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German Pages 288 Year 2014
Anselm Böhmer Diskrete Differenzen
Pädagogik
Anselm Böhmer (Prof. Dr.) lehrt Wissenschaft Sozialer Arbeit an der Hochschule Ravensburg-Weingarten. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. Bildung, Armut, Inklusion, Subjektivität und sozialer Raum.
Anselm Böhmer
Diskrete Differenzen Experimente zur asubjektiven Bildungstheorie in einer selbstkritischen Moderne
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Inhalt
Prolegomena | 9
Forschungsfrage | 13 Strukturelles | 14 Methodisches | 20
I. BILDUNGSTHEORETISCHE FRAGEN DER M ODERNE | 25 1.1 Innen und Außen: Zur tradierten bildungstheoretischen Dichotomie von Subjektivität und Welt | 28
1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4
Rousseau | 30 Herder | 36 Schiller | 40 Humboldt | 45
1.2 Skeptische Aufklärung: Subjektivität als Dialektik | 52
II. SUBJEKTKRITISCHE ANFRAGEN AN DIE BILDUNGSTHEORIEN IN DER MODERNE |
65
2.1 Die Starrheit der eigenen Strukturen: Subjektkritische Aspekte des Begehrens | 65
2.1.1 Spiegelstadium | 67 2.1.2 Begehren | 74 2.1.3 Brüchiges und flüchtiges Ich | 78 2.2 Zwischenräume: Appellierende Dinge und antwortende Menschen | 82
2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5
Gestalt im Feld | 82 Leiblichkeit und Sozialität | 85 Zwischenleiblichkeit | 90 Responsivität | 96 Existenz im Verschwinden | 109
2.3 Analytische Perspektiven: Die Auflösung der Subjektivität in einer selbstkritischen Moderne | 115
2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.6 2.3.7 2.3.8 2.3.9
Bildung des Ich | 116 Menschliche Verflechtungen | 118 Feldstrukturen der Vernunft | 122 Soziale Milieus | 126 Sein und Denken | 132 Felder der Freiheit | 134 Dezentrierung | 136 Verschiedene Wahrheiten | 140 Wahrheiten an den Rändern | 143
III. ASUBJEKTIVITÄT NACH J AN P ATOýKA |
151
3.1 Das Erscheinen der Phänomene | 152
3.1.1 Das Erscheinen als geschichtliches | 153 3.1.2 Das Erscheinen im Handeln | 155 3.2 Das Erscheinungsfeld | 158 3.2.1 Die Wissenschaft vom Erscheinen als solchem | 159 3.2.2 Die phänomenologische Binnenperspektive | 163 3.2.3 Subjektivität als Engagement für „ die Sachen selbst“ | 166 3.2.4 Die Dynamik der Kraft | 171 3.2.5 Das Wechselspiel von Nichts und Etwas | 173 3.3 Subjektivität als Dezentrierung und Entzug | 3.3.1 Die Existenz geht dem Ich voraus | 175 3.3.2 Geflechte von Ich und Welt | 180 3.3.3 Brüchige Erscheinungen | 183 3.3.4 Zerklüftete Erfahrungen | 185 3.3.5 Die „Pädagogik der Wende“ | 187 3.3.6 Bildung durch Negativität | 192 3.3.7 Interesse an den Dingen | 193 3.3.8 Zurück in die Welt der Dinge | 195 3.4. Bildung als Zerrüttung von Subjektivität |
IV. E INE ASUBJEKTIVE REVISION DES BILDUNGSBEGRIFFS | 4.1 Asubjektive Kritik des Bildungsverständnisses |
4.1.1 Die Geburt des individualisierten und totalisierten Subjekts | 211 4.1.2 Anfragen an die Subjektivität des klassischen Bildungsverständnisses | 217 4.2 Asubjektive Kategorien | Gegebenheit | 226 Responsivität | 227 Gleichursprünglichkeit von Subjektivität und Phänomen | 227 Negativität | 228 Perspektivität | 229 Zeitliche Offenheit | 230 Dynamik der Existenz | 231 Das Erscheinen als solches | 232 Subjektivität – different und dezentriert | 233 Welt als ambivalente Erscheinungsstruktur | 234 Wende | 235 4.3 Asubjektive Bildung | 4.3.1 Perspektiven asubjektiver Bildung | 240 Bildung in der Lebenswelt | 240 Bildung als zeitlich individualisiertes Geschehen | 242 Bildung als Verortung | 243 Bildung als fragiler Selbstversuch | 245 Bildung als Differenzierung des Ich | 246 Bildung als Dezentrierung des Ich | 248 Bildung als Habitus von Diskretion und Solidarität | 250 4.3.2 Fragmente der Bildung einer entthronten Subjektivität | 252 4.3.2.1 Bildung im Modus des „Erscheinens als solchem“ | 253 4.3.2.2 Bildung im Modus der Erscheinungen“ | 255 Literatur |
Für Yvonne Dana-Sophie Marlia-Lena Debora-Louisa
Prolegomena Die vorliegende Studie fragt nach dem Bildungsbegriff unter den Bedingungen einer Moderne, die sich zunehmend über ihre eigene Rolle hinsichtlich der menschlichen Selbstverortung innerhalb eines Ganzen (sei dies Welt, Kultur, globalisierte Wirtschaft oder anderes mehr) unsicher geworden ist. Wie noch ausführlicher gezeigt werden soll, wird hier näherhin die ambivalente Struktur einer Epoche in den Blick genommen, die mit Vernunft die Welt zu verstehen und daraus erwachsend durch Technologie zu gestalten trachtet, dabei aber auch vernünftiger Einsicht zuwider laufende Konsequenzen zeitigt oder aber einseitige Entwicklungspfade einschlagen kann, die dem von Freiheit und Selbstbestimmung der Individuen geprägten Leitbild der Moderne zuwider laufen. Um die in dieser Untersuchung wünschenswerte semantische Klarheit zu gewährleisten, sollen folgende Begriffe für ihre Verwendung im Fortgang der Studie umrissen werden: Lernen verbalisiert hier den Prozess eines „kontinuierliche[n] Erwerb[s] von Wissen und Können“ (Nohl 2011, 911), Erziehung beschreibt das normativ-orientierende Verhalten der älteren Generation zur jüngeren, Bildung den Prozess der Auseinandersetzung von Menschen mit sich und dem ihnen Fremden angesichts der Welt sowie den sich daraus ergebenden Bildern von sich, dem Fremden und der Welt, Erziehungswissenschaft wiederum meint die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit reflexiven wie anwendungsbezogenen Fragen von Erziehung und Bildung befasst, Bildungstheorie umschreibt die Reflexionsform, die den Bildungsprozess zu erfassen sucht, Bildungsphilosophie schließlich ist eine Konkretisierung der Bildungstheorie mit den Mitteln philosophischer Analysen, im Rahmen der hier vorgelegten Studien nicht zuletzt in einem Ansatz von eher „dynamischen Systemen, die sich selbst organisieren“ (Waldenfels 2011, 20), statt einem starren Regelsystem der Erkenntnisbewirtschaftung zu folgen.
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Im Hinblick auf den Begriff der Moderne unterscheidet Helmer die darin enthaltene „Topoi“ von historischen Bezügen „zu den Alten“, den Ausdruck einer „Theorie der eigenen Zeit“ sowie die mit diesem Begriff einhergehende Zukunftsperspektive (vgl. Helmer 1994, 44).
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Herausgefordert sieht sich eine solche Untersuchung durch gleich mehrere Anfragen – die an die Moderne als Epoche der Aufklärung, der Emanzipation und des Fortschritts, die Anfrage an die Bildung als allzu gewisses Selbstverständnis der Menschen westlicher Kulturen sowie die Anfrage an die mit dem Bildungskonzept möglicherweise einhergehenden Folgen für die Selbstbilder und -gestaltungen der betroffenen Menschen. Die hier entfalteten Überlegungen verstehen sich demzufolge als bildungsphilosophischer Beitrag in dem Bemühen, die subjektiven und sozialen Ansatzpunkte, Prozesse und Konsequenzen von Bildung unter einer spezifischen Perspektive kritisch zu sichten. Insofern werden insbesondere aufklärerischer Denkformate eingesetzt, um die Tragweite der Aufklärung – als Haltung in der Moderne verstanden, nicht bloß als Epoche (vgl. Foucault 2007, 178) – zu untersuchen. Somit entsteht eine Selbstanwendung der Aufklärung auf die Aufklärung, um durch diese Einstellung eine Reflexivität der Darstellung zu gewinnen. Zu diesem Zweck versucht der hier vorgestellte Text einige voneinander verschiedene Anwege: Moderne als bildungstheoretisches Rahmenkonzept soll solcherart verstanden werden, dass sich damit ihr eigener Anspruch an die Möglichkeiten der Individuen (z.B. Emanzipation) wie an die strukturellen Formen von deren Vergesellschaftung (z.B. Demokratie, Sozialstaat) aufweisen lässt. Dabei sollen die entstehenden Wechselwirkungen individueller und gesellschaftlicher Momente beleuchtet werden (Kapitel I) und nach einigen der Folgen für die sich in diesem Rahmenkonzept Bildenden befragt werden (Kapitel II). In einem weiteren Schritt wird sodann die Auffassung Jan Patoþkas zu Subjektivität und ihren Voraussetzungen dargestellt (Kapitel III), um somit eine ebenso macht- wie erkenntniskritische Position einnehmen zu können. Diese doppelte Kritik an Machtstrukturen und Erkenntnisformen wird gerade deshalb gesucht, weil die leitende Hypothese der vorliegenden Arbeit dadurch gekennzeichnet ist, dass sich aus kollektiven Perspektiven und damit einhergehenden Hegemonien Konsequenzen für die Spielräume und Formen möglicher Bildung ergeben. Diese bildungstheoretischen Konsequenzen sollen abschließend dargestellt und ausgelotet werden, um Anhaltspunkte für ein selbstkritisches Bildungsverständnis zu gewinnen, die möglichst die Gelegenheiten von Bildung offenhalten, die Grenzen von Bildung benennen und einige Alternativen zu tradierten Bildungskonzepten skizzieren können (Kapitel IV).
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Die Auswahl der BezugsautorInnen und -quellen erfolgte unter der umschriebenen kritisch-erziehungswissenschaftlichen Auffassung von Bildung, die nach dem Verständnis der praktischen Voraussetzungen, Formen und Konsequenzen von Bildungsanstrengungen in der Moderne, d.h. nach der Reflexionsform praktischer Bildung fragt (vgl. auch die kritische Rekonstruktion der Modernisierung von Pädagogik in Binder/Boser 2011). Es zeigt sich, dass ein solches „praxeologisches“ Verständnis den „normalen Erfahrung der Sozialwelt“ (Bourdieu 1993, 49) zu entsprechen sucht. Ganz in diesem, an den faktischen sozialen Möglichkeiten und Grenzen ansetzenden Bildungsverständnis soll im Folgenden formuliert werden „eine ‚Theorie der Praxis‘, die die Beziehungen zwischen Strukturen und Subjekten thematisiert und die sich gleichzeitig, angesichts ihrer eigenen Teilhabe, selbst als ein Moment dieser Praxis thematisieren kann.“ (Liebau 2008, 357) Eine solche Verständnisform subjektiver ebenso wie gesellschaftlicher Momente und deren jeweiliger Verwicklung können allerdings keinem Anspruch auf vollständige, umfassende Abbildung einer einzigen Wirklichkeit genügen. Die Wirklichkeiten der Menschen, Sozialformen und ihrer wechselseitigen Prozesse sind wohl derart vereinzelt und unkalkulierbar, dass eine auf Absolutheit der Darstellung dringende Untersuchungsform sogleich scheitern müsste. Dass damit die Praxis menschlicher Bezüge nicht ebenso Abstand von unbedingten Positionen nimmt, ist bereits beschrieben worden (vgl. Ruhloff 2000). Dennoch ist der pädagogische Eingriff einerseits von seiner kritisch-differenzierenden Reflexion zu unterscheiden; andererseits bleibt die Frage, ob der „status eventualis“ (ebd. 117) nicht ebenso sehr das praktische Handeln prägt, jedoch dort mitunter nicht genauso offenkundig vor Augen tritt wie im diskursiven Erwägen praktischer pädagogischer Interaktionen. Gleichwohl ist vor dem Hintergrund einer brüchig gewordenen Selbstbegründung der Vernunft einer Position zuzustimmen, die für die Erziehung – hier: eine solche nach Auschwitz – forderte, „den Habitus des Tastens, des Suchens nach Erklärungen […] gegenüber fixen Antworten“ (Kunert 1997, 83) zu betonen. Diesem Anliegen einer nicht totalitären bil-
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Zur Subjektivität als gemeinhin selbstbewusster Individualität vgl. unlängst Frank 2012, 29 ff. Schrödter wird noch detaillierter, wenn er auf „IchBewusstsein, Handlungsintentionalität, Identität und Reflexivität“ (2011, 1586) als Kategorien von Subjektivität verweist.
