Ein Jahrhundert Sozialversicherung in Österreich [1 ed.] 9783428449002, 9783428049004


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German Pages 286 [291] Year 1981

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Ein Jahrhundert Sozialversicherung in Österreich [1 ed.]
 9783428449002, 9783428049004

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MAX-PLANCK·INSTITUT FtrR AUSLXNDISCHES UND INTERNATIONALES SOZIALRECHT

Ein Jahrhundert Sozialversicherung in Osterreich

Schriftenreihe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht Herausgegeben von Ha n

1

F. Z a c h e r, München

Band 6h

Ein Jahrhundert Sozialversicherung in Österreich

Von

Univ.-Prof. Dr. Herhert Hofmeister

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Beitrag aus Band 6 der Schriftenreihe für Internationaoles und Vergleichendes Sozialrecht "Ein Jahrhundert Sozialversicherung in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich und der Schweiz", herausgegeben von Peter A. Köhler und Hans F . Zacher

Alle Rechte vorbehalten

@ 1981 Duncker & Humblot, Berlln 41

Gedruckt 1981 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlln 61 Prlnted in Germany ISBN 3 428 04882 2 (Gesamtausgabe) ISBN 3 428 04900 4 (Bd. 6 b)

Vorwort Bei der vorliegenden Schrift handelt es sich um einen Separatabdruck aus dem vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Hans F. Zacher herausgegebenen Sammelwerk "Ein Jahrhundert Sozialversicherung in (der Bundesrepublik) Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich und der Schweiz"*. Äußerer Anlaß dieser Publikation ist das 100-Jahr-Jubiläum der kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881, mit der die moderne deutsche Sozialgesetzgebung ihren Anfang nahm. Während der deutsche Landesbericht die geistigen Wurzeln, die Entstehungsgeschichte und die Weiterentwicklung der Bismarckschen Arbeiterversicherungsgesetze der Jahre 1883- 1889 zur Darstellung bringt, war es Aufgabe der übrigen vier Landesberichte, einerseits die Ausstrahlung der bahnbrechenden deutschen Gesetzgebung und andererseits die nationalen Sonderentwicklungen aufzuzeigen. Erfreulicherweise weist das Schrifttum eine große Anzahl vorzüglicher Detailstudien auf, in denen sich das lebhafte Interesse sowohl der Theoretiker als auch der Praktiker des Österreichischen Sozialversicherungsrechts an dessen historischer Dimension widerspiegelt. Darüber hinaus hat gerade in jüngster Zeit die sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Forschung sehr wertvolle Darstellungen größerer Teilgebiete der Geschichte des Österreichischen Sozialversicherungsrechts hervorgebracht. Es fehlte jedoch bislang eine Gesamtdarstellung größeren Umfangs; der Initiative Univ.-Prof. Zachers und des von ihm geleiteten MaxPlanck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht in München ist es zu danken, daß nunmehr der Versuch unternommen werden konnte, diese Lücke zu schließen. Dies ist nach Meinung des Verfassers vor allem in Rücksicht auf die neue Österreichische juristische Studienordnung von Bedeutung, durch die das Sozialrecht, wenn auch nur in Grundzügen, in den Kreis der Pflichtfächer aufgenommen wurde; nur durch eine angemessene Berücksichtigung der historischen Komponente wird es möglich sein, in dieser sich ständig wandelnden Materie

* I. e. Band 6 der Schriftenreihe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht, herausgegeben von Peter A. Köhler und Hans F. Zacher, Berlin 1981.

die dominierenden Systemelemente und Entwicklungstendenzen sowie deren sozialpolitischen Stellenwert verständlich zu machen. Was die inhaltlichen Schwerpunkte der Darstellung betrifft, so war es ein Hauptanliegen des Verfassers, trotz der Fülle des sich anbietenden Materials auf die Einbeziehung der Verfassungs- sowie der Sozialund Wirtschaftsgeschichte nicht zu verzichten, da eine "isolierte" Geschichte des Sozialversicherungsrechtes unverständlich bleiben müßte. Jedem Abschnitt des Hauptteiles ist daher eine ziemlich umfangreiche Darstellung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme der jeweiligen Periode vorangestellt. Nicht zuletzt wegen der hierdurch bedingten Umfangüberschreitung habe ich Herrn Prof. Zacher und dem Verlag Duncker & Humblot sehr dafür zu danken, daß sie der Separatveröffentlichung zustimmten. Ferner danke ich Herrn Dr. Peter Fischer vom Österr. Staatsarchiv/Abt. Allg. Verwaltungsarchiv für seine überaus wertvolle Unterstützung bei meinen Archivstudien, Herrn Peter A. Köhler vom Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht für die von österreichischer Seite verursachte Mehrarbeit sowie Frau Evitta Friedrich für die ebenso rasche wie sorgfälti:ge Herstellung des Manuskripts. Auch diese Schrift ist meiner Frau, Dr. Lilian Hofmeister, gewidmet. Herbert Hofmeister

Dieses Buch hat eine doppelte Paginierung. Die inneren Seitenzahlen gelten für dieses Buch, die äußeren Seitenzahlen für den Gesamtband.

Inhaltsübersicht

A. Grundzüge und Eigenarten der Sozialversicherungsgesetzgebung in Österreich 9

453

II. Der Grundsatz der Pflichtversicherung; der Kreis der Pflichtversicherten ......... ... . . ....... . ..... ..... .. . ......... . . 10

454

11

455

13 13 13

457 457 457

14

458

V. Das Verfahren im Sozialversicherungsrecht ............... .

15

459

VI. Grundlinien des Leistungsrechts ............. . ........ . ... . 1. Krankenversicherung .... . .......... .... . ............. . 2. Unfallversicherung .............................. . .... . 3. Pensionsversicherung . ..... .. . . ...... .. ........ . .... . . .

15 15 17 18

459 459 461 462

VII. Die wirtschaftliche Bedeutung der Sozialversicherung; die Aufbringung der Mittel; der "Umverteilungseffekt" .. . .... . 19

463

I. Der Begrüf "Sozialversicherung" in Österreich ........ . .. .

III. Der derzeitige Stand der Sozialversicherungs-Gesetzgebung . IV. Die Organisation der Österreichischen Sozialversicherungsträger ... . ................ . ................. . ........... . 1. Selbstverwaltung ..... . ............................... . 2. Träger ......... . ................................. . . . . . 3. Organe der Sozialversicherungsträger; Zusammensetzung; Kompetenzen .... . . . .... . . . . .. ..... .. .. ..... ... .. . .... .

B. Die historische Entwicklung 1. Abschnitt: Die Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • •

I. Politische, verfassungsrechtliche und ideologische Rahmenb edingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Vormärz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Revolution von 1848 in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Neoabsolutismus (1851 - 1860) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rückkehr zum Konstitutionalismus 1859 -1867; die Dezemberverfassung von 1867 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

467

23

29

467 467 468 470 473

32

476

23

24 26

448

Inhaltsübersicht 6. Politische Aktivitäten der Arbeiterschaft 1867 - 1889 7. Das Ministerium Hohenwart-Schäffle; die sozialpolitischen Thesen Eberhard Friedrich Schäffles . . . . . . . . . . . . . 8. Die Spätphase des politischen Liberalismus in Österreich; die Ursachen für die politische Wende von 1879 . . . . . . . . . . 9. Die sozialreformerischen Ideen der Konservativen (Ketteler, Liechtenstein, Vogelsang) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Die Rolle der Bürokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II. Die sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Anfänge der Industrialisierung in Österreich und deren soziale Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vormärz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Neoabsolutismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Depressionsphase 1857 - 1866 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Aufschwungphase 1867 - 1873 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Der Börsenkrach von 1873 und dessen sozio-ökonomischen Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die Struktur der Österreichischen Wirtschaft (insbes. Industrialisierungsgrad) um 1880 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Die soziale Lage der Arbeiterschaft um 1880 . . . . . . . . . . . . .

4

34

478

38

482

42

486

45

48

489 492

49

493

49

51

493 494 494 495 495

51

495

52

496 497

50 50 51

53

III. Besonderheiten der Rechtstradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bürgerliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zivilprozeßrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54 55

498 498 499

2. Abschnitt: Vorläufer und erste Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

499

I. Die Bruderladen, insbes. seit dem Berggesetz von 1854 . . . . . .

55

499

60 60

504 504 504

64

508

III. Freiwillige Hilfskassen (nach 1867) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

511

3. Abschnitt: Die Entstehung der Arbeiterversicherungs-Starnmgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

514

I. Die politischen Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

514

70

514 517

II. Die Fabriks- und Genossenschaftskassen der Gewerbeordnung von 1859 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Fabrikskrankenkassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Genossenschaftskrankenkassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Reformbestrebungen in den Gewerbeordnungsentwürfen der 70er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1. Zusammensetzung und politischer Kurs der Regierung(en) Taaffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Thronrede von 1879 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3. Die Rolle Emil Steinbachs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

60

73 74

518

449

Inhaltsübersicht

5

II. Sozialpolitische Aktivitäten vor den Arbeiterversicherungsgesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 1. Das ,.Linzer Programm" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 2. Der Antrag der Liberalen von 1882 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3. Die Gewerbeordnungsnovellen von 1883 und 1885 . . . . . . . 80

520 520 522 524

III. Die bahnbrechende Arbeiterversicherungsgesetzgebung des Deutschen Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

528

IV. Das Arbeiter-Unfallversicherungsgesetz vom 28. Dezember 1887 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

533

1. Das Elaborat Steinbachs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

533

2. Die Beratungen des Ministerrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

536

3. Die 1. Regierungsvorlage; die Beratungen im Gewerbeausschuß des Abgeordnetenhauses ...... ... .......... "·' . 98

542

4. Stellungnahmen aus Wirtschaftskreisen ................. 106

550

5. Neukonstituierung des Reichsrates; J. M. Baernreither .. 107

551

6. Die 2. Regierungsvorlage und deren parlamentarische Behandlung .............................................. 109

553

7. Die Haltung der sozialdemokratischen Arbeiterschaft . . . . 114

558

V. Das Arbeiter-Krankenversicherungsgesetz vom 30. März 1888 118

562

................................ 118

562

2. Die Beratungen im Abgeordnetenhaus .. .... ..... .. .. .. . 123

1. Die Regierungsvorlage

567

3. Stellungnahmen der sozialdemokratischen Arbeiterschaft 125

569

4. Die Beratungen im Herrenhaus; kaiserliche Sanktion .... 127

571

5. Erste Detailkorrekturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

573

VI. Das HUfskassengesetz vom 16. Juli 1892 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

573

1. Werdegang ... ..... . . . . .. . . ............................ 129

573

2. Zielsetzungen ..... . ......... .... .. . .... . . .. . ... ...... . . 130

574

3. Auswirkungen ..... .. .............................. . ... 132

576

VII. Das Bruderladengesetz vom 28. Juli 1889 .................. 133

577

1. Reformpläne der liberalen Ära . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

577

2. Regierungsberatungen ; statistische Vorarbeiten .. .. ...... 134

578

3. Die Regierungsvorlage von 1887 und deren parlamentarische Behandlung ..................................... 136

580

4. Die wesentlichen Bestimmungen des Bruderladengesetzes 139

583

4. Abschnitt: Die Entwicklung von 1893 bis 1918 ... .. .. .... . ... ... 145

589

I. Die Sozialversicherungsgesetzgebung (Überblick) auf dem Hintergrund der Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsentwicklung .................................................. 145

589

29 Sozialversicherung

450

Inhaltsübersicht

II. Die Entwicklung der Unfallversicherung

6 157

601

1. Das Ausdehnungsgesetz vom 20. Juli 1894 .............. . 157

601

2. Die praktischen Erfahrungen mit dem UVG; die Rechtsprechung auf dem Gebiet der Unfallversicherung ...... 160

604

3. Kritik und Reformbestrebungen; der Reformentwurf aus der Ära Badeni; die Unfallversicherung im Körberschen Programm ....... .... ................... . ............. 162

606

4. Die Gesetzgebung auf dem Gebiet der Unfallversicherung bis 1918 ........... ... .................. . ............... 165

609

III. Die Entwicklung der Krankenversicherung .. .............. 167

611

1. Die praktischen Erfahrungen mit dem KVG; die Recht-

sprechung auf dem Gebiet der Krankenversicherung; Kritik und Reformbestrebungen .......... . . .. .............. 167

611

2. Die Gesetzgebung auf dem Gebiet der Krankenversicherung bis 1918 .......................................... 170

614

IV. Das Pensionsversicherungsgesetz für Angestellte vom 16. Dezember 1906 und dessen 1. Novelle vom 25. Juni 1914 .... . ... 171

615

1. Werdegang ............................................ 171

615

2. Wesentliche Bestimmungen .......................... .. 173

617

3. Kritik und Reformbestrebungen, insbes. 1. Novelle aus 1914 ................................................... 175

619

V. Projekte für eine allgemeine Invaliden- und Altersversicherung ........... .. .................................... . ... 176

620

1. Parlamentarische Aktivitäten seit 1891 .................. 176

620

2. Das Körbersche Programm .............. .. ............ . 177

621

3. Die ersten "Sozialversicherungs"-Projekte der Regierungsvorlagen von 1908 und 1911 ........ .. .............. 179

623

4. Die "Leitsätze" für den Ausbau der Sozialversicherung 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

625

5. Abschnitt: Die Entwicklung in der 1. Republik (1918 -1938) ...... 182

626

I. Die Sozialversicherungsgesetzgebung (Überblick) auf dem Hintergrund der Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsentwicklung ............ . .................................... 182

626

II. Reformen und Reformprojekte der Ära Hanusch . . . ........ 188

632

1. Reform der Kassenorganisation ..... . ................. . 188

632

2. Das Gesetz vom 13. Juli 1920, betreffend die Krankenversicherung der Staatsbediensteten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188

632

3. Einführung der Arbeitslosenversicherung, insbes. das Gesetz vom 24. März 1920 ................................. 189

633

4. Projekte zur Einführung der Invaliditäts- und Altersversicherung der Arbeiter . .... . ........ .. . .. . . ... . . . .... . . 193

637

7

Inhaltsübersicht

451

111. Reformen auf dem Gebiet der Arbeiter- und Angestelltenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

638

1. Teilverbesserungen ............. . ........ . ............. 194

638

2. Die 2. und 3. Novelle zum Pensionsversicherungsgesetz aus 1906; die Idee einer berufsständischen Aufgliederung der Sozialversicherung; das Angestelltenversicherungsgesetz vom 31. Dezember 1926 ................................ 196

640

3. Das Arbeiterversicherungsgesetz vom 1. April 1927 ...... 199

643

IV. Das Notariatsversicherungsgesetz vom 28. Oktober 1926 .... 203

647

V. Die Einbeziehung der land- und forstwirtschaftliehen Arbeiter in die Sozialversicherung, insbes. das Landarbeiterversicherungsgesetz vom 18. Juli 1928 ......................... 203

647

VI. Reformen der Bergarbeiter-Sozialversicherung ............. 206

650

VII. Sozialversicherung der Handels- und Gewerbetreibenden . . 207

651

VIII. Das Gesetz, betreffend die gewerbliche Sozialversicherung (GSVG) vom 30. März 1935 ................................ 207

651

6. Abschnitt: Die nationalsozialistische Ara ......... . ............. 211

655

I. Die Sozialversicherungsgesetzgebung (Überblick) auf dem Hintergrund des politischen Geschehens und der Wirtschaftsentwicklung . . .. ...... . ............................ . ...... 211

655

II. Die Veränderungen hinsichtlich Versicherungspflicht, Finanzierung und Leistungskatalog .............. .. ............ . . 214

658

111. Die Veränderungen in organisatorischer Hinsicht ...... ... . . 217

661

7. Abschnitt: Die Zweite Republik (1945- Gegenwart) . . .. .,. . .... 218

662

I. Die Sozialversicherungsgesetzgebung (Überblick) auf dem Hintergrund der Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsentwicklung ........ ... .... .. . . .... .... ............. .. . ,...... 218

662

II. Das Sozialversicherungs-Überleitungsgesetz vom 12. Juni 1947 .................. ... . . . ... . . ... .... .. ... ..... ...... .. 225

669

III. Die Weiterbildung des Sozialversicherungsrechts bis zum ASVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 1. Die Anpassungsgesetze, das Zusatzrentengesetz u. a ...... 227

671

2. Annäherung der Arbeiterrenten- an die Angestelltenpensionsversicherung; der Abbau der Kriegsbegünstigungen; die "Entnivellierungen" der Renten ..... ... ............ 228

672

671

3. Die Altersunterstützung der Handels- und Gewerbetreibenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228

672

4. Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

673

452

Inhaltsübersicht

8

IV. Das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) vom 9. September 1955 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 1. Werdegang ........... . ................................ 229 2. Hauptanliegen und Charakteristika ..................... 230

673 673 674

V. Die Novellen zum ASVG ................... ... ............ 234

678

VI. Die Weiterentwicklung der Sozialversicherung der Staats(Bundes-)bediensteten sowie der Notare ................... 238

682

VII. Die Weiterentwicklung der Sozialversicherung der gewerblich und freiberuflich Selbständigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

683

VIII. Die Weiterentwicklung der Bauern-Sozialversicherung ...... 243

687

C. Schluß I. Die Ausgangssituation zu Beginn der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts unter Einbeziehung des Vergleichs zu anderen europäischen Staaten (insbes. zum Deutschen Reich) .... 248 1. Die politische und ideologische Situation der Donaumonarchie (zisleithanische Reichshälfte) . . .................. 248 2. Die sozio-ökonomische Situation der Donaumonarchie; die vorhandenen Einrichtungen der sozialen Fürsorge bzw. des Rechtsschutzes; Selbsthilfeorganisationen der Arbeiter 254 II. Individuelle und richtungweisende Charakterzüge des Österreichischen Sozialversicherungsrechts .. ............... .... . 1. Der Kreis der Versicherten ............ . ... ............. 2. Die Technik der Gesetzgebung ............ . ............. 3. Die gedeckten sozialen Risken; die Leistungen .......... 4. Die Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Organisation . .. .. . ................. ... ........... .. III. Entwicklungstendenzen und Zukunftsperspektiven . . . . . . . . 1. Unfallversicherung .................. .... ............. . 2. Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Pensionsversicherung ................ . .. ......... ... ...

Literatur

256 256 259 261 268 275

692 692 698 700 700 703 705 712 719

284

724 724 727 728

286

730

280 280 283

A. Grundzüge und Eigenarten der Sozialversicherungsgesetzgebung in Osterreich I. Der Begriff "Sozialversicherung" in Österreich

Im Hauptteil dieser Arbeit wird zu zeigen sein, wie Österreich teils in Anlehnung an das deutsche Vorbild, teils in schöpferischem Alleingang ein System der sozialen Sicherheit entwickelt hat, das diesem seit 1918 vergleichsweise kleinen Land einen vorderen Rang unter den "sozialen Leistungsstaaten" der Gegenwart zuweist1• Bevor auf den derzeitigen Stand der Sozialversicherung näher eingegangen wird, sei noch auf die in Österreich insbes. in Hinblick auf die Judikatur des Verfassungsgerichtshofs gebräuchliche Begriffsabgrenzung2 hingewiesen: Nach der vom Österreichischen Verfassungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung augewandten "objektiv-historischen" Interpretation ist dem Kompetenztatbestand "Sozialversicherungswesen" der "Typus der 1925 installierten Sozialversicherung" zugrundezulegen. Im Lichte dieser Auslegung ist "Sozialversicherung" eine bestimmte Sicherungsform zur Ausschaltung oder Milderung von Gefahren, die die wirtschaftliche Existenz des Menschen an sich (und nicht nur jene bestimmter Schichten der Bevölkerung) bedrohen, und weist überdies die folgenden Charakteristika auf: a) Anknüpfungspunkt für die Versicherungspflicht ist grundsätzLich eine Erwerbstätigkeit; b} es muß zwar kein versicherungsmathematischer, wohl aber ein "funktioneller" Zusammenhang zwischen Beiträgen und Leistungen bestehen; c) in gewissem Umfang ist die Mitfinanzierung durch öffentliche Mittel für die Sozialversicherung typisch, eine öffentliche Finanzierung schlechthin wäre mit dem in Österreich üblichen Begriff der "Sozialversicherung" unvereinbar. Sozialpolitisch bedeutsame Maßnahmen wie etwa die Einbeziehung der Schüler, Studenten und Lebensretter sowie beispielsweise die Gewährung von Ausgleichszulagen gehören in Rücksicht auf die angeführten Begriffsmerkmale jedenfalls nicht zum Kernbereich der Sozialver1 Zum Begriff der "leistenden Verwaltung" jetzt eingehend Richard Novak, in: Allgemeines Verwaltungsrecht (Festgabe für W. Antoniolli), 1979, S. 64 f.; Raoul F. Kneucker, ebd., S. 515 f. 2 Vgl. System des österr. Sozialversicherungsrechts, hrsg. v. Theodor Tomandl, 1978/80, Abschnitt 0.2.1. (Tomandl) mit Angabe weiterführender Lit.

454

Landesbericht Österreich

10

sicherung, werden in die Darstellung aber nichtsdestoweniger einbezogen. Berücksichtigt wird auch die Arbeitslosenversicherung, die in der Organisation (keine Selbstverwaltung, sondern staatliche Verwaltung), im Verfahren und im Leistungsrecht zwar eigenständige Regelungen aufweist, aber in anderen Punkten (insbes. hinsichtlich der Versicherungspflicht, Beitragseinhebung etc.) eng mit der Sozialversicherung verknüpft ist3. II. Der Grundsatz der Pftichtversicherung; der Kreis der Pflichtversicherten

Schon seit den Anfängen bildet der Grundsatz der Pflichtversicherung das tragende Element der Österreichischen Sozialversicherung. Der Kreis der Pflichtversicherten wurde in Übereinstimmung mit dem deutschen Vorbild4 unter dem Gesichtspunkt der Schutzbedürftigkeit der einzelnen Gruppen von Erwerbstätigen festgelegt, wobei die industriellen Arbeiter die "Kerngruppe" darstellten, die nach und nach eine Erweiterung durch andere Gruppen von Beschäftigten (Eisenbahnbedienstete, land- und forstwirtschaftliche Arbeiter etc.) erfuhr. Schon jetzt sei darauf hingewiesen, daß - im Gegensatz zur Entwicklung bzw. teilweise auch zur geltenden Regelung in Deutschland- der Einkommenshöhe als Abgrenzungskriterium in Österreich geringe Bedeutung zukommt, nämlich allenfalls als Kriterium geringfügiger Beschäftigung i. S. des§ 5 Abs. 1, Z. 2 ASVG; eine Einkommensobergrenze i. S . der §§ 165 und 166 RVO (Versicherungspflicht für Angestellte und gewisse selbständig Erwerbstätige in der Krankenversicherung) ist dem Österreichischen Recht unbekannt. Charakteristisch ist für das Österreichische Recht ferner seit langem die weitgehende Obereinstimmung der Versichertenkreise in den einzelnen Sparten, insbes. durch Anknüpfung der Versicherungspflicht in der Unfallversicherung an die in der Krankenversicherung normierte. Die Entwicklung der letzten Jahre hat freilich in beiden Ländern die nahezu lückenlose Einbeziehung aller Erwerbstätigen bzw. ihrer Angehörigen in den Schutzbereich der Sozialversicherung und damit nicht nur eine weitgehende Annäherung der ohnehin historisch eng verbundenen Systeme des deutschen und Österreichischen Sozialversicherungsrechts, sondern darüber hinaus auch an solche Systeme gebracht, die vom Wohnsitzprinzip ausgehen. So waren beispielsweise im Jahresdurchschnitt 1978 bereits 99,1 Ofo der Gesamtbevölkerung (durchschnittlich 7.508.000) in der Krankenversicherung leistungsberechtigt, und zwar teils als beitragszahlende Versicherte, teils als mitgeschützte Angehörige. Vgl. Tomandl, Grundriß des österr. Sozialrechts, 2. Aufl., 1980, Nr. 280. Vgl. Detlev Zöllner in diesem Sammelband, S. 45 ff.; jüngst auch Joachim Umlauf, Die deutsche Arbeiterschutzgesetzgebung, 1980, insbes. S. 79 ff. 3

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Ein ähnlich umfassender Versicherungsschutz ist auch in der Unfall- und Pensionsversicherung gegeben5 • Ähnlich wie das deutsche System weist allerdings auch das Österreichische noch einzelne Lücken auf; so ist insbes. auf den unzureichenden sozialen Schutz der Berufsanfänger, nicht erwerbstätiger Hausfrauen und (von Geburt an) behinderter Personen hinzuweisen6, auch ist die Entwicklung einer weitgehenden Angleichung des Leistungsniveaus der Selbständigen- an die Unselbständigensozialversicherung zwar bereits weit fortgeschritten, aber wohl noch nicht abgeschlossen. Einer mit dem Geist der Familienrechtsreform7 konformen Lösung harrt derzeit auch noch die Frage der Witwerpension (s. gleich unten). 111. Der derzeitige Stand der Sozialversicherungsgesetzgebung

Wie im Hauptteil8 zu zeigen sein wird, war der damalige Österreichische Gesetzgeber in den Jahren vor dem Ausbruch des 1. Weltkriegs nahe daran, ein alle Zweige der Sozialversicherung (mit Ausnahme der Arbeitslosenversicherung) für alle Unselbständigen und Selbständigen regelndes Gesetz zur Verabschiedung zu bringen, womit der Regelungsumfang der deutschen RVO noch übertroffen worden wäre. Die Kriegsereignisse und die schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse der 1. Republik lenkten die Aufmerksamkeit der Gesetzgebung auf bescheidenere Ziele. Man beschränkte sich daher, unter weitgehender Vernachlässigung der Selbständigen, auf die Erlassung einzelner Gesetze für die verschiedenen "Berufsstände" (Arbeiter, Land- und Forstarbeiter, Angestellte) der Unselbständigen; erst durch das GSVG 1935 wurde neuerlich eine umfassende Regelung angestrebt; in der Zeit der deutschen Besetzung waren die RVO und andere deutsche Sozialversicherungsgesetze in Geltung. Nach 1945 (nämlich durch das SV-ÜG 1947) wurden für die Unselbständigen die deutschen Vorschriften zunächst in Geltung belassen; nur für zwei Berufsgruppen wurden i. S. der Vorkriegsgesetzgebung wieder 5 Bericht über die soziale Lage 1978 (Sozialbericht), 1979, S. 84 ff.; nach dem "Handbuch der österr. Sozialversicherung" für 1979, S. 13 ff., betrug der Anteil der Krankenversicherten 99,3 ~/o, bereinigt (ohne Doppelversicherungen) ca. 96 Ofo; unfallversichert waren ca. 5 Mill., pensionsversichert 2,78 Mill. (bei einem Beschäftigtenstand von 2,8 Mill.). Die gesetzlichen Ausnahmen der Vollversicherung (insbes. sog. Teilversicherung) sind übersichtlich zusammengestellt bei Tomandl, Grundriß, Nrn. 72 - 75. 8 Vgl. hiezu jüngst die rechtsvergleichende Darstellung Eike v. Hippels, Grundfragen der sozialen Sicherheit(= Recht und Staat 492/493), 1979, S. 56 ff. 7 Vgl. die instruktive Darstellung bei Helmut Kozioll Rudolf Weiser, Grundriß des bürgerlichen Rechts II, 5. Aufl., 1979, insbes. S. 168 ff. 8

B/4, V.

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spezielle Sozialversicherungsgesetze in Geltung gesetzt, nämlich für die Beamten und die Notare. Derzeit ist das Sozialversicherungsrecht (Kranken- und Unfallversicherung) der Beamten im B-KUVG 1967, das der Notare (nur Pensionsversicherung unter Einbeziehung gewisser Risiken der Unfallversicherung) im NVG 1972 geregelt. Für die größte Gruppe der Versicherten, nämlich die Unselbständigen (Arbeiter, Angestellte und Bergarbeiter), wurde 1955 das alle Sparten der Sozialversich·erung mit Ausnahme der Arbeitslosenversicherung regelnde ASVG erlassen; dieses regelte insbes. auch die Unfallversicherung der Selbständigen im Gewerbe sowie in der Land- und Forstwirtschaft. Für diese beiden Gruppen bestehen nunmehr spezielle Sozialversicherungsgesetze, nämlich das GSVG 1978 und das BSVG 1978, wobei das letztere die Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung der Bauern, das erstere dagegen nur die Kranken- und Pensionsversicherung der Gewerbetreibenden regelt, während die Unfallversicherung dieser Berufsgruppe nach wie vor eine Teilversicherung im Rahmen des ASVG bildet. Im engen Anschluß an das GSVG wurde ebenfalls 1978 das Gesetz "über die Sozialversicherung freiberuflich selbständiger Erwerbstätiger" (FSVG) erlassen. Sieht man von der in einem eigenen Gesetz für alle Versicherten einheitlich geregelten Arbeitslosenversicherung9 ab, so ist das Österreichische Sozialversicherungsrecht demnach derzeit auf sechs Gesetze aufgeteilt, auf das ASVG, GSVG, FSVG, BSVG, B-KUVG und das NVG. Damit ist- in Relation zu früheren Zuständen- zwar ein beachtenswerter Grad der Konzentration des Rechtsstoffes erreicht; nichtsdestoweniger aber wird, zumal in Rücksicht auf die häufigen Novellen, die Zusammenfassung des gesamten Sozialversicherungsrechts in einem Gesetz als anzustrebendes Idealziel angesehen10• Gleichzeitig versucht man, durch die seit 1976 gesetzlich vorgesehene Einrichtung und Führung einer Dokumentation des ÖSterreichischen Sozialversicherungsrechts vor allem den mit der Gesetzgebung bzw. Gesetzesvorbereitung befaßten Institutionen die Handhabung der schwierigen und nach wie vor sehr unübersichtlichen Materie zu erleichtern.

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Vgl. Tomandl, Grundriß, Nrr. 280 ff. Peter Widlar, Soziale Sicherheit (SozSi), 1977, S. 241 f.

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IV. Die Organisation der Österreichischen Sozialversicherungsträger

1. Selbstverwaltung

Daß die Österreichischen Sozialversicherungsträger als SeLbstverwaltungskörper anzusehen sind, war in der ÖSterreichischen Lehre und Rechtsprechung seit jeher unbestritten. Erst jüngst erfuhr diese Lehre durch Korinek11 unter Heranziehung der Methode typologischer Begriffsabgrenzung eine Bestätigung. Demnach kommt auch Korinek zu dem Ergebnis, daß die Organisation der Österreichischen Sozialversicherungsträger sowie auch des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger dem Typus der Selbstverwaltung entspricht. Allerdings treten drei Besonderheiten hinzu: 1. Merkmale, die eine Annäherung an den Typus der Anstalt mit sich bringen (insbes. die bloß in einem Leistungs-, nicht auch in einem Versicherungsverhältnis stehenden "Destinatäre" sowie das für die Erfüllung der Aufgaben unerläßliche sachliche Substrat), 2. die "abgeleitete" (durch die Interessenvertretungen) und gleichzeitig nach dem Prinzip der "Sozialpartnerschaft" erfolgende Organbestellung und schließlich 3. das sehr weitgehende (auch die Zweckmäßigkeitskontrolle umfassende) Aufsichtsrecht des Staates gegenüber den Sozialversicherungsträgern.

2. Träger In Österreich bestehen derzeit insgesamt 28 Versicherungsträger. Hievon führen 19 (9 Gebiets- und 10 Betriebskrankenkassen) ausschließlich die Krankenversicherung durch - eine sowohl im Vergleich mit den früheren Österreichischen Verhältnissen als auch mit der derzeitigen Situation in der Deutschen Bundesrepublik (ca. 1.400 Krankenkassen!)1 2 vergleichsweise sehr niedrige Zahl. Ein Versicherungsträger, nämlich die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, führt ausschließlich die Unfallversicherung (der Arbeiter und Angestellten sowie der gewerblich und freiberuflich Selbständigen) durch. In dieser auf dem Territorialitätsprinzip beruhenden Organisation der Unfallversicherung offenbart sich ein tiefgreifender, schon auf die Anfänge der Österreichischen Sozialversicherungsgesetzgebung zurückreichender Gegensatz zum deutschen berufsgenossenschaftlichen Organisationsprinzip. Drei Versicherungsträger, nämlich die Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, der Angestellten sowie die Versicherungsanstalt des Notariats führen ausschließlich die Pensionsversicherung durch. Während beispielsweise in der Deutschen Bundesrepublik die Gliederung der Sozialversicherungsträger nach Versicherungszweigen streng 11

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System, Abschnitt 4.1.3. a. E. Zöllner in diesem Sammelband, S. 53.

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eingehalten wird, gibt es in Österreich überdies fünf Versicherungsträger, die mehr als einen Versicherungszweig durchführen, nämlich die Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter (Kranken- und Unfallversicherung), die Versicherungsanstalt der Österreichischen Eisenbahnen und die Sozialversicherungsanstalt der Bauern (alle drei Zweige) sowie die Versicherungsanstalt des Österreichischen Bergbaues und die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft (Kranken- und Pensionsversicherung).

3. Organe der Sozialversicherungsträger; Zusammensetzung; Kompetenzen Organe der Sozialversicherungsträger sind die Hauptversammlung, der Vorstand und der Überwachungsausschuß. Abweichend organisiert ist nur die Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, in der insbes. die Hauptversammlung fehlt. Als weitere Organe sind die (nur bei Vorhandensein von Landesstellen in Betracht kommenden) Landesstellenausschüsse, die Pensions-, Renten- und Rehabilitationsausschüsse zu erwähnen. Von bunter Vielfalt geprägt sind die Regelungen des in der Hauptversammlung, dem Vorstand bzw. den allenfalls vorhandenen Landesstellenausschüssen herrschenden Kräfteverhältnisses zwischen Dienstnehmer- und Dienstgebervertretern: 1. Allg. Unfallversicherungsanstalt: je 1/2; 2. Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, der Angestellten, Versicherungsanstalt der Österreichischen Eisenbahnen, des Österreichischen Bergbaues: 2/3 zu 1/3; 3. Träger der Krankenversicherung der Unselbständigen: 4/5 zu 1/5; 4. Versicherungsanstalt der öffentlich Bediensteten: 3/4 zu 1/4. Der Überwachungsausschuß ist in dem jeweils umgekehrten Verhältnis zusammengesetzt. Bei den Trägern der Selbständigenversicherung rekrutiel'en sich die Organwalter (Versichertenvertreter) ausschließlich aus dem Kreis der Selbständigen (Versicherten). Die Organwalter stehen in keinem Dienstverhältnis zum Sozialversicherungsträger, haben aber diesem gegenüber zur Abgeltung ihrer Tätigkeit einen öffentlich-rechtlichen Entschädigungsanspruch; ihre Entsendung erfolgt durch die jeweils sachlich und örtlich zuständige öffentlich-rechtliche Interessenvertretung (unter Anwendung des Verhältniswahlrechts). Zu den Aufgaben der Sozialversicherungsträger zählt neben privatwirtschaftlicher Tätigkeit (Errichtung und Führung von Krankenanstalten, Ambulatorien etc.) die Erlassung genereller Verwaltungsakte (Satzung, Krankenordnung) sowie die individuelle Rechtssetzung mittels Bescheid.

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V. Das Verfahren im Sozialversicherungsrecht

Zu den Charakteristika des Verfahrens13 im Österreichischen Sozialversicherungsrecht zählt das Nebeneinander zweier Verfahrensarten, nämlich des Verfahrens in Leistungssachen (insbes. Feststellung von Leistungsansprüchen und Rückforderung zu Unrecht empfangener Versicherungsleistungen) und des Verfahrens in Verwaltungssachen (insbes. Feststellung der Versicherungspflicht bzw. -berechtigung, der Beitragspflicht u. a.). In beiden Verfahren hat der Versicherungsträger durch Bescheid zu entscheiden; in Verwaltungssachen kann dieser Bescheid durch das Rechtsmittel des Einspruchs (an den Landeshauptmann) bzw. in einzelnen Fällen (Versicherungspflicht, Berechtigung zur Weiter- und Selbstversicherung) auch dessen Entscheidung durch Berufung an das Bundesministerium für soziale Verwaltung angefochten werden. In Leistungssachen dagegen besteht (seit dem ASVG; Näheres im Hauptteil unter B/7, IV) die Möglichkeit, durch Klageerhebung vor dem Schiedsgericht der Sozialversicherung den Bescheid außer Kraft zu setzen und eine gerichtliche Entscheidung zu erwirken (sog. sukzessive Zuständigkeit), gegen die (unter der Voraussetzung des§ 503 ÖZPO) Berufung an das Oberlandesgericht Wien als Höchstgericht der Sozialversicherung zulässig ist. Die Institution der Schiedsgerichte der Sozialversicherung ist sowohl aus verfassungsrechtlichen (insbes. wegen deren Zusammensetzung) als auch praktischen Erwägungen (mangelnde Verfahrensökonomie im Zusammenhang mit der "sukzessiven Zuständigkeit"; ungünstige Sprengelgrößen) Gegenstand lebhafter Kritik; Pläne zur Einrichtung einer "echten" Sozialgerichtsbarkeit bestehen seit langem, deren Realisierung dürfte in absehbarer Zeit erfolgen. VI. Grundlinien des Leistungsrechts

1. Krankenversicherung Das Leistungsschema der Krankenversicherung 14 (nach dem ASVG) umfaßt einerseits Sachleistungen (Vorsorgeuntersuchung, Krankenbehandlung, Hauskrankenpflege, Anstaltspflege, Zahnbehandlung und Zahnersatz, ärztlicher und Hebammenbeistand bei Mutterschaft) und andererseits Geldleistungen (Kranken-, Familien-, Taggeld etc.). In ökonomischer Hinsicht15 nehmen die Ausgaben für Anstalts- und Hauskrankenpflege seit 1978 den ersten Rang ein (27,1 Ofo der Ausgaben), gefolgt von den Ausgaben für ärztliche Hilfe (25,7 °/o) und Heilmittel (13,2 Ofo); demgegenüber betrug der Anteil der gesamten "Krankenunter13

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System, Abschnitt 6 (Peter Oberndorfer). System, Abschnitt 2.2. (Martin Binder). Sozialbericht 1978, S. 105. Jetzt auch HdBSV 1979, S. 36.

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stützung" durch Geldleistungen bloß 5,6 Ofo, jener der "Mutterschaftsleistungen" ca. 5 0/o. Bei einer Erkrankung hat der Versicherte bzw. mitversicherte Angehörige das Recht der freien Arztwahl, das ihm die Möglichkeit einräumt, einen Vertragsarzt, Wahlarzt oder einen beim Versicherungsträger angestellten Arzt in Anspruch zu nehmen. Der Vertrag zwischen Wahlarzt und Versicherungsträger wird von einem Teil der Österreichischen Lehre als Vorvertrag (Welser, Tomandl), von einem anderen (Binder) als Vertrag zugunsten Dritter (des Versicherten) angesehen. Umstritten ist ferner, ob der Versicherungsträger die Sachleistung (ärztliche Hilfe) unmittelbar oder bloß mittelbar schuldet1°. Das Krankengeld gebührt vom 4. bis zum 42. Tag der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit, und zwar in der Höhe von 50, ab dem 43. Tag (bis zu einer Höchstdauer von 26 Wochen) im Ausmaß von 60 Ofo der Bemessungsgrundlage. Sowohl hinsichtlich der Höhe als auch der Dauer der Leistung sind satzungsmäßige Erhöhungen (bis zu 75 Ofo, bis zu 78 bzw. 52 Wochen) möglich; weitere Geldleistungen sind das Familienbzw. das Taggeld. Nach dem GSVG werden Kranken-, Familien- und Taggeld nur im Rahmen der Zusatzversicherung gewährt. Dasselbe gilt für die beim Versicherungsfall der Mutterschaft zu gewährenden Geldleistungen (Wochengeld und Entbindungsbeitrag); dem BSVG sind Leistungen dieser Art überhaupt unbekannt, deren Einführung ist derzeit Gegenstand politischer Initiativen. In der Krankenversicherung ist übrigens, wenn auch in bescheidenem Umfang, eine Kostenbeteiligung vorgesehen, und zwar hauptsächlich durch die Rezeptgebühr sowie den 10°/oigen Behandlungskostenbeitrag für mitversicherte Angehörige (nach ASVG). Nach dem B-KUVG, dem GSVG und dem BSVG besteht eine über diese Einzelpunkte hinausgehende allgemeine Kostenbeteiligungspflicht der Versicherten. Von dem weltweiten Problem der Kostenexpansion 11 auf dem Gesundheitssektor blieb auch Österreich nicht verschont; die Ausgaben der Krankenversicherung stiegen in den Jahren 1973 bis 1978 um 102 °/o, die Einnahmen um 97 °/o, wobei allerdings berücksichtigt werden muß, daß Österreich im Ausgangsjahr (1973) ein beispielsweise im Vergleich zur Deutschen Bundesrepublik relativ niedriges Kostenniveau auf dem Gesundheitssektor aufwies (Faktor 83 gegenüber 100 in der BRD). Abschließend sei zur Krankenversicherung noch erwähnt, daß aufgrund des Entgeltfortzahlungsgesetzes (EFZG) 1974 die Krankenversicherungsträger einen Erstattungsbetrag zur Abgeltung der von ihm im Rahmen seiner Entgelt16 Näheres in System, Abschnitt 2.1.3.2. (Walter Schramme!: Für unmittelbare Sachleistungspflicht) bzw. 2.2.1.4. (Binder: Gegen unmittelbare Sachleistungspflicht). 17 Alfred Radner, SozSi 1979, S. 107 f!.

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fortzahlungspflicht zu leistenden Beträge an den jeweiligen Dienstgeber zu leisten haben; hinsichtlich des Versicherungsfalles der Entgeltfortzahlung sind die Dienstgeber allein beitragspflichtig; Hauptzweck der Einrichtung ist also der Risikenausgleich zwischen den Arbeitgebern18•

2. Unfallversicherung Der Leistungskatalog der Unfallversicherung 19 umfaßt ebenfalls Sachleistungen, nämlich Unfallheilbehandlung, die Beistellung von Hilfsmitteln und Rehabilitation sowie Geldleistungen, und zwar einerseits kurzfristige (Familien- und Taggeld etc.) und andererseits Versehrtenrenten. 1978 betrugen der Rentenaufwand20 etwa die Hälfte, die Aufwendungen für Unfallheilbehandlung etwa ein Viertel der Gesamtausgaben der Unfallversicherungsträger, wobei der zweitgenannte Ausgabenposten etwa die doppelte jährliche Steigerungsrate im Vergleich zum erstgenannten aufweist. Die auf dem Gebiet der Unfallheilbehandlung vor allem durch die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt21 erbrachten Leistungen nehmen im internationalen Vergleich einen hervorragenden Rang ein. Die Höhe der Versehrtenrente beträgt bei völliger Erwerbsunfähigkeit 2/3 der Bemessungsgrundlage, erreicht bei Hinzurechnung der Schwerversehrtenzusatzrente aber sogar 80 °/o; bei geringerem Grad der Erwerbsunfähigkeit steht eine entsprechende Teilrente zu. Anspruchsvoraussetzung ist körperliche Schädigung durch Unfall oder Berufskrankheit, die für einen Zeitraum von mindestens 3 Monaten eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von wenigstens 20 °/o (bei Schülern und Studenten sowie bei konkreten Berufskrankheiten: 50 {J/o) zur Folge hat. Ferner sind in der Unfallversicherung auch Hinterbliebenenrenten vorgesehen, und zwar die Witwenrente (die u. U. auch neben der Witwe der früheren Ehefrau gebührt) in Höhe von 20 bzw. 40 °/o, die Waisenrente in Höhe von 20 bzw. (bei doppelt verwaisten Kindern) 30 °/o der Bemessungsgrundlage. Eine Witwerrente steht (in Analogie zur pensionsrechtlichen Regelung) nur zu, wenn die Verstorbene den Lebensunterhalt des Mannes überwiegend bestritten hatte und dieser bei Tod der Ehefrau erwerbsunfähig und bedürftig war. Unter ähnlichen VorSystem, Abschnitt 2.2.5. (Binder). System, Abschnitt 2.3. (Tomandl). 20 Sozialbericht 1978, S. 107 (Tabelle 10). 21 Vgl. hiezu den (derzeit jüngsten) Jahresbericht 1977, S. 29 ff., sowie Wolfgang Krösl, in: 90 Jahre soziale Unfallversicherung in Österreich, o. J. (1979), S. 42 ff. und Friedrich Steinbach, Die gesetzliche Unfallversicherung in Österreich, o. J. (1979), passim. 18

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aussetzungen steht in der Unfallversicherung (nicht hingegen in der Pensionsversicherung) auch den leiblichen Eltern, Großeltern sowie Geschwistern eine Rente zu, jedoch insgesamt nur einmal in Höhe von 20 1l/o. Ferner gebührt in der Unfallversicherung (ebenso wie in der Pensionsversicherung) ein Hilflosenzuschuß im Ausmaß der halben Vollrente, wenn Versehrte "ständig der Wartung und Hilfe bedürfen" (§ 105 a ASVG). Sowohl aus verfassungsrechtlicher als auch sozialpolitischer Sicht wird die derzeitige gesetzliche Regelung des Hilflosenzuschusses als unbefriedigend empfunden; eine Verbesserung (in Richtung auf einen von der Rentenhöhe unabhängigen, einheitlichenHilflosenzuschuß) brachte allerdings die 32. ASVG-Novelle. Auch die schiedsgerichtliche Rechtsprechung zum Hilflosenzuschuß ist derzeit noch unbefriedigend, da sie die "sonstigen Lebensumstände" des Versehrten gänzlich außer Betracht läßt; demgegenüber wird von der Lehre der Übergang zu einer "differenzierten Abstraktion" mit Recht gefordert22 • Im deutschen und Österreichischen Recht übereinstimmend geregelt ist die schon auf die Anfänge des Sozialversicherungsrechts zurückreichende Legalzession der Schadenersatzansprüche des Versicherten gegen den Haftpflichtigen auf den leistungspflichtigen Versicherungsträger, ferner der Haftungsausschluß gegenüber dem Schädiger (außer bei vorsätzlicher Schädigung sowie bei Arbeitsunfällen bei Teilnahme am öffentlichen Verkehr) und der Rückgriffsanspruch des Versicherungsträgers gegen den Schädiger bei vorsätzlichem oder grob fahrlässigem Verhalten des Schä:digers (vgl. §§ 332, Abs. 1 ASVG, 190 GSVG sowie 333 ASVG mit den§§ 1542, 636, 637, 640 RV0)23 • In Lehre und Rechtsprechung anerkannt ist ferner, seit der grundlegenden Schrift von Walter Selb24, das sog. Quotenvorrecht des Sozialversicherungsträgers.

3. Pensionsversicherung Der Leistungskatalog der Pensionsversicherung25 umfaßt nach ASVG, GSVG, BSVG und NVG die "normale" (bei Erreichung des 65./60. Lebensjahres gebührende) Alterspension, ferner, mit Ausnahme des NVG, 22 Vgl. zum Problemkreis des Hilflosenzuschusses Egon Schäfer, SozSi 1975, S. 625 und System 2.3.3.2.3.4. (Tomandl). 23 Zu dem ganzen Problemkreis System, Abschnitt 3 (Heinz Krejci). 24 Das Quotenvorrecht der Sozialversicherungsträger, 1969, sowie System 3.2.4.3. (Krejci). 25 System 2.4. (Hellmut Teschner).

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auch die "Frühpension" (60./55. Lebensjahr) bei langer Versicherungsdauer, sodann - nur nach ASVG - die Arbeitslosenfrühpension (60./55. Lebensjahr) und schließlich in der knappschaftliehen Pensionsversicherung den Knappschaftssold (45. Lebensjahr). Als zweiter Versicherungsfall kommt die geminderte Arbeitsfähigkeit in Betracht, die bei den einzelnen Berufsgruppen nach unterschiedlichen Vergleichsmaßstäben beurteilt und auch unterschiedlich bezeichnet wird. Bei ungelernten Arbeitern wird die Invalidität an dem Kriterium der Verweisbarkeit auf den gesamten Arbeitsmarkt, bei gelernten und angelernten Arbeitern sowie bei Angestellten hingegen nach der Verwendbarkeit in allen jenen Berufen, die ähnliche Ausbildung und gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten verlangen, beurteilt. Noch stärker ausgeprägt ist der "Berufsschutz" beispielsweise bei den Bergleuten, bei den Notaren, im Bereich der Selbständigenversicherung hingegen teilweise geringer als nach dem ASVG. Eine Besonderheit weist das Österreichische Recht seit dem ASVG hinsichtlich der Rentenbemessung26 auf: Nach allen Österreichischen Pensionsversicherungsregelungen, mit alleiniger Ausnahme des NVG, wird hiebei nicht nach dem sog. "Durchrechnungsprinzip", sondern nach dem Prinzip einer Bemessung nach dem letzten Erwerbseinkommen (an dessen Stelle u. U. auch das vor dem 45. bzw. 55. Lebensjahr erzielte treten kann) vorgegangen. Auf diese Weise wird versucht, dem Pensionisten seinen bisherigen Lebensstandard weitgehend zu erhalten; gleichzeitig bewirkt diese Berechnungsmethode einen Einkommenstransfer von "Jung" zu "Alt" (insbes. in Anbetracht des Umlageverfahrens). Um den Pensionisten ein Existenzminimum zu wahren, werden ferner bei zu geringer Bemessungsgrundlage oder/und zu kurzen Beitragszeiten Ausgleichszulagen gewährt, durch die die Differenz zwischen dem Einkommen des Pensionisten und dem alljährlich publizierten Richtsatz überbrückt wird. Ferner unterliegen die Pensionen teils der automatischen, teils der dynamischen Anpassung, auch die Richtsätze, Höchstbeitragsgrundlagen etc. werden alljährlich der Einkommensentwicklung angepaßt, wobei infolge der angewandten Ermittlungsmethode ein konjunkturpolitisch wichtiger Verzögerungseffekt eintritt. VII. Die wirtschaftliche Bedeutung der Sozialversicherung; die Aufbringung der Mittel; der "Umverteilungseffekt"

Innerhalb der- internationale Spitzenwerte erreichenden- Gesamthöhe der Sozialleistungen kommt den Ausgaben der Sozialversicherung 26 System 2.4.4.1. (Teschner); Reinhold Melas I Hans Gabler I Friedrich Steinbach I Othmar Rodler I Ernst Bakule, SozSi 1955, S. 331 ff.

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in Österreich die größte und überdies noch ständig wachsende Bedeutung zu. Nach den jüngsten Zahlen (1978) erreichten die Ausgaben der Sozialversicherungsträger 14,73 °/o der Höhe des Bruttonationalprodukts bzw. 45,6 °/o des Bundesbudgets; noch etwas höher liegen die Prozentsätze, wenn man die Einnahmen (Mittel) der Sozialversicherung zugrundelegt (15,1 bzw. 47,1 %)27. Als Bezugsgröße ambestengeeignet ist das Volkseinkommen (Netto-Sozialprodukt zu Faktorkosten), das im Jahr 1978 in Österreich 621,7 Mrd. S betrug, während die Mittel der Sozialversicherung ca. 126 Mrd. und somit demgegenüber 20,26 % ausmachten. Wie die Prozentsätze der vergangenen Jahre (1975: 18,4; 1976: 19,3; 1977: 19,5 °/o) zeigen, stiegen die Einnahmen (und, leicht abgeschwächt, auch die Ausgaben) der Sozialversicherung gegenüber den Einkommen überproportional. Wie im Hauptteil zu zeigen sein wird, stand die Österreichische Gesetzgebung dem von Bismarck so stark in den Vordergrund gerückten Gedanken einer finanziellen Beteiligung des Staates an der Sozialversicherung, selbst in der Form der "Ausfallshaftung", scharf ablehnend gegenüber: Unfall- und Krankenversicherung wurden daher von Anfang an ausschließlich durch Beiträge der Versicherten und/oder der Arbeitgeber finanziert, wobei ursprünglich in der Unfallversicherung die Beitragslast im Verhältnis 9: 1, in der Krankenversicherung im Verhältnis 2: 3 aufgeteilt war. Der Aufteilungsmodus wurde zwar geändert -nunmehr tragen die Arbeitgeber die gesamte Beitragslast in der Unfallversicherung (1,5 Lohnprozente) allein, in der Krankenversicherung herrscht Hälfteteilung - an dem Prinzip der alleinigen Finanzierung durch Beiträge wurde jedoch festgehalten, wenn man von speziellen staatlichen Hilfsmaßnahmen für strukturell benachteiligte Sozialversicherungsträger (insbes. finanzielle Hilfe für die Kranken- und Unfallversicherung der Bauern gern. § 31 BSVG; vgl. ferner auch § 447 a, Abs. 3 ASVG) absieht. Hinsichtlich des Finanzierungsverfahrens ist zu bemerken, daß das ursprünglich nur in der Krankenversicherung angewandte Umlageverfahren nunmehr für alle drei Sparten, also auch für die Unfall- und Pensionsversicherung zur Anwendung kommt; das Kapitaldeckungsverfahren scheiterte, w,ie im Hauptteil zu zeigen sein wird, an der Inflation der frühen zwanziger Jahre und wurde auch nach 1945 nicht wieder eingeführt, da die Pensionen und sonstigen Geldleistungen jeden ökonomischen Bezug zu den seinerzeitigen Einzahlungen verloren hatten. 27 Sozialbericht 1978, S. 57, 91, 104; jetzt auch HdBSV 1979, S. 32, wonach die vorläufigen Prozentsätze 15,0 bzw. 47,5 betragen und sich gegenüber der Vergleichsgröße Bundesbudget eine leicht sinkende Tendenz abzeichnet; zur Methode vgl. Norbert Geldner, Die soziale Sicherheit im Wirtschaftskreislauf, o. J., s. 35 ff.

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Was die Beitragssätze betrifft, so beträgt der Dienstnehmeranteil zur Kranken-, Pensions- und Arbeitslosenversicherung derzeit (1980), in den Grenzen der Höchstbeitragsgrundlage, für Arbeiter und Landarbeiter 13,95 Ofo, für Angestellte 13,2 OJo des Bruttoarbeitsverdienstes. Für einen Arbeiter mit 11.000 S Monatsverdienst (unter Anwendung des Alleinverdienerfreibetrages) erreicht die Summe der Abzüge derzeit 27,1 Ofo; hievon entfallen 12,16 °/o auf die Steuer, 1 °/o auf Arbeiterkammerumlage und Wohnbauförderungsbeitrag und die schon erwähnten 13,95 °/o auf die Sozialversicherungsbeiträge, die sohin bei einem Einkommen der genannten Höhe mehr als die Hälfte der gesetzlichen Abzüge ausmachen. Auf der Dienstgeberseite beträgt die Summe der Beitragssätze für Arbeiter derzeit 16,3 °/o; hiezu kommt, neben kleineren Beiträgen, vor allem noch der Beitrag nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz in Höhe von 3,8 °/o, der freilich insoweit eine Sonderstellung einnimmt, als er, wie schon ausgeführt, dem Risikenausgleich unter den Arbeitgebern, nicht der Finanzierung von (zusätzlichen) Leistungen an die Arbeitnehmer dient. Im Gegensatz zur Kranken- und Unfallversicherung wird die Pensionsversicherung in beträchtlichem Umfang vom Staat mitfinanziert, wobei sich allerdings hinsichtlich der versicherten Personenkreise sehr beträchtliche Unterschiede ergeben. In Prozenten des Pensionsaufwandes betrug der Staatsanteil nämlich bei der Pensionsversicherung der Bauern beispielsweise 1978 86,8 °/o, bei jener der Gewerbetreibenden 73,1, der Bergleute 50,9, der Eisenbahnbediensteten 25,4, der Arbeiter 21,1 °/o; in der Pensionsversicherung der Angestellten und der Pensionsversicherung der Notare (der ein gesetzlicher Anspruch auf Staatszuschüsse überhaupt nicht zusteht) entfielen Staatsbeiträge zur Gänze28• Hinsichtlich des Staatszuschusses zur Pensionsversicherung der Selbständigen muß freilich bemerkt werden, daß es sich hiebei um insgesamt drei Arten von Leistungen handelt29 , denen unterschiedliche Funktionen zukommen: a) Ersätze für versicherungsfremde Lasten (insbes. Wochengeld, Wohnungsbeihilfen und Ausgleichszulagen), b) Staatsbeiträge zur Pensionsversicherung der Selbständigen gleichsam als Äquivalent für den hier entfallenden Arbeitgeberbeitrag und c) die eigentliche Bundeshaftung in der Pensionsversicherung, die den Bund zur Leistung eines Beitrags in Höhe des "Betrags, um den 101,5 v. H . (derzeit 100,5 v. H.) der Aufwendungen die Erträge übersteigen", verpflichtet. Sozialbericht 1978, S. 93 ff.; vgl. auch Karl Muhr, SozSi 1979, S. 204 ff. System, Abschnitt 0.5.2. (Tomandl). - Die im folgenden angegebenen Belastungsquoten der diversen Pensionsversicherungsträger vgl. im Sozialbericht 1978, S. 199. 28

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Was den unter b) genannten Beitrag betrifft, so ist dieser nicht aus allgemeinen Steuermitteln, sondern ausschließlich aus der Gewerbesteuer bzw. aus einer besonderen Abgabe für land- und forstwirtschaftliehe Betriebe zu finanzieren. In beiden Fällen bewirkt demnach der unter b) angeführte Staatsbeitrag einen berufsspezifischen Ausgleich in dem Sinne, daß größere gewerbliche bzw. land- und forstwirtschaftliche Betriebe zugunsten der kleineren zu höheren Abgaben herangezogen werden. Eine Umverteilung zu Lasten der Unselbständigen findet nur hinsichtlich der unter a) und c) genannten Elemente des Staatszuschusses statt. Auch innerhalb der Gruppe der Unselbständigen kommt es zu Umverteilungen, und zwar einerseits indirekt über den Staatszuschuß und

andererseits direkt über den seit 1978 bestehenden Ausgleichsfonds der Pensionsversicherungsträger, durch den Mittel der Pensionsversicherung der Angestellten an jene der Arbeiter transferiert werden. Die Notwendigkeit aller dieser Maßnahmen erhellt aus einem Vergleich der Belastungsquoten der einzelnen Pensionsversicherungsträger: Entfielen 1978 in der Pensionsversicherung der Angestellten auf je 1.000 Pensionsversicherte nur 284 Pensionsbezieher, so waren es in der Pensionsversicherung der Arbeiter 592 (bzw. der Unselbständigen insgesamt 469), in der Pensionsversicherung der gewerblich Selbständigen 746 und in jener der Bauern gar 886 (bzw. der Selbständigen insgesamt 819). Auch im Bereich der Krankenversicherung existiert (bereits seit 1961) eine Institution zugunsten strukturell benachteiligter Kassen, nämlich der sog. Krankenkassenausgleichsfonds30• Durch sozialversicherungsinterne Einrichtungen dieser Art sowie indirekt über den Staatszuschuß leistet die Sozialversicherung einen höchst bedeutsamen Beitrag zum Abbau bzw. zur Abschwächung strukturell bedingter Unterschiede zwischen dem Sozialleistungsniveau der einzelnen Berufs- (bzw. Bevölkerungs-)gruppen. Über die ebenfalls sehr bedeutsame Umverteilung zwischen Jung und Alt wurde bereits im Zusammenhang mit dem Leistungsrecht gesprochen.

ao System 0.5.3. (Tomandl).

B. Die historische Entwicklung 1. Abschnitt: Die Rahmenbedingungen I. Politische, verfassungsrechtliche und ideologische Rahmenbedingungen

1. Einleitung Die Entwicklung der Österreichischen Sozialversicherungsgesetzgebung31 kann nur von demjenigen richtig verstanden werden, der sich mit der Verfassungsentwicklung32 der Habsburgermonarchie während des Untersuchungszeitraumes vertraut gemacht hat. Besondere Bedeutung 31 Eine zusammenfassende Darstellung fehlt bislang: zur Geschichte des österr. So7Ji.alrechts bis 1918 vgl. die nach wie vor unentbehrliche Darstellung Ludwig Brügel, Soziale Gesetzgebung in Osterreich von 1848 bis 1918, 1919; zur Geschichte der Unfallversicherung vgl. Friedrich Steinbach, Die gesetzliche Unfallversicherung in Österreich, o. J. (1979); vgl. ferner dens., in: 90 Jahre soziale Unfallversicherung in Österreich, S. 7 ff. sowie Eduard Stark, S. 60 ff. und Wolf D. Mostböck, S. 82 ff. Zur Einbeziehung der Bauern, Landarbeiter, Gewerbetreibenden und Hausgehilfen in die österr. Sozialversicherung vgl. Ernst Bruckmüller I Roman Sandgrober I Hannes Stekl, Soziale Sicherheit im Nachziehverfahren (= Geschichte und Sozialkunde 3), 1978; aus dem der "Geschichte der österr. Sozialversicherung und Sozialfürsorge" gewidmeten Projekt des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien (Univ.-Prof. Michael Mitterauer) ist ferner folgende Arbeit hervorgegangen: Andreas Baryli, Die Sonder-Sozialversicherung der Angestellten in Österreich bis 1938, phil. Diss., Wien (mschr.) 1977; vgl. ferner Dieter Stiefel, Arbeitslosigkeit. Soziale, politische und wirtschaftliche Auswirkungen am Beispiel ·Ö sterreichs 1918 bis 1938 (= Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 31), 1979. Vgl. ferner auch die historischen Abschnitte bei Adolf Menzel, Die Arbeiterversicherung nach österr. Recht, 1893, insbes. S. 12 ff.; Max Lederer, Grundriß des österr. Sozialrechts, 2. Aufl., 1932, S. 13 ff., S. 426 ff.; Ernst Legat I Stefan Grabner, Sozialversicherungsrecht, 1963, S. 1 ff.; Tomandl, Grundriß, Nrn. 24 ff. sowie Werner Ogris, in: Die Habsburgermonarchie 1848 - 1918, Bd. II, 1975, S. 630 ff. - Vgl. ferner die vom Hauptverband der österr. Sozialversicherungsträger hrsg. Zeitschrift "Soziale Sicherheit", in der häufig wertvolle historische Abhandlungen erscheinen; insbes. auf die Beiträge aus neuerer Zeit wird bei gegebener Gelegenheit verwiesen werden. 32 Aus der älteren Lit. vgl. insbes. Edmund Bernatzik, Die österr. Verfassungsgesetze, 2. Aufl., 1911; Gustav Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich, Bde. I- VIII, 1902- 1914; Richard Charmatz, Österreichs innere Geschichte von 1848 bis 1907, 2. (vorletzte) Aufl., 1912; aus der neueren Lit. vgl. Hermann Baltl, österr. Rechtsgeschichte, 4. Aufl., 1979; Wilhelm Brauneder I Friedrich Lachmayer, österr. Verfassungsgeschichte, 2. Aufl., 1980; Ernst C. Hellbling, österr. Verfassungsgeschichte, 2. Aufl., 1974; ferner zahlreiche Darstellungen in: Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. II, 1975; vgl. ferner die Beiträge von Walter Goidinger und Adam Wandruszka, in:

30*

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kommt insoweit dem großen politischen Umbruch der Jahre 1879 ff.33 zu, der den Angelpunkt der ganzen Entwicklung darstellt und daher in der folgenden Darstellung eine zentrale Rolle einnehmen wird. Jedoch ist auch ein kurzes Eingehen auf die Verfassungsentwicklung der Zeit vor 1879 vonnöten, da diese einerseits die Größe und Bedeutung des politischen Umbruchs von 1879 ff. erst richtig erkennen läßt und andererseits den Hintergrund für zahlreiche Vorläufer-, aber auch Alternativmodelle zur Sozialversicherung bildet.

2. Der Vormärz Was die Zeit vor 1848 betrifft, so ist die verfassungsrechtliche Situation des "Kaisertums Österreich" durch einen Absolutismus gekennzeichnetu, der aus Furcht vor l'evolutionären Kräften nicht nur in den großen politischen Grundlinien, sondern auch im Kleinen auf die Bewahrung des Status quo ausgerichtet war. Dieses Bestreben führte spätestens zu Beginn der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts zu einem nahezu gänzlichen Stillstand jeder bedeutenderen gesetzgeberischen Tätigkeit. Ihren stärksten Ausdruck fand diese geradezu fatalistische Haltung des Gesetzgebers in dem Scheitern aller Versuche, das sozial- und wirtschaftspolitisch wichtigste Problem dieser Epoche, nämlich die Auflösung der Grundherrschaft und die "Verstaatlichung" der den Grundherren zustehenden obrigkeitlichen Befugnisse im Wege einer imperativen Aufhebung des grundherrliehen Obereigentums durchzusetzen35• Gegenüber diesem zentralen legislatorischen Problem standen alle mit der industriellen Arbeiterschaft zusammenhängenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme nicht zuletzt wegen des damals noch sehr geringen Industrialisierungsgrades der im "Kaisertum Österreich" zusammengefaßten Länder von vornherein im Hintergrund. Eine gewisse Ausnahme bildet hier lediglich der Bergbau; hier gab es, vor allem im Bereich der böhmischen Länder, eine alte Tradition der Arbeiterschutz-, aber auch der Sozialgesetzgebung (Näheres s. B/2, I), die auch im Zeitalter des Vormärz ungebrochen weiterwirkte. Geschichte der Republik Österreich, 1974 (Nachdruck: 1977), S. 15 ff., S. 289 ff. und sodann die sehr instruktive Einleitung in: österr. Parteiprogramme 1868- 1966, hrsg. v. Klaus Berchtold, 1967, S. 11 ff.; zuletzt Robert Walter I Heinz Mayer, Grundriß des österr. Bundesverfassungsrechts, 2. Aufl., 1978, s. 4ff. 33 B/1, I 8. 34 Näheres bei Brauneder I Lachmayer, Verfassungsgeschichte, S. 90 ff. as Ogris, Rechtsentwicklung, S. 619.

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Nicht unerwähnt bleiben soll aber auch, daß der vormärzliche Gesetzgebungsapparat in Wiederholung einer im Hofkanzleidekret vom 4. Mai 1814 niedergelegten Regelung durch das sog. VerpjlegskostenNormale (Hofdekret vom 18. Februar 1837)36 einen, wenn auch recht bescheidenen Schutz für erkrankte Dienstnehmer von Gewerbsinhabern ins Leben gerufen hat. Fabrikanten waren diesem Hofdekret zufolge (insbes. § 12) verpflichtet, ihren in einem öffentlichen Krankenhause untergebrachten Arbeitern oder Gesellen die Verpflegskosten für einen Monat zu ersetzen; diese Verpflichtung des Unternehmers erstreckte sich grundsätzlich auch auf solche Krankheiten, die mit der beruflichen Tätigkeit des Arbeitnehmers in keinem Zusammenhang standen; ausgenommen waren jedoch gewisse Geschlechtskrankheiten, Krankheitszustände im Zusammenhang mit Schwangerschaften etc.37• Die Dauer der Leistungspflicht konnte u. U. vier Wochen übersteigen, wenn der Arbeitgeber die rechtzeitige Abmeldung des erkrankten Arbeitnehmers unterließ u. ä. Aus entwicklungsgeschichtlicher Sicht ist das VerpflegungskostenNormale aus 1837 deswegen sehr interessant, weil dieses zu den wenigen Rechtsquellen des Vormärz zählt, die ein Interesse des Staates an den sozialen Problemen der industriellen und gewerblichen Arbeiter wenigstens andeutungsweise erkennen lassen. Durch das VerpflegskostenNormale wird nämlich offenbar der Tatsache Rechnung getragen, daß an die Stelle der weitgehend funktionsunfähig gewordenen Selbsthilfeverbände der gewerblichen Arbeiter (Gesellenladen etc.) bzw. zum Schutze der besonderen Gefahren ausgesetzten industriellen Arbeiter dem Arbeitgeber nach dem Muster der Gesindeordnungen38 eine- freilich umfangmäßig wie zeitlich stark beschränkte - "Fürsorgepflicht" auferlegt werden müsse. Daneben hat aber zweifellos auch der Gedanke eine Rolle gespielt, einen Teil der öffentlichen Fürsorgelast39 auf die Unternehmer abzuwälzen. Eingehendere Untersuchungen über die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Verpflegskosten-Normales40 liegen nicht vor. Es muß 36 Sammlung d. Gesetze f. d. Ehzt. österr. unter der Enns XIX (1837), S. 70 ff. (Nr. 35); vgl. ferner Kurt Ebert, Die Anfänge der modernen Sozialpolitik in Österreich ( = Studien zur Geschichte der österr.-ungarischen Monarchie 15), 1975, S. 102 f.; neuestens Martin Binder, Das Zusammenspiel arbeits-und sozialrechtlicher Leistungsansprüche ... ( = Wiener Beiträge zum Arbeits- und Sozialrecht 12), 1980, S. 51; Josef Pinter, SozSi 1951, S. 191 f. a1 Ebert, Sozialpolitik, S. 103. as Näheres bei Binder, Zusammenspiel, S. 45 ff. 39 Vgl. zum Verhältnis zwischen (Gemeinde-)Fürsorge und Arbeiterversicherung unten B/3, IV u. ö. 40 Vgl. hiezu auch das ergänzende HfD vom 10. 3. 1848, PGS Nr. 26.

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jedoch wohl davon ausgeg·angen werden, daß der Arbeitgeber in der Regel dem Arbeitnehmer die Verpflegskosten vom Lohn abzog, was u. U. eine Gefährdung des Unterhalts der Familie zur Folge haben konnte. Es kann daher, wie A. Menzel41 mit Recht ausführt, von einer "direkten" Fürsorgepflicht der Arbeitgeber nicht gesprochen werden, sondern nur von einer "indirekten Unterstützung, indem aus den Mitteln der Arbeitgeber die Unterbringung in einem öffentlichen Krankenhause besorgt wird". Da der Weiterbestand des Arbeitsverhältnisses eine zeitliche Ausdehnung der Kostenersatzpflicht zur Folge haben konnte, knüpfte sich an die Regelung des Verpflegskosten-Normale die weitere sozialpolitisch unerwünschte Folge eines gesteigerten Bedürfnisses des Arbeitgebers, Kündigungen auszusprechen. Schließlich konnte insbes. bei epidemischen Krankheiten leicht eine Überforderung der wirtschaftlichen Leistungskraft des Unternehmers durch die im Verpflegskosten-Normale normierte Verpflichtung eintreten, mit der weiteren Konsequenz, daß die Leistungen an die öffentliche Krankenanstalt zum Nachteil des Arbeitnehmers überhaupt unterblieben. Alle diese Gesichtspunkte haben später bei den Bestrebungen zur Wiederbelebung genossenschaftlicher Selbsthilfeorganisationen der Arbeitnehmer eine wichtige Rolle gespielt.

3. Die Revolution von 1848 in Osterreich Das Jahr 1848 markiert einen tiefen Einschnitt in der Verfassungsentwicklung des "österreichischen Kaiserstaates" 42 • Noch im Anschluß an die Märzereignisse wurde die liberale Forderung nach Einführung eines dem Volk verantwortlichen Ministeriums und kurz darauf durch die Erlassung der sog. Pillersdorfschen Verfassung vom 25. April 1848 (PGS 76, Nr. 49)43 auch das Verlangen nach Einführung einer "Konstitution" erfüllt. Gern.§ 31 der hiezu erlassenen Wahlordnung wurde u. a. "Arbeitern gegen Tag- und Wochenlohn" das aktive (und damit auch das passive) Wahlrecht abgesprochen (Ks. Patent vom 8. Mai 1848, PGS Nr. 57). Schon durch eine Wahlgesetz-Novelle vom Juni 184844 wurde diese Einschränkung jedoch fallengelassen und somit- im Einklang mit den Grundsätzen der Wahlordnung des Deutschen Bundes45 - eine Wahlrechts-Regelung geschaffen, die für die Arbeiter günstiger war als Arbeiterversicherung, S. 17. Zu der seit 1804 eingeführten amtlichen Bezeichnung "Kaisertum (oder Kaiserstaat) Österreich" vgl. Brauneder I Lachmayer, Verfassungsgeschichte, 41

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s. 79.

Bernatzik, Verfassungsgesetze, S. 101. Brauneder I Lachmayer, Verfassungsgeschichte, S. 126. 45 Vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Dokumente, I, S. 274 f. 43

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alle späteren Österreichischen Wahlordnungen bis zur (Wieder-)Einführung des allgemeinen Wahlrechts im Jahre 190746 •

Es ist hier nicht der Ort, eine umfassende Würdigung der Revolution von 1848 zu versuchen47 • Es steht jedoch unzweifelhaft fest, daß es sich hiebei um eine vom Bürgertum und liberal orientierten Intellektuellen getragene Bewegung handelte, in der auch ehemalige führende Repräsentanten der vormärzlichen Bürokratie eine bedeutende Rolle spielten; demgegenüber traten die Vertreter des Bauernstandes weitgehend, jene des Arbeiterstandes hinsichtlich ihrer politischen Effizienz praktisch gänzlich in den Hintergrund. In auffälligem Gegensatz zu der recht spärlichen Repräsentanz des Bauernstandes in dem am 22. Juli 1848 in Wien zusammengetretenen Reichstag48 steht der Umstand, daß die soziale Schicht der bislang untertänigen Bauern zum Hauptnutznießer dieser ersten vom Geiste des Liberalismus getragenen Welle parlamentarischer Gesetzgebung in Österreich wurde: Die im Vormärz immer wieder auf die lange Bank geschobene imperative Ablösung des grundherrliehen Obereigentums, die sog. Grundentlastung, wurde nach nur etwa einmonatiger Beratung vom Wiener Reichstag beschlossen und durch Patent vom 7. September 1848, PGS Nr. 112, zum Gesetz erhoben. Damit war das drängendste Wirtschafts- und sozialpolitische Problem der Zeit vor 1848 einer grundsätzlichen Lösung zugeführt, die sich überdies als dauerhaft erwies, da sowohl die oktroyierte Märzverfassung vom 4. März 1849, RGBL Nr. 150 (insbes. §§ 26, 32) als auch das sog. Sylvesterpatent vom 31. 12. 1851 an ihr festhielten (vgl. insbes. RGBL Nr. 2 ex 1852, Abs. 3). In der Folge wandte sich der Reichstag zwei neuen Aufgaben zu, nämlich einerseits der Ausarbeitung eines Verfassungs- und andererseits eines Grundrechtsentwurfes. Beide Entwürfe wurden von Ausschüssen des infolge der Eskalation der Revolution seit Anfang Oktober 1848 nach· Kremsier/Südböhmen verlegten Reichstages zwar fertiggestellt, jedoch nicht mehr der (vollständigen) 49 parlamentarischen Behandlung unterzogen, da der Reichstag durch den Kaiser aufgelöst wurde. B/4, I. Zur Rolle der Arbeiter in der Revolution von 1848 vgl. Brügel, Soziale Gesetzgebung, S. 29 ff.; Hans Hautmann J Rudolf Kropf, Die österr. Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945 ( = Schriftenreihe des Ludwig-BoltzmannInstituts ... 4), 1974, S. 31 ff.; Ebert, Anfänge, S. 17; Wolfgang Häusler, Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung, 1979. 48 Gemäß der ks. Proklamation vom 16. 5. 1848, PGS Nr. 65 (Bernatzik, Verfassungsgesetze, S. 111 ff.) bestand dieser nur aus einer Kammer, nämlich dem Abgeordnetenhaus. 49 So wurden die Grundrechte nur bis Art. 13 behandelt. Abdruck der Entwürfe bei Bernatzik, Verfassungsgesetze, S. 115 ff. 48

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Ähnlich wie das Frankfurter Paulskirchenparlament verspielte auch der Wiener bzw. Kremsierer Reichstag durch die (ausschließliche) Beschäftigung mit der Verfassungs- und Grundrechtsfrage die Möglichkeit, durch unmittelbar konkretisierbare Einzelgesetze die sozio-ökonomischen Verhältnisse im Geiste des Liberalismus zu verändern. Vor allem auf dem Gebiet des Bodenrechts blieben, wenn man von der Grundentlastung absieht, die bisherigen feudalen Strukturen unberührt; so konnte die schon 1848 in den Grundrechten proklamierte Lehenallodifikation erst in den Sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts (1862 -1869) durchgeführt werden, die ebenfalls geplante Aufhebung der Familienfideikommisse war wegen des 1860/61 geschlossenen Kompromisses politisch überhaupt unmöglich geworden5°. Auch andere sozial- und wirtschaftspolitisch wichtige Materien, wie insbes. das Gewerberecht, blieben, abgesehen von der verfassungsrechtlichen Proklamation einer abgeschwächten Form der Gewerbefreiheit51, unverändert. Hat demnach der Wiener bzw. Kremsierer Reichstag des Jahres 1848 nicht einmal jene Reformen zu Ende führen können, die von der Warte liberalen Rechtsdenkens aus betrachtet zu den dringlichsten zählten, so ist es nicht verwunderlich, daß die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Arbeiterschaft- mit einer einzigen Ausnahme- in den Verhandlungen des Reichstages nicht einmal Erwähnung fanden, geschweige denn einer befriedigenden Lösung zugeführt werden konnten. Das einzige sozialpolitische Problem der Arbeiterschaft, das im Reichstag - übrigens auf Antrag von Hans Kudlich - zur Behandlung gelangte62, war die nicht nur in Wien, sondern vor allem auch in den böhmischen Ländern aufgetretene Massenarbeitslosigkeit, als deren Hauptursache von seiten der Arbeiter die zunehmende Mechanisierung angesehen wurde. So bildete denn auch die Sorge um den Arbeitsplatz wohl das Hauptanliegen der Arbeiterschaft, das vor allem im März und April 1848 in Fabriksstürmen eindringlich zum Ausdruck kam53 • Daß in Arbeiterkreisen aber auch andere sozialpolitische Forderungen aufgestellt wurden, zeigt das von dem Arbeiter Brunner verfaßte Flugblatt54, in dem unter den von den Arbeitern gleich zu beratenden Fragen unter Pkt. 4 angeführt ist: "Versorgung der Arbeiter-Invaliden auf Staatskosten". 50 Näheres bei Herbert Hofmeister, Das Liegenschaftseigentum in der liberalen Ara, in: Bericht über den 12. österr. Historikertag, 1974, S. 147 ff., 153. 51 Ogris, Rechtsentwicklung, S. 648 ff. 52 Brügel, Soziale Gesetzgebung, S. 44. sa Ebenda, S. 38 f. 54 Ebenda, S. 30, Anm. 1.

