl (Hg.), Hundert Jahre Jugendhilfe Hephata Diakonie, 1908-2008, Schwalmstadt-Treysa: Selbstverlag 2008, S. 51-54. 27 NAW, Record Group 549, Stack 290, Row 59, Comp. 17, Bl. 124903-124904, Rüdin an Nitsche, 6.2.1941. 28 NAW, Record Group 549, Stack 290, Row 59, Comp. 17, Bl. 124942-124943, Nitsche an Rüdin, 17.7.1941. Vgl. allg. Roelcke, Volker: »Rivalisierende ›Verwissenschaftlichungen des Sozialen‹. Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie im 20. Jahrhundert«, in: Jürgen Reulecke/Volker Roelcke (Hg.), Wissenschaften im 20. Jahrhundert. Universitäten in der modernen Wissenschaftsgesellschaft, Stuttgart: Steiner 2008, S. 131-148.

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Schröder (1873-1941), Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik Leipzig, signalisierte vorsichtige Bereitschaft zu einem engeren Zusammenrücken. Schröder verstarb aber plötzlich am 7. Juni 1941, und so überkreuzte sich die Frage nach der Ausrichtung des disziplinären Feldes mit der Nachfolgefrage. Rüdin wollte unbedingt eine »ärztliche Führung« sicherstellen, obwohl – oder besser: gerade weil – unter den »Mitgliedern der Gesellschaft nur eine ganz verschwindend geringe Zahl von Psychiater[n] vorhanden ist, dem gegenüber hunderte von Sonderschullehrern, Erziehern, Psychologen, Beamten der Provinzialverwaltungen und der Länder sowie der Stadtverwaltungen und eine erheblich größere Zahl von Kinderärzten«29 zu finden waren. Rüdin versuchte nun, Hans Heinze (1895-1983) als neuen Vorsitzenden der Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik durchzusetzen, der als Leiter der »Reichsschulstation« Brandenburg-Görden eine Schlüsselstellung sowohl in der Kinder-»Euthanasie« als auch in der Begleitforschung des »Euthanasie«-Programms einnahm. Probleme bereitete dabei Hans Reiter (1881-1969), der Präsident des Reichsgesundheitsamtes, der Heinze wohl auch wegen dessen Verstrickung in die »Euthanasie« mit Skepsis betrachtete und Werner Villinger favorisierte, der wiederum dem Kreis um Rüdin und Nitsche wegen seiner zögerlichen Haltung als »T4«Gutachter suspekt war.30 Im Juli 1941 nun erreichte Rüdin das Gerücht, dass Göring die führerlose Deutsche Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik in seiner Gesellschaft der Psychotherapeuten aufgehen lassen wollte. Rüdin protestierte umgehend bei Ministerialrat Herbert Linden (1899-1945). Görings Linie, so Rüdin, scheine dahin zu gehen, »[…] der Psychiatrie all das zuzuweisen, was therapeutisch aussichtslos ist und unsere Wissenschaft nach außen hin unbeliebt zu machen geeignet erscheint, während er alles therapeutisch Hoffnungsvolle für sich und seine Psychotherapeuten beansprucht. Würde diese Zweiteilung durchgeführt, so bliebe der praktischen Psychiatrie außer den Gerichtsgutachten nur noch all das übrig, was jetzt in die Heil- und Pflegeanstalten geht. Einer derartigen Entwicklung müsste aber mit allem Nachdruck vorgebeugt werden, schon um unseres Nachwuchses und um des Rufes der Psychiatrie nach außen hin willen.«31

29 NAW, Record Group 549, Stack 290, Row 59, Comp. 17, Bl. 124908-124910, Rüdin an Linden, 28.6.1941. 30 Ebd.; NAW, Record Group 549, Stack 290, Row 59, Comp. 17, Bl. 124906-124907, Rüdin an Reiter, 28.6.1941. 31 NAW, Record Group 549, Stack 290, Row 59, Comp. 17, Bl. 124968-124669, Rüdin an Linden, 24.7.1941.

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Vor diesem Hintergrund dieser Konfliktlagen verzichtete man übrigens im Würzburger Tagungsprogramm darauf, die einzelnen Sitzungen als solche der neurologischen oder psychiatrischen Abteilung oder als gemeinsame Sitzung zu bezeichnen, »um die unbedingte Präponderanz der Psychiatrie in psychotherapeutischen Fragen zu betonen.«32 Anhand des Würzburger Tagungsprogramms erkennt man, wie sich wissenschaftspolitische Konfliktlinien mit Kooperationsverhältnissen zwischen der psychiatrisch dominierten Fachgesellschaft, dem NSStaat und nicht zuletzt auch der Wehrmacht überkreuzten, wie ein offensiver Disziplinenimperialismus sich mit einer Defensivstrategie verband, die versuchte, die gesellschaftliche Abseitsstellung zu durchbrechen, durch die sich die deutsche Psychiatrie durch ihren »Faustischen Pakt« mit den Nationalsozialisten gebracht hatte. Abschließend soll noch einmal auf Carl Schneiders »Schlussbemerkungen« über »Wissenschaftliche, wirtschaftliche und soziale Bedeutung und Zukunft der psychiatrischen Therapien« eingegangen werden. Das Dokument ist in der Forschung durchaus bekannt, aber in seiner Tiefe und Weite bis heute nicht hinreichend ausgelotet. Tatsächlich handelt es sich um ein Schlüsseldokument der Psychiatriegeschichte, und zwar nicht nur der deutschen Psychiatriegeschichte zur Zeit des Nationalsozialismus oder der deutschen Psychiatriegeschichte überhaupt. Es sei daher an dieser Stelle ausführlicher vorgestellt. Carl Schneider war der vielleicht begabteste deutsche Psychiater seiner Generation33. Sein 1939 veröffentlichtes Lehrbuch »Die Behandlung und Verhütung der Geisteskranken« wies ihn als einen der international führenden Forscher auf seinem Fachgebiet aus. Schneider hatte in der Weimarer Republik unter Prof. Oswald Bumke (1877-1950) an der Universitätsnervenklinik in Leipzig gearbeitet, war dann an die Heil- und Pflegeanstalt Arnsdorf bei Dresden gewechselt, wurde 1926 für ein Jahr freigestellt, um an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie unter Ernst Rüdin zu forschen. 1930 verfasste Schneider zusammen mit Paul Nitsche die Texte für die psychiatrische Abteilung auf der II. Internationalen Hygieneausstellung in Dresden. Im selben Jahr wurde er Chefarzt der Anstalt Bethel in Bielefeld, wo er mit der Klinik Mara eine der modernsten Epilepsiekliniken seiner Zeit einrichtete. 1933 wurde er nach Heidelberg berufen – auf einen der bedeutendsten Lehrstühle für Psychiatrie und Neurologie in Deutschland. Von

32 NAW, Record Group 549, Stack 290, Row 59, Comp. 17. Bl. 124951-124952, Nitsche an Rüdin, 25.7.1941. 33 Vgl. Teller, Christine: »Carl Schneider. Zur Biographie eines deutschen Wissenschaftlers«, in: Geschichte und Gesellschaft 16 (1990), S. 464-478; H.-W. Schmuhl: Ärzte, S. 76-80.

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Nitsche auf den neuen Ordinarius in Heidelberg aufmerksam gemacht34, nahm Ernst Rüdin um die Jahreswende 1933/34 Kontakt zu Schneider auf. Seither gehörte dieser zum Führungszirkel um Rüdin, Nitsche, Kretschmer, Roemer und Pette. Ab Ende 1942 leitete Schneider dann eine der beiden »Forschungsabteilungen« des »Euthanasie«-Apparates, zunächst in der badischen Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch, dann in der Universitätsklinik Heidelberg. Hier wurden geistig behinderte Kinder klinisch und auch psychologisch untersucht. 21 dieser Kinder wurden nachweislich sodann im Zuge der »Euthanasie« umgebracht, ihre Gehirne anatomisch und histopathologisch untersucht.35 Das also war der Mann, der in Würzburg den Hauptvortrag halten sollte. Er habe, so fasste Schneider sein Referat »Die modernen Behandlungsverfahren bei der Therapie endogener Psychosen«36 zusammen, »im ganzen ein hoffnungsvolles und zukunftsträchtiges Bild einer aufstrebenden Heiltätigkeit« gezeichnet: »Wir stehen an einem entscheidenden Wendepunkt der Psychiatrie überhaupt, in welchem sie den therapeutischen Nihilismus, der dem Historiker als verspätetes Endglied und Relikt uralten Seelen- und Dämonenglaubens erscheinen möchte, endgültig abgestreift und sich auf die therapeutische Erfahrung als das einzige Mittel zur Bannung auch der Psychosen besonnen hat.«

Schneider sah »die Stufe eines rohen therapeutischen Empirismus überwunden«; »systematische theoretische Erfahrung der Heilverfahren« sei an seine Stelle getreten. Die »Heilkunde der Psychosen« trete »als selbständige Erfahrungsdis-

34 Archiv des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie (=MPIP-HA), GDA 27, Rüdin an Nitsche, 1.12.1933. 35 Vgl. dazu außer der in Anm. 18 genannten Literatur Hohendorf, Gerrit/Roelcke, Volker/Rotzoll, Maike: »Innovation und Vernichtung. Psychiatrische Forschung und ›Euthanasie‹ an der Heidelberger Psychiatrischen Klinik 1939-1945«, in: Nervenarzt 67 (1996), S. 935-946; Hohendorf, Gerrit et al.: »Die ›Kinderfachabteilung‹ der Landesanstalt Eichberg 1941 bis 1945 und ihre Beziehung zur Forschungsabteilung der Psychiatrischen Universitätsklinik unter Carl Schneider«, in: Christina Vanja et al. (Hg.), Wissen und irren. Psychiatriegeschichte aus zwei Jahrhunderten. Eberbach und Eichberg, Kassel: LWV Hessen 1999, S. 221-243; Hohendorf, Gerrit/Rotzoll, Maike: »›Kindereuthanasie‹ in Heidelberg, in: Thomas Beddies/Kristina Hübener (Hg.), Kinder in der NS-Psychiatrie, Berlin: be.bra 2004, S. 125-148. 36 Bundesarchiv Berlin, R 96/I, Carl Schneider, Schlussbemerkungen. Wissenschaftliche, wirtschaftliche und soziale Bedeutung und Zukunft der psychiatrischen Therapien. Danach auch alle folgenden Zitate.

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ziplin der Psychiatrie auf den Plan, alle übrigen bewährten und unentbehrlichen Disziplinen befruchtend: Die Klinik, die Psychopathologie, aber auch die Erbbiologie und die Konstitutionslehre.« Schneider hob die vergleichsweise rasanten Erkenntnisfortschritte der zurückliegenden zehn Jahre hervor, räumte zugleich aber ein, dass »heute noch jeder Befund unzählige neue Fragen« aufwerfe. Aber man habe jetzt endlich »Boden unter den Füßen«, auf dem man »sicher fortschreiten« könne. Die Psychiatrie sei dabei, sich »zu einer für alle Wissenschaftszweige, die es mit der Biologie des Menschen zu tun haben, entscheidenden Wissenschaft von den psychophysischen Gesamtreaktionen des Menschen« umzuformen. Mit der Arbeitstherapie habe man ein »Mittel zum Studium der Umwelteinflüsse« zur Hand, mit den anderen neuen Therapiemethoden könne man die »inneren Regulationsvorgänge des Organismus« studieren. Die utopische Skizze, die Carl Schneider hier zeichnete, kulminierte in einer pathetischen Prophezeiung: »Die Zeit wird nicht mehr fern sein, da man selbst die sogenannte unheilbare Geisteskrankheit der therapeutischen Bemühung zugänglich gemacht haben wird und den Kranken ebenso vor Siechtum wie vor lebenslanger Anstaltsinternierung bewahren kann, so dass er trotz seiner Erkrankung [nach seiner Unfruchtbarmachung37] ein tätiges Glied der Volksgemeinschaft bleiben kann.«

Dann wandte sich Schneider dem konkreten Zweck seines Referates und der gesamten Würzburger Tagung zu. Manchen, »selbst klugen«, aber »mit der Sachlage nicht vertrauten Volksgenossen« scheine das »Arbeitsprogramm der Psychiatrie geradezu unnötig und unzeitgemäß«. »Sollten nicht Eugenik, Erbpflege und sonstige Maßnahmen des Staates auf andere Weise das Volk von der sozialen, moralischen und wirtschaftlichen Last der Geisteskrankheiten so weit befreien können, dass man überhaupt keiner Psychiatrie mehr« bedürfe? Es gebe, so warnte Schneider, maßgebliche Beamte, die der Auffassung seien, man brauche nicht mehr in die Psychiatrie zu investieren, »weil sie doch bald überflüssig« würde. Solchen Einstellungen müsse man aufklärend entgegenwirken: »Alle Maßnahmen unserer Zeit zur wirtschaftlichen Entlastung unseres Volkes vom Druck der Aufwendungen für nutzlose Anstaltsinsassen und alle eugenischen Maßnahmen im weitesten Sinne« seien »Maßnahmen auf lange Sicht«. Es würden noch »Jahrhunderte« vergehen, bis es gelungen sein werde,

37 Handschriftliche Einfügung von Paul Nitsche.

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»die Zahl der anfallenden endogenen Psychosen im Volke auf jenes Maß herabzusetzen, das auch in einer psychisch völlig erbgesunden Bevölkerung durch die dann noch immer vorhandene Mutationsrate für Psychosen bestimmt ist. Erst dann werden die die Irrenanstalten wirklich leer sein und ganz leer gehalten werden können.«

Bis dahin jedoch, so Schneider, sei es »menschlich richtig und wirtschaftlich zweckmäßig, durch intensive Behandlung das psychische Siechtum und die Anstaltsbedürftigkeit zahlreicher Kranker mit endogenen Psychosen nach Möglichkeit zu verhüten. Es ist dann immer noch in einer größeren Zahl von psychisch angeborenen, erblichen oder erworbenen psychischen Siechtumszuständen das Volk auf andere Weise zu entlasten.«

»Auf andere Art zu entlasten« – man sieht: Schneider spricht an dieser Stelle zwar verklausuliert von »Maßnahmen zur wirtschaftlichen Entlastung«. Allen Zuhörern hätte aber klar sein müssen, was gemeint war: die Vernichtung der unheilbar Kranken in den Anstalten. Ob Schneider im Hauptteil seines Referates die Tatsache des Krankenmordes explizit benennen wollte, ob dies Ernst Rüdin in seiner Eröffnungsrede überlassen werden sollte oder ob man es bei solchen – freilich nicht misszuverstehenden – Andeutungen belassen wollte, muss auf dem gegenwärtigen Kenntnisstand offen bleiben. Möglicherweise ist den Veranstaltern nach dem Stopp der »Aktion T4« im August 1941 von höherer Stelle bedeutet worden, dass eine offiziöse Verlautbarung unerwünscht war. Möglicherweise wollte man die »Euthanasie« nicht explizit erwähnen, weil es in dieser Phase nach der Einstellung der Massenvergasungen im Rahmen der »Aktion T4« unklar war, wie es mit dem Massenmord an psychisch erkrankten und geistig behinderten Menschen weitergehen würde. Klar ist – Schneiders Referat beweist es eindeutig –, dass man die »Euthanasie« auf der anstehenden Versammlung der Fachgesellschaft als offenes Geheimnis behandeln wollte. Einen zweiten Punkt gilt es herauszustellen: Selten ist die für die Medizin im Nationalsozialismus so typische Verschränkung von Heilen und Vernichten so klar herausgearbeitet worden wie in diesem Schlüsseldokument. Modernste Therapie, Eugenik und die Vernichtung der »Ballastexistenzen« wurden als komplementäre Elemente einer Gesamtstrategie gesehen, die – so Schneider wörtlich – »billiger«, »leidsparender« sowie »wirtschaftlich und für das Arbeitsvolumen des Volkes erfolgversprechender« sei. Aus diesem Grunde sei es zwingend notwendig, der Psychiatrie gerade »jetzt an dem großen Wendepunkt […], an welchem sie überhaupt erst eintritt in den Rahmen wirklicher Heilkunde«, »genügende Geldmittel« zuzuweisen. Ziemlich

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unverblümt deutete Schneider auch darauf hin, dass infolge der »Euthanasie« Ressourcen freigesetzt worden waren, die man zu diesem Zweck nutzen könne: »Nicht Einsparung, sondern angemessene Ausschüttung eines Teiles der durch die heutigen Maßnahmen bereits eingesparten Mittel für Forschungszwecke der Psychiatrie ist der richtige Weg zur endgültigen Entlastung.« Zudem forderte Schneider die längst fällige »moralische Anerkennung der durch den Psychiater für das Volksganze zu leistenden Arbeit« ein. Dies sei wichtig, um den dringend benötigten Nachwuchs zu bekommen. Am Ende seines Referates wandte sich Schneider wieder der fernen Zukunft zu, um zu begründen, warum man auch in jenem Utopia, in dem alle endogenen Psychosen – und wie man in Parenthese hinzufügen muss: alle an einer endogenen Psychose leidenden, dem therapeutischen Handeln nicht zugänglichen Psychotiker – ausgerottet sein würden, immer noch eine Psychiatrie brauchen werde. Hier führte er drei Gesichtspunkte ins Feld. Erstens werde es dann immer noch eine »Gefährdung der Menschheit und des Volkes« durch psychische Krankheit geben, »sei es durch Erbmutationen, sei es durch Umweltseinflüsse aller Art.« Zweitens deutete Schneider an, dass sich die Psychiatrie der Zukunft ein viel umfassenderes, alle anderen Fachgebiete durchdringendes und überwölbendes Arbeitsfeld innerhalb der Wissenschaften vom Menschen schaffen könnte: »Solange der Mensch seelische Funktionen hat, wird es eine Wissenschaft innerhalb der Medizin geben müssen, die sich mit den Beziehungen zwischen körperlichen Krankheiten und seelischen Vorgängen und der Behebung hierbei eintretender Störungen aller Art befasst. Ja eine solche Wissenschaft, heißt man sie nun Psychiatrie oder anders, und mag sie auch einmal im Rahmen der sich wandelnden Klassifikation der Wissenschaften an anderer Stelle als heute im Rahmen der Medizin einsetzen, man wird ihr umso weniger entraten können, je ernster man das Schlagwort von der Ganzheit des Lebens in wirkliche Kenntnis von der Biologie dieser Ganzheit in gesunden und kranken Tagen umsetzen will.«

Was Schneider hier umreißt, ist ein epistemisches Feld im Grenzbereich von Medizin, Psychologie, Psychosomatik, Soziobiologie, Biochemie, Hirnforschung und Genetik – was in unseren Ohren seltsam aktuell klingt, auch wenn es heute nicht die Psychiatrie ist, die den Primat auf diesem Feld für sich beansprucht. Schneider ging jedoch noch weiter. Er sah nicht nur eine zentrale Rolle der Psychiatrie innerhalb der Wissenschaften vom Menschen voraus, sondern er hielt es drittens für möglich, dass die Psychiatrie ein neues, Gesellschaft und Kultur durchdringendes Welt- und Menschenbild schaffen könne:

P SYCHIATRIE

UND

P OLITIK

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»Die Vorstellung, die sich der Mensch von seiner Seele und ihrem Leben macht, wird von ihr aus eine je länger je mehr entscheidende Wandlung erleben und damit wird die heilkundige Psychiatrie der Zukunft, statt wie bisher weltanschaulich von philosophischen Strömungen aller Art abhängig zu sein, von sich aus hinaus wirken in die religiösen, philosophischen und mythischen Ideen des ganzen Volkes. Es ist an der Zeit, dass eine am Menschen heilend handelnde Disziplin endlich eingreift in den Gang der Ideengeschichte der Menschheit; denn so wie einst die Astronomie durch Kopernikus, so wird einmal die Psychiatrie durch einen ihrer Forscher bannen den durch religiöse Vorstellungen und Dogmen noch immer geschützten Aberglauben vom Wesen der Seele und wird damit den Weg frei machen zu einem innigeren und reicheren Leben unseres Volkes nach seinen eigenen Kräften und Gaben.«

Welche Hybris darin liegt: Auf dem Höhepunkt einer Krise der Psychiatrie, die entscheidend dadurch mit verursacht war, dass Ärzte die ihnen anvertrauten Kranken ermordeten oder der Ermordung preisgaben, will einer der Hauptverantwortlichen die Plattform der wissenschaftlichen Fachgesellschaft nutzen, um die Zukunftsvision einer von der Psychiatrie bewirkten Kopernikanischen Wende des Menschenbildes zu entwerfen – einer schönen neuen Welt, die auf der Basis von avantgardistischer Forschung, Therapie, Sterilisation und Vernichtung der »Ballastexistenzen« geschaffen werden soll, in der die Psychiatrie zu einem Religionsersatz oder einer Ersatzreligion geworden sein soll. Diese Utopie endete in einem Desaster: Etwa 300.000 kranke und behinderte, hilflose, der Psychiatrie anvertraute Menschen brutal ermordet, die Infrastruktur psychiatrischer Versorgung zerrüttet, die Psychiatrie als Wissenschaft und Praxis zutiefst kompromittiert.

Ein Blick von innen Anstaltsgeschichtliche Aspekte in Krankenakten von Opfern der »Aktion T4« M AIKE R OTZOLL

V OM E NDE HER GELESEN . D AS L EBEN VON O PFERN DES NS-K RANKENMORDS Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg reiste der junge, engagierte und kritische Psychiater Manfred in der Beeck (1920-2004) aus Westfalen nach Heidelberg.1 Dort besichtigte er in der Psychiatrischen Universitätsklinik die von Hans Prinzhorn (1886-1933) und Karl Wilmanns (1873-1945) mehr als drei Jahrzehnte zuvor angelegte Sammlung künstlerischer Werke von Anstaltspatienten, die damals noch nicht öffentlich zugänglich war. Ein früherer Patient der Anstalt Wiesloch interessierte in der Beeck besonders: der aus Magdeburg stammende Kaufmann Josef Grebing (1879-1940). In der Beeck glaubte, »Parallelen« zu einem seiner Patienten zu entdecken, der ebenfalls zeichnete und über den er zu publizieren plante.2 Daher erreichte im Mai 1954 ein Brief aus der

1

Zu Manfred in der Beeck vgl. Kersting, Franz-Werner: Anstaltsärzte zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik. Das Beispiel Westfalen, Paderborn: Schöningh 1996, S. 356-361; Ders.: »Vor Ernst Klee. Die Hypothek der NS-Medizinverbrechen als Reformimpuls«, in: Ders. (Hg.), Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre, Paderborn u.a.: Schöningh 2003, S. 66-69.

2

Kürzlich identifizierte Thomas Röske den im Brief genannten Patienten-Künstler in der Beecks als Erich Spießbach, vgl. Röske, Thomas: »Erich Spießbach – ein Ausbruch in Kreativität«, in: Stiftung Schloss Friedenstein Gotha (Hg.), »Der dreifach

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Landesheilanstalt Münster das Psychiatrische Landeskrankenhaus Wiesloch, in dem nach Grebings Krankengeschichte, aber auch nach weiteren möglichen »Unterlagen, bezw. Aufzeichnungen, Notenhefte[n] oder Tagebücher[n]« gefragt wurde.3 Die Antwort auf diese Anfrage fiel knapp aus: Josef Grebing habe sich von 1908 bis 1925, von 1931 bis 1933 und zuletzt vom 5. Mai 1939 bis zum 24. Oktober 1940 in der badischen Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch befunden. An diesem Tag sei er »in eine uns nicht bekannte Anstalt verlegt« worden: »Sämtliche Akten und Krankengeschichten wurden seinerzeit mitgegeben. Es tut uns daher leid, über die Krankheit des Obengenannten keine nähere Auskunft mehr geben zu können.«4 Der Gebrauch der Wendung »uns nicht bekannte Anstalt« stand in Kontinuität mit der NS-Zeit, als die Chiffre der »Verlegung« in eine »andere« oder in eine »unbekannte« Anstalt für einen Transport im Zusammenhang mit dem Krankenmord an Psychiatriepatienten, besonders der Gasmordaktion »T4« (abgeleitet von der Planungszentrale der sogenannten »Euthanasie« in Berlin an der Tiergartenstraße 4) von 1940/41 gebräuchlich war. Die Erinnerung an die zahllosen Transporte von Patienten blieb erhalten, so dass bis heute die »grauen Busse« weit mehr als die Gaskammern der Tötungsanstalten zu einem Emblem für die Morde geworden sind.5

diplomierte Idiot«. Das Phänomen Erich Spießbach (Katalog zur Ausstellung in Historischen Museum Gotha 2012), Gotha 2012, S. 47-103, hier S. 102. 3

Generallandesarchiv (=GLA) Karlsruhe, Personalakte Josef Grebing, 463/1983/20X, Nr. 11554, Brief des in der Münsteraner Landesheil- und Krankenanstalt Marienthal tätigen Obermedizinalrats August Friedrich Ignatz Dohmen an den Direktor des Wieslocher Landeskrankenhauses Kurt Hoffmann-Steudtner vom 20.5.1954. Dohmen schrieb diesen Brief, wie es in dem Text heißt, für seinen Mitarbeiter in der Beeck.

4

GLA Karlsruhe, Personalakte Josef Grebing, 463/1983/20X, Nr. 11554, Brief des Wieslocher Direktors (Kurt Hoffmann-Steudner, Direktor 1952-1974) an seinen Kollegen in Münster vom 29.5.1954.

5

Cornelia Brink interpretiert die für die Psychiatrie im Nationalsozialismus kennzeichnende Praxis der Verlegungen, welche gegenüber der Weimarer Zeit noch erheblich zugenommen hatten, als »Kennzeichen einer Psychiatrie, die mit dem ständigen Verdrängen ihrer Patienten – im metaphorischen wie im praktischen Sinn – ihren Ort verlor«. Vgl. Brink, Cornelia: Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860-1980, Göttingen: Wallstein 2010, S. 359. Zu dem seit 2007 im Zentrum für Psychiatrie Weißenau in Ravensburg errichteten »Denkmal der grauen Busse« von Horst Hoheisel und Andreas Knitz, dessen Kopie an wechselnden Orten aufgestellt wird vgl. http://www.forschung-bw.de/VersFHist/Mahnmal/Mahnmal.html und http://www.dasdenkmaldergrauenbusse.de/ vom 9.4.2012.

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Manfred in der Beeck dürfte dem Ausdruck »nicht bekannte Anstalt« entnommen haben, warum er keine weiteren Auskünfte über Grebing erhielt. Er gehörte zu den wenigen Nachkriegspsychiatern, die einen offenen Bruch zur NSPsychiatrie herbeiführen wollten, indem er die »Euthanasie«-Aktion thematisierte und von einer »nicht unerhebliche[n] Hypothek an Schuld« sprach.6 Schließlich hatte in der Beeck in Eglfing-Haar als Oberarzt bei Gerhard Schmidt (1904-1991) gearbeitet, der eine der frühen Dokumentationen über den Krankenmord geschrieben hatte, die er allerdings erst Jahrzehnte später sollte veröffentlichen können.7 Weitere Nachfragen enthält Grebings Akte nicht. In der Beeck fand sich offenbar mit dem Verlust der biografischen Information ab.8 Ohne Krankengeschichte keine Lebensgeschichte – auf viele Anstaltspatienten, die in der »Aktion T4« ermordet wurden, trifft dies zu, denn es ist oft außerordentlich schwierig, Spuren ihres Lebens außerhalb der Anstaltsüberlieferung ausfindig zu machen.9

6

In der Beeck, Manfred: Praktische Psychiatrie, Berlin: de Gruyter 1957, S. 110. Vgl. F.-W. Kersting: Anstaltsärzte, S. 358.

7

Sogar der unbelastete Heidelberger Psychiatrie-Ordinarius Kurt Schneider (18871967) und der mit ihm befreundete Karl Jaspers (1883-1969) sprachen sich gegen eine offene Thematisierung des ärztlichen Krankenmordes aus. Vgl. Schmidt, Gerhard: Selektion in der Heilanstalt 1939-1945, Stuttgart: Evangelisches Verlags-Werk 1965 und Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983; Blasius, Dirk: »Psychiatrischer Mord in der Zeit des Nationalsozialismus. Perspektiven und Befunde«, in: Christina Vanja/Martin Vogt (Hg.), Euthanasie in Hadamar. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in hessischen Anstalten, Kassel: LWV Hessen 1991, S. 51-58, hier S. 53f; F.-W. Kersting: Anstaltsärzte, S. 359.

8

Offenbar war ihm nicht bekannt, dass die Heidelberger Krankengeschichte von Grebings Aufenthalt 1908 in der dortigen Psychiatrischen Klinik erhalten geblieben war, die auch eine Katamnese aus dem Jahr 1920 enthält. Sammlung Prinzhorn Heidelberg, Kopie der Heidelberger Krankengeschichte Josef Grebings (Original: UAH Heidelberg L III Männer 08/190). Von Heidelberg wurde Grebing in die Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch verlegt.

9

Der ärztliche Teil der Wieslocher Krankengeschichte Josef Grebings von 1908-1925 und ab 1913 ist nicht erhalten. Als Opfer der NS-»Euthanasie«-Aktion »T4« wurde er am 24.10.1940 von Wiesloch nach Grafeneck verlegt, dabei wurde die Krankengeschichte mitgegeben. Im Bestand der »T4«-Akten im Bundesarchiv Berlin ist nur die Wieslocher Krankengeschichte von 1931-1933 unter der Signatur R 179/7465 erhalten. Entgegen den damaligen Gepflogenheiten blieb die Patienten-Personalakte (Verwaltungsunterlagen und Schriftwechsel) in Wiesloch und wurde später in das Gene-

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Selbst wenn die psychiatrischen Akten erhalten sind, erhält man lückenhafte und einseitige Informationen. Vor allem geben die von Ärzten angelegten Dokumente nur sehr begrenzt die Sichtweise der Insassen wieder. Dennoch ist ihre Analyse häufig die einzige Möglichkeit zu einer – wenn auch fragmentarischen – (Re-)Konstruktion ihrer Lebensgeschichten. Während die Akten von Anstaltspatienten in der Regel erhalten sind10, konnte man nach dem Krieg nicht auf die Krankenakten der Opfer der zentralen Phase des NS-Krankenmordes, der »Aktion T4« zurückgreifen, denn diese hatten die rund 70.000 Patienten zwischen Januar 1940 und August 1941 auf ihrem Weg in die Tötungsanstalten begleitet und galten nun als verschollen. Für lange Zeit konnten daher die Opfer dieser ersten systematischen Vernichtungsaktion im Nationalsozialismus nicht im Mittelpunkt des Forschungsinteresses am Krankenmord stehen, das in den 1980er Jahren auf breiter Basis einsetzte.11 Dies

rallandesarchiv nach Karlsruhe abgegeben (463/1983/20X, Nr. 11554). Sie enthält neben den Aufenthaltsdaten ein Verzeichnis der mitgebrachten Kleidungsstücke und Gegenstände und den oben zitierten Nachkriegsschriftwechsel. Zu Grebings Lebensgeschichte vgl. Kappenberg, Torsten: »Josef Heinrich Grebing – ›ein fürchterliches Gefängnis – diese Heil=&Pflegeanstalt – ich war nervenkrank‹«, in: Bettina BrandClaussen/Thomas Röske/Maike Rotzoll (Hg.), Todesursache: Euthanasie. Verdeckte Morde in der NS-Zeit, Heidelberg: Wunderhorn 2002, S. 97-105. 10 Erhalten blieben, wenn auch nicht immer in der Ursprungsanstalt (da die Mitgabe der Krankengeschichte bei Verlegungen üblich war), häufig die Akten der in der dezentralen oder kooperativen »Euthanasie« bis Kriegsende durch Hunger oder überdosierte Medikamente ermordeten Patienten. Die Beweisführung anhand der einzelnen Akte ist problematisch, ausschlaggebend sind Berechnungen der Übersterblichkeit während des fraglichen Zeitraums. Vgl. grundlegend Faulstich, Heinz: Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1949. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie, Freiburg: Lambertus 1998; v. Rönn, Peter: »Zum indirekten Nachweis von Tötungsaktivitäten während der zweiten Phase der NS-›Euthanasie‹. Das Beispiel der Langenhorner Patienten in Königslutter«, in: Recht und Psychiatrie 9 (1991), S. 8-13. 11 Zur Geschichte der historiografischen Aufarbeitung des NS-Krankenmordes vgl. Trenckmann, Ulrich: »Nach Hadamar. Zur Rezeption der NS-Vergangenheit durch die deutsche Psychiatrie«, in: Franz-Werner Kersting/Karl Teppe/Bernd Walter (Hg.), Nach Hadamar. Zum Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, Paderborn: Schöningh 1993, S. 273-286. Es besteht Einigkeit darüber, dass unbeschadet einiger früher Beiträge kurz nach dem Krieg und seit Anfang der 1960er Jahre die Forschung auf breiter Basis erst in den 1980er Jahren mit der vorwiegend auf staatsanwaltlichen Ermittlungsakten beruhenden Materialsammlung von Ernst Klee

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änderte sich erst, als nach der »Wende« 30.000 der ursprünglich 70.000 Krankenakten in Berlin-Hohenschönhausen im Archiv des früheren Ministeriums für Staatssicherheit entdeckt wurden.12 Das Bundesarchiv Berlin übernahm den heutigen Bestand R 179.

einsetzte. Zu den früheren Zeugnissen von Psychiatern vgl. auch F.-W. Kersting: »Vor Ernst Klee«, in: Ders., Gesellschaftsreform (2003), S. 71-77. An frühen grundlegenden Werken sind zu nennen: Klee, Ernst: »Euthanasie« im NS-Staat. Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens«, Frankfurt a.M.: Fischer 1983; Klee, Ernst (Hg.): Dokumente zur »Euthanasie«, Frankfurt a.M.: Fischer 1985; Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung »lebensunwerten Lebens«, 1890-1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987; Siemen, Hans Ludwig: Menschen blieben auf der Strecke… Psychiatrie zwischen Reform und Nationalsozialismus, Gütersloh: Jakob v. Hoddis 1987; Aly, Götz (Hg.): Aktion T4 1939-1945. Die »Euthanasie«-Zentrale in der Tiergartenstraße 4, Berlin: Hentrich 1989; Burleigh, Michael: Death and Deliverance. »Euthanasia« in Germany c. 1900-1945, Cambridge: Cambridge Univ. Press 1994; Friedlander, Henry: The Origins of Nazi Genocide. From Euthanasia to the Final Solution, Chapel Hill/London: Univ. of North Carolina Press 1995; sowie beispielhaft für zahlreiche Regionalstudien: Faulstich, Heinz: Von der Irrenfürsorge zur »Euthanasie«. Geschichte der badischen Psychiatrie bis 1945, Freiburg: Lambertus 1993; Kaminsky, Uwe: Zwangssterilisation und »Euthanasie« am Beispiel von Einrichtungen der Erziehungsfürsorge und Heil- und Pflegeanstalten der Inneren Mission im Rheinland 1933 bis 1945, Köln: Rheinland-Verlag 1995; Walter, Bernd: Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime, Paderborn: Schöningh 1996. Inzwischen ist laut Schmuhl die Literatur zum NS-Krankenmord »selbst für Fachleute kaum noch zu überblicken«, vgl. Schmuhl, Hans-Walter: »›Euthanasie‹ und Krankenmord«, in: Robert Jütte (in Verbindung mit Wolfgang U. Eckart/Hans-Walter Schmuhl/Winfried Süß), Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen: Wallstein 2011, S. 214-255, hier S. 215. Vgl. auch Kaminsky, Uwe: »Die NS-›Euthanasie‹. Ein Forschungsüberblick«, in: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Tödliche Medizin im Nationalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2008, S. 269-290. Ein Beispiel für die Dokumentation des Schicksals eines Krankenmord-Opfers vor dem Auffinden des heutigen Aktenbestandes R 179 im Bundesarchiv Berlin: Dapp, Hans-Ulrich: Emma Z. – ein Opfer der Euthanasie, Stuttgart: Quell-Verlag 1990. 12 Ein erster Hinweis auf Akten von Opfern der NS-»Euthanasie« stammte von Götz Aly, vgl. den Zeitungsartikel »Stasi hortete Nazi-Akten«, in: die tageszeitung vom

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Nun konnte man Geschichtsschreibungen einzelner psychiatrischer Einrichtungen um einen verloren geglaubten Teil ergänzen13, es konnten Lebensgeschichten in der »Aktion T4« ermordeter Patientinnen und Patienten entstehen.14

23.4.1991. Zur Geschichte des heutigen Aktenbestandes R 179 im Bundesarchiv Berlin, der die Krankenakten von Opfern der »Aktion T4« enthält, vgl. Roelcke, Volker/Hohendorf, Gerrit: »Akten der ›Euthanasie‹-Aktion ›T4‹ gefunden«, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 41 (1993), S 479-481; Sandner, Peter: »Die ›Euthanasie‹-Akten im Bundesarchiv. Zur Geschichte eines lange verschollenen Bestandes«, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 47 (1999), S. 385-400; Ders.: »Schlüsseldokumente zur Überlieferungsgeschichte der NS-›Euthanasie‹-Akten gefunden«, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 51 (2003), S. 285-290. Die Krankenakten bestehen im Idealfall aus den ärztlich geführten Krankengeschichten und den verwaltungsrelevanten Personalakten, in denen sich auch Briefwechsel mit Angehörigen finden, Die Überlieferung ist jedoch häufig unvollständig. Vgl. Müller, Ulrich: »Metamorphosen – Krankenakten als Quellen für Lebensgeschichten«, in: Petra Fuchs et al. (Hg.), »Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst«. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen »Euthanasie«, Göttingen: Wallstein 2007, S. 80-96; Müller, Ulrich/Wachsmann, Corinna: »Krankenakten als Lebensgeschichten«, in: Maike Rotzoll et al. (Hg.), Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion T4 und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn u.a.: Schöningh 2010, S. 191-199. 13 So analysierte Schilter Akten des wiederentdeckten Bestandes aus der Heil- und Pflegeanstalt Arnsdorf noch vor dem Abschluss der archivalischen Aufarbeitung im Bundesarchiv Berlin: Vgl. Schilter, Thomas: Unmenschliches Ermessen. Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 1940/41, Leipzig: Kiepenheuer 1999. Weitere Beispiele für das Einbeziehen des Bestandes R 179 in institutionsgeschichtliche Studien: Beyer, Christof: Von der »Kreis-Irrenanstalt« zum Pfalzklinikum. Eine Geschichte der Psychiatrie in Klingenmünster, Kaiserslautern: Institut für pfälzische Geschichte und Volkskunde 2009, S. 144-153; Berger, Marie: Das Kreispflegeheim Weinheim im Nationalsozialismus. Diss. med. Heidelberg 2011, hier S. 54-90. 14 Beispiele hierfür sind die 2002 gezeigte Ausstellung in der Heidelberger Sammlung Prinzhorn über die in der NS-Zeit ermordeten Patienten-Künstler bzw. der zugehörige Katalog: Brand-Claussen, Bettina/Röske, Thomas/Rotzoll, Maike (Hg.): Todesursache Euthanasie; der lebensgeschichtliche Sammelband von P. Fuchs et al. (Hg.): »Das Vergessen der Vernichtung«; die Kurzbiografien im Begleitband zur Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin (Hg.): Tödliche Medizin. Rassenwahn im Nationalsozialismus, Göttingen: Wallstein 2009; Kipfelsperger, Tanja: »Medizinhistorische Er-

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Ebenso wurde es möglich, die Gesamtgruppe der »T4«-Opfer in den Blick zu nehmen und die Selektionskriterien der Täter zu analysieren. In einer größeren Studie, in die Akten von um 3.500 Akten von Opfern und – als Vergleichsstichprobe – Überlebenden der »Aktion T4« einbezogen wurden, konnte u.a. bewiesen werden, dass Arbeitsunfähigkeit das vorrangige Selektionskriterium gewesen war, wie man bereits auf der Basis anderer Quellen zu Recht angenommen hatte.15 Weitere Befunde waren überraschender, so das Überwiegen weiblicher Opfer16 oder der fehlende Einfluss einer angenommenen »Erblichkeit« auf die konkrete Selektionsentscheidung17. Wie erheblich der Einfluss ökonomischen Kalküls war, zeigte sich etwa bei der Diagnose »Schwachsinn«. Während als arbeitsfähig eingestufte Patienten und Patientinnen mit dieser Diagnose häufiger überlebten, wurden die als arbeitsunfähig geltenden unter ihnen häufiger ermordet.18 Auch für die Diagnose »Schizophrenie« lässt sich ein solcher

kenntnisse aus den Krankenakten von Schönbrunn«, in: Sr. M. Benigna Sirl/Peter Pfister (Hg.), Die Assoziationsanstalt Schönbrunn und das nationalsozialistische Euthanasie-Programm, Regensburg: Schnell & Steiner 2011, S. 119-138 (einen großen Teil des Textes nimmt die Lebensgeschichte des 1924 geborenen und 1941 in Hartheim ermordeten Johann D. ein). Zur Methodik der Lebensgeschichten vgl. Fuchs, Petra/Hohendorf, Gerrit: »Den Opfern ein Gesicht geben. Zum Schreiben von Lebensgeschichten anhand der Patientenakten der Opfer der NS-›Euthanasie‹«, in: Philipp Osten (Hg.), Patientendokumente. Krankheit in Selbstzeugnissen, Stuttgart: Steiner 2010, S. 237-249. 15 Fuchs, Petra: »Die Opfer als Gruppe«, in: Dies. et al., »Das Vergessen der Vernichtung« (2007), S. 53-72, hier S. 62-64; Hohendorf, Gerrit: »Die Selektion der Opfer zwischen rassenhygienischer ›Ausmerze‹, ökonomischer Brauchbarkeit und medizinischem Erlösungsideal«, in: Rotzoll et al., Die nationalsozialistische »Euthanasie«Aktion »T4« (2010), S. 310-324. 16 Hulverscheidt, Marion: »Zusammenfassung der Podiumsdiskussion: ›Die Selektion. Neue Erkenntnisse?‹«, in: Rotzoll et al., Die nationalsozialistische »Euthanasie«Aktion »T4« (2010), S. 325-328, hier S. 326; Rotzoll, Maike et al.: »Frauenbild und Frauenschicksal – Weiblichkeit im Spiegel psychiatrischer Krankengeschichten zwischen 1900 und 1940«, in: Bettina Brand-Claussen/Viola Michely (Hg.), Irre ist weiblich – Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie um 1900, Heidelberg: Wunderhorn 2004, S. 45-52, hier S. 46; Fuchs, Petra: Die Opfer als Gruppe, S. 55. Vgl. H.-W. Schmuhl: »Euthanasie« und Krankenmord, S. 226. 17 G. Hohendorf: Die Selektion, S. 313-317. Vgl. H.-W. Schmuhl: »Euthanasie« und Krankenmord, S. 226. 18 Vgl. H.-W. Schmuhl: »Euthanasie« und Krankenmord, S. 226.

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Zusammenhang nachweisen. Dennoch trugen die in die Selektion einbezogenen Insassen mit dieser Diagnose, unter ihnen Josef Grebing, insgesamt das höchste Risiko.19 Das Überwiegen zweckrationaler Kriterien, sieht man von der »Rasse« ab, legt nahe, dass die Bedeutung von Ressourcen wie Nahrungsmitteln, Anstaltsraum und Arbeitskraft mit dem Krieg zugenommen hatte, und mit dem Krankenmord sowie seinen Selektionskriterien in Zusammenhang stand.20 Der nach Selektionskriterien forschende Blick auf die Krankengeschichten der »Aktion T4« akzentuiert den Opferstatus. Doch unter anderen Blickwinkeln enthüllen die Akten, dass die Patienten keineswegs nur Objekte von Verwahrung, Verwaltung und Vernichtung waren. Sie bieten verschiedenste Spuren des gelebten Lebens, wenn diese auch nicht alle lesbar und verstehbar sind. Häufig dokumentieren die Krankengeschichten Mosaiksteine von Alltagsgeschichte(n) aus den Anstalten, von ganz eigenen, ineinander verwobenen Welten, von einem lebendigen Anstaltskosmos, an dem alle Beteiligten, vom Direktor über Ärzte, Pflegepersonal und Angehörige zu den Patienten, sich auf ihre Weise aktiv beteiligten. Die Analyse der Krankengeschichten kann auf für die jeweilige Anstalt bedeutsame alltagsgeschichtliche Themen hinweisen. Josef Grebing beispielsweise bezog sich bereits kurze Zeit nach seiner 1908 erfolgten Aufnahme in Wiesloch auf die noch junge, 1905 eröffnete Anstalt. So heißt es in seiner Akte: »Macht Vorschläge zur Abänderung der Hausordnung«21. Dabei ist bemerkenswert, dass Grebing sich etwa in derselben Zeitspanne über die Hausordnung Gedanken machte, in der dies auch Anstaltsdirektor Max Fischer (1862-1940) tat: Im Jahresbericht Wiesloch 1909 und 1910 merkte Fischer an: »Eine vollständige Neubearbeitung der Hausordnung und der Dienstanweisungen ist im Werke«.22 Dass es in der noch jungen Einrichtung um

19 P. Fuchs: Die Opfer als Gruppe, hier S. 60-62; Rotzoll, Maike: »Wahnsinn und Kalkül. Einige kollektivbiographische Charakteristika erwachsener Opfer der ›Aktion T4‹«, in: Dies. et al., Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4« (2010), S. 272-283, hier S. 278-279. 20 G. Hohendorf: Die Selektion, S. 324; M. Rotzoll: Wahnsinn und Kalkül, S. 282-283. 21 Sammlung Prinzhorn Heidelberg, Krankengeschichte Josef Grebing, »Katamnese«, zweites Blatt. Das Quellenzitat bezieht sich auf das Jahr 1909. Vgl. Rotzoll, Maike: »Soziale Psychiatrie. Einblicke in die Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch im Kontext der Modernisierungsbestrebungen der Psychiatrie bis 1933«, in: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 159 (2011), S. 439-463, hier S. 439-444. 22 GLA Karlsruhe 237/33903, Jahresbericht Wiesloch 1909 und 1910, S. 28. Zur Biografie Max Fischers vgl. Kreuter, Alma: Deutschsprachige Neurologen und Psychiater. Ein Biographisch-Bibliographisches Lexikon. Von den Vorläufern bis zur

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Gestaltung ging, sei es in Form von fortgesetzten Baumaßnahmen, sei es in inhaltlicher Hinsicht, konnten offenbar prinzipiell alle zur Institution Gehörenden wahrnehmen. Abb. 1: Josef H. Grebing, (Irren)=Haus-Ordnung

Quelle: Sammlung Prinzhorn, Inv. Nr. 616, Fol. 27 verso/28 recto.

Mitte des 20. Jahrhunderts, München: Saur 1996, Bd. 1, S. 341-344, dort auch Schriftenverzeichnis.

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In den Kriegswintern des Ersten Weltkriegs wenige Jahre später lernte Josef Forster (1878-1949), 1916 in die Regensburger Heil- und Pflegeanstalt Karthaus-Prüll aufgenommen, alles zu essen, was nur irgend Sättigung versprach, Brauchbares zu strecken, seinen Einfallsreichtum zur Nahrungsbeschaffung zu nutzen. Not macht erfinderisch, und Forster, eigentlich Tapezierer, war ohnehin stolz auf seine Erfindungen. 1918, so hält die Akte fest, zeigte er dem Arzt »seinen neuen Schnupftabak, mit getrocknetem Kot und Erde bereitet«. Forster überhöhte die von ihm gebrauchten Substanzen, sie sollten helfen zur Veredelung des Selbst. 1919 erklärte er dem Arzt, warum er seine Exkremente esse: Es gehe um die »Erhaltung des Lebens durch die Liebe«23. Auch für den Regensburger Direktor Karl Eisen (?-1943) besaß das Thema Kot eine fast übermächtige Präsenz, bedeutete doch seine mangelhafte Beseitigung ein deutlich wahrnehmbares Hemmnis für die Modernisierung der Anstalt. So beschäftigte man sich mit Plänen der Klosettierung und Kanalisierung als »Kardinalpunkten der Modernisierung«. 1926 war die »Männerseite« an die Kanalisation angeschlossen, bald darauf war »auch auf der Frauenseite das Werk vollendet«. Wenig später, wohl kein Zufall, verschwinden auch die Spuren des exzessiven Gebrauchs von Kot aus der Krankengeschichte Josef Forsters, den seine Schwester 1941 nach Hause holte und so vor der »Aktion T4« rettete.24

23 Die Krankengeschichte Josef Forsters ist erhalten im Bezirkskrankenhaus Regensburg. Eine Kopie befindet sich in Heidelberg in der Sammlung Prinzhorn, eine Edition liegt vor in: Röske, Thomas/Noell-Rumpeltes, Doris (Hg.): »…durch die Luft gehen«. Josef Forster, die Anstalt und die Kunst, Heidelberg: Wunderhorn 2011, S. 46-51, hier S. 48. 24 Vgl. Zierl, Fritz: Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt Regensburg 1852-1932, Regensburg: o. V. (Anstaltsdruck) 1932, S. 66, S. 114-115. Zur Alltags- und Patientengeschichte in Regensburg vgl. ausführlicher Rotzoll, Maike/Cording, Clemens: »Ora et labora! Zeichnende Patienten und andere Protagonisten in der Geschichte der Heilund Pflegeanstalt Karthaus-Prüll«, in: Röske/Noell-Rumpeltes, »…durch die Luft gehen« (2011), hier S. 153-158. Zur Geschichte der Regensburger Anstalt vgl. Cording, Clemens: Die Regensburger Heil- und Pflegeanstalt Karthaus-Prüll im »Dritten Reich«. Eine Studie zur Geschichte der Psychiatrie im Nationalsozialismus, Würzburg: Deutscher Wissenschafts-Verlag 2000. Zur Begründung von Forsters Entlassung hält die Krankengeschichte 1941 fest: »Seine Schwester bittet um Entlassung, da dieselbe sehr beunruhigt ist durch die Verlegung vieler Patienten in Reichsanstalten und ihr Neffe […] bereits verlegt wurde und kurz danach starb.« Vgl. Röske/NoellRumpeltes, »…durch die Luft gehen«, S. 51.

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Psychiatrische Institutionengeschichte kann, so zeigen es diese Beispiele, auch »von unten« geschrieben werden, ein Ansatz, der für die Medizingeschichte insgesamt seit den 1980er Jahren gefordert wird.25 Patientengeschichte hat sich auch in der Psychiatriegeschichte etabliert. Seit einigen Jahren hat sich hier ein eigenes Forschungsfeld mit besonderen quellenbedingten Schwierigkeiten entwickelt, dokumentieren diese Akten doch vorwiegend die ärztliche Sicht.26 Ein alltagsgeschichtlicher Zugang ist dabei nicht neu, ebenso wenig die Konzentration auf Patienten nicht als Objekte der »Macht« (im Sinne Michel Foucaults), sondern als handelnde Subjekte. Gerade in rezenten Studien wurden mit dem Blick auf Alltagspraktiken die Handlungsspielräume der als Akteure begriffenen Patienten ausgeleuchtet, sogar die Diagnosestellung als Aushandlungsprozess zwischen den Beteiligten verstanden. Dabei liegt der Schwerpunkt nicht selten

25 Porter, Roy: »The Patient’s View: Doing Medical History from Below«, in: Theory and Society 14 (1985), S. 175-198. Zum Thema Patientengeschichte vgl. folgende Überblicksdarstellungen: Wolff, Eberhard: »Perspectives on Patients’ History: Methodological Considerations on the Example of Recent German Speaking Literature«, in: Canadian Bulletin of Medical History 15 (1998), S. 207-228; Ernst, Katharina: »Patientengeschichte. Die kulturhistorische Wende in der Medizinhistoriographie«, in: Ralf Bröer (Hg.), Eine Wissenschaft emanzipiert sich. Die Medizinhistoriographie von der Aufklärung bis zur Postmoderne, Pfaffenweiler: Centaurus 1999, S. 97-108; Eckart, Wolfgang U./Jütte, Robert: Medizingeschichte. Eine Einführung, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2007, S. 181-190. Den Versuch, die Sichtweise der Patienten ins Zentrum der Forschung zu rücken, unternahm die Psychiatriegeschichte zeitverzögert gegenüber der übrigen Medizingeschichte, vgl. Meier, Marietta et al.: Zwang zur Ordnung. Psychiatrie im Kanton Zürich, 1870-1970, Zürich: Chronos 2007, S. 42. 26 So fanden beispielsweise im Institut für Geschichte der Medizin Berlin in den Jahren 2006 und 2007 zwei Werkstattgespräche zur Forschung an psychiatrischen Krankengeschichten statt. Vgl. die Tagungsberichte: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ tagungsberichte/id=1144 und http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/ id=1602 vom 9.4.2012, ebenso in Gießen 2009 der Workshop »Aushandlungsprozesse zur Grenzziehung von psychischer Gesundheit/Krankheit« (http://hsozkult.geschichte. hu-berlin.de/termine/id=12505 vom 3.4.2012. Als eine frühere Publikation zum Thema vgl. Sahmland, Irmtraud: »Das Anstaltsleben im Landeshospital Hofheim in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Einblicke und Einsichten anhand von Krankenakten«, in: Dies. et al. (Hg.): »Haltestation Philippshospital«. Ein psychiatrisches Zentrum. Kontinuität und Wandel 1535 – 1904 – 2004. Eine Festschrift zum 500. Geburtstag Philipps von Hessen, Marburg: Jonas 2004, S. 91-113.

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auf in Anstalten lebenden Frauen, und es wird eine qualitative Zugangsweise zu den Akten gewählt, sollen doch subjektive »Aneignungen« und »Praktiken« aufgespürt werden.27 Für einzelne psychiatrische Einrichtungen, die als exemplarisch gelten können, sind qualitative und quantitative Methoden miteinander kombiniert worden.28 Den Versuchen der Annäherung an die Welt psychiatrischer Institutionen innerhalb der »Grenzen der Anstalt«29 ist gemeinsam, dass die Binnensicht einschließlich der Interaktionen zwischen den beteiligten Akteuren aus den Krankengeschichten rekonstruiert werden soll, so »heterogene, vielstimmige, sich gegenseitig ergänzende, oft auch lückenhafte und widersprüchliche Dokumente« diese auch darstellen.30 Dies gilt auch für die alltagsgeschichtliche Annäherung

27 Nolte, Karen: Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900, Frankfurt a.M./New York: Campus 2003, hier bes. S. 8-9, 1719, 26-27, 314. Ihre Studie bezieht sich auf 90 aus 236 möglichen ausgewählte Akten von als hysterisch diagnostizierten Frauen in der Landesheilanstalt Marburg um 1900 (Auswahlkriterium war das Vorhandensein von Texten aller sozialer Akteurinnen – Patientin, Arzt und Angehörige); Ankele, Monika: Alltag und Aneignung in Psychiatrien um 1900.Selbstzeugnisse von Frauen aus der Sammlung Prinzhorn, Wien/ Köln/Weimar: Böhlau 2009, hier bes. S. 10, 19-27, 221-228. Ankele untersucht Krankenakten von 32 Patientinnen, von denen Werke in der Sammlung Prinzhorn aufbewahrt werden und von denen Krankengeschichten dort zugänglich sind. Die Fokussierung auf psychiatrisierte Frauen sieht sie nicht als Beschränkung, sondern als Ausdruck eines legitimen Forschungsinteresses, vgl. ebd. S. 24. Ein analoges Forschungsinteresse könnte man für männliche Psychiatriepatienten formulieren. 28 Wunder, Michael: Euthanasie in den letzten Kriegsjahren. Die Jahre 1944 und 1945 in der Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn, Husum: Matthiesen 1992; Beddies, Thomas/Dörries, Andrea (Hg.): Die Patienten der Wittenauer Heilstätten in Berlin 1919-1960, Husum: Matthiesen 1999; M. Meier et al.: Zwang zur Ordnung, hier v.a. S. 87-114; Braun, Salina: Heilung mit Defekt. Psychiatrische Praxis an den Anstalten Hofheim und Siegburg 1820-1878, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 29 So der Titel von Cornelia Brinks Studie. Aufgrund ihres Fokus’ auf die »Schwelle zur Anstalt« wird der »Alltag hinter den Mauern« nur am Rande thematisiert, vgl. C. Brink: Grenzen, hier S. 35. 30 M. Meier et al.: Zwang zur Ordnung, S. 91. Vgl. grundlegend zur Forschung mit Krankengeschichten Hoffmann-Richter, Ulrike/Finzen, Asmus: »Die Krankengeschichte als Quelle: Zur Nutzung der Krankengeschichte als Quelle für Wissenschaft und psychiatrischen Alltag«, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 11 (1998), S. 280-297.

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an die Akten der »T4«-Opfer. Daher sollen hier zunächst drei unterschiedliche Blickwinkel auf eine Krankengeschichte aus dem Bestand R 179 dargestellt werden. Abb. 2: Psychiatrische Verwaltungsakte Karl Ahrendt, Aktendeckel

Quelle: Bundesarchiv Berlin, R 179/5597.

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E IN L EBEN ZWISCHEN A KTENDECKELN . K ARL A HRENDT (1853-1941) Am 18. März 1941 starb Karl Ahrendt in der Bernburger Gaskammer.31 In die Stichprobe der 2933 »T4«-Opfer des Heidelberger DFG-Projektes32 wurde auch die Akte dieses Berliner Kutschers und Möbelpackers einbezogen, ein besonderes Krankendossier in mehrfacher Hinsicht. Die Akte fällt ins Auge, weil sie umfangreich ist und über mehrere Jahrzehnte Lebenszeit berichtet – doch trifft dies auch auf andere zu. Schon beim ersten Blick auf den abgegriffenen und ausgefransten, mit verschiedenen Stempeln, Beschriftungen und Streichungen versehenen Aktendeckel, der die noch unbekannten Dokumente mit der ihm eigenen altersfleckigen Materialität umhüllt33, zwingen die Daten zum Nachrechnen und

31 Die Krankenakte des am 12.10.1853 in Wesenberg Geborenen ist im Bundesarchiv Berlin, R 197/5597 erhalten. Den Nachweis der Ermordung in der Tötungsanstalt Bernburg verdanken wir der Leiterin der dortigen Gedenkstätte, Dr. Ute Hoffmann. Zu Karl Ahrendts Lebensgeschichte vgl. B. Brand-Claussen et al. (Hg.): Todesursache: Euthanasie, S. 18-27; Brand-Claussen, Bettina/Rotzoll, Maike: »Schikaniert und schaponiert. Karl Ahrendt, Kutscher ohne Gnadenbrot«, in: Rotzoll et al., Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4« (2010), S. 214-219. 32 Zur Konstruktion der Studie vgl. Hohendorf, Gerrit: Empirische Untersuchungen zur nationalsozialistischen »Euthanasie« bei psychisch Kranken. Mit Anmerkungen zu aktuellen ethischen Fragestellungen. Unveröffentlichte Habilitationsschrift, München 2008, S. 83-86. Ursprünglich wurden 3.002 Akten aus dem Bestand R 179 des Bundesarchivs Berlin einbezogen, 69 jedoch in diesem Rahmen nicht ausgewertet, da es sich bei den Patienten um Opfer der »Aktion Lange« in Ostpreußen handelte. Vgl. hierzu Topp, Sascha et al.: »Die Provinz Ostpreußen und die nationalsozialistische ›Euthanasie‹: SS-›Aktion Lange‹ und ›Aktion T4‹«, in: Medizinhistorisches Journal 43 (2008) S. 20-55; Topp, Sascha: »Krankentötungen in Ostpreußen: Ein Vergleich der ›Aktion Lange‹ und der ›Aktion T4‹«, in: Rotzoll et al., Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4« (2010), S. 169-174. An dieser Stelle sei den Mitgliedern des Forschungsteams gedankt: Gerrit Hohendorf, Petra Fuchs, Paul Richter, Annette Hinz-Wessels; Christine Dewitz, Philipp Rauh, Babette Reicherdt, Stephanie Schmitt, Sascha Topp und Nadin Zierau. 33 Bezogen auf Selbstzeugnisse aus dem psychiatrischen Anstaltskontext kam Monika Ankele zu dem Schluss, dass die »Materialität und Medialität unserer Forschungsobjekte« zu selten Raum in der historischen Analyse einnähme. Vgl. Ankele, Monika: »The Medium is a Message – Materialität als Text. Überlegungen zu zwei Selbst-

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Innehalten: Das Geburtsdatum Karl Ahrendts und das letzte Verlegungsdatum in die Zwischenanstalt Teupitz34 verraten, dass er im Alter von über 87 Jahren ermordet wurde. Öffnet man die Akte und durchblättert zunächst zahllose Verwaltungsnotizen, so stößt man auf schließlich erwartungsgemäß auf ärztliche Notizen, aber darüber hinaus auch auf Texte von eigenwilliger Diktion und Orthografie, sogar auf Zeichnungen von Karl Ahrendts Hand, also Egodokumente. Fokussiert man auf die Selektionskriterien, so lässt sich feststellen: Karl Ahrendt war tatsächlich der älteste Psychiatriepatient der »T4«-Stichprobe. Als schizophren Diagnostizierter gehörte er zu der Gruppe, die das höchste Risiko trug, der Selektion zum Opfer zu fallen. Die Akte dokumentiert zwar, dass er in den Jahrzehnten seines Anstaltslebens in verschiedenen Bereichen gearbeitet hatte, doch am Ende zählte nur der aktuelle ökonomische Nutzen – und nun galt Ahrendt nicht mehr als produktiver Arbeiter, wenn er auch weder als störend noch als gefährlich eingeschätzt wurde. Nach Teupitz verlegt erhielt er, im Unterschied zu den vorausgegangenen Jahrzehnten, keinen Besuch mehr. Typisches und Untypisches für die Opfer als Gruppe lässt sich mithin herausarbeiten. Öffnet man den Blick für diese besondere Lebensgeschichte, so wendet man sich bald den häufig rätselhaften Zeichnungen in der Akte zu, die mindestens ebenso zu beeindrucken vermögen wie weitere Zeichnungen von Ahrendts Hand, die ein Anstaltsdirektor um 1919 den Heidelberger Sammlern Prinzhorn und Wilmanns überlassen hatte. Als das Augenfälligste an Ahrendts Krankengeschichte im Vergleich zu anderen erscheint unter diesem Aspekt die Allgegenwärtigkeit des Zeichnens und Schreibens. Dabei sind Sichtweisen von Arzt und Patient dokumentiert: Der 54-jährige Patient war vor seiner Aufnahme nicht künstlerisch oder kunsthandwerklich tätig gewesen – als Ungeübter war er also ganz auf Prinzhorns Linie. Er gab seinen Blättern zumindest teilweise einen tieferen Sinn, zeichnete beispielsweise »einen Kopf, dessen Augen, Mund, Stirn usw. durch besondere Figuren oder Bilder dargestellt sind und an dem alles eine symbolische Bedeutung hat«.35 Karl Ahrendt interpretiere seine Zeichnungen »von Zeit zu Zeit dem Arzt religiös«36, schrieb der Berliner Arzt in die

zeugnissen aus der Sammlung Prinzhorn (1890-1920)«, in: Osten, Patientendokumente, S. 21-40, hier S. 25. Vgl. auch K. Nolte: Gelebte Hysterie, hier S. 23. 34 Schulze, Dietmar: »Die Landesanstalt Teupitz als Zwischenanstalt der ›Euthanasie‹Anstalt Bernburg 1940-1941«, in: Kristina Hübener (Hg.), Brandenburgische Heilund Pflegeanstalten in der NS-Zeit, Berlin: be.bra 2002, S. 195-206. 35 Bundesarchiv Berlin, R 197/5597, Eintrag 1921. 36 Ebd.: Eintrag 1914.

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Krankengeschichte, oder er versehe sie mit »wunderlichen Erklärungen«37. Der Psychiater seinerseits bezeichnete die Bilder als »phantastische ›katatone‹ Zeichnungen«38, ordnete sie also eindeutig der pathologischen Sphäre zu. Abb. 3: Zeichnung von Karl Ahrendt

Quelle: Sammlung Prinzhorn, Inv. Nr. 1180 recto.

37 Ebd.: Eintrag 1909. 38 Ebd.: Eintrag 1909.

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Diese zweite Lesart der Krankengeschichte betont einen gewissen Freiraum, den das Anstaltsleben ihm gewährte, die Chance, die Karl Ahrendt kreativ nutzte. Ob er jemals erfuhr, dass seine Zeichnungen des Aufbewahrens wert befunden wurden? Hans Prinzhorn hatte Ahrendt allerdings keineswegs zu den »schizophrenen Meistern« gezählt, sondern ihn nur am Rande erwähnt: Er habe »rein konventionelle[n] Symbole« in spielerischer und dekorativer Weise kombiniert39. Unabhängig von einem von außen gesetzten Wert seiner Werke dürften sie für den Zeichner selbst ganz andere Funktionen gehabt haben: als Gegenwelten zur ihn umgebenden Realität. Mögen manche seiner Zeichnungen auch düster wirken, so triumphiert auf ihnen doch häufig ein selbstbewusstes kleines Mondgesicht, Signet des Künstlers. Karl Ahrendt selbst nennt ein Motiv für seine kreative Selbstbehauptung in einem der zahlreichen Briefe, die der ärztlichen Krankengeschichte beiliegen. Gewohnt höflich formuliert er in seinen Neujahrswünschen (ausgerechnet) im Jahr 1933: »Ich vor meine wenigkeit halthe demnach immer das Menschliche dasein in mier selpst aufrecht«.40 Wie lange ihm das gelungen sein mag, fragt sich der Leser mit dem Wissen um das Ende der (Kranken-)Geschichte. Der künstlerische Freiraum, den Karl Ahrendt sich offenbar nehmen konnte, ist ein wichtiger Aspekt seiner individuellen Lebensgeschichte, aber nur ein Teil seines für 33 Jahre mit dem Alltag verschiedener Berliner und Brandenburger Institutionen untrennbar verknüpften Anstaltslebens. Die Interaktion zwischen Gesellschaft, Anstalt und Insassen, die drei Ebenen Gesellschaftsordnung, Anstaltsordnung und Ordnung des Selbst41, nimmt eine dritte Lesart der Akte in den Blick. Spuren des Alltagslebens vor Anstaltsaufnahme, um die Schwellensituation der Aufnahme herum und während des Lebens in der Anstalt werden hier – stets im Spiegel der Krankengeschichte – zum Thema. Bezogen auf die Akten der »T4«-Opfer, aber auch ihrer überlebenden Mitpatienten ist es ein Blick auf »gefährdetes Leben«. Jedoch soll das Wissen um die Selektion nicht Einsichten in eine »Anstaltsgeschichte von Innen« aus den Jahrzehnten vor dem Krankenmord verschließen. Zunächst stellt sich die Frage, warum Karl Ahrendt 1907 überhaupt Teil des Anstaltskosmos wurde – nach bereits 54 Jahren seines zuletzt in der Reichshauptstadt mit ihren vergleichsweise vielfältigen Möglichkeiten geführten

39 Prinzhorn, Hans: Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung, Berlin: Springer 1922, S. 114 (Abb. 70, »Fall« 66). 40 Bundesarchiv Berlin, R 197/5597, undatiertes Egodokument. Aus dem Text ist zu erschließen, dass dieser wahrscheinlich Neujahr 1933 entstanden ist. 41 M. Meier et al.: Zwang zur Ordnung, S. 36-40.

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Lebens. Hatte Widerständigkeit gegenüber Macht und Gesetz auch in seinem Fall dazu geführt, dass die Erinnerung an diesen gewöhnlichen Sterblichen überhaupt erhalten blieb, als Notiz in Akten von Polizei und »Irrenwesen«?42 Der größte Teil seiner Akte, die administrativen Unterlagen, erweckt zunächst nicht diesen Eindruck: Harmloses, Alltägliches, Banales scheint sich hier über die Jahrzehnte angehäuft zu haben auf weit über 100 Blättern, gegen die der ärztliche Teil der Akte erstaunlich schmal wirkt. Doch auch in Karl Ahrendts Akte stößt der Leser auf einen »Zusammenstoß mit der Macht« am Beginn der »Patientenkarriere«, auf ein 1907 ausgefülltes Formular der Polizei mit dem handschriftlich eingetragenen »ja« hinter dem aufgedruckten »ob gemeingefährlich?«. Ein Jahr nachdem es dem falschen Hauptmann von Köpenick gelungen war, in Offiziersuniform den Bürgermeister zu verhaften und die Stadtkasse an sich zu bringen, arretierte man Karl Ahrendt auf dem Berliner Alexanderplatz. Er trug nicht nur einen Generalsmantel, sondern fiel auch durch »verwirrtes Wesen« auf und löste einen »Menschenauflauf« aus – vielleicht, weil der Köpenicker Vorfall noch im Gedächtnis der Berliner präsent war. Die »Verwirrtheit« führte wohl dazu, dass man Karl Ahrendt nicht ins Gefängnis, sondern in eine andere »totale Institution«43, eine psychiatrische Anstalt, einlieferte. Das unberechtigte Tragen des Generalsmantels erregte im militaristischen Preußen Anstoß. In den Dokumenten rund um die Einweisung wird diese brisante Grenzverletzung jeweils zuerst genannt, nicht nur von der Polizei, sondern auch vom einweisenden Amtsarzt. Erst in zweiter Linie werden »Größenideen« genannt, als wahnhaft, aber wohl kaum als gemeingefährlich eingestufte Gedanken, von hoher Abstammung zu sein. Die, soweit aus der Akte erkennbar, einmalige Grenzüberschreitung in Form einer möglicherweise unfreiwilligen Karikatur der militaristisch geprägten Gesellschaft und die daraus folgende Psychiatrisierung setzten einen Prozess in Gang, der sich als unumkehrbar erwies. Obwohl Karl Ahrendt später im Wesentlichen als harmlos galt, wurde seinen zahlreichen Entlassungsgesuchen niemals stattgegeben.

42 Foucault, Michel: »Das Leben der infamen Menschen«, in: Michel Foucault, Dits et Ecrits. Schriften Bd. 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003 (franz. Orig. 1977), S. 309332. Vgl. Brand-Claussen, Bettina/Röske, Thomas: »Künstlerkarrieren und Anstaltskarrieren«, in: Bettina Brand-Claussen/Thomas Röske (Hg.), Künstler in der Irre, Heidelberg: Wunderhorn 2008, S. 13. 43 Der Begriff stammt aus Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972 (amerik. Orig. 1961).

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Als widerständiges Subjekt verschwindet Karl Ahrendt, dieser Eindruck drängt sich zunächst auf, zwischen den Seiten der Verwaltungsakte. Doch zwischen den bürokratischen Notizen der Anstalt findet sich ein unscheinbares und dennoch erstaunliches Dokument: ein von Ahrendt beschrifteter Briefumschlag ohne Inhalt, von anderen sorgfältig gelocht und konserviert. Eine Fundamentalkritik an der Anstaltsdirektion verbirgt sich in der Adresse »An der wohllöplichen Dicthatur-Direckjon hier zu Buch«, doch werden Etikette und Höflichkeit gewahrt. Reibung an den Grenzen der Anstaltsordnung führte offensichtlich zum Eingang in ihr Aufschreib- und Aufbewahrsystem. Abb. 4: Von Karl Ahrendt beschrifteter Umschlag, Verwaltungsakte

Quelle: Bundesarchiv Berlin, R 179/5597.

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Die formelhafte Freundlichkeit in ihrer Verknüpfung mit der Anschuldigung diktatorischen Verhaltens mag eigensinnig, unsinnig oder auch widersprüchlich und unlogisch wirken, sie gibt jedenfalls Einblick in »subjektive Aneignungen und Erfahrungen«44. Zudem zeigt das Aufbewahren des Dokuments, dass Karl Ahrendts Handeln nicht ohne Resonanz blieb. Der beschriftete Umschlag mit seiner eigenwilligen Orthografie und Diktion ist ein Beispiel für die »verschwindend kleinen alltäglichen Praktiken«, welche die Kreativität von Gruppen und Individuen annimmt, die von der »Überwachung« betroffen sind.45 Die Dominanz der ärztlichen Sichtweise in seinem Alltag, die sich nicht zuletzt durch die ärztlich abgefassten Krankengeschichten auf die historische Forschung auswirkt, bestätigt Karl Ahrendt in Wort und Bild und durchbricht sie zugleich. Die Dokumente in seiner Krankenakte ermöglichen einen Eindruck von Ahrendts Art der Interaktion mit der Institution: Der »General vom Alexanderplatz« verknüpfte höfische Etikette und Anstaltsalltag, reagierte als hohe Militärperson auf Umgebung und Zeitgeschichte46: So wurde er 1911 »sehr erregt, weil ihm sein Ordensband weggenommen werden sollte«. Im Ersten Weltkrieg trug Ahrendt »kleine Bänder und Medaillen, die er als hohe Orden« bezeichnete und verlangte, in das »Militärgarnisonlazarett« der Charité verlegt zu werden – dort werde sich alles aufklären, denn zu Unrecht fühlte er sich in der Psychiatrie festgehalten.47 Noch 1937 berichtet er mit ruhiger, stets »würdevoller« und »disziplinierter« Haltung ein neues Detail aus seiner militärgeprägten Vergangenheit: 1891 sei er für vier Tage tot gewesen, und man habe ihn damals »mit militärischen Ehren im Berliner Rathaus« aufgebahrt. In gewisser Hinsicht waren offenbar Würde und mehr noch Disziplin mit dem Anstaltsalltag vereinbar, bis

44 K. Nolte: Gelebte Hysterie, hier S. 19. 45 M. Ankele: Alltag und Aneignung, S. 62. Ankele bezieht sich hier auf Michel de Certeau und sein Buch »Kunst des Handelns« (auf Französisch 1980, auf Deutsch 1988 erschienen). 46 Zur Bedeutung von Zeitgeschichte für Anstaltspatienten vgl. Jagfeld, Monika: Outside in. Zeitgeschehen in Werken der Sammlung Prinzhorn am Beispiel von Rudolf Heinrichshofen, Weimar: VDG 2008. 47 Im Jahr 2014 wird eine Ausstellung der Sammlung Prinzhorn Resonanzen von Militarismus und Weltkrieg in Werken der Sammlung unter dem Titel »Uniform und Eigensinn. Militarismus, Weltkrieg und Kunst« in der Psychiatrie präsentieren.

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Karl Ahrendt von der tödlichen Bürokratie der »T4«-Zentrale erfasst – an zwei Orten füllte man Meldebögen für ihn aus – und schließlich in Bernburg ermordet wurde.48

Z WISCHEN S PIELRAUM UND S YMPTOM . Ä RZTLICH BEOBACHTETES V ERHALTEN UND H ANDLUNGEN VON P ATIENTEN Die Anstaltsordnung bietet also eine Reibungsfläche und einen Rahmen für die Handlungen der Patienten, deren Spuren wir noch in den Akten finden. Sie enthalten einerseits von Ärzten in festgelegten Kategorien beschriebenes Verhalten: Formulierungen können beispielsweise »mürrisch, aggressiv, abweisend, faul, sexuelle Annäherungsversuche bei den Mitpatienten« oder »geschwätzig, wehleidig, aufdringlich« lauten, oder auch »ruhig, versorgt sich selbst« sein. Andererseits, sozusagen quer dazu, enthalten die Akten Spuren von Handlungen der Insassen. Im Projekt zur Erforschung der »T4«-Akten wurden die ärztlichen Verhaltensbeschreibungen quantitativ untersucht, u.a. mithilfe linguistischer Vorgehensweisen. Bisherige linguistische Untersuchungen von psychiatrischen Krankengeschichten beziehen sich nicht explizit auf Verhaltensbeschreibungen. Kürzlich konnte auf der Basis von Krankengeschichten aus Gießen gezeigt werden, dass die »klinische Binnenkommunikation« der Psychiater mit Beginn des Nationalsozialismus keinen abrupten Wandel vollzog, wenn auch die Begriffe ideologisch aufgeladen wurden. Dabei spielten langfristigere Entwicklungen wie der »Aufstieg der psychologischen Typenlehre und/oder der Degenerationslehren« und als »markantestes Zeichen die Entindividualisierung zugunsten eines Aufbaus von Krankentypen« eine große Rolle.49 Die in der »T4«-Studie

48 Bundesarchiv Berlin, R 197/5597. Der erste Meldebogen wurde noch in Wuhlgarten, der zweite am 14.1.1941 in Teupitz ausgefüllt. Beide liegen als Abschriften vor. 49 Schuster, Britt-Marie: Auf dem Weg zur Fachsprache. Sprachliche Professionalisierung in der psychiatrischen Schreibpraxis (1800-1939), Berlin/New York: de Gruyter 2010, S. 429-430. Die Autorin zieht diese Schlüsse aufgrund der Untersuchung von 87 Krankenakten der Gießener Universitätspsychiatrie aus den Jahren 1897-1939 mit unterschiedlicher diagnostischer Zuordnung. Soziale Kategorisierungen untersuchte Tsapos, Nicolas: »Die Konstitution von Patientenbildern in Krankenakten betreuter Patientinnen der Anstalt Bethel 1898-1945«, in: Gisela Brünner/Elisabeth Gülich (Hg.), Krankheit verstehen: Interdisziplinäre Beiträge zur Sprache in Krankheitsdarstellungen, Bielefeld: Aisthesis 2002, S. 301-317. Ein Buch desselben Autors mit dem

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untersuchten Verhaltensbeschreibungen stammen aus den 1930er Jahren, die Ergebnisse sind aber somit wahrscheinlich ebenfalls in längerfristige Tendenzen einzuordnen. Die statistischen Ergebnisse können als Hintergrundfolie angesehen werden, um die qualitativ zu untersuchenden Beschreibungen einzelner Patientinnen und Patienten besser einordnen und damit verstehen zu können – ein Plädoyer also für die Kombination quantitativer und qualitativer Methodik bei der Analyse von Krankengeschichten. In die komplexe »Eigenwelt« der Anstalten mit ihren vielfältigen Beziehungen, Machtstrukturen und Handlungsspielräumen kann eine quantitative Untersuchung zwar nicht ausreichend tief eindringen, deshalb ist eine Ergänzung durch qualitative Ansätze sinnvoll und notwendig. Statistische Analysen erscheinen andererseits als Rahmen für Einzelfallstudien unabdingbar, kann doch ohne sie nicht entschieden werden, wofür der jeweilige Einzelfall steht. Auch bieten sie die Möglichkeit, anhand von Vergleichen einzelne Gruppen in den Blick zu nehmen, was beispielsweise für eine geschlechtergeschichtliche Perspektive Ansätze bietet. Es können aber auch Psychiatriepatienten verglichen werden, die entweder dauerhaft oder nur kurzzeitig hospitalisiert waren, in Heilanstalten oder aber Pflegeanstalten untergebracht waren, oder unterschiedlichen Gesellschaftsschichten angehörten. Kategorisiert man die aus den Akten der »T4«-Opfer und aus »T4«-Überlebenden der Vergleichsstichprobe gewonnenen Verhaltungsbeschreibungen nach Kriterien wie »gefährlich«, »störend« oder »angenehm«, so lässt sich feststellen, dass negativ bewertetes Verhalten als Selektionskriterium der »Aktion T4« gelten muss.50 Die linguistische Auswertung der Verhaltensbeschreibun-

Titel »Wie Frauen zu Patientinnen wurden: Soziale Kategorisierungen in psychiatrischen Krankenakten der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel (1898-1945)« ist für 2012 angekündigt. Nicht spezifisch mit der psychiatrischen Krankengeschichte befasst sich v. Burg, Engelina: Die schriftliche Arbeitssprache der Medizin. Eine linguistische Untersuchung am Beispiel der Krankengeschichte, Bern u.a.: Lang 1990 (zu allgemeinen Charakteristika der Krankengeschichte siehe S. 76-176). Grundsätzliche Überlegungen zu Verständigungsschwierigkeiten und Klassifikationen in der Psychiatrie ohne Analysen von Krankengeschichten oder andere historische Reflexionen bietet Feer, Hans: Die Sprache der Psychiatrie. Eine linguistische Untersuchung, Berlin u.a.: Springer 1987. 50 Rotzoll, Maike et al.: »›Unerträgliche Belästigung‹ als Todesurteil – Störendes Verhalten war Selektionskriterium der nationalsozialistischen ›Euthanasie-Aktion T4‹«, in: Kerbe 22 (2004), Heft 3, S. 32-34; P. Fuchs: Die Opfer als Gruppe, S. 66-67; M. Rotzoll: Wahnsinn und Kalkül, S. 280-282.

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gen51 belegt darüber hinaus, welche zentrale Rolle die Anpassung an die Anstaltsordnung für die beschreibenden Ärzte spielte. Nur in etwa 20% der Akten von Opfern und Überlebenden – bei den Frauen etwas darunter, bei den Männern etwas darüber – wurde diese zentrale Dimension nicht bewertet. Zur Dimension »Ordnung« dagegen, der man spontan ebenfalls einen großen Einfluss zuschreiben würde, nahmen die aktenführenden Ärzte in etwa 60% der Fälle gar nicht Stellung. Ein Einfluss des Kriteriums »Anpassung« auf die tödliche Selektion lässt sich ebenso nachweisen wie geschlechtsspezifische Unterschiede in der Bewertung52: So erhielten die Frauen unter den »T4«-Opfern zu fast 53%, die männlichen Opfer zu rund 46% eine negative Bewertung, die überlebenden Frauen bewertete man in knapp 44% als negativ, die männlichen Überlebenden dagegen »nur« in etwas weniger als 25%. Für die Dimension »Ordnung« ergibt sich abgesehen von der deutlich selteneren Erwähnung in der Krankengeschichte eine ähnliche Rangfolge: Am häufigsten negativ bewertet wurden die weiblichen Opfer mit rund 31%, dann die ermordeten Männer mit knapp 19%, die

51 Die ärztlichen Verhaltensbeschreibungen wurden zunächst EDV-basiert in einem Textfeld erfasst. Die Kategorisierung dieses Textfelds im Sinne einer differenzierten linguistischen Auswertung erfolgte in Kooperation mit Prof. Ulrike Haß, damals Abteilung Lexikologie und Lexikographie am Institut für Deutsche Sprache Mannheim (seit 2005 Lehrstuhl für Linguistik der deutschen Sprache, Universität DuisburgEssen), der an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Es wurden zunächst fünf Dimensionen gebildet, die bei der Verhaltensbeurteilung durch die Ärzte bedeutsam waren. Diese Dimensionen dürften Denkstereotypen entsprechen, welche die beschreibenden Ärzte im Laufe ihres Sozialisationsprozesses erworben hatten. Es handelt sich im Wesentlichen um den traditionellen Wertekanon der (bildungs-)bürgerlichen Schicht, der die meisten Ärzte entstammten. Die Bewertungsdimensionen ließen sich jedoch auch auf induktivem Weg aus den Krankengeschichten selbst erschließen. Berücksichtigt wurden die Dimensionen Sauberkeit/Ordnung, Sexualverhalten, Anpassung/Unterordnungsbereitschaft, Aktivitätsbereitschaft und Bereitschaft/Fähigkeit zur sozialen Interaktion. Zur linguistischen Stereotypenforschung vgl. das Kapitel »Interdisziplinärer Zugang zum Begriff des Stereotyps« aus Dabrowska, Jarochna: Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck im Polenbild der deutschen Presse. Eine textlinguistische Untersuchung, Tübingen: Narr 1999, S. 53-87. 52 Die hier kursorisch vorgestellten Ergebnisse beruhen auf der vorläufigen Auswertung von 435 Akten von Opfern und 222 Akten aus der Vergleichsstichprobe. Für jede der fünf Dimensionen wurde einzeln erhoben, ob in der Akte eine negative, eine positive, alternierende, neutrale oder gar keine Bewertung erfolgt war. Eine genauere Darstellung erfolgt in der Habilitationsschrift der Autorin.