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dungstheoretischen Reflexion sind auch die in diesem Band vorgelegten Analysen im Sinne einer Theorie sich fraglich gewordener Moderne verpflichtet. Daher bedienen sich diese der Form der Bricolage (vgl. Lévi-Strauss 1989, 29 ff.), um durch eine „ethnologische“ Perspektive auf verschiedene Diskurse (traditionelle Bildungstheorie, Phänomenologie, Subjektkritik u.v.m.) Verflechtungen aufzeigen zu können, die sich zwar nicht mehr im Sinne von Lévi-Strauss einer grundlegenden Struktur kultureller oder bildungstheoretischer Ordnungen zuschreiben ließe, die jedoch deutlich macht, an welchen Stellen des Bildungsdiskurses Ansatzstellen für eine Umstrukturierung der bisherigen Verständigungsformen möglich werden (vgl. dazu mit Blick auf Erziehungsaspekte Langer 2011 sowie hinsichtlich der Frage nach dem Subjekt Waldenfels 2008, 255 f.). Hierbei wird eine Perspektive der Aufklärung eingenommen, die verschiedene Stationen kulturgeschichtlicher Bildungssemantik aufnimmt (zu einigen semantischen Spielräumen des Bildungsbegriffs vgl. Schaarschmidt 1965 [erstmals bereits 1931] sowie Rahut 1965, ferner jüngst Prondczynsky 2009 und Witte 2010), freilich ohne sämtliche umfassend darstellen zu wollen (zur strukturellen Unvollkommenheit des erkennenden Subjektes vgl. Reichenbach 2001). Stattdessen soll durch die kritische Sichtung einiger Positionen schließlich ein Standpunkt gewonnen werden, der ebenso rational wie material, ebenso vernünftig wie praktisch werden kann, um den Hinweisen von materialistischen KritikerInnen (vgl. Bollenbeck 1994, 97 f.) des Kulturbegriffs sowie des dabei mitlaufenden Bildungsverständnisses Rechnung zu tragen und eine konstruktive Aufhebung dieser Antithese im „politischökonomischen Bewährungsfeld“ (ebd. 101) zu ermöglichen. Deshalb sind ebenso wenig „Nützlichkeit, Wohlfahrt und Glückseligkeit“ als Ziel einer Pädagogik der Aufklärung wie „Zweckfreiheit und Selbstkultivierung, der Individualität und Totalität“ als womöglich nicht hintergehbare Alternati ven anvisiert (ebd. 145; zur Konsequenz humanistisch argumentierender Bildungsdiskurse vgl. auch kritisch Ruhloff 1989, 32).
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Zur Genealogie moderner Individualität und deren anthropologischer Verweisstrukturen vgl. die Beiträge in Dülmen 2001 sowie 1998. Auf die besondere Bedeutung des Erasmus von Rotterdam für die Ausbildung moderner Formen des Individualismus bereits im 16. Jahrhundert macht Grünenberg 2006, 43 aufmerksam.
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Dass solche semantischen Zusammenhänge im Bildungsbegriff der Aufklärung jedoch nicht unhinterfragt, gar utopisch oder wissenschaftskritisch genutzt werden konnten (vgl. zur Verwendung des Bildungsbegriffs Tenorth 1997), wurde auch durch die epochalen Umbrüche des 20. Jahrhunderts eröffnet. Stellten bereits Horkheimer/Adorno (1997) unter dem erschütternden Eindruck des NS-Regimes und seiner Gräueltaten die Dialektik dieser Sichtweise heraus, betonten Autoren wie Baudrillard (z.B. 1982), Bourdieu (z.B. 2001, 1993, 1987), Deleuze/Guattari (z.B. 2005, 1981), Derrida (z.B. 1997), Gramsci (1991 ff.), Lyotard (z.B. 1999, 1989, 1988) oder auch Foucault (z.B. 2008, 1994a) auf jeweils unterschiedliche Weise die Beschränktheit der Spielräume einer individuellen Verstandesleistung für die Ausgestaltung individueller biografischer Prozesse. Für die erziehungswissenschaftlichen Debatten blieb dies nicht ohne Folgen, wie die im Folgenden vorgelegten Teilstudien deutlich machen sollen.
F ORSCHUNGSFRAGE Folglich lautet die hier bearbeitete Forschungsfrage: Wie ist Bildung als Subjektivierung kritisch zu verstehen – und wo zeigen sich die Grenzen des Subjektivitätsparadigmas? Im Sinne des zuvor dargestellten Bricolage-Konzeptes sollen zu dieser Frage ausgesuchte Autoren herangezogen werden. Dabei wird dem drohenden Eklektizismus dadurch Abhilfe geschaffen, dass die Auswahl der herangezogenen ebenso wie der nicht berücksichtigten Theoriebestände im Kontext der Forschungsfrage begründet wird. Deshalb fehlen ausführliche Rezeptionen bestimmter AutorInnen (z.B. Bourdieu, Deleuze, Derrida, Foucault, Levinas, Lyotard, Mouffe, Rorty, Vattimo). Die einen fehlen, weil sie die forschungsleitende Perspektive bereitstellen und nicht der Analyse unterzogen werden, sondern gewissermaßen die Rahmung dieser Analysen vermitteln sollen. Zu diesen zählen etwa Bourdieu oder auch Foucault, die das Unbehagen an der Moderne ebenso bereithalten wie sie den Bezug auf eben deren Vernunftauffassung leisten. Die anderen AutorInnen fehlen schlicht aus Gründen der inhaltlichen Begrenzung.
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STRUKTURELLES Mit Blick auf die skizzierten Entwicklungen versteht sich auch die vorliegende Arbeit als Antwortversuch auf die jüngeren geistes- und kulturgeschichtlichen Entwicklungen. Denn die Selbstverständigung der Allgemeinen Erziehungswissenschaft fußt auf den materiellen, historischen, sozialen, kulturellen und politischen Gegebenheiten ihrer Gegenwart, um durch Bezug auf deren Möglichkeiten und Grenzen die jeweiligen Vor- und Nachteile erzieherischen und bildenden Handelns zu beschreiben und zu begründen. Demzufolge ist die gegenwärtige Erziehungswissenschaft herausgefordert, sich über die Spielräume einer Vernunft zu verständigen, die sich ihrerseits selbstkritisch (vgl. Lyotard 1999, 1989; Lepenies 1996, 1996a) untersucht – und nicht zuletzt von Erfahrungen beeinflusst wird, welche die normierende Funktion kultureller und gesellschaftlicher Strukturen zu spüren bekommt (vgl. zur Doppeldeutigkeit von Reflexivität und Subjektivation Reckwitz 2010a, 16 f., Rieger-Ladich 2004; zu den Möglichkeiten eines nicht-normativen Bildungsbegriffs vgl. Ruhloff 2000). So wiederum lässt sich im Zuge der hier zu entwickelnden Analyse erzieherisches und bildendes Handeln in seinen materiellen, historischen, sozialen, kulturellen und politischen Zusammenhängen als begrenzt rational und solcherart aufklärbar ausweisen. Auch die Ambivalenz einer sich als selbstkritsch gebärdenden Haltung soll jedoch nicht unterschlagen werden. In diesem Sinne formuliert Lepenies: „,Selbstkritik‘ ist ein täuschendes Wort, dessen Bedeutungsfallen uns durch seine Karriere im kommunistischen Sprachgebrauch deutlich geworden sind. Die Vokabel klingt bescheiden, schlägt aber leicht ins Überhebliche um, sobald sich die Kritik nach außen abschottet und als ein Privileg des Selbst versteht. Die europäische Selbstkritik hat etwas Selbstgefälliges an sich, denn stets bestimmte Europa allein die Grenzen seiner Wirksamkeit, die Europäer selbst legten fest, wie weit sie die Europäisierung der Welt treiben wollten. Gerade weil sie sich – bei aller Rhetorik der Selbstzerknirschung – gegenüber außereuropäischer Kritik weitgehend immunisierten, sind die europäischen Gesellschaften Belehrungskulturen geblieben. Ihre Zukunft wird nicht zuletzt von ihrer Fähigkeit und ihrer Bereitschaft abhängen, zu Lernkulturen zu werden.“ (Lepenies 1996, 55)
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Daher ist keine irrationale Sichtweise angezielt, die womöglich als allein aussagefähige dargestellt werden sollte, vielmehr sollen mit Hilfe der rationalen Reflexion einige ihrer Grenzen gesucht (vgl. auch Schnädelbach 1987, 72 f.) und deren Verlauf sodann für die Theorie der Bildung, genauer: für deren Reichweite und mögliche Arrangements, ausgewertet werden. Eine in diesem Sinne selbstkritische Moderne ist somit darauf verwiesen, die Prozessstruktur aufgeklärten Denkens wiederzugeben: „In diesem Sinne ist ‚Aufklärung‘ eine Revolution des Lernens, das sich auf offene Erfahrungen einstellen muß und nicht länger für abstrakte Gewissheiten kalminiert werden kann.“ (Oelkers 1992, 14; vgl. ebenso, wenn auch in kritischer Absetzung der Lesart von Aufklärung als Synonym für Pädagogik, Tenorth 1999, insbes. 134 ff.)