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Weit größere Bedeutung kommt dem Projekt des im Juni 184855 in Wien entstandenen "Allgemeinen Arbeitervereines" zu, ein Arbeiterparlament einzuberufen, dem von jeder Branche drei Delegierte hätten angehören sollen und das in einer Enquete die dringendsten Probleme der Arbeiterschaft einer Beratung hätte unterziehen sollen. Wegen der schon oben erwähnten Eskalation der Revolutionsereignisse im Oktober 1848 kam diese Enquete, die die Grundlage für ein dem Reichstag vorzulegendes Forderungsprogramm der Arbeiterschaft hätte erarbeiten sollen, jedoch nicht zustande. Nichtsdestoweniger verdient das vom "Allgemeinen Arbeiterverein" erstellte Programm der Enquete unser Interesse, da dieses die Hauptanliegen der Arbeiterschaft sehr klar zu erkennen gibt; Pkt. 7 des Programms lautet: "Errichtung von Kranken- und Invalidenkassen mit staatlicher Beihilfe". Nicht zuletzt in Rücksicht auf diesen Punkt 7 erscheint das von L. Brügelllil im Jahre 1919 gefällte Urteil, es handle sich bei dem Programm von 1848 um ein "veritables sozialpolitisches Zukunftsprogramm", als zutreffend, wenngleich über die Organisationsform der geplanten "Kranken- und Invalidenkassen" keine nähere Aussage getroffen wird. Bemerkenswert ist auch, daß der später im Deutschen Reich vor allem von Bismarck so stark betonte, in Österreich dagegen lange Zeit abgelehnte Gedanke des Staatszuschusses57 hier erstmals in einem politischen Forderungsprogramm auftaucht. 4. Der Neoabsolutismus (1851 -1860) a) Das Vereinspatent von 1852 In Abkehr von den noch in der oktroyierten Märzverfassung vom 4. März 1849 niedergelegten Grundsätzen mündet die Verfassungsentwicklung der Jahre 1849-51 schließlich in die Wiedereinführung des Absolutismus durch das Sylvesterpatent vom 31. Dezember 1851 (s. bereits oben) 58• Die an das Sylvesterpatent anschließende Ära des Neoabsolutismus (oder Bachsehe Ära) wandte sich in politischer Hinsicht gegen das Ideengut des Liberalismus, sohin auch gegen die im Vereinspatent vom 17. März 1849, RGBl. Nr. 171, normierte Vereinsfreiheit. Diesem Patent zufolge sollte das bis dahin ausschließlich zur Anwendung gelangte "Konzessionssystem" nur mehr auf die auf Gewinn berechneten Vereine zur Anwendung kommen59• Für politische 55 Ebenda, S. 43 f.; Herbert Steiner, Die Arbeiterbewegung Osterreichs 1867 - 1889, 1964, s. 3. 58 Brügel, Soziale Gesetzgebung, S. 44. 67 Vgl. hiezu zusammenfassend C II 4. ss Bernatzik, Verfassungsgesetze, S. 208 ff. 59 Ogris, Rechtsentwicklung, S. 647.

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Vereine hingegen galt Freiheit der Vereinsbildung i. S. des Anmeldeprinzips. Das Vereinspatent vom 26. November 1852, RGBL Nr. 253, kehrt hingegen für alle Arten von Vereinen zum Konzessionssystem zurück. Diese Regelung bestand bis zum Vereinsgesetz 1867. Auch für die Zeit nach 1867 (s. B/2, III) kommt dem Vereinspatent von 1852 insbes. für die Vereinskrankenkassen große Bedeutung zu, und zwar hauptsächlich negative, da das Konzessionssystem vor allem dem Bestreben der Arbeiterschaft zur Bildung von Kranken- und (teilweise auch) Altersversicherungsvereinen erschwerend entgegentrat. Erst durch das Arbeiter-Krankenversicherungsgesetz vom 30. März 1888, RGBL Nr. 33, wurde (§ 60) dadurch eine Erleichterung geschaffen, daß bei Vorliegen gewisser Voraussetzungen (§ 60, Abs. 1 und 2) die Konzession zur Vereins-(um-)bildung nur aus besonderen Gründen (§ 60, Abs. 3, Z. 1 und 2) untersagt werden durfteeo. b) Das Berggesetz von 1854 Während in den Bestimmungen des Vereinspatents von 1852 die antiliberalen Tendenzen des Neoabsolutismus in aller Deutlichkeit zutage treten, weisen die beiden anderen für die vorliegende Untersuchung relevanten Gesetze dieser Ära, nämlich das Berggesetz vom 23. Mai 1854, RGBL Nr. 146, und die Gewerbeordnung vom 20. Dezember 1859, RGBL Nr. 227, fortschrittlichere Züge auf. Vor allem das erstgenannte Gesetz stellt eine hervorragende Leistung der damaligen Österreichischen Ministerialbürokratie dar und verkörpert gleichzeitig einen geschickten Kamprarniß zwischen der wirtschaftlich erwünschten Freiheit des Bergwerkseigentums auf der einen und dem Aufsichtsrecht des Staates über den Bergbau auf der anderen Seite; für die Geschichte des Sozialversicherungsrechts ist vor allem der von den Redaktoren des Berggesetzes 1854 unternommene Versuch, das bergrechtliche Assoziationswesen wiederzubeleben und den sozialen Schutz der Bergarbeiter auszubauen, von besonderem Interesse (s. unten B/2, I). c) Die Gewerbeordnung von 1859 In noch viel stärkerem Maße als das Berggesetz von 1854 ist die Gewerbeordnung von 1859 vom Ideengut des wirtschaftlichen Liberalismus geprägt6 1, der vor allem seit dem Einzug des Ministers Toggenburg in die Regierung (1855) an Bedeutung gewinnt und in merkwürdigem Gegensatz zur politischen Grundhaltung des Neoabsolutismus steht. Vgl. unten B/3, V. Ogris, Rechtsentwicklung, S. 648 ff.; vgl. ferner Heinrich Waentig, Gewerbliche Mittelstandspolitik, 1898, S. 47 ff. 6o 61

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Durch die Gewerbeordnung von 185962 wurde nämlich bereits jenes Maß an Gewerbefreiheit eingeräumt, das später, nach der Wiedererrichtung konstitutioneller Verhältnisse dem Art. 6 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger als Richtschnur diente. Demnach war die große Zahl der Gewerbe den sog. "freien" zuzurechnen, die von jedem eigenberechtigten Staatsbürger gegen bloße Anmeldung betrieben werden konnten (§ 2 GewO). Im Gegensatz dazu war für die relativ kleine Zahl der sog. konzessionierten Gewerbe eine "besondere Bewilligung" zur Gewerbeausübung erforderlich (§ 3 GewO, Aufzählung der konzessionierten Gewerbe in§ 16). Die liberale Grundhaltung der Gewerbeordnung von 1859 beschränkte sich jedoch keineswegs auf den eigentlichen Kernbereich der Gewerbeausübung. Vielmehr macht sich diese auch in der Zurückdrängung von Preistaxen (vgl. § 55 GewO), sohin in der Forcierung des Grundsatzes der freien Preisbildung bemerkbar. Vor allem aber ist auch das Rechtsverhältnis zwischen den selbständigen Gewerbetreibenden und ihrem Hilfspersonal von liberalem Gedankengut geprägt. Das diesen Bereich regelnde 6. Hauptstück der Gewerbeordnung (§§ 72- 105) beruht nämlich im wesentlichen auf dem Gedanken der Vertragsfreiheit, insbes. auch im Sinne einer sehr weitgehenden Freiheit zur Bestimmung des Inhalts des Arbeitsvertrages, wobei allerdings eine gewisse Abstufung zwischen kleineren und größeren Gewerbeunternehmungen vorgenommen wurde. Während für die ersteren dem Grundsatz, daß der Arbeitsvertrag "Gegenstand freien Übereinkommens" sei, praktisch uneingeschränkt gehuldigt wurde, war für die letzteren immerhin die Führung von Arbeiterverzeichnissen sowie der Aushang von Dienstordnungen vorgeschrieben. In Ermangelung von Kontrollorganen wurden diese Bestimmungen freilich nur in unzureichendem Maße befolgt; eine Besserung trat erst viel später durch die Einrichtung der Gewerbeinspektoren durch Gesetz vom 17. Juni 1883, RGBL Nr. 117/1883, ein63• Dies gilt auch für die Bestimmungen der Gewerbeordnung betreffend die Maximalarbeitszeit für Jugendliche (§ 87, Abs. 1) sowie für die Vorschriften betreffend die Nachtarbeit (§ 87, Abs. 2). Über die Bestimmungen der Gewerbeordnung betreffend die Unfallsund Krankenversicherung der Arbeiter wird an späterer Stelle (B/2, II) ausführlich berichtet werden. Es sei hier nur vorweggenommen, daß auch in diesen Bestimmungen der liberale Geist der Gewerbeordnung vorherrschte, der sich im Prinzip der Freiwilligkeit der Errichtung von Ogris, Rechtsentwicklung, S. 650; Waentig, ebd. Ebert, Sozialpolitik, S. 162 ff.; S. 270 ff. (Text). Zu den arbeitsrechtlich relevanten Bestimmungen der Gewerbeordnung 1859 vgl. ebenda, S. 55 f. 62 63

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Unterstützungskassen und ferner in einer "individualistischen" Beschränkung solcher Einrichtungen auf das jeweilige Unternehmen bemerkbar machte. Diese beiden Charakteristika waren es denn auch, die den Erfolg der betreffenden Bestimmungen (§§ 85, 106 ff.) von vornherein in Frage stellten64 • 5. Rückkehr zum Konstitutionalismus 1859 -1867;

die Dezemberverfassung von 1867

Der Zeitraum von 1859 bis 1867 ist in verfassungsrechtlicher Hinsicht durch zwei dominierende Entwicklungen gekennzeichnet: Zum einen durch die ~ unsere Fragestellungen nur am Rande berührende - politische Entfremdung der beiden Reichshälften des Kaisertums Österreich, die schließlich im sog. Ausgleich von 1867 mündet65 ; zum anderen, vor allem in der zisleithanischen Reichshälfte, durch einen schrittweisen Übergang zum Konstitutionalismus. Den Anfang bildete das sog. Oktober-Diplom vom 20. Oktober 1860, RGBI. Nr. 226, gefolgt vom sog. Februar-Patent vom 26. Februar 1861, RGBI. Nr. 20. Ihren Höhepunkt und Abschluß fand diese Entwicklung in der Dezemberverfassung von 1867. Deren fünf "Staatsgrundgesetze" vom 21. Dezember 1867, RGBI. Nrr. 141 -145, bildeten bis zum Untergang der Monarchie die zentrale verfassungsrechtliche Grundlage der "im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder". Eines dieser Gesetze, nämlich das "Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger", RGBI. Nr. 142, behielt - mit Ausnahme des Art. 20 in Österreich über das Jahr 1918 hinaus seine Geltung und bildet nach wie vor den geltenden Grundrechtskatalo~. Von besonderer Bedeutung für unsere Thematik ist die den Österreichischen Staatsbürgern in Art. 12 garantierte Versammlungs- und Vereinsfreiheit, deren Ausübung durch das schon am 15. November 1867, RGBI. Nr. 134, erlassene neue Vereinsgesetz einer Regelung unterzogen worden war. Politischer Träger des 1860/61 eingeleiteten und 1867 im wesentlichen abgeschlossenen Konstitutionalisierungsprozesses war der (politische) Liberalismus61, dessen soziales Substrat im wesentlichen aus dem GroßNäheres B/2, II. Bernatzik, Verfassungsgesetze, S. 223; Brauneder I Lachmayer, Verfassungsgeschichte, S. 179; zu den wirtschaftlichen Aspekten des Ausgleichs vgl. die (im Druck befindliche) Arbeit von Herbert Hofmeister, Rechtliche Aspekte der Industrialisierung in der österr.-ungarischen Monarchie. 88 Vgl. Art. 159 des (geltenden) Bundes-Verfassungsgesetzes vom 1. 10. 1920, BGBl. Nr. 1. 67 Zu den sozialen Hintergründen der liberalen Bewegung in Österreich vgl. (trotz gewisser Vorbehalte hinsichtlich der Ausgewogenheit der Darstellung) Georg Franz, Liberalismus, 1955, S. 131 ff. 84

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bürgertum, Teilen der Bürokratie und einer relativ kleinen, aber in politischer Hinsicht dynamischen Gruppe des Adels bestand. Oktoberdiplom, Februarpatent und in der Folge auch die Dezemberverfassung von 1867 stellten in politischer Hinsicht einen Kompromiß zwischen den Forderungen der eben umschriebenen liberalen Kreise einerseits und den politischen Wünschen der Krone und des konservativen Großgrundbesitzes andererseits dar. Dieser Kompromiß68 kommt in verfassungsrechtlicher Hinsicht einmal dadurch zum Ausdruck, daß eine der beiden Kammern des Reichsrates unter der Bezeichnung "Herrenhaus" als ein Oberhaus konzipiert war, das teils als Auffangbecken der altständischen Oberschicht, teils als "verlängerter Arm der Krone" fungieren sollte; zum anderen darin, daß für das als "Abgeordnetenhaus" bezeichnete Unterhaus das auch für die Landtage geltende sog. "Kurienwahlsystem"69 in Verbindung mit einem Zensus zur Anwendung gebracht wurde. Zensus und Kurienwahlsystem hatten zur Folge, daß breite Schichten der Bevölkerung, wie insbes. die Arbeiter und die Kleingewerbetreibenden, im Reichsrat lange Zeit überhaupt nicht vertreten waren, andere Gruppen (insbes. die Bauern) waren stark unterrepräsentiert. Erst die Umwälzungen im Anschluß an das Jahr 1879, die an späterer Stelle zu besprechen sind, brachten die Entwicklung in Richtung auf das allgemeine und gleiche Wahlrecht in Gang, und zwar zunächst (1882) zugunsten der Kleingewerbetreibenden in den Städten; die Arbeiterschaft kam dagegen erst 1896 (in ganz bescheidenem Umfang) bzw. 1907 in den Genuß der Bestrebungen zur Demokratisierung des ReichsratsWahlrechts70. Der Exkurs in die Entwicklung des Wahlrechts war notwendig, um schon jetzt deutlich zu machen, daß sich die politische Rolle der Arbeiterschaft in Österreich von jener in Deutschland in einem Punkt ganz wesentlich unterschied: Während die letztere infolge der Wahlordnung des Norddeutschen Bundes/Deutschen Reiches71 schon ab 1867/1871 an dem parlamentarischen Geschehen unmittelbar teilnehmen konnte, war dies der Österreichischen Arbeiterschaft gerade in dem Zeitraum, in dem die drei Arbeitsversicherungs-Stammgesetze entstanden, noch verwehrt. 68 Vgl. hiezu die auch heute noch unentbehrliche Darstellung Josef Redlichs, Das österr. Staats- und Reichsproblem, II, 1926. 69 Vgl. die §§ 6 und 7 des (Staats-)Grundgesetzes über die Reichsvertretung vom 21. 12. 1867, RGBl. Nr. 141 (Anwendung des Kurienwahlrechts der Landtags-Wahlordnungen); später Gesetz vom 2.12. 1873, RGBl. Nr. 40. 70 Überblick bei Brauneder I Lachmayer, Verfassungsgeschichte, S. 159 f. 71 Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, II, 1964, s. 243 ff.

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6. Politische Aktivitäten der Arbeiterschaft 1867 -1889 Was die politischen Aktivitäten der Arbeiterschaft12 in der Zeit nach 1867 betrifft, so standen zunächst einzelne politische Forderungen, nämlich insbes. jene nach Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, der Koalitionsfreiheit sowie nach Aufhebung der in der Gewerbeordnung vorgesehenen Zwangsgenossenschaften (s. unten B/2, II) ganz im Vordergrund. Dies gilt insbes. für das am 10. Mai 1868 beim V. Arbeitertag einstimmig angenommene "Manifest an das arbeitende Volk in Österreich" sow.ie für das beim Arbeiterdelegiertentag vom 22. August 1868 und beim IX. Arbeitertag am 30. August 1868 beschlossene sog. "Hartung-Programm" 73 • Das Jahr 1870 stand für die Arbeiterschaft im Zeichen einer sehr zwiespältigen Entwicklung: Einerseits trat in diesem Jahr, nämlich am 7. April 1870, RGBI. Nr. 43, ein Gesetz in Kraft, das zumindest de jure den Arbeitern die lang ersehnte Koalitionsfreiheit brachte, andererseits wurden im Juli 1870 im Anschluß an den Hochverratsprozeß Oberwinder-Scheu74 zahlreiche (insgesamt 32) Arbeitervereine wegen Staatsgefährlichkeit aufgelöst. Die meisten von ihnen wurden jedoch schon bald wieder neu konstituiert (so beispielsweise der Wiener Arbeiter-Bildungsverein am 30. November 1870); 1872 existierten in der zisleithanischen Reichshälfte ca. 130 Fach- bzw. Arbeiterbildungsvereine75 • Nach einer kurzen Erholungsphase fiel die Arbeiterbewegung neuerlich in eine schwere Krise, die hauptsächlich in inneren Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Stellung der Arbeiterschaft zur liberalen Bewegung ihre Ursache hatte. Während nämlich die- zunächst dominierende - Gruppe um Heinrich Oberwinder die Arbeiterschaft in die liberale Bewegung integrieren und so eine Verbindung zwischen den politischen Bestrebungen des Bürgertums und der Arbeiter herstellen wollte, traten Oberwinders Gegner (zunächst Ludwig Neumayer, dann vor allem Andreas Scheu) für eine klassenbewußte Politik der Arbeiterschaft ein, die sich als Zentrum einer Bewegung "aller vom Kapital unterdrückten Schichten" verstand und sich an dem "Eisenacher Programm der (deutschen) Sozialdemokratischen Arbeiterpartei" vom 7./9. August 1869 orientierte76• 72 Grundlegend Ludwig Brügel, Geschichte der österr. Sozialdemokratie, Bde. II und III, 1922, und Leo Verkauf, Zur Geschichte des Arbeiterrechtes in Österreich, 1906, S. 5- 25; ferner Steiner, Arbeiterbewegung; Hautmann I Kropf, Arbeiterbewegung. Jetzt auch Gustav Otruba, in: Österreichs Sozialstrukturen in historischer Sicht, hrsg. v. Erich Zöllner, 1980, S. 123 ff. 73 Berchtold, Parteiprogramme, S. 109 und 111. 74 Steiner, Arbeiterbewegung, S. 28. 75 Vgl. ÖStWB I, S. 302 (Leo Verkauf); vgl. ferner die Zahlen für 1873 bei Steiner, Arbeiterbewegung, S. 74.

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Der Sieg der zweitgenannten Richtung kündigte sich bereits im sog. Neudörfler Programm (am 5. April1874 angenommen) an, das sich auf Vorschlag von Scheu eng an das Eisenacher Programm anschloß77 • Ebenso wie dieses verlangte das Neudörfler Programm die "Abschaffung der modernen privatkapitalistischen Produktionsweise"; in Übereinstimmung mit Pkt. 8 des Eisenacher Programms forderte Pkt. 7 des Neudörfler Programms die "Einführung eines Normalarbeitstages, Einschränkung der Frauen- und Abschaffung der Kinderarbeit in den Fabriken und industriellen Werkstätten" und, über das Eisenacher Programm hinausgehend, auch die "Einführung der Institution unabhängiger Fabriksinspektoren und (die) Beseitigung der durch die Zuchthausarbeit den freien Arbeitern geschaffenen Konkurrenz". Auf Fragen der Kranken- und Invaliditätsversorgung wurde in dem Wiener Neustädter Programm ebensowenig eingegangen wie in dem Eisenacher. Auch das auf dem Wiener Neustädter Arbeitertag in der Zeit vom 13. bis 15. August 1876 beratene und schließlich angenommene Programm78 setzte die von Scheu gegen Oberwinder vertretene Richtung fort, zeichnete sich jedoch gegenüber dem Neudörfler Programm durch eine deutliche Mäßigung in Form und Inhalt aus, die vor allem in den Worten zum Ausdruck kommt: "die Arbeiter Österreichs kämpfen ... auf dem Boden der bestehenden Verfassung". Ferner ist für das Wiener Neustädter Programm die, im Vergleich zum Neudörfler Programm, wesentlich eingehendere Behandlung sozialpolitischer Fragen charakteristisch. Dies mag einerseits mit der im Programm zum Ausdruck gebrachten gewissen Kompromißbereitschaft gegenüber dem bestehenden Staats- und Wirtschaftssystem, zum anderen mit der im Gefolge der Wirtschaftskrise von 1873 (s. unten B/1, II 6) besonders schwierigen Lage der Arbeiterschaft und nicht zuletzt mit dem Umstand zusammenhängen, daß damals soeben ein Regierungsentwurf über die Reform der Gewerbeordnung zur Diskussion stand (s. unten B/2, II). Für unsere Thematik sind vor allem die folgenden Punkte79 des Programms von Interesse: "Auf sozialem Gebiet verlangen wir: 1. Eine radikale Reform der Gewerbeordnung im Sinne nachstehen-· der Forderungen: Aufhebung jedes Zwanges bei gewerblichen Verbänden, also Beseitigung der Zwangsgenossenschaften, der im bisherigen 76 Vgl. Steiner, Arbeiterbewegung, S. 60 ff.; das Eisenacher Programm vgl. etwa bei Berchtold, Parteiprogramme, S. 123 f. 77 Berchtold, Parteiprogramme, S. 115 f. 78 Ebenda, S. 119; Steiner, Arbeiterbewegung, S. 125 ff. 79 Vgl. hiezu die späteren Ausführungen zur Reform der Gewerbeordnung: B/2, II und B/3, II.

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Regierungsentwurf vorgeschlagenen Zwangshilfskassen, volle Selbstverwaltung für alle Arbeiterhilfs- und Unterstützungskassen ..." (es folgen wichtige arbeitsrechtliche Forderungen, wie insbes. die gesetzliche Normierung des zehnstündigen Normalarbeitstages u. a.). "3. Ein Gesetz, welches die unbedingte Entschädigungspflicht der Arbeitgeber bei allen Verletzungen von Arbeitern in gewerblichen Betrieben festsetzt, sobald der Arbeitgeber nicht imstande ist, nachzuweisen, daß der Arbeiter durch eigene Schuld sich die Verletzung zugezogen hat. Die Höhe der Entschädigungssumme soll dem Verdienstentgang des Beschädigten gleich bemessen und auch auf die Hinterbliebenen desselben auszudehnen sein, falls derselbe an den Folgen der Verletzung gestorben ist. Streitigkeiten über die Höhe der Entschädigung sollen auf dem ordentlichen Gerichtsweg entschieden werden. 4. Ein Gesetz zum Schutze der Gesundheit des Arbeiters, besonders bei gesundheitsgefährlichen Beschäftigungen, welches die Arbeitgeber dazu zwingt, alle Einrichtungen in ihren Arbeitsräumen zu treffen, welche die gesundheitsgefährlichen Umstände bei der Arbeit vermindern oder gänzlich zu beseitigen vermögen ... "

Das Wiener Neustädter Programm, das eine Aufwertung sozialpolitischer Forderungen neben den zentralen politischen Anliegen seitens der Arbeiterschaft eindeutig dokumentiert, war für diese in zweifacher Hinsicht mit großen Enttäuschungen verbunden: Zum einen wurde nämlich dieses "zahmste aller Programme" von der Regierung als staatsgefährlich verboten, zum anderen brachte es nicht die erhoffte Einigung der Arbeiterbewegung80 : Unter dem Eindruck des in Deutschland verhängten Ausnahmezustandes81 gewann ab dem Ende der siebziger Jahre eine radikale Richtung zusehends an Bedeutung, als deren bedeutendste Sprecher bzw. Führer der hauptsächlich von London aus agierende Otto Most sowie Josef Peukert hervortraten82• Die "Radikalen", die an manchen Orten (wie insbes. in Wien und Graz) zeitweise gegenüber den "Gemäßigten" (Kar! Kautsky, Karl Höger, Josef Bardorf) in der Mehrheit waren, strebten "den Sturz der bestehenden Ordnung" an und lehnten daher die Aufnahme sozialpolitischer Reformen in ihr politisches Programm ab83• Vgl. ·ÖStWB I, S. 302 (Leo Verkauf). Vgl. Huber, Dt. Verfassungsgeschichte, IV, S. 1153 ff. sowie auch unten Anm. 236, 250. 82 Vgl. Steiner, Arbeiterbewegung, S. 155 ff.; Berchtold, Parteiprogramme, s. 18 ff. 83 Die Radikalen stimmten allerdings 1882 der von den Gemäßigten aufgestellten Forderung nach Sozialgesetzgebung und Arbeiterschutz zu, spra80

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Charakteristisch sind die folgenden an die Adresse der "Gemäßigten" gerichteten Ausführungen Otto Mosts84 : "Eure Forderungen betreffend Haftpflichtgesetz, Fabriksinspektoren, Gewerbeordnungsreform, Normalarbeitstag usw. sind Dinge, die Ihr höchstens als Bettlerpfennige betrachten solltet ... Ihr werdet solche Konzessionen nicht zurückweisen, aber sie als Programmpunkte einer proletarischen Partei aufstellen, dafür kämpfen zu wollen, das ist nicht der Mühe wert." Im Gegensatz dazu trat das Gros der "Gemäßigten" für die Aufnahme sozialpolitischer Forderungen in das Parteiprogramm ein, und es finden sich solche Forderungen daher auch in dem von den "Gemäßigten" am 15. Oktober 1882 angenommenen "Kautsky-Programm" 85, wobei allerdings konkret nur arbeitsrechtliche Fragen behandelt werden; die (freiwillige) Kranken- und Invalidenfürsorge wird nur mittelbar in dem Postulat nach "staatliche(r) Förderung aller von den Arbeitern ausgehenden, selbständigen, genossenschaftlichen Unternehmungen" berührt. Demgegenüber wurde in der radikalen "Zukunft" 86 1883 erklärt: "Uns liegt durchaus nicht im Sinne, eine Verbesserung der heutigen Arbeitsverhältnisse anzustreben, wir wollen dieselben vielmehr ganz beseitigen . . . Die Fabriksgesetzgebung ist entschieden dem Sozialismus feindlich . .. Wir werden uns daher in keiner Weise mit den sozialpolitischen Anträgen beschäftigen." Das Jahr 1883, in dem die eben zitierten Ausführungen veröffentlicht wurden, markierte gleichzeitig den Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen "Radikalen" und "Gemäßigten", die bis 1887/8887 dauerte. Gerade in den Jahren also, in denen die Arbeiterversicherungs-Starnmgesetze entstanden, mußte die Österreichische Arbeiterbewegung eine der schwersten Bewährungsproben ihrer Geschichte bestehen. Zusätzlich zu der Spaltung in "Radikale" und "Gemäßigte" bewirkte das am 20. Jänner 1885 von der Regierung Taaffe (s. gleich unten) eingebrachte, jedoch erst in der nächsten Gesetzgebungsperiode von den beiden Häusern des Reichsrates beschlossene "Sozialistengesetz" eine weitere Schwächung der Österreichischen Arbeiterbewegung bzw. den nahezu gänzlichen Stillstand ihrer Aktivitäten in den Jahren 1884188688• Wiewohl dieses Gesetz nämlich in erster Linie als eine Reaktion eben sich jedoch gegen die Forderung nach einem demokratischen Wahlrecht aus: Steiner, Arbeiterbewegung, S. 202. 84 Berchtold, Parteiprogramme, S. 125. 85 Ebenda, S. 129. 86 Nr. 82/1883; abgedruckt auch bei Verkauf, Arbeiterrecht, S. 8. 87 Brügel, Sozialdemokratie, Bd. III; Steiner, Arbeiterbewegung, S. 241 ff. 88 Steiner, Arbeiterbewegung, S . 244 ff.; Brügel, Sozialdemokratie, III, S. 249 ff. 31 Sozialversicherung

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auf Terrorakte anarchistischer Elemente aus der Gruppe der Radikalen anzusehen war, befürchteten auch die "Gemäßigten" die behördliche Auflösung ihrer Vereine, der sie (insbes. in Wien) durch die vorherige Selbstauflösung zuvorzukommen trachteten89 • 7. Das Ministerium Hohenwart-Schäffle; die sozialpolitischen Thesen Albert Eberhard Friedrich Schäffles Im Anschluß an die Dezemberverfassung von 1867 hatte das sog. Bürgerministerium (zunächst unter dem Ministerpräsidenten Fürst Carlos Auersperg, später unter Graf Eduard von Taaffe), in dem das deutschliberale Element uneingeschränkt dominierte, die Regierungsgewalt inne90• Im Zuge der Auseinandersetzungen um die Reform des Reichsrats-Wahlrechts kam es zu einer Spaltung des Bürgerministeriums, die den Kaiser schließlich bewog, einer vom bisherigen Regierungskurs weitgehend abweichenden politischen Gruppierung die Regierungsgeschäfte zu übertragen. Es handelt sich hierbei um das Ministerium Hohenwart-Schäffle, das wegen seiner kurzen Amtsdauer (5. Februar bis 30. Oktober 1871) zwar keine grundlegenden Reformen durchführen konnte, wegen seiner exemplarischen Bedeutung für die spätere Entwicklung aber dennoch unser Interesse verdient: In Vorwegnahme der nach 1879 eingetretenen Entwicklung war der Kurs des Ministeriums Hohenwart-Schäffle nämlich einerseits durch eine (hauptsächlich durch Hohenwart repräsentierte) ausgeprägte föderalistische Tendenz gekennzeichnet, die sich vor allem in dem Bestreben nach Herstellung eines politischen Ausgleichs mit den Tschechen äußerte, andererseits durch ein insbes. mit der Person Schäffles verbundenes starkes sozialpolitisches Engagement91 • Albert Eberhard Friedrich Schäffle92, geb. 1831, seit 1860 Professor der Nationalökonomie an der Universität Tübingen, hatte seine wesentlichen politischen und sozialpolitischen Anliegen in dem knapp vor seiner Ernennung zum Österreichischen Ackerbau- und Handelsminister in Tübingen (1870) erschienenen Werk "Kapitalismus und Socialismus" niedergelegt. Sein zentrales Anliegen ist es, einen in praxi gangbaren Mittelweg zwischen den Extremen der kapitalistischen Produktionsweise auf der einen und dem "Communismus" auf der anderen Seite aufzuzeigen. In geradezu visionärer Vorahnung warnt er daher vor den Steiner, ebd.; vgl. auch Verkauf, Arbeiterrecht, S. 8. Vgl. Friedrich Walter I Adam Wandruszka, österr. Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte von 1500- 1955, 1972, S. 237 ff. 91 Ebenda, S. 242 ff. 92 Constant v. Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Osterreich ... , Bd. 29, S. 54 ff. 89 90

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Auswüchsen der Börsenspekulation, die kurze Zeit später in den Wiener Börsenkrach von 1873 (s. B/2, II 6) mündete; auch in politischer Sicht hat Schäffle die Zeichen der Zeit weit früher erkannt als andere; dies zeigt insbes. sein Eintreten für das allgemeine und gleiche Wahlrecht93 • Für unsere Thematik von besonderer Bedeutung ist aber freilich Schäffles Weitblick hinsichtlich des Sozialversicherungsgedankens. Schäffle dürfte nämlich der erste Österreichische Politiker sein, der sich (wenn auch im Rahmen einer wissenschaftlichen Abhandlung) offen für den Gedanken der Pflichtversicherung aussprach, wobei er von der liberalen Grundtendenz ausging, daß der in den verschiedenen Formen der Armenfürsorge wegen deren Tendenz zur Schwächung des Selbsthilfegedankens gelegene "Communismus" "dem Princip der Selbstverantwortlichkeit und Freiheit" weit mehr zuwiderlaufe als der in der "Versicherungspflicht" gelegene Zwang94 • Schäffle führte hiezu im einzelnen aus: "Die wahre Armenpolitik besteht in der Herstellung der Einrichtungen, welche Ueberbevölkerung und Ueber(be)sezung einzelner Erwerbszweige hintanhalten, productive Arbeit ermuntern und die planmäßige Selbstfürsorge für das ganze Leben organisiren helfen ... Im Besonderen kämen noch in Betracht: Erstens die Pflicht der Invaliditäts- und Altersversicherung: Würde sie auch den nothwendigen Lohn um die Versicherungsprämie allgemein erhöhen, so wäre dieß doch so wenig schädlich, als die ähnliche Wirkung des Schulzwangs, der Gesundheits- und Wohnungspolizei. Nur bei allgemeiner Selbstfürsorge wird sich der Lohn auch nach den Versicherungskosten richten, außerdem wird durch die Concurrenz der sorglosen Arbeiter der Lohnsatz auch für die sorgsamen gedrückt und die natürliche nachhaltige Selbstfürsorge Allen unmöglich gemacht. Das Sparen der Sorgsamen wäre dann wenigstens nicht von der fatalen Wirkung, kargen Lohngebern auch noch die Armenunterstützung in Krisen abzunehmen und die Entbehrung zu verlängern; eine solche Wirkung ist ja, wie ich früher (S. 249) erwähnte, dem Spar- und Versicherungswesen der unteren Klassen nachgesagt worden. Der unfruchtbaren Production bei Hungerlöhnen wäre eine weitere Schranke gesetzt. 'Die allgemeine Minimalversicherungspflicht wäre, wie schon bemerkt, weit weniger kommunistisch als das schon eingeräumte, freilich nicht erfüllte Notharmenrecht; denn das Notbarmenrecht ist das Recht, durch 93 94

31•

Vgl. Alexander Novotny, in: Die Habsburgermonarchie, I, S. 83. Kapitalismus und Socialismus, S. 703, das folgende Originalzitat: S. 702.

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die Vermittlung der communalen Gemeindewirthschaft oder Staatsfinanz allen Bürgern einen Vermögenstheil zu nehmen. Der V ersicherungszwang aber giebt unmittelbar dem Versicherungsverpflichteten Dasjenige geeignet wieder, was er ihm abdarbt, und wälzt mittelbar den Unterhalt Denen zu, welche außerdem die Arbeitsfrucht des Versicherten in zu geringen Löhnen vergüten würden. Im ersteren Fall steht reiner Communismus vor uns, im zweiten aber die zwingende Herbeiführung gerechterer Lohnsäze und individueller Selbstfürsorge." Wegen seiner kurzen Amtsdauer war es Schäffle nicht vergönnt, seine Reformgedanken, die bei der damals einflußreichsten Gruppe der Arbeiterschaft (Oberwinder!, s. oben Pkt. 6) Anklang fanden und einen frühen Brückenschlag zwischen gemäßigt-liberalem und sozialdemokratischem Gedankengut anzubahnen schienen, zu verwirklichen. Schäffle hat jedoch auch späterhin sein politisches und sozialpolitisches Konzept und insbes. auch die Idee der Einführung von Pflichtversicherungen entschieden vertreten und diese weiter ausgebaut, und zwar in der 3. Auflage der von ihm verfaßten "Nationalökonomie" (1873} 95 und in dem Werk "Bau und Leben des socialen Körpers" (18751878}96• Sodann hat Schäffle in seinem sowohl auf die deutschen als auch die Österreichischen Verhältnisse zugeschnittenen Buch "Die Grundsätze der Steuerpolitik und die schwebenden Finanzfragen Deutschlands und Österreichs" (1880) noch vor Erscheinen der ersten Entwürfe zur Bismarckschen SozialVersicherungsgesetzgebung konkrete Vorschläge zur Einführung einer "korporativen Zwangsversicherung" der Arbeiter "in Reichsverbänden" 97 gemacht, für die eine zweifache Beschränkung des Anwendungsbereichs charakteristisch ist: Zum einen sollen nach Meinung Schäffles nur die Risiken der Invalidität (infolge Unfalls, Gebrechlichkeit und chronischer Krankheit) und der Arbeitsunfähigkeit im Alter durch die Zwangsversicherung abgedeckt werden, während beispielsweise für Krankheiten von kurzer Dauer die betriebliche Selbstvorsorge Platz greifen soll; zum anderen soll der Versicherungszwang im vollen Umfang nur für Arbeitnehmer im industriellen Großbetrieb vorgesehen werden, während für die in landwirtschaftlichen Großbetrieben Beschäftigten nur die Unfallversicherung als Pflichtversicherung in Betracht komme. Für alle übrigen Berufsgruppen, wie insbes. die Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Handel, Kleinhandwerk und bäuerlichen Kleinbetrieb, lehnt Schäffle die Einführung der Zwangsversicherung in Hinsicht auf mangelndes Bedürfnis 95 96

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II, S. 483 f . I, S. 761. s. 625.

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oder bereits bestehende oder hauptsächlich auf freiwilliger Basis noch zu schaffende Versorgungseinrichtungen ab98. Mit Recht hat Schäffle in seinen "Grundsätzen der Steuerpolitik" und in der späteren, schon auf die ersten Gesetzesentwürfe der Bismarckschen Sozialversicherungsgesetzgebung Bezug nehmenden Schrift "der korporative Hülfskassenzwang" (1882), in der er allerdings insbes. in der Frage der Krankenversicherung eine andere Haltung einnahm als früher, darauf hingewiesen, daß er der erste war, "welcher die Zwangsarbeiterversicherung99 mit aller Entschiedenheit zu einer Zeit gefordert hat, als sonst kaum Jemand an diese Institution dachte und die Menge der ,Sozialpolitiker', selbst unter der Sozialdemokratie, an allgemeine Produktivgenossenschaft und dergleichen dachte" 100• In Anbetracht des Naheverhältnisses, in dem der Sozialpolitiker Schäffle auch nach seiner Rückkehr nach Tübingen zu Österreich stand, liegt die Frage nahe, ob und inwieweit seine Gedanken auf die politischen Initiatoren bzw. Redaktoren der Österreichischen Sozialversicherungsgesetze (von 1887- 1889) eingewirkt haben. Hiezu sei die Feststellung vorweggenommen, daß den eigentlichen politischen Anstoß der Österreichischen Sozialversicherungsgesetzgebung das preußisch-deutsche Vorbild gegeben hat101 • Nichtsdestoweniger gehört das Wirken Schäffles als Minister sowie auch seine Schriften, die den an der Österreichischen Sozialversicherungsgesetzgebung der achtziger Jahre Beteiligten zweifellos bekannt waren, zu jenen politisch-ideellen Wirkungsfaktoren, die den sozialreformerischen Elan der Gesetzgebung der achtziger Jahre in Österreich hervorriefen. Darüber hinaus zeigt das Intermezzo des Ministeriums HohenwartSchäffle, wie schon angedeutet wurde, in Vorwegnahme späterer Entwicklungen ein Charakteristikum auf, das die Österreichische Sozü'!lpolitik bis zum 1. Weltkrieg in ganz entschiedener Weise prägte: Infolge des Versagens des zentralistisch orientierten Liberalismus bei der Bewältigung der wirtschafts- und sozialpolitischen Probleme der siebziger Jahre, insbes. seit der Krise von 1873, steuert die Entwicklung nach 1879 geradezu zwangsläufig auf jene politische Konstellation zu, die sich schon einmal- 1871 in der Gestalt des Ministeriums Hohenwart-Schäffleals Alternative präsentiert hatte: nämlich die Kombination von föderalistischen Elementen, die i. S. der Verwirklichung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes (Art. 19 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger) der "Gleichberechtigung der Volksstämme" Vgl. insbes. Grundsätze der Steuerpolitik, S. 627 ff. Sie! 100 Steuerpolitik, S. 629; Hülfskassenzwang, S. 125 f. 88 99

101

B/3, III.

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die dominierende Rolle des deutschsprachigen Elements in der zisleithanischen Reichshälfte (und somit im Abgeordnetenhaus des Reichsrates) aufzugeben bereit waren, und sozialpolitisch aktiven Gruppen. Dadurch kam die Österreichische Sozialpolitik ebenso wie der durch schrittweisen Ausbau des Wahlrechts fortschreitende Demokratisierungsprozeß in eine verhängnisvolle Verstrickung mit dem Nationalitätenproblem102, das den Reichsrat schon seit den neunziger Jahren in zunehmendem Maße lähmte und nicht zuletzt einen zügigen Ausbau der sozialpolitischen Errungenschaften der achtziger Jahre verhinderte. Im folgenden soll nun auf die Spätphase des politischen Liberalismus in Österreich und auf die Ereignisse, die zur großen Wende von 1879 führten, näher eingegangen werden.

8. Die Spätphase des politischen Liberalismus in Österreich; die Ursachen für die politische Wende von 1879 Nach der Entlassung des Ministeriums Hohenwart-Schäffle und dem Übergangsministerium Holzgethan wurde am 25. November 1871 ein liberal-zentralistisches Ministerium unter dem Präsidium Adolf Auerspergs zu den Regierungsgeschäften berufen 103• Das Bündnis zwischen liberalem Bürgertum und "verfassungstreuem" Adel wurde damit neuerlich in seiner staatstragenden Funktion bestätigt. Hatte zunächst der enorme wirtschaftliche Aufschwung der frühen siebziger Jahre den politischen Wiederaufstieg des Liberalismus maßgeblich gefördert, so versetzte der "Börsenkrach" von 1873 dem Liberalismus einen um so schwereren Schlag. Über die näheren Hintergründe und die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen des "Börsenkrachs" von 1873 wird unten (B/1, II 6) noch zu sprechen sein; für den hier zu behandelnden politischen Bereich ist vor allem auf die psychologischen104 Auswirkungen des "Börsenkrachs" Bedacht zu nehmen, und zwar in zweifacher Hinsicht: Zum einen erlitt die liberale Bewegung durch dieses Ereignis einen enormen Vertrauensschwund bei der Bevölkerung, zum anderen wurde das liberale Lager von 1873 an in zunehmendem Maße von inneren Krisen und Spaltungs102 Vgl. Brügel, Soziale Gesetzgebung, S. 78; aus der Fülle der Literatur zum Nationalitätenproblem in der Habsburgermonarchie vgl. statt aller die m. E. nach wie vor unübertroffene Analyse bei Joseph Redlich, österr. Regierung und Verwaltung im Weltkriege, 1925, insbes. S. 39 ff.; ferner unten Anm. 812. 103 Hiezu etwa Walter I Wandruszka, österr. Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, S. 245 ff. 104 Grundlegend Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit, 1967, S. 51 ff.; ferner Herbert Matis, Österreichs Wirtschaft 1848 - 1913, 1972, s. 260 ff.

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tendenzen erschüttert, die in einer Ratlosigkeit über den künftig einzuschlagenden Kurs begründet waren. Die gemeinsame Ursache dieser Rückschläge lag darin, daß seit 1873 sowohl im breiten Publikum als auch bei führenden Vertretern des liberalen Lagers erste Zweifel an der Richtigkeit der zentralen liberalen These, daß der Staat nur zur Abstellung von extremen Mißständen in Wirtschaft und Gesellschaft eingreifen solle und dürfe, laut wurden. Das Jahr 1873 hatte bewiesen, daß eine schrankenlose Freigabe wirtschaftlicher Betätigung zu schweren volkswirtschaftlichen und sozialen Schäden führen kann, deren nachträgliche Beseitigung sich als sehr schwierig erweist. Noch in der liberalen Ära wurden daher Gesetze beschlossen, die eine punktuelle Beschränkung der wirtschaftlichen und rechtlichen Bewegungsfreiheit des einzelnen mit sich brachten: so etwa das Pfandbriefgesetz aus 1874, das - allerdings nur für Galizien und die Bukowina erlassene - Wuchergesetz aus 1877 105 ; auch das Umschwenken in der Schutzzollfrage, auf das unten noch einzugehen sein wird, verdient schon hier Erwähnung106• Darüber hinaus zeigt uns die Geschichte der Gewerbeordnungsreform (s. B/2, II und B/3, II), daß in den Reihen der Liberalen der siebziger Jahre auf dem Gebiete des Arbeits-, aber auch des Sozialrechts viele der späteren Errungenschaften gedanklich bereits vorweggenommen wurden; dies hat K. Ebert1°7 in seinem Werk über die Gewerbeordnungsnovellen von 1883 und 1885 dargelegt. Den Österreichischen Liberalen mangelte es demnach in dieser Spätphase weder an sozialreformerischen Ideen noch an dem nötigen sozialpolitischen Engagement. Entscheidend für den Mißerfolg der liberalen Politik der späten siebziger Jahre war vielmehr, daß die Liberalen nicht bereit waren, sozialpolitische Fortschritte durch grundsätzliche Freiheitsbeschränkungen zu erkaufen108 ; zu stark wirkte noch, trotz des Ereignisses von 1873, der Glaube an die selbstregulierende Kraft des Freiheitsprinzips in Wirtschaft und Gesellschaft nach: die Konsequenz dieses Spannungsverhältnisses war ein unentschlossenes Schwanken, das entweder das völlige Unterbleiben einer notwendigen gesetzgeberischen Maßnahme oder unentschlossene "halbe" Lösungen zur Folge hatte. Vor allem zwei Berufsgruppen, denen in den achtziger Jahren 105 Gesetz v. 19. 7.1877, RGBI. Nr. 66; zur neueren Wuchergesetzgebung überhaupt vgl. Justus Wilhelm Hedemann, Fortschritte des Zivilrechts im 19. Jh., I, 1910, S. 132 ff. 108 Näheres bei Matis, Osterreichs Wirtschaft, S. 371 ff. 107 Vgl. insbes. die Zusammenfassung in: Sozialpolitik, S. 251. 108 Vgl. demgegenüber das frühe Eintreten Schäffles für den Versicherungszwang: oben B/1, I, S. 7.

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große politische Bedeutung zukommen sollte, empfanden dieses Verhalten der Liberalen als eine grobe Mißachtung ihrer Interessen: die Bauern und die Kleingewerbetreibenden. Bei den ersteren hatte das liberale Ideengut, wiewohl die Grundentlastung von 1848 ein hervorragendes Verdienst des Liberalismus darstellte, in Österreich niemals eine breitere Anhängerschaft finden können; von den späten Siebziger Jahren an finden dann antiliberale Thesen in der Bauernschaft zusehends Gehör, da sich die Liberalen offenbar außerstande sahen, der für den Bauernstand ungünstigen ökonomischen und sozialen Entwicklung wirksam entgegenzusteuern: Bodenverschuldung, Bodenzersplitterung und Bodenentfremdung (durch Verkauf von Agrarland an Nichtbauern, etwa an Eigentümer von Jagdrevieren) bildeten für den Bauernstand eine existentielle Bedrohung109 ; der monotone Verweis der Liberalen auf die Möglichkeit freiwilliger Bodenentschuldung, freiwilliger Grundstückszusammenlegungen usw. erweckte in der Bauernschaft wegen des geringen praktischen Erfolgs solcher Maßnahmen den Eindruck, von der liberalen Politik hilflos im Stich gelassen zu werden; unter dem Einfluß der gleich zu besprechenden antiliberalen Ideologien wurde daraus eine offene Gegnerschaft gegenüber dem Liberalismus. Als ein noch größeres politisches Versäumnis wird man wohl den Umstand werten müssen, daß die Probleme der Kleingewerbetreibenden von den Liberalen, wie etwa von dem führenden liberalen Gewerbepolitiker Heinrich Reschauer, nicht in ihrer ganzen politischen Tragweite erkannt oder gar einer Lösung zugeführt wurden110. So konnte es geschehen, daß die ursprünglich in die liberale Bewegung locker integrierte Handwerkerbewegung seit dem Prager Gewerbetag vom 28./29. September 1879 vor allem durch die Forderungen nach Einführung des Befähigungsnachweises sowie nach Ausbau der (in der Gewerbeordnung von 1859 vorgesehenen) Zwangsgenossenschaften einen zusehends antiliberalen Kurs steuerte und größtenteils zu den Gegnern der Liberalen überlief111• InAnbetracht dieser Entwicklungen zeigte sich sehr bald, daß die. liberale Partei in der Bevölkerung nur über geringen Rückhalt verfügte, zumal es ihr in dieser Phase an einer populären Führerpersönlichkeit112 fehlte. Zu diesen tieferen Ursachen des Niedergangs und endlichen Zerfalls der liberalen Bewegung in Österreich trat ein weiterer Faktor hinzu, der diese Entwicklung einerseits beschleunrl.gte und andererseits auch 109 Hiezu Hedemann, Fortschritte, II/1, 1930, S. 79 ff.; für Österreich etwa Hofmeister, in: Bericht über den 12. österr. Historikertag, S. 147 ff. 110 Waentig, Mittelstandspolitik, S. 94 ff. 111 Richard Charmatz, Österreichs innere Geschichte von 1848 bis 1907, 2. Auf!., II, S . 24 ff. 112 Ebenda, S. 26 (über Ernst von Plener).

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entschieden verschärfte: nämlich das Nationalitätenproblem. Die Meinungsverschiedenheiten, die innerhalb der liberalen Partei hinsichtlich der Nationalitätenfrage herrschten, schildert Gustav Kolmer113 mit den prägnanten Worten: "Ihr (d. h.: der deutsch-liberalen Partei) linker Flügel verlangte die Umwandlung der Verfassungspartei in eine deutschnationale Partei un4 gab damit die Verteidigung des alten staatserhaltenden Einheitsprogrammes auf; ihr rechter Flügel fürchtete den Nationalismus und begann gleichzeitig, den Liberalismus beim Wettlauf um die Regierungsfähigkeit über Bord zu werfen." Das liberale Lager war demnach am Vorabend der für die spätere Entwicklung richtungsweisenden Reichsratswahlen von 1879 von schweren inneren Meinungsgegensätzen gezeichnet, die noch vor der Durchführung der Wahl zur Spaltung der liberalen Parteikoalition führte 114 • Auf der anderen Seite erlangte die Gegnerschaft der Liberalen eine bis zu diesem Zeitpunkt unerreichte Geschlossenheit im sogenannten "Eisernen Ring", dem Bündnis der Deutsch-Klerikalen (Konservativen) mit den Tschechen und Polen. Beim Zusammentritt des neugewählten Abgeordnetenhauses des Reichsrates im Oktober 1879 verfügte der "Eiserne Ring" gegenüber den liberalen Parteigruppierungen über die, wenn auch knappe und unsichere relative Mehrheit115• Weder der "Eiserne Ring" als solcher noch die in ihm vereinigten Bündnispartner können als Parteien im eigentlichen Sinne angesprochen werden. Das tragende und einigende Element des "Eisernen Ringes" war seine antiliberale Ausrichtung, die sich bei den slawischen Bündnispartnern vor allem in der Ablehnung der zentralistischen Tendenzen, bei den Konservativen in einem scharfen Gegensatz zu den gesellschaftsund wirtschaftspolitischen Auffassungen des Liberalismus äußerte.

9. Die sozialreformerischen Ideen der Konservativen (Ketteler, Liechtenstein, Vogelsang) Ihren Ausgangspunkt nahm die konservative Sozialpolitik116 beim Mainzer Bischof Wilhelm E. Ketteler, der schon 1869117 das Eingreifen Kolmer, Parlament und Verfassung, III, S . 2. m Ebenda, S. 3. 115 Ebenda, S. 12. Ferner William A. Jenks, Austria under the Iron Ring 1879 - 93, Charlottesville 1965. 118 Vgl. etwa Ebert, Sozialpolitik, S. 22 ff.; Alois Brusatti, Geschichte der Sozialpolitik in Dokumenten, 1962, S. 29 ff.; Gerhard Silberbauer, Österreichs Katholiken und die Arbeiterfrage, 1966, S. 61 ff.; Ernst Hanisch, Konservatives und revolutionäres Denken, 1975. 117 Wilhelm E. Ketteler, Schriften. Ausgewählt und hrsg. von Johannes Mumbauer, 1911, III, S. 161. - Vgl. auch bereits die 1864 erschienene Schrift 113

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des Staates zum Schutze der Handwerker und der Arbeiter forderte. Nach Meinung Kettelers stellten die liberalen Neuerungen (Freihandel, Gewerbefreiheit, Aufhebung der Wucherverbote) eine eminente Gefahr für den Mittelstand dar, da dieser der Konkurrenz des Großkapitals auf die Dauer nicht gewachsen sei und in ein Abhängigkeitsverhältnis gegenüber dem Kapital abzusinken drohe. Hinsichtlich der Arbeiter kritisierte Ketteler die herrschende, nach rein ökonomischen Gesichtspunkten ausgerichtete Konzeption des Arbeitsvertrages, an deren Stelle er "die wohlwollende Teilnahme christlicher Nächstenliebe" zur Geltung bringen wollte. Die Ideen Kettelers wurden in Österreich118 ab Ende 1874 vor allem durch die Aktivitäten Alois Liechtensteins einer breiteren Öffentlichkeit bekannt; einen ersten Höhepunkt erreichte die katholische Sozialbewegung in Österreich beim Wiener Katholikentag von 1877, auf dem Liechtenstein ein grundlegendes Referat119 hielt. Ähnlich wie Ketteler wandte sich Liechtenstein in diesem Referat gegen die vom Liberalismus eingeführte "schrankenlose" Gewerbefreiheit, die auf Kosten des gewerblichen Mittelstandes dem "Recht des Stärkeren" Bahn gebrochen habe. Für den Bauernstand verlangte Liechtenstein die Rückkehr zu den vorliberalen Verschuldungsbeschränkungen für Grund und Boden, zum Anerbenrecht und zu strengen Wucherverboten120 • Zugunsten der Arbeiter forderte Liechtenstein in Übereinstimmung mit Ketteler die Überwindung der rein ökonomischen Betrachtungsweise hinsichtlich des Arbeitsverhältnisses, vor allem durch Schutzmaßnahmen gegen den die Arbeiterschaft existentiell bedrohenden übermäßigen Lohndruck121 • Was die Durchführung dieser Reformen betrifft, so verschmähte zwar Liechtenstein keineswegs das Instrument der Staatsintervention122, dieser sollte nach seiner Vorstellung aber nur die Funktion zukommen, zwischen "den einzelnen Klassen des produzierenden Volkes" zu vermitteln und auszugleichen. Eigentliche Träger der politischen Willensbildung sollten nach Meinung Liechtensteins die nach dem Vorbild der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung zu bildenden autonomen Berufs"Die Arbeiterfrage und das Christentum" (Auszug bei Brusatti, Geschichte, s. 174 ff.). 118 Vgl. Ebert, Sozialpolitik, S. 25 f.; über Liechtenstein vor allem Erika Weinzierl-Fischer, Neue österr. Biographie (NÖB) 14, S. 96 ff. 119 "Die sociale Frage ... ", 1877. 120 Vgl. auch Ebert, Sozialpolitik, S. 26 f .; zur damaligen Rechtslage vgl. Hofmeister, in: Bericht über den 12. österr. Historikertag, S. 147 ff. 121 Hiezu unten B/1, II 7. 122 Zutreffend Ebert, Sozialpolitik, S. 28, Anm. 82.

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verbände sein 123• Folgerichtig verlangte er daher die Bildung von gesetzlichen Berufsvertretungen (Kammern) der Bauern, Kleingewerbetreibenden und Arbeiter124. An Breitenwirkung bei weitem übertroffen wurde Liechtenstein von dem aus Mecklenburg stammenden konservativen Sozialpolitiker Karl Fre~herrn von Vogelsang 125, seit Anfang'l879 redaktioneller Leiter der "Österreichischen Monatsschrift für Gesellschaftswissenschaft und christliche Sozialreform". Ähnlich wie Liechtenstein erblickte auch Vogelsang sein gesellschaftliches Ideal in der christlichen Ständeordnung des Mittelalters. Während aber Liechtenstein sich damit abfand, daß irrfolge der industriellen Entwicklung eine irreversible Spaltung zwischen den Besitzenden auf der einen und dem Arbeiterstand auf der anderen Seite eingetreten war und er daher eine an diese Verhältnisse angepaßte Ständeordnung anstrebte, war Vogelsangs Hauptanliegen auf die Überwindung des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit gerichtet. Dementsprechend trat er für die Idee der Partnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein; ferner für die Ausgliederung des Bauernstandes aus der modernen Geld- und Kreditwirtschaft, um eine weitere Verschuldung und Existenzbedrohung der Bauernschaft zu verhindern126. Den von hohem Ethos getragenen und mit rastlosem Eifer vertretenen Thesen der frühen christlichen Sozialreformer kommt im Rahmen der Entwicklung der Österreichischen Sozialpolitik vor allem die auch von politischen Gegnern (etwa Otto Bauer)127 anerkannte - Bedeutung zu, die drängendsten sozialen Fragen der Zeit erstmals einem breiten Publikum in eindrucksvoller Weise vor Augen geführt zu haben. Auf ihr Wirken ist vor allem die von Hans Rosenberg zu Recht hervorgehobene Erscheinung zurückzuführen, daß in Österreich die auch andernorts in Europa um 1880 erstarkte antiliberale Bewegung sich durch besondere Heftigkeit, aber auch - dies sei zu Rosenbergs Feststellung in Vorwegnahme unserer Ergebnisse hinzugefügt- durch größere Geradlinigkeit auszeichnete, als dies vergleichsweise in der deutVgl. hiezu auch Waentig, Mittelstandspolitik, S. 110. Für die Arbeiter (und Angestellten) wurden gesetzliche Berufsvertretungen in Österreich erst durch das Gesetz vom 26. 2. 1920, StGBI. Nr. 100 (Ära Hanusch) eingerichtet; die Schaffung der Landwirtschaftskammern für die Bauern erfolgte (auf landesgesetzlicher Grundlage) noch später. 125 Johann Christoph Allmayer-Beck, Vogelsang. Vom Feudalismus zur Volksbewegung, 1952; Silberbauer, Österreichs Katholiken, S. 61 ff.; Wiard v. Klopp (Hrsg.), Die sozialen Lehren des Frhrn. v . Vogelsang, 2. Aufl., 1938. 126 Vgl. insbes. die Schrift: "Die Nothwendigkeit einer neuen Grundentlastung", 1880. 127 Vgl. hiezu Brusatti, Geschichte der Sozialpolitik, S. 31. 123

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sehen Sozialgesetzgebung der Fall war: Für die Österreichische Sozialpolitik der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bilden Sozialversicherung und Arbeiterschutz zwei eng zusammenhängende Komponenten ein- und desselben sozialpolitischen Programmes; eine Zurückstellung des Arbeiterschutzes gegenüber der Sozialversicherung, wie sie für die Bismarcksche Sozialgesetzgebung charakteristisch war128, wäre den christlichen Sozialreformern, denen es IUil1 die umfassende Besserung der Lage der Arbeiterschaft ging, als eine unhaltbare Inkonsequenz erschienen. Im Gegensatz zu dieser unbestreitbar gegebenen Einflußnahme der christlichen Sozialreformer auf die generelle Linie der Österreichischen Sozialgesetzgebung der achtziger Jahre war den konkreten Vorschlägen Liechtensteins und Vogelsangs geringerer Erfolg beschieden. Dies gilt nicht nur für die oft ins Utopische reichenden Vorschläge Vogelsangs, sondern auch für den - von Liechtenstein in praktisch durchführbarer Weise vorgetragenen- Vorschlag der Einrichtung zeitgemäßer Berufsstände129. Gerade die Entwicklung des Sozialversicherungswesens wird zeigen, daß der- grundsätzlich bejahte- Gedanke der Autonomie der Sozialversicherungsträger in Österreich in weit stärkerem Maße als im Deutschen Reich durch Mitwirkungs- und Eingriffsrechte der Bürokratie eingeschränkt erscheint; eine genaue Analyse der Entwürfe der Sozialversicherungsgesetze, insbes. der Entwürfe zum Unfallversicherungsgesetz von 1887/88, wird dies klar zutage bringen.

10. Die Rolle der Bürokratie Damit sind wir nun bei dem letzten Österreichischen Spezifikum angelangt, das es im Rahmen dieser verfassungsrechtlich-politischen Einleitung zu besprechen gilt: nämlich bei der Bedeutung und Funktion der Österreichischen Bürokratie im Zusammenhang mit der Sozialgesetzgebung. Schon oben wurde erwähnt, daß ein Teil der Österreichischen Bürokratie in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus zu den wichtigsten Stützen des Liberalismus zählte130 ; die Zusammenarbeit zwischen Liberalismus und Bürokratie beruhte vor 128 Treffend Ebert, Sozialpolitik, S. 253; vgl. auch Joachim Umlauf, Die deutsche Arbeiterschutzgesetzgebung (gemeint sind die Arbeiterversicherungsgesetze!) 1880- 1890, 1980. 129 Vgl. insbes. Silberbauer, Österreichs Katholiken, S. 63 f. sowie bereits oben bei Anm. 124. 13° Franz, Liberalismus, S. 142 ff.

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allem auf der in der josephinischen Tradition verankerten zentralistischen und gegen den Feudaladel gerichteten gemeinsamen Tendenz; hingegen stand die Bürokratie, auch hierin dem von sozialpolitischem Elan gekennzeichneten Josephinismus verpflichtet, den Auswüchsen des wirtschaftlichen Liberalismus anfangs skeptisch, später größtenteils ablehnend gegenüber. Das Jahr 1879 bildete daher für die Österreichische Bürokratie keineswegs eine so einschneidende Wende, wie dies die politischen Verhältnisse vermuten ließen: Die Verstärkung des Sozialgedankens fand in weiten Kreisen der Beamtenschaft Zustimmung, weniger die - von den christlichen Sozialreformern vertretene - Idee einer weitgehenden Übertragung von Kompetenzen an untergeordnete, autonome Verbände im Sinne des "Subsidiaritätsprinzips". Als bezeichnend wird man insoweit die Abweichungen ansehen müssen, die Emil Steinbach131 gegenüber den deutschen Entwürfen zum Unfallversicherungsgesetz vornahm; selbst gegenüber dem zweiten deutschen Entwurf zum Unfallversicherungsgesetz ist der berufsständische Gedanke gegenüber dem Staatseinfluß merklich in den Hintergrund gedrängt. Auf die Gründe für dieses Vorgehen, die insbes. auch in der Nationalitätenproblematik zu liegen scheinen, wird an späterer Stelle (unter B/3, IV; CI 1; C 115) noch einzugehen sein. II. Die sozio-ökonomiscben Rahmenbedingungen

1. Die Anfänge der Industrialisierung in Osterreich und deren soziale Folgen lnfolge der tatkräftigen Wirtschaftspolitik des aufgeklärten Absolutismus (Maria Theresia, Joseph II.) zählte Österreich132 zu den ersten Staaten der Welt, die von der von England ausgehenden "industriellen Revolution" erfaßt wurden. Von etwa 1775 an konnten sich auf dem Gebiet des damaligen Österreich namhafte industrielle Großbetriebe, zumal der Textilindustrie, etablieren, wobei die lokalen Schwerpunkte teils in dem südlich von Wien gelegenen Flachland, teils in Böhmen lagentss. Mit den ersten Industrieansiedlungen stellten sich auch sofort die für diese erste Industrialisierungsphase charakteristischen sozialen Mißstände ein, unter denen die Kinderarbeit als negativster hervortrat. Früher als in allen anderen europäischen Staaten wurden die negativen Aspekte der Kinderarbeit in Österreich durch den aufgeklärten MonarNäheres über ihn B/3, I 3 sowie IV 1. Im Sinne der späteren "im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder". 133 Matis, Österreichs Wirtschaft, S. 22 ff. 13 1

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chen (Josef II.) erkannt und Maßnahmen zu deren Überwindung eingeleitet (durch Handbillet vom 20. November 1786)134 •

2. Vormärz Der Vormärz ist, insbes. ab den dreißiger Jahren, sowohl auf wirtschaftlichem als auch sozialpolitischem Gebiet durch eine Stagnation gekennzeichnet. Wie eine Statistik aus 1850 zeigt, war Österreich gegenüber den führenden Industriestaaten (Großbritannien, deutsche Staaten, Frankreich) hinsichtlich der industriellen Entwicklung deutlich ins Hintertreffen geraten135. Auch der sozialpolitische Standard war, trotz einzelner Erfolge136 der vormärzliehen Gesetzgebung, insgesamt betrachtet, niedriger als in den führenden Industriestaaten (insbes. England).

3. Neoabsolutismus Während der Neoabsolutismus in politisch-verfassungsrechtlicher Hinsicht die vormärzliehen Zustände im wesentlichen wiederherstellte (s. oben B/1, I 4), zeichnete ·er sich- in diametralem Gegensatz zur Stagnation des Vormärz- durch eine rastlose Aktivität auf allen legislatorischen Gebieten aus137• Besondere Beachtung verdient die überaus dynamische Wirtschafts- und Finanzpolitik des neoabsolutistischen Staates: Wichtige Komponenten der neoabsolutistischen Wirtschaftspolitik waren insbes. die Durchführung der Grundentlastung (vgl. oben B/1, I 3), durch welche die umfangreichen Entschädigungskapitalien der Wirtschaft zugeführt wurden, sowie das von der Österreichischen Regierung (insbes. Fürst Felix Schwarzenberg, Karl v. Bruck) ausgehende Bestreben zur Schaffung eines mitteleuropäischen Wirtschafts-Großraumes, das einerseits die Aufhebung der bisherigen Zollgrenze gegenüber Ungarn, andererseits den 1853 mit dem Deutschen Zollverein geschlossenen Vertrag138 zur Folge hatte. Die Verstärkung der Handelsbeziehung zu Ungarn und zum Deutschen Zollverein, die expansive Geldpolitik der Österreichischen Nationalbank, die liberale Gewerbepolitik seit der Amtsübernahme durch den Minister Toggenburg (s. oben B/1, I 4) und nicht zuletzt die in ganz Europa günstige Konjunkturlage bescherten dem "Kaiserstaat Österreich" (einschließlich Ungarn) in den Jahren 18511857 eine überaus günstige Wirtschaftsentwicklung, die sich am deutlich134 Ebert, Sozialpolitik, S. 48 (unter Hinweis auf die grundlegende Studie von Ludwig Mises) sowie Theo Mayer-Maly, Zs. f. Arbeits- und Sozialrecht (ZAS), 1977, S. 3 ff. 135 Matis, Österreichs Wirtschaft, S. 23 ff. 138 Näheres bei Ebert, Sozialpolitik, S. 51 f. 137 Diese ist vorzüglich dokumentiert bei Carl Joseph v. Czoernig, Österreichs Neugestaltung, 1858. 138 RGBl. Nr. 207/1853; Matis, Österreichs Wirtschaft, S. 87.

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sten in der Ausweitung der Dampfkraftkapazität und dem Ausbau des Eisenbahnnetzes (Verdreifachung bzw. Verdoppelung) 139 sowie auch in bedeutsamen Industriegründungen niederschlug.

4. Die Depressionsphase 1857 - 1866 Erstmals traten allerdings auch die negativen Erscheinungen einer so stürmischen Aufwärtsentwicklung der Wirtschaft zutage: Früher als in den anderen europäischen Staaten machten sich in Österreich die Folgen hemmungsloser Börsenspekulation und übermäßiger Kreditexpansion bemerkbar: Im Herbst 1857 wurde Österreich von einer schweren Wirtschaftskrise erfaßt, die einen Verfall der Aktienkurse, einen starken Rückgang der Industrieproduktion und des Bahnbaues und - an vielen Orten der Monarchie - Massenarbeitslosigkeit nach sich zog140• Der Krieg von 1859 hatte eine Prolongation der Krise bis 1866 zur Folge, in deren Verlauf gewisse Industriesparten wie insbes. die Textilindustrie und die Eisenproduktion schwere Rückschläge zu verzeichnen hatten, die von Massenarbeitslosigkeit begleitet waren.

5. Die Aufschwungphase 1867 -1873 Das Jahr 1867 stand in Österreich nicht nur im Zeichen der politischen (s. oben B/1, I 5), sondern auch einer umfassenden wirtschaftlichen Konsolidierung. In der Folgezeit bewirkten das Ende der Plenerschen Deflationspalitik141, die freihändlerischen Handelsverträge Österreichs mit einer großen Zahl europäischer und außereuropäischer Staaten142 und nicht zuletzt die überaus ertragreichen Ernten der Jahre 1867 bis 1871 einen konjunkturellen Aufschwung, der selbst jenen der fünfziger Jahre in den Schatten stellte. Industrieproduktion und Verkehrswesen traten erstmals wieder seit 1857 in eine stürmische Expansionsphase ein; eine noch stärkere (relative) Steigerung als bei den Produktionsund Außenhandelsziffern machte sich jedoch bei den Börsenkursen und bei der Zahl der Neugründungen von Aktiengesellschaften bemerkbar. 6. Der Börsenkrach von 1873 und dessen sozio-ökonomischen Folgen

Der Börsenkrach vom 9. Mai 1873 ("Schwarzer Freitag"), der eine große Zahl von Insolvenzen zur Folge hatte, setzte diesem Höhenflug ein abruptes Ende143 ; die Österreichische Wirtschaft trat nunmehr neuer139 140

141 142 143

Matis, Österreichs Wirtschaft, S. 91 f.

Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,

S. S. S. S.

95. 141. 150 f. 260.

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lieh in eine ca. siebenjährige Depressionsphase ein, nachdem zusätzlich zu dem auslösenden Moment des Börsenkrachs seit Ende 1873 die Auswirkungen der von Amerika ausgehenden Weltwirtschaftskrise und seit ca. 1875 der rapide Verfall der Getreidepreise als krisenverstärkende Faktoren hinzutraten. Was die wirtschaftliche Lage der Arbeiterschaft betrifft, so war diese in der Hochkonjunktur ·einerseits durch geringe Arbeitslosigkeit, andererseits aber durch eine starke Verteuerung der Lebensmittel und Mieten infolge der herrschenden Inflation gekennzeichnet144. Hingegen bildete in den Jahren nach 1873 die ungeheure Ausmaße annehmende Arbeitslosigkeit das wirtschaftliche Hauptproblem der Arbeiterschaft. Die negativen Erfahrungen aus beidenPerioden haben nicht unwesentlich dazu beigetragen, daß die Arbeiterschaft dem Kooperationsmodell Oberwinders immer weniger zuneigte und zu einer selbstbewußten Klassenpolitik überging (s. oben B/1, I 6)145• Als weitere Charakteristika der nach 1873 einsetzenden "Großen Depression" müssen einerseits die in der reihenweisen Kündigung derbestehenden Handelsverträge zum Ausdruck kommende Schutzzollagitation und ferner die immer mehr um sich greifende Wettbewerbsmüdigkeit (Kartelle!) angesehen werden; auch das Eisenbahn-Sequestrationsgesetz aus 1877 (RGBI. Nr. 112) läßt ein erstes Abgehen von Axiomen des wirtschaftlichen Liberalismus noch vor 1879 erkennen. Mit der großen politischen Wende von 1879/1880 korrespondiert in wirtschaftlicher Hinsicht der um etwa 1880 anzusetzende Übergang von der "akuten" zur "schleichenden" Depression. Eine grundlegende Änderung der Konjunkturlage trat erst wieder ab 1896 ein1·".

7. Di.e Struktur der Österreichischen Wirtschaft (insbes. Industrialisierungsgrad) um 1880 Aus gesamteuropäischer Sicht betrachtet zählte Österreich (i. S . der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder) im Jahre 1880 noch nicht zu den führenden Industriestaaten Europas (Großbritannien, Frankreich, das Deutsche Reich, die Schweiz und Belgien). Der Anteil ganz Österreich-Ungarns an der europäischen Industrieproduktion betrug im Jahre 1880 weniger als die Hälfte von jenem des Deutschen Reichs (8 Ofo gegenüber 16,6 Ofo)147. Allerdings muß darauf hingewiesen werden, daß die industrielle Produktion sich auf einen relativ kleinen Teil des Staatsgebietes (insbes. Steiner, Arbeiterbewegung, S. 78 ff. Ebenda, S. 82; Berchtold, Parteiprogramme, S. 14 ff. ua Matis, Österreichs Wirtschaft, S. 413 ff., 428 u. ö. 147 Nachum Th. Gross, in: Die Habsburgermonarchie 1848- 1918, I, 1973, 1"

145

s. 20.

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die böhmische Ländergruppe, südliches Niederösterreich, Rheintal in Vorarlberg) konzentrierte; in diesen Gebieten waren daher der Industrialisierungsgrad und die damit verbundenen sozialen Probleme in einer mit anderen europäischen Industriestaaten durchaus vergleichbaren Größenordnung gegeben. Dazu kam noch, daß sowohl die Aufschwungsphase von 1867-1873 als auch die hieran anschließende Depression sich in dem werdenden Industrieland Österreich weit stärker bemerkbar machten als in den führenden Industriestaaten; diese wirtschaftlichen Faktoren trugen noch zusätzlich zu den politisch-verfassungsrechtlichen (s. oben B/1, I) dazu bei, daß sich die sozialen Gegensätze am Ende der siebziger Jahre außerorpentlich verschärften - ein Gesichtspunkt, dem für die politische Motivation der Sozialversicherungsgesetzgebung ganz entscheidende Bedeutung zukommen sollte.

8. Die soziale Lage der Arbeiterschaft um 1880 Die ohnedies sehr ungünstige soziale Situation der Arbeitnehmer in Industrie und Gewerbe erfuhr in den siebziger Jahren eine deutliche Verschlechterung: Einerseits nahm der Lohndruck vor allem in den industriellen Ballungszentren enorm zu, was ein Absinken der Löhne (in Extremfällen bis zu 80 Ofo) zur Folge hatte, andererseits stiegen die Lebensmittelpreise in einem oft noch größeren Ausmaß148. Neben der schlechten Ernährungssituation waren vor allem die katastrophalen Wohnverhältnisse dem Gesundheitszustand der Arbeitnehmer sehr abträglich: Ständig neue Zuwanderungen führten eine Verschärfung der Wohnungsnot herbei mit der Folge, daß die Mietzinse in den typischen Arbeiterbezirken überproportional zu jenen in den "bürgerlichen" Bezirken stiegen. Die durch das Fehlen von ausreichendem Wohnraum und die hohen Mietzinse bedingte Überbelegung der Arbeiterwohnungen förderte die Entstehung bzw. Übertragung von Krankheiten. Ein deutliches Bild vom Gesundheitszustand der Arbeiter geben die Zahlen über die Pro-Kopf-Ausgaben für medizinische Betreuung bzw. die Sterblichkeitsraten: Beide Werte waren zu Beginn der achtziger Jahre in den typischen Arbeiterbezirken Wiens nahezu dreimal so hoch 148 Steiner, Arbeiterbewegung, S. 165 ff. Von den zeitgenössischen Darstellungen sei insbes. verwiesen auf Anton Tschörner, Die materielle Lage des Arbeiterstandes in Österreich, in: Monatsschrift für Gesellschaft, Wissenschaft und christliche Sozialreform, 1879, S. 284 ff. u. ö. sowie die unter demselben Titel erschienene Artikelserie Karl Freiherrn von Vogelsangs, in: Monatsschrift für christliche Sozialreform, 1883, S. 561 ff. sowie 1884, S. 1 ff. u. ö.; vgl. ferner (Theodor Wollschack), pseud. T. W. T eiffen, Das soziale Elend und die besitzenden Klassen in Österreich, 1894. - Regelmäßig wurde auch in der sozialdemokratischen "Gleichheit" in einzelnen Artikeln auf die sozialen Verhältnisse der Arbeiterschaft hingewiesen.