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überlebenden Frauen mit rund 16% und schließlich die männlichen Überlebenden mit knapp fünf Prozent. Die Anforderungen an Frauen in den Anstalten bezüglich »Anpassung« und »Ordnung« waren also offensichtlich größer als die an ihre männlichen Mitpatienten. Weniger bedeutsam schien den Ärzten, ob die Patienten zur Interaktion bereit oder fähig waren: Hier erhielten 43% der Überlebenden und 47% der Opfer eine negative Bewertung – kein signifikanter Unterschied. Die Bereitschaft der Insassen zur Aktivität fiel vor allem zusammen mit der Arbeitsfähigkeit ins Gewicht: Bei 60% der Überlebenden wurde sie positiv eingeschätzt, dagegen nur bei 16% der Opfer. Eindrucksvoll zeigt sich, in welchem Maß Sexualität im Anstaltskontext tabuisiert und negativ belegt war: Falls sie überhaupt Erwähnung fand, dann in negativer Hinsicht, und dies bei vier bis fünf Prozent sowohl der Überlebenden als auch der Opfer. Mit dem Wissen um die Bedeutung von Ordnung und Anpassung in den Anstalten gerade für die dort lebenden Frauen erschließt sich beispielsweise die Schilderung des Verhaltens von Auguste Opel in einer tiefer gehenden Weise.53 Die nach Anstaltsaufnahme bald geschiedene Lebensmittelverkäuferin lebte mindestens 26 Jahre in sächsischen Anstalten, wohl ohne Kontakt zur Außenwelt. Ein einziges blasses Bild von ihr ist in der Sammlung Prinzhorn erhalten. Am 6. Dezember 1940 starb sie in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein. In ihren wechselnden Stimmungen war sie oftmals nicht angepasst: Oft zog sie sich für Wochen reizbar unter die Bettdecke zurück.54 Es konnte auch vorkommen, dass sie Bettzeug zerriss, sich mit Patientinnen und Personal »zankte«, spuckte und handgreiflich wurde. Andere Phasen waren von größerer Kooperativität gekennzeichnet. Dann gelang es auch, sie zur Arbeit anzuhalten. Was sie in den schwierigen Zeiten erlebte, lässt sich nur erahnen: »In der Nacht haben sie mich zweimal gemordet, […] ich kann das nicht mehr aushalten«, äußerte sie 1921. Jahre später sollte ihre Befürchtung Wirklichkeit werden.55

53 Rotzoll, Maike: »Auguste Opel – ›An die Vergangenheit hat sie nur eine ganz verschwommene Erinnerung‹«, in: Brand-Claussen et al., Todesursache: Euthanasie, S. 133-135. 54 Vgl. M. Ankele: Alltag und Aneignung, S. 152. 55 Hohendorf, Gerrit et al.: »Vom Wahn zur Wirklichkeit – Ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Forschungsprojekt analysiert Krankenakten von Opfern der ersten zentral organisierten Massenvernichtungsaktion im Nationalsozialismus«, in: Deutsches Ärzteblatt 100 (2003), S. A2626-2630.

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Abb. 5: Zeichnung von Auguste Opel

Quelle: Sammlung Prinzhorn, Inv. Nr. 3808.

»D ER S IEGESZUG DER S TERELATION «. W ILHELM W ERNER (1898-1940) Bevor der Krankenmord das Leben des Anstaltsinsassen gefährdete, wurde ihre leibliche Integrität durch die Zwangssterilisation bedroht. Zu diesem Thema gibt es kaum Egodokumente. Auch nach dem Krieg war die Traumatisierung bekanntlich häufig so groß, dass darüber nicht gesprochen oder gezeichnet werden konnte.56 Ein kleines Buch mit 44 Bleistiftzeichnungen über »Sterelation« hat Wilhelm Werner, ein Patient der unterfränkischen Anstalt Werneck, hinterlassen. Erst kürzlich wurden seine Zeichnungen öffentlich bekannt.57 1940 starb Werner in Pirna-Sonnenstein.58 Nichts lässt sich über seinen Anstaltsalltag aus ärztlicher

56 Westermann, Stefanie: Verschwiegenes Leid. Der Umgang mit den NS-Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik Deutschland, Köln u.a.: Böhlau 2010. 57 Seine Zeichnungen bewahrte ein ehemaliger Verwaltungsangestellter aus Werneck auf. So konnten sie 2008 und 2010 von der Heidelberger Sammlung Prinzhorn erworben werden. 58 Röske, Thomas/Rotzoll, Maike: »Doppeltes Opfer. Wilhelm Werner, der ›Siegeszug der Sterelation‹ und der Krankenmord im Nationalsozialismus«, in: Stefanie Westermann/Richard Kühl/Tim Ohnhäuser (Hg.), NS-»Euthanasie« und Erinnerung.

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Perspektive aussagen, denn Werners Krankengeschichte gehört nicht zu den im Bestand R 179 überlieferten Akten. Wenig konnte man ohne diese Akten aus seinem Leben vor der Anstaltsaufnahme rekonstruieren: Er stammte aus einer sozial stigmatisierten, in Nordheim am Main ansässigen »Armenhäuslerfamilie« (die deswegen anderweitig aktenkundig wurde) und war in Werneck nicht das erste Mal in einer psychiatrischen Institution.59 In der 1882 gegründeten Anstalt St. Josefshaus für Schwachsinnige in Gmünden hatte er als Kind oder Jugendlicher Zeichnen gelernt. Dies versetzte ihn in die Lage, seine Sicht auf eine zentrale Veränderung im Anstaltsalltag seit 1934 festzuhalten. In diesem Ausnahmefall kann also auch ohne Akte ein Versuch unternommen werden, die Sichtweise eines »T4«-Opfers auf die Psychiatrie der NS-Zeit zu rekonstruieren. Die Figuren in Werners Zeichnungen erinnern an Marionetten, da die Arme nur an einem Punkt an den stets voluminösen Körpern befestigt und die Hände oft schematisch wie Fäustlinge gestaltet sind. Abhängigkeit und das Gefühl des Ausgeliefertseins sind ein Thema dieser Zeichnung. Dies gilt auch für die Darstellung einer überdimensionierten Diakonisse und einer winzigen Clownspuppe, wobei letztere für Werner steht. Überhaupt werden Machtverhältnisse häufig durch Größenverhältnisse wiedergegeben. Die Ohnmacht der Opfer akzentuieren auch komplizierte Maschinen: Einmal erscheint ein Clownskopf eingeschlossen in eine Maschine, einmal tritt ein Apparat zwischen Ordensschwester und winzige Clownspuppe. Werner, der sich auch als »Volksredner und Theaterrekesör« bezeichnete, inszeniert häufig Begegnungen. Meist treten Ärzte und Pflegepersonal dem Opfer eines operativen Eingriffs gegenüber. Dabei erhalten Ärzte die Rolle von Beobachtern, während Ordensschwestern oder anonyme Hände an den Geschlechtsteilen der Betroffenen manipulieren. Die Sympathie Werners gehört

Vergangenheitsaufarbeitung – Gedenkformen – Betroffenenperspektiven, Berlin: LitVerlag 2011, S. 169-194. 59 Röske, Thomas/Rotzoll, Maike: »Wilhelm Werner – ›Siegeszug der Sterelation‹«, in: Bettina Brand-Claussen/Thomas Röske/Maike Rotzoll (Hg.), Todesursache: Euthanasie. Verdeckte Morde in der NS-Zeit, Heidelberg: Wunderhorn 22012 (im Erscheinen), S. 172-181. Wilhelm Werner wurde 1898 in Schniegling bei Nürnberg geboren. Bei seiner Anstaltsaufnahme 1919 wurde angegeben: katholisch, ledig und ohne Ausbildung. Bis 1940 bleib er in der Anstalt Werneck. Bei der plötzlichen Räumung der Anstalt Werneck im Oktober 1940 – sie wurde zu einem Umsiedlerlager umfunktioniert – wurde fast die Hälfte der Patienten direkt oder auf Umwegen in Tötungsanstalten der Vernichtungsaktion »T4« verlegt, darunter auch Wilhelm Werner. Vgl. Schmelter, Thomas: Nationalsozialistische Psychiatrie in Bayern: die Räumung der Heil- und Pflegeanstalten, Bergtheim: DWV 1999, hier S. 87.

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zweifellos den Opfern: Im Gegenüber zu den Tätern stellt er sie hilflos und bemitleidenswert dar. Besonders beeindrucken die runden Clowns, die zwar »lustig« gekleidet sind, aber mit ernstem Blick den Eingriff erdulden oder mit operativ entfernten Organen Kunststücke vorführen. Werners Zeichnungen kann man als eigene Form der Dokumentation der Zwangssterilisation als eines spezifischen Teils des NS-Anstaltsalltags lesen: Die Zusammenfassung in einem Büchlein offenbart, dass Werner die Patientensicht dokumentieren und überliefern wollte – was ihm letztlich, wenn auch fast 70 Jahre nach seinem Tod, gelungen ist. Abb. 6: Wilhelm Werner: Clownsfigur Nr. 1

Quelle: Sammlung Prinzhorn, Inv. Nr. 8083 (2008) fol. 1.

Malereien im Verwahrhaus Das Werk Julius Klingebiels (1904-1965) T HOMAS R ÖSKE

Im Göttinger Verwahrhaus, heute als »Festes Haus« eine Maßregelvollzugseinrichtung des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Moringen, sind die Wände einer 9,25 qm großen Zelle fast vollständig mit einer Vielzahl unterschiedlich großer Bilder, Figuren und Symbole bemalt (Abb. 1). Qualität und Komplexität der Ausgestaltung machen sie zu einem einzigartigen Werk sogenannter Outsider Art.1 Ihr Schöpfer, Julius Klingebiel (1904-1965), saß in den 1950er Jahren an diesem Ort ein. Obgleich man davon ausgehen kann, dass er Inhalten bildliche Gestalt gegeben hat, die ihm wichtig waren, ist das Werk bis heute rätselhaft, zumal Erläuterungen nicht überliefert sind. Hier soll zusammengefasst werden, was bislang über die außergewöhnliche Raumausstattung bekannt und erschlossen wurde. Ausgangspunkte liefern vor allem ein Aufsatz in einer volkskundlichen Fachzeitschrift von 19842, die Krankenakte aus der Heil- und Pflegeanstalt Wunstorf sowie Erinnerungen von Zeitzeugen.3 Außerdem haben sich Fotografien des Werkes seit den 1950er Jahren erhalten. Grund für das neuerliche 1

Siehe dazu zuletzt Maclagan, David: Outsider Art: From the Margins to the Marketplace, London: Reaktion Books 2009, und Russell, Charles: Groundwaters. A Century of Art by Self-taught and Outsider Artists, London/München/New York: Prestel 2011.

2

Wehse, Rainer: »Populäre Bilderwelt aus visueller Überlieferung. Wandmalereien eines Schizophrenen«, in: Volkskunst. Zeitschrift für volkstümliche Sachkultur, 7. Jg., Heft 2 (Mai 1984), S. 20-23.

3

Ich danke Dr. Dirk Hesse, Dr. Manfred Koller, Ehrhard Meyer, Dr. Raimond Reiter † und Prof. Dr. Andreas Spengler für Auskünfte über Fakten zum Leben Julius Klingebiels.

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Interesse ist die ungewisse Zukunft des »Festen Hauses« und damit der Klingebiel-Zelle. Eine Gruppe von Wissenschaftlern um Andreas Spengler, darunter der Autor, bereitet ein Buch über die Ausmalung der Zelle vor, das im nächsten Jahr erscheinen soll. Außerdem wird eine gute Reproduktion des gesamten Raumes in Originalgröße vorbereitet, um ihn auch andernorts vorstellen zu können.

B IOGRAFIE Julius Klingebiel wurde am 11. November 1904 in Hannover geboren4; von einer zeichnerischen Begabung ist nichts bekannt. Nach der Schule machte er eine Ausbildung zum Schlosser und arbeitete später beim Proviantamt der Wehrmacht. Seine Frau Luise, vormals Rosenberg, brachte einen Sohn aus erster Ehe in die Verbindung. Nach Aussage der Ehefrau neigte Klingebiel zu Zornesausbrüchen, etwa wenn er die Nachbarn durch die Zimmerdecke hörte. 1939, nach einer Phase von Überarbeitung und dem Ausbruch des Krieges, wurde sein Verhalten auffällig. Er fühlte sich verfolgt, meinte, sein Vater und seine Frau wollten ihn töten, und Erfindungen, derentwegen er dreifacher Doktor sei und mit dem Führer sprechen müsse, sollten ihm abgesprochen werden. Am 3. Oktober 1939 sagte Klingebiel seiner Frau: »Lieschen, mach nicht das Fenster auf, wir sind alle tot, und oben im Haus ist der Vater, der hat das gemacht, aber der wird es büssen.« Als der 13-jährige Sohn aus dem Garten kam, beschuldigte er ihn zu lügen und würgte ihn. Seine Frau, die helfen wollte, drohte er ebenfalls zu würgen. Daraufhin wurde er noch am selben Tag als »gemeingefährlich« in die Nervenklinik Langenhagen gebracht und am 28. Oktober 1939 mit der Diagnose »paranoide Schizophrenie« in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Wunstorf überstellt. Hier hörte er Stimmen seines Vaters und anderer von der Zimmerdecke, fühlte sich von dort beobachtet und bestrahlt. Zur Verhütung von »schweren geistigen Erbschäden« wurde Klingebiel am 26. Juli 1940 zwangssterilisiert. Wenig später, am

4

Stadtarchiv Hannover, EMK 341: Geburtsdatum des Melderegisters, später fälschlich mit 11.12.1904 in den Akten aufgeführt. Die Biografie folgt Angaben in der Wunstorfer Krankenakte Klingebiels im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann. 155 Wunstorf Acc. 2004/065 Nr. 00633. Die Göttinger Krankenakte ist vernichtet worden.

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9. August 1940, überführte man ihn, »im Interesse der Sicherheit der Kranken und des Personals« der Wunstorfer Anstalt, »ungeheilt« in das Göttinger Verwahrhaus.5 Abb. 1: Fensterwand der Zelle Julius Klingebiels, 2011

Quelle: © Maßregelvollzugszentrum Moringen. Foto: H. Starosta, Göttingen 2012.

5

Ebd.: Anordnung des Wunstorfer Direktors vom 9.8.1940.

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1940 kam es dort mit 95 Patienten zur höchsten Überbelegung von 175 Prozent. Bis zum August 1941 wurde das Haus jedoch mit drei »Verlegungen« vollständig geräumt – was für die meisten Tod im Rahmen der sogenannten »Euthanasie« bedeutete.6 Warum Klingebiel nicht zu den Opfern gehörte und wie lange er außerhalb des Verwahrungshauses untergebracht war, ist bis heute unklar. Spätestens Anfang der 1950er Jahre bezog er aber seine Zelle im ersten Obergeschoss des Hauses. Mit der Gestaltung der Wände begann der ehemalige Schlosser gegen den Widerstand der Ärzte und Pfleger. Mehrmals musste er Malereien wieder entfernen, bis man ihn endlich gewähren ließ und schließlich sogar aktiv unterstützte. Grund für das Entgegenkommen war wohl vor allem, dass Klingebiel, wegen seiner häufigen emotionalen Ausbrüche ein »schwieriger« Patient, ruhig und konzentriert war, wenn er an seinen Wandbildern arbeitete (Abb. 2). Tatsächlich soll er die Malerei als Arbeit aufgefasst und einmal sogar vier Wochen »Urlaub« davon genommen haben. Darin dürften sich damals vorherrschende Wertungen seines Umfeldes spiegeln.7 Eigentlich erwartete man von Psychiatriepatienten die Teilnahme an »arbeitstherapeutischen Maßnahmen« wie Tütenkleben. Dennoch in Anstalten entstehende Bilder und Zeichnungen wurden fast ausnahmslos vernichtet, künstlerische Tätigkeiten noch kaum wertgeschätzt. Ansätze dazu in den 1920er Jahren bei Walter Morgenthaler, Hans Prinzhorn und anderen Psychiatern8, nach NS-Zeit und Weltkrieg weitgehend vergessen, waren erst kurz zuvor wieder aufgenommen worden. Vor allem die Ausstellung »Psychopathological Art«, die

6

Kömen, Ursula: »›… warum ausgerechnet K. und R. für eine Verlegung nicht in Frage kommen …‹ – Die Heil- und Pflegeanstalt Göttingen: Rassenpolitik und innere Dynamik bei der Selektion der ›T4‹-Transporte«, in: Volker Zimmermann (Hg.), »Leiden verwehrt Vergessen« – Zwangsarbeiter in Göttingen und ihre medizinische Versorgung in den Universitätskliniken, Göttingen: Wallstein 2007, S. 55-80, hier S. 62 und S. 67-68. Opfer der »Verlegung« wurde auch Peter Zeiher, von dem Werke in der Heidelberger Sammlung Prinzhorn bewahrt werden, s. Röske, Thomas/Rotzoll, Maike: »Peter Zeiher – ›Von Unglück zu Unglück, und traf mich ins Herz, so daß ich den Untergang fand‹«, in: Bettina Brand-Claussen/Thomas Röske/Maike Rotzoll (Hg.), Todesursache: Euthanasie. Verdeckte Morde in der NS-Zeit, Heidelberg: Wunderhorn 22012 (im Erscheinen).

7

R. Wehse: Populäre Bilderwelt, S. 20.

8

Morgenthaler, Walter: Ein Geisteskranker als Künstler, Bern/Leipzig: E. Bircher 1921; Prinzhorn, Hans: Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung, Berlin: Springer 1922.

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1950 im Psychiatrischen Zentrum Sainte-Anne, Paris, anlässlich des ersten internationalen Psychiatrie-Kongresses eingerichtet worden war,9 hatte bei einigen, zumeist jungen Psychiatern die Aufmerksamkeit geweckt. In Göttingen zeigte immerhin einer der Oberärzte, Hemmo Müller-Suur (1911-2001), irgendwann in den 1950er Jahren Interesse an der Klingebiel-Zelle und machte die ersten fotografischen Aufnahmen davon.10 Abb. 2: Porträt Julius Klingebiels in seiner Zelle, um 1955, Fotografie

Quelle: © Asklepios Fachklinikum Göttingen, Krankenhausmuseum.

9

Siehe dazu den Ausstellungskatalog Psychopathological Art, International Congress of Psychiatry, Paris 1950, sowie Volmat, Robert: L’Art Psychopathologique, Paris: Presses Univ. de France 1956.

10 Sie befinden sich heute in der Sammlung Prinzhorn, Heidelberg.

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Woher Klingebiel Malmittel erhielt, ist unklar. Anfangs soll er mit Erden gemalt haben, später muss er von Pflegern mit Farben unterstützt worden sein. Mit ihnen sprach er oft über die Inhalte seines Werkes. Zweifellos folgte Kreativität auch hier, wie sicherlich häufiger bei Psychiatrieinsassen, dem Wunsch nach sinnvoller Tagesstrukturierung und nach Kommunikation.11 Klingebiel veränderte die Wandgestaltung, wie ein Vergleich der Fotografien Müller-Suurs mit dem heutigen Zustand belegt. Es haben sich zudem einige Blätter mit Malereien in Wasserfarben erhalten, die ganz ähnliche Motive wie die Wandbilder zeigen.12 Nach Berichten von Zeitzeugen13 hat Klingebiel etliche derartige Bilder geschaffen, verschenkt und möglicherweise veräußert. Klingebiels künstlerisches Schaffen endete 1961, nachdem man 1960 begonnen hatte, ihm eines der Neuroleptika zu verabreichen, die gerade neu eingeführt worden waren. Die allgemeine Beruhigung durch die Medikamente erlaubte im Oktober 1963, ihn auf die »Hofstation« zu verlegen, eine Langzeitstation der damaligen Göttinger Psychiatrie, zu der das Verwahrhaus gehörte. Am 26. Mai 1965 ist Julius Klingebiel in der Göttinger Universitätsklinik verstorben.14

D IE W ANDMALEREIEN Alle Wände der Zelle sind mit Malereien ausgefüllt, nur einen schmalen Streifen Wand unter der Decke ließ Klingebiel ebenso unbemalt wie die Decke selbst. Nachstreichen dieser Partien in jüngerer Zeit hat einige über die Begrenzung hinausragende Bildelemente verdeckt. Andere Partien wurden zerstört, als man nach Klingebiels Tod für eine Fußbodenheizung den Boden anhob und eine sanitäre Anlage installierte, um den Komfort für die Bewohner der Zelle zu erhöhen.

11 Siehe hierzu Röske, Thomas: »Erich Spießbach – Ein Ausbruch in Kreativität«, in: Stiftung Schloss Friedenstein Gotha (Hg.), »Der dreifach diplomierte Idiot«. Das Phänomen Erich Spießbach (Katalog zur Ausstellung in Historischen Museum Gotha 2012), Gotha 2012, S. 47-103. 12 Die meisten der wahrscheinlich auf 1961 datierbaren Blätter sind publiziert in: Spengler, Andreas/Neuenhausen, Siegfried/Schlieckau, Lothar (Hg.): Elementarkräfte. Schaffen und Werk psychiatrieerfahrener Künstler über 100 Jahre, Ausstellungskatalog Städtische Galerie KUBUS, Hannover/Bonn: Psychiatrie-Verlag 2010, S. 16-19. 13 Persönliche Mitteilung von Andreas Spengler 2012. Spengler führte 2011 im Rahmen des erwähnten Projekts Interviews mit Göttinger Pflegekräften. 14 Stadtarchiv Göttingen, Sterberegister (Recherche Raimond Reiter †).

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Zum Schutz der Malereien trug man irgendwann einen klaren Lack auf, dessen Glanz und Vergilbung den Eindruck des Werkes heute beeinträchtigt. An der Fensterwand hat Feuchtigkeit über die Jahre Teile der Malerei abblättern lassen. Trotzdem ist der Gesamteindruck des Vielgestaltigen und Vielfarbigen noch überwältigend – und damit eine wesentliche Absicht des Malers erfahrbar. Klingebiel hatte sich mit dem Bemalen der Wände den trostlosen kleinen Raum mit dem vergitterten Fenster nicht nur angeeignet und dabei die einsperrenden Wände für sich neu definiert; es war damit auch etwas Vorzeigbares entstanden, das andere in seiner Originalität und Komplexität staunen machte. Nicht selten wurden Besuchergruppen in diese Zelle geführt. In der Geschichte der Kunst von Psychiatrieinsassen gibt es wenig Vergleichbares. Die Sammlung Prinzhorn bewahrt das Foto einer Gestaltung aus dem Oktober 1906. Der ehemalige Schneider Gustav Otto Paterna (1870letztmals erwähnt Heidelberg 1906) hatte im Oktober 1906 in der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg eine Fülle von ausgeschnittenen Pressebildern und -texten zusammen mit Streifen aus Marginalspalten von Zeitungen zu einem hausartigen Gebilde mit Speichel auf die Wand geklebt.15 Am bekanntesten ist die »Sixtina« von August Walla (1936-2001) im Haus der Künstler auf dem Gelände der Österreichischen Landesanstalt Maria Gugging bei Wien. An ihr hat der Künstler von 1983 bis zu seinem Lebensende gearbeitet, Komposition und Bildinhalte unermüdlich verändernd.16 Wie wir aus Krankenakten wissen, drängten auch andere Anstaltsinsassen zu malerischer Aneignung ihrer nächsten Umgebung (getreu dem Sprichwort: »Narrenhände beschmieren Tisch und Wände«). Doch hat man sie selten gelassen. Bildschmuck wurde höchstens in den gemeinschaftlichen Tagesräumen Platz eingeräumt. Die klaren Wandabgrenzungen der Internierungsbereiche sollten für gewöhnlich nicht angetastet werden. Wir wissen nicht, welche Modelle Klingebiel für sein Werk im Sinn hatte. Wandgestaltung ist eine wesentliche Aufgabe der Malerei seit der Antike, sogar seit prähistorischer Zeit. Auch in den 1950er Jahren gab es zahlreiche namhafte Künstler, die sich dieser Aufgabe stellten, wie Max Ernst oder Joan Miró. Doch scheint der Insasse des Göttinger Verwahrhauses sich eher an oft reproduzierten

15 Fotografie, Sammlung Prinzhorn, Heidelberg, Inv. Nr. 1772/3. Vgl. Jádi, Inge (Hg.): Hans Prinzhorn und Arbeiten von Patienten der Heidelberger Klinik aus der Prinzhorn-Sammlung, Ausstellungskatalog, Heidelberg: Hemer 1986, S. 40. 16 Roth, Gerhard: »August Wallas Zimmer«, in: Weltenwandler. Die Kunst der Outsider, Ausstellungskatalog Schirn Kunsthalle Frankfurt a.M., Ostfildern: Hatje 2010, S. 171-174.

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klassischen Beispielen barocker Kunst orientiert zu haben, wie der Galleria Farnese in Rom, ausgemalt 1596-1608 von den Gebrüdern Caracci und ihrer Werkstatt. Wie hier mischte er zwei Arten der Wandgestaltung: eine illusionistische Malerei, welche die Wandfläche scheinbar negiert, und abgesetzte Bildfelder (Quadri Riportati), die vorgeben, gerahmte Tafelbilder oder Leinwandgemälde zu sein. Es ist allerdings keine übergreifende Ordnung zu erkennen, nur das Setzen von Schwerpunkten. Während die eine große Wand vor allem rechteckige Bildfelder zeigt (Abb. 4), wird die andere dominiert von einer ungegenständlichen, nahezu symmetrischen gerundeten Komposition mit einer verwirrenden Vielzahl kleiner Fahnen und Abzeichen, zwischen denen Figuren, Fahrzeuge und Waffen auftauchen (Abb. 3). Anregungen für die einzelnen Motive sind sicherlich eher in populärer Bildkultur als in der Kunstgeschichte zu suchen.17 Das erleichtert das Aufspüren subjektiven wie objektiven Sinns nicht. Trotzdem sollte man sich nicht vorschnell davon zurückziehen mit Verweis auf eine krankheitsbedingte »Verstehensgrenze« (Jaspers) und angebliche »Merkmale schizophrener Bildnerei« (Rennert, Navratil).18 Zudem ist zu bedenken, dass die Äußerungen von Anstaltsinsassen nicht nur an Erinnertes und Inhalte ihrer psychischen Ausnahmeerlebnisse anknüpfen, sondern oftmals auch auf ihre aktuelle Situation reagieren. Für alle bedeutete die Internierung als psychisch krank einen traumatisierenden Lebenseinschnitt. Auch Klingebiel dürfte sich durch seine Psychiatrisierung radikal entwertet gefühlt haben, nachdem er offenbar ohnehin schon unter einer übermächtigen Vaterfigur litt. So ist leicht nachzuvollziehen, dass es ihm in den kleinteiligen Partien seiner Malerei darum ging, sein Wissen über zeitgeschichtlich wichtige Personen und Ereignisse sowie seinen Erfindergeist auszubreiten und dafür eine eigenständige Ordnung zu schaffen. Sprechender Ausdruck dieser Haltung ist die große symmetrische Komposition, die an ein Zahnrad oder ein überdimensioniertes Steuerruder erinnert (Abb. 3). Man kann sich gut vorstellen, wie

17 So schon R. Wehse: Populäre Bilderwelten. 18 Zur Kritik an Leo Navratils Buch Schizophrenie und Kunst (1965) siehe Röske, Thomas: »Die Psychose als Künstler. Leo Navratils ›Schizophrenie und Kunst‹ – eine Kritik«, in: Georg Theunissen (Hg.), Außenseiter-Kunst. Außergewöhnliche Bildnereien von Menschen mit intellektuellen und psychischen Behinderungen, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2008, S. 103-117; zur Kritik an Helmut Rennerts Buch Merkmale schizophrener Bildnerei (1962) vgl. Röske, Thomas: »Zwischen Krankheitssymptom und Kunst – Werke von Psychiatrie-Erfahrenen«, in: Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie 25 (2012) (im Erscheinen).

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Klingebiel vor dieser Wandpartie Pfleger, Ärzte und seltene andere Besucher durch seine Bildwelt navigierte, die zahlreichen Zeichen und Symbole, Personen und technischen Geräte erläuternd. Demgegenüber zeigen die meisten gerahmten Bildfelder und großformatigen Figuren Idealisierungen, die leicht als Kompensation für die Beeinträchtigung von Klingebiels Selbstgefühl durch die erlittene Zwangssterilisierung und die Scheidung von seiner Frau (am 29. Mai 1941), die ihm auch das angenommene Kind entzog, zu erkennen sind. Die weiblichen »Porträts« soll der Maler selbst als Darstellung seiner »Nutten« bezeichnet haben, in einer typisch chauvinistischen Abwertung begehrter Weiblichkeit zum bloßen Sexualobjekt – sicherlich auch provoziert durch die Tatsache, dass das Publikum der Malereien zu Klingebiels Zeit wohl ausschließlich aus Männern bestand. Die dominierenden Hirschbilder (Abb. 4) lassen nicht nur an »Druckgraphik vom Typ ›Röhrender Abb. 3: Wand der Zelle Julius Klingebiels, 2011

Quelle: © Maßregelvollzugszentrum Moringen. Foto: H. Starosta, Göttingen 2012.

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Abb. 4: Wand der Zelle Julius Klingebiels, 2011

Quelle: © Maßregelvollzugszentrum Moringen. Foto: H. Starosta, Göttingen 2012.

Hirsch bei Sonnenuntergang vor Alpenkulisse‹« und Archetypen denken.19 In den meisten sind Böcke, Kühe und Kälber zu unterscheiden, also Familienverbände dargestellt. Auffällig ist das hypertrophe Geweih der meisten Böcke, das Überbetonen ihres männlichen Attributs. Manchmal laden die monströsen Verästelungen der Horngebilde so weit aus, dass ihre Struktur das Bild ornamental dominiert – eine originelle Feier von Virilität. Ein großer Hirschkopf neben der Tür (Abb. 5) trägt zusätzlich ein Kreuz auf dem Schädel; auf einer der Papierarbeiten krönen Geweih und Kreuz einen Kirchturm. Klingebiel war zwar evangelisch-lutherisch getauft, die Legende des Heiligen Hubertus, der durch einen Hirsch mit Kruzifix im Geweih bekehrt wurde, könnte ihm gleichwohl vertraut gewesen sein, sei es durch einen Schützenverein, sei es durch die Werbung für einen schon damals bekannten Kräuterlikör. Im Kontext der anderen Hirschbilder wirkt das Kreuz allerdings vor allem wie eine zusätzliche Erhöhung phallischer Macht.

19 R. Wehse: Populäre Bilderwelten, S. 23.

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Abb. 5: Türwand der Zelle Julius Klingebiels, 2011

Quelle: © Maßregelvollzugszentrum Moringen. Foto: H. Starosta, Göttingen 2012.

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Z USAMMENFASSUNG

UND

A USBLICK

Der ehemalige Schlosser Julius Klingebiel (1904-1965) hat in den 1950er Jahren seine Zelle im Göttinger Verwahrhaus auf beeindruckend eigenständige Weise ausgestaltet. Seine originellen, ästhetisch herausragenden Malereien geben Einblicke in seine Welt, die nicht nur aus Erinnerungen an sein Vorleben und seine psychischen Ausnahmeerfahrungen bestand, sondern zu der auch die Realität des zwangssterilisierten und lebenslänglich internierten Bewohners einer kaum zehn Quadratmeter messenden Zelle gehörte. Offenbar reagierte er wesentlich auf diese Lebenssituation, wenn er sich und anderen mit seinem Werk zeigte, dass er ein Mensch mit beeindruckendem Vorrat von Wissen und Phantasie war sowie ein Mann, der sich nach Potenz, Frauen und Familienglück sehnte. Die Malereien geben damit stellvertretend allen Leidensgenossen eine Stimme, mit denen die Gesellschaft damals nicht anders zu verfahren wusste. Deshalb ist es wichtig, ihre Kenntnis zu verbreiten und ihre Entwicklung, ihre Struktur und ihre Inhalte näher zu erforschen. Das zusammen mit Dirk Hesse, Manfred Koller, Erhard Meyer und Andreas Spengler geplante Buch und die Reproduktion in Originalgröße werden aber naturgemäß nur Annäherungen bieten können. Das Original ist unersetzlich. Es zu retten sollte keine Mühe gescheut werden, was auch immer mit dem »Festen Haus« geschieht.

»Die Erbschaft, die ich antrat, war sehr unerfreulich« Hadamar nach dem Krankenmord G EORG L ILIENTHAL

Die ehemalige Landesheilanstalt Hadamar diente im Rahmen des NSKrankenmords als eine Tötungsanstalt, in der 15.000 Menschen ermordet wurden.1 In einer ersten Mordphase starben zwischen Januar und August 1941 über 10.000 Menschen in der Gaskammer. Ihre Leichen wurden sofort verbrannt. In einer zweiten Phase von August 1942 bis zum Kriegsende im März 1945 verloren 4.500 Menschen ihr Leben. Sie wurden durch überdosierte Medikamente, Hungerkost und Vorenthaltung medizinischer Versorgung getötet. Ihre Leichen verscharrte man auf dem Anstaltsfriedhof in Massengräbern. Als US-Truppen am 26. März 1945 in Hadamar einmarschierten, befreiten sie die Stadt von der NS-Gewaltherrschaft und beendeten den Krankenmord in der Anstalt. »Ich habe die Anstalt am 3. Mai 1945 übernommen. Die Erbschaft, die ich antrat, war sehr unerfreulich. In der Anstalt herrschten mehr oder weniger chaotische Zustände.«2 Mit diesen Worten schilderte Dr. William Altvater, der erste ärztliche Direktor der Landesheilanstalt Hadamar nach dem Krieg, die Aufbauarbeit, die ihn erwartete. Bei Amtsantritt stand er vor den Trümmern einer auf Heilen und Vernichten ausgerichteten NS-Anstaltspolitik: Viele Patienten, die das Ende der NS-Gewaltherrschaft erlebt hatten, waren durch Hungerkost und

1

Lilienthal, Georg: »Gaskammer und Überdosis. Die Landesheilanstalt Hadamar als Mordzentrum (1941-1945)«, in: Uta George et al. (Hg.), Hadamar. Heilstätte – Tötungsanstalt – Therapiezentrum, Marburg: Jonas 2006, S. 156-175.

2

Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (=HHStA WI), Abt. 461/32061, Bd. 2, Bl. 64-65, Vernehmung von Dr. William Altvater am 19.2.1946.

200 | G EORG L ILIENTHAL

Vernachlässigung so geschwächt, dass ihre weiteren Überlebenschancen gering waren. Das Anstaltspersonal, voran Chefarzt Dr. Adolf Wahlmann und die Pflegekräfte, hatte seine ethische Pflicht zu Hilfe und Beistand dem einzelnen Kranken gegenüber aufgegeben zugunsten der Gesundung eines von Ideologen konstruierten »Volkskörpers«. Schließlich waren Gebäude und Einrichtungen der Anstalt durch Vernachlässigung teilweise bis zur Unbrauchbarkeit ruiniert. Wie gingen die Instanzen, die nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes für die Anstalt und ihre Bewohner Verantwortung trugen, die amerikanische Militärregierung in Hessen und der Bezirkskommunalverband Wiesbaden (vor 1945 Bezirksverband Nassau) als Träger der Landesheilanstalt Hadamar, mit den Folgen des Krankenmords um? Wie versuchte man, die ehemalige Tötungsanstalt wieder in eine Heil- und Pflegeanstalt zu verwandeln? Zwei Themen stehen bei der Beantwortung im Mittelpunkt: die Nachkriegssterblichkeit der Patienten und das Schicksal des Anstaltspersonals.

K RANKENSTAND UND S TERBERATEN IN DER L ANDESHEILANSTALT H ADAMAR 1945 Obwohl es inzwischen einige statistisch verwertbare Quellen gibt, ist es schwierig, für den genannten Zeitraum und besonders für das Jahr 1945 vergleichbare Zahlen zusammen zu erstellen. Dies liegt zum einen daran, dass das Geschäftsjahr im Bezirksverband vom 1. April bis zum 31. März des Folgejahres dauerte und entsprechend die Patientenbücher angelegt waren, während gedruckte Berichte aber Statistiken für das jeweilige Kalenderjahr lieferten, und zum anderen, dass nicht alle überlieferten Patientenbücher ein Geschäftsjahr abdecken. Franz-Werner Kersting, der erstmals die frühe Nachkriegsgeschichte der Landesheilanstalt Hadamar in den Blick nahm3, ermittelte auf der Grundlage eines gedruckten Verwaltungsberichtes des Anstaltsträgers, der den Krankenstand zum 1. Januar und die Zugänge eines jeden Jahres in einer Tabelle zusammenfasst4, die Sterberaten für die Jahre 1945 bis 1950. Demnach betrug die Sterberate 1945 12,2%, sank bis 1947 auf 3,7%, um allerdings bis 1949 wieder auf 7,4% anzusteigen.

3

Kersting, Franz-Werner: »Die Landesheilanstalt Hadamar in den ersten Nachkriegs-

4

Landesheilanstalt Hadamar, in: Bericht über die Verwaltung des Kommunalverbandes

jahren«, in: George et al., Hadamar (2006), S. 327-343. des Regierungsbezirks Wiesbaden 1950, Wiesbaden 1951, S. 27-28, hier S. 28.

H ADAMAR

NACH DEM

K RANKENMORD

| 201

Tab. 1: Krankenstand und Sterberaten in der Landesheilanstalt Hadamar 1945-19505 Jahr

Krankenstand am 1. Januar

Zugänge

Gesamtkrankenzahl

Sterbefälle

Sterberate (%)

1945

381

36

417

51

12,2

1946

250

110

360

12

3,3

1947

195

182

377

14

3,7

1948

337

97

434

31

7,1

1949

314

185

499

37

7,4

1950

382

129

511

27

5,3

Fragwürdig erscheint Kersting jedoch das Ergebnis für das Jahr 1945: Für den 1. Januar 1945 nennt der Bericht einen Bestand von 381 Patienten und an Zugängen bis zum 31. Dezember 1945 36 Patienten. Bei einer Gesamtzahl von 417 Patienten und insgesamt 51 zwischen Januar und Dezember erfolgten Sterbefällen ergibt sich daraus eine Sterberate von 12,2% für das gesamte Jahr 1945. Kersting macht darauf aufmerksam, dass die Morde der ersten drei Monate, als Hadamar noch eine Tötungsanstalt war, »ganz offensichtlich« »nicht (hinreichend) berücksichtigt« seien.6 Er beruft sich dabei auf Heinz Faulstich, der bereits für Januar bis März 1945 eine Sterblichkeit von 52,2% berechnet hatte.7 Der von Kersting herangezogene Verwaltungsbericht differenziert also für das Jahr 1945 nicht zwischen der dreimonatigen Phase Hadamars als Tötungsanstalt und den neun Monaten nach Kriegsende. Diese Unterscheidung muss aber vorgenommen werden, will man zu einer historisch korrekten Beurteilung gelangen. Inzwischen sind einige Patientenbücher8 aufgetaucht, deren Daten in 5

Landesheilanstalt Hadamar, in: Bericht über die Verwaltung des Kommunalverbandes des Regierungsbezirks Wiesbaden 1950, Wiesbaden 1951, S. 27-28, hier S. 28 mit der Berechnung der Sterberaten bei F.-W. Kersting: Landesheilanstalt, S. 334, Tabelle 1.

6

F.-W. Kersting: Landesheilanstalt, S. 334.

7

Faulstich, Heinz: Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1949. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie, Freiburg: Lambertus 1998, S. 544. Seine Angaben beruhen auf der »Verlegungsstatistik 2« in: Dorothee Roer/Dieter Henkel (Hg.), Psychiatrie im Faschismus. Die Anstalt Hadamar 1933-1945, Frankfurt a.M.: Mabuse 21996, S. 369372, die ihrerseits auf diversen Patientenbüchern beruht, die summarisch aber nicht einzeln vermerkt werden.

8

Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen (LWV-Archiv), Bestand (Best.) 12 (Hadamar),

Außenstelle

Gedenkstätte

Hadamar:

Hauptkrankenbuch

1944/45,

202 | G EORG L ILIENTHAL

die Opferdatenbank der Gedenkstätte Hadamar eingearbeitet wurden. Mit ihrer Hilfe lassen sich die Patientenzahlen für das erste Vierteljahr ermitteln. Demnach hielten sich am 1. Januar 1945 in der Tötungsanstalt 576 Patienten auf. Bis zum 31. März wurden 245 Patienten zusätzlich aufgenommen. In demselben Zeitraum wurden 431 Patienten ermordet. Dies entspricht einer Sterblichkeitsrate von 52,5%. Nachdem bis Ende März 1945 drei Patienten entlassen worden und sechs entwichen waren, befanden sich am 1. April 1945 noch 381 Patienten in der Anstalt. Nach dem Hauptkrankenbuch 1945-46 der Landesheilanstalt Hadamar wurden vom 1. April bis 31. Dezember 1945 35 Patienten aufgenommen, so dass die Gesamtkrankenzahl 416 Patienten betrug. Bei 51 Sterbefällen in demselben Zeitraum ergibt sich eine Sterberate von 12,3%. Ein Vergleich der von Kersting und hier ermittelten Zahlen zeigt, dass die Verwaltung des Bezirkskommunalverbandes Wiesbaden die ersten drei Monate des Jahres 1945 mit der hohen Sterberate der Tötungsanstalt unterschlug und die folgenden neun Monate mit der deutlich niedrigeren Sterberate für das gesamte Jahr 1945 ausgab. Tab. 2: Krankenstand und Sterberaten in der Landesheilanstalt Hadamar 1945 Jahr

Krankenstand

Zugänge

Gesamtkrankenzahl

Sterbefälle

Sterberate (%)

1.1.19459 (bis 31.3.1945)

576

245

821

431

52,5

1.4.194510 (bis 31.12.1945)

381

35

416

51

12,3

Sterbeverzeichnis 1944/45, Alphabetisches Verzeichnis 1944/45, Hauptkrankenbuch 1945/46,

Sterbeverzeichnis

1945/46,

Alphabetisches

Verzeichnis

1945-1950,

Sterbeverzeichnis 1945-1980. 9

Abfrage der Opferdatenbank der Gedenkstätte Hadamar.

10 Abfrage der Opferdatenbank der Gedenkstätte Hadamar; LWV-Archiv, Best. 12 (Hadamar), Außenstelle Gedenkstätte Hadamar: Hauptkrankenbuch 1945/46, Sterbeverzeichnis 1945-1980.

H ADAMAR

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K RANKENMORD

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Sterberate der Heilanstalt Hadamar im Vergleich Wie außergewöhnlich die Abnahme der Sterblichkeit der Landesheilanstalt Hadamar in den Jahren 1945 bis 1950 war, veranschaulicht ein Vergleich mit den vier Besatzungszonen. Faulstich stellt sie in einer Tabelle zusammen. Danach war die Sterblichkeit in den Anstalten anfangs noch sehr hoch. Erst 1947/48 sank sie auf Friedensniveau. Abb. 1: Durchschnitt der Sterberaten in den Anstalten der vier Besatzungszonen 1945-1949

Quelle: H. Faulstich: Hungersterben, S. 713.

204 | G EORG L ILIENTHAL

Hadamar stellte nicht nur innerhalb der amerikanischen Zone, sondern auch innerhalb des Bezirkskommunalverbandes Wiesbaden eine Ausnahme dar. Von den vier Landesheilanstalten des Bezirkskommunalverbandes kann nur Eichberg zum Vergleich herangezogen werden, da die beiden anderen für die frühen Nachkriegsjahre ausfielen. Die Patienten in Herborn mussten 1941 einem Wehrmachtlazarett weichen. Sie kehrten erst allmählich wieder zurück. Ihre Anzahl stieg von 301 am 1. April 1945 auf 845 am 1. Januar 1948.11 Auch in Weilmünster wurden die meisten Anstaltsbetten für ein Lazarett geräumt. Bei Kriegsende lebten noch ca. 400 Psychiatriepatienten in der Einrichtung.12 Nachdem in ihren Mauern 1946 ein Kindersanatorium gegründet worden war, gab es in Weilmünster für die nächsten Jahre nur noch wenige Häuser mit psychiatrischen Abteilungen.13

S TERBERATEN IN DEN L ANDESHEILANSTALTEN H ADAMAR UND E ICHBERG Nur der Eichberg blieb über das Kriegsende hinaus Heil- und Pflegeanstalt, weshalb sie sich zum Vergleich mit Hadamar anbietet. Kersting, dem keine durchgängigen Zahlen für den Eichberg vorlagen, musste sich mit indirekten Zitaten aus einer Nachkriegs-»Chronik des Psychiatrischen Krankenhauses Eichberg« begnügen. Darin heißt es, dass es in der Anstalt Eichberg im Rechnungsjahr 1945/46 497 Sterbefälle gegeben habe, was einer Sterberate von 38% entsprochen habe. Sie sei 1946/47 mit 214 Sterbefällen auf 16,5% gesunken.14

11 Grundmann, Kornelia: »›[…] Von den Vorgängen in Hadamar hatten wir keine offizielle Kenntnis […]‹. Der Neuanfang in der Nachkriegszeit und die Entnazifizierung des Herborner Anstaltspersonals«, in: Christina Vanja (Hg.), 100 Jahre Psychiatrie in Herborn. Rückblick, Einblick, Ausblick, Marburg: Jonas 2011, S. 169-188, hier S. 170-172. 12 Nassauisches Kindersanatorium Weilmünster, in: Bericht über die Verwaltung des Kommunalverbandes des Regierungsbezirks Wiesbaden 1948 und 1949, Wiesbaden 1950, S. 57-61, hier S. 57. 13 Sandner, Peter: »Die Landesheilanstalt Weilmünster im Nationalsozialismus«, in: Christina Vanja (Hg.), Heilanstalt – Sanatorium – Kliniken. 100 Jahre Krankenhaus Weilmünster 1897-1997, Kassel: LWV-Hessen 1997, S. 121-164, hier S. 152-153. 14 F.-W. Kersting: Landesheilanstalt, S. 329. Er übernimmt die Zahlen aus Stöffler, Friedrich: Die Psychiatrischen Krankenhäuser des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Bericht über die Fürsorge für psychisch Kranke im Bereich des Landes

H ADAMAR

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Im Bericht über die Landesheilanstalt Eichberg des Bezirkskommunalverbandes Wiesbaden von 195015 ist eine Tabelle über die »Krankenstandsbewegung (Landesheilanstalt)« abgedruckt. Sie offenbart etwas andere Verhältnisse: Hier werden nämlich für das Rechnungsjahr 1945/46 nur 368 Sterbefälle genannt, die einer errechneten Sterberate von 24,6% entsprechen. Sie nahm 1946/47 mit 147 Sterbefällen auf 10,8% ab. Die höheren Zahlen in der »Chronik« gehen vermutlich darauf zurück, dass sie die Todesfälle der Anstalt und des Ausweichkrankenhauses »Rheinhöhe«, das im Januar 1944 in Gebäuden der Anstalt Eichberg eingerichtet worden war16, zusammengezählte. Denn im Rechnungsjahr 1945/46 starben im Ausweichkrankenhaus 126 Patienten. Zusammen mit den 368 Todesfällen der Anstalt ergeben sie die Summe von 494 Verstorbenen. Für das Rechnungsjahr 1946/47 wurden im Ausweichkrankenhaus 67 Verstorbene gezählt, die mit den 147 Sterbefällen in der Anstalt wie in dem zitierten Anstaltsbericht zusammen 214 Tote ausmachen.17 Trotz der für die Anstalt Eichberg günstigeren Zahlen bleiben die unterschiedlichen Sterberaten in Hadamar von 12,3% (1945) und 3,3% (1946) zu Eichberg mit 24,6% (1945) und 10,8% (1946) erklärungsbedürftig.

Hessen in Vergangenheit und Gegenwart, Kassel: Meister 1957, S. 23. Kersting vermutet, dass die Chronik mit der von Faulstich: Hungersterben auf S. 690 und S. 694 zitierten übereinstimmt, die 1949 vom Nachkriegsdirektor des Eichbergs Dr. Wilhelm Hinsen begonnen wurde. Vgl. auch Faulstich, Heinz: »Der Eichberg in der Nachkriegszeit 1945 bis 1949«, in: Christina Vanja et al. (Hg.), Wissen und Irren. Psychiatriegeschichte aus zwei Jahrhunderten – Eberbach und Eichberg, Kassel: LWV-Hessen 1999, S. 244-258, hier S. 258, Anm. 2. 15 Landesheilanstalt Eichberg, in: Bericht über die Verwaltung des Kommunalverbandes des Regierungsbezirks Wiesbaden 1948 und 1949, Wiesbaden 1950, S. 44-46, hier S. 44. 16 Sandner, Peter: »Der Eichberg im Nationalsozialismus. Die Rolle einer Landesheilanstalt zwischen Psychiatrie, Gesundheitsverwaltung und Rassenpolitik«, in: Vanja et al., Wissen und Irren (1999), S. 164-220, hier S. 201. 17 Landesheilanstalt Eichberg, in: Bericht über die Verwaltung des Kommunalverbandes des Regierungsbezirks Wiesbaden 1948 und 1949, Wiesbaden 1950, S. 44-46, hier S. 44-45.

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Verpflegung in den Landesheilanstalten Hadamar und Eichberg Die Sterblichkeit von Anstaltspatienten war zu einem großen Teil abhängig von der Qualität und der Menge der Verpflegung. Dies gilt im besonderen Maße auch für die ersten Nachkriegsjahre. Faulstich, der sich auch der Ernährungslage auf dem Eichberg in den ersten Nachkriegsjahren gewidmet hat, führt das Hungern vor allem auf das Verhalten der deutschen Ernährungsämter zurück, die keine Rücksicht genommen hätten auf die besonderen Bedürfnisse der Anstaltspatienten, die nur mit knapper Not der Verfolgung des NS-Regimes entgangen seien.18 Während Direktor Altvater die Ernährung in der Landesheilanstalt Hadamar im Mai 1945 als »gut« bezeichnete19, stellte Direktor Dr. Wilhelm Hinsen in der Chronik rückblickend für den Eichberg fest: »Am schlimmsten aber war der Hunger«. Schuld daran seien die sogenannten Höchster Beschlüsse gewesen, die den Patienten von Heil- und Pflegeanstalten nur die Verpflegungssätze von Normalverbrauchern zugestanden hätten. Zwar gelang es dem ersten Eichberger Nachkriegsdirektor Dr. Otto Henkel »eine geringe Zusatzernährung« durchzusetzen. Doch sie wurde von den deutschen Ernährungsämtern nach »wenigen Wochen« wieder ersatzlos gestrichen.20 In Hadamar wurden dagegen die »Höchster Beschlüsse« von den amerikanischen Besatzungsbehörden außer Kraft gesetzt, indem sie die Ausgabe doppelter Lebensmittelrationen anordneten. Wie in Eichberg, so wurde auch in Hadamar die Zusatzverpflegung vom zuständigen Ernährungsamt alsbald wieder aufgehoben.21 Im Unterschied zu der für den Eichberg geltenden Regelung ordnete das Ernährungsamt Limburg/Lahn am 26. Mai 1945 zwar ebenfalls an, dass die Grundlage der Versorgung die Rationen von Normalverbrauchern zu sein habe, ergänzte aber: »Darüber hinaus werden alle die Lebensmittel zugeteilt«, die nach dem Gutachten des ärztlichen Direktors der Anstalt »für die ausreichende Ernährung der Anstaltsinsassen notwendig sind.«22

18 H. Faulstich: Eichberg, S. 248. 19 HHStA WI, Abt. 461/32061, Bd. 2, Bl. 64-65: Vernehmung von Dr. William Altvater am 19.2.1946. 20 H. Faulstich: Eichberg, S. 247-248. 21 HHStA WI, Abt. 461/32061, Bd. 2, Bl. 64-65, hier Bl. 64: Vernehmung von Dr. William Altvater am 19.2.1946. 22 LWV-Archiv, Best. 12 (Hadamar), Außenstelle Gedenkstätte Hadamar, Verwaltungsakten (VA) Nr. 660: Schreiben des Ernährungsamtes Limburg an den Direktor der Anstalt Hadamar vom 26.5.1945.

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Infolge der Streichung der Zulage stieg im folgenden halben Jahr die Sterblichkeit auf dem Eichberg so dramatisch an, dass der neue Direktor Hinsen im Dezember 1945 dem Landeshauptmann des Regierungsbezirks Wiesbaden ein Schreiben schickte, in dem er den Hunger und seine verheerenden Folgen für die Patienten schilderte und dringend um Essenszulagen bat. Offensichtlich gelang es, mit Hilfe der eingeschalteten amerikanischen Militärregierung die Ignoranz der deutschen Ernährungsbehörden zu überwinden. Ab 14. Januar 1946 konnten mit Zustimmung des zuständigen Ernährungsamtes zumindest für bestimmte Patientengruppen Zulagen ausgegeben werden.23 Daraufhin besserte sich vorübergehend die Ernährungslage, und die Sterblichkeit nahm um die Hälfte ab.24 Doch dann mussten wieder Rationskürzungen vorgenommen werden, die zu einem erneuten Anstieg der Sterbefälle führten.25 In derselben Zeit litten die Patienten in Hadamar keinen Hunger. Der Bericht des Rechnungsprüfungsamtes der Bezirkskommunalverwaltung in Wiesbaden stellte nach einer Prüfung der Anstalt im November 1945 fest, dass »das verabfolgte Essen […] schmackhaft zubereitet und ausreichend« war. Es wurde darauf hingewiesen, »dass die verausgabten Fleischrationen noch um ein Geringes höher waren, als die Mengen, die gemeinhin auf Lebensmittelkarten bezogen werden können.« Zudem seien in den vergangenen Monaten »Eier an die Anstaltsküche geliefert worden in einer Menge, die über die Zuweisungen auf Lebensmittelkarten der Bevölkerung hinausgeht.«26 Auf dem Eichberg besserte sich die Ernährung auf Dauer erst, als die Verfügung des Landesernährungsamtes in Frankfurt a.M. vom 10. Juli 1946 den Patienten von Heil- und Pflegeanstalten die gleichen Zulagen wie Patienten von »allgemeinen Krankenanstalten« gewährte. Das Kreisernährungsamt Limburg teilte daraufhin der Anstalt Hadamar am 16. Juli 1946 mit, »dass die Insassen der Heil- u. Pflegeanstalten ab 91. Zuteilungsperiode die Zulage für allgemeine Krankenanstalten erhalten, jedoch keine Zuteilung an Bohnenkaffee und Tee.«

23 H. Faulstich: Eichberg, S. 251. 24 Ebd.: S. 251-252. 25 Ebd.: S. 252. 26 LWV-Archiv, Best. 12 (Hadamar), Außenstelle Gedenkstätte Hadamar, VA Nr. 323.

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Tab. 3: Zulagen für Patienten der Landesheilanstalt Hadamar für die 91. Zuteilungsperiode (22.07.-18.08.1946) pro Tag und Kopf27 Fleisch

20

Gr.

Vollmilch

0,2

Ltr.

Butter

5

Gr.

Mehl

10

Gr.

andere Fette (Öl, Schmalz)

8

Gr.

Nährmittel

15

Gr.

oder Margarine

10

Gr.

Zucker

10

Gr.

Käse

20

Gr.

Marmelade

15

Gr.

oder Quark

40

Gr.

Eier

8,4

Stk. je Zuteilungsperiode

Für die 92. Zuteilungsperiode erhöhte das Landesernährungsamt nochmals deutlich die Rationierungen. Das Kreisernährungsamt Limburg informierte Hadamar über den Beschluss mit Schreiben vom 9. September 1946. Neben den Normalverbrauchersätzen sollten die Patienten an allgemeinen Krankenhäusern tägliche Zulagen erhalten, die auch für die Heil- und Pflegeanstalten galten. Die entsprechenden Zulagen für die Landesheilanstalt Hadamar sind aus folgender Tabelle ersichtlich. Tab. 4: Zulagen für Patienten der Landesheilanstalt Hadamar für die 92. Zuteilungsperiode (19.08.-15.09.1946) pro Tag und Kopf28 Brot

50

Gr.

Vollmilch

0,4

Ltr.

Fleisch

30

Gr.

Weizenmehl

20

Gr.

Fett

30

Gr.

Nährmittel

36

Gr.

Käse

20

Gr.

Marmelade

10

Gr.

Zucker

10

Gr.

Eier

8

Stk. monatl.

Kranke über 60 Jahren erhielten 100 g Brot zusätzlich zugesprochen.

27 LWV-Archiv, Best. 12 (Hadamar), Außenstelle Gedenkstätte Hadamar, VA Nr. 660: Schreiben des Ernährungsamtes Limburg an die Landesheil- und Pflegeanstalt Hadamar vom 16.7.1946. 28 LWV-Archiv, Best. 12 (Hadamar), Außenstelle Gedenkstätte Hadamar, VA Nr. 660: Schreiben des Ernährungsamtes Limburg an die Landesheil- und Pflegeanstalt Hadamar vom 9.9.1946.

H ADAMAR

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Nun sind die auf dem Papier gewährten Lebensmittelrationen und die Mengen, die Anstalten bzw. Patienten erhielten, nicht automatisch identisch. Direktor Hinsen berichtete, dass seiner Anstalt 1945 monatlich 1625 Liter Magermilch zugeteilt waren. Im November erhielt sie aber nur 785 Liter.29 Für Hadamar sind solche Probleme der tatsächlichen Zuteilung nicht überliefert. Wenn man den Berichten des Rechnungsprüfungsamtes der Bezirkskommunalverwaltung in Wiesbaden, z.B. auch dem vom 22. Oktober 1946, glauben darf, bekamen die Patienten die Rationen im vorgeschriebenen Umfang. So wird in dem Bericht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der »gesamte Fleischbedarf der Anstalt […] in guter Qualität durch Schlachtungen aus dem anstaltseigenen Viehbestand« gedeckt werde. Der Bericht fasste die Ernährungslage der Patienten in dem Satz zusammen: »Das verabfolgte Essen ist abwechslungsreich, gut zubereitet und ausreichend.«30 Damit wird die Frage der Selbstversorgung der Anstalten durch eigene Ländereien angesprochen. Die überlieferten Prüfberichte für Hadamar vermitteln den Eindruck, dass die landwirtschaftlichen Produkte alle von dem eigenen Hofgut Schnepfenhausen geliefert wurden. Im November 1945 betrug der Viehbestand 40 Stück Rindvieh, 56 Schweine und 54 Stück Geflügel.31 Faulstich spricht dieses Thema in seiner Untersuchung nicht an. Dabei hatte die Landesheilanstalt Eichberg ebenfalls eigene Ländereien. Beispielsweise zählte im Juli 1945 der Viehbestand 27 Stück Vieh, 57 Schweine und 96 Stück Geflügel.32 Der Grad der Eigenversorgung hing natürlich davon ab, in welchem Umfang eine Anstalt landwirtschaftliche Produkte abliefern musste. Eventuell waren auch auf diesem Gebiet die Verhältnisse für Hadamar günstiger.

29 H. Faulstich: Eichberg, S. 250. 30 LWV-Archiv, Best. 12 (Hadamar), Außenstelle Gedenkstätte Hadamar, VA Nr. 321 I, S. 2r. 31 LWV-Archiv, Best. 12 (Hadamar), Außenstelle Gedenkstätte Hadamar, VA Nr. 323, S. 5. 32 H. Faulstich: Eichberg, S. 245: Faksimile eines Schreibens der Landesheilanstalt Eichberg an den Regierungspräsidenten in Wiesbaden vom 19.7.1945.

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Krankenstände in den Landesheilanstalten Hadamar und Eichberg Beim Vergleich der Ernährungslage in den Anstalten Eichberg und Hadamar muss auch die Krankenbelegung berücksichtigt werden, denn wenige hundert Patienten lassen sich leichter ausreichend verpflegen als einige tausend. Auch wirkt sich eine Überbelegung negativ auf die Lebensbedingungen der Patienten aus. Die im Verwaltungsbericht des Bezirkskommunalverbandes Wiesbaden für 1950 veröffentlichte Statistik »Krankenstandsbewegung« für Hadamar vermerkt nur den Krankenstand zum jeweils 1. Januar. Aufgrund zusätzlicher Daten wird erkennbar, wie die Belegzahlen Schritt für Schritt zurückgingen, bis sie im Sommer 1946 mit 101 Patienten ihren Tiefpunkt erreichten. Dies war bedingt Tab. 5: Krankenstände und Sterberaten in der Landesheilanstalt Hadamar 1945-1950 Jahr

Krankenstand

Zugänge

Gesamtkrankenzahl

Sterbefälle

Sterberate (%)

01.01.194533 (bis 31.03.1945)

576

245

821

431

52,5

01.04.194534 (bis 31.12.1945)

381

35

416

51

12,3

01.06.194535

326

36

254

15.11.1945

33 Abfrage der Opferdatenbank der Gedenkstätte Hadamar. 34 Abfrage der Opferdatenbank der Gedenkstätte Hadamar; LWV-Archiv, Best. 12 (Hadamar), Außenstelle Gedenkstätte Hadamar: Hauptkrankenbuch 1945/46, Sterbeverzeichnis 1945-1980. 35 LWV-Archiv, Best. 12 (Hadamar), Außenstelle Gedenkstätte Hadamar, ehem. VA, Altakte Nr. 231 (Kopie): Kranken- und Personalstand am 1.5.1945. 36 LWV-Archiv, Best. 12 (Hadamar), Außenstelle Gedenkstätte Hadamar: VA Nr. 323: Rechnungsprüfungsamt der Bezirkskommunalverwaltung in Wiesbaden, Bericht über die Prüfung der Landesheilanstalt Hadamar in der Zeit vom 13. bis 15.11.1945, S. 1.

H ADAMAR

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Tab. 5 (Forts.): Krankenstände und Sterberaten in der Landesheilanstalt Hadamar 1945-1950 Jahr

Krankenstand

Zugänge

Gesamtkrankenzahl

Sterbefälle

Sterberate (%)

01.01.194637

250

110

360

12

3,3

38

01.04.1946

257

11.10.194639

171 182

377

14

3,7

01.01.194740

195

28.02.194741

223

01.01.194842

337

97

434

31

7,1

01.01.194943

314

185

499

37

7,4

01.01.195044

382

129

511

27

5,3

37 Bericht über die Verwaltung des Kommunalverbandes des Regierungsbezirks Wiesbaden 1950, Wiesbaden 1951, S. 27-28, hier S. 28. 38 LWV-Archiv, Best. 12 (Hadamar), Außenstelle Gedenkstätte Hadamar: Hauptkrankenbuch 1945/46. 39 LWV-Archiv, Best. 12 (Hadamar), Außenstelle Gedenkstätte Hadamar, VA Nr. 321 I: Rechnungsprüfungsamt der Bezirkskommunalverwaltung in Wiesbaden, Bericht über die unvermutete Kassen- und Wirtschaftsprüfung der Landesheilanstalt Hadamar am 9., 10. und 11.10.1946, S. 2. 40 Bericht über die Verwaltung des Kommunalverbandes des Regierungsbezirks Wiesbaden 1950, Wiesbaden 1951, S. 27-28, hier S. 28. 41 LWV-Archiv, Best. 12 (Hadamar), Außenstelle Gedenkstätte Hadamar, VA Nr. 321 I: Rechnungsprüfungsamt der Bezirkskommunalverwaltung in Wiesbaden, Bericht über die in der Zeit vom 26. bis 28.2.1947 erfolgte Prüfung in der Landesheilanstalt Hadamar, S. 1. 42 Bericht über die Verwaltung des Kommunalverbandes des Regierungsbezirks Wiesbaden 1950, Wiesbaden 1951, S. 27-28, hier S. 28. 43 Ebd. 44 Ebd.

212 | G EORG L ILIENTHAL

durch zahlreiche Entlassungen und Entweichungen von Patienten in den ersten Nachkriegsmonaten.45 Zugleich erfolgten Verlegungen in andere Anstalten des Bezirkskommunalverbandes. So wurden bis zum 7. Juni 1946 103 Frauen nach Weilmünster verlegt.46 Ab Herbst 1946 steigen die Zahlen wieder allmählich an auf 337 Patienten am 1. Januar 1948. Ein Blick auf die nachfolgende Tabelle zeigt, dass die Gesamtkrankenzahl der Anstalt Hadamar in den drei ersten Nachkriegsjahren nur etwas mehr als 40% der Gesamtkrankenzahl der Anstalt Eichberg betrug. Außerdem reduzierte Tab. 6: Krankenstände und Sterberaten in den Landesheilanstalten Hadamar (H) und Eichberg (E)1945-195047 Krankenstand

Zugänge

Gesamtkrankenzahl

Sterbefälle

Sterberate (%)

H

E

H

E

H

E

H

E

H

E

01.01.1945

576

890

281

645

857

1535

482

500

56,2

32,6

01.01.1946

250

547

110

616

360

1163

12

142

3,3

12,2

01.01.1947

195

657

182

502

377

1159

14

125

3,7

10,8

01.01.1948

337

661

97

497

434

1158

31

118

7,1

10,2

01.01.1949

314

654

185

467

499

1121

37

107

7,4

9,5

01.01.1950

382

691

129

417

511

1108

27

106

5,3

9,6

45 LWV-Archiv, Best. 12 (Hadamar), Außenstelle Gedenkstätte Hadamar: Alphabetisches Verzeichnis der Patienten 1.4.1945-31.3.1950. 46 LWV-Archiv, Best. 19 (Weilmünster), Außenstelle Gedenkstätte Hadamar, Nr. 16 (Kopie): Aufnahme- und Abgangsbuch 1941-1961 (Datenbankauswertung). 47 Landesheilanstalt Hadamar, in: Bericht über die Verwaltung des Kommunalverbandes des Regierungsbezirks Wiesbaden 1948 und 1949, Wiesbaden 1950, S. 44-46, hier S. 44. Landesheilanstalt Eichberg, in: Bericht über die Verwaltung des Kommunalverbandes des Regierungsbezirks Wiesbaden 1950, Wiesbaden 1951, S. 25-26, hier S. 25. Damit die Vergleichbarkeit für das gesamte Jahre 1945 gewahrt bleibt, wurden die Angaben für die Landesheilanstalt Hadamar zum 1.1.1945 und 1.4.1945 der Tabelle 2: Krankenstand und Sterberate der Landesheilanstalt Hadamar 1945 addiert.

H ADAMAR

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K RANKENMORD

| 213

sich die Gesamtkrankenzahl von 1945 bis 1947 in Hadamar um knapp 60%, während sie auf dem Eichberg nur um knapp 25% abnahm. Es ist von daher nachvollziehbar, dass die Ernährungsprobleme auf dem Eichberg schwieriger zu bekämpfen waren als in Hadamar. Fremdbelegungen in den Landesheilanstalten Hadamar und Eichberg Die Tabelle 6 spiegelt nicht die ganze Realität der Belegung in den beiden Anstalten der Nachkriegsjahre wieder. Denn nicht berücksichtigt ist die Nutzung von Anstaltsbetten durch fremde Einrichtungen für Menschen, die man infolge des Bombenkrieges aus ihren angestammten Heimen oder Krankenanstalten vertrieben hatte. Sie litten unter denselben gesundheitsgefährdenden Bedingungen wie die Stammpatienten. Auf dem Eichberg waren im »Ausweichkrankenhaus Rheinhöhe« meist ältere Patienten aus Frankfurt und Wiesbaden untergebracht.48 Ihr Anteil an der Gesamtbelegung auf dem Eichberg betrug in den Jahren 1945 bis 1950 zwischen 43 und 30 Prozent. Tab. 7: Krankenstände und Sterberaten in der Landesheilanstalt Eichberg (E) und in dem Ausweichkrankenhaus Rheinhöhe (R) 1945-195049 Gesamtkrankenzahl zum 31. Dezember

Sterbefälle bis 31. Dezember

Sterberate (%)

E

R

E

R

E

R

1945

1535

659

500

146

32,6

22,2

1946

1163

488

142

70

12,2

14,3

1947

1159

410

125

62

10,8

15,1

1948

1158

361

118

59

10,2

16,3

1949

1121

348

107

74

9,5

21,3

1950

1108

331

106

61

9,6

18,4

48 P. Sandner: Eichberg, S. 201. 49 Landesheilanstalt Eichberg, in: Bericht über die Verwaltung des Kommunalverbandes des Regierungsbezirks Wiesbaden 1950, Wiesbaden 1951, S. 25-26, hier S. 25.

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Bislang war unbekannt, dass auch die Landesheilanstalt Hadamar als Ausweichquartier diente.50 Im Frühjahr 1944 mussten über 350 Bewohner und Patienten aus Frankfurter Altersheimen und Krankenhäuser in die Landesheilanstalt Weilmünster übersiedeln.51 152 der Evakuierten wurden am 19. Februar 1945 nach Hadamar verlegt.52 Sie fanden Aufnahme im Altbau (ehemaliger Klosterbau) der Anstalt.53 Da sie nicht in die Patientenbücher der Landesheilanstalt Hadamar eingetragen wurden, haben sie kaum schriftliche Spuren hinterlassen. Im Bericht des Rechnungsprüfungsamtes vom 1. Juni 1945 wird erwähnt, dass sich außer 326 Patienten auch 137 »Siechen-Evakuierte« in Hadamar aufhielten.54 Am 15. November 1945 waren es noch 95 Evakuierte neben 254 Patienten.55 Es starben im gesamten Jahr 1945 54 Frankfurter Vertriebene, bis Ende März 1945 allein 25.56 Diese hohe Sterblichkeit in der Zeit der Tötungsanstalt lässt daran denken, dass sie nicht in jedem Fall eines natürlichen Todes starben. Durch die Anwesenheit der Evakuierten stellt sich die Belegung der Anstalt auch im anderen Licht dar, zumindest für das Jahr 1945. Der Krankenstand betrug demzufolge am 1. April 1945 508 Personen (381 Anstaltspatienten und 127 Evakuierte)57, am

50 F.-W. Kersting: Landesheilanstalt, S. 335 verweist darauf, dass die fehlende Kontinuität umfangreicher »Fremdbelegung« die Ernährungslage in Hadamar mit entlastet habe. 51 LWV-Archiv: Best. 19 (Weilmünster), Nr. 50: Aufnahmebuch »Verlagerte Kranke aus Frankfurt/M.« (20.3.1944-13.2.1945). Vgl. P. Sandner, Landesheilanstalt, S. 152. 52 Dieser Transport lässt sich rekonstruieren aus dem Verlegungsdatum 19.2.1945 in LWV-Archiv, Best. 19 (Weilmünster), Nr. 50: Aufnahmebuch »Verlagerte Kranke aus Frankfurt/M.« (20.3.1944-13.2.1945) Aufnahmebuch »Verlagerte Kranke aus Frankfurt/M.« (20.3.1944-13.2.1945), aus den Einträgen in der Anstalt Hadamar verstorbener Frankfurter Evakuierter im Sterbe-Zweitbuch 1945 des Standesamtes Hadamar, Kopie in Gedenkstätte Hadamar, und aus Rückverlegungen nach Weilmünster, eingetragen in LWV-Archiv, Best. 19 (Weilmünster), Nr. 16: Aufnahmebuch Frauen und Männer 1941-1961. 53 HHStA WI, Abt. 461/32061, Bd. 2, Bl. 18: Vernehmung von Hildegard Klein am 13.02.1946. 54 LWV-Archiv, Außenstelle Gedenkstätte Hadamar, Best. 12 (Hadamar), VA Nr. 321. 55 LWV-Archiv, Außenstelle Gedenkstätte Hadamar: Best. 12 (Hadamar), VA Nr. 323. 56 Sterbe-Zweitbuch 1945 des Standesamtes Hadamar, Kopie in Gedenkstätte Hadamar. 57 Abfrage Opferdatenbank der Gedenkstätte Hadamar.

H ADAMAR

NACH DEM

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| 215

1. Juni 1945 463 Personen (326 Anstaltspatienten und 137 Evakuierte)58 und am 15. November 1945 349 Personen (254 Anstaltspatienten und 95 Evakuierte)59. Die anhaltend überhöhte Sterblichkeit in den Anstalten Hadamar und Eichberg nach Kriegsende belegt – wenn auch auf unterschiedlichem Niveau –, dass die Zuteilung von Normalverpflegung für die Patienten nicht ausreichte, um den in der NS-Zeit erlittenen Kräfteverlust auszugleichen. Nur mit der dauerhaften Gewährung von Krankenkost und Zusatzrationen wie in Hadamar hatten die Patienten eine Chance, die ersten Nachkriegsjahre zu überleben. Zukünftig zu klären wäre in diesem Zusammenhang die genaue Rolle der deutschen Ernährungsämter und der amerikanischen Besatzungsmacht, ihr Einfluss auf Leben und Sterben der Anstaltspatienten und der Evakuierten.

A NSTALTSPERSONAL IN DER L ANDESHEILANSTALT H ADAMAR Kurz vor Kriegsende bestand das Personal der Landesheilanstalt aus 36 Personen, einschließlich des Chefarztes Dr. Adolf Wahlmann und des Wirtschaftsleiters Alfons Klein.60 Bis auf zwei Fälle konnten ihre Schicksale in den ersten Wochen und Monaten nach dem Kriegsende geklärt werden. Als die amerikanischen Truppen am 26. März 1946 in Hadamar einrückten, war Klein untergetaucht61, der Oberpfleger Heinrich Ruoff am 15. März 1945 zum Volkssturm einberufen worden und eine Pflegerin am 14. März zu ihren Eltern nach Neuisenburg geflüchtet. Es ist davon auszugehen, dass die US-Militärbehörden über die Existenz einer Tötungsanstalt in Hadamar unterrichtet waren, bevor sie in die Fürstenstadt einrückten, denn Dr. Wahlmann wurde nach wenigen Tagen am

58 LWV-Archiv, Best. 12 (Hadamar), Außenstelle Gedenkstätte Hadamar, ehem. VA, Altakte Nr. 231 (Kopie): Kranken- und Personalstand am 1. Juni 1945. 59 LWV-Archiv, Best. 12 (Hadamar), Außenstelle Gedenkstätte Hadamar: VA Nr. 323: Rechnungsprüfungsamt der Bezirkskommunalverwaltung in Wiesbaden, Bericht über die Prüfung der Landesheilanstalt Hadamar in der Zeit vom 13. bis 15. November 1945, S. 1. 60 LWV-Archiv, Best. 12 (Hadamar), Außenstelle Gedenkstätte Hadamar, ehem. VA, Altakte Nr. 231 (Kopie): Entwurf einer Aufstellung des Personalbestandes vom 01.03.1945. 61 Er wurde von den Amerikanern am 7.8.1945 in Aschaffenburg verhaftet. Vgl. Sandner, Peter: Verwaltung des Krankenmordes. Der Bezirksverband Nassau im Nationalsozialismus, Gießen: Psychosozial-Verlag 2003, S. 733.

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29. März 1945 verhaftet62, der stellvertretende Oberpfleger Karl Willig spätestens am 1. April63. Gleichzeitig nahm ein amerikanisches Untersuchungsteam mit einem Pathologen Anfang April seine Arbeit auf. Fotos und Filmaufnahmen wurden zu Dokumentationszwecken gemacht, Personal und Patienten verhört und auf dem Anstaltsfriedhof zwölf Leichen von Opfern exhumiert. Denn die amerikanische Militärregierung bereitete einen Kriegsverbrecherprozess gegen das Personal vor wegen der Ermordung von ca. 600 polnischen und sowjetischen Zwangsarbeitern sowie französischen und italienischen »Fremdarbeitern«. Im Zuge der Ermittlungen verhafteten die US-Militärbehörden von dem in Hadamar tätigen Personal bis zum Sommer 1945 noch sechs weitere Personen. Sechs wurden auf ihre Anordnung hin von der Bezirkskommunalverwaltung bis Juli bzw. Oktober 1945 entlassen. Fünf Männer und Frauen verließen die Anstalt bis Juli 1945 ohne erkennbaren Grund. Die übrigen zwölf versahen ihren Dienst noch im Dezember 1945. Von ihnen waren allein fünf Pflegerinnen erst am 19. Februar 1945 von Weilmünster nach Hadamar versetzt worden. Sie hatten den oben beschriebenen Transport von 152 Evakuierten nach Hadamar begleitet.64 Unter den 19 Angestellten, die bis Sommer 1945 freiwillig oder gezwungenermaßen die Anstalt Hadamar verließen, waren zehn Pflegerinnen, zwei Pfleger und Dr. Wahlmann. Die übrigen waren Verwaltungsangestellte, technisches Personal oder Handwerker. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass der Bezirkskommunalverband Wiesbaden auf Anordnung der amerikanischen Militärregierung auch Personal entließ, das bis dahin formal noch angestellt war, aber bei Kriegsende keinen Dienst mehr in der Anstalt leistete. Die Entlassung betraf hauptsächlich Männer, die zum Wehrdienst eingezogen worden waren und sich jetzt in Kriegsgefangenschaft befanden. Die amerikanische Besatzungsbehörde war anscheinend von Anfang an bestrebt, die ärztliche Versorgung und wenig später auch die Leitung der Anstalt weitestgehend in deutscher Hand zu belassen. Nachdem sie Dr. Wahlmann im März verhaftet hatte, ordnete sie für kurze Zeit zwei niedergelassene Ärzte,

62 LWV-Archiv: Best. 100, Pers.-Akte Wahlmann, Adolf: Vermerk v. 21.8.1945; Abschrift Personalakte Wahlmann, S. 28 63 National Archives and Record Administration, Washington D. C., M-1078, Roll 1, Bl. 536 (Standort Bundesarchiv Koblenz, All. Proz. 7): Vernehmung von Karl Willig am 10.4.1945, in der er bestätigte, am 1.4.1945 eine eidesstattliche Erklärung gegenüber einem amerikanischen Vernehmungsoffizier abgegeben zu haben. 64 HHStA WI, Abt. 461/32061, Bd. 2, Bl. 18: Vernehmung von Hildegard Klein am 13.2.1946.

H ADAMAR

NACH DEM

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Dr. H.65 und Dr. K.66, in die Anstalt ab. Im darauffolgenden Monat gelang es der amerikanischen Militärregierung, die ärztliche Betreuung deutlich zu verbessern. Am 1. Mai stellte sie den kriegsgefangenen Facharzt für Psychiatrie Oberstabsarzt Dr. Walter K. in die Landesheilanstalt ab. 1936 war er schon einmal für kurze Zeit in der Landesheilanstalt Hadamar tätig gewesen. Zuletzt war er Arzt im Reservelazarett Limburg.67 Die Leitung der Anstalt wurde schließlich am 3. Mai Dr. William Altvater von der Bezirksverwaltung übertragen. Dr. Altvater war bis zu seinem Ruhestand Ende 1941 Oberarzt in der Landesheilanstalt Herborn.68 Als ärztlicher Direktor musste er die Anstalt neu aufbauen. Die Schwerpunkte seiner Arbeit betrafen vor allem: • •



die Sicherung einer ausreichenden Verpflegung für die Patienten, wie bereits geschildert. die Besorgung geeigneten Ersatzes für das in den ersten Nachkriegsmonaten ausgeschiedene Personal. Dr. Altvater gelang es, innerhalb von sechs Monaten 29 neue Kräfte einzustellen. Es handelte sich dabei vor allem um Pflegerinnen und Pfleger und um Verwaltungsangestellte, denn eine geordnete Verwaltung musste erst wieder aufgebaut werden. Außerdem hatte er eine Assistenzärztin gewonnen.69 die Instandsetzung der vollkommen heruntergewirtschafteten Gebäude: Die Dächer waren abzudichten, und die Heizungen mussten zur Erwärmung der Bettensäle repariert werden. Die Anstaltsküche wurde Instand gesetzt und erweitert zur besseren Verpflegung der Patienten. Die Herrichtung neuer Bettensäle beseitigte die Überbelegung der bis dahin knappen Schlafräume.

65 HHStA WI, Abt. 461/32061, Bd. 2, Bl. 36: Vernehmung von Ottilie V. am 14.6.1945, Bl. 4-5, hier Bl. 4r. 66 HHStA WI, Abt. 461/32061, Bd. 2, Bl. 36: Vernehmung von Dr. K. am 14.2.1946. 67 HHStA WI, Abt. 461/32061, Bd. 2, Bl. 166: Vernehmung von Dr. Walter K. am 30.6.1945, und Bl. 23: Vernehmung am 13.2.1946. 68 P. Sandner: Verwaltung, S. 725. 69 LWV-Archiv, Bestand 12, VA: Personenverzeichnis 1936-1956.

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S CHLUSS Als Dr. Altvater am 30. September 1948 zum zweiten Mal in den Ruhestand trat, hatte er mit Hilfe der amerikanischen und deutschen Behörden die schlimmsten Folgen aus den Zeiten der Tötungsanstalt beseitigt. Die äußeren Verhältnisse waren so weit gebessert, dass die Sterberate der Patienten deutlich gesunken war. Die amerikanische Militärregierung überließ den deutschen Behörden die Bewältigung des Alltags. Sie griff nur ein, wenn diese nicht energisch genug handelten. Ein Beispiel dafür ist die von ihnen veranlasste Erhöhung der Verpflegungsrationen für die ausgehungerten Bewohner der Anstalt. Die amerikanische Militärregierung ließ vom ersten Tag in Hadamar keinen Zweifel daran, dass sie das Anstaltspersonal für die von ihnen begangenen Verbrechen zur Rechenschaft ziehen würde. Daher stellte sie nicht nur die sieben Frauen und Männer, die sie für den Mord an ca. 600 Zwangsarbeitern vor Ort für verantwortlich hielt, bereits im Oktober 1945 vor das Militärgericht in Wiesbaden, sondern ordnete auch die Entlassung von weiterem Personal aus dem Anstaltsdienst an. Der Bezirkskommunalverband scheint sich ohne erkennbaren Widerstand – vielleicht auch aus Einsicht – den Weisungen gefügt zu haben. Ähnlich scheinen sich die für die Verpflegung der Anstalt zuständigen deutschen Behörden verhalten zu haben. Das schnelle Absinken der Sterblichkeit und die Strafverfolgung bzw. Entlassung des Großteils des Personals machen die Landesheilanstalt Hadamar nach dem Krieg zu einer Ausnahmeerscheinung unter den Heil- und Pflegeanstalten, in denen während der ersten Friedensjahre das Hungersterben noch weit verbreitet war.

Wahr-Nehmungen Öffentliche Deutungskultur und die Aufarbeitung der NS-»Euthanasie« in den Familien der Opfer A LFRED F LESSNER

F RÜHE K ENNTNISSE Mit der Überschrift »Unmenschliche Zustände in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen« erschien am 11. März 1948 in der Wilhelmshavener Tageszeitung »Nordwestdeutsche Rundschau« ein Bericht über die an der Stadtgrenze Oldenburgs, dem Regierungssitz des früheren Landes Oldenburg gelegene und heute unter dem Namen Karl-Jaspers-Klinik betriebene psychiatrische Einrichtung.1 Die Anstalt war zuvor durch Pressevertreter besichtigt worden. Der Bericht führt drastisch vor Augen, dass dort »katastrophale Mißstände« vorgefunden wurden: Von der »Hölle« der »Massen-Aufenthaltsräume« ist die Rede, von unbeschreiblichen sanitären Verhältnissen, von Ratten, die nachts in den Räumen herumliefen und einigem mehr.2 »Kein Wunder«, so der Autor, »daß Angehörige von Kranken diese wieder mit nach Hause genommen haben.«3 Weiter heißt es:

1

Redelfs, Hans Fr.: »Unmenschliche Zustände in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen«, in: Nordwestdeutsche Rundschau vom 11.3.1948, S. 3. Die Zeitung erschien vom 1.4.1947 bis 30.9.1960 in der Stadt Wilhelmshaven, danach bis ca. 1970 als Wilhelmshavener Rundschau/Nordwestdeutsche Rundschau mit Verbreitungsgebiet Wilhelmshaven, Brake, Delmenhorst, Oldenburg (Zeitschriftendatenbank der Staatsbibliothek zu Berlin).

2

Ebd.

3

Ebd.

220 | A LFRED FLESSNER

»Die Leitung der Anstalt, so erklärte der Chefarzt, ist nicht mehr in der Lage, die Verantwortung für die Sicherheit und sachgemäße Behandlung der Kranken zu übernehmen. Zur Zeit Hitlers sprach man, teuflischerweise, von ›lebensunwertem Leben‹ und gab den Geisteskranken den ›Gnadentod‹. In dieser Anstalt kann man tatsächlich von lebensunwertem Leben sprechen im Hinblick auf die dort herrschenden Verhältnisse. Die möglicherweise 20 000 Angehörigen dieser Kranken machen sich die größten Sorgen um sie, zumal sie zum größten Teil zu heilen wären.«4

In dem Bericht wird nicht direkt angesprochen, dass Patienten der Oldenburgischen Heil- und Pflegeanstalt Wehnen während des Nationalsozialismus Opfer der sogenannten »Euthanasie« wurden, doch die Andeutungen sind vielsagend. Die vorgefundenen Zustände werden nicht etwa aus der allgemeinen Notlage nach Kriegsende hergeleitet, sondern in Beziehung gesetzt zu dem Begriff »lebensunwertes Leben«, mit dem im Nationalsozialismus die Tötung psychisch Kranker propagiert worden war. Die Veröffentlichung zeigt, dass in den ersten Nachkriegsjahren in der Oldenburger Region bekannt war, was während des Nationalsozialismus in den Heil- und Pflegeanstalten geschehen war. Er gibt zudem wieder, dass 1948 die Situation in Wehnen noch immer stark daran erinnerte. Auch auf die seinerzeit noch hohe Sterblichkeit unter den dortigen Patienten wird hingewiesen, sie wird in dem Artikel für die zurückliegenden drei Jahre beziffert.5 Presseberichte dieser Art blieben nicht ohne Resonanz. So forderte der Kreistag des oldenburgischen Landkreises Friesland vier Wochen später den Oldenburgischen Landesfürsorgeverband als der für die Verwaltung der Anstalt zuständigen Einrichtung auf, dringend für Abhilfe zu sorgen.6 Die Staatsanwaltschaft Hannover ermittelte zu dieser Zeit in einem Verfahren zu den nationalsozialistischen »Euthanasie«-Maßnahmen in Niedersachsen. Am 16. April 1948 richtete sie an die Heil- und Pflegeanstalt Wehnen eine detaillierte Anfrage, in der u.a. um Auskunft über die Verlegung von Patienten während des Krieges und über die Sterblichkeitsraten in den Jahren von 1936 bis

4

Ebd.