In diesem Zusammenhang erfahren gerade die Möglichkeiten „didaktischer Steuerung“ (Oelkers 1992, 14) des Lernens besondere Aufmerksamkeit, als sie die rational ausgewiesene Prozessstruktur abzubilden versuchen (zur Individualität im Kontext der Moderne – und damit des modernen Lern- und Bildungsverständnisses – vgl. van Dülmen 1997, 131 ff.). Zugleich kommen die selbstkritischen Aspekte der Aufklärung zum Tragen, sofern materiell, historisch, sozial, kulturell und politisch bedingte Konkretisierungen der Handlungsfreiheit Berücksichtigung finden können. Auf diese Weise können in der vorliegenden Schrift einige Chancen ebenso wie manche Grenzen der Moderne für die Erziehungswissenschaft dargestellt, interne Brüche aufgespürt und als Konsequenz ein Beitrag zum Selbstverständnis des modernen bildungstheoretischen Denkens formuliert werden. Dabei wird indes nicht erwartet, dass eine kritische Haltung wiederum zu einer „selbstverantwortliche[n] Identität“ (Gaugl/Zierer 2007, 202) führen könnte. Keine Rückkehr in die Autonomie der Einzelnen ist die Maßgabe dieser Untersuchung, sondern vielmehr eine Distanzierung von allzu selbstverständlich formulierten Zumutungen einer Einordnung in gegebene Normativitäten, so dass eine „reflektierte Unfügsamkeit“ (Foucault 1992, 15) zumindest die leichtfertige Affirmation des Bestehenden erschwert. Eine mögliche Verengung modernen Denkens wird gerade darin kenntlich, dass solche Denkversuche ihre normativen Beschränkungen darstellen
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und zugleich deutlich wird, inwiefern die darin nicht gelösten Konflikte zwischen dem, was ist, und dem, was bildungstheoretisch werden soll, nicht aufgelöst, sondern vielmehr transformiert und daher auf anderer Ebene fortgesetzt wurden (vgl. bereits Ballauf 1966, 233 ff. sowie Wimmer 1994, 114 f., jüngst Nohl 2011). Es wird deutlich: Bildungstheoretisches Denken denkt über sich nach – ohne damit den Anspruch auf völlige reflexive Selbstüberschreitung zu erheben. Auch die Fragen nach Kategorien menschlichen Erkennens oder auch den Möglichkeiten und Formen von Freiheit (Kant) sollen nicht widerspruchslos zum zentralen Punkt des Fragens erhoben werden – gerade um im Zuge dessen nicht „dem CartesischKantischen Subjektivitätsbegriff mit seiner Amalgamierung von Subjektivität, Ratio, Wissenschaft und Herrschaft“ (Herkert 1987, 9) das Wort zu reden. Denn im Verlauf einer selbstkritisch werdenden Moderne werden die Zusammenhänge von „Subjektivität, Ratio, Wissenschaft und Herrschaft“ zunehmend problematisch, da der Mensch sich als denkendes Subjekt aus den Bezügen zur Welt herauszuziehen trachtete, wie noch zu zeigen ist. Zurück blieb eine Vernunft, die sich klar strukturiert sieht und befreit von materiellen, historischen, sozialen, kulturellen und politischen Maßgaben – jedoch verlässliche Erkenntnis zusehends nur noch in sich selbst zu finden vermochte. Menschen oder auch Dinge in der Welt, letztlich die Welt selbst finden für die Herausbildung moderner Subjektivität immer weniger Beachtung. In dieser paradoxen Situation einer Aufklärung, die sich den klaren Blick auf die Welt verstellt, setzt der hier geschilderte Prozess der Selbstkritik bildungstheoretischer Vernunft an, um die Suche nach Alternativen einzuleiten. Die Suche nach solchen Alternativen scheint gerade deshalb geboten, weil eine an der Vernunft orientierte Bildungstheorie sich dieser Vernunft offenkundig nicht mehr sicher sein kann: Deren Struktur, Reichweite, insbesondere aber auch gesellschaftliche Wirkungen sind durch die Untersuchungen „postmoderner“ AutorInnen auf eine Weise in die Kritik geraten, dass ein vernünftiger Umgang der Vernunft mit sich selbst gerade auch deren verlorenen Ort in der Welt thematisieren und zu revidieren trachten muss. Insofern soll im Rahmen dieser Gesamtstudie eine Alternative zu einer sich transzendental auf sich selbst beziehenden Vernunft gesucht werden. Gleichwohl ist die Transzendentalität der Aufklärungsphilosophie kein außergewöhnlicher Kritikpunkt, da sie den Übergang, den transcensus aus
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den Verhaftungen mit der Welt wagt; dies tun – mit ebenso guten Gründen – auch spätmoderne Ansätze wie diejenigen von Martin Heidegger, Eugen Fink oder Jan Patoþka, um die Leistungsfähigkeit der Vernunft auszuloten. Zu kritisieren ist vielmehr, dass das modern aufgeklärte Denken dabei nirgends anders anzukommen weiß als bei sich selbst. So argumentiert selbst Fichte – trotz aller Kritik an der Transzendentalphilosophie Kants – von einem solcherart „höhern Gesichtspunkte aus“ (Fichte 1975, 21; zur diesbezüglichen Differenz von Fichte und Humboldt vgl. Benner 2003, 93), da er die Setzung des Objekts durch das Ich zu erkennen trachtet. Solche denkerischen Überstiege jedoch haben mindestens drei problematische Konsequenzen: 1.
2.
3.
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Das Subjekt wird herausgelöst aus den unterschiedlichen Bezügen mit der Dingwelt. Als vernünftiges „Zentrum der Welt“ aber übernimmt es sich an seinem eigenen Anspruch, wie die bereits angeführten Überlegungen auf je unterschiedliche Weise angedeutet haben. Die Frage nach der Aufklärung des Menschen verdeckt die Frage nach der rationalen Selbstverständigung und -ordnung der Menschen (vgl. etwa Gößling 2004, 979). Aufklärung kann daher nicht allein als Projekt des Individuums angesehen werden, wenn sie in ihrer gesamten Tragweite ausgelotet werden soll. Vielmehr müssen genauso die materiellen, historischen, sozialen, kulturellen und politischen Voraussetzungen der Aufklärung berücksichtigt werden, um zu einer umfassenderen Einschätzung des Bildungsbegriffs der Moderne zu gelangen. Mittels vernünftiger Kritik der eigenen Vernunft wird mitunter ein Überblick über sich selbst angezielt, der sich nicht selten als eine Kritik an der Metaphysik äußert, die „hinter der Welt“ Entitäten, Strukturen und Ordnungen annimmt. Eine solche Metaphysikkritik vermag dann lediglich die Grenzen der Vernunft abzuschreiten, um durch diese kritische Sichtung der Urteilskraft deren Reichweite wie Tragfähigkeit zu beschreiben. Wo aber ein solcher Überstieg ankommt, kann sich
„Die zeitliche Unsterblichkeit der Seele des Menschen, das heißt also ihr ewiges Fortleben auch nach dem Tode, ist nicht nur auf keine Weise verbürgt, sondern vor allem leistet diese Annahme gar nicht das, was man immer mit ihr erreichen wollte. Wird denn dadurch ein Rätsel gelöst, dass ich ewig fortlebe? Ist denn dieses ewige Leben dann nicht ebenso rätselhaft wie das gegenwärtige? Die Lö-
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bestenfalls phänomenologisch schildern und vernunftkritisch abgrenzen lassen. In einer solchen Weise sind denn auch die „Formen sinnlicher Anschauung“ (Kant KrV B 36, A 22) sowie die Kategorien im Erkenntnisprozess (vgl. ebd. B 106, A 80) zu interpretieren. Allerdings bekommen diese Konzepte nunmehr lediglich eingeschränkten Spielraum, da die selbstkritische Vernunft nur noch darlegen kann, in welchen Bereichen des Denkens sie wirken. Das Ergebnis solcher Untersuchungen könnte demzufolge entweder ein Areal unterschiedlichster Selbstbilder und -erfahrungen sein – oder aber das wittgensteinsche Schweigen von dem, „wovon man nicht sprechen kann“ (Wittgenstein 2004, Nr. 7). Diese Alternative der Ausrichtung bildungstheoretischer Vernunft bedarf der weiteren argumentativen Aufklärung, um sich dem Anspruch der Moderne stellen zu können, sich des ‚eigenen Verstandes zu bedienen‘. Ein solches Denken soll im Folgenden die Darstellung prägen, gerade weil so deutlich wird, welchen Beschränkungen sich dieses Denken ausgesetzt sieht. Weiter zu berücksichtigen ist hinsichtlich der Frage nach der sich selbst erhellen wollenden Vernunft: „Aufklärung ist totalitär.“ (Horkheimer/Adorno 1997, 22) Mit der vorliegenden Studie ist jedoch eine nicht-totalitäre Einsicht als „bildungstheoretische Aufklärung der Aufklärung“ anvisiert. Statt die Welt aufklärend durchschauen zu wollen und sich solcherart ihrer Vielschichtigkeit und teilweisen Undurchschaubarkeit zu entledigen, soll hier aufklärend darüber nachgedacht werden, wie die Welt als „das Andere im Denken“ zugleich auf das Verständnis von Menschsein rückwirkt. Damit ist der Prozess der Aufklärung gerade nicht „von vornherein entschieden“ (ebd. 41), sondern stellt sich mit dem kantisch angeführten „Sapere aude!“ des Horaz (vgl. Kant 1998 VI, 53) dem Wagnis mit ungewissem Ausgang, die eigenen Fähigkeiten an sich selbst so lange zu erproben, bis sich Scheitern einstellt oder potentielle Übergänge zwischen Denken und Welt auftun. Insofern kann die selbstkritisch agierende Vernunft sich ihrer Reichweite und Möglichkeiten versichern, ohne in ein zirkuläres Dilemma der Vernünftigkeit einer Vernunftkritik zu verfallen, wie dies den herangezogenen Gewährsleuten für die Reflexion auf eine beschränkte Rationalität mitunter
sung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit.“ (Wittgenstein 2004, Nr. 6.4312).
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vorgehalten wurde (vgl. Habermas 1993 sowie daran anschließend Rühling 2002, 246 f.). Die vorliegende Studie zielt also nicht darauf ab, im herkömmlichen Sinne eine einmal formulierte Arbeitshypothese zu validieren oder durch eine revidierte zu ersetzen. Vielmehr nutzt sie die Mischung unterschiedlicher Argumente, um sie auf ihre wechselseitige Belastbarkeit hin zu überprüfen und etwaige Problemfelder abzustecken. Durch die selbstkritische Einstellung der sich fraglich gewordenen Moderne entsteht auch für die vorliegende Untersuchung ein Fragen nach dem Fragen, ein Bedenken des Denkens und nicht selten ein scheiterndes Suchen nach Antworten. Damit kann der Mensch nicht mehr der hoheitliche Agent des reinen Geistes oder auch bloß der pragmatischen Einsicht in das Günstigere sein, sondern wird der ‚unsichere Kandidat‘ offener Wechselspiele mit der ihn umgebenden Welt (vgl. Adorno 1997 VI, 187). Kern (2003) macht deutlich, dass die von Adorno angesetzte Aporie zwischen Erfahrung eines Objekts und begrifflichem Beschreiben dessen nicht zwingend sein muss; vielmehr sei denkmöglich eine „Kategorie einer vernünftigen Fähigkeit, durch sinnliche Erfahrung zu erkennen, wie die Dinge sind“ (ebd. 81). Auf diese Weise sind subjektive Leistung als begriffliches Beschreiben und objektive Widerständigkeit als Grundanliegen der „Negativen Dialektik“ miteinander vermittelt. Diese begrenzte und sich ihrer Begrenztheit bewusst gewordene Selbstdeutung der Menschen in der Form der Subjektivität kann das Aufgabenspektrum der Aufklärung wahrnehmen: „Das Projekt der Aufklärung […] braucht bewußte, selbstbewußte Subjekte, denn wer sollte es sonst vorantreiben?“ (Schnädelbach 2000, 206)
Freilich werden keine erschöpfenden, systematisch ausgestalteten und generell wie überzeitlich gültigen Strukturen zum Vorschein kommen können. Bildungstheoretische Vernunft als Projekt der selbstkritischen Moderne wird sich bescheidener ausnehmen müssen, wenn sie mit ihrem eigenen Ansatz beschränkter Selbstverständigung ernst machen möchte.
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METHODISCHES Rene Descartes war im 17. Jahrhundert bestrebt, durch die Festlegung methodischer Wege eine klare und bestimmte Erkenntnis sicherzustellen. Wurden die bisherigen metaphysischen Ordnungen zugunsten subjektiv gültiger (vgl. Descartes 1990) aufgegeben, so liegt es nahe, die entstehende Unsicherheit aufgrund fehlender „ewiger Maßstäbe“ dadurch anzugehen, dass subjektiv gestaltete Verfahren vereinheitlicht werden (vgl. auch Welsch 2012; Schäfer/Thompson 2010, 150). Sind die Maßstäbe nicht mehr außerhalb der Subjekte zu finden, werden sie in deren Inneres gesucht. Statt der Verfahren überindividueller Ordnung entsteht infolgedessen eine Ordnung über individuelle Verfahren. Für die Gegenwart gilt, dass die von Descartes eingeleitete Selbstabsicherung der Vernunft nicht mehr ohne weiteres akzeptiert wird. „Man gewinnt [vielmehr; Anm. A.B.] den Eindruck: Der gefeierte Vater der Aufklärung ist zum Dämon ihrer Dialektik geworden, und seine Imago nimmt die Moderne zum Anlaß, mit der Neuzeit und damit mit sich selbst abzurechnen. Der Zeitgeist ist antiCartesianisch […].“ (Schnädelbach 2000, 186)
Durch das Offenkundigwerden der „Kehrseite“ der Vernunft, ihre Tendenz zur Verallgemeinerung des Einzelnen etwa (vgl. Adorno 1997 VI), ihre instrumentelle Unterwerfung von Menschen und Dingen (vgl. Horkheimer/Adorno 1997) und manches mehr wird insbesondere fraglich, wie sich noch eine Ordnung unter den Maßgaben der Vernunft rechtfertigen lässt. Die Selbstkritik der Vernunft wird auf den Plan gerufen und prägt die ge samte, mit ihr aufgekommene Epoche. Die Moderne wird selbstkritisch.
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Es ist unbestritten, dass auch vorherige Phasen des der Aufklärung verpflichteten Denkens Selbstkritik geübt haben; nicht ohne Grund sind etwa die „Kritiken“ Kants in dieser Weise betitelt. Gleichwohl soll an dieser Stelle die These vertreten werden, dass sich in der „selbstkritisch“ gewordenen Moderne diese Kritik nicht allein auf bestimmte Formate der Vernunft, sondern auf deren Praxis ebenso wie auf die sich ergebenden materiellen, historischen, sozialen, kulturellen und politischen Gegebenheiten bezieht.