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als in dem hauptsächlich vom Bürgertum und dem Adel bewohnten 1. Wiener Gemeindebezirk149 • Übrigens beschränkte sich das Problem gesundheitsschädlicher Wohnverhältnisse keineswegs auf die industrielle Arbeiterschaft. Die Gehilfen und insbes. die Lehrlinge der Kleingewerbetreibenden erhielten in der Regel keine eigenen Wohn- und Schlafräume zugewiesen, sondern mußten mit Werkstätten, Lagerräumen etc., in denen untragbare sanitäre Verhältnisse herrschten, vorliebnehment5o. Weitere wichtige Faktoren, von denen Gefahren für die Gesundheit und wirtschaftliche Existenz der Arbeiter ausgingen, waren die Betriebsunfälle sowie die Berufskrankheiten. Auf diese beiden Punkte wird in Verbindung mit den jeweils einschlägigen Sozialversicherungsgesetzen eingegangen werden. 111. Besonderheiten der Rechtstradition

1. Bürgerliches Recht Hauptquelle des bürgerlichen Rechts war zur Zeit der Entstehung der Arbeiterversicherungsgesetze (und ist nach wie vor) das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch aus 1811 151 • Das ABGB ist- unter Vorwegnahme späterer sozialer und politischer Entwicklungen- primär an den Bedürfnissen des bürgerlichen Mittelstandes orientiert; auf die Probleme des industriellen Arbeitsverhältnisses wird, wiewohl zur Zeit der Erlassung des ABGB hiefür bereits genügend Anschauungsmaterial bestanden hätte, daher nicht eingegangen. So geht das Arbeitsvertragsrecht des ABGB, abgesehen von seiner Dürftigkeit, von der auf den industriellen Arbeitsvertrag nicht anwendbaren Vorstellung gleich starker Vertragspartner aus. Das Schadenersatzrecht des ABGB war und ist durch die grundsätzliche Beschränkung der Ersatzpflicht auf schuldhaft zugefügten Schaden, wobei die Beweislast (§ 1296) den Geschädigten trifft, auf Betriebsunfälle nur in seltenen Fällen (bei Verschulden des Unternehmers oder seines Gehilfen:§ 1315 alt) anwendbar. Ansätze zu einer verschuldensunabhängigen Haftung des Schädigers finden sich im ABGB nur in sehr bescheiSteiner, Arbeiterbewegung, S. 165 ff. Waentig, Mittelstandspolitik, S. 230 ff. 151 Würdigung aus geistes- bzw. dogmengeschichtlicher Sicht bei Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., 1967, S. 335 ff. und Gerhard WesenbergIGunter Wesener, Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte, 3. Aufl., 1976, S. 149 ff.; zuletzt im "Forschungsband Franz v. Zeiller", hrsg. v. Walter Selb und Herbert Hofmeister, 1980. Vgl. zum Arbeitsrecht im besonderen Werner Ogris, in: Die Rechtsentwicklung in Zisleithanien 1848-1918, S. 632 ff. (unter Hinweis auf Arbeiten Theo Mayer-Malys und Kurt Eberts). 149

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denem Maße (§ 1310 u. ä.); durch das Eisenbahnhaftpflichtgesetz vom 5. März 1869, RGBI. Nr. 27 152, wurde erstmals ein entscheidender Schritt zur Durchbrechung des Verschuldensprinzips oder zumindest zur Abkehr von der für den Geschädigten höchst nachteiligen Beweislastregel des ABGB unternommen; eine Ausweitung des Haftpflichtgedankens auf die vom Reichshaftpflichtgesetz {B/3, III) miterf.aßten Tatbestände erfolgte jedoch nicht; auf die Gründe dieser vom Deutschen Reich abweichenden Entwicklung wird noch näher einzugehen sein (B/3, IV).

2. Zivilprozeßrecht Vor allem bei den Beratungen zum Unfallversicherungsgesetz (B/3, IV) wurde mehrfach die Unzulänglichkeit des geltenden Zivilprozeßrechts als Grund dafür angeführt, weshalb eine Weiterentwicklung der Haftpflichtgesetzgebung als wenig erfolgversprechend anzusehen sei. Hiezu sei schon jetzt darauf hingewiesen, daß das Österreichische Zivilprozeßrecht153 noch im Jahre 1880 auf zwei im wesentlichen gleichgearteten Prozeßordnungen aus dem Ende des 18. Jahrhunderts beruhte. Die "Allgemeine Gerichtsordnung" (Josefs II.) aus 1781 und die sog. "Westgalizische Gerichtsordnung" aus 1796 waren von den Grundsätzen der Schriftlichkeit, der gebundenen Beweiswürdigung, der Mittelbarkeit und nicht zuletzt auch von einer stark ausgeprägten Verhandlungsmaxime beherrscht - allesamt Grundsätze, die wesentlich zur Verteuerung und Verzögerung der Prozesse und somit im Endeffekt zu einer Benachteiligung der wirtschaftlich und sozial schwächeren Partei beitrugen. Vor allem in Schadenersatzprozessen mit Betriebsunfällen zeigten sich diese Nachteile des überkommenen Prozeßrechts in eklatanter Weise. Erst durch die große Zivilprozeßreform von 1895 trat zugunsten sozial Schwächerer auf dem Sektor des Zivilprozeßrechts eine grundlegende Besserung ein154.

2. Abschnitt: Vorläufer und erste Ansätze I. Die Bruderladen, insbes. seit dem Berggesetz von 1854

Die hohe Unfallsgefahr und das häufige Auftreten von Berufskrankheiten mit nachfolgender Invalidität führten beim Bergbau schon im Mittelalter zur Einrichtung sog. Knappschaftskassen, die bei Krankheit, Ogris, in: Die Rechtsentwicklung in Zisleithanien 1848- 1918, S. 600. Ebenda, S. 72 f. 154 Ebenda, S. 577 ff.; zuletzt Rainer Sprung, (Deutsche) Zeitschrift für Zivilprozeß (ZZP) 92 (1979), S. 4 ff., insbes. S. 6 ff. 152

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Unfällen, Invalidität und Tod eines Bergmannes diesem bzw. seinen Angehörigen Versicherungsschutz gewährten1ss. Innerhalb des Gebietes, das bis 1918 zu Österreich (i. S. der "im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder") gehörte, erfolgte eine gesetzliche Regelung der Knappschaftskassen erstmals im Jahre 1300 durch die Kuttenherger Bergordnung156. Weitere Bergordnungen ergingen im 16., 17. und 18. Jahrhundert. Im Gegensatz zu den "Gesellenladen" des Handwerks konnten die "Bruderladen" des Bergbaues ihre traditionelle Funktion bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts behaupten; allerdings war das System der Bruderladen lückenhaft, da viele Bergwerksbesitzer auf deren Einrichtung verzichtet hatten, auch war die wirtschaftliche Lage der Bruderladen in der Regel wenig zufriedenstellend157. Durch das in der Ära des Neoabsolutismus (vgl. B/1, I 4; II 3) ergangene Allgemeine Berggesetz vom 23. Mai 1854, RGBI. Nr. 146, wurde der Versuch einer umfassenden Reform der Bruderladen unternommen. Seit diesem Zeitpunkt bildeten das 10. Hauptstück des Allgemeinen Berggesetzes (§§ 210- 214) sowie§ 103 der Vollzugsvorschrift zum Allgemeinen Berggesetz (vom 25. September 1854)158 die Rechtsgrundlage der Bruderladen. Zentrales Anliegen des Berggesetzes 1854 war hinsichtlich der Bruderladen die Normierung des Errichtungs- sowie des Beitrittszwanges; Durch § 210, Abs. 2 des Allgemeinen Berggesetzes wurde daher jedem Bergwerksbesitzer die Verpflichtung auferlegt, "entweder bei seinem Werke für eine selbständige Errichtung einer . . . (Bruderlade) ... zu sorgen, oder sich darüber nach Genehmigung der Bergbehörde mit anderen Bergwerksbesitzern zu vereinigen". Gern. § 211 war "jeder bei ~inem Bergwerke aufgenommene Aufseher oder Bergarbeiter ... verpflichtet, der Bruderlade des Werkes, bei welchem er dient, als Mitglied beizutreten und zu derselben den festgesetzten Beitrag zu leisten". Hinsichtlich der Organisation, der Finanzierung und der Leistungen der Bruderladen enthielt das Allgemeine Berggesetz keine Regelung; diese sollte vielmehr gern. § 213 den Bruderladenstatuten vorbehalten bleiben, die "von dem Eigenthümer oder der Direction des Bergwerkes, unter Mitwirkung eines von dem Arbeiterpersonale zu wählenden 155 Vgl. hiezu im allgemeinen Georg Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, I, 1965, S. 45 f., für Österreich im besonderen Otto Stöger, Art. Bruderladen, ÖStWB I, S. 645 ff. 158 Vgl. Ernst C. Hellbling, österr. Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 2. Aufl., S. 181 f.; Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, S. 46. 157 Vgl. Czoernig, Österreichs Neugestaltung, S. 581 ff. 15s Justizministerialerlaß vom 13. 12. 1857, Z. 20256.

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Knappschaftsausschusses" zu entwerfen und den Bergbehörden "zur Prüfung und Genehmigung" vorzulegen waren (§ 212). Bis zur Errichtung der Bruderlade waren die Bergwerksbesitzer verpflichtet, "ihren erkrankten oder verunglückten Arbeitern wenigstens diejenige Hilfe zu leisten, welche nach den allgemeinen Gesetzen den Dienstherren gegen ihre Di€nstleute obliegt" (§ 214). Wiewohl die Vollzugsvorschrift in § 103, Abs. 1 den mit der Aufsicht über die Bergwerke betrauten Berghauptmannschaften wegen der "öffentlichen Humanitätsrücksichten, welche der Staatsverwaltung die Pflicht auferlegen, eine grosse Classe productiver Arbeiter mit ihren Familien in ihren Bedrängnissen nicht hilflos zu lassen", einschärft, die Bergwerksbesitzer zur Errichtung neuer Bruderladen anzuweisen und "sich von der steten Sicherstellung des Bruderladensvermögens die Überzeugung (zu) verschaffen und darüber (zu) wachen, ob die Bruderladen-Einflüsse auch den Statuten gernäss verwendet werden" (Abs. 4 u. 8), hatte das Allgemeine Berggesetz keine grundlegende Verbesserung des Instituts der Bruderladen zur Folge. Insbes. die folgenden Umstände erwiesen sich als nachteilig: a) Die milde Fassung des Errichtungszwanges hatte vielfach starke Verzögerungen oder gar das Unterbleiben der Einrichtung einer Bruderlade zur Folge; die Möglichkeit einer amtswegigen Errichtung im Falle der Säumnis des Bergwerksbesitzers war im Allgemeinen Berggesetz nicht vorgesehen159• b) Da die Bruderladen in der Regel nur für ein Bergwerk oder allenfalls für mehrere Bergwerke desselben Bergwerksbesitzers errichtet wurden, war die Risikogemeinschaft zu klein, um bei Bergwerksunfällen größeren Ausmaßes wirksame Hilfe leisten zu können. Von der im Berggesetz angedeuteten Alternative der Errichtung von Revierbruderladen wurde nur selten Gebrauch gemacht, obwohl die Vollzugsvorschrift (§ 103, Abs. 5) die Bildung von "für mehrere Bergwerke des Reviers gemeinschaftlichen" Bruderladen als Idealziel herausstrich. c) In Anbetracht des meist sehr geringen personellen Ausdehnungsbereichs der Bruderladen wirkte sich der Umstand um so nachteiliger aus, daß das Allgemeine Berggesetz die Möglichkeit des Übertritts eines Bergarbeiters von der einen zu einer anderen Bruderlade nicht vorgesehen hatte. Bei einem Wechsel des Dienstgebers (sei es infolge freiwilligen Austritts, sei es infolge einer Entlassung) verlor der Bergarbeiter demnach seine Ansprüche gegenüber der Bruderlade und somit die von ihm geleisteten Beiträge. Hieraus resultierte eine die Freizügigkeit der 159

Menzel, Arbeiterversicherung, S. 17.

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Arbeiter über Gebühr beeinträchtigende Abhängigkeit gegenüber dem jeweiligen Bergwerksunternehmen. d) Im Allgemeinen Berggesetz (§ 211) war lediglich die Beitragspflicht der Arbeitnehmer, nicht jedoch der Bergwerksbesitzer normiert worden. Infolgedessen ergab sich der unbefriedigende Rechtszustand, daß bei einigen Bruderladen die Unternehmer freiwillige Leistungsverpflichtungen durch entsprechende Fassung des Statuts auf sich nahmen, bei anderen hingegen nicht. Im Jahre 1885, also knapp vor der BruderladenHeform der Regierung Taaffe (s. unten B/3, VII), betrug der Anteil der freiwilligen Arbeitgeberbeiträge ca. 26 °/o aller eingezahlten Beiträge160• e) Trotz der von den Berghauptmannschaften i. S. der Vollzugsvorschrift geübten Kontrolle über die Gebarung der Bruderladen war deren wirtschaftliche Situation in der Mehrzahl der Fälle besorgniserregend. So konnte im Jahre 1881 von den insgesamt 354 Bruderladen überhaupt nur bei 261 eine Bilanz ermittelt werden, derzufolge nur 72 Kassen über ausreichende Deckungskapitalien verfügten, während das Defizit der übrigen insgesamt ca. doppelt so hoch war als der Kurswert des Vermögens aller Bruderladen zusammen161 • Die Ursache dieser schlechten wirtschaftlichen Lage der meisten Bruderladen war in erster Linie darin begründet, daß das statutenmäßig festgesetzte Verhältnis zwischen Beiträgen und Leistungen nicht nach versicherungsmathematischen Prinzipien, sondern nach dem jeweiligen Gutdünken der Beteiligten festgesetzt worden war. Die für die Bruderladen charakteristische Verknüpfung verschiedener Versicherungszweige (Kranken-, Unfall- und Invaliditätsversicherung) erschwerte die Feststellung des richtigen Verhältnisses zwischen Beiträgen und Leistungen noch erheblich. So waren denn auch die ersten, noch in der liberalen Ära (vgl. oben B/1, I 8; II 6) unternommenen Versuche einer Reform der Bruderladen in erster Linie darauf gerichtet, die traditionelle Verknüpfung der einzelnen Versicherungszweige zu entflechten und insbes. die Invaliditätsversicherung auf neue organisatorische Grundlagen zu stellen. Es handelt sich hiebei um die 1872 publizierten "Grundzüge betreffend die Regelung des Bergarbeiterunterstützungswesens", auf denen ein Gesetzentwurf von 1874 und in der Folge auch das 10. Hauptstück des Referentenentwurfes eines neuen Berggesetzes aus dem Jahre 1876 162 aufbauen. OStWB I, S. 646 (dort jedoch anders berechnet). Ebenda. 162 Referentenentwurf eines neuen Berggesetzes nebst Motiven. Veröffentlicht vom k. k. Ackerbauministerium, 187'6; ÖStWB I, S. 646. 180 181

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Der Entwurf von 1876 brachte zwar keine grundsätzliche Abkehr von dem im Allgemeinen Berggesetz von 1854 vorgegebenen Modell; dies zeigt sich insbes. darin, daß nach wie vor das Gros der Detailregelungen den Statuten überlassen wurde (§ 142 des Entwurfs). Immerhin war auch insoweit ein Fortschritt gegenüber dem Allgemeinen Berggesetz spürbar, als die Beteiligung der Arbeiter an der Statutenaufstellung wesentlich verstärkt wurde. So sollte gern. § 140 bei der Aufstellung der Krankenkassen-Statuten die "Mitwirkung eines von den Arbeitern zu wählenden Ausschusses" gegeben sein; die Statuten der Versorgungsvereine waren durch einen "zur Hälfte aus Werksbesitzern zur anderen Hälfte aus Arbeitern des Bezirks gewählten Ausschuß" zu beschließen. Ebenso wie nach dem Allgemeinen Berggesetz sollte zwar die Regelung der Höhe und Einzahlungsart der Beiträge den Statuten überlassen bleiben; immerhin aber sah der Entwurf 1876 eine gesetzliche Verpflichtung der Werksbesitzer vor, "mindestens die Hälfte der Beiträge der Arbeiter zu entrichten" (§ 146)163 • Die gesetzliche Mindestleistungsverpfiichtung der Arbeitgeber wäre demnach deutlich über dem bisherigen Anteil der freiwilligen Arbeitgeberbeiträge gelegen. Von besonderer Wichtigkeit ist ferner § 139 des Entwurfs, demzufolge nur mehr die Krankenkassen als Werkskassen errichtet werden durften, während für die übrigen Versicherungszweige (Unfalls- und Invaliditätsversicherung) größere Sprengel vorzusehen waren. Die Bestimmung der Sprengel sollte durch "Einigung der Werksbesitzer und eines von den Arbeitern zu wählenden Ausschusses" erfolgen. Kam diese nicht zustande oder entsprach "der in dieser Weise bestimmte Bezirk den für das Gedeihen des Vereines nothwendigen Bedingungen nicht", so sollte die Berghauptmannschaft als Aufsichtsbehörde über den Umfang des Vereines selbst entscheiden können164• Insges·a mt betrachtet enthielt der Entwurf 1876 wichtige Ansätze einerseits zur Überwindung der mit der Kleinheit der Sprengel verbundenen Probleme, wobei ein beachtliches Maß an Staatseinfluß hiezu in Kauf genommen wird, und andererseits in Richtung auf eine verstärkte Mitbeteiligung der Arbeiterschaft an dem Zustandekommen der Statuten sowie auch an der Verwaltung der Bergarbeiterkassen. Bedauerlicherweise wurde der Entwurf 1876 jedoch nie Gesetz, da die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Liberalen sich als unüberbrückbar herausstellten. Nach dem Scheitern dieser Projekte wurde erst wieder im Jahre 1882 eine Reform des Bruderladenwesens in Angriff genommen und schließ163 Dies offenbar in Anlehnung an § 124 GewO (dort allerdings als Maximalbeitrag normiert!). 164 Vgl. die "Motive" zum Entwurf (S. 174).

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lieh 1889 zu Ende geführt, wobei sich die Regierung (Taaffe) nicht nur auf die Ergebnisse mehrerer Enqueten, sondern auch auf die umfangreichen versicherungsmathematischen Untersuchungen Julius Kaans stützen konnte. Über die Reform der achtziger Jahre wird unten (B/3, VII) eingehend berichtet werden165• ß. Die Fabriks- und Genossenschaftskassen

der Gewerbeordnung von 1859

1. Die Fabrikskrankenkassen Die Gewerbeordnung von 1859 (B/1, I 4; II 3) sah zwei Varianten gewerblicher Unterstützungskassen vor; zunächst bestimmte § 85 Gew0 166 : "Wenn mit Rücksicht auf die große Zahl der Arbeiter oder die Natur der Beschäftigung eine besondere Vorsorge für die Unterstützung der Arbeiter in Fällen der Verunglückung oder Erkrankung nöthig erscheint, ist der Unternehmer verpflichtet, unter Beitragsleistung der Arbeiter entweder eine selbständige Unterstützungscassa dieser Art bei seinem Etablissement zu errichten oder einer schon bestehenden beizutreten." Die Bestimmung läßt ähnliche Mängel erkennen wie die einschlägigen Regelungen des etwa 5 Jahre älteren Berggesetzes hinsichtlich der BruderladenH17: Ähnlich wie das Berggesetz vermied auch die Gewerbeordnung die ausdrückliche Normierung einer Beitragspflicht der Arbeitgeber zu den Fabrikskassen; auch die versicherungstechnisch und wirtschaftlich ungünstige Vermengung mehrerer Versicherungssparten (hier: Unfall- und Krankenversicherung) findet sich wieder; ebenso fehlt eine klare Regelung einer Mitbeteiligung der Versicherten an der Verwaltung der Fabrikskassen. Darüber hinaus war die Verpflichtung zur Errichtung der Fabrikskrankenkassen nicht in dem Maße gegeben wie bei den Bruderladen, weil § 85 GewO die Errichtungspflicht bloß bedingt formulierte.

2. Die Genossenschaftskrankenkassen Als Alternative bzw. Ergänzung zu den Fabrikskassen sah die Gewerbeordnung 1859 ferner die Errichtung von Krankenkassen auf der Basis Vgl. ferner B/2, VII 5 zur Sanierungsfrage! ÖStWB I, S. 527 ff.; Menzel, Arbeiterversicherung, S. 18 f.; Ebert, Sozialpolitik, S. 102 ff. 167 Vgl. die in der vorigen Anm. angegebene Lit. sowie die Ausführungen im "Entwurf einer Gewerbe-Ordnung sammt Motive", 1880 ( = StProtAH, 9. Sess., Beil. Nr. 253), insbes. S. 150 ff. 165 188

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der bestehenden bzw. einzurichtenden gewe1·blichen Genossenschaften vor. Bei diesen Genossenschaften handelte es sich um Zwangszusammenschlüsse von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, wobei die ersteren ipso iure mit Gewerbeantritt die Mitgliedschaft erlangten, während die letzteren ebenfalls automatisch mit Eingebung des Dienstverhältnisses "Angehörige" der Genossenschaft wurden(§ 106 GewO). Als "Zwecke" dieser Zwangsgenossenschaften, die teils auf den alten Innungen aufbauten, teils Neugründungen darstellten, nannte § 114 GewO zunächst solche allgemeiner Natur wie "Pflege des Gemeingeistes", Erhaltung und Hebung der Standesehre", "Förderung der gemeinsamen gewerblichen Interessen ihrer Mitglieder"; danach führt die Bestimmung eine Reihe konkreter Aufgaben an, die vor allem das Verhältnis zwischen den Gewerbsinhabern und ihren Gehilfen bzw. die sozialen Probleme der letzteren betreffen. Für uns von Interesse ist§ 114, Abs. 2 lit. e GewO, wonach "die Vorsorge für die erkrankten Gehilfen (Gesellen) durch Gründung von Krankencassen oder den Beitritt zu bereits bestehenden Krankencassen" ausdrücklich unter den Aufgaben der gewerblichen Zwangsgenossenschaften genannt ist. Hinsichtlich des Umfangs der Beitragsverpflichtung bestimmt § 124 GewO für alle Gewerbe einheitlich, daß der Beitrag der Gehilfen nicht mehr als 3 °/o des Lohnes betragen dürfe, während die Beiträge der Gewerbeinhaber maximal die Hälfte der Gehilfenbeiträge erreichen sollentss. Ausdrücklich bestimmt ist ferner, daß den Gehilfen ein angemessener Einfluß auf die Verwaltung der Genossenschaftskassen einzuräumen sei. Damit erschöpften sich bereits die - ohnedies sehr vage gehaltenen - Bestimmungen der GewO betreffend die Genossenschaftskassen. Gern. § 128 GewO blieb nämlich (in Übereinstimmung mit § 213 des Allgemeinen Berggesetzes) die nähere Bestimmung über die Größe der Beiträge, über die Art ihrer Einzahlung, über Entstehungsvoraussetzungen und Ausmaß der Unterstützungsansprüche sowie über das Ausmaß der Mitwirkung der Gehilfen an der Verwaltung der Kassen den Statuten überlassen. Ergänzend sei noch erwähnt, daß der GewO eine Bestimmung i. S. des § 214 des Allgemeinen Berggesetzes, wonach den Unternehmer bis zur Errichtung der Unterstützungskasse eine Versorgungspflicht als Dienstgeber traf, fremd war. 168

Menzel, Arbeiterversicherung, S. 19.

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Lediglich hinsichtlich der Lehrlinge bestimmte § 94 der GewO: "Im Erkrankungsfall hat der Lehrling, der in der Hausgenossenschaft des Lehrherrn lebt, auf die gleiche Hilfe Anspruch, welche nach den allgemeinen Gesetzen den Dienstboten gegen ihre Dienstgeber zusteht." Darrüber hinaus normierte § 114, lit. f GewO eine subsidiäre Fürsorgeverpflichtung der gewerblichen Genossenschaften gegenüber den Lehrlingen169. Eine spezielle Schutzvorschrift wurde einige Jahre nach Erlassung der Gewerbeordnung zugunsten der Handlungsgehilfen erlassen: Gern. Art. 60 des Allgemeinen Handelsgesetzbuches (AHGB) vom 17. Dezember 1862, RGBl. Nr. 1/1863170, wurde nämlich dem Handlungsgehilfen, "welcher durch unverschuldetes Unglück an der Leistung seines Dienstes zeitweise verhindert wird", für die Dauer von sechs Wochen ein Lohnfortzahlungsanspruch eingeräumt. Hinsichtlich der Zwangsgenossenschaften der Gewerbeordnung von 1859 ist zunächst in allgemeiner Hinsicht festzustellen, daß diese weder von seiten der Arbeitgeber noch der Arbeitnehmer auf breite Zustimmung stießen. Schon 1862 faßte das- zu jener Zeit von liberalen Ideen nahezu vollständig beherrschte - Abgeordnetenhaus des Reichsrates einen Beschluß171, wonach die Zwangsgenossenschaften der Gewerbeordnung durch freiwillige Zusammenschlüsse der Gewerbetreibenden ersetzt werden sollten172. Auch die Arbeiterschaft brachte der Idee des zwangsweisen Zusammenschlusses von Arbeitnehmern und Arbeitgebern wenig Sympathie entgegen, wobei sich ihr Widerstand gegen diese Institution mit der Entwicklung eines eigenen Klassenbewußtseins seit der Mitte der siebziger Jahre zusehends verschärfte113 (s. oben B/1, I 6). Auch die in der Gewerbeordnung 1859 vorgesehenen Unterstützungskassen brachten nicht den erwünschten Erfolg. 1879, also im Jahr der großen politischen "Wende", bestanden auf dem Gebiet "der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder" insgesamt 860 gewerbliche Unterstützungskassen, hievon nur 116 Genossenschaftskassen. Die geringe Zahl von Genossenschaftskassen wird in den Erläuterungen zur Regierungsvorlage von 1880174 damit erklärt, "daß die Vgl. Ebert, Sozialpolitik, S. 54 f. Jetzt Binder, Zusammenspiel, S. 49. m Ebert, Sozialpolitik, S. 58. 172 StProtAH, 1. Sess., S. 2399. 173 Über die unter den damaligen Verhältnissen utopischen - Bestrebungen Vogelsangs, dieser Entwicklung entgegenzusteuern, vgl. oben B/1, I 9. 174 s. 152. 169

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Genossenschaft ziemlich häufig sich ihrer Verpflichtungen gegen die angehörenden Gesellen und Lehrlinge dadurch entledigt, daß dieselbe die erkrankten Hilfsarbeiter in einem Spital gegen einen Pauschalbetrag verpflegen läßt". Der Großteil der Kassen war bei einzelnen Industrie- oder Gewerbebetrieben (504 bzw. 235) eingerichtet worden, nur bei 93 Kassen handelte es sich um sog. "allgemeine Cassen", "die, ohne an einen bestimmten Wirtschaftszweig gebunden zu sein, den Bewohnern eines territorialen Gebietes zu dienen berufen" waren. Dementsprechend klein war die durchschnittliche Mitgliederzahl (413) bzw. die Gesamtmitgliederzahl (ca. 300.000) der 728 Kassen, von denen 1880 einschlägige Angaben vorlagen. Die finanzielle Lage der gewerblichen Unterstützungskassen war im allgemeinen zufriedenstellender als die der Bruderladen. Die Einnahmen der 742 Kassen, die für das Rechnungsjahr 1879 ihre finanzielle Gebarung vorlegten, betrugen ca. 2 Millionen Gulden, denen ca. 1,85 Millionen Gulden an Ausgaben gegenüberstanden17s. Eine sehr unterschiedliche Situation ergab sich hinsichtlich der Aufbringung der Beiträge; die Motive zum Gewerbeordnungs-Entwurf von 1880 führen hiezu bezüglich der 814 in diesem Punkt näher untersuchten Kassen aus: "Es befinden sich unter denselben (insgesamt 814 Kassen) 20 Cassen, welche lediglich von den Gewerbsinhabern erhalten werden, dann 299 Cassen, zu denen die Gewerbeinhaber einen Jahresbeitrag leisten, ferner 21 Cassen, bei denen die Gewerbeinhaber von dem gesammten Jahresbeitrag der Mitglieder einen bestimmten Prozentsatz leisten, 29 Cassen, bei denen die Gewerbeinhaber das jährliche Deficit decken, 124 Cassen mit zeitweiliger Heranziehung der Arbeitgeber zur Beitragsleistung und 75 Cassen mit andersartigen Beiträgen der Gewerbeinhaber. Bei 275 Cassen leisten die Gewerbeinhaber keinerlei Beiträge." Noch verworrener als die Gestaltung der Beitragszahlungsverpflichtung war das Gesamtbild der gewerblichen Unterstützungskassen hinsichtlich des Anteils der beteiligten Gruppen an der Kassenverwaltung. Für die der Untersuchung insoweit zugrundegelegten 748 Kassen stellten die Motive 1880 folgende Übersicht176 auf: 175 Allerdings hatten, wie die Motive zur Regierungsvorlage von 1880, S. 154, bemerken, einige Genossenschaftskassen hohe Schulden bei öffentlichen Krankenhäusern, so daß die finanzielle Lage der Genossenschaftskrankenkassen weniger günstig gewesen sein dürfte, als die Statistik ausweist. 178 s. 153.

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"I. Selbstverwaltung seitens der Hilfsarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . 259 Cassen

II. Gemeinschaftliche Verwaltung der Gewerbeinhaber und Hilfsarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Cassencontrole seitens der Hilfsarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Kein Einfluß auf die Verwaltung seitens der Hilfsarbeiter Zusammen . 0

•••••••••••••

0

••••••••••••••••••••••••••••

0

•••••

192 158 139 748

Cassen Cassen Cassen Cassen"

Zu den unbestreitbaren Mängeln des Kassenwesens der Gewerbeordnung zählte vor allem das ungeklärte Verhältnis zwischen Fabriks- und Genossenschaftskassen: So konnte es vorkommen, daß manche Arbeiter sowohl von der Fabrikskasse ihres Betriebes als auch von der Genossenschaftskasse des betreffenden Gewerbezweiges wegen Beitragszahlungen in Anspruch genommen wurden. Als ungünstig erwies sich auch, wie schon oben bemerkt wurde, die Zusammenfassung von Unfall- und Krankenversicherung bei den Fabrikskassen, sowie ferner der geringe Umfang der Kassen, der sich insbes. bei Massenunfällen oder Häufungen von Krankheitsfällen negativ auswirkte. Ferner wurde die uniforme Beitragsbestimmung des § 124 GewO, die weder auf die Größe noch auf die Art des Betriebes, bei dem die Fabrikskasse bestand, Rücksicht nahm177, überwiegend abgelehnt. Auch in einem zentralen Punkt war die Haltung der Gewerbeordnung zu Beginn der siebziger Jahre umstritten, nämlich hinsichtlich des Beitrittszwanges. 3. Reformbestrebungen in den Gewerbeordnungsentwürfen der 70er Jahre Wiewohl in Kreisen des Justizministeriums dem Beitrittszwang wenig Sympathien entgegengebracht wurden, hielten die vier Gewerbeordnungsreformentwürfe der siebziger Jahre (1872, 1875, 1877, 1879)178 am Beitrittszwang fest. Der Entwurf 1877 strebte sogar die Errichtung von Invalidenkassen sowie von Witwen- und Waisenkassen an, ohne jedoch den Beitrittszwang über die Krankenkassen hinaus auszudehnen. Ferner vollzogen die Entwürfe von 1875 und 1877, die m. E. ein überzeugendes Beispiel für das aufkeimende sozialpolitische Engagement der Liberalen in der Spätphase ihrer Herrschaft darstellen, insoweit eine entscheidende Wende, als sie auch die Möglichkeit von Zusammenschlüssen auf bloßer Arbeitnehmerbasis eröffneten und somit der aus Arbeiterkreisen geäußerten Kritik an der zwangsweisen genossenschaftlichen Vereinigung mit den Arbeitgebern (Gewerbsinhabern) Rechnung trugen. Als Vorbild für dieses Nebeneinander von genossenschaftlichen Zwangs177 Vgl. Menzel, Arbeiterversicherung, S. 18; Otto Stöger, Art. Arbeiterkrankenversicherung, in: ÖStWB I, S. 227. 178 Ebert, Sozialpolitik, S. 105 ffo; Menzel, Arbeiterversicherung, S. 20 ff.

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kassen179 auf der einen und reinen Arbeitnehmerkassen auf der anderen Seite dürfte wohl die Allgemeine preußische Gewerbeordnung von 1845180 in Betracht kommen, die auch sonst häufig zitiert wurde, wenn es um die Verteidigung des Beitrittszwanges gegenüber extrem liberalen Standpunkten ging18 1. Für den Entwurf 1877 kommt ferner als Vorbild das Gesetz über die eingeschriebenen Hilfskassen vom 7. 4. 1876 sowie das Gesetz betreffend die Abänderung des Titels VIII der Gewerbeordnung vom 8. 4. 1876182 in Betracht. Durch diese beiden Gesetze erhielten nämlich auch die freien (nicht durch Ortsstatut gebildeten) Kassen eine rechtliche Grundlage in Form von Normativbedingungen 183• Eben diesen Weg beschritt auch der Österreichische Entwurf von 1877, der in einem Anhang "Normativbestimmungen für registrierte gewerbliche Hilfskassen" enthielt, welche die - meist rahmenartigen - Detailregelungen des Beitrags- und Leistungsrechts enthielten. In Abweichung von dem starren Beitragssystem der aufgrund der Gewerbeordnung 1859 errichteten Kassen konnte diesen Normativbestimmungen zufolge (§ 37) bei der statutarischen Beitragsbemessung auf gewisse subjektive Kriterien (Geschlecht, Gesundheitszustand, Alter, Beschäftigungsart des Versicherten) Bedacht genommen werden. Für die Dauer der Krankenunterstützung wurde ein Mindestzeitraum von 13 Wochen festgelegt (§ 39) - eine Frist, die uns im Zusammenhang mit den Sozialversicherungsgesetzen der achtziger Jahre noch öfters begegnen wird. Die im Entwurf 1877 niedergelegten Grundgedanken wurden auch nach der politischen Wende von 1879 durch die Regierung Taaffe weiterverfolgt184. Die von dieser Regierung im Abgeordnetenhaus des Reichsrates eingebrachten Reformentwürfe von 1879 und 1880 brachten lediglich punktuelle Veränderungen, beschränkten sich aber im übrigen auf eine - meist sogar wörtliche - Wiederholung der im Entwurf 1877 vorgesehenen Regelungen. Wegen dieses engen sachlichen Zusammenhanges sollen die Entwürfe (Regierungsvorlagen) von 1879 und 1880 daher schon im vorliegenden Abschnitt behandelt werden. Eine wichtige Neuerung enthielt der Entwurf von 1879 insbes. hinsichtlich der Beitragspflicht der Gewerbsinhaber185. Für die zwangsweise 179 Der Entwurf 1875 wollte den gewerblichen Vereinigungen sogar den Status von Vereinen beimessen; vgl. Ebert, Sozialpolitik, S. 111. 180 Vgl. Detlev Zöllner in diesem SammelwerkS. 80. 181 Ebert, Sozialpolitik, S. 107. 182 DRGBl. 1876, S. 9. 183 Zöllner in diesem Sammelwerk S. 81. 184 B/3, II 3. 185 Vgl. im folgenden Ebert, Sozialpolitik, S. 120, Anm. 28.

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(im Verordnungsweg) errichteten Kassen wurde eine Verpflichtung des Gewerbsinhabers zur Zahlung von Zuschüssen in Höhe von maximal der Hälfte der Arbeitnehmerbeiträge direkt vorgeschrieben (Art. 66 lit. a), während für die auf reiner Arbeitnehmerbasis freiwillig errichteten Kassen zwar keine direkte Beitragszahlungspflicht normiert wurde, wohl aber die Verpflichtung des Gewerbsinhabers, der Kasse die für ihre Mitglieder geleistete Krankenunterstützung im Höchstausmaß von vier Wochen zu vergüten. Für Hilfsarbeiter, die überhaupt keiner registrierten Kasse angehörten, mußte der Gewerbsinhaber "im Erkrankungsfalle bis zur Dauer von sechs Wochen Sorge tragen" (Art. 69). Diese Regelung sollte also eine Angleichung an den- freilich hinsichtlich der Dauer der Verpflichtung weniger präzisen- § 214 des Allgemeinen Berggesetzes bzw. eine Ausdehnung der in der ursprünglichen Fassung der Gewerbeordnung (§ 94) nur für Lehrlinge aufgestellten Fürsorgeverpflichtung des Gewerbsinhabers auf alle seine (unversicherten) Arbeitnehmer bewirken186• Mit der letztgenannten Bestimmung war offenbar die legislatorische Absicht verbunden, dem Unternehmer Zuschußleistungen an die auf freiwilliger Basis errichteten Arbeitnehmerkassen als vorteilhaft erscheinen zu lassen und so eine Art "indirekten Beitragszwang" zu erwirken. Der Entwurf aus 1880 setzte in allen wesentlichen Punkten die in der liberalen Ära begonnene legislatorische Linie hinsichtlich der "Gewerblichen Hilfscassen" (VIII. Abschnitt) fort und bildete gleichzeitig deren vorläufigen Endpunkt. In Übereinstimmung mit den früheren Entwürfen stand der Entwurf 1880 auf der Grundlage des für die gewerblichen Hilfsarbeiter normierten "Cassenzwanges", lehnte aber "Zwangscassen" ab 1s7 • Gern. § 153 erstreckte sich die Beitrittspflicht auf alle Hilfsarbeiter in Gewerbebetrieben mit Ausnahme der in Hausgemeinschaft mit dem Gewerbsinhaber lebenden Lehrlinge sowie jenen, für "die durch auf Kosten des Gewerbsinhabers errichtete Krankencassen hinreichende Vorsorge getroffen" worden war, wobei zu bemerken ist, daß durch die letztgenannte Ausnahme sowie durch§ 153, lit. c große Teile der industriellen Arbeiterschaft vom Geltungsbereich der Vorschriften über "gewerbliche Hilfscassen" ausgeschlossen waren188• Der Beitrittspflicht konnten die gewerblichen Hilfsarbeiter einerseits durch Beitritt zu einer auf freiwilliger Errichtung beruhenden Hilfscasse (§ 154) Genüge tun; anderenfalls bestand Zwangsmitgliedschaft zu 186 187 188

Vgl. auch den Entwurf von 1877, § 119.

s. 155.

Ebert, Sozialpolitik, S. 188.

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den im Verordnungsweg errichteten Kassen(§ 155), zu denen die Arbeitgeber (gern. § 156, lit. a) "Zuschüsse aus Eigenem, nach Maßgabe der Zahl der in ihrer Unternehmung beschäftigten Hilfsarbeiter bis zur Hälfte der Mitgliederbeiträge (zu) leisten" hatten. In weiterer Übereinstimmung mit dem Entwurf 1879 regelte der Entwurf 1880 (in § 159) die Vergütungspflicht des Arbeitgebers gegenüber Kassen, zu denen sie keine Zuschüsse leisteten, sowie die Fürsorgepflicht für nichtversicherte Arbeitnehmer. Mit dem Entwurf 1879 völlig identisch sind schließlich auch die dem Entwurf 1880 beigefügten "Normativbestimmungen für registrirte gewerbliche Hilfscassen" 180. Insgesamt betrachtet zeugen die liberalen Gewerbeordnungs-Reformentwürfe einschließlich der auf der gleichen legislatorischen Linie liegenden Entwürfe 1879 und 1880 von dem bemerkenswerten Versuch, einerseits den in der Gewerbeordnung nur vage normierten Gedanken gewerblicher Zwangsgenossenschaften der Arbeitgeber und Arbeitnehmer einschließlich des hiemit verbundenen (Kranken-)Kassenwesens durch die Möglichkeit imperativer Errichtung und der Beitragspflicht der Unternehmer zu verstärken, andererseits aber auch die freiwilligen Hilfskassen in das System der gewerblichen Kassen zu integrieren und so das nach 1867 entstandene Nebeneinander zweier Systeme (vgl. B/2, II im folgenden) zu überwinden. Diesem nach preußisch-deutschem Vorbild in Angriff genommenen Projekt war freilich ebensowenig Erfolg beschieden wie den gleichfalls im Rahmen der Gewerbeordnungs-Reform unternommenen Versuchen der Begründung einer besonderen Unternehmerhaftpflicht für Arbeitsunfälle. Auf diese Bestrebungen wird wegen engeren sachlichen Zusammenhangs bei der Besprechung des Unfallversicherungsgesetzes 1887 (B/3, IV) näher eingegangen werden190• 111. Freiwillige HUfskassen (nach 1867)

Verschaffte die Dezemberverfassung von 1867 der Arbeiterschaft noch

keinerlei Anteil an der politischen Willensbildung (s. oben B/1, I 5

u. 6)1°1, so schuf sie doch immerhin insbes. durch Art. 12 Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger bzw. das Vereinsgesetz 1867 eine gewisse Basis für politische, soziale und kulturelle Aktivitäten außerhalb des parlamentarischen Geschehens192 : 188

s. 61 ff.

Vgl. jetzt bereits Menzel, Arbeiterversicherung, S. 30. Vgl. hiezu insbes. Brügel, Geschichte der österr. Sozialdemokratie, I (bis 1870); II (1870 -78); Steiner, Arbeiterbewegung, S. 3 ff.; Berchtold, Parteiprogramme, S. 12 ff. 190

181

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Nachdem es schon 1864- noch auf der Grundlage des Vereinspatents von 1852 - zur erfolgreichen Errichtung eines "Fortbildungsvereins für Buchdrucker in Wien" 193 gekommen war, setzte mit der Erlassung des Vereinsgesetzes (15. November 1867) eine WeHe von Vereinsgründungen der Arbeiter ein. Diese Entwicklung ist in den wesentlichen Erleichterungen begründet, die das Vereinsgesetz 1867 gegenüber dem Patent aus 1852 hinsichtlich der Bildung von Vereinen vorsah: Gern. § 4 des Vereinsgesetzes war die "beabsichtigte Bildung eines ... Vereines" der politischen Behörde bloß anzuzeigen; eine Untersagung der Vereinsbildung durfte gern. § 6 nur bei Gesetz- oder Rechtswidrigkeit oder bei Staatsgefährlichkeit des Vereins ausgesprochen werden. Eine über diese Gesichtspunkte hinausgehende Prüfung der Statuten oder eine spätere Überwachung der Vermögensgebarung kam bei den nach dem Vereinsgesetz 1867 errichteten Vereinen nicht in Betracht. Als bedeutendste Gründung ist zweifellos jene des Wiener ArbeiterBildungsvereines194 anzusehen, der seine Aktivität Anfang Dezember 1867 aufnahm, nachdem der Bestand des Vereines i. S. des § 9 des Vereinsgesetzes im November 1867 bescheinigt worden war195• Bei der Konstituierung des Wiener Arbeiter-Bildungsvereines kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen den Anhängern des Schulze-Delitzschschen Selbsthilfegedankens und der - schließlich siegreichen - Mehrheit, die im Sinne Lassalles für eine Verbindung von Selbsthilfe der Arbeiter mit Staatshilfe eintrat. Der Wiener Arbeiter-Bildungsverein, dem bald ähnliche Gründungen an zahlreichen anderen Orten der zisleithanischen Reichshälfte folgten, war nach den Intentionen seiner Gründer und ersten Mitglieder von Anfang an auch als eine Institution zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter angesehen wordent9e. So war es denn nur konsequent, daß der Ausschuß des Wiener Arbeiter-Bildungsvereins schon Anfang 1868 als "Stifter und Gründer" einer "Allgemeinen Arbeiter-Kranken- und Invalidenkasse" auftrat, die ebenfalls als ein Verein i. S. des Vereinsgesetzes von 1867 konstituiert wurde und mit dem Arbeiter-Bildungsverein kraft der Statuten (§ 11) in enger organisatorischer Verbindung stand. 192 Vgl. die in der vorigen Anm. angegebene Lit. sowie Leo Verkauf, Art. "Organisation der Arbeiter", in: ÖStWB I, S. 301 ff.; ders., Zur Geschichte des Arbeiterrechtes in Österreich, 1906. 193 Verkauf, OStWB I, S. 301; Steiner, Arbeiterbewegung, S. 5. 194 Steiner, Arbeiterbewegung, S. 6 f. 195 Zu Unrecht spricht Steiner von einer "Genehmigung". 196 Steiner, Arbeiterbewegung, S. 6.

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Obwohl die Statuten der "Allgemeinen Arbeiter-Kranken- und Invalidenkasse" den Mitgliedern bzw. deren Angehörigen für den Krankheits-, Todes- oder Invaliditätsfall ausdrücklich Ansprüche auf Geldleistungen einräumten, wurde die Wiener Kasse ebenso wie die ihr nachgebildeten Einrichtungen in anderen Kronländern als ein Wohltätigkeits- und nicht als ein "Verein ... für Versicherungsgeschäfte" qualifiziert, womit die Unanwendbarkeit des Vereinsgesetzes 1867 gegeben gewesen wäre(§ 2 des Vereinsgesetzes). Diese Praxis wurde im wesentlichen bis 1882 aufrechterhalten, wodurch die Gründung von ca. 80 Vereinen mit ca. 65.000 Mitgliedern (hievon ca. 12.000 bei der Wiener Kasse) auf der Grundlage des Vereinsgesetzes 1867 möglich wurdets7. Durch einen Erlaß des Ministeriums des Innern vom 18. Dezember 1882198 wurde dieser liberalen Praxis ein Ende bereitet: Unterstützungsvereine, deren Statuten geeignet waren, "die Erwartung hervorzurufen, dass die Beiträge das Recht auf eine sichere Leistung des Vereines begründen", sollten in Hinkunft nicht mehr nach dem Vereinsgesetz 1867, sondern nach dem Vereinspatent von 1852 sowie nach dem sog. Versicherungsregulativ vom 18. August 1880, RGBI. Nr. 110, behandelt werden. Dies bedeutete erschwerte Bildung bzw. stärkere Überwachung des Vereines, und zwar insbes. auch hinsichtlich der finanziellen Gebarung. Dieser Wandel der Rechtsauffassung seitens der Verwaltung war ein schwerer Schlag für die Unterstützungsvereine der Arbeiter und übrigens auch für die Gewerkschaften. Vor allem die finanziell schlecht dotierten Invalidenkassen waren in vielen Fällen zur Auflösung gezwungen. Da infolge eines Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes199 selbst bloße Statutenänderungen als Anlaß für eine Prüfung der Statuten nach dem Vereinspatent von 1852 galten, mußte bei vielen Krankenkassen eine Umbildung im Sinne dieses Patents erfolgen200• Trotz dieser Rückschläge stehen jedoch manche Kassen, wie beispielsweise die Wiener, gerade in den achtziger Jahren (1880 -1887) im Zeichen eines starken Mitglieder- und auch Leistungszuwachses (1880: 12.070 Mitglieder, Leistungssumme ca. 110.000 fi.; 1887: 44.256 Mitglieder, Leistungssumme ca. 403.000 fi.)2o1. Leo Verkauf, Geschichte des Arbeiterrechtes, S. 9. Ebenda, S. 16. 199 Vom 24. 10. 1884, Z. 2197 ; abgedr. bei Adam v. Budwinski (Hrsg.), Erkenntnisse d. k.k. Verwaltungsgerichtshofes, VIII, 1884, Nr. 2264; s. auch Verkauf, Gesdlichte des Arbeiterrechtes, S. 16. !oo Verkauf, . Geschichte des Arbedterrechtes, S. 17; vgl. beispielsweise die geänderten Statuten der "Allgemeinen Arbeiter-, Kranken- und Invalidencasse", die durch den k.k. niederösterr. Statthalter am 19. 2. 1886 "auf Grund des Patentes vom 26.11.1852, RGBI. Nr. 253", genehmigt wurden. 197

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33 Sozl.al versicherung

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Seit 1876 existierte auch ein "Verband der Arbeiter-Kranken- und Invaliden-Unterstützungsvereine innerhalb Österreich,s202, der jedoch keinen Reservefonds der Kassen hielt, sondern bloß die Gewährung von Leistungen an ortsfremde Kassenmitglieder garantieren sollte. Mit dem auf freiwilliger, vereinsrechtlicher Basis gegründeten Kassenwesen der Arbeiter wurde zweifellos ein wichtiger Beitrag zur materiellen Absicherung insbes. in Krankheitsfällen vor Einführung der obligatorischen Kranken- und Unfallversicherung geleistet. Einsichts;.. volle, insbes. am englischen Beispiel geschulte Politiker, wie J.M.Baernreithez-2011, waren nicht zu Unrecht bestrebt, diese Aktivitäten der Arbeiterschaft aufzugreifen und staatlicherseits zu fördern. Erst spät ist dies durch das von Baernreither entworfene Hilfskassengesetz (Näheres unter B/2, li) geschehen204• 3. Abschnitt: Die Entstehung der Arbeiterversicherungs-Stammgesetze I. Die politischen Voraussetzungen 1. Zusammensetzung und politischer Kurs der Regierung(en) Taaffe

Nach der im Anschluß an die Wahlen vom Juli 1879 erfolgten Demission des liberalen Ministeriums Stremayr wurde mit Wirkung vom 12. August 1879 Graf Eduard von Taaffe durch Kaiser Franz Josef zum Ministerpräsidenten ernannt und gleichzeitig in seiner bisherigen Funktion als Minister des Inneren bestätigt. Wiewohl seiner Ministerpräsidentschaft allgemein keine lange Lebensdauer prognostiziert wurde, konnte Taaffe dank seiner außerordentlichen politischen Geschicklichkeit seine Position bis zum 11. November 1893 behaupten, länger als irgendein anderer Ministerpräsident vor oder nach ihm205 • 201 Statuten, Geschäftsordnung und Instruktion der "Arbeiter-, Krankenund Invalidencasse" sowie des "Verbandes der Arbeiter-, Kranken- und Invaliden-Unterstützungs-Vereine Österreichs", 1888, S. 36 u . S . 45. zoz Dessen Statuten (Bestandsbescheinigung vom 1. 7. 1876) sind abgedruckt in der in Anm. 201 zitierten Publikation. zoa Näheres unten B/3, IV 5. 204 Dieses Gesetz hat allerdings vor allem für die sog. Meisterkrankenkassen der selbständig Gewerbetreibenden Bedeutung erlangt: B/3, VI. 205 Charmatz, Österreichs innere Geschichte, li, S. 10 ff.; Alois Czedik, Zur Geschichte der k.k. österr. Ministerien 1861-1916, I, 1917, S. 304 ff.; Wurzbach, Biographisches Lexikon . . . 42, S. 294 ff.; ferner die vorbildlich objektive Darstellung des Sozialdemokraten Brügel, Soziale Gesetzgebung, S. 109 ff., insbes. S. 110 sowie ders., Geschichte der österr. Sozialdemokratie III, 1922, S. 16 ff. - Aus der neueren Lit. vgl. etwa Walter I Wandruszka, österr. Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, S. 248 f. sowie die übrige bei Kurt

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In der Geschichte der Sozialpolitik und des Sozialversicherungsrechts im besonderen kommt Taaffe als österreichischem Ministerpräsidenten - rein äußerlich, von der Funktion her betrachtet - eine ähnliche Rolle zu wie dem Reichskanzler Bismarck für das Deutsche Reich. Es sei aber schon jetzt, unter Vorwegnahme der Einzelheiten aus den Ministerratsprotokollen und Parlamentsdebatten, darauf hingewiesen, daß Taaffe auf die Gestaltung der Sozialversicherungsgesetze im einzelnen viel weniger Einfluß genommen hat als Bismarck. Taaffes Leistung im Zusammenhang mit der Sozialgesetzgebung bestand vielmehr in der Schaffung der politischen Rahmenbedingungen sowie in der tatkräftigen Unterstützung tüchtiger Sozialpolitiker, unter denen Emil Steinbach für den Bereich der Sozialversicherung eine ganz dominierende Rolle einnahm. Was den ersten Punkt, die Schaffung der politischen Rahmenbedingungen, betrifft, so ist bemerkenswert, daß Taaffe, der ja schon einmal Ministerpräsident einer liberalen Regierung gewesen war200, 1879 zunächst eine zur Gänze von der Verfassungspartei gebildete Regierung aufstellen wollte, was diese jedoch ablehnte207 • In dieser Situation mußte Taaffe zwangsläufig auf die - dem Reichsrat bislang ferngebliebenen - Tschechen, auf die Polen sowie auf die konservativ-föderalen Gruppierungen (Hohenwart-Klub u. a.) zurückgreifen, um eine einigermaßen regierungsfähige Mehrheit zu erlangen. Dabei setzte er den folgenschweren Schritt, den (gemäßigten) Alttschechen Alois Prazäk in die Regierung aufzunehmen, der dieser zunächst als Minister ohne Portefeuille, von Anfang 1881 bis 1887 als Leiter des Justizministeriums und danach wieder bis 1892 als Minister ohne Portefeuille angehörte208• Prazäk kam innerhalb der Regierung(en) Taaffe sowohl in allgemeinpolitischer Hinsicht als auch in bezug auf die Sozialversicherungsgesetzgebung eine Schlüsselstellung zu. Seine Bedeutung für die Sozialversicherungsgesetzgebung erklärt sich aus dem Umstand, daß PraZäk gerade in den entscheidenden Jahren Leiter des zuständigen Fachministeriums, des Justizministeriums, war. Ebert, Sozialpolitik, S. 30, Anm. 91 angeführte Lit. Vgl. insbes. auch die zwei Wiener Dissertationen aus 1948: Walter Knarr, Das Ministerium des Grafen Taaffe und die soziale Frage; Friedrich Lerch, Die Konservativen und die österr. soziale Gesetzgebung in der Ara Taaffe.- Vgl. ferner unten Anm. 236 über die Haltung der Regierung Taaffe zur sozialdemokratischen Arbeiterschaft (Ausnahmegesetzgebung !). 206 Vgl. etwa Wurzbach, Biographisches Lexikon ... 42, S. 294 f. 207 Näheres ebenda, S. 296; Czedik, Geschichte I, S. 304 ff. 20s Czedik, Geschichte I, S. 351 f. 33•

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In allgemein-politischer Hinsicht nahm Prazäk in der Regierung Taaffe de facto die Stellung eines tschechischen Landsmannministers ein. Während die föderalistisch gesinnten Kreise einschließlich Taaffes selbst dieses Zugeständnis als einen notwendigen Schritt zur politischen Integration der Tschechen ansahen, erblickten die Deutschliberalen in der Ernennung Prazäks eine Vorstufe zur Anerkennung des "böhmischen Staatsrechts" und somit einen Verrat an der Dezemberverfassung. Einsichtsvolle Deutschliberale unter der Führung Stremayrs209 fanden sich zunächst bereit, trotz der Teilnahme Prazäks und anderer von liberaler Seite energ.isch abgelehnter Persönlichkeiten, wie insbes. des streng konservativen Ackerbauministers Graf Julius Falkenhayn, an dem sog. Koalitionsministerium teilzunehmen. Im Juli 1880 kam es dann aber zu dem folgenschweren Rücktritt Stremayrs und zweier weiterer liberaler Minister210• Als letzte Repräsentanten der Linken wurden die beiden liberal gesinnten Beamten, Justizminister Streit und Handelsminister Kremer, durch den schon erwähnten Alttschechen Prazäk (der allerdings nur zum "Leiter" des Justizministeriums, nicht zum Justizminister, ernannt wurde) und den Konservativen Pino-Friedenthal ersetzt211. Seit der Umbildung im Jänner 1881 hatte sich das "Koalitionskabinett" Taaffe gänzlich zu einem Kabinett der "Rechten", also der konservativ-föderalen Gruppierungen im Reichsrat, gewandelt. Die politische Alleinherrschaft des "Eisernen Ringes" (s. schon oben B/1, I 8 und 9) war damit angebrochen und hierdurch die historisch-politische Rahmenbedingung für die Österreichische Sozialversicherungsgesetzgebung der achtziger Jahre geschaffen. Die Vorstellung, daß das ohne eine feste parteipolitische Grundlage und unter Rücksichtnahme auf eine große Zahl national- und gruppenpolitischer Interessen gebildete und daher recht unhomogene Kabinett Taaffes zur Inangriffnahme umfangreicher sozialpolitischer Vorhaben überhaupt in der Lage war, mag zunächst befremden, zumal dessen Mitglieder nicht unter dem Gesichtspunkt besonderen sozialpolitischen Engagements von Taaffe ausgewählt worden waren. Bedenkt man jedoch die gewandelten Voraussetzungen, unter denen das Kabinett Taaffe die Regierung antrat, so wird einem klar, welche Rolle der Sozialpolitik im Rahmen des gesamtpolitischen Konzepts Taaffes zukommen mußte: Während in der liberalen Ära einerseits das 209 Karl v. Stremayr, eine der führenden Persönlichkeiten des österr. Liberalismus, war zuvor (Interims-)Ministerpräsident gewesen; Näheres über seine Teilnahme am Kabinett Taaffe bei Czedik, Geschichte I, S. 305. 21o Czedik, Geschichte I, S. 317; Charmatz, Österreichs innere Geschichte II, S.13. 211 Czedik, Geschichte I, S. 318.

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Ideengut des zentralistisch orientierten Liberalismus, andererseits die durch die Abstinenzpolitik der Tschechen künstlich hergestellte Dominanz der Deutschen im Reichsrat und in den Regierungen als einigende und staatstragende Elemente innerhalb der zisleithanischen Reichshälfte fungierten, bekannte sich das Regime Taaffe schon 1879 zum verfassungsrechtlichen Grundsatz (Art. 19 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger) der Gleichberechtigung der Volksstämme. Nun mußte für die zu neuer Kraft gelangten zentrifugalen Kräfte eine neue Klammer gefunden werden, die das Auseinanderfallen der Monarchie zu verhindern in der Lage war. Allen Mitgliedern der Regierung Taaffe war nun klar, daß nur die gemeinsame Bewältigung der "sozialen Frage" durch große sozialpolitische Gesetzeswerke das für den Zusammenhalt der Monarchie notwendige Bindemittel darstellen konnte. Daneben war das Bekenntnis zur Sozialpolitik auch die einzige, auf Dauer tragfähige Basis für die in der Regierung Taffe zusammengefaßten Elemente, die im übrigen nur ihre gemeinsame Abneigung gegen den Liberalismus zusammenhielt (vgl. oben B/1, I 8).

2. Die Thronrede von 1879 Es ist daher kein Zufall, wenn schon in der am Beginn der Ära Taaffe, nämlich am 8. Oktober 1879, vom Kaiser gehaltenen Thronrede212, in der er einleitend den Wiedereintritt der Tschechen in das Abgeordnetenhaus des Reichsrates freudig begrüßte, umfangreiche sozialpolitische Maßnahmen angekündigt wurden, die von dem allgemeinen Bestreben geleitet waren, die Lage des "kleinen Mannes" und der Arbeiter zu verbessern und so der Regierung einen Rückhalt in den breiten Massen der Bevölkerung zu sichern. Der für unsere Thematik einschlägige Absatz der Thronrede lautete: "Die Revision der Gewerbegesetze mit Beachtung der seit Erlassung der Gewerbeordnung gewonnenen Erfahrungen bezweckt die Förderung der gewerblichen Interessen, insbesondere durch Kräftigung des Kleingewerbes und zeitgemäße Regelung des Verhältnisses zwischen Arbeitsgebern und Hilfsarbeitern." Über die ·g rundsätzliche sozialpolitische Zielrichtung hinaus läßt dieser Abschnitt der Thronrede von 1879 bereits erkennen, daß die Regierung Taaffe bei der Bewältigung der "sozialen Frage" unmittelbar in das Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern durch Reformen des Arbeitsrechts einzugreifen plante, während der Gedanke der Sozialversicherung zu diesem Zeitpunkt noch keine Rolle spielte. 212

Abgedruckt bei Kolmer, Parlament und Verfassung, III, S. 15 ff.

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Die Thronrede von 1879 dokumentiert im übrigen noch einen weiteren wichtigen politischen Faktor, der für das Zustandekommen der Österreichischen Sozialgesetzgebung der achtziger Jahre von beträchtlicher Bedeutung war: nämlich das enge Verhältnis Taaffes zum Monarchen213• Für die Österreichische Sozialgesetzgebung von entscheidender Bedeutung war nun der Umstand, daß die von der Regierung Taaffe geschaffene neue politische Konstellation es den sozialpolitisch dynamischen Kräften, nämlich insbes. den christlichen Sozialreformern (über deren Lehren s. schon oben B/1, I 9), ermöglichte, die von ihnen angestrebte Sozialreform schrittweise in die Praxis umzusetzen. Neben dem schon an früherer Stelle charakterisierten Prinzen Alois Liechtenstein ist hier vor allem Graf Egbert Belcredi214 zu erwähnen sowie Leon Ritter v. Bilil:lski; als den jeweils führenden Sozialpolitikern der Rechten wurde ihnen die Rolle des Referenten im zuständigen Reichsratsausschuß zuteil.

3. Die Rolle Emil Steinbachs Vor allem im Zusammenhang mit den Gesetzentwürfen zur Unfallund Krankenversicherung muß nämlich- zusätzlich zu den unmittelbar in die politischen Auseinandersetzungen involvierten Persönlichkeiten - schon jetzt auf eine Persönlichkeit hingewiesen werden, deren Einfluß auf das Zustandekommen dieser Gesetze und deren Gestaltung im einzelnen gar nicht hoch genug eipgeschätzt werden kann: nämlich auf Emil Steinbach. Sein Biograph (Alexander Spitzmüller)215 berichtet über ihn: "Im Jahre 1874 von Glaser ins Justizministerium berufen, wurde er daselbst bald die Seele der legislativen Sektion und durchlief rasch die ganze hierarchische Stufenleiter. Im Jahre 1887 erfolgte seine Ernennung zum Sektionschef. Die neuere Österreichische Beamtengeschichte weist keinen Fall auf, in welchem ein Ministerialfunktionär eine so umfassende Tätigkeit entwickelt und einen so weitreichenden Einfluß ausgeübt hat wie Steinbach im Justizministerium." Der archivalische Befund wird die Richtigkeit dieser Ausführungen belegen: Trotz seiner vergleichsweise untergeordneten Stellung als Sek213 Hugo Hantsch, Graf Eduard Taaffe, in: Gestalter der Geschicke Österreichs, 1962, S. 447 ff.; Alexander Novotny, in: Die Habsburgermonarchie I, s. 82. 214 Ebert, Sozialpolitik, S. 139; Silberbauer, Österreichs Katholiken, S. 76 f, 215 Neue Österreichische Biographie (NÖB), 1. Abt., II. Bd., 1925, S. 48 ff.; s. auch Leo Wittmayer, Emil Steinbach als Sozialphilosoph, 1907; vgl. aber auch die eher distanzierten Würdigungen bei Czedik, Geschichte I, S. 359 und Franz Klein, Allg. österr. Gerichts-Zeitung 1907, S. 345 ff.

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tions- bzw. Ministerialrat wurde nicht nur die Ausarbeitung der Entwürfe zum Arbeiterunfall- und Arbeiterkrankenversicherungsgesetz praktisch ausschließlich in Steinbachs Hände gelegt; vielmehr vertrat er diese auch persönlich im Ministerrat und teilweise auch im Abgeordnetenhaus des Reichsrates als Regierungsvertreter216• Um so wichtiger ist es, schon jetzt auf Steinbachs Ideen und sozialpolitische Zielvorstellungen hinzuweisen: Diese stehen zwar durchaus in einem Konnex mit den Ideen der christlichen Sozialreformer, weisen aber doch in einzelnen zentralen Punkten sehr individuelle Züge auf, die mit Steinbachs hoher Einschätzung des bürokratischen Elements in Staat und Gesellschaft zusammenhängen und gerade insoweit auf die Gestaltung der Österreichischen Sozialversicherungsgesetze m. E. keinen unbeträchtlichen Einfluß geübt haben. In Übereinstimmung mit Liechtenstein, Vogelsang u. a.217 wandte sich auch Steinbach gegen die Auswüchse hemmungslosen Erwerbsstrebeng und wirtschaftlicher Machtpositionen; auch er trat für einen Abbau der extremen sozio-ökonomischen Gegensätze und für die Bildung genossenschaftlicher Verbände ein. Als dominierendes Element der Steinbachsehen Sozialphilosophie muß jedoch sein Bestreben angesehen werden, die ethische Grundhaltung des Arbeiterstandes von Grund auf zu ändern. Steinbachs Ziel ist die Schaffung eines Arbeiterbeamtenturns auf berufsständischer Grundlage. Nach Vorstellung Steinbachs sollten für die Arbeiter primär herrschaftlich organisierte, jedoch mit genossenschaftlichen Elementen durchsetzte Verbände geschaffen werden2ts. Auf diese Weise wollte Steinbach - ähnlich wie Bismarck (s. gleich unten Pkt. 3), aber in ethisch überhöhter und extremerer Form - die Arbeiter nicht nur politisch für den Staat gewinnen, sondern ihnen geradezu die ethische Grundhaltung kaiserlicher Beamter zu eigen machen211• Auf dem Weg zu diesem Endziel kommt der Sozialversicherung in der Ideenwelt Steinbachs in zweifacher Hinsicht maßgebliche Bedeutung zu: 218 Ober die 1891 erfolgte Ernennung Steinbachs zum Finanzminister der Regierung Taaffe und seine Rolle bei dem gescheiterten Wahlreformprojekt vgl. unten. B/4, I. 217 Vgl. oben B/1, I 9. us Spitzmüller, NÖB, 1. Abt., II. Bd., S. 51. 218 Ebenda, S. 50; Wittmayer, Emil Steinbach als Sozialphilosoph, S. 19 (mit Hinweis auf den 1891 vom damaligen Finanzminister Steinbach eingebrachten Gesetzentwurf zur Schaffung von Arbeiterausschüssen).

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Zum einen wegen ihrer, zumal im Rahmen der Unfallversicherung, hervortretenden und von Steinbach 1883220, also in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit der Entstehung des Unfallversicherungsgesetzes, deutlich herausgestrichenen Funktion, soziale Spannungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern abzubauen221 (insbes. durch die Vermeidung von Schadenersatzprozessen), zum anderen durch die in der Österreichischen Gesetzgebung von vornherein, eben gerade durch Steinbachs Entwürfe, fest etablierten Rolle des Staates als kontrollierendes bzw. ausgleichendes Element im Rahmen des Systems der Sozialversicherung. Die nähere Untersuchung der Entstehungsgeschichte der drei ÖSterreichischen Arbeiterversicherungsgesetze der achtziger Jahre (B/3, IV, V und VII) wird die eben aufgezeigten Verbindungslinien zu Steinbachs Sozialphilosophie noch zusätzlich erhellen. II. Sozialpolitische Aktivitäten vor den Arbeiterversiclterungsgesetzen

1. Das "Linzer Programm" von 1882 Noch bevor die Regierung Taaffe ihre ersten sozialpolitischen Regierungsvorlagen im Reichsrat einbrachte, ergriffen oppositionelle Gruppen die Initiative, indem sie sich in programmatischer Form zu konkreten sozialen Reformen bekannten. In zahlreichen Details, zu denen insbes. der Sozialversicherungsgedanke zählt, sind diese unverkennbar durch das Vorbild der seit Februar/März 1881 in parlamentarischer Behandlung stehenden deutschen Gesetzesprojekte (s. gleich unten B/3, 111) geprägt. Unser Interesse verdienen diese frühen Initiativen vor allem deshalb, weil sie belegen, welch breite politische Basis für sozialpolitische Maßnahmen so kurze Zeit nach Überwindung der liberalen Herrschaft in Österreich bereits gegeben war. Zunächst ist auf das am 1. September 1882 veröffentlichte sog. "Linzer Programm"= der Deutschnationalen hinzuweisen, an dem neben Georg Schönerer, Erigelbert Pernerstorfer und Heinrich Friedjung auch der spätere sozialdemokratische Parteiführer Viktor Adle~ mitarbeiDie Stellung der Versicherung im Privatrechte, 1883, insbes. S. 38 f. Vgl. oben Anm. 219 sowie die Ablehnung des "Sozialdarwinismus" durch Steinbach, Versicherung, S. 39, mit interessanten Parallelen dieses am 4. 4. 1883 gehaltenen Vortrags zu Ausführungen des "Kathedersozialisten" Adolf Wagner (Vortrag in Wien am 30. 3. 1883); hiezu auch Brügel, Soziale Gesetzgebung, S. 112, Anm. 1. - Vgl. auch das Zitat Wagners bei Steinbach, über die Pflichten des Besitzes, 1885, S. 6. 222 Vgl. Berchtold, Parteiprogramme, S. 75 f. 223 Vgl. insbes. Steiner, Arbeiterbewegung, S. 259 sowie die übrige in Anm. 72 zitierte Lit. Ferner auch Berchtold, Parteiprogramme, S. 21; vgl. weiter die in der vorliegenden Schrift oft verwendete Zusammenstellung literari,.. 220 221

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tete, wobei die uns interessierenden sozialpolitischen Forderungen dieses Programms wohl zu Recht dem Letztgenannten zugeschrieben werden. Unter Abschnitt 8 enthält das "Linzer Programm" die Forderung nach Verstaatlichung gesellschaftlich wichtiger Wirtschaftsunternehmungen und unter Punkt 23 wird dann noch insbesondere verlangt: "die Verstaatlichung des Versicherungswesens unter gleichzeitiger Einführung einer Alters- und Unfallversicherung". Außerdem wurde in Abschnitt 9, Punkt 26 u. a. auch die Forderung nach Normierung einer "Haftpflicht der Arbeitgeber für Unfälle der Arbeiter ..." aufgestellt. Wegen der schwachen parlamentarischen Präsenz der Deutschnationalen hatte das "Linzer Programm" keine unmittelbaren Auswirkungen. Übrigens haben sich die Deutschnationalen auch nach dem Übertritt Viktor Adlers zur Sozialdemokratie (1885} zu sozialpolitischen Forderungen bekannt, so beispielsweise in dem Wahlaufruf von 1885224 , in dem u. a. verlangt wird, daß "(durch) umfassende, wirtschaftliche und soziale Reformen den produzierenden Klassen der Ertrag ihres Fleißes gewährleistet und jedem ehrlich arbeitenden Staatsbürger ein menschenwürdiges Dasein bis an sein Lebensende gesichert werden" soll, und weiter: "Wir verlangen daher die Durchführung einer wirtschaftlichen Reformpolitik in dem Sinne, wie sie Fürst Bismarck im Deutschen Reiche in Angriff genommen hat." Man dürfte mit der Annahme nicht fehlgehen, daß nach der Vorstellung Schönerers auch die Sozialversicherungsgesetzgebung, insbes. auch die Alters- und Invaliditätsversicherung, unter den Begriff der "wirtschaftlichen Reformen" Bismarcks zu subsumieren war. Auch in dem "Programm der Deutschen Volkspartei" 225 von 1896 finden sich Forderungen im Zusammenhang mit der Sozialversicherung, so insbes. nach "Vereinfachung der Kranken- und Unfallsversicherung" sowie nach "Einführung der Invaliditäts- und Altersversorgung". scher .Äußerungen Victor Adlers: "Victor Adlers Aufsätze, Reden und Briefe", V. Heft: Victor Adler über Fabriksinspection, Sozialversicherung und Arbeiterkammern, 1925. - Wie die Mitarbeit am "Linzer Programm" von 1882 beweist, lag der Interessenschwerpunkt Adlers schon während der Zugehörigkeit zur deutsehrrationalen Bewegung auf der Sozialpolitik. Schönerers rassistischer Antisemitismus veranlaßte Adler (und auch Pernerstorfer) zum Ausscheiden aus der deutsehrrationalen Bewegung, worauf sich Adler 1886 (nach vorherigen Kontakten) endgültig der Sozialdemokratie anschloß. Hiezu jetzt eingehend Hans Mommsen, Arbeiterbewegung und nationale Frage, 1979, s. 180 ff. 224 Berchtold, Parteiprogramme, S. 203. 225 Ebenda, S. 205.

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Nichtsdestoweniger muß aber darauf hingewiesen werden, daß die politischen Zielsetzungen des deutschnationalen Lagers nach 1885 unter dem maßgeblichen Einfluß Schönerers in solchem Maße von nationalpolitischen Forderungen (einschließlich eines stark antiösterreichischen sowie auch antisemitischen Einschlags) beherrscht waren, daß der Sozialpolitik eine eher untergeordnete Rolle zukam.

2. Der Antrag der Liberalen von 1882 Am 5. Dezember 1882 brachten die Liberalen ("Vereinigte deutsche Linke") unter Führung von Johann v. Chlumecky einen Antrag226 ein, demzufolge ein 36köpfiger Ausschuß zur Beratung sozialpolitischer Fragen durch das Abgeordnetenhaus gebildet werden sollte. Die Liberalen wollten auf diese Weise der Entscheidung der Regierung Taaffe, die Regelung der sozialen und rechtlichen Lage der Arbeiter auf eine spätere Phase der Gewerbeordnungs-Reform zu verschieben, entgegentreten, ein Unterfangen, das freilich von den der Regierung politisch nahestehenden Abgeordneten bloß als ein "politisches Manöver" angesehen wurde227• Der 36köpfige Ausschuß sollte auf der Basis von "Grundsätzen und Directiven" beraten, die in dem Antrag eingehend dargelegt sind; bezüglich der "Hilfsarbeiter" regt der Antrag die folgenden Maßnahmen an: "Unter Festhaltung des Grundsatzes, daß das Verhältniß zwischen Arbeitsgeber und Arbeitsnehmer innerhalb der namentlich auch für die Schlichtung von Streitigkeiten zu erlassenden gesetzlichen Normen Gegenstand freien Vertragsrechtes sei, sind ehebaldigst Anträge zu stellen: 1. über die gesetzliche Regelung und Einschränkung der täglichen Arbeitszeit für Kinder, junge Personen und Frauen;

2. über die gesetzliche Regelung der Anforderungen der Gesundheitspflege in Fabriken und Werkstätten, insbesondere in bezug auf die gefährlichen oder gesundheitsschädlichen Verrichtungen; 3. über die Bestellung und Organisation stabiler staatlicher Aufsicht in diesen beiden Richtungen durch Fabriks- und Gewerbeinspectoren; 4. über die Versicherung der Hilfsarbeiter gegen Krankheit, sowie gegen Gefahren für das Leben, und zwar: a) durch die Einführung obligatorischer Krankenversicherung zum Zwecke der Krankenunterstützung für bestimmte Dauer im Wege der Errichtung von Krankencassen, Genossenschafts-, Fabriks- und 228 227

StProtAH, 9. Sess., Beil. Nr. 596. Vgl. Ebert, Sozialpolitik, S. 148 f.

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Knappschafts- oder eingeschriebenen Hilfscassen auf Basis angemessener Beitragsleistung der Arbeitsgeber und Arbeitsnehmer, der Organisirung von Verbänden solcher Cassen zum Zwecke der Sicherung ihrer Leistungsfähigkeit und Anbahnung anderer Arten der Hilfeleistung und unter Selbstverwaltung seitens der Mitglieder sowie unter staatlicher Beaufsichtigung, b) durch Einführung einer über den Rahmen des Haftpflichtprincipes hinausreichenden Unfallsversicherung auf genossenschaftlicher Grundlage zum Zwecke der Entschädigung für durch Unfall herbeigeführte Arbeitsunfähigkeit für längere Dauer oder für Lebenszeit oder zur Versorgung der Hinterbliebenen, ohne Heranziehung der Versicherten zur Beitragsleistung und Selbstverwaltung seitens der betreffenden Verbände, sowie unter staatlicher Beaufsichtigung," Die Liberalen waren demnach eigentlich die ersten, die im Österreichischen Reichsrat für die Einführung einer obligatorischen Kranken- und Unfallversicherung eintraten und somit in aller Öffentlichkeit die Unzulänglichkeit der bisherigen Versuche, durch die Einführung einer allgemeinen Unternehmerhaftpflicht das Problem der Betriebsunfälle zu bewältigen22s, zugaben. Wichtig ist auch, daß die Vorschläge zur Einführung der Sozialversicherung- im Gegensatz zum deutschen Vorbildin enger Verbindung mit den Forderungen nach Verbesserung der Arbeitsverhältnisse durch massive Eingriffe in der Vertragsfreiheit der Partner des Arbeitsvertrages stehen. Die grundsätzliche Übereinstimmung der "großen Oppositionspartei" mit den sozialpolitischen Reformplänen der Regierung228, wie sie uns auch bei der Gesetzwerdung der Arbeiterversicherungs-Stammgesetze entgegentreten wird, zeichnet sich hier bereits ab. Schwer zu beurteilen ist die politische Bedeutung des liberalen Antrags: Zweifellos wurden die von den Liberalen zugunsten der Arbeiter geforderten Maßnahmen auch von der Regierung angestrebt, die Diskussion betreffend die Einschränkung der Gewerbefreiheit durch Einführung des Befähigungsnachweises stand jedoch Ende 1882 im Mittelpunkt des politischen Interesses, so daß andere Reformpläne zurücktreten mußten. Immerhin belegen die (ungedruckten) Ministerratsprotokolle, daß Emil Steinbach von Prazak schon längere Zeit vor dem 5. Dezember 1882 mit dem Auftrag zur Ausarbeitung des UnfallversicheNäheres unten B/3, III; IV 1. Vgl. hiezu insbes. die "Obereinstimmung des Majoritäts- und des Minoritätsvotums des Gewerbeausschusses in der Grundfrage des Versicherungszwanges: unten B/3, IV 3 u. 6. 228

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rungsgesetzes betraut worden sein muß230, da das von Steinbach ausgearbeitete umfangreiche Elaborat des (ersten) Entwurfes samt Erläuterungen dem Ministerrat vom 4. Dezember 1882 zur Beratung vorlag (Näheres unten B/3, IV). Die liberale Initiative dürfte demnach wohl kaum einen materiellen Einfluß auf die Sozialpolitik der Regierung geübt, wohl aber eine beschleunigte Behandlung der arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Vorlagen bewirkt haben231 • Denn noch am selben 5. Dezember 1882 kündigte Finanzminister Dunajewski namens der Regierung eine Reihe sozialpolitischer Vorlagen an=.