5

Für das Jahr 1946 werden 230 Todesfälle angegeben, 188 für das Jahr 1947 und »bisher« neun für 1948, ebd. Die Angaben weichen teilweise von den Werten ab, die die Staatsanwaltschaft Hannover 1948/49 ermittelte. Vgl. Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover (=HStAH), Nds.721 Hann. Acc. 61/81 Nr. 28, Sonderheft Wehnen, Bl. 3-4.

6

Protokollbuch Kreistag des Kreises Friesland (Jever) 1948-1951, Niederschrift über die Sitzung des Kreistages des Kreises Friesland im Sitzungssaal des Kreisamtes am 8.4.1948, S. 27, Archiv des Bezirksverbandes Oldenburg, 20-01-08.

W AHR -N EHMUNGEN

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1947 ersucht wurde.7 Die im Antwortschreiben enthaltenen Angaben dokumentieren, dass die Sterberate unter den Wehner Patienten bereits im Jahre 1936 mit einem Wert von mehr als zehn Prozent ಥ gemessen an der von Ingo Harms für die Anstalt ermittelten »Normalsterblichkeit« zwischen fünf und sieben Prozent ಥ deutlich überhöht gewesen war und in den Folgejahren in mehreren Sprüngen bis auf über 30 Prozent im Jahre 1945 anstieg.8 Über die Verlegung von Patienten enthält das Schreiben nur spärliche Angaben. Lediglich einige wenige jüdische Patienten sowie Strafgefangene und ausländische Zwangsarbeiter waren demnach von 1940 bis 1944 in andere Anstalten bzw. in Lager verlegt worden. Insbesondere konnten keine Abtransporte im Rahmen der »Aktion T4« nachgewiesen werden.9 Die weiteren Ermittlungen verliefen im Sande, möglicherweise auch deshalb, weil sich Carl Petri, Ärztlicher Direktor der Anstalt von Juli 1937 bis Mai 1945 und damit einer der Hauptverantwortlichen, im Juni 1948 das Leben genommen hatte.10

7

HStAH, Nds.721 Hann. Acc. 61/81 Nr. 28, Sonderheft Wehnen, Bl. 1-2; zur Berechnung der »Normalsterblichkeit« siehe Harms, Ingo: »Wat mööt wi hier smachten...«. Hungertod und »Euthanasie« in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen 1936-1945, Oldenburg: BIS-Verlag 32008 (vollst. überarb. u. erw. Auflage), S. 119-128.

8

HStAH, Nds.721 Hann. Acc. 61/81 Nr. 28, Sonderheft Wehnen, Bl. 3-4.

9

Ebd.; zur »Aktion T4« siehe die Beiträge in: Rotzoll, Maike et al. (Hg.): Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4« und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn u.a.: Schöningh 2010; vgl. Kaminsky, Uwe: »Die ›NS-Euthanasie‹. Ein Forschungsüberblick«, in: Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen »Euthanasie« und Zwangssterilisation (Hg.), Tödliches Mitleid. NS-»Euthanasie« und Gegenwart. Fachtagung vom 24. bis 26. November 2006 im Deutschen Hygiene-Museum, Dresden, Münster: Klemm & Oelschläger 2007, S. 15-46, hier S. 29-35; vgl. auch Schmuhl, Hans-Walter: »›Euthanasie‹ im Nationalsozialismus – ein Überblick«, in: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 7 (2005/2006), S. 3-15.

10 Dr. med. Carl Max Elisabeth Petri (1903-1948) war nach seinem Medizinstudium in Münster ab Januar 1931 in der dortigen Heilanstalt tätig und wurde nach Anstellungen in den Heilanstalten Eickelborn und Niedermarsberg am 1.7.1937 Ärztlicher Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen, vgl. I. Harms: Hungertod, S. 204. Petri war im Mai 1945 als Ärztlicher Direktor abgesetzt worden. Sein Nachfolger, Dr. Wietfeld, blieb nur bis Anfang Dezember 1945 im Amt. Bis ein neuer Nachfolger gefunden wurde, leitete Petri die Anstalt kommissarisch noch bis Mai 1946, vgl. dazu Harms, Ingo (in Zusammenarbeit mit Wiebke Gertje): »Hungermord und Nachkriegs-›Euthanasie‹«, in: Harms, Ingo: Psychiatrie und Behindertenpolitik im Land Oldenburg

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Bis die Patiententötungen in Wehnen angemessen aufgearbeitet wurden, sollten noch 50 Jahre vergehen. Der Historiker Ingo Harms, selbst Angehöriger eines der Opfer, kam in seiner 1996 vorgelegten Dissertation zu dem Schluss, dass das Patientensterben in Wehnen die Folge eines systematischen Krankenmords war.11 Zwar stellte auch er fest, dass im Rahmen der »Aktion T4« aus Wehnen keine Patienten abtransportiert worden waren. Er zeigte aber auf, dass sich in der Anstalt bereits ab 1936 ein System der Mangelernährung und Vernachlässigung etabliert hatte, das für die drastisch steigenden Sterberaten verantwortlich war. Dieses System, so der heutige Forschungsstand, entwickelte sich relativ unbeeinflusst von zentralstaatlichen Einflüssen als eine Sonderform des lokalen Krankenmords im Nationalsozialismus.12 Harms führt die regionale Sonderstellung darauf zurück, dass das Gesundheitswesen in Oldenburg bereits in der Zeit der Weimarer Republik »rassenbiologische Strömungen« antizipiert hatte.13 Die Wehnen-Forschung seit der ersten Veröffentlichung von Harms fußt nach wie vor auf den von der Staatsanwaltschaft Hannover schon 1948 ermittelten Daten. Wie konnte es dazu kommen, dass diese Erkenntnisse in der Folgezeit unbeachtet blieben, ja: sich ins Gegenteil verkehrten? Denn bis 1996 galt Wehnen als eine Anstalt, die im Nationalsozialismus von »Euthanasie«-Maßnahmen verschont geblieben war. Anhand von weiteren, exemplarisch ausgewählten Veröffentlichungen in der regionalen Presse soll im Folgenden nachvollzogen werden, wie sich diese Geschichtslegende in Oldenburg ausbildete.

unter dem Einfluss von Rassenhygiene und »Euthanasie«. Unveröffentlichte Habilitationsschrift Oldenburg 2008, S. 104 und S. 113. 11 I. Harms: Hungertod. 12 Zum aktuellen Stand siehe Harms, Ingo: »Die oldenburgischen Krankenmorde – ein Definitionsversuch«, in: Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen »Euthanasie« und Zwangssterilisation (Hg.), NS-»Euthanasie« und lokaler Krankenmord in Oldenburg, Klingenmünster und Sachsen. Erinnerungskultur und Betroffenenperspektive, Münster: Klemm & Oelschläger 2011, S. 17-34; sowie Fleßner, Alfred: »Angehörigenperspektive. Impulse für die Aufarbeitung des Krankenmords im Nationalsozialismus«, in: ebd.: S. 87-100; siehe auch Thelen, Hedwig: »Patientenbriefe als Quelle historischer Forschung. Der Alltag in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen aus der Perspektive von Patienten«, in: ebd.: S. 101-114. 13 I. Harms: Hungertod, S. 307; vgl. Ders.: Biologismus. Zur Theorie und Praxis einer wirkmächtigen Ideologie, Oldenburg: BIS-Verlag 2011, S. 89-134.

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E NTSORGUNG

DER

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V ERGANGENHEIT

Am 8. Februar 1949, etwa ein Jahr nach dem eingangs erwähnten Zeitungsbericht, erschien in der Oldenburger »Nordwest-Zeitung« ein Artikel mit der Überschrift »Zehn bittere Jahre sind nachzuholen« und dem Untertitel: »Heil- und Pflegeanstalt Wehnen – Phantasie und Wirklichkeit«.14 Gleich zu Beginn stehen die folgenden Sätze: »Obwohl die Anstalt knapp fünfundzwanzig Busminuten von der Stadt entfernt liegt, ist sie bei vielen Oldenburgern in die Gefilde unklarer und auch irriger Vorstellungen entrückt. Man meint wohl achselzuckend, die Anstalt sei ein Asyl für Unheilbare, die dort langsam zu Tode gepflegt würden und erinnert sich womöglich nationalsozialistischer Parolen, nach denen ›Verrückte‹ eigentlich um die Ecke gebracht und jeder Pfennig, den man für sie ausgibt, umgewendet werden müßte.«15

Mit dem Krankenmord im Nationalsozialismus, so die Botschaft, könne Wehnen nicht ernsthaft in Verbindung gebracht werden. Mehr noch: Als sei der Krankenmord nur propagiert, nicht aber tatsächlich umgesetzt worden, werden »Parolen« erwähnt, nach denen Kranke nur »eigentlich« getötet werden sollten. Auf die Frage »Ist dieser Ruf gerechtfertigt?« folgt im Weiteren eine Darstellung verschiedener Mängel des Anstaltsbetriebs wie die dringend verbesserungswürdigen baulichen Zustände, das unzureichende Inventar und die Raumnot. Zugleich wird betont, dass von Seiten des Landesfürsorgeverbandes das Mögliche getan werde, um die Bedingungen zu verbessern und »das Verantwortungsgefühl der sieben Ärzte und der 112 Pfleger nicht über Gebühr zu belasten«.16 Aufschlussreich ist die folgende Passage:

14 [Wilhel]M, W[olfgang]: »Zehn bittere Jahre sind nachzuholen«, in: NordwestZeitung, Ausgabe Stadt- und Landkreis Oldenburg vom 8.2.1949. Verfasser war offensichtlich Dr. Wolfgang Wilhelm aus Oldenburg. Er bat am 14.1.1949 in einem Schreiben an den Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen um Genehmigung des Berichts. Vgl. Archiv des Bezirksverbandes Oldenburg, 20-01-09. 15 Ebd. 16 Ebd.

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»Zehn Jahre Kriegs- und Nachkriegszeit, in denen äußere Schwierigkeiten nur zu oft den guten Willen der für die Anstalt Verantwortlichen überdeckten, müssen nachgeholt werden, um wieder befriedigende Zustände hinsichtlich des Inventars und der baulichen Verhältnisse zu schaffen.«17

»Kriegs- und Nachkriegszeit« also, »äußere Schwierigkeiten« und nicht zuletzt der »gute [...] Wille der [...] Verantwortlichen« in jener Zeit! Die während der 1930er und 1940er Jahre in Wehnen herrschenden Zustände erscheinen nunmehr als durch den Krieg verursacht. Die nicht explizit formulierte, aber sich aufdrängende Folgerung wäre, dass die Patienten, die in Wehnen litten und umkamen, Kriegsopfer waren. Diese Wirkung wird noch dadurch verstärkt, dass der Verfasser am Ende seiner Hoffnung Ausdruck gibt, »daß die Heil- und Pflegeanstalt Wehnen bald wieder den guten Ruf der Vorkriegszeit zurückerlangen wird.«18 In eben dieser Vorkriegszeit jedoch hatte sich wie schon erwähnt die Sterberate in Wehnen bereits deutlich erhöht. »Nicht mehr Heilanstalt, sondern Nervenklinik«, so der Titel eines wiederum ein Jahr später erschienenen, längeren Artikels in der »Nordwest-Zeitung« vom 3. Februar 1950.19 Auch in ihm wird auf die erheblichen Mängel in der Ausstattung der Anstalt und auf dringend notwendige Verbesserungen hingewiesen, für die nicht genügend finanzielle Mittel zur Verfügung stünden. Gleichwohl wird der Fortschritt in der Versorgung der Patienten betont. Daneben erscheinen die vorhandenen Missstände als Relikte früherer Zeiten. Manche Aussage lässt allerdings tief blicken und offenbart, wie gering der Abstand zu diesen Zeiten war, etwa wenn der Verfasser zunächst den Direktor der Anstalt mit der Aussage zitiert, »Zwangsjacke und Lederriemen wurden vor zweieinhalb Jahren abgeschafft«, um dann selbst hinzuzufügen: »und auch wir können an den Pflegern keinerlei Waffen feststellen. Sie sind geschult, mit unruhigen Kranken auch ohne Anwendung grausamer Gewalt fertig zu werden.«20 Man könnte meinen, in dem Artikel wird die Abkehr von der Gewaltpraxis des Nationalsozialismus beschrieben. Er enthält jedoch keinen Hinweis auf die NS-Zeit, nicht einmal in Form von Jahreszahlen. Der historische Bezugspunkt ist ein ganz anderer geworden. Mit folgenden Worten wird die Darstellung eingeleitet:

17 Ebd. 18 Ebd. 19 »Nicht mehr Heilanstalt, sondern Nervenklinik«, in: Nordwest-Zeitung vom 3.2.1950, S. 4 (Autorenkürzel: CWC). 20 Ebd.

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»Ein Schauder befällt jeden, der auf dem Wege nach Bad Zwischenahn an der Mauer der Anstalt vorüberkommt und dahinter die vergitterten Fenster erblickt. Phantasie und das Wissen um die ›mittelalterliche‹ Psychiatrie vermischen sich und ergeben das Bild jener längst ausgestorbenen Käfige, in denen Gemütskranke an Ketten aufgehängt der Willkür unwissender Heilmethodiker ausgeliefert waren. ›Kloster Blankenburg war ein gefürchteter Ort, und unsere Anstalt hat das Erbe jener früheren Irrenanstalt und damit auch ihren Ruf übernommen‹, erklärt uns der Direktor der Heil- und Pflegeanstalten in Wehnen.«21

Der Artikel endet mit dem Satz: »Wehnen verlor für uns – die wir es sahen – sein Grauen, soweit es die überlieferte Anschauung von einst betraf.«22 Gerade einmal fünf Jahre nachdem die Sterberate in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen einen Wert von über 30 Prozent erreicht hatte23, werden Gewaltmaßnahmen gegen psychisch Kranke im Mittelalter verortet und das offensichtlich in der Region verbreitete Unbehagen gegenüber der Anstalt als anachronistisches Vorurteil relativiert. Dabei wusste der damalige Anstaltsleiter Dr. Rudolf Köhler, der auch in den vorherigen Presseveröffentlichungen zitiert worden ist, über das Geschehen in der Anstalt während des Nationalsozialismus Bescheid. Er war zwar nicht selbst beteiligt gewesen, da er erst im Mai 1946 als Nachfolger des abgesetzten Dr. Carl Petri nach Wehnen gekommen war. Er war es jedoch, welcher der Staatsanwaltschaft Hannover mit Schreiben vom 19. Mai 1948 Auskunft über die Sterblichkeit in der Anstalt in den Jahren von 1936 bis 1947 erteilt und auf die Ursachen dafür hingewiesen hatte. Unter Berufung auf die Aussagen von Anstaltsbeschäftigten hatte Köhler erklärt, der Grund für die hohe Sterblichkeit sei darin zu sehen, das sich der Ernährungszustand der Kranken »ständig [...] verschlechtert« habe, und zwar wegen »einer erheblichen Kürzung der den Kranken an sich zustehenden Lebensmittelmengen«.24 Der Artikel vom

21 Ebd. Im Kloster Blankenburg waren seit 1786 psychisch Kranke untergebracht. vgl. Tornow, Peter/Wöbcken, Heinrich: 700 Jahre Kloster Blankenburg zu Oldenburg, Oldenburg: Isensee Verlag 1994, S.60ff.; Roth, Max: »Die Bewahr- und Pflegeanstalt Kloster Blankenburg«, in: Max Roth/Peter Tornow, Aufsätze zur Medizingeschichte der Stadt Oldenburg, Oldenburg: Isensee 1999, S. 223-240, hier S. 228ff.; zur wechselvollen Nutzung der Einrichtung im Nationalsozialismus siehe ausführlich I. Harms: Biologismus, S. 11-88. 22 »Nicht mehr Heilanstalt, sondern Nervenklinik«, in: Nordwest-Zeitung vom 3.2.1950, S. 4 (Autorenkürzel: CWC). 23 Vgl. I. Harms: Hungertod, S. 105-106. 24 HStAH, Nds.721 Hann. Acc. 61/81 Nr. 28, Sonderheft Wehnen, Bl. 1; vgl. I. Harms: Hungertod, S. 82..

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Februar 1950 ist beispielhaft für eine phantasmagorische Entsorgung der nahen Vergangenheit in eine ferne dunkle Epoche. Auch wenn hier nur ein kleiner Ausschnitt des frühen öffentlichen Diskurses über die Patientenversorgung in Wehnen und ihre Vergangenheit gezeigt wird, ist erkennbar, welche Richtung die Entwicklung nahm. In der öffentlichen Berichterstattung über die Anstalt geriet sehr schnell aus dem Blickfeld, dass sich während der Zeit des Nationalsozialismus unter den Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen ein massenhaftes Sterben ereignet hatte und dass es auf eine bewusste Mangelversorgung zurückzuführen war. Die regionalen Presseberichte operierten fortan mit der immer wiederkehrenden Botschaft, im Nationalsozialismus habe es in der Anstalt zwar überkommene oder durch äußere Einflüsse bedingte und damit den Verantwortlichen vor Ort nicht anzulastende Missstände gegeben, jedoch keine »Euthanasie«-Maßnahmen. Dieser Abgrenzungsdiskurs, wie ich ihn nennen möchte, war offensichtlich von dem Bemühen geprägt, dem in der Bevölkerung sich hartnäckig haltenden Vertrauensverlust zu begegnen, mit dem sich die Anstalt seit dem Ende des Nationalsozialismus konfrontiert sah. Die Leugnung des Patientensterbens in Wehnen ging über die Jahre in die offizielle Selbstdarstellung der Anstalt ein. 1979 gab der Niedersächsische Sozialminister eine Festschrift des Landeskrankenhauses Wehnen mit einem von den leitenden Ärzten verfassten Überblick über die Geschichte der Anstalt heraus.25 Darin wird auch die Zeit des Nationalsozialismus behandelt. Die Autoren zitieren eine Aussage des vormaligen Direktors des Landessozialhilfeverbandes26, Landesrat Hans Plagge, aus dem Jahre 1958: »Wir müssen mit großer Dankbarkeit die Feststellung treffen, daß die Auswüchse des Denkens, die schließlich zu den Euthanasieverfahren in besonderen Anstalten führten, sich in Wehnen nicht ausgewirkt haben«.27 Bekräftigend fügen die beiden Ärzte mit eigenen Worten

25 Harlfinger, Hanspeter/Frohoff, Walter: »Das Niedersächsische Landeskrankenhaus Wehnen«, in: Niedersächsischer Sozialminister (Hg.), Niedersächsisches Landeskrankenhaus Wehnen, [Hannover] 1979 (Brosch.), S. 7-20. 26 Ab 1961 Bezeichnung für den früheren Landesfürsorgeverband Oldenburg, seit 1974 Bezirksverband Oldenburg; vgl. Meyer, Karl-Heinz: »Planungen in den 60er Jahren und Trägerwechsel 1974«, in: Psychiatrieverbund Oldenburger Land gGmbH (Hg.), Wegmarken der Karl-Jaspers-Klinik (1858-2008), o. O. 2008 (Brosch.), S. 21-22. 27 Zit. nach H. Harlfinger/W. Frohoff: Landeskrankenhaus, S. 11. Die Autoren zitieren ohne weitere Quellenangabe. Die Aussage Plagges findet sich in: Der Landesfürsorgeverband Oldenburg und seine Anstalten. Bericht aus Anlass seines 25-jährigen Bestehens. Erstattet von Landesrat Hans Plagge, Oldenburg 1958 (Brosch.), o. S. (Kapitel:

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hinzu: »Aus dem Landeskrankenhaus Wehnen ist unter der Direktion von Dr. Petri kein Kranker ›planmäßig verlegt‹ worden, wie der für die Euthanasie psychisch Kranker geprägte zynische Tarnausdruck lautete.«28 Die zweite Aussage ist – soweit sie sich auf den Abtransport von Patienten im Rahmen der »Aktion T4« bezieht – zwar richtig. Sie wirkt in der Zusammenstellung jedoch wie ein Beleg, der die erste Aussage stützt, und wird damit zu einem falschen Argument. Zusammengenommen ergeben die beiden Aussagen eine Freisprechung der Anstalt von dem in der Bevölkerung kursierenden Verdacht, sie sei im Nationalsozialismus wie andere Heil- und Pflegeanstalten an Patiententötungen beteiligt gewesen. Noch drei Jahre nach der Veröffentlichung der Untersuchung von Harms heißt es in einem neu erschienenen Sammelband zur Medizingeschichte der Stadt Oldenburg: »Im Zuge der Vernichtungsaktion gegen erwachsene Geisteskranke verließ kein Transport Wehnen. Petri wurde nach dem Kriegsende in einem Entnazifizierungsverfahren als ›politisch tragbar‹ in die Kategorie III eingestuft […] und […] nachträglich als ›entlastet‹ der Kategorie V zugeordnet.« 29

Die Darstellung folgt den Aussagen des ehemaligen Anstaltsdirektors Petri, der in seinem Entnazifizierungsverfahren geltend gemacht hatte, er hab sich geweigert, an der »Aktion T4« mitzuwirken, wodurch viele Patienten in Wehnen gerettet worden seien.30 Die in der Anstalt bereits vor dieser Aktion zu verzeich-

Das Oldenburgische Landeskrankenhaus Wehnen, 4. Seite). Das Zitat bei Harlfinger/Frohoff ist nicht wortgenau. 28 H. Harlfinger/W. Frohoff: Landeskrankenhaus, S. 11. 29 Roth, Max [eigentl. Peter Tornow]: Die Oldenburgische Heil- und Pflegeanstalt Wehnen, in: M. Roth/P. Tornow: Medizingeschichte, S. 248. Als Verfasser des Aufsatzes ist Max Roth angegeben. Die hier zitierte Passage ebenso wie das nächste Zitat stammen jedoch aus der Feder von Peter Tornow, der den von Max Roth 1921 veröffentlichten Aufsatz für die Zeit danach fortgeführt hat (siehe dazu die Hinweise von Peter Tornow in der Einleitung zum Sammelband, ebd.: S. 10). Die Bezeichnung für die in Kategorie III eingestuften Entnazifizierten lautete korrekt »Minderbelastete (Bewährungsgruppe)«, vgl. Reichert, Olaf: »Wir müssen doch in die Zukunft sehen…«. Die Entnazifizierung in der Stadt Oldenburg unter britischer Besatzungshoheit 1945-1947, Oldenburg: Isensee 1998, S. 112. 30 Aussage Petris vom 14.3.1946, als Abschrift in: HStAH, Nds. 721 Hann. Acc. 61/81 Nr. 28, Sonderheft Wehnen, Bl. 11.

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nende hohe Sterberate bleibt nach wie vor unberücksichtigt, immerhin wird im Weiteren nun zugestanden, dass nach 1941 in Wehnen dann doch ein Hungersterben einsetzte. Aber dies wird wiederum so vorgetragen, dass der Eindruck entsteht, diese Ereignisse seien auf äußere Einwirkungen zurückzuführen. Zu der Phase nach 1941 formuliert der Autor: »Die zweite Vernichtungswelle […] verschonte die Insassen nicht«.31 Eine »Welle«, so klingt es, die von außen auf Wehnen zurollte – die wissenschaftliche Neubewertung der historischen Ereignisse musste sich gegen die über Jahrzehnte in der regionalen Öffentlichkeit eingeübte Wahrnehmung erst noch durchsetzen.

A NNÄHERUNGEN Angeregt durch die Veröffentlichung der Untersuchung von Harms begannen Angehörige von Patienten, die in den 1930er und 1940er Jahren in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen behandelt worden waren, nach den näheren Umständen dieses Anstaltsaufenthalts zu fragen. Einige von ihnen fanden im Jahre 1997 zu einer Gruppe zusammen, um sich bei der Aufklärung des Schicksals ihrer in Wehnen gestorbenen Familienmitglieder zu unterstützen. Daraus erwuchs eine dauerhafte Initiative. Im Jahre 2003 wurde der Gedenkkreis Wehnen e.V. gegründet32, der auf dem Gelände der heutigen Karl-Jaspers-Klinik eine Gedenkstätte betreibt33. Von dieser Initiative gehen immer wieder Impulse für die öffentliche Diskussion aus. Seit einigen Jahren kooperiert der Gedenkkreis zudem mit einer Forschungsstelle der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, in der Untersuchungen zur regionalen Umsetzung der nationalsozialistische Gesundheits- und Sozialpolitik gebündelt werden.34 Was bedeuten die neuen Erkenntnisse für Familien, die von den historischen Ereignissen unmittelbar betroffen sind? Wie gehen Angehörige von Opfern mit der Vergangenheit um? Warum war es in den betreffenden Familien und deren Nachbarschaft über Jahrzehnte ein Tabu, die Ermordung von Familienangehörigen zu thematisieren? Und welche familiären

31 M. Roth [eigentl. P. Tornow]: Heil- und Pflegeanstalt Wehnen, S. 248. 32 Gedenkkreis Wehnen e. V. Angehörige von Opfern der NS-Euthanasie in der Heilund Pflegeanstalt Wehnen, www.gedenkkreis.de. 33 Gedenkstätte Alte Pathologie, Hermann-Ehlers-Straße 7, 26160 Bad ZwischenahnWehnen; Einweihung: 17.4.2004. 34 Forschungsstelle Geschichte der Gesundheits- und Sozialpolitik (GGS), Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; www.forschungsstelleggs.uni-oldenburg.de.

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oder gesellschaftlichen Anlässe und Bedingungen haben ein Aufbrechen dieser Tabuisierung möglich gemacht? Das waren die Ausgangsfragen einer wissenschaftlichen Studie, die von 2006 bis 2008 in Oldenburg durchgeführt wurde und in der u.a. Angehörige von Opfern zu ihrer Erinnerungsarbeit und Geschichtsverarbeitung befragt wurden.35 Die folgenden Ausführungen basieren auf der Auswertung von Interviewgesprächen, die in dieser Studie mit insgesamt 27 Opfer-Angehörigen durchgeführt wurden.36 Zu Beginn werden drei Fallbeispiele vorgestellt. »ich wollte gerne, dass sie Frieden findet« Frau Nienaber37 beginnt als 55-Jährige nach dem Tode ihrer Mutter die Geschichte ihrer Tante nachzurecherchieren. Erinnerungen aus ihrer Kindheit, über die sie bis dahin mit niemandem gesprochen hat, kommen in ihr hoch und beschäftigen sie: Im Sommer 1944, als sie sechs Jahre alt war, besuchte sie zusammen mit ihrer Mutter deren Schwester in der Anstalt in Wehnen. Es war Frau Nienabers einziger Besuch bei ihrer Tante in Wehnen, zugleich auch ihr letztes Wiedersehen mit ihr. Anfang 1945 starb die Patientin nach nur zehn Monaten Anstaltsaufenthalt. Laut Akte war ihre Erkrankung auf eine Gehirnhautentzündung zurückzuführen.38 Auch einen Selbsttötungsversuch hatte es gegeben, der möglicherweise durch die Trennung ihres Ehemannes ausgelöst worden war. Ob diese Vermutung zutrifft, lässt sich heute nicht mehr klären.

35 Vgl. Fleßner, Alfred/Harms, Ingo/Klattenhoff, Klaus: Abschlussbericht zum Forschungsprojekt »Die nationalsozialistische ›Euthanasie‹ im Land Oldenburg – historische Analyse und geschichtsdidaktische Aufarbeitung«, Juli 2006 bis Dezember 2008, gefördert vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur, dem Ministerium vorgelegt im Februar 2009, Unveröffentlichtes Manuskript; vgl. Fleßner, Alfred: »NS-›Euthanasie‹ im Land Oldenburg. Untersuchung von Erinnerungsarbeit und Geschichtsverarbeitung. Zwischenbericht eines zweijährigen Forschungsvorhabens«, in: Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen »Euthanasie« und Zwangssterilisation, Tödliches Mitleid (2007), S. 157-166; Teilergebnisse mit Fallbeispielen in: Fleßner, Alfred: »Zur Aufarbeitung der NS-›Euthanasie‹ in den Familien der Opfer, in: Stefanie Westermann/Richard Kühl/Tim Ohnhäuser (Hg.), NS»Euthanasie« und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung – Gedenkformen – Betroffenenperspektiven, Münster: Lit-Verlag 2010, S. 195-207. 36 Tonbandprotokolle und Transkriptionen der Interviews: Privatarchiv Fleßner. 37 Name geändert. Das Interview fand am 2.2.2007 statt. 38 Archiv des Nds. Landeskrankenhauses Wehnen, P 10931.

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Frau Nienaber erinnert sich an Einzelheiten ihres Besuches: das Tor der Anstalt mit Wächter, wo wohl eine Ausweiskontrolle stattfand – eine parkähnliche Anlage, in der viele Menschen standen und Gartenarbeiten wie Laubharken verrichteten – die sackähnliche Kleidung dieser Menschen, die ihre Mutter im Vorbeigehen festhielten und immer wieder »Hunger!« riefen, – ein »bulliger« Pfleger mit weißer oder grauweiß gestreifter Kleidung, der sie und ihre Mutter zu ihrer Tante ins Zimmer brachte, wo diese auf dem Bett gefesselt lag – die Tante, die, nachdem ihre Fesseln gelöst worden waren, auf den Schoß ihrer Schwester sprang, heftig weinte und immerzu »Hunger, Hunger« sagte – Frau Nienabers Irritation als Kind darüber, dass eine Erwachsene auf dem Schoß ihrer Mutter saß, ein Platz, der doch eigentlich dem Kind gehörte – ihr Erschrecken über die sichtbaren Veränderungen an der ehemals fröhlichen Tante, die nun »aufgedunsen« aussah, mit »aschfarbenem Haar«.39 Warum diese Erinnerungen sie nach dem Tod ihrer Mutter zu beschäftigen beginnen, kann sie sich nicht wirklich erklären. Sie war zwar durch ihr gesellschaftspolitisches Engagement schon über die NS-»Euthanasie« allgemein informiert,, sieht darin aber nicht den Ausgangspunkt ihrer Erinnerungsarbeit. Sie beschreibt deren Beginn als einen eher unwillkürlichen Vorgang. Sie sagt: »... das war sicher gar kein Zufall ... es gibt keine Zufälle, ... es war einfach reif für mich, dass das in mir wieder hochkam ... Ich kann nicht sagen, warum das in mir gearbeitet hat.«40 Nun spricht sie erstmals mit einer Verwandten über ihre Erinnerungen. Gemeinsam erwägen sie, aktiv zu werden und Archivrecherchen aufzunehmen. Durch Zeitungsmeldungen wird die Interviewte darauf aufmerksam, dass über die Geschichte der Anstalt in Wehnen neue Forschungsergebnisse veröffentlicht wurden41, und nimmt Kontakt zum Autor auf. Sie erhält durch ihn Informationen über den Anstaltsaufenthalt ihrer Tante, die ihren Verdacht bestätigen, diese sei ein Opfer der NS-»Euthanasie« geworden. Ihre Informationen gibt sie im Familienkreis weiter und erlebt zum Teil recht betroffene Reaktionen. Allerdings traut sie sich nicht, den hochbetagten Bruder ihrer Tante auf seine Schwester anzusprechen. Sie befürchtet, ihn könne das gesundheitlich überfordern, und geht davon aus, dass er die Auseinandersetzung mit jener Vergangenheit meidet. Letztlich bleibt sie diejenige in der Familie, die das Thema in besonderer Weise umtreibt. Was sie vor allem belastet, ist die Abwehr, die sie bei ihrer Cousine erlebt, der Tochter des Opfers. Ihre Cousine verlor ihre Mutter im Alter von zehn

39 Interview Nienaber (Name geändert), 2.2.2007. 40 Ebd. 41 I. Harms: Hungertod.

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Jahren und machte danach, so Frau Nienaber, eine »schreckliche Kindheit« durch.42 Sie sei mit einem vom Vater geprägten negativen Bild ihrer Mutter und mit der Erfahrung aufgewachsen, von ihr allein gelassen worden zu sein. Frau Nienaber sieht sich in einem Gewissenskonflikt. Einerseits respektiert sie das Recht ihrer Cousine auf Verdrängung, andererseits ist sie davon überzeugt, dass ihrer Cousine eine Annäherung an die Geschichte ihrer Mutter gut tun würde: »… weshalb wollte ich es denn, dass sie es erfährt: weil ich wollte, dass sie ’n anderes Bild von ihrer Mutter bekommt, als das, was der Vater dargestellt hat […] ich wollte gerne, dass sie Frieden findet.«43 Sie nimmt auch deshalb so stark Anteil an dem Schicksal ihrer Tante und dem ihrer Cousine, weil sie mit den beiden sehr angenehme Kindheitserinnerungen verbindet. Die eine imponierte ihr als »fröhliche, singende, gerne tanzende« Frau, die andere erlebte sie quasi als »Schwester«, als diese damals für eine gewisse Zeit bei ihr zu Hause versorgt wurde.44 Und Frau Nienaber identifiziert sich mit ihrer eigenen Mutter und der fürsorglichen Haltung, die sie seinerzeit – wie Frau Nienaber erst durch das Studium der Krankenakte ihrer Tante erfuhr – gegenüber ihrer Schwester eingenommen hatte. Ihre Mutter hatte sehr couragiert versucht, ihrer Schwester zu helfen, indem sie sich bei offiziellen Stellen über die schlechte Versorgung und Behandlung in Wehnen beschwerte. Der Anstaltsdirektor revanchierte sich dafür, indem er Frau Nienabers Mutter als unverschämt und ihre familiären Verhältnisse als »maßlos verkommene[s] Milieu« diffamierte.45 Zum Zeitpunkt des Interviews ist der Gewissenskonflikt für Frau Nienaber sehr bedrückend. Etwa ein Jahr später aber fühlt sie sich dadurch etwas entlastet, dass ein Sohn ihrer Cousine zwischenzeitlich ebenfalls erfahren hat, was seiner Großmutter in Wehnen widerfuhr. Frau Nienaber erleichtert das, weil so das Wissen um die Geschichte ihrer Tante an die nächste Generation weitergegangen ist.

42 Interview Nienaber (Name geändert), 2.2.2007. 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Archiv des Nds. Landeskrankenhauses Wehnen, P 10931, Dr. Carl Petri, 12.6.1944, Schreiben an den Amtsarzt des Staatlichen Gesundheitsamtes des Landkreises Wesermarsch.

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»dass ich ihn damit vor dem völligen Vergessen bewahrt habe« Dr. Jürgen Schleppegrell46 ist Mitte 60, als er zufällig auf ein Buch über das Hungersterben in Wehnen stößt.47 Er ist eigentlich auf der Suche nach Literatur über den Holocaust und den Widerstand im Nationalsozialismus, Themen für die er sich seit einigen Jahren interessiert, seitdem er beruflich nicht mehr so eingespannt ist. Das Stichwort »Wehnen« erinnert ihn an eine Begebenheit aus seiner Jugend. Als er einmal gemeinsam mit seiner Mutter Familienfotos betrachtete, erzählte sie etwas über ein kleines Kind auf einem der Fotos: Es handele sich um einen ihrer Brüder, der geistig behindert gewesen und in Wehnen der NS»Euthanasie« zum Opfer gefallen sei. Nun beginnt er nach Informationen über dieses Kind zu suchen und wendet sich an den Verfasser des Buches über Wehnen. Er erfährt, dass sein Onkel Georg Harbers seit frühester Kindheit in einem Bremer Pflegeheim für behinderte Kinder versorgt worden war, bis es 1939 geschlossen wurde. Zusammen mit anderen »Pfleglingen« wurde sein Onkel über eine kurze Zwischenstation in ein Oldenburger Heim verlegt, dem Gertrudenheim im Kloster Blankenburg, das seinerzeit von der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen mitverwaltet wurde. In dem Heim starb er 1941 im Alter von 33 Jahren wahrscheinlich wie viele Leidensgenossen als Opfer eines systematischen Nahrungsentzugs.48 Dr. Schleppegrell denkt viel darüber nach, wie sein Onkel als kleines Kind die Trennung von Zuhause und das Leben in Heim wohl empfunden haben mag. Ihn berührt auch, wie sehr dessen Eltern, Schleppegrells Großeltern, mit der Situation belastet gewesen sein dürften. Vor diesem Hintergrund kann er auch verstehen, dass in einem Brief, in dem seine Großmutter 1941 die Todesnachricht an andere Familienmitglieder übermittelt, eine mitfühlende Erleichterung anklingt. Während sie die Nachricht offenbar arglos aufnahm, glaubt er von seinem Großvater, dass der die wahren Todesumstände erahnte und nicht verkraften konnte. Denn er, der seinen Sohn zeitlebens fürsorglich unterstützt hatte, starb nur 14 Tage später. Die Erkenntnisse über seinen Onkel trägt Dr. Schleppegrell mit historischen Fotografien, Briefen und Schriftstücken zu einer Dokumentation zusammen, die er im Familienkreis und an andere Interessierte weitergibt.49 In seiner Familie, so

46 Das Interview fand am 4.5.2007 statt. 47 I. Harms: Hungertod. 48 Vgl. I. Harms: Biologismus, S. 11-88. 49 Dokumentation über das Schicksal von Georg Harbers[,] geboren am 8. Dezember 1908 in Woppenkamp bei Bockhorn[,] getötet als Opfer der Euthanasie während der Nazi-Diktatur am 3. August 1941 im Gertrudenheim im Kloster Blankenburg[.]

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berichtet er, war sein Onkel bis dahin nie ein Gesprächsthema gewesen. Nach der Aufarbeitung seiner Lebensgeschichte kam man überein, im Gedenken an ihn die Legung eines »Stolpersteins« an dem Standort des Bremer Pflegeheims zu finanzieren, in dem Georg Harbers fast 30 Jahre seines Lebens versorgt worden war.50 Dr. Schleppegrell resümiert: »... ich finde, es ist wichtig, dass ich doch so weit es ging Licht in dies Dunkel gebracht habe, es dokumentiert habe ...«, »... dass ich ihn damit vor dem völligen Vergessen bewahrt habe ...«.51 Dass von den vielen Opfern des Hungersterbens in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen nur wenige Fälle öffentlich dokumentiert sind, findet er »erschreckend«, und er fragt: »Gibt’s [da] keine Angehörigen mehr?«52 Die Zeit verstreiche und er habe die Sorge, dass sich in den betroffenen Familien irgendwann niemand mehr für diese Schicksale interessieren werde. Deshalb möchte er andere ausdrücklich ermuntern, sich der Aufarbeitung zu stellen, und bietet dafür seine Unterstützung an. Man solle die betroffenen Familien direkt ansprechen, meint er. Als er sich im Interviewgespräch äußert, ist für ihn die Aufarbeitung der Geschichte seines Onkels noch nicht abgeschlossen. Dessen Grabstelle ist zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt. Denn Ende 1941 war der Friedhof in Blankenburg aufgelöst worden, die Beerdigten wurden auf einen Oldenburger Friedhof umgebettet, wo sich deren Spur zunächst verlor. Erst Recherchen in einem anderen Fall führen ein Jahr nach dem Interview zur Identifizierung der Grabstelle auf dem Neuen Friedhof in Oldenburg. Sie ist bis heute nicht überbettet. Jetzt will er noch erreichen, dass das Gräberfeld mit dem Grab seines Onkels und den Gräbern der anderen Umgebetteten eine Gedenkstätte für die Opfer der NS»Euthanasie« wird.

Zusammengestellt von: Dr. Jürgen Schleppegrell, 38104 Braunschweig[,] Februar 2007 (vervielfältigtes Manuskript). 50 Am 8.11.2011 wurde ein weiterer »Stolperstein« für Georg Harbers in das Pflaster vor der Kapelle des Klosters Blankenburg eingelassen. »Stolpersteine« sind ein von dem Kölner Bildhauer Gunter Demnig entwickeltes Erinnerungsprojekt. Betonquader mit einer Kantenlänge von 10 cm und einer Messingplatte auf der Oberseite werden dort, wo die Opfer einst lebten, in das Gehwegpflaster eingelassen. Die Messingplatte trägt eine Inschrift mit Angaben zum Opfer. Siehe dazu die Webseite zum Projekt: www.stolpersteine.com; zur Umsetzung in Bremen siehe auch die Information der Landeszentrale für politische Bildung, Bremen, unter: www.lzbp-bremen.de. 51 Interview Schleppegrell, 4.5.2007. 52 Ebd.

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»Ihr Mann war krank, Ihre Kinder sind auch krank« Der Vater von Frau Prinz53 wurde im Oktober 1940 mit der Diagnose Schizophrenie in Wehnen aufgenommen. Er starb Anfang 1942 in der Anstalt. In der Krankenakte ist dazu vermerkt: »Verdacht eines infektionären Darmkatarrhs bei Schizophrenie«, und: »Allgem. körperlicher Verfall«.54 Der Patient war zu diesem Zeitpunkt 37 Jahre alt. Frau Prinz hat keine bewussten Erinnerungen mehr an ihren Vater. Sie war sieben Jahre alt, als er nach Wehnen kam, und sie war nicht dabei, als ihre Mutter und andere Verwandte ihn regelmäßig in der Anstalt besuchten. Sie wusste aber als Kind, dass er, wie es hieß, in einer »Nervenheilanstalt« behandelt wurde. In einer Heilanstalt, so habe sie sich gedacht, werde er wohl geheilt werden. Woran Sie sich erinnern kann, ist die Beerdigung ihres Vaters und wie sie und ihre Geschwister von seinem Tod erfuhren: Sie waren aus der Schule nach Hause gekommen, wo ihre Mutter und Frauen aus der Nachbarschaft weinend in der Küche saßen. Den Kindern wurde nur gesagt, dass der Vater nun gestorben sei. Das war alles. Das Leben sei dann für die Kinder weiter wie gewohnt verlaufen. Sie kann sich nicht daran erinnern, dass in der Familie damals über die Krankheit ihres Vaters oder seinen Aufenthalt in der Anstalt gesprochen worden wäre: »Er war nicht da. Er war einfach nicht da. Es wurde nicht darüber gesprochen.«55 Heute wundert sie sich, dass das Schweigen auch in den späteren Jahren anhielt und sie selbst und ihre Kinder nicht nachfragten. Erst zwei Jahre vor dem Interview erfuhr sie Genaueres über die Erkrankung ihres Vaters und seine Zeit in der Anstalt. Ein Verwandter, der Familienforschung betreibt, war auf seine Geschichte gestoßen und hatte sich mit dem Gedenkkreis Wehnen in Verbindung gesetzt. Sie konnte nun Einsicht in die Krankenakte ihres Vaters nehmen und erfuhr erstmals, woran er erkrankt gewesen sei und wie es ihm in der Anstalt erging. Aus den Eintragungen geht hervor, dass er oft weinend in der Ecke saß und das Essen verweigerte, weil er befürchtete, vergiftet zu werden. Auch dass er sich über seinen Aufenthalt in der Anstalt beklagte, da er doch nichts getan habe, oder dass er seine Hinrichtung beantragen wollte, ist notiert, ebenso, dass er wiederholt im Bett fixiert wurde. »Das tut schon weh, wenn man das sieht …«56, merkt sie an. Es falle ihr immer noch schwer, in der Krankenakte ihres Vaters zu lesen. Gleichwohl berichtet sie über ihre erste Begegnung mit den darin enthaltenen Informationen: »… in dem Moment hab ich mich gefreut

53 Name geändert. Das Interview fand am 15.9.2006 statt. 54 Niedersächsisches Staatsarchiv Oldenburg, Best. 226,3 Acc. 35/97, Nr. 7100. 55 Interview Prinz (Name geändert), 15.9.2006. 56 Ebd.

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... [weil ich nun erfuhr,] … was los war und ... ja: … und feststellen musste, dass wir nicht krank sind …«.57 Damit meint sie sich sowie ihre Geschwister und spielt mit dieser Aussage auf eine Begebenheit an, von der ihre Mutter einmal erzählt habe. Als sie nach dem Tod ihres Mannes staatliche Unterstützung beantragen wollte, sei ihr prophezeit worden: »Ihr Mann war krank, ihre Kinder sind auch krank.«58 So unterschiedlich die dargestellten Einzelfälle sind, sie veranschaulichen, was viele der befragten Angehörigen in ihrer Auseinandersetzung mit den Lebensgeschichten der Opfer beschäftigt. Für die meisten handelt es sich um einen Aspekt der familiären Vergangenheit, der emotional sehr belastend ist. In vielen Interviewgesprächen gibt es Momente, in denen die Befragten weinen oder doch sichtbar um Fassung ringen. Trauer und Fassungslosigkeit sind die vorherrschenden Gefühle, wenn sie sich vor Augen führen, was ein Familienmitglied erleiden musste. Einige können sich deshalb nicht kontinuierlich mit dem Thema auseinandersetzen. Phasen intensiver Auseinandersetzung wechseln mit Phasen, in denen sie innerlich Abstand nehmen müssen. Das gilt nicht nur für die sehr nahen Angehörigen, die Kinder der Opfer, sondern auch für Enkel oder Nichten, auch wenn diese die Opfer oft gar nicht mehr persönlich kennen gelernt haben. Aber durch die nähere Beschäftigung mit ihren Lebensumständen, mit ihrem Leben vor der Erkrankung, mit dem, was darüber durch die Erzählungen älterer Familienmitglieder noch in Erfahrung gebracht werden kann, mit den möglichen Hintergründen für ihre Erkrankung, dem Tod des Ehemannes etwa oder eine gescheiterte Ehe – durch diese Annäherung an ihr Leben wird das abstrakte »Opfer« immer mehr zu einer Person, für die man Sympathie empfinden, mit der man mitfühlen, in die man sich hineinversetzen kann. Die Tatsache, dass über das Patientensterben in Wehnen öffentlich, aber auch in den Familien, jahrelang geschwiegen worden ist, die Opfer also nicht nur aus der Gesellschaft allgemein, sondern auch aus der eigenen Familienerinnerung ausgegrenzt wurden, wird zutiefst als ungerecht empfunden und löst nicht selten Schuldgefühle aus. Aus dem Empfinden heraus, den Opfern verpflichtet zu sein, treibt viele der Betroffenen das Motiv an, den in Vergessenheit Geratenen ihren Stellenwert in der Familie zurück zu geben, sie sozusagen nachträglich wieder in die Familie zu integrieren. Die Angehörigen der Opfer hatten bis zur wissenschaftlichen Aufarbeitung des historischen Geschehens kaum Anhaltspunkte für Nachforschungen. Dabei existierte in den betroffenen Familien oftmals schon lange eine Ahnung oder ein

57 Ebd. 58 Ebd.

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leiser Verdacht, dass es sich bei dem Tod eines Verwandten in Wehnen nicht um einen natürlichen Sterbefall gehandelt hatte. Häufig hatte es beiläufige Bemerkungen und Andeutungen älterer Familienmitglieder gegeben, die in diese Richtung wiesen. Dem stand jahrzehntelang die von institutioneller Seite in der Öffentlichkeit vertretene Behauptung entgegen, Wehnen sei von den nationalsozialistischen »Euthanasie«-Maßnahmen ausgenommen geblieben. Doch das Schweigen in den Familien hat noch andere Gründe.59 So erklärte ein Angehöriger, dessen Tante in Wehnen umkam, seine Eltern hätten über sie geschwiegen, weil sie so sehr unter dem Erlebten und dem Verlust des nahen Familienmitglieds gelitten hätten, dass sie einfach nicht in der Lage gewesen seien, darüber zu sprechen. Das Wort »Verdrängung« erschien ihm nicht angemessen, er fand dafür den Begriff »Trauerschweigen«60: Schweigen als Ausdruck überbordenden Schmerzes. Ähnlich der Sohn eines Opfers, der als Kind die Erkrankung seiner Mutter, ihre Einweisung in Wehnen und dann ihre Beerdigung am Heimatort miterlebt hatte und der sich erst in jüngster Zeit wieder mit dem Vergangenen beschäftigt hat: Er bekundete, er habe mit dem Verdrängen gut gelebt und den Tod seiner Mutter überwunden, nun aber seien alte Wunden aufgerissen.61 Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Viele der befragten Angehörigen erzählten, dass sie erst im Zuge ihres Aufarbeitungsprozesses Genaueres über die Erkrankung des Opfers erfahren hätten. Deren psychische Erkrankung sei zuvor in den betreffenden Familien nicht thematisiert worden. Im Nationalsozialismus galten psychische Erkrankungen überwiegend als Erbleiden und – folgenschwerer noch – als Gefahr für die Volksgesundheit. Damit standen nicht nur die Kranken, sondern auch ihre Familien als vermeintliche Träger von »volksschädlichem« Erbgut unter Verdacht. Psychische Erkrankungen waren ein familiäres Stigma. Offensichtlich wirken diese Vorstellungen nach und behindern bis heute die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.62 Und selbst dann, wenn dieses

59 Siehe zu diesem Aspekt auch A. Fleßner: Aufarbeitung, S.195-207. 60 Interview B.W. (Name geändert), 8.11.2006. 61 Interview H. M. (Name geändert), 7.9.2006. 62 Vgl. Delius, Peter: »Im Schatten der Opfer. Die Bewältigung der NS-Gewaltmaßnahmen gegen psychisch Kranke durch deren Angehörige«, in: Eckhard Heesch (Hg.), Heilkunst in unheilvoller Zeit. Beiträge zur Geschichte der Medizin im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M.: Mabuse Verlag 1993, S.65-84; Engelbracht, Gerda: Der tödliche Schatten der Psychiatrie. Die Bremer Nervenklinik 1933-1945, Bremen: Donat 1997, S. 169ff.; Dies.: »›Indirekt bin ich schuld.‹ Annäherung an Meta Scholz 1911-1943«, in: Achim Tischer (Hg.), Brauchen wir ein Mahnmal? Ein Projekt zur Erinnerung an die Psychiatrie im Nationalsozialismus in Bremen, Bremen: Edition

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Hindernis überwunden wird, ist die Stigmatisierung oftmals gegenwärtig: Einer der Befragten hatte in der Vergangenheit selbst unter einer psychischen Erkrankung gelitten. Obwohl sein Krankheitsbild ein ganz anderes war, als das seiner Großmutter, die 1943 in Wehnen starb, kam er zu dem Schluss, sein Fall wäre wohl eine Bestätigung dafür, dass psychische Erkrankungen vererblich seien. Lebensumstände würden als Einflussfaktoren zwar ebenfalls eine Rolle spielen, aber Krankheiten würden oft in der zweiten Generation vererbt, und dies träfe bei ihm anscheinend zu.63 In einem anderen Fall wollte eine junge Frau vor allem deshalb Genaueres über die Geschichte ihres Großvaters erfahren, weil sie sich Sorgen um ihre eigene Gesundheit und die ihrer Kinder machte.64 Auch das oben ausführlicher dargestellte Fallbeispiel der Frau Prinz dokumentiert das Nachwirken »erbgesundheitspolitischer« Prägungen. Es kommt bei ihr in der Äußerung zum Ausdruck, sie habe sich gefreut, als sie die Krankenakte ihres Vaters zum ersten Mal las; denn ihr sei dabei bewusst geworden, dass sich die Erkrankung ihres Vaters anders als seinerzeit prophezeit doch nicht vererbt habe. Aufschlussreich waren außerdem Nachgespräche im Rahmen der Interviewreihe, in denen die Anonymisierung der Gesprächsprotokolle vereinbart wurde. Der Wunsch nach Anonymisierung wurde zum Teil ausdrücklich mit der Rücksicht auf andere Familienmitglieder und damit begründet, dass im sozialen Umfeld nichts über das Vorkommen einer psychischen Erkrankung in der Familie bekannt werden dürfe. Die Gefahr bestehe, in Konflikten angreifbar oder sogar erpressbar zu sein. Nicht wenige der befragten Angehörigen beschreiben die Auseinandersetzung mit dem Schicksal ihres in Wehnen umgekommen Familienmitglieds als einen einsamen Prozess. Einzelne sehen sich mit dem Thema in ihren Familien regelrecht isoliert oder berichten davon, dass die Aufarbeitung dieses Aspekts der familiären Vergangenheit in der Familie abgelehnt wird. Manchmal ermöglicht gerade diese am eigenen Leib erfahrene Ausgrenzung, dass sie sich mit den

Temmen 2000, S. 11-31; siehe auch Roer, Dorothee C.: »Erinnern, Erzählen, Gehörtwerden. Zeugenschaft und ›historische Wahrheit‹«, in: Margret Hamm (Hg.), Lebensunwert zerstörte Leben. Zwangssterilisation und »Euthanasie«, Frankfurt a.M.: VAS 2005, S. 183-197. 63 Interview B.K. (Name geändert), 22.9.2006. 64 Interview K.F. (Name geändert), 9.10.2006. Die Interviewperson wurde zunächst als Opfer-Angehörige befragt, die Archivrecherchen in diesem Fall ergaben jedoch, dass ihr Großvater zwar Ende der 1920er Jahre kurzzeitig in die Heil- und Pflegeanstalt Wehnen aufgenommen, aber erst ab 1948 dauerhaft behandelt worden war. Er verstarb dort in den 1970er Jahren.

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vergessenen und auf die Weise ebenfalls ausgegrenzten Familienmitgliedern solidarisieren oder sogar identifizieren. Andererseits dokumentiert die Interviewreihe ebenso, dass Familien bei diesem Thema zusammenstehen, dass sich im Kreis der Familie mehrere an der Aufarbeitung beteiligen, darüber austauschen und so gegenseitig helfen. Dies gelingt eher dort, so der Eindruck, wo bereits eine Tradition gemeinsamer Erfahrungsverarbeitung existiert. In einigen Fällen werden die familiären Verbindungen durch die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte gefestigt oder nach längerer Unterbrechung neu geknüpft. Trotz der emotionalen Belastung bekunden die Befragten ganz überwiegend, die von ihnen geleistete Geschichtsverarbeitung und Erinnerungsarbeit sei eine sinnvolle Erfahrung für sie, auch deshalb, weil sie dadurch Lücken in der familiären Überlieferung hätten schließen können, die für ihr eigenes Leben von Bedeutung waren. Mitunter mündet der Aufarbeitungsprozess in das Gefühl, sich mit dem Vergangenen ausgesöhnt zu haben. In der Interviewreihe wurde deutlich, dass Anklagen an die Täter oder eine Auseinandersetzung mit deren Schuld für die Angehörigen in ihrer Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht im Vordergrund stehen. Angesichts des jahrzehntelangen gesellschaftlichen und familiären Schweigens über das historische Geschehen und über die Opfer richtet sich ihre Aufmerksamkeit in erster Linie auf deren persönliche Schicksale. Sie beschäftigen sich intensiv mit deren konkreten Todesumständen, lesen die Krankenakten, erfahren etwas über die Hintergründe der Einlieferung und welche Diagnosen gestellt worden waren, sehen anhand der Pflegeberichte, wie sich ihr Angehöriger in der Anstalt verhielt und wie er behandelt wurde. Ihre Aufmerksamkeit ist auf die konkreten Ereignisabläufe in der Anstalt gerichtet. Sie versuchen sich den Anstaltsalltag zu vergegenwärtigen. Das Handeln der zuständigen Ärzte, des Pflegepersonals und der Verwaltungsbeamten in Wehnen und Oldenburg ist für sie deshalb von Belang, weil es den Anstaltsalltag unmittelbar bestimmte. Die Art und Weise, wie die Angehörigen der Opfer sich den historischen Ereignissen stellen, kann als Annäherungsdiskurs charakterisiert werden. Sie nehmen die Geschichte des Krankenmords in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen als ihre eigene Geschichte wahr und nähern sich ihr als Teil der Geschichte ihrer Familie und als Teil der Geschichte von Institutionen ihres sozialen Umfeldes.

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D ISKURSKONKURRENZ Das Hungersterben in Wehnen und die dazu vorliegenden Forschungsergebnisse wurden in den letzten Jahren immer wieder in der regionalen Presse behandelt. Die direkt betroffenen Institutionen, die Karl-Jaspers-Klinik in Wehnen und der Bezirksverband Oldenburg als Nachfolger des früheren Landesfürsorgeverbandes Oldenburg, stellen sich heute ihrer Vergangenheit und unterstützen die vom Gedenkkreis Wehnen ausgehende Gedenkarbeit. Aber es gibt auch Widerspruch. Aktuelles Beispiel dafür ist die öffentlich ausgetragene Kontroverse um die Errichtung einer Erinnerungsstätte auf dem Friedhof der Kirchengemeinde Ofen in unmittelbarer Nähe der früheren Heilund Pflegeanstalt Wehnen. Die im Jahre 2009 fertiggestellte Anlage befindet sich auf einem Areal, das seinerzeit als Anstaltsfriedhof genutzt wurde. Die eigentlichen Grabstätten sind heute aufgrund von Umgestaltungsmaßnahmen, welche die Friedhofsverwaltung Mitte der 1990er durchführen ließ, nicht mehr sichtbar. Die Erinnerungsstätte besteht aus einer ca. 80 Quadratmeter großen, begrünten Fläche mit einem Gedenkstein aus Marmor in Form eines Kopfkissens. Dazu kommen zahlreiche Einzelsteine, von denen jeder symbolisch für eines der Opfer des Hungersterbens in Wehnen steht. Für die Einzelsteine können Patenschaften übernommen werden, und die Steine können individuell beschriftet werden. Das Leitmotiv der Anlage ist, die Opfer nachträglich symbolisch zu betten, sie wieder wahrnehmbar zu machen und so zu ermöglichen, dass ihnen individuell gedacht werden kann. So findet auch im öffentlichen Raum das Bemühen statt, den vergessenen Opfern wieder ihren Platz in der Erinnerung und im Bewusstsein der Gemeinschaft zurückzugeben. Im Spätsommer und Herbst 2008 war das Projekt Gegenstand von Meldungen in den Tageszeitungen der Region.65 Berichtet wurde über einen Konflikt zwischen dem Gedenkkreis und Teilen der Kirchengemeinde Ofen, deren Zustimmung zur Umsetzung des Vorhabens erforderlich war. Anlass war die geplante Inschrift auf dem zentralen Gedenkstein der Anlage, dem Kissenstein. Der Gedenkkreis hatte zunächst einen Text vorgesehen, in dem mit der Formulierung »von Ärzten, Pflegepersonal und Medizinalbeamten durch verordneten Hunger ermordet« die auf lokaler Ebene Verantwortlichen für das Hungersterben

65 Siehe u.a. »Euthanasie-Erinnerungsstätte Ofen wird eingeweiht. Gedenktag. Bischof Peter Krug mit einer seiner letzten Amtshandlungen – Gottesdienst am Sonntag«, in: Nordwest-Zeitung vom 28.8.2008; »Patienten der Heilanstalt systematisch getötet. Oldenburger Bischof weiht Gedenkstätte für Opfer der Nazizeit ein«, in: Neue Osnabrücker Zeitung vom 29.8.2008.

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benannt wurden.66 Dieser Passus war seitens der Kirchengemeinde auf Widerspruch gestoßen, so dass der Gedenkstein bei der am 31. August 2008 vorgenommenen Weihung der Erinnerungsstätte durch den Oldenburgischen Landesbischof zunächst noch ohne Inschrift blieb. Der Ortsbürgerverein Ofen nahm dazu in einer Pressemitteilung Stellung, die in einem Zeitungsartikel mit den Worten zitiert wird, es sei eine »unerträgliche Arroganz des Gedenkkreises Wehnen [...] ganze Berufsgruppen als Mörder [zu] verurteilen.«67 »Da es Pfleger aus der Nazi-Zeit gebe, die noch lebten«, so die Wiedergabe der Pressemitteilung weiter, »nehme der Vorstand des Bürgervereins mit Befremden zur Kenntnis, ›dass die evangelische Kirchengemeinde sich nicht deutlich davon distanziert, dass einige ihrer Mitglieder so an den Pranger gestellt werden sollen‹.«68 Nach langen Verhandlungen, in die sich der Oldenburger Oberkirchenrat vermittelnd einschaltete, fand schließlich ein vom Gedenkkreis Wehnen entwickelter Alternativvorschlag die Zustimmung der Kirchengemeinde. In der nun gewählten Formulierung wird das historische Geschehen nach wie vor konkret benannt, auf die Nennung von Tätergruppen jedoch verzichtet.69 Aus Sicht des Gedenkkreises war diese Lösung auch deshalb annehmbar, weil die Erwähnung der Täter und damit ihre Präsenz an einem Ort, der den Opfer gewidmet ist, von einigen seiner Mitglieder dann doch als störend empfunden wurde.70 Die Episode macht darauf aufmerksam, dass das Gedenken an die Opfer nach wie vor mit Strategien der Abwehr und Abgrenzung konfrontiert ist, die einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen, geschweige denn einer Annäherung an das Leiden der Opfer im Wege stehen. Die in der Nachbarschaft der Anstalt Wehnen lebende Bevölkerung ist von dieser Vergangenheit unmittelbar betroffen, denn in der Tat rekrutierte sich das Pflegepersonal traditionell aus den Familien der umliegenden Gemeinden. Wie empfindlich von ihrer Seite die Reaktionen auf die zunächst vorgesehene Inschrift

66 Vorschlag des Gedenkkreises im Mai 2008, Gedenkkreis Wehnen e.V., Vereinsarchiv. 67 »Bürgerverein gegen Inschrift. Diskussionen über Gedenkstein auf dem Ofener Friedhof«, in: Sonntagszeitung Ammerland vom 28.9.2008, S. 25. 68 Ebd. 69 Die Inschrift lautet: »›Sie haben uns hungern lassen, gequält und ermordet.‹ Wir Angehörigen trauern um mehr als 1500 hilfsbedürftige Patienten, die in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen in den Jahren 1936 bis 1947 ihr Leben lassen mussten. Viele der Opfer liegen hier namenlos vergraben.« 70 Der Verfasser konnte die Diskussionen als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Gedenkkreises Wehnen verfolgen.

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des Gedenksteins gewesen sein mögen, ist an der Schärfe der gegen den Gedenkkreis gerichteten Formulierung in der Pressemitteilung des Ortsbürgervereins ablesbar. Die Aufarbeitung des Hungersterbens in der früheren Heil- und Pflegeanstalt Wehnen stellt auch für die Angehörigen der Verantwortlichen und Täter eine emotionale Herausforderung dar. Denn diejenigen, denen damals die medizinische Behandlung, die Pflege und Versorgung der Kranken oblag, tragen zumindest eine Mitverantwortung. Das gilt in besonderem Maße für die Beteiligten, die über weiter reichende Entscheidungsbefugnisse verfügten, allen voran die Ärzte und die leitenden Verwaltungsbeamten. Das gilt jedoch auch für das Pflegepersonal. Bei einer Überbelegung der Anstalt ab Mitte der 1930er Jahre mit über 700 Patienten, die von rund hundert Pflegekräften, aber nur von nur zwei bis drei Ärzten betreut wurden71, kann man davon ausgehen, dass die Pflegekräfte aus dem täglichen Umgang mit den Patienten am besten einschätzen konnten, ob ein Patient arbeitsfähig war oder besonders pflegeaufwendig. Ohne den intensiven und planvollen Einsatz der Pfleger und ohne deren aktive Mitwirkung wäre das Hungersystem in der Anstalt nicht durchführbar gewesen. Nach allem, was wir heute wissen, war die Heilund Pflegeanstalt Wehnen zwar zum Teil eingebunden in die von Berlin aus ab 1939 organisierten Verwaltungsabläufe des Krankenmords – insbesondere wurden auch in Wehnen die im Zuge der »Aktion T4« eingeführten Meldebögen zur Selektion der Patienten ausgefüllt und an die »T4«-Zentrale in Berlin geschickt.72 Noch immer kann nicht völlig ausgeschlossen werden, dass von dort aus in irgendeiner Form Tötungsanweisungen erfolgt sind. Dagegen spricht, dass bislang keine Hinweise aufgetaucht sind, die diese Möglichkeit belegen würden. Außerdem wäre die Existenz von Tötungsanweisungen ohne die damit verbundene Anordnung von Abtransporten ein erklärungsbedürftiger Sonderfall der zentral gesteuerten »Euthanasie«-Maßnahmen.73 Das Gesamtbild des oldenburgischen Krankenmordgeschehens legt vielmehr den Schluss nahe, dass es im Wesentlichen auf lokaler Ebene organisiert und gesteuert wurde. Vor diesem Hintergrund ist die Bezeichnung »NS-Euthanasie« für das, was in Wehnen geschah, in gewisser Hinsicht irreführend. Die Chiffre »NS« lässt an Mechanismen nationalsozialistischer Machtdurchsetzung und an zentrale Steuerung und überregionale Befehlsketten denken. Ihre nach wie vor übliche Verwendung in der heutigen Presseberichterstattung zum Krankenmord in Wehnen

71 Genauere Zahlen bei I. Harms: Hungertod, S. 48-58; Ders.: Krankenmorde, S. 28-30. 72 Vgl. I. Harms: Hungertod, S. 132-148; A. Fleßner: Aufarbeitung, S. 195, Fußnote 2. 73 Anders noch I. Harms (in Zusammenarbeit mit W. Gertje): Nachkriegs-›Euthanasie‹, S. 97 (verfasst 2005).

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wirkt insofern wie eine subtile Fortsetzung des ehemals etablierten Abgrenzungsdiskurses. Wie das folgende Beispiel aus dem Jahre 2008 zeigt, steht er heute in einem Spannungsverhältnis zu dem Annäherungsdiskurs, der von der Angehörigeninitiative in Wehnen ausgeht. Am 6. Juni 2008 berichtete die Oldenburger »Nordwest-Zeitung« unter der Hauptüberschrift »Die entscheidende Frage bleibt« in einem mehrspaltigen Artikel über den ersten Spatenstich für die Errichtung der oben beschriebenen Erinnerungsstätte auf dem ehemaligen Anstaltsfriedhof in Ofen.74 Der Spaltentext enthält eine historisch zutreffende Darstellung, indem darauf hingewiesen wird, dass der Krankenmord in Wehnen schon »drei bis vier Jahre vor dem offiziellen ›Gnadentod-Erlass durch Adolf Hitler‹« begann. Dennoch steht im Untertitel: »Euthanasie-Erinnerungsstätte gedenkt der Opfer des NS-Regimes«.75 Die Hauptüberschrift dagegen nimmt den Annäherungsdiskurs auf, der sich dem Leser allerdings erst erschließt, wenn er den letzten Satz des Artikels liest. Denn dort wird die Vorsitzende des Gedenkkreises Wehnen zitiert: »Für Minssen bleibt jedoch die entscheidende Frage bestehen: Wie konnten Ärzte und Pflegepersonal so etwas zulassen?«76

74 Lukassen, Geerd: »Die entscheidende Frage bleibt. Verbrechen. Euthanasie-Erinnerungsstätte gedenkt der Opfer des NS-Regimes«, in: Nordwest-Zeitung vom 6.6.2008. 75 Ebd. 76 Ebd.

»Gesellschaftsunwürdige Volksgenossen« Psychiatrisierung von Tuberkulosekranken im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit C HRISTINE W OLTERS

Ärzte haben als Berufsgruppe eine starke Affinität zur nationalsozialistischen Ideologie gehabt. Sie haben nicht nur von ihr profitiert, sondern sich als frühe Mitglieder der »nationalsozialistischen Bewegung« in besonderem Maße politisch engagiert und die Etablierung ideologischer Grundpositionen, wie der Rassenhygiene, in der Praxis befördert.1 Nationalsozialistische Politik war nicht nur Klientelpolitik im Sinne einer Standespolitik. Sie war auch auf die Umsetzung von Forderungen eines Teils der Ärzteschaft zur einschneidenden Veränderung ärztlicher Ethik, insbesondere im Verhältnis zwischen Arzt und Patient, ausgerichtet. In der Beziehung zu bestimmten Gruppen von Menschen wurden wichtige Grundwerte wie das Nicht-Schadensgebot und die Empathie mit dem Patienten außer Kraft gesetzt. Menschen, die den Vorstellungen vom »Volksgenossen« nicht entsprachen, konnten aufgrund hygienischer oder ethnischer Rassismen von ärztlicher Hilfeleistung ausgeschlossen, in Humanexperimenten missbraucht und, wie die Ermordung von zehntausenden von psychisch Kranken und geistig behinderten Menschen gezeigt hat, straffrei getötet werden. Am Beispiel der Diskriminierung und Zwangsasylierung von Tuberkulosekranken soll in diesem Beitrag beispielhaft gezeigt werden, wie Ärzte im Nationalsozialismus ihre

1

Kater, Michael H.: Ärzte als Hitlers Helfer, München/Zürich: Piper 2002, S. 103-116 sowie Kudlien, Fridolf: »Ärzte in der Bewegung«, in: Medizin im Nationalsozialismus. Tagung vom 30. April bis 2. Mai 1982 in Bad Boll, hg. vom Protokolldienst der Evangelischen Akademie Bad Boll 23/82, Bad Boll 1982, S. 20-62.

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Abkehr von der Individualethik legitimierten und wie in der frühen Bundesrepublik das etablierte System von Zwangsmaßnahmen den demokratischen Normen angepasst wurde. Seit Mitte der 1920er Jahre forderten Ärzte Zwangsmaßnahmen gegen tuberkulosekranke Patienten, die sich nicht dem Regime ärztlicher Therapieanweisungen beugten. Es war das Abweichende und Renitente, das in einer zunehmend uniformen und wirtschaftlich stagnierenden Gesellschaft den Unwillen der Ärzte auf sich zog. Das Beharren auf die individuelle Lebensgestaltung und auf das Recht, über den eigenen Körper zu verfügen, schien der eigenen Gesundung und der Gesundheit anderer entgegenzustehen. Die Humanität des Arztes im Umgang mit dem Kranken als Individuum sei das, was den Gesunden gefährde.2 Gemeinsam mit nationalsozialistischen Gesundheitspolitikern schufen sich diese »Ärzte der neuen Zeit« ein weitreichendes gesundheitspolitisches Instrumentarium. In einer Zeit der Unterordnung unter eine Kollektivethik als erstrebenswerte gesellschaftliche Norm war nicht die Heilung jedes einzelnen Kranken das Ziel ärztlichen Handelns: »Wir behandeln den Erkrankten, aber wir tun nichts Grundsätzliches, Durchschlagendes [...]!«. Die Seuche verschwinde nicht, wenn man die »Verseuchten« behandele, auch wenn man sie alle heilen könnte, sondern, indem man Neuerkrankungen verhindere, postulierte der Arzt und Rektor der Universität Erlangen Fritz Specht, als er 1940 in einem programmatischen Artikel Bilanz zog. Gerade im Bereich der »Tuberkulosebekämpfung« empfanden solche Ärzte einen großen Druck der Gesellschaft, aber auch eine besondere Legitimierung ihrer ärztlichen Ethik, denn den Erfolg ihrer Arbeit bemaßen sie an der Zahl der Erkrankten. Sie fühlten sich von der Gesellschaft gewissermaßen beauftragt, den »Kampf mit der folgerichtigen Rücksichtslosigkeit nationalsozialistischen Verfahrens«3 zu führen: »Uns Ärzten der neuen Zeit ist die Tuberkulose ein politisches Problem. Der Seuchenträger ist eine Gefahr für die Gemeinschaft der Gesunden. Diese Gemeinschaft darf von uns Ärzten verlangen, daß wir alles tun, die Gefahr von ihr abzuwenden.«4

2

Vgl. Specht, Fritz: »Grundsätzliches über die Kehlkopftuberkulose im Rahmen des Kampfes gegen die Tuberkulose als Volksseuche«, in: Archiv für Ohren-, Nasen- und Kehlkopfheilkunde 148 (1942), S. 200-209, hier S. 202.

3

Ebd.

4

Ebd.

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Aus der Enthumanisierung hätten, im logischen Rückschluss, Erfolge entspringen müssen. Doch eher das Gegenteil war der Fall, die Zahl der Tuberkulosekranken stieg in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre wieder an. Jede vermiedene Neuerkrankung war wichtig in einer Zeit, in der keine spezifische Therapie zur Verfügung stand. Ärzte, Gesundheitspolitiker und andere Experten befanden sich dabei in einem Dilemma: Zwar waren die Übertragungswege gut erforscht, ebenso wie diagnostische Methoden zur Erkennung der Tuberkulose ständig verbessert wurden, eine wirksame Prävention, etwa in Form einer Impfung, oder ein zuverlässiges Medikament fehlten jedoch. Gingen Menschen in den Augen von Experten mit der Erkrankung leichtsinnig um, etwa indem sie Hygienevorschriften missachteten, ließen sie den unbedingten Willen zur Gesundung vermissen und wurden diskriminiert und verfolgt. Die Tuberkulose ist als Infektionskrankheit keine Erkrankung, deren Therapie originär in psychiatrischen Einrichtungen angesiedelt war. Trotzdem gehörte die Unterbringung von bestimmten Tuberkulosekranken seit Anfang der 1930er Jahre zum Alltag einer zunehmenden Zahl psychiatrischer Anstalten. Hauptsächlich aufgrund von rassenhygienisch begründeten Eigenschaften, die den therapieverweigernden Tuberkulosekranken zugeschrieben wurden, überwog der Aspekt des abweichenden Verhaltens den der Bekämpfung der Infektion. So wurde ein Teil der Tuberkulosekranken von Lungenfachärzten in die Hände von Psychiatern gegeben, da diese nicht nur als Experten für psychiatrische Krankheiten im Besonderen, sondern für abweichendes Verhalten im Allgemeinen galten.5 In diesem Beitrag soll zunächst ein Einblick in die Entwicklung der Zwangsasylierung in Deutschland seit Mitte der 1920er Jahre bis zum Ende der 1960er Jahre gegeben werden. Auffallend sind dabei die personellen Kontinuitäten zwischen dem Nationalsozialismus und der frühen Bundesrepublik sowie der DDR. Der Beitrag wird dabei den Fokus auf die Entwicklung in der Bundesrepublik legen, in der die Anwendung von rechtlich ungenügend abgesicherten Zwangsmaßnahmen gegen die Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft verstieß. Der Konflikt, dass Menschen, die nicht an einer psychiatrischen Erkrankung litten, trotzdem zwangsweise in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht wurden, ließ sich durch die Fokussierung auf das sozial abweichende Verhalten der Betroffenen im Sinne einer Psychopathie entschärfen

5

Zur Zwangsasylierung im Nationalsozialismus vgl. Wolters, Christine: »Der Umgang mit therapieverweigernden Tuberkulosekranken im Nationalsozialismus«, in: Gesundheitswesen 70 (2008), S. 454-455; Dies.: Tuberkulose und Menschenversuche im Nationalsozialismus. Das Netzwerk hinter den Tbc-Experimenten im Konzentrationslager Sachsenhausen, Stuttgart: Steiner 2011.

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und ermöglichte eine Ablösung von hygienischen Rassismen des Nationalsozialismus. Hilfreich war dabei, wie gezeigt werden wird, dass westdeutsche Tuberkuloseärzte nun einen Bezug zwischen ihrer eigenen Position und der von Tuberkuloseexperten anderer Länder herstellten. Nach Inkrafttreten des Grundgesetzes musste die Zwangsasylierung auf eine neue rechtliche Grundlage gestellt werden, so dass dieser Prozess von einer Diskussion um rechtstaatliche Prinzipien begleitet war.

T UBERKULOSE IM K AISERREICH UND DER W EIMARER R EPUBLIK Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert war die Tuberkulose die verbreitetste und schwerwiegendste Infektionskrankheit in Deutschland. Sie war die häufigste Ursache von Invalidität und Tod von Menschen im arbeitsfähigen Alter. Der hauptsächliche Erreger, das Mycobacterium tuberculosis, wird meist durch Tröpfcheninfektion übertragen, ein Infektionsweg, der, im Gegensatz zu dem der damals sehr brisanten Geschlechtskrankheiten, nur schwer zu unterbrechen war und bis heute ist. Es gibt, je nachdem, welches der Organe befallen ist, verschiedene Formen der Tuberkulose. Die häufigste war und ist die Lungentuberkulose. Robert Koch entdeckte das Mycobacterium tuberculosis 1882 in einer Zeit, in der die Bakteriologie große Erfolge feierte. Anders allerdings als bei anderen Infektionskrankheiten gab es jedoch lange keine wirkungsvolle, medikamentöse Therapie. Daraus erwuchs das Dilemma, die Erkrankung in der Folge zwar – u.a. mit dem 1907 eingeführten Tuberkulin-Test des Pädiaters Clemens von Pirquet – immer sicherer diagnostizieren zu können, die therapeutischen Möglichkeiten beschränkten sich jedoch auf langwierige Sanatorium- und Heilstättenaufenthalte, verbunden mit Liegekuren und Diäten sowie umstrittene chirurgische Maßnahmen. Der Druck auf die Medizin als Wissenschaft wuchs, eine bezahlbare, zuverlässige medikamentöse Therapie oder Impfung zu etablieren. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wuchs die Frustration der Ärzte, da es kaum Fortschritte gab. Sie betonten zunehmend den präventiven Aspekt ihrer Tätigkeit, die Aufklärung und Absonderung von Kranken. Wer sich dem strengen Regime, aus welchen Gründen auch immer, nicht unterwarf, wurde schnell stigmatisiert. Der Kampf gegen die Krankheit wurde bei Ärzten zum Kampf gegen die Kranken. Bereits seit der Jahrhundertwende machten Experten hinsichtlich der Prävention einen erheblichen Handlungsbedarf des Staates aus, aber bis in die 1920er Jahre hinein wurden seitens des Gesetzgebers nur zögerlich Maßnahmen ergriffen. Die

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Zahl der Betroffenen war zu groß, als dass eine Isolierung sinnvoll durchgeführt werden konnte. Die empfundene Gesetzeslücke führte zu einer Unzufriedenheit in weiten Kreisen der Ärzteschaft. Die Kritik bezog sich auf den Mangel an gesetzlichen Vorgaben, wie mit ansteckungsfähigen Kranken umzugehen sei und welche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung getroffen werden konnten. Lungenärzte und Medizinalbeamte forderten Gesetze zur weiteren Bekämpfung der Krankheit durch Isolierung von infektiösen Personen, deren zwangsweise Verwahrung bis dahin nicht möglich war. Das erste umfassende Seuchengesetz war das preußische »Regulativ über die sanitätspolizeilichen Vorschriften bei den am häufigsten vorkommenden ansteckenden Krankheiten« vom 8. August 1835. Am 30. Juni 1900 wurde für das Deutsche Reich das »Gesetz, betreffend die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten« erlassen. Den einzelnen Ländern oblag es, dieses Gesetz durch eigene Regelungen zu ergänzen, wie es Preußen mit dem gleichnamigen Seuchengesetz vom 28. August 1905 tat. Hier wurde auch erstmals die Meldung des Auftretens der Tuberkulose festgelegt, jedoch nur im Todesfall. Ebenso wurden bereits Absonderungsmaßnahmen für erkrankte Personen beschlossen, die an anderen Infektionskrankheiten litten.6 Mit der Entstehung der Verfassung der Weimarer Republik blieb eine Konkurrenz der Gesetzgebung zwischen Reich und Ländern bestehen, ein Verhältnis, das während der gesamten Zeit problematisch blieb.7 Eine einheitliche Verfahrensweise bildete sich nicht heraus.8 Ärzte forderten immer wieder eine Reformierung der Tuberkulosebekämpfung, vor allem auch deren Auskopplung aus der Seuchenbekämpfung und die Regelung in einem Reichstuberkulosegesetz. Die Lage wurde als ausgesprochen prekär empfunden. Um die Jahrhundertwende gab es in Deutschland etwa 200.000 Tuberkulosekranke mit einer offenen

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Allgemeine Ausführungsbestimmungen zum Preußischen Gesetz vom 28. August 1905 § 8 III., Kirchner, Martin: Die gesetzlichen Grundlagen der Seuchenbekämpfung im Deutschen Reiche unter besonderer Berücksichtigung Preußens. Festschrift dargeboten von dem Preußischen Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, Jena: Fischer 1907, S. 110.

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Vgl. Apelt, Willibald: Geschichte der Weimarer Verfassung, München: Beck 21964, S. 145.

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Einen guten Überblick über die einzelnen Tuberkulosegesetze bietet Sissle, Adolf: »Die Gefährdung der Allgemeinheit durch ansteckende Tuberkulöse und die gesetzlichen Maßnahmen zu ihrer Verhütung«, in: Zeitschrift für Tuberkulose 52 (1928), S. 324-333.

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Lungentuberkulose, also Personen, die die Erkrankung übertragen konnten.9 Diese lebten zumeist in ihren Familien und verdienten, sofern sie dazu noch in der Lage waren, ihren Lebensunterhalt selbst. Sie arbeiteten beispielsweise als Schaffner, Kellner und Köche, obwohl auch in der Bevölkerung bekannt war, dass die Tuberkulose durch Tröpfcheninfektion übertragen wurde. Die Absonderung der Kranken, wie sie immer häufiger verlangt wurde, hätte in den meisten Fällen eine untragbare wirtschaftliche Situation für die betroffenen Familien bedeutet. Dass oft nicht Leichtsinn zur Unterschätzung der tatsächlichen Gefährdung der Umgebung führte, sondern ein Mangel an Wissen, zeigte eine am Hygienischen Institut der Universität Heidelberg verfasste medizinische Dissertation zum Kenntnisstand der Bevölkerung über die Übertragung der Tuberkulose. Die Autorin befragte dazu 600 Menschen verschiedener Schichten und kam zu dem Ergebnis, dass lediglich die Hälfte der Bevölkerung angemessen über die Symptome und Übertragungsmöglichkeiten der Tuberkulose aufgeklärt war.10 Nur ein geringer Prozentsatz der Kranken konnte sich einer Kur in Sanatorien und Heilstätten unterziehen. Die Wirksamkeit von Heilstättenaufenthalten wurde darüber hinaus immer wieder in Frage gestellt. Viele Patienten erkrankten kurze Zeit nach der Entlassung wieder. Die Heilstätten nahmen zudem meist nur leichte Fälle auf, die eher Aussicht auf Heilung boten. Schwerkranke, die das größere Infektionsrisiko darstellten, wurden schlecht betreut.11 So entschloss man sich um die Jahrhundertwende zuerst in Preußen, Tuberkulosefürsorgestellen einzurichten. In den Fürsorgestellen wurden die Kranken kostenlos durch Fürsorgerinnen betreut, die Verhaltensmaßregeln empfahlen und Ratschläge zur Desinfektion erteilten. Die Tuberkulosefürsorge unterhielt 1925 in ganz Deutschland 267 Tbc-Fürsorgestellen, in denen 386.667 Kranke betreut wurden.12 Bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts sank die Tuberkulosemortalität in

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Vgl. Koch, Robert: »Die Bekämpfung der Tuberkulose unter Berücksichtigung der Erfahrungen, welche bei der erfolgreichen Bekämpfung anderer Infektionskrankheiten gemacht sind«, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 27 (1901), S. 221-230.

10 Vgl. Peitmann, Anna Liese: »Über die Kenntnisse von der Tuberkulose in der Bevölkerung«, in: Beiträge zur Klinik der Tuberkulose 82 (1933), S. 549-565, zugl. Diss. med. Heidelberg. 11 Vgl. Vossen, Johannes: Gesundheitsämter im Nationalsozialismus. Rassenhygiene und offene Gesundheitsfürsorge in Westfalen 1900-1959, Essen: Klartext 2001, S. 110-111. 12 Vgl. Labisch, Alfons/Tennstedt, Florian: Der Weg zum »Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens« vom 3. Juli 1934. Entwicklungslinien und -momente

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Deutschland mit Ausnahme weniger Jahre stetig. Lediglich in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs sowie während der Weltwirtschaftskrise und der Inflation war ein vorübergehender Anstieg zu verzeichnen, wobei die Zahl der an Tuberkulose Verstorbenen 1923 mit rund 95.000 etwa der des Jahres 1913 entsprach. 1930 starben nur noch etwa 50.000 Menschen an Tuberkulose.13 Radikalisierung Mitte der 1920er Jahre Trotz dieser Entwicklung vollzog sich in den 1920er Jahren eine spürbare Radikalisierung im Umgang mit Tuberkulosekranken. Herrschte vorher allgemein eine Einstellung vor, die von Empathie mit dem Kranken geprägt war, wurde nun häufiger, auch und gerade von Tuberkuloseärzten, das Bild eines Patienten gezeichnet, der seine Krankheit selbst verschuldet habe, der nicht bereitwillig genug sei, allen angeordneten Maßnahmen zu folgen und damit eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle.14

des staatlichen und kommunalen Gesundheitswesens in Deutschland, Düsseldorf: Akademie für öffentliches Gesundheitswesen 1985, S. 71. 13 Vgl. Hähner-Rombach, Sylvelyn: »The Construction of the ›Anti-social TB-Patient‹ in the Interwar Years in Germany and the Consequences for the Patients«, in: Iris Borowy, Iris/Wolf Gruner (Hg.), Facing Illness in Troubled Times. Health in Europe in the Interwar Years 1918-1939, Frankfurt a.M./Berlin/Bern: Lang 2005, S. 345-363, hier S. 346-347. 14 Vgl. u.a. Baer, Gustav: »Vorschläge zur Tuberkulosebekämpfung im neuen Deutschland«, in: Praktische Tuberkulose-Blätter 7 (1933), S. 145-150; Ders.: »Richtlinien für die Tuberkulosebekämpfung«, in: Deutsches Ärzteblatt 65 (1935), S. 212215 und S. 244-247; Denker, Hans: »Neuordnung der Tuberkulosebekämpfung in Deutschland«, in: Deutsches Ärzteblatt 63 (1933), S. 427-428; Ders.: »Die Tuberkulosebekämpfung im Jahre 1933/34«, in: Deutsches Ärzteblatt 6 (1934), S. 1126; Dugge, Max: »Wo bleibt die planmäßige Tuberkulose-Seuchenbekämpfung?«, in: Beiträge zur Klinik der Tuberkulose und spezifischen Tuberkulose-Forschung 83 (1933), S. 596-604; Ders.: »Tuberkulose-›Fürsorge‹ soll Seuchenbekämpfung sein«, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 60 (1934), S. 867-869; Kalk, Heinz: »Zwangsverwahrung der Tuberkulösen?«, in: Deutsches Tuberkulose-Blatt 8 (1934), S. 185-189; Noak, Richard: »Konstitution, Tuberkulose und Bevölkerungspolitik«, in: Der Öffentliche Gesundheitsdienst 1B (1935), S. 49-55; Oxenius, Richard: »Zur Frage der Unschädlichmachung Tuberkulöser«, in: Deutsches Tuberkulose-Blatt 9 (1935), S. 10-11; Oldenburg, Friedrich: »Zur Zwangsbehandlung bei Tuberkulose«, in:

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Abb. 1: Günther Krutzsch

Quelle: Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Personalakte.