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Dieser Hinweis motiviert mit Blick auf die methodischen Schrittfolgen der vorliegenden Untersuchung, im Ringen um „den Menschen“ und das Verstehen seiner Bildung differenziert vorzugehen. Somit gilt: „Rationalität selbst wird in steigendem Maße more mathematico dem Vermögen der Quantifizierung gleichgesetzt. So genau das dem Primat der triumphierenden Naturwissenschaft Rechnung trägt, so wenig liegt es im Begriff der ratio an sich. Verblendet ist sie nicht zuletzt darin, daß sie gegen die qualitativen Momente als ein seinerseits vernünftig zu Denkendes sich sperrt. Ratio ist nicht bloß ıȣȞĮȖȦȖȒ, Aufstieg von den zerstreuten Erscheinungen zu ihrem Gattungsbegriff. Ebenso fordert sie die Fähigkeit des Unterscheidens.“ (Adorno 1997 VI, 53; verweist auf Ed. Zeller)
Möchte eine Untersuchung daher im Sinne dieser Unterscheidung die „zerstreuten Erscheinungen“ nicht bloß rational vereinheitlichen, sondern nachgerade in ihren Besonderheiten zum Tragen kommen lassen, so muss sie die Lücken der Vernunft ebenso wie die Hürden des leiblichen Zugangs zum Anderen sowie im menschlichen Umgang mit den Dingen diskursiv abschreiten und deren „tote Winkel“ (Waldenfels) markieren. Erst damit nämlich kann sich die Vernunft ihrer Aussagekraft versichern und ihre Aussagen für die Besonderheiten der „zerstreuten Erscheinungen“ rational rechtfertigen. Dies wiederum hat Konsequenzen für das methodische Vorgehen. Unterscheidung wird von Adorno in seinem angeführten dictum gefordert. Differenzierung nämlich zwischen der ‚Sache‘ angemessenen und weniger geeigneten, weil etwa lediglich Uneinheitliches vereinheitlichender Verfahren. Die hier zur Diskussion stehende ‚Sache‘ ist die Frage nach dem Bildungsbegriff. Bildung als Prozess der Selbstbestimmung von Menschen innerhalb ihrer materiell, historisch, sozial, kulturell und politisch geprägten Verhältnisse kann jedoch aufgrund ihrer Vielschichtigkeit, Individualität und Begrenztheit nicht allein mit quantifizierenden Methoden („more mathematico“) untersucht werden, sondern bedarf ebenso sehr der qualifizierenden Verfahren, mit deren Hilfe verschiedene Formate des Bildungsprozesses von Menschen eingeschätzt werden können. Dadurch hat eine die erscheinenden Dinge schildernde, dementsprechend phänomenologische Darstellung menschlicher Praktiken nicht allein die Aufgabe, die relevanten „Sachen“ auszumachen und in den Blick zu nehmen. Vielmehr muss eine solche Untersuchung zugleich die Ambiguität
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dieses eigenen Blicks gewärtigen. Was sich dem Blick auf die Erfahrung zeigt, zeigt sich jeweils einem Okular, dessen Einstellung zwischen Präzision und Trübung schwankt – und nach modernen Vorgaben schwanken muss, wenn eben auch dem leiblichen Anspruch auf Zusammenhang mit dem Erfahrenen und dessen kontingenten Folgen entsprochen wird. In rationaler Perspektive bleibt der Leib als das Andere der Vernunft im Menschen stets ‚Stein des Anstoßes‘ für den Anspruch auf Transparenz. Insofern obliegt der vorliegenden Schrift die Aufgabe, unter der gegebenen Perspektive relevante Aussagen zur allgemeinen Struktur von Bildung im Hinblick auf Genese, subjektive Anteile und Ergebnisse des Prozesses zu formulieren. Aufgrund dieses Blickwinkels soll die Untersuchung davon frei gehalten werden, etwaige Einzelheiten um ihrer selbst willen zu schildern, um dann an ihnen das Besondere des Gesonderten darlegen zu können. Es sollen keine idiografischen Darstellungen vorgelegt (Windelband, Rickert), keine hermeneutischen Einzel-Schilderungen mit dem erkenntnisleitenden Interesse des Verstehens erarbeitet (Dilthey) und erst recht keine Wesensschau des im Untergrund eines Phänomens gegebenen Allgemeinen (der frühe Husserl) erwirkt werden. Vielmehr sollen Phänomene geschildert und problematisiert werden, um an ihnen Aspekte der Dynamiken von Bildung ablesen zu können. Dabei kann zugleich dasjenige diskursiv umschrieben werden, was sich als das nicht Sagbare, weil dem Denken Entzogene erweist. Die folgenden Untersuchungen möchten sich also nicht ‚des Nichtbegrifflichen im Begriff versichern‘ (vgl. Adorno 1997 VI, 23), sondern mit Hilfe der Begriffe auch einige Aspekte der Trennlinien dartun, an denen sich der Entzug des im geschilderten Sinne ‚Unsichtbaren‘ jeweils abspielt. In diesem Zusammenhang kann auf die Pluralität der Rationalitäten wie Lebenswelten verwiesen werden, die erfordern, einzelne Phänomene um ihrer selbst willen zu schildern und gerade am Exempel einen Begriff für die Dynamik zu gewinnen, die sich zwischen Menschen und Dingen abspielt. Solche Pluralität zeugt demzufolge nicht von der womöglich problematischen Auflösung gesellschaftlichen Einklangs, auf die eine Logik der Pluralität die angemessen verklammernde Antwort zu geben hätte. Stattdessen soll damit einer Sozialität Rechnung getragen werden, die „ausschließlich durch Differenzen strukturiert [ist], die als und in Relationen praktiziert (!) werden und so ein ‚Zwischen‘ allererst konstituieren“ (Masschelein/Ricken 2002, 104, Anm. 11; Hervorh. durch die Autoren).
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Gerade indem diese vorgenannten Bruchlinien der subjektivierten Vernunft auch in der vorliegenden Schrift aufgenommen werden, kann darin die Frage nach einem Erkennen vor aller Subjektivierung zur Sprache kommen: Wie verfahren Menschen mit den Dingen, welchen Reiz üben Dinge auf die Menschen aus und welche Einsichten lassen sich durch die Untersuchung dieser Wechselspiele für menschliches Verstehen, für das Lernen dieses Verstehens und für dessen bildungsspezifische Konsequenzen gewinnen? Daraus resultiert: Wie können Menschen anhand ihrer Bezüge zu Anderen und Anderem ihr Selbst- und Weltbild entwickeln, gestalten und kommunizieren? Somit wird unter methodologischer Hinsicht deutlich, dass die konsequente Fortführung der Kritik von Vernunft zu bildungstheoretischen Grundfragen führt. Diese Fragen treten nicht erst mit der Aufklärung, nun aber an deren Scheidepunkt von in sich verstrickter Selbst-Analyse und undurchsichtiger Verflechtungen innerhalb der Welt mit einigem Nachdruck zu Tage. Zusammenfassend gilt: Mit den vorgelegten Überlegungen sollen ein Umschreiben, gelegentliches Erproben und Scheitern des identifizierenden Denkens versucht sowie ein Ausblick auf alternative Formate bildungstheoretischer Rationalität gewagt werden. Maßstab für das hier angewandte, auf Phänomene bezogene Denken des Erscheinenden wie Entzogenen ist die situierte Beschreibung, die sich aller Versuchung, in bloßen Alternativen zu denken statt verschiedene Eingänge der Philosophie zu wählen, so weit als möglich zu enthalten trachtet. Somit ergeben sich auch entsprechende Verhältnisbestimmungen für das methodologische Wechselspiel von Philosophie und Pädagogik: Philosophie – an dieser Stelle insbesondere: Phäno menologie – angesichts pädagogischer Fragestellungen wird in der vorgelegten Untersuchung in zweierlei Hinsicht zur Anwendung gebracht. Zum einen gilt es, die Phänomene zu schildern und sich in möglichst Phänomennahen Beschreibungen den „Sachen selbst“ anzunähern. Phänomenologie als Arbeitsphilosophie bedeutet folglich zunächst das Beschreiben des im
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Die hier gewählte Version der Phänomenologie ist diejenige, die sich auf die transzendental-phänomenologischen Entwürfe Edmund Husserls bezieht. Diese Einschränkung ist der Tatsache geschuldet, dass die Phänomenologie Jan Patoþkas, der im Folgenden besondere Bedeutung zugesprochen werden soll, sich insbesondere auf dieses Format konzentriert (vgl. diesbezüglich auch Rabanus 2010 und Novotný 2010).
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bildungsspezifischen Handeln Wahrnehmbaren. Zum anderen wird es darum gehen, nach den sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Selbstund Weltverstehen der Menschen zu fragen. Dergestalt bedeutet Phänomenologie zu praktizieren, nach den materiell, historisch, sozial, kulturell und politisch gewachsenen Deutungsmustern der Menschen zu suchen, sie mit den Phänomen-nahen Beschreibungen in Beziehung zu setzen und schließlich zu einer begründet formulierten Auffassung menschlicher Selbstdeutungen zu finden. Dies eröffnet die Möglichkeit, zu nachvollziehbaren Selbstverortungen erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung und bildungsspezifischen Perspektiven für die Praxis der Menschen zu gelangen. Aufgrund seines Umganges mit sich, den Anderen und den Dingen aus der sicheren Distanz des identifizierenden Denkens wird nicht selten die Chance vergeben, die vermeintliche Alternative von Subjekt und Objekt zugunsten näherer und vielgestaltiger Umgangsweisen zu verlassen. Dabei scheint der „Terror der Identifizierung, Instrumentalisierung oder Teleologisierung“ (Naumann-Beyer 1993, 90) noch immer wirkmächtig. Erst die offene Haltung der Menschen gegenüber dem Eigensinn der Dinge eröffnet den Ausweg aus der aufklärerischen Selbstverfangenheit zugunsten der inspirierenden und zum Handeln motivierenden Verwobenheit mit dem, was sich hier und jetzt zeigt. Dies darzulegen, im Rahmen des Möglichen rational zu rechtfertigen und für einen dann asubjektiv formierten Bildungsbe griff zu entfalten, ist die Aufgabe der vorgelegten Untersuchungen.
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Auch damit wird deutlich, dass der im weiteren Verlauf zur Anwendung gelangende Begriff der Asubjektivität bildungstheoretisch in mindestens dreifacher Weise Verwendung finden kann: als systematischer Begriff, als Modus von Kritik sowie als Beschreibung des Bildungsgeschehens. Alle drei Kategorien gelangen in den hier vorgelegten Studien zur Anwendung.