3. Die Gewerbeordnungsnovellen von 1883 und 1885 Die nunmehr in kurzen Umrissen zu skizzierende Sozialgesetzgebung der Jahre 1883-1885 befaßte sich im wesentlichen mit Fragen des Arbeiterschutzes233. Schon am 15. Dezember 1882 brachte die Regierung den Gesetzentwurf über "die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter und Frauenspersonen, dann über die tägliche Dauer der Arbeit und die Sonntagsruhe im Bergbau" ein, der jedoch erst am 21. Juni 1884234 zum Gesetz erhoben werden konnte. Zuvor war bereits am 17. Juni 1883, RGBL Nr. 117, das Gesetz betreffend die Bestellung von Gewerbeinspectoren ergangen235 • Den vorläufigen Höhepunkt der Arbeiterschutzgesetzgebung brachte die (2.) Gewerbeordnungsnovelle vom 8. März 1885, RGBI. Nr. 22, die sich nach englischen und schweizerischen Vorbildern, also dem zu jener Zeit höchsten sozialpolitischen Standard, orientierte und überdies auf den Ergebnissen einer Enquete aufbaute, die im Jahre 1883 unter Hinzuziehung von Vertretern der Arbeiterschaft veranstaltet wurde238• 230 Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Allg. Verwaltungsarchiv (in Hinkunft: AVA), Ministerratsprotokolle (MRP) 1882, Nrn. 85 - 101 (Karton 16), Nr. 92 vom 23. 11. 1882 (bereits berücksichtigt bei Ebert, Sozialpolitik, S. 143 ff.): In dieser Sitzung erklärte Handelsminister Pino, man werde einen Vorstoß der Opposition bezüglich einer Reform des Kapitels "Hilfsarbeiter" der Gewerbeordnung durch die Erklärung zuvorkommen, daß die Regierung eine solche Reform bereits vorbereite; Voraussetzung hiefür sei allerdings die Einbringung eines Unfall-Haftpfl.ichtgesetzes. Prazäk erklärte daraufhin, daß ein solches Gesetz bereits vorbereitet werde. 231 Über die Sitzung vom 4. 12. 1882 vgl. unten B/3, IV 2. m StProtAH, 9. Sess., S. 8468. 233 Hiezu Ebert, Sozialpolitik, S. 162 ff. 234 RGBl. Nr. 115. 235 Brügel, Soziale Gesetzgebung, S. 134 ff.; Ebert, Sozialpolitik, S. 162 ff.

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Als wichtigste Bestimmungen der 2. Gewerbeordnungsnovelle seien hervorgehoben: die Normierung des elfstündigen Arbeitstages (§ 96 a), Regelung der Arbeitspausen, der Sonn- und Feiertagsruhe; f'erner waren von besonderer Wichtigkeit die Zusatzbestimmungen "für jugendliche Hilfsarbeiter und Frauenspersonen" (§§ 93- 96), wonach "zu regelmäßigen gewerblichen Beschäftigungen" Kinder unter 12 Jahren überhaupt nicht, jugendliche Hilfsarbeiter (bis 16 Jahren) nur unter gewissen Einschränkungen herangezogen werden durften. Wöchnerinnen durften erst nach Ablauf von 4 Wochen nach ihrer Niederkunft "zu regelmäßigen gewerblichen Beschäftigungen" herangezogen werden. Mit diesen Bestimmungen der 2. Gewerbeordnungsnovelle erreichte die Österreichische Arbeiterschutzgesetzgebung für längere Zeit ein beachtliches Niveau, nicht zuletzt gemessen an dem damaligen Stand der deutschen Reichsgesetzgebung. Denn im Gegensatz zu Bismarck betrachteten die Österreichischen Sozialreformer - einschließlich der oppositionellen Kreise - den Arbeiterschutz als ein notwendiges, ja sogar vorrangiges Element der Sozialpolitik (s. hierzu bereits oben B/1, I 9). Daraus ist es wohl erklärlich, daß die Regierung der Problematik der Vorsorge gegen soziale Risiken und somit dem Problemkreis der Sozialversicherung zunächst nicht das Hauptaugenmerk zuwendete. Immerhin sei aber erwähnt, daß der konservative Abgeordnete J osef Krofta anläßlich blutiger Bergarbeiterunruhen am 9. März 1882 die Reform der Bruderladen durch Abänderung des Berggesetzes aus 1854 238 Brügel, Soziale Gesetzgebung, S. 137 ff.; Ebert, Sozialpolitik, S. 179 ff.; schon kurze Zeit später beschritt die Regierung Taaffe den durch das deutsche "Sozialistengesetz" (G. gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie) vom 22. 10. 1878, DRGBl. S. 351 ff., eingeschlagenen Weg der Ausnahmegesetzgebung; durch zwei Regierungsverordnungen vom 30.1.1884, RGBl. Nr. 15 u. 16, wurde für Wien und Industriegebiete in der Umgebung Wiens einerseits der Ausnahmezustand verhängt und andererseits die Einstellung der Wirksamkeit der Geschwornengerichte angeordnet. Da ein Teil der (liberalen) Linken zustimmte, erlangten die Verordnungen die Billigung des Reichsrates i. S. des § 11 des Gesetzes vom 5. 5. 1869, RGBl. Nr. 66. Am 20. 1. 1885 legte die Regierung sodann den Entwurf eines "Sozialistengesetzes" vor, der jedoch erst (nach neuerlicher Einbringung) 1886 in veränderter Form (als "Gesetz, womit Bestimmungen über die Gerichtsbarkeit in Strafsachen, welchen anarchistische Bestrebungen zugrunde liegen, erlassen werden") Gesetzeskraft erlangte (ks. Sanktion vom 25. 6.; RGBl. Nr. 98). Die von der Regierung beantragte Verlängerung über den 10. 8. 88 (Ende der Wirksamkeit des Gesetzes) hinaus wurde durch das Abgeordnetenhaus verweigert, der Verlängerung der Verordnung aus 1888 (bis zum 31. 7. 1889) jedoch zugestimmt. Letztes Opfer der Ausnahmegesetzgebung war übrigens der sozialdemokratische Parteiführer Viktor Adler, der am 27. 6. 1889 durch das Wiener Ausnahmegericht verurteilt wurde (vgl. Kolmer, Parlament und Verfassung, III, S. 378 ff.; IV, S. 339 ff. sowie Brügel, Geschichte der österr. Sozialdemokratie, IV, S. 19 ff.). Im Deutschen Reich lief die Wirksamkeit des "Sozialistengesetzes" endgültig mit 30. 9. 1890 aus, also mehr als ein Jahr nach Beendigung des Ausnahmezustandes in Österreich.

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beantragte237 • Er griff dabei die ja schon in der liberalen Ära gemachten Vorschläge (vgl. B/2, I) einer Aufteilung der Bruderladen in Krankenkassen auf der einen und Versorgungskassen auf der anderen Seite auf, verlangte eine obligatorische Beitragspfl.icht der Bergwerksbesitzer sowie eine Neuregelung der Organisation der Versorgungskassen, die den versicherungstechnischen Ansprüchen einerseits und dem Wunsch der Arbeiter nach größer·e r Freizügigkeit andererseits entsprechen sollte. Wie noch an späterer Stelle (B/3, VII) auszuführen sein wird, beschäftigte sich auch die Regierung Taaffe im Jahre 1882 mit der Reform der Bruderladen, diese Bemühungen verliefen aber zunächst im Sande. Von legislatorischem Erfolg gekrönt waren dagegen die Bemühungen um eine Reform der gewerblichen Genossenschaftskassen, die im Rahmen der 1. Gewerbeordnungsnovelle vom 15. März 1883, RGBI. Nr. 39 (§§ 121 bis 121 h) erfolgte, wenngleich diese Reform von der Regierung selbst bloß als eine Übergangslösung bis zur Erlassung des Krankenversicherungsgesetzes angesehen wurde238. In den meisten Punkten stimmen die durch die 1. Gewerbeordnungsnovelle hinsichtlich der Genossenschaftskassen normierten Neuerungen mit den einschlägigen Regelungen der Regierungsvorlage von 1880 (§§ 152- 164) überein; so ·i nsbes. hinsichtlich der beiderseitigen Pflicht zur Beitragsleistung, hinsichtlich deren Höhe usw. Teilwcise wurden auch wichtige Artikel aus den "Normativbestimmungen" des Entwurfs 1880 unmittelbar ms Gesetz übernommen. So wurde die Regelung des Art. 18 über die Stimmenverteilung im Vorstand (maximal ein Drittel für den Zuschüsse leistenden Unternehmer, zwei Drittel für die Arbeiter) in den neuen § 121 c, Satz 1, übernommen; die die Dauer der Krankenunterstützung (maximal 13 Wochen) bzw. die Höhe des Krankengeldes (bei Männern 1/2, bei Frauen 1/3 des Taglohnes) regelnden Art. 38 bzw. 39 der Normativbestimmungen finden sich als § 121, Abs. 5 in der Novelle wieder. Ebenfalls im Anschluß an den Entwurf von 1880, aber noch deutlicher findet sich in der Novelle 1883 (§ 108 neu) der Grundsatz ausgesprochen, daß die Verpflichtung zur Teilnahme an gewerblichen Genossenschaften, sohin auch zur Einrichtung von Genossenschaftskrankenkassen für jene Gewerbsunternehmen nicht eintrat, "welche fabriksmäßig betrieben werden" (vgl. § 63 des Entwurfs 1880). 237 Brügel, Soziale Gesetzgebung, S. 134; StProtAH, 9. Sess., S. 7316; Beil. Nr. 484. 238 Ebert, Sozialpolitik, S. 157 (die dort wiedergegebene Äußerung Belcredis entspricht zweifellos dem Regierungsstandpunkt).

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Gegen diese Beschränkung sprachen sich die liberalen Abgeordneten, insbes. Michael Matscheko, aus, der schon zu diesem Zeitpunkt die sofortige Einführung einer allgemeinen, d. h. auch die Fabriksarbeiter umfassenden, obligatorischen Krankenversicherung verlangte2'9 • Als ein - zumal aus der Sicht des Vogelsangsehen Partnerschaftsgedankens240 - schwer verständlicher Rückschritt muß die in § 106, Abs. 2 der novellierten Fassung wieder aufgenommene Differenzierung ZWiischen "Mitgliedern" und "Angehörigen" der Gewerbegenossenschaften angesehen werden241, die den profilierten liberalen Abgeordneten Josef Neuwirth zu berechtigter Kritik veranlaßte242. Was die praktische Bedeutung243 der Genossenschaftskrankenkassen betrifft, so weist die Statistik der Jahre 1880 bis 1891 etwa eine zahlenmäßige Verdoppelung (von 2.570 auf 5.113) aus. Eine Erhebung im Jahre 1894 ergab 5.317 Genossenschaften mit über 550.000 MitgHedern und nahezu 700.000 Angehörigen. Von da an ist die Entwicklung der Genossenschaftskrankenkassen stagnierend bzw. leicht rückläufig. Innerhalb der Gesamtorganisation der Krankenkassen, in die sie durch das Krankenversicherungsgesetz von 1888 (vgl. B/3, V) integriert wurden, nahmen die Genossenschaftskrankenkassen sowohl hinsichtlich der Mitgliederzahl als auch in finanzieller Hinsicht (Höhe der Einnahmen und Ausgaben) um 1900 den vorletzten Rang ein, nachdem sie in der Zwischenzeit von den Vereinskrankenkassen überflügelt worden waren244. Während durch die Genossenschaftskrankenkassen der Gewerbeordnungsnovelle von 1883, trotz mancher Abweichungen in den Details, !im wesentlichen bloß die schon in der liberalen Ära eingeschlagene Reformlinie fortgesetzt wurde, betrat die Regierung mit der noch im gleichen Jahr, nämlich am 4. Dezember 1883245 erstmals erfolgten Vorlage betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter einen neuen, der Österreichischen Gesetzgebung bis dahin unbekannten Weg: nämlich den der Einführung einer gesetzlichen Pflichtversicherung nach dem Vorbild der Bismarckschen Regierungsvorlagen von 1881248 und 1882247. Ebert, Sozialpolitik, S. 153 f. B/1, I 9. 241 Vgl. demgegenüber§ 62 der Regierungsvorlage von 1880! 242 Ebert, Sozialpolitik, S. 152. 243 Heinrich Mataja, Art. "Gewerbliche Genossenschaften", ÖStWB I, S. 528. 24' Otto Stöger, Art. "Arbeiterkrankenversicherung", ÖStWB I, S. 252. 245 StProtAH, 9. Sess., S. 10951, Beil. Nr. 783; Kolmer, Parlament und Verfassung, III, S. 374. 246 s. B/3, III im folgenden. 247 s. B/3, III im folgenden. 239

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Bevor wir auf die Hintergründe dieser folgenreichen, Ende 1882 im Schoße der Regierung Taaffe getroffenen Entscheidung und auf die Vorarbeiten zur Vorlage von 1883 näher eingehen, ist es €rforderlich, die Bismarcksche Arbeiterversicherungsgesetzgebung in aller gebotenen Kürze248 zu charakterisieren. 111. Die bahnbredlende Arbeiterversicherungsgesetzgebung des Deutscllen Reiches

Die bahnbrechende Arbeiterversicherungsgesetzgebung des Deutschen Reiches ist untrennbar mit dem politischen Konzept des deutschen Reichskanzlers (1871 -1890) Fürst Otto v. Bismarck verknüpft249 • Bismarcks Hauptanliegen - übrigens schon zu einem Zeitpunkt, zu dem es noch keine politisch organisierte Arbeiterschaft gab - war es, die Arbeiter wieder in den Staat zu integrieren und so den durch die schlechte wirtschaftliche und soziale Lage der Arbeiterschaft eingetretenen Entfremdungsprozeß wieder rückläufig zu machen. Im Gegensatz zu dem Mittel der politischen Repression gegenüber der Sozialdemokratie, dem er selbst nur begrenzte Bedeutung zuschrieb250, erschien ihm das Eintreten des Staates zugunsten der Sich€rung der materiellen Ex.istenz der Arbeiterschaft als die einzige Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Staat und Arbeitern von Grund auf und mit andauerndem Erfolg zu verbessern. Erst der im Jahre 1878 erfolgte Bruch mit den Liberalen gab Bismarck den für die Verwirklichung seiner Reformpläne notwendrigen politischen Spielraum: Schon in der Thronrede vom 12. Februar 1879251 findet sich im Anschluß an die Erwähnung des Sozialistengesetzes ein Hinweis auf eventuell beabsichtigte sozialpolitische Vorlagen. Deutlicher wird dann die Thronrede vom 15. Februar 1881252, in der es u. a. heißt: "Die(se) Heilung (der sozialen Schäden) wird nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialistischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein. In dieser Hinsicht steht die Fürsorge für die Erwerbsunfähigen unter ihnen .in erster Linie . . ." 248 Näheres jetzt bei Detlev Zöllner in diesem Sammelwerk, S . 83 ff. (mit Angabe der umfangreichen Lit.). 249 Vgl. statt aller Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, IV, S. 1191 ff.; jetzt auch Umlauf, Arbeiterschutzgesetzgebung, S. 44 ff. 250 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, IV, S. 1192. Zum deutschen "Sozialistengesetz" vgl. bereits oben Anm. 236! 251 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, IV, S. 1197, Anm. 12. 252 Ebenda, S. 1197.

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Im Anschluß daran wird die geplante Vorlage eines Gesetzentwurfs "betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter" angekündigt, die dann tatsächlich am 8. März 1881 erfolgte253• Dieser erste Entwurf eines Unfallversicherungsgesetzes trägt bereits die typischen Charakterzüge der Bismarckschen Sozialversicherungsgesetzgebung: a) Der gesetzliche Beitritts- und Beitragszwang (§§ 1 und 13 des Entwurfs), mit dessen Normierung vornehmlich zwei Ziele verfolgt wurden: zum einen in versicherungstechnischer Hinsicht die Lückenlosigkeit des Kreises der Versicherten, die im Interesse der Leistungsfähigkeit der Versicherung geboten schien, und zum anderen die Verwirklichung des Gedankens der sozialen Kooperation zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Vor allem im Zusammenhang mit der Unfallversicherung kommt dem letzterwähnten Gedanken besondere Bedeutung zu, da hier die Versicherung unmittelbar dazu eingesetzt wurde, Konflikten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern vorzubeugen: Durch das sog. Reichshaftpflichtgesetz vom 7. Juni 1871, DRGBL S. 207, § 1 war nämlich eine - verschuldeosunabhängige - Gefährdungshaftung der Unternehmer für die beim Betrieb einer Eisenbahn erfolgten Körperverletzungen bzw. Tötungen von Personen eingeführt worden. Im Anschluß daran regelt § 2 die Haftpflicht der Unternehmer von Bergwerken, Steinbrüchen, Gräbereien und Fabriken. Im Gegensatz zu § 1 ist in § 2 das Verschuldeosprinzip zugunsten des Verletzten nur insoweit gelockert, als es genügte, das Verschulden eines "Bevollmächtigten", eines "Repräsentanten" oder einer "zur Leitung oder Beaufsichtigung des Betriebes oder der Arbeiter angenommene(n) Person" zu beweisen und nicht unbedingt das persönliche Verschulden (insbes. sog. "culpa in eligendo vel inspiciendo") des Betriebsinhabers254• Die Beweisführung war für den zu Schaden gekommenen Arbeitnehmer aber dennoch außerordentlich schwierig, und es bestanden daher Pläne, die Haftpflicht der Bergwerks- und Fabriksunternehmer der der Unternehmer von Eisenbahnen anzunähern. 1880 unterband jedoch Bismarck alle weiteren Versuche der Normierung einer allgemeinen Unternehmerhaftpflicht (i. S. einer Gefährdungshaftung)256, und zwar hauptsächlich deshalb, weil alle schadensersatzrechtlichen (zivilrechtlichen) Regelungen im Zusammenhang mit Betriebsunfällen langwierige und mit großer Erbitterung geführte Zivilm Sten. Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 4. LP, IV. Sess., 1881, Bd. 3, Anlagen Nr. 41 (S. 222 ff.); hiezu jetzt auch Umlauf, Arbeiterschutzgesetzgebung, S. 51. 254 Hedemann, Fortschritte, I, S. 90 f. 255 Vgl. Zöllner in diesem Sammelband, S. 85 f. 34 Sozialversicherung

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prozesse nach sich zogen, die das ohnedies schon sehr ungünstige soziale Klima noch zusätzlich zu verschlechtern drohten; demgegenüber versprach die Unfallversicherung mit gesetzlich~m Beitritts- und (beiderseitigem) Beitragszwang soziale Kooperation anstelle der bisherigen Konfrontation. b) Staatszuschuß an die Sozialversicherungsträger.

Hinsichtlich der Finanzierung der Sozialversicherung sah Bismarck aus zwei grundsätzlichen Erwägungen heraus von Anfang an einen staatlichen Zuschuß vor: Einerseits wollte Bismarck auf diese Weise einer zu großen Belastung der heimischen Wirtschaft (insbes. in Rücksicht auf deren Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem Ausland} vorbeugen, andererseits wollte er damit den Versicherten (den Arbeitern) das Gefühl vermitteln, daß der Staat an ihren sozialen Problemen tätigen Anteil nimmt. Freilich verzichtete gerade der oben erwähnte 1. Entwurf zum Unfallversicherungsgesetz auf eine doktrinäre Verwirklichung dieser Idee, da nur für die schlechtest bezahlten Arbeiter ein Staatszuschuß (in Höhe von einem Drittel der Gesamtbeitragsleistung) vorgesehen war (§ 13, Ziffer 1)256 • c) Was die Organisation der Versicherungsträger betrifft, so sah der 1. Entwurf zum Unfallversicherungsgesetz noch eine nach zentralistischen und bürokratischen Gesichtspunkten einzurichtende Reichsversicherungsanstalt vor. Die Möglichkeit der Einführung genossenschaftlicher Strukturelemente wird in der "Begründung" des Entwurfs bloß am Rande erwähnt, jedoch keineswegs besonders hervorgehoben. Erst nach dem Scheitern des 1. Entwurfs erhob Bismarck obligatorische Berufsgenossenschaften, an die er weitreichende politisch~ Erwartungen knüpfte, zu einem wesentlichen Strukturelement der Sozialversicherung. In deutlichem Gegensatz zu den der Sozialversicherung prinzipiell positiv gegenüberstehenden Österreichischen Liberalen, wurde der 1. Entwurf zum deutschen Unfallversicherungsgesetz vor allem von der (liberalen) Fortschrittspartei (Eugen Richter) lebhaft bekämpft. Nicht dieser Widerstand war jedoch für das Scheitern d~r ersten Vorlage maßgebend, sondern die - für Bismarck inakzeptable - Streichung des Staatszuschusses auf Betreiben des Zentrums257• 256 Die Beitragslast war im übrigen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Verhältnis zwei Drittel zu einem Drittel bzw. (für die bestverdienenden Arbeiter) ein Halb zu ein Halb aufgeteilt. 257 Ablehnung der Vorlage durch den Bundesrat am 25. 6. 1881.

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Nachdem auf Initiative Bismarcks den Abgeordneten des Deutschen Reichstages die für die Einrichtung der Sozialversicherung sprechenden Gründe in der "Ersten Kaiserlichen Botschaft zur sozialen Frage"258 am 17. November 1881 eindringlich vor Augen geführt wurden- einen ähnlichen Zweck verfolgten übrigens später auch die am 27. April 1882259 verlesene Thronrede sowie die "Zweite Kaiserliche Botschaft zur sozialen Frage", verlesen am 14. April 1883260 , und zuletzt auch die Thronrede vom 22. November 1888261 - , wurde am 29. Apr.il der "Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter"262, von der Regierung im Reichstag eingebracht. Auch für die Krankenversicherung sollte demnach Versicherungs- und Beitragszwang gelten. Als Versich·erungsträger waren die Ortskrankenkassen vorgesehen, neben denen aber die freiwilligen Hilfskassen bestehen blieben, deren Mitglieder vom Versicherungszwang zu den Ortskassen befreit waren. Die Finanzierung der Krankenversicherung sollte zur Gänze aus Beiträgen der Arbeitgeber (1/3) und Arbeitnehmer (2/3) erfolgen. Da somit bei der Krankenversicherung von einem Staatszuschuß abgesehen wurde, errang das Krankenversicherungsgesetz als erstes der Bismarckschen Sozialversicherungsgesetze die parlamentarische Mehrheit. In der Abstimmung vom 31. Mai 1883 wurde die Vorlage mit großer Mehrheit (216 Stimmen) gegen die Stimmen der Fortschrittspartei und der Sozialdemokraten (insgesamt 99) angenommen und am 15. Juni 1883 zum Gesetz erhoben. Schon am 28. Mai 188526 3 erging das erste Ausdehnungsgesetz, das vor allem die im Transportgewerbe beschäftigten Personen dem Versicherungszwang unterwarf; noch wichtiger ist das Gesetz vom 5. Mai 1886264, das - unter Beifügung gewisser Modifikationen - die land- und forstwirtschaftliehen Arbeiter in das System der Krankenund Unfallversicherung integrierte. Der am 8. Mai 1882 dem Reichstag überreichte 2. Entwurf265 eines Unfallversicherungsgesetzes stellte, wie schon angedeutet wurde, die Organisation der Unfallversicherung auf völlig neue Grundlagen: An Stelle der im 1. Entwurf vorgesehenen Reichsversicherungsanstalt waren nun "Betriebsgenossenschaften" und "Betriebsverbände" als Huber, Dokumente Il, Nr. 260. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2so Huber, Dokumente II, Nr. 263. 261 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, 262 Sten. Berichte über die Verhandlungen 1882/83, Bd. 5, Anlage Nr. 14 (S. 124 ff.). 263 DRGBI. 1885, S. 159. 264 DRGBl. 188·6, S. 132. 265 Sten. Berichte über die Verhandlungen 1882/83, Bd. 5, Anlage Nr. 19 (S. 173 ff.). 25 8

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III, S. 1199. III, S. 1202. des Reichstags, 5. LP., II. Sess.,

des Reichstags, 5. LP, II. Sess.,

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eigentliche Versicherungsträger vorgesehen, die unter die Aufsicht der "höheren Verwaltungsbehörden" der Bundesstaaten gestellt wurden. Da der 2. Entwurf aber im übrigen am Versicherungszwang und am Reichszuschuß festhielt, fand er auch diesmal keine parlamentarische Mehrheit. Der am 6. März 1884 dem Reichstag vorgelegte 3. Entwurf200 hielt neuerlich am Versicherungszwang sowie an der genossenschaftlichen Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger fest; neu ist an dem Entwurf die Einrichtung von Arbeiterausschüssen (§§ 41- 45). Als wichtigste Abweichung gegenüber den Entwürfen I und II muß der von Bismarck schließlich doch in Kauf genommene Verzicht auf den Reichszuschuß gewertet werden, an dessen Stelle eine Reichsgarantie für die Leistungsfähigkeit der Berufsgenossenschaften trat267• Ohne daß grundsätzliche Abstriche von diesem Konzept gemacht werden mußten, fand der 3. Entwurf des Unfallversicherungsgesetzes am 27. Juni 1884, wieder gegen die Stimmen der Fortschrittspartei und der Sozialdemokraten, eine klare Mehrheit und wurde am 6. Juli 1884, DRGBl. S. 69, zum Gesetz erhoben. Den Schlußstein in Bismarcks Sozialversicherungsgesetzgebung bildete die Alters- und Invaliditätsversicherung. Am 22. November 1888 wurde der vom Bundesrat bereits beschlossene Entwurf dem Reichstag vorgelegt200• Demnach sollte allen Lohnarbeitern der Industrie, des Gewerbes und der Landwirtschaft mit Vollendung des 70. Lebensjahres eine Altersrente zustehen. In organisatorischer Hinsicht wählte der Entwurf die Kompromißlösung der Landesversicherungsanstalten; hinsichtlich der F,i nanzierung war eine Drittelung der Beitragsleistung zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und dem Reich vorgesehen, so daß also hier erstmals der Bismarckschen Forderung nach Normierung eines Reichszuschusses Rechnung getragen wurde. Am 24. Mai 1889 wurde das Gesetz über die Alters- und Invaliditätsversicherung vom Deutschen Reichstag mit schwacher Mehrheit angenommen; dagegen stimmten die Fortschrittspartei, die Sozialdemokraten sowie die Mehrheit des Zentrums; am 22. Juni 1889, DRGBl. S. 97, wurde das Alters- und Invaliditätsversicherungsgesetz erlassen269• 266 Sten. Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 5. LP, IV. Sess., 1884, Bd. 3, Anlage Nr. 4 (S. 50 ff.). 287 Später § 63 des (Deutschen) Unfallversicherungsgesetzes, DRGBI. S. 69/ 1884. 288 Sten. Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 7. LP, IV. Sess., 1888/89, Bd. 1, Anlage Nr. 10 (S. 31 ff.).

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IV. Das Arbeiter-UnfallversidJ.erungsgesetz vom 28. Dezember 1887

1. Das Elaborat Steinbachs Erstmalige Erwähnung fand das Projekt des Unfallversicherungsgesetzes in der Ministerratssitzung vom 23. 11. 1882270, als der Leiter des Justizministeriums, Prazäk, erklärte, er werde demnächst dem Ministerrat einen einschlägigen Entwurf vorlegen. Schon im Ministerrat vom 4. 12. 1882271 wurde über ein vom damaligen Sektionsrat im Justizministerium, Emil Steinbach (vgl. oben B/3, 1), verfaßtes Elaborat "Zur Haftpflichtfrage" unter Tagesordnungspunkt 111 ("Gesichtspunkte für einen Entwurf über die Haftpflicht bei Unfällen in gewerblichen Unternehmungen") beraten. Das dem Protokoll der Ministerratssitzung angeschlossene Elaborat, dessen Fassung im wesentlichen bereits den "Allgemeinen Teil" der "Erläuternden Bemerkungen"272 zu den Regierungsvorlagen zum Unfallversicherungsgesetz vorwegnahm, ging im Gegensatz zu der dem 1. deutschen Entwurf beigegebenen "Begründung" auf politische Hintergründe (Repression der Sozialdemokratie etc.) nicht ein. Vielmehr schilderte das Steinbachsehe Elaborat zunächst die in Österreich auf dem Haftpflichtsektor damals gegebene Gesetzeslage: Mit Ausnahme des Eisenbahnhaftpflichtgesetzes von 1869 beruhte das Österreichische Schadenersatzrecht, soweit es auf Betriebsunfälle anwendbar war, in jener Zeit ausschließlich auf dem Verschuldensprinzip. Der Unternehmer haftete nämlich nur für eigenes Verschulden, einschließlich der sog. culpa in eligendo (vgl. §§ 1315, 1010, 1161 ABGB in der alten Fassung)273• Fiel ihm kein Auswahlverschulden zur Last, so haftete er für schädigendes Verhalten seines Hilfspersonals selbst dann nicht, wenn diesem Verschulden zur Last fiel. Steinbach ging dann auf die in Österreich nach deutschem Vorbild unternommenen Versuche einer Ausweitung der Unternehmerhaftpflicht des Reichshaftpflichtgesetzes von 1871 ein (s. oben B/3, 111). Als letzten Versuch dieser Art erwähnte Steinbach den § 94 des Gewerbeordnungsentwurfs von 1880 (s. oben B/1, I 2), der folgenden Wortlaut hatte: 269 Die Annahme durch den Reichstag erfolgte mit 165 gegen 145 Stimmen, wobei es ausschlaggebend war, daß 15 Abgeordnete des Zentrums dem Entwurf zustimmten: Huber, Verfassungsgeschichte, III, S. 1204. 270 AVA, MRP 1882 (Karton 16), Nr. 92 (vgl. bereits oben Anm. 230). Vgl. zum folgenden auch die Darstellung der Entstehungsgeschichte des UVG bei Steinbach, Unfallversicherung, S. 16 ff. 271 AVA, MRP 1882 (Karton 16), Nr. 96. 272 StProtAH, 10. Sess., Beil. Nr. 75. 273 Vgl. hiezu den Bericht der Kommission für Justizgegenstände ... , StProtHH, 21. Sess., Beil. Nr. 78, S. 266 ff.

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"Wenn der Bevollmächtigte oder ein anderer Bestellter des Gewerbsinhabers durch Außerachtlassung der Vorschriften des§. 93, oder durch ein anderes Verschulden in Ausführung ihrer Dienstverrichtungen die Tödtung oder körperliche Verletzung eines Hilfsarbeiters herbeigeführt haben, so haftet in allen diesen Fällen der Gewerbsinhaber für den dadurch entstandenen Schaden und hat den Ersatz nach Maßgabe der §§ 1325 bis 1327 ABGB zu leisten." Diese dem § 2 des Reichshaftpflichtgesetzes274 (Haftung des Unternehmers für das Verschulden seiner Hilfspersonen wie für sein eigenes) nachempfundene Regelung veranlaßte Steinbach zu dem Hinweis auf die "Erfahrungen Deutschlands", die gezeigt hätten, daß durch die Ausdehnung der Unternehmerhaftpflicht "das Verhältnis zwischen beiden Classen der gewerblichen Bevölkerung eher verschlimmert als verbessert" werde. Als Begründung schloß Steinbach eine umfangreiche wörtliche Wiedergabe aus der "Begründung" zum 1. deutschen Entwurf an, in der eingehend dargelegt wurde, wie schwer der Verschuldensbeweis für den zu Schaden gekommenen Arbeiter zu führen war, welche Verbitterung durch die oft sehr langwierigen und kostspieligen Prozesse hervorgerufen wurde und inwieweit auch das private Versicherungswesen den Unternehmer dazu zwang, gegen seine Arbeitnehmer zu prozessieren275• Ferner wurde kritisiert, daß die "Unbeschränktheit des richterlichen Ermessens" hinsichtlich der Schadenshöhe häufig ungerechtfertigt hohe Entschädigungsansprüche zur Folge habe, wodurch die wenigen, denen der Verschuldensbeweis gelang, gegenüber dem Gros der Geschädigten in einen um so krasseren Gegensatz getreten seien. Steinbach befürchtete sogar, daß sich die unerfreuliche Abhängigkeit des Entschädigungsanspruchs von den Imponderabilien eines gerichtlichen Beweisverfahrens in Österreich "vielleicht noch (in) verschärfter Weise" einstellen werde. Anlaß zu dieser Befürchtung gab ihm der durch eine sehr "formalistische Betrachtungsweise" gekennzeichnete und insgesamt reformbedürftige Zustand des Prozesses der AGO und WGO (s. oben B/1, III 2)276 , der zur Folge haben könne, daß die Zahl der gerichtlich anerkannten Ersatzansprüche unter den für § 2 des Reichshaftpflichtgesetzes festgestellten Prozentsatz von 12 °/o sinken werde. m Vgl. oben B/3, III. Die Versicherungen machten nämlich in der Regel ihre Zahlung von der vorherigen gerichtlichen Feststellung des Entschädigungsanspruchs abhängig! 276 Nachteilig war vor allem auch die (im Vergleich zur heut-igen österr. ZPO) starke Betonung des Parteibetriebes durch die AGO und WGO, die zu starken Verzögerungen der Prozesse führte - ein Mangel, den diese aus dem 275

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In weiterer gedanklicher Konformität mit der Begründung zum deutschen Entwurf ging Steinbach auch noch auf die Möglichkeit ein, die Beweisschwierigkeiten des geschädigten Arbeitnehmers durch eine zu seinen Gunsten eingreifende Verschuldeospräsumtion oder gar durch eine Gefährdungshaftung im Sinne des § 1 RHG zu beheben. In Ergänzung zu Steinbachs Ausführungen, der lediglich den Gewerbeordnungs-Entwurf 1877277 amRande erwähnt, seien dessen§ 73,Abs. 3 sowie dessen Vorläufer, § 56, Abs. 3 des Entwurfs aus 1875278, hier angeführt: (Entwurf 1875): "Für jede Beschädigung oder Tödtung eines Hilfsarbeiters durch einen mit Gefahren verbundenen Gewerbebetrieb hat der Unternehmer, soferne derselbe nicht beweist, daß die Beschädigung oder Tödtung durch Verschulden einer Person, für welche er nicht zu haften hat, oder durch Verschulden des betroffenen Hilfsarbeiters, oder durch höhere Gewalt erfolgt ist, angemessene Entschädigung zu leisten." (Entwurf 1877): "Für jede körperliche Verletzung oder Tödtung eines Hilfsarbeiters, welche durch einen schon unter gewöhnlichen Umständen mit Gefahren verbundenen Gewerbsbetrieb bewirkt wird, hat der Unternehmer angemessene Entschädigung zu leisten, soferne derselbe nicht beweist, daß die körperliche Verletzung oder Tödtung durch Verschulden des betroffenen Hilfsarbeiters, oder durch einen unabwendbaren Zufall (höhere Gewalt) erfolgt ist ... " In Deutschland waren seit 1871 ähnliche Versuche einer Ausweitung der § 1 RHG-Haftung auf industrielle Unternehmer unternommen worden, aber allesamt gescheitert279 • Steinbach sprach sich auch deshalb gegen diese Lösung aus, da sie einerseits eine "allzuweitgehende Härte" gegen die Unternehmer mit sich bringe und andererseits den "verbitternden" Einfluß, den Haftpflichtprozesse auf das soziale Klima ausübten, kaum dämpfen werde. Sehe man, so Steinbach weiter, als Zweck der erwünschten gesetzlichen Regelung nicht die Konfrontation der beteiligten Interessen, sondern das einträchtige Zusammenwirken aller Beteiligten an, so könne dieser "nur durch Leistungen aller Beteiligten, durch ein allgespäten 18. Jh. stammenden österr. Prozeßgesetze übrigens mit der damals neuen deutschen (Reichs-)ZPO (aus 1877) teilten. m Ober diesen Entwurf im allgemeinen vgl. oben den Text bei Anm. 178. 278 Wie vorige Anm. 279 Vgl. oben den Text bei Anm. 255; über die hievon abweichende Entwicklung in der Schweiz (Fabrikgesetz 1877 sowie Fabrikhaftpflichtgesetze von 1881 und 1887) vgl. Alfred Maurer in diesem Sammelwerk, S. 763.

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meines Unfallversicherungsgesetz erreicht werden, wie dies auch die deutsche Gesetzgebung seit 1881 anstrebt" 280•

2. Die Beratungen des Ministerrats Wie aus dem Protokoll des Ministerrats vom 4. Dezember 1882 hervorgeht, hatte Steinbach Gelegenheit, sein Elaborat "zur Haftpflichtfrage" einschließlich des von ihm offenbar in völliger Eigenregie verfaßten ersten Entwurfs (EI) im Ministerrat darzulegen; daraufhin entspann sich eine Diskussion, die erkennen ließ, daß der Ministerrat mit einer Ausnahme (Ackerbauminister Falkenhayn) das Prinzip der Pflichtversicherung akzeptierte, jedoch hinsichtlich der Vorgehensweise im einzelnen uneinig war. Falkenhayn vertrat die Ansicht, die Unfallversicherung sei noch "nicht reif" für eine gesetzliche Regelung, da sich "in den Massen" hiefür noch kein Bedürfnis gezeigt habe; die Regierung solle sich lieber "drängen lassen" als selbst die Initiative zu ergreifen, da sonst der Eindruck entstehe, man habe die Arbeiter auf etwas warten lassen, was ihnen ohnehin schon seit langem gebühre. Wenn eine Reform dennoch gewünscht werde, so solle diese "unter Einbeziehung der Invaliditätsversorgung überhaupt" geschehen. Was den Modus betreffe, so schlage er vor, sich nicht an den "deutschen Gesetzgeber", sondern an das Modell der bestehenden "inländischen Bruderladen" anzulehnen. (In Übereinstimmung mit der im Allgemeinen Berggesetz enthaltenen Regelung) sollten solche Bruderladen "für jede Fabrik" oder für "mehrere Fabriken gemeinsam" eingerichtet werden, und zwar mit dem Zwecke einer auch die Unfallversicherung umfassenden Invaliditätsversicherung. Bei einer solchen umfassenden Invaliditätsversicherung bestehe ferner kein Grund, den Beitragsanteil der Unternehmer höher anzusetzen als den der Arbeiter. Abschließend fügte Falkenhayn noch hinzu, "für alle Fälle sei aber keine Veranlassung vorhanden, die Bergarbeiter in die eventuelle allgemeine Unfallsversicherung einzubeziehen". Im Gegensatz zu den von einer reinen Defensivtaktik beherrschten und in sich widerspruchsvollen Ausführungen Falkenhayns, die die Quellen späterer Konflikte innerhalb der Regierung schon erahnen lassen, nahm Handelsminister Pino281 sowohl zur Einführung einer Pflicht280

Das Zitat ist bereits wiedergegeben bei Ebert, Sozialgesetzgebung, S.

145, Anm. 138.

281 Czedik, Geschichte, I, S. 318 u. ö.; Charmatz, Osterreichs innere Geschichte, II, S. 13 f.

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versicherung überhaupt als auch zur bevorzugten Behandlung der Unfallversicherung eine positive Haltung ein. Zwar wäre, so Pino, die sofortige Regelung aller Sparten das erstrebenswerte Ideal; da jedoch die "Auseinanderhaltung der nach verschiedenen Gesichtspunkten zu regelnden Versorgungsarten" wünschenswert sei, sei in praxi schrittweises Vorgehen geboten. Da die Krankenversorgung durch die Gewerbeordnung (1859) angebahnt und "bei den Fabriken schon vielfach in Angriff genommen" worden sei, müsse naturgemäß als nächstes die Unfallversicherung kommen; als drittes dann die Invaliditätsversicherung. Der Beitragsanteil der Arbeitgeber sollte bei der Unfallversicherung nach Meinung Pinos zwei Drittel, jener der Arbeiter ein Drittel betragen. Hinsichtlich der Organisation der Versicherungsträger schlug Pino - offenbar unter dem Eindruck des am 8. Mai 1882 dem Deutschen Reichstag vorgelegten 2. Entwurfs zum Unfallversicherungsgesetz (s. oben B/3, III) - anstelle des Territorialitätsprinzips die "Concentrirung nach gleichartigen Industrien" vor; ferner, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das schweizerische Vorbild282 , die Einbeziehung der Berufskrankheiten unter die von der Unfallversicherung zu deckenden Risiken. Nach dem Minister für Kultus und Unterricht, Conrad283, der eine verschärfte Verantwortlichkeit der Unternehmer für unterlassene Sicherheitsvorkehrungen anregte, nahm Prazak zu den Einwänden Falkenhayns Stellung. Seiner Ansicht nach stand "die Vorsorge für Unfälle ... in der ersten Linie der Forderungen der arbeitenden Kreise ... ", und es sei "die Agitation für die fragliche Haftpflicht ... seit vielen Jahren vorbereitet". Dazu muß freilich bemerkt werden, daß Falkenhayn ja nicht das Bedürfnis nach einer Haftpflichtregelung, sondern das nach einer Unfall-Pflichtversicherung in Zweifel gezogen hatte. Hinsichtlich des Modus des gesetzgeberischen Vorgehens stellte Prazak nur fest, es sei "bisher keiner Gesetzgebung" gelungen, "alle Versorgungsfragen ... unter Einem" zu regeln. Auf den Vorschlag Falkenhayns, die bestehenden Bruderladen anstelle des deutschen Vorbilds als Richtschnur zu nehmen, ging Prazak überhaupt nicht ein. Auch der galizische Landsmannminister Ziemialkowski und Finanzminister Dunajewski284 sprachen sich für die Vorziehung der Unfallver282 Schon das Fabrikgesetz aus 1877 dehnte die Haftpflicht des Fabrikanten auf die durch gewisse (durch den Bundesrat zu präzisierende) gefährliche Stoffe hervorgerufenen Krankheiten aus; ebenso das Fabrikhaftpflichtgesetz aus 1881. Näheres bei Maurer in diesem Sammelwerk, S. 763. 283 Czedik, Geschichte, I, S. 316 u. ö.; Charmatz, Österreichs innere Geschichte, rr, s. 14. 284 Czedik, Geschichte, I, S. 317 u. ö.; Charmatz, Österreichs Innere Geschichte, II, S. 13, der freilich die extreme Sparpolitik Dunajewskis, die

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sicherung aus, letzterer mit der Begründung, die allgemeine Invaliditäts-

versicherung "reiche schon in die Fürsorge hinein". Der Erstgenannte machte übrigens noch die beiden Detailvorschläge, die Versicherungspflicht auch auf die Arbeitnehmer solcher (nicht fabrikmäßiger) Gewerbebetriebe auszudehnen, in denen "Maschinenbetrieb durch Thierkräfte" gegeben sei (der Steinbachsehe Entwurf hatte, in Anlehnung an die beiden ersten deutschen Entwürfe, bloß die mit elementarer Kraft betriebenen Masc.."linen in diesem Zusammenhang angeführt). Ferner regte Ziemialkowski an, die landwirtschaftlichen Arbeiter auch bei bloß vorübergehender Verwendung bei einer Maschine der Versicherungspflicht zu unterwerfen. Steinbach erklärte die beiden Vorschläge für "erwägenswert" und meinte abschließend, unter Bezugnahme auf die Ausführungen Falkenhayns, die bestehenden Bruderladen seien "wohl für das conservative Element der Bergarbeiter" als ausreichend285 anzusehen, nicht aber "für das bewegliche Arbeiter-Element der anderen Industrien". Der Ministerrat faßte daraufhin den folgenden Beschluß286 : "Vom Ministerrate werden die Principien des Justizministeriums genehmigt und wird zugleich beschlossen, daß die Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs darnach unter Mitwirkung der Ministerien der Justiz, des Innern, des Ackerbaues und des Handels zu geschehen habe." In Rücksicht auf die im Ministerrat vorgebrachten Einwände und Anregungen brachte Steinbach an seinem handschriftlichen Entwurf einzelne Änderungen an, die in dem von Prazak unter dem 14. Jänner 1883 an Taaffe übersandten Ersten gedruckten Entwurf (E I) bereits berücksichtigt waren. Schon dieser 1. Entwurf war, wie die an späterer Stelle folgende Gegenüberstellung deutlich zeigt, dem 2. deutschen Entwurf stark nachempfunden und bestand aus 48 Paragraphen287• Auf der Grundlage vonEIberiet vom 22. Jänner 1883 an durch mehrere Tage eine aus Vertretern des Justiz-, Ackerbau-, Handels- und Finanzministeriums zusammengesetzte Kommission unter dem Vorsitz Österreich ausgeglichene Budgets bescherte, wenig günstig beurteilt. Vgl. auch Matis, Österreichs Wirtschaft, insbes. S. 314, 339. 285 Da Steinbach im späteren Verlauf der Redaktion des Unfallversicherungsgesetzes die Einbeziehung der Bergarbeiter in die Arbeiter-Unfallversicherung nachdrücklich vertrat, kann hier nur die (angebliche) subjektive Einschätzung der Betroffenen gemeint sein! 286 Eine Angabe über das Stimmenverhältnis fehlt: da von einer Gegenstimme keine Rede ist, dürfte Falkenhayn zugestimmt oder sich zumindest der Stimme enthalten haben. 287 A VA, Justizministerium (JM), Karton 1448. Als Beilage zu P. 1 (Amtsvortrag vom 14. 1. 1883) liegt der E I sowohl in handschriftlicher Fassung (Schrift Steinbachs!) als auch in gedruckter Fassung vor.

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des Sektionschefs Kubin, wobei auch hier Steinbach die Referentenrolle zukam. Das Ergebnis der Beratungen war der nunmehr 60 Paragraphen umfassende 2. Entwurf (E II)288, den Prazak bereits am 19. Februar 1883 an Taaffe übermittelte. Als wichtigste Abweichung des E II gegenüber E I ist hervorzuheben, daß die in Rücksicht auf Falkenhayns Bedenken von Steinbach aus dem § 1 des E I eliminierten und in § 2 ausdrücklich von der Geltung des Gesetzes ausgenommenen Bergwerke nun wieder auf Betreiben der Kommissionsmehrheit aufgenommen wurden. Ferner erhielt § 2, Abs. 3 des E I, wonach für "Betriebsarten, welche mit Unfallsgefahr ... nicht verbunden sind", vom Innenminister die Versicherungspflicht ausgeschlossen werden konnte, ein Gegenstück in § 3, Abs. 2 des E II (fakultative Unterwerfung unter die Versicherungspflicht bei "Unternehmungen, welche mit Unfallsgefahr, namentlich mit besonderer Feuersgefahr verbunden sind"). Hinsichtlich des Leistungsschemas ist bemerkenswert, daß E I (§ 6) neben der Geldrente auch die "Kosten des Heilverfahrens" erwähnte, E II (§ 7) jedoch nicht mehr; ferner war in E I die Frage des Beginns des Rentenanspruchs noch offengelassen, in E II hingegen (§ 7, Abs. 1) bereits im Sinne der - später vielfach umstrittenen - 5-Wochenfrist geregelt. Bei gänzlicher Erwerbsunfähigkeit sah E I (§ 6) 66 2/3 Ofo des bisherigen Arbeitsverdienstes, E II (§ 7) 70 °/o als Rentenhöhe vor. Die Unfallversicherungsanstalten waren von Anfang an als Selbstverwaltungskörper konzipiert; der Anstaltsvorstand sollte zu je 1/3 aus Vertretern der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer sowie vom Innenminister ernannter Personen bestehen (EI:§ 9; E II: § 13). In grundlegender Abweichung vom deutschen 2. Entwurf stand schon E I, ebenso wie alle späteren Entwürfe, auf der Grundlage des Territorialsystems; grundsätzlich sollte für jeden Handels- und Gewerbekammerbezirk eine Versicherungsanstalt am Sitze dieser Kammer errichtet werden; dem betriebsgenossenschaftlichen Prinzip des deutschen 2. Entwurfs wurde so eine klare Absage erteilt. Dem Gedanken einer Zusammenfassung der Betriebe unter dem Gesichtspunkt gleicher Unfallsgefahr ist nichtsdestoweniger in nahezu wörtlicher Anlehnung an den deutschen 2. Entwurf Rechnung getragen worden, allerdings nur zu dem Zweck der Ermittlung der Höhe der Beitragsleistungen. Wie der deutsche 2. Entwurf nehmen auch die beiden ersten Österreichischen Entwürfe als Durchschnittsmaß der gefährlichsten Betriebe 100 °/o an, das der übrigen mit entsprechend niedrigeren Prozentsätzen, wobei in weiterer Anlehnung an die deutsche Gesetzgebung auf die Ergebnisse der Unfallstatistik abgestellt werden sollte, wiewohl eine solche in Österreich damals noch gar nicht existierte. 2ss

AVA, JM, Karton 1448, Beilage zu P. 2.

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Hinsichtlich der Beitragsleistungen sah E I (§ 13) einen je nach Arbeitsverdienst gestaffelten Bruchteil von mindestens 5 bis maximal 40 Prozent vor, E II (§ 19), kannte dagegen nur mehr zwei Stufen (Tagesverdienst von über 1 fl.: 25 Ofo, darunter: 0 Ofo). Ein Staatszuschuß war weder in diesen beiden ersten Österreichischen Entwürfen noch in einem späteren vorgesehen. Der 2. deutsche Entwurf kannte, wie oben289 schon ausgeführt wurde, je nach Jahresarbeitsverdienst 3 unterschiedliche Regelungen (750 Mark und darunter: 2/3 der Unternehmer, 1/3 das Reich; 750 bis 1.000 Mark: 2/3 der Unternehmer, 1/3 der Versicherte; über 1.000 Mark: 1/2 der Unternehmer, 1/2 der Versicherte). Die Stellung allfälliger Schadenersatzansprüche zur Unfallversicherung war zur Gänze den deutschen Entwürfen nachempfunden: Bei Vorsatz oder grobem Verschulden traf den Unternehmer die Verpflichtung, die Versicherungsanstalt für die von ihr geleisteten Entschädigungen schadlos zu halten (1. deutscher Entwurf § 47; 2. deutscher Entwurf § 117; österreichischer E I, § 37; E II, § 45); hingegen konnte der Versicherte selbst bzw. seine Hinterbliebenen einen Schadenersatzanspruch nur bei Vorsatz des Unternehmers geltend machen (1. deutscher Entwurf § 46; 2. deutscher Entwurf § 116; nicht enthalten in E I, jedoch in E II, § 46). Der dem Versicherten gegen einen Dritten allenfalls zustehende Schadenersatzanspruch ging "auf die Versicherungsanstalt insoweit über, als die Verpflichtung dieser Jetztern zur Entschädigung nach diesem Gesetze begründet ist" (Legalzession des § 48 des 1. deutschen Entwurfs; 2. deutscher Entwurf§ 118; EI,§ 38; E II, § 47). Hatte der Versicherte (Verletzte) den Unfall vorsätzlich herbeigeführt, so stand ihm ein Leistungsanspruch gegen die Versicherungsanstalt nicht zu; die Ansprüche der Hinterbliebenen wurden hiedurch jedoch nicht tangiert (1. deutscher Entwurf § 35; 2. deutscher Entwurf § 82; EI, § 6, letzter Abs.; § 7, vorletzter Abs.; E II, § 7, letzter Satz; § 9, letzter Satz). Hinsichtlich des Verfahrens zur Geltendmachung von durch die Versicherungsanstalt nicht anerkannten Leistungsansprüchen sah schon § 32 des E I die am Sitz der Versicherungsanstalten einzurichtenden Schiedsgerichte vor, deren Entscheidungen inappellabel waren; dies im Gegensatz zu dem 2. deutschen Entwurf, der bereits (in § 91) in eingeschränktem Umfang die Möglichkeit der Beschreitung des ordentlichen Rechtsweges vorsah. Bei der Verwaltung der Versicherungsanstalten war, wie schon erwähnt wurde, den Versicherten durch ihre Drittelvertretung im Vorstand in den Österreichischen Entwürfen insgesamt eine günstigere 289

Vgl. oben Anm. 256.

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Stellung eingeräumt worden als nach den deutschen Entwürfen, denen zufolge die Versicherten nur im Zusammenhang mit der Feststellung von Entschädigungen sowie bei Erlaß von Unfallsverhütungsvorschriften ein Mitspracherecht hatten (2. deutscher Entwurf §§ 85- 91; 73, Nr. 2). Ähnlich wie im 2. deutschen Entwurf- der erste kommt ja wegen der zentralistisch organisierten Reichsversicherungsanstalt als Vergleichsobjekt nicht inFrage-ist auch nach den beiden Österreichischen Entwürfen den politischen Behörden mit dem Minister des Innern an der Spitze die Aufsicht über die Versicherungsanstalten übertragen (E I: § 39; E II: § 48; 2. deutscher Entwurf: §§ 39 bis 41). Eine der wichtigsten Errungenschaften des deutschen 3. Entwurfs, nämlich das insbes. als Aufsichtsbehörde sowie als Rekursinstanz eingerichtete Reichs-Versicherungsamt (3. deutscher Entwurf, §§ 87- 91), ist dem 2. deutschen Entwurf und daher ebenso den beiden ersten Österreichischen Entwürfen unbekannt. Trotz zahlreicher späterer Vorschläge fehlt bis heute eine für die gesamte Österreichische Sozialversicherungsgerichtsbarkeit einheitliche zentrale Berufungsinstanz; dieser Umstand geht demnach letztlich auf den zur Zeit des Österreichischen E II gegebenen Entwicklungsstand zurück. Nach diesem Exkurs in die wichtigsten Bestimmungen der beiden ersten Österreichischen Entwürfe, die das spätere Gesetz im wesentlichen bereits vorwegnahmen, soll nun wieder auf die weitere Entstehungsgeschichte des Unf·a llversicherungsgesetzes eingegangen werden: In der Ministerratssitzung vom 25. März 1883290 erfolgte auf der Grundlage des E II die "Spezialberathung über den Gesetzentwurf betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter und Einbringung dieses Entwurfes". Taaffe eröffnete die Beratung gleich mit dem Bemerken, daß der Ackerbauminister die Ausscheidung der Bergwerksarbeiter aus dem Geltungsbereich des Unfallversicherungsgesetzes beantragt habe. Steinbach meinte dazu, man habe in der gemischten Beratungskommission diese Frage "von vornherein ... für zweifelhaft angesehen", die Mehrheit sei jedoch für die Einbeziehung der Bergwerke und Salinen eingetreten, "weil die Bruderladen keinen so großen Versicherungsbetrag gewähren, als er nach dem Entwurfe in Aussicht stehe und weil es, namentlich bei Vorhandensein des Vorbildes der deutschen Proposition, als bedenklich erachtet wurde, gerade die gefährlichsten Betriebe auszuscheiden". Auch Prazak und Taaffe erklärten sich für die Einbeziehung, die Mehrheit der Minister trat jedoch, wenn auch überwiegend 290

A VA, MRP 1883, Nr. 25.

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aus taktischen Gründen, für die Ausscheidung der Bergwerke und Salinen ein, nachdem Falkenhayn erklärt hatte, "daß er hinsichtlich der Bergwerke auf seiner Forderung bestehen müsse und daß die Sache für Ihn Cabinetsfrage sei". Auch Taaffe schloß sich daraufhin dem Mehrheitsvotum an, freilich mit der Bemerkung, daß "Er die bezügliche Auslassung nur sehr bedauern könne", worauf die erforderlichen Änderungen der §§ 1 und 2 des Entwurfs beschlossen wurden. Abgesehen davon war nur noch eine Bestimmung des E II Gegenstand der Beratungen im Ministerrat an jenem Tage: nämlich die in § 58 enthaltene Regelung der staatlichen Vorschußleistung an die Versicherungsanstalten für das erste Geschäftsjahr. Nicht die Bestimmung selbst ist für uns von Interesse, sondern die Beratungen hiezu, die deutlich machen, wie weit man damals in Österreich von der Vorstellung eines Staatszuschusses zur Sozialversicherung entfernt war: Der ob seiner Sparsamkeit berüchtigte Finanzminister Dunajewski291 verlangte nämlich, daß in der Formulierung jeder Hinweis auf eine allfällige Verpflichtung des Staates zu dieser ohnehin nur zeitlich begrenzten Hilfsmaßnahme zu vermeiden sei- ein Ansinnen, dem sämtliche übrigen Mitglieder des Ministerrats vorbehaltlos zustimmten.

3. Die 1. Regierungsvorlage; die Beratungen im Gewerbeausschuß des Abgeordnetenhauses Da Minister Prazak vom Ministerrat mit der Einbringung der Vorlage im Reichsrat betraut wurde, fiel Steinbach auch die Aufgabe zu, den a. u. Vortrag an den Monarchen zu entwerfen. Dieser Entwurf292 verschafft einen guten Einblick in Steinbachs Einstellung zu den Grundfragen der Sozialversicherung sowie auch in das Verhältnis zu den deutschen Vorbildern; in leicht abgeänderter und geglätteter Form gingen Steinbachs Bemerkungen später hauptsächlich in den "Besonderen Theil" der "Erläuternden Bemerkungen" zur Regierungsvorlage ein. Hinsichtlich des Kreises der Versicherungspflichtigen ließ Steinbach deutlich erkennen, daß ihm die Haltung der deutschen Entwürfe- also die grundsätzliche Einbeziehung der Bergarbeiter - richtiger erschien und er den Widerstand des Ackerbauministers nicht für gerechtfertigt hielt. Hingegen verteidigte er den im Anschluß an die beiden ersten deutschen Entwürfe vorgenommenen grundsätzlichen Ausschluß der Arbeiter des Kleingewerbes, und zwar aus drei Gründen: a) wegen der 291 Vgl. die (freilich auch von politischen Ressentiments mitbestimmte) Kritik Czediks, Geschichte, I, S. 358. 292 A VA, JM, Karton 1448, Nr. 3 (Beilage zum Amtsvortrag vom 19. 4. 1883).

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im Verhältnis zur Industrie geringeren Gefahren der Berufsausübung, b) wegen der schwierigen technischen Durchführung, insbes. im Hinblick auf das gänzliche Fehlen statistischer Unterlagen, c) weil mit einer Einbeziehung der kleingewerblichen Arbeiter eine zu große Belastung der Kleingewerbetreibenden verbunden wäre. Aus ähnlich,en Gründen lehnte Steinbach auch die Einbeziehung der Landarbeiter ab, wobei er noch als zusätzliches Argument die in diesem Bereich feststellbare Häufigkeit von Gelegenheitsarbeitern anführte. Die Nichteinbeziehung der bei Eisenbahnen und in der Schiffahrt Beschäftigten begründete Steinbach hauptsächlich mit der durch das Gesetz aus 1869 (B/1, III 1 u. ö.) eingeführten verschuldensunabhängigen Unternehmerhaftpflicht. Hinsichtlich des Leistungsschemas lehnte sich Steinbach zur Gänze an das deutsche Vorbild an; im Gegensatz zu den beiden deutschen Entwürfen waren allerdings in den Österreichischen Entwürfen ab dem E II die Kosten des Heilverfahrens unter den zu gewährenden Leistungen nicht mehr angeführt. Im Gegensatz zu den deutschen Entwürfen, die eine Karenzzeit (also die Höchstdauer der den Krankenkassen obliegenden Leistungspflicht bei Unfallverletzungen) von 13 Wochen vorsahen, betrug die Karenzzeit in den Österreichischen Entwürfen ab dem E II lediglich 4 Wochen, was - wie Steinbach selbst erklärte - mit dem Fehlen einer obligatorischen Krankenversicherung zusammenhing293. Am interessantesten ist vielleicht die stark ablehnende Haltung gegenüber der Idee eines Staatszuschusses. Nach Meinung Steinbachs sprachen gegen den Staatszuschuß nicht nur die ungünstige Finanzlage des Staates294, sondern auch andere "schwerwiegende Bedenken", weshalb "auf diesem Puncte die schwächste Stelle der deutschen Entwürfe zu liegen scheine"; denn es sei nicht gerechtfertigt, i. S. der deutschen Entwürfe295 für die durch die Gefahren eines "besonderen Berufes" herbeigeführten Unfälle die Mittel der Gesamtheit, des Staates, in Anspruch zu nehmen. Bei der "allgemeinen Altersversorgung" würde die Frage möglicherweise anders zu beurteilen sein, doch wäre es hier wohl eher 293 Bis zur Dauer von 4 Wochen hatte der Unternehmer die Behandlungskosten zu tragen. Näheres unten Anm. 312! 294 Mit Ausnahme von 1886 (leichter Überschuß) wiesen die Budgets der achtziger Jahre stets Defizite in Höhe von 10 bis 15 Mill. Gulden auf; erst seit 1889 folgte (infolge der rigorosen Sparpolitik Dunajewskis und später Steinbachs) eine längere Reihe von Überschußjahren: Czedik, Geschichte, I, S. 330; s. auch die Tabelle bei Matis, Österreichs Wirtschaft, S. 55. 295 Vgl. oben B/3, III; im deutschen UVG war dann freilich kein StaatszuschuB (sondern lediglich eine Staatsgarantie für die Leistungsfähigkeit der Unfallversicherungsträger) mehr vorgesehen.

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angebracht, an Stelle des Staates die schon bislang zur Armenversorgung verpflichteten Gemeinden heranzuziehen. Was die Aufbringung der Mittel betreffe, so sei - abgesehen vom Staatszuschuß - den beiden deutschen Entwürfen insoweit zu folgen, als diese auch die Arbeitnehmer, wenn auch in deutlich geringerem Umfang als die Arbeitgeber, zu Beiträgen verpflichten. Das gegen den Arbeitnehmerbeitrag häufig ins Treffen geführte Argument, daß auch diesen der Arbeitgeber wirtschaftlich tragen müsse, da sich die Löhne nach dem Existenzminimum orientierten, hielt Steinbach nicht für überzeugend. Ihm schien hier vielmehr das "moralische Argument" entscheidend, demzufolge sich der Arbeiter bei Mitzahlung "an dem Schicksale des Instituts mitbetheiligt und durch die Ausbeutung desselben von Seiten gewissenloser Ansprecher mitgeschädigt" fühlten. Demnach sah der Österreichische E II, § 19, auch einen Arbeitnehmerbeitrag für Arbeiter mit einem Tagesverdienst von über 1 fl. in Höhe von 25 Ofo vor (ansonsten: 0). Der 2. deutsche Entwurf (§ 7) 2~ bestimmte den Arbeitnehmerbeitrag einheitlich mit 15 °/o. Hinsichtlich der beabsichtigten Organisation der Versicherungsanstalten schilderte Steinbach einfach die territoriale Struktur, ohne auf den Gegensatz zum deutschen Gesetz näher einzugehen. Kurz erwähnte Steinbach noch die gegenüber E I neue Einrichtung des Versicherungsbeirates (§ 49). Zur Frage der Versicherungstechnik wurde lediglich kurz erwähnt, es sei den Einwänden Rechnung getragen worden, welche "gegen den letzten dem Deutschen Reichstage vorgelegten Entwurf eines Unfallversicherungsgesetzes mit Recht erhoben" wurde297• Im Gegensatz zu den deutschen Entwürfen standen die Österreichischen von Anfang an auf dem Boden des sog. Kapitaldeckungsverfahrens, ohne daß über diesen Punkt Zweifel geäußert wurden; erst in den parlamentarischen Beratungen kam es zu lebhaften Konfrontationen der Regierungsvertreter mit Verfechtern des Umlageverfahrens, worüber später298 zu berichten sein wird. Prazäk konnte dem Auftrag zur Einbringung der Vorlage zunächst nicht nachkommen, da der Kaiser (Franz J osef I.) die hiefür erforderliche a . h . Ermächtigung verweigerte299• Die Vermutung, daß MinisterZum ersten deutschen Entwurf s. oben den Text bei Anm. 256. Wie Zöllner in diesem Sammelwerk, Anm. 75, anführt, trat zwar die Beamtenschaft für das Kapitaldeckungsverfahren ein, Bismarck lehnte dieses wegen der hiemit verbundenen abrupten Mehrbelastung der Wirtschaft jedoch ab. 298 Sowohl die Minorität als auch die Majorität des Gewerbeausschusses traten freilich mehrheitlich für das Kapitaldeckungsverfahren ein. Vgl. StProtAH, 10. Sess., S. 2485 ff. 299 Mit Note des Ministerpräsidenten vom 12. 9. 1883 (AVA, JM, 1448, Nr. 4) stellte Taaffe Prazäk den a. u. Vortrag vom 19. 4. und den Kabinettsakt mit der Bitte um "neuerliche Erwägung" und Einbringung der Vorlage im Reichs296

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präsident Taaffe den ihm persönlich nahestehenden300 Monarchen zu dieser Haltung veranlaßte oder ihn hierin zumindest bestärkte, dürfte nicht unangebracht sein, läßt sich jedoch nicht durch Beweise erhärten. Jedenfalls mußte sich der Ministerrat am 19. Oktober 1883301 neuerlich mit der "Frage der Einbeziehung der Berg- und Salinen-Arbeiter in den Gesetzentwurf betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter" befassen. Obwohl von seiten der Verteidiger der Einbeziehung3'02 der Kompromißvorschlag unterbreitet wurde, die bei völliger Erwerbsunfähigkeit zustehende Maximalrente von 70 auf 60 °/o des bisherigen Arbeitsverdienstes zu senken, trat Falkenhayn zunächst neuerlich für die Ausscheidung der Berg- und Salinenarbeiter aus der jetzigen Vorlage und für die spätere Regelung einer allgemeinen (auch das Unfallrisiko umfassenden) Invaliditätsversicherung aller Arbeiter ein. Der dem Ministerrat bei dieser Sitzung beigezogene Regierungsrat im Innenministerium und damals profilierteste Österreichische Versicherungsmathematiker, Julius Kaan303, teilte mit, daß die mit einer 60prozentigen Rente bei völliger Erwerbsunfähigkeit gegenüber dem bisherigen Leistungsschema der Bruderladen verbundenen Mehrzahlungen weniger als ein halbes Lohnprozent betragen würden. Als rettende Lösung erwies sich schließlich der (von Steinbach gemachte?) Hinweis auf eine "Bestimmung des (am 15. Juni 1883 erlassenen) deutschen Gesetzes über die Krankenversicherung der Arbeiter", wonach die bei hinreichend leistungsfähigen Knappschaftskassen Versicherten nicht der Krankenversicherungspflicht unterlagen(§ 74). Die Zusicherung, daß eine analoge Bestimmung in das Österreichische Unfallversicherungsgesetz aufgenommen werde, bewog Falkenhayn schließlich zum Einlenken. Schon am darauffolgenden Tag nahm der Ministerrat den von Steinbach vor allem in drei Punkten (Einbeziehung rat zurück. In der Note heißt es weiter: "Den Anlaß zu dieser A. h. angeordneten Erwägung der Angelegenheit . . . gab ... die Ausschließung der Bergarbeiter .. .'' soo Vgl. bereits oben Anm. 213. 801 AVA, MRP 1883, Karton 19, Nrr. 61 u. 62. 302 Die Stelle, an der deren Namen vermutlich angeführt waren, ist weggebrannt; vermutlich waren es Prazak und Steinbach. 303 Vgl. dessen schon 1869 erschienene Schrift: Zur Reform und Neugründung von Invaliden- und Witwenprovisions-Cassen; dann ders., Zur Beurtheilung des Österreichischen Gesetzentwurfes betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter vom Standpunkte der Theorie und Praxis des Versicherungswesens, 1884; ferner den Bericht ... über die im Auftrage des Ackerbauministers vorgenommenen Berechnungen, betreffend die österr. Bruderladen, 1885 (hiezu unten den Text!). 35 Sozialversicherung

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der Bergarbeiter304 und Regelung des Verhältnisses der Bruderladen zu den Unfallversicherungsanstalten; Senkung des für die Versicherungspflicht maßgeblichen Maximalverdienstes; Senkung der Rentenhöhe bei vollständiger Erwerbsunfähigkeit von 70 auf 60 °/o) geänderten Entwurf (E III) an. Prazäk erbat nunmehr neuerlich die a. h. Ermächtigung zur Einbringung des Entwurfs als Regierungsvorlage und erlangte diese am 10. November 1883. Am 7. Dezember 1883395 wurde diese erste Regierungsvorlage306 zum Unfallversicherungsgesetz im Abgeordnetenhaus eingebracht und nach einer ersten Konfrontation zwischen dem liberalen Abgeordneten Neuwirth und Steinbach als Regierungsvertreter im Zuge der Ersten Lesung am 7. Dezember 1883397 dem Gewerbeausschuß (Obmann: Franz v. Zallinger-Stillendorf; Berichterstatter: Prinz Alois Liechtenstein) zugewiesen, welcher seinen Bericht wegen des inzwischen eingetretenen Sessionsschlusses erst am 24. Februar 1885308 vorlegte. Der Gewerbeausschuß erklärte sich (mehrheitlich) in allen Prinzipienfragen mit der Regierungsvorlage als einverstanden und begrüßte es ausdrücklich, daß die Regierung "sich hiebei durch die Vorgänge im Deutschen Reiche399, wo schließlich die Unfallversicherung auf berufsgenossenschaftlicher Grundlage auferbaut (sie!) werden soll, nicht irre machen" ließ. Als erstes dieser Prinzipien nannte der Bericht "die Gegenseitigkeit" der Versicherung, unter "Ausschluß der Privatversicherungsanstalten einerseits und der staatlichen Hilfe andererseits". Die Heranziehung staatlicher Hilfe, selbst in der vom 3. deutschen Entwurf (und späteren Gesetz) vorgesehenen schwächsten Form der 804 Vgl. insbes. die §§ 1 und 2, sodann aber auch die ganz neue - Bestimmung des § 13, wonach Bergwerksbetriebe zur Gewinnung vorbehaltener Mineralien in die territorialen Unfallversicherungsanstalten nicht einzubeziehen waren. Unterschritten jedoch die Leistungen der Bruderladen das durch das UVG vorgesehene Maß und leisteten die Betriebsunternehmer nicht mindestens gleich hohe Beiträge zur Bruderlade, so mußten die Leistungen bzw. Beiträge spätestens nach Ablauf eines Jahres ab Wirksamkeit dieses Gesetzes "auf die bezeichneten Minimalbeträge erhöht werden". sos StProtAH, 9. Sess., S. 10951. 806 5tProtAH, 9. Sess., Beil. Nr. 783; s. bereits oben Anm. 245. 807 Neuwirth bemängelte vor allem den in der Regierungsvorlage vorgesehenen Arbeitnehmerbeitrag, worauf Steinbach den ethischen Aspekt der Mitverantwortung der Versicherten ins Treffen führte; StProtAH, 9. Sess., S. 10971 ff.; Kolmer, Parlament und Verfassung, III, S. 374. 308 StProtAH, 9. Sess., Beil. Nr. 1091; unverändert StProtAH, 10. Sess., Beil. Nr. 75. 30 9 Vgl. oben B/3, III. Der Gewerbeausschuß hatte offenbar bereits den dritten Entwurf zum deutschen UVG vor Augen, der das berufsgenossenschaftliche Prinzip in extremer Weise verwirklichte, während der zweite Entwurf als Alternative immerhin noch die - einen Kompromiß zwischen dem berufsgenossenschaftliehen und dem Territorialprinzip bildenden- Berufsverbände gekannt hatte.

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Staatsgarantie lehnte der Bericht energisch "als eine communistische Maßregel" ab. Das Prinzip der territorialen Organisation (2.) hielt der Gewerbeausschuß für vorteilhaft, weil es sich an das bewährte System der Privatversicherungsanstalten anschloß; an Stelle der Handelskammerbezirke schlug der Ausschuß jedoch die Kronländer, da diese "nicht bloß historisch, sondern zumeist auch wirtschaftlich Einheiten vorstellen", als Sprengel vor, wobei überdies hinsichtlich der Abgrenzung der Sprengel der Regierung ein möglichst großer Spielraum eingeräumt werden sollte310• Überdies sah der Ausschuß (in dem neu hinzugefügten § 60) die Möglichkeit fakultativer Bildung von Berufsgenossenschaften als Träger (zunächst) der Unfallversicherung vor. Dem Kapitaldeckungsverfahren gab der Ausschuß den Vorzug vor dem Umlageverfahren, da das letztere eine "unsolide Borgwirtschaft" mit sich bringe (3. Grundsatz). Auch die Teilnahme der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowohl an den Rechten als auch an den Pflichten (4. Grundsatz), die aus der Unfallversicherung entspringen, erschien dem Ausschuß gerechtfertigt; hinsichtlich des Arbeitnehmerbeitrages betonte er das erzieherische Moment. In Abweichung von der Vorlage bestimmte der Ausschuß den Arbeitnehmerbeitrag einheitlich mit 10 °/o des Gesamtbeitrages, um die Spaltung der Arbeiterschaft in zwei Kategorien zu unterbinden. Der Ausschuß legte in diesem Zusammenhang übrigens auch Zahlen vor, aus denen ersichtlich war, daß etwa für Maschinenfabriken (später in Gefahrenklasse VII = mittleres Gefahrenprozent: 31) der erforderliche Einzahlungssatz 2.28 °/o des Lohnes betragen würde; der Arbeitnehmer hatte demnach von einem Wochenlohn von 9 fl. als Beitrag zur Unfallversicherung 2 kr. zu entrichten; der Arbeiter einer Papierfabrik von 6 fl.. Wochenlohn 1 kr. Richtig erschien dem Ausschuß auch die gegenüber dem deutschen Vorbild auf 4 Wochen gekürzte Karenzzeit, da hiedurch die Kosten der künftigen Krankenversicherung, zu der die Arbeiter wahrscheinlich 2/3 der Beitragsleistungen zu erbringen hätten, geringer gehalten würden. 810 In Anbetracht des Umstandes, daß vor allem die großen Kronländer (wie insbes. Böhmen) in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht höchst uneinheitlich strukturiert waren, muß die sachliche Berechtigung dieser Argumentation bezweifelt werden. Die allfälligen Nachteile einer auf die Kronländer abstellenden Organisationsstruktur wurden freilich dadurch weitgehend vermieden, daß die Regierung von der Ermächtigung zur Zusammenfassung mehrerer Kronländer zu einem Sprengel ausgiebig Gebrauch machte (§ 10 RV bzw. des Ausschußantrags).

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Auch den Grundsatz der Beschränkung der Versicherung "auf den Kreis jener Arbeiter, welche dem Großbetriebe angehören und Gefahren ausgesetzt sind, die aus der Verwendung von Kraftmaschinen entstehen", erklärte der Ausschuß für billigenswert. Zwar sei die weitere Ausdehnung des Kreises der Versicherungspflichtigen "lediglich eine Frage der Zeit", in der gegenwärtigen Situation aber müsse- im Einklang mit den deutschen Entwürfen - restriktiv vorgegangen werden, und zwar zum einen wegen der Neuheit der Materie, zum anderen, weil ein allzuweites Ausgreifen wieder zu der "Gemeindearmenversorgung zurückführen würde, deren schlecht vertheilte Last ohnehin unerschwinglich geworden ist". Der Bericht schließt mit einer Resolution an die Regierung, in der diese aufgefordert wird, eine - bis dahin in Österreich nicht vorhandene - Unfallstatistik zu erstellen und zu diesem Zweck hinsichtlich der Anzeigepflicht von Betriebsunfällen das Nötige zu veranlassen. Auch die liberale Minorität des Gewerbeausschusses legte am 24. Februar 1885 einen von Josef Neuwirth verfaßten Bericht311 vor, der den Majoritätsbericht an Umfang und teilweise auch an Gründlichkeit übertrifft. Wichtiger als diese formalen Vorzüge ist aber der Umstand, daß sich die Österreichischen Liberalen - im Gegensatz zu der destruktiven Kampagne der Fortschrittspartei im Deutschen Reichstag - ja schon Ende 1882 offen und eindeutig zum Gedanken der Pflichtversicherung mit Selbstverwaltung der Versicherungsträger unter staatlicher Aufsicht bekannt hatten (vgl. B/3, II) und diesen Standpunkt nunmehr neuerlich bekräftigten; auch die Ablehnung des Staatszuschusses fand verständlicherweise bei den Liberalen vorbehaltlos Zustimmung. Kritisiert wurde hingegen die Vorwegbehandlung der Unfallversicherung vor der Krankenversicherung, zumal diese für die Dauer der Karenzzeit eine Sonderbelastung der Unternehmer mit sich brächte312• Dazu sei freilich gleich bemerkt, daß der Unfallversicherung wegen ihres historischen Zusammenhangs mit der Haftpflichtgesetzgebung sowohl in Deutschland als auch in Österreich die Rolle des politischen Bahnbrechers zukommen mußte und auch zukam, da sich die Beitragspflicht hier als ein Äquivalent für die Unternehmerhaftpflicht begründen ließ. Der von der Minorität als Argument gebrauchte Umstand, daß in Deutschland die Unfallversicherung in der letzten Phase des Gesetzwerdungsprozesses von der Krankenversicherung "überholt" worden Vgl. oben Anm. 308. Gern. § 8 RV bzw. des Ausschußantrags hatte für die Heilungs- und Verpflegungskosten während der ersten vier Wochen nach Eintritt des Unfalls, "wenn hiefür nicht durch die rechtzeitig getroffene Fürsorge der Gemeinde oder durch bestehende Krankenkassen schon vorgesehen und wenn der Verletzte arm ist", der Unternehmer aufzukommen. 311

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war, lag an anderen Ursachen (insbes. Widerstand des Zentrums gegen • den Staatszusclluß: s. oben B/3, III) und widerlegte nicht die "Bahnbrecherrolle" der Unfallversicherung; vom systematischen Standpunkt her betrachtet wäre es freilich in der Tat besser gewesen, die Krankenversicherung vorzuziehen. Kritik übte die Minorität ferner an dem ihrer Ansicht nach zu eng bemessenen Kreis der Versicherungspflichtigen. Unter Hinweis auf die dem Deutschen Reichstag vorgelegten statistischen Daten wurde vor allem die Nichteinbeziehung der nicht beim Maschinenbetrieb eingesetzten land- und forstwirtschaftliehen Arbeiter kritisiert und festgestellt, daß ein Gesetz, das von den insgesamt 7 Millionen Arbeitern der zisleithanischen Reichshälfte nur etwa 1 Million in die Versicherung einbeziehe, nicht als ein Mittel "socialer Versöhnung" gelten könne. Recht deutlich wurde auch der Verdacht ausgesprochen, daß bei der Bestimmung des Versichertenkreises weniger sachliche Kriterien maßgebend gewesen seien, sondern vielmehr der politische Wunsch, die Großindustrie im Vergleich zum (Klein)gewerbe und Bauernstand unverhältnismäßig stark zu belastenata, Hinsichtlich der Organisation der Versicherungsträger gab die Minorität dem seit dem zweiten Entwurf zum Unfallversicherungsgesetz (vgl. oben B/3, III) in Deutschland angenommenen Modell der Berufsgenossenschaften als Versicherungsträger den Vorzug, wobei hiefür einerseits die Vorliebe der Liberalen für den Genossenschaftsgedanken, andererseits ihre Abneigung gegen die von der Ausschußmajorität unterstützten föderalistischen Tendenzen maßgeblich gewesen sein dürften; die bloß fakultative Bildung von Berufsgenossenschaften i. S. des Majoritätsvotums erschien der Minorität als zu wenig effektiv. Den Arbeitnehmerbeitrag lehnte die Minorität (nur)314 für die Unfallversicherung ab - ohne jedoch gleichzeitig die Schmälerung der den Arbeitern eingeräumten Mitspracherechte zu verlangen-, da diese das Äquivalent für die durch die Gefährlichkeit des Betriebes an sich gerechtfertigte Unternehmerhaftpflicht bilde. Gleichsam als Ausgleich zu diesem Vorschlag trat die Minorität unter Berufung auf deutsches statistisches MateriaP15 für eine Verlängerung der Karenzzeit von vier auf sechs Wochen ein. 313 In der Tat wird man hierin zwar nicht eine Primärabsicht, wohl aber einen der Regierung Taaffe nicht unwillkommenen Nebenaspekt der Arbeiterversicherungsgesetze der achtziger Jahre erblicken müssen. 314 Ausdrücklich wird die Mittragung der Beitragslast durch den Versicherten dagegen für eine (allfällige) Kranken-, Invaliden- und Altersversorgung bejaht (S. 112)., 315 Dem Minoritätsbericht ist (S. 119) eine die Ergebnisse der deutschen Reichsunfallstatistik wiedergebende graphische Darstellung angeschlossen,

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Unter den von der Minorität i. S. obiger Ausführun~en gestellten Anträgen ist vor allem die vorgeschlagene Neufassung des § 10 bemerkenswert, die gedanklich einerseits an die gewerblichen Genossenschaften der Gewerbeordnung 1859/1883 anknüpft316, andererseits an den ca. 1 Jahr zuvor dem Deutschen Reichstag vorgelegten 3. deutschen Entwurf zum Unfallversicherungsgesetz (insbes. §§ 9, 12 -15): "Die Unfallversicherung erfolgt durch besondere, auf dem Grundsatze der Gegenseitigkeit beruhende Berufsgenossenschaften, in welche die Unternehmer der wirtschaftlich zusammengehörenden oder verwandten Gewerbebetriebe vereinigt werden. Bei Bildung dieser Berufsgenossenschaften ist als oberster Grundsatz festzuhalten, daß in jeder derselben sowohl die Zahl der versicherungspflichtigen Betriebe als auch die Zahl der zu versichernden Arbeiter ausreichend groß sei, um die Erfüllung der der Genossenschaft obliegenden Pflichten zu sichern und die assecuranzmäßige Leistungsfähigkeit derselben in dauernder Weise zu gewährleisten. In der Regel erfolgt die Bildung der Berufsgenossenschaften auf dem Weg der freien Vereinbarung der Berufsgenossen unter Zustimmung des Ministers des Innern. Bei denjenigen Betrieben, für welche binnen festzusetzender Frist die Bildung von Berufsgenossenschaften auf dem Wege freier Vereinbarung nicht l!'lUStande kommt, erfolgt dieselbe durch den Minister des Innern nach Anhörung der Handels- und Gewerbekammern. Bei Industriegruppen von besonders großem Umfange kann eine Theilung der versicherungspflichtigen Betriebe in territorial abgegrenzte Berufsgenossenschaften, welche sich für bestimmte Zwecke zu einem Verbande vereinigen können, platzgreifen. Hiefür bedarf es der Zustimmung des Ministers des Innern." Wegen des neuerlichen Sessionsschlusses konnte eine Beratung des Entwurfes des Unfallversicherungsgesetzes im Plenum des Abgeordnetenhauses nicht mehr erfolgen.