Unter den Ländern des Deutschen Reichs nahm Thüringen dabei eine hervorgehobene Stellung ein. Einer der Verfechter dieser rigorosen Haltung war der Leiter der Tuberkulosefürsorgestelle im thüringischen Altenburg, Günther Krutzsch.15 Bemerkenswerterweise argumentierte Krutzsch bereits 1925 für die Einführung der Zwangsabsonderung mit dem sogenannten »Volksempfinden«.16 1928 sprach er unverhohlen von der »Durchführung der Haft an Tuberkulösen«, die damit für »unverbesserliche Unbelehrbarkeit oder […] vorsätzliche Böswil-

Deutsches Tuberkulose-Blatt 11 (1937), S. 211-217. Vgl. auch S. Hähner-Rombach: Construction, S. 350. 15 Günther Krutzsch (*1890), studierte 1914 bis 1919 in Kiel, München und Würzburg Naturwissenschaften und Medizin, wegen einer Körperbehinderung war er dienstuntauglich, nach der Approbation arbeitete er in den Bereichen Gynäkologie und der Dermatologie sowie in verschiedenen Lungenheilstätten, Mitglied der NSDAP 1933, Beisitzer des Erbgesundheitsgerichts 1934. Krutzsch gab im Entnazifizierungsverfahren an: »Keine Reden oder Veröffentlichungen« [sic]. Krutzsch gehörte zu den wenigen Tuberkuloseärzten, die auch in »Ziel und Weg«, der Monatsschrift des Hauptamtes der NSDAP sowie im »Erbarzt« publizierten. Nach 1945 weiterhin Leiter der Tuberkulosefürsorgestelle Altenburg. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Personalakte Günther Krutzsch. 16 Vgl. Krutzsch, Günther: »Vorschläge zur Verschärfung der Tuberkulose-Gesetzgebung«, in: Tuberkulose-Fürsorge-Blatt 12 (1925), S. 131-133, hier S. 131.

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ligkeit« zu bestrafen seien.17 In den 1930er Jahren verband er seine gesundheitspolitischen Überlegungen mit einer deutlichen politischen Stellungnahme zugunsten der Nationalsozialisten. So forderte er, man solle »an Stelle des liberalistischen Individualismus den Gedanken des Nationalsozialismus und damit das Allgemeinwohl über den Egoismus des Einzelnen setzen.« Er forderte ein »kraftvolles Zupacken« beim Kampf gegen die Tuberkulose und verkündete, »der Sieg der nationalsozialistischen Weltanschauung habe es ermöglicht, endlich auch auf dem Gebiet der Tbc-Bekämpfung Gemeinnutz über Eigennutz zu stellen«. Franz Heisig, Bezirksleiter des Reichs-Tuberkulose-Ausschusses (RTA) für Thüringen und als späterer Leiter der ersten Zwangsasylierungsabteilung in Stadtroda einer der wichtigsten Verfechter der Zwangsasylierung, bezeichnete die Thüringische Tuberkulose-Gemeinschaft als die »in Thüringen gut ausgebildete Kampffront gegen Tuberkulose«.18 Abb. 2: Julius Kayser-Petersen

Quelle: Zeitschrift für Tuberkulose 97 (1951), S. 301.

17 Krutzsch, Günther: »Neues Tatsachenmaterial für die zukünftige TuberkuloseSeuchen-Gesetzgebung«, in: Tuberkulose-Fürsorge-Blatt 15 (1928), S. 95-98, hier S. 97; vgl. auch ders.: »Notwendigkeit und Grenzen des Zwanges in der Tuberkulosebekämpfung«, in: Zeitschrift für Tuberkulose 53 (1929), S. 490-503. 18 Heisig, Franz: »Zur Errichtung einer Abteilung für zwangsweise Absonderung Offentuberkulöser in Stadtroda i. Thür.«, in: Reichstuberkuloseblatt 21 (1934), S. 106-109, hier S. 106.

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Dieser »Kampffront gegen Tuberkulose« können auch die damaligen Jenenser Professoren Emil Julius Kayser-Petersen19 und Felix Lommel20 zugerechnet werden. Als Referent für Tuberkulosefragen in der Medizinalabteilung des Reichsministeriums des Innern war Kayser-Petersen einer der einflussreichsten Medizinalbeamten in der Zeit des Nationalsozialismus. Gleichzeitig stand er als Vizepräsident und Generalsekretär an der Spitze des RTA und war so in der Tuberkulosebekämpfung der Vermittler zwischen Ärzteschaft und Politikern.21

19 Julius-Emil Kayser-Petersen (1886-1954), 1912 Approbation, Militärarzt im Ersten Weltkrieg, 1923 wurde er leitender Arzt der Tuberkulosefürsorgestelle Jena, 1936 a.o. Prof. in Jena, seit 1924 Mitglied des Stahlhelm, seit 1936 Mitglied der NSDAP. Vizepräsident und Generalsekretär des Reichs-Tuberkulose-Ausschusses. 1945 übernahm Kayser-Petersen wieder die Leitung der Tuberkulosefürsorgestelle in Jena. Er wurde beratender Tuberkulosearzt des Ministeriums für Gesundheitswesen der DDR und Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR. Seit die »Zeitschrift für Tuberkulose« 1949 wieder erschien, war er einer der Herausgeber sowie deren Chefredakteur. 1953 wurde ihm der Titel »Verdienter Arzt des Volkes« verliehen. Er starb 1954. Vgl. Heisig, Franz: »Prof. Dr. J.E. Kayser-Petersen zum 65. Geburtstag«, in: Zeitschrift für Tuberkulose 97 (1951), S. 301-303; Ders.: »Prof. Dr. J.E. Kayser-Petersen *23.7.1886 †16.11.1954«, in: Zeitschrift für Tuberkulose 105 (1955), S. 257-259 sowie Debernitz, Ralf: Entwicklung der Tuberkulosebekämpfung im Stadtkreis Jena und im Landkreis Stadtroda von der Jahrhundertwende bis 1945. Diss. med. Jena 1994, S. 90. 20 Felix Lommel (1875-1965), Internist, 1933-1945 Ordinarius in Jena und Direktor der Tuberkuloseklinik der Landesversicherungsanstalt Thüringen. 21 Vgl. Kayser-Petersen, Julius Emil: »Die Tuberkulose im Entwurf eines Thüringischen Landesseuchengesetzes. Unter Berücksichtigung der Anträge der Vereinigung der Lungenheilanstaltsärzte und der Gesellschaft Deutscher Tuberkulosefürsorgeärzte zum preußischen Tuberkulosegesetz«, in: Zeitschrift für Tuberkulose 53 (1929), Heft 6, S. 481-489; Ders. (Hg.): »Bericht über die 1. Jahresversammlung der Vereinigung Deutscher Tuberkuloseärzte am 22. September 1933 in Eisenach«, in: Beiträge zur Klinik der Tuberkulose und spezifischen Tuberkulose-Forschung 83 (1933), S. 643722, Ders.: »Eigennutz und Gemeinnutz in der Tuberkulosebekämpfung«, in: Reichstuberkuloseblatt 21 (1934), S. 19-20; Ders.: »Felix Lommel zum 60. Geburtstag. Jahresbericht der Tuberkulose-Fürsorgestelle Jena für den Stadtkreis Jena, den Landkreis Stadtroda und die Kreisabteilung Camburg über das Jahr 1934«, in: Zeitschrift für Tuberkulose 73 (1935), S. 331-334; Ders.: »Diskussionsbeitrag bei der wissenschaftlichen Tagung der Tuberkulosegesellschaft«, ref. in: Deutsches Ärzteblatt 67 (1937), S. 347, Ders.: Hie praktischer Arzt – hie Tuberkulosefürsorgearzt! Ein

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Felix Lommel war Direktor der Universitätspoliklinik Jena und einer der maßgeblichen Verfechter der Durchsetzung eines ärztlichen Behandlungszwangs bei Tuberkulose. Er verwies auf die seiner Meinung nach vorhandenen Parallelen zur Zwangssterilisierung: »Daß die zweifellos vorhandenen Schwierigkeiten, auch Unsicherheiten der ärztlichen Beurteilung einen Einwand gegen den Behandlungszwang nicht abgeben können, zeigt ein Blick auf die Bewährung der Erbgesundheitsgerichte. [...] Die für die Volksgesundheit wertvolle Tätigkeit der Erbgesundheitspflege ist nicht gescheitert daran, daß manchmal eine richtige und sichere ärztliche Stellungnahme nicht erreicht werden kann.«22

So ist es nicht verwunderlich, dass das Land Thüringen Vorreiter in Sachen Zwangsmaßnahmen gegen Tuberkulosekranke war. Dessen nationalsozialistischer Innenminister Wilhelm Frick erließ am 1. September 1930 die auch als Landesseuchenordnung bekannt gewordene Verordnung zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten23. Unter gleichem Namen wurde sie in weiten Teilen am 1. Dezember 1938 Reichsgesetz. Ungewöhnliches enthielt die Landesseuchenordnung selbst nicht. Die von Frick nachfolgend erlassenen Ausführungsbestimmungen24 allerdings waren überaus diskriminierend. Sollten Kranke ihre Wohnung oder ihr Haus nicht zum Zwecke der Asylierung verlassen, sollte eine »Kennzeichnung [...] durch Anbringung des Krankheitsnamens in großen deutlichen Buchstaben an einer ins Auge fallenden Stelle« erfolgen.

streitbares Gespräch mit friedlichem Ausgang, Reinbek: Parus 1937; Ders.: »Angriff oder Verteidigung«, in: Medizinische Klinik 35 (1939), S. 751-753; Ders.: »Die Organisierung der Tuberkulosebekämpfung in Großdeutschland«, in: Deutsches Ärzteblatt 71 (1941), S. 246, Ders.: »Zur Vereinheitlichung der Tuberkulosebekämpfung«, in: Beiträge zur Klinik der Tuberkulose und spezifischen TuberkuloseForschung 97 (1942), S. 1-3. 22 Lommel, Felix: Behandlungszwang bei ansteckender Tuberkulose, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 65 (1939), S. 1550-1552, hier S. 1551. 23 Die Verordnung hatte den Landtag nicht mehr zu passieren. Durch das Thüringische Ermächtigungsgesetz vom 29. März 1930 (Gesetzessammlung für Thüringen, S. 23) wurde sie allein per Kabinettsbeschluss Gesetz. 24 Ausführungsbestimmungen zum Reichsseuchengesetz und zur Landesseuchenordnung (Seuchen-Ausführungsbestimmungen, S.A.B.) vom 8. September 1930, in: Gesetzessammlung für Thüringen, S. 229-238.

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Krutzsch ergänzte die gesetzlichen Vorgaben um die Forderung nach einer Kennzeichnung der Kranken durch »das sichtbare Tragen von Armbinden oder ähnlicher Warnungszeichen.«25 Das Benutzen von öffentlichen Verkehrsmitteln wurde untersagt, zur Benutzung der Eisenbahn wurde eine besondere Genehmigung notwendig. Alle Bestimmungen bezogen sich auf sogenannte »absonderungsbedürftige Personen«. Wer absonderungsbedürftig war, entschied der »beamtete Arzt«, also ab 1935 der Amtsarzt. Beginn der Zwangsasylierung Am 15. Oktober 1934 wurde die erste »Zwangsasylierungsanstalt für asoziale Offentuberkulöse« eröffnet. Sie war als Abteilung der Thüringischen Landesheilanstalt Stadtroda, einer psychiatrischen Klinik, angegliedert. Unter den thüringischen Psychiatern, die mit der Zwangsasylierung befasst waren, profilierten sich vor allem die Direktoren der Heil- und Pflegeanstalten Stadtroda und Hildburghausen, Gerhard Kloos und Johannes Schottky. Insbesondere die Anstalt in Stadtroda wurde zum Vorbild für die Unterbringung von »asozialen und antisozialen Offentuberkulosen« in ganz Deutschland. Die Tuberkulosekranken gelangten dort in die Hände von Psychiatern und wurden damit zu psychiatrischen Patienten. Dies bedeutete zugleich, dass ihnen die fachliche Betreuung durch Tuberkuloseärzte entzogen wurde. Als Kranke mit einer schlechten Prognose und nahezu keiner Aussicht auf Entlassung wurden sie als lästige Patienten empfunden, die lediglich zur Verwahrung aufgenommen wurden. Den Begriff des »asozialen Offentuberkulösen« verwendete erstmals 1930 der Tuberkulosearzt Erwin Augstein auf der 4. Deutschen Tuberkulose-Tagung auf Norderney. Augstein leitete die Begriffe »asozial« und »antisozial« ausführlich unter Zuhilfenahme strafrechtlicher und psychiatrischer Überlegungen her. Dabei ordnete er renitente Tuberkulosekranke einer Gruppe von »Sozialminderwertigen« zu, der seiner Meinung nach auch

25 Ausführungsbestimmungen § 23, I; Krutzsch, Günther: »Erfahrungen aus der Praxis der Seuchenbekämpfung der Tuberkulose«, in: Ziel und Weg. Die Gesundheitsführung des deutschen Volkes 9 (1939), S. 68-75.

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»die Vollidioten, Schwachsinnigen, dann Arbeitsscheue, Vagabunden, Landstreicher, Gewohnheitsbettler, Trinker, Dirnen, [...] Prostituierte und alle die Menschen, die dem Rauschgift verfallen sind, [...] sowie die Geisteskranken, die gemeingefährlich sind, und die Schwerverbrecher«26

zuzurechnen seien. Er forderte damit erstmals ein gezieltes Vorgehen gegen Tuberkulosekranke als »Gemeinschaftsunfähige« und ging erheblich über die von anderen Ärzten angemahnten Möglichkeiten einer zwangsweisen Isolierung Offentuberkulöser hinaus.27 Die zur Zwangsasylierung »in Frage kommenden Offentuberkulösen« umfassten »einen sehr weiten Personenkreis, denn unter diesem Begriff muß ebenso ein sonst anständiger Volksgenosse fallen, der trotz ärztlicher Belehrung lediglich nicht glauben kann, daß er lungenkrank ist, da er keine wesentlichen Beschwerden hat, und infolgedessen seine Umgebung gefährdet, als auch einer aus dem Kreise jener verbrecherischen Elemente, die mit bewußtem Leichtsinn die Volksgemeinschaft schädigen, indem sie gegen seuchenhygienische Vorschriften andauernd verantwortungslos verstoßen.«28

Franz Heisig weitete den Begriff der »asozialen Offentuberkulösen« aus: »Es wäre überhaupt ein Irrtum, anzunehmen, daß unsere Abteilung für ›asoziale Offentuberkulöse‹ nur für die Aufnahme gemeinschaftsblinder oder gesellschaftsfeindlicher ›Psychopathen‹ bestimmt sei. Wir haben schon mehrfach darauf aufmerksam gemacht, daß nicht nur asoziale ›Psychopathen‹ im herkömmlichen Sinne des Wortes für die Abteilung in Frage kommen, also seelisch von jeher abwegige Menschenkinder, Störenfriede und Lebensversager aus Charaktergründen, die dazu noch an offener Tuberkulose erkrankt sind. Der nationalsozialistische Staat bekennt sich zur strengstverpflichtenden Idee der Volksgemeinschaft und zieht daraus mit aller Härte seine Folgerungen. Asozial verhält sich jeder, der ohne Not gegen die Lebensgesetze der Volksgemeinschaft verstößt.«29

26 Augstein, Erwin: »Die Tuberkulose der Asozialen«, in: Beiträge zur Klinik der Tuberkulose 75 (1930), S. 237-251, hier S. 238. 27 Ebd. 28 Aschenbrenner, Alfred: »Erfüllt die Zwangsabsonderung Offentuberkulöser ihren Zweck?«, in: Der öffentliche Gesundheitsdienst, Reihe A, 6 (1941), S.668-673, hier S. 669. 29 Heisig, Franz: »Erfahrungen mit der zwangsweisen Absonderung Offentuberkulöser im Rahmen der Thüringer Tuberkulosebekämpfung«, in: Ziel und Weg 7 (1937), S. 214, hier S. 13. Franz Heisig (*1898), Sohn eines Gutsbesitzers und Abgeordneten des

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Neben der Zwangsabsonderung von Tuberkulosekranken wurden in Stadtroda auch geschlechtskranke Frauen verwahrt. Beide Patientengruppen wollte man gleichermaßen zur »Einsicht in die Notwendigkeit hygienischen Verhaltens« erziehen. Wohl im Zusammenhang damit griff Heisig die gelegentlich in der damaligen Forschungsliteratur diskutierte Annahme auf, Tuberkulosekranke neigten zur Promiskuität.30 So schrieb er nach gerade drei Wochen des Bestehens der Anstalt, »daß [die Kranken] oft Kneipen oder den Tanzboden besuchen, häufig wechselnde Liebschaften unterhalten und in jeder Hinsicht die nötige Vorsicht vermissen lassen.«31 Argumente wie diese finden sich wenige Jahre später bei der Verfolgung der sogenannten »Gemeinschaftsfremden«. Ein solches Vorgehen erscheint im Rückblick nahe liegend, ähnelte die Diskriminierung der Tuberkulosekranken immer stärker den Maßnahmen gegen sogenannte »Asoziale« und andere »Gemeinschaftsfremde«, die u.a. mit dem Sicherungsverwahrungsgesetz geregelt wurden. Rechtliche Vorläufer finden sich auch im fürsorgerechtlichen Arbeitszwang. Die Insassen der Arbeitshäuser der »geschlossenen Fürsorge« galten als Asoziale und »Arbeitsscheue«, unter ihnen viele »widerspenstige Tbc- und Geschlechtskranke«. Auch für viele Patienten von Heil- und Pflegeanstalten, bei denen aufgrund des sozial abweichenden Verhaltens eine Psychopathie diagnostiziert wurde, unter ihnen Alkoholkranke und Nichtsesshafte, war der Aufenthalt in einem Arbeitshaus der Einweisung vorausgegangen. Sie lebten dort in gefängnisähnlichen Zuständen und einem strengen Arbeitsregime.32

Preußischen Landtags, Teilnahme am Ersten Weltkrieg seit 1914 [sic], erkrankte schwer an Lungentuberkulose, Abitur 1917, anschließend Medizinstudium, 1923 Approbation, 1926 Promotion. Heisig spielte eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Röntgenreihenuntersuchung der Bevölkerung. Nach 1945 war er Leiter der Fürsorgestelle Weimar und Bezirkstuberkulosearzt des Bezirks Erfurt. 30 Vgl. Melzer, Ernst: »Das Sexualleben des Lungenkranken«, in: Deutsches Tuberkulose-Blatt 8 (1934), S. 46-50 sowie Creischer, Leo: »Ein neuer Beitrag zur Psychologie der Lungentuberkulose«, in: Beiträge zur Klinik der Tuberkulose und spezifischen Tuberkulose-Forschung 80 (1932), S. 692-697. 31 Heisig, Franz: »Zur Errichtung einer Abteilung für zwangsweise Absonderung Offentuberkulöser in Stadtroda i. Thür.«, in: Reichstuberkuloseblatt 21 (1934), S. 106-109, hier S. 106. 32 Ayaß, Wolfgang: Das Arbeitshaus Breitenau. Bettler, Landstreicher, Prostituierte, Zuhälter und Fürsorgeempfänger in der Korrektions- und Landarmenanstalt Breitenau (1874-1949), Kassel: Gesamthochschule Kassel 1992; Schenk, Liane: Auf dem Weg

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In Stadtroda herrschten ebenso »Haftbedingungen« wie im Gefängnis. Heisig nannte die Station auch treffend »Krankenhaftabteilung«33 bzw. »ein kleines Festungswerk«34. Die zwangsasylierten Patienten in Stadtroda lebten in Gebäuden, deren Fenster vergittert waren, die Türen ständig verschlossen. Bei Verstößen gegen die Hausordnung wurde u.a. Einzelhaft angeordnet. Letztere wurde in Gefängniszellen im Keller vollstreckt. In einem Entwurf für »Richtlinien für die Eingliederung der Arbeitsbehandlung in die Maßnahmen eines verstärkten Tuberkulose-Abwehrkampfes« der Arbeitsgruppe für Arbeitsbehandlung und Asylierung des Reichs-Tuberkulose-Ausschusses wurde empfohlen, die Bestimmung zu erlassen, »daß den Anordnungen des Pflegepersonals Folge zu leisten ist und daß bei tätlichem Widerstand sofort von der Schußwaffe Gebrauch gemacht wird. (Das Pflegepersonal, notfalls auch der Arzt, müssen auf den Männerabteilungen mit Schußwaffen ausgerüstet sein.)«35

Eine ärztliche Behandlung fand bei den Zwangsasylierten im Grunde nicht statt. Man wolle sich bei den aussichtslosen Kranken nach Möglichkeit aller Maßnahmen enthalten, die den schicksalsmäßigen Ablauf der Tuberkulose hemme. Franz Heisig, dem als Tuberkulosearzt die medizinische Versorgung der Betroffenen übertragen wurde, kam nur einmal wöchentlich zur Visite.36 Die Überlieferungslage zu Dokumenten aus der Perspektive der Patienten, also der Opfer, ist spärlich. Patientenakten aus Stadtroda, aber auch aus anderen Zwangsasylierungsabteilungen sind in der Regel nicht erhalten. Eine Ausnahme bildet die Akte eines Patienten, die in den archivierten Beständen der Landesheil- und Pflegeanstalt Wunstorf zu finden ist und der zeitweise in Stadtroda zwangsasyliert war. Seine Krankengeschichte und die Selbstzeugnisse, die die Krankenakte enthält, spiegeln seine Verzweiflung über das Ausgeliefertsein wider.

zum ewigen Wanderer? Wohnungslose und ihre Institutionen. Diss. phil. Berlin 2004, S. 25-27. 33 Heisig, Franz: »Erfahrungen mit der zwangsweisen Absonderung Offentuberkulöser im Rahmen der Thüringer Tuberkulosebekämpfung«, in: Ziel und Weg 7 (1937), S. 214, hier S. 2. 34 Ebd.: S. 13. 35 Bundesarchiv Berlin (=BArchB) R 96 II, Band 6, Bl. 38. Der Entwurf stammt aus dem Jahr 1941. 36 Vgl. F. Heisig: Errichtung einer Abteilung, S. 107.

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Wilhelm Chors wurde 1881 in Hannover geboren. Nach einer Ausbildung zum Sattler wurde er im Ersten Weltkrieg Soldat. Eine Lungentuberkulose, die immer weiter voranschritt, brachte ihn aus dem seelischen Gleichgewicht. Er kam immer wieder mit akuten Problemen in Krankenhäuser, im Heidehaus bei Hannover wurde ihm in der Mitte der 1920er Jahre erstmals ein Pneumothorax gelegt. Da er trank, und sich sein Alkoholismus mit den Jahren verschlimmerte, wurde er entmündigt und seine Ehe geschieden. Mit der Diagnose Psychopathie und Alkoholismus kam er in die Heil- und Pflegeanstalt Wunstorf bei Hannover. 1937 wurde er wegen der Tuberkulose nach Stadtroda verlegt. Dort arbeitete er nach eigenen Angaben fleißig und wurde 1939 wieder entlassen. Selbst Dr. Heisig, so schreibt er, sei mit ihm zufrieden gewesen. In seinen umfangreichen Schreiben, die in der Akte verblieben sind und die Empfänger nie erreicht haben, ist eine deutliche Erleichterung über die Entlassung aus Stadtroda herauszulesen. 1940 im Februar wurde Chors gegen seinen Willen wieder in die Psychiatrie eingewiesen, da er in Hannover keine Bleibe gefunden hatte. Er bemühte sich um seine Wiederbemündigung. Er beteuerte wieder und wieder verzweifelt, wie gut er arbeiten könne, äußerte gleichzeitig, Suizid zu begehen, »die letzte ihm verbliebene freie Entscheidung«, so schrieb er, um die »fortgesetzte Verletzung seiner Menschenwürde« zu beenden. Am 17. Mai 1940 wurde sein Antrag auf Wiederbemündigung abgelehnt und damit jede Möglichkeit auf Entlassung zunichte gemacht. Neun Tage später nahm sich Chors das Leben, er schnitt sich die Pulsadern auf. Er kam dem Tod durch Verhungern nur knapp zuvor.37 Sein körperlicher Zustand zeigte deutlich die grausamen Konsequenzen der von Ärzten und Gesundheitspolitikern gepriesenen erheblichen finanziellen Einsparungen durch die Zwangsasylierung gegenüber dem Tagessatz einer Heilstättenbehandlung. Die Unterbringung in Stadtroda kostete nur noch 2,40 statt 5-6 Reichsmark pro Insasse.38 In preußischen Heil- und Pflegeanstalten betrugen die Selbstkosten pro Patient und Tag, wie der Hannoveraner Landesrat Andreae schon 1936 stolz verkündete, 2,60 Reichsmark.39 Die drastischen Senkungen der Verpflegungs-

37 Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover (=HStAH), Hann. 155 Wunstorf Acc. 2004/065 Nr. 210. 38 F. Heisig: Errichtung einer Abteilung, S. 108. Ausführlicher zu »Hausstrafen« äußerte sich Kloos, Gerhard: »Die Durchführung der Zwangsunterbringung von rücksichtslos Offentuberkulösen«, in: Deutsches Tuberkulose-Blatt 16 (1942), S. 222-229 und S. 242-246. 39 Georg Andreae: »Entspricht die heutige Geisteskrankenfürsorge in den Heil- und Pflegeanstalten den nationalsozialistischen Grundsätzen?«, Referat auf der Sitzung der

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sätze führte, wie Heinz Faulstich für viele Anstalten nachwies, bereits seit Mitte der 1930er Jahre zum Hungersterben psychiatrischer Patienten im ganzen Deutschen Reich.40 Es kann in Anbetracht der Zustände in Stadtroda nicht verwundern, dass sich unter Tuberkulosekranken weit über Thüringen hinaus von der Anstalt ein Bild von Angst und Schrecken verbreitete. Der Leiter der Tuberkulosefürsorgestelle München, Gustav Baer, bemerkte, »disziplinarische Verstöße [...] können durch die Drohung mit ›Stadtroda‹ schon im Keim erstickt werden«.41 Noch 1948 erinnerte sich der Tuberkulosearzt und Verfasser des Standardwerkes »Die Tuberkulosebekämpfung« Rolf Griesbach nicht ohne Stolz, »daß Kranke, die längere Zeit in Stadtroda interniert waren und wegen guter Führung wieder versuchsweise entlassen wurden, ein ihrer Umgebung gegenüber derart einwandfreies Verhalten an den Tag legten, daß man von einem besonders guten erzieherischen Wert dieser Anstalt sprechen mußte. Überdies hatte die in allen Krankenkreisen bekannte Tatsache des Bestehens dieser Anstalt bereits den erzieherischen Wert als solchen. Schon die zarte Andeutung der Verlegungsmöglichkeit nach Stadtroda löste bei dem Kranken auf lange Zeit eine nachhaltige Wirkung hinsichtlich seines Verhaltens aus.«42

Insgesamt wurden bis Kriegsbeginn 18 Zwangsasylierungsanstalten im Deutschen Reich geschaffen. Sie boten Platz für etwa 2.000 Insassen. Im Zuge der »Euthanasie« und der »Aktion Brandt« wurden sie ermordet, sofern sie nicht bereits durch mangelnde ärztliche Hilfeleistung und Verhungern umgebracht worden waren.

Anstaltsdezernenten am 9. und 10. Oktober 1936 in Düsseldorf, BArchK R 36/1845, zitiert nach: Faulstich, Heinz: »Abseits von T4-Aktion und Reichsausschußprogramm. Hungersterben in der Psychiatrie«, in: Christoph Kopke (Hg.), Medizin und Verbrechen. Festschrift zum 60. Geburtstag von Walter Wuttke, Ulm: Klemm & Oelschläger 2001, S. 84-96, hier S. 85. 40 Vgl. Faulstich, Heinz: Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1949. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie, Freiburg: Lambertus 1998. 41 Baer, Gustav: »Vorschläge zur Arbeitsteilung bei der Versorgung Offentuberkulöser«, in: Deutsches Tuberkulose-Blatt 12 (1938), S. 135-144, hier S. 138. 42 Griesbach, Rolf: Die Tuberkulosebekämpfung. Grundlagen und Wege zu einer einheitlichen und erfolgreichen Durchführung, Stuttgart: Thieme 21948, S. 171.

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U MBRÜCHE

IN DER Z WANGSABSONDERUNGSPRAXIS IN DER FRÜHEN B UNDESREPUBLIK Bedingt durch den Kriegsverlauf und die Verknappung von Krankenhausbetten, aber auch den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften setzte seit Mitte des Zweiten Weltkrieges ein Umdenken in der Tuberkulosebekämpfung und Zwangsasylierung ein. Die zuvor stark auf hygienische Rassismen abzielende Ausgrenzung von nicht therapiewilligen Tuberkulosekranken wandelte sich sukzessive und durch Maßnahmen, die an verschiedenen Stellen ansetzten. Durch die Verbesserung der finanziellen Leistungen für Behandlung und Unterhalt der Betroffenen konnten die Kranken, die wegen ihrer Verweigerungshaltung aus wirtschaftlichen Gründen diskriminiert wurden, teilweise wieder integriert werden. Innerhalb der Ärzteschaft wurde über geeignetere und wirksamere Aufklärung nachgedacht, um Betroffene besser von der Notwendigkeit von Therapien zu überzeugen.43 Diejenigen, bei denen die Reintegration erfolgreich war, sollten dem Arbeitsmarkt wieder zur Verfügung gestellt werden. Ein wichtiger Schritt zur wirtschaftlichen Absicherung von Tuberkulosekranken, die sich langwierigen Therapien unterziehen sollten, war die Verordnung über Tuberkulosehilfe 1942. Sozial Schwache wie Fürsorgebezieher konnten bis dahin zur nachträglichen Übernahme der eigenen Behandlungskosten in Heilstätten gezwungen werden. Mit der Verordnung über Tuberkulosehilfe wurde die generelle Kostenübernahme sowohl für die Behandlung der Tuberkulose auch der nichtversicherten Personen sichergestellt und gleichzeitig der Lebensunterhalt der wirtschaftlich abhängigen Familienangehörigen gesichert.44

43 Sadowski, Georg: »Gedanken zur Aufklärung der Öffentlichkeit im Rahmen der Tuberkulosebekämpfung«, in: Der Öffentliche Gesundheitsdienst, Reihe B, 8 (1942), S. 33-38 sowie ders.: »Über die Verhütung der tuberkulösen Erkrankung durch Aufklärung«, in: Der Öffentliche Gesundheitsdienst, Reihe B, 9 (1943), S. 37-42. 44 Verordnung des Ministerrats für die Reichsverteidigung über Tuberkulosehilfe vom 8. September 1942, RGBl. I, S. 549-550, Runderlaß des Reichsministers des Innern vom 9. September 1942 zur Durchführung der Verordnung über Tuberkulosehilfe vom 8. September 1942, MBliV. Sp. 1826-1832; vgl. Muthesius, Hans: »Die neue Tuberkulosehilfe«, in: Der Öffentliche Gesundheitsdienst Reihe B, 8 (1942), S. 209214; Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian: Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus. Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer 1992, S. 169-182.

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Zuvor fanden sich in Fachartikeln häufig Kasuistiken von Familienvätern, die ihre Familien nicht ohne Arbeitseinkommen unversorgt zurücklassen wollten und die es daher ablehnten, sich monatelangen Heilstättenaufenthalten zu unterziehen, ebenso von Müttern, denen die Versorgung des Haushalts und der Kinder oblag.45 Die Verordnung über Tuberkulosehilfe muss jedoch bei aller vordergründig positiven Intention als Teil eines Gesamtkonzepts zur Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme im Nationalsozialismus gesehen werden. Eine generelle Lösung des Problems stellte sie allenfalls auf den ersten Blick dar. »Ein entscheidender Schritt auf gesundheitspolitischen Gebiet, [...] ein Beweis von Mut und Zuversicht«, wie der Sozialpolitiker Hans Muthesius, der das Gesetzesvorhaben maßgeblich betreut hatte, es bezeichnete, war es nur für einen Teil der Bevölkerung. Die Verordnung schloss nur diejenigen ein, die als Deutsche galten. 1941 lebten in Deutschland aber auch über zwei Millionen ausländische Arbeitskräfte, die hinsichtlich der Arbeitsbedingungen, sozialversicherungsrechtlich und arbeitsrechtlich »rechtsdeutschen Arbeitern grundsätzlich gleichgestellt« sein sollten.46 Der Sozialwissenschaftler Theodor Bühler formulierte als Grundprinzip der nationalsozialistischen Sozialpolitik, »daß das Einzelleben nur im Rahmen der Gemeinschaft der Nation denkbar und möglich ist. […] Wen die Volksgemeinschaft nicht umschließt, dem können auch keine sozialpolitischen Hilfen geboten werden. Wer nicht in der Volksgemeinschaft verankert ist, kann auch nicht den Anspruch erheben, in seiner sozialen Entwicklung gefördert zu werden.«47

Der »erbgesunde Volksgenosse«, der »Arbeitswillen bis ins höchste Alter« zeige, sei leistungsberechtigt, und nicht der, der durch »volksschädliches« Verhalten auffalle, denn Sozialleistungen dienten dazu, den »Volksgenossen« in die Lage zu versetzen, »seine Pflicht gegenüber dem Volk zu erfüllen«.48

45 Vgl. G. Krutzsch: Neues Tatsachenmaterial, S. 97. 46 Timm, Max: »Der Einsatz ausländischer Arbeitskräfte in Deutschland«, in: Reichsarbeitsblatt, Sonderausgabe, Teil 5: Soziales Deutschland, 34 (1941), S. 609-617, 35/36 (1941), S. 636-642, 1 (1942), S. 5-15, 2 (1942), S. 23-33. 47 Vgl. Bühler, Theodor: Deutsche Sozialwirtschaft. Ein Überblick über die sozialen Aufgaben der Volkswirtschaft, Stuttgart/Berlin: Kohlhammer 21943, S. 15. Bühler war Mitarbeiter des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der DAF. Vgl. dazu Roth, Karl-Heinz: Intelligenz und Sozialpolitik im »Dritten Reich«, München: K.G. Saur 1992. 48 T. Bühler: Deutsche Sozialwirtschaft, S. 323.

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Patienten, deren Inklusion in die »Volksgemeinschaft« nicht erwünscht oder aus anderen Gründen ausgeschlossen war, sollten auch sozialpolitisch nicht unterstützt werden. Eine weitere Bemühung um die Wiedereingliederung von Zwangsasylierten war demzufolge nicht intendiert. Die Bedingungen der Unterbringung traumatisierten die Betroffenen und erschwerten therapeutisches Handeln in der Nachkriegszeit nachhaltig. Den zur Zwangsasylierung vorgesehenen Patientenkreis bildeten in den letzten Kriegsjahren, so der RTA in seinen Richtlinien über die Absonderung ansteckend Tuberkulöser, »vorwiegend [...] psychisch abnorme Menschen [...], deren Behandlung und soziale sowie charakterologische Beurteilung psychiatrische Fachkenntnis und Erfahrung voraussetzt.«49 Offen wurden in diesen Richtlinien, die mit der Veröffentlichung im Reichsgesundheitsblatt als Reichsverordnung Gesetzeskraft erlangten, die Bedingungen der Unterbringung benannt: »ausbruchssichere Unterkünfte, zur Durchführung von Hausstrafen […] Einzelräume nach Art von Gefängniszellen, Pflegepersonal [sei] auf den Männerabteilungen mit Schußwaffen auszurüsten, [...] als schwerste Strafe Isolierung im Einzelraum. [...] Bei Gemeinschaftsunfähigen sind alle Maßnahmen zu unterlassen, die den schicksalsmäßigen Ablauf der Tuberkulose aufhalten können.«50

Die zwangszuasylierende Patientengruppe sollte außerdem mittels frühzeitiger Erfassung um »die in Heil- und Pflegeanstalten und im Strafvollzug befindlichen Tuberkulösen« erweitert werden. Die Tuberkulosestationen seien jeweils »bei größeren Heil- und Pflegeanstalten und Strafvollzugsanstalten« einzurichten, in denen »die therapeutische Arbeit mit den Forderungen der Geisteskrankenpflege und des Strafvollzuges zu einer sinnvollen Synthese zusammengeschlossen [wird].« Die Veränderungen der Sozialleistungen gingen mit der Einführung des Arbeitszwangs für Tuberkulosekranke einher. Tuberkulosekranken sollten in der Öffentlichkeit nicht mehr per se als »Bazillenstreuer« und potentielle Überträger

49 »Richtlinien des Reichs-Tuberkulose-Ausschusses über die Absonderung ansteckend Tuberkulöser«, in: Der Öffentliche Gesundheitsdienst, Reihe B, 9 (1943), S. 225-228, hier S. 227, zugl. Runderlass des Reichsministers des Innern und des Reichsarbeitsministers, betr. Richtlinien über die Absonderung ansteckend Tuberkulöser vom 8.10.1943, in: RMBliV 1943, S. 1580, auszugsweise in: Reichs-Gesundheitsblatt 46 (1943), S. 755-756. 50 Ebd.: S. 228.

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der Krankheit stigmatisiert, sondern wenn möglich in den Arbeitsprozess reintegriert werden, sofern sie sich umsichtig verhielten.51 Eine zentrale Aufgabe der Tuberkuloseexperten wurde es, »die arbeitsfähigen Tuberkulösen an die für sie passenden Arbeitsplätze zu bringen« und sie dadurch »wieder zu vollwertigen Volksgenossen zu machen.«52 Für die körperlich geschwächten Kranken waren die Arbeitsbedingungen oft mörderisch. Sie hatten lange Arbeitswege und 1012-stündige Arbeitstage zu bewältigen, galten jedoch in der Fabrikhalle als »besser asyliert« als in engen Wohnungen, da sie »sozusagen nur zum Schlafen abends nach Hause« kämen.53 Durch Bombenangriffe auf industrielle Standorte und Großstädte wurde in der zweiten Kriegshälfte die Isolierung im Wohnumfeld und am Arbeitsplatz zunehmend schwieriger. Opfer von Bombenangriffen, die von den Ereignissen traumatisiert waren und nach dem Verlust der Wohnung umherirrten, stellten ein großes gesundheitliches Risiko dar. Noch vor dem Einsetzen der Flüchtlingsströme aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten 1945 wurden die Behörden auf das Problem der Übertragung von Tuberkulose durch wohnungslose und entwurzelte Menschen aufmerksam. In der ehemaligen preußischen Provinz Hannover, die sich geografisch im Süden an Hamburg anschloss, begannen nach den Bombenangriffen auf Hamburg Ende Juli und Anfang August 1943 und auf Hannover Anfang Oktober 1943 die Vorbereitungen für die Vergrößerung der Asylierungseinrichtungen für Tuberkulosekranke, da man einen erhöhten Bedarf an Unterbringungsmöglichkeiten ausmachte. Im Herbst 1943 hieß es in einem Schreiben an den Gauhauptstellenleiter Schulz in Hannover:

51 Vgl. Braeuning, Hermann: »Die Wohnungsnot der Offentuberkulösen«, in: Der Öffentliche Gesundheitsdienst, Reihe B, 7 (1941), S. 378-380; Sadowski, Georg: »Gedanken zur Aufklärung« sowie Zacharias, Kurt: »Der tuberkulöser Arbeiter. Ein Beitrag zur Frage der Wiedereingliederung des tuberkulösen Handarbeiters in den Arbeitsprozeß«, in: Zeitschrift für Tuberkulose 88 (1942), S. 253-281. 52 Kayser-Petersen, Julius Emil: Deutsche Tuberkulose-Bekämpfung im Kriege, BArchB R 96 II, Band I, Bl. 7-10, hier Bl. 8, vgl. auch Kayser-Petersen, Julius Emil: »Totale Tuberkulosebekämpfung«, in: Medizinische Zeitschrift [Kriegsgemeinschaftszeitschrift der Deutschen Medizinischen Wochenschrift, Medizinischen Klinik, Medizinische Welt, Münchener medizinische Wochenschrift und Wiener medizinische Wochenschrift] 4 (1945), S. 148-150. 53 Brandt, Ernst: »Der arbeitende Tuberkulöse in der Großstadt«, in: Der Öffentliche Gesundheitsdienst, Reihe A, 6 (1940), S. 98-106, hier S. 103.

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»[V]on Hamburger Flüchtigen muß eine Anzahl von Tbc-Kranken aus den engen Quartieren herausgenommen und asyliert werden. Die Grosskatastrophe in Hannover macht das Bedürfnis nach Krankenbetten für Tbc.-Kranke noch grösser. […] Das Bedürfnis nach Betten für Sieche und Altersgebrechliche scheint augenblicklich gedeckt zu sein, da der Zustrom nachlässt und die Nachfrage nach freien Betten durch Abgang an Toten gedeckt werden kann.«

Vor allem war hier an die Einweisung von Betroffenen, bei denen eine Heilung der Tuberkuloseerkrankung nicht mehr zu erwarten war, durch die Gesundheitsämter gedacht.54 Das Kriegsende brachte weitere Flüchtlinge. Nach den Argumenten der rassischen Minderwertigkeit, der Unangepasstheit an die Volksgemeinschaft sind es nun die »Fremden«, die störend in die Nachkriegsgesellschaft eindringen: Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und aus den nun sowjetisch besetzten Teilen Polens, Displaced Persons. Eine deutliche Sprache sprach beispielsweise die Einweisungspraxis im niedersächsischen Schloß Oldershausen, einer ehemaligen Psychiatrie, die nun der Unterbringung von Tuberkulosekranken diente. Es handelte sich hierbei nicht um eine Einrichtung der Zwangsabsonderung, wohl aber der Asylierung, einer Heilstätte, in die Patienten, die sich in prekären Lebensverhältnissen befanden, vom Gesundheitsamt eingewiesen wurden. Alliierte Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit Als die alliierten Streitkräfte Deutschland besetzten, rückte die Kontrolle von Infektionskrankheiten als ein wichtiges gesundheitliches Problem in den Fokus der Besatzungsbehörden. Der Pathologe Esmond Long, amerikanischer Tuberkuloseforscher, Vorsitzender der National Tuberculosis Association und Berater der amerikanischen Streitkräfte auf dem Gebiet der Tuberkulose, verfasste im Oktober 1945 ein Memorandum zur »Tuberculosis Control in U.S. Zone of Germany«. Dazu interviewte er u.a. Julius Emil Kayser-Petersen und besuchte

54 Dr. Rohlfing RVK an Gauhauptstellenleiter Schulz, undatiertes Schreiben, in: HStAH, Hann. 180 Lüneburg Acc. 3/95. Nr. 132.

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Tuberkulosefürsorgestellen, Krankenhäuser und Heilstätten in der amerikanischen Zone.55 In seinem Bericht wies Long auf die Kriegsgefangenen und Flüchtlinge hin, die seiner Meinung nach die Hauptbetroffenen darstellten.56 Mit der Besetzung Deutschlands durch die Alliierten veränderten sich die rechtlichen Grundlagen für den Umgang mit Tuberkulosekranken. Mit dem Kontrollratsgesetz vom 20. September 1945 wurden zwar viele Gesetze aufgehoben, die Gesundheitsgesetzgebung blieb aber zu großen Teilen erhalten.57 Die Verordnung zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten behielt ihre Gültigkeit.58 Die Gesundheitsämter blieben bestehen und wurden von den Alliierten kommunalisiert. Sie waren die zentrale Behörde der Tuberkulosebekämpfung.59 In den westlichen Besatzungszonen und in der sowjetischen Besatzungszone entwickelte sich eine unterschiedliche Vorgehensweise. Nachdem die Besatzungsbehörden die gesundheitliche Gefährdung der Bevölkerung durch Tuberkulose und die steigende Zahl von Erkrankungen unterschätzt hatte, wurden die Anstrengungen zur Bekämpfung nach 1947 verstärkt. Deutsche Tuberkuloseärzte waren überaus beunruhigt und thematisierten den Zusammenhang zwischen Wohnungsnot, unzureichender Ernährung und dem Ansteigen der Tuberkuloseerkrankungen.60 Seit Mitte der 1940er Jahre standen erste spezifisch wirkende Medikamente wie »Conteben«, das Antibiotikum Streptomycin sowie Paraaminosalicylsäure zur Verfügung, aus denen später eine Kombinationstherapie entstand. Die meisten Patienten nahmen die Möglichkeiten der Therapie dankbar an, obwohl diese mit unangenehmen

55 Vgl. Ellerbrock, Dagmar: »Healing Democracy« – Demokratie als Heilmittel. Gesundheit, Krankheit und Politik in der amerikanischen Besetzungszone 1945-1949, Bonn: Dietz 2004, S. 362-367; Long, Esmond: »TB in German prison Camps«, in: Bulletin of the National Tuberculosis Association 31 (1945), S. 149. 56 Vgl. D. Ellerbrock: Healing Democracy, S. 363. 57 Vgl. Schleiermacher, Sabine: »Gesundheitspolitische Traditionen und demokratische Herausforderung: Gesundheitspolitik in Niedersachsen nach 1945«, in: Wolfgang Woelk/Jörg Vögele (Hg.), Geschichte der Gesundheitspolitik in Deutschland, Berlin: Duncker & Humblot 2002, S. 265-284. 58 Verordnung zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten vom 1. Dezember 1938 RGBl. I 1938, S. 1721-1724. 59 Vgl. D. Ellerbrock: Healing Democracy, S. 367 sowie Riecken, Andrea: Migration und Gesundheitspolitik: Flüchtlinge und Vertriebene in Niedersachsen 1945-1953, Göttingen: V&R unipress 2006, S. 36. 60 Vgl. dazu umfassend D. Ellerbrock: Healing Democracy, S. 368-417.

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Nebenwirkungen verbunden waren. Gleichwohl fehlten in den ersten Jahren Erfahrungen.61 Der Diskurs der deutschen Tuberkuloseärzte wurde dadurch erschwert, dass deutsche medizinische Publikationsorgane in der Zeit von 1945 bis 1949 nicht existierten.62 1949 erschienen, schon deutlich nach Bundesrepublik und DDR getrennt, wenn auch mit einem Kommunikationsstil, der von einer langen gemeinsamen Sozialisation zeugt, die drei wichtigsten Zeitschriften: »Der Tuberkulosearzt. Monatszeitschrift für die Praxis als ständiges Organ und Mitteilungsblatt der westdeutschen Tuberkuloseärzte«, unter der Herausgeberschaft von Rolf Griesbach63 bei Georg Thieme in Stuttgart, die »Zeitschrift für Tuberkulose« bei Barth in Leipzig als Organ der Wissenschaftlichen Tuberkulosegesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik, herausgegeben von Julius Emil Kayser-Petersen und die »Beiträge zur Klinik der Tuberkulose und spezifischen Tuberkuloseforschung« bei Springer in Heidelberg. Insbesondere »Der Tuberkulosearzt« und die »Zeitschrift für Tuberkulose« widerspiegeln die Auseinandersetzung der Tuberkuloseärzte mit der Zwangsasylierung.

61 Sturm, Alexander: »Zweijährige Erfahrungen mit Thiosemicarbazonen (Tb 1/698) bei schweren Lungentuberkulosen«, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 23 (1949), S. 726-732. 62 Vgl. auch Stöckel, Sigrid: »Verwissenschaftlichung der Gesellschaft – Vergesellschaftung der Wissenschaft«, in: Sigrid Stöckel/Wiebke Lisner/Gerlind Rüve (Hg.), Das Medium Wissenschaftszeitschrift seit dem 19. Jahrhundert. Verwissenschaftlichung der Gesellschaft – Vergesellschaftung der Wissenschaft, Stuttgart: Steiner 2009, S. 9-23 sowie dies.: »Körper, Krankheit, Gesundheit im medi(k)alen Raum britischer und deutscher medizinischer Wochenschriften (1919-1948)«, in: Nicolas Eschenbruch/Dagmar Hänel/Alois Unterkircher (Hg.), Medikale Räume: zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit, Bielefeld: transcript 2010, S. 133-139. 63 Rolf Griesbach (*1899), als Sohn des Sozialhygienikers Hermann Griesbach in Mühlhausen im Elsass geboren, studierte in Gießen, 1922 Promotion, in den 1930er Jahren Leiter und Chefarzt der Zentralstelle für Tuberkulosebekämpfung Schwaben, seit 1933 Mitglied der NSDAP, 1934 bis 1937 war er Tbc-Referent der SA, seit 1944 eigene Praxis in Augsburg, 1945/46 Chefarzt der Heilstätte Wasach, 1955 Nachfolger Franz Ickerts als Generalsekretär des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose. BArchB, ehemals BDC, RK, D 169, Bl. 237-258; Liebknecht, Wilhelm: »Rolf Griesbach zum 60. Geburtstag«, in: Der Tuberkulosearzt 13 (1959), S. 443-444 sowie Müller, Reiner W.: »Rolf Griesbach zum 70. Geburtstag am 22. Juli 1969«, in: Praxis der Pneumologie 23 (1969), S. 425-427.

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Abb. 3: Rolf Griesbach

Quelle: Praxis der Pneumologie 23 (1969), S. 425.

Auffallend ist die Präsenz der Experten wie Kayser-Petersen und Rolf Griesbach, aber auch Franz Ickert und Franz Redeker, die teilweise bereits in den 1920er Jahren, vor allem aber im Nationalsozialismus in Erscheinung getreten waren und sich nun als Protagonisten einer neuen Tuberkulosepolitik unter demokratischen Vorzeichen in der einen Hälfte und in autoritären Strukturen in der anderen Hälfte Deutschlands zu Wort meldeten. Neue Zielgruppen: Flüchtlinge und Veteranen Für die westlichen Besatzungszonen und die frühe Bundesrepublik entwickelten sich in der Diskussion verschiedene Schwerpunkte: wer in die Zwangsmaßnahmen einzubeziehen sei, wie groß die Gruppe der zwangsweise unterzubringenden Tuberkulosekranken im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung sein könnte, inwieweit Mangelernährung und schwierige Lebensbedingungen die Tuberkulose begünstigen und traumatische Erfahrungen als Kriegsfolge die Behandlung einiger Betroffener erschwerten. Zentral war die Forderung nach einem Fortbestehen der Zwangsunterbringung und ihre Konformität mit rechtsstaatlichen Normen. Die Heimatvertriebenen und aus der Kriegsgefangenschaft entlassenen ehemaligen deutschen Soldaten wurden, wie bereits Esmond Long betont hatte, zur wichtigsten Zielgruppe nicht nur der Tuberkulosebekämpfung, sondern der Seuchenabwehr insgesamt. Dazu zählten auch Geschlechtskranke, hier vor allem

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zugewanderte Frauen, und an Fleckfieber Erkrankte.64 Mangelernährung wurde im Zusammenhang mit Tuberkuloseerkrankungen in erster Linie als problematische Randbedingung wahrgenommen, die die Immunabwehr schwächte. Daraus resultierte eine größere Anfälligkeit, krank zu werden und gleichzeitig eine ungünstigere Prognose.65 In der Wahrnehmung der Tuberkuloseexperten korrespondierte die Unterernährung besonders bei Männern mit einem erhöhten Kalorienverbrauch wegen schwerer körperlicher Arbeit. Die Zunahme der Neuerkrankungen war bei Männern signifikant höher als bei Frauen. Bei diesen hingegen sank die Zahl der Erkrankungen in den kommenden zwei Jahrzehnten stärker, so dass Mitte der 1960er Jahre doppelt so viele Männer wie Frauen an Tuberkulose litten.66 Tuberkuloseerkrankungen verschiedener Form wurden, neben der Lungentuberkulose auch Darm- und Knochentuberkulose, vermehrt bei Kriegsveteranen beobachtet und, sofern eine Zusammenhang zwischen der Erstinfektion mit dem militärischen Einsatz erkennbar war, als Kriegsbeschädigung anerkannt. Weit gravierender für die Umsetzung von Behandlungsmaßnahmen war die psychische Traumatisierung der Erkrankten. Pessimistisch beschrieb der langjährige Griesbach-Mitarbeiter Wilhelm Liebknecht die »allgemeine materielle Notlage, die seelische Haltlosigkeit vieler in irgend einer Weise vom Krieg betroffenen Menschen, insbesondere die häufig zu beobachtende erschreckende Empfindungslosigkeit gegenüber dem eigenen persönlichen Schicksal, der aus dem Krieg und der vorangegangenen Erziehung eingewurzelte Landsknechtgeist, dem alles, aber auch alles völlig gleichgültig ist, selbst das eigene Leben, wenn nur die primitivsten Triebe irgendwie befriedigt werden können,«

die ihn zur zwangsweisen Absonderung zwängen.67 Patienten versuchten, »obwohl oft schwer krank, in die ersehnte Freiheit zu entfliehen. Das Schicksal der

64 Vgl. A. Riecken: Migration und Gesundheitspolitik, S. 91-134. 65 Vgl. Ickert, Franz: »Über Ernährung und Tuberkulose«, in: Der Tuberkulosearzt 1 (1947), S. 121-131. 66 Vgl. Lindner, Ulrike: Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit. Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, München: Oldenbourg 2004, S. 153156 sowie Kröger, E./Reuter, H.: »Entwicklung und Stand der Tuberkulose in deutschen und anderen Ländern«, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 74 (1949), S. 721-725. 67 Liebknecht, Wilhelm: »Zur Frage der Zwangsabsonderung Offentuberkulöser«, in: Der Tuberkulosearzt 2 (1948), S. 275-277, hier S. 275.

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Heimatlosen unter ihnen, derer, die aus Kriegsgefangenschaft entlassen auf der Suche nach Angehörigen umherirren, ist besonders tragisch.«68 Dem auffälligen Verhalten der Betroffenen wurde kein Krankheitswert zuerkannt. Es galt als vorübergehende Beeinträchtigung. Manifeste psychische Störungen wurden als endogene Geisteskrankheiten aufgefasst, die eine »abnorme seelische Reaktion im Sinne der Konflikt- und Versagens-Reaktion« sei und deren Ursache in der Konstitution des Betroffenen lag.69 Abweichendes Verhalten und Persönlichkeitsveränderungen, wie die von Liebknecht beschriebenen, wurden auch als Psychopathien gedeutet. Die Notwendigkeit von Zwangsmaßnahmen wurde auch aus diesem Grund kaum in Zweifel gezogen. Die Zwangsasylierung war per se nicht wirklich diskreditiert, sondern stellte eine praktikable Lösung dar. Wie der Artikel eines Lungenarztes in der »Deutschen Medizinischen Wochenschrift« 1947 zeigt, erfreute sich die Zwangsabteilung in Stadtroda nicht nur bei Griesbach selbst großer Beliebtheit, denn der Teil der Patienten, für den die Zwangsabsonderung eine adäquate Therapiemaßnahme sein sollte, galt als psychopathisch. Man habe die Zwangsasylierung dort »mit sehr gutem Erfolg [...] durchgeführt, da es sich ja meist um Fälle mit psychopathischer Komponente handelt[e].«70 Argumentiert wurde vom Autor in diesem Fall nicht nur mit dem Verlust der Fähigkeit einiger Patienten, sich sozialen Normen entsprechend zu verhalten, sondern mit ihrer psychopathischen Persönlichkeitsstruktur im Sinne einer psychiatrischen Diagnose. In den westlichen Besatzungszonen bestand mit dem Runderlass über die Absonderung ansteckend Tuberkulöser von 1941 zwar weiterhin eine Rechtsgrundlage für die Zwangsasylierung. Durch das Kontrollratsgesetz Nr. 36 war seit 1946 bereits die Arbeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit ermöglicht worden.

68 Ebd.: S. 276. 69 Vgl. Anhaltspunkte für die Ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen, zusammengestellt von der Ärztlichen Abteilung des Bundesministeriums für Arbeit, Bonn: Köllen 1952ff., Abschnitt: Geisteskrankheiten, Neurosen, Nervenschwäche (Neurasthenie), S. 106-109, hier S. 108 sowie Goltermann, Svenja: »Languages of Memory: German Prisoners of War and their Violent Pasts in Post-war West Germany, 1945-56«, in: Bob Moore/Barbara Hately-Broad (Hg.), Prisoners of War, Prisoners of Peace. Captivity, Homecoming and Memory in World War II, Oxford/New York: Berg 2005, S. 165-173 und S. 239-242; Dies.: Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg, München: DVA 2009 sowie Svenja Goltermanns Beitrag in diesem Band. 70 Klemm, Hellmuth: »Tuberkuloseprobleme der Gegenwart«, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 72 (1947), S. 112-113, hier S. 113.

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Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes (GG) war jedoch die Absonderung gegen den Willen des Betroffenen erheblich eingeschränkt. Grundsätzliche Überlegungen dazu formulierten Ludwig Federhen und Paul Trüb zur Freiheitsentziehung auf dem Gebiete des Gesundheitswesens sowie Franz Ickert zur Tuberkulosebekämpfung im »Arzt des öffentlichen Gesundheitsdienstes«. Nach Artikel 104 GG konnte ein solcher Freiheitsentzug wie die Zwangsasylierung nur gestützt auf ein Gesetz und auf richterliche Anordnung erfolgen. Das Fehlen eines solchen Gesetzes sollte durch eine Verwaltungsentscheidung ersetzt werden, wie es in den zurückliegenden Jahren praktiziert worden war.71 Eine Unsicherheit über ihre Befugnisse und einen einheitlichen Rechtsweg blieb unter Tuberkuloseärzten bis zum Beginn der 1960er Jahre bestehen.72 In dieser Situation versuchte der Marburger Lungenarzt Johannes Paczowsky eine pragmatische Lösung zu finden, bei der wieder das Wohl des Patienten und die Schaffung einer »zufriedenen, optimalen Heilatmosphäre« im Vordergrund standen. Paczowsky, erst kurz nach dem Krieg approbiert und 1946 in Münster promoviert, war sowohl Arzt in der Landeslungenheilstätte als auch Anstaltsarzt der Sonderstrafvollzugsanstalt für Tbc-Strafgefangene in Marburg, die der Landesheilanstalt angegliedert war.73 Zwangsmaßnahmen seien »mit Rücksicht auf die Öffentlichkeit zwar manchmal notwendig«, so Paczowsky, hier ginge es jedoch vor allem um die Behandlung von »psycholabilen« Tuberkulosekranken. Die Erfahrungen in Stadtroda seien »recht unerfreulich gewesen«. »Die Patienten […] fühlten sich ›im KZ‹«, so dass Paczowsky die »üblichen Absperrungsmaßnahmen« unterließ. Stattdessen wurden die Patienten nach eingehender Belehrung darüber, dass sie das Krankenzimmer bzw. die Station nicht verlassen

71 Vgl. Der Arzt des öffentlichen Gesundheitsdienstes, hg. von Ludwig Federhen, Stuttgart: Thieme 1952, S. 388-389 sowie S. 529-549. 72 Vgl. Trüb, Carl Ludwig Paul/Femmer, Hans Joachim: »Das Recht der Zwangsasylierung von Tuberkulösen«, in: Der Tuberkulosearzt 8 (1954), S. 657-668; Schlepckow, Dieter: »Kann man heutzutage auf eine Zwangsasylierung asozialer, chronisch Offentuberkulöser verzichten?«, in: Der Tuberkulosearzt 10 (1956), S. 568 sowie Breu, Karl: »Aktuelle Fragen der Tuberkulose-Fürsorge«, in: Beiträge zur Klinik der Tuberkulose und spezifischen Tuberkulose-Forschung 121 (1959/60), S. 241-243, hier S. 242. 73 Vgl. Gerz, Yvonne: Die Situation der Medizinischen Fakultät Marburg in der Nachkriegszeit 1945-1950. Diss. med. Marburg 2008, S. 86; Paczowsky, Johannes Robert: Die Beeinflussung von Serumtryptasen und weißem Blutbild beim Kaninchen durch wiederholte mittlere Blutverluste und Reizkörperbehandlung mit Novoprotin und Trypsin. Diss. med. Münster 1946.

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dürften, in den normalen Heilstättenalltag integriert. Der Umstand der Zwangsabsonderung wurde vertraulich behandelt. Die Patienten, die sich einer solchen »Bewährungskur« unterziehen mussten, sollten sich durch nichts von anderen unterscheiden.74 Bei Zuwiderhandlungen drohte den Patienten jedoch eine Gefängnisstrafe. Das Strafgesetzbuch bot dann juristische Möglichkeiten eines Gerichtsverfahrens.75 Dass es sich bei denjenigen, die gegen die Regeln der Zwangsabsonderung verstießen, um »asoziale Menschen« handelte, war für Paczowsky offensichtlich. Gleichwohl sah er für deren Unterbringung, wenn die »Bewährungskur« in der Heilstätte an mangelnder Disziplin scheiterte, das Gefängnis als geeigneten Ort an.76 Paczowsky propagierte neben einer umfangreichen Tuberkulosetherapie vor allem Psychotherapie für straffällige Patienten und solche mit sozial abweichendem Verhalten. Er orientierte sich am amerikanischen und britischen Rechtssystem und rezipierte u.a. die Forschungen des amerikanischen Psychiaters Benjamin Karpman zu Psychopathie und Kriminalität. Seine Idee der psychiatrischen Kontextualisierung dissozialen Verhaltens von Tuberkulosekranken blieb eine Ausnahme. Seine Bemühungen um politische Unterstützung u.a. durch die Hessische Landtagsabgeordnete Elisabeth Selbert führten nicht zur Etablierung eines anderen Umgangs mit den Betroffenen, obwohl er in der Praxis gute Erfolge vorweisen konnte.77 Im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens ist auch die Rezeption der Zwangsasylierungspraxis westlicher Länder durch verschiedene Autoren und in Rezensionen durch die Herausgeber erkennbar, vor allem von Zwangsmaßnahmen in Kalifornien, die 1950 eingeführt wurden, sowie die

74 Paczowsky, Johannes: »Neue Wege der Zwangsabsonderung Offentuberkulöser«, in: Der Tuberkulosearzt 3 (1949), S. 226-229, hier S. 226. 75 »Wer die Absperrungs- oder Aufsichtsmaßregeln oder Einfuhrverbote, welche von der zuständigen Behörde zur Verhütung des Einführens oder Verbreitens einer ansteckenden Krankheit angeordnet worden sind, wissentlich verletzt, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft.« (StGB, § 327). 76 Paczowsky, Johannes: »Welche Forderungen ergeben sich aus der ›Bill of Rights‹, den Habeas Corpus-Akten und der Bundesverfassung für das Vorgehen bei asozialen Tuberkulösen?«, in: Der Tuberkulosearzt 3 (1949), S. 701-702. 77 Vgl. J. Paczowsky: Neue Wege der Zwangsabsonderung, S. 227-228 sowie Krähwinkel, Esther: »›Da sich jedoch die seuchenpolitischen Verhältnisse weiterhin verschärfen, wäre es schon jetzt an der Zeit, eine demokratische gesetzliche Grundlage zu schaffen‹. Die Lungenheilstätte (1947-1951)«, in: Peter Sandner/Gerhard Aumüller/Christina Vanja (Hg.), Heilbar und nützlich. Ziele und Wege der Psychiatrie in Marburg an der Lahn, Marburg: Jonas 2001, S. 337-352, passim.

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Praxis in Finnland, der Schweiz und der Tschechoslowakei.78 Wie von einigen deutschen Ärzten wurde die psychopathische Persönlichkeitsstruktur der Betroffenen in den USA und Finnland deutlich als Ursache für deren dissoziales Verhalten benannt. Eine vergleichbare Begrifflichkeit wie in angelsächsischen Ländern setzte sich jedoch in der Bundesrepublik nicht durch. Uneinheitlich blieb so auch die Form der Unterbringung: Als tuberkulosekranke und zugleich psychopathische Patienten wäre die Aufnahme in eine geschlossene Abteilung einer psychiatrischen Klinik folgerichtig gewesen, als tuberkulosekranker Straftäter, der sich etwa nach § 327 strafbar gemacht hatte, eher die Verbüßung einer Haftstrafe im Justizvollzug. Das 1956 verabschiedete »Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen« bot zwar die Möglichkeit der richterlichen Anordnung, ließ aber den Ort der Freiheitsentziehung offen.79 Gemeinsam mit dem 1961 erlassenen Bundesseuchengesetz bot es jedoch eine klare rechtliche Grundlage zur Zwangsabsonderung.80 Das Deutsche Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose (DZK) forderte in seinen »Empfehlungen über die Absonderung Ansteckendtuberkulöser« die Einrichtung eigener Zwangsabsonderungsanstalten als »geschlossene Häuser mit Heilstättencharakter« und empfahl die Angliederung an eine psychiatrische Anstalt, da »es sich

78 Legendri, R.: »Various legal aspect of tuberculosis prevention abroad: asocial tuberculosis«, in: Revue de la tuberculose 21 (1957), S. 983-989, Härö, A.S.: »Tuberculosis and unsocial elements of the community«, in: Acta Tuberculosea Scandinavica 35 (1958), S. 139-156; Kupka, Edward/King, Marion R.: »Enforced Legal Isolation Of Tuberculose Patients«, in: Public Health Report 69 (1954), S. 351-359; Hiltz, J.E.: »Compulsory treatment of tuberculosis«, in: Canadian Medical Association Journal 71 (1954), S. 569-571; Birkhäuser, Hans/Stoll, Martha: »Über asoziale Tuberkulose«, in: Schweizerische Zeitschrift für Tuberkulose 8 (1951), S. 79-98. 79 Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen vom 29. Juni 1956, BGBl. I S. 599, § 2 (1): Freiheitsentziehung ist die Unterbringung einer Person gegen ihren Willen oder im Zustande der Willenlosigkeit in einer Justizvollzugsanstalt, einem Haftraum, einer abgeschlossenen Verwahranstalt, einer abgeschlossenen Anstalt der Fürsorge, einer abgeschlossenen Krankenanstalt oder einem abgeschlossenen Teil einer Krankenanstalt. 80 Das Bundesseuchengesetz setzte das »Gesetz zur Verhütung Übertragbarer Krankheiten« von 1938 außer Kraft. Vgl. Bundesseuchengesetz (BSeuG) vom 18.7.1961, BGBl. I S. 1012, in Kraft getreten am 1.1.1962; vgl. auch den Kommentar Trüb, Carl L. Paul/Posch, Josef: Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen (Bundes-Seuchengesetz) vom 18. Juli 1961 […] in der Fassung vom 23. Januar 1963 (BGBl. I S. 57), Bielefeld: Bertelsmann 1965.

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bei den Zwangsabgesonderten vorwiegend um psychisch abnorme Menschen handelt, deren Behandlung und soziale sowie charakterliche Beurteilung psychiatrische Fachkenntnis und Erfahrung voraussetzt«.81 Die Zahl der beantragten Zwangsabsonderungen war, verglichen mit jener der Tuberkulosekranken, gering, doch wurden die Betroffenen als »vollkommen unkontrollierbare Streuquelle« wahrgenommen, die durch ihr Verhalten »zahllose unbekannte […] Kontaktpersonen« gefährde. Im Zeitraum von 1948 bis 1958 beantragte beispielsweise die Tuberkulosefürsorgestelle Augsburg bei 20 Kranken die Zwangsabsonderung. Bei neun Personen wurde ein Strafantrag nach § 327 gestellt.82 Einzelne Fälle erregten in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit und wurden innerhalb der medical community wahrgenommen. So der Fall einer 25-jährigen Frau, Mutter von zwei Kindern, die in Berlin nach § 327 StGB zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde, weil sie sich dreimal einer Krankenhausbzw. Heilstättenbehandlung entzogen hatte. Das Gericht sah in ihrem Verhalten eine »sehr große verbrecherische Intensität«.83 Die Stagnation der Zahl der Tuberkulosekranken rückte die Erkrankung in den 1960er Jahren wieder in den Fokus von Gesundheitspolitikern. Einer Studie aus dem Jahr 1968 zufolge begrüßten 97 Prozent der Ärzte die Zwangsabsonderung, einige wünschten, wenn möglich auch »ohne unsinnige Mitwirkung der Juristen«. Auch unter den befragten Patienten war die Zustimmung zu dieser

81 Hagen, Wilhelm/Schröder, Erich: Das öffentliche Gesundheitswesen, Bd. IV Gesundheitsfürsorge, Teil B Rechtsvorschriften und Erläuterungen, Stuttgart: Thieme 1962, V. Infektiöse Volkskrankheiten, S. 3. 82 Liebknecht, Wilhelm: »Nochmals Absonderung!«, in: Der Tuberkulosearzt 12 (1958), S. 87-94. 1949 gab es in der Bundesrepublik 516.056 Tuberkulosekranke bei 147.001 Neuerkrankungen, 1955 430.561 Tuberkulosekranke und 91.655 Neuerkrankungen, 1965 nur noch 257.574 Tuberkulosekranke und 55.010 Neuerkrankungen. Vgl. U. Lindner: Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit, S. 155. 83 Berliner Ärztliche Rundschau 1 (1959), S. 9 sowie »Tagesgeschichtliche Notizen«, in: Der Tuberkulosearzt S. 373. Lindner beschreibt den Fall eines Mannes, der aus familiären und wirtschaftlichen Gründen nach mehreren Heilstättenaufenthalten immer wieder in seinen früheren Beruf zurückkehrte, obwohl die Erkrankung zusehends voranschritt, er nicht mehr arbeitsfähig und eine Heilung kaum noch möglich war. Vgl. Lindner, Ulrike: » ›Wir unterhalten uns ständig über den Milchpfennig, aber auf die Gesundheit wird sehr wenig geachtet.‹ Gesundheitspolitik und medizinische Versorgung 1945-1972«, in: Thomas Schlemmer/Hans Woller (Hg.), Die Erschließung des Landes 1949-1973, Bayern im Bund, Bd. 1, München: Oldenbourg 2001, S. 205-265, hier S. 221.

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Maßnahme erstaunlich groß. Immerhin 82 Prozent aus einer Gruppe von tuberkulosekranken Männern befürwortete die Zwangsabsonderung nach richterlicher Entscheidung.84 Die Schaffung separater Einrichtungen in den 1960er Jahren Große Probleme in der Praxis führten zur Forderung von beteiligten Ärzten, die Patienten unter restriktiven Bedingungen unterzubringen. Die Erziehung der Patienten »zu seuchenhygienisch und sozial einwandfreiem Verhalten«85 und die Bemühungen um ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft traten in den Hintergrund. Die Erfahrungen der überforderten Ärzte bei der Unterbringung schwieriger Patienten waren dramatisch und führten dazu, dass auf alte Muster der Zwangsasylierung aus der Zeit des Nationalsozialismus rekurriert wurde.86 Der Chefarzt der Zwangsabsonderungseinrichtung der Psychiatrischen Klinik in Warstein, Heinrich Effenberger, referierte 1959 anlässlich eines Kolloquiums zur »Führung des Lungenkranken während der stationären Behandlung« im Tuberkulose-Forschungsinstitut Borstel die Klassifikation der asozialen Offentuberkulösen von Gerhard Kloos aus dem Jahr 1942 und beklagte das Fehlen einer Durchführungsverordnung, die die Durchsetzung gefängnisähnlicher Bedingungen und das Tragen von Schusswaffen wie in Stadtroda ermöglichte. Eine ständige Bewachung der Patienten, die für nötig gehalten wurde, um ein Entweichen zu verhindern, könnten Heilstätten nicht gewährleisten. Effenberger berichtete in seinem Vortrag von verschiedenen Ausbruchsversuchen von Patienten, so aus der Heilstättenabteilung der Psychiatrie in Marburg, bei der Pfleger und Mitpatienten bedroht und teilweise schwer misshandelt worden waren.87 Ausgesprochen schwierig gestaltete sich auch die gemeinsame Unterbringung von psychisch Kranken, die an Tuberkulose erkrankt waren, und zwangsabgesonderten Patienten, wie eine Stellungnahme des Direktors der Pfälzischen

84 Göttsching, Christian: Stagnation in der Tuberkulosebekämpfung. Ursachen und Auswirkungen, Möglichkeiten der Überwindung, Stuttgart: Thieme 1968, S. 35-36. 85 Trüb, Carl Ludwig Paul/Femmer, Hans Joachim: »Das Recht der Zwangsasylierung von Tuberkulösen«, in: Der Tuberkulosearzt 8 (1954), S. 657-668, hier S. 667. 86 Effenberger, Heinrich: »Erfahrungen mit der stationären Zwangsasylierung asozialer Tuberkulöser«, in: Beiträge zur Klinik der Tuberkulose 121 (1959), S. 473-479; vgl. auch Effenberger, Heinrich: Die aus dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (vom 20. Juli 1933) sich ergebenden Schwierigkeiten bei der Unfruchtbarmachung erbkranker Frauen. Diss. Med. Breslau 1935. 87 Vgl. H. Effenberger: Erfahrungen mit der stationären Zwangsasylierung, S. 475-477.

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Nervenklinik Landeck in Klingenmünster, Gerhard Mall, zeigt. In der Klinik befanden sich 1963 »14 asoziale tuberkulöse Kranke« und 18 »tuberkulöse Geisteskranke«. Es sei »leider nicht möglich, die [..] Gruppen räumlich von einander getrennt unterzubringen, da hierfür alle Voraussetzungen fehlen. Demgemäß müssen die wegen asozialen Verhaltens bei uns eingewiesenen Tuberkulosekranken auf unserer kleinen Epidemiestation neben Schizophrenen, Manisch-Depressiven, Epileptikern und schwachsinnigen Tuberkulosekranken asyliert werden.«88

Dieser Umstand habe in der Öffentlichkeit häufig zu »Angriffen« [sic] geführt und zu Pressemeldungen. »Es ist verständlich, daß die Angehörigen einer schwermütigen tuberkulosekranken Frau recht aufgebracht werden, wenn sie bemerken, daß die Patientin neben einer asozialen tuberkulosen Dirne im selben Wachsaal ihr Bett hat. Umkehrt beschweren sich die asozialen Elemente unter den gerichtlich eingewiesenen Tuberkulosekranken, daß sie mit schwachsinnigen oder schizophrenen Kranken am selben Tische speisen müssen.«89

Mall war zudem seit längerem bemüht, die Patienten der forensischen Station in einem benachbarten ehemaligen Gefängnis unterzubringen.90 Er beklagte, »aufsässige, freche, arrogante, querulatorische Psychopathen« unter den Patienten, »die alles daran setzen, das ruhige psychische Klima der Station zu vergiften und die übrigen Patienten gegen Ärzte und Pfleger aufzuhetzen. […] Ein großer Teil der Arbeitskraft der Ärzte wird dadurch absorbiert, daß den fortlaufenden Querulationen dieser asozialen Kriminellen auf ihre unzähligen Eingaben an die Behörden Erwiderungen diktiert werden müssen.«91

88 Gerhard Mall, Direktor der Pfälzischen Nervenklinik Landeck, Stellungnahme zur Anfrage des Sozialministeriums Rheinland-Pfalz zur Belegung der Klinik vom 2. Dezember 1963, Zentralarchiv des Bezirksverbands Pfalz Kaiserslautern, T 21, Nr. 399. 89 Ebd. 90 Vgl. Beyer, Christof: Von der Kreis-Irrenanstalt zum Pfalzklinikum. Eine Geschichte der Psychiatrie im Klingenmünster, Kaiserslautern: Institut für pfälzische Geschichte und Volkskunde 2009, S. 205-206. 91 G. Mall: Stellungnahme.

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Zwangseingewiesene Tuberkulosekranke verweigerten zudem auch die gemeinsame Unterbringung mit psychisch Kranken in psychiatrischen Anstalten, was zu einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße führte. Das Gericht stellte zur »Unterbringung behandlungsunwilliger Tuberkulosekranker in geschlossenen Anstalten« fest, »daß ein behandlungsunwilliger TbcKranker nicht mit Geisteskranken zusammen untergebracht werden darf« und verfügte die Schaffung einer separaten Einrichtung.92 Sehr aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang Akten, die die Auseinandersetzung um den Neubau einer Zwangsabsonderungseinrichtung im Landeskrankenhaus Lüneburg in den 1960er Jahren zeigen. Dort waren seit Ende der 1950er Jahre jährlich eine steigende Zahl von Patienten nach Kurabbrüchen nach dem Freiheitsentziehungsgesetz eingewiesen worden. 1962 wurden 51 Personen aufgenommen, obwohl die Sonderabteilung für zwangsasylierte Offentuberkulöse nur fünf Betten hatte.93 In der Phase der Neukonzeption unternahmen Ärzte und Medizinalbeamte aus Niedersachsen und Mitarbeiter des Hessischen Landeswohlfahrtsverbandes mit dem Direktor der Lungenheilstätte der psychiatrischen Klinik Merxhausen bei Kassel. Dort hatte im Sommer 1963 ein gewaltsamer Ausbruchsversuch stattgefunden, bei dem vergitterte Fenster und ein meterhoher Zaun überwunden worden waren. Die Empfehlungen der hessischen Ärzte schlugen sich in baulichen Maßgaben nieder. Die Ausführung des Neubaus glich jedoch mehr einer Haftanstalt als einem Krankenhaus. »Krankenhöfe« seien kleiner zu bemessen, die Einrichtung »durch einen etwa 2,80 m hohen, starken, engmaschigen Drahtzaun mit oberer, weiter Abwinklung nach innen« sowie zusätzlich mit »4 Reihen Stacheldraht« gesichert werden, Liegehallen würden nicht gebraucht, »weil die Patienten im allgemeinen nicht gewillt sind, Liegekuren durchzuführen«. Die Fenstervergitterung solle aus Sonderstahl hergestellt werden, die Türen mit Sicherheitsschlössern wie für Gefängnistüren. WC-Zellentüren sollten nicht verschließbar und ohne Spülkasten sein, da diese abgerissen werden und das Gebäude unter Wasser setzten. »Die Sicherheitszelle darf keine Einbauten erhalten, die ein tobender Patient zerstören kann«, kein Waschbecken und keine Heizkörper. »Das Bett sollte fest in Beton eingebaut werden […] das WC-Becken aus Gußstahl [...] in

92 Zentralarchiv des Bezirksverbands Pfalz, Kaiserslautern, T21, Nr. 378 sowie T21, Nr. 368. Für den Hinweis auf die Akten danke ich Christof Beyer. 93 Gerhard Steuber, Direktor des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Lüneburg an das Niedersächsische Landessozialamt, Schreiben vom 31. Juli 1963, HStAH, Nds. 321 Acc. 132/83 Nr. 9. 1959 waren es 15 Patienten, 1960 22, 1961 41.

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einem Betonklotz, […] keinen Sitzring und keinen Deckel. Die Spülung erfolgt durch das Pflegepersonal vom Flur.«94 Trotz aller Sicherungsmaßnahmen gab es immer wieder Proteste der Anwohner. Gerhard Steuber, der Direktor des Landeskrankenhauses, versuchte den Präsidenten des Niedersächsischen Landesozialamts »in letzter Stunde«, wie er schrieb, umzustimmen. Kein Pfleger würde sich bereitfinden, »wehrlos« in der geplanten Heilstätte Dienst zu tun. Auch vom psychiatrischen Standpunkt, argumentierte Steuber, gehörten die Betroffenen nicht in das Landeskrankenhaus, weil die psychopathische Persönlichkeitsstruktur nicht die Unterbringung in der Psychiatrie bedinge. Ein Psychopath habe einen abnormen Charakter, sei aber nicht geisteskrank und könne durch therapeutische Maßnahmen in dieser Hinsicht nicht geändert werden. Man möge die Betroffenen doch an einem anderen Ort unterbringen, »wo neben der selbstverständlichen Behandlung der Lungentuberkulose und pflegerischen Betreuung durch Krankenpflegepersonal Justizbeamte tätig sind«.95 1969 wurde die neue »Sonderheilstätte« als Teil des Landeskrankenhauses dennoch fertiggestellt.

S CHLUSS Zu Beginn der 1960er Jahre schienen Tuberkuloseärzte und Gesundheitspolitiker mit der in den psychiatrischen Kliniken angesiedelten Zwangsabsonderung und Zwangsbehandlung einen Modell des pragmatischen Umgangs mit den therapieverweigernden Tuberkulosekranken gefunden zu haben. Die Unterbringung war rechtsstaatlich abgesichert und basierte weitgehend auf der psychiatrischen Diagnose abweichenden, dissozialen Verhaltens in Verbindung mit einer Infektionskrankheit. Gleichzeitig widerspiegelt die Entwicklung von über 50 Jahren Tuberkulosebekämpfung und Zwangsasylierung paradigmatisch die Ambivalenzen von Ärzten und Gesundheitspolitikern im Umgang mit Patienten, die keine Krankheitseinsicht haben und sich in ihrer Wahrnehmung von subjektivem Krankheitsempfinden sowie der Anerkennung ärztlicher Kompetenz von einem großen Teil der Gesellschaft unterscheiden. Dass die Zwangsabsonderung für den einzelnen Betroffenen sozial, wirtschaftlich und psychisch eine enorme Belastung

94 HStAH, Nds. 321 Acc. 132/83 Nr. 9. 95 Gerhard Steuber an das Niedersächsische Landesozialamt, Schreiben vom 31. Juli 1963, Niedersächsisches HStAH, Nds. 321 Acc. 132/83 Nr. 9.

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war, war den Beteiligten dabei durchaus bewusst. Ärzte befanden sich im Konflikt zwischen dem Behandlungsauftrag, dem Patienten die bestmögliche verfügbare Therapie zukommen zu lassen und ihren eigenen Disziplinierungs- und Schutzforderungen sowie denen der Gesellschaft. Ein solcher Konflikt entsteht, wenn Ärzte als diejenigen, die für die Heilung von Krankheit zuständig sind, keine von Patienten und sozialem Umfeld akzeptierte Lösung bereithalten. Eine nur auf den ersten Blick ähnliche, aber dennoch andere Problematik entfaltet sich bei Patienten mit psychischen Erkrankungen oder einer abnormer Persönlichkeitsstruktur, von denen eine Gefährdung der Gesellschaft ausgeht, denn Tuberkulosekranke leiden an einer Infektionskrankheit, sind sonst weder psychisch krank noch kriminell. Das Gefahrenpotential liegt allein in ihrer Fähigkeit, eine Krankheit zu übertragen. Die therapieverweigernden Tuberkulosekranken waren daher nicht per se psychiatrische Patienten. Die Abnormität ihrer Persönlichkeit wurde aus ihrer Verweigerungshaltung gegenüber der, auch in den 1960er Jahren oft noch langwierigen Therapie in Lungenheilstätten abgeleitet. Gerade der deutliche Rückgang der Zahl der Tuberkuloseerkrankungen führte zu einer akribischen Verfolgung der Patienten, die sich den geforderten Maßnahmen zur Krankheitsbekämpfung widersetzten. Epidemiologisch war die Einweisung von vermutlich wenigen hundert Patienten bundesweit pro Jahr für die Entwicklung der Zahl der Tuberkuloseerkrankungen marginal, der deshalb betriebene Aufwand der Zwangsabsonderung mit dem Bau neuer »Sonderheilstätten« kaum gerechtfertigt. Dass es darüber hinaus erfolgreiche alternative Behandlungs- und Unterbringungsmöglichkeiten gegeben hätte, zeigt das Beispiel des Marburger Arztes Johannes Paczowsky. Psychiater, die bei psychiatrischen Erkrankungen den Blick auf erfolgreiche, medikamentös und psychotherapeutisch unterstützte Heilung gerichtet hatten, lehnten, wie die Beispiele aus Klingenmünster, Lüneburg, Warstein und Merxhausen zeigen, eine bloße Verwahrung der Tuberkulosekranken aus disziplinarischen Gründen ab. Sie lösten sich damit in den 1960er Jahren von der ihnen im Nationalsozialismus zugewachsenen Zuständigkeit für jegliches abweichende Verhalten. Die Entwicklung der Zwangsabsonderung von Tuberkulosekranken ist somit auch ein Beispiel für den Prozess der Distanzierung von Psychiatern von ideologisch unterfütterten Forderungen der Gesellschaft in der frühen Bundesrepublik.