I. Bildungstheoretische Fragen der Moderne „Ich glaube zu sehr an die Wahrheit, um nicht zu unterstellen, dass es verschiedene Wahrheiten und verschiedene Weisen, sie zu sagen, gibt.“ FOUCAULT 2007, 284
Der Begriff der Bildung ist von einer vielschichtigen und von zahlreichen Höhen und Tiefen bestimmten Geschichte geprägt. Eine intensivierte Nutzung dieses Begriffes lässt sich im deutschsprachigen Raum seit dem 18. Jahrhundert feststellen, seine Wurzeln aber reichen durchaus bis in die vormodernen Epochen zurück (vgl. dazu paradigmatisch Benner/Brüggen 2004, Binder 2009, Klafki 2007, Koller 1999, Ricken 2006, Witte 2010 sowie jüngst die Disputation von Stojanov 2012, Tenorth 2011 und 2012). Bildung wird in ihrer Grundstruktur zumeist als der – wenngleich durchaus problematische (vgl. Benner/Brüggen 2004, 174) – Versuch der Individuen verstanden, als Ergebnis von rational formierten Lern- und Erziehungsprozessen eine eigene biografische Gestalt mitsamt ihren jeweiligen praktischen, moralischen und habituellen Dispositionen zu suchen, um auf materielle, historische, soziale, kulturelle und politische Bedingungen ihrer Existenz zu antworten. Das Bemühen um Selbstgestaltung der sich bildenden Menschen äußert sich etwa in Phänomenen wie Sprache, leiblichem Ausdruck, ästhetischen Vorlieben und vielem mehr. Gerade darin zeigt sich, inwiefern und auf welche Weise Menschen auf die Bedingungen ihrer Existenz antworten – und inwiefern sie auf bestimmte Antworten festgelegt sind. Insofern soll im
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Folgenden in Anlehnung an Merleau-Ponty (1986, 184) eine Bildungstheorie des Sichtbaren erarbeitet werden, die nach dem Ausschau hält, welche Formen und Bezüge die menschliche Selbstdeutung von alltäglichen Lebensprozessen in der Moderne gewinnt. Konkret soll angeleitet durch eine Philosophie der Aufklärung untersucht werden, wie Menschen sich selbst entwerfen, inwieweit sie daraus zumindest mittelbar Ableitungen für die Bildung formulieren und wie sich die somit ergebenden Antworten zeigen. Dabei sollen insbesondere auch jene Tendenzen zu Wort kommen, die sich kritisch auf den modernen Entwurf von Bildung beziehen (vgl. Böhmer 2012), um auf diese Weise nicht allein eine Beschreibung moderner Verständnisformen zu leisten, sondern zugleich dessen Revidierung im Rahmen der anschließenden Kapitel zu ermöglichen. Gleichwohl legen bereits die Einleitungsüberlegungen nahe, dass das Sichtbare in seinen eigenen Möglichkeiten und Bedingungen als Zugangsweise zur Wirklichkeit zu untersuchen ist. Zwar ist das Denken der Neuzeit mit dem Leitspruch einer „clara et distincta perceptio“ (Descartes; lat.: klare und deutliche Wahrnehmung) angetreten und bringt damit die solcherart interpretierte Stellung des Menschen innerhalb der natürlichen wie der sozialen Rahmenordnungen zum Ausdruck. Doch auch Sperriges und sich Verweigerndes betrifft die Wahrnehmung des Sichtbaren, wenn es auch zumeist als Störfaktor oder irritierende Herausforderung erfahren wird. Indes ist gerade mit einer Bildungstheorie, die nach dem Sichtbaren fragt, auch selbstkritisch danach Ausschau zu halten, was das ‚Andere ihrer selbst‘ ist, was sich verbirgt und möglicherweise gerade als Unsichtbares der Hintergrund von Sichtbarem sein könnte (zur Dialektik von Anerkennung und Ausgrenzung des Anderen als Fremden vgl. unter kultursoziologischer Hinsicht Lepenies 1996, 59).8 Anstelle einer Ausschlussgeste hinsichtlich des vermeintlich Irrationalen – oder, wie sich noch zeigen soll, auch des Asubjektiven – soll mit der Zugangsweise einer Bildungstheorie des Sichtbaren nach dem gefragt werden, was sich nicht zeigt und gerade darin das Sichtbare von Menschen und Dingen zum Erscheinen bringt (vgl. Blecha 1995, 80). Dies können Momente des Entzugs sein, in denen etwas vermisst wird, das sich doch „eigentlich“ auch zeigen müsste – etwa der frei geblieben Stuhl in einer
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Zur semantischen Schnittmenge von Anderem und Fremdem vgl. bereits Masschelein/Wimmer 1996 sowie Böhmer 2013a.
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Schulklasse, der deutlich macht, dass eine besonders aktive Schülerin heute nicht anwesend ist, wodurch sich eine andere als die übliche Dynamik des Unterrichtsgeschehens einstellt. Es können ferner Aspekte der Negativität wie Nicht-Wissen, Nicht-Verstehen oder auch Nicht-Können sein, die beispielsweise als Irritationen des bislang Selbstverständlichen im Lernprozess auftreten (vgl. Benner 2008, 2005, 2003a; Koch 2005, 1995). Schließlich lassen sich auch Schwellenerfahrung von noch nicht Erscheinendem anführen, die sich erst allmählich der Erfahrung darbieten – etwa das Stimmengewirr, aus dem sich aber alsbald die vertraute Stimme eines bekannten Menschen herausschält. In diesen Zusammenhängen kann das, was sich nicht zeigt, bestenfalls von dem abgeleitet werden, was sich zu erkennen gibt. Umgekehrt kann das, was nicht unmittelbar kenntlich wird, entscheidend daran Anteil haben, was sich auf welche Weise zeigt und Wirkung entfaltet. Daraus resultiert für die vorliegenden Untersuchung die Notwendigkeit Phänomen-naher Argumentationen ebenso wie die Bezugnahme auf einige der überlieferten oder auch der jüngeren Bestände der Bildungsphilosophie, um die hier vorgelegten Ansätze für den Fall begründen zu können, dass gegebenenfalls „das nicht Passende“ herangezogen wird. Maßstab für ein solches Vorgehen ist jeweils die wechselseitige Bezugnahme von Erfahrung und Denken, um den Vernunftgebrauch kritisch anhand der erfahrbaren Phänomene qualifizieren und eventuell in seine Grenzen einordnen zu können. Damit muss sich die im Folgenden betätigte bildungstheoretische Vernunft nicht allein rational – und insofern quasi an sich selbst – ausweisen, sondern zudem vor dem Forum kritischer Erfahrung, das Phänomene mitunter gerade dann zur Prüfung theoretischer Argumente heranzieht, wenn sie zunächst deplatziert, weil sperrig oder befremdlich erscheinen. Die nun folgenden Untersuchungen prägen daher die Analysen solcher Phänomene, nicht aber zwingend deren harmonisierende Eingliederung in ein rationales System, sondern sehr viel mehr die bereits angesprochene Bricolage der Perspektiven, das Wechselspiel von bislang nicht umfänglich aufeinander bezogenen Blickwinkeln.
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1.1 INNEN UND AUßEN: ZUR TRADIERTEN BILDUNGSTHEORETISCHEN DICHOTOMIE VON SUBJEKTIVITÄT UND WELT Die bildungsphilosophische Kritik von Subjektivität soll im anschließenden Abschnitt dadurch erfolgen, dass eine erziehungswissenschaftliche Verständigung über den Subjektbegriff vorgenommen und dieser anhand einiger klassischer Ansätze modernen Bildungsdenkens dargestellt wird. Der Subjektbegriff hat in der europäischen Geistesgeschichte eine lange und vielschichtige Tradition. Zunächst lässt sich in dieser Hinsicht festhalten: „Subiectum, die lateinische Übersetzung von hypokeimenon, bezeichnet das ‚Zugrundeliegende‘ oder ‚Darunterliegende‘, das den Eigenschaften und konkreten Bestimmungen ‚Unterworfene‘, den Träger der Prädikate, das Wesentliche und das Wesen selbst.“ (Gößling 2004, 971; verweist auf Metz sowie Hügli/Lübcke)
Im Verlauf der Moderne hingegen wird der Begriff des Subjekts zum „äußerst voraussetzungsvolle[n] Erziehungsprogramm“ (Reckwitz 2010a, 7), das beispielsweise durch geschlechtliche Ordnungen oder auch arbeitsspezifische Technologien erst zu dem wird, was es in dieser Epoche bleiben sollte – das Normalbild eines Menschen, der durch materielle wie soziale Rahmenbedingungen sein Selbstverständnis aus einem planvoll strukturierten Selbstumgang gewinnt. Bildung als Chiffre für diesen Selbstumgang konnte in der Moderne somit zu einer Aufgabe für die Individuen ebenso wie für gesellschaftliche Einrichtungen werden. Bildung als individuelle Aufgabe beschreibt dabei nicht selten die Herausforderung, vornehmlich nach den Ansatzpunkten im Individuum und innerhalb seiner Umwelt zu suchen, um dort aktiv durch erzieherische Prozesse und Lernvollzüge eine den sozialen Maßgaben angemessene Gestalt der Einzelnen zu entwickeln. Diese sind in der Moderne häufig die einer nach sich selbst fragenden Subjektivität. Bildung als so-
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Dass sich auch immer wieder Einsichten ergeben, die – bei den Klassikern ebenso wie bei zeitgenössischen AutorInnen – ein „monolithisches“ Bild von Subjektivität oder deren Ausbildung in Frage stellen, werden die anschließenden Darstellungen vielfach zeigen.
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ziale Aufgabe wiederum versteht sich als Schaffung von kollektiven Strukturen, um die individuellen Prozesse der Bildung ebenso zu ermöglichen wie auf jeweils definierte Weisen zu qualifizieren. Deswegen sollen im Folgenden einige der maßgeblichen Ordnungen subjektivierender Bildung der Moderne dargestellt werden, um daran das Wechselspiel von individuellen und sozialen Strukturierungen kritisch nachzeichnen zu können. Folgerichtig zielt die hier vorgelegte bildungstheoretische Analyse von Subjektivität darauf, abzubilden, wie Individuen durch Wissen, Begehren und Konsumieren, körperlichen Ausdruck oder auch soziale Interaktionsformen und Vorgaben zu denjenigen „Menschen“ werden, als die sie innerhalb gesellschaftlicher Zusammenhänge erscheinen sollen resp. wollen. Hintergrund dieser Untersuchungen ist damit die pädagogische Debatte um die Kritik eines Emanzipationsdenkens, das sich insbesondere auf die Optimierung der Subjekte durch Bildung im Sinne einer kunstfertigeren Selbststeuerung im Sinne gesellschaftlich gegebener Normen bezieht (vgl. paradigmatisch Masschelein 2003; Wistuba 2009; Witte 2010). Die Dialektik von subjektiver Emanzipation und gesellschaftlich objektivierter Selbstoptimierung soll im nächsten Abschnitt noch ausführlicher zur Darstellung kommen (vgl. einstweilen auch Böhmer 2013). Die Bildungstheorie im Gefolge der Bemühungen um Aufklärung ist von der Wertschätzung rationaler Selbstbilder ebenso bestimmt wie von individuellen Gestaltungsräumen, etwa mit Blick auf den ‚Ausgang aus selbstverschuldeten Versäumnissen der Ausbildung eigener Möglichkeiten‘. Darin zeichnet sich eine Haltung ab, die den Menschen als vernunftund dementsprechend selbstbestimmten versteht. Bildung zielt als Folge der Aufklärung darauf, den Menschen in seiner Vernunftbegabung zu stärken, um ihm die Möglichkeit zu bieten, sich selbst zu formen. Auf diese Weise wurden – etwa mit Blick auf die engen ständegesellschaftlichen Vorgaben des Mittelalters (vgl. Frevert 1999) – für die Einzelnen neue Freiräume aufgetan. Zugleich aber ergab sich daraus eine neuerliche Engführung, insofern ein solches Verständnis zu beschreiben trachtet, was denn „normaler“ Vernunftgebrauch sei oder auch woran der Erfolg einer Bildungsleistung abgelesen werden könne. Von dort her ergeben sich spezifische Strukturen des Bildungsprozesses, welche die Anliegen der Aufklärung einzulösen suchen und zugleich andere ausschließen. Einige tradierte Auffassungen bezüglich der Ausgestaltung solcher Strukturen sollen im Folgenden rekonstruiert werden, um anhand dieser Darstellungen aktuell
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wirksame Formationen des Selbstbildes und dessen Erstellung in (inter)subjektiven Verfahren nachvollziehen zu können.