4. Stellungnahmen aus Wirtschaftskreisen In der Folgezeit wurde der Entwurf in Wirtschaftskreisen zum Gegenstand eingehender Beratungen gemacht, deren Ergebnisse Steinbach teils durch das Innen-, teils durch das Handelsministerium zur Kenntnis der zu entnehmen ist, daß erst nach 6 Wochen Krankheitsdauer sich die Zahl der infolge von Unfällen dauernd Erwerbsunfähigen klar herauskristallisiert (zu nahezu 100 Dfo allerdings erst nach 13 Wochen!). 318 Vgl. oben B/3, II 3.

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gebracht wurden. Auch über den Fortgang der deutschen Sozialgesetzgebung wurden Steinbach durch offizielle Stellen laufend Meldungen zugetr·agen; freilich verfügte dieser meist ohnehin über eingehende private Informationen. Die zu Steinbach gelangten Stellungnahmen317, nämlich insbes. die "Denkschrift der sämentlichen montanistischen Vereine Österreichs über das Unfallversicherungsgesetz", über die später zu berichten sein wird, ferner die Stellungnahmen der Grazer, der schlesischen, der Leobener, der kärntnerischen und der Budweiser Handels- und Gewerbekammer sprachen sich allesamt zwar für das Modell der Pflichtversicherung au!', nahmen aber in den Einzelfragen zu dem Entwurf eine kritische Haltung ein. Teilweise sind hier bereits die Einwände anzutreffen, die später im Minoritätsbericht dargelegt wurden, aber auch andere, von durchsichtiger Interessenwahrung der Industrie geleitete (etwa Kritik an der angeblich zu großzügigen Rentenbemessung, an der Witwenrente etc.), die der fachlich hochstehende und von sozialem Engagement erfüllte Minoritätsbericht offenbar bewußt nicht übernahm. Am gründlichsten befaßte sich die Reichenherger Handels- und Gewerbekammer (in ihrer Sitzung vom 23. April 1884) mit dem Entwurf, wobei sie sich auf ein Gutachten des Dr. Gustav Schneider aus Teplitz stützte318• In diesem Gutachten wird in allen wesentlichen Punkten für die Übernahme des deutschen dritten Entwurfs eingetreten, also insbes. für die Berufsgenossenschaften als Versicherungsträger, das U mlageverfahren, ein Reichsversicherungsamt als Rekurs- und oberste Aufsichtsbehörde, die Befreiung der Arbeiter von jeder Beitragspflicht usw.

5. N eukonstituierung des Reichsrates; J. M. Baernreither Der am 22. September 1885 neu zusammengetretene Reichsrat war durch eine weitere Machtverschiebung von der "Verfassungspartei" zur Rechten geprägt319 ; im Herrenhaus hatte eine Reihe von "Pairsschüben" eine zusätzliche Stärkung der "Rechten" gebracht320, im Abgeordnetenhaus vor allem die erstmalige Zulassung der "Fünfguldenmänner" zum 317 AVA, JM, Karton 1448, Nrr. 7ff.; zur "Denkschrift" verfaßte Julius Kaan einen mit 7. 4. 1884 datierten Bericht, in dem er vor allem den Einwand, die Gestellungskosten der Bergwerksprodukte würden sich infolge der höheren Beitragsleistungen um 6,5 bis 7 Ofo erhöhen, widerlegte (nach Kaan nur um 0,7 bis 0,9 Ofo). Der 1885 im Druck erschienene Bericht (vgl. Anm. 303) baut teilweise auf diesen Ausführungen auf. s1s Im Druck erschienen unter dem Titel "Die Unfallversicherung der Arbeiter und die Bruderladen" (Separatabdruck aus der Osterr. Zeitschrüt für Berg- und Hüttenwesen, 32. Jg.), 1884. 818 Kolmer, Parlament und Verfassung, IV, S. 1 ff. 320 Ebenda, S. 5.

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aktiven und passiven Wahlrecht321• Viele prominente Mitglieder der liberalen "Verfassungspartei" mußten aus dem Parlament ausscheiden; zu Beginn dieser (10.) Reichsratssession trat aber zugleich ein liberaler Abgeordneter in das Parlament ein, der bald zum führenden Sozialpolitiker nicht nur seiner Partei, sondern der Schlußphase der Habsburgermonarchie überhaupt aufsteigen sollte, nämlich Joseph Maria Baernreither322. 1845 in Prag geboren; nachdem er ebenda sein juristisches Studium sowie den Beginn seiner Richterlaufbahn absolviert hatte, wurde Baernreither 1874 zum Kreisgerichtsadjunkten in Reichenberg ernannt, wo er die Lebens- und Arbeitsbedingungen der deutsch-böhmischen Textilarbeiter kennenlernte. 1875 wurde Baernreither für legistische Arbeiten auf dem Gebiete des Zivilprozesses in das Wiener Justizministerium berufen, wo er zu Emil Steinbach in ein enges kollegiales Verhältnis trat323• 1878 wurde Baernreither als Mitglied der Großgrundbesitzerkurie in den böhmischen Landtag, 1885 als Vertreter des verfassungstreuen Großgrundbesitzes in das Abgeordnetenhaus des Reichsrates gewählt324. Von 1880 an befaßte sich Baernreither intensiv mit der englischen Wirtschafts- und Sozialentwicklung, wobei der deutsche "Kathedersozialist" Lujo Brentano sowie der christlichsoziale englische Sozialpolitiker John Maleolm Ludlow ihm hiezu wertvolle Anregungen gaben32s.

Im Anschluß an Überlegungen Brentanos versuchte Baernreither die Gründe für den relativ geringen Rückhall, den die Marxschen Lehren zu jener Zeit in England gefunden hatten, darzulegen~. In seiner umfangreichen Schrift über "die englischen Arbeiterverbände und ihr Recht", Tübingen 1886, schilderte Baernreither Wesen und Entwicklung der englischen "friendly societies", der genossenschaftlichen, freiwilligen Zusammenschlüsse der Arbeiter mit dem Ziel praktischer Selbsthilfe, insbes. auch auf dem Gebiet des Kassenwesens. Große Bedeutung kam nach Meinung Baernreithers im Zusammenhang mit dem Aufstieg der friendly societies vor allem dem Moment der Freiwilligkeit sowie dem genossenschaftlichen Element zu: 321 Gesetz vom 4. 10. 1882, RGBl. Nr. 142; vgl. auch bereits oben B/1, I 5, bei Anm. 70. 322 über ihn zuletzt Harald Bachmann, Joseph Maria Baernreither (18451925), 1977, mit eingehender Literaturübersicht auf S. 13. 323 Ebenda, S. 16. 324 Baernreither war Eigentümer des Gutes Lünz/Westböhmen, auf welchem er im Sommer 1894 mit Franz Klein die entscheidenden Vorbereitungen der Vorlagen für den mit der Beratung der Justizgesetze betrauten Permanenzausschuß traf (Bachmann, S. 40 f.). a2s Bachmann, Baernreither, S. 17 f. 328 Baernreither, Arbeiterverbände, S. 18.

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"Die Wirkung, welche die F. S. als freie Genossenschaften in dieser Hinsicht ausüben, kann nicht hoch genug angeschlagen werden. Sie verrichten große Werke der Erziehung, sie erweitern die Kenntnisse der Arbeiter, sie lehren Sparsamkeit und Voraussicht, sie erhöhen das Pflichtgefühl des Einzelnen gegen sich und seine Familie. Sie erhöhen aber auch die Kohäsion des Arbeiterstandes und verbinden die einzelnen an- und für sich macht- und einflußlosen Elemente zu einer socialen Kraft, indem sie einen Bund brüderlicher Unterstützung stiften327." Die in England gemachten Erfahrungen waren offenbar das auslösende Moment für Baernreithers spätere Bemühungen, dem Hilfskassenwesen in Österreich eine zeitgemäße gesetzliche Grundlage zu geben; wie aber schon die Beratungen zum Unfallversicherungsgesetz zeigen, war Baernreither Realist genug, um zu erkennen, daß das freiwillige Kassenwesen in Österreich nur als ein in das System der Sozialversicherung integriertes, nicht jedoch als schlechthin alternatives Element der Risikenvorsorge in Betracht kommen konnte32 B.

6. Die 2. Regierungsvorlage und deren parlamentarische Behandlung In der Thronrede vom 26. September 1885:ln wurden die Gesetzgebungsprojekte auf dem Sektor der Sozialversicherung nur kurz erwähnt: "Ich hoffe", heißt es in der Thronrede, "daß zunächst die Vorlagen Meiner R€gierung, betreffend die Versicherung zahlreicher arbeitender Klassen gegen Unfälle und Krankheiten, dann die Regelung der Verhältnisse der B~uderladen Ihre Zustimmung finden werden." Auch aus der Sicht der Unfallversicherung bemerkenswert ist der Hinweis auf den Plan einer baldigen Reform der Bruderladen, womit die mit großen Schwierigkeiten verbundene Einbeziehung der Bergleute in die allgemeine Unfallversicherung sich erübrigt zu haben schien. Ende November 1885330 fanden im Innenministerium interministerielle Beratungen bezüglich der neuerlichen Vorlage des Entwurfes Ebenda, S. 448. Vgl. hiezu Baernreithers Vorstellungen im Zusammenhang mit dem sog. Hilfskassengesetz unten B/3, VI. 129 StProtAH, 10. Sess., Beil. Nr. 1; Kolmer, Parlament und Verfassung, IV, S. 6ff. 830 Vgl. hiezu das Schreiben Taaffes an Prazak mit Einladung Steinbachs zur ersten Sitzung am 25. 11. 1885: AVA, JM, Karton 1448, Nr. 25. 827

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2lum Unfallversicherungsgesetz statt. Am 19. und 21. Jänner 1886331 beriet der Ministerrat über die Einbringung der Vorlage; kurz darauf wurde vom Monarchen die a. h. Ermächtigung erbeten und am 26. Jänner 1886 erteilt. Aus dem a. u. Vortrag wird die von der Regierung verfolgte Tendenz deutlich, den Anträgen des Gewerbeausschusses im Interesse einer baldigen Verabschiedung des Gesetzes so weit wie möglich nachzugeben: So wurde beispielsweise die Normierung eines von allen Arbeitern ohne Rücksicht auf ihren Verdienst zu leistenden und gleichzeitig verminderten Beitrags akzeptiert, ferner auch die Zulassung freiwilliger Berufsgenossenschaften als Alternative zu den territorial organisierten Versicherungsträgern. Auf neuerlichen Wunsch des Ackerbauministers wurden die Bruderladen aus der allgemeinen Unfallversicherung nun doch wieder ausgeklammert und der gesamte Versicherungsschutz der Bergleute dem geplanten Bruderladengesetz überlassen. Nur in einem Punkt wollte die Regierung nicht nachgeben: Der Gewerbeausschuß hatte nämlich nach dem Vorbild des § 1 des zweiten und dritten deutschen Entwurfs, jeweils letzter Satz, der Verwaltung die Möglichkeit eingeräumt, für Arbeiter der unter § 1 fallenden Betriebe bei "ungefährlicher Tätigkeit" die Versicherungspflicht aufzuheben. Die Bestimmung erschien der Regierung inakzeptabel, und zwar hauptsächlich wegen der hiedurch bei der Ermittlung der Gefahrenklasse der Betriebe zu erwartenden Schwierigkeiten. Am 4. Februar wurde der Entwurf des Unfallversicherungsgesetzes (zugleich mit jenem des Krankenversicherungsgesetzes: s. unten B/3, V) neuerlich im Abgeordnetenhaus eingebracht332 und in der Folge von diesem dem Gewerbeausschuß zur Beratung zugewiesen. Dessen Majorität beschränkte sich diesmal auf die Vornahme bloß technischer Änderungen; die Minorität, der nunmehr auch Baernreither angehörte, wiederholte im wesentlichen ihre schon im vorjährigen Bericht vorgebrachten Einwände; nur der Antrag auf Verlängerung der Karenzzeit wurde fallengelassen; hingegen wurden die Ersetzung der territorialen Organisation durch Berufsgenossenschaften sowie die Streichung des Arbeit131 Vgl. den Amtsvortrag vom 22. 1. 1886 "betreffend die neuerliche Einbringung des Gesetzentwurfs betr. die Unfallversicherung der Arbeiter": AVA, JM, Karton 1448, Nr. 38, sowie die (2.) Regierungsvorlage, Nr. 39. Zur Frage der Einbeziehung der im Bergbau auf vorbehaltene Mineralien beschäftigten Arbeiter ist in dem Amtsvortrag angeführt, diese bleibe "eine offene" und es komme in dem Gesetze nur zum Ausdruck, "daß diese Versicherung durch ein besonderes Gesetz erfolgen soll". Als Grund wird der "dringende Wunsch des Ackerbauministers" genannt, der "die Lösung dieser Frage dem ... Gesetzentwurfe (betreffend die Regelung der Verhältnisse der Bruderladen) vorbehalten sehen möchte." 332 Am 4. 2. 1886 (18. Sitzung); vgl. StProtAH, 10. Sess., S. 548; die Regierungsvorlage (E 5): StProtAH, 10. Sess., Beil. Nr. 75.

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nehmerbeitrages (gegen das Sondervotum Baernreithers) neuerlich gefordert; ferner verlangte ein Resolutionsantrag die Ausdehnung der Unfallversicherung auf die bislang nicht einbezogenen Arbeiter in den gewerblichen sowie in den land- und forstwirtschaftliehen Betrieben333• Die am 20. Mai 1886 eröffnete Generaldebatte334 des Abgeordnetenhauses ist, dies muß an erster Stelle hervorgehoben werden, durch prinzipielle Obereinstimmung aller Abgeordneten hinsichtlich der Kernfrage, nämlich der Notwendigkeit einer Unfallpflichtversicherung der Arbeiter, gekennzeichnet. Im Gegensatz zum Deutschen Reichstag wurde von seiten liberaler Gruppierungen der Grundidee der Sozialversicherung kein Widerstand entgegengesetzt; auch die Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger wurde allseits akzeptiert. Auch die Ausdehnung der Pflichtversicherung auf andere Sparten (Kranken-, Alters- und Invalidenversicherung) wurde im Grunde von allen Gruppen gewünscht, nur bestanden hinsichtlich des Zeitplanes Meinungsverschiedenheiten. Tiefgreifender waren die Differenzen der Standpunkte m . E. in der Frage der Ausdehnung der Versicherungspflicht über den engeren Kreis der Industriearbeiter hinaus. Zwar waren sich die Regierung Taaffe sowie die ihr nahestehenden Sozialpolitiker, Alois Liechtenstein und Emil Steinbach, darüber völlig im klaren, daß schon bald eine Erweiterung des Kreises der Versicherungspflichtigen erforderlich sein werde. Dennoch aber wäre es unrichtig, zu glauben, daß die grundsätzliche Beschränkung auf den Kreis der Industriearbeiter bloß eine vom deutschen Vorbild gedankenlos übernommene Verlegenheitslösung darstellte; vielmehr war der Umstand, daß die Sozialversicherungsgesetzgebung bei den Industriebetrieben ansetzte, auch ideologisch begründet: Die christlichen Sozialreformer waren zutiefst davon überzeugt, daß das Arbeiterelend ebenso wie die Gefährdung des gewerblichen Mittelstandes letztlich auf die Macht und den schädlichen Einfluß des in der Industrie konzentrierten Großkapitals zurückzuführen warSSS; es war daher aus ihrer Sicht nicht nur aus praktischen Gründen, sondern auch um der sozialen Gerechtigkeit willen geboten, mit der Reform hier zu beginnen. Aus ebenso verständlichen Gründen war die liberale Opposition bestrebt, die Beschränkung auf den Kreis der Industriearbeiter als sackwidrig und darüber hinaus als "ungerecht" darzustellen. Vor allem in der Rede des liberalen Führers Ernst v. Plene~ wird deutlich, daß das Bestreben der Liberalen, die Versicherungspflicht auch auf (alle) StProtAH, 10. Sess., Beil. Nr. 148, S. 53. StProtAH, 10. Sess., S. 2485 - 2615 (mit Unterbrechungen). 335 Vgl. oben B/1, I 9. 338 StProtAH, 10. Sess., S. 2808 ff.; über Plener vgl. Czedik, Geschichte, I, S. 310 u. ö.; Charmatz, Österreichs innere Geschichte, II, S. 26 f. 833

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gewerblichen und land- und forstwirtschaftliehen Arbeiter auszudehnen, letztlich auf eine Verteidigung des industriellen Fortschritts gegenüber den kleingewerblichen und agrarischen Gegenströmungen hinauslief. So _erklärte Plener beispielsweise, daß gerade der industrielle Großbetrieb am ehesten in der Lage sei, ausreichende Schutzvorkehrungen zur Unfallverhütung zu treffen, während dies im Kleingewerbe und in der Landwirtschaft kaum der Fall sei. Es ist daher auch kein Zufall, daß gerade ein liberaler Abgeordneter, nämlich Wilhelm Exner337, es war, der auf die Notwendigkeit der Unfallverhütung hinwies und in einem Resolutionsantrag eine Forderung des Unterrichts über Fabrikshygiene und Unfallverhütung durch den Minister für Kultus und Unterricht verlangte; übrigens forderte Wilhelm Exner bereits zum damaligen Zeitpunkt die Gleichbehandlung der Berufskrankheiten mit den Betriebsunfällen. Joseph Maria Baernreither behandelte in seiner Rede vor allem Fragen, in denen er mit der Regierungsvorlage grundsätzlich übereinstimmte. Obwohl er auf Grund seiner Erfahrungen mit den englischen "friendly societies" von den Vorteilen freiwilliger Arbeitnehmerzusammenschlüsse überzeugt war, konzedierte er der Regierung, daß in Anbetracht der andersgearteten Österreichischen Verhältnisse auf den Versicherungszwang nicht verzichtet werden könne. Auch die in der Vorlage vorgesehene (wenn auch schwache) Mitbeteiligung der Arbeiter an der Verwaltung der Versicherungsträger fand in ihm einen energischen Befürworter. Wohl ebenfalls durch seine in England gemachten Erfahrungen bedingt, verteidigte Baernreither auch das von der Regierungsvorlage in Ablehnung des deutschen Umlageverfahrens gewählte Kapitaldeckungsverfahren, für das sich ja auch die Minorität des Gewerbeausschusses ausgesprochen hatte338• In der Generaldebatte hervorgetan hat sich ferner der Schönerianer Heinrich Prade339, der einerseits die Einbringung einer Vorlage betreffend die Invaliden-, Witwen- und Waisenversorgung durch die Regierung beantragte und andererseits kritisierte, daß der Arbeiterstand bei der Beratung des Unfallversicherungsgesetzes im Parlament nicht vertreten sei. Nach Meinung Frades wäre es wünschenswert gewesen, "auch eine Vertretung des Arbeiterstandes, wenn auch vielleicht nur im Wege von Arbeiterkammern (!}zu schaffen, damit wir bei Beratung der verschiedenen Versicherungsgesetze Gelegenheit hätten, die Anschau337

StProtAH, 10. Sess., S. 2557 ff.; über ihn vgl. bereits Ebert, Sozialpolitik,

s. 223 ff. 3 38

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StProtAH, 10. Sess., S. 2505 ff. StProtAH, 10. Sess., S. 2485 ff. (der Antrag: S. 2496; Beil. Nr. 188).

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ungen und Wünsche des vierten Standes durch seine eigenen selbstgewählten Vertreter hier in diesem Hause kennen zu lernen". Der hiemit gegen die Regierung erhobene Vorwurf, die Arbeiterversicherungsgesetze (auch beim Krankenversicherungs- und beim Bruderladengesetz wurden keine Arbeitervertreter beigezogen) über die Köpfe der Hauptbetroffenen hinweg ins Leben gerufen zu haben, ist zweifellos berechtigt. Möglicherweise aber waren die Regierung bzw. die ihr nahestehenden Parlamentarier durch die anläßlich der Enquete zum Normalarbeitstag 340, für die sie vor allem von liberaler Seite herbe Kritik erfahren hatten, gemachten Erfahrungen abgeschreckt, ähnliches nochmals zu versuchen. Die von Prade angeregte Schöpfung von Arbeiterkammern wurde übrigens erst 192()341 verwirklicht. Hinsichtlich der Stellungnahme der- damals schon unter der bedeutenden Führerpersönlichkeit Viktor Adler-342 auf dem Wege der Einigung befindlichen - sozialdemokratischen Arbeiterschaft zum Unfallversicherungsgesetz sind wir demnach auf außerparlamentarische Äußerungen angewiesen, die an späterer Stelle wiedergegeben werden. In der Spezialdebatte brachten die Liberalen neuerlich ihre Forderungen nach Einführung von Berufsgenossenschaften sowie nach Streichung des Arbeitnehmerbeitrages vor, freilich ohne Erfolg.

Am 5. Juni 1886 wurde die Vorlage schließlich in 3. Lesung angenommen und danach dem Herrenhaus zugeleitet, das an dem Entwurf einige bemerkenswerte Detailänderungen vornahm343 : Zum einen wurde der erwerbsunfähige Witwer in den Kreis der Anspruchsberechtigten aufgenommen und die bislang vorgesehene Kürzung der Ansprüche von Hinterbliebenen eines Selbstmörders gestrichen, dann die Möglichkeit direkter Inanspruchnahme des Unternehmers durch den Geschädigten auch bei grober Fahrlässigkeit eingeräumt und schließlich die Beitragspflicht auf jene Arbeitnehmer beschränkt, die mehr als einen Gulden täglichen Arbeitsverdienst bezogen. Damit wären vor allem die Arbeiter in der Land- und Forstwirtschaft344 (soweit sie überhaupt zu den Versicherungspflichtigen zählten) sowie die schlechter bezahlten Arbeiter der Textilindustrie345 u. a. vom Arbeitnehmerbeitrag befreit Ebert, Sozialpolitik, S. 206 ff. Vgl. oben Anm. 124; die Forderung nach Einführung gesetzlicher Berufsvertretungen der Arbeiter wurde auch von der sozialdemokratischen Arbeiterschaft und den christlichen Sozialreformern in ähnlicher Form vertreten. 842 Vgl. bereits oben Anm. 223. 343 StProtHH, 10. Sess., Beil. Nr. 107. 344 Bei diesen lag der mittlere Taglohn etwa bei 50 kr, in manchen Kronländern (Galizien und anderen) noch darunter. 345 Mittlerer Taglohn etwa 80 kr. Mo 341

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gewesen. Das Abgeordnetenhaus stimmte diesen Abänderungen mit Ausnahme der beiden letztgenannten zu346, worauf das Herrenhaus347 seinerseits einlenkte und dem Beschluß des Abgeordnetenhauses beitrat. Da nunmehr übereinstimmende Beschlüsse der beiden Häuser des Reichsrates vorlagen, konnte am 28. Dezember 1887 die a. h. Sanktion erfolgen348 • Das "Gesetz betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter" wurde als Nr. 1 des RGBl. 1888 publiziert und trat gern. § 63, Abs. 1 drei Monate danach in Wirksamkeit. Als Wirksamkeitsbeginn der Unfallversicherung als solch·er wurde aufgrund des § 63, Abs. 2 durch den Innenministez-349 der 1. November 1889 bestimmt. Zum Zwecke der Durchführung des Gesetzes wurden in der Folgezeit insgesamt elf Ministerialverordnungen350 erlassen, von denen die folgenden drei351 hier besondere Erwähnung verdienen: die Ministerialkundmachung vom 22. Jänner 1889, RGBl. Nr. 11, über die territoriale Abgrenzung der Bezirke und die Bestimmung der Sitze der Versicherungsanstalten; die Ministerialkundmachung vom 24. Jänner 1889, RGBl. Nr. 13, mit welcher das Musterstatut für die Unfallversicherungsanstalten veröffentlicht wurde, und schließlich die Ministerialverordnung vom 22. Mai 1889, RGBl. Nr. 76, betreffend die Feststellung der Prozentsätze der Gefahrenklassen und die Einteilung d€r unfallversicherungspflichtigen Betriebe in Gefahrenklassen352 •

7. Die Haltung der sozialdemokratischen Arbeiterschaft Was die Haltung der sozialdemokratischen Arbeiterschaft zum Werdegang des Unfallversicherungsg€setzes betrHft, so ist zunächst auf die schon mehrfach erwähnte Tatsache hinzuweisen, daß die SozialdemoStProtAH, 10. Sess., Beil. Nr. 381. StProtHH, 10. Sess., Beil. Nr. 195. 348 AVA, JM, Karton 1448, Nr. 54. In einem (handschriftlichen) ,.Memoire" schlug Steinbach vor, die ks. Sanktion des UVG bis zur Beendigung der Verhandlungen über das KVG aufzuschieben, jedenfalls aber darauf zu achten, daß ,.die Krankenversicherung nicht später in Wirksamkeit tritt als die Unfallversicherung" (Karenz!).- Prazäk kam dennoch der Aufforderung Taaffes vom 2. 11. 87 nach und suchte um die A. h. Sanktion an (Amtsvortrag v. 22. 12.). 349 Min.VO v. 14. 6. 1889, RGBl. Nr. 95 (über die Gründe des späteren Wirksamwerdens der Unfallversicherung vgl. die vorige Anm.). 350 Aufzählung in ÖStWB I 263 f., Pkt. II, 3. 851 Abgedruckt in: Gesetze und Verordnungen betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter (= österr. Gesetze mit Erläuterungen aus den Materialien 58), hrsg. v. Leo GeHer, 1897, S. 155 ff.; S. 165 ff.; S. 224 ff. (revidierte Fassung). 852 Zu den ursprünglichen Gefahrenklassen (I- XII; 5 -100 Gefahrenprozent) kamen schon wenige Jahre später zwei Unterklassen hinzu (A: 1 und 2; B: 3 und 4 Prozent). 346

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kratie über keine parlamentarische Vertretung verfügte und auch zu einer außerparlamentarischen Formulierung eines einheitlichen Parteistandpunktes nicht in der Lage war, da die Einigung erst 1889 auf dem Hainfelder Parteitag erfolgen konnte353• Nichtsdestoweniger liegen Stellungnahmen vor, die jedenfalls für die ganz überwiegende Mehrheit der sozialdemokratischen Arbeiterschaft als repräsentativ gelten können, zumal diese in dem von Viktor Adler Ende 1886 gegründeten Wochenblatt "Gleichheit", das als publizistisches Organ der Einigungsbewegung gelten kann354, veröffentlicht wurden. Es handelt sich hiebei um eine Resolution des Verbandstages der "Arbeiter-Kranken- und Invaliden-Unterstützungs-Vereine Österreichs"355 (vgl. oben B/2, III), der am 13. und 14. Juni 1886, also kurze Zeit nach Abschluß der Spezialdebatte des Abgeordnetenhauses in Linz stattfand. Der Inhalt der Resolution ist in Nr. 6 der "Gleichheit" vom 29. Jänner 1887, wie folgt, wiedergegeben: "In Erwägung, daß das vom Abgeordnetenhause des Reichsrathes in dritter Lesung angenommene Gesetz, betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter, seine Wirksamkeit nur auf einen Bruchtheil derselben in Aussicht nimmt, in weiterer Erwägung, daß namentlich die Unterstützungen der dauernd Erwerbsunfähigen, sowie deren Witwen und Waisen eine menschenwürdige Existenz nicht ermöglichen, in fernerer Erwägung, daß die Arbeiter gegen ihren Willen auch zur Beitragsleistung zu den Unfallversicherungs-Anstalten verhalten werden, in endlicher Erwägung, daß in Folge der festgesetzten Karenzzeit und der auf dieselbe folgenden Anspruchsübertragung an die Krankenkassen die vorübergehend in Folge Verletzung Arbeitsunfähigen in den meisten Fällen aus der Unfallversicherung nichts erhalten werden, und in schließlieber Erwägung, daß selbst die anerkannt nothwendige Vermehrung der k. k. Gewerbe-Inspektoren statt auf Kosten des Staates, auf Rechnung der Unfallversicherungs-Anstalten in Aussicht genommen ist und dadurch die in Folge der bureaukratischen Organisation dieser Anstalten ohnedies hohen Verwaltungskosten noch bedeutend erhöht werden, erklärt der am 13. und 14. Juni 1886 in Linz tagende Verbandstag der Arbeiter-Kranken- und Invaliden-Unterstützungs-Vereine Oesterreichs, U$ Brügel, Geschichte III, passim; Steiner, Arbeiterbewegung, insbes. S. 282 ff.; Berchtold, österr. Parteiprogramme, S. 22 f .; S. 137 ff. m Details bei Steiner, Arbeiterbewegung, S. 261 ff. 355 Vgl. auch die Wiedergabe der Pressestimmen bei Steinbach, Unfallversicherung, S. 44 ff.

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daß dieses Gesetz in seiner gegenwärtigen Fassung nicht, wie gepriesen, als der Anfang einer Sozialreform, sondern als eine Regelung des Armenwesens zur Entlastung der Gemeinden auf Kosten der Industrie und deren Arbeiter zu betrachten ist und eine Unfallversicherung nur dann als ihrem Zwecke entsprechend anerkannt werden könnte, wenn: a) dieselbe ausnahmslos auf alle in Fabriken, dem Kleingewerbe, der Land- und Forstwirtschaft etc. beschäftigten Arbeiter obligatorisch eingeführt; b} die Versicherungsbeiträge von den Unternehmern allein getragen werden, weil dieselben die Vortheile des Unternehmens allein genießen, daher auch rechtlich die Nachtheile desselben zu tragen haben und die Arbeiter auf die ohnedies problematische Theilnahme an der Verwaltung dieser Anstalten gerne verzichten; c) keine Karenzzeit oder sonstige Beschränkung nonnirt und den Verunglückten auch die Heilungskosten ersetzt werden; d) die Unterstützung ohne jede Verklausirung derart bemessen wird, daß die Verletzten, beziehungsweise deren Witwen und Waisen, auch in den Stand gesetzt werden, ein menschenwürdiges Dasein zu fristen. Schließlich erklärt der Verbandstag, daß die Invaliden- und Altersversorgung der Arbeiter sowie deren Witwen und Waisen ein ebenso unabweisbares als dringendes Gebot der Menschlichkeit ist, wenn nicht ein großer Theil der arbeitenden Bevölkerung im Massenelende verkümmern soll, und erachtet es der Verbandstag als Pflicht des Staates, die in dieser Richtung schon bestehenden Institute der Arbeiter pekuniär zu unterstützen." Weder dieser Resolution noch den beigefügten redaktionellen Äußerungen der "Gleichheit" ist eine grundsätzliche Ablehnung der Idee der Pflichtversicherung zu entnehmen356, vielmehr wurde ganz im Gegenteil der Kreis der Versicherungspflichtigen als zu eng empfunden. Kritisiert wurde vor allem, daß die (vom deutschen Unfallversicherungsgesetz erfaßten) besonders gefährlichen Dachdecker-, Steinhauer- und BrunnenArbeiten sowie die land- und forstwirtschaftliehen Arbeiter u. a. nicht der Versicherungspflicht unterworfen wurden, und in Übereinstimmung mit dem Minoritätsbericht des Gewerbeausschusses wurde beanstandet, daß von den insgesamt 7 Millionen Arbeitern nur eine knappe Million in den Genuß des Gesetzes kam. Wörtlich heißt es dann weiter: "Eine Erweiterung des Umfanges des Unfallversicherungs-Gesetzes ist deshalb dringend geboten, um so mehr, als dasselbe gleichzeitig die Grundlage des Krankenversicherungsgesetzes bildet." ase

Zutreffend ebenda, S. 50.

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Wenngleich die abschließend gegebene Begründung unzutreffend ist, da die schon im Februar 1886 eingebrachte Regierungsvorlage des Krankenversicherungsgesetzes die Absicht der Regierung, bei der Normierung der Krankenversicherungspflicht den engen Kreis der Unfallversicherungspflichtigen ganz erheblich zu erweitern, klargestellt hatte357, geht aus dieser Äußerung doch zweifellos ein klares Bekenntnis zur Pflichtversicherung mit einem möglichst großen Versichertenkreis hervor.

Scharfe Einwände bringt freilich auch die "Gleichheit" gegen die meisten Detailregelungen der Vorlage vor: So wird die Rentenhöhe als unzulänglich bezeichnet358 und einerseits der Ersatz der Kosten des Heilverfahrens (wie dies noch der 1. Entwurf im Einklang mit den deutschen Entwürfen vorgesehen hatte) und andererseits eine Rente in Höhe des vollen Lohnentganges gefordert. Kritisiert wird ferner der Arbeitnehmerbeitrag, die Einrichtung der Karenzzeit, die zu geringen Mitbestimmungsrechte der Arbeiter an der Kassenverwaltung und der zu große Umfang der Reservefonds. In einem späteren Artikel ("Gleichheit" vom 12. Februar 1887) wird auf die - sehr umfangreichen - Kompetenzen des Innenministers im Zusammenhang mit der Unfallversicherung eingegangen; der Artikel schließt mit den folgenden kritischen Bemerkungen: "In Deutschland hat man in richtiger Erkenntnis der Thatsache, daß nur dann, wenn für alle Arbeiterversicherungs-Angelegenheiten eine Zentralstelle geschaffen wird, ein mit weitgehenden Vollmachten ausgerüstetes Reichsversicherungsamt kreirt, welchem diese Anstalten unterstehen, während bei uns die Durchführung aller dieser Gesetze den ohnedies überbürdeten(?) und äußerst reformbedürftigen Verwaltungsbehörden überlassen bleibt. Wenn man berücksichtigt, welche widersprechendsten Entscheidungen in ein- und derselben Sache von den verschiedenen Landesbehörden getroffen wurden, und wie man oft, namentlich bei Beschwerden oder Rekursen, jahrelange auf die einfachsten Entscheidungen warten muß, so ist unsere Befürchtung, daß auch die meisten Bestimmungen des Unfallversicherungsgesetzes mit der gewohnten Österreichischen Gemüthlichkeit auf dem Papiere stehen bleiben werden, leider nur zu begründet." Vgl. B/3, V 1 im folgenden. Der Vorwurf ist zweifellos für die schlechter verdienenden Arbeiter zutreffend. So erhielt ein Arbeiter mit dem relativ hohen Arbeitsverdienst von 300 fl. bloß 15 fl. monatlich Rente bei Vollinvalidität Im Vergleich dazu betrug die Monatsrente bei Vollinvalidität nach den Statuten der "Arbeiter-, Kranken- und Invalidencasse" in Wien, gern. § 57, Abs. 2 der Statuten 20 fl.! 357 358

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Wie an früherer Stelle ausgeführt wurde, dürfte das Fehlen einer

zentralen Berufungsinstanz i. S. des deutschen Reichsversicherungs-

amtes auf den Umstand zurückzuführen sein, daß das ÖSterreichische Gesetz genetisch nicht auf dem 3., sondern auf dem 2. deutschen Entwurf aufbaute359• Die von der sozialdemokratischen Arbeiterschaft im Einklang mit zahlreichen Experten schon früh erkannte Gefahr einer Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung wurde leider schon bald nach Inkrafttreten des Gesetzes Wirklichkeit. Spätere Versuche, eine zentrale Berufungsinstanz zu schaffen, sind gescheitert3~. V. Das Arbeiter-Krankenversidlerungsgesetz vom 30. März 1888

1. Die Regierungsvorlage Ende November 1884361 wurde der von Steinbach ausgearbeitete Entwurf eines Krankenversicherungsgesetzes an die schon an den Beratun-

gen zum Unfallversicherungsgesetz beteiligten Ministerien ausgesandt und sodann interministeriellen Beratungen zugrunde gelegt. 1885 wurde erstmals eine Regierungsvorlage des Krankenversicherungsgesetzes im Reichsrat eingebracht362, es erfolgte jedoch wegen des Sessionsschlusses keine parlamentarische Behandlung mehr. Am 1. Februar 1886 brachte die Regierung die im wesentlichen unveränderte Vorlage neuerlich ein363• Der Österreichische Entwurf stellte, wenn man von einzelnen Modifikationen der §§ 1 und 2 absieht, in Geist, Inhalt und Aufbau eine weitgehende Übernahme des Deutschen Krankenversicherungsgesetzes vom 15. Juni 1883 (s. oben B/3, 111) dar364• Ebenso wie das deutsche Gesetz bzw. die zuvor dem Reichsrat überreichten Vorlagen des Unfallversicherungsgesetzes stellte der Entwurf 359 Während der zweite Entwurf (§ 91) die schiedsgerichtliche Entscheidung grundsätzlich für endgültig erklärte und nur ausnahmsweise die Möglichkeit der Beschreitung des ordentlichen Rechtsweges eröffnete, sah der schließlich Gesetz gewordene dritte Entwurf (§ 63) den Rekurs an das Reichsversicherungsamt (§§ 87 ff.) vor. 380 Im "Memoire" vom 22. 12. 87 meinte Steinbach, die Einführung eines Reichsversicherungsamtes nach deutschem Muster empfehle sich nicht, da "von solchen großen Organisationen vorerst abzusehen sei". über spätere Bestrebungen zur Einführung einer Oberinstanz für die Unfallschiedsgerichte vgl. AVA, JM, Karton 1450, Nr. 76. 381 AVA, JM, Karton 1448, Nr. 15 (datiert mit 21. 11. 84). 382 StProtAH, 9. Sess., Beil. Nr. 1052. 383 StProtAH, 10. Sess., Beil. Nr. 84. 384 Weniger stark als bei den UVG-Vorlagen ist dagegen die übereinstimmung zwischen den sehr kurz gehaltenen "Bemerkungen" zum KVG-Entwurf und der "Begründung" des deutschen Entwurfs (5. LP, II. Sess., Bd. 5, Anlage Nr. 14, S. 139 ff.).

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des Krankenversicherungsgesetzes das Prinzip der Pflichtversicherung an die Spitze:M5 • Auch nach dem Österreichischen Entwurf bildeten die Industriearbeiter die Kerngruppe der Versicherungspflichtigen, deren Kreis war aber - ebenso wie nach dem deutschen Gesetz - von vornherein bei der Krankenversicherung weiter gezogen als bei der Unfallversicherung. Er umfaßte nämlich auch die "Arbeiter und Betriebsbeamten", welche a) "in Bergwerken auf vorbehaltene Mineralien ... ", b) "in einer unter die Gewerbeordnung fallenden oder einer sonstigen gewerbsmäßig betriebenen Unternehmung", ferner c) "beim Eisenbahn- und Binnenschiffahrtsbetriebe" beschäftigt waren. Die bei der Hochseeschiffahrt Beschäftigten waren- wie nach dem deutschen Gesetz366 - ausdrücklich von der Versicherungspflicht ausgenommen. Der Entwurf kannte auch bereits einen "bedingten" Versicherungszwang i. S. des § 2 des deutschen Krankenversicherungsgesetzes. Gern. § 2 des Entwurfes konnte nämlich der Minister des Inneren die in land- und forstwirtschaftliehen Betrieben Beschäftigten der Versicherungspflicht unterwerfen - ein Gegenstück zu der "statutarischen" 367 Unterwerfung i. S. des§ 2 des deutschen Gesetzes. Die Vorlage begründete den Umstand, daß hinsichtlich der land- und forstwirtschaftliehen Arbeiter "eine definitive Entscheidung nicht getroffen" werden konnte, wie folgt: "Es wurde im§. 2 ... dem Minister des Innern vorbehalten, bezüglich dieser Arbeiter nach den durch die Sachlage gebotenen Einvernehmungen die Entscheidung zu treffen und dieselben je nach Beschaffenheit der Verhältnisse, soweit sie nicht schon mit Rücksicht auf den Gesetzentwurf über die Unfallsversicherung auch krankenversicherungspflichtig sind, in einzelnen Ländern oder Landestheilen der letzteren Versicherungspflicht zu unterwerfen. Es war dieser Ausweg aus dem Grunde geboten, weil einerseits das Bedürfnis nach einer organisirten Krankenversicherung rücksichtlich der in Rede stehenden Arbeiter im allgemeinen nicht so dringend ist wie rücksichtlich der industriellen Bevölkerung, da in landwirtschaftlichen Kreisen in dieser Beziehung noch vielfach durch Familien- und sonstige Aushilfe, namentlich durch jene des Arbeitgebers vorgesorgt wird, und weil andererseits die Vorausset365

§ 1, Abs. 1. § 1, III. Die

bei Binnenschiffahrtsbetrieben Beschäftigten waren schon durch das Ausdehnungsgesetz vom 28. 5. 1885, DRGBl. S. 159, in die Versicherungspflicht einbezogen worden. 387 Zuständig für die Erstreckung des Versicherungszwangs gern. § 1 waren nach dem DKVG freilich nicht bürokratische Institutionen, sondern territoriale Selbstverwaltungskörper (Gemeinden und "weitere Kommunalverbände"). 366

36•

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zung(en) der Durchführbarkeit des Versicherungszwanges bei einer sehr großen, ja vielleicht der überwiegenden Zahl der landwirtschaftlichen Arbeiter mit Rücksicht auf ihre verschiedene Stellung und den vielfachen Mangel einer ständigen Beschäftigung nicht vorhanden sein dürften, so dass in dieser Hinsicht regelmäßig nur von Fall zu Fall nach genauer Erhebung der eintretenden besonderen Verhältnisse wird vorgegangen werden können." Das im Entwurf vorgesehene Leistungsschema war dem deutschen Gesetz minutiös nachgebildet. Gern. § 6 des Entwurfs waren "mindestens" (d. h. unbeschadet "statutarischer" Erhöhung) 368 zu gewähren: 1. Vom Beginn der Krankheit an "freie ärztliche Behandlung" etc., 2. darüber hinaus bei Erwerbsunfähigkeit, vom dritten Tage der Erkrankung an, ein "Krankengeld in der Höhe der Hälfte des ortsüblichen (!) 369 Taglohns gewöhnlicher Tagarbeiter" und 3. für den Todesfall ein Sterbegeld "im zwanzigfachen Betrage" dieses Taglohnes. Die Frage der Organisation der Krankenversicherungsträger wurde in den "Bemerkungen" zum Entwurf als die "Hauptschwierigkeit" bezeichnet; auch insoweit geht der Entwurf nach den zwei Grundsätzen vor, die schon im deutschen Gesetz ihre Verwirklichung gefunden hatten: Zum einen sollten die Sprengel, um eine wirksame Kontrolle über die Kassenmitglieder zu gewährleisten und der Simulation von Krankh eiten vorzubeugen, wesentlich kleiner gehalten werden als bei der Unfallversicherung, zum anderen sollte an die bestehenden Einrichtungen der Versorgung im Krankheitsfalle angeknüpft werden. Die "Bemerkungen" führen dazu näher aus: "Außerdem darf aber auch nicht außer Acht gelassen werden, dass Krankenkassen sowohl auf Grund gesetzlicher Nöthigung als auch infolge freiwilliger Vereinigung der betheiligten Kreise bereits jetzt in großer Anzahl für die verschiedensten Berufszweige bestehen, und daß es sicherlich nicht anginge, durch ein neues Gesetz alle diese Kassen ohneweiters zu beseitigen, oder ihnen die fernere Existenz unmöglich zu machen, weil hiedurch viele gute Institutionen, welche großentheils der Selbstthätigkeit der betreffenden Kreise ihr Entstehen und ihre Entwicklung verdanken, vernichtet würden, wodurch bei den Mitgliedern Entmuthigung hervorgerufen werden müsste, ohne dass die Garantie dafür geboten wäre, dass der neu zu schaffende Organismus Vgl. § 10, Abs. 3 des DKVG. § 6, Abs. 2, Z. 2; während sich die Höhe der UVG-Renten nach den konkreten Löhnen der Versicherten richtete, wurden die für die Höhe der Beiträge und Geldleistungen des KVG maßgeblichen "ortsüblichen Taglöhne" durch die politische Behörde erster Instanz, getrennt nach Geschlechtern bzw. Arbeiterkategorien (Hilfsarbeiter, Arbeiter, Vorarbeiter o. ä.), festgesetzt; Näheres ÖStWB I, S. 234. 368

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auch sofort geeignet sein werde, alle Vortheile der bereits eingeleiteten Institutionen zu gewähren." Im Gegensatz zur Unfallversicherung, so fahren die "Bemerkungen" weiter fort, wo ein "vollständig neuer Organismus" erst geschaffen werden mußte, gehe es bei der Krankenversicherung nur darum, das bereits Bestehende zu erhalten, den "Zwecken der neuen Gesetzgebung anzupassen" und für die bislang noch nicht Krankenversicherten einen "Ergänzungsmechanismus" zu schaffen. Unter der Voraussetzung, daß diese die im künftigen Gesetz aufgeführten Mindestleistungen erbrachten, wurden daher insbes. die Genossenschaftskrankenkassen (vgl. oben B/2, II) sowie die Bruderladen des Bergbaues (oben B/2, I) gern. den §§ 56 f. von der Wirksamkeit des neuen Gesetzes ausgenommen und deren Angehörige von der Versicherungspflicht befreit370• Gern. §58 war dieselbe Vorgehensweise auch für die (freien) Vereinskassen vorgesehen, allerdings mit einer gravierenden Einschränkung: Die Befreiung von der Versicherungspflicht trat nur für die Mitglieder derjenigen Vereinskassen ein, die von vornherein nach dem Vereinspatent vom 26. November 1852 (vgl. oben B/1, I 4) errichtet worden waren oder doch später i. S. dieses Patents umgebildet worden waren. Im Sinne der seit 1882 gehandhabten Verwaltungspraxis (vgl. B/2, III) wurde in den "Bemerkungen" die Auffassung vertreten, daß nur das Vereinspatent 1852 "im Gegensatze zu dem Vereinsgesetze vom 15. November 1867, RGBl. Nr. 134, der Staatsgewalt ein Aufsichtsrecht gewährt, welches ausreicht, um den unter dieses Gesetz fallenden Vereinen die Besorgung einer obligatorischen Versicherung mit Beruhigung überlassen zu können". Zusätzlich zu diesen drei bereits existenten Kassentypen sah der Entwurf neu organisierte Betriebskrankenkassen sowie die bis dahin in Österreich überhaupt unbekannten Bau- und die besonders wichtigen Bezirkskrankenkassen vor171 • In weiterer Anlehnung an das deutsche Gesetz (§§ 59 - 69), jedoch unter Verdoppelung der erforderlichen Mindestzahl an Versicherten, erklärte der Entwurf Unternehmer von Betrieben mit mehr als 100 versicherungspflichtigen Beschäftigten bzw. wenn die "nachhaltige Lei370 Am Ende des Jahres 1900 (erstmaliges Vorliegen genauer statistischer Daten) bestanden bei 185 Bruderladen separate Krankenkassenabteilungen; vgl. ÖStWB I, S. 655 und unten B/3, VII. 371 Die letzteren entwickelten sich schon bald zur dominierenden Kassenform (im Jahr 1900: über 1 Mill. Mitglieder von insgesamt ca. 2,5 Mill. Mitgliedern aller Kassen), während die Baukrankenkassen eine ganz untergeordnete Rolle spielten (Mitgliedermaximum ca. 3.500).

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stungsfähigkeit der Casse ... sichergestellt ist, auch bei einer geringeren Anzahl, für berechtigt, Betriebskrankenkassen zu errichten; auf Antrag der territorial zuständigen Bezirkskrankenkasse konnte der Unternehmer hiezu sogar verpflichtet werden, wobei eine solche Verpflichtung bei Unternehmen mit weniger als 100 Beschäftigten jedoch nur in Betracht kam, wenn der Betrieb für die Beschäftigten "mit besonderer Krankheitsgefahr verbunden" war. Hinsichtlich der Beitragsverpflichtung wurde nunmehr in Einklang mit dem deutschen Gesetz (§ 65) und in Fortführung der im Rahmen der Gewerbeordnungsreform vorgesehenen Regelungen (vgl. B/3, In der Unternehmeranteil einheitlich für alle Kassen mit einem Drittel bestimmt(§§ 25, 46 des Österreichischen Entwurfs); bei Betriebskrankenkassen wurde dem Unternehmer überdies noch die Verpflichtung zu allenfalls erforderlichen372 Zuschußleistungen auferlegt (§ 46 des Entwurfs), sowie zur Leistung unverzinslicher Vorschüsse (§ 45, Z. 5). Hinsichtlich der Kassenverwaltung (s. allgemein gleich unten) bestand für die Betriebskrankenkassen lediglich die Besonderheit, daß dem Unternehmer oder seinem Stellvertreter durch das Statut der Vorsitz in der Generalversammlung eingeräumt werden konnte. Die Bezirkskrankenkassen des Entwurfs (§§ 11 - 39) waren den Ortskrankenkassen des deutschen Gesetzes (§§ 16- 48) nachgebildet, im Gegensatz zu den letzteren bildeten jedoch nicht die Gemeinden, sondern die Bezirksgerichtssprengel das territoriale Substrat dieser als "Ergänzungsorganismus" angesehenen Kassen, denen alle versicherungspflichtigen und nicht bei einer der übrigen Kassen versicherten sowie auch freiwillig beigetretene Personen angehören sollten. Die Möglichkeit des Zusammenschlusses mehrerer Bezirkskrankenkassen mit dem Zweck, gemeinsame Krankenanstalten u. ä. zu betreiben, war vorgesehen(§ 37 des Entwurfs; § 47 des deutschen Gesetzes). Ebenso wie die Versicherungsträger der Unfallversicherung sollten auch die der Krankenversicherung als Selbstverwaltungskörper organisiert werden, wobei aus dem Kreise der Kassenmitglieder mindestens zwei Drittel, von Unternehmerseite her höchstens ein Drittel der Mitglieder der Generalversammlung und des Vorstandes zu entsenden waren. Als Aufsichtsbehörden waren die politischen Behörden erster Instanz (Bezirkshauptmannschaften) und in höherer Instanz die politischen Landesbehörden und das Ministerium des Innern vorgesehen (Entwurf§ 18). m Sofern die gesetzlichen Mindestleistungen nicht erbracht werden konnten, obwohl die Beiträge bereits 3 Ofo "des ortsüblichen oder durchschnittlichen Taglohnes oder bzw. des wirklichen Arbeitsverdienstes . . . erreicht haben".

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2. Die Beratungen im Abgeordnetenhaus Auch der Entwurf des Krankenversicherungsgesetzes wurde dem Gewerbeausschuß zugewiesen, der seinen umfangreichen und von sozialem Engagement getragenen Bericht (Berichterstatter: Leon v. Bilinski)373 schon am 25. Mai 1886 vorlegte. Unter den zahlreichen Änderungen, die der Gewerbeausschuß vorschlug, sind vor allem hervorzuheben~74:

a) eine Stärkung der Stellung der Bezirkskrankenkassen durch Einfügung einer Vorschrift, wonach die Bildung von Betriebskrankenkassen untersagt werden konnte, wenn durch diese die Leistungsfähigkeit der Bezirkskrankenkassen gefährdet erschien (später § 42, Abs. 2 des Gesetzes); dem deutschen Gesetz war eine derartige Vorschrift zugunsten der Ortskrankenkassen unbekannt; b) der Versuch, zwischen den Bezirkskrankenkassen und den Unfallversicherungsträgern eine Verbindung herzustellen, und zwar durch die obligatorische Vereinigung der Bezirkskrankenkassen zu Verbänden, deren Verwaltung dem Vorstand der jeweiligen Unfallversicherungsanstalt übertragen wurde. Den Verbänden wurden einige Aufgaben (insbes. Bildung eines Verbandsreservefonds und Kontrollfunktionen) kraft Gesetzes zugewiesen, andere konnten sie zusätzlich freiwilli~75 übernehmen (später§ 39 des Gesetzes); c) die für jene Zeit als sehr fortschrittlich anzusehende Ausdehnung der gesetzlichen Mindestdauer der Krankenunterstützung von 13 auf 20 Wochen. Vergleichsweise wurde in Deutschland erst durch die Novelle vom 25. Mai 1903, DRGBl. S. 233, die 13-Wochen-Frist (zugunsten einer 26wöchigen) fallengelassen; d) die ebenfalls gegenüber dem deutschen Gesetz als Verbesserung zu betrachtende Erhöhung des Krankengeldes von 50 auf 60 °/n des ortsüblichen Taglohnes; ferner e) die Einführung obligatorischer Schiedsgerichte (§ 14, Abs. 3, Z. 7 des Gesetzes) und schließlich f) die insbes. zur Überbrückung einkommensloser Zeiten gedachte Einrichtung des "Reserveanteils" (§§ 13, Abs. 3 und 6 sowie § 28 des Gesetzes, aufgehoben durch das Gesetz vom 4. April 1889, RGBI. Nr. 39, Art. II).

Über ihn vgl. ÖBL I, S. 84 f. sowie Ebert, Sozialpolitik, S. 186 ff. Vgl. insbes. Menzel, Arbeiterversicherung, S. 36. 375 Etwa: die Anstellung gemeinsamer Beamter, die Abschließung gemeinsamer Verträge mit Ärzten, Apotheken und Krankenhäusern usw. 373

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Während die Regierungsvorlage kaum in einem Punkt über das deutsche Vorbild hinausgekommen war, müssen die durch den Gewerbeausschuß vorgeschlagenen und zum größten Teil schließlich vom Plenum des Abgeordnetenhauses auch angenommenen Änderungen durchwegs als bemerkenswerte Weiterentwicklungen angesehen werden. Für ein Mitglied des Gewerbeausschusses, nämlich J. M. Baernreither376, bot sich hier die Gelegenheit, in zweifacher Hinsicht von der Regierungsvorlage bzw. der Majoritätsmeinung abweichende Standpunkte zu vertreten: Vor allem kritisierte Baernreither - das Vorbild der englischen friendly societies vor Augen - 377, daß die Regierung den Kassenzwang in den Vordergrund gestellt habe, anstatt sich auf die Förderung der freien Kassen zu konzentrieren. Zwar blieb es bei der Priorität der Pfiichtversicherung, Baernreither konnte im Gewerbeausschuß aber immerhin eine Resolution durchsetzen, derzufolge die Regierung aufgefordert wurde, "ehetunlichst den Entwurf eines Hilfskassengesetzes" vorzulegen378• Auch in den Plenarberatungen trat Baernreither als Minoritätsberichterstatter lebhaft für die Förderung der freien Kassen ein379• Sein zweites wesentliches Anliegen war die - von ihm ebenfalls im Minoritätsvotum geforderte - Einbeziehung der land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter in die Krankenversicherung. Die Majorität hatte insoweit an der Regierungsvorlage festgehalten, wonach der Innenminister eine solche Einbeziehung nach Einholung von Gutachten der Landeskulturräte und Landesausschüsse anordnen konnte, und lediglich an die Stelle der letzteren die Landtage gesetzt380 • Der Streit um diesen Fragenkomplex beherrschte in der Folge auch die Debatte des Abgeordnetenhauses, in deren Verlauf381 Baernreither beantragte, die Einbeziehung der land- und forstwirtschaftliehen Arbeiter durch ein besonderes (Reichs-)Gesetz zu regeln, während sein föderalistisch gesinnter Widersacher Josef Kaizl382 eine künftige Regelung durch besondere Landesgesetze für angemessen hielt. über ihn bereits oben den Text bei Anm. 322. Vgl. oben bei Anm. 326. 378 StProtAH, 10. Sess., S. 4314; Beil. Nr. 336. 379 Die weitere Entwicklung B/3, VI. sso StProtAH, 10. Sess., Beil. Nr. 185. 38t StProtAH, 10. Sess., S. 4232. 38 ! Der Jungtscheche Joseph Kaizl und Baernreither gehörten später (1898) übrigens derselben Regierung (Franz Graf Thun) an, die nationalen Gegensätze zwangen Baernreither freilich schon bald zur Demission. - Bachmann, Baernreither, S. 42 ff. u. ö. 37&

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Die beiden Anträge riefen eine umfangreiche staatsrechtliche Diskussion über die Bedeutung des § 11 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung vom 21. 12. 1867 hervor, die schließlich mit einem Erfolg Kaizls endete383• In Anbetracht der enormen Verzögerung, mit der die Einbeziehung der land- und forstwirtschaftliehen Arbeiter in die Sozialversicherung schließlich erfolgte384, muß die Niederlage Baernreithers als sehr bedauerlich bezeichnet werden; auch ein Festhalten an der Regierungsvorlage wäre insoweit noch eher zu begrüßen gewesen als der vom Abgeordnetenhaus gefaßte Beschluß.

3. Stellungnahmen der sozialdemokratischen Arbeiterschaft Noch während der Beratungen des Abgeordnetenhauses, nämlich am 12. Februar 1887, nahm die sozialdemokratische "Gleichheit" zum Entwurf des Krankenversicherungsgesetzes Stellung, wobei sie sich wieder auf die vom "Verbandstag der Arbeiter-Kranken- und InvalidenUnterstützungsvereine" am 13. und 14. Juni 1886 beschlossene Resolution stützte, die ihrerseits wieder die vom WienerVerein im März 1886 beschlossenen "Grundsätze" näher ausführt: "Der Verbandstag der Arbeiter-Kranken- und Invaliden-Unterstützungs-Vereine Oesterreichs erklärt sich mit den in dem Berichte der Wiener Kasse als Administration des Verbandes im März 1886 in Bezug auf die Krankenversicherung der Arbeiter aufgestellten Grundsätzen einverstanden und erwartet in Anbetracht der in diesem Berichte geschilderten thatsächlichen Verhältnisse Ersprießliches nur dann, wenn: a) Die Krankenversicherung ausnahmslos und obligatorisch für alle gewerblichen, Fabriks-, land- und forstwirtschaftliehen Arbeiter eingeführt und die Unterstützungen der Erkrankten derart bemessen werden, daß mit denselben eine menschenwürdige Existenz möglich ist; b) das Krankenversicherungs-Gesetz in keiner Weise die Wirksamkeit und Selbstverwaltung der freien Arbeiter-Krankenkassen einschränkt und die Mitglieder derselben auch vom Beitritte zu den Genossenschafts-Krankenkassen enthebt; beides auch dann, wenn die freien Kassen auf Grund des 1867er Vereinsgesetzes bestehen bleiben, nachdem nur in den von Arbeitern selbst verwalteten Kassen die richtige Grundlage zur gedeihlichen Entwickelung der Krankenversicherung gelegen ist; c) die den Arbeiterstand so schwer schädigenden Betriebs-(Fabriks-) Krankenkassen aller Art, sowie die Baukassen unbedingt nicht gestat383 Abstimmung vom 21. 2. 1887. StProtAH, 10. Sess., S. 4254. Vgl. § 3 des Gesetzes. 38 4 Vgl. unten B/5, V.

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tet werden und überhaupt auf dem Gebiete der Krankenversicherung nicht die kostspielige bezirksweise Zersplitterung, sondern die Zentralisation nach Kronländern als Grundlage angenommen und auf Kosten der Arbeiter keine ebenso unnützen als zwecklosen Experimente gemacht werden; d) die Bestimmungen des in diesem Sinne abzuändernden Gesetzentwurfes klar und deutlich abgefaßt und mit der bestehenden Gewerbeordnung, namentlich mit dem §. 121 al. 8 in Einklang gebracht und gleichmäßig für alle Kassen die 4wöchentliche Spitalzahlungs-Verpflichtung unter Aufrechterhaltung der niedrigeren Gebühr festgesetzt und das weitere Krankengeld in keinem Falle zur Deckung von Spitalverpflegskosten in Anspruch genommen werden darf; e) die in Aussicht genommene hohe Reservefond-Ansammlung, Auftheilung und Ausfolgung desselben auf die verschiedenen Kassen, sowie die im §. 61 bestimmte Abmeldung der austretenden Mitglieder gänzlich aufgelassen wird, weil dies in der praktischen Durchführung nur mit enormen, nicht zu erschwingenden Kosten verbunden ist; f) alle Arbeiter-Versicherungs-Angelegenheiten nicht dem schleppenden

Instanzenzuge, sondern direkt einer für diesen Zweck zu errichtenden Zentralstelle, vielleicht einem Reichsversicherungs-Amte, untergeordnet werden." Ebenso wie bei der Unfallversicherung steht auch hier die prinzipielle Billigung des Gedankens der Pflichtversicherung, verbunden mit dem

Wunsch, die Versicherungspflicht noch weiter auszudehnen, im Vordergrund.

Kritisiert wurde hingegen auch hier wieder das geringe Ausmaß der Leistungen; ferner auch die restriktive Haltung des Entwurfs gegenüber den Vereinskassen, während umgekehrt die Beseitigung bzw. Nichteinführung der Betriebs- und Baukassen gefordert wurde. Abgelehnt wird auch die Reserve in Höhe "der zweifachen durchschnittlichen Jahresausgabe" (§ 27 des Entwurfs sowie des Gesetzes), wobei zu bemerken ist, daß diese nach dem deutschen Gesetz (§ 32) nur halb so groß sein mußte. Auch die schon im Zusammenhang mit dem Unfallversicherungsgesetz erhobene Forderung nach Einführung eines "Reichsversicherungsamtes" kehrte hier wieder. Interessant ist auch die Forderung nach größeren Sprengeln, wobei aber offenbar nicht an eine Verbindung mit den Unfallversicherungsträgern gedacht war. Wie sich aus der sozialdemokratischen Kritik386 an den durch den Gewerbeausschuß eingeführten obligatorischen Verbänden erkennen läßt, war der Arbeiterschaft deren Unterstellung ass "Gleichheit", ebenda.

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unter den Vorstand der Unfallversicherungsanstalt, selbst in Anbetracht der relativ geringen Kompetenzen der Verbände, aus verständlichen Gründen ein Dorn im Auge: Die Mitbestimmung der Versicherten war bei den Unfallversicherungsträgern ja wesentlich geringer ausgebildet als bei der Krankenversicherung. In der "Gleichheit" vom 13. August 1887 ergriff dann Viktor Adler-388 selbst das Wort, um die Befürchtungen der Arbeiterschaft im Zusammenhang mit dem Krankenversicherungsgesetz zum Ausdruck zu bringen. Adler meinte, man müsse die Sozialreform Bismarcks gar nicht als "einen bewußten Schwindel" ansehen; selbst wenn man diese als "einen ernst gemeinten, wenn auch aussichtslosen Versuch" betrachte, "das Los des Arbeiters erträglich zu gestalten", könne doch jedenfalls der damit verbundene Nebenzweck, "jede Selbstthätigkeit der Arbeiterschaft zu lähmen, ja wo möglich ganz zu verhindern", nicht übersehen werden. Zu dem Entwurf des Österreichischen Krankenversicherungsgesetzes, der damals noch der Beschlußfassung durch das Herrenhaus harrte, führte Adler weiter aus: "Auch das in Gesterreich demnächst in Kraft tretende Kranken-Versicherungs-Gesetz hat eine Spitze, die ganz deutlich und energisch gegen die f r e i e n K a s s e n gerichtet ist. Die Bezirks-Kassen, die Genossenschafts-Kassen, ja sogar die Betriebs-Kassen, welche gar keine Existenz-Berechtigung haben, werden den selbstständigen Schöpfungen der Arbeiter eine harte Konkurrenz bieten, umsomehr, als nach bekannter Melodie alle Behörden diese neuen, unter dem Schutze und der Kontrolle der hohen Obrigkeit stehenden Gebilde mit allen Mitteln fördern werden." Abschließend äußerte Adler noch die konkrete Befürchtung, daß die Unterwerfung der Vereinskassen unter die Vorschriften des Vereinspatents von 1852 den Verwaltungsbehörden weitreichende Möglichkeiten einräumen werde, das freie Kassenwesen zugunsten der Bezirksund Genossenschaftskassen zurückzudrängen.

4. Die Beratungen im Herrenhaus; kaiserliche Sanktion Nachdem das Abgeordnetenhaus den Entwurf des Krankenversicherungsgesetzes nahezu unverändert nach dem Beschluß des Gewerbeausschusses am 29. März 1887 in zweiter und dritter Lesung angenommen hatte387, wurde der Entwurf dem Herrenhaus zugeleitet, das bereits am 4. April 1887 zur Beratung des Gesetzes eine 15köpfige Kommission wählte38s. ase Auch in: Victor Adlers Aufsätze, Reden und Briefe, 5. Heft, S. 147 ff. Vgl. StProtAH, 10. Sess., Beil. Nr. 359.

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StProtHH, 10. Sess., 388 (sie!).

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In deren Bericht vom 30. April 1887389, der am 5. Mai 1887 die Billigung des Herrenhausplenums fand, wurde neben zwei Detailänderungen (Beschränkung der Zahlungspflicht der Kassen gegenüber den öffentlichen Krankenanstalten auf eine Behandlungsdauer von 4 Wochen: später§ 8, Abs. 3 des Gesetzes; Zulassung von kleineren Betriebskassen bei gegebener Leistungsfähigkeit: später § 42, Abs. 3 des Gesetzes) vor allem die Möglichkeit eines fakultativen Beitrittes der landund forstwirtschaftliehen Arbeiter vorgesehen (vgl. § 3, Abs. 2 des späteren Gesetzes). Nach Rückleitung des Entwurfs an das Abgeordnetenhaus entbrannte der Kompetenzstreit von neuem; schließlich wurde am 28. Oktober 1887 beschlossen, den seinerzeitigen i. S. des Antrags Kaizl gefaßten Beschluß mit dem Herrenhausbeschluß zu kombinieren39°. Spätere insbes. von dem Liberalen Anton v. Hye unternommene Bemühungen, der Reichsgesetzgebung wenigstens einen Anteil an der Regelung der Krankenversicherung der land- und forstwirtschaftliehen Arbeiter zu sichern, scheiterten391 • Erst mehr aZs dreißig Jahre nach diesen Ereignissen wurde (1921) 392 wieder ein Versuch zur Einbeziehung der land- und forstwirtschaftliehen Arbeiter in die Krankenversicherung unternommen, doch auch dieser scheiterte zunächst an der Kompetenzfrage. Erst mit dem Inkrafttreten der Kompetenzbestimmungen des B-VG am 1. Oktober 1925 waren, wie später (B/5, V) noch näher auszuführen sein wird, die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für eine bundesgesetzliche Regelung gegeben. Am 30. März 1888 erfolgte die Sanktion des "Gesetzes betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter", RGBl. Nr. 33, das hierauf am 6. Juli 1888393 in Kraft trat. Durch die Ministerialverordnung vom 14. Juli 1889, RGBL Nr. 94, wurde als Wirksamkeitsbeginn der Krankenversicherung der 1. August 1889 festgesetzt: Trotz späterer parlamentarischer Behandlung erzielte die Krankenversicherung demnach in der Schlußphase noch einen dreimonatigen "Vorsprung" gegenüber der Unfallversicherung.

StProtHH, 10. Sess., Beil. Nr. 143. Vgl. nochmals§ 3 des KVG. 391 Hye wollte den Landtagen die Regelung der Versicherungspflicht der land- und forstwirtschaftliehen Arbeiter nur unter dem Vorbehalt überlassen, daß alle hiebei "als nothwendig erkannten Bestimmungen, welche verfassungsmäßig der Reichsgesetzgebung zufallen, zur Beschlußfassung dem Reichsrate vorzulegen sind". 389

3oo

B/5, V. an Vgl. die von Max Mandl veranstaltete Ausgabe des KVG, des HUfs-

39!

kassengesetzes (VI), der einschlägigen Verordnungen und der Musterstatuten in der Reihe: Österreichische Gesetze mit Erläuterungen aus der Rechtsprechung, Einzelausgaben, Heft 39, 1894.

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5. Erste Detailkorrekturen

Noch vor Wirksamkeitsbeginn der Krankenversicherung wurden übrigens durch das Gesetz vom 4. April 1889, RGBl. Nr. 39, noch zwei Detailkorrekturen vorgenommen. Die erste betraf die sowohl von den Betriebs- als auch den freien Kassen lebhaft bekämpften Bestimmungen über den "Reserveanteil", die auf Antrag394 des Abgeordneten Adolf Schwab und Genossen (vom 30. Jänner 1889) gestrichen wurden; die zweite, vom Gewerbeausschuß395 hinzugefügte, sah eine weitergehende396 Befreiung der Lehrlinge von der Krankenversicherungspflicht vor. Nach Vornahme dieser Detailkorrekturen blieb das Krankenversicherungsgesetz bis zum Jahre 1907 unverändert in Kraft; über die 1907 eingetretene Neuregelung der Genossenschaftskrankenkassen sowie über die umfangreichen Reformen von 1917 wird an späterer Stelle397 zu berichten sein. VI. Das Bilfskassengesetz vom 16. Juli 1892

1. Werdegang Wegen seines engen sachlichen Zusammenhanges mit der Krankeuversicherungsgesetzgebung soll im folgenden zunächst der Werdegang des Hilfskassengesetzes398 von 1892 und erst danach das - früher verabschiedete - Bruderladengesetz besprochen werden. Noch während der Debatte zum Krankenversicherungsgesetz brachte Baernreither am 25. Februar 1887 erstmals den Entwurf eines Hilfskassengesetzes ein399 ; noch im Verlauf der 10. Session wurde der Entwurf im Abgeordnetenhaus beraten und von diesem in zweiter und dritter Lesung angenommen. Da die Verabschiedung durch das Herrenhaus nicht mehr möglich war, mußte Baernreither den Entwurf neuerlich am 13. April 1891 einbringen, worauf dieser dem Gewerbeausschuß zugewiesen und am 25. Mai 1892 in zweiter und dritter Lesung vom Abgeordnetenhaus angenommen wurde400 • Nachdem auch die - unveränderte - Annahme durch das Herrenhaus erfolgt war, erhielt der Entwurf am 16. Juli 1892, RGBl. Nr. 202, die kaiserliche Sanktion. StProtAH, 10. Sess., Beil. Nr. 732. StProtAH, 10. Sess., Beil. Nr. 753. 396 Nämlich auch für den Fall, daß für die Krankenpflege nicht im häuslichen Verband des Lehrherrn, sondern im Spital vorgesorgt worden war. 397 B/4, III. 398 Vgl. insbes. Otto Stöger (2. Aufl. v . Hubert Wimbersky), Art. "Hilfskassen", ÖStWB II, S. 851 ff. 39 9 StProtAH, 10. Sess., S. 4314; Beil. Nr. 336. 400 StProtAH, 11. Sess., Beil. Nr. 9; Beil. Nr. 129; S. 471 (Annahme). 394 395

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2. Zielsetzungen Konkretes Hauptanliegen des Gesetzes war es, den auf freiwilliger Basis beruhenden Versicherungsvereinen eine solide gesetzliche Grundlage zu verschaffen. Wie schon an früherer Stelle (B/2, III) ausgeführt wurde, wurde von der Verwaltung bis ca. 1882 die Konstituierung von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit auf der Grundlage des Vereinsgesetzes 1867 zugelassen, danach wurden im Zuge einer verschärften Kontrolle des Versicherungswesens (Versicherungsregulativ 1880!)401 Neukonstituierungen und Umbildungen jedoch nur mehr auf der Basis des überholten Vereinspatents aus 1852 gestattet; das Krankenversicherungsgesetz bestätigte diese Praxis, indem es normierte (§ 60), daß nur die Mitglieder der aufgrund des Vereinspatents 1852 errichteten Vereine von der Versicherungspflicht befreit waren. Die "freien" Kassen der Arbeiter waren daher mehr oder weniger gezwungen, sich nach dem Vereinspatent 1852 neu- bzw. umzukonstituieren, da die Mitgliedschaft bei einer "freien" Kasse für die Arbeiter sonst eine zusätzliche Prämienbelastung mit sich gebracht hätte402 • Durch das Hilfskassengesetz erhielten die freien Kassen nunmehr die Möglichkeit, ohne sich auf die Grundlage des Vereinspatents zu stützen, durch Registrierung (bei der politischen Landesbehörde: § 5) "besondere Rechte" zu erlangen, als deren wichtigstes die rechtliche Gleichstellung mit einer Vereinskasse i. S. des § 60 des Krankenversicherungsgesetzes anzusehen war (vgl. § 7, Abs. 2), mit der Folge einer Befreiung der Hilfskassenmitglieder von der Krankenversicherungspflicht (§ 7, Abs. 3). Um diesen Kern gruppierten sich aber noch weitere Zwecke der Hilfskassen, die Baernreither in Anlehnung an das englische Hilfskassengesetz aus 1875 in den§ 1 des Österreichischen Gesetzes aufnahm403 : nämlich Invaliditäts- und Altersunterstützung (§ 1, Abs. 2, Z . 3), Witwen- und Waisenunterstützung (Z. 4) sowie die Leistung "einer Summe Geldes ... zu Gunsten eines Dritten (insbesonders als Heiratsgut oder Ausstattung eines Kindes) zahlbar zu einem bestimmten Termine". Diese umfassende Zielsetzung, in Verbindung mit der Einbeziehung der Familienangehörigen der Mitglieder in den Kreis der Anspruchsberechtigten, erschien Baernreither als der "bezeichnende Ausdruck des genossenschaftlichen Geistes, der in den englischen Hülfskassen besteht", und den er auf die Österreichischen Verhältnisse übertragen RGBl. Nr. 110. Vgl. Näheres oben nach Anm. 370. 403 Vgl. hiezu Baernreither, Die englischen Arbeiterverbände, S. 314 ff.; demgegenüber dürfte dem deutschen HUfskassengesetz vom 7. 4. 1876, RGBL S. 125, als Muster für Baernreithers HUfskassenmodell geringere Bedeutung zukommen. 401

40 2

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wollte. Charakteristisch ist insoweit auch die folgende Bestimmung des § 1, letzter Absatz: "Die registrirte HUfskasse ist auch befugt, ihren Mitgliedern, wenn sie erwerbslos sind, Aushilfen zu leisten, wenn sie genöthigt sind, einen Erwerb zu suchen, Reiseunterstützungen zu gewähren, ferner für dieselben Arbeitsvermittlung zu übernehmen, sowie Lesezimmer und Bibliotheken einzurichten." Bemerkenswert ist ferner die großzügige Ausgestaltung der Selbstverwaltung der Hilfskassen (§§ 9- 15), wobei hier die zwei Besonderheiten hervorzuheben sind, daß die Zugehörigkeit zur Generalversammlung an die Erreichung des - für jene Zeit sehr niedrigen Mindestalters von 21 Jahren404 geknüpft war und ferner auch unterstützende Mitglieder in der Generalversammlung vertreten sein konnten(§ 10). Ebenso wie die übrigen als Krankenversicherungsträger zugelassenen Kassen unterlagen auch die registrierten HUfskassen der Staatsaufsicht nach Maßgabe der §§ 19 und 20 des Krankenversicherungsgesetzes (§ 35, letzter Absatz). In versicherungstechnischer Hinsicht, und zwar in bezug auf den Reservefonds, war den HUfskassen eine gewisse Sonderstellung eingeräumt: Zwar war die im Entwurf Baernreithers vorgesehene und von der Arbeiterschaft lebhaft begrüßte406 Beschränkung des Reservefonds auf bloß eine durchschnittliche Jahresausgabe fallengelassen und durch die für die Bezirkskassen normierte Regelung (zweifache Jahresausgabe) ersetzt worden, jedoch konnte an die Stelle dieser starren Regelung auch eine auf die konkreten wirtschaftlichen Verhältnisse der Kasse bezogene versicherungstechnische Abschätzung treten (§ 17, Abs. 2). Im Gegensatz zum Unfall- und Krankenversicherungsgesetz wurde der Entwurf zum Hilfskassengesetz von der Arbeiterschaft ("Gleichheit" vom 2. April 1887) auch hinsichtlich der Details nahezu uneingeschränkt begrüßt und lediglich bedauert, daß ein solches Gesetz nicht schon 20 Jahre zuvor geschaffen wurde. Als berechtigt stellte sich freilich schon bald die in der "Gleichheit" ausgesprochene Vermutung heraus, daß die Regierung die von Baernreither vorgesehene Halbierung des Reservefonds gegenüber den Bezirkskassen nicht aufrechterhalten werde. Auch die Schwierigkeiten, die sich bei der praktischen Handhabung der Vorschriften über die 404 Vgl. Baernreithers Ausführungen in den StProtAH, 10. Sess. (25. 1. 1888), S. 6566 und demgegenüber § 17 (österr.), KVG, wonach die Mitbestimmung Eigenberechtigung (Vollendung des 24. Lebensjahres) voraussetzte. 405 Vgl. die "Gleichheit" vom 2. 4. 1884, S. 5.