Gewalt und Trauma Zur Verwandlung psychiatrischen Wissens in Ost- und Westdeutschland seit dem Zweiten Weltkrieg S VENJA G OLTERMANN

Als der Zweite Weltkrieg auf den europäischen Kriegsschauplätzen im Mai 1945 zu Ende ging, waren die Menschen in diesem »zerstörten Kontinent« mit den Folgen einer Gewalt- und Vernichtungseskalation konfrontiert, wie es sie auf diese Weise nie zuvor gegeben hatte.1 Das nationalsozialistische Deutschland hatte im September 1939 einen Krieg entfesselt, dessen Auswirkungen auf die europäischen Gesellschaften verheerend waren. Die Zahl der Toten liegt laut Schätzungen bei mehr als 50 Millionen Menschen, mehr als die Hälfte von ihnen waren Zivilisten.2 Verantwortlich für diese kaum vorstellbare Zahl an Toten war zu einem ganz beträchtlichen Teil der von den Deutschen im Osten geführte Vernichtungskrieg wie auch das von ihnen etablierte, mit äußerster Brutalität vorgehende Besatzungsregime. Not, Zerstörung, Verlusterfahrung machten jedoch auch vor den Deutschen nicht Halt: Nahezu fünf Millionen Wehrmachtssoldaten verloren in diesem Krieg ihr Leben, etwa 600.000 Zivilisten starben

1

Vgl. als Überblick Judt, Tony: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München: Hanser 2006, insbes. S. 29-82, das Zit. S. 82; Herbert, Ulrich/Schildt, Axel: »Kriegsende in Europa«, in: Dies. (Hg.), Kriegsende in Europa. Vom Beginn des deutschen Machtzerfalls bis zur Stabilisierung der Nachkriegsordnung 1944-1948, Essen: Klartext 1998, S. 7-34, sowie die anderen Aufsätze in diesem Sammelband.

2

Vgl. u.a. Mazower, Mark: Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin: Fest 2000, S. 308. Die Zahl schließt die Toten bis zur Kapitulation Japans am 2.9.1945 ein.

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durch Luftangriffe.3 Hinzu kam, dass seit dem Vormarsch der Roten Armee im Winter 1944/45 etwa 14 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene in den Westen strömten. Rund 1,7 Millionen von ihnen starben4, und es waren sicherlich zehntausende Frauen, die bereits auf der Flucht den Massenvergewaltigungen durch sowjetische Soldaten zum Opfer fielen. Diese messbaren Folgen des Krieges sind seit langem bekannt. Dennoch wird in der Zeitgeschichte erst seit relativ kurzer Zeit betont, dass die extreme Gewalt des Krieges und des Nationalsozialismus in Deutschland – wie auch in anderen Ländern – fortdauernde immaterielle Trümmer hinterließ, die den Wiederaufbau im Nachkriegseuropa überdauerten. Mittlerweile stößt man sogar immer häufiger auf die Annahme, dass diese Gesellschaften »traumatisiert« gewesen seien. Von der zeitgenössischen Wahrnehmung und Selbstbeschreibung nach 1945 unterscheidet sich das erheblich, denn im Gefolge des Zweiten Weltkriegs war das »Trauma« als Deutungskategorie äußerst marginal. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für Europa. In der sogenannten westlichen Welt erfolgte der Aufstieg des »Traumas« zu einem zentralen Schlüsselbegriff seit den 1980er Jahren, unmittelbar verknüpft mit der Etablierung der »Post-Traumatic Stress Disorder« im Gefolge des Vietnamkrieges. Auch der gesellschaftliche Vorstellungshorizont über die psychischen Folgen von Gewaltereignissen – gerade auch derjenigen des Zweiten Weltkriegs – hat sich damit grundlegend verändert. Dieser Prozess verlief in den einzelnen Ländern zwar in unterschiedlichem Tempo, doch ersichtlich in Abhängigkeit vom vorherrschenden psychiatrischen Wissensstand.5 Insofern ist es reizvoll, die Psychiatrie als eine Lieferantin von Deutungsmustern in den Blick zu nehmen, mit denen sich die öffentliche Wahrnehmung von der menschlichen Verarbeitungsweise extremer Erlebnisse und damit auch von den Leiderfahrungen beträchtlich änderte. Auch die (Selbst-)Wahrnehmung der Menschen als Opfer von Repression und Terror blieb davon nicht unberührt. Letzteres wird in diesem Beitrag allerdings nur angerissen werden. Denn der Bogen ist nachfolgend weit gespannt: Er schließt den Blick sowohl auf die

3

Vgl. Henke, Klaus-Dietmar: »Deutschland. Zweierlei Kriegsende«, in: ebd.: S. 337354, hier S. 339; U. Herbert/A. Schild: Kriegsende, S. 25.

4

Die Angaben nach Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München: Beck 2003, S. 944.

5

Vgl. dazu ausführlich Goltermann, Svenja: Die Gesellschaft der Überlebenden. Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg, München: DVA 2009.

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Psychiatrie in West- als auch in Ostdeutschland ein, und das in der Zeitspanne von 1945 bis in die Gegenwart. In diesem Zeitraum kann man drei Phasen unterscheiden, die ich mit den Begriffen »Normalisierung«, »Herausforderungen« und »Pluralisierung« überschrieben habe. Zwischen diesen Phasen gibt es keine exakten zeitlichen Schnitte. In etwa aber wird man sagen können, dass die Phase der »Normalisierung« bis Mitte der 1950er Jahre dauerte; die »Herausforderungen« das hervorstechende Kennzeichen bis Mitte der 1960er Jahre waren, in denen sich die Weichen für die Umgangsweise mit diesen während der nachfolgenden beiden Jahrzehnte stellten, und das Moment der »Pluralisierung« erst nach 1989 zum Tragen kam. Nachfolgend werde ich diese einzelnen Phasen darauf hin beleuchten, wie sich die psychiatrischen Lesarten von psychischen Auffälligkeiten und Beschwerden veränderten, und vor allem auch, warum dies der Fall war. Mein Anliegen ist es dabei nicht, eine Geschichte des medizinischen Fortschritts zu entwerfen. Vielmehr geht es darum, die unterschiedlichen Faktoren frei zu legen, die auf das jeweils vorherrschende psychiatrische Wissen Einfluss nahmen und – dieser Faden wird den Beitrag mit durchziehen – die Opferanerkennung zwischen 1945 und der Gegenwart veränderten.

N ORMALISIERUNG Wie man der frühen Fachpublizistik entnehmen kann, stellte sich bereits unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine ganze Reihe deutscher Psychiater die Frage, ob sich dieser in außergewöhnlichen psychischen Auffälligkeiten niedergeschlagen habe. Doch auch wenn ihnen eine besondere Last, ein ausgeprägtes Leid und eine auffällig erscheinende Anspannung im Nachkriegsdeutschland nicht entgingen, waren sich die psychiatrischen Experten darin einig, dass es sich bei den beobachtbaren psychischen Auffälligkeiten nicht um eine »Krankheit« handle. Vor allem stimmten sie darin überein, dass diese veränderten Verhaltensweisen bei den jeweils Betroffenen bereits nach kurzer Zeit wieder verschwinden würden. Dafür sprachen die vorherrschenden psychiatrischen Theorien über die »Natur« des Menschen und die »Normalität« seiner psychischen Verarbeitungsfähigkeit, an denen auch nach diesem Krieg, wie es schien, festgehalten werden konnte.6 Demnach sei der menschliche Organismus

6

Vgl. u.a. Bonhoeffer, Karl: »Vergleichende psychopathologische Erfahrungen aus den beiden Weltkriegen«, in: Nervenarzt 18 (1947), S. 1-4; Janz, Hans-Werner: »Psychopathologische Reaktionen der Kriegs- und Nachkriegszeit«, in: Fortschritte der

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selbst bei schwersten seelischen Belastungen zu einer erstaunlichen Ausgleichsfähigkeit in der Lage. Länger anhaltende psychische Beschwerden und Beeinträchtigungen seien deshalb, so die Annahme, nicht zu erwarten. Dass der Krieg in der Lage sei, schwere psychische Krankheiten, wie etwa eine Schizophrenie, auszulösen, schien ohnehin ausgeschlossen zu sein. Anders als häufig angenommen wird, war diese Betrachtungsweise kein Produkt des Nationalsozialismus.7 Sie war noch nicht einmal auf die deutsche Psychiatrie beschränkt. Vielmehr ging sie auf fachwissenschaftliche Schlussfolgerungen zurück, die sich in der deutschen Psychiatrie bereits im Verlauf des Ersten Weltkriegs durchgesetzt und auch in anderen europäischen Ländern Fuß gefasst hatten.8 Die psychiatrischen Lesarten von Verhaltensauffälligkeiten im Nachkriegsdeutschland waren in einem derart hohen Maße von diesen vorherrschenden Grundannahmen bestimmt, dass man schon beinahe von einer hartnäckigen Selbstperpetuierung des psychiatrischen Ansatzes sprechen kann. Sowohl für die Soldaten der Wehrmacht als auch für Zivilisten schien man demnach sagen zu können, dass »massive psychogene Manifestationen« von längerer Dauer ohnehin eine Seltenheit seien. Es seien nur »einfache Schreckreaktionen« gewesen, die man nach den Fliegerangriffen hatte behandeln müssen, im Allgemeinen aber seien die psychischen Störungen »nach Stunden oder höchstens Tagen überwunden« gewesen.9 Als gängige Erklärung galt: »Wenn es ums nackte

Neurologie, Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete 17 (1949), S. 264-293, sowie »Protokoll der zweiten Tagung der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie, Jena«, in: Psychologie, Neurologie und medizinische Psychologie 2 (1950), S. 347348 (Haenisch, Psychiatrische und neurologische Beobachtungen während der Flucht 1945). 7

Vgl. z.B. Pross, Christian: Paying for the Past. The Struggle Over Reparations for Surviving Victims of the Nazi Terror, Baltimore: John Hopkins Univ. Press 1998.

8

Vgl. u.a. Withuis, Jolande/Mooij, Annet (Hg.): The Politics of War Trauma. The Aftermath of World War II in Eleven European Countries, Amsterdam: Aksant 2010; Lerner, Paul: Hysterical Men. War, Psychiatry, and the Politics of Trauma in Germany, 1890-1930, Ithaca: Cornell Univ. Press 2003; Micale, Mark/Lerner, Paul (Hg.): Traumatic Pasts. History, Psychiatry, and Trauma in the Modern Age, 1870-1930, Cambridge: Cambridge Univ. Press 2001; Shephard, Ben: A War of Nerves. Soldiers and Psychiatrists 1914-1994, London: Jonathan Cape 2000.

9

H.-W. Janz: Psychopathologische Reaktionen, S. 268.

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Leben geht, hat man keine Zeit, krank zu sein.«10 Karl Bonhoeffer fügte dem hinzu, die Zivilbevölkerung, die während dieses Krieges selbst so viele Strapazen hatte erleben müssen, habe »einen richtigeren Maßstab für die Wirkung erschütternder Erlebnisse bekommen« und sei schlicht »in ihrer Mitleidsbereitschaft sparsamer geworden.«11 Schließlich war es auch das weitgehende Verschwinden der »Kriegszitterer« während des Zweiten Weltkriegs, das aus Sicht der deutschen Psychiater belegte, dass es richtig gewesen war, einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen der Kriegsgewalt und psychisch bedingten Leiden zu verneinen. Sicherlich muss man das Bild differenzieren. Psychiater in West- und Ostdeutschland schlossen nicht ausnahmslos auf »funktionelle« Leiden. Für psychische Auffälligkeiten gab es durchaus eine andere Erklärung: es waren die »körperlichen Erschöpfungszustände«, hervorgerufen durch hohe körperliche Anstrengungen, vor allem aber durch Hunger. Auch in dieser Hinsicht folgten die Psychiater in allen Besatzungszonen damit dem etablierten psychiatrischen Wissensstand, hatte man derartige Fälle doch bereits seit dem Ersten Weltkrieg beobachtet. Allerdings trat in der fachöffentlichen Debatte ost- und westdeutscher Psychiater an dieser Stelle ein eklatanter Unterschied zu Tage: Die Frage, wie die psychische Verfassung der heimkehrenden Soldaten aus der sowjetischen Gefangenschaft zu interpretieren sei, war ein Problem, das ausschließlich im Westen diskutiert wurde, wo es in der Folgezeit auch eine immer größere Aufmerksamkeit erfuhr. Im zentralen Fachorgan der ostdeutschen Psychiater hingegen fiel dazu während der gesamten Laufzeit der Zeitschrift, die seit 1949 erschien, nicht ein einziges Wort. Vieles spricht hier für die Annahme, dass sich dieses Beschweigen dem offiziellen Gebot der sozialistischen Völkerfreundschaft verdankte. Die ideologische Blockbildung kam damit auch im wissenschaftlichen Diskurs zum Tragen, wenngleich es zu weit gegriffen wäre, von einem »Eisernen Vorhang« zwischen

10 Beringer, Kurt: »Über hysterische Reaktionen bei Fliegerangriffen«, in: Heinrich Kranz (Hg.), Arbeiten zur Psychiatrie, Neurologie und ihren Grenzgebieten, Heidelberg: Scherer 1947, S. 131-138, hier S. 136. 11 K. Bonhoeffer: Psychopathologische Erfahrungen, S. 4.

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der ost- und westdeutschen Wissenschaft zu sprechen.12 Wie die in Leipzig verlegte Zeitschrift »Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie« zeigt, rezipierte man in Ostdeutschland die wissenschaftlichen Erkenntnisse westdeutscher Psychiater sogar sehr genau, nicht selten griff man diese auch auf.13 Selbst euphorische Berichte über die Modernität psychiatrischer Anstalten im Westen und der dort eingeschlagenen therapeutischen Herangehensweisen waren möglich.14 Doch was die Kriegsheimkehrer aus den sowjetischen Lagern anbelangte, blieb es still. Dabei kann man anderen Quellen entnehmen, dass die Ärzte in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) unmittelbar nach Kriegsende durchaus mit erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen vieler Kriegsheimkehrer aus den sowjetischen Lagern konfrontiert waren. So klärte ein Arzt aus einem Heimkehrerlager der SBZ die Ostberliner Behörden u.a. darüber auf, dass die ehemaligen Kriegsgefangenen oft »ohne jedes erkennbare organische Leiden« zusammenbrächen.15 Doch lag die Annahme überhaupt nahe, dass diese psychischen Beschwerden auf das Erlebnis der Kriegsgefangenschaft als solche zurückzuführen waren? Auch für die psychiatrischen Experten in den westlichen Besatzungszonen war das zunächst nicht denkbar. Sie interpretierten die beobachtbaren Verhaltensveränderungen der Kriegsheimkehrer als eine Art Ausweichreaktion vor der Realität der »Zusammenbruchsgesellschaft«. Die Neigung dazu schrieben sie im Kern der eigenen »Anlage« zu. Lediglich die schweren körperlichen Auszehrungszustände legten, wie bei den Zivilisten auch, die Annahme nahe, dass

12 Vgl. Eghigian, Greg: »Was There a Communist Psychiatry? Politics and East German Psychiatric Care, 1945-1989«, in: Harvard Review of Psychiatry 10 (2002), S. 364368. Zu den Unterschieden in der öffentlichen Erinnerungskultur West- und Ostdeutschlands an den Krieg vgl. u.a. Morina, Christina: Legacies of Stalingrad. Remembering the Eastern Front in Germany since 1945, Cambridge: Cambridge Univ. Press 2011; Wienand, Christiane: Performing Memory. Returned German Prisoners of War in Divided and Reunited Germany. Dissertation London 2010. 13 Vgl. u.a. Zenk, Herbert: »Produktive Gestaltung und Fürsorge für Hirnverletzte«, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 2 (1950), S. 274-280; »Protokoll der Tagung der Medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie an der Karl-Marx-Universität Leipzig (1955)«, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 8 (1956), S. 154-158 (Diskussionsbeitrag Dietrich). 14 Vgl. »Eindrücke eines Besuchs in den westfälischen Anstalten Lengerich und Gütersloh«, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 9 (1957), S. 241-248. 15 Vgl. Biess, Frank: Homecomings. Returning POWs and the Legacies of Defeat in Postwar Germany, Princeton: Princeton Univ. Press 2006, S. 92, dort auch das Zitat.

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die psychischen Auffälligkeiten durch die zum Teil gravierende Unter- und Mangelernährung bedingt waren. Eine solche Lesart wurde auch von den Kollegen der Inneren Medizin gestützt, die den Begriff der »Hungerkrankheit« oder auch der »Dystrophie« in die medizinische Fachdiskussion einwarfen.16 Aus Sicht der Ärzteschaft ließ sich somit davon ausgehen, dass sich mit der Verbesserung der Ernährungslage der psychische Zustand der Kriegsheimkehrer, wie der Deutschen überhaupt, wieder »normalisieren« müsse.17 Zumindest in Westdeutschland dauerte es nicht lange, bis Psychiater einräumten, dass dies eine allzu optimistische Prognose gewesen sei. Zwar schien sie für den Großteil der Bevölkerung zutreffend zu sein, doch galt das nicht für die sogenannten »Spätheimkehrer«. Denn trotz verbesserter Ernährungslage nach der Heimkehr klagten diese häufig über psychische Leiden und physische Beschwerden. Herzrasen, Kreislaufstörungen, Schlaflosigkeit und Schweißausbrüche, die schon bei geringsten Belastungen auftraten, beeinträchtigten ihre Leistungsfähigkeit teilweise erheblich. Und ganz ähnlich wie bei den Heimkehrern der ersten Nachkriegsjahre gehörten deutliche Stimmungsschwankungen und eine vermehrte Reizbarkeit, Angst- und Insuffizienzgefühle, Resignation, ein auffallendes Nachlassen des Gedächtnisses oder auch eine allgemeine Antriebslosigkeit zum weiten Feld der beklagten Symptome dazu.18 In Anbetracht dieser hartnäckigen Leiden sahen sich in der Bundesrepublik weite Teile der Medizin herausgefordert, die Bedeutung exogener und endogener Faktoren für die Entstehung derartiger gesundheitlicher Beeinträchtigungen noch

16 Vgl. dazu etwa Malten, Hans: »Heimkehrer«, in: Medizinische Klinik 41 (1946), S. 593-600. Baeyer, Walter Ritter v.: »Zur Statistik und Form der abnormen Erlebnisreaktion in der Gegenwart«, in: Nervenarzt 19 (1948), S. 402-408, hier S. 407, griff dessen Interpretation in der psychiatrischen Fachdiskussion als einer der ersten auf. In den psychiatrischen Krankenakten der von Bodelschwinghschen Anstalten in Bielefeld/Bethel stößt man seit 1948 auf die Diagnose der »Dystrophie«, die zunächst allerdings noch eher vorsichtig als eine mögliche Ursache für die psychischen Beschwerden in Betracht gezogen wurde. Vgl. u.a. Hauptarchiv der von Bodelschwinghschen Anstalten (=HBAB), Bestand Morija, 4590. 17 Das prognostizierten u.a. W.R. v. Baeyer: Statistik, S. 407; Schmidt, Gerhard: »Gestaltwandel von Massenreaktionen auf Kriegs- und Nachkriegsüberlastung«, in: Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete 22 (1954), S. 125-129, hier S. 128. 18 Prononciert zusammengefasst in: Franke, K.: »Katamnese der Heimkehrer«, in: Deutsche medizinische Rundschau 3 (1949), S. 1278, und Kilian, Hans: »Zur Psychopathologie der Heimkehrer«, in: ebd.: S. 1278.

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einmal zu überprüfen. Im Feld der Inneren Medizin zeigten sich erste Anzeichen für die Bereitschaft, längerfristige Schädigungen im Sinne eines »leib-seelischen Summationstraumas« anzunehmen, das auch starke seelische Belastungen als Ursache für andauernde körperliche Störungen verstand. Die Psychiater gingen noch nicht so weit. Sie griffen vermehrt die ebenfalls aus der Inneren Medizin stammende Diagnose der Dystrophie auf, die es ihnen erlaubte, eine Kausalverbindung von psychischen Beschwerden und vorausgegangenen organischen Schädigungen, in diesem Falle durch die Fehl- und Mangelernährung in der Kriegsgefangenschaft, herzustellen. Einerseits blieben die Psychiater damit weiterhin im Rahmen der herrschenden psychiatrischen Lehre. Andererseits eröffnete sich jedoch die Möglichkeit, den seelischen Strapazen ein stärkeres Gewicht beizumessen als bislang. Denn die Zeit der Rekonvaleszenz werde, so hörte man jetzt auch von Seiten der Psychiater, nicht nur durch die enormen körperlichen Strapazen verlängert; auch die seelische Belastung trüge zu dieser Verlangsamung des Heilungsprozesses bei.19 Man muss sich klar machen, dass bei diesen Debatten immer die Frage mitschwang, wie die Anerkennung gesundheitlicher Leiden im Falle beantragter Renten entscheidungssicher gehandhabt werden könnte. Diese Problematik stellte sich nicht nur den Ärzten in Westdeutschland, sondern auch ihren Kollegen in Ostdeutschland – das allerdings in unterschiedlichem Maße, da die Versorgung der Kriegsbeschädigten in Ost- und Westdeutschland gesetzlich unterschiedlich geregelt war. So schloss die Kriegsopferversorgung in der Bundesrepublik, die im Dezember 1950 einheitlich fixiert wurde, nicht nur ehemalige Soldaten, sondern auch Zivilisten als mögliche Antragsteller ein. Eine Vielzahl von Begutachtungsverfahren war dadurch notwendig. Im Jahr 1953 beispielsweise handelte es sich um etwa 4,2 Millionen Versorgungsberechtigte bei mehr als 1,5 Millionen offenen Verfahren. Zudem gehörte es zur Aufgabe der Ärzte, durch Nachuntersuchungen zu prüfen, ob das vorgebrachte Leiden nach wie vor ursächlich auf eine Schädigung durch die kriegerischen Ereignisse zurückgeführt werden konnte.20 Denn nach Maßgabe der bundesrepublikanischen Versorgungsbehörden stand fest: Ein rein zeitlicher Zusammenhang

19 Vgl. S. Goltermann: Gesellschaft, S. 234ff. 20 Vgl. dazu als Überblick Neumann, Vera: Nicht der Rede wert. Die Privatisierung der Kriegsfolgen in der Bundesrepublik, Münster: Westfälisches Dampfboot 1999, S. 132-143; Diehl, James M.: German Veterans After the Second World War, Chapel Hill: Univ. of North Carolina Press 1993.

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zwischen der Entstehung der Gesundheitsstörung und dem Krieg genügte für eine Anerkennung als »Kriegsopfer« und damit auch eines Versorgungsanspruches nicht.21 Wenn somit in der Bundesrepublik die medizinische Begutachtung zur Feststellung von Versorgungsansprüchen eng mit der Anerkennung eines Status als Opfer des Krieges verflochten war, stellte sich die Situation in der DDR schon deshalb anders dar, weil es dort keine eigenständige Kriegsopferversorgung gab.22 Aus ideologischen Gründen sollte der Status des Kriegsopfers nicht gesondert herausgehoben werden. Die Schädigungsursache selbst – ob Krieg, KZHaft, Unfall oder »anlagebedingtes« Leiden – sollte nach offizieller Maßgabe in der Begutachtung keine Rolle spielen. Das hatte zur Folge, dass die Feststellung der konkreten Schädigungsursache für die in Ostdeutschland begutachtenden Ärzte eine weitaus geringere Relevanz hatte als für die Kollegen im Westen. Zudem erfolgte in der DDR eine Einordnung als Kriegsbeschädigter oder Kriegsinvalide nur dann, wenn das vorgebrachte Leiden bereits während des Krieges aufgetreten war.23 Für alle gesundheitlichen Leiden, die also erst nach dem Krieg auftraten, stand dies gar nicht zur Debatte. Das galt selbst für die Kriegsgefangenen, die in der DDR, wie die Zivilisten auch, aus dem Personenkreis der Kriegsbeschädigten herausdefiniert wurden.24 Und noch ein gravierender Unterschied kam zwischen Ost- und Westdeutschland hinzu: In der Bundesrepublik war der Anspruch auf eine Kriegsopferrente zu prüfen, auch wenn der Betroffene einer beruflichen Tätigkeit nachgehen konnte und sein Einkommen hatte; die Aufgabe der ostdeutschen Ärzte beschränkte sich hingegen auf das Problem, ob der Antragsteller als arbeitsunfähig anzusehen war, d.h. ob er durch »keine bezahlte Arbeit, die seinen Kräften und Fähigkeiten« entsprach, seinen Unterhalt zu zwei Dritteln zu verdienen in der Lage sein würde.25 Damit waren in der DDR die Auflagen für die medizinische Begutachtung der Kriegsbeschädigten eng an die Erfordernisse des

21 Vgl. dazu Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Anhaltspunkte für die Ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen, Bonn: Köllen 1952, und die nachfolgenden Auflagen. 22 Vgl. u.a. Schmidt, Manfred G.: Sozialpolitik der DDR, Wiesbaden: VS 2004, S. 38. 23 Vgl. Schiller, Gotthard/Weigel, Herbert (Hg.): Taschenbuch der Ärztlichen Begutachtungen, Berlin: Verlag Volk und Gesundheit 1964, S. 218. 24 Vgl. ebd., sowie Boldorf, Marcel: »Die Verdrängung der Kriegsbeschädigtenproblematik in der SBZ/DDR«, in: Paul Erker (Hg.), Rechnung für Hitlers Krieg. Aspekte und Probleme des Lastenausgleichs, Heidelberg: Verlag Regionalkultur 2004, S. 237. 25 Vgl. Taschenbuch der Ärztlichen Begutachtungen, S. 217.

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Arbeitsmarktes gekoppelt, wie man das in der dortigen Sozialpolitik generell beobachten kann.26 Die politische Maßgabe war also, der Arbeitsvermittlung aller potentiell Werktätigen Priorität einzuräumen.27 Das korrespondierte durchaus mit dem Anliegen vieler ostdeutscher Ärzte. Sie sahen immer wieder die Gefahr, dass sich hinter gesundheitlichen Beschwerden lediglich ein Sicherungsbedürfnis der Betroffenen verbergen könnte. So begrüßte ein ostdeutscher Psychiater selbst im Hinblick auf die Hirnverletzten des Krieges, dass Kriegsteilrenten nicht ausgezahlt würden. Er begründete: »Diese durch den Zusammenbruch des einheitlichen Staatswesens notwendig gewordene Unterlassung hat einige wesentliche Änderungen auch im Verhalten der Schwerbeschädigten verursacht. Rentenneurosen, Aggravationen, Begehrungsvorstellungen sind seither bei uns so gut wie unbekannt, denn der begreifliche Wunsch, Staatspensionär zu sein, ist dadurch gegenstandslos geworden.«28

Es wäre verkürzt, diese Haltung rein politisch zu interpretieren. Zwar orientierten sich die ostdeutschen Psychiater in der Anerkennungsfrage durchaus auch an politischen Vorgaben, was im Übrigen bei ihren westdeutschen Kollegen nicht anders war: So hielt es der renommierte westdeutsche Psychiater Kurt Schneider mit Blick auf die unzähligen gesundheitlich geschädigten Zivil- und Militärpersonen für »unausdenkbar«, »wollte nun jeder dem Staat die Rechnung« dafür vorlegen. »Eine Teilhabe an dem Gesamtschicksal eines Volkes kann man nicht berenten«, konstatierte Schneider knapp.29 Dennoch kamen in der psychiatrischen Gutachterpraxis beider Staaten dabei auch Überzeugungen zum Tragen, die dem gültigen, und keineswegs auf das eigene Land beschränkten, psychiatrischen Wissensstand geschuldet waren. So ging man im Westen wie im Osten grundsätzlich davon aus, dass eine Aussicht auf eine Rente eine Flucht in die

26 Vgl. Boldorf, Marcel: »Eingliederung der Kriegsopfer und Schwerbeschädigten Ostdeutschlands in den Arbeitsprozeß 1945-1951«, in: Christoph Buchheim (Hg.), Wirtschaftliche Folgelasten des Krieges in der SBZ/DDR, Baden-Baden: Nomos 1995, S. 403-415, hier S. 406. 27 Vgl. dazu u.a. Bauerkämper, Arnd: Die Sozialgeschichte der DDR, München: Oldenbourg 2005, S. 7. 28 Lindenberg, W.: »Grundsätzliches zur Frage der Anerkennung von Hirnverletzungen«, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 1 (1949), S. 145-156, hier S. 147 (Hervorh. i. Orig.). 29 Schneider, Kurt: »Selbstmord als Dienstbeschädigung – Schizophrenie als Dienstbeschädigung«, in: Nervenarzt 21 (1950), S. 480-483, hier S. 480.

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Krankheit bewirken könne. In der Begutachtungspraxis war deshalb in beiden deutschen Staaten unter den Ärzten das Misstrauen verbreitet, einer sogenannten Begehrungsneurose aufzusitzen, wie das bei den Kriegszitterern des Ersten Weltkriegs der Fall gewesen sei. Ostdeutsche Psychiater beriefen sich in dieser Frage explizit auf die Erkenntnisse ihrer westdeutschen Kollegen.30 Grundannahmen der seit dem Ersten Weltkrieg vorherrschenden psychiatrischen Lehre schlugen damit sowohl in West- als auch in Ostdeutschland immer wieder auf die psychiatrische Interpretation psychisch bedingter Leiden durch, auch wenn in beiden deutschen Staaten während der 1950er Jahre Tendenzen zu beobachten waren, den Umweltbedingungen ein stärkeres Gewicht für die Entstehung und den Verlauf von gesundheitlichen Beschwerden einzuräumen.31 Dass dieses Umdenken gelegentlich politisch begründet war, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Immerhin wurde in ostdeutschen Fachzeitschriften vereinzelt die Parole ausgegeben, der Begriff der »Anlage« solle nicht mehr verwendet werden – ein klarer Versuch der politischen Abstandnahme von einer vermeintlich rein nationalsozialistischen Vererbungslehre. Doch die Überlegungen ostdeutscher Psychiater, ob der Mensch nicht stärker als ein »somatisch-biologisches und als ein psychisches Wesen« zu begreifen sei32, waren der in der Bundesrepublik beobachtbaren Öffnung gegenüber psychosomatischen Ansätzen nicht unähnlich. In beiden deutschen Staaten änderte das aber noch nichts an der Überzeugung, dass lang dauernde psychische Leiden, die nicht mehr auf eine organische Schädigung zurückgeführt werden konnten, einen rein funktionellen Grund hätten und in der Regel eine »psychopathische« Persönlich-

30 Vgl. u.a. Hollmann, Werner: »Soziale Therapie und ärztliche Begutachtung der Arbeitsneurose«, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 8 (1956), S. 267-275, sowie Dietrich, Heinz: »Zum Hysterieproblem vom Standpunkt des Gutachters«, in: ebd. 10 (1958), S. 213-215, in beiden Fällen mit explizitem Bezug auf die Ausführungen des in Heidelberg praktizierenden Psychiaters Walter Ritter v. Baeyer, der in vielen körperlichen Beschwerden lediglich einen »Stilwandel« der Neurosen vermutete. 31 Deutlicher wurde diese Tendenz, die sich nicht nur in der Psychiatrie, sondern auch in anderen Disziplinen wie etwa der Kriminologie zeigte, dann während der 1960er Jahre. Zur Entwicklung in der DDR vgl. Eghigian, Greg: »East German Forensic Psychiatry and its Deviants, 1945-1975«, in: German History 22 (2004), S. 182-205. 32 Hollmann, Werner: »Aktuelle Probleme der ärztlichen Begutachtung im Blickwinkel der Pawlowschen Lehre«, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 5 (1953), S. 392-397.

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keit verrieten.33 Das schlug sich auch in den Gutachten westdeutscher Psychiater nieder, in denen sich seit den späten 1950er Jahren vermehrt die Annahme findet, es handle sich bei den vorgebrachten Leiden um »rentenneurotische Tendenzen«.34 Gleiches lässt sich den fachwissenschaftlichen Beiträgen zum Gutachtenproblem in der DDR entnehmen.35 Insofern hatte sich insgesamt die überkommene psychiatrische Lehrmeinung in der Praxis behauptet. Weder in Ostnoch in Westdeutschland waren zentrale Grundsätze einer naturwissenschaftlich orientierten Medizin aufgegeben worden, die überzeugt war, gesundheitliche Schädigungen objektivieren zu können. Entsprechend folgten die Psychiater auch dem gängigen naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriff, der seelische Störungen nur dann als »krankhaft« anerkannte, wenn »krankhafte Organprozesse« als Ursache geltend gemacht werden konnten.36 Das hieß im Hinblick auf rein psychisch bedingte Leiden: Sie galten in hohem Maße als Produkt rein subjektiver Empfindungen, in denen vermutlich eine unbewusste Willensschwäche, in jedem Fall aber eine »Fehlhaltung gegenüber der Umwelt und dem Leben mit seinen Forderungen und Aufgaben« zum Ausdruck käme.37 Ihr dürfe man durch Rente keinen Vorschub leisten. Arbeit hieß daher das therapeutische

33 So etwa zu lesen in dem in Ost-Berlin verlegten »Taschenbuch der Ärztlichen Begutachtungen« aus dem Jahr 1964 (S. 626ff.). Dort auch die Definition von »psychopathischen Persönlichkeiten« als »vorwiegend anlagebedingten abnorme[n] Charakteren[n]«. 34 Diverse Beispiele dafür in S. Goltermann: Gesellschaft. 35 Vgl. z.B. »Über statistische Erhebungen bei unseren alten offenen und gedeckten Hirnverletzungen«, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 6 (1954), S. 300-306, hier S. 305; W. Hollmann: Soziale Therapie, S. 274; H. Dietrich: Zum Hysterieproblem, S. 213. 36 Dieses Verständnis von »Krankheit« wurde 1946 explizit ausformuliert von dem Heidelberger Psychiater Schneider, Kurt: »Zum Krankheitsbegriff in der Psychiatrie«, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 17 (1946), S. 306-307. Seine Krankheitsdefinition blieb in der Psychiatrie Westdeutschlands bis etwa 1960 nahezu unangefochten und lag sowohl den Entscheidungen in Fragen der Kriegsopferversorgung als auch der Entschädigung von NS-Opfern zugrunde. Gleiches galt für die Versicherungsgesetzgebung der DDR. So bekräftigte das »Taschenbuch der Ärztlichen Begutachtungen« aus dem Jahr 1964, dass dort der medizinische Krankheitsbegriff verwendet werde, »wonach es Krankheit nur im Körperlichen« gebe. Erläuternd heißt es dazu weiter: »Zustände, die nur psychisch bedingt sind, gelten nicht als Gesundheitsschädigung. Damit werden subjektive Faktoren bei Antragstellern ausgeschaltet.« (S. 628). 37 Taschenbuch der Ärztlichen Begutachtungen, S. 626.

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Programm, das in Ostdeutschland als Maßnahme einer »sozialen Therapie« ausbuchstabiert wurde. Flankiert durch eine Vielzahl politischer Maßnahmen in der DDR, die auf eine Eingliederung der Schwerbeschädigten in den Arbeitsprozess zielten, konnte man hier angesichts der vergleichsweise geringen Zahl an Rentenempfängern tatsächlich guten Glaubens sein, dass sich auch das Leben der allermeisten Überlebenden des letzten Krieges normalisierte.

H ERAUSFORDERUNGEN Man sollte an dieser Stelle nicht übersehen, dass die psychiatrische Annahme, psychische Beschwerden seien ursächlich gar nicht auf den Krieg zurückzuführen, auch in der Nachkriegsgesellschaft nicht unbedingt auf Unverständnis traf. Psychiatrische Krankenakten zeigen, dass sich eine Vielzahl an Kriegsheimkehrern, Flüchtlingsfrauen und ihren Angehörigen in der Deutung der Leiden nahezu umstandslos dem Urteil der Experten anschloss. Eine solche Zustimmung lässt sich vor allem in den ersten Jahren nach Kriegsende beobachten. Dennoch gab es auch Widerspruch. Er war vor allem nach der Etablierung der bundesrepublikanischen Kriegsopferversorgung vernehmbar, zumal die Betroffenen bei ihrem Protest nicht selten die Kriegsopferverbände einschalteten und den Weg über die juristischen Instanzen einschlugen. Auf eine solche Rückendeckung konnten die ehemaligen Kriegsteilnehmer in Ostdeutschland nicht bauen. Vergleichbare Interessensverbände gab es hier nicht, ein Zusammenschluss der Kriegsbeschädigten, denen man »kriegstreiberische Ziele« nachsagte, war in der DDR aus politischen Gründen verboten.38 Diese Asymmetrie war für die Herausbildung von je unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen der Kriegsfolgen in den beiden deutschen Staaten von Belang. Denn anders als in der DDR existierte damit in der Bundesrepublik für die ehemaligen Kriegsteilnehmer ein Forum, das sich im öffentlichen und politischen Raum in die Frage einmischte, welches medizinische Wissen Gültigkeit haben sollte. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen dabei vor allem die gesundheitlichen Leiden der Kriegsheimkehrer, insbesondere derjenigen aus den sowjetischen Lagern. Diese wussten den Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen (VdH) hinter sich, der es zu seinen wichtigsten Aufgaben zählte, die medizinische Betreuung der Kriegsheimkehrer abzusichern und die wissenschaftliche Erforschung der Dystrophie und der

38 Vgl. M. Boldorf: Verdrängung, S. 243, dort auch das Zitat.

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postdystrophischen Beschwerden voranzutreiben.39 In diesem Verband waren 1955 etwa 2000 Ärzte ehrenamtlich tätig, die sich den Kriegsheimkehrern häufig auch als Gutachter zur Verfügung stellten. Zudem bot der Verband finanzielle Unterstützung für mehrere Tagungen, deren Ergebnisse er publizierte und damit der interessierten Öffentlichkeit zugänglich machte.40 Auch wenn sich die Beiträge in den 1950er Jahren dabei mehrheitlich mit den körperlichen Schädigungen und Beschwerden der Kriegsheimkehrer auseinandersetzten, gehörten der Verband und seine »Heimkehrerärzte« damit zu den treibenden Kräften, die sich vehement gegen die verbreitete medizinische Deutung vieler Leiden als »anlagebedingt« wehrten. Diese Auseinandersetzung, die man auch als einen »Streit um die Erblichkeit« bezeichnen kann, war in der Bundesrepublik seit Mitte der 1950er Jahre ein wesentlicher Impuls für die Öffnung des psychiatrischen Diskurses über die menschlichen Verarbeitungsweisen extremer Belastungen. Das war umso mehr der Fall, als die gesundheitlich geschädigten Kriegsheimkehrer aus den sowjetischen Lagern in dieser Frage von Kollegen aus der Inneren Medizin unterstützt wurden, die sich gegenüber einem psychosomatischen Ansatz offen zeigten und der Psychiatrie damit die Deutungsmacht über leib-seelische Prozesse streitig machten. Auch in den Expertenkommissionen zur Festsetzung der medizinischen Geltungsregeln für die Begutachtungspraxis im Rahmen der Kriegsopferversorgung traten die Protagonisten eines psychosomatischen Ansatzes seit Mitte der

39 Als breiter angelegte Studie zum VdH jetzt Schwelling, Birgit: Heimkehr – Erinnerung – Integration. Der Verband der Heimkehrer, die ehemaligen Kriegsgefangenen und die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, Paderborn: Schöningh 2010. 40 Die Ergebnisse der Ärztekongresse von 1953, 1955 und 1957 etwa wurden zusammen veröffentlicht in: Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen Deutschlands (Hg.): Extreme Lebensverhältnisse und ihre Folgen, Bad Godesberg 1959. Unter dem gleichnamigen Titel »Extreme Lebensverhältnisse und ihre Folgen« erschien auch das mehrbändige Handbuch der ärztlichen Erfahrungen aus der Gefangenschaft, bearb. v. Ernst G. Schenck u. Wolfgang von Nathusius, Bad Godesberg 1958ff. Die Angaben zum ärztlichen Dienst nach Winkler, Christiane: »Männlichkeit und Gesundheit der deutschen Kriegsheimkehrer im Spiegel der Ärztekongresse des ›Verbands der Heimkehrer‹«, in: Martin Dinges (Hg.), Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel ca. 1800-ca. 2000, Stuttgart: Steiner 2007, S. 157-174.

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1950er Jahre äußerst selbstbewusst auf.41 Sie verstanden es, ihren Zuhörern aus Wissenschaft und Politik zu demonstrieren, dass die ehemaligen Kriegsteilnehmer nicht länger bereit seien, sich von den Psychiatern als »Neurotiker oder Simulant« bezeichnen zu lassen. Auch Hausärzte nähmen, so wurde suggeriert, in solchen Fällen von der Betrachtungsweise der Psychiater Abstand.42 Die Psychiater mussten – das war offenbar auch in der DDR der Fall – einer veränderten Situation ins Auge sehen: Die deutliche Mehrheit der Menschen mit psychischen Beschwerden zog es vor, sich lieber in die Behandlung von Allgemeinmedizinern oder Internisten zu begeben.43 Kurz: Die westdeutschen Psychiater sahen sich Mitte der 1950er Jahre einer wachsenden professionellen Konkurrenz ausgesetzt, die von den Verfechtern einer psychosomatischen Erklärungsweise angeführt wurde. In den einschlägigen Fachorganen der Psychiatrie lässt sich zwar nicht beobachten, dass sich die Psychiater davon irritieren ließen. Doch im kleinen Kreis der Expertenkommissionen zeigte sich, dass einige wohl doch nicht mehr so recht davon überzeugt waren, dass die gängige Diagnostik und insbesondere das Argument der »Anlagebedingtheit« die beobachtbaren Leiden ehemaliger Kriegsteilnehmer wirklich angemessen erfasste. Der Hamburger Psychiater Hans Bürger-Prinz räumte jedenfalls ein, dass »weiß Gott nicht einzusehen [sei], warum ein echter Depressionszustand bei einer Dystrophie nicht auch 6 Jahre dauern« solle. Und er ergänzte: »Es hat keinen Sinn, hier von neurotischen Fixierungen zu sprechen, wie überhaupt man mit dem Begriff der Neurose ja meistens die Problematik totschlägt, ohne sie zu erklären.«44 Für alle Ärzte, die dieses Unbehagen teilten, stellte sich damit allerdings eine Herausforderung: Sie waren aufgefordert, eine überzeugende Diagnose für die immer wieder gleich lautenden Beschwerden der ehemaligen Kriegsteilnehmer anzubieten, die nach gängiger Meinung nach einer angemessenen Rekonvaleszenzzeit eigentlich hätten verschwinden müssen.

41 Vgl. dazu die Diskussionsbeiträge und Vorträge auf der Tagung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats für Fragen der Kriegsopferversorgung, 1956, in: Bundesarchiv Koblenz, B 149, 1955. 42 Vgl. etwa den Vortrag des Internisten Max Hochrein zu »Kreislaufstörungen beim Spätheimkehrer«, gehalten auf der Tagung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats für Fragen der Kriegsopferversorgung, 1956. Bundesarchiv Koblenz, B 149, 1955. 43 In der DDR beklagte dies u.a. Höck, K.: »Zum Krankheitsbild der neurotischen Reaktionen in der heutigen Zeit«, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 12 (1960), S. 99-102, hier S. 101. 44 Diskussionsbemerkung Prof. Bürger-Prinz, Hamburg, in: Bundesarchiv Koblenz B 149, 1955.

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In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre konnte man somit den Eindruck gewinnen, dass sich in der Bundesrepublik ein ätiologischer Wandel anbahnte, der sogar eine Neufiguration in der diagnostischen Erfassung der organisch nicht begründbaren Leiden nach sich ziehen könnte. Doch mit der Einführung einer neuen Diagnose tat man sich im medizinischen Fach schwer. Davon zeugen die Debatten, die sich über die Tauglichkeit der Diagnose einer »vegetativen Dystonie« entzündeten. Selbst psychosomatisch orientierte Internisten, die sich für die Verwendung dieser Diagnose aussprachen, ließen in diesem Zusammenhang Unbehagen erkennen. Der Internist Max Hochrein etwa kritisierte, die »vegetative Dystonie« sei »heute schon fast zu einer Art Verlegenheitsdiagnose, d.h. zum Sammeltopf unklarer Beschwerden und ungeklärter pathogenetischer Zusammenhänge geworden.«45 Andere Kollegen wiederum sprachen in ihrer Klinik sogar ein Verbot für diese Diagnose aus, da die zu behandelnden Beschwerden weder ein neues Phänomen darstellten, noch an ihrer Anlagebedingtheit zu zweifeln sei.46 Insgesamt war die Kritik an der Diagnose nicht leicht aus dem Weg zu räumen. Auch für die Verfechter der Psychosomatik blieb jedenfalls ein generelles Dilemma bestehen, das der Internist Max Hochrein in einem Appell an seine Kollegen folgendermaßen auf den Punkt brachte: »Wie wollen wir das nennen, das wir alle kennen, wofür wir ablehnen, einen Namen zu geben?«47 Ein solcher, noch vorsichtiger Suchgang nach einem anderen diagnostischen Instrumentarium war auch so manchem Arzt in der DDR nicht fremd. So beklagte der ostdeutsche Psychiater Dietfried Müller-Hegemann im Jahr 1960, es sei sogar »in erschreckend großer Zahl zu Krankschreibungen und sogar zu Invalidisierungen mit der ominösen Diagnose ›vegetative Dystonie‹ [gekommen], wenn zu einigen ›objektiven‹ Zeichen vegetativer Labilität subjektive Klagen wie Kopfschmerzen, schnelle Ermüdbarkeit, Missgestimmtheit« hinzugekommen seien.48 Auch in Ostdeutschland gab es somit Anzeichen für einen fachwissenschaftlichen Dissens, der in der Gutachterpraxis zumindest gelegentlich zu ganz ähnlichen Streitigkeiten wie in der Bundesrepublik führte. Dennoch waren in der DDR keinerlei Erwägungen zu erkennen, ob den außergewöhnlichen

45 Hochrein, Max: »Diagnostik und Therapie der vegetativen Dystonie«, in: Extreme Lebensverhältnisse und ihre Folgen, Bd. 7, S. 125-159, hier S. 125. 46 Vgl. Diskussionsbemerkung Prof. Bodechtel, München, in: Bundesarchiv Koblenz, B 149, 1955; ebenso Diskussionsbemerkung Prof. Hoff, Frankfurt, in: ebd. 47 Schlusswort Prof. Dr. Hochrein, in: Bundesarchiv Koblenz, B 149, 1955. 48 Müller-Hegemann, Dietfried: »Bemerkungen zu aktuellen Fragen der medizinischen Begutachtung und zum Krankheitsbegriff«, in: Das deutsche Gesundheitswesen 15 (1960), S. 1368-1375, hier S. 1371.

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Belastungen des Krieges bei der ätiologischen Begründung vieler Beschwerden nicht doch eine andere Aufmerksamkeit geschenkt werden solle. Eine sowohl wissenschaftliche als auch politisch-moralische Herausforderung nahmen die Psychiater in Ostdeutschland allerdings an: Sie betraf das Problem, wie lang dauernde psychisch bedingte Beschwerden bei ehemaligen Verfolgten des Nationalsozialismus angemessen zu erfassen seien. Die ostdeutschen Psychiater waren auf diesem Feld keineswegs die Schrittmacher. Sie rezipierten vielmehr eine Debatte, die in der Bundesrepublik schon einige Jahre zuvor eingesetzt hatte. Diese war vor allem mit Inkrafttreten des Bundesentschädigungsgesetzes im Jahr 1956 in Gang gekommen. Die westdeutschen Psychiater und die bundesdeutschen Behörden sahen sich seither nämlich vermehrt mit der Erwartung ausländischer Ärzte konfrontiert, bei der Beurteilung von Wiedergutmachungsfällen von der vorherrschenden Lehrmeinung abzurücken und im Falle der NS-Verfolgten seelische Störungen als Spätfolgen des Nazi-Terrors anzuerkennen. Auf die westdeutschen Ärzte war der Druck von außen in diesen Fällen erheblicher als auf ihre ostdeutschen Kollegen. Grund dafür war die unterschiedliche Ausgestaltung der »Wiedergutmachung«: Denn während in Ostdeutschland nur diejenigen ehemaligen Verfolgten für eine Wiedergutmachung in Frage kamen, die ihren aktuellen Wohnsitz in der DDR hatten, verlangte die Wiedergutmachung in der Bundesrepublik seit 1956 zwar einen Bezug zum Deutschen Reich in den Grenzen von 1937; an eine deutsche Staatsbürgerschaft oder einen aktuellen Wohnsitz in der Bundesrepublik war der Anspruch aber nicht gebunden.49 Die bundesdeutsche Wiedergutmachung erforderte es deshalb, sogenannte Vertrauensärzte im Ausland mit der Begutachtung ehemaliger Verfolgter zu betrauen. Das Urteil der auswärtigen Kollegen wich dabei zwar keineswegs grundsätzlich von dem der deutschen Ärzte ab. Doch die Einsprüche gegen die strikte Handhabung der in der Bundesrepublik vorherrschenden psychiatrischen Lehre mehrten sich. So argumentierte etwa der in New York praktizierende Psychiater Hans Strauss, dass in vielen Fällen nur ein Grund für die lange Dauer der psychischen Leiden der NS-Opfer in Frage komme. Er liege in den Spezifika der nationalsozialistischen Verfolgung selbst, vor allem in der »völligen Rechtlosigkeit

49 Durch eine Klausel wurden allerdings alle ehemaligen Verfolgten, die ihren gegenwärtigen Wohnsitz in der DDR oder in Polen hatten, aus dem Kreis der Anspruchsberechtigten ausgenommen. Vgl. dazu im Einzelnen das umfassende Überblickswerk von Goschler, Constantin: Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen: Wallstein 2005, insbes. S. 201 u. S. 362.

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dieser Menschen«. Strauss begründete: »Sie waren die völlig wehrlosen Opfer jedes nur möglichen Einfalls ihrer oft sadistischen Aufseher.«50 Interventionen wie diese stießen Ende der 1950er Jahre bei westdeutschen Psychiatern und in den Entschädigungsbehörden noch mehrheitlich auf eine große Abwehr. Sie hielten an der gängigen Lehre fest und lehnten entsprechend eine Berentung ab, wenn keine organische Schädigung vorlag. Doch ein Teil der westdeutschen Psychiater, der sich über mögliche Unzulänglichkeiten der herrschenden Lehre bereits Gedanken gemacht hatte, stand der Argumentation der auswärtigen Kollegen wie auch der moralischen Herausforderung, die durch die Entschädigungsforderung von NS-Opfern entstand, offen gegenüber. Das zeigte sich etwa in dem psychiatrischen Fachorgan »Der Nervenarzt«, in dem Ende der 1950er Jahre sehr gezielt eine Debatte über die möglichen psychischen Auswirkungen der nationalsozialistischen Verfolgung platziert wurde.51 Zudem fanden sich in den Behörden für die Wiedergutmachung Prüfärzte, die nicht nur auf die Neuartigkeit und Unvergleichlichkeit der Schädigungen verwiesen, sondern auch rechtliche Möglichkeiten sahen, zumindest teilweise von der restriktiven Entschädigungspraxis abzugehen.52 Entscheidend war nämlich, dass die Wiedergutmachung für NS-Verfolgte, die dem Zivilrecht zugeordnet worden war, einer weniger strengen Ursachenbegründung bedurfte als die Kriegsopferversorgung, die nach den Regeln des Sozialrechts organisiert war.53 In dieser Konstellation entstand vor allem in den bundesdeutschen Entschädigungsbehörden, die auf der Grundlage psychiatrischer Gutachten aus dem Inund Ausland über die Anerkennung einer psychischen Störung als verfolgungs-

50 Strauss, Hans: Besonderheiten der nicht-psychotischen seelischen Störungen bei Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung und ihre Bedeutung bei der Begutachtung (Abschrift), S. 5, in: Bundesarchiv Koblenz, B 126, 9903, Bd. 1. Der Text von Strauss wurde etwa zeitgleich im selben Wortlaut veröffentlicht in: Nervenarzt 28 (1957), S. 344-350. (Hervorh. i. Orig.). 51 Den Auftakt bildete ein Beitrag von Baeyer, Walter Ritter v.: »Die Freiheitsfrage in der forensischen Psychiatrie mit besonderer Berücksichtigung der Entschädigungsneurosen«, in: Nervenarzt 28 (1957), S. 337-343; es folgten u.a. H. Strauss: Besonderheiten, in: ebd. 28 (1957), S. 344-350; Kolle, Kurt: »Die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung in psychiatrischer Sicht«, in: ebd. 29 (1958), S. 148-158, sowie Kluge, Erich: »Über die Folgen schwerer Haftzeiten«, in: ebd.: S. 462-465. 52 Vgl. etwa Der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Abteilung V, an den Herrn Bundesminister der Finanzen, Bonn, 3.9.1957, in: Bundesarchiv Koblenz B 126, 9838. 53 Vgl. im Einzelnen dazu S. Goltermann: Gesellschaft, S. 279-292.

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bedingtes Leiden entscheiden mussten, ein enormer Klärungsdruck über die Gültigkeit des psychiatrischen Wissensstandes. In diesem Klärungsprozess, für den eigens die sogenannten Medizinischen Konferenzen einberufen wurden,54 zog man Leitende Ärzte der Entschädigungsbehörden und ausgewählte ärztliche Fachgutachter, aber auch juristisch geschulte Vertreter zu Rate, um einen Ausgleich der konträren Auffassungen zu erzielen. Auch die ausländischen Vertrauensärzte konnten nicht länger übergangen werden, zumal es um eine Vereinheitlichung der Gutachterpraxis ging. Das war kein leichtes Unterfangen, denn Diagnosen, wie die »Neurose« oder die »Schizophrenie« wurden in den unterschiedlichen Ländern aufgrund verschiedenartiger nationaler Wissenstraditionen nicht unbedingt identisch gehandhabt. Auf deutscher Seite wiederum waren die Zweifel an der Angemessenheit des Neurosebegriffs mittlerweile so beträchtlich, dass das Protokoll 1958 festhielt, alle Teilnehmer erachteten den Begriff der »Neurose« im Entschädigungswesen für »sehr unglücklich«, weshalb er nicht verwendet werden solle.55 Damit war die Notwendigkeit, eine neue Diagnose einzuführen, nicht mehr von der Hand zu weisen, auch wenn sich die Gutachter vorerst noch ratlos zeigten. In dieser offenen Situation fand die Interpretation eines »erlebnisbedingten Persönlichkeitswandels« Gehör, die der Göttinger Psychiater Ulrich Venzlaff entwickelt hatte. In seiner Studie, die 1958 publiziert wurde, stieß er die herrschende Lehre zwar keineswegs gänzlich um. Er reklamierte jedoch, dass es die Möglichkeit eines »seelische[n] Kranksein[s]« gebe56; dass Erlebnisse nicht immer verarbeitet werden könnten, etwa wenn die »Persönlichkeit einen zu tiefen Bruch erlitten« habe und die Persönlichkeit nicht mehr formbar sei. Venzlaff hielt in diesen Fällen die Diagnose einer Neurose für unangemessen. Er zog den Begriff des »erlebnisbedingten Persönlichkeitswandels« vor.57 Es ist richtig, dass die Durchsetzung eines neuen psychiatrischen Wissens in Westdeutschland erst den Widerstand einer breiten Ärztefront überwinden musste. Doch in Anbetracht der Tatsache, dass etablierte medizinische Deutungsweisen eine außerordentlich große Langlebigkeit aufweisen, setzte sich die neue

54 Die sogenannte Medizinische Hauptkonferenz, die zwischen 1958 und 1970 in jährlichem Rhythmus tagte, kann als die eigentliche Schaltstelle in diesem Verständigungsprozess bezeichnet werden. Ausführlicher dazu S. Goltermann: Gesellschaft, S. 288ff. 55 Niederschrift über die medizinische Hauptkonferenz in München am 23. und 24. April 1958, S. 10, in: Bundesarchiv Koblenz, B 126, 9903, Bd. 1. 56 Vgl. Venzlaff, Ulrich: Die psychoreaktiven Störungen nach entschädigungspflichtigen Ereignissen, Berlin: Springer 1958, S. 67ff., Zit. S. 69. 57 Vgl. ebd.: S. 74 (Hervorh. i. Orig.).

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psychiatrische Lesart in der Bundesrepublik doch innerhalb einer bemerkenswert kurzen Zeitspanne durch. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen, die im außerwissenschaftlichen Bereich zu suchen sind. Dazu gehörte der immer noch prekäre Status der Bundesrepublik im Westbündnis. Er zeigte sich daran, dass sich sogar das Auswärtige Amt nach der scharfen Kritik jüdischer Interessensorganisationen an der Begutachtungspraxis mehrfach in den Bereich der Entschädigungsverfahren gesundheitlicher Leiden einmischte und die deutschen Medizinalbeamten drängte, mit ihren Kollegen im Ausland zu einer Übereinkunft zu kommen.58 Zentral war jedoch die Einmischung der Gerichte, die dem neuen psychiatrischen Wissen zu immer größerer Gültigkeit verhalf. Allein um ihre juristische Entscheidungsfähigkeit in Streitfällen zu bewahren, erließen die Justizbehörden beispielsweise eine Serie von Regelungen zur sogenannten Beweiserleichterung, die in einer Reihe von Fällen einen Gutachterstreit um die »Anlagebedingtheit« eines Leidens überflüssig machten. Dazu gehörte die sogenannte »KZ-Vermutung«59 aus dem Jahr 1965, die festschrieb, dass bei all jenen Verfolgten, die mindestens ein Jahr im KZ inhaftiert gewesen waren, eine Erwerbsminderung von mindestens 25 Prozent auf die Verfolgung zurückzuführen sei. Weitere Urteile des Bundesgerichtshofs führten dazu, dass die oft strittige Frage, wann von einer »extremen Erlebniskonstellation« die Rede sein konnte, deutlich an Gewicht verlor.60 Es liegt auf der Hand, dass sich damit die Aussicht der ehemals Verfolgten auf eine Anerkennung ihrer psychischen Leiden verbesserte. Auch in der DDR deutete sich eine solche Entwicklung an. Vor allem der Psychiater Dietfried Müller-Hegemann kam nach Reihenuntersuchungen von Verfolgten des Naziregimes Mitte der 1960er Jahre zu dem Ergebnis, »dass in einer Reihe von Fällen infolge ungenügender Berücksichtigung der besonderen Art von Schädigungen Rentenanträge abgelehnt worden seien und eine Korrektur bei der Nachbegutachtung erfolgen« müsse.61

58 Vgl. dazu im Einzelnen S. Goltermann: Gesellschaft, S. 299-318. 59 § 31 Abs. 2, BEG-Schlußgesetz, in: Bundesentschädigungsgesetz, München

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1966,

S. 23. 60 Schubert, Eberhard: »Die derzeitige höchstrichterliche Rechtsprechung zum Neurosen-Problem im Wiedergutmachungsrecht, im Versorgungsrecht und in der gesetzlichen Unfallversicherung«, in: RzW 19 (1968), S. 481-490, hier S. 485. 61 Müller-Hegemann, Dietfried: »Über Schädigungen und Störungen des Nervensystems bei Verfolgten des Naziregimes (VdN) und deren Begutachtung«, in: Das deutsche Gesundheitswesen 21 (1966), S. 561-568, hier S. 562.

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Dennoch: Die Wahrnehmung von lang dauernden psychischen Schädigungen bei ehemaligen Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung blieb in West- und Ostdeutschland unterschiedlich. In der Bundesrepublik zeigte sich die Neigung, psychische Leiden jüdischer Verfolgter sehr viel stärker zu betonen als bei anderen Opfergruppen des NS-Terrors. In der DDR hingegen waren es vor allem die politisch Verfolgten, denen eine größere Aufmerksamkeit zuteil wurde – sofern sie als systemtreu gegenüber der DDR eingestuft wurden.62 Doch es gab auch einen grundsätzlichen Unterschied im Hinblick auf die Vorstellungen, wie groß das Ausmaß der psychischen Schädigungen unter den Überlebenden des nationalsozialistischen Terrors war. So zeichnete sich in der Bundesrepublik bereits in den 1960er Jahren ein Trend zu einer Generalisierung der Schädigungsannahme bei ehemaligen NS-Verfolgten ab. Er blieb ein westliches Phänomen. In der DDR finden wir diesen Trend nicht; die dortige psychiatrische Wissenschaft nahm sogar von einer solchen Regelannahme explizit Abstand. Müller-Hegemann verwahrte sich entschieden gegen die Tendenz, allzu stark zu psychologisieren und bekräftigte stattdessen, dass die Verfolgten des Nazi-Regimes »keineswegs alle ›psychisch krank‹« seien.63 Dafür gab es sogar, wie man aus einer ostdeutschen Dissertation aus dem Jahr 1965 erfahren konnte, einen Grund. Der Autor erläuterte: »Die Literaturübersicht lässt erkennen, dass der größte Teil der Veröffentlichungen über Spätschäden nach KZ-Aufenthalt in den kapitalistischen Ländern erschienen ist. Dies geht nicht etwa auf eine regere wissenschaftliche Interessiertheit der westlichen Psychiater und Neurologen zurück. Der Grund liegt vielmehr einmal darin, dass diese Problematik nahezu ausschließlich in den westlichen Staaten Bedeutung erlangte.«64

Selbst die Debatte über die psychischen Leiden der ehemaligen Verfolgten war somit, wie man hier sehen kann, ein Bestandteil des Systemkonflikts. Über viele Jahre hinaus war die Perspektive aus Ostdeutschland damit jedenfalls klar: Das Trauma der Verfolgten konnte nur ein Problem des Westens sein.

62 Das zeigt sich vor allem auch auf dem Feld der Wiedergutmachungspolitik in beiden deutschen Staaten. Vgl. dazu u.a. C. Goschler: Schuld und Schulden. 63 Müller-Hegemann, Dietfried: »Zum Problem der Neurose-Begutachtung«, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 19 (1967), S. 10-14, hier S. 13. 64 Kaufer, Reinhard: Die psychischen und neurologischen Spätschäden nach Konzentrationslager-Aufenthalt. Diss. med. Greifswald 1965, S. 59.

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P LURALISIERUNG Die letzte Phase, die ich mit dem Begriff der Pluralisierung überschrieben habe, setzte erst 1989 ein, und auch das nur langsam. Diese Phase der Pluralisierung war in Deutschland zum einen daran geknüpft, dass im Zuge der »Wende« von 1989/90 eine öffentliche Auseinandersetzung mit den Verbrechen der DDR begann. Zum anderen mussten mit dem Beitritt der neuen Bundesländer zur Bundesrepublik eine Reihe gesetzlicher Maßnahmen erlassen werden, um die Rehabilitierung und Entschädigung sowohl der NS- als auch der SED-Opfer neu zu regeln. Um die qualitative Verschiebung in dieser Phase zu verstehen, wird man sich eines vor Augen führen müssen: Das zuvor beschriebene, neu etablierte psychiatrische Wissen war nicht verallgemeinert worden. Es fand – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – nur Anwendung, wenn es um die ehemaligen Verfolgten des Nationalsozialismus ging. Die Ärzte begründeten dies damit, dass es sich hier um eine einzigartige Form der Gewalterfahrung handle. Eine Übertragung auf die Kriegsopfer oder auch die politischen Flüchtlinge der DDR, deren gesundheitliche Leiden nach den Vorschriften des Kriegsopfergesetzes beurteilt wurden, fand in der Regel nicht statt. Einige Ausnahmen finden sich bei den Kriegsgefangenen aus den sowjetischen Lagern. Im Allgemeinen aber hatten die Richtlinien der Neurosebegutachtung Bestand. Diese Praxis war vom Heimkehrerverband, mehr aber noch von ehemaligen Häftlingen der DDR kritisiert worden. Ihre Versuche, gesetzliche Sonderregelungen wie die »KZ-Vermutung« auch für die Kriegsopferversorgung durchzusetzen, scheiterten Ende der 1960er Jahre. Ihr Drängen auf eine stärkere Anerkennung psychischer Leiden als Haftschäden verstummte daraufhin; das galt auch für die Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS), die dieses Anliegen auf eine Gleichstellung mit den ehemaligen Verfolgten des Nationalsozialismus am stärksten verfolgt hatte. Das änderte sich jedoch im Zuge der »Wende«. Ehemalige DDR-Bürger, die gesundheitliche Schädigungen infolge der Repression im SED-Regime geltend machten, waren materiell nämlich weiterhin an die restriktive Praxis der Entschädigung für Kriegsopfer gebunden. Moralisch aber orientierten sie sich an der für die Verfolgten des NS-Regimes gewährten und in dieser Hinsicht großzügigeren Wiedergutmachung. Mehr noch als in den vorausgehenden Jahrzehnten ließ sich jetzt ein regelrechter Anerkennungswettlauf beobachten, mit dem die Opfer des SED-Regimes um die vermeintlichen Privilegien der NS-Opfer konkurrierten. Die schon vormals vernehmbare Forderung, zwischen den seelischen Schädigungen der NS-Verfolgten und denjenigen der Verfolgten des SED-

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Regimes nicht länger einen Unterschied zu machen, wurde nun immer vehementer erhoben.65 Im Gegensatz zu den vorausgegangenen Jahrzehnten mischte sich seit den frühen 1990er Jahren eine ganze Reihe von Psychiatern in diese Debatte ein. Anders als man annehmen könnte, wurde der psychiatrische Diskurs über die psychischen Belastungen unter dem SED-Regime dabei allerdings nicht von Psychiatern der ehemaligen DDR, sondern vornehmlich von westdeutschen Experten bestimmt.66 Diesen Eindruck erwecken jedenfalls in starkem Maße die fach- und populärwissenschaftlichen Publikationen der frühen Nach-»Wende«Jahre. Die westdeutschen Psychiater behaupteten dabei zum Teil weit reichende psychische Störungen bei ehemaligen DDR-Bürgern, wobei keineswegs mehr nur von den politischen Gefangenen aus der Frühzeit der DDR die Rede war, die in den vergangenen Jahrzehnten – oft vergeblich – die Anerkennung ihrer psychischen Schädigungen eingefordert hatten. Vielmehr begannen psychiatrische Experten von einem sogenannten Stasi-Verfolgten-Syndrom zu sprechen, mit dem das psychische Krankheitsbild bezeichnet werden sollte. Der Kölner Psychiater Uwe Peters führte dazu bereits 1991 zusammenfassend aus: »The syndrom concerns an unknown number of the aprox. 50.000 survivors. It is a sequel of a form of persecution now more generally named torture. The characteristics of the persecution include arrestion, interrogations, degradation, humiliation, maltreatment, assault, mass detention in tiny rooms, hunger, cold, discrimination, defamation, disgrace, outlaw, social degradation, absence of rights, uncertainty of future, life threatening, and stigmatising.«67

65 Vgl. u.a. »Themenkatalog der VOS zum 1. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz«, in: Die Freiheitsglocke 45 (1995), Nr. 524, S. 5-8, hier S. 6; »Zu spät und für die Opfer enttäuschend. Das 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz«, in: ebd. 45 (1995), Nr. 519, S. 7-8; »Sind wir Opfer 2. Klasse?«, in: ebd. 44 (1994), Nr. 515, S. 9-10; »Anerkennung von Gesundheitsschäden weiterhin unbefriedigend«, in: ebd. 44 (1994), Nr. 514, S. 3; »Die schweren Folgen kommunistischer Haft. Vortrag vom 25. Juni 1994 beim V. Bautzenforum«, in: ebd. 44 (1994), Nr. 513, S. 12-13. 66 Eine vergleichbare Entwicklung kann man auf dem Feld der Psychotherapie beobachten, in dem sich westdeutsche Experten, Organisationsstrukturen und Deutungsmuster nach 1989 zunehmend durchsetzten. Vgl. Leuenberger, Christine: »The end of socialism and the reinvention of the self: A study of East German psychotherapeutic community in transition«, in: Theory and Society 31 (2002), S. 255-280. 67 Peters, U.H.: »Über das Stasi-Verfolgten-Syndrom«, in: Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete 59 (1991), S. 251-265, hier S. 251.

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Auch wenn Psychiater wie Peters einige Jahre später beklagten, das VerfolgtenSyndrom, welches aus den Stasi-Repressalien hervorgegangen sei, werde viel zu wenig berücksichtigt, so ist doch bemerkenswert, dass diesem Phänomen bereits Mitte der 1990er Jahre in Lehrbüchern ein eigener Platz eingeräumt wurde.68 Tatsächlich gewinnt man in der Fachliteratur sogar den Eindruck eines schnell wachsenden Interesses an diesem Thema, bei dem die psychiatrische Wissenschaft auf einem neuen Anwendungsfeld die bislang vorliegenden Ergebnisse der Traumaforschung erproben konnte. Einen expliziten Anknüpfungspunkt boten dabei die psychiatrischen Studien über die psychischen Langzeitschäden von Holocaust-Überlebenden. Vor allem die in den 1960er Jahren in Westdeutschland publizierten Arbeiten dienten dabei nicht selten als der bereits wissenschaftlich erbrachte Beweis für die psychischen Spätfolgen von Verfolgung und Haft.69 Allerdings schien es immer noch geboten, die Unterschiede in der Verfolgung während des Nationalsozialismus und des SED-Regimes zu betonen. »Sie sind immerhin so bedeutend«, schrieb Peters, »dass manche einen Vergleich überhaupt nicht in Betracht ziehen möchten.« Er aber war nicht dieser Ansicht und erläuterte: »Eine solche Haltung schlägt aber offenbar zum Nachteil der Stasi-Verfolgten aus, weil leicht der Eindruck entsteht, als sei die Erfahrung der Stasi-Verfolgung etwas, was jeder Mensch überwinden kann. Dagegen spricht im Gegenteil die Erfahrung gerade mit den Überlebenden des Holocaust. Sie haben unsere Erkenntnisse über die seelischen Folgen von Verfolgungen und deren Behandlung so sehr erweitert, dass sie unbedingt auch den Überlebenden anderer, aller Verfolgungen zugute kommen sollten. Ein Vergleich ist deshalb m.E. keineswegs zu meiden, sondern geboten.«70

Gewiss wird man sich, um diese Position zu erklären, vor Augen führen müssen, dass sich mit der offiziellen Etablierung der »Post-Traumatischen Belastungsstörung« als diagnostischer Kategorie im Jahr 1980 die Wahrnehmung und Interpretation psychisch bedingter Leiden in weiten Teilen der sogenannten

68 Vgl. Peters, U.H.: »Das Verfolgten-Syndrom«, in: Volker Faust (Hg.), Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Klinik, Praxis, Beratung, Stuttgart: Fischer 1995, S. 519-524. 69 Als einschlägige Studie, die den Nachweis der traumatischen Folgen nach schweren Haftbedingungen bereits erbracht habe, wurde dabei besonders erwähnt: Baeyer, Walter Ritter v. et al.: Psychiatrie der Verfolgten, Berlin: Springer 1964. Vgl. etwa Bauer, Michael/Priebe, Stefan: »Zur Begutachtung psychischer Störungen nach politischer Haft in der DDR«, in: Nervenarzt 66 (1995), S. 388-396, hier S. 388. 70 U. H. Peters: Stasi-Verfolgten-Syndrom, S. 252.

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westlichen Welt zu verändern begannen.71 Doch die Bereitschaft der Psychiater, den psychischen Belastungen im SED-Regime eine besondere Qualität zuzusprechen, setzte fraglos ebenso voraus, dass man diesem auch einen besonderen Unrechtscharakter und seinen Bürgern einen potentiellen Opferstatus zuzuschreiben bereit war. Etwa ein Jahrzehnt nach der sogenannten Wiedervereinigung hatte sich diese Wahrnehmung unter einigen Psychiatern bereits so weit gefestigt, dass die Zahl der potentiell betroffenen ehemaligen DDR-Bürger schon fast unkalkulierbar schien. So konstatierte ein Psychiater in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift im Jahr 2002: »There were not only about 300 000 people imprisoned for political reasons in the German Democratic Republic between 1945 and 1989, partly exposed to physical and psychological torture, but also much more people subject of threshold traumatic experiences by harassment in public and private life. As a result, under a psychiatric perspective it should be taken into account not only specific post-traumatic stress disorders (PTSD), characterized by reliving of the traumata in intrusive flashbacks, avoidance of circumstances associated with the traumatic experience, and increased psychological sensitivity and arousal.«72

Es erstaunt daher nicht, dass Verbände wie die Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS) im Windschatten der Wandlungen in der psychiatrischen Wissenschaft – oder zumindest einige ihrer Vertreter – bis in die jüngste Zeit hinein auf die restriktive Anerkennungspraxis psychischer Schädigung bei ehemaligen DDR-Bürgern verweisen und die höhere Quote der Anerkennung bei NS-Opfern nicht aus den Augen verlieren.73 Diese lag nämlich nach Aussagen der VOS bei etwa 80 Prozent74, während sich nach einer Mitteilung der Bundesregierung aus dem Jahr 1999 bei ehemaligen Verfolgten des SED-Regimes »die Anerkennung von gesundheitlichen Haftfolgeschäden bei lediglich fünf Prozent« eingependelt

71 Vgl. dazu u.a. Fassin, Didier/Rechtman, Richard (Hg.): The Empire of Trauma: An Inquiry into the Condition of Victimhood, Princeton: Princeton Univ. Press 2009; Leys, Ruth: Trauma. A Genealogy, Chicago: Univ. of Chicago Press 2000, sowie McNally, Richard: Remembering Trauma, Cambridge/Mass.: Belknap Press 2003. 72 Frommer, J.: »Psychische Störungen durch globale gesellschaftliche Veränderungen. Zur politischen Traumatisierung der Bevölkerung in den neuen Bundesländern«, in: Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete 70 (2002), S. 418-428, hier S. 418. 73 Vgl. u.a. Themenkatalog der VOS zum 1. SED-Unrechtbereinigungsgesetz, S. 6. 74 Vgl. ebd.

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hatte.75 War damit nicht doch, so legte die VOS zum wiederholten Male in einer Anfrage an den Deutschen Bundestag nahe, der Gleichheitsgrundsatz verletzt?76 Es ist zu früh, darüber Aussagen zu treffen, ob diese Annahme unter vielen ehemaligen DDR-Bürgern verbreitet ist. Hinweise liegen allerdings darüber vor, dass sich offenbar doch eine beträchtliche Anzahl unter ihnen durch psychische Leiden, die dem SED-Regime zugeschrieben werden, gepeinigt sieht. Bereits im Tätigkeitsbericht des Landtages Mecklenburg-Vorpommern aus dem Jahr 1999 heißt es jedenfalls: »Zunehmend wenden sich an den Landesbeauftragten Ratsuchende mit tiefer gehenden psychischen und seelischen Störungen. Das Spektrum reicht von Personen mit dem ›Stasi-Verfolgten-Syndrom‹ bis zu Bürgerinnen und Bürgern mit ausgeprägtem psychiatrischem Krankheitsbild.« Dabei handle es sich um »psychische Störungen in verschiedenster Ausprägung«, wie der Bericht erläuterte, »deren direkte oder indirekte Auslöser politische Verfolgung, Inhaftierung, Wahrnehmung von politischer Willkür oder das als allgegenwärtig empfundene Klima der Angst als Folge des Wirkens des Ministeriums für Staatssicherheit« seien. Gleichwohl heißt es in dem Bericht auch warnend: »Zunehmend ist aber auch die Zahl psychisch Erkrankter, die das Wirken der Staatssicherheit als Ursache ihrer Leiden sehen, ohne allerdings mit Beobachtung und Verfolgung konfrontiert worden zu sein.«77 In den Versorgungsämtern mochte man insofern weiterhin skeptisch bleiben, ob die geltend gemachten Ansprüche auf eine Anerkennung psychischer Schädigungen als eine Folge der Repressionen in der DDR nicht doch häufig genug überzogen waren. Die politisch-moralische Notwendigkeit einer Opferanerkennung, die offenbar in hohem Maße darüber verhandelt wird, inwieweit die wissenschaftliche Anerkennung psychischer Schädigungen offiziell Bestätigung findet, scheint allerdings in jüngster Zeit ein Einlenken erforderlich zu machen. Man kann nur vermuten, dass Bundes- und Landespolitiker dabei auch die Wählerstimmen im Blick haben, wenngleich die allgemeine Verbreitung der Traumakategorie als Deutungsmuster nicht weniger ausschlaggebend sein dürfte.

75 Diese Angaben nach Freyberger, Harald J. et al.: Gesundheitliche Folgen politischer Haft in der DDR, hg. von der Konferenz des Landesbeauftragten für die Unterlage des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Dresden 2003, S. 4. 76 Die Anfrage des Verbandes geht hervor aus dem Antwortschreiben des Deutschen Bundestages, das der VOS im Juni 2007 von einem Mitglied des Bundestages übermittelt wurde. Telefax an Herrn Alex Latotzky, VOS, 19. Juni 2007, in: Archiv der VOS, Berlin. 77 Landtag Mecklenburg-Vorpommern, Drucksache 3/637, 10.08.99, http://www.mvnet. de/landesbeauftragter/Bericht98.pdf

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Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales erließ im Mai 2006 jedenfalls ein Rundschreiben, das nunmehr entschieden nahe legte, auch im Falle von »psychischen Erkrankungen«, die erst nach einer längeren Zeitspanne in Erscheinung getreten seien, einen kausalen Zusammenhang mit den Repressionen des SED-Regimes anzunehmen, wenn nicht »eine sichere alternative Kausalität festgestellt« werden könne.78 Nur in einem Punkt hat die Regierung bis heute nicht nachgegeben: Wenn es darum geht, die Gleichstellung der Opfer nach psychiatrischen Kriterien auch gesetzlich zu fixieren, besteht sie auf einer politisch-moralisch gebotenen Differenz. Offiziell hieß es dazu im Jahr 2007: »Es ist zweifelhaft, ob die Opfergruppen des SED-Unrechts und des NS-Unrechts ›gleich‹ sind. Es handelt sich um Opfergruppen verschiedener Formen politischer Verfolgung. Die Regelung der Entschädigung für die Opfer von NS-Unrecht erfolgte in einem ganz anderen historischen und politischen Kontext als die Entschädigung der Opfer von SEDUnrecht. Der Gesetzgeber kann deshalb die Anspruchsvoraussetzungen für die Entschädigung einzelner Opfergruppen unterschiedlich regeln, da beide Opfergruppen nicht gleich sind.«79

Es spricht derzeit manches dafür, dass der Streit um die vermeintlich oder tatsächlich gerechtfertigte Zurücksetzung der Leiden der SED-Opfer noch lange nicht an sein Ende gekommen ist.

S CHLUSS Es steht außer Frage, dass dieser Opferdiskurs im »wiedervereinten« Deutschland in mancher Hinsicht an die »Rhetorik der Viktimisierung« erinnert, die von vielen Historikern als ein vorherrschendes Kennzeichen gerade der westdeutschen Gesellschaft während der 1950er Jahre betrachtet wird. Tatsächlich ist die gegenteilige Behauptung, es handle sich bei dem jüngsten Sprechen über die eigenen Opfer um den Bruch eines seit Kriegsende bestehenden Tabus – zumindest was die Bundesrepublik angeht – auch deutlich überzogen.80 Allenfalls im

78 Vgl. Rundschreiben. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, IVc2 – 47035/3 9. Mai 2006, in: Archiv der VOS, Berlin. Zitate ebd. 79 Telefax an Herrn Alex Latotzky, VOS, 19. Juni 2007, in: Archiv der VOS, Berlin. 80 Ausgelöst wurde diese Debatte vor allem durch Sebald, Winfried G.: Luftkrieg und Literatur, Frankfurt a.M.: Fischer 52005, Grass, Günther: Im Krebsgang, Göttingen: Steidl 2002, sowie Friedrich, Jörg: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-

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Hinblick auf die vergewaltigten Frauen wird man in der Öffentlichkeit von einem solchen Tabu sprechen können, nicht nur in Ost-, sondern auch in Westdeutschland.81 Ansonsten aber finden sich im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik sogar Beispiele, die zeigen, dass manche in den 1950er Jahren sogar glaubten, die Verluste und Leiden der Deutschen ließen sich mit denen der Opfer des Nationalsozialismus gleichsetzen. Die politischen Debatten im frühen Deutschen Bundestag über die Wiedergutmachungsleistungen für die Opfer des Nationalsozialismus einerseits und die Wiedereingliederungsmaßnahmen für die heimgekehrten Kriegsgefangenen, Vertriebenen und Flüchtlinge andererseits liefern dafür eine Reihe von Beispielen.82 Insofern war die Frage, wer als ein Opfer des nationalsozialistischen Krieges zu gelten habe, stets umkämpft. Gerade im Vergleich der beiden deutschen Staaten, die im öffentlichen Diskurs auf ganz unterschiedliche Weise die Opfer beklagten, wird das schnell augenfällig. Zudem aber zeigt sich, dass die öffentliche Rede von den Opfern nicht zwangsläufig etwas darüber aussagt, ob damit auch die Anerkennung lang dauernder psychischer Leiden einherging. Das Gegenteil konnte durchaus der Fall sein. Tatsächlich wird im weiten Bogen vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die heutige Zeit deutlich, wie sehr sich während dieser Jahrzehnte sowohl die Wahrnehmung als auch die Anerkennung persönlichen Leids wandelten. Wesentlich entscheidend dafür war, dass sich während dieser Zeitspanne die Gültigkeit des psychiatrischen Wissensstandes über die psychische Belastbarkeit des Menschen veränderte. Das gilt für Ostund Westdeutschland gleichermaßen, auch wenn sich die ideologische Blockbildung nicht nur darauf auswirkte, über wessen Leiden öffentlich gesprochen

1945, Berlin: Propyläen 42002. Vgl. zur Kritik u.a. Moeller, Robert G.: »Sinking Ships, the Lost Heimat and Broken Taboos. Günter Grass and the Politics of Memory in Contemporary Germany«, in: Contemporary European History 12 (2003), S. 1-35; sowie ders.: »Germans as Victims? Thoughts on a Post-Cold War History of the Second World Wars’ Legacies«, in: History and Memory 17 (2005) 1/2, S. 147-194. 81 Grossmann, Atina: »A Question of Silence. The Rape of German Women by the Occupation Soldiers«, in: Robert G. Moeller (Hg.), West Germany Under Construction. Politics, Society and Culture in the Adenauer Era, Ann Arbor: Univ. of Michigan Press 1997, S. 33-52, zeigt allerdings, dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Vergewaltigungen durchaus thematisiert wurden. 82 Vgl. Moeller, Robert G.: »Deutsche Opfer, Opfer der Deutschen. Kriegsgefangene, Vertriebene, NS-Verfolgte. Opferausgleich als Identitätspolitik«, in: Klaus Naumann (Hg.), Nachkrieg in Deutschland, Hamburg: Hamburger Edition 2001, S. 29-58.