1.1.1 Rousseau Zu nennen sind hier etwa Rousseaus (1712-1778) Ansätze bei Émile (Rousseau 1998). In seinem 1762 erstmals veröffentlichten Erziehungsroman macht er seine Einschätzung der pädagogischen Konsequenzen der Aufklärung (vgl. Austermann 2012) insbesondere durch seine Darstellung einer auch normativ wirkenden Natur (vgl. Foray 2012, 632 ff., Frost 2007, 202 f.; Tremp 2003, 97; Lüth 1997) deutlich: „Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen.“ (Rousseau 1998, 107) Rousseau zielt ganz im Geist seiner Epoche auf die Frage, wie „das Prinzip der Selbsterhaltung (amour de soi, intérêt) des Subjekts“ (Buck 1984, 209) kritisiert und damit aus seinen als problematisch verstandenen Bestimmungen innerhalb einer neuzeitlichen Kultur befreit werden könne. Neben einer solchen emanzipatorischen Perspektive, die beispielsweise Swiderski insbesondere einer Gewissensbildung zuordnet, nimmt diese Autorin einen weiteren grundlegenden Argumentationsstrang im Denken Rousseaus wahr, der durch die egalisierend bürgerliche Sozialperspektive gekennzeichnet ist und ebenso wie der erstgenannte zur „Humanisierung“ beitragen soll (vgl. Swiderski 2008, 113; zur Differenz des Staatsbürgers [citoyen] und des Besitzbürgers [bourgeois] bei Rousseau vgl. ebd. 117). Rousseau ist also ein Denker, der die Chancen, aber auch Grenzen modernen Subjektivitätsdenkens umschreibt (vgl. bereits Ballauf/Schaller 1970, 326; Blankertz 1982, 29; ferner Sturma 2001, 13) und dies auch in erziehe risch-(proto-) bildnerischen Bezügen zur Sprache bringt: „Wegen der di-
10 Mit dem Begriff der Erziehung soll im Folgenden Rousseaus Konzept der Wechselwirkung von Erzieher und Zögling zum Ausdruck kommen, mit Bildung diejenige des – sich nicht zuletzt auf diese Weise ergebenden – Selbst- und Weltverhältnisses des Zöglings. Es versteht sich, dass eine eigene bildungstheoretische Terminologie bei Rousseau noch nicht gefunden werden kann: „Das Eigenrecht auf das individuelle ‚Selbst‘, das, frei formuliert, dieses kontrollierte Lernen vom Bilden unterscheidet, wird erst im Kontext des Neuhumanismus zu
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agnostizierten Irrwege der modernen Kulturgeschichte kann Rousseau nicht umhin, Bildung als Erziehung des Menschen für sich selbst zu begreifen.“ (Sturma 2001, 135; vgl. auch Bollenbeck 1994, 116 f.) Die erzieherisch-normative Anstrengung Rousseaus gilt der Ausbildung einer freien, zur Vergesellschaftung fähigen, jedoch vor allem ihren natürlichen Anlagen entsprechenden Individualität. Dabei ist angestrebt, den Menschen zu seinem Glück finden zu lassen, indem er zur Vergesellschaftung in jedweder Gesellschaftsstruktur fähig werde (vgl. Austermann 2012, 340 sowie mit dezidiert auf republikanische Motive zielender Fragehaltung Benner/Stepkowski 2012, 376). Rousseau und die sich an ihn anlehnenden Bildungstheoretiker betonen die Diskrepanz von Mensch und Bürger: „Wer in der bürgerlichen Ordnung die Ursprünglichkeit der natürlichen Gefühle bewahren will, der weiß nicht, was er will. In fortwährendem Widerspruch zu sich selbst, immer schwankend zwischen Neigung und Pflicht, wird er niemals weder Mensch noch Staatsbürger sein; weder für sich selbst noch für die Umwelt wird er je etwas taugen. […] Ich warte darauf, daß man mir dieses Wunder vorführe, um zu sehen, ob er ein Mensch oder ein Staatsbürger ist, und wie er es fertigbringt, sowohl das eine wie das andere zu sein.“ (Rousseau 1998, 113; hinsichtlich der Sekundärliteratur vgl. paradigmatisch Herrmann 1993, 22.)
Die Diastase von Natur und Kultur, die sich in Folge dieser Perspektive ergibt, ist indes nicht unwidersprochen geblieben (vgl. Foray 2012, 638). Dass damit Rousseaus Interesse am Menschen, aber noch nicht an einer autonomen, geisteswissenschaftlich agierenden Reflexionsgestalt auf Erziehung zum Ausdruck kommt, wird zudem betont (vgl. Hager 1997). In seinem ebenso gesellschaftskritisch wie erziehungstheoretisch motivierten Denkversuch (vgl. Brüggen/Reichenbach 2012, 609; verweisen auf Ruhloff; sowie im Rekurs auf antipaternalistische Perspektiven des Erziehungskonzepts Rousseaus Drerup 2012) entwirft Rousseau das Bild eines Heranwachsenden, der sich selbst aufgrund der Vorgaben seines Erziehers bestimmen lernt. Der Pädagoge inszeniert seine Eingriffe als natürliche –
einer festen Größe im pädagogischen Diskurs.“ (Austermann 2012, 343) Deswegen soll auch hier auf bildungstheoretische Aspekte bei Rousseau nur cum grano salis und zudem in einem systematischen Vorgriff auf den modernen Bildungsbegriff hingewiesen werden.
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daher: vermeintlich ungesellschaftliche (vgl. diesbezüglich auch Schäfer 2012, 662 ff.; Oberparleiter-Lorke 1997, 204 ff.). Darum begegnet der Erzieher der gesellschaftlichen Unfertigkeit des jungen Menschen durch den Verweis auf eine Ordnung, die der bestehenden Gesellschaft entgegen steht und innerhalb derer sich die Selbstbestimmung des Zöglings als dauernde Perfektionierung ereignen soll: „Da mit dem Alter der Vernunft die gesellschaftliche Knechtschaft beginnt, warum sollen wir ihr da mit der privaten zuvorkommen? Dulden wir doch, daß ein Augenblick des Lebens frei von diesem Joche sei, das die Natur uns nicht auferlegt hat, und gönnen wir der Kindheit den Gebrauch der natürlichen Freiheit, durch die sie wenigstens eine Zeitlang von den Lastern ferngehalten wird, die die Versklavung mit sich bringt.“ (Rousseau 1998, 204)
Erziehung wird zur Gesellschaftskritik kraft eigener Erkenntnis, ausgeübt durch eine naturgegebene Einsicht (vgl. Hansmann 2008, 27; im Hinblick auf allgemeine gesellschaftstheoretische Aspekte im Émile vgl. Reitemeyer 2001, 29 f.), die bereits dem Verstehen des Menschen, konkret: der Deutung durch den Erzieher, unterworfen und demgemäß gestaltet wurde. So merkt Rousseau etwa im Anschluss an seine soeben angeführte Auffassung der Differenz von Natur und „gesellschaftliche[r] Knechtschaft“ an: „Gesteht ihnen [den Kindern; Anm. A.B.], soweit möglich, alles zu, was ihnen wirklich Vergnügen machen kann, aber lehnt immer das ab, was sie nur aus Launenhaftigkeit oder aus Autoritätsbedürfnis wollen.“ (Rousseau 1998, 204; Anm.)
Dabei soll Natürlichkeit im Sinne dessen, was den „Sinnesempfindungen“ (ebd. 205) der Kinder zugänglich sei, den Maßstab für das erzieherische Handeln bilden. Die materiellen, historischen, sozialen, kulturellen und politischen Voraussetzungen dieser Auffassung werden von Rousseau an dieser Stelle gleichwohl nicht mehr eigens analysiert (vgl. dazu OberparleiterLorke 1997, 227 ff., Sturma 2001, 117 ff., Swiderski 2008, 156). Dass Rousseau allerdings auf einen „noch ausstehenden bürgerlichen Rechtsstaat“ (Reitemeyer 2001, 28) hin argumentiert und damit sein Konzept normativ verbindet, ersetzt im Sinne einer erziehungswissenschaftlichen Reflexion nicht die Notwendigkeit der Analyse der vorgenannten kategorialen Voraussetzungen seines Naturbegriffs. Rousseaus Erziehungsbegriff
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kann durchaus als einem sozialkritisch-normativen Naturbegriff angelehnter verstanden werden. Rousseau entwirft somit an der Schwelle zur Moderne eine kritische Auffassung erzieherischer wie quasi-bildender Interventionen, die sich zum einen abhebt von gegebenen gesellschaftlichen Maßstäben, andererseits aber selbst neue formuliert, deren subjektivierende Tendenzen durch den Hinweis auf eine als „Natur“ codierte Ordnung der materiellen, historischen, sozialen, kulturellen und politischen Normierungen verdeckt oder doch zumindest idealisierend dargestellt werden (zur „Sprachmagie“ des Naturbegriffs bei Rousseau vgl. bereits Oelkers 1989, 38 f. sowie jüngst in recht ähnlicher Form Soëtard 2012, 79). Deswegen ist die solcherart erfolgende „Erfindung der Kindheit“ (Hansmann 2008, 32; vgl. differenzierend Benner/Kemper 2009, 272) zwar der gesellschaftlichen Teleologie eines Noch-nicht-Erwachsenen und seiner Fähigkeit, sich in gesellschaftliche Vorgaben zu integrieren, entzogen (vgl. auch Grünenberg 2006, 56). Zugleich aber wird deutlich, dass Rousseau das Ziel seiner pädagogischen Ansätze aus der Orientierung an objektiven Gesichtspunkten, weil ständegesellschaftlich definierten Figurationen und Mentalitäten (vgl. auch Elias 1990, 1969, 1969a), in eine subjektive Einstellung wandelt, die sich dann dem Ideal des Staatsbürgers gegenüber sieht (vgl. Rousseau 1998, 113; ferner Reitemeyer 2001, 27 ff.). Dadurch wird das äußere Ziel pädagogischer Intervention in ein Inneres des Menschen verlagert – subjektive Selbststeigerung statt objektive Pflichterfüllung lautet das revidierte Leitwort pädagogischen Handelns. Die negative Erziehung Rousseaus wirkt insofern, als sie objektive Maßgaben Anderer negiert, nicht aber, indem sie subjektive Selbstgestaltungen im Sinne einer Selbstkontrolle der Struktur eigener Affekte (vgl. bereits Elias 1969, VII) ablehnt. Zweck erzieherischer Prozesse ist nunmehr das sich selbst bestimmende Individuum: „Gezwungen, gegen die Natur oder die gesellschaftlichen Institutionen zu kämpfen, muß man sich für den Menschen oder den Staatsbürger entscheiden, denn beide in einer Person kann man nicht schaffen.“ (Rousseau 1998, 111)
Dies erfolgt dann allerdings nach Maßgabe einer „weit nach innen geschlagen[en]“ Subjektstruktur moderner Gesellschaften (Elias 1969, 226), die sich offenkundig zu diesem Zeitpunkt weder fraglich wird noch daraus fol-
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gend eine Haltung der Selbstkritik einnimmt. Die von Rousseau entfalteten Verfahren bilden vielmehr eine spezifische Form von Subjektivität aus, indem sie das Individuum als rational abwägendes und zugleich sich körperlich-„natürlich“ organisierendes in die Pflicht der Gesellschaft (vgl. Ruhloff 1998, 102 f.) nehmen. Dass solcherart eine „nicht affirmative“ (Hansmann 2008, 39) Erziehungslehre Raum greife, die in der rousseauschen perfectibilité eine „teleologische Unbestimmtheit“ (Benner 2012, 30 Anm.; vgl. auch Buck 1984, 1976) menschlicher „Natur“ zum Ausdruck bringt, kann mit Blick auf die objektiven Strukturen natürlicher Ordnungen nachvollzogen werden. Buck sieht den bei Rousseau aufgehobenen teleologischen Zugang als eine „sich alter naturteleologischer Vorstellungen bedienende Argumentation“, die gleichwohl durch eine „neue ‚anthropologische‘ Blickwendung“ ersetzt werde (Buck 1976, 214). Auf diese Wendung bezieht sich die in der vorliegenden Schrift ausgeführte Auffassung einer subjektivierenden – und eben nicht mehr an der Natur orientierten – Teleologie bei Rousseau, der die Finalität der Subjektivität nachgewiesen wird (vgl. Buck 1976, 217; verweist auf Hegel; die Teleologie differenzierend und mit Blick auf Benners Systematik argumentierend vgl. auch Giesinger 2011). Somit ist eine „Inversion der Teleologie“ (Spaemann 1976, 80) zu ver zeichnen, die auch auf das daran anschließende Bildungskonzept wirkt. Die kritische Reflexion auf die bildungsspezifischen Bedeutungen von Rousseaus vermeintlich natürlicher Erziehung macht hingegen deutlich, dass er sehr wohl normativ-teleologische Tendenzen transportiert – wenngleich sie nunmehr sehr viel eher unter subjektiver Hinsicht einer funktio nierenden „Selbstkontrollapparatur“ (Elias 1969a, 341) Geltung erlangen.