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Alters- und Invaliditätsversicherung der HUfskassen ergeben würden, wurden zutreffend erkannt. Gemäß § 19 des HUfskassengesetzes war nämlich zur Einführung dieses Versicherungszweiges der Nachweis des Beitritts von mindestens 200 Personen sowie die Prüfung und Genelunigung des Versicherungsplanes durch das Innenministerium erforderlich, wobei die "Aufstellung der Tarife, sowie die Ansammlung einer Reserve . . . nach den Grundsätzen versicherungsmässiger Deckung zu erfolgen" hatte.

3. Auswirkungen Der praktische Erfolg des Hilfskassengesetzes406 war zunächst sehr gering. So stieg die Zahl der registrierten HUfskassen in den Jahren 1893 - 97 von 1 (Ende 1893) auf lediglich 35 (Ende 1897). Als ausschlaggebend für diesen Mißerfolg ist wohl u. a. der 1892 begangene legislatorische Fehler anzusehen, daß man die auf der Grundlage des Vereinspatents von 1852 errichteten Vereine unverändert weiterbestehen ließ und nic.M etwa einen Zwang zur Überführung dieser Vereine in registrierte Hilfskassen ausübte. Erst durch die Gewerbeordnungsnovelle vom 23. Februar 1897, RGBL Nr. 63, in der sich die aktive Mittelstandspolitik der damaligen Regierung407 niederschlug, wurde für die "Meisterunterstützungs- und Meisterkrankenkassen" (§ 115 a Gewerbeordnung) dieser Weg beschritten408. Die Meisterkassen, die sich demnach nur als registrierte HUfskassen und nicht als Vereine (i. S. des Vereinspatents 1852 bzw. des Vereinsgesetzes 1867) konstituieren konnten, hatten denn auch wesentlichen Anteil an dem nicht unbeträchtlichen Aufschwung der registrierten Hilfskassen in den Jahren 1898 ff.: So stieg die Zahl dieser Kassen von 61 (Ende 1898) auf 199 (Ende 1903), wovon allerdings nur 175 Ende 1903 in Tätigkeit standen. Siebzig von diesen 199 Kassen stand Ende 1903 die Berechtigung zur Krankenversicherung i. S. des § 7 des HUfskassengesetzes zu409. Der bei weitem dominierende Versicherungszweig war die Krankenversicherung; nur wenige Kassen erstreckten ihre Tätigkeit über diesen einen Versicherungszweig hinaus. Vor allem kam der Invaliditäts- und Altersversicherung, die Baernreither besonders Vgl. hiezu ÖStWB, II, S. 857 f. Vgl. öStWB Il, S. 456, aber auch die kritische Darstellung bei Waentig, Mittelstandspolitik, insbes. S. 472 ff.; jetzt Sandgruber, in: Soziale Sicherheit im Nachziehverfahren, S. 138 ff. 408 Entgegen der bisherigen Rechtslage war es nunmehr auch möglich, die Zugehörigkeit durch eine 3/4-Mehrheit in der Generalversammlung für Meisterkrankenkassen obligatorisch zu machen (§ 115 a Gew.O.). - über die Diskussion, die zu dieser Neuregelung führte, vgl. Sandgruber, S. 144. Zur späteren Entwicklung vgl. B/5, VII. 40 9 ÖStWB II, S. 858. 4oo 407

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am Herzen gelegen war, nur ganz untergeordnete Bedeutung zu, was aus der Relation der Kassenleistungen unschwer zu erkennen ist410• In territorialer Hinsicht bildete neben Wien vor allem Prag einen Schwerpunkt der registrierten Hilfskassen (1903: 34 in Wien, 82 in Prag)411• VU. Das Bruderladengesetz vom 28• .Jull 1889

1. Reformpläne der liberalen Ara Über die Mängel der auf Grund des Berggesetzes von 1854 errichteten

Bruderladen wurde bereits an früherer Stelle (B/2, I) berichtet. Als

nachteilig wurden vor allem die zu geringen Leistungen, das Fehlen einer gesetzlich normierten Beitragspflicht der Bergwerksinhaber, die schlechte wirtschaftliche Situation und schließlich auch die Organisation der Bruderladen, die eine Übertrittsmöglichkeit der Bergleute von einem Betrieb zu einem anderen ausschloß, empfunden. Der noch in der liberalen Ära entstandene "Referenten-Entwurf eines neuen Berggesetzes" aus 1876412 versuchte in den §§ 138-157, durch folgende Regelungen eine Besserung der Situation der Bruderladen herbeizuführen: 1. durch weitgehende organisatorische Trennung von Krankenkassen einerseits und Versorgungsvereinen andererseits; 2. durch die Vergrößerung der Sprengel der Versorgungsvereine über den Werksbereich hinaus und 3. durch die Normierung eines Pflichtbeitrages der Werksbesitzer in Höhe der Hälfte des Arbeiterbeitrages. Nach dem Scheitern des Entwurfs von 1876 war die Reform der Bruderladen413 erst wieder im Jahre 1882 Gegenstand politischer Initiativen. Am 9. März 1882 beantragte der Abgeordnete Josef Krofta unter dem Eindruck blutiger Bergarbeiterunruhen die Änderung des die Bruderladen regelnden X. Kapitels des Berggesetzes414, wobei sich seine Vorschläge im einzelnen mit dem Entwurf von 1876 deckten.

410 1903 betrugen die von allen registrierten Hilfskassen erbrachten Leistungen zu Kassenunterstützungszwecken nahezu 1,5 Mill. K, die Summe aller Invaliditäts- und Altersrenten hingegen nur ca. 1.600 K: öStWB II, S. 858. 411 ÖStWB Il, S. 858. Die Aufhebung des Hilfskassengesetzes erfolgte durch das Gesetz v. 26. 6. 1924, BGBl. Nr. 212. 412 Vgl. oben B/2, I. 413 Vgl. hiezu insbes. ÖStWB I, S. 646 ff. 414 StProtAH, 10. Sess., S. 7316; Beil. Nr. 484; über die Zustände im österr. Bergbau vgl. die plastische Schilderung in der "Gleichheit" vom 2. 7. 1887, s. 3f.

37 Sozialversicherung

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2. Regierungsberatungen; statistische Vorarbeiten Im Kreise der Regierung415 kam es anläßlich der Beratungen des Unfallversicherung,sgesetzes (vgl. oben B/3, IV) in der Frage der Einbeziehung der Bergarbeiter in die gesetzliche Unfallversicherung zu schweren Auseinandersetzungen zwischen dem ressortzuständigen Landwirtschaftsminister Falkenhayn und den übrigen Regierungsmitgliedern. Aus den Regierungsberatungen ist eindeutig zu erkennen, daß die treibenden Kräfte der Sozialversicherungsgesetzgebung, also Taaffe, Prazäk und Steinbach die Einbeziehung der Bergarbeiter in das sozialpolitische Reformwerk für unumgänglich hielten. Es machte sich hier aber freilich das auch sonst häufig anzutreffende Phänomen bemerkbar, daß die Überwindung älterer, unzulänglicher Institutionen sich als schwieriger erweist als ein Neuaufbau, der auf keinerlei Traditionen Rücksicht nehmen muß. Trotz der allseits bekannten Mängel wurden die Bruderladen vom Großteil der Bergwerksbesitzer für ausreichend empfunden, und es wurde beispielsweise in der "Denkschrift der sämentlichen montanistischen Vereine Österreichs"416 aus Anfang 1884 behauptet, daß die Angleichung der Bruderladen an das Leistungsniveau des Unfallversicherungsgesetzes eine unvertretbare Mehrbelastung des Österreichischen Bergbaues mit sich bringen würde (angebliche Erhöhung der Gestellungskosten der Produkte: 6,5 - 8 Ofo). Eine ähnliche Haltung wie der Verband der montanistischen Vereine hatte ursprünglich auch Ackerbauminister Falkenhayn eingenommen, indem er die Reformbedürftigkeit der Bruderladen überhaupt leugnete; unter dem Eindruck der in der Regierung Taaffe vorherrschenden Stimmung änderte Falkenhayn jedoch seine Taktik: Um den Befürwortern einer Einbeziehung der Bergarbeiter in das Unfallversicherungsgesetz zuvorzukommen, stellte er sich selbst an die Spitze einer Bruderladen-Reformbewegung. Diese konnte sich - im Gegensatz zu den Initiatoren des Unfallversicherungsgesetzes - auch auf einheimisches statistisches Material stützen, das der damalige Leiter des versicherungstechnischen Bureaus des Innenministeriums, Regierungsrat Julius Kaan, seinen Berechnungen zugrundelegte. In seiner mit 7. April1884 datierten Stellungnahme417 zu der erwähnten Denkschrift der montanistischen Vereine zeigte Kaan einerseits die Unzulänglichkeiten der vorhandenen Bruderladen und andererseits die Finanzierbarkeit einer zeitgemäßen Reform (und zwar zunächst für den Bereich der Unfallversicherung) auf. 415

418 417

AVA, MRP, 1882, Nr. 96; 1883, Nr. 25 u. ö. Vgl. bereits oben B/3, IV 3, bei Anm. 317. Näheres bereits oben Anm. 303 und 317.

135

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57[)

Unter Zugrundelegung der Daten der "statistischen Jahrbücher des k. k. Ackerbau-Ministeriums" (Jahrgang 1882) stellte Kaan fest, daß der Durchschnitt der Leistungen aller Österreichischen Bruderladen für Invalide nur 23 OJo (= 70,74 fl.), für Witwen von Bergleuten 10 OJo (= 31,78 fl.) und für Waisen 3 OJo (= 10,78 fl.) des bisherigen durchschnittlichen Jahresverdienstes betrug. Schon diese Zahlen belegten eindeutig die zu geringe Leistungsfähigkeit der Bruderladen; überdies stellte Kaan bei den einzelnen Bruderladen sehr unterschiedliche Rentenhöhen fest, zumal in Hinblick auf die Unfallinvaliden: Bei manchen Bruderladen wurde diesen (bei Vollinvalidität) die Höchstrente zugebilligt, bei anderen nur eine prozentuale Erhöhung der der Dienstzeit jeweils entsprechenden Rente usw. Unter vergleichsweiser Heranziehung der deutschen Reichsstatistik errechnete Kaan ferner auf der Grundlage der statistischen Angaben des Ackerbauministeriums die finanziellen Auswirkungen einer Angleichung des Leistungsschemas der Bruderladen an das für das Unfallversicherungsgesetz vorgesehene Niveau (60 OJo des bisherigen Verdienstes). Nach Meinung Kaans wäre diese Angleichung mit einer Erhöhung des bisherigen Einzahlungssatzes (0,7 Lohnprozent) auf ca. 1,5 Lohnprozent bzw. der Gestellungskosten der Produkte um 0,7 bis 0,9 Ofo verbunden gewesen. Damit waren die montanistischen Vereine, die in ihrer Denkschrift etwa das Zehnfache dieser Werte angenommen hatten, widerlegt. Kaan legte noch im selben Monat (April 1884) dem Ackerbauminister umfangreiche Berechnungen418 über die Invaliditätsversicherung der Bergarbeiter vor, die 1885 sogar im Druck veröffentlicht wurden. Ferner veranstaltete Falkenhayn 1882 und 1885 Enqueten419, die bereits klar erkennen ließen, daß eine weitreichende organisatorische Umgestaltung i. S. des Berggesetz-Entwurfs von 1876 am Widerstand der Bergwerksbesitzer scheitern werde. Vor allem die obligatorische Zusammenfassung der Provisionsversicherung der Werksbruderladen zu Bezirksanstalten wurde- in Rücksicht auf den Widerstand der Werksbesitzer - wieder fallengelassen; in der Ministerratssitzung vom 20. Oktober 1883420 sprach sich Falkenhayn gegen die Ausscheidung der Deckungskapitalien (der Provisionsversicherung) aus der Bruderlade aus, weil "durch die staatliche Aufsicht über die Bruderladen dieselbe Sicherheit beschafft werden könne, wie bei der Bezirksversicherungsanstalt". Steinbach widersprach dem zwar, deutete aber schon damals die - später in das Gesetz gelangte - Kompromißlösung an: Wie vorige Anm. sowie insbes. Anm. 303! Vgl. die Mitteilungen im Bericht der Herrenhaus-Kommission in StProtHH, 10. Sess.; Beil. Nr. 381. 42o A VA, MRP, 1883, Nr. 62. 418

419

37*

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Eine neue Situation würde sich, so meinte Steinbach, ergeben, wenn "bei der Reform der Bruderladen ein Verbandsverhältnis hergestellt sein würde. Dem Verband könnte man allerdings die Deckungskapitalien überlassen". Mit der Frage der Sprengelgrößen war unmittelbar die Problematik verbunden, ob und inwieweit eine organisatorische Trennung zwischen den Provisionsversicherungsträgern auf der einen und den Krankenversicherungsträgern auf der anderen Seite vorgenommen werden sollte. Ein dem Ministerratsprotokoll vom 20. Oktober 1883 beiliegender Entwurf einer Neuregelung der Bruderladen läßt auch insoweit eine starke Abschwächung der im Berggesetz-Entwurf 1876 verwirklichten Reformgedanken erkennen421 • § 7, Abs. 1 dieses Entwurfes lautet: "Die Verwaltung der Kranken- und Versorgungskassen erfolgt am Standort derselben von dem hiezu berufenen Ausschuß für beide Kassen; die Verrechnung jedoch für jede derselben getrennt." Von einer obligatorischen Zusammenfassung der Provisionskassen mehrerer Bruderladen zu einer Bezirkskasse ist hier keine Rede mehr; in § 1 des Entwurfs wird lediglich die Möglichkeit eines freiwilligen Zusammenschlusses mehrerer Bruderladen zu einer größeren aufgezeigt. Immerhin aber ist das Prinzip getrennter Verrechnung der Krankenversicherung auf der einen und der Provisionsversicherung auf der anderen Seite beibehalten.

3. Die Regierungsvorlage von 1887

und deren parlamentarische Behandlung

Nach einer weiteren Enquete im Jahre 1885422 brachte Falkenhayn am 1. Februar 1887 die Regierungsvorlage423 "betreffend die Regelung der

Verhältnisse der nach dem allgemeinen Berggesetze errichteten oder noch zu errichtenden Bruderladen" ein. Hinsichtlich der Organisation der Versicherungsträger nahm die Vorlage einen Kompromißstandpunkt ein: Zwar blieben für alle Versicherungszweige die Bruderladen der gemeinsame Versicherungsträger, es konnte jedoch- zusätzlich zu der Möglichkeit freiwilligen Zusammenschlusses - die zwangsweise Vereinigung mehrerer Bruderladen durch die Aufsichtsbehörde (Berghauptmannschaft) ausgesprochen werden, wenn dies zur Erhaltung bzw. Herstellung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erforderlich 421 Vgl. oben nach Art. 163. Gern. § 139 des Entwurfs von 1876 durften nur mehr die Krankenkassen als Werkskassen errichtet werden, während für die Unfall- und Invaliditätsversicherung größere Sprengel vorzusehen waren. 422 Vgl. zur Entstehung des Bruderladengesetzes auch Menzel, Arbeiterversicherung, S. 38 ff.; Lederer, Grundriß, S. 429, Anm. 1. 423 StProtAH, 10. Sess.; Beil. Nr. 300.

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schien. Die einzelne Bruderlade war weitgehend nach d.e m Modell der Betriebskrankenkassen organisiert. Ungeachtet der prinzipiell beibehaltenen organisatoris~n Einheit der Bruderladen sollten die drei Versicherungszweige (Kranken-; Unfall-; Alters-, Witwen- und Waisenversicherung) getrennt verrechnet werden. Das Leistungsschema der Kranken- und Unfallversicherung war in der Vorlage jenem des Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes völ..., lig angeglichen; abgesehen von der durch Unfall herbeigeführten Invalidität blieb die Festsetzung der Provision den Statuten der Bruderladen überlassen. Zwei Drittel der nach versicherungstechnischen Grundsätzen erforderlichen Mittel waren von den Versicherten, ein Drittel von den Werksbesitzern aufzubringen. Bestehende Bruderladen, die ein rechnungsmäßiges Defizit aufwiesen, sollten nach Möglichkeit durch: Erhöhung der Beiträge bzw. durch Aufteilung des Defizits auf sämtliche Mitglieder saniert werden; bei Mißlingen der Sanierungsaktion sollten die betreffenden Bruderladen aufgelöst und die gegen sie bestehenden Ansprüche liquidiert werden. Vor allem die letztgenannte Regelung sowie auch die unterschiedliche Behandlung von Alters- und Unfallinvaliden rief in parlamentarischen Kreisen vielfach Widerspruch hervor. Der mit der Beratung der Vorlage vom Abgeordnetenhaus betraute Gewerbeausschuß bestimmte zunächst Baernreither zum Referenten424 ; dieser trug schon Anfang 1887 seine aus gründlichen Studien des Bruderladenwesens gewonnenen Auffassungen de:m Ausschuß vor und überreichte im Herbst 1887 dem Ausschuß sein~n Bericht425, der vor allem in zwei wichtigen Punkten von der Regierungsvorlage abwich: In Anlehnung an den Entwurf eines neuen Berggesetzes aus 1876 schlug Baernreithernämlich vor, lediglich die Krankenversicherung den Werksbruderladen zu überlassen, hingegen alle übrigen Versicherungszweige auf Revierbruderladen zu übertragen. Ferner lehnte Baernreither die in der Regierungsvorlage als ultima ratio vorgesehene Möglichkeit einer Auflösung finanziell notleidender Bruderladen energisch ab und trat für Staatszuschüsse zu den Bruderladen ein. Es war dies das erste Mal, daß im Österreichischen Parlament die Idee des Staatszuschusses zur Sozialversicherung offen befürwortet wurde, und es ist doppelt bemerkenswert, daß dies gerade durch einen Politiker des liberalen Lagers geschah! Aus der Sicht des Baernreitherschen Buches über die englischen Arbeiterverbände erscheint diese 424 425

über ihn oben B/3, IV 5. StProtAH, 10. Sess.; Beil. Nr. 729; s. auch Brügel, Soziale Gesetzgebung,

s. 149.

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Haltung Baernreithers freilich als durchaus konsequent. Einer der wichtigsten Grundgedanken des Buches ist die Verbindung von Selbsthilfe und Staatshilfem, die übrigens - unter konkretem Bezug auf Bruderladen - auch von einsichtsvollen Bergwerksbesitzern427 befürwortet wurde. Die Mehrheit des Gewerbeausschusses konnte sich freilich weder mit der obligatorischen Einführung der Revierbruderladen noch mit dem Gedanken des Staatszuschusses anfreunden - ob hiefür eher prinzipielle Bedenken oder der Zustand der Staatsfinanzen428 maßgeblich waren, kann dahingestellt bleiben - und wies die Vorschläge Baernreithers am 28. Februar 1888 zurück429, worauf dieser seinen Rücktritt erklärte; zum Nachfolger Baernreithers wurde der - ihm an Rang als Sozialpolitiker kaum nachstehende - konservative Abgeordnete Biliitski430 zum Referenten gewählt. Der von Biliitski ausgearbeitete Entwurf distanzierte sich zwar von den beiden Änderungsvorschlägen Baernreithers, stellte aber insgesamt betrachtet einen Kompromiß zwischen diesen und der Regierungsvorlage dar. In seiner endgültigen, durch die vom Ausschuß in der Zeit vom 20. bis 22. März, 26. April und 12. Mai 1888 abgehaltenen Expertisen431 modifizierten Fassung wurde der Entwurf Biliitski vom Gewerbeausschuß angenommen, sodann am 22. Februar, 7. und 9. März 1889 im Abgeordnetenhaus beraten432 und schließlich mit einer wesentlichen Änderung hinsichtlich der Sanierungsregelung am 7. März in zweiter und am 9. März in dritter Lesung angenommen433 • Auf der Grundlage eines sehr gründlichen Berich1;s434 seiner zur Vorberatung eingesetzten Kommission nahm auch das Herrenhaus die Vorlage in unveränderter Fassung an435 , worauf am 28. Juli 1889, RGBI. Nr. 127, die kaiserliche Sanktion erfolgte. Zwecks Durchführung des Bruderladengesetzes erging am 11. September 1889, RGBI. Nr. 148 eine Verordnung des Ackerbauministeriums, am 14. November 1890 wurde durch Erlaß desselben Ministeriums das Musterstatut436 publiziert. Bachmann, Baernreither, S. 32. über die Kontakte Baernreithers zu dem Direktor der Hüttenherger Bruderlade Fritz v. Ehrenwerth, vgl. Bachmann, Baernreither, S. 32. 428 Näheres Anm. 294. 429 StProtAH, 10. Sess., Beil. Nr. 729; Entwurf Baernreithers: Teil C. 430 Leon Ritter von Biliiiski war Professor der Nationalökonomie in Lernberg (Galizien); über ihn vgl. ÖBL I, S. 84 f . sowie Ebert, Sozialpolitik, s. 185 ff. u. ö. 431 Vgl. die Mitteilung in den StProtHH, 10. Sess.; Beil. Nr. 381. 432 StProtAH, 10. Sess., S. 10679 -10705 bzw. S. 10906- 10925. 433 StProtAH, 10. Sess., S. 10962. 434 Wie Anm. 419. 43 5 StProtHH, 10. Sess., S. 969. 428

427

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4. Die wesentlichen Bestimmungen des Bruderladengesetzes Im folgenden soll auf die wesentlichen Bestimmungen des Bruderladengesetzes kurz eingegangen werden; soweit nicht anders angegeben, decken sich diese mit jenen des Entwurfs Biliilski. Gern. § 1 hatten die Bruderladen zweierlei Unterstützungen zu gewähren: "1. Krankenunterstützung beziehungsweise Begräbnisgelder" und "2. Provisionen für Invaliden beziehungsweise Witwen und Waisen". Dieser zweifachen Aufgabe wurde gern. § 2 in organisatorischer Hinsicht dadurch Rechnung getragen, daß bei jeder Bruderlade "je eine besondere Verwaltungsabtheilung (Krankencasse, Provisionscasse) einzurichten war, die die für ihre Zwecke erforderlichen Einnahmen und Ausgaben getrennt festzustellen und zu verrechnen" hatte. Durch § 2 des Bruderladengesetzes wurde demnach - mit großer Verspätung - die schon in den siebziger Jahren geforderte verrechnungsmäßige Trennung der beiden Versicherungszweige durchgeführt, die nun auch in versicherungstechnischer Hinsicht nach ganz unterschiedlichen Prinzipien behandelt werden konnten: Während für die Krankenversicherung der Bruderladen ebenso wie für die des Krankenversicherungsgesetzes das Prinzip der "Ausgaben-437 oder Aufwanddeckung"438, demzufolge bei der Berechnung der Beiträge auf den jeweiligen Jahresbedarf abgestellt wird, zur Anwendung kam, galt für die Provisionsversicherung der Grundsatz der "Anwartschafts- oder Wahrscheinlichkeitsdeckung", der für die Prämienberechnung die Berücksichtigung nicht nur der liquiden, sondern auch der künftig zu erwartenden Verpflichtungen bzw. Einnahmen (vgl. die in § 35 vorgeschriebene periodische Prüfung) gebot. Negativ betrachtet bedeutete § 2 aber gleichzeitig den Verzicht auf eine vollständige organisatorische Trennung der beiden Versicherungszweige der Bruderladen, wie diese zuletzt von Baernreither vorgeschlagen worden war. Der Bericht der Herrenhauskommission439 führt dazu aus: "Gegen eine solche Trennung sprachen social-ethische Bedenken. Die Bruderladen haben sich in der Bergbauarbeiterschaft eingelebt, sie bilden ein wesentliches Einigungselement; sie sollen mehr als blosse Cassen sein, sie sollen wirkliche Corporationen bilden." Hinsichtlich des Leistungsschemas stimmte nur die Regelung der Krankenunterstützung mit der seinerzeitigen Vorlage überein: Gemäß § 3 waren Krankenunterstützungen mindestens in dem vom Kranken436 Erlaß des k. k. Ackerbau- Ministeriums vom 14. 11. 1890, Z. 16906, Beibl. Nr. 9 (abgedruckt bei Max Mandl, Gesetz vom 28. Juli 1889 ..., S. 115 ff.). 437 Vgl. Heinrich Rosin, Das Recht der Arbeiterversicherung, 1893, S'. 561. 438 Menzel, Arbeiterversicherung, S. 198. 439 StProtHH, 10. Sess., Beil. Nr. 381 (II 2).

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versicherungsgesetz (§§ 6- 8) normierten Ausmaß zu gewähren440. Die in die Invaliditätsversicherung integrierte Unfallversicherung der Bruderladen ging jedoch (§ 4) in Abkehr von den Prinzipien der Regierungsvorlage - jedenfalls für die etwas besser verdienenden Arbeiter - von wesentlich niedrigeren Mindestwerten aus als das Unfallversicherungsgesetz. Während das letztere (in§ 6) die Rente der Unfallinvaliden mit 60 Ofo des Jahresarbeitsverdienstes bemaß, setzte das Bruderladengesetz (§ 4) die jährliche Invalidenrente unabhängig von dem Grund der Invalidität mit mindestens 100 Gulden für männliche bzw. mindestens 50 Gulden für weibliche Arbeiter fest4 41 • Mit diesem für alle Bergarbeiter einheitlichen Mindestbetrag wollte der Gewerbeausschuß (auf Anregung Biliii.skis) einen Kompromiß zwischen dem durch das Unfallversicherungsgesetz vorgegebenen Standard und der Höhe der bisherigen Renten erzielen. Die Durchschnittsprovision betrug 1881 jährlich 76 fl. für die Invaliden, 32 fl. für die Witwen und 11 fl. für die Waisen442 ; die neuen Mindestrenten waren demgegenüber um ca. 25 Ofo höher; für Arbeiter mit einem durchschnittlichen Jahresverdienst von 300 fl. lagen die Mindestrenten des Bruderladengesetzes freilich trotzdem ganz erheblich unter jenen des Unfallversicherungsgesetzes (60 Ofo von 300 = 180). Abgesehen von der geringen Leistungsfähigkeit der Bruderladen erschien dem Gewerbeausschuß auf Anraten von Experten443 die Anwendung der Rentenhöhen des Unfallversicherungsgesetzes auf die Bergarbeiter freilich auch deshalb ausgeschlossen, weil damit eine ungerechtfertigte Bevorzugung der Unfallinvaliden gegenüber den Altersinvaliden eingetreten wäre. Eine von den Bergarbeitern, aber auch von vielen Experten und Politikern seit langem erhobene Forderung wurde in § 7 verwirklicht: Bei Übertritt eines Mitgliedes von einer Bruderlade zur anderen mußte sein Anteil an der Reserve der Provisionskasse der bisherigen Bruderlade auf die der neuen übertragen werden. Dadurch wurde endlich der Freizügigkeit der Bergarbeiter in wirtschaftlicher Hinsicht zum Durchbruch verholfen444• Hinsichtlich des Versicherungszwanges (§ 10) war zwischen den beim Bergbau ständig beschäftigten Arbeitern, deren Beitrittspflicht sich auf Ho Auch hiefür waren demnach die ortsüblichen Taglöhne zugrundezulegen, nicht der konkrete Lohn des Versicherten; bei Werken, deren Anlagen sich über mehrere Gerichtsbezirke erstreckten, war von einem Mittelwert auszugehen. 441 .Jenseits dieser Mindestbeträge konnte die Rente durch das Statut entweder in einem für alle Mitglieder gleichen oder auf die Dauer der Mitgliedschaft Bedacht nehmenden Ausmaß festgesetzt werden. 442 ÖStWB I, S. 646. ua StFrotHH, 10. Sess., Beil. Nr. 381. 444 Allerdings fehlte eine analoge Bestimmung bei der Krankenversicherung.

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beide Kassenabteilungen bzw. alle Versicherungszweige erstreckte, und den nicht ständig oder nicht unmittelbar im Werksbetrieb beschäftigten Arbeitern zu unterscheiden, die "lediglich" verpflichtet waren, "bei der Krankencasse der Bruderlade, bei der Provisionscasse aber nur für den Fall einer aus einem Betriebsunfall herrührenden Erwerbsunfähigkeit versichert zu sein". Krankenversicherungspflichtig waren ferner alle Betriebsbeamten, jene mit einem Gehalt von unter 1.200 fl. waren überdies bei der Provisionskasse unfallversicherungspfl.ichtig445 • Hinsichtlich der Organisation der Bruderladen ging das Gesetz

(§§ 16 ff.) im Einklang mit der Regierungsvorlage vom Modell der Be-

triebskrankenkassen aus; wie bei den letzteren446 konnte der Stimmenanteil der Werksbesitzer im Vorstand ebenso wie in der Generalversammlung maximal ein Drittel der Gesamtstimmenzahl erreichen (§§ 17, Abs. 1; 18, Abs. 2). Das Recht des Vorsitzes im Vorstand räumte das Bruderladengesetz dem Werksbesitzer unmittelbar ein (§ 17, Abs. 2), während die Einräumung des Vorsitzes des Vorstandes der Betriebskrankenkassen durch das Krankenversicherungsgesetz dem Statut überlassen wurde. In weiterer Übereinstimmung mit der Regierungsvorlage ermöglichte das Gesetz (§ 22) die zwangsweise sowie die freiwillige Vereinigung mehrerer Bruderladen. Obwohl sich mehrere Experten dagegen ausgesprochen hatten, wurden auch die Krankenkassen der Bruderladen von einer solchen Zusammenlegung erfaßt, da der Gewerbeausschuß die Bruderladen als organisatorische Einheit der beiden Kassen auch in diesem Fall nicht aufgeben wollte. Während die Regierungsvorlage die Beitragsverpflichtung der Werksbesitzer mit einem Drittel, jene der Mitglieder dagegen mit zwei Drittel festlegte, ging der Gewerbeausschuß zu einer Beitragsleistung je zur Hälfte über (§ 29, Abs. 1 des Gesetzes). Abgesehen davon, daß bis dahin eine Beitragspflicht der Bergwerksbesitzer überhaupt nicht bestanden hatte, war dieser Prozentsatz auch wesentlich höher als der von den Werksbesitzern bisher (im Durchschnitt) freiwillig geleistete447 • In Ergänzung zu den schon oben angeführten versicherungstechnischen Prinzipien, nach denen die beiden Kassen zu führen waren, sei noch erwähnt, daß gemäß § 36 ebenso wie für alle dem Krankenversicherungsgesetz unterworfenen Krankenkassen auch für jene der Bruderladen ein Reservefonds im Mindestbetrag der "zweifachen durchschnittlichen Jahresausgabe" angesammelt und gehalten werden mußte (Abs. 1). Lehrlinge und Volontäre je nach ihrer Verwendung. Vgl. oben B/3, V. 447 Er betrug durchschnittlich bloß 34 Ofo der Arbeiterbeiträge; öStWB I, s. 646. 445

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Auch für die Provisionskasse war eine Prämienreserve anzulegen, deren Höhe dem Grundsatz der "Wahrscheinlichkeitsdeckung" im obengenannten Sinne entsprechen mußte (Abs. 2). Darüber hinaus wurde allen Werksbesitzern der zisleithanischen Reichshälfte die Verpflichtung auferlegt (§ 37), einen Zentralreservefonds mit Sitz in Wien zu gründen. Aufgabe dieses Fonds, in den alle Werksbesitzer im Verhältnis der Lohnsummen ihrer Betriebe einzuzahlen hatten, war es, bei Massenunfällen der betroffenen Provisionskasse die die Rentenansprüche von mehr als fünf verunglückten Versicherten übersteigenden Mehrauslagen zu ersetzen. Die Verwaltung des Zentralreservefonds oblag €iner Kommission, die zu je einem Drittel aus Werksbesitzern, Bergarbeitern und Ministerialbeamten zusammengesetzt war und unter dem Vorsitz des Ackerbauministers stand (§ 38). Hinsichtlich der Maßnahmen zur Sanierung passiver Bruderladen schloß sich der Gewerbeausschuß insoweit den Vorschlägen Baernreithers an, als die Auflösung der Bruderladen für unzulässig erklärt wurde. Als Mittel zur Sanierung wurden primär die Erhöhung der Bei~ träge, in zweiter Linie die Reduktion der Ansprüche bis zur Hälfte des gesetzlichen Minimums, sodann eine Erhöhung der Werksbesitzer-Beiträge bis zu zwei Lohnprozenten und letztlich die Herabsetzung der bereits liquiden Provisionen vorgesehen (§§ 41 ff.). Schon bald zeigte sich freilich, daß die vorgesehenen Maßnahmen zur Sanierung der passiven Bruderladen nicht ausreichten bzw. politisch nicht durchsetzbar waren. Von den insgesamt ca. 340 Bruderladen hätte bei 127 die vom versicherungstechnischen Departement448 empfohlene Erhöhung der Beitragsleistungen zur Sanierung nicht ausgereicht; bei 117 Bruderladen hätte eine mehr oder minder starke Kürzung der Ansprüche erfolgen müssen; bei dreien hätte trotz Kürzung der Ansprüche auf das gesetzliche Minimum (50 °/o) eine Erhöhung der WerksbesitzerBeiträge, bei sieben sogar die Herabsetzung der liquiden Provisionen stattfinden müssen449 • Da sowohl die Erhöhung der Beiträge als auch die Kürzung der Provisionen von den Arbeitern vehement abgelehnt wurden, wollte die Regierung4 50 nunmehr die Werksbesitzer dazu heranziehen, die bereits anerkannten Ansprüche der Provisionisten aus eigenen Mitteln zu erfüllen, wenn die Gelder der Provisionskasse hiezu nicht ausreichten. Ferner sollten die Krankenversicherungskassen sofort realisiert werden, auch wenn die der gleichen Bruderlade zugehörige Provisionskasse noch nicht neu konstituiert worden war. Der Gewerbeausschuß des Abgeordnetenhauses stimmte jedoch nur dem letztgenann448 Vgl. StProtAH, 11. Sess., Beil. Nr. 458 (Bericht des Gewerbeausschusses). m Wie Anm. 448. 450 StProtAH, 11. Sess., Beil. Nr. 193.

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ten Schritt zu451 , so daß die geplante Novelle als Gesetz vom 30. Dezember 1891, RGBI. Nr. 3/1892, nur zur Hälfte verwirklicht werden konnte. Hinsichtlich der Sanierungsfrage zeigte sich der Gewerbeausschuß den Wünschen der Werksbesitzer aufgeschlossen und überließ deren Lösung primär dem Sanierungsplan der jeweiligen Bruderlade, subsidiär sollte durch langfristige Darlehen, zu deren Rückzahlung Werksbesitzer und Bergarbeiter je zur Hälfte beitragen sollten, die Sanierung bewirkt werden (Gesetz vom 17. September 1892, RGBI. Nr. 178). Die Bruderladengesetzgebung muß wohl einerseits in versicherungstechnischer, andererseits in politischer Hinsicht als der schwierigste Teil der Arbeiterversicherungsgesetzgebung der achtziger Jahre angesehen werden. Positiv anzumerken ist zunächst, daß den Bergarbeitern - freilich in Weiterentwicklung der im Berggesetz und älteren Normen vorhandenen Ansätze- von allen Österreichischen Arbeitern der umfassendste Versicherungsschutz zuteil wurde; dies ist in Anbetracht des späten Zeitpunkts, zu dem die Altersversicherung auch der übrigen Arbeiter in Österreich verwirklicht wurde, um so bemerkenswerter. Wenngleich der Bergbau in Österreich auch vor dem Verlust der Sudetenländer, gesamtwirtschaftlich betrachtet, nicht eine so dominierende Rolle einnahm wie im Deutschen Reich, sind die Mitgliederzahlen und Leistungen der Bruderladen insgesamt doch sehr beachtlich. Im Jahre 1900, als der bei weitem größte Teil der noch aktiven Bruderladen bereits nach den Prinzipien des Bruderladengesetzes von 1889 (um-)konstituiert war, bestanden bei den ca. 240 Bruderladen 185 selbständige Krankenkassenabteilungen mit einem Mitgliederstand von über 180.000 sowie 183 selbständige Provisionskassen mit nahezu 170.000 Mitgliedern. Die an Mitglieder erbrachten Leistungen der Krankenkassen betrugen nahezu 3,8 Millionen Kronen, die an über 16.000 Invaliden, ebensoviele Witwen und nahezu 11.000 Waisen geleisteten Provisionen erreichten insgesamt den Betrag von ca. 5,5 Millionen Kronen. Die durchschnittliche Invaliditätsrente betrug im Jahre 1900 ca. 224 Kronen, lag also nur unwesentlich über dem gesetzlichen Minimum452 • Trotz des unbestreitbaren Fortschritts, den das Bruderladengesetz gegenüber dem bisherigen Reclitszustand brachte, rief es bei den Bergarbeitern doch größtenteils negative Reaktionen hervor453 • Wie Anm. 448. öStWB I, S. 657.- Die Gegenüberstellung ist jedoch insofern nicht ganz zuverlässig, als bei der Errechnung der Durchschnittszahl nicht nur Renten für Vollinvalide zur Grundlage genommen wurden. 453 Gute Zusammenstellung der von Seite der Arbeiterschaft vorgebrachten Einwände bei Otto Stöger, öStWB I, S. 658 f. 451

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Baernreither hatte die Situation richtig erkannt, als er eine finanzielle Beteiligung des Staates bei der Sanierung bzw. Finanzierung der Bruderladen (insbes. der Provisionsversicherung) forderte. Auch in psychologischer Hinsicht hätte der Staatszuschuß eine Art Wiedergutmachung für die langjährige Passivität dargestellt, mit der der (liberale} Staat den Problernen der Bergarbeiter gegenübergestanden war. In den Augen der Arbeiterschaft war der Staat nicht zuletzt auch für die schlechte finanzielle Lage der Bruderladen mitverantwortlich, da er die Normierung einer Beitragspflicht der Unternehmer jahrelang verzögert und das Schicksal der Bruderladen dem Gutdünken der Bergwerksbesitzer anheirngestellt hatte. Daß der Staat nun seine finanzielle Hilfe verweigerte und statt dessen eine Erhöhung der Beiträge bzw. eine Kürzung der ohnedies recht schmalen Provisionen vorsah, wurde daher mit Ablehnung, ja Erbitterung zur Kenntnis genommen. Nicht zu Unrecht wurde auch lebhaft kritisiert, daß für die besonderen Gefahren ausgesetzten Bergleute die bei Unfällen gewährte Rente kaum jemals die im Unfallversicherungsgesetz vorgesehene Höhe erreichte, zurnal die Provision der Bergleute auch bei Arbeitsunfähigkeit infolge eines Unfalls nach der Dauer der Dienstzeit abgestuft war. Auch der Verlust der Ansprüche gegenüber den Krankenkassen der Bruderladen nach Auflösung des Dienstverhältnisses bedeutete eine Schlechterstellung der Bergarbeiter gegenüber den übrigen Arbeitern454 • Rückblickend muß es daher wohl bedauert werden, daß die anfänglichen Bemühungen Taaffes, Prazaks und Steinbachs, die Bergarbeiter in das System der allgerneinen Arbeiterversicherung zu integrierenm, scheiterten und Falkenhayn das Konzept der Bruderladenreform durchsetzte. Vor allem in Kreisen der Arbeiterschaft sind die obengenannten Integrationsbestrebungen aber stets lebendig geblieben und haben schließlich- etliche Jahrzehnte später (B/5, VI) - zur Auflösung der Bruderladen geführt.tlie.

45 4 Gern. § 13, Z. 3 KVG behielten "Kassenmitglieder ... , welche die Beiträge infolge eingetretener Erwerbslosigkeit nicht einzahlen können, ... die Mitgliedschaft und ... das Recht auf die Kassenleistungen durch mindestens sechs Wochen". 455 Vgl. insbes. oben B/3, IV 2 u. ö. 45e B/4, II 4 und B/5, VI.

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4. Abschnitt: Die Entwicklung von 1893 bis 1918 I. Die Sozialversidlerungsgesetzgebung (Vberblick) auf dem Hintergrund der Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsentwicklung

Am 2. Februar 1891 berief Ministerpräsident Taaffe seinen langjährigen Berater Emil Steinbach als Finanzminister in sein Kabinett. Damit war erstmals ein führender Sozialpolitiker Regierungsmitglied467 • Dank seines weitgehenden, auch von den politischen Gruppierungen des "Eisernen Ringes" teilweise mit Mißtrauen konstatierten Einflusses auf Taaffe kann Steinbach als der eigentliche Urheber der meisten sozialpolitischen Pläne und Vorhaben der Jahre 1891 bis 1893 gelten; dazu zählt beispielsweise das erste Ausdehnungsgesetz zum Unfallversicherungsgesetz (s. unten B/4, li 1), die geplante Einkommensteuerreformilis u. a. Von der aufrichtigen Bereitschaft der Regierung, die Sozialversicherungsgesetzgebung fortzusetzen, zeugt der folgende Passus aus der kaiserlichen Thronrede vom 11. April1891:

"Die wohltätigen Wirkungen, welche das ... Gesetz betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter geäußert hat, machen es wünschenswert, dieses Gesetz auch auf weitere Kreise auszudehnen." Zur Verwirklichung dieses Vorhabens kam es unter Taaffe nicht mehr, da dieser an einer von Steinbach mitentworfenen Wahlreformvorlage469 scheiterte; am 11. November 1893 wurde die Enthebung der Regierung Taaffe bekanntgegeben. Die vierzehnjährige Regierungszeit Taaffes war der letzte Abschnitt in der wechselvollen Geschichte der Habsburgermonarchie, in dem eine ruhige parlamentarische Arbeit über einen längeren Zeitraum hinweg möglich war. Schon zu Beginn der 11. Reichsratssession (April 1891) machte sich eine zunehmende Radikalisierung des politischen Klimas im Abgeordnetenhaus des Reichsrates bemerkbar460. Nach der Koali457 über das Ende der Ära Taaffe vgl. Kolmer, Parlament und Verfassung, V, S. 333 ff.; Charmatz, Österreichs innere Geschichte, II, S. 71, 79 f.; Brügel, Soziale Gesetzgebung, S. 167 ff. 458 über die von Steinbach eingeleitete, aber erst von Eugen Böhm-Bawerk (1896) vollendete Steuerreform, deren wichtigstes Element die Einführung einer Personaleinkommensteuer mit mäßig progressiven Sätzen darstellte, vgl. Charmatz, Osterreichs innere Geschichte, II, S. 83; Matis, Osterreichs Wirtschaft, S . 312; Spitzmüller, NOB, 1. Abt., II. Bd., S. 58 f. Zur Währungsreform von 1892 (Einführung der Goldwährung), die größtenteils als Werk Steinbachs anzusehen ist, Matis, Osterreichs Wirtschaft, S. 315 f.; Spitzmüller, s. 56ff. 459 Charmatz, Osterreichs innere Geschichte, II, S. 79 f.; Spitzmüller, NOB, 1. Abt., II. Bd., S. 54 f. 460 Etwa Walter I Wandruszka, Osterr. Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, S. 249 ff.; Brügel, Soziale Gesetzgebung, S. 170.

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tionsregierung Windischgrätz und dem Übergangskabinett Kielmannsegg wurde der Pole Kasimir Graf Badeni zum Ministerpräsidenten berufen (18. August 1895). Die Wahlrechtsfrage versuchte er durch die Herabsetzung des Zensus in der Städte- und Landgemeindekurie sowie durch die Einführung einer fünften "allgemeinen" Wählerklasse zu lösen (Gesetz vom 5. Dezember 1896, RGBl. Nr. 226). Dadurch wurde, wenn man von dem nach wie vor bestehenden grundsätzlichen Ausschluß der Frauen vom Wahlrecht absieht, zwar dem Prinzip des allgemeinen Wahlrechts weitgehend~ 1 Rechnung getragen, jedoch um den Preis einer noch extremeren Ungleichheit als diese bisher bestanden hatte. So wurde die Zahl der Wähler von ca. 1,7 auf 5,3 Millionen gesteigert, es entfielen auf die 5,3 Millionen Wähler der "allgemeinen Wählerklasse", von denen ca. 3,6 Millionen nur zu dieser Kurie wahlberechtigt waren, bloß 72 der insgesamt 425 Abgeordneten. Daher ist es erklärlich, daß die Sozialdemokraten in dem am 29. März 1897 wiedereröffneten Reichsrat lediglich mit 14 Abgeordneten vertreten waren; prominente Arbeiterführer wie beispielsweise Viktor Adler erhielten kein Mandat. Als sozialistische Hochburgen erwiesen sich praktisch alle großen Industriegebiete, vor allem in den Sudetenländern, in Galizien und in Graz. Hingegen entfiel von den Wiener und niederösterreichischen Mandaten kein einziges auf die Sozialdemokraten. Als dominierende Massenpartei hatte sich hier, unterstützt von der starken persönlichen Ausstrahlung Karl Luegers, die 1891 im Anschluß an das Erscheinen der päpstlichen Enzyklika "Rerum novarum" in Wien konstituierte christlichsoziale Partei durchzusetzen vermocht~. Von der legislatorischen Tätigkeit der Ära Badeni ist vor allem die Gewerbeordnungsnovelle 1897 mit den in ihr erstmals vorgesehenen "Meisterkrankenkassen" erwähnenswert463 • In politischer Hinsicht zeichnete sich die Regierung Badeni durch ein radikales Vorgehen einerseits gegen Arbeiterorganisationen (Auflösung des Eisenbahner-Unterstützungsvereins im März 1897)464 und andererseits in nationalen Belangen aus. Der Erlaß der Badenischen Sprachenverordnungen~5 vom 5. April 1897 löste schwere inner- wie außerparlamentarische Konflikte aus, die den Reichsrat zeitweise völlig lahmlegten und schließlich im November 1897 zur Entlassung Badenis führten. 461 Allerdings eingeschränkt durch die "Seßhaftigkeitsklausel" des § 9 a des Gesetzes! 462 Vgl. Berchtold, Parteipogramme, S. 50; Silberbauer, Osterreichs Katholiken, S. 121 ff. 463 Vgl. unten B/4, III 2. 464 Vgl. etwa Charmatz, Osterreichs innere Geschichte, II, rS'. 118. 465 Grundlegend Berthofd Sutter, Die Badenischen Sprachenverordnungen von 1897, I, 1960; II, 1965.

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Auf Badeni folgte eine Reihe von kurzlebigen Ministerien (Gautsch, Franz Graf Thun, Clary-Aldringen, Wittek), deren Tätigkeit weiterhin durch nationale Unruhen sowie durch den Streit um das Notverordnungsrecht überschattet war. Dem Umstand, daß der bedeutende Sozialpolitiker Baernreither der Regierung Thun für etwa sieben Monate (März bis Oktober 1898) als Handelsminister angehörte466 , ist die Schaffung zweier für die weitere Entwicklung der Österreichischen Sozialpolitik höchst wichtiger Institutionen zu danken, nämlich des Arbeitsstatistischen Amtes und des Arbeitsbeirates4411• Während dem ersteren, das seine Tätigkeit am 1. Oktober 1898 aufnahm, die Aufgabe der Beschaffung, Sichtung und Bearbeitung arbeitsstatistischen Materials zukam, oblag es dem Arbeitsbeirat, Vorschläge und Gutachten auf sozialpolitischem Gebiet zu erstatten. Für Österreich, das ein Gutteil des wirtschaftlichen und sozialen Aufschwunges seit Ende des Zweiten Weltkrieges dem Funktionieren der Sozialpartnerschaft zu verdanken hat, kommt dieser von Baernreither geschaffenen Institution ganz besondere Bedeutung zu. Der Arbeitsbeirat vereinigte nämlich Regierungsvertreter, sozialpolitische Experten und Vertreter der Industrie sowie der Arbeitnehmer zu einträchtigem Zusammenwirken, bildet also eine wichtige Vorstufe der heutigen als Träger der Sozialpartnerschaft fungierenden Institutionen. Neben Fragen des Arbeiterschutzes (Initiative für die Einführung der Neunstundenschicht im Kohlenbergbau, 1901; für den Heimarbeiterschutz u. a.) widmete sich der Arbeitsbeirat vor allem auch der Begutachtung des von Ministerpräsident Körber (s. gleich unten) 1904 vorgelegten SozialversicherungsReformprogramms. Der vom Arbeitsbeirat eingesetzte Ausschuß unterzog den Entwurf in den Jahren 1905-1907 einer Vorberatung; Verfasser des Ausschußberichtes war Baernreither, nachdem der sozialdemokratische Sozialpolitiker Leo Verkauf468 als Berichterstatter zurückgetreten war'Gu. Mit der Ernennung Ernest von Körbers zum Ministerpräsidenten470 (18. Januar 1900) gelangte nunmehr in Österreich ein Politiker in eine führende Position, der die Maximen der Regierungspolitik unmittelbar 466

Bachmann, Baernreither, S. 42 ff. u. ö.; s. auch oben bei bzw. nach

Anm. 322.

467 Bachmann, Baernreither, S. 44 ff.; Lederer, Grundriß, S. 24 ff.; ÖStWB I, S. 314-318. 468 Als Rechtskonsulent des Verbandes der Genossenschaftskrankenkassen mit den Problemen der Arbeiterversicherung eng vertraut, zählte Verkauf zu den 14 ersten sozialdemokratischen Abgeordneten von 1897 ff.; vgl. Brügel, Geschichte d. Sozialdemokratie, IV, S. 308 f. 488 Baernreither, Grundfragen der sozialen Versicherung, 1908, VII. 47o Alfred Ableitinger, Ernest v. Koerber und das Verfassungsproblem im Jahre 1900, 1973.

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nach den Bedürfnissen und Anliegen der Bevölkerung auszurichten versuchte. So hat sich Körber vor allem darum bemüht, die altösterreichische Verwaltung, aus der er selbst hervorgegangen war, mit sozialem Geist zu erfüllen und insbes. mit dem Ziel größerer Volksnähe zu modernisieren. Zu den positiven Seiten seiner Regierung zählten ferner Körbers Eintreten für die Pressefreiheit und sein Bemühen um eine Verbesserung des Verhältnisses zwischen Staatsgewalt und Sozialdemokratie, das insbesondere in dem maßvollen Vorgehen der Regierung gegenüber dem im Januar 1900 im Mährisch-Ostrauischen Revier ausgebrochenen Kohlenarbeiterstreik zutagetrat'71 • Auf der anderen Seite war Körbers Regierungszeit durch eine weitgehende Entmachtung des Reichsrates gekennzeichnet, die wieder zum Teil auf die Obstruktion der Tschechen, zum anderen Teil aber auf die Tendenz des Ministerpräsidenten, über den Reichsrat hinwegzuregieren, zurückzuführen war. Großer Ideenreichtum und rastloser Eifer im Pläneschmieden waren weitere Charakteristika von Körbers Regierungsstil; diesen positiven Aspekten stand freilich - gerade im sozialpolitischen Bereich - ein Hang zu vorschnellen und zu sehr auf äußere Optik bedachten Reformplänen gegenüber, deren Realisierung sich bei gründlicherer Überprüfung als ausgeschlossen erwies. Dies gilt in besonderem Maße für das von Körber noch im letzten Jahre seiner Regierung vorgelegte "Programm für die Reform und den Ausbau der Arbeiterversicherung". Baernreither, der dem Regierungsstil Körbers von Anfang an skeptisch gegenübergestanden war, kritisierte an diesem Programm zu Recht, daß es gerade durch seine Großzügigkeit - insbesondere hinsichtlich des Staatszuschusses zur geplanten Alters- und Invaliditätsversicherung der Arbeiter - späteren Reformbestrebungen als Präjudiz im Wege gestanden sei472• Ebenso wie die Reform der Arbeiterversicherung einschließlich der erstmals in der Thronrede vom 4. Februar 1901 (Eröffnung der 17. Session)473 angekündigten Einführung der Alters- und Invaliditätsversicherung blieben auch die meisten übrigen großen Reformprojekte (insbesondere auch das der Verwaltungsreform) Körbers bis zu seinem am 30. Dezember 1904 erfolgten Rücktritt unrealisiert. Dennoch aber hat sich die Regierung Körber gerade auf dem Gebiete der Sozialversiche471 Vgl. Charmatz, Österreichs innere Geschichte, II, S. 142 ff. (mit Hinweis auf die weniger glückliche Lösung des Triester Zwischenfalls und des Lemberger Maurerstreiks von 1902). m Bachmann, Baernreither, S. 112, Anm. 8. 473 Kolmer, Parlament und Verfassung, VIII, S. 146 ff. Auf Einladung Koerbers und Luegers fand übrigens v. 17. - 23. 9. 1905 die 7. Tagung des Internationalen Arbeiterversicherungskongresses in Wien statt (Publikation der Protokolle, 2 Bde., 1906).

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rung ein bedeutendes Verdienst erworben, nämlich durch die maßgeblichen Vorarbeiten zu dem bahnbrechenden Pensionsversicherungsgesetz der AngestelLten (s. unten B/4, IV). Äußere Ereignisse (Fernwirkung der Russischen Revolution von 1905 sowie die Bestrebungen zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Ungarn) lösten schon bald nach der Demission Körbers umfangreiche Agitationen der bislang im Reichsrat stark unterrepräsentierten Massenparteien (insbes. Sozialdemokraten, Christlichsoziale) zugunsten der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts aus; am 26. Jänner 1907474 erhielt die von der Regierung Gautsch begonnene und von Ministerpräsident Max Vladimir v. Beck vollendete Wahlreform die kaiserliche Sanktion. Die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses erfuhr durch die im Mai 1907 auf der Grundlage des neuen Wahlgesetzes durchgeführten Reichsratswahlen eine grundlegende Änderung: Die Sozialdemokraten wurden mit ca. 1 Million Stimmen und 89 Mandaten die stärkste im Reichsrat vertretene Partei; die Christlichsozialen erhielten 66 Mandate und bildeten gemeinsam mit ihrem Koalitionspartner, der katholisch-konservativen Volkspartei, die stärkste Fraktion; gleichzeitig mit diesem Durchbruch der Massenparteien wurden die letzten Reste der Liberalen aus dem Abgeordnetenhaus verdrängt; den Prominenteren unter ihnen, wie etwa Baernreither, wurde durch ihre Ernennung in das Herrenhaus immerhin der Verbleib im Reichsrat gesichert. Unerfüllt blieb freilich die - vor allem vom Monarchen, der sich selbst an die Spitze der Wahlreformbewegung gestellt hatte - gehegte Erwartung, daß durch die Einführung des allgemeinen und gleichen W abirechts das Nationalitätenproblem einer Lösung nähergebracht werden würde; im Gegenteil: Die Auseinandersetzungen im Reichsrat gewannen, nicht zuletzt durch den Untergang des liberalen Elements, an Schärfe hinzu. Als besonders beunruhigendes Indiz für die Übermacht des nationalistischen Denkens mußte die 1910/11 erfolgte Spaltung der an sich kosmopolitisch orientierten Sozialdemokratie in drei nationale Klubs angesehen werden475 ; neuerlich war die Arbeitsfähigkeit des Reichsrats auf das schwerste beeinträchtigt. Wie viele andere sozialpolitische Vorlagen jener Zeit blieben auch die schon in der Thronrede vom 19. Juni 1907476 angekündigten Reformen der allgemeinen Arbeiterversicherung (mit Einführung der Alters- und Invaliditätsversicherung) und der Bergarbeiterversicherung, die auch in der Thronrede vom 16. Juli 1911 477 neuerlich aufschienen, unerledigt. m RGBI. Nr. 15; s. auch Bernatzik, Verfassungsgesetze, S. 756 ff. 475 Vgl. Berchtold, Parteiprogramme, S. 28. 476 Brügel, Soziale Gesetzgebung, S. 225 ff. 477 Wie vorige Anm. 38 Sozialversicherung

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Im Frühjahr 1914 schloß der damalige Ministerpräsident Karl Graf Stürgkh die Session478 ; der Reichsrat wurde zwar nicht aufgelöst, aber nach Ausbruch des 1. Weltkrieges nicht wieder einberufen, woraus Stürgkh die Berechtigung ableitete, auf der Grundlage des sog. Notverordnungsrechts zu regieren. Damit war Österreich (ca. 3 Jahre) ein "ausschließlich durch die Bureaukratie absolutistisch regiertes und administriertes Gemeinwesen"47u. In legislativer Hinsicht folgten auf den Rückfall in den Absolutismus freilich nicht zuletzt auf dem Gebiete der Sozialversicherung einige Fortschritte, so insbes. hinsichtlich der Unfallversicherung der Bergarbeiter, der Pensionsversicherung der Angestellten (Verordnungen vom 7. April1914, RGBl. Nr. 80 bzw. vom 25. Juni 1914, RGBl. Nr. 138) sowie hinsichtlich der Krankenversicherung (Verordnung vom 4. Jänner 1917, RGBl. Nr. 6). Auch auf anderen Gebieten der Sozialpolitik wurden in den Kriegsjahren wichtige Fortschritte erzielt; zu erwähnen sind insbes. die Anfänge der Grundverkehrs- und Mietengesetzgebung, sowie Maßnahmen auf den Gebieten der Volkshygiene, der Jugendfürsorge, der (Kriegs-)Invalidenfürsorge, der Arbeitsvermittlung u. a. m.480. Besondere Hervorhebung verdient die von Baernreither'81 in seiner Eigenschaft als Minister ohne Portefeuille im Ministerium ClamMartinic (21. Dezember 1916-23. Juni 1917) angeregte Schaffung eines Ministeriums für soziale Fürsorge, das nach den Ausführungen Baernreithers im Ministerrat vom 25. März 1917 "den sozialpolitischen Übergang vom K:rieg in den Frieden" gewährleisten sollte und bereits im A. h. Handschreiben Kaiser Karls vom 1. Juni 1917 in Aussicht gestellt wurde. Nach Entlassung der Regierung Clam-Martinic wurde die Errichtung des Ministeriums für soziale Fürsorge durch das A. h. Handschreiben vom 7. Oktober 1917 genehmigt und der neue Ministerpräsident Ernst v. Seidler zur Einbringung der Vorlage in den am 30. Mai 1917 wieder zusammengetretenen Reichsrat ermächtigt. Das am 22. Dezember 1917, RGBl. Nr. 499 482, sanktionierte Gesetz wies dem Ministerium für soziale Fürsorge die Angelegenheiten der Sozialversich·e rung einschließlich der registrierten Vereins- und der genossenschaftlichen Krankenkassen (die letzteren in Rücksicht auf eine diesbezügliche Resolution Viktor Adlers) zu. Anstelle des ursprünglich hiezu vorgesehenen 478 Vgl. statt aller die tiefschürfende Analyse Redlichs, österr. Regierung und Verwaltung im Weltkriege, S. 127 ff. 479 Ebenda, S. 80. 480 Ebenda, S. 157 ff.; Brügel, Soziale Gesetzgebung, S. 234 ff. 481 Lederer, Grundriß, S. 27; Bachmann. Baernreither, S. 163 f.; ferner HHStA, Nachlaß Baernreither, Karton 21, fol. 1253 ff. 482 Über die Kompetenzen des neuen Ministeriums vgl. Lederer, Grundriß, s. 27.

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J. M. Baernreither wurde der Christlichsoziale Viktor Mataja erster Minister für soziale Fürsorge, dem in den letzten Tagen der Monarchie der nachmalige Bundeskanzler lgnaz Seipel im Amt folgte. Zu den bedeutendsten Leistungen des Ministeriums Mataja zählte die im Juli 1918 erfolgte Veröffentlichung der unten näher zu besprechenden "Leitsätze für den Ausbau der Sozialversicherung". Für die Verwirklichung dieses Projekt war freilich keine Gelegenheit mehr gegeben: Am 30. Oktober 1918 trugen die deutschsprachigen Abgeordneten des Reichsrates dem Zerfall der Habsburgermonarchie durch die Errichtung eines Staates "Deutsch-Österreich" Rechnung, am 12. November 1918 erfolgte die Ausrufung der Republik483• Was die Haltung der beiden neuen Großparteien zur Sozialversicherung betrifft, so muß für die Sozialdemokratie zunächst auf die einschlägigen Passagen des auf dem Hainfelder Einigungsparteitag (30. Dezember 1888-1. Januar 1889) beschlossenen Programmes484 hingewiesen werden, in dem zu "Arbeiterschutzgesetzgebung und Sozialreform" auf folgende Weise Stellung genommen wurde: "Was heute vorzugsweise ,Sozialreform' genannt wird, die Einführung der vom Staat organisierten Arbeiter-Versicherung gegen Krankheit und Unfall, entspringt vor allem der Furcht vor dem Anwachsen der proletarischen Bewegung, der Hoffnung, die Arbeiter von dem Wohlwollen der besitzenden Klassen zu überzeugen, und zuletzt aus der Einsicht, daß die zunehmende Verelendung des Volkes endlich die Wehrfähigkeit beeinträchtigen müsse. Mit der Ausführung der ArbeiterVersicherung werden zwei Nebenzwecke verknüpft: Die teilweise Überwälzung der Kosten der Armenpflege von den Gemeinden auf die Arbeiterklasse und die möglichste Einengung, womöglich Beseitigung der selbständigen Hilfsorganisationen der Arbeiter, welche als Vorschulen und Übungsstätten der Organisation und Verwaltung den Herrschenden ein Dorn im Auge sind. Angesichts dieser Sachlage erklärt der Parteitag: Die Arbeiter-Versicherung berührt den Kern des sozialen Problems überhaupt nicht. Eine Einrichtung, welche im besten Falle dem arbeitsunfähigen Proletariat ein kärgliches, von ihm selbst teuer bezahltes Almosen gewährt, verdient nicht den Namen ,Sozialreform'." Trotz der sehr kämpferischen Fassung der Resolution ist doch bemerkenswert, daß sich die in ihr ausgesprochene Kritik hauptsächlich gegen die für maßgeblich gehaltenen Motive und das Leistungsangebot, nicht jedoch gegen die Grundidee der Arbeiterversicherungsgesetze 483 Redlich, Regierung und Verwaltung, S. 296 ff.; Brauneder I Lachmayer, österr. Verfassungsgeschichte, S. 187 ff.; Walter I Mayer, Grundriß, S. 18. 484 Berchtold, Parteiprogramme, S. 137 ff.; vgl. Emmerich Talos, Zu den Anfängen der Sozialpolitik, österr. Zs. f. Politikwiss., 5 (1976), S. 145 ff.

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wandte; darüber hinaus lag der ganzen Resolution offenbar auch die Befürchtung zugrunde, daß die Erlassung der Arbeiterversicherungsgesetze ein Nachlassen der gesetzgeberischen Aktivitäten auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes zur Folge haben könne. In diesem Zusammenhang sind zwei von Viktor Adler auf den internationalen Sozialistenkongressen von 1889 (Paris) und 1891 (Brüssel) abgegebene Stellungnahmen485 zur Österreichischen Arbeiter(schutz)gesetzgebung bemerkenswert: Beide Male stellte Adler fest, Österreich besitze, abgesehen von England und der Schweiz, die beste Arbeiterschutzgesetzgebung der Welt, kritisierte aber deren unzulängliche, den Arbeitern nachteilige Praktizierung durch die Österreichische Verwaltung. Die zwar nicht direkt ablehnende, aber doch von tiefem Mißtrauen gegenüber den der Sozialversicherungsgesetzgebung zugrundeliegenden Motiven geprägte Haltung des Hainfelder Parteitages wurde auf dem vom 2. bis 5. November 1901 in Wien abgehaltenen Gesamtparteitag der Österreichischen Sozialdemokratie durch einen pragmatisch-reformistischen Standpunkt ersetzt; demnach heißt es im "Wiener Programm"488 von 1901: "Die Arbeiterversicherung ist einer durchgreifenden Reform zu unterziehen, durch Einführung einer allgemeinen Alters- und Invalidenversicherung sowie Witwen- und Waisenversorgung zu ergänzen und unter durchgängiger Selbstverwaltung der Versicherten einheitlich zu organisieren." Noch deutlicher wurde die nunmehrige grundsätzlich positive Haltung der Sozialdemokraten zur Sozialversicherung anläßlich der Publikation von Körbers Reformprogramm. Zwar kritisierte Viktor Adler das allzu bedächtige Vorgehen Körbers "und seiner Hofräte" im Zusammenhang mit der Einführung der Alters- und Invaliditätsversicherung; unter Bezug auf dieses von den Sozialdemokraten lebhaft unterstützte Projekt aber richtete Adler in einer öffentlichen Versammlung am 13. August 1905 an die Adresse Körbers sogar die folgenden Worte: "Im Ernstfall werden Sie an den klassenbewußten Vertretern der Arbeiterklasse allein Rückhalt haben, an der Partei und der Organisation, die die Regierung so weit gebracht hat. Sie wird Ihnen mit aller Kraft zur Seite stehen, damit das, was an dem Entwurf gut ist, Gesetz wird487." Eine kritische Haltung nahm die Sozialdemokratie jedoch gegenüber den Regierungsvorlagen von 1908 und 1911 ein, da diese - auf Drängen 5 Brügel, Geschichte der Osterr. Sozialdemokratie, IV, S. 46, 177. Ebenda, ~- 344; Berchtold, Parteiprogramme, S. 145 ff. 487 Viktor Adler, Aufsätze, Reden, Briefe, V, S. 140. 48

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der Christlichsozialen - die Selbständigenversicherung in das Reformprojekt einbezogen hatten. Zwar erklärte Adler im Abgeordnetenhaus (am 3. Juni 1908)488, der Idee einer Selbständigenversicherung positiv gegenüberzustehen, jedoch nicht um den Preis einer Verzögerung der Reformen auf dem Gebiete der Arbeiterversicherung; in ähnlicher Weise äußerte sich der sozialdemokratische Sozialpolitiker (und Mitglied des Arbeitsbeirates) Leo Verkauf zur Vorlage von 1911489 • Wiewohl in dem ersten christlichsozialen Programm, dem sog. Schindler-Programm von 1891 490, Fragen der Sozialversicherung nicht ausdrücklich erwähnt sind, dürfte doch kein Zweifel daran bestehen, daß die Christlichsozialen der Sozialversicherungsgesetzgebung von Anfang an positiv gegenüberstanden; freilich zeichnete sich schon im SchindlerProgramm eine - vom Wählerpotential der Christlichsozialen ebenso wie von den relativ geringen Erfolgen der Taaffeschen Gewerbe- und Bauernschutzgesetzgebung her verständliche - Priorität gesetzlicher Maßnahmen zum Schutze gewerblicher und agrarischer Interessen gegenüber der Arbeiterschutzgesetzgebung ab. Eine gewisse Ausnahme bildete aus verständlichen Gründen das Programm der "christlichsozialen Arbeiterpartei" aus 18964111, dessen "Artikel 12" lautete: "Wir verlangen die Durchführung einer für die Lebensbedürfnisse ausreich·enden obligatorischen Kranken-, Unfall-, Invaliden- und Altersversicherung, sowie Witwen- und Waisenversorgung ... " (sow:ie eine Verringerung der Verwaltungskosten der Kassen). Wichtigen Anteil hatten die Christlichsozialen sodann bei der Schaffung der "Meisterkrankenkassen" durch die Gewerbeordnungsnovelle von 1897 und an deren Weiterentwicklung durch die Novelle 1907. In dem Wahlmanifest 1907492 , das durch eine 1910 erschienene Publikation noch zusätzlich erläutert wurde, legten die Christlichsozialen ihre Haltung zur Sozialversicherungsgesetzgebung in folgenden Worten nieder: "Die christlich-soziale Partei verlangt ferner, um den einzelnen bei schweren Schicksalsschlägen zu schützen, nicht nur den Ausbau der bereits bestehenden Kranken- und Unfallversicherung auf einheitlicher Grundlage, sondern eine allgemeine obligatorische Volksversicherung für Alter und Erwerbsunfähigkeit sowie im Falle des Todes des Ernährers für Witwen und Waisen. Im Gegensatz zur Sozialdemokratie, welEbenda, S. 142. Die Regierung im Kampfe gegen die Sozialversicherung, 1911. 490 Vgl. Friedrich Funder, Aufbruch zur christlichen Sozialrefonn, 1953; ders., Vom Gestern ins Heute, 3. Aufl., 1971, insbes. S. 75 ff. 491 Berchtold, Parteiprogramme, S. 169 ff. 492 Ebenda, S. 174 ff.; ferner die Publikation "Die Sozialversicherung und die christlich-soziale Partei". 488 489

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ehe nur für die Klasse der Arbeiter die Altersversorgung anstrebt, anerkennt die christlich-soziale Partei, daß jeder, der zeitlebens gearbeitet hat, daher auch der Landwirt und Gewerbetreibende, verdient, daß im Notfall für sein Alter und seine Hinterbliebenen gesorgt sei." Im Sinne dieser Ausführungen verlangte der christlichsoziale Arbeitsminister der Regierung Beck, Albert Geßmann, die grundsätzliche Einbeziehung der Selbständigen {Gewerbetreibenden, Kleinhändler und Landwirte) in die Altersversicherung493, eine Forderung, an der später auch die Regierungsvorlage von 1911 festhielt. Auch der Arbeitsbeirat hatte übrigens bereits in der Sitzung vom 9. Dezember 1907 eine von .dem Christlichsozialen Viktor Kienböck und Eugen von Philippovich vorgeschlagene Resolution angenommen494, derzufolge die Ausdehnung der Alters- und {!) Invalidenversicherung auf Kleingewerbetreibende und kleine Landwirte für wünschenswert erklärt wurde, allerdings unter Hinzufügung des Beisatzes: "ohne daß dadurch das Zustandekommen der Arbeiterversicherung aufgehalten werde". Wie an späterer Stelle zu zeigen sein wird, blieb das Problem der Alters- und Invaliditätsversicherung bis zum Ende der Monarchie und darüber hinaus sowohl für die Arbeiter als auch für die Selbständigen ungelöst. Vom Ausklingen der "Großen Depression" (s. oben B/1, II 6) im Jahre 1896 bis zum letzten Friedensjahr 1913 sind in der Österreichischen Wirtschaft drei Hochkonjunkturphasen {1898/99; 1906-08 und - in etwas abgeschwächter Form - 1910 ff.) feststellbar, die jeweils von kurzfristigen Depressionsphasen unterbrochen waren. 1913 machten sich dann auch in wirtschaftlicher Hinsicht {Absatzschw:ierigkeiten auf dem Metall- und Textilsektor) die Auswirkungen der Balkankrise bemerkbar4115. Dank der insgesamt günstigen Konjunkturentwicklung stieg das Volkseinkommen in Zisleithanien von 1901/03 bis 1911/13 real um ca. 49 .,/o an. Diese auch international beachtliche Zahl war in erster Linie durch die durchschnittliche jährliche Zuwachsrate der Industrieproduktion in Höhe von 4 °/o bedingt, wobei hinzuzufügen ist, daß auf dem Gebiete der heutigen Republik Österreich die industrielle Produktion 25,8 .,/o zum Bruttonationalprodukt {1913) beitrug, gegenüber einem Anteil von 11,2 .,/oder Land- und Forstwirtschaft. 1913 war das Pro-Kopf-Einkommen in der zisleithanischen Reichshälfte um ca. 50 Ofo niedriger als in Großbritannien und um 38 °/o nied498 494 495

"Die Sozialversicherung ...", S. 23 ff. Baernreither, Grundfragen, S. 2. Matis, Österreichs Wirtschaft, S. 432 f.

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riger als im Deutschen Reich400• Hiezu muß aber freilich gesagt werden, daß innerhalb der zisleithanischen Reichshälfte extrem starke Unterschiede der in den einzelnen Kronländern feststellbaren Durchschnittseinkommen bestanden. So betrug das Volkseinkommen pro Kopf in den Jahren 1911/13 in Galizien 250 K, hingegen in den "Alpenländern" (Gebiet der späteren Republik Österreich) 790 K - ein Wert, der mit den deutschen Zahlen durchaus Schritt halten konnte. Dieses Gefälle kam auch in den durchschnittlichen Tageslöhnen zum Ausdruck, die 1912 in Wien und Niederösterreich 4,17 K, in Bölunen 3,14 Kund die Galizien 2,58 K betrugen. Was im übrigen die Lohnentwicklung im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts betrifft, so wies diese im Einklang mit dem günstigen Konjunkturverlauf eine permanent steigende Tendenz auf, wobei allerdings die Lohn-Zuwachsraten der einzelnen Branchen sehr unterschiedlich waren497 • Ein wichtiger Anteil an der für die Arbeitnehmer günstigen Lohnentwicklung kam neben der Konjunkturlage zweifellos auch den Gewerkschaften bzw. dem Tarifvertragswesen zu. Der Aufstieg der Österreichischen Gewerkschaftsbewegung setzte zu Beginn der neunziger Jahre ein498 ; für die Entwicklung der sozialistischen Gewerkschaften von entscheidender Bedeutung war der 1. Gewerkschaftskongreß, der vom 24. bis 27. Dezember 1893 in Wien tagte. Einige Jahre später setzte auch der Aufschwung der christlichsozialen Arbeitervereine ein; der erste christlichsoziale Arbeitertag, auf dem das schon oben erwähnte "Programm der christlichsozialen Arbeiterpartei" beschlossen wurde, fand am 5. Januar 1896 in Wien statt. Über die rapide Aufwärtsentwicklung des Gewerkschaftswesens in dem Dezennium von 1892 bis 1902 geben am besten die folgenden Zahlen Auskunft: 1892 betrug die Zahl der Gewerkschaften, bei denen es sich ausschließlich um sog. Berufsgewerkschaften handelte, 724 bei einer Mitgliederzahl von ca. 46.000; 1902 gab es bereits 1.819 Gewerkschaften (hievon 134 sog. allgemeine Gewerkschaften) mit einem Gesamtmitgliederstand von 139.500499, wobei der Anteil der sozialistischen Mitglieder 80 °/o überstieg. Demgegenüber betrug die Zahl der- zu jener Zeit noch nicht in die Gewerkschaftsorganisation einbezogenen - christlichsozialen Arbeitervereine etwa zur gleichen Zeit (1903) 195 bei einem Mitgliederstand von ca. 30.000, jene der deutschnationalen Vereine 120 bei m Ebenda, S. 433. m Ebenda, insbes. S. 436. 498 Leo Verkauf, Geschichte des Arbeiterrechts, S. 16 ff.; ders., ÖStWB I, s. 304 ff. 499 Ohne Mitberücksichtigung der Arbeiterbildungsvereine!