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werden konnte, sondern auch beeinflusste, welches psychiatrische Wissen über die Folgen von Gewalt und Terror sich offiziell durchsetzte. Trotzdem lassen sich bemerkenswerte Übereinstimmungen beobachten. So waren Psychiater in Ost- wie auch in Westdeutschland im Gefolge des Krieges lange Zeit davon überzeugt, dass die Gewalt des nationalsozialistischen Krieges keine länger dauernden psychischen Folgen zeitigen würde. Zwar setzte in Westdeutschland nach einigen Jahren eine Debatte darüber ein, ob das in gleichem Maße für Kriegsheimkehrer aus den sowjetischen Lagern angenommen werden könne. In Ostdeutschland schwieg man sich dazu aus. Doch letztlich zeigt sich, dass man in beiden Ländern nicht von dem vorherrschenden psychiatrischen Wissensstand abrückte. Ebenso ging man beiderseits der innerdeutschen Grenze davon aus, dass man grundsätzlich bei der Anerkennung psychischer Leiden im Rahmen von Rentenanträgen äußerst zurückhaltend zu verfahren habe. Hier wie dort rückte man nicht davon ab, dass länger dauernde psychische Beschwerden durch die »Anlage« oder »funktionell« bedingt seien. Die Angst vor dem »Rentenneurotiker«, der sich eine finanzielle Zuwendung nur erschleichen wolle, war unter den Ärzten und in den Behörden in Ost- wie auch in Westdeutschland verbreitet. Bei psychischen Beschwerden ohne organische Schädigung handle es sich nicht um eine »Krankheit« – lautete die gemeinsam geteilte Überzeugung. Entsprechend wurde in der Bundesrepublik bei psychischen Leiden eine Kriegsopferrente nicht gewährt. Der offizielle Status eines Kriegsopfers blieb somit jenen, die ein solches Leiden geltend machten, verwehrt. Soweit sich das verfolgen lässt, war jedoch nur bedingt und auch nur ab einem bestimmten Zeitpunkt damit zu rechnen, dass überhaupt psychische Leiden im Kontext der Kriegsopferversorgung geltend gemacht wurden. Die Art und Weise, wie die Menschen ihre Leiden interpretieren und zur Sprache bringen, erweist sich jedenfalls in hohem Maße davon abhängig, welche Deutungsmöglichkeiten ihnen dafür zur Verfügung stehen. So kann man in der Bundesrepublik beobachten, dass etwa die Kriegsheimkehrer im Verlauf der 1950er Jahre psychosomatische Erklärungsweisen aufgriffen, die ermöglichten, ihre Leiden mit den Strapazen der Gefangenschaft in Verbindung zu bringen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit hingegen war es eine Seltenheit, dass psychische Leiden von den Betroffenen auf die Gewalterfahrung des Krieges zurückgeführt wurden. In der DDR wurde dieser Wandlungsprozess allerdings nicht in diesem Maße in Gang gesetzt. Der Diskurs über die Anerkennung von psychischen Leiden war, so scheint es, in hohem Maße ein westlicher Diskurs. Er ist es, der heute die

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Deutungsmuster bereitstellt, in deren Rahmen nunmehr allerdings auch viele ehemalige DDR-Bürger eine Anerkennung als Opfer des SED-Regimes einfordern.

Psychotherapie als Reformbewegung im Nachkriegsdeutschland S IGRID S TÖCKEL

Als die ersten medizinischen Zeitschriften nach Kriegsende erschienen, hatten Seele und Psyche der Patienten Konjunktur. Es ging nicht nur – wie in der ersten Nachkriegsausgabe der Deutschen medizinischen Wochenschrift formuliert – um die »Grenzen des Rationalen«, die »seelische Aushöhlung und innere Hoffnungslosigkeit des Seins, deren Unsicherheit in ethischen Fragen an den alten ärztlichen Grundsätzen rüttelt«. Die »Massenaustilgung von Menschenleben in einer alle bisherigen hominiden Maßstäbe zermalmenden Sturmflut des Grauens« wurde thematisiert und auf einen »bis in äußerste Konsequenzen fortgedachten Rationalismus« zurückgeführt, den »der deutsche Arzt in seiner Gesamtheit [...] abgelehnt [...] und durch passiven Widerstand« gemildert habe.1 Verfasst hatte diesen Text der Frankfurter Kinderarzt Bernhard de Rudder, der mit seinen bioklimatologischen Forschungen bis dahin eher eine Randfigur medizinischer Publizistik gewesen war.2 Offenbar hatte die Schriftleitung der für ihre naturwissenschaftliche Berichterstattung bekannten »Deutschen medizinischen Wochenschrift« entschieden3, zur Deutung von Massenvernichtung und 1

de Rudder, Bernhard: »Besinnung auf Grenzen des Rationalen«, in: Deutsche Medizi-

2

Windorfer, Adolf: »Professor Dr. Bernhard de Rudder (1894-1962) †«, in: Deutsche

3

Stöckel, Sigrid: »Veränderungen des Genres ›Medizinische Wochenschrift‹? Deutsche

nische Wochenschrift 71 (1946), S. 2-4. Medizinische Wochenschrift 87 (1962), S. 1164-1166. medizinische Wochenschrift, Münchner Medizinische Wochenschrift und The Lancet im Vergleich«, in: Stöckel, Sigrid/Lisner, Wiebke/Gerlind Rüve (Hg.), Das Medium Wissenschaftszeitschrift seit dem 19. Jahrhundert. Verwissenschaftlichung der Gesellschaft – Vergesellschaftung der Wissenschaft, Stuttgart: Steiner 2009, S. 139-161.

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Krankenmord die Grenzen reiner Naturwissenschaft zumindest kurzzeitig zu verlassen. Auch auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin im April 1949 stand die Psychosomatische Medizin im Mittelpunkt. Unter der Überschrift »Um ein neues Weltbild medizinischer Wissenschaft« berichtete Fred Mielke in der ersten Ausgabe der »Ärztlichen Mitteilungen« über die Tagungsbeiträge. Mielke war Mitarbeiter des Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich, der im selben Jahr die Psychosomatische Klinik in Heidelberg gründete. Er betonte, den Bedürfnissen des Kranken könne nur Rechnung getragen werden, wenn über den rein naturwissenschaftlich-biologischen Aspekt hinaus zugleich seine seelisch-geistigen Kräfte Beachtung erfuhren. Die Lage des Menschen und der Heilkunde erfordere eine Selbstbesinnung.4 Einen direkten Bezug zwischen allgemeiner seelischer Not und Psychotherapie hatte der Vorsitzende der Westdeutschen Ärztekammern und Schriftleiter der »Ärztlichen Mitteilungen« Carl Oelemann bereits 1947 in einem »Treffen der medizinischen Fakultäten Restdeutschlands« hergestellt, über das er in seiner Zeitschrift 1949 berichtete. Ihm ging es insbesondere um die Not der Kollegen, die aufgrund der Ärzteschwemme keine Anstellung fanden. Oelemann schlug vor, die »jüngeren und vertriebenen älteren Ärzte« als Psychotherapeuten auszubilden. Zur Begründung führte er an: »Die Männer, Frauen und Kinder unsres Volkes sind nach den furchtbaren Schicksalsschlägen des nationalsozialistischen Regimes, des grausamsten Krieges aller Zeiten mit Terror, Bombennächten, Verlust lieber Angehöriger und oft aller Habe, Hunger und Kleidungsnot der Nachkriegsjahre, Wohnungselend und Wintersorgen, Verlust der Heimat, Arbeitslosigkeit, Furcht vor neuen Machthabern in einer seelischen Not und Verzweiflung, wie sie nie größer gewesen ist. Diesen Armen muss geholfen werden, wenn Deutschland nicht innerlich zusammenbrechen will, wenn nicht die Neurose, die seelische Angst, ihre Geißel über unserem ganzen Volke schwingen soll.«5

Seine Aufzählung von Nöten und damit die Indikation für ärztliches Handeln war umfassend. Die neu ausgebildeten Psychotherapeuten sollten ihrerseits »durch die Tätigkeit Auftrieb und Existenzmöglichkeit« erhalten. Oelemann berichtete den Lesern der »Ärztlichen Mitteilungen«, dass die Arbeitsgemeinschaft

4

Mielke, Fred: »Um ein neues Weltbild medizinischer Wissenschaft«, in: Ärztliche

5

Oelemann, Carl: »Hilfe und Errettung aus seelischer Not. Psychotherapie – ein bedeu-

Mitteilungen 34 (1949), S. 25-28, hier S. 25. tendes, weites ärztliches Arbeitsgebiet«, in: Ärztliche Mitteilungen 34 (1949), S. 156159.

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der Westdeutschen Ärztekammern im Herbst 1947 auf seine Initiative hin eine Kommission einsetzte, die in einer »Heidelberger Denkschrift« Vorschläge zur Ausbildung der Psychotherapeuten und ihrer Stellung in der Heilkunde vorlegte. In Anwesenheit der Professoren Viktor von Weizsäcker und Ernst Kretschmer sei die Versammlung übereingekommen, dass Psychotherapie auf einer Lehranalyse aufbaue und kein Bestandteil der Psychiatrie sei. Nur ein kleiner Teil der zu behandelnden Fälle wurde in der Psychiatrie verortet, Oelemann zufolge waren 30 bis 50 Prozent allen Krankheitsgeschehens auf seelische Konflikte zurückzuführen. Unter Psychotherapie sei nicht nur die »Freud’sche Psychoanalyse« zu verstehen, die »durch neuere Forschungen modifiziert und ihres sektiererischen Charakters längst entkleidet« worden sei.6 Das Aufgabengebiet der Psychotherapeuten erstrecke sich vom geschulten Werkarzt über die Prophylaxe von Neurosen der Erwachsenen hin zur Therapie von Kindern und Jugendlichen mit ihren Problemen des Bettnässens, Asthma-Anfällen und Stottern bis zu Vagabundieren, Stehlen und Schwererziehbarkeit.7 Mit dieser Fülle von Indikationen und den entsprechenden Heilsversprechen propagierte er die Psychotherapie quasi als umfassende Sozialtechnologie. Der Vorsitzende der »soeben gegründeten Deutschen Gesellschaft für Psychotherapie und Tiefenpsychologie« Wilhelm Bitter informierte die Leserschaft der »Ärztlichen Mitteilungen« darüber, dass das Unbewusste der »wesentliche Bezirk« psychischer Phänomene sei.8 Gegen Oelemanns Plan, auf dem Ärztetag in Hannover den Ausbau der Psychotherapie zum Thema zu machen, protestierte eine Gruppe von Nervenärzten. Als Vertreter der klinischen Psychiatrie fühlten sie sich als einzige berechtigt, seelisch Kranke zu behandeln.9 Ihr Einspruch führte dazu, dass das Thema Psychotherapie auf dem 52. Ärztetag von der Tagesordnung genommen wurde.10 Innerhalb der Standespolitik verlor die Psychotherapie in der Folge ihre Position als medizinische Selbstbesinnung und Reformbewegung, nicht aber im Bewusstsein der Protagonisten. Untersucht werden soll an zwei bedeutenden Repräsentanten der deutschen

6

Ebd.: S. 158.

7

Ebd.: S. 159.

8

Bitter, Wilhelm: »Über den Stand der modernen Psychotherapie«, in: Ärztliche Mit-

9

»Zum Problem der Psychotherapie – eine Diskussion. Nervenärztliche Vereinigung

teilungen 34 (1949), S. 160-163. Nord-Württembergs, Stellungnahme zum Artikel Dr. Oelemanns«, in: Ärztliche Mitteilungen 34 (1949), S. 210. 10 Kaminski, Joachim: »Psychotherapie und sozialpolitische Aufgabe des Arztes«, in: Ärztliche Mitteilungen 34 (1949), S. 227.

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Psychosomatik, inwieweit ihre Konzepte zu einem Arzt-Patienten-Verhältnis beitrugen, in dem die Nöte und Bedürfnisse der Patienten stärker berücksichtigt wurden als in der somatischen Medizin. Abschließend wird die zeitgenössische Rezeption und Kritik der Psychosomatik in der Psychiatrie in den Blick genommen.

A RTHUR J ORES – VOM E NDOKRINOLOGEN

ZUM

P SYCHOSOMATIKER

Der Hamburger Internist und Endokrinologe Arthur Jores (Jahrgang 1901) setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg für die Integration der Tiefenpsychologie in die Schulmedizin ein. Nach seinem Medizinstudium in München und Kiel arbeitete er am Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg, seit März 1928 in Altona als Assistent bei dem Internisten und Endokrinologen Leopold Lichtwitz11, der sich mit Forschungen zu Stoffwechselvorgängen einen Namen gemacht hatte. Lichtwitz wechselte 1931 ans Rudolf-Virchow-Krankenhaus in Berlin und wurde bereits 1933 als »Jude« aus dem Krankenhausdienst entlassen. Er emigrierte in die USA.12 Jores war im Mai 1932 zu dem Neurologen Hans Curschmann nach Rostock gegangen, der seit Mitte der 1920er Jahre ebenfalls endokrinologisch forschte, und hatte sich dort habilitiert. Ende 1935 wurde Jores von einem Kollegen wegen eines »politischen Fehlverhaltens« diffamiert – er hatte seine erste wissenschaftliche Monografie mit der Widmung »meinem Chef« an Lichtwitz schicken wollen. Jores rechtfertigte sein Vorhaben als »Dankbarkeit gegenüber dem Manne, dem ich sehr viel verdanke« und verwies darauf, die »Pflichten eines Deutschen im nationalsozialistischen Deutschland« vollständig zu erfüllen – u.a. war er bereits im November 1933 in die SA eingetreten.13 Dessen ungeachtet wurde ihm per Verfügung vom 28. Februar 1936 gekündigt. Jores

11 Arthur Jores Lebenslauf (1933, Personalakte, UAR); http://cpr.uni-rostock.de/file/cpr_ derivate_00007245/jores_arthur_cv.pdf vom 9.7.2012. 12 »Lichtwitz, Leopold«, in: Walther Killy/Rudolf Vierhaus (Hg.), Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE), Bd. 6: Kogel - Maxsein, München: Sauer 1997, S. 377. 13 Auseinandersetzung mit Prof. Werner Böhme (1935, Personalakte, UAR), 27.12.1935; Eintrag von »Arthur Jores« im Catalogus Professorum Rostochiensium, http://cpr.uni-rostock.de/metadata/cpr_person_00003358 vom 9.7.2012.

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hatte bereits vorher die Klinik verlassen.14 Er fand eine Stelle in der pharmazeutischen Industrie, die ihm erlaubte, neben seiner Tätigkeit 1939 sein erstes Fachbuch »Klinische Endokrinologie« herauszugeben. Wegen angeblicher pazifistischer Äußerungen, die seine späteren Schüler für religiös bedingte »Naivität« hielten15, wurde er 1943 in Untersuchungshaft genommen und nach sechs Monaten freigesprochen.16 Seine Erfahrungen wiesen ihn als einen Wissenschaftler aus, der keine Affinität zu nationalsozialistischen Repräsentanten der Macht zeigte. Neben seiner Fachkompetenz dürfte dieser Umstand dazu beigetragen haben, dass die britische Militärregierung ihm im Herbst 1945 den Ruf auf den Lehrstuhl für innere Medizin am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf erteilte. Dort etablierte er die Schwerpunkte Endokrinologie, Kardiologie und Psychosomatik, die sein Hauptanliegen wurde. 1959 veranstaltete er in Hamburg ein internationales Symposium zu Fortschritten der Psychosomatischen Medizin und präsentierte sich als Mentor der Bewegung.17 Seit 1950 publizierte er überwiegend Monografien zu Themen wie »Vom Sinn der Krankheit«18 und »Der Mensch und seine Krankheit« mit dem Untertitel »Grundlagen einer anthropologischen Medizin«19, »Vom kranken Menschen«20 und »Die Medizin in der Krise unserer Zeit«21. Bereits die Überschriften zeigen, dass es Jores nicht um die Pathologie von Organsystemen ging, sondern um den »ganzen Menschen«, der von der somatischen Medizin nur unvollkommen erfasst werden konnte. Er bezog

14 Kündigung (1936, Personalakte UAR); Eintrag »Arthur Jores« im Catalogus Professorum Rostochiensium, http://cpr.uni-rostock.de/metadata/cpr_person_00003358 vom 9.7.2012. 15 Jores war gläubiger Katholik. Vgl. Hornbostel, Hans: »Arthur Jores: 10.2.190111.9.1981«, in: Jahresbericht (1983), S. 52-53; Tamm, Jürgen: »In memoriam Prof. Dr. med. Arthur Jores«, in: Hamburger Ärzteblatt 11 (1982), S. 370. 16 Nowakowski, H.: »Prof. Dr. Arthur Jores«, in: Acta Endrocrinologica (51) 1966, S. 161-165; vgl. auch: Danzer, Gerhard. Wer sind wir? Auf der Suche nach der Formel des Menschen. Antropologie für das 21. Jahrhundert – Mediziner, Philosophen und ihre Theorien, Ideen und Konzepte, Berlin u.a.: Springer 2011, S. 422-423. 17 Jores, Arthur/Freyberger, Hellmuth (Hg.): Fortschritte der Psychosomatischen Medizin, Basel: Karger 1960. 18 Jores, Arthur: Vom Sinn der Krankheit, Hamburg: Selbstverlag d. Univ. 1950. 19 Jores, Arthur: Der Mensch und seine Krankheit. Grundlagen einer anthropologischen Medizin, Stuttgart: Klett 1956. 20 Jores, Arthur: Vom kranken Menschen. Ein Lehrbuch für Ärzte, Stuttgart: Thieme 1960. 21 Jores, Arthur: Die Medizin in der Krise unserer Zeit, Bern: Huber 1961.

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sich im Wesentlichen auf den Vertreter einer deutschen Neopsychoanalyse, Harald Schultz-Hencke. Schultz-Hencke war Mitglied des 1936 gegründeten Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie und verband die Lehren von Adler, Jung und Freud unter Auslassung der Freud’schen Trieblehre.22 Die als Reaktion auf die Medizinverbrechen geforderte Selbstreflektion der Medizin hatte sich bei Jores in eine grundlegende Kulturkritik verwandelt. »… dass der Kranke sich auch selber heilen muss« – Das Konzept der Psychosomatik bei Jores Jores’ Konzept der Psychosomatik und damit die Grundlage des Arzt-PatientenVerhältnisses beruht auf den folgenden Argumentationssträngen: Ganzheitlichkeit und Sinn: Der Mensch werde nicht nur körperlich, sondern »in seiner Ganzheit von einer Krankheit erfasst«, und der Krankheitsverlauf weise individuelle Unterschiede auf.23 Eine Beschränkung auf die rein somatisch betrachtete Pathogenese sei ausreichend für das Verständnis und die Bekämpfung der Infektionskrankheiten. Bei psychischen oder psychisch bedingten chronischen Erkrankungen, die das Gros der aktuellen Patientenkontakte ausmache, sei die naturwissenschaftliche Medizin jedoch hilflos. Jores vergleicht sie mit der Situation eines Theaterregisseurs, der erst im dritten Akt das Licht auf die Bühne bringt. Die Krankheitshandlung ist fortgeschritten, Entstehung und Kausalität bleiben jedoch im Dunkeln. Die Psychosomatik hingegen stelle den Menschen als empfindendes Wesen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Krankheit werde nicht nur als Teil der physischen Natur betrachtet, sondern als seelisch bedingte Reaktionsform des Menschen. Daher könne nach einem »Warum« der Krankheit gefragt werden, nach ihrem Sinn und ihrer Funktion. Insbesondere bei Krankheiten, die kaum bei Tieren auftreten, aber bei Menschen verbreitet sind und nicht durch äußere, sondern durch innere Faktoren bestimmt zu sein scheinen, sei die Sinnfrage relevant – Jores führt Rheuma, Allergien, Asthma und Bluthochdruck als Beispiele an.24 Diese Art der Krankheiten sei Gegenstand einer anthropologischen Medizin, die die Sonderstellung des Menschen berücksichtige.

22 Vgl. Thomä, Hans: Die Neo-Psychoanalyse Schultz-Henckes. Eine historische und kritische Betrachtung. In: Psyche 1/2 (1963/64), S. 44-45. 23 »Über den Sinn der Krankheit. Umschaltung der Medizin vom Patienten zum Menschen – Thesen aus der Hamburger Rektoratsrede von Arthur Jores«, in: Die Zeit Nr. 47 vom 23. November 1950, S. 4. 24 Jores, Arthur: Vom Sinn der Krankheit – Hamburger Antrittsvorlesung 1950, S. 2635.

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Sonderstellung des Menschen: Die anthropologische Sonderstellung des Menschen leitet Jores von den Beobachtungen des Zoologen Adolf Portmann ab. Portmann verglich die Entwicklung des menschlichen Neugeborenen mit der von Vögeln und anderen Säugetieren und stellte fest, dass »Nestflüchter« sich dank ihrer angeborenen Instinkte leicht in der Welt zurechtfinden und »instinktsicher« handeln. Menschenkinder hingegen durchlaufen wesentliche Entwicklungsstufen erst nach ihrer Geburt. Dazu benötigen sie speziellen Schutz und sind in besonderer Weise abhängig von ihrer Umwelt. Im Vergleich zur Tierwelt sind ihre angeborenen Verhaltensweisen reduziert und weniger festgelegt. Sie sind »weltoffen und entscheidungsfrei«.25 Diese Freiheit ermöglicht dem Menschen, zu handeln oder zu verzichten. Sie ist auch die Voraussetzung dafür, dass Menschen sich aus festgefahrenen Strukturen lösen können. Dennoch ist sie nicht ausschließlich positiv. Aus der fehlenden Instinktsicherheit resultieren spezifische Abhängigkeiten – Arnold Gehlen spricht vom Menschen als einem »Mängelwesen« – so dass Schutz und Sicherheit durch Institutionen wie Familie, Kirche, Staat, aber auch Rituale und Sprache aufgebaut werde. Der Einfluss dieser Institutionen bzw. gesellschaftlicher Wertmuster könne sich jedoch verselbständigen und ein Handeln der Menschen entgegen ihrer inneren Freiheit bewirken. Zu einem unlösbaren Dilemma komme es, wenn in Konflikten weder eine Aktion noch ein bewusster Verzicht geleistet werden könne. Beide Fähigkeiten konnten durch negative Erfahrungen im frühen Kindesalter gehemmt worden sein, denn zu dem Zeitpunkt seien Kinder emotional besonders offen und auf das Verständnis ihrer Umwelt angewiesen. Lag eine solche Hemmung vor, werde der Impuls verdrängt und schließlich nicht mehr bemerkt.26 »Das Kind wird nicht artig aus echter Zucht, sondern aus dem Verlust des Antriebs zur Unartigkeit«, entsprechend fehle die Verfügungsgewalt über die Entfaltungsmöglichkeit.27 Die Folge sei häufig eine körperliche Erkrankung. Sie könne geheilt werden, indem der Konflikt offengelegt und mit Hilfe des Therapeuten vom Patienten gelöst werde. Zur Offenlegung des Problems trügen häufig Träume bei, die das Unterbewusste bewahrt hätten. Damit kommt Jores zu den inneren persönlichen Faktoren und der Frage von Krankheit und Schuld.

25 Portmann, Adolf: Vom Ursprung des Menschen. Ein Querschnitt durch die Forschungsergebnisse, Basel: Reinhardt 1944; Ders.: Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Basel: Schwabe 1951, zitiert nach A. Jores: Der Mensch und seine Krankheit, S. 38. 26 Vgl. A. Jores: Sinn der Krankheit, S. 71-72. 27 Ebd.: S.75.

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Schuld: Schuld im Sinne von einem Übertreten eines moralischen Gesetzes lehnt Jores ab. Aber er sieht eine persönliche Beteiligung der Patienten, die darin liegt, dass Menschen unfähig sein können, ihr Wesen zu verwirklichen. Als mögliche Gründe führt Jores neben den sozialen Verhältnissen und allgemein verbindlichen Wertvorstellungen, die den Menschen gefangen halten, auch eigenes Versagen an. Jores scheint die Frage der Schuld selbst nicht ganz geheuer zu sein, denn er mildert sie ab und spricht von »Schuldverflechtung«, an der »wir alle« beteiligt seien.28 Letztendlich gehe es um eine Schuld, die kein einzelner zu verantworten habe, um ein tragisches unschuldig schuldig Werden, eine anthropologisch bedingte Schuld, die eine Folge der Freiheit ist. Dennoch hat sie Konsequenzen für den einzelnen Menschen. Er hat die Aufgabe, die Anlagen und Gaben zu entfalten, die Gott als Schöpfer in ihn hineingelegt hat. Es gibt keine Freiheit des Zieles, denn das Ziel ist durch die Schöpfung vorgegeben, aber eine Freiheit des Weges. Menschen seien verpflichtet, sich der eigenen Existenz gegenüber verantwortlich zu fühlen und Kenntnis über sich selbst zu erlangen. Für den Kranken heißt das, der Erfolg der Psychotherapie hänge »von seiner wirklich echten Mitarbeit« ab. »Wenn er sich nicht wirklich stellt, wenn er nicht wirklich ernst macht und in diesen kathartischen, für ihn selbst unangenehmen Prozess der Analyse hineingeht, dann führt diese einzige kausale Therapie nicht zum Erfolg«.29 Jores schloss seine Argumentation mit einer Wertschätzung des mit der Krankheit verbundenen Leides: Es läutere und stärke den Menschen, bringe ihn auf seinen Weg.30 Hier finde auch »der Kampf ums Dasein« seinen Sinn. Er habe die Funktion, das Leben zur höchsten Entfaltung zu zwingen durch die Auseinandersetzung mit Widerständen. Das sei die große Aufgabe, die Not und Leid auf dieser Welt hätten.31 Damit band Jores die Psychosomatik nicht nur kulturgeschichtlich-religiös ein, sondern koppelte sie auch an die sozialdarwinistische Vorstellung vom Daseinskampf. Freiheit zu Selbstverantwortung wurde postuliert und eingefordert (gemäß göttlichem Plan), die Freiheit von realen oder psychisch imaginierten Fesseln und Hindernissen angestrebt und therapeutisch unterstützt. Sollte sie vom Patienten jedoch nicht erreicht werden, lag die Schuld bei ihm.

28 Ebd.: S. 106. 29 Ebd.: S. 119; vgl. S. 124, S. 172. 30 Ebd.: S. 110. 31 Ebd.: S. 157.

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Hinsichtlich des Zieles, mit der Psychosomatik eine Reform des ArztPatienten-Verhältnisses anzustoßen, ist seine Argumentation ambivalent zu bewerten. Jores erkannte die Grenzen therapeutischer Macht an, deutete den möglichen Kontrollverlust psychotherapeutischer Arbeit jedoch um als Schuld des Patienten. Zu fragen ist, ob diese Interpretation der Psychosomatik der Nachkriegszeit inhärent war. Dazu sind die Aussagen zur Stellung des Patienten bei Alexander Mitscherlich zu analysieren.

A LEXANDER M ITSCHERLICH – POLITIKER UND P SYCHOANALYTIKER Mitscherlich, Jahrgang 1908, gehörte zur selben Generation wie Arthur Jores. Anders als Jores, war er Zeit seines Lebens politisch aktiv. Er hatte in München zunächst Geschichte studiert und war 1932 gemeinsam mit seiner Frau Melitta Behr, einer Ärztin, nach Berlin gewechselt. Dort eröffnete er eine Buchhandlung in Dahlem und entschloss sich schließlich, ebenfalls Medizin zu studieren. Sein Kontakt mit dem Schriftsteller Ernst Niekisch brachte Mitscherlich 1937 in politische Schwierigkeiten. Niekisch propagierte einen nationalen Sozialismus, lehnte Hitler aber öffentlich ab. 1937 wurde Mitscherlich von der Gestapo inhaftiert und aufgrund seiner Kontakte zu Niekisch überwacht.32 In dieser Situation wechselte Mitscherlich nach Heidelberg, knüpfte Kontakte zu Karl Jaspers und wurde Assistent von Viktor von Weizsäcker, der mit ihm die Werke Sigmund Freuds diskutierte. Nachdem Heidelberg Ende März 1945 von amerikanischen Truppen besetzt worden war, gehörte Mitscherlich im Mai zu den Personen, aus denen die amerikanische Militärbehörde eine »Regionale Zivilregierung für Saar, Pfalz und Rheinhessen« bildete. Er wurde Leiter des Gesundheitsamtes und erhielt eine ministerähnliche Position. Zwar kehrte er bereits im Sommer 1945 aus der Berufspolitik in den Arztberuf zurück, blieb aber politisch aktiv und veröffentlichte seine Zeitdiagnosen in mehreren Büchern und Zeitschriftenaufsätzen.33 1946 beobachtete er im Auftrag der Westdeutschen Ärztekammern

32 Vgl. Dehli, Martin: Leben als Konflikt. Zur Biographie Alexander Mitscherlichs, Göttingen: Wallstein 2007, S. 51-69. 33 Weber, Alfred/Mitscherlich, Alexander: Freier Sozialismus, Heidelberg: Schneider 1946; Mitscherlich, Alexander: Freiheit und Unfreiheit in der Krankheit. Das Bild des Menschen in der Psychotherapie, Hamburg: Claaßen & Goverts 1946; Ders.: Endlose Diktatur?, Heidelberg: Schneider 1947; Ders.: Kritik oder Politik?, Heidelberg:

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gemeinsam mit Fred Mielke den Nürnberger Ärzteprozess in Nürnberg. Die Enthüllungen vor Gericht erschütterten ihn, und er publizierte im März 1947 die Dokumentation »Diktat der Menschenverachtung«, in der er die Verbrechen deutscher Mediziner öffentlich machte. Damit verfehlte er den Auftrag der Ärztekammern, »alles zu tun, um den Begriff der Kollektivschuld von der Ärzteschaft in der Presse und in der Öffentlichkeit abzuwenden«, was seine Karriere in der Folgezeit belastete. 1949 gelang es ihm, an der Uni Heidelberg die Abteilung Psychosomatische Medizin zu eröffnen und zu einem Mittelpunkt psychoanalytischen Austauschs zu machen, 1960 gründete er das Sigmund-FreudInstitut in Frankfurt a.M., das er bis 1976 leitete. 1966 fasste er in seinem Werk »Krankheit als Konflikt« seine psychosomatischen Grundüberzeugungen zusammen. Im Folgenden sollen sie hinsichtlich der Stellung des Patienten dargestellt und mit Jores’ Ausführungen verglichen werden. Die Stellung des Patienten bei Alexander Mitscherlich Während Jores Anhänger der Schule um Schultz-Hencke war, gehörte Mitscherlich zu den Psychoanalytikern, die sich klar an Freud orientierten. Entsprechend lehnte er magisch-religiöse Deutungen der Krankheit als unzulässig ab, da »wir durch die Psychoanalyse den Bereich unbewussten seelischen Geschehens besser kennen«.34 Aufgrund der politischen und soziologischen Perspektive, mit der er das Krankheitsgeschehen betrachtete, stellte er die gesellschaftliche Bedingtheit von Krankheiten und psychischen Konflikten in den Vordergrund. Die Soziale Umwelt sei entscheidend, jede Gesellschaft bringe ihr eigentümliche Krankheiten hervor, die durch die Leitbilder affektiven Verhaltens geprägt seien. Mitscherlich nahm eine begriffliche Unterscheidung zwischen individuellen »Psychosen«35 und krankhaften Veränderungen vor, die ihren Ursprung in der »sozialen Matrix« oder sozialen Selbstverständlichkeiten hatten und die er als »Soziosen« bezeichnete.36 Er beschrieb den sozialen Lebensstil als eine Summe von stimulierten Erwartungen und Forderungen sowie tatsächlich erreichten Befriedigungen. Verbote und Verführungen der Umwelt waren so stark, dass eine symptomfreie Verarbeitung kaum mehr möglich schien. Mitscherlich kritisierte

Schneider 1951. Seit 1947 gab er die Zeitschrift »Psyche« heraus. Vgl. M. Dehli: Leben als Konflikt, S. 126-129 und 139-144. 34 Mitscherlich, Alexander: Krankheit als Konflikt. Studien zur psychosomatischen Medizin I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1966, S. 118. 35 Ebd.: S. 10-13. 36 Ebd.: S. 16.

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weniger die Freiräume, die zu »Ich-Verstrickungen« und innerer Zerrissenheit führten, sondern gesellschaftliche Restriktionen und Gratifikationen. Die »Stärkeren«, die sich im Dschungel der Restriktionen durchsetzen konnten, seien inzwischen die besser Organisierten.37 Für das grundlegende Umdenken der Psychosomatik fand Mitscherlich ein plastisches Bild: die naturwissenschaftliche Medizin interpretiere Krankheiten als Defizite und Fehlleistungen des Körpers, die den Menschen an seinen Grundpflichten und Grundrechten – Arbeit und Genuss – hindern. Entsprechend wurde Krankheit als Feind der aufgeklärten Menschheit betrachtet, der auszurotten war. Angesichts der unerschöpflichen Metamorphosen, in denen Krankheit uns begegnet, ließ sich dieses Ziel jedoch nicht umsetzen. Wie der griechische Gott Proteus wandelte sie ihr Bild – von Epidemien zu chronischer Durchseuchung, von Schmerzen zum Unglücklichsein. Der Legende nach besaß Proteus prophetische Fähigkeiten, die er nicht preisgeben wollte. Indem er verschiedene Gestalten annahm, versuchte er, den Fragen zu entkommen.38 Diese Allegorie illustrierte das Konzept der Psychosomatik, der zufolge der Körper mit wechselnden Symptomen von der Frage der eigentlichen Ursache der Erkrankung ablenkte. Krankheit zeigte einen Konflikt an, damit er gelöst werden konnte, bot aber auch die Möglichkeit, den Konflikt durch die Konzentration auf das körperliche Geschehen zu ignorieren. Damit geriet auch für Mitscherlich neben dem therapeutischen Konzept der Patient in den Blick. Während die Psychiatrie in der jüngeren Vergangenheit in »therapeutische Aggression« ausgeartet war, die »das Wahnsystem zertrümmern« wollte, folgte der psychosomatische Arzt dem Kranken in seinen Wahn, um für ihn zu erkennen und ihn herauszuführen.39 Bereits im Vorwort von »Krankheit als Konflikt« betonte Mitscherlich die gemeinsame Suche von Arzt und Patient nach den Einflüssen aus der Erlebnissphäre auf den Körper. Indem er hervorhob, dass erlebnisbedingte Störungen einer emotionalen Korrektur und realitätsgerechteren Erlebnisverarbeitung bedurften, verwies er auf die Anforderung, die das für den Patienten bedeuten konnte.40 Dabei unterstrich Mitscherlich die hilflose Lage des Kranken, der nicht frei war, als er sich in die Krankheit geflüchtet hat.41 Wenn der Kranke therapeutisch von der Krankheit in die eigentliche Notlage, den Konflikt, zurückgeführt werde,

37 Ebd.: S. 24-28. 38 Ebd.: S. 120. 39 Ebd.: S. 76-78. 40 Ebd.: S. 13. 41 Ebd.: S. 9-10.

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sei er allein dadurch noch nicht fähig, auf ihn anders als durch Krankheit zu reagieren. Die von Jores als entscheidender Faktor herausgestellte Freiheit fasste er pragmatisch, indem er lakonisch konstatierte, »wo man etwas ändern will, muss man den Begriff der Freiheit einführen«.42 Dennoch sprach auch Mitscherlich von »Verfehlung«, wenn die Abwehr nicht überwunden und ein Konflikt nicht eingegangen wurde,43 der Patient sich also dem therapeutischen Versuch entzog. Er lastete die Verfehlung aber nicht nur dem Patienten an, sondern dem therapeutischen Prozess, und sah den Therapeuten mit in der Verantwortung. Und er räumte ein, dass es neben Krankheiten, die einen Sinn haben, auch solche gebe, die »blindes Schicksal« blieben.44 Die hierarchische Differenz zwischen dem leidenden Patienten und seinem Arzt, der sich mit tiefenpsychologischer Deutung bemüht, die persönlichen Ursachen der Erkrankung ans Licht zu bringen, beinhaltet ein Konfliktpotential. Mitscherlich thematisierte es ansatzweise, indem er verlangte, dass jeder Psychosomatiker eine Lehranalyse absolvierte. Durch die eigene Erfahrung, analysiert zu werden, sei auszuschließen, dass Therapeuten den Patienten moralisch bewerteten.45 Ob Psychiater, die gegenüber der Psychosomatik ohnehin kritisch eingestellt waren, die Lehranalyse als Garanten für ein korrektes Arzt-Patient-Verhältnis akzeptierten, war fraglich.

R EZEPTION UND K RITIK IN DER P SYCHIATRIE

DER

P SYCHOSOMATIK

Aus psychiatrischer Sicht wies der Göttinger Professor für Psychiatrie Gottfried Ewald 1952 auf die »Grenzen der Psychotherapie« hin.46 Ewald leitete von 1934 bis 1954 die Göttinger Heil- und Pflegeanstalt. Im August 1940 hatte er abgelehnt, Gutachten für die »Euthanasie«-Aktion »T4« zu erstellen, jedoch den

42 Ebd.: S. 100-101. 43 Ebd.: S. 114-115. 44 Ebd.: Vorwort, S. 7. 45 Mitscherlich, Alexander: »Rollenkonflikte im Beruf des Arztes«, in: Ärztliche Mitteilungen 47 (1962), S. 1747-1754, hier S. 1748. 46 Ewald, Gottfried: Die Grenzen der Psychotherapie, Stuttgart: Thieme 1952.

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Befehl zum Abtransport seiner Patienten befolgt.47 In seiner Schrift von 1952 beklagte er, die Psychotherapie sei eine derartige »Weltmode« geworden, dass jeder als »Hinterwäldler« angesehen werde, der sich nicht in ihren Lichtstrahl begebe. De facto könne die Betonung der Persönlichkeit des Arztes zu Scharlatanerie führen. Selbst eine umfängliche Lehranalyse garantiere keine neue Persönlichkeit. Die Methode der Therapie bleibe in einem unklaren Halbdunkel wie die Aktionen des Ku-Klux-Clans oder der Freimaurer.48 Damit diskreditierte Ewald die Lehranalyse als Gewährsinstrument. Ähnlich pointiert äußerte sich 1955 Hans Jörg Weitbrecht. Weitbrecht, Jahrgang 1909, war Schüler Ernst Kretschmers, seit 1946 Mitherausgeber der Zeitschrift »Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete« und ab 1964 des »Archivs für Psychiatrie und Nervenkrankheiten«. 1956 erhielt er die Professur für Psychiatrie und Neurologie in Bonn und begründete dort eine Abteilung für Tiefenpsychologie, Psychotherapie und psychosomatische Medizin.49 Dessen ungeachtet griff er in seiner Kritik der Psychosomatik 1955 das Primat psychischer Faktoren als nicht erwiesen an und polemisierte gegen Freud.50 Seine grundlegende Ablehnung kommt in Sätzen zum Ausdruck wie »Das Hinstarren auf die unausweichlich schicksalhafte Vorbestimmtheit psychosomatischer Katastrophen durch weit zurückliegende Enttäuschungen des Säuglings bewertet die Freiheit mehr als gering«,51 Neurosen seien »abnorme Erlebnisreaktionen«, die »auf dem Boden seelisch abnormer Persönlichkeiten« wüchsen.52 Schließlich kritisierte er, dass die Persönlichkeit dem ärztlichen Deutungsmonopol in einem überlegenen Entlarven unterzogen und auf tiefenpsychologische Triebmechanismen reduziert würde.53 Die Figur des Arztpriesters, der in der Lage sei, den seinen Lebenssinn verfehlenden Menschen zurückzuführen, sei eine »Koketterie mit dem Priestertum«.54 Er schloss mit dem Plädoyer, den einzelnen

47 Vgl. Beushausen, Ulrich et al.: »Die Medizinische Fakultät im Dritten Reich«, in: Becker, Heinrich (Hg.), Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus, München: Saur 21998, S. 183-286, hier S. 216-227. 48 Vgl. G. Ewald: Grenzen der Psychotherapie, S. 11-14. 49 Vgl. Payk, Theo R.: Psychiater. Forscher im Labyrinth der Seele, Stuttgart: Kohlhammer 2000, S. 11-12. 50 Vgl. Weitbrecht, Hans Jörg: Kritik der Psychosomatik, Stuttgart: Thieme 1955, S. 2. 51 Ebd.: S. 11. 52 Ebd.: S. 17. 53 Ebd.: S. 54. 54 Ebd.: S. 47.

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Menschen in seiner Krankheit ernst zu nehmen und Ehrfurcht vor dem NichtAnalysierbaren zu haben. Es stehe Ärzten nicht zu, in Priesterpose über Schuld oder die Wahrhaftigkeit eines Lebens zu urteilen oder Krankheit als Folge eines Widerstreits mit der göttlichen Ordnung zu betrachten.55 Differenzierter äußerte sich Karl Jaspers 1954 mit dem Buch »Wesen und Kritik der Psychotherapie«56. Als einer der ersten deutschen Psychiater hatte er sich bereits 1913 aus medizinischer und philosophischer Perspektive kritisch mit den Erkenntnisgrundlagen der Psychiatrie und Psychologie auseinandergesetzt.57 Sein Hauptanliegen war, die Begrenzung der Psychiatrie auf Hirnforschung zu überwinden und eine psychologisch-phänomenologische Methode zu etablieren, die ein nachvollziehendes Verstehen der subjektiven Erlebniswelt der Patienten ermöglichte. In »Wesen und Kritik der Psychotherapie« 1954 beschrieb er Therapien, die an die Persönlichkeit des Kranken appellierten und eine Mitwirkung des Kranken erforderten. Er unterschied Erziehungsmethoden, mit denen der Arzt autoritativ eine Disziplinierung und Lebensreglementierung in Gang setzte, und die »Kathartische Methode«, in der verdrängte, gefühlsbelastete Erlebnisse noch einmal durchlebt und auf diese Weise ihrer schädigenden Macht beraubt werden sollten. Dabei sei zu beachten, dass die Aufklärung des Patienten über psychopathologische Zusammenhänge möglicherweise schädlich war, wenn der Patient nämlich »nicht auf sich selber stehen« konnte.58 Als Wehrloser durfte er nicht geschädigt werden. Andererseits sollte das Mitgeteilte zu »eindrucksvoller Anschauung« werden; etwas Zwingendes musste in eine Verhaltensrichtung kommen, gegebenenfalls grob durch kürzeste Anweisungen oder Anbrüllen. Und er schloss: »Es muss ein Anerkennen und Übernehmen erfolgen […] ein existentieller Entschluss […] der Kranke muss sich selbst zu heilen wissen«.59 Wie Jores, pochte auch Jaspers auf die Mitwirkung des Patienten, ohne die keine Heilung zu erreichen sei. Er relativierte seine Ausführungen wie auch die seiner Kollegen jedoch mit der Aussage, es sei schädlich, die Seele des

55 Ebd.: S. 109. 56 Jaspers, Karl: Wesen und Kritik der Psychotherapie, München: Piper 1954. 57 vom Bruch, Rüdiger: »Jaspers, Karl«, in: Wolfgang U. Eckart/Christoph Gradmann (Hg.), Ärztelexikon. Von der Antike bis zur Gegenwart, Heidelberg: Springer 2006, S. 184-86. 58 K. Jaspers: Wesen und Kritik, S. 12. 59 Ebd.: S. 13-14.

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Menschen zum absoluten Referenzpunkt zu machen. »Der Mensch, der seine Seele zum Gott macht, weil Welt und Gott ihm verloren gingen, steht am Ende im Nichts«.60

60 Ebd.: S. 44.

Von der Normalität des Unglücklichseins Überlegungen zum Phänomen Psychotherapie als Teil des Alltagslebens ab den 1960er Jahren B RIGITTE L OHFF

E INFÜHRENDES Das wachsende Interesse an den 1960er Jahren wurde 2000 von den Herausgebern eines Sammelbandes damit begründet, dass dieser vom Wandel bestimmte historische Abschnitt der bundesrepublikanischen Geschichte als »Scharnierjahrzehnt« zu charakterisieren sei: »[D]ie bereits im Wiederaufbau der 50er Jahre immer stärker mit modernen Elementen versetzte Gesellschaft der Bundesrepublik [ließ] in einem enormen Tempo die Nachkriegszeit nun gänzlich hinter sich und [prägte] Züge einer kulturellen Moderne aus, die unsere Gegenwart nach wie vor zu einem großen Teil bestimmt«.1

Daher sind die 1960er Jahre heute Gegenstand von TV-Sendungen, Büchern und Fotobänden. Die Nachkriegsgeneration wird im Kontext von psychologisch orientierten Interviews nach ihrer Wahrnehmung dieses Jahrzehnts befragt.2 Dieses

1

Schildt, Axel/Siegfried, Detlef/Lammers, Karl Christian (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg: Hans Christians 2000, hier S. 13.

2

Alberti, Bettina: Seelische Trümmer: Geboren in den 50er- und 60er-Jahren. Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas. Mit einem Nachwort von Anna Gamma, München: Kösel 2010; Apel, Linde: »Erinnerte Gefühle, erzählte Erinnerungen. Über Erfahrungen in Krieg und Nationalsozialismus«, in: Ruth-E.

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Jahrzehnt ist Forschungsobjekt der Zeitgeschichte, wie z.B. der Einladung zu der Tagung »Jewish Voices in the German Sixties« im Juni 2011 zu entnehmen ist. Darin heißt es: »Die 1960er-Jahre waren eine Zeit radikaler Veränderung. Überall in der westlichen Welt kam es zu neuen Formen des populären Protests gegen den Status Quo, die den Charakter einer Revolution von unten wie von oben annahmen.«3 Neben der Auseinandersetzung mit den ideologischen und politischen Einflüssen als Vorgeschichte der »Studentenrevolution« von 19684 kann aus der historischen Distanz von 50 Jahren der Frage nachgegangen werden, welchen Einfluss dieses spezifische Jahrzehnt darauf hatte, dass seitdem mit steigender Tendenz die Beschäftigung mit dem individuellen Seelenleben zu einer gesellschaftlich akzeptierten Selbstverständlichkeit werden konnte und dieses Normalität im alltäglichen Leben geworden ist. Mit den 1960er Jahren – so meine These – ist ein Endpunkt einer innerwissenschaftlichen Entwicklung zu verzeichnen, die dann in einen erstaunlichen Psychologisierungsprozess gesellschaftlichen Lebens mündete. Dass diese Psychologisierung des Lebens nicht nur von einer kleinen exklusiven Gruppe beansprucht wurde, sondern zunehmend alle Kreise der Gesellschaft berührt, zeigt sich bereits daran, dass gegenwärtig jährlich ein drastischer Anstieg der Inanspruchnahme von Krankenkassenleistungen für Psychotherapien und Arbeitsaus-

Mohrmann (Hg.), Generationen-Beziehungen in Familie und Gesellschaft, Münster: Werhan 2011, S. 35-57. 3

Die Tagung wurde vom Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur der LudwigMaximilians-Universität München und dem Institute of European Studies, University of California, Berkeley organisiert und fand vom 26.-28.6.2011 statt. Die dabei vertretene These bezieht sich auf die Rolle der jüdischen Remigranten: »Diese Intellektuellen, von denen die meisten ab 1933 in die Emigration gezwungen worden waren, hatten eine weitere Agenda, die sie vom allgemeinen Protest abhob. Sie wollten die deutsche Gesellschaft mit dem Holocaust konfrontieren, denn sie waren überzeugt davon, dass andernfalls die moralische Entwicklung des Landes behindert werden würde. […] So übernahmen jüdische Remigranten die eine Vorreiterrolle im kulturellen Austausch, als sie Ideen und Entwürfe für die Gründung einer liberalen und demokratischen Bundesrepublik mit sich nach Deutschland brachten.« http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/termine/id=16458 vom 30.6.2011.

4

Vgl. dazu auch Szczesny, Gerhard (Hg.): Club Voltaire. Jahrbuch für kritische Aufklärung, IV, Reinbeck b. Hamburg: Rowohlt 1970, in dem von namhaften Autoren wie z.B. Jean Améry, Rolf Hochhuth, Herbert Marcuse und Günter Grass die Studentenunruhen unter der Perspektive einer idealisierten marxistischen Jugendbewegung thematisiert werden.

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fälle aufgrund von psychischen Erkrankungen zu verzeichnen ist.5 Unterstützt wird diese These dadurch, dass gegenwärtig über 300.000 ausgebildete Psychologen in Europa ihre Tätigkeit ausüben und fast ebenso viele dieses Fach aktuell studieren. 18.500 Psychotherapeuten waren 2011 in eigener Praxis tätig. Insgesamt nehmen knapp 300.000 Patienten pro Jahr eine ambulante Psychotherapie in Anspruch.6 Dies ist umso bemerkenswerter, da nur ca. 500.000 Fachärzte für Allgemeinmedizin und ca. 80.000 Psychiater in Europa praktizieren7. Die Disziplin »Psychologie« begann sich als eigenständiges universitäres Fach erst vor 120 Jahren zu etablieren. Fast ein halbes Jahrhundert später wurde zum 1. April 1941 die Prüfungsordnung für einen Diplomstudiengang für Psychologen8 von dem nationalsozialistischen Reichsministerium erlassen, um vornehmlich Wehr- und Rassenpsychologen auszubilden9. Gerade im Vergleich zur Entwicklung anderer Fächer zeigt sich, dass innerhalb einer geringen Zeitspanne nicht nur diese Disziplin innerhalb des Kanons der Wissenschaften eine hohe Attraktivität als Studienfach erlangte, sondern auch einen etablierten Platz in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen eroberte. In den 1960er Jahren fand der Berufswunsch »Psychologie« noch wenig gesellschaftliche Zustimmung. So resümierte der Rechtswissenschaftler und spätere Bundesminister des Inneren Werner Maibaum in seinem 1970 erschienen Beitrag »Die Revolte der Jugend«, dass zwar 25 Prozent der saarländischen Schüler angaben, Psychologie studieren zu wollen, sie aber am Ende zur Berufswirklichkeit zurückkehrten, »als sie hörten, dass sie mit Soziologie und Politologie, ja selbst mit Psychologie

5

Vgl. Mitteilung der DAK-Krankenkasse, die unter dem Titel »Fehltage durch Psychische Krankheiten haben sich seit 1997 verdoppelt« darauf hinweisen, dass psychische Erkrankungen unter allen Leiden die größte Steigerung bei den Fehltagen haben. http://www.presse.dak.de/ps.nsfsbl vom 20.5.2011.

6

Vgl. Maasen, Sabine: »Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den ›langen‹ Siebzigern: Eine Perspektivierung«, in: Dies. et al. (Hg.), Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den »langen« Siebzigern, Bielefeld: transcript 2011, S. 7-34, hier S. 11.

7

Zit. nach dem Vortrag von Rob Roe, Präsident der European Federation of Psychologists’ Associations (EFPA), anlässlich der »Enquete zum 20-jährigen Bestehen des Psychologengesetzes« am 8.4.2011 in Wien.

8

Geuter, Ulfried: Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988.

9

Vgl. Jung, Kathrin: Die Geschichte des Psychologischen Instituts der Universität Heidelberg in den Jahren 1933 bis 1980. Diplomarbeit Heidelberg 2000, hier S. 4-6.

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so etwas wie ein ›brotloses Studium‹ ergreifen würden.«10 Begannen bis Mitte der 1960er Jahre an den jeweiligen geistes- oder naturwissenschaftlichen Fakultäten11 ca. 40 bis 50 Abiturienten ein Studium der Psychologie, so explodierte die Zahl der Studienanfänger am Ende dieses Jahrzehnts, so dass bereits 1972 der Numerus clausus für dieses Fach eingeführt wurde.12 Innerhalb eines Jahrzehnts erfolgte ein beispielloser Wandel in der gesellschaftlichen Akzeptanz der Psychologie. Die Nachfrage von Studienplätzen in der Psychologie und die wachsende Anzahl von professionellen Psychologen spiegelt nicht nur eine gestiegene Inanspruchnahme und/oder Einflussnahme wider, sondern weist auf einen Mentalitätswandel hin, der sich in dem Bedürfnis nach psychologischer Begleitung im Lebensalltag realisierte. Zeitgleich mit der zunehmenden Akademisierung der Psychologie in den 1950er Jahren wurden auch kritische und gegenläufige Kommentare zu dieser Entwicklung herausgefordert. Begründet wurde dies mit dem Hinweis, dass Psychologen sich in unterschiedlichsten Bereichen des Lebens und den verschiedensten Berufsfeldern, wie z.B. als Markt- oder Konsumforscher, Betriebs-, Arbeits- oder Verkehrspsychologen zu Wort meldeten.13 Das veranlasste z.B. den amerikanischen Entwicklungspsychologen Harry Harlow (1905-1981) 1953 zu der Äußerung, dass die Psychologie sich asymptotisch ihrer Irrelevanz annähere.14 Mit dem zunehmenden Gebrauch des Psychologenjargons in

10 Maihofer, Werner: »Die Revolte der Jugend für die Evolution der Gesellschaften in Ost und West«, in: Gerhard Szczesny (Hg.), Club Voltaire, 1970, S. 94-111, hier S. 98. 11 Je nach Universität gehörte der Diplomstudiengang entweder zur philosophischen oder naturwissenschaftlichen Fakultät. 12 Dettmer, Susanne et al.: Zum Stand der Professionsentwicklung und dem Geschlechterverhältnis in Medizin und Psychologie, Berlin: FU Berlin 1999, S. 22-25. 13 Zit. nach dem zur »Enquete zum 20jährigen Bestehen des Psychologengesetzes« in Wien am 8.4.2011 im österreichischen Bundesministerium für Gesundheit gehaltenen Vortrag von Rudolf Bretschneider: Die Entwicklung der Psychologie und ihre Bedeutung für die Gesellschaft im 21. Jahrhundert, http://www.boep.or.at/fileadmin/ edtor_upload/Veranstaltungen/Bretschneider_Entwicklung_Psychologie_Bedeutung_ Gesell_01.pdf vom 20.11.2011. 14 »Es spricht dafür, daß die Bedeutung der in den letzten fünfzehn Jahren untersuchten psychologischen Probleme ständig abgenommen hat und sich der Asymptote absoluter Irrelevanz nähert.« Zitiert nach Koestler, Arthur: Das Gespenst in der Maschine (1968); einsehbar unter http://www.irwish.de/Site/Biblio/Psychologie/Koestler.htm. Moderne kritische Auseinandersetzungen befassen sich v.a. mit der inneren

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unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsbereichen schwappte dieser in die Alltagssprache über und hat zu einer Trivialisierung und Banalisierung von Erklärungsmustern für psychisches Verhalten beigetragen. Mittlerweile ist eine unreflektierte bzw. trivialisierende Verwendung psychologischer Begrifflichkeiten Teil der Alltagskommunikation.15 Welche Motive zu benennen sind, die zu diesem Wandel und einer veränderten Sicht auf die Rolle der Psychologie für die Bedürfnisse und das Verhalten der Menschen im erwähnten Jahrzehnt beitrugen, soll in diesem Beitrag thematisiert werden. Dabei werden einige Thesen entwickelt, weshalb vor 50 Jahren speziell in Deutschland Menschen freiwillig sich mit ihrem Leben und ihrem seelischen Befinden mit professioneller Unterstützung in psychotherapeutischen Sitzungen auseinander zu setzen begannen. Zunächst sollen einige Aspekte skizziert werden, die um 1900 zur Herausbildung von unterschiedlichen psychologischen Konzepten geführt haben, aus denen in den 1950er und 1960er Jahren spezielle Therapiekonzepte entwickelt wurden. Anschließend soll auf die Frage eingegangen werden, weshalb unmittelbar nach der Zeit einer extrem skeptischen bis verächtlichen Haltung gegenüber Menschen, die sich mit dem eigenen und anderen seelischen Verhalten und Problemen befassten16, es zu diesem Mentalitätswandel kommen konnte.

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Ein wichtiger Impuls für die Entwicklung der Psychologisierung menschlichen Lebens ist mit der Ausbildung von Konzepten der Persönlichkeitsentwicklung Ende des 19. Jahrhunderts verbunden.17 Sigmund Freuds psychoanalytische Theorie von 1898 wurde zum Modell einer Form der Psychotherapie, die auf ei-

Widersprüchlichkeit psychotherapeutischer Theorien, dass die Probleme, die man mit der Welt hat, eigentlich Probleme des eigenen Selbst seien und damit zu einer tautologischen Argumentation führen. Vgl. Kröll, Albert: Kritik der Psychologie. Das moderne Opium des Volkes, Bad Homburg: VAS 2007. 15 Z.B. Frustration, Intelligenzquotient, Selbstwertgefühl, Burnout-Syndrom, negativer Stress etc. 16 Paustian, Matthias: »Die Nationalpolitische Erziehungsanstalt Plön 1933-1945«, in: Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte 26 (1994), S. 3-100. 17 Z.B. Alfred Binet (1857-1911), der wichtige Studien zur normalen und nicht normalen psychologischen Entwicklung des Kindes verfasst hat. Vgl. Binet, Alfred: Les idées modernes sur les enfants, Paris: Flammarion 1909.

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ner historisch-rationalen Analyse menschlichen Verhaltens oder Fehlverhaltens beruhte. Die Idee, dass ein historischer Prozess zur Herausbildung der individuellen Persönlichkeit jedes einzelnen Individuums führt, hat Friedrich Wilhelm Joseph Schelling 1827 bereits in seiner »Geschichte der Philosophie« formuliert: »[D]as Ich […] womit sein individuelles Leben beginnt […] erinnert sich nicht mehr des Wegs, den es bis dahin zurückgelegt hat […] und es [hat] […] den Weg zum Bewusstsein selbst bewusstlos und ohne es zu wissen zurückgelegt […]. Das individuelle Ich findet in seinem Bewusstsein nur noch gleichsam die Monumente, die Denkmäler des Wegs, nicht den Weg selbst. Aber eben darum ist es nun Sache der Wissenschaft […] jenes Ich des Bewusstseins mit Bewusstsein zu sich selbst, d.h. ins Bewusstsein kommen zu lassen. Oder: die Aufgabe der Wissenschaft ist […] eine Anamnese«18

Mit welcher Art von wissenschaftlicher Beweisführung man versuchte, diesen Weg zu den »Monumenten und Denkmälern des Ichs« zu entschlüsseln, wurde zu einer zentralen Herausforderung der sich Ende des 19. Jahrhunderts herauskristallisierenden Disziplin Psychologie. Volker Roelcke weist in seinen Publikationen darauf hin, dass eine »Verwissenschaftlichung der Psychiatrie ಥ Biologisierung des Psychischen«19 am Ende des 19. Jahrhunderts stattfand, da das naturwissenschaftlich experimentelle Denken in der Psychiatrie zunehmend favorisiert wurde.20 Vergleichbare Leitideen lassen sich auch in der Psychologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts verfolgen.

18 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: »Zur Geschichte der neueren Philosophie. [1827]«, in: Ders., Schriften von 1813-1830, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, hier S. 376-377. 19 So der Titel des Vortrags von Roelcke bei der Ringvorlesung »Die Psychiatrie im 20. Jahrhundert – Kontinuitäten und Brüche ihrer Entwicklung« des Instituts für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizinischen Hochschule Hannover am 1.3.2011. 20 Roelcke, Volker: »Rivalisierende ›Verwissenschaftlichungen des Sozialen‹. Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie im 20. Jahrhundert«, in: Jürgen Reulecke/Volker Roelcke (Hg.), Wissenschaften im 20. Jahrhundert: Universitäten in der modernen Wissenschaftsgesellschaft, Stuttgart: Steiner 2008, S.131-148, sowie der Beitrag von Volker Roelcke in diesem Band; Cottebrune, Anne: »Zwischen Theorie und Deutung der Vererbung psychischer Störungen. Zur Übertragung des Mendelismus auf die Psychiatrie in Deutschland und in den USA, 1911-1930«, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin N.S. 17 (2009), S. 35-54.

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In der Antike bis in die Zeit der Aufklärung waren Reflexionen über das Körper-Seele-Geist-Problem Teil der Philosophie. Als auch die Psychologie sich am Leitbild der Naturwissenschaften21 zu orientieren begann, veränderte sich ihr Forschungsfeld. Eine eigenständige akademische Disziplin wurde sie mit der Gründung des ersten Leipziger Instituts für experimentelle Psychologie 1879. Wilhelm Wundt (1932-1920) wurde mit folgender Begründung für den Lehrstuhl für Philosophie vorgeschlagen: Mit seiner Berufung sollte dem neu »erwachten Bedürfnis […], dem Einfluss der Naturwissenschaft auf die Philosophie Geltung […] verschaff[t]« werden.22 Methodisch vorbildlich für weitere experimentelle psychologische Untersuchungen wurden Wundts Forschungen zum Leib-SeeleProblem, mit dem von ihm vertretenen psychophysischen Parallelismus.23 Mit der These, dass physische und psychische Erscheinungen Parallelphänomene seien, hoffte man, den »wirklichen Verlauf« psychischer Vorgänge auf experimentellem Wege zu klären.24 Wundt vertrat zudem nachdrücklich die

21 Zum Paradigmenwechsel innerhalb der Medizin vgl. Lohff, Brigitte: »Facts and Philosophy in Neurophysiology. The 200th anniversary of Johannes Müller (18011858)«, in: Journal of the History of the Neuroscience 10 (2001), S. 277-292; Dies.: »Lebenskraft als Symbolbegriff für die Entwicklung eines konzeptionellen Forschungsprogramms im 18. Jahrhundert. Ergänzende Bemerkungen zu Ernst Cassirers Ausführungen zum Vitalismus-Streit.«, in: Enno Rudolph/Ion O. Stammatescu (Hg.), Von der Philosophie zur Wissenschaft. Cassirers Dialog mit der Naturwissenschaft, Hamburg: Meinert 1997, S. 209-230. 22 1874 sollte in Leipzig der seit 1866 vakante Lehrstuhl für Philosophie endlich wieder besetzt werden. Man hatte entschieden, den Lehrstuhl (und das Gehalt) zu teilen und zwei jüngere Professoren zu berufen. Die Wahl fiel auf Max Heinze (1835-1909) für Geschichte der Philosophie und Wilhelm Wundt (1832-1920) für die naturwissenschaftlich experimentelle Richtung der Philosophie. http://www.uni-leipzig.de/~psy cho/hist.html vom 26. 12. 2011. 23 Rudolf Eisler definiert wie folgt: »[P]sychophysischer Parallelismus ist dasjenige Verhältnis von Seele […] und Leib, das nicht in einer Wechselwirkung […], sondern in einem bloßen einander ›Parallelgehen‹ beider Arten von Prozessen, der psychischen und der physischen, besteht. Jedem psychischen Vorgang im Organismus […] entspricht, ist zugeordnet (koordiniert) bzw. ist begrifflich zuzuordnen ein physisches Korrelat, und umgekehrt […]. Diese Koordination ist empirische Tatsache.« vgl. Eisler, Rudolf: Lexikon philosophischer Begriffe, Bd. 2, Berlin: Mittler 1904, S. 72. 24 Zentraler Begriff in Wundts System ist die Apperzeption, die er als innere Willenshandlung und Prototyp aller psychischen Prozesse beschreibt (Apperzeption = Vorgang, durch den ein psychischer Inhalt zur klaren Auffassung gebracht wird). Später

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Auffassung, dass die Psychologie Grundlage aller Geisteswissenschaften sei: Die Psychologie ist »selbst die allgemeinste Geisteswissenschaft und zugleich die Grundlage aller einzelnen, wie der Philologie, Geschichte, Nationalökonomie, Rechtswissenschaft«.25 Auffällig ist, dass Erforscher des Seelenlebens und der Persönlichkeitsentwicklung davon überzeugt waren, dass im Kanon der Wissenschaften die Psychologie von vornherein eine Sonderstellung unter allen anderen Disziplinen einnimmt. 1904 erhielt Ivan Petrovitsch Pawlow für seine Forschungen über den nervalen Anteil an der inneren Sekretion (unbedingter und bedingter Reflex) den Nobelpreis für Medizin und Physiologie und ebnete damit den Weg zu einer reflexologischen bzw. mechanistisch orientierten Psychologie. Mit dem ersten Kongress für experimentelle Psychologie am 20. April 1904 in Gießen begann das »Jahrhundert der Psychologie«26 – zumindest entsprach das der Selbstwahrnehmung der Anfang des Jahrhunderts lehrenden ersten Generation von Psychologen.27 Dazu gehörten der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud (1859-1939), sein Schüler und späterer Kontrahent Carl Gustav Jung (1875-1961)28, der die analytische Psychologie einführte, sowie Alfred

nennt Wundt sein Modell Voluntaristische Psychologie oder Voluntarismus, da psychische Erlebnisse nicht Ereignisse, sondern Ergebnisse von Willenshandlungen sind. 25 Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie, Leipzig: Wilhelm Engelmann 1822, S. 18-19. 26 Vgl. die Rede zum »Zukünftigen Jahrhundert der Psychologie« des Philosophen und Psychologen Gerard Heymans anlässlich seiner Ernennung zum Rektor der Universität Groningen am 20.9.1909. Vgl. Lück, Helmuth: 100 Jahre Deutsche Gesellschaft für Psychotherapie. Text zum Internetkalendarium. 1977, S. 4, einzusehen unter http:// vs.fernuni-hagen.de/dgps/kalendertext.pdf vom 29.2.2012. Gleiches wurde Anfang des 20. Jahrhundert in Bezug auf die Wahrnehmung und die Bedeutung des Kindes gesagt. Die dafür programmatische Schrift, dessen deutsche Erstausgabe 1902 erschien, stammt von der schwedischen Reformpädagogin Ellen Key (1847-1926). Vgl. Key, Ellen: Das Jahrhundert des Kindes, Berlin: Fischer 1902. 27 Das Zeichen dieses besonderen Selbstbewusstseins mag darin zu erkennen sein, dass die 1905 von Wundt herausgegebene Zeitschrift »Psychologische Studien« als Fortsetzung der »Philosophischen Studien« erschien. Einen guten Überblick über die wichtigsten Strömungen in der Psychologie im 20. Jahrhundert gibt Boeree, George: History of Psychology Part Four: The 1900’s. 2006, http://www.social-psychology.de/ do/history_IV vom 19. Juli 2012. 28 1895 studierte Jung an der Universität Basel Medizin und wurde 1900 Assistent von Eugen Bleuler in der psychiatrischen Klinik Burghölzli. Seine Dissertation von 1902 war ein Beitrag »Zur Psychologie und Pathologie sogenannter occulter Phänomene«.

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Adler (1870-1937)29, welcher der Individualpsychologie den Weg ebnete. Der in Hamburg lehrende Psychologe Wilhelm Stern (1868-1938) begründete die experimentelle Intelligenzforschung30 und Hermann Ebbinghaus (1850-1909)31 war

Er habilitierte unter Bleuler, 1907 erschien seine Arbeit »Über die Psychologie der Dementia praecox«. Nach Zerwürfnissen mit Bleuler engagierte er sich in der psychoanalytischen Bewegung und wurde Redakteur des »Internationalen Jahrbuches für psychologische und psychotherapeutische Forschung«; 1910 bis 1914 war er Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Sein Buch »Wandlungen und Symbole der Libido« führte 1912 zum Bruch mit Freud, da er dessen Libidotheorie kritisierte. Vgl. Fierz, Heinrich Karl: »Carl Gustav Jung«, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 10, München: Historische Kommission der Bayrischen Akademie [=NDB] 1974, S. 676-678. 29 1907 publizierte Alfred Adler seine »Studie über Minderwertigkeit von Organen«. Darin entwickelte er sein Konzept der körperlichen und psychischen Auswirkungen der Organminderwertigkeit in Hinsicht auf Kompensation und Überkompensation. Für die psychischen Auswirkungen führte er den Begriff »Minderwertigkeitskomplex« in die psychoanalytische Forschung ein. Nach dem Bruch mit Freud gründete Adler eine eigene Gesellschaft für freie Psychoanalyse, den späteren Verein für Individualpsychologie. Seine Lehre bezeichnete er als Individualpsychologie, weil er als Arzt zu der Auffassung gelangt war, dass jeder Patient als unwiederholbar Einmaliges nur ganzheitlich körperlich zu therapieren und psychisch zu verstehen sei. Adler formulierte die Grundzüge seiner Lehre 1912 in seinem Hauptwerk »Über den nervösen Charakter«, in dem er die Psychologie und Psychopathologie in einem Konzept vereinte. Die Individualpsychologie wurde in der psychoanalytischen Bewegung als Alternative zur freudschen Psychoanalyse diskutiert. 1914 kam es zur Gründung der »Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie«. Vgl. Hanselmeier, Josef: »Alfred Adler«, NDB, Bd. 1, 1953, S. 58. 30 Wilhelm Stern, der 1933 in die USA emigrieren musste, schlug 1914 eine quantifizierbare Skala vor, mit der das natürliche Alter des Kindes mit seinem »Intelligenzalter« in Beziehung gesetzt werden konnte. Stern legte für das »normale« Kind einen Quotienten von 1.0 fest. 31 Fechners Buch »Elemente der Psychophysik« veranlasste Ebbinghaus, die psychophysikalischen Methoden auf Gedächtnisleistungen anzuwenden. Er publizierte 1885 das Buch »Über das Gedächtnis«. In dieser Pionierschrift der experimentellen Psychologie konnte er u.a. für das Gedächtnis folgendes Gesetz feststellen: »Die Quotienten aus Behaltenem und Vergessenem verhalten sich etwa umgekehrt wie die Logarithmen der verstrichenen Zeit.« Er hielt die Zerlegung des Bewusstseins in entsprechende berechenbare Elemente für notwendig. Seiner Meinung nach gab es keine

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der erste Lerntheoretiker. Aus den USA kommend gewann der von John B. Watson (1878-1958)32 entwickelte Behaviorismus enormen Einfluss auf psychologische Theorien der Verhaltens- und Intelligenzentwicklung. Edward Lee Thorndike (1874-1949)33 führte das Trial-and-Error-Vorgehen in die experimentelle Psychologie ein. Der Franzose Alfred Binet (1857-1911) befasste sich mit der kindlichen Intelligenz- und Moralentwicklung34 und dem Phänomen der multiplen Persönlichkeit.

einfachen Willensakte, sondern nur Kombinationen von Empfindung bzw. Vorstellung und Gefühl. http://www.ngfg.com/texte/br006.htm vom 20.2.2012. 32 Der in South Carolina geborene Watson hatte mit Beginn seiner akademischen Laufbahn bereits Interesse an vergleichender Psychologie und tierexperimenteller Forschung gezeigt, so dass er seine Dissertation über die Entwicklung des Nervensystems der weißen Ratte schrieb. Von 1903 bis 1920 forschte er an der Johns Hopkins University, um danach zur Werbefirma J. Walter Thompson Agency in New York zu wechseln. Watson entwickelte die radikalste Form des Behaviorismus, die ausschließlich das Ziel verfolgte, menschliches Verhalten vorherzusagen, Gefühle zu konditionieren und zu kontrollieren. Vgl. http://www.muskingum.edu/~psych/psycweb/history /watson.htm vom 13.3.2012. 33 Thorndike stammte aus einer Methodistenfamilie in Williamsburg/Mass., USA. Als hochbegabter Schüler konnte an der Harvard University studieren und an der Columbia University promovieren, an der er auch Zeit seines Lebens als Professor für Psychologie lehrte. Er befasste sich ausschließlich mit lerntheoretischen Fragen. Dabei orientierten sich seine Überlegungen am Reiz-Reaktions-Modell. Bekannt geworden sind die von ihm formulierten Gesetzmäßigkeiten über den Lernerfolg (wie z.B. Belohnung, Vermeidung, Wiederholung), die er vor allem aus Tierversuchen experimentell gewonnen hatte. Vgl. Jonçich, Geraldine: The Sane Positivist. A Biography of Edward L. Thorndike, Middletown/CT: Wesleyan Univ. Press 1968. 34 Ab 1904 entwickelte Alfred Binet Testserien, um das sogenannte individuelle Intelligenzalter von Kindern zu ermitteln. Mit einer Reihe von einfachen Tests sollten Unterschiede in Gedächtnis, Konzentrationsfähigkeit, Satzverständnis und moralischer Urteilskraft bestimmt werden. Dabei fiel Binet und seinem Mitarbeiter Simon auf, dass die Entwicklung der geistigen Anlagen schon im Kleinkindalter beeinträchtigt werden kann, wenn sie unter äußerster Armut, fehlender Zuwendung und extrem eingeschränkten Spiel- und Bewegungsmöglichkeiten aufwachsen. Ursprünglich von Binet aufgestellt, um Entwicklungsrückstände feststellen zu können, wurden seine Testreihen von Lewis Terman umgearbeitet und bereits während des Ersten Weltkriegs von der US-Armee eingesetzt, um Soldaten auf ihre intellektuellen Leistungsfähigkeiten zu untersuchen (Stanford-Binet-Test). Die von Lewis Terman 1916 entwickelte

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Neben der Psychoanalyse und der Intelligenzforschung entstand um 1900 die Wahrnehmungspsychologie, die von Max Wertheimer (1880-1943) und Wolfgang Köhler (1887-1967) vertreten wurde35 und auf deren Grundlage sich die Gestaltpsychologie entwickelte. Gleichzeitig diskutierte man den Behaviorismus als Erklärungsmodell für menschliches Verhalten. Ziel der Behavioristen war, wie es John B. Watson (1878-1958) in seinem Artikel 1913 »Psychology as a Behaviorist View«36 formulierte, dass die Psychologie ein vollkommener objektiver experimenteller Zweig der Naturwissenschaft sei. Das wissenschaftliche Ziel für den Behavioristen ist die Vorhersage und Überprüfung von Verhalten mit der wichtigen Festlegung, dass »bei dem Bemühen, ein einheitliches Bild der Reaktionen von Lebewesen zu gewinnen, der Behaviorist keine Trennungslinie zwischen Mensch und Tier an[erkennt].«37 Zeitgleich zum Behaviorismus fand die von Ludwig Klages (1852-1956) um 1900 begründete Graphologie und dynamische Charakterologie großes Interesse, um Aussagen über die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen zu gewinnen. Dieses Konzept wurde 50 Jahre später von dem Psychotherapeuten Carl Rogers (1902-1987) zur personenzentrierten Psychologie ausdifferenziert. D.h. die unterschiedlichen, das 20. Jahrhundert prägenden Richtungen der Psychologie traten von Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Anspruch oder der Hoffnung auf, fundierte Aussagen über seelisches Empfinden und die richtige oder fehlgeleitete Entwicklung des Verhaltens des Menschen zu liefern, um auf deren theoretischen Grundlagen rationale Therapien von Abweichungen oder Auffälligkeiten zu entwickeln. Selbst die Klinische Psychologie, die eigene Methoden zur Behandlung von Störungen des Erlebens und Verhaltens entwickelte, entstand an der Wende zum 20. Jahrhundert. Die von James McKeen Cattel (1860-1944)38 eingeführte diagnostische Methode des mental test diente

»Stanford-Revision und Erweiterung der Binet-Simon-Tests« lieferte die Grundlage für die noch heute gebräuchlichen IQ-Tests. http://www.personenlexikon.net/d/alfredbinet/alfred-binet.htm vom 29.2.2012. 35 Zu Köhlers Widerstand bei der Nazifizierung des Berliner Psychologischen Instituts vgl. Ebisch, Sven: »Was kam nach der Gestaltpsychologie. Das Berliner Psychologische Institut 1935-1945«, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 14 (2011), S. 167187. 36 Watson, John B.: »Psychology as the Behaviorist Views it«, in: Psychological Review (20) 1913, S. 158-177. 37 Zit. nach H. Lück: 100 Jahre, S. 6. 38 James McKeen Cattel (1860-1944) studierte bei Rudolf Hermann Lotze an der Universität Göttingen und bei Wilhelm Wundt an der Universität Leipzig und setzte

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vornehmlich zur Beratung von Therapie- und Rehabilitationsmaßnahmen für schwach begabte Kinder. Daraus entwickelte sich die Reihe von Persönlichkeitstests, die heute bei unterschiedlichsten Lebenssituationen angewendet werden. Psychotherapeutische Konzepte Eine medizinisch-psychologisch rationale Therapie, die sich über eine gezielte Beeinflussung des seelischen Empfindens und des Verhaltens eine gesundheitliche Verbesserung erhoffte, ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Die Sonderrolle der Psychologie, die Wilhelm Wundt dieser um 1900 innerhalb der Wissenschaften zuwies, wurde auch für die Bedeutung der »Therapie der Seele« eingefordert. Die weitgesteckten Ziele, die mit der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Psyche des Menschen und deren therapeutische Rückführung hin zur »Normalität« verbunden wurden, äußerte C.G. Jung bereits 1929, als er für die Psychologie den Anspruch erhob, »Allgemeingut« zu werden, da bereits ihre »vorangegangenen Stufen […] jede für sich schon Träger einer allgemeingültigen Wahrheit« seien39. Zu den für das 20. Jahrhundert bedeutenden Psychotherapeuten gehören z.B. die Kinderpsychologin Charlotte Bühler (1893-1974)40, die mit ihrem Mann,

sein Philosophiestudium an der Johns-Hopkins-Universität/USA fort. Er wurde erster Assistent Wilhelm Wundts und promovierte dort 1886. Einige Zeit forschte er gemeinsam mit Francis Galton in London. 1888 wurde er der erste Professor für Psychologie in den USA an der University of Pennsylvania in Philadelphia. 1891 bis 1917 war er Professor für Psychologie, Anthropologie und Philosophie an der Columbia University, wo er mit seinem Schüler Edward Thorndike zusammenarbeitete. http://www.indiana.edu/~intell/jcattell.shtml vom 23.2.2012. 39 Jung, Carl Gustav: »Die Probleme der modernen Psychotherapie«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 16, Zürich/Stuttgart: Rascher, S. 57-81, hier S. 81. 40 Charlotte Bühler gilt als eine der bedeutenden Kinder- und Jugendpsychologinnen. Sie gehörte zu den ersten Wissenschaftlerinnen, die unmittelbar nach der Zulassung von Frauen zur Habilitation 1920 – zwei Jahre nach der Promotion – an der TH Dresden habilitierte. 1922 folgte sie ihrem Mann ans Wiener Psychologische Institut, wo sie 1923 eine Lehrberechtigung für die Universität Wien erhielt und 1929 zur außerordentlichen Professorin ernannt wurde. Nach der Emigration über Norwegen in die USA arbeitete sie in unterschiedlichen Positionen als Psychologin in Minneapolis, Los Angeles und an der University of South California. Nach der Emeritierung kehrte sie 1971 nach Deutschland zurück. Ihr Mann Karl Bühler studierte Medizin, promovierte 1904 zum Dr. phil. bei Clemens Bäumker an der Universität Straßburg.

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dem Sprachpsychologen Karl Bühler (1879-1963), bis zu ihrer Emigration 1938 das Wiener Psychologische Institut leitete41. Victor Frankl (1905-1997), der als einziger seiner Familie das KZ überlebte, wurde einer der bekanntesten Psychotherapeuten des 20. Jahrhunderts.42 In Wien wurde Hans Seyle (1907-1982) geboren, der seit 1929 in Kanada als Kliniker arbeitete und 1936 den Begriff Stress für die positive Aktivierung (Eustress) und negative Überforderung (Disstress) in die medizinische und psychologische Forschung einführte. 1909 war das Geburtsjahr von Alexander Mitscherlich (1909-1982), dessen philoso-

Er wurde Assistent bei von Kries in Freiburg sowie bei Oswald Külpe in Würzburg und habilitierte über »Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge«. 1916 heiratete er Charlotte Malachowski. Nach einer Professur in Dresden wurde er 1922 als Lehrstuhlinhaber des Psychologischen Instituts an die Universität Wien berufen. Nach der Emigration wurde er 1940 zum Professor an der Universität in Minnesota ernannt und war von 1945 bis 1955 Professor der Psychiatrie an der University of Southern California, Los Angeles. Vgl. Probst, Ernst: Charlotte Bühler. Die Wegbereiterin der humanistischen Psychologie. http://www.medkolleg.de/charlotte_buehler.html vom 29.2.2012. 41 Von den Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Psychologie emigrieren nach 1933 14 Prozent. Unter ihnen waren führende Vertreter und Nachwuchswissenschaftler, so z.B. Walter Blumenfeld (1882-1967), Karl Bühler (1879-1963) und Charlotte Bühler (1893-1974), Karl Duncker (1903-1940), Adhemar Gelb (1887-1936), David Katz (1884-1953) und Rosa Katz (1885-1962), Wolfgang Köhler (1887-1967), Kurt Lewin (1890-1947), Wilhelm Peters (1880-1963), William Stern (1871-1938), Clara Stern (1878-1947), Emil Utiz (1883-1956), Egon Weigl (1902-1979), Heinz Werner (1890-1964) und Max Wertheimer (1880-1943). Einige Psychologen wurden in den Selbstmord getrieben, so z.B. Otto Lipmann (1880-1933) und Martha Muchow (18921933). Andere gingen in den Widerstand und wurden in Zuchthäuser und Konzentrationslager inhaftiert, wie z.B. Curt Bondy (1894 -1972), der nach dem Krieg an der Universität Hamburg als Professor für Kinderpsychologie lehrte und Heinrich Düker (1898-1986), der nach dem Krieg an der Universität Göttingen und Marburg als Professor für Arbeitspsychologie lehrte. Vgl. H. Lück, 100 Jahre. 42 Viktor Frankl wurde am 26.3.1905 in Wien geboren. Frankl begründete die Logotherapie und Existenzanalyse, die von ihm selbst als dritte Wiener Richtung neben der Psychoanalyse Freuds und der Individualpsychologie Adlers bezeichnet wurde. Frankl überlebte das Konzentrationslager Auschwitz, wo seine Eltern und sein Bruder ermordet wurden. Ein Kerngedanke seiner Therapie und Philosophie war die Überzeugung, dass Heilung durch Sinnfindung möglich ist. Zur Biografie Frankls vgl. u.a. Längle, Alfried: Viktor Frankl – Ein Porträt, München: Piper 1998.

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phische und psychoanalytische Auseinandersetzungen mit den Nürnberger Ärzteprozessen und deren Nachwirkungen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft für die Generation von 1968 von besonderer Bedeutung sein sollte. Hinsichtlich der Psychotherapie ist man unweigerlich mit einer Definitionsproblematik konfrontiert. Lässt sich Psychologie als die Lehre von dem seelischen Verhalten bezeichnen bzw. als eine Disziplin beschreiben, die sich mit den Bedingungen beschäftigt, welche dem Verhalten und Erleben zugrunde liegen, so bedient sich Psychiatrie zwar auch der psychologischen Methoden zur Diagnose: Sie selber versteht sich als eine der Medizin zuzuordnende Wissenschaft, die eine klinische Sicht auf krankhafte »abnorme« Seelenzustände einnimmt. Hingegen wurde der Begriff Psychotherapie bereits Anfang des 20. Jahrhundert recht unspezifisch verwandt und bezeichnete recht unterschiedliche Therapien wie Psychoanalyse, Hypnose oder Suggestionsverfahren. Folglich ist die resignierende Bemerkung Kiernans von 1976 nachvollziehbar: »[F]ür Laien wie für Fachleute ist [die Psychotherapie, BL] ein Irrgarten unterschiedlichster, zum Teil unvereinbarer Theorien, Prinzipien, Methoden und Techniken«43. 1978 definierte Strozka, die Psychotherapie sei ein »bewusster und geplanter interaktioneller Prozess zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen, die in einem Konsensus (möglichst zwischen Patient, Therapeut und Bezugsgruppe) für behandlungsbedürftig gehalten werden, mit psychologischen Mitteln (durch Kommunikation) meist verbal aber auch averbal, in Richtung auf ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel (Symptomminimalisierung und/oder Strukturänderung der Persönlichkeit) mittels lehrbarer Techniken auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens.«44

Eingesetzt wurden psychotherapeutische Behandlungen45 vornehmlich für neurotische Verhaltensweisen. Hatte die Behandlung der Neurosen seit Freud immer

43 Kiernan, Thomas: Psychotherapie. Kritischer Führer durch Theorien und Praktiken, Frankfurt a.M.: Fischer 1976, S. 15. 44 Strotzka, Hans (Hg.): Psychotherapie. München u.a.: Urban & Schwarzenberg 21978, S. 4. 45 Seit den 1950er Jahren gibt es die »Lindauer Psychotherapiewochen« für die Weiterbildung. Erst seit 1970 ist in Deutschland Psychotherapie integrierter Teil der ärztlichen Ausbildung und wurde 1971 mit Einschränkungen Pflichtleistung der GKV. Vgl.: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 19, Mannheim: Bibliographisches Institut 1977, S. 375.

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im Zentrum des Interesses der neuen psychoanalytischen Theorien gestanden46, so konkurrierten ab der Mitte des 20. Jahrhunderts die unterschiedlichen psychologischen Modelle miteinander, um eine rationale Erklärung der Entwicklung hin zu einer neurotischen Persönlichkeit abzuleiten, die dann zu einer in sich schlüssigen Therapie der Neurose führen sollte.47 Konkurrierend standen sich in der Erklärung und der Therapie vor allem der psychoanalytische48 und der verhaltenstherapeutische Ansatz gegenüber: »Nach der psychoanalytischen Doktrin gibt es einen im Unbewußten lokalisierten psychischen Komplex, der allen manifesten neurotischen Symptomen zugrunde liegt; daraus folgt die Notwendigkeit einer Therapie des Psychischen. Nach der Lerntheorie haben wir es mit unangepaßtem Verhalten zu tun, das auf bestimmte Reizklassen konditioniert

46 Das Lexikon der Psychologie bietet als Definition an: »Neurose, Sammelbegriff für eine Vielzahl von psychischen Störungen und Erscheinungsformen, deren Ursachen je nach psychologischer Richtung (z.B. Psychoanalyse, Lerntheorie) uneinheitlich gesucht werden. In deutlichem Gegensatz zur vorherrschenden psychiatrischen Schulmeinung nahm z.B. Freud bei psychischen Erkrankungen statt der Ätiologie einer hereditären Disposition psychogene Mechanismen, wie die aktualisierte Erinnerung an ein reales sexuelles Trauma, an. Wenige Jahre später revidierte er jedoch diese Verführungstheorie und führte stattdessen das Konzept der kindlichen Phantasie ein, deren Verdrängung fortan als pathogen für die spätere Entstehung von Neurosen galt«. http://www.bdp-verband.de/psychologie/glossar/neurose.shtml vom 23.02.2012. 47 Vgl. zur Vielfalt der Erklärungsmodelle Schäfer, Michael L.: Der Neurosebegriff. Ein Beitrag zu seiner historischen Entwicklung, München: Goldmann 1972. 48 Hans Jürgen Eysenck (1913-1997), der 1933 aus Deutschland geflohen war und in London an der Universität Psychologie lehrte, brachte die psychoanalytisch ausgerichteten Psychotherapeuten in besondere Erklärungsschwierigkeiten durch seine Metastudien (1952) über deren Erfolgsquote. Er berechnet aus der Abbruchrate und dem Behandlungsergebnis den Therapieerfolg. Eysenck stellte fest, dass im Mittel 44 bis 67 Prozent der Patienten nach einer langjährigen psychoanalytischen Therapie eine Besserung ihrer Symptome aufwiesen. Hingegen kam es in einem vergleichbaren Zeitraum in der Kontrollgruppe ohne Therapie bei ca. 72 Prozent zu einer spontanen Remissionsrate (d.h. ein spontanes Verschwinden der Symptome). Vgl. Eysenck, Hans-Jürgen/Rachman, Stanley: Neurosen. Ursachen und Heilmethoden. Einführung in die moderne Verhaltenstherapie, Berlin: VEB-Verlag 1967, S. 246-260. Später vertrat Eysenck krude Theorien über Intelligenz und Rasse, was man ihm verübelte. Vgl. »Scientist or showman?«, in: The Guardian vom 12.7.1997, http://mg.co.za/article/ 1997-09-12-scientist-or-showman vom 8.7.2012.