11 Vgl. dazu auch Ricken 2006, 249, dessen Perspektiven hier auch weiterführend aufgegriffen werden. Die Ablösung kosmologisch festgeschriebener „Ordnung und Zweckmäßigkeit“ zugunsten eines subjektivierend-kreativen Prozesses, der „als kritische Destruktion [überkommener metaphysischer Kosmologie; Anm. A.B.]. in die Hand genommen und vorangetrieben wird“, skizziert bereits Blumenberg 1966, 181. 12 Auf die diesbezüglich zielführende Organisation der zeitlichen Strukturen bei Rousseau verweist Ruhloff 1998, 107. Schmidt macht im Zusammenhang mit einer solcherart „nicht-affirmativen“ Pädagogik bei Benner auf deren Affirmation des modernen Subjektverständnisses im Sinne der Dichotomie von Eigenem und Fremden aufmerksam (vgl. Schmidt 2008, 324). Zur Paradoxie von Unbe-
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Damit bestätigt er sicher nicht das zeitgenössische ancien régime, sehr wohl aber die ebenso zeitgenössischen Tendenzen zur Disziplinierung der Subjekte qua Bildung und macht so seinem Verständnis als Pädagogen der Moderne Ehre (vgl. auch Benner 2012, 193; verweist auf Blankertz). Infolgedessen lassen sich gerade die Aspekte der Identitätslogik als Ausdruck moderner Teleologie lesen, die nicht mehr natural, sondern sozial buchstabiert wird. Die Ansätze zur Identitätsausbildung, zur „Selbststeigerung“ (Buck 1976, 217) mit dem Ziel der „Selbstübereinstimmung“ (Buck 1984, 16), können in diesem Zusammenhang als erfolgreiche Umsetzung einer modernen Teleologie im Sinne eines „Werdensplans“ (ebd. 15) der Moderne verstanden werden, ohne dass materiale Zielvorgaben einer menschlichen Natur zum Ausdruck kommen müssten. Vielmehr gilt: der subjektive Weg ist das soziale Ziel – die Selbststeigerung als Selbstbestimmung das neu formulierte telos, das dann durchaus auch in der Tätigkeit „eines nicht teleologischen, sondern hypothetischen Experimentierens“ (Benner/Stepkowski 2012, 378) sichtbar werden kann. Näherhin wechselt Rousseau im Sinne der Moderne den Blick von objektiven Gegebenheiten sozialer Regime auf die subjektiven Ordnungen disziplinierender Prozesse (vgl. Buck 1976, 217). Rousseau definiert zwar, wie gezeigt, kein objektives Ziel des Bildungsprozesses, zumal er insbesondere einer zurückhaltenden Interventionshaltung das Wort redet (vgl. Rousseau 1998, 115). Andererseits jedoch soll gewährleistet werden, dass der gebildete Mensch „sich selbst getreu und immer eine vollkommene Einheit zu sein“ vermöge (ebd. 113; zum „Gefühl der Selbstidentität“ vgl. auch ebd. 184). Diese identifizierende Fiktion (vgl. Mollenhauer 1994, 158) aber bezeichnet das telos, das Ziel eines auf moderne Subjektivität hin orientierten Erziehungsbegriffes. Indem er Gesellschaft und natürlichen Menschen auseinanderdividiert, eröffnet Rousseau eine Zielvorgabe, die nicht mehr material, sehr wohl aber formal definiert ist – die inhaltlich noch nicht abgegrenzte, prozessual aber von andauernder Dynamik betriebene Selbstformung mit dem Ziel der schrittweisen Optimierung. Ein solcher Bildungsbegriff wiederum schickt sich aufgrund gesellschaftlicher-kultureller Vorgaben an, das
stimmtheit und Selbstbestimmung des Menschen nach Benners Rezeption auch von Rousseau vgl. Giesinger 2011, 894 f.
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„Ensemble von Kompetenzen und Dispositionen, von Wahrnehmungsstrukturen, von körperlichen Haltungen, Mustern der Selbstinterpretation, psychischen Affektmustern, auch des Begehrens“ (Reckwitz 2010, 192)
zielgerichtet zu gestalten. Damit wird gerade durch die vielfältigen Möglichkeiten, solche subjektiv-strukturellen Möglichkeiten allererst praktisch hervorzubringen (vgl. Benner 2012, 31) und die „Fähigkeit, Fähigkeiten zu entwickeln“, in die Tat umzusetzen (ebd. 73; verweist auf Rousseau; ebenso Benner/Brüggen 2004, 189), eine sehr konkrete Formation des Selbst im Wechselspiel von objektiven Maßstäben und subjektiven Prozeduren entworfen. Die „Natur“ des Menschen unter der Perspektive von Rousseaus perfectibilité erscheint einer selbstkritischen Moderne demzufolge alles andere als unbestimmt oder etwa in die Lage versetzt, dem freien Willen menschlicher Selbstgestaltung im Vollsinn des Wortes überantwortet werden zu können (vgl. Rousseau 1998, 194 f.; zur Totalität der Gesellschaft im Hinblick auf die Einzelnen bei Rousseau vgl. Ricken 2006, 300 f. sowie Kersting 1994, 149). Die im Sinne Rousseaus gebildete „Natur des Menschen“ ist insofern zu sehen als eine zielgerichtete Figuration der Überlagerung von gesellschaftlich-kulturellen Vorgaben und diszipliniertem Selbst.
1.1.2 Herder Johann Gottfried Herder (1744-1803) gilt nicht unbedingt als genial eigenständiger Denker des Bildungsbegriffs, wohl aber als begabter Kompilator der Bildungsauffassungen seiner Zeit. Die Forschung geht davon aus, dass er insbesondere die Schriften von Hermann Samuel Reimarus paraphrasierte (vgl. Buck 1984, 139; positiver zur Eigenständigkeit des herderschen Bildungskonzepts bereits Ballauf/Schaller 1970, 403 sowie Welter 2007a). Gleichwohl hat er durch seine Fähigkeit, diese Auffassungen in „leichter Faßlichkeit“ (Buck 1984, 135; kritischer Bollenbeck 1994, 119) zu vermitteln, nachhaltig für die Verbreitung und Wirkung des Bildungsbegriffs beigetragen. Daher kann die Darstellung seines Bildungsbegriffes für die hier leitende Forschungsfrage nach dem Selbstumgang der Menschen aufgrund einer konkreten Bildungsauffassung umso eindrücklichere Resultate ergeben.
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Herder versteht den Menschen als einen der Bildung Bedürftigen (zur semantischen Streubreite des herderschen Bildungsbegriffs vgl. Schaarschmidt 1965, 70 ff.). „Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er stehet aufrecht. Die Waage des Guten und des Bösen, des Falschen und Wahren hängt an ihm, er kann forschen, er soll wählen.“ (Herder 1969 IV, 98)
Dieser kann sein Selbstverstehen und das daraus ableitbare Subjektivitätskonzept nicht mehr auf eine Schöpfungsordnung stützen, um individuelle wie soziale Ordnungen ableiten zu können, sondern muss als ‚Freigelassener‘ seine Maßstäbe vernunftgemäß (vgl. Schütz 1975, 37 u. 47) setzen, wenngleich er in seinem ‚Forschen‘ und ‚Wählen‘ auf die sinnlich wahrnehmbaren Einflüsse seiner Umwelt verwiesen bleibt (vgl. Müller 1994; Welter 2007, 47) . Nicht zuletzt bedarf er dazu nach Auffassung Herders der Sprache, um mit Hilfe dieses Mediums seine Weltsicht sozial vermitteln zu können (vgl. Herder 1969 IV, 247; vgl. auch Graff 2008, 102 ff. sowie Müller 1997, 189 ff.). Dieses ‚forschende‘ und ‚wählende‘ Unterfangen ist geprägt von den Möglichkeiten der „Perfektibilität” wie auch der „Korruptibilität” (Herder 1969 IV, 236; vgl. dazu Ricken 2006, 252). Deshalb bedarf der Mensch einer „Bildung der Humanität” (Herder 1969 IV, 131; eine teleologische Interpretation dieser Auffassung bietet Ballauf 1966, 139) , die ihn dazu befähigt, sich in perfektionierender, d.h. stei-
13 Welter differenziert für Herder einen anthropologischen und einen (impliziten) pädagogisch-anthropologischen Begriff: „Die theoretische Verbindung dieser beiden Anthropologien, aus der dann eine pädagogisch-professionelle Notwendigkeit resultiert, liegt im Begriff der Erziehungsbedürftigkeit, durch den Bildsamkeit zu einem pädagogischen Lernbegriff operationalisiert wird.“ (Welter 2007, 59). 14 Schütz spricht nicht allein von einer teleologischen Struktur, sondern gar von einer ‚Kanalisierung‘ des Weges hin zum Ziel des herderschen Bildungsverständnisses (vgl. Schütz 1975, 39). Zur Strukturierung des Humanitätsbegriffs – konkret: in Herders „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ – vgl. mit Bezug auf den Kraftbegriff Gadamer 1967, 163 ff., insbes. 167: „Menschheit, Humanität ist nicht ein abstraktes Ideal […], sondern der Inbegriff der menschlichen Natur, d. h. aber eine Kraft, die sich zu sich selbst
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gernder und fortschreitender Weise zu entwickeln. Maßstab für solche Selbstvervollkommnung ist bei Herder die Humanität im Sinne einer flexiblen Selbstverwirklichung des Individuums durch dessen Teilhabe an der Welt (vgl. Welter 2007a, 67), so dass auf diese Weise ein bildungstheoretisch fundiertes Subjektivitätskonzept more Herder zumindest naheliegt. „In allen Zuständen und Gesellschaften hat der Mensch durchaus nichts anders im Sinn haben, nichts anders anbauen können als Humanität, wie er sich dieselbe auch dachte.“ (Herder 1969 IV, 344)15
Ausschlaggebend für diese Formierung der Humanität sind nach Herder „Natur und Geschichte“ (ebd. 345). Solche Humanität verwirklicht der Mensch im Bildungsprozess insbesondere, indem er sich der „Progression durch Erfahrung“ (Herder 1969 II, 152) befleißigt. Somit ist die Pointe des herderschen Bildungsbegriffs die sich entwickelnde Ausgestaltung und damit einhergehende Festlegung der menschlichen Unbestimmtheit. Maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklung der Menschen haben deren innere Kräfte: „Bildung (genesis) ists, eine Wirkung innerer Kräfte, denen die Natur eine Masse vorbereitet hatte, die sie sich zubilden, in der sie sich sichtbar machen sollten.“ (Herder 1969 IV, 124; vgl. zum „,organologische[n]‘ Modell der Bildung“ auch Buck 1984, 135; Bollenbeck 1994, 120 ff.; Müller 1994, 51 f.)
auswirkt. Humanität ist kein Zweck der Menschennatur, den sie außer sich hätte, sondern der sie selbst ist.“. 15 Müller hat darauf aufmerksam gemacht, dass in diesem Zusammenhang bei Herder nicht allein ein „vitalistisches Prinzip als Antrieb der Bildebewegung“, sondern zudem noch ein „ästhetisches Formprinzip“ zu finden sei (vgl. Müller 1997, 151). Gerade mit dem naturalen Antrieb sei von Herder keine teleologische, sondern eine dynamische Konzeption des Bildungsbegriffs vorgelegt worden, so wird weiter argumentiert (vgl. ebd. 201; entgegengesetzt, nämlich teleologisch, argumentiert Welter 2007a, 68 ff., deren auf „Ganzheitlichkeit“ zielende Argumentation indes über die interpretatorischen Ansätze bei einem ‚individuellen Zentrum‘ und ‚einheitlichen Selbst‘ nicht hinauskommt und damit auch dem Weltbezug des herderschen Bildungsbegriffes nicht zureichend Rechnung trägt; vgl. ebd. 69 ff.).