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einem Mitgliederstand von ca. 12.000. Zu der starken zahlenmäßigen Ausdehnung des Gewerkschaftswesens trat schon gegen Ende des vorigen Jahrhunderts eine wesentliche Erweiterung des Aufgabenbereichs; dieser umfaßte allerdings nicht die bei den Gewerkschaften anderer Länder ganz im Vordergrund stehende Aufgabe der Streikunterstützung, da diese nach der damals herrschenden Österreichischen Verwaltungspraxis mit Vereinsauflösung bedroht wurde und daher den sog. "freien Organisationen" übertragen werden mußte500 • Hingegen konnten die Gewerkschaften beim Abschluß von Tarifverträgen große Erfolge zugunsten der Arbeiter erzielen: Den Anfang machte wahrscheinlich der im Jahre 1896 zustandegekommene Tarifvertrag der Wiener Buchdrucker, 1902 war bereits der Großteil der Buchdruckerlöhne in ganz Zisleithanien tarifvertraglich geregelt; als nächste wurden die Textil- und Glasindustrie von der Entwicklung erfaßt. Im Jahre 1912 wurden bereits 822 Verträge für 13.336 Betriebe mit einem Beschäftigtenstand von insgesamt 180.000 Arbeitern abgeschlossen. Nach dem Übergang zur Republik erreichte die Entwicklung übrigens einen neuen Höhepunkt (Abschluß von nahezu 2.500 Kollektivverträgen für fast 1 Million Arbeitnehmer) 501 • Im Gegensatz zu dem Aufstieg der Gewerkschaftsorganisation konnte der schon in die liberale Ära (E. v. Plener) zurückreichende Gedanke der Errichtung von Arbeiterkammern, also gesetzlichen Berufsvertretungen der Arbeitnehmer, auch in der vorliegenden Berichtsperiode trotz zahlreicher Anstrengungen nicht verwirklicht werden. Vor allem im Zusammenhang mit dem Projekt der Einführung einer allgemeinen Alters- und Invaliditätsversicherung, für die ein StaatszuschuB von einheitlich 90 K jährlich für jeden Rentenbezugsberechtigten vorgesehen war, verdient auch die Entwicklung des Staatshaushalts502 unsere Beachtung. Diese zeichnet sich im Zeitraum von 1900 bis 1913 durch enorme Steigerungsraten sowohl auf der Ausgaben- als auch auf der Einnahmenseite aus. So betrugen die Ausgaben im Jahre 1900 ca. 1,6 Mrd. K, im Jahre 1913 nahezu 3,5 Mrd. K. Auch die Einnahmen erfuhren eine mehr als 1000/oige Steigerung. Was das Verhältnis der Einnahmen zu den Ausgaben betrifft, so wechselten einander je nach Konjunkturlage Überschuß- und Defizitjahre ab. Insgesamt wuchs die Staatsschuld in den Jahren von 1900 (ca. 8,8 Mrd. K) bis 1913 (ca. 12,6 Mrd. K) um etwas weniger als 45 °/o. 5oo öStWB I, S. 310.

501 Ogris, Rechtsentwicklung, S. 644; s. auch Lederer, Grundriß, S. 208, Anm. 1 mit Zahlenangaben bis einschließlich 1930. 502 Matis, Österreichs Wirtschaft, S. 55 (Tabelle 4).

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Abschließend sei noch kurz auf die Situation der Österreichischen Wirtschaft während des 1. Weltkrieges eingegangen: Schon bald nach Kriegsbeginn griff der Staat einerseits durch die Normierung von Höchstpreisen für Nahrungsmittel, Mieten etc. und andererseits durch Beschlagnahme von Vorräten, Regelung der industriellen Produktion in das Wirtschaftsleben ein, wobei schon 1916 als Endziel der staatlichen Wirtschaftspolitik "die Überführung immer größerer Teile unseres Wirtschaftslebens in den Zustand planmäßig geregelter Bewirtschaftung" von offizieller Seite503 angegeben wurde. Damit verbunden war die Überwindung der traditionellen bürokratischen Institutionen der Wirtschaftsverwaltung und die Einrichtung eines straff organisierten und zentralisierten Apparates (Kommission und Generalkommission für Kriegs- und Übergangswirtschaft; ein "Hauptausschuß" als Wirtschaftsparlament)504. Teils hielt hier Österreich Schritt mit der Entwicklung in Deutschland, teils war es dieser sogar voraus. J. Redlich6°5 meint, daß "die Ideologie des Hyper-Etatismus in Österreich während des Krieges zum Teil noch mehr durchgegriffen hat wie in Deutschland"soo. 11. Die Entwicklung der Unfallversicherung

1. Das Ausdehnungsgesetz vom 20. Juli 1894501 Wie eine Zuschrift des Innenministeriums vom 9. März 1890 erkennen läßt508, plante Taaffe zunächst, die Unfallversicherungspflicht vor allem auf das Transportgewerbe (jedoch ausschließlich der Eisenbahn- und Schiffahrtsunternehmungen) durch eine auf § 3, Abs. 2 Unfallversicherungsgesetz gestützte Verordnung auszudehnen. Das Justizministerium riet jedoch von diesem Weg ab, da auf solche Weise ja auch die "ganze Landwirtschaft und das gesamte Kleingewerbe der Unfallversicherungspflicht unterworfen werden könnten", was "gewiß nicht in der Absicht der legislativen Körperschaft gelegen war", und empfahl die Erlassung eines Ausdehnungsgesetzes. Diesen Weg hatte die deutsche Reichsgesetzgebung bereits durch das Gesetz vom 28. Mai 1885, RGBL S. 159, beschritten; auch inhaltlich knüpfte man an dieses deutsche Gesetz an, Redlich, Osterreichs Regierung und Verwaltung, S. 213 ff. Ebenda, S. 147 ff. 505 Ebenda, S. 229. 506 Die sprachliche Ausdrucksweise ist unverändert! Auf dem Gebiet der Unfallversicherung vgl. insbes. die ks. Verordnung vom 29. 11. 1914, RGBl. Nr. 330, betr. Ermächtigung der öffentlich-rechtlichen Versicherungsinstitute zur Aufwendung von Mitteln für außerordentliche Zwecke während des Kriegszustandes. 507 RGBl. Nr. 168. 5os AVA, JM, Karton 1449, Nr. 118. 503 504

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das insbes. die bei Eisenbahn- sowie bei Transport- und Speditionsunternehmungen Beschäftigten betraf, hielt aber doch in zweierlei Richtung Abweichungen für erforderlich: Zum einen nahm die im Innenministerium ausgearbeitete und am 8. Juni 1891 dem Justizministerium zugeleitete Regierungsvorlage noch einige Berufsgruppen in die Ausdehnung zusätzlich hinein (beispielsweise die Berufsfeuerwehren und die Kaminfeger), zum anderen sah sie bei den Eisenbahnunternehmungen von der Normierung einer Versicherungspflicht ab und eröffnete diesen wie auch anderen nicht versicherungspflichtigen Unternehmungen (vgl. Art. VI der Regierungsvorlage) 509 die Möglichkeit des (kollektiven) freiwilligen Beitritts. Hiemit ist übrigens eine weitere Neuerung angesprochen, die später auch ins Gesetz einging: Unternehmern von versicherungspflichtigen Betrieben wurde "gestattet", sich selbst, ihre Bevollmächtigten oder Repräsentanten sowie auch andere nicht versicherungspflichtige Personen (einzeln) zu versichern; Unternehmer nicht versicherungspflichtiger Betriebe konnten der Unfallversicherung jedoch nur in Form einer korporativen Versicherung beitreten. Es ist nun sehr bemerkenswert, daß der zu jener Zeit im Justizministerium tätige große Österreichische Jurist und spätere Zivilprozeßreformer Franz Klein510 hinsichtlich der Eisenbahnunternehmungen die Möglichkeit des freiwilligen Beitritts für "bedenklich" erklärte, soferne nicht die "im Haftpflicht-Gesetz (1869) begründeten Ersatzansprüche ... vermittelst einer ... gesetzlichen Bestimmung wider jede Beeinträchtigung ... geschützt würden". Taaffe wies diese Bedenken mit der Begründung zurück, daß das geplante Gesetz in den allermeisten Fällen für den Arbeitnehmer günstiger sei als die Haftpflichtregelung. Der Gewerbeausschuß des Abgeordnetenhauses511, dem die am 3. November 1891 im Reichsrat eingebrachte Regierungsvorlage zur Beratung zugewiesen wurde, lehnte die Haltung der Regierung hinsichtlich der Eisenbahnunternehmen als inkonsequent ab, unterwarf diese ebenso wie die übrigen Transportunternehmen der Versich·erungspflicht und schloß gleichzeitig die künftige Anwendung des Eisenbahnhaftpflichtgesetzes auf die Betriebsunfälle von Bediensteten (den Fall vorsätzlicher Schädigung ausgenommen: § 46 UVG) aus, "da die Aufrechterhaltung des Haftpflichtgesetzes ... als mit der ethisch-socialen Auffassung, wie sie der Arbeitergesetzgebung in Österreich glücklicher Weise dermalen zu Grunde liegt, im Widerspruch stehend erkannt werStProtAH, 11. Sess., Beil. Nr. 286. Wie Anm. 508; die Stellungnahme ist datiert mit 13. 6. 1891; über Leben und Werk Franz Kleins vgl. insbes. Otto Leonhard, in: Festschrift zur 50-Jahrfeier der ZPO, S. 136 ff., sowie die übrige bei Ogris, Redltsentwicklung, S. 578 ff. zitierte Lit. 511 StProtAH, 11. Sess., Beil. Nr. 649. 509

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den musste". Auch diese Regelung bezeichnete Franz Klein512 als eine "ungünstige Verschiebung des Rechtszustandes" für die Eisenbahnbediensteten. Zwar kam es kurz darauf zu einer Einigung der Vertreter der beteiligten Ministerien, Kleins Einwände sind aber offenbar im Herrenhaus, dessen vereinigte juridische und volkswirtschaftliche Kommission die Vorlage beriet, auf fruchtbaren Boden gefallen: Gleichsam als Ersatz für den Verlust der Ansprüche aus dem Eisenbahnhaftpflichtgesetz sollten die Unfallrente um die Hälfte (also auf 90 °/o des Jahresarbeitsverdienstes), bei "dauerndem Siechtum" sogar auf das Doppelte (also 120 Ofo) bzw. die Ansprüche der Hinterbliebenen um 2/3 erhöht werden. Sowohl diese Regelung als auch zwei weitere Begünstigungen (höhere Bemessungsgrundlage infolge Hinzurechnung der veränderlichen Bezüge; Streichung des Arbeitnehmerbeitrages513) wurden schließlich Gesetz (Art. VII). Bemerkenswert ist ferner der Art. II des Ausdehnungsgesetzes, das schließlich am 20. Juli 1894, RGBI. Nr. 168 (also bereits nach dem Abgang Taaffes) die Sanktion erhielt: Demnach erstreckte sich die Versicherungspflicht auch auf Bedienstete inländischer Eisenbahn- und Transportunternehmen, wenn diese "im Ausland oder in den Ländern der ungarischen Krone vorübergehend oder auf Anschlussstrecken oder in Grenzstationen dauernd beschäftigt sind"; ähnlich ~st die (schon in der Regierungsvorlage enthaltene) Regelung für Binnenschiffahrtsunternehmen, wenn sich bei einer Auslandsfahrt ein Unfall ereignet. Somit begegnet wohl zum ersten Mal in der Geschichte des Österreichischen Sozialversicherungsrechts eine gesetzliche Normierung des sog. Ausstrahlungsprinzips614.. Von dem Ausdehnungsgesetz waren zunächst ca. 150.000 Personen betroffen, hievon über 100.000 Eisenbahnbedienstete, durch deren Beitritt die schon bald nach lokrafttreten des UVG ins Leben gerufene "Berufsgenossenschaftliche Unfall-Versicherungs-Anstalt der österr. Eisenbahnen" 515 - übrigens der einzige gern. § 58 errichtete genossenschaftliche Unfallversicherungsträger - starken Zulauf erhielt. Dank Art. VII des Ausdehnungsgesetzes lagen die von dieser Anstalt gezahlten Renten, zumal an die gänzlich Erwerbsunfähigen, sowohl in Prozenten des Arbeitsverdienstes (84 'fl/o gegenüber 60 (J/o) als auch absolut AVA, JM, Karton 1449, Nr. 185 li2 (5. 12. 1892). m Diese war schon in der Regierungsvorlage vorgesehen. 514 Hiezu jetzt Krejci im System des österr. Sozialversicherungsrechts, Pkt. 1.2.1.2.; s. auch Steinbach, Unfallversicherung, S. 56. 515 Seit 1925 unter Weglassung des Zusatzes "berufsgenossenschaftliche"; durch das SV-ÜG 1947, (B/7, II) wurden Unfall-und Krankenversicherung der Bahnbediensteten in der ,.Versicherungsanstalt der österr. Eisenbahnen" zusammengefaßt; s. Steinbach, Unfallversicherung, S. 151 ff. 512

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(421 K gegenüber 1.253 K!) 518 weit über denjenigen der Territorialanstalten. Dieser Umstand ist um so bedeutsamer, als die Zahl der dauernd erwerbsunfähigen Eisenbahner im Vergleich zu den Arbeitern in anderen Berufssparten extrem hoch warll17•

2. Die praktischen Erfahrungen mit dem UVG; die Rechtsprechung auf dem Gebiet der Unfallversicherung In noch stärkerem Maße als nach dem deutschen Stammgesetz lag nach dem Österreichischen Unfallversicherungsgesetz 1887 das Hauptgewicht auf den Rentenleistungen. Im Zeitraum von 1891 bis 1900 stiegen diese von 1,7 auf 13,7 Mill. K, wobei die letztere Zahl 50 °/o der Versicherungsbeiträge entsprach518. Nur sehr geringe Möglichkeiten standen den UV-Anstalten hingegen auf dem Gebiete der Unfallverhütung zu Gebote: Da ihnen weder ein Recht der Betriebsbesichtigung noch der Vorschreibung von Verhütungsmaßnahmen eingeräumt war, waren die UV-Anstalten auf ihnen zufällig zugegangene Informationen angewiesen, auf Grund deren sie entsprechende Maßnahmen bei den politischen Behörden beantragen konnten. Eine Besserung trat insoweit erst durch die mit Kundmachung des Handelsministeriums vom 13. Mai 1900, RGBI. Nr. 86, eingerichteten Unfallverhütungskommissionen ein, denen Vertreter der UV-Anstalten als Mitglieder angehörten. Eine gewisse Handhabe bot den UV-Anstalten auch die Gefahrenklassen- bzw. -prozenteinreihung, durch die sie auf das Vorhandensein oder Fehlen von Unfallverhütungseinrichtungen wirtschaftlich relevante Reaktionen setzen konnten.

Keinen Einfluß hatten die UV-Anstalten übrigens auch auf die Heilbehandlung des Verletzten. Von bedeutendem Einfluß auf die praktische Tätigkeit war einerseits die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes und andererseits die eigene schiedsgerichtliche Rechtsprechung der UV-Anstalten. Vor allem hinsichtlich strittiger Fragen der Versicherungspflicht führte häufig erst der Verwaltungsgerichtshof eine Klärung herbei; gelegentlich gelangte seine Rechtsprechung aber auch zu unerfreulichen Ergebnissen, wie insbes. bezüglich der Versicherungspflicht des Baugewerbes, wo er auf die jeweilige konkrete Tätigkeit des Arbeiters abstellte und hiedurch große Rechtsunsicherheit hervorrief519• Zahlen von 1901; vgl. ÖStWB I, S. 288. 1901: 215 gegenüber 193 bei atZen übrigen Anstalten: ÖStWB I, S. 288. 518 öStWB I, S. 285. 518 Zur Klärung dieser Frage durch die 2. UVG-Novelle aus 1912 vgl. unten nach Anm. 535. ste

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Der Rechtsprechung der Schiedsgerichte kam vor allem wegen des Nachlassens der gesetzgeberischen Tätigkeit nach 1894 für die Fortbildung des Unfallversicherungsrechts besondere Bedeutung zu. Als um so bedauerlicher muß die - auf das Fehlen einer einheitlichen Berufungsinstanz zurückzuführende - Uneinheitlichkeit dieser Rechtsprechung bezeichnet werden, über die von seiten der Arbeiterschaft immer wieder - völlig zu Recht - Klage geführt wurde. Dennoch erbrachte diese Judikatur bemerkenswerte Leistungen520, wobei vier Judikaturschwerpunkte feststellbar sind: a) Zurechnungskriterien, b) Begriff des Arbeits- bzw. Betriebsunfalles, c) Begriff des Wegunfalls und d) Bestimmung des Ausmaßes der Verminderung der Erwerbsfähigkeit. Ad a) zeichnete sich bereits in den ersten Jahren eine Judikatur i. S. der "Theorie der wesentlichen Bedingung" ab, bei der es sich wohl eher um eine "entschärfte'' Äquivalenz- denn um eine Spielart der Adäquanztheorie handelt~ 1 • Es ist interessant, daß in manchen alten Entscheidungen auf die (hauptsächlich im Strafrecht beheimatete) Äquivalenztheorie ausdrücklich hingewiesen wurde; ferner ist auffällig, daß in sehr großzügiger Weise auch physische und psychische Überlastung (Erschöpfung infolge Überarbeitung; im Dienst erlittener Schock) als Unfallursachen anerkannt wurden, nicht hingegen Berufskrankheiten. Ad b) wurde von Anfang an auf den örtlichen (s. auch c!), zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dem Betrieb abgestellt, wobei jedoch die Judikatur im einzelnen sehr unterschiedlich war: So wurde dieser Zusammenhang für die Körperreinigung nach der Arbeit etwa vom Schiedsgericht Prag verneint, ein Monat später vom Schiedsgericht Brünn bejaht; Nahrungsmittelbeschaffung in den Arbeitspausen wurde regelmäßig nicht in den Versicherungsschutz einbezogen. Ad c) nahmen die Schiedsgerichte zunächst einhellig eine ablehnende Haltung ein, als erste eindeutig bejahende Entscheidung dürfte ein Brünner Erkenntnis aus 1894 anzusehen sein, dem etwa ab der Jahrhundertwende die Mehrzahl der übrigen Schiedsgerichte folgte. Ad d) war von Anfang an die Frage umstritten, ob auf den konkreten Verdienstentgang oder "abstrakt" auf die verminderte Erwerbsfähig520 Vgl. die auf Vorarbeiten von Elisabeth Kunst beruhende Darstellung bei Friedrich Steinbach, Unfallversicherung, S. 74 ff. Die Darstellung bei Tamandl, Der Wegunfall in der österr. und dt. Unfallversicherung, in: Grenzen der Leistungspflicht, S. 13'7 (insbes. Anm. 2) ist insofern ungenau, als die Verweigerung des Versicherungsschutzes für den Wegunfall durch die Praxis zwar für die erste Zeit nach Inkrafttreten des UVG (bis ca. 1894) zutrifft, nicht aber für den ganzen Zeitraum bis 1911; vgl. auch unten (nach Anm. 529) die Ausführungen über das erstmalige Auftauchen einer projektierten Regelung des Wegunfalls im Jahre 1896. s21 Vgl. Tomandl im System 2.3.2.4.1.4.

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keit und den daraus zu erwartenden wirtschaftlichen Nachteil abzustellen sei. Die Rechtsprechung vertrat zunächst einheitlich den ersteren Standpunkt, ging aber seit 1896 einhellig davon ab und anerkannte die "abstrakte Rente", wobei auch hier der Brünner Judikatur (Erkenntnis vom 6. Dezember 1893)522 bahnbrechende Bedeutung zukommen dürfte.

3. Kritik und Reformbestrebungen; der Reformentwurf aus der Ara Badeni; die Unfallversicherung im Körberschen Programm Zu Beginn dieses Jahrhunderts faßte der bedeutende Kenner des Sozialversicherungsrechts, Otto Stöger523, die Reaktionen der Beteiligten auf die Regelungen des UVG wie folgt zusammen: "Es ist eine bemerkenswerte Erscheinung, daß es dem UVG während seiner nunmehr 15jährigen Wirksamkeit nicht gelungen ist, sich einzuleben, vermochte es doch von den in Betracht kommenden Kreisen auch nicht eine einzige Gruppe zufriedenzustellen ... Anstatt soziale Gegensätze auszugleichen, hat das G. in den interessierten Kreisen förmlich einen Krieg aller gegen alle entfesselt ... Die Versicherungsanstalten stehen ohne Verschulden im Mittelpunkte dieser Angriffe und werden öffentlich als die ,bestgehaßten' Institute bezeichnet." Diesem Urteil kommt um so mehr Bedeutung zu, als dieses nur wenige Jahre später im Gutachten524 der territorialen Unfallversicherungsanstalten zum Körberschen Programm, wenn auch in weniger drastischen Worten, bestätigt wurde. Dort wird auch auf Gründe der "Unzufriedenheit mit der Arbeiterversicherung" näher eingegangen: Die Unternehmer empfanden die mit der Unfallversicherung verbundenen Pflichten größtenteils als lästig und kamen diesen daher nur mit wenig Eifer nach, die Versicherten empfanden die (in Relation zur Krankenversicherung) umfangreicheren und komplizierteren Anspruchsvoraussetzungen als nachteilig, die Anstalten selbst klagten über zu geringe Kompetenzen hinsichtlich Unfallverhütung und Einflußnahme auf die Heilbehandlung. 522 Amtliche Nachrichten des k. k. Ministeriums des Innern, betr. die Unfallversicherung und Krankenversicherung der Arbeiter, 1894, S. 149; abgedruckt auch bei Leo Geller (Hrsg.), Unfallversicherung, 2. Aufl., 1897, S. 61 (Nr. 101). Vgl. auch die bei Steinbach, Unfallversicherung, S. 83 angeführten Entscheidungen anderer Schiedsgerichte; die im Text angeführte Brünner Entscheidung enthält aber wohl die erste eingehende und grundsätzliche Stellungnahme zur Problematik. m OStWB I, S. 290 ff. m "Gutachten der territorialen Arbeiter-Unfallversicherungsanstalten über das Regierungsprogramm für die Reform und den Ausbau der Arbeiterversicherung", 1907, S. 1 ff.

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Schon Ende 1895 hielt der durch Experten verstärkte Versicherungs~ beirat eine Enquete 525 ab, auf der Änderungen des UVG beraten wurden; im einzelnen wurden folgende Änderungsvorschläge gemacht: Schaffung der gesetzlichen Grundlage für eine weitere Ausdehnung der Versicherungspflicht, .insbes. hinsichtlich der Land- und Forstwirtschaft, des Kleingewerbes etc. auf dem Verordnungswege. Jedoch sollte die UV der Land- und Forstwirtschaft selbständigen Versicherungsträgern übertragen werden, da schon die geringe Zahl der bislang versicherungspflichtigen Land- und Forstarbeiter die Bilanzen der territorialen UV-Anstalten schwer belastete5 ~. Ferne1· wurde vorgeschlagen: Erhöhung der Vollinvaliditätsrente bei Hilflosigkeit (von 60) auf 100 Ofo des Jahresarbeitsverdienstes; Aufhebung der Karenzzeit; jedoch Beibehaltung der "kleinen Renten" 527 ; Beibehaltung des Kapitaldeckungsverfahrens (ebenso später das von Emanuel Czuber am 26. November 1904 dem Versicherungsbeirat vorgelegte Gutachten)528 ; Streichung des (10°/oigen) Arbeitnehmerbeitrages sowie Einführung eines 25°/oigen Staatszuschusses; Aufhebung des gemeinsamen Reservefonds; Einführung von Lohnlisten; Aufgabenerweiterung der UV-Anstalten in Richtung auf Unfallverhütung und Einflußnahme auf das Heilverfahren, das letztere jedoch nur mit Zustimmung des Verletzten; Erweiterung des Begriffs "Betriebsunfall" auf die Fälle, die sich "im Zusammenhange" mit dem Betrieb ereignen; Beibehaltung des Territorialsystems, womit die von den Industriellen mehrfach erhobene Forderung nach Übergang zu berufsgenossenschaftliehen Versicherungsträgern {als Primärform) abgelehnt wurde; schließlich die Ein:llührung einer Berufungsinstanz für die schiedsgerichtlichen Erkenntnise sowie die Umwandlung des Versicherungsbeirats in ein Reichsversicherungsamt. Auf der Grundlage dieser Vorschläge wurde 1896, also in der Ära Badeni, der Entwurf eines Änderungsgesetzes im Innenministerium ausgearbeitet und ab 3. Juli 1896 im Innenministerium beraten520 • Wie525 Vgl. hiezu das "Protokoll über die in der Zeit vom 25. November bis 5. December 1895 abgeführten Verhandlungen des durch Experte(n) verstärkten Versicherungsbeirathes betr. angeregte Änderungen des Arbeiter-Unfallversicherungsgesetzes", 1896. 528 So betrug etwa 1895 (vgl. ÖStWB I, S. 292) bei den landwirtschaftlichen Maschinenbetrieben die Summe der Beitragsleistungen 339.000 fl., die auf diese Betriebe entfallene Belastung der Unfallversicherungsanstalten durch Versicherungsleistungen aber 438.000 fl. - Vgl. den Antrag Pfibram und die Abstimmung hiezu im Protokoll (wie vorige Anm.), S. 70 f. 527 Vgl. das "Protokoll" (wie Anm. 525), S. 91 ff.; ÖStWB I, S. 293; vgl. zur 12. UVG-Novelle unten B/5, III 1 (vor Anm. 640). 528 Amtliche Nachrichten usw. XVI, 1904, S. 305 ff. 529 AVA, JM, Karton 1450: Grundlage der Beratungen waren die vom Versicherungsbeirat vorgeschlagenen Änderungen des UVG, die der Nr. 120 in gedruckter Fassung angeschlossen sind.

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wohl dieser Entwurf niemals zur parlamentarischen Behandlung kam, verdienen doch einige richtungsweisende Regelungen Erwähnung; so insbes. zwei neue Bestimmungen, in denen die damals noch ganz junge Judikatur zum Begriff des Betriebsunfalls sowie zur Rentenbemessung aufgegriffen wurde: § 1, letzter Abs. (neu): "Den beim Betriebe sich ereignenden Unfällen sind jene Unfälle gleichzuhalten, die sich bei häuslichen oder anderen Verrichtungen ereignen, zu denen der Versicherte neben seiner Beschäftigung im Betriebe durch den Betriebsunternehmer oder einen Bevollmächtigten desselben veranlasst wird, ferner jene Unfälle, welche sich auf dem Wege von und zur Betriebsstätte ereignen."

§ 5, Abs. 2 (neu):

"Der Schaden, welchen Verletzte erleiden, wird durch den Grad der verbleibenden Erwerbsunfähigkeit, das ist der Fähigkeit bestimmt, mit Rücksicht auf den infolge des Unfalles eingetretenen körperlichen oder geistigen Zustand einer den persönlichen Verhältnissen entsprechenden, auf Erwerb gerichteten Arbeit zu obliegen."

Ferner sind bemerkenswert die Erhöhung der Vollinvalidenrente für Hilflose auf 100 Ofo (§ 6, Abs. 8), die Einführung eines Verbandes der territorialen UV-Anstalten (§ 9 a), die Möglichkeit, Betriebe mit unzulänglichen Sicherheitsvorrichtungen mit Zuschlägen zu belegen (§ 14, Abs. 5), und schließlich der- aus der Sicht der späteren Entwicklung als bahnbrechend zu bezeichnende---'§ 7, Abs. 9: "Die Versicherungsanstalten (§. 9) sind in jedem Stadium des Heilverfahrens eines Verletzten berechtigt, der Krankencasse, welcher derselbe angehört, die Krankenfürsorge abzunehmen. Sie treten in diesem Falle in alle der Krankencasse hinsichtlich der Krankenfürsorge gesetzlich und statutarisch zustehenden Rechte und Pflichten." Das Ende 1904 von der Regierung Körber vorgelegte "Programm für die Reform und den Ausbau der Arbeiterversicherung"530 sah einige erwähnenswerte Neuregelungen zur Unfallversicherung teils im 1. {"Allgemeine Bestimmungen"), teils im 4. Hauptstück ("Unfallversicherung") vor: Hinsichtlich des Kreises der Versicherungspflichtigen einerseits die Einbeziehung zusätzlicher Sparten des Kleingewerbes (wie insbes. der Tischler), andererseits die Ausscheidung der land- und forstwirtschaftliehen Maschinenbetriebe (§ 5); die Einführung des Lohnklassensystems (6 Lohnklassen) auch für die Unfallversicherung (§§ 14, 138); die Mög530 1904; auch abgedruckt als Anhang zu dem in Anm. 524 zitierten "Gutachten" der territorialen Arbeiter-Unfallversicherungsanstalten. Vgl. StProtAH, 17. Sess., S. 26215.

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lichkeit der Normierung des Lohnlistenzwanges im Verordnungswege (§ 16); Möglichkeit der Rentenerhöhung für Hilflose auf das 1 1/2fache (§ 139, Abs. 3); die (obligatorische) Abfertigung bei Minderung der Erwerbsfähigkeit wn weniger als ein Fünftel (§ 139, Abs. 4)!>31 ; die den UV-Anstalten eingeräumte Möglichkeit der Übernahme des Heilverfahrens(§ 141, Abs. 1); Übergang vom Kapitaldeckungssystem zum System der "Kontingentierung der tarifmäßigen Versicherungsbeiträge" (§ 152)532 ; schließlich die Einrichtung eines "Obergerichts für Arbeiterversicherung" (§§ 223- 226), das je zur Hälfte aus Richtern bzw. Verwaltungsbeamtenzusammengesetzt sein sollte533•

4. Die Gesetzgebung auf dem Gebiet der Unfallversicherung bis 1918 Da weder das Körbersche Programm noch die beiden Regierungsvorlagen von 1908 und 1911, die ebenfalls umfassende Neuregelungen vorsahen (s. zu diesen unten V), Gesetz wurden, kam es auf dem Gebiete der Unfallversicherung in der Folgezeit bloß zu Detailänderungen bzw. -ergänzungen des Stammgesetzes: Hier ist zunächst die Einbeziehung der Berufschauffeure in die obLigatorische Unfallversicherung (jedoch ohne Gleichstellung mit den Eisenbahnbediensteten) durch das Automobilhaftpflichtgesetz vom 9. August 1908, RGBl. Nr. 162 (§ 11) zu erwähnen534; ferner die Normierung des Lohnlistenzwanges durch Gesetz vom 8. Februar 1909, RGBl. Nr. 29!>35, und schließlich die schon mehrmals beantragte Einbeziehung baugewerbl·icher Betriebe in die Unfallversicherung durch Gesetz vom 29. April 1912, HGBl. Nr. 96 (2. UVG-Novelle). Eine ausdrückliche gesetzliche Normierung war unumgänglich geworden, nachdem der Verwaltungsgerichtshof durch den Pienarbeschluß vom 22. Mai 1908, Z. 5031, Budw. 5999, in seine alte Judikatur, wonach die Versicherungspflicht nur für die am Bau selbst Beschäftigten und nur für die Dauer dieser Beschäftigung (!) bestehe, wieder zurückgefallen war. Durch die ks. (Not-)Verordnung vom 7. April 1914, RGBL Nr. 80!>38 , wurde ein Schritt nachvollzogen, den Taaffe, Prazäk und Steinbach 531 Vgl. oben Anm. 527 mit Hinweis auf die 12. UVG-Novelle sowie unten vor Anm. 640. 532 Vgl. die nähere Erklärung hiezu im "Gutachten" (wie Anm. 524), S. 98. 533 Dagegen Kritik im "Gutachten", S. 210 f. s. auch unten den Text nach Anm. 583. 584 Details bei Robert Kerber (Hrsg.), Die österr. Kranken- und Unfallversicherung, 1927, S. 34. 535 Das Gesetz enthielt überdies (in § 3) eine Regelung der Verjährung der Versicherungsbeiträge; Kerber, S. 35. 586 Damit im wesentlichen übereinstimmend das Gesetz vom 30. 12. 1917, RGBI. Nr. 523.

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schon 1883 geplant hatten, der aber am Widerstand Falkenhayns gescheitert war: nämlich die Einbeziehung der Bergarbeiter in die allgemeine Unfallversicherung, womit eine ganz erhebliche Verbesserung des Leistungsschemas verbunden war537• Während man 1889, um die Krankenversich~rung der Bergleute dem KVG anzupassen, bloß eigene Abteilungen innerhalb der Bruderladen geschaffen hatte (vgl. oben B/3, VII), ging man nun radikaler vor: Die Unfallversicherung der Bergleute wurde mit 1. Januar 1915 den Bruderladen gänzlich entzogen und einer neugeschaffenen "Unfallversicherungsanstalt der Bergarbeiter" übertragen(§ 2); durch den Zusammenbruch der Monarchie verlor diese Institution, deren örtlicher Wirkungsbereich sich auf das gesamte Gebiet der zisleithanischen Reichshälfte erstreckte, ihre rechtliche Grundlage, ihr Vermögen mußte gemäß Art. 275 des Friedensvertrages von Saint Germain auf die Nachfolgestaaten aufgeteilt werden. Durch Gesetz vom 10. Dezember 1919, StGBl. Nr. 579, wurde die Durchführung der Unfallversicherung der Bergarbeiter den territorialen UV-Anstalten übertragen. Während die Einrichtung einer speziellen UV-Anstalt der Bergarbeiter sohin Episode blieb, kommt der NotVO vom 7. April 1914 insoweit bleibende Bedeutung zu, als in dieser erstmals die in Entwürfen schon lange zuvor geplanten Regelungen des Wegunfalls bzw. des Rechtes der UV-Anstalten, der Krankenkasse die Heilbehandlung Verletzter abzunehmen, Gesetzeskraft erlangten: § 9, Abs. 1 lautete: "Den beim Betriebe sich ereignenden Unfällen sind jene Unfälle gleichzuhalten, die sich auf dem Wege von der Wohnstätte zur Arbeit oder von der Arbeit zur Wohnstätte ereignen, sofern dieser Weg weder eine im Eigeninteresse des Versicherten begründete noch eine sonstige mit dem Arbeitsverhältnisse nicht zusammenhängende Unterbrechung erfahren hat." § 10, Abs. 1 (Abnahme des Heilverfahrens) ist im wesentlichen übereinstimmend mit der schon 1896 entwickelten Formulierung. Durch das Gesetz vom 21. August 1917, RGBL Nr. 363 (3. Novelle zum UVG), wurde nunmehr auch in das Stammgesetz eine Bestimmung über den Wegunfall (§ 5, Abs. 3) aufgenommen und auch die im Auftrag des Unternehmers außerhalb des Betriebes vorgenommenen Verrichtungen in den Versicherungsschutz einbezogen (§ 5, Abs. 1, vgl. den Entwurf von 1896!); ferner wurde die Rentenerhöhung auf das 1 1/2fache bei Hilflosigkeit nunmehr Gesetz (§ 6, vorl. Abs.); außerdem wurde die Vollinvalidenrente von 60 auf 66 2/3 OJo erhöht und- in Rücksicht auf die durch den Krieg bedingte Inflation - auch der anrechenbare Jahresverdienst erhöht538• 639• Ferner wurde, im Einklang mit § 12 der Not-

über die Unterschiede vgl. bereits oben B/3, IV bzw. VII. Über spätere Erhöhungen (durch die Novellen IV ff.) vgl. Kerber, Kranken- und Unfallversicherung, S. 38 (Tabelle). 537

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verordnung vom 7. April 1914, der 10 °/oige Arbeitnehmerbeitrag gestrichen(§ 17). Abschließend sei noch darauf hingewiesen, daß die bei Zustandekommen des UVG so lebhaft umstrittene Frage der Einbeziehung der land- und forstwirtschaftliehen Arbeiter in die Unfallversicherung zunächst von der Regierung Taaffe weiterverfolgt wurde, wie eine hiezu im Jahre 1891 abgehaltene schriftliche Umfrage zeigt. Offenbar wurden hierauf im Ministerium des Inneren ähnliche Projekte entwickelt wie zuvor schon hinsichtlich der Krankenversicherung der land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter (s. gleich unten), da der Referent des Justizministeriums640 am 24. Juni 1893 vermerkte: "Sicherem Vernehmen nach sind die Vorarbeiten für ein landwirthschaftliches Reichs-UVG im Min. des Inneren schon weit gediehen." Dieses Projekt wurde dann jedoch offenbar fallengelassen und von der Regierung bis 1918 nicht mehr weiterverfolgt; symptomatisch ist die Ausscheidung der land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter aus dem Körberschen Programm. Vermutlich waren die schlechten finanziellen Erfahrungen, die man mit der Einbeziehung der land- und forstwirtschaftliehen Maschinenbetriebe (gern. § 1 UVG) gemacht hatte, die Ursache für das Erlahmen des Reformeifers in diesem Bereich. 111. Die Entwicklung der Krankenversidlerung

1. Die praktischen Erfahrungen mit dem KVG; die Rechtsprechung auf dem Gebiet der Krankenversicherung; Kritik und Reformbestrebungen Wie anläßlich der Entstehungsgeschichte des KVG ausgeführt wurde, oblag die Durchführung der Krankenversicherung einer großen Zahl von Versicherungsträgern (Kassen), die nach Größe und Struktur ein höchst uneinheitliches Bild aufwiesen. So gab es etwa im Jahre 1901 auf dem Gebiet der zisleithanischen Reichshälfte insgesamt 2.935 Krankenkassen, hievon 564 Bezirks-541, 1.322 Betriebs-, 7 Bau-, 887 Genossenschafts- und 155 Vereinskrankenkassen. Im selben Jahr betrug die durchschnittliche Mitgliederzahl aller Kassen ca. 2,5 Millionen; dies entsprach einem Bevölkerungsanteil von ca. 9 °/o. In dem Jahrzehnt von 1890 bis 1900 stiegen die Einnahmen aller Kassen von 24,7 auf 47,2 Mill. K, die Ausgaben von 22,7 auf 45,6 Mill. K. Die finanzielle Lage der Kassen war unterschiedlich; etwa 2/3 aller Kassen schloß mit einem Gebarungsüberschuß, 1/3 mit einem Defizit ab, 539 540 541

39•

Zum Werdegang des Gesetzes vgl. ebenda, S. 37. AVA, JM, Karton 1450, Nr. 22 (Call). Diese waren in 7 Verbänden zusammengefaßt.

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wobei dieser Prozentsatz bei allen Kassentypen ziemlich einheitlich gegeben war542• Für die finanzielle Situation der Kassen von entscheidender Bedeutung war die Frage, in welchem Ausmaß diese für die Spitals-Verpfiegskosten aufzukommen hatten. Bis zu dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 28. Dezember 1894, Budw 8280, vertrat das (Innen-)Ministerium (als oberste Aufsichtsbehörde) nämlich die Ansicht, daß die Krankenkassen über die Vierwochenfrist des § 8, Abs. 3 KVG hinaus zur (teilweisen) Deckung der Verpfiegskosten das (dem Versicherten gebührende!) Krankengeld und zusätzlich ein Äquivalent für ärztliche Behandlung etc. zu entrichten hätten. Erst 1895 ging das Innenminister.ium von diesem für die finanzielle Lage der Kassen bedrohlichen und insbes. von der Arbeiterschaft lebhaft bekämpften Rechtsstandpunkt ab; nichtsdestoweniger hielt sich auch weiterhin der Verdacht, Regierung und Rechtsprechung verfolgten die Tendenz, die Finanzlage der Spitäler auf Kosten der Kassen, sohin hauptsächlich der Arbeiter, verbessern zu wollen543 • Wie eine schriftliche Umfrage im Jahre 1894 und eine Enquete544 im Jahre 1897 sowie auch die Verhandlungen des "Ersten Österreichischen Krankenkassentages" (28. bis 30. Juni 1896)545 darlegten, betraf die vor allem von den Versicherten, aber auch von den beigezogenen Experten erhobene - Kritik an den Krankenkassen nicht nur die eben berührten finanziellen Aspekte, sondern auch grundsätzliche Fragen des Organisations- und Leistungsrechts sowie des Umfangs der Versicherungspflicht. Im einzelnen wurde gefordert: die Ausdehnung der Versicherungspflicht auf alle unselbständig Erwerbstätigen, insbes. auf die land- und forstwirtschaftliehen Arbeiter, darüber hinaus auch (von einem Teil der Experten) auf Kleingewerbetreibende und Kleinbauern; ferner die Einführung der obligatorischen Angehörigenversicherung. Hinsichtlich der Kassenorganisation wurde einhellig die große Zersplitterung beklagt, über die Zielrichtung der Reform herrschte aber völlige Uneinigkeit: Während die Arbeitervertreter die Aufhebung der Betriebs-, Bau- und Bruderladenkassen forderten, stand die Arbeitgeberseite den Vereinskassen größtenteils ablehnend gegenüber; ferner sprachen sich die Arbeitervertreter gegen die Verwaltung der Bezirks542 Bei der Ermittlung dieser Werte wurden allerdings die Leistungen der Kassen an den Reservefonds als Passiven gerechnet (vgl. ÖStWB I, S. 256). s•s OStWB I, S. 236, 250. 544 Vgl. das StProt. der vom k. k. Ministerium d. Innern veranstalteten, in der Zeit v. 19. 3. bis 21. 5. 1897 abgehaltenen Enquete über die Reform des Krankenversicherungsgesetzes, 1897. 545 Protokoll des 1. Osterr. Krankenkassentages, 28., 29. und 30. Juni 1896, (Wien) o. J.- Eine gute Zusammenstellung der im Rahmen der Enquete bzw. auf dem Kassentag erstatteten Vorschläge bringt Stöger, OStWB I, S. 257 ff.

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kassenverbände durch die UV-Anstalten (schwache Arbeitnehmervertretung!) aus und plädierten für die Schaffung von "Reichsverbänden". Einheitlich moniert wurde eine Verbesserung des Meldewesens und der Kassenleistungen (insbes. Erhöhung der Unterstützungsdauer von 20 auf 30- 52 Wochen). Auch das Recht auf "Freie Arztwahl" wurde damals schon von den Arbeitnehmern und den Ärzten gefordert, von der Enquete aber aus Kostengründen abgelehnt. Abgelehnt wurde auch hier (wie bei der Unfallversicherung) das Lohnklassensystem. Hinsichtlich der Finanzierung wurde von Arbeiterseite die Einführung eines Staatsbeitrages, die Befreiung der Kassen von der Kostenersatzpflicht gegenüber den Spitälern und von einzelnen sogar die (ausschließliche) Heranziehung der Einnahmen aus der (zu jener Zeit projektierten) progressiven Einkommensteuer vorgeschlagen. Das Körbersche Programm546 brachte hinsichtlich des Kreises der Kranken- (und Invaliditäts-)versicherungspfiichtigen die grundsätzliche Ausdehnung auf alle unselbständig Erwerbstätigen, wie dies die Enquete vorgeschlagen hatte. Eine große Gruppe der Neuhinzugekommenen, nämlich die "unter die Dienstboten- oder Gesindeordnungen fallenden Personen"547 sollten ebenso wie die Lehrlinge u. a. nur teilversichert sein, d. h. nur Anspruch auf Heilbehandlung, nicht dagegen auf das Krankengeld haben (§§ 26, 27). Eine Neuerung stellte auch das - von der Enquete abgelehnte - Lohnklassensystem dar, das eine Staffelung des Krankengeldes bewirkt hätte (§ 27 a. E.). Hinsichtlich der Mittelaufbringung sah das Körbersche Programm im Einklang mit dem Stammgesetz keinen Staatsbeitrag zur Krankenversicherung vor, die Beitragslast sollte aber nun zu gleichen Teilen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern getragen werden(§ 51), wie dies auch der geltenden Rechtslage-548 entspricht. Hinsichtlich der Organisation der Kassen hielt das Körbersche Programm insoweit am Status quo fest, als es die vorhandenen Kassentypen nebeneinander bestehen ließ. Hinsichtlich der Bezirkskassen sollte eine Sprengelvergrößerung (politischer Bezirk!) vorgenommen werden, freilich unter gleichzeitiger Einführung lokaler Melde- und Geschäftsstellen; die Bezirkskrankenkassenverbände wurden für aufgehoben erklärt (§ 60, a. E.). Aufgehoben werden sollten ferner die - praktisch wenig bedeutsamen - Baukrankenkassen, während andererseits die Krankenkassenabteilungen der Bruderladen in eigentliche "BruderladenkrankenkasVgl. die§§ 2- 6! Jetzt Hannes Stekl, Soziale Sicherheit für Hausgehilfen, in: Soziale Sicherheit im Nachziehverfahren, S. 174 ff., 204 f . (zum Koerberschen Programm). 548 Etwa § 51, Abs. 3, Z. 1 ASVG (vgl. jedoch auch die Sondervorschrift des §53 ASVG!). 548

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sen" (§ 69) umgewandelt werden sollten, so daß die Typenzahl nach wie vor fünf betrug. In den wesentlichen Punkten schließen sich die Regierungsvorlagen von 1908 und 1911 den Körberschen Reformvorstellungen hinsichtlich der Krankenversicherung an549•

2. Die Gesetzgebung auf dem Gebiet der Krankenversicherung bis 1918 Da gern. § 3 KVG hinsichtlich der Krankenversicherung der landund forstwirtschaftliehen Arbeiter auf die Landesgesetzgebung verwiesen worden war, versuchte das Innenministerium durch die Ausarbeitung von "Grundzügen" für solche Landesgesetze deren Erlassung möglichst zu beschleunigen bzw. von vornherein eine gewisse Einheitlichkeit zu gewährleisten. Am 17. Mai 1890 langte im Justizministerium ein Exemplar der "Grundzüge" ein550, deren Art. I die bei der Land- und Forstwirtschaft beschäftigten Personen der Versicherungspflicht i. S. des KVG unterwirft, Art. II den Beitrittszwang normiert usw. Dieses Projekt wurde offenbar schon bald fallengelassensst. Als einziges Kronland erließ Salzburg schon am 29. November 1888, LGBL Nr. 40, ein "Gesetz betreffend die Einrichtung von GemeindeKrankenunterstützungskassen für Dienstboten und Taglöhner des Landes Salzburg" (novelliert durch das Gesetz vom 6. Dezember 1901, LGBL Nr. 5/1902). Von da an ruhte die Gesetzgebung auf dem Gebiet der Krankenversicherung bis zur Gewerbeordnungsnovelle 1897, durch welche die "Meisterkrankenkassen" ins Leben gerufen wurden (s. bereits oben B/3, Vl) 652, wobei gleichzeitig die Möglichkeit der Einführung des Versicherungszwanges durch qualifizierten Mehrheitsbeschluß geschaffen wurde. Durch die Gewerbeordnungsnovelle vom 5. Februar 1907, RGBL Nr. 26, wurden die mit Versicherungszwang ausgestatteten Meisterkassen einer eingehenden Regelung unterzogen, die sich im wesentlichen an die des KVG und des Hilfskassengesetzes anlehnte, und in dieser Form als Krankenversicherungsträger anerkannt. 549 §§ 39 ff.; über die beiden Regierungsvorlagen im allgemeinen unten Anm. 584, 585. 550 A VA, JM, Karton 1449, Nr. 120. 55 1 Vgl. demgegenüber die Bemühungen des Salzburger Landtages um das Zustandekommen einer obligatorischen Krankenversicherung der Dienstboten; bereits am 22. 2. 1886, LGBl. Nr. 20, wurde ein entsprechendes Landesgesetz erlassen, das ·freilich schon bald in Rücksicht auf das KVG novelliert werden mußte. Vgl. den Text im folgenden sowie Stekl, in: Soziale Sicherheit im Nachziehverfahren, S. 196 f. 552 Jetzt Sandgruber, in: Soziale Sicherheit im Nachziehverfahren, S. 146 f. - Vgl. auch das "StProt der Gewerbe-Enquete", 1893, s. 723 ff.

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Zu einer wesentlichen Änderung des Stammgesetzes kam es erst durch die Notverordnungen vom 4. Jänner 1917, RGBL Nr. 6 und 7, die nach Wiederzusammentritt des Reichsrates durch die im wesentlichen gleichlautenden Gesetze vom 20. November 1917, RGBL Nr. 457, und vom 3. Dezember 1917, RGBl. Nr. 475, ersetzt wurden. Die angeführten Normen paßten nicht nur die Versicherungsleistungen dem durch die Inflation stark angestiegenen Preisniveau an, sondern erweiterten den Leistungskatalog auch ganz erheblich, nämlich durch Ausdehnung der Höchstunterstützungsdauer von 20 auf 26 Wochen sowie durch Einführung der Wöchnerinnenunterstützung (§ 6, Z. 3) und der Stillprämien (§ 6, Z. 4). Ferner wurde in Anlehnung an das Körbersche Programm das Lohnklassensystem (mit 11 Lohnklassen) eingeführt und auch der schon 1896 erhobenen Forderung nach Einbeziehung der Familienangehörigen in die Krankenversicherung in der Weise Rechnung getragen, daß die Einführung der sog. Familienversicherung dem Kassenstatut anheimgestellt wurde (§ 9 a). Schließlich wurden, in weiterer Anlehnung an das Körbersche Programm, die obligatorischen Bezirkskassenverhände (§ 39) für aufgehoben erklärt, jedoch die freiwillige Verbandsbildung von Kassen aller Gattungen zugelassen. Abschließend sei noch das schon am 11. Februar 1913, RGBL Nr. 24, ergangene "Gesetz betreffend die Ausdehnung der Krankenversicherung auf die Betriebe der Seefahrt und Seefischerei" erwähnt; dieses - durch den Verlust der Küstengebiete 1918 gegenstandslos gewordene - Gesetz wies die bemerkenswerte Besonderheit auf, daß erstmals auch Unternehmer (kleiner Fischereibetriebe) der (Kranken-)Versicherungspflicht unterworfen wurden (Art. I, Abs. 3). IV. Das Pensionsversicherungsgesetz für Angestellte vom 16. Dezember 1906 und dessen 1. Novelle vom 25. Jnnl1914

1. Werdegang Während die Österreichische Gesetzgebung hinsichtlich der Arbeiterversicherung dem deutschen Vorbild, wenn auch unter Anbringung zahlreicher Detailkorrekturen, nachfolgte, schritt sie der deutschen Gesetzgebungli53 auf dem Gebiete der Angestelltenversicherung voran und setzte auf diese Weise eine soziale Großtat von internationalem Format554• 553 Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts I, 1965, S. 77 ff. (unter Hinweis auf die motivierende Rolle des österr. Vorbildes); jetzt auch Zöllner in diesem Sammelwerk, S. 110 f. 554 Bester Überblick bei Robert Kerber (Eugen Spann I Artur Rudolph), Das Angestelltenversicherungsgesetz, I, 1929, S. 1 ff.; ferner Lederer, Grundriß, S. 25, 433 f.; Hans Schmitz, Die Angestelltenversicherung, I, 1948, S. 1 - 22

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Als eine soziale Gruppe von einigem Gewicht bildeten sich die Privatangestellten (Privatbeamten) erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts heraus, vor allem im Zusammenhang mit der sprunghaften zahlenmäßigen Vermehrung von Großunternehmen mit bürokratischer Organisation. Im Gegensatz zum öffentlichen Beamtenturn war das Privatbeamtenturn gegenüber anderen Berufsgruppen weniger scharf abgegrenzt. Als wichtigstes Kriterium der Abgrenzung gegenüber den Arbeitern wurde das Überwiegen geistiger Dienstleistung angesehen, wobei als Kerngruppe der Angestellten die Industrie-, Bank-, Versicherungs- und Güterbeamten galten. Fraglich war dagegen die Zugehörigkeit des kaufmännischen Hilfspersonals; wir werden sehen, daß gerade dieser Punkt eine der Hauptschwierigkeiten des ersten Österreichischen Angestelltenversicherungsgesetzes ausmachte. Im Gegensatz zu den öffentlichen Beamten, deren Rechtsstellung schon seit langem durch eine gut ausgebaute Alters- und Invaliditätsvorsorge geradezu charakterisiert war, bildete diese bei den Privatangestellten eine Ausnahme: Nur bei einzelnen großen Industrieunternehmungen sowie bei den Versicherungsgesellschaften gab es private Pensionsfonds; der Großteil der Privatangestellten entbehrte einer Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung und war infolgedessen, wie der "Erste Allgemeine Beamtenverein der österreichisch-ungarischen Monarchie" in einer 1888 erschienenen Artikelserie der "Beamtenzeitung" drastisch darlegte655, im Alter bzw. im Invalidi-, tätsfall der Gefahr der Verarmung und Verelendung ausgesetzt. Unter maßgeblicher Initiative Anton Blechschmidts656 wurde in zwei Petitionen an den Reichsrat (die erste schon 1888!) die Einführung der obligatorischen Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung gefordert, worauf das Abgeordnetenhaus am 24. März 1893557 die Regierung zur baldigen Einbringung einer entsprechenden Vorlage aufforderte. Die Regierung ließ 1896 zunächst statistische Erhebungen über die "Verhältnisse der Privatbeamten" durchführen, deren Ergebnisse 1898 veröffentlicht und den Vorarbeiten zu der am 21. Mai 1901 im Abgeordnetenhaus eingebrachten Vorlage658 zugrundegelegt wurden. Diese wurde hierauf dem sozialpolitischen Ausschuß zugewiesen, in dem jedoch hinsichtlich der Organisationsfrage (s. gleich unten) keine Einigung zustandekam, worauf 1905 (!) ein Unterausschuß (mit dem tschechischen Abgeordneten Josef Fort als Berichterstatter) eingesetzt wurde. (Entwicklung bis 1939); li, 1951, S. 1-37 (1939 bis ca. 1950). Vgl. jetzt auch die schon in Anm. 31 zitierte Dissertation von Andreas Baryli. 555 37. Jg., S. 508, 581, 618 (Text der Petition). 558 Über ihn vgl. das ÖBL, I, S . 92 f . 557 StProtAH, 11. Sess., S. 11080 f. 558 StProtAH, 17. Sess., Beil. Nr. 1476.

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Nach längeren Auseinandersetzungen fand der Bericht Fofts559 die Zustimmung des Ausschusses und konnte endlich im Dezember 1905 dem Abgeordnetenhaus vorgelegt werden, das die Vorlage am 8. Februar 1906 in dritter Lesung annahm. Im Herrenhaus wurde die Vorlage zunächst durch eine 15köpfige Spezialkommission beraten, die u. a. für Staatszuschüsse zu den Invalidenrenten bzw. für eine Ausfallshaftung des Staates eintrat560, mit diesem Vorschlag aber am Widerstand des Ministerpräsidenten scheiterte. Schließlich wurde die Vorlage am 30. Oktober 1906 auch vom Herrenhaus angenommen581 ; am 16. Dezember 1906 (BGBI. Nr. 1/1907) erhielt das "Gesetz betreffend die Pensionsversicherung der in privaten Diensten und einiger in öffentlichen Diensten Angestellten" die ks. Sanktion.

2. Wesentliche Bestimmungen Schon in der Regierungsvorlage wurde die Eingrenzung des Angestelltenbegriffs, vor allem im Bereich des kaufmännischen Hilfspersonals, als sehr schwierig anerkannt, auf eine weitergehende Präzisierung aber verzichtet. Der sozialpolitische Ausschuß sprach sich eindeutig für die Einbeziehung des höheren kaufmännischen Hilfspersonals und der "Werkmeister" in industriellen Betrieben aus und versuchte dies dadurch zum Ausdruck zu bringen, daß er die im kaufmännisch-industriellen Bereich manuell Tätigen bzw. das Gesinde ausdrücklich aus dem Kreis der Angestellten ausschied; für diese- später in das Gesetz (§ 1) eingegangene- Fassung des Angestelltenbegriffs ist also der Verzicht auf eine taxative oder auch nur demonstrative Aufzählung der Tätigkeitsmerkmale charakteristisch. In juristischer, aber auch praktischer Hinsicht bemerkenswert ist die vom Ausschuß gewählte Formulierung des § 1 ("versicherungspflichtig und versichert"), durch die neben dem Grundsatz der Pflichtversicherung auch jener der uneingeschränkten Meldeunabhängigkeit562 zum Ausdruck gebracht werden sollte. Gerade in Hinblick auf die Unklarheit des Angestelltenbegriffs wollte d~r Ausschuß auf diese Weise die Anspruchsberechtigung von der - wegen Zweifelhaftigkeit der Versicherungspflicht - unterbliebenen oder verspätet erfolgten Anmeldung und somit auch von der Erbringung der Beitragsleistungen unabhängig gestalten. Entsprechend dem Körberschen Modell (s. unten V) waren die Versicherungspflichtigen in sechs Gehaltsklassen eingeteilt 559 StProtAH, 17. Sess., Beil. Nr. 2462. aeo Vgl. deren Bericht in den StProtHH, 17. Sess., Beil. Nr. 359. 561 StProtHH, 17. Sess., S. 1345. 562 Hiezu Krejci im System, Pkt. 1.2.1.4. Anders Schmitz, Angestelltenversicherung, I, S. 3, der Meldeunabhängigkeit und ipso iure-Prinzip gleichsetzt.

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(§ 3), wobei vor allem die Frage der Aufnahme bzw. Streichung der 1. (niedrigsten) Lohnklasse (600 bis 900 K) längere Zeit zwischen Ab-

geordneten- und Herrenhaus ein Streitobjekt bildete.

Das Leistungsschema umfaßte nach der Regierungsvorlage die Invaliditäts-, Alters- und Hinterbliebenenrente sowie eine Stellenlosigkeitsunterstützung563, die als Vorläufer der späteren Arbeitslosenversicherung Beachtung verdient, jedoch bereits durch den Ausschuß gestrichen wurde. Während die Invaliditätsrente (bestehend aus dem Grund- und allfälligen Steigerungsbeträgen) im · Falle der Erwerbsunfähigkeit zustand, sollte gemäß der Regierungsvorlage eine um 50 °/o höhere Altersrente bei Erreichung des 65. Lebensjahres zustehen; der Ausschuß nahm hier zwei grundlegende Änderungen vor, indem er einerseits den Steigerungsbetrag strich und andererseits unter Weglassung der Altersgrenze den Ablauf von 480 Beitragsmonaten (40 Dienstjahren) zur alleinigen Anspruchsvoraussetzung machte (§ 11 des Gesetzes). Die Beiträge waren in festen Prämien zu entrichten, deren Höhe einheitlich für beide Geschlechter entsprechend den 6 Gehaltsklassen gestaffelt war, wobei die Beitragspflicht bei den 4 unteren Gehaltsklassen zu zwei Drittel dem Dienstgeber und zu einem Drittel dem Dienstnehmer zur Last fiel, während in den Klassen 5 und 6 eine Hälfteteilung normiert war; bei Jahresbezügen von über 7.200 K hatte der Versicherte die Prämien ganz aus Eigenem zu bezahlen (§ 33). Wiewohl dahin gehende Vorschläge gemacht wurden (s. oben), war weder ein Staatszuschuß noch eine Aus-

fallshaftung des Staates vorgesehen.

In organisatorischer Hinsicht sah die Regierungsvorlage eine zentrale Pensionsversicherungsanstalt sowie auf der unteren Ebene "Lokalverbände" vor, die grundsätzlich für jeden politischen Bezirk gemäß dem Prinzip der Selbstverwaltung eingerichtet werden sollten. Dieses Konzept kann wohl als getreues Spiegelbild der Körberschen Pläne im Rahmen der Verwaltungsreform564 angesehen werden, die ebenfalls auf eine Verlagerung des Verwaltungsschwerpunktes von den Ländern auf kleinere Einheiten gerichtet waren. Demgegenüber ließ der Ausschuß die im Abgeordnetenhaus repräsentierten föderalistischen Tendenzen zur Geltung kommen; zwar wurde die zentrale Versicherungsanstalt (mit Sitz in Wien) beibehalten, jedoch ein erheblicher Teil der Kompetenzen (der gesamte Verkehr mit den Versicherten) den Landesstellen (§§ 52 ff.) übertragen; an die ssa §§ 14- 16 der Regierungsv()rlage.

~ 84 Vgl. Ableitinger, Koerber, S. 82 ff.; Wolfgang-Rüdiger Mell, in: Verwaltungshistorisdle Studien I, (Pecs) 1972, S. 193 ff.; Hofmeister, Pläne und Ansätze einer Kreis(selbst)verwaltung in der österr. Verfassungsgesdlichte, in: Entwicklung der städtischen und regionalen Verwaltung in den letzten 100 Jahren in Mittel- und Osteuropa, (Budapest) 1979, S. 133 ff., 144.

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Stelle der "Lokalverbände" traten - bloß fakultativ einzurichtende "lokale Agenturen", die keine selbständigen Träger der Selbstverwaltung, sondern bloß bürokratische Ausgliederungen der Landesstellen waren (§ 56, Abs. 2). Im übrigen wurde auch die Möglichkeit eingeräumt, durch Versicherung bei Ersatzinstituten oder durch Abschluß von Ersatzverträgen der Versicherungspflicht nachzukommen bzw. über den gesetzlichen Rahmen hinaus Pensionsansprüche zu begründen (§§ 64 ff.).

3. Kritik und Reformbestrebungen, insbes. 1. Novelle aus 1914 In ähnlichem, vielleicht noch stärkerem Maße als seinerzeit das Arbeiter-Unfallversicherungsgesetz war das Angestellten-Pensionsversicherungsgesetz von 1906 Anfechtungen von allen Seiten her ausgesetzt565. Kritisiert wurde vor allem die unzulängliche Höhe der Mindestrenten. In der Tat betrug die niedrigste Rente (Grundbetrag der ersten Gehaltsklasse) bloß 180 K, erreichte somit nicht einmal die Hälfte der von den territorialen Unfallversicherungsanstalten bei Vollinvalidität geleisteten Durchschnittsrente6116• Schon am 22. Mai 1908567 brachte der Abgeordnete Stefan Licht einen Antrag auf Gesetzesänderung ein, der einerseits auf die Verbesserung der gesetzlichen Leistungen und andererseits auf die Klarstellung des Angestelltenbegriffs abzielte. Vor allem die zweitgenannte Problematik war in den Folgejahren Gegenstand zahlreicher parlamentarischer Initiativen sowie einer von der "Allgemeinen Pensionsanstalt" abgehaltenen Enquete568. Umstritten war nach wie vor insbes. die Angestelltenqualität des kaufmännischen Hilfspersonals. Anhänger einer Einbeziehung waren vor allem die "bürgerlichen Angestelltenorganisationen", die in der Pensionsversicherung "eine Maßnahme der Mittelstandspolitik, ein Mittel gegen die Proletarisierung des Angestelltenberufes" erblickten569, während die Sozialdemokraten insbes. in Hinblick auf das kaufmännische Hilfspersonal die Einbeziehung der Angestellten in die "Sozialversicherung" anstrebten: In ihrer kritischen Haltung gegenüber der selbständigen Angestelltenversicherung fanden sie, zumindest in Hinblick auf das kaufmännische Hilfspersonal, einen Bundesgenossen in zahlreichen Unternehmern, die die mit der Angestelltenversicherung verbundenen Lasten scheuten.

565

566 567

Kerber, Angestelltenversicherungsgesetz, S. 5 ff.

1901: 421 K. StProtAH, 18. Sess., Beil. Nr. 933.

Kerber, Angestelltenversicherungsgesetz, S. 8. Ebenda, S. 10; Heinrich Rauchberg, Die Pensionsversicherung der Privatangestellten als Maßnahme der Mittelstandspolitik, 1910. 568

569

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In gesetzestechnischer Hinsicht einigte man sich schließlich auf eine demonstrative Aufzählung sowohl der die Versicherungspflicht begründenden als auch der eine solche ausschließenden Tätigkeitsmerkmale. Ferner wurde vom Grundsatz der Meldeunabhängigkeit weitgehend abgegangen und eine Regelung getroffen, die als Vorläuferindes heutigen § 225 ASVG gelten kann570• Am 22. Jänner 1914571 nahm das Abgeordnetenhaus die Vorlage an, die hierauf dem Herrenhaus572 zugeleitet wurde, aber wegen der Vertagung des Reichsrates nicht mehr behandelt werden konnte. Dennoch wurde die sog. 1. Novelle zum Pensionsversicherungsgesetz schon bald darauf durch ks. (Not-)Verordnung vom 25. Juni 1914, RGBl. Nr. 138, zum Gesetz erhoben. Die - auch für die spätere Gesetzgebung beispielhafte - Umschreibung des Angestelltenbegriffs bzw. des schon aus dem Stammgesetz herrührenden Begriffs "vorwiegend geistige Dienstleistungen" ist in § 1, 2-4 und 1 a enthalten. Demnach waren "Verkäufertätigkeit und Lagerdienst" nur bei Vorliegen zusätzlicher Qualifikation (§ 1, Punkt 3, c- e) als Angestelltentätigkeit anerkannt - die Gegner einer extensiven Interpretation des Angestelltenbegriffs hatten sich hier also durchgesetzt - , während auf der anderen Seite die - ebenfalls lange umstrittenen - "Werkmeister" zu den Angestellten gerechnet wurden (§ 1 a, Abs. 2). V. Projekte für eine allgemeine Invaliden- und Altersversicherung

1. Parlamentarische Aktivitäten seit 1891 Am 16. April 1891, zu Beginn der 11. Reichsratssession573, wiederholte der Deutschnationale Heinrich Prade seinen schon im Mai 1886 anläßlich der Beratungen zum Arbeiter-Unfallversicherungsgesetz gestellten Antrag auf Erlassung eines Gesetzes wegen Alters- und Invaliditätsversicherung der Arbeiter574 ; der Gewerbeausschuß (Berichterstatter: Gustav Groß) forderte hierauf die Regierung auf, die Vorarbeiten für ein solches Gesetz "tunliehst zu beschleunigen"575. 870 Vgl. Schmitz, Angestelltenversicherung, I, S. 5. Die Regelung des novellierten AngVG entsprach im wesentlichen der heutigen Vorschrift des § 225, Abs. 1, Z. 1, lit. b ASVG; gern. lit. a findet diese jedoch keine Anwendung, wenn die Anmeldung zur Pflichtversicherung binnen 6 Monaten nach Beginn des Beschäftigungsverhältnisses erfolgte. · 571 Der Aussdlußbericht in den StProtAH, 21. Sess., Beil. Nr. 2187; Annahmebeschluß in der 198. Sitzung, StProtAH, 21. Sess., S. 9534. 572 Vgl. StProtHH, 21. Sess., Beil. Nr. 219. 573 StProtAH, 11. Sess., S. 56; Beil. Nr. 32. Vgl. zuvor schon den Antrag Schönerersund Fürnkranz' (StProtAH, 9. Sess., S. 11419) v. 5. 2. 1884; Kolmer, Parlament und Verfassung, III, S. 387. 574 Vgl. audl Brügel, Soziale Gesetzgebung, S. 172. 575 Zweifellos war als einer der diese parlamentarischen Aktivitäten bedingenden Faktoren der Umstand anzusehen, daß im Jahre 1891 die deutsche Alters- und Invaliditätsversicherung in Wirksamkeit trat (vgl. oben B/3, III).

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Von diesem Zeitpunkt an bildeten Gesetzesanträge und Interpellationen betreffend die Alters- und Invaliditätsversicherung der Arbeiter, der Privatbeamten (Angestellten), der land- und forstwirtschaftliehen Arbeiter usw. einen fixen Bestandteil der Tagesordnungen des Abgeordnetenhauses. Im Grunde waren sich alle politischen bzw. nationalen Gruppierungen über die Notwendigkeit einer Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter einig. Unter den zahllosen Anträgen ist vor allem jener des katholisch-konservativen Abgeordneten Alfred Ebenhoch vom 7. Juni 1895576 bemerkenswert, und zwar einerseits wegen seines Rückbezuges auf die Prinzipien der christlichen Sozialreform und andererseits wegen der von den Christlichsozialen später fallengelassenen Beschränkung des Projekts auf die industrielle Arbeiterschaft; ferner verdient der Dringlichkeitsantrag des sozialdemokratischen Abgeordneten Mathias Eldersch577 vom 17. Oktober 1901 Beachtung, auf den Ministerpräsident Körber Ende 1901 mit der Ankündigung einer Gesetzesvorlage über die Alters- und Invalidenversicherung reagierte. Das Ende 1904 von Körber vorgelegte "Programm für die Reform und den Ausbau der Arbeiterversicherung" (s. bereits oben B/4, I) war zwar noch nicht die versprochene Vorlage, ging dafür aber in sachlicher Hinsicht weit über die Alters- und Invaliditätsversicherung hinaus, da sie alle bestehenden bzw. projektierten Zweige der Arbeiterversicherung erstmals in einem umfassenden Werk zusammenfaßte. Da die Reformpläne des Körberschen Programms hinsichtlich der Unfall- und Krankenversicherung schon besprochen wurden (B/4, II u. III), sei hier nur noch auf das Projekt der Alters- und Invaliditätsversicherung eingegangen:

2. Das Körbersche Programm Der Kreis der Versicherungspflichtigen umfaßte dem Programm zufolge grundsätzlich alle unselbständig Erwerbstätigen, jedoch waren von der Invaliden- und Altersversicherungspflicht insbes. die land- und forstwirtschaftliehen Bediensteten, sofern diese nicht den "Dienstboten- und Gesindeordnungen" unterlagen, ferner die (Privat-)Angestellten sowie Personen von über 60 Jahren ausgenommen57s. Die Invaliditätsrente stand bei Eintritt der Arbeitsinvalidität579 nach Ablauf einer Wartezeit von 200, die Altersrente nach 1.200 Beitragswochen zu, sofern der Versicherte bereits das 65. Lebensjahr erreicht hatte. Beide Rentenarten setzten sich aus einem Grund- und Steigerungsbeträgen 576

StProtAH, 11. Sess., Beil. Nr. 1198.

StProtAH, 17. Sess., S. 5605; hiezu (und zu weiteren Anträgen und Petitionen) Brügel, Soziale Gesetzgebung, S. 176 f. 57s Vgl. die§§ 3 und 4. 579 Näheres niezu bei Baernreither, Grundfragen der sozialen Versicherung, 577

s. 22.

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zusammen, deren Höhe von der jeweiligen Lohnklasse abhängig war. Statt einer Hinterbliebenenrente waren Abfertigungen zu zahlen. Zu den Renten sollte ein einheitlicher Staatszuschuß in Höhe von 90 K gezahlt werden. Wie Baernreither580 nachwies, tendierten die genannten Vorschläge des Körberschen Programms eindeutig zu einer Begünstigung der schwächer verdienenden gegenüber den besser verdienenden Arbeitern. Nicht zuletzt daher erklärt sich die grundsätzlich positive Aufnahme, die das Körbersche Programm bei sozialdemokratischen Experten (insbes. Leo Verkauf) 581 fand, wenngleich die Renten insgesamt als zu niedrig empfunden wurden. Die Beiträge zur Invaliden- und Altersversicherung waren, gleichermaßen für alle Lohnklassen, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern je zur Hälfte zu erbringen. In organisatorischer Hinsicht verfolgte das Körbersche Programm folgende Ziele: 1. Größtmögliche Vereinfachung der Organisation auf der Grundlage der bestehenden Einrichtungen; 2. Verstärkung des Einfl.usses der Staatsverwaltung auf die Versicherungsträger, insbes. im Bereich der geplanten Invaliditäts- und Altersversicherung. Deren Träger sollte eine "Staatliche Versicherungsanstalt (Invalidenkasse)" mit Sitz in Wien sein, deren Vorstandsmitglieder durch den Innenminister (frei) ernannt werden sollten582; die Geschäfte dieser Anstalt sollten teilweise durch den Vorstand, teilweise durch das Innenministerium direkt besorgt werden; im übertragenen Wirkungsbereich sollten die territorialen Unfallversicherungsanstalten sowie die Krankenkassen den Geschäftsverkehr der Invaliditäts- und Altersversicherung in unterer Instanz übernehmen (§§ 114 ff.). Für die Entscheidung über erhobene Rentenansprüche sollten spezielle, bei den territorialen Unfallversicherungsanstalten eingerichtete Rentenkommissionen zuständig sein (§§ 125 ff.), die bei mangelnder Einstimmigkeit den Vorstand der "Staatlichen Versicherungsanstalt" um die endgültige Entscheidung ersuchen konntens83. Für das V erfahren in Leistungssachen sah das Körbersche Programm ein "Ober-(schieds-)gericht für Arbeiterversicherung" vor (§§ 223 ff.), in dem ausschließlich das bürokratische Element dominierte (je zur Hälfte Richter bzw. Verwaltungsbeamte); das Verfahren in Verwaltungssachen Grundfragen, insbes. S. 85. Reform und Ausbau der österr. Arbeiterversicherung, 1905, insbes. die Zusammenfassung: S. 136. Zu Verkauf oben Anm. 468! 582 Diese sollten sich zu gleichen Teilen aus Vertretern der Dienstgeber und der Dienstnehmer rekrutieren; ferner war als neutraler Faktor die Heranziehung von Fachleuten und Beamten vorgesehen. 58 3 Also eine Art "votum ad imperatorem" (vgl. Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte II, 1966, S. 167), wie es im Verfahren vor dem Reichshofrat vorgesehen war! 58o 681

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(politische Behörden, allenfalls Verwaltungsgerichtshof) blieb von den Reformplänen unberührt.

3. Die ersten "Sozialversicherungs"-Projekte der Regierungsvorlagen von 1908 und 1911 Durch die Regierungsvorlage von 1908584 wurde der Kreis der zur Invaliditäts- (und, bzw.) Altersversicherung Versicherungspflichtigen gegenüber dem Körberschen Programm ganz erheblich erweitert. Von den unselbständigen Erwerbstätigen wurden nämlich nunmehr auch alle land- und forstwirtschaftliehen Arbeiter einbezogen. Und ferner wurde der - für jene Zeit revolutionär anmutende - Versuch gemacht, die Selbständigen mit unter 2.400 K Jahreseinkommen, also insbes. die Kleingewerbetreibenden und Kleinbauern und deren im Betrieb (nicht bloß gelegentlich) mithelfende Familienmitglieder der Versicherungspflicht zu unterwerfen, freilich- das muß einschränkend hinzugefügt werden - nur in sehr bescheidenem Maße. Für die Selbständigen wurde nämlich bloß die Altersversicherung und auch diese nur auf dem sehr niedrigen Niveau der Gehaltsklasse 2 vorgesehen, so daß die gesetzliche Mindestrente selbst nach 40 Beitragsjahren nicht einmal 250 K erreichte. Das für damalige Begriffe relativ niedrige Pensionsalter von 65 Jahren (wie bei den Unselbständigen), die kurze Wartezeit (ca. 4 Jahre) sowie die geplante Gewährung eines Staatszuschusses in gleicher Höhe wie für die Unselbständigen ließen freilich dennoch die - vor allem von den Sozialdemokraten artikulierte Befürchtung nicht unberechtigt erscheinen, daß zumindest in den ersten Jahren erhebliche Mittel der Unselbständigenversicherung für die Selbständigenrenten herangezogen werden würden. Insbes. durch Verlängerung der Wartezeit (auf ca. 10 Jahre) sowie durch Modifikationen hinsichtlich des Staatszuschusses586 wurde diesen Bedenken später in der Regierungsvorlage von 1911 Rechnung getragen. Dennoch ist nicht zu übersehen, daß das Junktim von Arbeiter- und Selbständigenversicherung, so berechtigt der Wunsch der Selbständigen nach sozialer Sicherheit war, die Gesetzwerdung des Reformprojekts ganz erheblich verzögerte bzw. auf dem Hintergrund widriger politischer Umstände (keine Wiedereinberufung des Reichsrates nach Kriegsausbruch) zu dessen Vereitelung beitrugsse. StProtAH, 18. Sess., Beil. Nr. 1160. Bei Einkommen von mehr als 1.200 K. sollte der Anspruch auf Gewährung des Staatszuschusses "ruhen". seo Vgl. hiezu jetzt Sandgruber, in: Soziale Sicherheit im Nachziehverfahren, insbes. S. 150 ff., der deutlich macht, daß die Idee der Selbständigenversicherung bzw. einer Risikengemeinschaft zwischen Selbständigen und Unselbständigen nicht nur von seiten der Sozialdemokratie, sondern auch aus den Kreisen der Industrie und des Gewerbes teilweise lebhafter Widerstand 584

585

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Weitreichend waren auch die Änderungen in organisatorischer Hinsicht: Auf unterster Ebene sollten Bezirksstellen zur Besorgung der Geschäfte aller drei Versicherungssparten eingerichtet werden, darüber (zur "Wahrung der Sonderinteressen der Länder") Landesstellen587 und in oberster Instanz eine Zentralstelle. Auf allen Ebenen sollte die Selbstverwaltung durch gewählte Vertreter der drei beteiligten Gruppen (Arbeiter, Selbständige, Unternehmer) wahrgenommen werden; demgegenüber wurde der Einfluß der Regierung etwas zurückgedrängt. Nicht zuletzt aus der Sicht des heute nach wie vor unbefriedigenden Zustandes des Verfahrensrechts in Sozialversicherungsangelegenheiten588 verdienen die verfahrensrechtlichen Bestimmungen Aufmerksamkeit: Zwar ließ die Regierungsvorlage von 1908 (und ebenso jene von 1911) in der Unterinstanz die vorhandene Zweigleisigkeit weiterbestehen: Für das Verfahren in Leistungssachen waren Beschwerdekommissionen (1. Instanz für die Krankenversicherung) sowie Versicherungsgerichte (2. Instanz für die Krankenversicherung, ansonsten 1. Instanz) vorgesehen, während in Verwaltungssachen die politischen Behörden zuständig bleiben sollten; als oberste Instanz sowohl für das Verfahren in Leistungs- als auch in Verwaltungssachen sollte (unter Ausschaltung des Verwaltungsgerichtshofs) jedoch ein gemeinsames "VersicherungsObergericht" eingerichtet werden. Die Regierungsvorlage von 1908 wurde sowohl in der 19. als auch in der 20. Session589 des Reichsrates neuerlich eingebracht und vom Abgeordnetenhaus dem in der Folge590 für permanent erklärten Sozialversicherungs-Ausschuß (Generalberichterstatter: der Christlichsoziale Karl Drexel) 581 zugewiesen; nach langen Auseinandersetzungen, in denen vor allem die Organisationsfragen sowie die Selbständigenversicherung im Vordergrund standen, konnte im Juli 1914 im Sozialversicherungs-Ausschuß bzw. in dem von diesem eingesetzten Subkomitee endlich in allen wesentlichen Fragen Einigung erzielt werden592 ; der entgegengesetzt wurde; vor allem wurde auch die Risikengemeinschaft zwischen gewerblich Selbständigen und Landwirten von den ersteren abgelehnt. Im Grunde genommen standen die Christlichsozialen mit ihrer Forderung nach Einbeziehung der Selbständigen in eine umfassende "Sozialversicherung" (vgl. ebenda, S. 148 über den Antrag Heiliger aus 1905 sowie meine Ausführungen oben bei Anm. 492) ziemlich allein. 587 Mit Rentenkommissionen (wie nach den bisherigen Entwürfen). 588 Hiezu Oberndorfer im System 6.1.1. 589 StProtAH, 19. Sess., Beil. Nr. 7; StProtAH, 20. Sess., Beil. Nr. 7 (sie!). s9o Seit Juni 1912. 591 über ihn Funder, Vom Gestern ins Heute, S. 328 u. ö. 59! Hiezu Lederer, Grundriß, S. 25: "Es entbehrt nicht der Tragik, daß, als es endlich im Frühsommer 1914 gelang, die Ausschußberatungen über dieses große Gesetzeswerk zu beenden und nur noch unbedeutende Differenzen ... die endgültige Verabschiedung zu verzögern schienen, der Weltkrieg aus-

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wenig später erfolgte Kriegsausbruch vereitelte die Fortführung des großen Reformprojekts, das ca. 10 Millionen Personen, hievon 6 Millionen Unselbständigen und ca. 4 Millionen Selbständigen und deren mitarbeitenden Familienangehörigen, einen weitreichenden Schutz gegen die wichtigsten sozialen Risiken (nicht jedoch gegen Arbeitslosigkeit!) geboten hätte. Trotz des Scheiterns des Reformwerkes verdienen das Körbersche Programm sowie die Vorlagen von 1908 und 1911 wegen zahlreicher interessanter Einzelregelungen größere Beachtung, als ihnen gewöhnlich zuteil wird.