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worden ist, dabei bleiben irgendwelche den Störungen zugrunde liegende Komplexe in der Psyche unberücksichtigt. Es überrascht deshalb nicht, dass die Psychoanalytiker psychologische Methoden einschließlich der Sprache bevorzugen, während die Verhaltenstherapie sich auf das tatsächliche Verhalten konzentriert, da von ihm aus die Löschung unangepaßter bedingter Reaktionen am ehesten zu erreichen ist.«49

Ein anschauliches Beispiel, wie auslösende Bedingungen eines auffälligen Verhaltens aus Sicht der Psychiater bzw. der Psychotherapeuten verschieden interpretiert werden können, gab Alexander Mitscherlich 1977 mit Bezug auf die unterschiedliche Sichtweise einer Phobie (Klaustrophobie) in Kombination mit somatischen Beschwerden (in diesem Fall eines Nesselfiebers): Hatte man Ende des 19. Jahrhunderts sogenannte hysterische bzw. neurotische Verhaltensweisen als funktionelle Nervenkrankheit interpretiert und in Folge dessen als psychiatrische Erkrankung für kaum heilbar betrachtet, so wurde durch die Psychoanalyse der zugrundeliegende unbewusst gewordene Konflikt, der hinter den somatischen Beschwerden liegt – in diesem Fall die Klaustrophobie – analysierbar und deshalb auch behandel- und potentiell heilbar. In der naturwissenschaftlichen (medizinischen) Sicht einer psychiatrischen Erkrankung – so Mitscherlich – wird nach dem Kausalzusammenhang von Erscheinung und zugrundeliegender somatischer Veränderung gesucht. In der psychoanalytischen Betrachtung wird nach dem Sinnzusammenhang einer somatischen Erscheinung für die Lösung eines ungelösten Konflikts gesucht.50 Daraus folgt, dass es unterschiedliche Grundannahmen gab, wie Psychologen einerseits und Psychiater andererseits »aus der Norm« fallendes Verhalten behandeln wollten.51

49 H.J. Eysenck/S. Rachman: Neurosen, S. 21-22. 50 Vgl. Mitscherlich, Alexander: »Aus dem Alltag der Psychoanalyse. Stichwort: unbewußt«, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 19, Mannheim: Bibliographisches Institut 1977, S. 363-367, hier S. 366. 51 Von der Professionsseite her gab es einen langen und vehementen Streit zwischen Psychiatern und Ärzten mit Zusatzausbildung auf der einen Seite sowie klinischen Psychologen und Psychotherapeuten auf der anderen Seite hinsichtlich der Frage, ob Ärzte und Psychologen solche Patienten gleichberechtigt behandeln und dieses bei den Krankenkassen als medizinisch-therapeutische Maßnahme abrechnen dürften. Erst 1998 wurde das Psychotherapeutengesetz erlassen, welches am 1.1.1999 in Kraft trat, das neben entsprechenden Fachärzten auch approbierten Psychologen erlaubt, heilkundliche Psychotherapien als Kassenleistung durchzuführen. Vgl. Gesetz über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendli-

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Aus Sicht der Behandler sollte jedwede Form einer psychotherapeutischen Intervention nur eingesetzt werden, wenn seitens des Betroffenen der Wunsch nach Veränderung vorliegt und das als störend empfundene Verhalten behandelt werden sollte. Hier offenbart sich ein bedeutsamer Gegensatz zur Psychiatrie. Die Einweisung der Patienten durch Ärzte und/oder Familienangehörige in eine psychiatrische Anstalt sollte erfolgen, wenn keine oder nur eine eingeschränkte Krankheitseinsicht bestand. Durch die dort durchgeführten therapeutischen Maßnahmen oder durch die Anwendung von Psychopharmaka erhoffte man die Lösung bzw. eine Abschwächung des Problems.

P SYCHOTHERAPIE

IN DER

N ACHKRIEGSZEIT »Mensch, mach Dich nicht verrückt, sagte Nottker. Was heißt denn Neurose in dieser neurotischen Gesellschaft. Diese Gesellschaft erklärt jeden für krank, der sich nicht dem Leistungsprinzip unterwirft. Diese Gesellschaft sei krank, verkrüppelt sind Sinnlichkeit, Zärtlichkeit und Spontanität […].«52

Für uns stellt sich nunmehr die Frage, wie die Inanspruchnahme von den bereits in den 1920er Jahren entwickelten unterschiedlichen psychotherapeutischen Behandlungsansätzen für im Leben explizit beeinträchtigte oder kranke Menschen in den 1960er Jahren Teil des Alltagslebens wurden und sich eine neue Generation anschickte, sich und ihr Leben selbst als behandlungsbedürftig zu deuten. Nachdem Reflexlehre53, Behaviorismus und besonders die Psychoanalyse in je eigener Sicht davon überzeugt waren, dass mit den unterschiedlichen theoretischen Überlegungen wichtige Hinweise auf die Entstehung von neurotischem Verhalten gegeben worden seien, wurden zur Beseitigung – dem »Verlernen« –

chenpsychotherapeuten – PsychThG. http://www.gesetze-im-internet.de/psychthg/BJ NR131110998.html vom 14.3.2012. 52 Timm, Uwe: Heißer Sommer, München: dtv 82010, S. 267. 53 Vgl. Blasius, Walter: »Zur Geschichte der Reflexlehre unter besonderer Würdigung des Beitrages von Paul Hoffmann«, in: Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde 186 (1965), S. 475-495; Canguilhem, Georges: Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert, München: Wilhelm Fink 2008.

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von Symptomen bereits in den 1920er Jahren lerntheoretische Ansätze genutzt.54 Karen Horney (1885-1952), Mutter der berühmten Schauspielerin Brigitte Horney, hatte 1937 ihr Buch »The neurotic personality of our time« veröffentlicht, das 1951 in der Bundesrepublik unter dem Titel »Der neurotische Mensch unserer Zeit« ein Bestseller werden sollte. Darin konstatiert Horney: »Wie unübersichtlich auch die Struktur einer Neurose sein mag, die Angst ist der Motor, der den neurotischen Prozess in Gange setzt und in Bewegung hält […]. Es gibt vier Hauptwege in unserer Kultur der Angst zu entfliehen: sie zu rationalisieren, sie zu leugnen, sie zu betäuben und Gedanken, Gefühle, Triebe und Situationen zu meiden, die sie erregen könnten«.55

Horney hatte sich mit der durch das soziale Umfeld bedingten Entstehung von neurotischen Verhaltensweisen auseinandergesetzt – wobei sie besonders den elterlichen Konflikten großen Einfluss auf die neurotische Entwicklung von Kindern zumaß. Damit hatte sie die Neurose oder das neurotische Verhalten als nicht ausschließlich der Individualgeschichte und/oder somatischen Veränderung zuzuschreibende Fehlentwicklung erfasst, sondern auch als von kulturellen und sozialen Bedingungen beeinflusste Verhaltensentwicklung.56 In Horneys Ana-

54 Martin Hautzinger schreibt bezüglich der Vorläufer der Verhaltenstherapie: »In der Tradition Pawlows haben in den 1920er Jahren Watson und Rayner ein ethisch fragwürdiges Experiment mit dem kleinen Albert durchgeführt. Sie brachten Albert Furcht vor Pelztieren und fellüberzogenen Gegenständen bei. In einem Folgeexperiment mit dem kleinen Peter konnte Cover-Jones dann nicht nur zeigen, dass Ängste durch klassisches Konditionieren erworben werden, sondern auch wieder gelöscht (verlernt, extinkiert) werden können. In Verbindung mit Arbeiten von Bechterew aus Pawlows Labor in den 30er-Jahren sowie Mowrer, Dollard und Miller in den 40er-Jahren liegen hier die Vorläufer der Verhaltenstherapie, wie sie dann in den 50er-Jahren von Wolpe, Lazarus und Eysenck ausformuliert wurden.« Hautzinger, Martin: Geschichte und Entwicklung der Psychotherapie, Heidelberg: Springer 32007, S. 11. Die Aktualität dieses Verfahrens zeigt sich darin, dass man es heute u.a. zum »Verlernen« von Tics beim Tourette-Syndrom anzuwenden versucht. Vgl. z.B. Müller-Vahl, Kirsten R.: Tourette-Syndrom und andere Tic-Erkrankungen im Kindes- und Erwachsenenalter, Berlin: Medizinisch-Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2010. 55 Horney, Karen: Der neurotische Mensch unserer Zeit, München: Kindler 1951, S.1617 und S. 31. 56 Hier zeigen sich deutliche Parallelen zu einer Begründung von Krankheiten durch das Umfeld sowie die sozialen Bedingungen. Dieser Ansatz wurde Anfang des 20.

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lyse des familiär bedingten neurotischen Verhaltens sehe ich einen der vielen Bausteine zu meiner These, warum in den 1960er Jahren die Normalität des Unglücklichseins gesellschaftliche Breitenwirkung entfaltete. Bedeutung kommt auch der 1951 von Carl R. Rogers (1902-1987) vorgestellten klientenzentrierten oder nicht-direktiven Therapie zu, die von der Psychoanalyse beeinflusst war und das Bedürfnis des Menschen nach Anerkennung und Erfüllung seiner Bedürfnisse in den Vordergrund stellte.57 Diese therapeutische Intervention ging von der Annahme aus, dass die jeweiligen Ziele und Bedürfnisse nur der Klient/Patient in sich selbst finden könne. Bei der so praktizierten Gesprächstherapie war die Aufgabe des Therapeuten, emotionale Wärme, Echtheit und einfühlendes Verstehen zu entwickeln und sich jeglicher lenkenden Maßnahmen zu enthalten.58 Carl Rogers gehörte der psychotherapeutischen Richtung der Humanistischen Psychologie an, die in ihrer Grundhaltung optimistischer als die Psychoanalyse war. Die Humanistischen Psychologen waren von der Möglichkeit der Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung des Individuums überzeugt. Sie glaubten an das Heilsame von Wiedererleben und Bewusstmachen von die persönliche Entfaltung einschränkenden Erfahrungen. Im Kontext der Humanistischen Psychologie am berühmten Esalner Institut59

Jahrhunderts von Alfred Grothjan zum Konzept der sozialen Pathologie (sozialen Hygiene) ausgebaut. Vgl. dazu Stöckel, Sigrid: »Gesundheitsfürsorge – von der Armenpflege zur Profession«, in: Sigrid Stöckel/Ulla Walter (Hg.), Prävention im 20. Jahrhundert: Historische Grundlagen und aktuelle Entwicklungen in Deutschland, Weinheim: Beltz/Juventa 2002, S. 66-77. 57 Zur Biografie von Rogers vgl.: Schmid, Peter F.: Carl Rogers 1902-1987. Ein biographischer Abriss, Würzburg: Echter 21995, S. 76-90. 58 Die Gesprächstherapie hatte erheblichen Einfluss auf die Entwicklung von Gruppentherapien, Beratungsformen und auf die Pädagogik. 59 Gegründet wurde das Institut 1962 von Michael Murphy und Dick Price, die sich seit ihrer Studienzeit in Stanfort kannten. Price studierte Psychologie und Murphy befasste sich mit indischer Religionswissenschaft. Das Grundstück des Esalen-Instituts in Big Sur/Californien stammte aus dem Familienbesitz von Murphy. In Big Sur trafen sich viele Vertreter der Humanistischen Psychologie u.a. Carl Rogers, Virginia Satir, aber auch z.B. Gregory Bateson, Joan Baez, Arnold Toynbee, der Theologe Paul Tillich, Linus Pauling, B.F. Skinner und Timothy Leary. Zur Geschichte des Esalen-Instituts vgl. z.B. Anderson, Walter Truett: The upstart spring: Esalen and the American awakening, Reading/Mass.: Addison-Wesley 1983.

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wurde in den 1950er Jahren die Gestalttherapie entwickelt60, die gerade in den 1960er und 1970er Jahren in Deutschland äußerste Attraktivität entfaltete. Der Begründer der Gestalttherapie, Fritz Perls61, beschrieb das Konzept der Vertreter der Humanistischen Psychologen wie folgt: »Wir graben nicht in einem Bereich, über den wir nichts wissen, im sogenannten Unbewussten. Es ist alles da, wenn du lernst, den Inhalt der Sätze nur die zweite Geige spielen zu lassen […] es ist so viel unschätzbares Material vorhanden, dass wir nichts anders zu tun brauchen, als zu Offensichtlichkeiten, zur äußersten Oberfläche zu greifen und es dem Patienten wiederzugeben, damit es ihm bewusst wird […]. Wir haben es also ziemlich leicht, verglichen mit den Psychoanalytikern, weil wir das ganze Sein eines Menschen unmittelbar vor uns haben«.62

Diese spezielle Ausrichtung der Psychologie bildete die Grundlage der 1961 gegründeten American Association of Humanistic Psychology, die diese Form der Psychologie als dritte Kraft der Psychologie verstand. Diese dritte Kraft grenzte sich sowohl vom Behaviorismus als auch von der Psychoanalyse ab. Zu deren Vertretern gehören u.a.: Abraham Maslow, Charlotte Bühler, Carl Rogers und Fritz Perls, aber auch die bereits genannte Karen Horney. Unter den Gründungsmitgliedern befanden sich viele europäische Emigranten und viele Angehörige, die dem Judentum verbunden waren. Diese Vertreter einer humanistischen Psychologie wollten eine Psychologie entwickeln, die »das aktive Streben des Menschen nach einem erfüllten Leben, nach Anerkennung und

60 Perls, Frederick S./Hefferline, Ralph F./Goodman, Paul: Gestalt-Therapie. Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung, Stuttgart: Klett-Cotta 1979. 61 Die Begründer der Gestalttherapie Fritz und Laura Perls, geb. Posner, lernten sich 1926 bei einer Veranstaltung des Neurologen Kurt Goldstein und des Gestaltpsychologen Adhémar Gelb in Frankfurt a.M. kennen. Fritz Perls war zu der Zeit Assistent bei Kurt Goldstein und bereits in psychoanalytischer Ausbildung. Goldstein musste 1933 über die Niederlande in die USA emigrieren. Lore Posner war Gestaltpsychologin, Gelb ihr Doktorvater. Sie begann 1926 ihre psychoanalytische Ausbildung. 1933 musste das Ehepaar Perls zusammen mit ihrer Tochter Renate vor den Nationalsozialisten fliehen. Nach einem kurzen Aufenthalt in den Niederlanden gingen sie endgültig nach Südafrika ins Exil. Hier begannen sie mit der gemeinsamen Arbeit an dem Buch »Das Ich, der Hunger und die Aggression«, das 1944 erschien und erstmalig das gestalttherapeutische Konzept beschrieb, auch wenn es noch nicht den Namen Gestalttherapie enthielt. http://www.gestalt.org/fritz.htm vom 22.2.2012. 62 Perls, Fritz: Gestalt-Therapie in Aktion, Stuttgart: Klett-Cotta 1976, S. 61-62.

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Selbstverwirklichung« in den Mittelpunkt stellte. Rogers ging z.B. davon aus, dass der Mensch von Natur aus gut sei und über Selbstheilungskräfte verfüge. Charlotte Bühler war davon überzeugt, dass der Mensch nach einem erfüllten Leben strebt, Abraham Maslow (1908-1970)63 sah dies für das Streben nach Selbstverwirklichung, was Karen Horney als einen der Schlüsselbegriffe für eine »nicht neurotische« Persönlichkeitsentwicklung interpretierte64. Die neueren Strömungen in der Psychologie und Psychotherapie der Nachkriegszeit befanden sich in einer bemerkenswerten Kontraststellung zur akademischen Psychologie. Auf der universitären Seite boomte die behavioristischlerntheoretische Sicht auf psychische Verhaltensweisen, die keine Trennlinie zwischen Mensch und Tier annahm – was Arthur Koestler zu folgender sarkastischer Aussage brachte: »Der ›zynische Betrachter‹ könnte nun mit Recht fragen: Wenn geistig-seelische Vorgänge vom Studium der Psychologie ausgeschlossen werden sollen, was bleibt dann für den Psychologen überhaupt noch als Studienobjekt übrig? Die Antwort lautet kurz und bündig: die Ratten.«65

63 Maslow ist insbesondere durch die nach ihm benannte Bedürfnispyramide bekannt geworden, die ein Entwicklungsmodell der Hierarchie menschlicher Bedürfnisse darstellt. 64 Folgende Thesen wurden von den humanistischen Psychologen vertreten: 1. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht die erlebende Person (nach theoretischen Erklärungen und sichtbarem Verhalten). 2. In der therapeutischen Situation liegt der Akzent auf spezifischen Eigenschaften wie der Fähigkeit zu wählen, Kreativität, Wertsetzung und Selbstverwirklichung. 3. Ein zentrales Anliegen ist die Aufrechterhaltung von Wert und Würde des Menschen. 4. In der Therapie konzentriert man sich auf die Entwicklung der jedem Menschen innewohnenden Kräfte und Fähigkeiten 5. Die Auswahl der Fragestellung und Forschungsmethoden erfolgt nach Sinnhaftigkeit (weniger nach Objektivität). Vgl. Wiltschkow, Johannes: Stichwort »Humanistische Psychologie«. http://www.visuellemeditation.de/daf/wp-content/uploads/WiltschkoHumPsy.pdf vom 29.2.2012. 65 A. Koestler: Gespenst, einsehbar unter http://www.irwish.de/Site/Biblio/Psychologie/ Koestler.htm. Gleiche Ideen wurden in den 1960er Jahren an deutschen Psychologischen Instituten verfolgt, wenn z.B. an Planarien (Strudelwürmer) experimentell erforscht werden sollte, ob sich Intelligenz »verfüttern« lässt. Dieses Beispiel beruht auf Erfahrungen der Autorin, die als studentische Hilfskraft am Psychologischen Institut der Universität Hamburg für die Arbeitsgruppe um Prof. Kurt Pawlik im Plöner See nach Planarien fischte.

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Auf der anderen Seite wurde seitens der Psychologen und/oder Psychiater nach den Möglichkeiten gesucht, wie sich die dem einzelnen Individuum innewohnenden verschütteten Fähigkeiten freilegen bzw. entwickeln lassen. Eingebettet waren beide Ansätze in die ewige, immer wieder mit Eifer verfolgte Antwort auf die Frage, ob das Verhalten des Menschen vorwiegend von seiner Anlage oder seiner Umwelt bestimmt werde, bzw. modern formuliert von seiner genetischen Disposition oder dem sozialen Umfeld.66

D AS Z AUBERWORT »S ELBSTERFAHRUNG « »[…] aber das Andere, was Du willst, das ist noch sehr fern. Nein, sagte Ulrich, und sprang auf, nein. Das ist das Nächste. Wenn wir uns nicht selbst ändern, was soll sich dann ändern?«67

Warum fanden es vorwiegend die Studenten und jüngeren Erwachsenen in den 1960er Jahren besonders attraktiv, Selbsterfahrungen auf der Grundlage unterschiedlicher psychotherapeutischer Verfahren zu suchen wie z.B. in Selbsterfahrungsgruppen, damals Encounter genannt, die sich an Carl Rogers’ und Arthur Janovs psychotherapeutischen Konzepten orientierten? In den 1960er Jahren wurde in Deutschland von dem bedeutenden Hamburger Psychologenehepaar Rainer und Annemarie Tausch nicht nur die Gesprächspsychotherapie Carl Rogers’ bekannt gemacht, sondern durch ihre Arbeiten zur pädagogischen Psychologie beeinflussten sie auch nachhaltig die Lehrerausbildung. Psychologen, Ärzte und Lehrer empfahlen eindringlich die Teilnahme an Selbsterfahrungsgruppen68, um später im Beruf ihren Schülern, Patienten oder Klienten

66 Wie folgenreich diese theoretischen Vorannahmen für menschliches Verhalten sein konnten, hat Svenja Goltermann im Zusammenhang mit Entschädigungsleistungen für Kriegsversehrte dargestellt. Vgl. Goltermann, Svenja: Die Gesellschaft der Überlebenden: Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg, München: DVA 2009, sowie ihr Beitrag in diesem Band. 67 U. Timm: Sommer, S. 247. 68 Persönliche Erfahrung der Autorin in den Vorlesungen und Seminaren von R. und A. Tausch während ihres Studiums.

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Empathie69 entgegen bringen zu können. Bekannt geworden sind neben Rogers klientenzentrierter Therapie u.a. die Janov‘sche Primärtherapie (UrschreiTherapie 1967), die in den 1950er Jahren begründete Gestalttherapie von Fritz und Laura Perls und die in den 1960er Jahren von der amerikanischen Familientherapeutin Virgina Satir entwickelte Familienskulptur, die in Deutschland in den 1980er Jahren von Bert Hellinger zur Familienaufstellung weiterentwickelt wurde. Alle diese Therapien wurden nicht nur von Psychologen und Psychologiestudenten aufgesucht, sondern in den entsprechenden Gruppensitzungen fanden sich Menschen aus unterschiedlichen Bereichen – anfänglich vornehmlich junge Akademiker – zusammen, um an einem Abend oder Wochenende dem Phänomen »Selbsterfahrung« nachzugehen. In den 1970er Jahren ist eine quantitative Zunahme therapeutischer Schulen, Verfahren, Einrichtungen sowie des therapierenden Personals und der Klienten zu verzeichnen. Zugleich wurden in immer neuen Settings70 Formen der »Selbsterfahrung« angeboten und von einer steigenden Zahl von Interessierten in Anspruch genommen. Negativ kommentiert wurde dieser Prozess in den 1970er Jahren u.a. mit dem Begriff »Psychokult«.71 Damit wurde nicht nur die bloße Verbreitung derartiger Praktiken, sondern auch die zunehmende gesellschaftliche Institutionalisierung skeptisch betrachtet. Es gehörte zu den langen Siebzigern dazu, »dass man vor einer Tendenz warnte, die die Mitglieder westlicher Gesellschaften via Therapeutisierung zunehmend unter die zwar sanfte,

69 In der Psychotherapie bezeichnet der Begriff Empathie eine Strategie der Stimmungsübertragung vom Patienten auf den Therapeuten. Dadurch ist es dem Therapeuten möglich, die Emotionen und die Stimmung des Patienten bei sich selbst zu erleben und somit besser zu verstehen. 70 Damit wird in der Psychologie die spezifische Gestaltung der Therapie erfasst wie z.B. Gruppen- oder

Einzeltherapie, Raumgestaltung, Interventionen seitens des

Therapeuten oder der Gruppe. 71 Dieser Begriff wurde seitens der christlichen Kirchen in die Diskussion gebracht und verknüpfte sich später mit Auseinandersetzungen um den Sektenkult, so dass von politischer Seite zum Schutz der Jugend entsprechende Beauftragte seitens der Landesregierungen ernannt wurden. Das Informations- und Dokumentationszentrum Sekten/ Psychokulte (IDZ) wurde 1984 als Einrichtung des Landes Nordrhein-Westfalen gegründet. 1992 erfolgte die Angliederung des IDZ an die Arbeitsgemeinschaft Kinder und Jugendschutz (AJS) Landesstelle NRW e.V. mit Sitz in Köln. Vgl. Endbericht der Enquete-Kommission »Sogenannte Sekten und Psychogruppen« vom 9.6.1998, Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/10950, http://medrum.de/files/ Bundestag-Enquete-Bericht-1998.pdf vom 8.7.2012.

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gleichwohl regulierende Kontrolle von Experten stellte, [um] so in der Form der ›Hilfe zur Selbsthilfe‹ permanente Selbstkontrolle auszuüben.«72 Selbsterfahrung und Nachkriegskonflikte Was war die Triebfeder, sich mit der eigenen Psyche und dem damit verbundenen Verhalten auseinanderzusetzen, aus eigenen Mitteln solche Sitzungen, Workshops und Wochenendseminare zu finanzieren, ohne dass ein Arzt dazu eine entsprechende Behandlung vorgeschlagen und verschrieben hätte? Im Folgenden möchte ich zu dieser Frage einige Thesen skizzieren. 1. Eine unabdingbare Voraussetzung war die besondere Situation der Generationen der Großeltern, Eltern und Kinder in der Nachkriegszeit und der jungen Bundesrepublik mit ihrer zeitgeschichtlich geprägten Mentalität, Moralität und Traumatisierung.73 Dass ein unausgesprochenes Gebot des Schweigens und Nicht-Wissens oder Nicht-davon-Betroffenseins von den nationalsozialistischen Verbrechen in der Bevölkerung existierte, ist in vielfältiger Weise thematisiert und historisch untersucht sowie vielfach belegt worden.74 Dieses Schweigen und Ignorieren hat – so die These – diesen Weg zur Normalität des Unglücklichseins entscheidend geprägt. Gegen alle Behauptungen in der Nachkriegszeit haben die meisten Erwachsenen und heranwachsenden Jugendlichen in den Jahren 1933 bis 1945 »gewusst«, dass Ausgrenzung, Verfolgung und Inhaftierung von sogenannten Minderwertigen,

72 S. Maasen: Therapiegesellschaft, S. 13-14. 73 Vgl. dazu auch die populärwissenschaftliche Darstellung von Bode, Sabine: Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter, Stuttgart: Klett-Cotta 2011. Zur Problematik von Patienten mit Traumatisierung aus der NS-Zeit: http:// www.dachau-institut.de/psychologie/psychotherapie_und_beratung/psychotherapie_ nationalsozialism.html vom 30.12.2011. 74 Mit diesem Schweigen wurden Kontinuitäten möglich, die mit den Personen transportiert wurden, die sozialisiert bzw. überzeugt von der NS-ideologischen Sicht auf Themen der Gesellschaft und der Wissenschaft etc. waren, so dass diese Personen ihre Ansichten und Auffassungen in die junge Bundesrepublik übertragen konnten. Das erste Mal in der wissenschaftshistorischen Forschung wurde die Kontinuitätshypothese gegenüber der beliebten Nachkriegs-Metapher »Stunde Null« thematisiert in: Mehrtens, Herbert/Richter, Steffen (Hg.): Naturwissenschaft, Technik und NS-Ideologie. Beitr. zur Wissenschaftsgeschichte des Dritten Reichs, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980.

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Fremdrassigen und Zwangsarbeitern stattgefunden hat75, wie durch die 2011 erstmalig publizierten Tagebücher des hessischen Justizinspektors Friedrich Kellner »Vernebelt, verdunkelt sind all ihre Hirne« verdeutlicht wurde.76 2. Der bewusste oder notwendige Versuch, wieder in eine Normalität nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges unter veränderten Voraussetzungen zu gelangen, beförderte die Bereitschaft zu schweigen, zu ignorieren und sich anzupassen. Die Eltern- und Großelterngeneration hatten die möglicherweise empfundene Scham oder das Entsetzen über die NS-Verbrechen soweit relativiert und dem Willen zur Verdrängung und zum Vergessen preisgegeben, um es dem eigenen aus der »Bahn geworfen sein« unterordnen zu können. Die Angst vor der Offenlegung der eigenen Rolle im nationalsozialistischen Staat beförderte zusätzlich das Verschweigen und eine nonverbale Verständigung unter den Erwachsenen darüber, dass man über sein Wissen über die jeweiligen Rollen in der Partei, der Wehrmacht, als Mitglied der SS oder der Waffen-SS schwieg.77 Viele waren durch individuell erlebte Schicksale von Tod und Vertreibung, Not und erlebter Gewalt und Überlebenskampf seelisch erschüttert, so dass die politisch motivierten Verbrechen als nicht existent uminterpretiert wurden oder werden mussten. Exemplarisch für dieses Phänomen mag die Äußerung von Peter Longerich stehen: »Nur wenige Deutsche waren bereit, sich den

75 Vgl. dazu u.a. Frisch, Max: Tagebücher 1946-1949, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1950; sowie die Untersuchungen von Bajohr, Frank/Pohl, Dieter: Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten, München: C.H. Beck 2006; Conze, Eckart et al.: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München: Blessing 2010, S. 15, S. 242. 76 Kellner, Friedrich: Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne. Tagebücher 1939-1945. Hg. von Feuchert, Sascha et al., 2 Bände, Göttingen: Wallstein 2011. 77 Ein extremes Beispiel dieses kollektiven Schweigens verbirgt sich hinter der Selbstanzeige des ehemaligen Germanistikprofessors (1964-1978) und Rektors der RWTH Aachen (1970-1973) Hans Schwerte am 24.4.1995. Schwerte gab ಥ bevor das niederländische Fernsehen eine Dokumentation zum Sachverhalt veröffentlichte ಥ zu, 1945 eine zweite Identität angenommen zu haben, nachdem er im »Dritten Reich« unter seinem richtigen Namen Hans Ernst Schneider als Hauptsturmführer der SS maßgeblich für den sogenannten »Germanischen Wissenschaftseinsatz« des SS-Ahnenerbes in den Niederlanden tätig gewesen war. http://www.archiv.rwth-aachen.de/Erinner ungskultur.pdf vom 28.1.2012. Ein prägnantes Beispiel ist auch Günter Grass’ Verschwiegenheit bezüglich seiner Aktivität in der Waffen-SS ab 1944, die in einem Interview vom 12. August 2006 in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« zum ersten Mal öffentlich wurde.

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grauenvollen Bildern aus den befreiten Konzentrationslagern auszusetzen und eigene Schuld zu bekennen. Die meisten reagierten mit einer erschreckenden Gefühlsstarre und jenem eingeübten Wegseh-Reflex.«78 3. Bezüglich der Frage nach Demokratisierung der deutschen Gesellschaft in den jeweiligen Besatzungszonen diskutierten Amerikaner und Briten die Möglichkeiten von Umerziehungsmaßnahmen. Auch war es für die remigrierten jüdischen Intellektuellen ein besonderes Anliegen, die deutsche Gesellschaft mit dem Holocaust zu konfrontieren, »denn sie [die jüdischen Intellektuellen, BL] waren überzeugt davon, dass andernfalls die moralische Entwicklung des Landes behindert werden würde.«79 Vor allem hoffte man, dass Schulen und Hochschulen Orte sein könnten, um hierarchische Strukturen und den Untertanen-Geist aufzubrechen.80 Allerdings stellte sich bald heraus, dass die kulturellen Prägungen so tief verwurzelt waren, dass man aneinander vorbeiredete. D.h. die verinnerlichten Erfahrungen, Werte und Haltungen, verbunden mit dem Wertesystem der Weimarer bzw. NS-Vergangenheit, hätten seitens der Deutschen in Frage

78 Zit. nach Ullrich, Volker: »Das offene Geheimnis – Peter Longerich untersucht ein heikles Kapitel unserer jüngeren Geschichte: Was wussten die Deutschen vom Holocaust?«, Die Zeit vom 20.4.2006, S. 45. Auf der im Dezember 2011 in der Evangelischen Akademie Tutzingen stattgefundenen Tagung zum Thema »Wie nationalsozialistisch waren die Deutschen« referierte Peter Longerich (London) über »›Davon haben wir nichts gewusst‹ – Reaktionen der Deutschen auf die antisemitische Propaganda«. Er konstatierte: »Das Regime versuchte, die Bevölkerung als Mitwisser und Mittäter zu instrumentalisieren und machte die Vernichtung der Juden ab 1943 in Wort und Bild öffentlich, so dass kein Deutscher ernstlich behaupten konnte, er habe ›nichts gewusst‹. Vielmehr habe sich die Bevölkerung hinter ›ostentativer Ahnungslosigkeit‹ verschanzt: Man wollte den Massenmord nicht emotional an sich heranlassen. Longerich spricht von einer ›Flucht in die Unwissenheit‹. Er kam insgesamt zu einer skeptischen Einschätzung, wie weit es dem Regime gelang, die Bevölkerung zu einem ideologischen Konsens, insbesondere mit der Vernichtung der Juden, zu bringen.« Zit. nach Lothar Schön: Tagungsbericht vom 25.2.2012, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4083 79 Vgl. Jewish Voice in Germany 2011, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/ id=16458. 80 Schleiermacher, Sabine: »Reformation oder Restauration? Vorschläge für das Medizinstudium in der amerikanischen und der sowjetischen Besatzungszone«, in: Rüdiger v. Bruch/Uta Gerhardt/Aleksandra Pawliczek (Hg.), Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Steiner 2006, S. 247-261.

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gestellt werden müssen. Wie dicht und verhaftetet diese Werte in den Köpfen der Überlebenden und der jungen Erwachsenen war, lässt sich daran ermessen, dass das von Johanna Haarer81 1934 verfasste Buch »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« noch bis in die 1980er Jahre Müttern zur Geburt ihres ersten Kindes geschenkt wurde – natürlich unter Auslassung offensichtlicher Bezüge auf NSTerminologie und Deutschtum.82 4. Die Alliierten waren von der Notwendigkeit überzeugt, die deutsche Bevölkerung mit den in ihrem direkten Umfeld begangenen Verbrechen zu konfrontieren. Dieses wurde als Erziehungsmaßnahme verstanden, damit die Deutschen – vermutlich im Sinne einer Konfrontationstherapie – ihre Untertanenmentalität aufgeben oder in lerntheoretisch-behavioristischer Sicht verlernen würden. Dass solche Maßnahmen mit dem Ziel des »Ausbruchs aus der Vergangenheit« für die gerade dem Krieg und der NS-Diktatur Entronnenen durchaus ambivalent waren, lässt sich an einem, meiner Generation83 unvergesslichen Erlebnis verdeutlichen: Möglicherweise von den jeweiligen Kommandanten in den westlichen Besatzungszonen oder von den jeweiligen Schulverantwortlichen angeordnet, sollte die heranwachsende Schülergeneration mit den Verbrechen der Nazi-Diktatur konfrontiert werden.84 Schülern mussten die Filme

81 Vgl. Warwas, Roman/Lohff, Brigitte: »›Man brauchte sich nicht umzustellen…‹ Die Monographien im J.F. Lehmanns Verlag von 1933-1945«, in: Sigrid Stöckel (Hg.), Die »rechte Nation« und ihr Verleger. Politik und Popularisierung im J.F. Lehmanns Verlag 1890-1979. Berlin: Lob.de ಥ Lehmanns Media 2002, S. 207-239, hier S. 229. 82 »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« erschien bis 1987 unter dem Titel »Die Mutter und ihr erstes Kind« und wurde unter Mitwirkung von Anna Hutzel, Tochter von Johanna Haarer, nach dem neuesten Stand überarbeitet, erweitert und herausgegeben. Die Gesamtauflage dieses Bestsellers betrug ca. 1,2 Millionen Exemplare, was den nach wie vor großen Bedarf an gynäkologischen und pädiatrischen Informationen bewies. Vgl. dazu Berger, Manfred: »Führende Frauen in sozialer Verantwortung: Johanna Haarer«, in: Christ und Bildung 7 (2005), S. 27; Chamberlain, Sigrid: Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, Gießen: Psychosozial-Verlag 2003. 83 Diese Erfahrung hat nicht nur die Autorin selber gemacht, sondern sie ist von vielen aus ihrer Generation bestätigt worden. 84 Im Punkt 7 der »politischen Grundsätze« der Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin vom 2.8.1945 (»Potsdamer Abkommen«) wurde festgelegt: »Das Erziehungswesen in Deutschland muß so überwacht werden, daß die nazistischen und militaristischen Lehren völlig entfernt werden und eine erfolgreiche Entwicklung der demokratischen Ideen möglich gemacht wird.« http://www.documentarchiv.de/in/ 1945/potsdamer-abkommen.html vom 10.8.2012. Eine genauere wissenschaftliche

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über die Befreiung der Konzentrationsleiter – in Niedersachsen von BergenBelsen – vorgeführt werden. Das Szenario war Mitte der 1950er Jahre wie folgt: Alle Schüler ab der fünften Klasse sollten sich in der letzten Stunde zu einer Filmvorführung in der Aula einfinden. Von den Lehrern wurde nur ein magerer Hinweis gegeben, dass ein Film aus dem Jahr 1945 zu sehen sei. Dann folgte in dem vollständig abgedunkelten Raum die Vorführung von den 1945 befreiten ausgemergelten Häftlingen aus dem KZ und die mit Baggern zu beseitigenden Leichenberge. Ohne Kommentar oder Erklärung wurde man dann entlassen – auf den Nachhauseweg. 5. Die Auswirkungen auf das bis dahin vorhandene naive Vertrauen der Jugendlichen den Eltern und Lehrern gegenüber war nachhaltig: Fragen an die Eltern, ob neben dem Verlust von Vätern, Brüdern, Onkeln oder Großeltern durch den Krieg auch Bekannte, Verwandte in das KZ verschleppt und ermordet worden sind, wurden nicht beantwortet.85 Gleichgültig, ob offen angesprochen oder ob man sich allein damit auseinandersetzte, begleitete seit diesem Tag die heranwachsende Generation dieses unbeantwortete Thema unauslöschlich und unauflösbar. Es tat sich eine unüberwindliche Mauer von Schweigen und tiefem Misstrauen auf. Die diese Nachkriegsgeneration seit dem bewegenden Fragen waren: Haben die Väter, Großeltern, Mütter, allgemein die »Erwachsenen« aus dem eigenen Lebensumfeld sich an den NS-Verbrechen beteiligt, haben sie Hitler zugejubelt und stillschweigend die Gewalt, den Terror gegenüber den Nachbarn hingenommen, aktiv mitgewirkt, denunziert? 6. Bei vielen Jugendlichen stellten sich damals das Gefühl und die Vermutung ein, dass es aufgrund des unausgesprochenen Schweigegebots über die NSZeit einen gravierenden Bruch in den Lebensgeschichten der Großeltern und Eltern und ಥ daraus folgend ಥ in der eigenen Biografie gab. Daraus entwickelte

Untersuchung der Reaktionen der deutschen Bevölkerung auf die Vorführung von »KZ-Filmen« durch die Alliierten in den Jahren 1945/46 bietet Weckel, Ulrike: Beschämende Bilder. Deutsche Reaktionen auf alliierte Dokumentarfilme über befreite Konzentrationslager, Stuttgart: Steiner 2012. 85 Gemeinsam untersuchen Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrem Buch »Die Unfähigkeit zu trauern« am Beispiel der deutschen NS-Vergangenheit und ihrer unzulänglichen Bewältigung in der Adenauer-Ära die Abwehrhaltung des Einzelnen und der Gesellschaft gegenüber Schuld und Mitschuld an politischen Verbrechen, was unmittelbar zu heftigen Abwehrreaktionen führte. Vgl. die am 8.1.1968 in der Zeitschrift »Spiegel« erschienene Rezension des Publizisten und Verlegers Gerhard Szczesny: »Guter Rat für Dutschke«, in: Der Spiegel 2 (1968), einzusehen unter http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45465484.html.

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sich ein Gefühl des Verlustes an Kontinuität und Vertrauen in die eigene Familiengeschichte. Aufgrund der Abwehrhaltung und dem Schweigen der Erwachsenen gab es kaum eine Möglichkeit, diese Lücken und Brüche zu verstehen oder gar zu schließen. Es entwickelte sich die unbewiesene Vermutung, dass es keine Familiengeschichte ohne blinde Flecke gibt, dass hinter und neben den Erzählungen über den Krieg sich eine unausgesprochene Geschichte, ein nicht zu lüftendes Geheimnis von Gewalt, Verrat und Grausamkeit verbarg. Mit dem Eichmann-Prozess 1961 und Auschwitz-Prozess von 1963 wurden diese bohrenden Fragen und Vermutungen weiter genährt.86 7. Dieser Zusammenfall von unauflöslichen Widersprüchen blieb die verborgene Hintergrundmelodie in der Adenauer- und Wirtschaftswunderzeit. Die widersprüchliche Situation für die Jugend der 1950er und 1960er Jahre war, dass sie von Eltern erzogen wurden, die nach den bürgerlichen Mustern des Kaiserreichs gemischt mit NS-Tugenden zu beschreiben sind: Es wurde viel Wert auf das Einhalten von Sekundärtugenden gelegt wie Fleiß, Verlässlichkeit, Unterordnung, Gehorsamkeit, körperliche und moralische Sauberkeit. Kennzeichnend war für diese Zeit auch eine offensichtliche Sexualfeindlichkeit.

S CHLUSSBETRACHTUNG In der Psychologie – besonders in der Kommunikationspsychologie – gibt es den Ausdruck double bind87. Damit ist die differenzierte Kommunikationstheorie der Doppelbindung beschrieben, d.h. der Bindung eines Menschen an paradoxe, sich einander widersprechende Botschaften oder Signale, die das Verhalten bzw. die Reaktion des Individuums lähmen. Die Signale können den Inhalt der gesprochenen Worte betreffen oder den Tonfall, die Gesten und Handlungen. Es ruft für ein Kind z.B. eine solche lähmende Gefühlssituation hervor, wenn Mütter oder Väter positiv konnotierte Worte sprechen, aber ihre Körperhaltung, Gestik

86 Vgl. Osterloh, Jörg/Vollnhals, Clemens: NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 87 Mit der Doppelbindungstheorie (double bind) beschrieb der amerikanische Anthropologe und Kommunikationsforscher Gregory Bateson die lähmende, weil doppelte Bindung eines Menschen an paradoxe Botschaften oder Signale und deren Auswirkungen. Der Psychotherapeut Paul Watzlawick, Batesons Schüler, zeigte in seiner Theorie menschlicher Kommunikation, dass die in Doppelbindungen enthaltenen kommunikativen Anomalien ein verbreitetes Risiko der Alltagskommunikation sind.

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und Mimik gerade das Gegenteil ausdrücken. Obwohl dieses Verhalten häufig in vielen Kommunikationssituationen auch heute anzutreffen ist, so hatte es in der damaligen Zeit eine brisante Konsequenz. Es waren nicht nur die »erwartungsgemäßen« Konsequenzen von der double bind-Situation in der Erziehung. Der Grundtenor im Nachkriegsdeutschland war von solchen kommunikativen Anomalien durchsetzt. Alexander und Margarete Mitscherlich thematisierten diese Widersprüche in ihrem Buch »Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens« 196788, was diesem Unbehagen das erste Mal angemessen Ausdruck gab. Mit Bezug auf die genannten Thesen lassen sich vor diesem Hintergrund folgende Schlussfolgerungen thematisieren: Für die heranwachsende Nachkriegsgeneration entwickelte sich eine innere Motivation, in zweierlei Weisen einen weiteren Bruch mit der Vergangenheit herbeizuführen: Zum einen wurde ein Bruch mit der Großeltern- und Elterngeneration in den sogenannten Studentenunruhen der 1968er als nicht nur generationstypisch, sondern aktiv politisch und mental erforderlich herbeigeführt. Zum anderen suchte diese Generation nach ihrer eigenen inneren Geschichte, »den Weg zu ihrem Bewußtsein selbst«, um die in ihrem Empfinden wahrgenommenen Brüche und Widersprüche als »Monumente und Denkmäler des Weges«89 zu verstehen. Psychologisch interpretiert, lag darin eine Hoffnung oder die Chance, zu einer Versöhnung mit ihrer je individuellen persönlichen Geschichte zu gelangen. Mit diesen Argumenten ließe sich begründen, dass die jungen Erwachsenen in den 1960er Jahren sich aktiv auf die Suche von Selbsterfahrung und Psychotherapie begaben, um mit dieser Hilfe sich selber und die familiären Entfremdungen begreifen zu lernen. In der besonderen historischen Konstellation der 1960er Jahre trafen eine expandierende Fachdisziplin und eine entschlossene heranwachsende Generation zusammen, die den als Fehler empfundenen Umgang mit der Vergangenheit zu vermeiden suchte. Auf diesem Wege hofften sie dem Wunsch Raum zu geben, sich politischen Zwängen und familiären Widersprüchen zu widersetzen, um dem inneren Unglücklichsein etwas entgegenzusetzen. Es reicht als Begründung aus Sicht der Autorin nicht aus, sich die expandierende Psychologisierung des eigenen Lebens allein aus dem Angebot der zur Verfügung stehenden neuen therapeutischen Ansätze der Humanistischen Psychologie und anderer Formen

88 Dieses, die 68er-Generation beeinflussende Buch markiert den Beginn der »Vergangenheitsbewältigung«, ein Begriff, der für diesen Umstand in Deutschland geprägt wurde. Vgl. Dudek, Peter: »Vergangenheitsbewältigung. Zur Problematik eines umstrittenen Begriffs«, in: Politik und Zeitgeschichte, Beilage 1-2, 1992, S. 44-46. 89 Vgl. F.W.J. Schelling: Zur Geschichte 1827, S. 377.

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der Psychotherapien ableiten zu wollen. Das Phänomen dieser Bereitschaft der Nachkriegsgeneration, sich mit dem eigenen Selbst auf dem Weg einer Psychologisierung und aktiven Therapie auseinanderzusetzen, liegt in dieser besonderen historischen Konstellation. Im Rahmen der Suche und dieser gefühlten unabdinglichen Notwendigkeit wurden psychotherapeutische Angebote als Chance wahrgenommen. Ob dieses Grundgefühl an die nachfolgende Generation der in den 1970er Jahren geborenen Kinder unbewusst weitergegeben worden ist und diese expandierende Inanspruchnahme darauf zurückzuführen ist, mit professioneller psychologischer Begleitung sein Leben zu leben, werden spätere Generationen vielleicht beantworten können.

Weltpsychiatrischer Universalismus versus kulturdistinkte Psychiatrie Ethnopsychiatrische Diskurse in den 1970er und 1980er Jahren1 W IELANT M ACHLEIDT

E INLEITUNG Die Vergegenwärtigung der erst gut hundertjährigen Geschichte der Transkulturellen Psychiatrie bzw. Ethnopsychiatrie am Beginn des 21. Jahrhunderts eröffnet die Chance, aus der Besinnung auf das Erreichte heraus die Horizonte dieses Faches in seinem interdisziplinären Umfeld neu zu formulieren. Dabei ist zu hoffen, dass das Forschungswissen und theoretische Gedankengut des zurückliegenden Jahrhunderts für die Zukunftsaufgaben fruchtbar gemacht werden können. In meinen Ausführungen werde ich in Umrissen versuchen, einige der wesentlichen Fragestellungen, Forschungsideen und theoretischen Diskurse aus der Aufbruchzeit der Transkulturellen Psychiatrie in den 1970er und 1980er Jahren beispielhaft darzustellen. Die universalistische und die kulturdistinkte Perspektive bildeten in dieser Zeit zwei kontroverse und unvereinbare Positionen, die zu spaltenden Abgrenzungen und emotionalen Disputen Anlass gaben. Vielleicht ermutigt der Blick auf jene Jahre der Verwerfungen dazu, diese Entwicklungsphase der Transkulturellen Psychiatrie selbst zum Gegenstand systematischer Forschung zu machen.

1

Der Autor dankt Dr. Christof Beyer und Dr. Christine Wolters für ihre wertvolle Hilfe bei der Endfassung des Manuskriptes.

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Der Begriff der Transkulturellen Psychiatrie wurde von Eric D. Wittkower, McGill Universität Montreal, in den 1950er Jahren geprägt2. Er ist ähnlich bzw. synonym mit einer Anzahl anderer Begriffe wie z.B. »vergleichende Psychiatrie«3, Ethnopsychiatrie4, »Kulturpsychiatrie«5 oder »Cultural Psychiatry«6 und gegenwärtig »Interkulturelle Psychiatrie«7. Eine der bis heute gültigen Definitionen der Transkulturellen Psychiatrie wurde auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie von 1970, welcher erstmalig auch die Transkulturelle Psychiatrie zum Thema machte, von Wittkower in deutscher Sprache gegeben und lautete wie folgt: Die transkulturelle Psychiatrie ist eine Ausrichtung des Faches, die »sich mit den kulturellen Aspekten der Ätiologie, der Häufigkeit und Art geistiger Erkrankungen, sowie mit der Behandlung und Nachbehandlung der Kranken innerhalb der Grenzen einer gegebenen kulturellen Einheit befaßt. Der Begriff ›transkulturelle Psychiatrie‹,

2

Wittkower, Eric D.: »Probleme, Aufgaben und Ergebnisse der transkulturellen Psychiatrie«, in: Helmut E. Erhardt (Hg.), Perspektiven der heutigen Psychiatrie, Frankfurt a.M.: Gerhards 1972, S. 305-312.

3

Kraepelin, Emil: »Vergleichende Psychiatrie«, in: Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie, Jg. 27, Neue Folge Bd. 15 (1904), S. 433-437; Petrilowitsch, Nikolaus (Hg.): Beiträge zur vergleichenden Psychiatrie, Basel u.a.: Karger 1967 (2 Bände); Murphy, Henry B.M.: Comparative Psychiatry. The international and intercultural distribution of mental illness, Berlin u.a.: Springer 1982.

4

Wulff, Erich: Ethnopsychiatrie: Seelische Krankheit – ein Spiegel der Kultur? Wiesbaden: Akademische Verlagsgesellschaft 1978; Ders.: »Was trägt Ethnopsychiatrie zum Verständnis psychischer Krankheiten bei?«, in: Achim Thom/Erich Wulff (Hg.), Psychiatrie im Wandel. Erfahrungen und Perspektiven in Ost und West, Bonn: Psychiatrie-Verlag 1990, S. 96-113; Devereux, Georges: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, München: Hanser 1967.

5

Battegay, Raymond et al. (Hg.): Handwörterbuch der Psychiatrie, Stuttgart: Enke 1992.

6

Tseng, Wen-Shing: Handbook of cultural psychiatry, San Diego: Academic Press

7

Vgl. dazu: Machleidt, Wielant/Heinz, Andreas (Hg.): Praxis der interkulturellen Psy-

2001. chiatrie und Psychotherapie. Migration und psychische Gesundheit, München: Urban & Fischer Elsevier 2011.

E THNOPSYCHIATRISCHE D ISKURSE

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die eine Erweiterung der kulturellen Psychiatrie ist, bedeutet, dass der wissenschaftliche Beobachter über den Bereich einer kulturellen Einheit hinausblickend andere Kulturberei8

che einbezieht.«

Seit der Einführung der »Vergleichenden Psychiatrie« als Forschungsmethode durch Emil Kraepelin 1904 haben sich die in ihrer Definition enthaltenen Fragestellungen, Aufgaben und Ziele der transkulturellen Psychiatrie in den zurückliegenden hundert Jahren im Grundsatz nicht geändert9. Die ursprünglichen Fragen lauteten: • • • • •

Gibt es die Krankheiten, die die Psychiatrie herausgearbeitet hat, überall in der Welt? Kommen psychische Störungen in gleicher Häufigkeit in verschiedenen Kulturen vor? Welche psychischen Erscheinungen werden in den verschiedenen Kulturen als pathologisch, welche als normal eingestuft? Werden psychische Störungen in verschiedenen Kulturen unterschiedlich behandelt? Haben psychische Störungen unterschiedliche Verläufe in verschiedenen Kulturen?

Der Fokus des Interesses hat sich in den letzten drei Jahrzehnten jedoch verlagert und jüngst um migrationsspezifische Fragen erweitert. So steht heute die Förderung der seelischen Gesundheit von Migranten aus den unterschiedlichen Kulturen im Vordergrund, die der transkulturellen Psychiatrie eine zunehmende Bedeutung in der alltäglichen Versorgungspraxis und in der Öffentlichkeit vermittelt haben.10 Auch in dieser Hinsicht ist ein Blick in die Vergangenheit und Ursprünge der Transkulturellen Psychiatrie von Bedeutung.

8

E. Wittkower: Probleme, S. 305.

9

Vgl. H.B.M. Murphy: Comparative Psychiatry; Leff, Julian P.: Psychiatry around the globe. A transcultural view, London: Gaskell 21988; E. Wulff: Ethnopsychiatrie.

10 Dazu zuletzt: W. Machleidt/A. Heinz, Andreas (Hg.): Praxis der interkulturellen Psychiatrie.

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E MIL K RAEPELIN UND DIE F OLGEN : D IE KULTURVERGLEICHENDE M ETHODE In die Geschichte der Transkulturellen Psychiatrie eingegangen ist die systematische Untersuchung Emil Kraepelins zum Kulturvergleich psychischer Krankheiten in einer psychiatrischen Klinik auf Java im Jahre 1904. Für die Rezeption Kraepelins in den 1970er und 1980er Jahren ist die Dissertation von Christoph Bendick aus dem Jahr 198911 besonders hervorzuheben. Die Aufarbeitung der kulturvergleichenden Forschung von Kraepelin durch Bendick, in deren Mittelpunkt die Java-Reise steht, bildet daher die Grundlage der folgenden Ausführungen. Kraepelin gilt als Begründer und erster Anwender der vergleichenden Methode in der Psychiatrie – was allerdings nicht mit der Begründung der Transkulturellen Psychiatrie als Wissenschaft gleichzusetzen ist. Es ging ihm darum, bei seinen »Arbeiten über Ursachen und klinische Gruppierungen der Geisteskrankheiten […] Beobachtungen über das Vorkommen und die Eigenart der Geistesstörungen bei solchen Völkern zu sammeln, die unter gänzlich anderen klimatischen und kulturellen Bedingungen leben«12. Seine Motivation zu dieser Forschungsreise hat er in seinen Lebenserinnerungen so beschrieben: »Noch wichtiger fast erschien mir die Notwendigkeit festzustellen, ob die Dementia praecox auch bei Völkern ganz anderen Stammes und unter ganz anderen Lebensbedingungen vorkomme. Da die wirklichen Ursachen der bei uns so weit verbreiteten Krankheit noch völlig ungeklärt waren, durfte man schon einen gewissen Fortschritt unserer Erkenntnis von der Untersuchung der Frage erwarten, ob unser Klima und die besonderen Lebensverhältnisse der Kulturvölker für die Entstehung des Leidens von entscheidender Bedeutung seien. In dritter Linie schwebte mir der Gedanke vor, dass die Eigenart eines Volkes auch in der Häufigkeit wie in der Gestaltung der einzelnen Formen des Irreseins überhaupt zum Ausdruck kommen müsse, dass also eine vergleichende Psychiatrie wertvolle Einblicke in die Seele der Völker ermöglichen müsse und auch wohl umgekehrt so manches zum Verständnisse krankhafter Seelenvorgänge werde beitragen können«.13

11 Bendick, Christoph: Emil Kraepelins Forschungsreise nach Java im Jahre 1904. Ein Beitrag zur Geschichte der Ethnopsychiatrie, Feuchtwangen: Kohlhauer 1989. 12 Urlaubsgesuch Kraepelins an die Münchener Medizinische Fakultät, 18.11.1903, zit. n. C. Bendick: Kraepelins Forschungsreise, S. 169. 13 Kraepelin, Emil: Lebenserinnerungen 1912-1918 (hg. von Hanns Hippius unter Mitarb. von Paul Hoff), Berlin u.a.: Springer 1983, zit. n. C. Bendick, Kraepelins Forschungsreise, S. 22 (Hervorh. WM).

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Kraepelins Untersuchung erwuchs auch aus seiner Sorge, dass »die Last der versorgungbedürftigen Irren [bei uns] […] in unheimlicher Weise anwächst«14. Den Zweck seiner Reise begründete er in seinem Beurlaubungsgesuch an das Kultusministerium in München vom 2. Oktober 1903 damit, es gehe »in erster Linie« um »die Feststellung, ob gewisse, bei uns gerade den Hauptinhalt unserer Anstalten bildende Formen des Irrsinns auch unter ganz anderen Lebensbedingungen und ganz anderen Volksstämmen in gleicher Weise und in gleicher Häufigkeit auftreten wie bei uns. Die Antwort auf diese Fragen, die bei dem jetzigen Stand unserer Wissenschaft schlechterdings nur durch die persönliche Untersuchung zahlreicher Kranker an Ort und Stelle gefunden werden kann, wird, so hoffe ich, nicht ganz ohne Ergebnis für die Aufhellung der Ursachen jener verbreitetsten [sic] unserer psychischen Krankheiten bleiben, deren Entstehungsbedingungen für uns bis jetzt noch vollkommen dunkle sind. Jedenfalls wird sich ergeben, ob jene Ursachen ganz allgemeine sind, oder sie in irgendeiner Beziehung zu Rasse oder Klima, zu Lebensweise oder Kulturverhältnissen stehen«.

15

Kraepelin weilte vom 22. Februar bis zum 15. März 1904 in der Anstalt Buitenzorg (heute Bogor) auf Java und begann sogleich mit seiner Untersuchung. Dort sah er innerhalb von 22 Tagen 225 Personen (hundert eingeborene Frauen und Männer zu gleichen Teilen sowie hundert Europäer und 25 Chinesen), d.h. also mindestens zehn pro Tag. Unter Rückgriff auf die Krankengeschichten sowie das javanische und auch deutsche Personal dokumentierte Kraepelin die Ergebnisse auf den von ihm entworfenen »Zählkarten« – ein enormes Pensum. Er konnte die Untersuchung schon 19 Tage später am 12. März 1904 abschließen. Kraepelin veröffentlichte seine Ergebnisse in den Beiträgen »Psychiatrisches aus Java« und »Vergleichende Psychiatrie« im »Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie« vom Juli 1904.16 Methodisch bemerkenswert und zukunftsweisend ist in dem Artikel »Vergleichende Psychiatrie« der Hinweis über Untersuchungen zur psychischen Morbidität verschiedener Völker:

14 Urlaubsgesuch Kraepelins an die Münchener Medizinische Fakultät, 18.11.1903, zit. n. C. Bendick: Kraepelins Forschungsreise, S. 169. 15 Urlaubsgesuch Kraepelins an das bayerische Kultusministerium München, 2.10.1903, zit. n. C. Bendick: Kraepelins Forschungsreise, S. 26-27. 16 Kraepelin, Emil: »Vergleichende Psychiatrie«; Ders.: »Psychiatrisches aus Java«, in: Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie, Jg. 27, Neue Folge Bd. 15 (1904), S. 468-469.

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»Ein irgendwie zuverlässiger Vergleich ist natürlich auch erst dann möglich, wenn wir nicht allein Zustandsbilder, sondern wirkliche Krankheitsformen auseinander zu halten vermögen, und er kann wegen der Verschiedenheit der klinischen Auffassungen für absehbare Zeit nur von ein und demselben Beobachter durchgeführt werden. Aus diesem Grunde sind die bisher vorliegenden Angaben über die psychischen Erkrankungen fremder Menschenrassen nur in einigen wenigen Punkten verwertbar, obgleich an sich gerade die Grösse der hier zu erwartenden Unterschiede den Vergleich besonders fruchtbar und zuverlässig machen sollte.«

17

Daher sei der Entschluss gekommen, diese Untersuchung selbst zu machen. Hierin liegt eine Vorwegnahme einer methodischen Kernforderung und Voraussetzung, die bei den weltweiten kulturvergleichenden Analysen der World Health Organization (WHO) in den 1970er und 1980er Jahren Berücksichtigung fanden18. Die klinisch psychiatrischen Ergebnisse von Kraepelin erscheinen dabei nicht überaus spektakulär, sind aber richtungsweisend für die kulturvergleichenden Untersuchungen der 1970er und 1980er Jahre gewesen und haben auch die ätiologischen Auffassungen psychischer Krankheiten von Kraepelin selbst entscheidend und neu geprägt. Er fand ein »überaus häufig[es]« Auftreten der Dementia praecox, wie er es auch für Europa festgestellt hatte. Es fehle bei dieser Diagnose »kein einziges der uns geläufigen Krankheitszeichen, aber deren Ausprägung war eine weit weniger reiche […]. [D]ie katatonischen Erscheinungen […] [waren] meist sehr dürftig; […] Gehörstäuschungen spielten eine geringe Rolle; zusammenhängende Wahnbildungen fehlten ganz oder waren nur angedeutet. […] Das manisch-depressive Irresein ist 19

bei den Eingeborenen entschieden seltener […]« .

Kraepelin stellte fest, dass die Übereinstimmungen im Kulturvergleich die Abweichungen erheblich überwiegen würden. Eine Verschiebung der Häufigkeit der klinischen Unterformen habe stattgefunden: »[D]ie Fälle, die bei uns die Hauptmasse bilden, sind dort verhältnismäßig seltener und umgekehrt.«20 Er folgerte weiter, dass »die Geringfügigkeit der Wahnbildungen mit dem niedrigen

17 E. Kraepelin: Vergleichende Psychiatrie, S. 433. 18 Vgl. dazu WHO: Schizophrenia: A multinational study. A summary of the initial evaluation phase of the International Pilot Study of Schizophrenia, Genf 1975, einsehbar unter: http://whqlibdoc.who.int/php/WHO_PHP_63.pdf. 19 E. Kraepelin: Vergleichende Psychiatrie, S. 435. 20 Ebd.: S. 436.

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Stande der geistigen Entwicklung und die Seltenheit der Gehörsstörungen« damit zu erklären sei, »dass die Sprache für das mehr in Sinnesvorstellungen sich bewegende Denken nicht die Bedeutung habe, wie bei uns. […] Vor allem fehlen fast vollständig ausgeprägtere Depressionszustände.« Wenn überhaupt, trete die Depression nur in leichten Andeutungen und rasch vorübergehend auf, und »Versündigungsideen wurden niemals geäussert.«21 Bei den »beiden der malaiischen Rasse besonders zugeschriebenen Krankheitsformen des Amok [gemeinsame Bezeichnung für triebartige schwere Gewalttaten bei getrübtem Bewusstsein, WM] und der Látah [Hysterie, WM]«, vermutete er, handele es sich »um eigenartige Gestaltungen« bekannter Krankheiten22 und nicht um bisher unbekannte Krankheitsbilder, wie etwa culturebound syndromes (CBS)23 als aus der Kultur heraus entstandene psychopathologische Ausdruckformen. Kraepelin schlussfolgerte aus diesen Ergebnissen, dass »die uns bekannten Krankheitsbilder dort Abwandlungen [zeigen], die wir mit einer gewissen Berechtigung auf Rasseeigentümlichkeiten der Erkrankten zurückführen dürfen.« Kraepelin sah darin »eine Ausbeute vergleichend psychiatrischer Untersuchungen, die weit über das ärztliche Gebiet hinaus Beachtung verdient.« Er schlug dann einen weiteren Bogen, indem er fortfuhr und ein theoretisches Paradigma der »psychische[n] Erkrankungen als Spiegel der Konflikte einer Gesellschaft« formulierte: »Wenn sich die Eigenart eines Volkes in seiner Religiosität und seinen Sitten, in seinen geistigen und künstlerischen Leistungen, in seinen politischen Taten und seiner geschichtlichen Entwicklung kundgibt, so wird sie schließlich auch in der Häufigkeit und in der klinischen Gestaltung seiner Geistesstörungen zum Ausdruck kommen, besonders derjeni24

gen, die aus inneren Bedingungen hervorgehen.«

So wie die psychischen Krankheitserscheinungen tiefe Einblicke in das Seelenleben eröffnet hätten, so dürfe man hoffen, »dass die psychiatrische Kennzeichnung eines Volkes unser Verständnis seiner gesamten psychischen Eigenart zu fördern vermag.« Seine abschließende Vision war, dass die vergleichende

21 Ebd. 22 Ebd. 23 Vgl. dazu: Kutalek, Ruth/Prinz, Armin: »Kulturgebundene Syndrome«. In: Machleidt/Heinz, Praxis der interkulturellen Psychiatrie (2011), S. 387-398. 24 E. Kraepelin: Vergleichende Psychiatrie, S. 437.

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Psychiatrie dereinst zu einer »Hilfswissenschaft der Völkerpsychologie«25 werden könne. Bendick würdigt diesen durchaus modernen ethnologischen Ansatz im Denken Kraepelins in zweifacher Hinsicht positiv: im Sinne der Feldforschung beim Verfolgen eigener Ziele, und zum »Benefit der untersuchten Ethnie«26. Von Bendick selbst, der sich der wohlwollenden Unterstützung seiner Dissertationsarbeit durch die Nachfahren Kraepelins und des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München erfreute, wird dennoch eine gewisse Kritik am methodischen Vorgehen Kraepelins geäußert. Die Übersetzung aus dem Holländischen ins Deutsche sei zwar gewährleistet gewesen, weniger aber die Übersetzung der Dialekte der Malaien, so dass »die Exploration nicht immer ergiebig war – sei es, dass Kraepelin die Patienten nicht verstand, sei es, dass diese ihn nicht verstanden.« Dies beruhe zum nicht geringen Teil auf Übersetzungsfehlern, noch mehr aber wohl auf der Tatsache, »daß Kraepelin sich der ›patterns of culture‹ seines Gastlandes nicht bewusst war. Dies wäre die Voraussetzung für eine wirklich vergleichende Psychiatrie – so verglich K. lediglich europäische mit javanischen Patienten unter Verwendung eines diagnostischen Schemas, welches er im Umgang mit europäischen (das heißt größtenteils deutschen) Patienten erarbeitet hatte«.

27

In dieser Arbeitsweise, auch im Hinblick auf die große Menge der untersuchten Patienten in kurzer Zeit, mag darüber hinaus die Angst des Forschers vor seinen Forschungsobjekten zum Ausdruck kommen. Diese Angst führt zu die Realität »verzerrenden Gegenübertragungen« gegenüber dem ethnischen Patienten – ein in der Sozialforschung ubiquitäres methodisches Problem, worauf Georges Devereux über 60 Jahre nach Kraepelins Forschungsarbeit auf Java 1967 in seinem epochalen Werk »Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften« hinwies28. Devereux‘ Arbeit erregte in den 1970er und 1980er Jahren einiges Aufsehen unter Ethnopsychiatern und -analytikern und leitete einen Paradigmenwechsel in der ethnopsychiatrischen und ethnologischen Forschung ein. In

25 Ebd. Zum Begriff der »Völkerpsychologie« und seiner Begründung durch den Physiologen, Psychologen und Philosophen Wilhelm Wundt vgl. dtv Lexikon 1990, Bd. 19, S. 212. 26 C. Bendick: Kraepelins Forschungsreise, S. 58. 27 Ebd.: S. 57 (Hervorh. i. Orig.). Bendick bezieht sich dabei auf der Konzept der »patterns of culture« bei Benedict, Ruth: Patterns of culture, Boston u.a.: Mifflin 1934. 28 G. Devereux: Angst und Methode.

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diesem Werk stellt er dar, dass »die wissenschaftliche Erforschung des Menschen durch die angsterregende Überschneidung von Objekt und Beobachter behindert [wird]«29. Auch der Forscher, »der den Menschen erforscht, [nimmt] einen psychologischen Raum in einem relativistischen Universum ein«30. Feldethnografie könne, wenn sie ohne dieses zu berücksichtigen praktiziert werde, eine Form der Autobiografie sein »im Spiegel der Eingeborenen« und nicht die Menschen selbst beschreiben, die der Forscher zu beschreiben vorgibt. Bendick zitiert selbst Georges Devereux mit der methodischen Forderung an den Feldforscher: Es sei die »kulturelle Neutralität, die allein es erlaubt, den wirklichen Sinn eines gegebenen kulturellen Merkmals in der gegenwärtigen Gesellschaft und in den Untergruppen, denen der Patient angehört, zu erfassen«31. Kraepelin sei wohl zu sehr »Naturwissenschaftler und Somatiker« gewesen, um den Einfluss der eigenen Kultur sowohl auf den Arzt als auch auf den Patienten zu erkennen und entsprechend zu agieren32. Damit werden drei Kernvoraussetzungen für kulturvergleichende Untersuchungen genannt, die bei den entsprechenden WHO-Studien in den 1970er und 1980er Jahren kritisch und kontrovers diskutiert wurden: eine stimmige Sprachund Kulturmediation durch Muttersprachler, ein Vertrautsein mit den kulturellen Metaphern und Symbolen der Kultur bzw. der speziellen ethnischen Gruppe des Patienten sowie die kulturelle Neutralität bzw. die Fähigkeit zur Reflektion der eigenen kulturellen Gebundenheit und Voraussetzungen. Was Kraepelin selbst an Erkenntnissen aus Java mitnahm, war ein Dreifaches: Die kulturell unterschiedliche Häufigkeit und psychopathologische Ausgestaltung psychischer Krankheitsbilder, das Fehlen von in Europa gänzlich unbekannten Krankheitsformen in den Tropen und die besondere Gestaltung der Krankheitserscheinungen durch die Persönlichkeit, speziell Kultur und Sozialisation sowie die Relativierung biologischer Faktoren. Zusammenfassend schreibt Bendick:

29 Ebd.: S. 17. 30 Le Barre, Weston: »Vorwort«, in: Devereux, Angst und Methode (1967), S. 9-12, hier S. 10. 31 Devereux, Georges: Normal und Anormal, Aufsätze zur allgemeinen Ethnopsychiatrie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, zit. n. C. Bendick: Kraepelins Forschungsreise, S. 57-58. 32 C. Bendick: Kraepelins Forschungsreise, S. 58.

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»Kraepelins Denken ist von der Java-Reise […] nachhaltig geprägt worden. Nicht nur, dass sein Blick für das Fremde sich erweitert hatte und ihm die Funktion der Vergleichenden Psychiatrie als einer Hilfswissenschaft der Völkerpsychologie im Sinne eines besseren Verständnisses der Mentalität und der psychischen Eigenart eines Volkes deutlich geworden war, sondern in seinem Denken veränderten sich auch Positionen, die zu zentralen 33

Punkten seines geistigen Inventars gehört hatten«.

T RANSKULTURELLE P SYCHIATRIE IN M ITTELEUROPA IN DEN E NDSECHZIGER UND S IEBZIGER J AHREN Die Kraepelin-Kritik von Wolfgang M. Pfeiffer, Erich Wulff und Paul Parin Die kritische Auseinandersetzung mit der psychiatrischen Praxis, wie sie im Zuge des Generationswechsels auch von den neuen Protagonisten des Faches verstärkt zu Beginn der 1970er Jahre selbst formuliert wurde, musste sich ebenso auf Emil Kraepelin als »Vaterfigur« der psychiatrisch-klinischen Diagnostik beziehen, wie auch auf seine vermeintliche Rolle als Begründer der Vergleichenden Psychiatrie. Bei aller Wertschätzung des neuen methodischen Ansatzes merkte so ein Universitäts- und Ethnopsychiater wie Wolfgang M. Pfeiffer in der zweiten Auflage seines Buches »Transkulturelle Psychiatrie« 1994 an, dass Kraepelin sich nicht mit der javanischen Kultur vertraut gemacht und keine eingehenderen Gespräche mit den Patienten selbst geführt, sondern in einer Art »Durchmarsch« Patient für Patient Tag für Tag untersucht hatte. Man dürfe deshalb »Kraepelins Äußerungen über Form und Inhalte des Denkens und über die Stimmungslage der Patienten nicht auf die Goldwaage legen«34. Pfeiffer kritisierte weiter, dass Kraepelin keine Untersuchungen bei ambulanten Patienten in der Umgebung machte. Seine Forschung sage daher auch wenig »hinsichtlich der Wesensart der Bevölkerung von Java und der dortigen Krankheitsbilder« aus, sondern viel eher etwas über die Besonderheiten der psychischen Erkrankungen in Europa, weil sich eben hauptsächlich Europa von den anderen Kulturkreisen unterscheide, z.B. hinsichtlich der Häufigkeit und Intensität depressiver und psychotischer Syndrome.35 Was Kraepelin also fand, waren europäische

33 Ebd.: 100. 34 Pfeiffer, Wolfgang M.: Transkulturelle Psychiatrie. Ergebnisse und Probleme, Stuttgart u.a.: Thieme 21994, S. 4-5. 35 Ebd.: S. 5.

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Phänomene im Spiegel einer anderen entlegenen Kultur als Ergebnis eines ethnozentristischen Denk- und Forschungsansatzes. Auch der Hannoveraner Psychiater Erich Wulff kritisierte im Sinne der Theorie des Institutionalismus der Endsechziger und Siebziger Jahre das methodische Vorgehen Kraepelins36. An der Struktur der Institutionen, so die Hypothese, könne ersichtlich werden, welchen Platz das psychisch Abnorme im gesellschaftlichen Zusammenhang einnimmt: »Die Kraepelinsche Psychiatrie z.B. ist ohne ihren Boden, die deutsche Universitätsklinik des 19. Jahrhunderts, gar nicht zu denken. Die Terminologie gliedert aber und differenziert diejenigen Bereiche von Krankheit, in die einzugreifen und mit denen zu arbeiten die Institution erlaubt. Gleichzeitig hat sie die Tendenz, als unwissenschaftlich abzuqualifizieren, was nicht in Reichweite der Institution sich befindet und zu Krankheitssymptomen zu ernennen, was die Institution an Defekten bei den Kranken produziert. Diese Funktion der Theorie, eine Rationalisierung der institutionellen […] Praxis zu sein, in den einzelnen Gesellschaften zu erkennen und zu demystifizieren, ist eine der vordringlichen ärztlichen Aufgaben, aber auch der erste Schritt auf dem Wege zu einer vergleichenden Psychiat37

rie.«

Dies ist eine im Zeitgeist verankerte, exemplarische Fundamentalkritik an Kraepelins methodischem Vorgehen und seine durch den einseitigen Bezug auf die Institution Anstalt determinierte und limitierte Ergebnisstruktur. Sie trifft sich í allerdings ohne theoretischen Rückbezug í mit der in den 1920er Jahren bereits von Abraham Gans geäußerten Kritik an Kraepelins »Institutionalismus«, dass

36 Wulff, Erich: Psychiatrie und Klassengesellschaft. Zur Begriffs- und Sozialkritik der Psychiatrie und Medizin, Frankfurt a.M.: Athenäum 1972. Basis der Theorie des Institutionalismus waren zeitgenössische psychiatriekritische Schriften wie Basaglia, Franco (Hg.): Die negierte Institution oder Die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen. Ein Experiment der psychiatrischen Klinik in Görz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971; Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt. a.M.: Suhrkamp 1969; Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973; Laing, Ronald D.: Das geteilte Selbst. Eine existenzielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1972; Dörner, Klaus: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie, Frankfurt a.M.: EVA 1969, u.a. 37 E. Wulff: Psychiatrie und Klassengesellschaft, S. 167.

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ohne die Beherrschung der Sprache und ohne die Dörfer aufzusuchen, der Europäer nichts über die meisten Fälle geistiger Erkrankungen bei Eingeborenen erfahre38. Der Schweizer Psychoanalytiker und Ethnologe Paul Parin kritisierte die psychiatrische Neigung zum »Kulturalismus«, »die eigenen Vorstellungen und Werturteile als allein richtig und maßgebend anzusehen, kulturfremde jedoch als minderwertig abzulehnen«. Dies behindere »das psychiatrische Denken innerhalb unserer Zivilisation.« Er empfahl daher die Arbeitsweise der Transkulturellen Psychiatrie auf die Bundesrepublik zu übertragen, um es von kulturalistischen Vorurteilen zu befreien.39 Eric D. Wittkower – Die Symbolfigur des globalen transkulturellen Experten Im Jahre 1970 war die Transkulturelle Psychiatrie erstmals Thema eines Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie (DGPN), in dessen Mittelpunkt die Sozialpsychiatrie stand. Eric D. Wittkower, vielleicht der Empiriker mit der größten transkulturellen Erfahrung, eröffnete hier der Transkulturellen Psychiatrie in seinem Beitrag den Horizont mit einer systematisierten Programmatik, die Definition und Aufgaben, Fragen der kulturellen Relativität, Forschungsfragen und -methodiken und Ergebnisse hinsichtlich der Ätiologie, der Symptomatologie, der Diagnostik, bis zur Behandlung und Prophylaxe umfasste.40 Zur Forschungsmethodik konkretisierte er, dass es »selbstverständlich« für jeden sei, der seine Patienten in ihrer »Totalität« verstehen will, sich seines eigenen kulturellen Hintergrundes bewusst zu machen und den seiner Patienten zu berücksichtigen, »d.h. er treibt kulturelle Psychiatrie«41. Als Forschungsprobleme, die bis dato untersucht worden seien, nannte er über die bereits erwähnten Fragestellungen hinaus die Beziehung zwischen Erziehung und Sozialisation in verschiedenen Kulturen und der späteren Persönlichkeit, kulturelle Unterschiede in der Wahl der Abwehrmechanismen des Ich, soziokulturelle Faktoren, die zu

38 Gans, A.[braham]: »Ein Beitrag zur Rassenpsychiatrie (Beobachtungen an geisteskranken Javanern)«, in: Münchner Medizinische Wochenschrift 69 (1922), zit. n. C. Bendick: Kraepelins Forschungsreise, S. 67-66. 39 Parin, Paul: »Zur Kritik kulturgebundener Vorurteile im psychiatrischen Denken«, in: Erhardt, Perspektiven (1972), S. 320. 40 E.D. Wittkower: Probleme. 41 Ebd.: S. 306.

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seelischer Gesundheit oder einer Geistesstörung prädisponieren, Unterschiede im Verhalten gegenüber Geisteskranken in verschiedenen Kulturen und soziokulturelle Maßnahmen zur Prävention. Zur kulturellen Relativität betonte Wittkower, »dass eine Geistesstörung in einem kulturellen Milieu nicht unbedingt in einem anderen als solche betrachtet wird, und dass Diagnosen nicht unbedingt überall dasselbe Krankheitsbild beschreiben«42 – eine Auffassung, die der gerade im Aufbruch befindlichen, Kulturgrenzen überschreitenden universalistischen Diagnostik der WHO entgegen stand. Bemerkenswert war auch die Relativierung einer Symptomdefinition wie z.B. beim Wahn, wenn es um Vorstellungen und Glaubensanschauungen geht: »[D]ie Entscheidung, ob unwahrscheinliche Überzeugungen einer sozialen Gruppe als Wahnideen zu bezeichnen seien, [sei] nicht von der Zahl der Leute abhängig, die sie teilen, nicht einmal von dem Grade der Übereinstimmung mit der Realität, sondern letztlich von ihrer integrierenden Kraft.«

Wobei eingeräumt wurde, dass nicht alle integrierenden Überzeugungen unbedingt als geistig gesund zu betrachten seien43. Die Unterschiede in der Einschätzung zwischen Medizinmännern und eher westlich orientierten Psychiatern dürften erheblich ausfallen, eine Tatsache, die den emischen Aspekt in der Diagnostik hervorhebt. In Übereinstimmung mit Kraepelin betonte Wittkower, dass bei einer globalen Betrachtung der Schizophrenie die symptomatologischen Ähnlichkeiten mehr hervorträten als die Abweichungen44 und letztere sich auf die unterschiedlichen Häufigkeiten der klinischen Untergruppen beziehen würden. Er nahm damit wesentliche Erkenntnisse der gerade im statu nascendi befindlichen transkulturellen WHO-Studie zur Schizophrenie vorweg45. CBS’ wie Besessenheitszustände und Koro sah Wittkower im Gegensatz zu Kraepelin als eigenständige Krankheitsbilder an. Bei der Diagnostik hob er die behindernden sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen Arzt und Patient hervor. Der Therapie durch Medizinmänner sprach Wittkower den größeren Erfolg im Vergleich zu wissenschaftlichen Methoden zu, da sie die religiös-magischen Vor-

42 Ebd. 43 Ebd. Wittkower bezog sich dabei auf die Forschungen von Raymond Prince zu den Rastafaris in Jamaica, vgl. Prince, Raymond: »The Ras Tafari of Jamaica. A study of group beliefs and social stress«, in: Transcultural Psychiatric Research Review 7 (1970), S. 58-62. 44 E.D. Wittkower: Probleme, S. 308-309. 45 Vgl. dazu WHO: Schizophrenia.

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stellungen ihrer Patienten teilen würden und deshalb kulturadaptierte Methoden zum Einsatz kommen müssten.46 In dieser Integration von globaler und kulturbezogener Perspektive war er seinen Zeitgenossen weit voraus. Kulturvergleichende WHO-Studien – Die »International Pilot Study of Schizophrenia« Die WHO hatte schon 1959 ein Expertenkomitee berufen, das die Notwendigkeit zur globalen Erhebung reliabler und valider Daten zur Inzidenz und Prävalenz psychischer Krankheiten sah. Mitte der 1960er Jahre entwickelte die WHO ein komplexes Langzeitprojekt mit vier einzelnen Programmen: Programm A betraf die Standardisierung psychiatrischer Diagnostik, Klassifikation und Statistik (International Statistical Classification of Diseases and Related Healt Problems/ICD, Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders/DSM-IV); Programm B die Entwicklung international anwendbarer Techniken für die Untersuchung psychisch Kranker für epidemiologische und andere psychiatrische Studien, sowie vergleichende Studien spezieller psychischer Erkrankungen (Present State Examination/PSE, Categorial assessment of psychiatric disorder/CATEGO). Diese beiden Programme waren vorbereitend für das Programm C, welches Studien über psychiatrische Krankheiten bei geografisch definierten Populationen umfasste. Programm D schließlich war ein internationales Trainingsprogramm in psychiatrischer Epidemiologie und sozialer Psychiatrie. Die globalen Projekte im Geiste der Vergleichenden Psychiatrie gehörten dem Programm B an, wie die »International Pilot Study of Schizophrenia« und ihre Folgestudien.47 Die Begründungen für diese umfangreichen und kostenintensiven Initiativen lauteten, dass es für die globale Erforschung z.B. der Schizophrenie entscheidend sei, wie bzw. nach welchen Kriterien die Diagnose gestellt und ob so dieselbe Entität untersucht werde. Dafür seien standardisierte Untersuchungsinstrumente und Vorgehensweisen basale Grundlagen psychiatrischer Forschung jeder Art, insbesondere für epidemiologische Studien. Es wurde noch differenzierter auf die Probleme der Diagnostik eingegangen, was einen Blick auf die methodischen Fortschritte seit Kraepelin erlaubt. Bei transkulturellen Untersuchungen wurde die Variabilität in der Diagnosestellung verstärkt durch soziokulturelle Unterschiede bei Patienten und Untersuchern sowie Unterschiede in

46 E.D. Wittkower: Probleme, S. 310. 47 WHO: Schizophrenia, S. 15-16.

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der Ausbildung und theoretischen Orientierung bei den Untersuchern. Der Arzt wurde nicht mehr als objektivierende Instanz, sondern in Ansätzen als kulturund sozialisationsgebundenes Subjekt verstanden.48 Die Wahl, als erste Krankheit die Schizophrenie global zu untersuchen, wurde getroffen, da es für diese schon genügend Anhaltspunkte für ihr universelles Vorkommen gab, weil es eine der am meisten behindernden Erkrankungen war und ist, und wegen einer Reihe von Vorarbeiten über ihr epidemiologisches Auftreten. Die Studie sollte zu einer Hypothesenbildung auf dem Gebiet der transkulturellen und epidemiologischen Psychiatrie Anlass geben. Die Studie sollte auch zur Entwicklung von Forschungsnetzwerken in verschiedenen Ländern beitragen, indem sie als solide Basis für zukünftige internationale Forschungen und zum Training von Psychiatern und anderen in der Psychiatrie tätigen Berufsgruppen auf dem Gebiet der zwischenkulturellen psychiatrischen Epidemiologie dienen sollte. Vorrangig wurde also der Diagnostik und der Epidemiologie höchste Priorität eingeräumt. Die drei methodischen Hauptfragen, die Beantwortung finden mussten, lauteten49: 1. Ist es überhaupt möglich, eine großangelegte internationale psychiatrische

Studie durchzuführen, die auf die Koordination und Zusammenarbeit von Psychiatern und anderem psychiatrischen Personal mit verschiedenem theoretischen Hintergrund aus weit voneinander entfernten Ländern mit unterschiedlichen Kulturen und sozioökonomischen Bedingungen angewiesen ist? 2. Ist es möglich standardisierte Forschungsinstrumentarien und Untersuchungsmethoden zu entwickeln, die zuverlässig in unterschiedlichen kulturellen Einrichtungen angewendet werden können? 3. Kann man Forschergruppen für den Gebrauch dieser Instrumentarien und Methoden so trainieren, dass vergleichbare Beobachtungen sowohl in entwickelten wie auch in Entwicklungsländern gemacht werden können? Die Hauptfragen über die Erscheinungsform und die Verteilung der Schizophrenie, die Beantwortung finden sollten, waren50:

48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd.