4. Die "Leitsätze" für den Ausbau der Sozialversicherung 1918 Gegen Ende des Krieges, im Juni 1918, forderte die Österreichische "Gesellschaft für Arbeiterschutz" in einer der Regierung überreichten Denkschrift593 die Ausgestaltung des Arbeiterschutzes und der Arbeiterversicherung und deren Angleichung an die einschlägigen Einrichtungen des Deutschen Reiches594 ; das bedeutete vor allem Ausweitung des Kreises der Versicherungspflichtigen in der Kranken- und Unfallversicherung sowie Einführung der Invaliditäts-, Alters- und Hinterbliebenenversicherung. Kurz darauf, im Juli 1918, veröffentlichte das neugeschaffene Ministerium für soziale Fürsorge (Heinrich Mataja) "Leitsätze für den Ausbau der Sozialversicherung" 595 , in denen - ähnlich wie in der Denkschrüt- die Reform der bestehenden "Arbeiter- und Angestelltenversicherung" sowie die Einführung der "Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung der Arbeiter", ferner die Reform des Hilfskassenwesens und "im weiteren Ausblicke die Arbeitslosenversicherung" als vordringlichste Punkte angeführt wurden. In Abkehr von den Vorkriegsprojekten wurde die Selbständigenversicherung wieder ausgeklammert; lediglich die Altersversicherung sollte in lockerer organisatorischer Verbindung mit der Arbeiter-Invalidenversicherung verbleiben, jedoch im Gegensatz zu dieser keine Pflichtversicherung sein (Anlehnung an das brach .. ." Über die Ursache der Verzögerungen (vgl. schon die vorige Anm.!) urteilt Lederer, S. 439: "Dieses Junktim (zwischen Unselbständigen- und Selbständigenversicherung) ... führte schließlich zum Scheitern der ganzen gesetzgeberischen Aktion." 593 Vgl. Brügel, Soziale Gesetzgebung, S. 207. 594 Ähnliche Intentionen hatte später auch die "österreichisch-deutsche Arbeitsgemeinschaft". Vgl. hiezu Joachim Fischer, Österreichische und reichsdeutsche Sozialpolitik, 1932. 595 Heinrich Mataja (1877 - 1937) war der (erste) k. k. Minister für soziale Fürsorge und zwar vom 22. 12. 1917 bis 27. 10. 1918, in der Republik zunächst (1918/19) Staatssekretär des Innern, später (1924 - 26) Bundesminister für Äußeres. Vgl. auch oben nach Anm. 482 sowie unten Anm. 599 über die auf Mataja gefolgte Ministerschaft Ignaz Seipels. 40 Sozialversicherung

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"belgisch-französische System der Begründung von Anwartschaften auf Altersrente durch fortlaufende freie Einlagen") 596• Verkündeten die "Leitsätze" sohin die Rückkehr zum Körberschen Konzept der bloßen "Arbeiterversicherung", so strebten sie doch, über dieses hinausgehend, die lückenlose Einbeziehung grundsätzlich aller unselbständig Erwerbstätigen in die Versicherungspflicht und gleichzeitig die Identität des Versichertenkreises bei allen drei Versicherungszweigen an597 • Was die Organisation betrifft, so wollten sie an die Stelle der Vielzahl von Kassen in der Krankenversicherung "Einheitskassen" setzen, während die territorialen Unfallversicherungsanstalten durch Hinzufügung einer zweiten Sektion auch zu Trägern der Invalidenversicherung ausgebaut werden sollten, insoweit diese vor Vollendung des 65. Lebensjahres zu zahlende Renten zum Gegenstand hatte. Die übrigen Invaliditäts- sowie die Altersrenten der Selbständigen sollten von einer zentralen Altersrentenkasse geleistet werden (Gruppierung unter dem Gesichtspunkt der "Sonder-" und der "Gemeinlast")598. Abschließend sei noch bemerkt, daß die "Leitsätze" von 1918, ihrer Tendenz zur Koordination und engeren Verbindung der drei Versicherungszweige Folge leistend, als gemeinsamen Unterbau "Bezirksstellen" vorsahen, wie sie bereits in den Regierungsvorlagen von 1908 und 1911 begegneten. 5. Abschnitt: Die Entwicklung in der 1. Republik (1918 - 1938) I. Die Sozialversicherungsgesetzgebung (Uberblick) auf dem Hintergrund der Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsentwicklung

Zugleich mit dem "Beschluß der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich" vom 30. Oktober 1918, StGBl. Nr. 1, der als der eigentliche Staatsgründungsakt anzusehen ist599, wurden zwei für die weitere Entwicklung des Sozialversicherungsrechts wichtige Entscheidungen getroffen: Zum einen wurden ebenso wie alle übrigen "Gesetze und Einrichtungen" die bestehenden sozialversicherungsrechtlichen Normen gemäß § 16 des Beschlusses "bis auf weiteres in vorläufiger Geltung" belassen, zum anderen wurde der bedeutende sozialdemokraLeitsätze, S. 23. s. 7. 59B Näheres insbes. S. 17 ff. 599 Brauneder I Lachmayer, österr. Verfassungsgeschichte, S. 188; Walter I Mayer, Grundriß, S. 18. - Vom 30. 10. 1918 an bestand eine Zweigleisigkeit der Regierungsgewalt, da die am 27. 10. 1918 ernannte letzte ks. Regierung Lammasch, der Ignaz Seipel als Minister für soziale Fürsorge angehörte, erst mit der Entscheidung über die Regierungsform (durch das "Gesetz über die Staats- und Regierungsform", StGBl. Nr. 5) am 12. 11. 1918 ihre rechtliche Grundlage verlor. Vgl. Lederer, Grundriß, S. 27, Anm. 2. 596 597

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tische Sozialpolitiker Ferdinand Hanusch an die Spitze des durch den Beschluß vom 30. Oktober 1918 neugeschaffenen "Staatsamtes für soziale Fürsorge" berufen. Geboren 1866 in Schlesien, nahm Hanusch600 in seiner Jugend an dem dortigen sozialen Elend der Weberfamilien teil; 1891 stieß Hanusch zur Sozialdemokratie und zur Gewerkschaftsbewegung, die ihn 1900 als Sekretär des Textilarbeiterverbandes nach Wien berief. Hanusch hatte diese Position, zu der seit 1903 auch die eines Mit-Vorsitzenden der gewerkschaftlichen Zentralorganisation der Gewerkschaftskommission Österreichs hinzutrat, bis zu seiner Berufung zum "Staatssekretär für soziale Fürsorge" inne; er blieb auch nach den Wahlen vom 15. Februar 1919, aus denen die Sozialdemokratie als stimmen- und mandatsstärkste Partei hervorging6°1, Leiter des Sozialressorts, das seit der mit Gesetz vom 14. März 1919, StGBl. Nr. 180, erfolgten Vereinigung mit dem Gesundheitsressort "Staatsamt für soziale Verwaltung" hieß; seit 21. November 1918 stand ihm der nachmalige Bundesminister Josef Resch als (christlichsozialer) Unterstaatssekretär zur Seite; Karl Renner war als Staatskanzler Regierungschef dieser Koalitionsregierung. Nach dem Zerfall der Koalition am 10. Juni 1920 wurde - hauptsächlich zum Zwecke der Vollendung des Verfassungswerkes- ein Proporzkabinett gebildet, dem Hanusch in seiner bisherigen Funktion angehörte602• Am 1. Oktober 1920 beschloß die Konstituierende Nationalversammlung das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG; BGBl. Nr. 1/1920) und gleichzeitig das Verfassungs-Übergangsgesetz (V-ÜG; BGBl. Nr. 2/1920), demzufolge u. a. vorläufig die Kompetenzbestimmungen der Dezemberverfassung von 1867 in Geltung verblieben (Näheres s. unten im Zusammenhang mit der Sozialversicherung der land- und forstwirtschaftliehen Arbeiter: Pkt. IV). Durch die wenige Wochen nach der Annahme der Bundesverfassung und des V-ÜG abgehaltenen Wahlen (vom 17. Oktober 1920) kam es zu einer gänzlichen Umkehrung der politischen Verhältnisse, da nunmehr die Christlichsozialen als stimmen- und mandatsstärkste Partei an die Stelle der Sozialdemokraten traten. Unter diesen Verhältooo NÖB, 1. Abt., Bd. IV, S. 43 ff. (Edmund Palla); "Ferdinand Hanusch. Der Mann und sein "Werk", 1924; "Ferdinand Hanusch. Ein Leben für den sozialen Aufstieg". Hrsg. v. Otto Staininger, 1973. 601 Die Sozialdemokraten erhielten 1,2 Mill. Stimmen (und 69 Mandate), die Christlichsozialen 1,06 Mill. (63), die Deutschnationalen ca. 600.000 (25). Die Mandatszahlen verstehen sich ohne die deutschsüdtiroler und südsteirischen Ergänzungen. Vgl. Berchtold, Parteiprogramme, S. 33, 57; Funder, Vom Gestern ins Heute, S. 467 f.; Walter Goldinger, Der geschichtliche Ablauf der Ereignisse in Österreich 1918 -1945, in: Geschichte der Republik Österreich, hrsg. v. Heinrich Benedikt, 1954 (Nachdruck 1977), S. 46 f. (auch selbständig erschienen unter dem Titel "Geschichte der Republik Österreich", 1962). oo! Vgl. Goldinger, Der geschichtliche Ablauf, S. 109 f.; Funder, Vom Gestern ins Heute, S. 194. 40•

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nissen war die Mehrzahl der führenden Politiker beider Parteien zu einer Wiedererrichtung der Koalition nicht mehr bereit; das "Proporzkabinett" zerfiel am 20. Oktober 1920, und mit diesem ging auch Hanuschs Regierungstätigkeit zu Ende603. Von diesem Zeitpunkt an bis zu ihrem Verbot im Jahre 1934 befand sich die Sozialdemokratie in der Opposition. Hanusch ist auch nach seinem Ausscheiden aus der Regierung als Abgeordneter noch mehrfach mit sozialpolitischen Initiativen hervorgetreten. Durch. seinen frühen To:d am 28. September 1923 verlor die Sozialdemokratie den - neben Renner - bedeutendsten Vertreter der pragmatischen Richtung6°4 • Auch Josef Resch (28. September 1880- 6. April 1939)605 kannte die Arbeitswelt, wenn auch - im Gegensatz zu Hanusch - den gewerblichen Bereich, aus eigener Erfahrung; nach anfänglicher Tätigkeit im Glaserhandwerk wurde er Beamter der Unfallversicherungsanstalt in Wien; in den Jahren 1920 bis 1938 war Resch mehrfach Bundesminister für soziale Verwaltung. Unter den mannigfachen schweren wirtschaftlichen und sozialen Problemen der ersten Zeit nach dem Weltkrieg standen die Lebensmittelund Kohlenversorgung, die zunehmende Arbeitslosigkeit und vor allem die hohen Budgetdefizite und die hieraus resultierende Inflation im Vordergrund606• Wie Max Lederez-607 zu Recht bemerkte, war die ungünstige wirtschaftliche Situation, in den sich insbes. die Arbeiterschaft befand, den sozialpolitischen Reformen, die Hanusch schon bald nach seiner Berufung zum Staatssekretär einleitete, jedoch eher förderlich; vor allem war die Bereitschaft zu Maßnahmen des Arbeiterschutzes, die mit keinen oder nur geringen finanziellen Konsequenzen verbunden waren, größer denn je zuvor. Hanusch hat diese Situation erkannt und den Arbeiter- und Angestelltenschutz durch die folgenden Gesetze entscheidend verbessert: Achtstundentaggesetze vom 19. Dezember 1918, 603 Goldinger, Der geschichtliche Ablauf, S. 110, 116 ff.; eindringlich Funder, Vom Gestern ins Heute, S. 499 ff. 6°4 Vgl. die (auf Hanusch allerdings nur am Rande eingehende) Darstellung bei Adam Wandruszka, in: Geschichte der Republik Österreich, S. 452 ff. - Die Amtsenthebung Hanuschs erfolgte (durch den Präsidenten der Nationalversammlung) am 22. 10. 1920; Josef Resch blieb zunächst Unterstaatssekretär und wurde (nach interimistischer Führung des Staatsamtes durch Eduard Heini) am 20. 1. 1921 zum Bundesminister für soziale Verwaltung ernannt. 605 Vgl. Silberbauer, österr. Katholiken, S. 261 f.; Steinbach, Unfallversicherung, S. 98 f. 606 Vgl. Friedrich Thalmann, in: Geschichte der Republik Österreich, S. 490 f.; kurze, aber instruktive Charakteristik auch bei Anton Kausel, Österreichs Wirtschaft an der Schwelle zur Industrienation höherer Ordnung, in: Wirtschaft und Politik. Festschrift für Fritz Klenner, 1976, S. 192 f. u. ö. 607 Grundriß, S. 28 f.

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StGBl. Nr. 138, und vom 17. Dezember 1919, StGBl. Nr. 581; Kinderarbeitsgesetz vom 19. Dezember 1918, StGBl. Nr. 141; Heimarbeitsgesetz vom gleichen Tage, StGBl. Nr. 140 u. a. m.eos. Von großer Bedeutung waren auch die Reformen hinsichtlich der Arbeitsverfassung, insbes. das (auf die Initiative Otto Bauers zurückgehende) Betriebsrätegesetz vom 15. Mai 1919, StGBl. Nr. 283, das Gesetz vom 18. Dezember 1919, StGBl. Nr. 16/1920, über Einigungsämter und Kollektivverträge und schließlich das Arbeiterkammer-Gesetz vom 26. Februar 1920, StGBl. Nr. 100, durch das der schon viele Jahrzehnte zuvor erstmals erhobenen Forderung nach Einführung gesetzlicher Berufsvertretungen der Arbeiter Rechnung getragen wurde609• Neben diesen großen Fortschritten auf den Gebieten des Arbeits- und Arbeitsverfassungsrechts nehmen sich die in der Ära Hanusch verwirklichten Reformen des Sozialversicherungsrechts bescheidener aus; dies lag freilich nicht an mangelnder Reformbereitschaft Hanuschs auf diesem Gebiet, sondern vielmehr an den größeren technischen und - vor allem- finanziellen Schwierigkeiten dieser Reformen. Immerhin wurden auf dem Gebiete der Kranken- und Unfallversicherung erhebliche Leistungsverbesserungen, bei der Krankenversicherung auch organisatorische Verbesserungen (durch das "Kassenkonzentrationsgesetz"; s. unten Pkt. III 1) erzielt; als bahnbrechend müssen das Krankenversicherungsgesetz der Staatsbediensteten vom 13. Juli 1920, StGBl. Nr. 311 (vgl. unten Pkt. II/3) und vor allem das- auch im internationalen Vergleich höchst beachtenswerte - Arbeitslosenversicherungsgesetz vom 24. März 1920, StGBl. Nr. 153 (Näheres unten Pkt. Il/2) angesehen werden. Von noch weitergehenden Reformplänen zeugt der auf dem Vorentwurf vom September 1920 aufbauende Gesetzesantrag auf Einführung der Alters- und Invaliditätsversicherung der Arbeiter vom 15. Dezember 1920 (s. unten II/4). Das Jahr 1922 stand einerseits im Zeichen des durch Bundeskanzler Ignaz Seipel in die Wege geleiteten Genfer Sanierungswerkes610, andererseits begannen sich die Gegensätze zwischen dem Bürgerblock (Christlichsoziale und Großdeutsche) auf der einen und den Sozialdemokraten auf der anderen Seite zusehends zu verschärfen. In der Zeit vom 11.-23. August 1923 wurde das "Linzer Programm"611 der christlichen Arbeiter Österreichs beschlossen, in dem auf dem Gebiet der SozialVersicherungsgesetzgebung gefordert wurde: &os Lederer, Grundriß, S. 29; Brügel, Soziale Gesetzgebung, S. 253 f . 809 Lederer, Grundriß, S. 255 ff. Die im Text bei dieser und der vorigen Anm. genannten Gesetze sind abgedruckt bei Emanuel Adler (Hrsg.), Das Angestellten- und Arbeiterrecht (Manzsche Große Ausgabe der österr. Gesetze 10), 1930. 810 Thalmann, Anm. 606, S. 492 f.; Kausel, Anm. 606, S. 192.

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"Schaffung einer allgemeinen Sozialversicherung. Diese hat folgende Aufgaben: Versicherung gegen Krankheit, Unfall, Alter, Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfähigkeit, Ausgleichskassen (Kinderversicherung), Witwen- und Waisenversorgung. Ihre Träger sind die Berufsstände, der Staat übt das Aufsichtsrecht." Während die Geldentwertung die Arbeitslosigkeit 1921 auf einen Tiefstand von unter 20.000 drückte, stieg die Zahl der Arbeitslosen Ende 1922/Anfang 1923 stark an, fiel jedoch 1924 wieder auf den relativ niedrigen Stand von ca. 63.000, stieg jedoch bis 1928 auf nahezu 190.000 (einschließlich Altersfürsorgerentner) an612• Nicht zuletzt wegen der ungünstigen Lage des Arbeitsmarktes standen die Jahre um ca. 1925 im Zeichen eines starken Aufschwunges der Sozialdemokratie, dem jedoch i~ Anschluß an den Justizpalastbrand von 1927613 schwere Rückschläge folgten. Kurz zuvor, nämlich im "Linzer Programm"614 der Sozialdemokraten, beschlossen auf dem vom 30. Oktober bis 3. November 1926 abgehaltenen Parteitag, wurde hinsichtlich der Sozialversicherung gefordert: "Ausbau der Kranken-, Unfall-, Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung mit hinreichenden Bundeszuschüssen für die gesamte Arbeiter- und Angestelltenschaft einschließlich der land- und forstwirtschaftliehen Arbeiter und der Hausgehilfen auf der Grundlage der Selbstverwaltung der Versicherten. Durchgehende Einführung der Familienversicherung. Obligatorische Kranken-, Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung auch für die Kleingewerbetreibenden, die Kleinbauern und die Angehörigen der freien Berufe." Auf der Regierungsseite waren vor allem die beiden christlichsozialen Sozialminister Josef Resch und Richard Schmitz um die weitere Verbesserung des Arbeiter- und Angestelltenschutzes bemüht; erwähnenswert sind das Angestelltengesetz vom 11. Mai 1921, BGBl. Nr. 292, sowie die Verbesserung der Gewerbeinspektion und der Gewerbegerichte. Was den Ausbau der Sozialversicherung betrifft, so scheiterte Berchtold, Parteiprogramme, S. 59, 371 ff. Für die Zahlen bis einschließlich 1931 vgl. Karl Forchheimer I Josef Hammer! I Franz Keller I Josef Stangelberger (Hrsg.), Die Vorschriften über Arbeitslosenversicherung ( = Die sozialpolitische Gesetzgebung in Österreich VI), 1932. Hievon teilweise abweichend Stiefel, Arbeitslosigkeit (Anm. 31), S. 29. Demnach betrug die (geschätzte) Gesamtzahl/die Zahl der unterstützten Arbeitslosen, jeweils in Tausend: 1921: 28111; 192·3 : 2121110; 1924: 188/ 95; 1928: 1831156. Auf derselben Quelle beruhen die unten im Text nach Anm. 615 angegebenen Zahlen. 613 Statt aller Goldinger, Der geschichtliche Ablauf, S. 152 ff. 614 Berchtold, Parteiprogramme, S. 35, 247, insbes. S. 256. 611

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die Regierungsvorlage eines Invaliditätsversicherungsgesetzes für Arbeiter und Angestellte vom Dezember 1921 ebenso wie die ein Jahr zuvor von Hanusch eingebrachte Vorlage; von Erfolg gekrönt waren hingegen die in den Jahren 1925 ff. eingebrachten Vorlagen selbständiger Angestellten-, Arbeiter- und Landarbeiter-Versicherungsgesetze, wobei jedoch bei den letzteren wegen der ungünstigen Wirtschaftslage nur die Teile über die als Surrogat der Altersrente vorgesehene Altersfürsorge in Kraft traten (vgl. 111 2, 3; V). Das Jahr 1929 stand sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht im Zeichen eines letzten Aufschwunges: Die Arbeitslosenzahl sank vorübergehend wieder auf die Werte von 1924, in politischer Hinsicht glückte eine Zusammenarbeit der Parteien anläßlich der Verfassungsreform615 • Die folgenden Jahre sind durch eine zunehmende Verschärfung sowohl der wirtschaftlichen als auch der politischen Verhältnisse gekennzeichnet: 1931 betrug die Gesamtzahl der Arbeitslosen ca. 334.000, 1932 468.000, 1933, auf dem Höhepunkt der Krise, ca. 557.000. Die gespannten politischen Verhältnisse führen im März 1933 zur sog. "Selbstausschaltung" des Nationalrats, die dem damaligen Bundeskanzler Engelbert Dollfuß als Ausgangspunkt für den von ihm schon seit längerem geplanten Obergang zum autoritären Ständestaat diente; nach der Niederschlagung des sozialdemokratischen Aufstandes vom Februar 1934 fand dieses Staatskonzept in der Maiverfassung von 1934 seine verfassungsrechtliche Verankerung. Nach der Ermordung Dollfuß' durch nationalsozialistische Aufrührer im Juli 1934 wurde das autoritärständestaatliche Konzept von dessen Nachfolger Kurt Schuschnigg weiterverfolgt, bis der Einmarsch der deutschen Truppen am 13. März 1938 bzw. das "Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich" vom gleichen Tage (DRGBI. I, S. 237) der politischen Selbständigkeit (bzw. im rechtlichen Sinne: der Handlungsfähigkeit) Österreichs ein Ende bereitete618 • In wirtschaftlicher Hinsicht waren die Jahre 1934 bis 1937 durch eine leichte Besserung gekennzeichnet; allerdings fiel die Arbeitslosenzahl im Jahresdurchschnitt nicht mehr unter 400.000; erst 1938 wurde durch - politisch motivierte - Aufträge sowie durch andere Maßnahmen die Zahl der Arbeitslosen binnen kurzer Zeit auf ca. 100.000 herabgedrückt617. Die ungünstige wirtschaftliche Situation zu Beginn der drei615 Gernot D. Hasiba, Die zweite Bundes-Verfassungsnovelle von 1929, 1976; Klaus Berchtold (Hrsg.), Die Verfassungsreform von 1929 (Dokumente und Materialien), 2 Teile, 1979.

816 Vgl. etwa Walter I Mayer, Grundriß, S'. 22; Näheres unten bei Anm. 708. Über die Dollfuß I Schuschnigg-Ära vgl. Brauneder I Lachmayer, Verfassungsgeschichte, S. 231 ff.; Walter I Mayer, Grundriß, S. 21 f.; Berchtold, Parteiprogramme, S. 36 ff.; S. 63 ff. u. ö.

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ßiger Jahre und das hiedurch bedingte Absinken der Versichertenzahl brachte zunächst Kürzungspläne hinsichtlich der Leistungen der einzelnen Sparten der Sozialversicherung auf den Plan; später wollte man durch tiefgreifende organisatorische Umwälzungen und durch möglichst umfassende Regelungen eine Lösung der wirtschaftlichen Probleme herbeiführen. Wiewohl dieses Ziel größtenteils nicht erreicht werden konnte, wird an späterer Stelle (Pkt. VI) auf das große Gesetzeswerk des GSVG 1935 näher eingegangen. 11. Reformen und Reformprojekte der ltra Hanuscb

1. Reform der Kassenorganisation618 Nachdem in den "Leitsätzen" des Ministeriums Mataja die radikale Forderung nach Überwindung der Kassenvielfalt durch Einführung von "Einheitskassen" erhoben worden war, versuchte Hanusch durch die im sog. "Kassenkonzentrationsgesetz" vom 6. Februar 1919, StGBl. Nr. 86 (3. Novelle zum KVG), angeordnete Auflösung der "kleinen" Kassen (mit weniger als 1.000 bzw. 500 Mitgliedern) wenigstens einen ersten Schritt in diese Richtung zu tun; trotz großer politischer Schwierigkeiten gelang es, die Zahl der Bezirks-(Gebiets-)Krankenkassen von 100 auf 62, der Betriebskrankenkassen von 142 auf 30, der Genossenschaftskrankenkassen von 246 auf 46 und der Vereinskrankenkassen von 53 auf 30 zu senken. Nachdem diese von Hanusch eingeleitete Entwicklung durch das Krankenkassenorganisationsgesetz vom 28. Dezember 1926, BGBl. Nr. 21, das für die Gebietskrankenkassen eine erhebliche Sprengelvergrößerung anordnete, fortgesetzt wurde, verringerte sich die Zahl der Kassen bis zum Jahre 1935 auf insgesamt 62.

2. Das Gesetz vom 13. Juli 1920, betreffend die Krankenversicherung der Staatsbediensteten Bis 1920 waren die Staatsbediensteten im Erkrankungsfalle auf Geldaushilfen von seiten des Dienstgebers angewiesen619 , die häufig unzureichend waren und daher nicht verhindern konnten, daß Beamte aus Anlaß der Erkrankung der eigenen Person bzw. von Familienangehörigen in Not gerieten. In Rücksicht auf die dem Beamten zustehende 617 Thalmann, in: Geschichte der Republik Österreich, S. 500; s. auch Reinhard Jakob, Neues Sozialversicherungsrecht in der Ostmark, o. J. (1939?),

S.16.

618 Kerber, Kranken- und Unfallversicherung, S. 51; Lederer, Grundriß, S. 435, 530 f.; Josef Papouschek, Die österr. Krankenversicherung, in: SozSi 1951, s. 270 ff., 271. 619 Vgl. Hugo Mehrer, Die Krankenversicherung der Bundesangestellten, SozSi 1951, S. 275 ff.; Lederer, Grundriß, S. 436.

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Gehaltszahlung im Krankheitsfalle wurde ein Krankengeld nicht in den Leistungskatalog aufgenommen; dieser umfaßte vielmehr bloß Krankenhilfe, Wöchnerinnenunterstützung und Sterbegeld (§ 4). Als besonders fortschrittlich muß das - hier erstmals im Österreichischen Recht- anzutreffende Recht auf "freie Arztwahl" (§ 6: "Die Wahl des Arztes ist freigestellt") herausgestrichen werden. Träger der Krankenversicherung der Staatsbediensteten war die "Krankenversicherungsanstalt der Staatsbediensteten", seit 1921 "K. der Bundesangestellten" (KVA); das Gesetz wurde in novellierter Form als "Bundesangestellten-KVG" (BKVG) 1937 wiederverlautbart. Der hohe Stand des Österreichischen Sozialversicherungsrechts zeigte sich auch in diesem Punkt, als nämlich 1938 durch die Verordnung vom 28. September, DRGBI. I, S. 1225, die Österreichische gesetzliche Krankenversicherung, die dem deutschen Recht fremd war, zwar in das deutsche Beamtenrecht integriert, aber der Sache nach beibehalten wurde. Das Sozialversicherungs-Überleitungsgesetz aus 1947 (Näheres s. unten B/7, II) stellte schließlich die - auf das Jahr 1920620 bzw. auf Hanusch und Resch zurückgehende -Regelung wieder her.

3. Einführung der Arbeitslosenversicherung82 t, insbes. das Gesetz vom 24. März 1920 Zu Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren vor allem die Gewerkschaften Träger der Arbeitslosenfürsorge (für ihre Mitglieder); seit der Jahrhundertwende fand das sog. "Genter System", das in der Förderung dieser gewerkschaftlichen Aktivitäten seitens der öffentlichen Hand (Staat, Gemeinden etc.) bestand, in einigen skandinavischen Staaten, in Belgien, Frankreich, der Schweiz sowie in mehreren deutschen und auch Österreichischen Städten (Graz, Liesing, Atzgersdorf) Verbreitung. 1914 stellte der sozialdemokratische Abgeordnete Franz Domes im Abgeordnetenhaus einen Gesetzesantrag, wonach i. S. des Genter Systems Staatszuschüsse zu den Arbeitslosenunterstützungen der Gewerkschaften zu leisten gewesen wären822• Nachdem dieser Antrag aus finanziellen Gründen verworfen worden war, wurde zu 820 StGBl. Nr. 311; nach zahlreichen Novellierungen wiederverlautbart als BKVG 1937, BGBl. Nr. 94. 621 Karl Forchheimer (Hrsg.), Gesetze und Verordnungen über Arbeitslosenversicherung (= Die sozialpolitische Gesetzgebung in Österreich VI), 1923; ders./ Josef Hammer!/ Franz Keller I Josef Stangelberger, Die Vorschriften über Arbeitslosenversicherung ... (wie Anm. 612); Josef Hammer!, Die Arbeitslosenversicherung, SozSi 1951, S. 230 ff.; ferner wieder Lederer, Grundriß, S. 28, 594 ff.; jetzt auch Dieter Stiefel, Arbeitslosigkeit ... (vgl. oben Anm. 31). 622 StProtAH, 21. Sess., Beil. Nr. 2101; Forchheimer etc., Die Vorschriften,

s. 3.

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Kriegsende ein System entwickelt, das zwar in Hinblick auf die starke Beteiligung der Gewerkschaften an den "Arbeitsnachweisstellen" (s. gleich unten) gewisse Anklänge an das "Genter System" aufwies, aber das Hauptgewicht in viel stärkerem Maße auf die Staatshilfe legte: Das Zurückfluten der Armee im Herbst 1918 hatte vor allem in Wien ein rapides Ansteigen der Arbeitslosigkeit zur Folge (erster Höhepunkt im Mai 1919: 180.000 Arbeitslose in Österreich, hievon 130.000 allein in Wien), das die Regierung zu raschem Handeln zwang. Unter dem Vorsitz von Hanusch fand schon Anfang November 1918 eine Beratung mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern statt, als deren Ergebnis bereits am 6. November 1918, StGBl. Nr. 20, die Vollzugsanweisung über die "Arbeitslosenfürsorge" erlassen wurde623 • Es handelte sich hiebei um eine ausschließlich aus öffentlichen Mitteln finanzierte Unterstützung, die allen ehemals kranken- oder pensionsversicherungspflichtigen Arbeitern und Angestellten ohne Rücksicht auf die Dauer des seinerzeitigen Dienstverhältnisses bei Arbeitslosigkeit (trotz vorliegender Arbeitsfähigkeit und -Willigkeit) zustand, und zwar zeitlich unbegrenzt. Die Auszahlung erfolgte durch die Arbeitsnachweisstellen (vgl. die Verordnung vom 24. Dezember 1917, RGBl. Nr. 509) unter Aufsicht der durch die Vollzugsanweisung vom 4. November 1918, StGBl. Nr. 18, zwecks Organisierung des Arbeitsmarktes eingerichteten paritätischen "Industriellen Bezirkskommissionen". Etwa 11/2 Jahre (vom 18. November bis 8. Mai 1920) stand das System der "Arbeitslosenfürsorge" in Geltung, dessen soziale Auswirkungen im allgemeinen zweifellos sehr positiv waren. Es gab jedoch auch zahlreiche Mißbräuche; vor allem aber wurden prinzipielle Einwände gegen das System einer reinen staatlichen Unterstützung vorgebracht, denen schließlich durch das ebenfalls noch in der Ära Hanusch zustandegekommene624 Gesetz vom 24. März 1920, StGBl. Nr. 153, über die "Arbeitslosenversicherung" Rechnung getragen wurde. Die nunmehrige Anlehnung an das Prinzip der (Arbeiter-)Versicherung äußerte sich vor allem in einer Drittelteilung der Beitragslast zwischen Arbeitgeber, Arbeitnehmer und dem Staat (später, nämlich 1922, sogar auf 40 Ofo des Arbeitgebers bzw. -nehmers erhöht). Ferner wurde die Dauer der Unterstützung auf 12 (maximal 20 bzw. 30) Wochen begrenzt, und schließlich mußte das kranken- oder pensionspfl.ichtige Arbeitsverhältnis im letzten Jahr625 mindestens 20 Wochen hindurch bestanden haben. 623 Forchheimer, Gesetze und Verordnungen, S. 12 f.; danach auch die Arbeitslosenzahlen im Text. Die bei Stiefel, Arbeitslosigkeit, S. 29, geschätzte (Gesamt-)Zahl von 355.000 dürfte zu hoch gegriffen sein. 624 Vgl. den Gesetzentwurf (Verfasser war der damalige Sektionsrat Prof. Karl Pfibram) in den StProtKonstNV, Beil. Nr. 680; Forchheimer, Gesetze und Verordnung·en, S. 16, Anm. 1.

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Mit der Einführung dieser neuen Elemente beschritt Österreich als dritter Staat nach England und Italien den Weg einer staatlichen Arbeitslosenversicherung. Durch den "National Insurance Act" von 1911/ 1262i (2. Teil) war nämlich in England für einige Industriezweige eine gesetzliche Arbeitslosenversicherung mit finanzieller Beteiligung der Arbeitgeber- und -nehmer sowie des Staates eingerichtet worden. Mit dem Gesetz vom 24. März 1920 war Österreich der erste Staat, der eine Regelung dieser Art auf alle (kranken- bzw. pensionsversicherungspflichtigen) Dienstnehmer erstreckte. Später wurde das System der staatlichen Arbeitslosenversicherung vom Deutschen Reich (erst durch Gesetz vom 16. Juli 1927, RGBl. I, S. 187, 320)627, Polen, Sowjetrußland und einigen Kantonen der Schwei:tJ2 8 übernommen. Nichtsdestoweniger aber hielt das Gesetz vom 24. März 1920 gewisse, für das Fürsorgesystem charakteristische, Besonderheiten aufrecht, so insbes. die Bedürftigkeit als eine im Verordnungsweg normierbare Anspruchsvoraussetzung (vgl. hiezu § 1, Abs. 3 des Gesetzes sowie die Vollzugsanweisungvom 29. März 1920, StGBl. Nr. 160). Die weitere Entwicklung der Arbeitslosenversicherung war hauptsächlich bestimmt durch den Umstand, daß die Arbeitslosigkeit entgegen den ursprünglichen Erwartungen zu einer, freilich periodischen Schwankungen ausgesetzten, Dauererscheinung wurde. Nach den relativ günstigen Jahren 1920 - Anfang 1922 setzte Ende 1922 infolge des Währungssanierungswerkes eine Deflationskrise ein; da sich die ohnedies nur bei Vorliegen einer Notlage - auf maximal 30 Wochen erstreckbare Arbeitslosenunterstützung in dieser Situation als unzulänglich erwies, wurde mit Gesetz vom 15. Dezember 1922, BGBl. Nr. 924, eine sog. Notstandsaushilfe eingeführt, die zunächst aus den Mitteln der Arbeitslosenversicherung, später durch zusätzliche Beiträge von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Staat finanziert wurde. Von Mitte 1923 825 Ausnahmsweise auch während der letzten 2 Jahre; vgl. § 1, Abs. 2 des Gesetzes sowie Forchheimer, Gesetze und Verordnungen, S. 17. 828 Vgl. Lederer, Grundriß, S. 590; s. auch Anthony I. Ogus in diesem Sammelwerk, S. 338 ff. 627 Schon 1914 hatte allerdings der deutsche Bundesrat Richtlinien für die Erwerbslosenfürsorge erlassen, auf denen später die Verordnung über die Erwerbslosenfürsorge v. 13. 11. 1918, DRGBl. I, S. 1305, beruhte. Näheres bei Wannagat, Lehrbuch, I, S. 83 f. sowie Zöllner in diesem Sammelwerk, s. 122 ff. 628 Zur Schweiz vgl. Maurer in diesem Sammelwerk, S. 791 f. (Übergang zum Versicherungsprinzip unter dem Einfluß eines Bundesgesetzes aus 1924); zu den übrigen Daten vgl. Forchheimer etc., Vorschriften, S. 3. - Schon 1895 wurde übrigens in St. Gallen ein erster, allerdings mißglückter Versuch zur Einführung einer Arbeitslosenversicherung unternommen.

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an nahm die Zahl der unterstützten629 Arbeitslosen zu (1926: 176.000), ging dann vorübergehend leicht zurück (1928: 156.000) und erreichte in den Jahren 1930 ff. exorbitante Höhen (1931: 253.000; 1932: 378.000; 1933: 408.000). Ebenso wichtig wie die absolute Höhe dieser Zahlen ist der Umstand, daß ein sehr hoher und im späteren Verlauf der Depression noch gestiegener Prozentsatz Notstandsaushilfe bezog (Bundesvoranschlag pro 1932: 98.000 gegenüber 152.000 Beziehern von Arbeitslosenunterstützung)630. Ferner muß bedacht werden, daß seit Ende 1927 (durch das Arbeiter-Versicherungsgesetz; s. unten III 3) für die über 60 Jahre alten Arbeitslosen eine spezielle Altersfürsorge eingeführt wurde, so daß die wahren Arbeitslosenzahlen eigentlich noch erheblich über den eben angegebenen lagen. Durch diese ungünstigen Umstände bedingt, wandelte sich die Arbeitslosenversicherung, wie Max Lederer631 sagt, immer mehr zu "einer Art Armenversorgung". Das GSVG 1935 trug diesem Umstand Rechnung, indem es Arbeitslosenfürsorge und Altersfürsorge finanziell zusammenfaßte (vgl. unten VIII); in Anbetracht der weiterhin extrem hohen Arbeitslosigkeit konnte jedoch eine finanzielle Sanierung der Arbeitslosenversicherung vor 1938 nicht mehr erzielt werden. Abschließend sei noch eine wichtige gesetzgeberische Initiative erwähnt, die auf Antrag Hanuschs und anderer sozialdemokratischer Abgeordneter im Jahre 1922 beantragte632 und in die 5. Novelle zum Arbeitsloseuversicherungsgesetz vom 19. Juli 1922, BGBI. Nr. 534, aufgenommene "produktive Arbeitslosenfürsorge" (§§ 29 ff. des Gesetzes). Demnach sollte hauptsächlich Ländern (Bezirken) und Gemeinden dasjenige als Beihilfe (Darlehen oder Zuschüsse) gewährt werden, was durch die Beschäftigung von Arbeitslosen an Arbeitslosenunterstützungen erspart worden war. Während die in Preußen damals schon seit längerer Zeit erprobte und später auch im Deutschen Reich (1924) eingeführte produktive Arbeitslosenfürsorge sehr erfolgreich war, hielten sich die Erfolge dieser Institution in Osterreich in recht engen Grenzen 633 , da die Finanzkraft der als Beihilfenempfänger relevanten öffentlichen Rechtsträger zu gering war.

629 Vgl. demgegenüber die (geschätzten) Gesamtzahlen der Arbeitslosen oben im Text nach Anm. 615. 830 Wie vorige Anm. sowie die zahlreichen Tabellen über die finanzielle Gebarung der Arbeitslosenfürsorge bis einschließlich 1931 bei Forchheimer etc., S. 770 ff.; ferner Lederer, Grundriß, S. 597 sowie die "Statistiken zur Arbeitslosenversicherung", I (1920- 1929); II (1930) und oben Anm. 612. 631 Lederer, Grundriß, ebenda. 632 StProtNR, 1. GP, Beil. Nr. 909. 633 Lederer, Grundriß, S. 94 ff. s. auch unten Anm. 705, 714.

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4. Projekte zur Einführung der Invaliditäts- und Altersversicherung der Arbeiter Eines der letzten großen Projekte Hanuschs in seiner Funktion als Staatssekretär war der im August 1920 der Öffentlichkeit vorgelegte Vorentwurf eines Gesetzes über die Invaliden-, Alters- und Hinterbliebenenversicherung der Arbeiter, der auch die Grundlage für einen von Hanusch bereits nach seinem Ausscheiden aus der Regierung im Nationalrat, jedoch noch im selben Jahr eingebrachten Gesetzesantrag634 bildete. Der Entwurf lehnte sich in vielen Punkten an die "Leitsätze" des Ministeriums Mataja an, da er einerseits als "Unterbau" die "Einheitskassen" und andererseits den Einbau der bestehenden Institutionen, insbes. der territorialen Unfallversicherungsanstalten, in die Organisation der Invaliden- und Altersversicherung vorsah. Die Pensionsversicherung der Angestellten sollte mit der Arbeiterversicherung nicht völlig verschmolzen, sondern dieser bloß angegliedert sein635• Der Antrag scheiterte teils an finanziellen Bedenken, teils an politischen Streitigkeiten wegen der Zusammensetzung des Vorstandes der "Einheitskassen"636. Schon etwa ein Jahr später wurde durch die Regierung (Minister Resch bzw. Pauer) ein Entwurf über die Invaliditäts-, Alters- und Hinterb1iebenenversicherung der Arbeiter und Angestellten im Herbst 1921 der Öffentlichkeit vorgelegt und im Dezember 1921 im Abgeordnetenhaus eingebracht637• Im Gegensatz zum Entwurf Hanusch sollten hier die Krankenkassen den organisatorischen Unterbau und eine Zentralanstalt in Wien die Spitze bilden; sowohl gegen dieses organisatorische Konzept, das im Grunde den Körberschen Reformideen von 1904 entspricht, als auch gegen die in dem Entwurf geplante Verschmelzung der Arbeiter- und Angestelltenversicherung erhob sich Widerstand, der die Vorlage schließlich zum Scheitern brachte.

StProtNR, 1. GP, Beil. Nr. 113; s. auch "Ferdinand Hanusch", S. 88. Vgl. auch "Ferdinand Hanusch", S. 128 ff. (aus Hanuschs letzter Rede vom Juni 1923). oa6 "Ferdinand Hanusch", S. 128. 637 StProtNR, 1. GP, Beil. Nr. 666; vgl. auch Kerber, Kranken- und Unfallversicherung, S. 56; Lederer, Grundriß, S. 35, 438. 634

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lU. Reformen auf dem Gebiet der Arbeiter- und Angestelltenversicherung

1. Teilverbesserungen Schon bald nach dem Ende des 1. Weltkrieges kam es zu vier wichtigen Anderungen auf dem Gebiete der Unfallversicherung638 : a) Im Anschluß an§ 10 der Verordnung über die Unfallversicherung der Bergarbeiter vom 7. April1914 wurde nunmehr durch die 4. Novelle zum Un:f\allversicherungsgesetz, vom 30. Juni 1919, StGBl. Nr. 399, auch für die übrigen Unfallversicherungsträger das Recht der Obernahme des HeiZverfahrens verankert (§ 37 a UVG). Schon kurze Zeit später trat die Wiener Anstalt mit Lorenz Böhler, dem heute weltbekannten Begründer der modernen Unfallchirurgie, in Verbindung, um ihm die Behandlung von Knochenbrüchen an Gliedmaßen zu übertragen. Wenngleich dieses erste 1919/20 angestrebte Projekt eines kleinen Unfallkrankenhauses scheiterte, so liegen doch hier die ersten Ansätze für den späteren beispiellosen Aufstieg der Österreichischen Unfallchirurgie, der zu einem beträchtlichen Teil der Initiative der Unfallversicherungsanstalten zu verdanken ist639 • b) Wegen der relativ niedrigen Zahl der in der Republik DeutschÖsterreich verbliebenen Bergarbeiter (ca. 25.000) wurde nach Auflösung der bisherigen Unfallversicherungsanstalt der Bergarbeiter auf eine spezielle Unfallversicherung des Bergbaus verzichtet und diese durch Gesetz vom 10. Dezember 1919, StGBl. Nr. 579, der allgemeinen Unfallversicherung einverleibt; damit mündete die Entwicklung letztlich doch in das Ergebnis, das Taaffe, Prazäk und Steinbach schon 1883 angestrebt hatten. c) Durch die 12. Novelle zum UVG, vom 3. Juli 1923, BGBL Nr. 36, wurde der schon anläßlich der Reformbestrebungen zu Ende des 19. Jahrhunderts gemachte Vorschlag verwirklicht, den Unfallversicherungsanstalten die Möglichkeit einzuräumen, Kleinrenten (unter 25 °/o der Vollrente) durch die Zahlung einer Geldabfertigung abzulösen. d) Großen Umwälzungen war das Finanzierungssystem der Unfallversicherung durch die Inflation ausgesetzt. Durch zahlreiche Novellen zum Unfallversicherungsgesetz6~ mußten den Renten Teuerungszulagen zugeschlagen werden, die auf die unfallversicherungspflichtigen Betriebe umgelegt wurden. Damit vollzog sich schrittweise der Übergang vom 638 Hiezu insbes. Kerber, Kranken- und Unfallversicherung, insbes. S. 36 ff.; Steinbach, Unfallversicherung, S. 88 ff.; Lederer, Grundriß, S. 435 ff. 1139 Steinbach, Unfallversicherung, S. 97; Wolfgang Krösl, in: 90 Jahre soziale Unfallversicherung in Österreich, S. 42 ff. 640 Übersicht bei Kerber, Kranken- und Unfallversicherung, S. 38 f.

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Kapitaldeckungs- zum Umlageverfahren, das schließlich durch die 13. Novelle vom 13. Juli 1923, BGBl. Nr. 414, die endgültige Billigung durch den Gesetzgeber fand 64 t. Abschließend sei zu diesem Punkt noch bemerkt, daß in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg die Unfallversicherungsanstalten selbst mit bemerkenswerten Reformvorschlägen an die Öffentlichkeit traten. Besondere Beachtung verdient der vom Vorstand der Wiener Anstalt im Beschluß vom 20. Dezember 1918 gemachte Vorschlag, bei aufrechterhaltener Unfallversicherung auch Nichtbetriebsunfälle in den Versicherungsschutz einzubeziehen, wobei die Versicherten einen Teil der Kosten dieser Erweiterung des Versicherungsschutzes zu tragen hätten. 642 • Leider ist dieser Vorschlag bis zum heutigen Tage noch nicht verwirklicht643 • Hingewiesen sei ferner noch auf die 17. Novelle zum Unfallversicherungsgesetz vom 16. . Februar 1928, BGBl. Nr. 50, durch die gewisse Berufskrankheiten, sofern diese die Erwerbsfähigkeit um mehr als ein Drittel minderten, den Betriebsunfällen gleichgestellt wurden (näher ausgeführt durch die Verordnung vom 6. September 1928, BGBl. Nr. 237). Unter Einbeziehung aller Änderungen einschließlich der eben angeführten 17. Novelle wurde das Unfallversicherungsgesetz nach dem Stand vom 1. Januar 1929 durch Verordnung vom 9. März 1929, BGBL Nr. 150, wiederverlautbart ("Unfallversicherungsgesetz 1929"; "UVG 1929"). Abgesehen von der Reform des Kassenwesens (vgl. schon oben II 1) und der Einbeziehung der land- und forstwirtschaftliehen Arbeiter (unten V) ist auf dem Gebiete der Krankenversicherung vor allem auf die überaus lebhafte Novellengesetzgebung der Jahre 1919- 1925 hinzuweisen, durch die versucht wurde, die Leistungs- und Beitragsansätze den ständigen Veränderungen unterworfenen Geldwerten anzupassen6 u. Da diese Maßnahmen häufig nicht ausreichten, mußten mehrfach Staatszuschüsse und Vorauszahlungen der Dienstgeber zur Überbrückung finanzieller Notlagen vorgesehen werden.

041 642 643 644

Ebenda, S. 38; Steinbach, Unfallversicherung, S. 92. Steinbach, Unfallversicherung, S. 95. Vgl. unten den Text bei den Anm. 826, 827. Vgl. die übersieht bei Kerber, Kranken- und Unfallversicherung, S. 52 ff.

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2. Die 2. und 3. Novelle zum Pensionsversicherungsgesetz aus 1906; die Idee einer berufsständischen Aufgliederung der Sozialversicherung; das Angestelltenversicherungsgesetzvom 31. Dezember 1926 Die Reform der Angestelltenversicherung setzte nach dem Ende des

1. Weltkrieges zunächst beim Pensionsversicherungsgesetz aus 1906 (vgl.

B/4, IV) an. Die 2. Novelle (Gesetz vom 23. Juli 1920, StGBL Nr. 370) brachte zahlreiche Leistungsverbesserungen, unter denen vor allem der - in der Arbeiterunfallversicherung damals bereits verankerte Hilflosenzuschuß zu erwähnen ist, sowie den weitgehenden Abbau der Ersatzeinrichtungen (gänzliche Streichung der Ersatzverträge; starke Reduzierung der Ersatzinstitute). Auch der durch die 1. Novelle bereits erheblich eingeschränkte Grundsatz der Meldeunabhängigkeit (vgl. oben B/4, IV) wurde noch weiter zurückgedrängt, indem für die Zeit nach Eintritt des Versicherungsfalles die Wirkungslosigkeit nachträglicher Anmeldungen ausgesprochen wurde, wie dies der geltenden Rechtslage entspricht. Sehr bemerkenswert ist schließlich, daß die 2. Novelle die Lebensgefährtin, wenn eine anspruchsberechtigte Witwe nicht vorhanden war, in den Kreis der Rentenbezugsberechtigten einbezog (§ 4, Z. 2), während später das Gesetz aus 1926 die Lebensgefährtin auf einen Abfertigungsanspruch beschränkte(§ 36, Abs. 1, lit. c)645 • Durch die 3. Novelle, Gesetz vom 27. Oktober 1921, BGBL Nr. 594, wurde den inflationsbedingten Finanzproblemen der Angestellten-Pensionsversicherung durch den Übergang vom "Anwartschaftsdeckungssystem" zum "Aufwanddeckungsverfahren" Rechnung getragen646 • Während die Pensionsanstalt für Angestellte seit Mitte 1922 weitere Reformen (bloß) der Pensionsversicherung vorbereitete, beschritt die Regierung durch den am 12. Juni 1923647 der Öffentlichkeit vorgelegten Reformentwurf und die im wesentlichen auf diesem aufbauende Regierungsvorlage vom 20. November 1923648 (Minister Richard Schmitz) einen neuen Weg, der freilich schon durch das Angestelltengesetz vom 11. Mai 1921, BGBL Nr. 292, vorgezeichnet war: Anstelle der bisherigen Spezialgesetze für einzelne Versicherungszweige sollte in Hinkunft eine 645 Vgl. Schmitz, Angestelltenversicherung, I, S. 8; ferner die gründliche Untersuchung Wolfgang R. Melis, in: Festschrift Heinrich Demelius zum 80. Geburtstag, S. 155 ff., 163. - Die Regierungsvorlage begründete diese Schlechterstellung der Lebensgefährtin insbes. mit der Schwierigkeit der Vermeidung von Doppelversorgungen (vgl. Kerber, Angestelltenversicherungsgesetz, I, S. 426). 6 46 Schmitz, Angestelltenversicherung, I, S. 8. 647 Kerber, Angestelltenversicherungsgesetz, I, S. 32. &4s StProtNR, 2. GP, Beil. Nr. 21.

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"ständische"649 Aufgliederung der Sozialversicherung unter gleichzeitiger Zusammenfassung aller Versicherungszweige treten, wobei hier vier Gruppen unterschieden wurdenil50 : 1. die öffentlich-en Dienstnehmer, für die bereits das - für diesen Bereich erschöpfende - Krankenversicherungsgesetzvon 1920 ergangen war (vgl. oben II 2); 2. die Angestellten; 3. die industriell-gewerbliche Arbeiterschaft; 4. die land- und forstwirtschaftliehen Arbeiter (unter fakultativer Einbez:iehung der Bauern). Dieser Zielsetzung entsprechend strebte schon die Regierungsvorlage von 1923 die Kodifikation der Kranken-, Stellenlosen- und Pensionsversicherung der Angestellten an; der (Nationalrats-)Ausschuß für soziale Verwaltung fügte später noch (im Einklang mit dem Referentenentwurf) die Unfallversicherung hinzu, so daß schließlich alle Zweige der Sozialversich·erung in dem Gesetz vom 29. Dezember 1926, BGBL Nr. 388, vereinigt waren. Die Stellenlosenversicherung verblieb allerdings in Risikengemeinschaft mit der Arbeitslosenversicherung%1• Die Sozialdemokratie war ursprünglich gegen das Konzept der umfassenden Angestelltenversicherung und unterstützte die von der Pensionsanstalt initiierten Projekte einer bloßen Pensionsversicherungs-Reform (Antrag vom 12. April 1923; Heinrich Allina)il52, schwenkte jedoch Anfang 1926 auf die Linie der Regierung ein6 53. Was den Kreis der Versicherungspflichtigen betrifft, so war dieser in Weiterführung der von der 1. Novelle (1914; vgl. B/4, IV) gehandhabten Technik durch eine Generalklausel und eine zusätzliche demonstrative Aufzählung umschrieben; das durch die 1. Novelle weitgehend ausgeklammerte Verkaufs- und Lagerpersonal wurde nun ausdrücklich einbezogen(§ 1, Abs. 1, lit. d). Insgesamt betrachtet umfaßte der Kreis der Versicherungspflichtigen jedenfalls alle Angestellten i. S. des Angestelltengesetzes 1921, darüber hinaus aber auch gewisse schon bis dahin für versicherungspflichtig angesehene Berufe (z. B. Webmeister)654 , die nicht unter di:esen engeren Angestelltenbegriff fielen. Grundsätzlich deckte sich der Kreis der Versicherungspflichtigen in allen vier Sparten (einzige wichtige Ausnahme: kaufmännische Lehr649 So Kerber, Angestelltenversicherungsgesetz, I, S. 34; Schmitz, Angestelltenversicherung, I, S. 9, nimmt anstelle der "berufsständischen" eine "sozialständische" Aufgliederung an. 650 Ebenda, S. 9. 651 Allerdings wurden gleichzeitig mit der Verabschiedung des Angestelltenversicherungsgesetzes 2 Entschließungen durch den Nationalrat einstimmig beschlossen, die auf die Aufhebung dieser Risikengemeinschaft gerichtet waren; vgl. Kerber, Angestelltenversicherungsgesetz, I, S. 102. 652 StProtNR, 2. GP, Beil. Nr. 1455. 653 Kerber, Angestelltenversicherungsgesetz, I, S. 35. 654 Schmitz, Angestelltenversicherung, I, S·. 11.

41 Sozialversicherung

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linge sowie allgemein Personen unter 17 Jahren waren nur krankenund unfallversicherungspflichtig). Eine sehr wichtige Änderung lag in der Ersetzung des Begriffes "Erwerbsunfähigkeit" durch den der "(dauernden) Berufsunfähigkeit" als Anspruchsvoraussetzung der Invaliditätsversicherung. § 27, Satz 1 lautete: "Anspruch auf die Invaliditätsrente hat der unmittelbar Versicherte, wenn er berufsunfähig geworden ist, das heißt ... dauernd außerstande ist, den Pflichten sei:ner letzten Berufsstellung nachzukommen oder eine andere Beschäftigung auszuüben, die ihm mit Rücksicht auf seine bisherige Beschäftigung, praktische Ausbildung und Vorbildung zugemutet werden kann665." Mit dieser Bestimmung vollzog das Angestelltenversicherungsrecht den bahnbrechenden (für die gelernten Arbeiter erst durch die 9. ASVGNovelle aus 1962 nachvollzogenen) Schritt zur eigentlichen BerufsversicherungiiK. Hinsichtlich der Altersrente ist die erstmalige Einführung einer Variante mit niedrigerem Anfallsalter {"vorzeitige Alterspension für Männer bei vollendetem 60., für Frauen mit vollendetem 55. Lebensjahr), wenn mindestens 120 Beitragsmonate erworben wurden, bemerkenswert(§ 31, Abs. 1, Z. 2). Als weitere Verbesserungen sind hervorzuheben: die Einbeziehung der Rentner und ihrer Angehörigen in die Kranken-, sowie aller Angestellten in die Unfallversicherung, wobei die (bei Angestellten relativ geringe) Versicherungslast vom Pensionsversicherungsträger ohne Einhebung zusätzlicher Beiträge getragen werden mußte. In sehr großzügiger Weise ermöglichte der Gesetzgeber die kostenfreie Anrechnung von Vordienstzeiten; nicht zuletzt auf diesen Umstand war die schlechte finanzielle Lage der Angestelltenversicherung in den dreißiger Jahren zurückzuführen, die letztlich in der durch das GSVG 1935 (vgl. unten 655 Wie Lederer, Grundriß, S. 478 f., 479, Anm. 2, ausführt, wollte der Gesetzgeber durch diesen Invaliditätsbegriff einen Mittelweg zwischen dem Gesichtspunkt der "Berufs-" bzw. "Standesinvalidität" beschreiten. Technisch wurde an§ 7 des österr. (Ang) PVG angeknüpft, nur wurde die bisherige Wendung "Berufspflichten" ersetzt durch "Pflichten seiner letzten Berufsstellung" und - in Anlehnung an § 30 des deutschen Angestelltenversicherungsgesetzes v. 20. 12. 1911, DRGBl. S. 989 (neu kundgemacht 1924, DRGBl. I, S. 563) - der Hinweis auf etwaige Verweisungsberufe neu aufgenommen; ausdrücklich abgelehnt wurde hingegen die Aufnahme einer abstrakten Mindestverdienstgrenze in die Formel. Hiezu Kerber, Angestelltenversicherungsgesetz, I, S. 404. - Erst seit der Einführung des deutschen Sozialversicherungsrechts (vgl. unten B/6, I) hat auch dieses Element der deutschen Formel in die Österreichische Angestelltenversicherung Eingang gefunden. Vgl. jetzt insbes. die §§ 255, Abs. 1 sowie 273, Abs. 1 ASVG. Vgl. auch oben nach Anm. 25 sowie unten zur 9. ASVG-Novelle nach Anm. 772! 656 Zum geltenden Recht vgl. Teschner im System, Pkt. 2.4.2.2.

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VIII) verordneten Radikalkur mündete. Entscheidende Wirkung übten die schon 1926 sehr beengten finanziellen Verhältnisse auf die Organisationsbestimmungen des Gesetzes: Man kehrte praktisch zu dem Körberschen Konzept zurück, indem als Unterbau aller Versicherungszweige die Träger der Krankenversich'erung (die "Versicherungskassen") eingerichtet wurden657 ; als Versicherungsträger der Unfall- und Pensionsversicherung waren die "Hauptanstalt für Angestelltenversicherung" sowie vier (drei)658 Sonderversicherungsanstalten, alle mit Sitz in Wien, vorgesehen (§ 50); die Institution der sog. Ersatzversicherung wurde eliminiert. Durch die 1. Novelle vom 2. August 1927, BGBl. Nr. 240 und die 2. Novelle vom 12. Juli 1928, BGBl. Nr. 201 wurden noch folgende we-

sentliche Änderungen bzw. Verbesserungen vorgenommen659 :

Präzisierung des Kreises der Versicherungspflichtigen durch eine taxative Aufzählung in positiver und negativer Hinsicht, mit abschließender, auf das Bildungsniveau abstellender Auffangklausel; Einbeziehung unehelicher Kinder männlicher Versicherter in den Angehörigenbegriff und Einführung der Altersfürsorgerente (vgl. unten III 3) für nicht rentenberechtigte Angestellte nach Vollendung des 60. Lebensjahres.

3. Das Arbeiterversicherungsgesetz vom 1. April1927 Schon wenige Tage nach Einbringung der Vorlage zum Angestelltenversicherungsgesetz (20. November 1923) kündigte Bundeskanzler Ignaz Seipel im Nationalrat600 an, die Regierung werde ein analoges, alle Zweige der Sozialversicherung umfassendes und einheitlich regelndes Arbeiterversicherungsgesetz in naher Zeit einbringen. Bald darauf, nämlich am 20. Februar 1924, brachten die sozialdemokratischen Abgeordneten Smitka und Genossen ·e inen Gesetzesantrag661 857 Und zwar grundsätzlich eine Kasse pro Bundesland, für Wien jedoch vier(§ 53). 858 Die "Versicherungsanstalt der Kreditunternehmungen" wurde schon durch die 1. Novelle (2. August 1927) nicht mehr übernommen; vgl. Schmitz, Angestelltenversicherung, I, S. 15. 859 Ebenda, S. 16; Kerber, Angestelltenversicherung, I, S. 44. 1180 StProtNR, 2. GP, S. 15. Vgl. den Antrag Spalowsky, Drexel u. a. StProt NR, 2. GP, S. 2. 681 StProtNR, ·2. GP, Bd. 1, S. 399; vgl. auch die Erläuternden Bemerkungen zum Referentenentwurf des Arbeiterversicherungsgesetzes aus 1925. - Vgl. weiter zum folgenden Lederer, Grundriß, S. 34 ff.; S. 437 ff.; Robert Kerber (/ Friedrich Pernitza I Artur Rudolph), Die gewerbliche Sozialversicherung, 1936, S. 306 f.; Robert Uhlir, Die Invalidenversicherung, SozSi 1951, S. 241 ff.; W. Hubinger, Die Entwicklung der Arbeiterversicherung, in: VersRdSch 1949,

s. 296 ff. 41°

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betreffend die Invaliditäts-, Alters- und Hinterbliebenenversicherung der Arbeiter ein, der vor allem in der Finanzierungsfrage (progressive Zuschläge zur Einkommensteuer u. a.) an den Antrag Hanusch vom Dezember 1920 anschloß. Mit dem Referentenentwurf eines Gesetzes betreffend die Arbeiterversicherung und der hierauf aufbauenden Regierungsvorlage vom 10. November 19234182 (Minister Josef Resch) führte die Regierung im Einklang mit Seipels Ankündigung ihr Programm einer ständisch gegliederten Sozialversicherung in einem weiteren Punkt fort; nach anfänglichem Widerstand der Opposition kam im Herbst 1926 eine Parteienvereinbarung zustande, auf Grund derer der Ausschuß für soziale Verwaltung seine Beratungen positiv abschließen konnte; am 1. April 1927, BGBl. Nr. 125, erfolgte die Verabschiedung des ,.Gesetzes betreffend die Kranken-, Unfall- und Invalidenversicherung der Arbeiter ( Arbeiterversicherungsgesetz)". Wie der Titel besagt, enthielt das Gesetz eine zusammenfassende Regelung der drei Versicherungssparten; die Arbeitslosenversicherung war gänzlich ausgeklammert(§ 1, Abs. 2). Die Versicherungspflicht erstreckte sich auf alle unselbständig Erwerbstätigen mit Ausnahme der land- und forstwirtschaftliehen Dienstnehmer, sowie der Privat- und öffentlichen Angestellten (§ 3, Abs. 1; § 2, Abs. 1, Z. 1- 3). Ebenso wie nach dem Angestelltengesetz wurde auch hier grundsätzliche Identität des Versichertenkreises für alle drei Sparten angestrebt; für die Unfallversicherung bedeutete dies den Übergang von der "betriebsbezogenen"663 zur ,.subjektsbezogenen" Unfallversicherung. Infolgedessen wollte das Gesetz die Funktion der bisherigen Gefahrenklassenein teil ung dahin ändern, daß Unternehmer überdurchschnittlich gefährlicher Betriebe zum einheitlichen Sozialversicherungsbeitrag "Gefahrenklassenzuschläge" leisten mußten (§ 80). Die Idee eines Zuschlages zum Sozialversicherungsbeitrag wurde erst durch das GSVG wirksames Recht; allerdings knüpfte das GSVG die Verpflichtung zu Zuschlagsleistungen nicht schon an die überdurchschnittliche Gefahr, sondern an die Nichteinhaltung der für die Betriebsgattung geltenden sanitären oder Schutzvorschriften (§ 81), die Gefahrenklasseneinteilung verlor also auch insoweit ihre Bedeutung und wurde ersatzlos gestrichen. StProtNR, 2. GP, Beil. Nr. 451. Vgl. Steinbach, Unfallversicherung, S. sicherung" zur "Arbeiterversicherung"). 662

66 3

113

(von der "Unternehmerver-

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Hinsichtlich der Krankenversicherung ist die "erweiterte Heilbehandlung"664 bemerkenswert, auf die allerdings kein Rechtsanspruch bestehen sollte (§ 58), hinsichtlich der Unfallversicherung die Gleichstellung gewisser Berufskrankheiten mit den Arbeitsunfällen (§ 63; vgl. oben III 1 über die 17. Novelle zum UVG). Zur Erlangung der Invaliditätsrente war die Zurücklegung von mindestens 104 Beitragswochen innerhalb der letzten 5 Jahre vor Eintritt des V,ersicherungsfalles, für die Altersrente die Vollendung des 65. Lebensjahres und der Erwerb von 500 Beitragswochen erforderlich(§§ 98, 102)665 • Der Invaliditätsbegriff (§ 101, Abs. 2) war dem Wortlaut nach der Reichsversicherungsordnung (§ 1255, Abs. 2) entnommen (vgl. § 255, Abs. 3 ASVG)6116 • Während der ReferentenentWIUrf eine dezentralisierte Organisation der Invalidenversicherung durch deren Übertragung auf die territorialen Unfallversicherungsanstalten vorsehen wollte667, bestimmte das Gesetz eine zentrale "Arbeiterversicherungsanstalt" zum Träger der Unfall- sowie der Invalidenversicherung, wobei die Krankenkassen als Unterbau für alle 3 Sparten vorgesehen waren (§§ 17, 146, Abs. 2). Infolge der schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse konnte das Arbeiterversicherungsgesetz (mit Ausnahme des 10. Abschnitts) nicht sofort in Wirksamkeit gesetzt werden, vielmehr wurde dies in Art. III, Abs. 2 einer Verordnung anheimgestellt, deren Erlassung zu erfolgen hatte, wenn "a) die Zahl der im Bezuge der Arbeitslosenunterstützung (Notstandsaushilfe} stehenden Personen im Durchschnitt eines Kalenderhalbjahres auf 100.000 gesunken ist, ... und b) aus dem Zusammenhalt der Steigerung des Außenhandels, der ZI\Ulahme der Inlandsverfrachtung und der Fortschritte der landwirtschaftlichen Produktion eine derartige Besserung der Gesamtlage der Wirtschaft zu erkennen ist, daß die Mehrbelastung der Wirtschaft und der öffentlichen Verwaltung durch 664 Als solche nennt das Gesetz: Beistellung von Hauspflege, Ermöglichung der Pflege in Genesungsheimen, Landaufenthalt, Aufenthalt in Kurbädern und Heilstätten, Ersatz allfälliger Reisekosten; vgl. auch bereits das Angestelltenversicherungsgesetz, § 47. 665 Im Gegensatz zur Angestelltenversicherung, in der Steigerungsbeträge bei längerer Versicherungsdauer vorgesehen waren (§ 28), waren in der Arbeiterversicherung für die Invaliditätsrente nur zwei Stufen vorgesehen, nämlich eine höhere nach Zurücklegung von 500 Beitragswochen, und eine um ein Drittel niedrigere bei Fehlen dieser Voraussetzung. Im Durchschnitt hätte sich die Invaliditätsrente auf ca. 40 Gfo des vom Arbeiter tatsächlich erzielten Lohnes belaufen. Vgl. Lederer, Grundriß, S. 527. 866 Im Gegensatz zur Angestelltenversicherung (Anm. 655) wurde in den Invaliditätsbegriff des § 102, Abs. 2 des Arbeiterversicherungsgesetzes in Übereinstimmung mit § 1255 RVO eine abstrakte Mindestverdienstgrenze aufgenommen (ein Drittel des Normalverdienstes). - Lederer, Grundriß,

s. 527. 867

s. 7 ff.

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die Durchführung des Arbeiterversicherungsgesetzes kompensiert erscheint". Da die sich :z;usehends verschärfende Wirtschaftslage (s. oben B/5, I) eine Erfüllung dieser "Wohlstandsklausel" schon bald als illusorisch erscheinen ließ668, wurde durch das Gesetz vom 12. Juli 1929, BGBI. Nr. 247, die Inkraftsetzung des Arbeiterversicherungsgesetzes an die Bedingung einer Entlastung der Volkswirtschaft durch Reformen im öffentlichen Abgabenwesen geknüpft; infolge der Finanznot von Bund und Ländern erwies sich jedoch auch dieser Ausweg als ungangbar. So blieb denn der kraft Art. III, Abs. 1 mit Beginn am 1. Juli 1927 in Kraft gesetzte 10. Abschnitt über die "Altersfürsorge" 669 auf Dauer der einzige mit dem Arbeiterversicherungsgesetz verbundene praktische Fortschritt; die Altersfürsorgerente war ein Personen über 60 Jahren (ab dem 65. Lebensjahr auch neben Einkünften aus einem krankenversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis) zustehender Dauerbezug im Umfang der (um ca. 1/3) gekürzten Arbeitslosenunterstützung670 • Hinsichtlich der noch arbeitsfähigen Personen handelte es sich also um eine prolongierte bzw. perpetuierte Notstandsaushilfe, hinsichtlich der arbeitsunfähigen um eine Erweiterung auf einen von der Arbeitslosenunterstützung nicht erfaßten Personenkreis671 • Die Zahl der Altersfürsorgerentner betrug zunächst (Oktober 1927) ca. 18.000 und stieg bis 1932 auf ca. 70.000 an; dazu kamen noch gern. dem Gesetz vom 23. November 1927, BGBI. Nr. 338, ca. 1.750 Bergarbeiter mit Ansprüchen auf Provisionszuschüsse, ca. 4.500 Hausgehilfen (gern. dem Gesetz vom 17. Dezember 1928, BGBI. Nr. 356) und, nicht zuletzt, die ca. 23.000 Personen umfassende Gruppe der Landarbeiter (hiezu unten V); die Zahl der Fürsorgerentner überschritt demnach bereits 1932 die Marke von 100.000672• Die weitere Entwicklung der Arbeiterversicherung wird im Zusammenhang mit dem GSVG 1935 (unten VIII) besprochen.

Näheres bei Lederer, Grundriß, S. 36. §§ 265 ff. - Lederer, Grundriß, S. 554 ff.; Uhlir, SozSi 1951, S. 242. 670 Vgl. § 268 (das Zwanzigfache des täglichen Arbeitsverdienstes). 871 Die Altersfürsorgerente stand (gern. § 265, Abs. 1, lit. b) nämlich auch Personen zu, die "lediglich wegen Arbeitsunfähigkeit" von der Arbeitslosenunterstützung oder Notstandsaushilfe ausgeschlossen waren. - Anspruchserfordernis war ferner in allen Fällen Bedürftigkeit (Verweis auf die Voraussetzungen der Gewährung der Notstandshilfe). 672 Lederer, Grundriß, S. 557. 668

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IV. Das Notarversicherungsgesetz vom 28. Oktober 1926

Dieses Gesetz (BGBL Nr. 317) verdient insoweit Beachtung, als es das erste673 heute noch aktuelle Beispiel einer Zusammenfassung Unselbständiger (der Notariatskandidaten) und Selbständiger (der Notare) in einer gesetzlichen Pflichtversicherung674 darstellt; allerdings war die Krankenversicherungs-, Stellenlosenversicherungs- und Unfallversicherungspflicht (für den Leistungsbereich der Unfallrenten) auf die erstgenannte Gruppe beschränkt; interessant war die im Gesetz vorgesehene Einschränkung der abstrakten Rentenberechnung bei Unfallrenten (Voraussetzung einer Verminderung des Diensteinkommens von mindestens 1/10)675 • Träger aller Sparten der Notarversicherung wurde die "Versicherungsanstalt des Notariats in Wien" 676 • V. Die Einbeziehung der land- und forstwirtschaftliehen Arbeiter in die Sozialversicherung, insbes. das Landarbeiterversicherungsgesetz vom 18. Juli 1928fi77

Seit der denkwürdigen Auseinandersetzung zwischen Baernreither und Kaizl anläßlich der Beratungen zum Krankenversicherungsgesetz 1888 waren auf dem Gebiete der land- und forstwirtschaftliehen Sozialversicherung bis 1918 kaum Fortschritte erzielt worden: Nach wie vor war die Unfallversicherungspflicht auf die Arbeiter in land- und forstwirtschaftlichen Maschinenbetrieben beschränkt; nur Salzburg hatte von der Möglichkeit der Normierung einer Krankenversicherungspflicht der Landarbeiter Gebrauch gemacht (vgl. oben B/4, III 2). Ansonsten mußte mit der in den alten Dienstboten- bzw. in den 1921 ff. von den Ländern erlassenen Landarbeiterordnungen678 normierten Verpflichtung des 873 Das erste (jedoch nicht mehr aktuelle) Beispiel überhaupt war die Krankenversicherung der Seeleute; vgl. oben B/4, III 2 a. E. 874 Die Möglichkeit freiwilligen Beitritts zu einer Pflichtversicherung der Unselbständigen wurde erstmals den Unternehmern von Transportbetrieben durch das Unfallversicherungs-Ausdehnungsgesetz aus 1894 eröffnet. Vgl. oben nach Anm. 609. 875 Vgl. noch § 9 Notarversicherungsgesetz 1938 nach dem Stande vom 1. 1. 1961, § 9: "Beträgt die Einbuße an Berufsunfähigkeit mehr als 20 °/o und beträgt der Gehaltsverlust ... mehr als ein Zehntel ..." 878 Vgl. später das (schon in der vorigen Anm. zitierte) Notarversicherungsgesetz v. 5. 1. 1938, BGBI. Nr. 2, das 1947 durch§ 1, Abs. 3 des SV-ÜG wieder in Kraft gesetzt wurde. Über die Situation der Notarversicherung in der nationalsozialistischen Ara (Notarkassa in München usw.) vgl. Lorenz Linseder (Hrsg.), Das Sozialversicherungs-überleitungsgesetz, 1948, S. 17 sowie Kurt Wagner (Hrsg.), Das Notarversicherungsgesetz, 1961, S. 3 ·ff. - s. ferner unten B/7, VI. 877 Lederer, Grundriß, S. 37, 439; Leopold Ehrenberger, Die land- und forstwirtschaftliche Sozialversicherung, SozSi 1951, S. 246 ff.; und jetzt Bruckmüller, Soziale Sicherheit im Nachziehverfahren, S. 67 ff. 678 Zusammengestellt bei Emanuel Adler, Das Angestellten- und Arbeiterrecht, 1930, S. 763 ff.; s. auch Kerber, Kranken- und Unfallversicherung, S. 213.

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Dienstgebers zum zeitlich begrenzten Verpflegungs- und Heilungskostenersatz sowie zur Lohnfortzahlung das Auskommen gefunden werden. Mit dem Gesetz vom 21. Oktober 1921, BGBL Nr. 581 (7. Novelle zum KVG) wurde sodann der Versuch einer Ausdehnung der Krankenversicherungspflicht auf die in der Land- und Forstwirtschaft berufsmäßig und unselbständig Beschäftigten unternommen, und zwar (bei Kleinbetrieben) unter Einbeziehung der Familienangehörigen des bäuerlichen Unternehmers. Vor allem wegen des letztgenannten Punktes erhob sich Widerstand in der bäuerlichen Bevölkerung, dem durch Befreiungsvorschriften R-echnung getragen wurde~179 • Da infolge § 42 des V-ÜG 1920 die Kompetenzbestimmungen des B-VG 1920 noch nicht in Kraft standen (vgl. oben B/5, 1), sondern vielmehr die gerade im vorliegenden Punkt höchst unklaren des Grundgesetzes über die Reichsvertretung vom 21. 12. 1867, RGBL Nr. 141, focht die Salzburger Landesregierung die 7. KVG-Novelle beim Verfassungsgerichtshof -mit Erfolg- an. In seinem Erkenntnis vom 27.Juni1924, G 2/24/10680, vertrat der Gerichtshof den Standpunkt, die Aufzählung der Reichsratskompetenzen in § 11 des Grundgesetzes sei eine taxative, weshalb das Sozialversicherungsrecht, das auch nicht der "Zivilrechtsgesetzgebung" zuzurechnen sei, unter die Landeskompetenzen falle. Nachdem der Verfassungsgerichtshof die höchst bedenklichen Folgen der gegenständlichen Gesetzesaufhebung bzw. des kompetenzmäßigen Schwebezustandes überhaupt in seinem Erkenntnis selbst für bedauerlich erklärt hatte, wurde in den Ländern (mit Ausnahme Salzburgs und Ob-erösterreichs) die 7. Novelle zum KVG teils als Landesgesetz übernommen, teils wurden neue Landesgesetze geschaffen. Schließlich traten aufgrund der V-