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• • •

• •

Tritt die Schizophrenie in allen Teilen der Welt auf? Gibt es Gruppen schizophrener Patienten mit ähnlicher Charakteristik in jedem untersuchten Land? Gibt es Gruppen schizophrener Patienten, deren Symptome nach Form und Inhalt von Land zu Land verschieden sind? Wenn das so ist, sind diese Unterschiede das Ergebnis von Abweichungen in der Diagnose Praxis, oder handelt es sich um echte kulturelle Unterschiede in der Art der Darbietung verschiedener Typen der Schizophrenie? Ist der Verlauf der Schizophrenie und anderer Psychosen in verschiedenen Ländern unterschiedlich? Wie unterscheiden sich die Charakteristika schizophrener Patienten im Ländervergleich von denen, die an anderen Psychosen leiden?

Die Erwartungen an die Ergebnisse waren hoch. Sie wurden als solide Voraussetzung dafür betrachtet, eine angemessene Planung und Bewertung von psychiatrischen Diensten durchführen zu können. Darüber hinaus wurden die Ergebnisse gebraucht, um eine Grundlage für aussagefähige und vergleichbare Untersuchungen über die Ätiologie der Schizophrenie und anderer Krankheiten zu erstellen. Bei der bereits genannten »International Pilot Study of Schizophrenia«51 handelt es sich um die erste Multicenterstudie. Es waren neun verschiedene Studienzentren weltweit beteiligt: Aarhus (Dänemark), Agra (Indien), Cali (Kolumbien), Ibadan (Nigeria), London (Großbritannien), Moskau (Russland), Prag (Tschechien), Taipei (Taiwan/China) und Washington (USA). Die Ergebnisse erbrachten übereinstimmend in den neun beteiligten Zentren hohe Rating-Werte bei folgenden Symptomen: verminderte Einsichtsfähigkeit, Affektabflachung, akustische Halluzinationen, wahnhaftes Erleben und das Gefühl, kontrolliert zu werden. Dies zeigte, dass schizophrene Patienten aus verschiedensten Kulturen weltweit im Wesentlichen eine ähnliche Symptomatik aufwiesen. Nach zwei und fünf Jahren wurde eine Follow-up-Studie durchgeführt, um den Verlauf der schizophrenen Patienten im Kulturvergleich zu untersuchen. Überraschendes Ergebnis nicht zuletzt für Experten war, dass schizophrene Patienten in Entwicklungsländern trotz í aus westlicher Sicht í nachteiliger Therapiebedingungen bessere Prognosen hatten als in entwickelten Ländern52. Tatsächlich vermutete man, dass – neben biologischen und individuellen Gründen –

51 Vgl. WHO: Report of the international pilot study of schizophrenia, Genf 1973, einsehbar unter: http://whqlibdoc.int/offset/WHO_OFFSET_2_(chp1-chp8).pdf. 52 Ebd.

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familiäre und soziokulturelle Faktoren im Sinne psychopathoreaktiver Effekte für diese Situation verantwortlich seien53, wie der Schutz und die soziale Absicherung durch eine Großfamilie, die größere Akzeptanz der Umwelt gegenüber psychotisch Kranken und folglich die Aufrechterhaltung der sozialen und emotionalen Kontakte und das Integrationsvermögen traditioneller agrarischer Gesellschaften. Zusammenfassend schien man davon ausgehen zu können, dass die Lebensumstände agrarischer und traditioneller Gesellschaften hinsichtlich Stabilisierung und Integration schizophren erkrankter Patienten günstiger sind als die in entwickelten Ländern54. Die überwältigend bestärkende Erfahrung für die WHO war die positive Möglichkeit, solche globalen Studien erfolgreich durchzuführen und dass die drei großen Diagnosen Schizophrenie, Manie und Depression mit der angewandten Methode in allen Teilen der Welt nach ihrem Erscheinungsbild und Häufigkeit identifiziert werden konnten. Insbesondere wurde gezeigt, dass Studien mit einem eng definierten Schizophreniebegriff zu validen und kulturell vergleichbaren Ergebnissen führen können. Einschränkend wurde betont, dass die Klassifikation lediglich anhand allgemeiner Charakteristika erfolgte und es speziellere Klassifikationen für bestimmte Gruppen geben könnte. In der Langzeitanalyse könne der Voraussagewert einer Diagnose geprüft werden. Vor allem aber werde der Status der Psychiatrie im Kontext der erweiterten Public-Health-Programme der WHO und der nationalen Regierungen davon abhängen, ob die Psychiatrie über eine solide klinische Grundlage verfüge, auf die Planungen und Auswertungen gestützt werde können. Das war durch die »International Pilot Study of Schizophrenia« gelungen.

53 Sartorius, Norman/Jablensky, Assen/Shapiro, Robert: »Cross-cultural differences in the short-term prognosis of schizophrenic psychoses«, in: Schizophrenia Bulletin Vol. 4, Nr. 1 (1978), S. 102-113; Leff, Julian et al.: »The international study of schizophrenia: five year follow-up findings«, in: Psychological Medicine 22 (1992), S. 131-145. 54 Ebd.

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I DEEN UND D ISKURSE DER 1980 ER J AHRE – D IE E THNOPSYCHOANALYTIKER G EORGES D EVEREUX , T OBIE N ATHAN UND E RICH W ULFF Die ethnopsychoanalytisch orientierten Forschungen55 fokussieren sich auf »die Erarbeitung der Zusammenhänge zwischen einer soziotypischen Psychopathologie und den Sozialisationsprozessen« unter Verzicht auf epidemiologische Erhebungen wie der oben angeführten Studie der WHO. Die Herausarbeitung der Andersartigkeit der psychopathologischen Phänomene trug dazu bei, den »ethnozentrischen Kulturwahn« der europäischen Psychiatrie abzubauen. Damit sollte eine Bewusstmachung der eigenen sozialen und kulturellen Selbstverständlichkeiten einhergehen und auch eine Betrachtung der psychiatrischen Begriffssysteme aus ethnologischer Distanz56. Weiter sollten die Funktion des psychischen Krankseins und seine Ausprägungsformen in dem spezifischen gesellschaftlichen Zusammenhang konkret bestimmt werden. Ein kurzer, aber lohnender Blick soll auf einen bis heute wichtigen Diskurs von Georges Devereux, Tobie Nathan und Erich Wulff – alle drei Ethnopsychiater und Ethnopsychoanalytiker – aus den 1980er Jahren geworfen werden57. Erich Wulff setzte sich in dem Vorwort zu Devereux’ Buch »Normal und anormal. Aufsätze zur allgemeinen Ethnopsychiatrie« mit dem von Devereux begründeten »Komplementarismus« auseinander und würdigte ihn als denjenigen, der die »methodischen und wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Ethnopsychiatrie zum Problem gemacht hat«58. »Komplementarismus« bedeutet die gegenseitige Ergänzung und Korrektur verschiedener Methoden, die den gleichen Gegenstand haben. Ein Problem lässt sich z.B. aus individualpsychologischer und soziologischer Sicht vollständiger beschreiben und verstehen als mit nur einer dieser beiden Methoden. Von Ulrike Bokelmann wird Komplementarität als das Theorieelement verstanden, in dem sich Devereux’ Bestreben nach

55 G. Devereux: Angst und Methode; Nathan, Tobie: La folie des autres. Traité d´éthnopsychiatrie clinique, Paris: Bordas 1986; Parin, Paul/Morgenthaler, Fritz/ Parin-Matthéy, Goldy: Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 21991, u.a. 56 E. Wulff: Psychiatrie und Klassengesellschaft. 57 Machleidt, Wielant: »Erich Wulff als Ethnopsychiater. Hommage zu seinem 80. Geburtstag«, in: Curare 29 (2006) 2+3, S. 137-141; Ders.: »Ideen und Diskurse aus der Geschichte der Trankulturellen Psychiatrie«, in: Thomas Stompe (Hg.), Psychisch kranke Migranten. Die Versorgungssituation in Österreich. Wien: Facultas.wuv 2010. 58 G. Devereux: Normal und anormal.

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subjektiver und objektiver Wahrheit vereinigt59 í ein Bestreben, auf das der Konstruktivismus in den 1980er Jahren Antworten anbot. Der zweite Aspekt ist »das Standortbewusstsein« des Ethnopsychiaters, d.h. sein kultureller Platz und seine Rolle, von der aus er sein Wissen über eine Ethnie oder über einen seiner Patienten mit Migrationshintergrund bezieht. Hier geht es darum, wie schon oben beschrieben, ähnlich wie in einer psychotherapeutischen Beziehung die »Übertragungen« der Angehörigen einer Ethnie auf den Untersucher wahrzunehmen und abzuarbeiten, um dann als beteiligter Beobachter »übertragungsfrei« bzw. unverzerrt durch Fehlwahrnehmungen und Stereotype seine wissenschaftlichen Erkenntnisse zu gewinnen. Das war eine wichtige Erkenntnis zur Ethnomethodologie auf dem Gebiet der Transkulturellen Psychiatrie, die bis heute ihre Bedeutung hat60. In seinem Aufsatz »Was trägt die Ethnopsychiatrie zum Verständnis psychischer Erkrankungen bei?« von 199061 geht es Wulff um das Verhältnis von Psyche und Kultur. Theoretisch nimmt er Bezug auf Devereux und Nathan62. Beide verstehen Kultur als Doppelgänger als »Spiegelbild des Psychischen«. Bei Devereux lassen sich intrapsychische Funktionen und kulturelle Handlungsvorgaben nicht »reduktionistisch« aufeinander beziehen, sie bestehen vielmehr objektiv nebeneinander im Sinne des »Komplementarismus«63. Nathan ist dagegen einer modernen »Theory of Mind« näher, wenn er das »kulturelle Doppel […] nicht als objektive Vorgegebenheit, sondern […] als psychische Instanz«64 begreift. Das »objektiv« vorgegebene entfällt in der »Theory of Mind« und wird zum subjektabhängigen Konstrukt. Aus dieser Sicht geht das »Kulturelle« aus mentalen Wahrnehmungs- und Handlungsmustern hervor. Bedeutsam scheint mir dabei die einleuchtende Idee Nathans, dass das Kulturelle als definitive Bedeutungsstruktur des Individuums dieses davon entlastet, »alle Bedeutungen und orientierenden Sinngebungen« in jeder Situation ad hoc selber erfinden zu müssen. Die intrapsychischen Bedeutungen lassen sich an den kulturellen stabilisieren und umgekehrt. Der Vorteil der Doppelung von Kultur und Psyche liegt in ihrem Wiedererkennungs- und Orientierungswert.

59 Bokelmann, Ulrike: »Georges Devereux«, in: Hans-Peter Duerr, Die wilde Seele. Zur Ethnopsychoanalyse von Georges Devereux, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 9-31, hier S. 23. 60 Vgl. G. Devereux: Angst und Methode. 61 E. Wulff: Ethnopsychiatrie. 62 T. Nathan: La folie des autres. 63 Vgl. E. Wulff: Ethnopsychiatrie, S. 104. 64 Ebd.: S. 105.

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Dies hat in jedem Einwanderungsland einen eminent praktischen, normalpsychologischen wie auch therapeutischen Wert für die Akkulturationsprozesse von Migranten. Bei diesen geht das kulturelle Doppel verloren bzw. wird unbewusst. Die Brücke zwischen den Migranten und der neuen Kultur lässt sich nun so bauen, dass Psychisches mit Kulturellem verbunden wird. Wulff schreibt: »In den kulturellen Metaphern seines Patienten wird der Therapeut dessen Gefühle und Empfindungen wahrzunehmen haben, d.h. er wird sie zuerst in intrapsychische Metaphern und dann in solche der eigenen Kultur übersetzen und so dann, mit seinen eigenen Gefühlen und Empfinden angereichert, wieder in die Sprache von dessen Kultur zurückübertra65

gen.«

Damit gewinnen die Doppelungen des Patienten wieder eine »konkretisierbare intersubjektive Dimension«. Dieser Übersetzungsvorgang vollzieht sich in der Normalität zwischenmenschlicher interkultureller Beziehungen schrittweise, und ebenso bei insbesondere schweren psychischen Erkrankungen wie Psychosen, Depressionen etc. mit der Hilfe eines Therapeuten als »Wiedereinübung von sinngetragener Bedeutungsartikulation in einem vorgegebenen […] kulturellen und gesellschaftlichen Rahmen.«66 Erich Wulff: Entwicklungsgeschichte und Kultur So gut Devereux’ und Nathans Theorien für die Erklärung von Akkulturationsprozessen und interkultureller Psychotherapie geeignet sind, so wenig geben sie nach Erich Wulff her für eine »Geschichte der Kulturen« nach den Mechanismen einer »Entwicklungsgeschichte psychischer Funktionen«. Diese skizzierte er vor dem theoretischen Hintergrund einer syllogistischen Analogie von Ontogenese und Phylogenese67. Im Alltag behalten die verschiedenen »Organbildungen« (»Assoziationsketten«), auch die früheren kindlichen, ihre Funktionsfähigkeit bei und können je nach Lebenssituation, z.B. bei Konflikten, wieder dominieren und die Handlungsfähigkeit des Individuums so sicherstellen. D.h., prälogische bzw. primärprozesshafte Funktionsbereiche mit ihren typischen Charakteristika und sehr komplexe diskriminatorische, zweckrationale Funktionsbereiche haben die

65 Ebd.: S. 106. 66 Ebd.; vgl. auch W. Machleidt: Erich Wulff als Ethnopsychiater. 67 Ontogenese beschreibt die individuelle psychische Entwicklung, Phylogenese die »stammesgeschichtliche« Entwicklung einer Person.

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Fähigkeit, jeweils situationsbezogen zu dominieren. Wendet man diese Einsichten auf die Praxis der interkulturellen Diagnostik an, so wird es leichter fallen, die in prälogischen Funktionsbereichen magisch-mythischen Weltentwürfe von Wahn oder auch schizophren desorganisierten Denkmustern zu unterscheiden. Dies ist z.B. erforderlich, wenn heute Afrikaner in Behandlung kommen, die angeben, sie ständen beständig im mentalen Kontakt zu ihren Vorfahren – ein in afrikanischen Kulturen Ich-stärkender Vorgang.68 Eine Kultur bemüht sich immer, möglichst weite Bereiche der Gesamtheit ihrer Wirklichkeiten zu entmythologisieren, ohne diese Aufgabe jemals ganz zu schaffen und auch Re-Mythologisierungen verhindern zu können. Aus dieser Sicht sind (regressive) psychische Symptome als subjektive kulturelle Botschaften zu verstehen, die immer auch einen Adressaten haben. Das psychopathologische Symptom ist in ein gesellschaftliches Kommunikations- und Tätigkeitsfeld gerückt und erwartet eine Antwort: »Solche Antworten werden wir aber nur geben können, wenn es gelingt, die Botschaft, die die Symptome enthalten, aus ihrem eigenen gesellschaftlichen, kulturellen und biographischen Kontext zu verstehen: d.h. indem wir diesen Kontext dechiffrieren, ihn seiner natürlichen Selbstverständlichkeit berauben, in seinem kultur- und individualgeschichtlichen Zustandegekommensein begreifen. Gelingen wird uns dies aber nur, wenn wir uns dabei auch unseren eigenen kulturellen Kontext und seine vorgeblichen Selbstverständlichkeiten als historische Produkte bewusst machen.«

In dieser kulturellen bzw. entwicklungspsychologischen Übersetzungsleistung ist, so Wulff, »jede Psychiatrie – bis in ihren therapeutischen Kern – immer auch Ethnopsychiatrie.«69

Z USAMMENFASSUNG Nachdem die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts politisch und kulturell gründlich entgleist war, und die psychischen Explosivkräfte eines geradezu unermesslichen und unzähmbaren Destruktivpotentials selbst- und fremdschädigender Aggressionen sichtbar geworden waren, traten neue humanitäre Gedanken und Kräfte

68 Machleidt, Wielant/Passie, Torsten: »Schamanismus und Psychotherapie. Moderner Interaktionismus und traditionelle Heilkunst im Dialog«, in: Machleidt/Heinz, Praxis der interkulturellen Psychiatrie (2011), S. 447-457. 69 Vgl. E. Wulff: Ethnopsychiatrie, S. 111-112.

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auch aus den sozialen und psychologisch analytischen Wissenschaften auf, die der zivilisatorischen Entwicklung neue Impulse gaben. Voraussehbar wurde spätestens in den 1960er Jahren70, dass der seelischen Gesundheit in modernen Gesellschaften eine zunehmend bedeutendere Rolle für das Zusammenleben der Menschen national und international zukommen würde. Dieses neue aufkommende Bewusstsein trug mit dazu bei, dass die WHO 1959 damit begann, die erste globale Bestandsaufnahme zur seelischen Gesundheit bzw. zu den psychischen Krankheiten und ihre angemessene Behandlung in allen Teilen der Welt zu initiieren, die vierzig Jahre bis zum Ende des 20. Jahrhunderts fortdauerten. Auch Psychiatern in mehreren westeuropäischen Ländern wurde in dieser Zeit zunehmend bewusst, unter welchen »elenden« und »menschenunwürdig[en]« Zuständen71 psychisch Kranke in Anstalten verwahrt wurden. Die Skandinavischen Länder und England waren die ersten, die bereits Anfang der 1950er Jahre umfassende Reformprogramme für die psychiatrische Versorgung auf den Weg brachten. Auch in den USA kündigte John F. Kennedy in seiner Botschaft von 1961, die auch an die psychisch Kranken adressiert war, umfassende Reformen dieses Bereichs an.72 Die Bundesrepublik verharrte nach dem absoluten historischen Tiefpunkt seiner Psychiatrie durch die Sterilisierung und Ermordung von psychisch Kranken während des Nationalsozialismus angesichts der Ungeheuerlichkeit der Verbrechen in einer Art Erstarrung. Erst ab Mitte der 1960er Jahre formierte sich an verschiedenen Orten Widerstand gegen die unhaltbaren Zustände in der Psychiatrie und ein Reformwille artikulierte sich, der sich í ebenso wie auf der globalen Ebene der WHO-Initiative í in einer Bestandsaufnahme und Reformschritten umzusetzen begann.73

70 Vgl. Mitscherlich, Alexander/Mitscherlich, Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens, München: Piper 1967. 71 So die Wortwahl für die Bundesrepublik in: Deutscher Bundestag: Zwischenbericht der Sachverständigenkommission zur Erarbeitung der Enquete über die Lage der psychiatrischen Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland, Bundestagsdrucksache 7/1124, 1973, S. 22. 72 Vgl. dazu Kersting, Franz-Werner: »Abschied von der ›totalen Institution‹? Die westdeutsche Anstaltspsychiatrie zwischen Nationalsozialismus und den Siebzigerjahren«, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 267-292, hier S. 270. 73 Zu dieser Entwicklung vgl. ebd. sowie Deutscher Bundestag: Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland – Zur psychiatrischen uns psychotherapeutischen/psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung. Deutscher Bundestag, Bundesdrucksache 7/4200, 1975; Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (BMJFFG): Empfehlungen der Expertenkommission der Bundesregierung

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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Deutschland eine hohe wissenschaftliche Reputation gewann, war Emil Kraepelin eine Persönlichkeit auf dem Gebiet der Psychiatrie, die internationales Ansehen genoss. Zur kulturellen Validierung seines neuen psychopathologischen Paradigmas – dem Konzept der Dementia Praecox bzw. der Schizophrenie – erfand Kraepelin die Vergleichende Psychiatrie als Methode und praktizierte sie auf Java, mit dem Erfolg, dass er das Auftreten der Dementia praecox in entlegenen außereuropäischen Kulturen nachweisen konnte und daraus den Schluss auf ihr universelles Vorkommen zog. Als eine Forscherpersönlichkeit, die in die Verbrechen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht verstrickt war und ein weltweit hohes Renommee besaß74, war er geeignet profiliert durch die Vergleichende Psychiatrie als Vorbild und Orientierung für die neuen Initiativen der Bestandsaufnahme verknüpft mit der Innovation der psychiatrischen Versorgungslandschaften weltweit zu dienen. In den 1970er und 1980er Jahren, in denen diese Innovationen schrittweise Gestalt gewannen, artikulierten sich indessen zwei Richtungen für die transkulturelle Erfassung psychischer Befindlichkeiten, die sich für oder gegen die von der WHO 1980 als verbindlich eingeführten Klassifikationsschemata psychischer Erkrankungen positionierten.

zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Bereich auf der Grundlage des Modellprogramms Psychiatrie der Bundesregierung, Bonn 1988; Rudloff, Wilfried: Rehabilitation und Hilfen für Behinderte, in: Hans G. Hockerts (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 5. 1966-1974. Bundesrepublik Deutschland: Eine Zeit vielfältigen Aufbruchs, Baden-Baden: Nomos, S. 557-591; Brink, Cornelia: Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860-1980, S. 410-493 sowie die zahlreichen Aufsätze in Kersting, Franz-Werner (Hg.): Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre, Paderborn: Schöningh 2003, S. 113-140. Zum Zusammenhang von NS-Psychiatrie und der im Vergleich zu anderen Staaten deutlich verzögerten Reform der bundesdeutschen Psychiatrie vgl. u.a. Kersting, Franz-Werner: »Der lange Schatten des NS-Krankenmords. Psychiatriereform und ›Vergangenheitsbewältigung‹ in der Bundesrepublik 19551975«, in: Sigrid Oehler-Klein/Volker Roelcke (Hg.), Vergangenheitspolitik in der universitären Medizin nach 1945. Institutionelle und individuelle Strategien im Umgang mit dem Nationalsozialismus, Stuttgart: Steiner 2007, S. 361-386. 74 Vgl. dazu Pauleikoff, Bernhard: »Emil Kraepelin (1856-1926)«, in: Dietrich v. Engelhardt/Fritz Hartmann (Hg.), Klassiker der Medizin II. Von Philippe Pinel bis Viktor v. Weizsäcker. München: C.H. Beck 1991, S. 299-322; Kraepelin, Emil: Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. 5.-8. Aufl., Leipzig: Barth 1896-1915.

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Die erste Richtung war: Die WHO folgte erstmals der Vision, eine Weltperspektive zu gewinnen und fand sich damit konzeptionell bei Kraepelin wieder. Die WHO-Experten bemühten sich, wie die »International Pilot Study of Schizophrenia« zeigt, all die methodischen Mängel in den Griff zu bekommen, welche die Aussagen aus Kraepelins Erstuntersuchung limitierten, wie die Sprachbarriere, die Standardisierung von Diagnostik und Untersuchung durch Training von Untersucherteams, den Eurozentrismus, den Institutionalismus etc. Dies gelang nur unzureichend. Dennoch bewerteten vor allem die anglo-amerikanischen Universalisten die »International Pilot Study of Schizophrenia« als einen großen Erfolg, schon allein deshalb, weil es erstmals gelungen war, eine globale psychiatrische Studie erfolgreich durchzuführen. Aber auch inhaltlich wurden die Ergebnisse hoch bewertet. Bezeichnend dafür ist Leffs Bericht in seinem Buch »Psychiatry around the globe« über die Ethnie der Seerer in Westafrika, die ein differenziertes System der Klassifikation psychischer Krankheiten entwickelt habe, dass dem ICD in der westlichen Welt in vieler Hinsicht erstaunlich ähnlich sei.75 Die implizite Botschaft solcher Vergleiche und Bewertungen von einem Westeuropäer, einem britischen Sozialpsychiater und Protagonisten des Universalismus lag unverhohlen im Bezug auf kulturübergreifende Universalien normalpsychologischer und psychopathologischer Art. Welche Persönlichkeitscharakteristika als universell zu gelten hatten, das blieb ungeklärt. Von den epidemiologisch und versorgungsorientierten Sozialpsychiatern in Europa wurden die WHO-Daten als nützlich für den Aufbau nationaler Versorgungssysteme ganz überwiegend positiv bewertet. Die »International Pilot Study of Schizophrenia« machte aber auch zu einem Teil dieselben Fehler, die Kraepelin schon unterlaufen waren, indem der empirische Bezug und die diagnostischen Systeme wesentlich auf die symptomatologischen Evidenzen euro-amerikanischer Kulturen beschränkt waren. An diesem Punkt setzte die Kritik transkultureller Psychiater an, die den Vorwurf des psychopathologischen und symptomatologischen Ethnozentrismus erhoben. Es wurde eine Nivellierung der Kulturdifferenz in der Psychiatrie durch die Vernachlässigung von kulturellen Unterschieden bei der Erhebung und Auswertung gesehen. Pfeiffer sagte es pointiert so: »Eine derart radikale nosologisch-kulturübergreifende Haltung musste zum Widerspruch herausfordern.«76 Der in der praktizierten Definitionsmacht der Begriffe liegende Imperialismus löste eine intellektuelle Neo-Kolonialismuskritik aus. Besonders die deutsche Psychopa-

75 Leff, Julian P.: Psychiatry around the globe. A transcultural view, New York: Dekker 1981. 76 W.M. Pfeiffer: Transkulturelle Psychiatrie, S. 3ff.

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thologie, führend in der Welt bis zum Zweiten Weltkrieg, fühlte sich ins Hintertreffen gebracht und bewertete die empirisch (durch »Fliegenbeinzählerei«) atheoretisch gewonnenen Positionen gering. Die zweite Richtung der transkulturellen Erfassung psychischer Befindlichkeiten lässt sich mit emisch umschreiben. Die Vorsilbe Ethno- deutet theoretisch und methodisch darauf hin, dass einer kulturrelativistischen sogenannten emischen Perspektive im Blick auf die untersuchten Phänomene der Vorzug gegeben wird. Der Ansatz besagt, dass die Entwicklung des Krankheitsverständnisses, der Krankheitsbegriffe, der Klassifikation, der Festlegungen von Norm und Abnorm und die Behandlungsansätze aus dem Selbstverständnis der verschiedenen Kulturen heraus entwickelt werden. Ethnien und Sprachgemeinschaften haben eigene Verständniszugänge zu seelischer Krankheit und Gesundheit. Die Anwendung westlicher Nosologie auf andere Kulturen sei fragwürdig. Die ethnopsychoanalytisch, anthropologisch sowie ethnologisch orientierten Forscher Arthur Kleinman, Georges Devereux, Tobie Nathan, Paul Parin, Fritz Morgenthaler, Erich Wulff u.a. artikulierten diese Gegenposition. Der Methodendiskurs nahm einen großen Raum ein in dem Bemühen, von Verzerrungen freie Felddaten zu erhalten und durch die Doppelung des Untersuchungsansatzes (»Komplementarismus«) sowie dem Abbau von störenden Übertragungen sich »übertragungsfrei« den »objektiven Wahrheiten«, den Wirklichkeiten der beforschten Menschen, dem ethnisch fremden Individuum ohne ihn zum Objekt zu machen, anzunähern – ein zweifellos idealistisches Bemühen in dem Dilemma, die Forscherpersönlichkeit in ihrer Subjekthaftigkeit in den Prozess einzuführen und gleichzeitig zu entfernen bzw. deren mögliche »Störeffekte« zu minimieren. Die Säkularisierung dieser Debatten durch den Konstruktivismus lässt uns diese Probleme heute gelassener angehen. Abschließend komme ich zum Problem der Entwicklungsgeschichte psychischer Funktionen77 und einer Kontroverse zwischen Psychiatrie und Ethnologie. In der Psychiatrie wird an dem Freud‘schen Paradigma der Entwicklungsgeschichte von Individuum und Kultur festgehalten, d.h. der Analogie von Ontound Phylogenese. In der Ethnologie hatte man sich schon in den 1970er Jahren in Evolutionismuskritik geübt und von diesem »Mythos« des 20. Jahrhunderts distanziert. Die Ethnologin Helene Basu schreibt rückblickend: »Mit der Einsicht, dass ›das Ich nicht Herr im eigenen Haus‹ sei, erschütterte Sigmund Freud zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Selbst-Bewusstsein der Modernen. Zugleich schuf er einen neuen Mythos: Die menschliche Zivilisation ist aus Mord, Vergeltung und

77 Vgl. E. Wulff: Ethnopsychiatrie, S. 109.

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Reue hervorgegangen – […] So genial die mythische Konstruktion einer sich in der Ontogenese zwangsläufig wiederholenden Phylogenese auch erschienen sein mag – nach hundert Jahren ethnologischer Forschung erweist sie sich als genau das: als ein moderner Mythos, eine hybride Konstruktion, deren Bauplan uns den so genannten ›Primitiven‹ unge78

wollt dennoch näher bringt als uns von ihnen zu entfernen.«

Ist es hinnehmbar, dass in europäischen Hochkulturen davon ausgegangen wird, dass indigene Völker sozusagen in ihrer Vorgeschichte vorkommen? Dabei geht es nicht nur, wie bei Malinowski und Evans Pritchard, um »die Korrektur eines kolonialistischen Evolutivdenkens«79, sondern auch darum, dass andere Völker, die anderen Praxislogiken folgen, ihr Überleben bis in die Gegenwart gesichert haben, genauso wie wir das unsere80. »Auf dem Prüfstand stehen« für Basu deshalb »singuläre teleologische Entwicklungsmodelle, die selbstgewisse Überlegenheitsannahme westlicher Modernisierung – und natürlich ›Rationalität‹«81. Ich frage: »Kann denn die Ethnologie ein individualpsychologisches Paradigma mit hoher Relevanz für soziale Gemeinschaften, das aus den wissenschaftlichen Forschungen des 20. Jahrhunderts gestärkt hervorgegangen ist, aufgeben, ohne eine unzulässige Verkürzung des Ent82

wicklungsaspektes in Kauf nehmen zu müssen?«

Die Psychiatrie kann das nicht, da Behandlung ohne eine emanzipatorische Entwicklungsperspektive keinen Sinn macht. Die Lösung, die in diesem Konflikt angeboten werden kann, liegt darin, dass der epistomologische Aspekt der Evolution der Weltanschauungen (prälogisch etc.) von dem ethisch-humanitären getrennt analysiert und bewertet wird. Es geht um die Achtung und Anerkennung des historisch zu verstehenden Individuums und seine subjektiven und intersubjektiven Innen- und Lebenswelten. Die epistemische Annahme einer Entwicklungs- und Werdensdynamik von Individuum und Gesellschaft bewegt sich auf einer anderen Ebene als die Wertschätzungsproblematik des »fremden Anderen«. Diese Wertschätzungsfrage ist ein Resultat der europäischen Aufklärung und lebt als solche fort – auch in der Postmoderne. Ich sehe keinen Notwendig-

78 Helene Basu in: Dies et al.: »Debatte«, in: Machleidt/Heinz, Praxis der interkulturellen Psychiatrie (Internetversion) (2011), S. 1. 79 Erich Wulff in: ebd. 80 Andreas Heinz in: ebd. 81 Helene Basu in: ebd.: S. 3. 82 Wielant Machleidt in: ebd.: S. 4.

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keit, einen für unsere europäische Zivilisation aus meiner Sicht unverzichtbaren »Mythos« zu opfern, den Mythos der europäischen Aufklärung in einem weiten, umfassenden Sinne, in dessen Entwurf die Wertschätzungsproblematik des »fremden Anderen« für kommende globale Gesellschaften eine so universelle Bedeutung hat.

Die Transformation der Psychiatrie in Ostdeutschland nach 1989 aus der Perspektive des Klinikpersonals Eine Rekonstruktion von Deutungsmustern im Umbruch K ATHRIN F RANKE

E INLEITUNG Konfrontiert mit negativ konnotierten Begriffen wie »DDR-Psychiatrie« oder dem Vorwurf des politischen Missbrauchs der Psychiatrie in der DDR musste sich das Personal ostdeutscher Psychiatrien nach 1990 nicht nur auf ein neues psychiatrisches Versorgungssystem einstellen: Gefordert wurde auch eine Auseinandersetzung mit den offensichtlich gewordenen Missständen in der Psychiatrie der DDR sowie die Offenlegung von persönlichen Verstrickungen in den staatlichen Repressionsapparat. Der Transformationsprozess brachte für das Klinikpersonal somit nicht nur umfassende strukturelle Veränderungen mit sich, sondern zwang es auch, sich kritisch mit der eigenen Berufsbiografie auseinanderzusetzen. Zur Disposition stand nicht nur die fachliche Qualifikation, sondern auch die moralisch-ethische Integrität. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen gehe ich im Folgenden der Frage nach, welche Auswirkungen der Transformationsprozess und die geforderte Vergangenheitsaufarbeitung nach 1990 auf die Handlungs- und Orientierungsmuster des Personals ostdeutscher Psychiatrien hatten und welche Effekte diese möglicherweise im Klinikalltag zeitigten: Wie sprechen Psychiater aus den neuen Bundesländern rückblickend über ihre Arbeit vor 1989? Wie haben sie die Veränderungen nach 1989 in ihren Kliniken konkret erlebt und wie haben sie diese in ihr professionelles Selbstbild und in ihre ärztlichen Routinen integriert?

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Und noch weiter gedacht: Was erzählen die »Erzählungen« des Klinikpersonals über den Verlauf und die Ergebnisse des Transformationsprozesses und den Stand der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit? Die Orientierungs- und Handlungsmuster des Klinikpersonals1 widerspiegeln – so die These – nicht nur die Effekte einer institutionellen Reform (vgl. Psychiatriereform in der alten Bundesrepublik nach der Psychiatrie-Enquete), sondern auch die umfassenderen Auswirkungen eines politischen Systemwechsels auf eine Institution und die in ihr tätigen Menschen. Bevor ich anhand von exemplarischen Auszügen aus einer Forumsdebatte2 sowie von mir geführten qualitativen Interviews mit Psychiatern einige zentrale Deutungs- und Orientierungsmuster bezüglich der Umbruch- und Konsolidierungsphase der ostdeutschen Psychiatrie nach 1990 vorstelle, stecke ich zunächst schlaglichtartig den diskursiven Rahmen ab, innerhalb dessen sich die Akteure zu dieser Zeit bewegt und verortet haben.

D ISKURSIVE R AHMUNG DES T RANSFORMATIONSPROZESSES Der Transformationsprozess in Ostdeutschland wurde – zugespitzt formuliert – im Rahmen zweier divergierender Diskurse verhandelt: Auf der einen Seite stand der Imperativ der (nachholenden) Modernisierung3, der in den neuen

1

Vgl. Hahn, Ulrike: Strukturtransfer und Eigensinn. Die Psychiatriereform in Sachsen nach 1990. Ein psychiatriehistorischer Beitrag. Aachen: Shaker 2007. Hahn rekonstruiert in ihrer Arbeit die »Entwicklungslinien gemeindenaher psychiatrischer Versorgung im Zuge der sächsischen Psychiatriereform von 1990 bis 2000« (S. 29) und unterstreicht in ihren methodologischen Überlegungen ebenfalls eine akteurszentrierte Perspektive, wobei »der Blick vor allem vom Handeln auf die Strukturen, also aus der Perspektive der handelnden Subjekte heraus auf die handlungsbedingenden und durch Handeln hervorgebrachten Strukturen« gelenkt werden sollte. Ebd.

2

Die Forumsdebatte zum Thema »Transformation der Psychiatrie in Ostdeutschland« im Rahmen der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) in Leipzig am 3.10.2008 wurde durch die Autorin initiiert, organisiert und dokumentiert. Vgl. Soziale Psychiatrie 33/2 (2009), S. 28-29.

3

Vgl. Mänicke-Gyöngyösi, Krisztina: »Ost- und mitteleuropäische Gesellschaften zwischen autonomer Gestaltung und Adaptation westlicher Modernisierungsmodelle«, in: Hellmut Wollmann/Helmut Wiesenthal/Frank Bönker (Hg.), Transformation sozialistischer Gesellschaften. Am Ende des Anfangs. Leviathan-Sonderheft 15/1995.

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Bundesländern Entwicklungsdefizite und -rückstände verortete, die durch die Wiedervereinigung, den Transfer des bundesdeutschen Institutionensystems und die Aufarbeitung von »DDR-Unrecht« behoben werden sollten. Von anderer Seite wurde argumentiert, es handle sich bei diesen Eingriffen um eine oktroyierte »Kolonialisierung«4 und eine durch »Siegerjustiz«5 gekennzeichnete »Entwertung« und »Abwicklung« von in der DDR gewachsenen personellen und institutionellen Strukturen. Die qualitativen Interviews, die ich im Rahmen meines Dissertationsprojekts mit dem Personal psychiatrischer Kliniken geführt habe, zeigen, dass sich diese dichotome Betrachtungsweise des Transformationsprozesses nicht nur auf der Makroebene der Diskurse, sondern auch auf der Mikroebene entfaltet hat und den Akteuren als Horizont diente, um den gesellschaftlichen Umbruch in Ostdeutschland zu deuten und zu rationalisieren. Auf dem Gebiet der Psychologie und Psychiatrie konkurrierten zum einen – wie Christine Leuenberger6 gezeigt hat – medizinische und therapeutische Rationalitäten miteinander (z.B. »westlich« vs. »sowjetisch« geprägte Psychiatrie und Psychologie, Verhaltenstherapie vs. tiefenpsychologische Ansätze, Gruppentherapie vs. Einzeltherapie), zum anderen kollidierten unterschiedliche Sichtweisen und Bewertungen der (gesellschaftlich-politischen) Rolle der Psychiatrie in der DDR. Im Folgenden soll der Fokus auf zwei zentrale Themenfelder der Psychiatrie-Reform in Ostdeutschland gerichtet werden: Gesundheitspolitik sowie Vergangenheitsaufarbeitung. Stand in Hinblick auf die Gesundheitspolitik in den neuen Bundesländern nach 1990 wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen der Transfer des bundesdeutschen Institutionensystems inklusive Elitenwechsel im Mittelpunkt, so drehte sich die Aufarbeitung der Vergangenheit um die Erklärung der Funktionsweisen und die Untersuchung der Folgen der DDR-Diktatur.

4

Vgl. Dümcke, Wolfgang/Vilmar, Fritz: Kolonialisierung der DDR. Kritische Analy-

5

Vgl. Buchholz, Erich et al.: Siegerjustiz? Die politische Strafverfolgung in Folge der

sen und Alternativen des Einigungsprozesses, Münster: Agenda 1996. Deutschen Einheit, Berlin: Homilius 2003. Der Vorwurf der »Siegerjustiz« wird vor allem von systemnahen DDR-Eliten vorgebracht. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Siegerjustizdiskurs, aber auch dem Diskurs der »gelungenen« Aufarbeitung in: Müller, Uwe/Hartmann, Grit: Vorwärts und vergessen! Kader, Spitzel und Komplizen: Das gefährliche Erbe der DDR-Diktatur, Berlin: Rowohlt 2009. 6

Leuenberger, Christine: »The End of Socialism and the Reinvention of the Self: A Study of the East German Psychotherapeutic Community in Transition«, in: Theory and Society 31/2 (2002), S. 255-280.

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Gesundheitspolitische Implikationen Gesundheitspolitisch stand im Hinblick auf die Thematisierung der »DDRPsychiatrie« zunächst die »Humanisierung« des Klinikalltags im Vordergrund. Angesichts der Anfang der 1990er Jahre sowohl von Seiten der Medien7 als auch von politischen Vertretern als »menschenunwürdig«8 beschriebenen Zustände, die vor allem in den sogenannten »Langzeitbereichen« der Großkliniken herrschten (Unterbringung in Bettensälen, fehlende Privatsphäre, schlechte bauliche und sanitäre Verhältnisse, rigide Zwangsmaßen, Hospitalismus etc.), zielten die Reformen auf die Wiederherstellung der Würde der Patienten. Auf institutioneller Ebene wurde die Forderung nach einer menschenwürdigeren Unterbringung und Betreuung in zweierlei Hinsicht über- bzw. umgesetzt: zum einen als Modernisierung, die sich vor allem in der Verbesserung der baulichen und räumlichen Bedingungen niederschlug; zum anderen als »Enthospitalisierung«, d.h. Verkleinerung der Kliniken und die Entlassung von chronisch kranken Patienten. Im Zuge der Übernahme bundesdeutscher Richtlinien im Gesundheitsbereich9 galt eine stationäre Versorgung dieser Patientengruppe als inadäquat, da sie keine Therapieerfolge mehr versprach. Die Betroffenen wurden Anfang der 1990er Jahre ärztlich begutachtet und ihnen wurden teilweise neue Diagnosen zugeordnet. Ein Großteil der einstigen »Langzeitpatienten« wurde gemäß der Behindertendefinition des Sozialgesetzbuches (SGB) nun als psychisch (»seelisch«) oder geistig behindert eingestuft. Die Gutachten leiteten dabei nicht nur eine Neuklassifizierung10 von Störungsbildern ein, sondern führten auch zur Etablierung neuer Zuständigkeiten auf der Verwaltungsebene. Menschen mit Behinderung fallen aus dem Verantwortungsbereich der Krankenkassen heraus (es sei denn, sie haben neben ihrer Behinderung eine akute Erkrankung) und werden aus Mitteln der

7

Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Anfang der 1990er Jahre gesendete Fernsehreportage »Die Hölle von Ueckermünde« von Ernst Klee. Sie zeigte drastische Bilder von einer Station mit Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen in der psychiatrischen Klinik in Ueckermünde. Dem Filmemacher wurde von einigen Kritikern vorgeworfen, er habe die Patienten auf entwürdigende Weise vorgeführt. Klee entgegnete, er habe nichts inszeniert, sondern nur die alltäglichen Abläufe gefilmt.

8

U. Hahn: Strukturtransfer, S. 195.

9

Vgl. Manow, Philipp: Gesundheitspolitik im Einigungsprozeß, Köln: Campus 1994.

10 Zum Zusammenhang zwischen Klassifizierung und der Hervorbringung von Krankheitssubjekten siehe Hacking, Ian: »Kinds of People. Moving Targets«, in: Proceedings of the British Academy 151 (2007), S. 285-318.

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Sozialversicherung11 bzw. bei starken körperlichen Beeinträchtigungen durch die Pflegeversicherung versorgt. Im Zuge der »Enthospitalisierung« etablierte sich angesichts dieser neuen Bedarfe eine Versorgungslandschaft, die einerseits auf gemeindenahen12 Formen der aufsuchenden Hilfe (z.B. Sozialpsychiatrische Dienste)13 und andererseits neo-kustodialen Heim- und Pflegeeinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung und alte Menschen mit chronischen psychischen Erkrankungen basiert. Kritiker sprechen angesichts der zum Teil an Krankenhausstationen erinnernden Einrichtungen nicht von Ent- sondern »Umhospitalisierung«14, ein Phänomen, das auch aus den alten Bundesländern im Zuge der Psychiatrie-Enquete 1975 und den daran anschließenden Reformen bekannt ist und im Rahmen des Institutionentransfers in die neuen Bundesländer »importiert« wurde. Vergangenheitspolitische Implikationen Auslöser für die Debatte um die Aufarbeitung der Vergangenheit der »DDRPsychiatrie« war eine im Frühjahr 1990 im Magazin »Stern«15 erschienene Reportage über das Psychiatrische Krankenhaus in Waldheim (Sachsen). Unter dem Titel »Wo die Stasi foltern ließ« wurden eklatante Menschenrechtsverletzungen an in dieser Klinik eingesperrten Menschen nachgewiesen. Angesichts der erschreckenden Fälle wurde vermutet, dass das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) mithilfe der Psychiatrie Oppositionelle bzw. nicht an die sozialen Verhältnisse in der DDR angepasste Menschen systematisch pathologisiert und

11 Hier ist z.B. die sogenannte »Eingliederungshilfe für behinderte Menschen« im Sozialgesetzbuch (§ 53 SGB XII) zu nennen. 12 Zur Rolle von Gemeinden bei der Kontrolle und Regierung von Abweichungen siehe: Rose, Niklas: »Tod des Sozialen? Eine Neubestimmung der Grenzen des Regierens«, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 72-109. 13 Vgl. dazu die Strukturen, die Niklas Rose dem sogenannten »medium risk«-Bereich zuordnet: »public psychiatric wards, social workers, quasi public provision from ›voluntary agencies‹ etc.« Vgl. Rose, Niklas: »Governing Risky Individuals. The Role of Psychiatry in New Regimes of Control«, in: Psychiatry, Psychology and Law 3/2 (1998), S. 490. 14 Dörner, Klaus: Kieselsteine. Ausgewählte Schriften, Gütersloh: Jakob v. Hoddis 1996, S. 40. 15 Vgl. http://data.aerzteblatt.org/pdf/106/39/a1882.pdf, S. A1885.

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eingesperrt habe. In Reaktion auf den Artikel wurden die Vorfälle in Waldheim durch eine Expertengruppe geprüft sowie Kommissionen zur Überprüfung von Missbrauchsfällen auf den Länderebenen eingesetzt. Ergebnis dieser Untersuchungen war, dass es – im Unterschied zur Sowjetunion – keinen systematischen politischen Missbrauch der Psychiatrie in der DDR gegeben habe. Es habe sich nur um Einzelfälle gehandelt.16 In diesem Zusammenhang wird in der Literatur beispielsweise die an Chefärzte ergangene Vorschrift genannt, DDR-kritische oder sozial auffällige Patienten an politischen Feiertagen nicht zu entlassen oder zu beurlauben, damit es im öffentlichen Raum nicht zu »Störungen« komme.17 Durch inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit (IM) bespitzelt worden seien – einer meiner Interviewpartnerinnen zufolge – weniger die Patienten, sondern vielmehr das Personal, z.B. dann, wenn jemand einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Wie nach 1990 im öffentlichen Dienst üblich, wurden auch die Mitarbeiter in den psychiatrischen Kliniken in Hinblick auf eine inoffizielle Mitarbeit beim Ministerium für Staatssicherheit und ihre politischen Einstellungen überprüft. Auf der Ebene der Vergangenheitsaufarbeitung im Sinne eines Elitenwechsels war mit der Suspendierung politisch belasteter Ärzte die offizielle Auseinandersetzung mit der politischen und gesellschaftlichen Rolle der Psychiatrie in DDR beendet. Und mit der Einschätzung, es habe keinen systematischen Missbrauch der Psychiatrie in der DDR gegeben, galt die Geschichte dieser Institution als »aufgearbeitet«. Kritisch anzumerken ist hierbei, dass das Kriterium »Mitarbeit bei der Staatssicherheit« in Hinblick auf die gesamte Aufarbeitungsdebatte (d.h. auch über den Bereich der Psychiatrie hinausgehend) äußerst funktional war, denn es erlaubte, die Gruppe der »Verdächtigen« einerseits einzugrenzen und andererseits den Eindruck zu erwecken, es habe eine Überprüfung breiter Bevölkerungsschichten stattgefunden. Letztlich wurde die Mehrheit der ehemaligen DDRBevölkerung entlastet und eine abgrenzbare Gruppe als »Täter« identifiziert.18 Auf diese Weise entstand der Eindruck, »DDR-Unrecht« sei nur ein Problem zwischen »Stasi-Tätern« und »Stasi-Opfern« gewesen. Die Mehrheit der DDRBevölkerung hätte hingegen »normal« gelebt. Konkret für die Psychiatrie bedeutet dies, dass andere, nicht durch die Staatssicherheit induzierte Formen

16 Vgl. dazu auch die Ergebnisse in Süß, Sonja: Politisch missbraucht? Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR, Berlin: Ch. Links 1998. 17 Vgl. Interview mit Sonja Süß, http://www.aerzteblatt.de/down.asp?id=4392 18 Vgl. Bock, Petra: Vergangenheitspolitik im Systemwechsel, Berlin: Logos 2000, S. 447.

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des »legalen« Missbrauchs der Psychiatrie (z.B. hinsichtlich des zum Teil menschenunwürdigen Umgangs mit Patienten, Fehlbehandlungen usw.) nicht hinreichend thematisiert wurden. Diese Vermutung bestätigen auch Aussagen von Seiten des Klinikpersonals in den Interviews, die ich geführt habe. Erwähnt sei hier z.B. das 1968 in Kraft getretene DDR-Einweisungsgesetz, nach dem Ärzte die Möglichkeit hatten, Patienten bis zu sechs Wochen ohne richterliche Überprüfung in eine psychiatrische Klinik einzuweisen.

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AUF DER

M IKROEBENE

Geht man mit staatsethnografischen Ansätzen19 davon aus, dass formalisierte Normen (z.B. medizinische Diagnoseraster oder Gesetzestexte) auf der Akteursebene durch alltagsweltliche Auslegungen und über längere Zeiträume eingeschliffene Handlungsweisen performiert und modifiziert werden, so kann vermutet werden, dass diese akteursspezifische Aneignung von »Regeln« auch im Kontext von psychiatrischen Einrichtungen geschieht. Jenseits der oben umrissenen gesundheits- und vergangenheitspolitischen Normative müsste sich somit auf der Mikroebene der ostdeutschen Kliniken ein auf tradiertem Alltagswissen und langjährigen Routinen gewobener »Teppich« aus Handlungs- und Orientierungsmustern aufspannen, der durch die »Brille« der (westdeutschen) Psychiatriereformer betrachtet sperrig und widerständig erscheint. Ein konkretes Beispiel aus meinem Interviewmaterial: Als nach 1990 auf den Stationen einer Klinik Gardinen aufgehängt werden sollten, war eine Ärztin aus den neuen Bundesländern fest davon überzeugt, dass diese sofort von Patienten heruntergerissen werden. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass sich die Menschen in den »Langzeitbereichen« wie »Tiere« verhalten, die »jaulten« und aggressiv waren. Als die Gardinen dann wider Erwarten unversehrt blieben, konnte sie sich dieses »Wunder« nicht erklären.20 Räumliche Veränderungen in der Klinik vollzogen sich aufgrund des einschlägigen Erfahrungswissens des alten Personals entsprechend langsam und es gelang der neu hinzugekommenen Chefärztin aus den alten Bundesländern nur nach zähem Ringen, die gesundheitspolitisch geforderten Reformen im Klinikalltag umzusetzen.

19 Vgl. Valverde, Mariana: Law’s Dream of a Common Knowledge, Princeton: Princeton Univ. Press 2003; Scott, James: Seeing like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven: Yale Univ. Press 1998. 20 Interview mit einer Psychiaterin am 19.6.2006.

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Reibungsflächen zwischen der alltagsweltlichen Praxis auf der Klinikebene und normativ-regulativen Vorgaben »von oben« entstanden auch im Zuge der »Enthospitalisierung«. Hatten damit vor allem Reformer mit einem sozialpsychiatrischen Hintergrund die Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens in der Gemeinschaft im Sinn, entwickelte sich das Konzept in der Praxis zu einem Konglomerat aus neoliberalem »Behindertenmanagement« und paternalistischen Fürsorge- und Verwahrpraktiken. In der Praxis lief – Erzählungen des Personals einer Klinik zufolge – die »Enthospitalisierung« folgendermaßen ab: Das betreffende Krankenhaus bekam Anfang der 1990er Jahre regelmäßig »Besuch« von Mitarbeitern aus neuentstandenen Pflege- und Behindertenheimen, die sich – ich zitiere eine Mitarbeiterin aus der Klinikverwaltung – die »fittesten« Langzeitpatienten für ihre neuentstandenen Einrichtungen aussuchten. Nach dieser Phase der »wilden Enthospitalisierung« griffen mit dem ersten Landespsychiatrieplan (1993) die gesundheitspolitischen Vorgaben »von oben«: Die verbliebenen »Langzeitpatienten« der Großklinik wurden gezielt in externe Alten- und Pflegeheime bzw. einen separaten Bereich der Klinik (ein sogenanntes »Heim am Krankenhaus«) verlegt, das später in die Trägerschaft eines Wohlfahrtsverbandes überging und vollständig vom Klinikbetrieb entkoppelt wurde. »Eigensinnige« Entwicklungen im Rahmen der Psychiatriereform in Ostdeutschland lassen sich nicht nur hinsichtlich der Modernisierung der Anstalten beobachten. Nach 1990 entwickelten sich auch jenseits bzw. im Schatten der offiziellen Aufarbeitungsdiskussion spezifische Strategien des lokalen Vergangenheitsmanagements im Sinne der Herstellung einer kohärenten Darstellung der Geschichte der jeweiligen Klinik im Nationalsozialismus, in der DDR und der Gegenwart sowie im Hinblick auf die Produktion »anschlussfähiger« (berufs-)biografischer Narrative nach dem Systembruch 1989.21 Genannt seien hier z.B. Ärzte- und Pflegerfamilien, deren Angehörige über mehrere Generationen hinweg in derselben psychiatrischen Klinik tätig waren. In die Familiengedächtnisse wurden somit zum Teil höchst brisante und widersprüchliche Erfahrungen im Umgang mit Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder geistigen Behinderung eingeschrieben. Besonders bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die Reaktionen der Kinder- und Enkelgeneration auf die Verstrickungen

21 Gesellschaftliche Kontinuitätsbrüche wirken als starke Generatoren von biografischen Erzählungen, da als selbstverständlich Erlebtes plötzlich fragwürdig wird. Der Bedarf an neuen Sinnkonstruktionen und der Wunsch nach Herstellung von Anschlussfähigkeit sind dementsprechend groß. Siehe dazu Wohlrab-Sahr, Monika/Karstein, Uta/ Schmidt-Lux, Thomas: Forcierte Säkularität. Religiöser Wandel und Generationendynamik im Osten Deutschlands, Frankfurt a.M.: Campus 2009, S. 23.

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der Großelterngeneration in die NS-»Euthanasie«. Als Beispiel sei hier eine Publikation des Historikers Frank Hirschinger22 genannt, in der er dem Schicksal von Patienten einer sächsischen Klinik im Nationalsozialismus nachgegangen ist. Hirschinger konnte anhand von Totenbüchern nachweisen, dass in der Klinik Altscherbitz 2060 Menschen durch Unterernährung und Überdosierung von Medikamenten zu Tode kamen. Nach dem Erscheinen der Publikation fand 2001 vor Ort eine öffentliche Lesung und Diskussionsveranstaltung statt. Wie die Redebeiträge der Ortsansässigen zeigen, fühlten sich vor allem die Nachkommen ehemaliger Pfleger durch das Buch angegriffen und führten immer wieder an, ihre Großeltern hätten alles Erdenkliche getan, um Patienten vor dem Tod zu retten.23 Trotz jahrelanger Bemühungen ist es aufgrund von Widerständen der örtlichen Gemeindeverwaltung nicht gelungen, auf dem einstigen Krankenhausfriedhof, wo die Opfer begraben wurden, einen Gedenkort zu errichten.24 Thematisierung der DDR-Vergangenheit und des Transformationsprozesses in den Erzählungen des Klinikpersonals Aus der Biografieforschung ist bekannt, dass Menschen die Erzählung ihres privaten oder beruflichen Lebenswegs mit anderen Deutungen und Gewichtungen versehen, sobald sich die Rahmenbedingungen ändern und die gewohnte Präsentation der eigenen (Berufs-)Biografie nicht mehr mit den Erwartungen der Umwelt kompatibel ist. Unter den »Zugzwängen des Erzählens«25 stehend gilt es einerseits, die eigene Lebensgeschichte nach außen hin anschlussfähig zu halten und ihr andererseits eine innere Kohärenz zu verleihen, um die eigene Identität zu stabilisieren. Die Kontingenzerfahrungen nach dem Systemwechsel 1989 und die Notwendigkeit, diese zu verarbeiten, bezogen sich im Hinblick auf die Psychiatrie nicht nur auf die Aneignung neuer Rationalitäten seitens der Fachkräfte,

22 Hirschinger, Frank: Zur Ausmerzung freigegeben. Halle und die Landesheilanstalt Altscherbitz, Köln: Böhlau 2001. 23 Bock, Drago: »Vortrag und Diskussion zur NS-Euthanasie«, in: Leipziger Volkszeitung vom 2.3.2001. 24 Franke, Kathrin: »Der Mantel des Schweigens«, in: Kunststoff, Okt./Nov./Dez. 2010, S. 73. 25 Schütze, Fritz: »Zur Hervorlockung und Analyse von Erzählungen thematisch relevanter Geschichten im Rahmen von soziologischer Feldforschung – dargestellt an einem Projekt zur Erforschung von kommunalen Machtstrukturen«, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, Bielefeld 1976, S. 159-259, hier S. 224f.

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z.B. auf dem Gebiet der Verwaltungsabläufe26 oder im Bereich psychiatrischer Diagnose- und Behandlungsformen.27 Angesichts der Infragestellung von als selbstverständlich erlebten Alltagsroutinen und des »Geständniszwangs«28 in Hinblick auf die politischen Verflechtungen mit dem Staat bzw. der Staatssicherheit29 war das Personal auch gezwungen, eine reflexive Haltung zur eigenen (Berufs-)Biografie einzunehmen und mit der neuen Zeit kompatible Formen der Selbstdarstellung zu generieren. Angesichts dieses komplexen Prozesses des gleichzeitigen Über- und Umschreibens von beruflichen/fachlichen Handlungsroutinen, alltagsweltlichen Deutungs- und Orientierungsmustern und biografischen Brüchen gehe ich von einem multidimensionalen Akteursbegriff aus, der die Akteure nicht nur als (Re-)Produzenten von – bezogen auf das hier besprochene Feld – medizinischem oder pflegerischem Expertenwissen oder als Anwender von Verwaltungs- und Behandlungsroutinen konzipiert, sondern sie auch als Träger und Gestalter von Narrativen betrachtet – nicht nur im lebensgeschichtlichen Sinne, sondern auch in Verbindung mit der Institution, in die sie eingebettet sind. Vor allem die älteren ostdeutschen Psychiater, die ich interviewt habe, sehen in der Psychiatriereform nach 1990 eine politisch motivierte Abwertung der Psychiatrie in der DDR mit dem Ziel, das bundesdeutsche Versorgungssystem als

26 Hiller, Petra: Organisationswissen. Eine wissenssoziologische Neubeschreibung der Organisation. Wiesbaden: VS 2005. Hiller untersucht die Routinen und Einstellungen von ostdeutschen Verwaltungsmitarbeitern und unterscheidet dabei im Hinblick auf die Übernahme von bundesdeutschen Regelsystemen zwischen »affirmativen« und »distanzierenden« Verwaltungsstilen. 27 Leuenberger, Christine: »Cultures of Categories. Psychological Diagnoses as Institutional and Political Projects before and after the Transition from State Socialism in 1989 in East Germany«, in: Greg Eghigian/Andreas Killen/Christine Leuenberger (Hg.), The Self as Project. Politics and the Human Science, Chicago: Univ. of Chicago Press 2007, S. 180-204. 28 Zur Funktion von »Geständnispraktiken« (Foucault) nach 1989 siehe: Lee, Hyunseon: Geständniszwang und »Wahrheit des Charakters« in der Literatur der DDR. Diskursanalytische Fallstudien, Stuttgart: Metzler 2000. 29 Hier sind in erster Linie die nach der Wiedervereinigung für den öffentlichen Dienst eingesetzten Personalkommissionen zu nennen, welchen die Überprüfung des Personals im Hinblick auf fachliche Qualifikation sowie persönliche Eignung oblag. Aufgrund dieser Prüfung wurde ein Großteil der Chefärzte entlassen. Einige Psychiater umgingen – einem meiner Interviewpartner zufolge – die Überprüfungen, indem sie im Vorfeld die Kliniken verließen und eine niedergelassene Praxis eröffneten.

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das überlegene System darzustellen und eine Anpassung zu legitimieren (Kolonialisierungsthese). Als ein Beispiel für dieses Deutungsmuster sei im Folgenden ein Auszug aus der o.g. Forumsdebatte »Transformation der Psychiatrie in Ostdeutschland« zitiert. Der Redebeitrag stammt von einem ehemaligen Chefarzt einer psychiatrischen Klinik in der DDR: »DDR-Psychiatrie ist ein seltsamer Begriff. Es gibt eine soziale Psychiatrie, eine biologische Psychiatrie, eine demokratische Psychiatrie vielleicht auch, es gibt eine klinische Psychiatrie, aber DDR-Psychiatrie, was soll das denn sein? [...] Das wesentliche ist dabei, dass darunter eine Psychiatrie verstanden wurde, die spezifisch geprägt worden ist durch das gesellschaftliche System, durch den Unrechtsstaat der DDR. Staatsmedizin war, ist ja auch ein sehr häufig gebrauchter Begriff in diesem Zusammenhang. Also etwas, das sich auch grundsätzlich vom Westen unterscheidet. [...] Nach meiner Erfahrung hat dieser Begriff eine doppelte Funktion: Einmal, denke ich, bedeutet er eine Art Entlastung für die Akteure der Psychiatrie. Entlastung, die sicher zum Teil berechtigt ist. Das ist sicher auch ein Teil der Wahrheit, dass die Verantwortung für die schlimmen Probleme, die es hier gab, auf den Staat verlagert wird. Das ist ein Teil der Wahrheit, aber der kleinere, denke ich. Die wesentlichere Funktion, glaube ich, war und ist bis heute noch die pauschale Abwertung und Abwicklung von dem, was hier entstanden ist, unabhängig davon, ob es gut oder schlecht war. Legitimation also auch dafür, dass die Wende, die Vereinigung so verlaufen ist, auch in der Psychiatrie, wie überall auch, also eine reine Assimilation, eine reine Anpassung von Ost an West.«30

Im Gegensatz dazu begrüßten jüngere ostdeutsche Psychiater die Reformen zunächst vor allem deshalb, weil sie die Möglichkeit boten, verkrustete Strukturen in den Kliniken aufzubrechen. Viele von ihnen waren jedoch im Laufe der 1990er Jahre von den Entwicklungen ernüchtert, da sich die Gestaltungsspielräume immer mehr verengten. Ich zitiere eine Psychiaterin: »Wir sind ausgebremst worden von den Strukturen, die wir nicht kannten. Das will ich jetzt nicht beklagen, aber feststellen dürfen. Ich bin von 1991 bis 93 nicht in der Klinik gewesen. [...] Als ich dann wiederkam, merkte ich, das ist nicht mehr meins. Es waren Strukturen eingezogen, die nicht mehr bestimmt waren von diesem Geist, von dieser Aufbruchsstimmung, von dieser Vernetzung. Was mir beispielsweise sofort auffiel, dass sich die Assistenten nicht mehr mit den Niedergelassenen verständigten, was bei uns Kultur

30 Auszug aus einem Redebeitrag aus der Forumsdebatte »Transformation der Psychiatrie in Ostdeutschland« im Rahmen der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) in Leipzig am 3.10.2008.

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war, und umgekehrt auch nicht mehr. Dass es in Beschlüssen in den Chefärzte-Dienstbesprechungen nicht mehr um Probleme [der Patienten, KF], sondern ums Geld ging.«31

Neben dem Zwang zur Ökonomisierung fühlten sich die ostdeutschen Psychiater außerdem unter einem permanenten Rechtfertigungsdruck: »Wir standen manchmal auch ein bisschen am Pranger mit unserer DDR-Psychiatrie. In Westdeutschland ist das so mit dem Wandel nach dem Zweiten Weltkrieg nicht passiert. [...] Viele solcher Dinge [die Interviewte meint hier die Kritik an der Einweisungspraxis gegen den Willen, KF] haben in Westdeutschland nicht stattgefunden. [...] Und deshalb finde ich diese Diskriminierung [der DDR, KF] auch immer schwierig. [...] Mir war zum Beispiel überhaupt nicht klar, dass es solche Sachen wie Verwahrkliniken auch im Westen gab. Und in den ersten Kontakten mit westdeutschen Kollegen habe ich mich ob der großen, schrecklichen Klinik geschämt. Dann wusste ich irgendwann auch von Bedburg-Hau oder von anderen Kliniken. Das ist vielleicht auch ganz wichtig, dass in der Übergangszeit wir alle auch Informationsdefizite hatten.«32

Schien Selbstkritik für die zitierte Ärztin anfangs eine moralische Pflicht gewesen zu sein, so wurde diese Haltung später problematisch, weil sie dem politischen Zeitgeist (Problematisierung der DDR und ihrer Psychiatrie) in die Hände spielte. Wenn es die beschriebenen »Informationsdefizite« nicht gegeben hätte und sie gewusst hätte, dass es im Westen auch eine Verwahrpsychiatrie gab, hätte sich die Ärztin möglicherweise nicht für die Psychiatrie in der DDR geschämt. Der folgende Redebeitrag eines jüngeren ostdeutschen Psychiaters weist argumentativ in eine ähnliche Richtung: »Wir hätten gern mehr Zeit gehabt, uns das untereinander zu sagen. [Gemeint sind hier die Missstände in der Psychiatrie in der DDR, KF] Und nicht, dass von außen jemand kommt und uns das sagt. Und diese Zeit haben wir leider nicht gehabt, und das ist bestimmt der Ärger. [...] Und deswegen wird alles, was von außen kommt, sofort abgewehrt. Und das ist bestimmt auch so ein Punkt, weshalb wir da manchmal auch auf Sturheit geschalten haben und dass ihr [gemeint sind die westdeutschen Psychiater, KF] uns das eben nicht sagen könnt, weil wir ja auch wissen, bei euch ist nicht alles so.«33

31 Auszug aus einem Redebeitrag der Forumsdebatte »Transformation der Psychiatrie in Ostdeutschland« im Rahmen der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) in Leipzig am 3.10.2008. 32 Ebd. 33 Ebd.

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Selbstkritik scheint für diesen Psychiater nur dann möglich zu sein, wenn diese nicht von außen erzwungen wird. Die Offenlegung der DDR-Vergangenheit der Psychiatrie hätte demzufolge nur im engen Kreis derer stattfinden dürfen, die in der DDR in einer Klinik gearbeitet haben. Der Interviewauszug impliziert darüber hinaus einen nicht ausgetragenen Generationenkonflikt zwischen den jüngeren und älteren Psychiatern: Es war den »Jungen« nach 1989 nicht möglich, eine Kritik an den Verhältnissen in der DDR-Psychiatrie zu formulieren, da sie sich angesichts der westdeutschen Kritik dazu gezwungen sahen, sich als »OstPsychiater« mit ihren älteren Kollegen zu solidarisieren, um die Angriffe von außen abzuwehren. Sehen die von mir interviewten ostdeutschen Ärzte die Probleme der heutigen Psychiatrie vor allem darin begründet, dass durch die Wiedervereinigung das Gesundheitswesen immer stärker ökonomischen Zwängen unterworfen wurde, stellen sich die Fehlentwicklungen und Blockaden bei der Umsetzung der Reformvorhaben aus Sicht von Psychiatern aus den alten Bundesländern anders dar. Diese problematisieren vor allem die mangelnde Flexibilität der Verwaltungsstrukturen im Gesundheitsbereich sowie den autoritativen Umgang mit Patienten von Seiten des alteingesessenen Klinik- und Verwaltungspersonals. Im folgenden Interviewauszug schildert ein Psychiater aus den alten Bundesländern seine Erfahrungen mit Krankenkassen in Ostdeutschland wie folgt: »P: Als ich hier anfing, ich hab am Anfang gedacht ich bin im falschen Film. Da kriegt man ein Schreiben, man möge doch bitte die Akte vorbeischicken. Da sag ich: Moment einmal. Alles was da drin steht, ist im persönlichen Benehmen mit dem Patienten ins Papier geflossen. Das heißt, ich hab die ärztliche Schweigepflicht, weil ich mit dem Patienten da direkter Partner bin. Gut, es gibt gesetzliche Bedingungen, dass wir Daten freigeben müssen. Die Frage für mich ist, was muss denn eine Krankenkasse von einem Ehestreit der Patientin wissen, um die Kosten zu begleichen. [...] Das war 4, 5 Jahre also heftigster Krieg. Mittlerweile haben sie sich aber dran gewöhnt, [lacht] dass es das bei uns nicht gibt. I: Aber ist das etwas Typisches für Ostdeutschland? P: Das gibt’s im Westen auch. Aber hier ist es ein Stück schärfer gewesen. [...] Diese Obrigkeitshörigkeit Verwaltungen gegenüber. Diese unbedingte Macht von Verwaltungsorganen. Also das ist ne Hierarchie, die mir aus der Vergangenheit nicht so bewusst war. [...] In meiner alten Klinik waren alle dienstleisterisch unterwegs, also wenn ich da aus der Materialwirtschaft was gebraucht hätte, bin ich dahin gegangen und hab gesagt: ›Ja so und so, ich bräucht’ jetzt mal ein paar Kulis.‹ – ›Das ist gar kein Problem, nimm’s dir. Wenn du’s brauchst, nimm’s dir. Ich hab soviel Vertrauen in dich du wirst se net draußen verteilen.‹ Also da hätte gar, da wär’ gar keiner auf die Idee gekommen. Aber wenn ich dann

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hier so sehe, da heißt es ›Zuarbeiten‹. Ich hab, am Anfang war ich völlig irritiert. Ich hab gesagt: ›Moment. Ich als Chefarzt arbeite einer Sachbearbeiterin, die irgendwo im Nebengleis sitzt, irgendwelche Dinge zu?‹ Ich mein, ich hab damit nicht unbedingt das Problem. Nur dahinter steht für mich ne Ideologie. Ein Denkmodell: ›Ich bin die Verwaltung und wenn du leben willst, entscheide ich, ob du ne Banane kriegst oder net.‹ Und diese Modelle existieren hier in einer unglaublichen Macht. Ich merk das jetzt noch ein Stück verschärft, weil hier im Haus ham wir schon angefangen, ein bisschen mit’m Schraubenzieher zu arbeiten.«34

Der interviewte Psychiater kontrastiert Serviceorientierung (West) mit autoritärem Hierarchiedenken (Ost). Durch den Ideologieverdacht wird das Verhalten des ostdeutschen Verwaltungspersonals aus einem Gefühl der Überlegenheit heraus in Frage gestellt, was nicht zuletzt die »Bananen«-Metapher verdeutlicht. Aus den alten Bundesländern stammende Psychiater (vor allem aus dem Bereich der Sozialpsychiatrie) reflektieren meinen Interviews zufolge die allgemeinen Machteffekte der Psychiatrie offenbar stärker als ihre ostdeutschen Kollegen. Ich zitiere noch einmal den gleichen Psychiater: »Psychiatrie West und Ost sind sich viel ähnlicher als vieles andere in diesen beiden Teilstaaten. Weil Psychiatrie is ne Sache, da geht’s um, da geht’s nicht um Wissen, da geht’s auch nicht um wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern es geht um einen Zeitgeist. Es geht um die bürgerliche Vorstellung des Normalen versus des Unvernünftigen, und die Unvernunft wird halt, die wird ausgegrenzt, ja. [...] Das ist [...] ein Problem der Psychiatrie. Sie tut sich schwer, sich selbst zu hinterfragen, auch in der heutigen Zeit.«35

Eine andere Ärztin aus den alten Bundesländern bringt die Kritik an der heutigen Psychiatrie noch drastischer auf den Punkt und problematisiert die »unheilige Allianz« von ost- und westdeutschen Versorgungslogiken, zu der es nach 1989 aus ihrer Sicht kam. Diese Verbindung habe konservativen und exkludierenden Praktiken in der Psychiatrie Vorschub geleistet: »Da haben sich Ost und West sehr gut gefunden, nach 1989. Es ging nicht um Ost oder West. Das ist, als wenn ein Esel den anderen Langohr schimpft. Sondern es ging darum, dass sich in schnellster Zeit aus einer Diskussion eine Gesellschaft zusammengetan hat,

34 Interviewauszug aus einem Gespräch mit einem Chefarzt einer psychiatrischen Klinik in den neuen Bundesländern, geführt am 17.7.2007. 35 Ebd.

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die nicht mehr diskutieren wollte und sich vor allem in der Marginalisierung von Randgruppen in nichts nachsteht.«36

In dem Szenario, das die Ärztin in einem zusätzlich geführten Einzelgespräch entwirft, trafen nach 1989 autoritäre Klinikroutinen, die sich in der DDR konserviert hatten, auf neo-kustodiale Unterbringungskonzepte aus den alten Bundesländern, wo die Psychiatriereform der 1970er Jahren auf halber Strecke steckengeblieben sei. Durch die Ost-West-Debatte wurde aus ihrer Sicht ein Grabenkampf eröffnet, der vom eigentlichen Problem der Psychiatrie, d.h. ihrer gesellschaftlichen Funktion hinsichtlich der »Marginalisierung von Randgruppen«, die in allen politischen Systemen zu beobachten sei, abgelenkt habe.

V ORLÄUFIGES F AZIT Theoretischer Hintergrund des Artikels war die Annahme, dass die Funktionslogik einer psychiatrischen Klinik nicht nur auf der Erstellung von Diagnosen und der Durchführung von medizinisch-therapeutischen Behandlungen beruht, sondern auch eines nicht-medizinischen »Mehrwerts« in Form von institutionell generierten Narrativen bedarf. In diese ist die Institution Psychiatrie eingebettet und durch sie reproduzieren die Akteure institutionelle Sinnstrukturen. Sie tragen nicht nur dazu bei, dass sich das Personal in die institutionellen Routinen einpasst und diese als »selbstverständlich« erlebt, sondern generieren auch kohärente Bezüge zwischen der Vergangenheit und Gegenwart der Institution und glätten mögliche Widersprüche. Das klinische Personal ist somit nicht nur (Re-) Produzent von medizinischem oder pflegerischem Wissen oder Anwender von Verwaltungs- und Behandlungsroutinen, sondern auch Träger und Gestalter institutioneller Narrative. Darunter verstehe ich zweierlei: Einerseits die durch Akteurshandeln zum Teil über Jahrzehnte und politische Systemwechsel hinweg entstandene Geschichte einer Institution und andererseits die Geschichten der Menschen innerhalb einer Institution. Kurz gesagt: Es geht um die Einschreibungen, die Institutionen und die in ihnen handelnden Akteure wechselseitig hinterlassen haben und deren mögliche Effekte. Die Transformation der Psychiatrie nach 1989 gestaltete sich auf der Mikroebene – d.h. in den psychiatrischen Kliniken – aufgrund der gleichzeitig stattfin-

36 Auszug aus einem Redebeitrag einer Forumsdebatte zum Thema »Transformation der Psychiatrie in Ostdeutschland« im Rahmen der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) in Leipzig am 3.10.2008.

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denden politischen Umwälzungen als ein komplexer Prozess des Über- und Umschreibens von beruflichen Handlungsroutinen, fachlichen und alltagsweltlichen Orientierungen sowie (berufs-)biografischen Herausforderungen. Im Hinblick auf das vorgestellte Interviewmaterial lässt sich vor diesem Hintergrund Folgendes festhalten: Sowohl die Psychiater aus den neuen als auch den alten Bundesländern, die nach 1989 in den Kliniken aufeinandertrafen, reproduzieren einen Ost-WestGegensatz in ihren Erzählungen, um bestimmte Probleme, die im Zuge der Transformation der Psychiatrie zutage traten, zu rationalisieren. Empfanden Psychiater aus den alten Bundesländern vor allem die ostdeutschen Verwaltungspraktiken und Einstellungen als problematisch, so erlebte das Personal aus der ehemaligen DDR die neuhinzugekommenen westdeutschen Ärzte als Störfaktor. Von Seiten der jungen Ärzte, die in den 1980er Jahren am Beginn ihrer Berufslaufbahn standen und mit einem schwierigen Klinikalltag konfrontiert waren, wurden die Reformen nach 1990 zunächst begrüßt. Enttäuschend stellte sich aus ihrer Sicht jedoch das Ergebnis der Psychiatriereform dar: Anstelle der Ermöglichung einer patientenorientierten Behandlung habe vor allem die Ökonomisierung der Klinikroutinen im Vordergrund gestanden. Aus Sicht älterer Psychiater aus den neuen Bundesländern war die DDRPsychiatrie eine Psychiatrie wie jede andere, die – trotz spezifischer Mängel, die vor allem auf ökonomische Faktoren zurückgeführt werden – nach 1990 nicht hätte »zerschlagen« werden müssen. Im Mittelpunkt steht hier die Annahme, es habe keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Psychiatrie in der DDR und der Bundesrepublik gegeben. Dieses Deutungsmuster weist partiell Parallelen zu den Aussagen der von mir zitierten Psychiater aus den alten Bundesländern auf, die auf grundlegende (systemübergreifende) Problematiken der Psychiatrie hinweisen (Vernunft vs. Unvernunft, Marginalisierung von Randgruppen). Wenn ostdeutsche Psychiater problematische Aspekte der DDR-Psychiatrie thematisieren, werden diese zum Teil mit dem Argument relativiert, dass es auch in der Bundesrepublik keine gründliche Aufarbeitung der Psychiatriegeschichte nach 1945 gegeben habe und dass es nach dem Krieg in vielen westdeutschen Kliniken genauso aussah wie in DDR-Kliniken. Diese Ablehnung von Aufarbeitungsbemühungen mit dem Argument, es habe diese Phänomene und Probleme auch andernorts gegeben, erinnert an Abwehrstrategien, wie sie auch aus anderen Zusammenhängen bekannt sind (z.B. bei der »Siegerjustiz«-Debatte). Die erzwungenen (Selbst-)Auskünfte über mögliche politische Verstrickungen und die Hinweise auf problematische Aspekte der Psychiatrie in der DDR führten bei

D IE T RANSFORMATION

DER

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IN

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1989

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Psychiatern aus den neuen Bundesländern offenbar eher zu Rechtfertigungen, als zu einer offenen Debatte über die Psychiatrie in der DDR und deren Reform nach 1990.

Autorinnen und Autoren

Dr. phil. Christof Beyer ist Kulturwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizinischen Hochschule Hannover. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Psychiatriegeschichte Deutschlands des 19. und 20. Jahrhunderts und die diskursive Konstruktion von Normalität und Abweichung in Öffentlichkeit und Medien. Prof. Dr. med. Heiner Fangerau ist Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte, Theorie und Ethik der Biomedizin des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die Geschichte der Rassenhygiene/Eugenik, die Geschichte und Ethik der Psychiatrie, Historische Netzwerkanalyse sowie die Klassifikation und Evolution in der medizinischen Diagnostik. Dr. phil. Alfred Fleßner ist freiberuflicher Historiker und Politologe und arbeitet an der Forschungsstelle Geschichte der Gesundheits- und Sozialpolitik (GGS) am Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik der Carl-von-OssietzkyUniversität Oldenburg. Seine aktuellen Forschungsgebiete sind die NS-Medizin im Land Oldenburg und Erinnerungs- und Gedenkkultur zum Thema NS»Euthanasie«. Er ist Wissenschaftlicher Beirat des Gedenkkreis Wehnen e.V. – Angehörige von Opfern der NS-Euthanasie in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen. Kathrin Franke, M. A., ist Politikwissenschaftlerin und Doktorandin am Institut für Politikwissenschaft in Leipzig sowie Mitarbeiterin am Hochschuldidaktischen Zentrum Sachsen.

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Prof. Dr. phil. Svenja Goltermann ist Professorin für Geschichte der Neuzeit am Historischen Seminar der Universität Zürich. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören u.a. die Geschichte des internationalen Humanitarismus, die Geschichte von Erinnerungskulturen, die Wissenschaftsgeschichte und die Körpergeschichte. Sie schreibt derzeit an einem Buch über die Verwandlung von Opferwahrnehmungen im 19. und 20. Jahrhundert. Prof. Dr. phil. Doris Kaufmann ist Direktorin der Abteilung Neuere und Neueste Geschichte des Instituts für Geschichtswissenschaft der Universität Bremen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Kultur- und Wissenschaftsgeschichte von Devianz und Abweichung im 19. und 20. Jahrhundert sowie »Primitivismus« im transdisziplinären Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts. Dr. med. dent. Claudia Kintrup promovierte 2011 im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) geförderten Projekts »›Politik‹ in deutschen und britischen medizinischen Fachjournalen von der Zwischenkriegszeit bis in die 1950er Jahre« am Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin der Medizinischen Hochschule Hannover. Ihre Dissertation untersuchte den »Diskurs über Schizophrenie und Geisteskrankheiten in der ›Deutschen Medizinischen Wochenschrift‹ und der Zeitschrift ›Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete‹ in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus«. PD Dr. phil. Georg Lilienthal ist Leiter der Gedenkstätte Hadamar für die Opfer der NS-»Euthanasie«-Verbrechen und Privatdozent am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Mainz. Er hat zahlreiche Arbeiten zu Medizin, Rassenpolitik und »Euthanasie«-Verbrechen im Nationalsozialismus veröffentlicht. Prof. Dr. rer. nat. Brigitte Lohff ist Leiterin des Instituts für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover und Gastprofessorin am Institut für Sozialmedizin der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Medizin, Deutsch-Jüdische Forscherbiografien, Gender Medizin sowie die Geschichte von Public Health. Prof. em. Dr. med. Wielant Machleidt ist Psychiater, Psychotherapeut und Psychoanalytiker und leitete von 1994 bis 2007 die Klinik für Sozialpsychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover. Er ist ausge-

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wiesener Experte in der Ethnomedizin und Transkulturellen Psychiatrie und hat jüngst ein Handbuch zur »Praxis der interkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie« (gemeinsam mit Andreas Heinz) herausgegeben. Seine auf den Lindauer Psychotherapiewochen gehaltenen Vorlesungen erscheinen 2013 unter dem Titel »Kultur, Migration und psychische Gesundheit. Dem Fremden begegnen.« Prof. Dr. med. Volker Roelcke ist Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin an der Justus-Liebig-Universität Gießen und seit 2009 Vorsitzender der Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN). Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Psychiatrie, Medizin im Nationalsozialismus, Wechselbeziehungen zwischen Eugenik und Humangenetik, Geschichte und Ethik der Forschung am Menschen, Tier-Mensch-Übergänge in der medizinischen Forschung und Anthropologie in der Medizin. Dr. phil. Thomas Röske ist seit 2002 Leiter der Sammlung Prinzhorn am Universitätsklinikum Heidelberg. Nach einem Studium der Kunstgeschichte, Musikwissenschaft und Psychologie in Hamburg hat er 1991 über Hans Prinzhorn promoviert. 1993 bis 1999 war er Wissenschaftlicher Hochschulassistent am Kunstgeschichtlichen Institut der Universität Frankfurt und 1996 bis 1999 Stellvertretender Sprecher des dort angesiedelten Graduiertenkollegs »Psychische Energien bildender Kunst«. Dr. med. Maike Rotzoll, Fachärztin für Psychiatrie und Medizinhistorikerin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Heidelberg. Sie war 2002 bis 2005 Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Wissenschaftliche Erschließung und Auswertung des Krankenaktenbestandes der nationalsozialistischen ›Euthanasie‹-Aktion T4«. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Psychiatrie im Nationalsozialismus und die Medizin der frühen Neuzeit. Prof. Dr. phil. Hans-Walter Schmuhl ist freiberuflicher Historiker und seit 2005 außerplanmäßiger Professor an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld. Seine Forschungsschwerpunkte sind Geschichte des Nationalsozialismus, Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, Bürgertumsgeschichte, Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung sowie Diakoniegeschichte. Derzeit bearbeitet er im Auftrag der Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte der DGPPN die Rolle dieses Verbandes im Nationalsozialismus.

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Dr. phil. Rebecca Schwoch ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universitätsklinikum HamburgEppendorf. Sie forscht zur Psychiatrie-, Sozial- und Medizingeschichte im 19. und 20. Jahrhundert; ihr aktuelles Forschungsprojekt ist die medizinische Versorgung von Juden für Juden am Beispiel der »Krankenbehandler« in Berlin und Hamburg zwischen 1938 und 1945. Dr. phil. Sigrid Stöckel, MPH, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin der Medizinischen Hochschule Hannover. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Entwicklung gesellschaftspolitischer Diskurse in medizinischen Fachzeitschriften in Deutschland und Großbritannien, Rationalisierungskonzepte von Fürsorge und Eugenik im 20. Jahrhundert sowie die Geschichte öffentlicher Gesundheitssicherung. Dr. rer. biol. hum. Christine Wolters ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin der Medizinischen Hochschule Hannover. Sie forscht zur Geschichte der Tuberkuloseforschung und -bekämpfung im Nationalsozialismus und der Bundesrepublik sowie zur Integration von gliedmaßenamputierten Kriegsversehrten in der frühen Bundesrepublik.

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Christian Kehrt, Peter Schüssler, Marc-Denis Weitze (Hg.) Neue Technologien in der Gesellschaft Akteure, Erwartungen, Kontroversen und Konjunkturen 2011, 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1573-9

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Ulrich Salaschek Der Mensch als neuronale Maschine? Zum Einfluss bildgebender Verfahren der Hirnforschung auf erziehungswissenschaftliche Diskurse Februar 2012, 226 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2033-7

Myriam Spörri Reines und gemischtes Blut Zur Kulturgeschichte der Blutgruppenforschung, 1900-1933 März 2013, ca. 470 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1864-8

Birgit Stammberger Monster und Freaks Eine Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert 2011, 344 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1607-1

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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