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Somit findet der Mensch in sich als Anlage vor, was durch ‚naturgemäße Bildung‘ in konkreter Ausgestaltung zu realisieren seine ureigene Aufgabe sei. Der Bildungsprozess hat deshalb nach Herder die Struktur einer Veräußerung der innerlich angelegten, aber nicht determinierten Möglichkeiten, um sich durch Überschreiten der zuvor geltenden Grenzen schrittweise zu vervollkommnen (vgl. Ricken 2006, 250). Leitidee dieser Auffassung ist daher die einer „finalisierten Perfektibilität” (Liebsch 1992, 135; zu den individuellen, folglich nicht allgemein teleologischen Finalitäten dieses Prozesses vgl. Graff 2008, 98), welche die Einzelnen wie die Menschheit insgesamt anzuzielen haben. „Die Besonderheit bei Herder […] besteht nun darin, die beiden Momente einer Temporalisierung als Perfektionierung und des Ausblicks auf eine Menschheitsgeschichte mit dem Bildungsbegriff zu konfundieren.“ (Witte 2010, 128)16
Herder vertritt in den skizzierten Positionen eine Bildungsauffassung, die den Menschen frei setzt aus bisherigen sozialen, insbesondere aber religiös geprägten Strukturen und ihn zugleich einbindet in eine Steigerungslogik, die der oder die sich Bildende bei Strafe einer Verfehlung des im eigenen Inneren schlummernden „Bildungstriebs“ (Blumenbach) zu befolgen hat. Im Unterschied zum Tier ist der Mensch „nicht mehr eine unfehlbare Maschine in den Händen der Natur, [vielmehr; Anm. A.B.] wird er sich selbst Zweck und Ziel der Bearbeitung.” (Herder 1969 II, 98) Der freie Mensch wird dem Zwang unterworfen, „immer in Entwicklung, im Fortgange, in Vervollkommnung” (Herder 1969 II, 153) zu bleiben, ohne ein exakt beschreibbares Ziel verfolgen zu können. Zugleich aber geschieht dies mit einer dem Subjekt innewohnenden Gestaltungskraft (vgl. Müller 1997, 204 f.). Insofern wird für Herder der Bildungsprozess bestimmt durch einen nicht enden wollenden Fortgang menschlicher Veränderungen, die sich der subjektiven „Bildebewegung“ verdanken und die unterschiedliche Bildungsergebnisse nach Maßgabe der individuellen Möglichkeiten (vgl. ebd. 225) formen.
16 Witte bezieht diese Auffassung auch auf den in der vorliegenden Schrift noch später thematisierten Humboldt.
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1.1.3 Schiller Friedrich Schiller (1759-1805) hat, nicht zuletzt mit seinen Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (zitiert nach der Ausgabe von Matuschek 2009; vgl. ferner kommentierend Riedel 2004, 1217 ff.), bedeutende Beiträge zu einem Bildungsbegriff der Moderne erbracht. Diese Briefe wurden zumeist in ihrer überarbeiteten Form aus dem Jahr 1795 rezipiert. Darin setzt Schiller die Bildung des Menschen in einer individualis tisch an Rousseau anschließenden Weise (vgl. Bollenbeck 2007, 13 f.) mit den zeitgenössischen geistesgeschichtlichen wie politischen Ereignissen in Beziehung: „Der deutsche Neuhumanismus, Schiller voran, hat Bildung als geschichtliche Antwort auf eine geschichtliche Herausforderung zu denken versucht.“ (Buck 1984, 16; zur kulturpessimistischen Sicht Schillers vgl. Bollenbeck 2007) Schiller versteht die „Geschichte der menschlichen Selbstentfremdung“ (Buck 1984, 16) als Ergebnis einer „Zerrüttung“ (Schiller 2009, 24) von Sinnlichkeit und Geist im Individuum (vgl. ebd. 23 f.). Auf diese Weise werde der Einzelne „bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft“ (ebd. 25), ohne jedoch die ganze Menschheit abbilden zu können, wie es Schiller für die ihm als unerreichbares Vorbild geltenden Griechen ansetzt (vgl. ebd. 22 ff.). Maßgebliche Reflexionsfolie einer solchen Kritik an seinen als entfremdend eingeschätzten Zeit- und Geistesverhältnissen war für Schiller u.a. die kantische Philosophie (vgl. ebd. 10; vgl. einschränkend VolkmannSchluck 1964, 11; zur Rezeption und Differenz von Kants ästhetischer Auffassung bei Schiller vgl. Matuschek 2009, 181 ff). Schiller strebte insbesondere eine Abgrenzung gegenüber dem Dualismus von Sinnlichkeit und Vernunft an, um die Entfremdung von Individuum und Menschheit, von Einzelnem und staatlich gefasster Ordnung nachzuzeichnen und den sich vor diesem Hintergrund einstellenden „reale[n] Dualismus“ mit seinem einseitig geprägten und solcherart „verkümmerte[n] Individuen und Klassen“ zu überwinden (Buck 1984, 171). Der Mensch nämlich sei viel eher in einer sehr spezifischen Ordnung der von Schiller diesbezüglich angesetzten Kräfte, namentlich Sach- und
17 Zur Differenz der beiden ‚Begründer moderner Kulturkritik‘ hinsichtlich der „bürgerlichen Bewährungsfelder“ wie Produktion und familialer Reproduktion vgl. Bollenbeck 2007, 14 sowie Kuster 2005, insbes. 198 f.
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Formtrieb, zu verstehen. Während ersterer die physische Existenz des Menschen umschreibt, bezeichnet letzterer „das, was [sich] aus dem Physischen hinaus ins Ideelle ausrichtet und dieses Ideelle in der Realität zur Geltung zu bringen versucht.“ (Matuschek 2009, 177). Beide wiederum werden nach Schiller durch den Spieltrieb aufgehoben, dessen Gegenstand die Schönheit ist (vgl. Schiller 2009, 60). Der Spieltrieb ist demgemäß die Verschränkung der beiden anderen Kräfte (zur hypothetischen Konstruktion des Spieltriebs vgl. die Skizze in Ballauf/Schaller 1970, 474 f.), bezieht Physisches (per Sachtrieb) und Ideelles (per Formtrieb) im Spieltrieb aufeinander und ermöglicht somit das menschliche Urteil, etwas physisch Gegebenes als schön zu bezeichnen. Der von Kant angesetzte Dualismus des Menschen wird von Schiller transformiert in eine nicht greifbare, jedoch ungemein wirksame Struktur des Spieltriebs: „[…] der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (Schiller 2009, 64)
Im Spiel verwirklicht der Mensch nach Schiller seinen Bezug zur Schönheit, die zugleich die aufgrund kultureller Maßgaben zerrüttete „Identität“ des Menschen wiederherstellt und so eine uneingeschränkte Selbsterfahrung des Menschen möglich macht. Wird diese Identität – interpretatorisch nun über Schiller hinausgehend – darin gesehen, dass „der innere Mensch mit sich einig” (ebd. 19) ist, gilt es, den anthropologischen Dualismus zu überwinden, der nicht zuletzt auf eine arbeitsgesellschaftliche Entfremdung des Menschen verweist (vgl. Matuschek 2009, 131; zu jüngeren Einschätzungen des Spielphänomens vgl. auch die Beiträge in Strätling 2012). „[…] weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert” (Schiller 2009, 13), verbindet das ästhetische Erleben die auseinandergebrochenen Hälften des sinnlichen wie vernünftigen Menschen und eröffnet ihm infolgedessen die Möglichkeit, seiner Bestimmung zur Freiheit im Spiel zu entsprechen. Die neuere Schiller-Forschung betont in diesem Zusammenhang, dass dessen soziales Konzept keineswegs elitär zu verstehen sei, etwa als Kompensation für die erfolglosen politischen Ambitionen eines ebenfalls elitär denkenden und abgehobenen Literaten, sondern es gelte nunmehr, „ihn in seiner praktischen Relevanz zu verstehen.“ (Matuschek 2009, 246) Diese praktische Relevanz wiederum habe ihn zu realistischeren
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Einschätzungen geführt als so manche künstlerische Avantgarde sich selbst attestierte. Für Schiller und andere „deutsche Rousseauisten“ äußert sich gerade in dieser Kippfigur einer entfremdeten Identität, die sich als Missstand wie als Bildungsmotor zugleich erweist, die Fortführung rousseauscher Gedanken: „Die Idee der Identität, das Residuum des vorausgegangenen Telosschwundes, wird dabei auf neue, durch objektive Metaphysik nicht mehr begründbare Weise zum Telos der entworfenen Bildungs-Geschichte. Aber damit wird der Zustand des Denkens im Rahmen der alten naturalen, objektiven Teleologie nicht wiederhergestellt. Vielmehr ist nun, im Unterschied zum substanzialistischen Bildungsbegriff, dessen geheimer Naturalismus ausdrücklich überwunden zugunsten einer neuen Konzeption der Geschichtlichkeit und Offenheit des menschlichen Seins und insofern einer neuen Konzeption der Bildungsmöglichkeit und Bildungsbedürftigkeit dieses Seins.“ (Buck 1984, 17)
Doch ist zu prüfen: Der bisherige Substanzialismus wird in eben dieser Zeit ersetzt durch einen Subjektivismus, der die nach innen geschlagene Substanzialität (vgl. Elias) bzw. Inversion (vgl. Spaemann 1976, 80) verkörpert. Schiller nun hat Anteil an dieser Verschiebung, als er den Spieltrieb aus dem sinnlichen wie aus dem Formtrieb erwachsen sieht. Letzterer wiederum sei gemäß der Diktion des Vierzehnten Briefes bestrebt, ‚Objektives aus sich hervorzubringen‘ – Objektives aus seiner Innerlichkeit nach außen zu entlassen. Die Struktur des Subjekts hat also jetzt zu leisten, was zuvor der Substanz des – aus göttlicher oder metaphysischer Perspektive formuliert – Objekts selbst abgerungen werden sollte: die Verfolgung und Verwirklichung des Telos (vgl. dann ähnlich für Humboldt: Buck 1984, 221). Nun kann Schiller vom Menschen fordern: „er soll alles innre veräußern und alles äußere formen.“ (Schiller 2009, 47) Es scheint, als sei der Hinweis Bucks auf das Erbe einer teleologischen Subjektivitätstheorie solcherart zu interpretieren, auch wenn Buck selbst sehr viel mehr – gar „toto coelo“ (Buck 1984, 156; lat. „soweit der Himmel reicht“) – die Differenz von Teleologie und subjektiver Identitätskonzeption stark macht: „Als Bestimmungsgrund allgemeiner geschichtlicher und gesellschaftlicher Geschehens- und Werdensprozesse ist die objektive Teleologie seit dem Ende des natur-
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rechtlichen Denkens und der Metaphysik der Geschichte zwar […] verschwunden; aber die Idee einer Bestimmung des Menschen hat sich dafür in der zweideutigen Form einer Metaphysik des Subjektiven als die Idee eines individuellen Werdensgesetzes um so hartnäckiger in der Philosophie der Bildung festgesetzt und dort allen Anfechtungen durch das historische Bewußtsein des 19. Jahrhunderts erfolgreich getrotzt.“ (Ebd. 14)
Dass diese „Idee einer Bestimmung des Menschen“ gerade auch im Gewand der Identitätskonstruktion ihren Ausdruck findet, also eine objektive Teleologie in eine subjektive umgeschlagen ist, ist die These obiger Argumentation, für die es eben auch Hinweise bei Buck (vgl. ebd. 159) gibt. Nunmehr wandelt sich in der Moderne unter struktureller Hinsicht der Substanzialismus in einen vielgestaltig fungierenden Subjektivismus. Was die bisherige Substanz des Menschen ausmachen sollte, wird jetzt auf das Subjekt in seiner inneren Dynamik umgeladen. Die Wirkung dieses Vorgehens ist letzten Endes die Unterwerfung der Einzelnen unter ein appellierend wirkendes Regime. Denn was das Subjekt ausmacht, soll dann in dessen eigentümlicher Struktur enthalten sein – daraus erwächst die Forderung einer disziplinierend wirkenden Identität, die den Menschen anhält, „sich“ ästhetisch ins Spiel zu bringen, angesichts seiner spannungsgeladenen Verfassung bestimmte Strategien des Selbstumganges zu praktizieren und so erst hervorzubringen, wonach er sucht: die Identität des Ich, die auch Widerhall der in der jeweiligen Kultur auffindbaren – und dabei wohlgemerkt: strukturell wirkenden – Teleologie ist. Dadurch kann Schiller fordern, dass die bei den Griechen in den Olymp verlagerte Spannung – zeitgeschichtlich konkretisiert: anstelle von Arbeit und Lust die aus dem Spiel erwachsenden Haltungen von „Müßiggang und […] Gleichgültigkeit“ (Schiller 2009, 65) – „auf der Erde sollte ausgeführt werden.“ (ebd. 64) Anstelle einer metaphysischen Ordnung in der Götterwelt fordert Schiller eine subjektive, die sich mit einer spielerischen Leichtigkeit in die Welt-immanenten Prozesse einbinden lasse. Wirksam wird ein Ausgleich von Sachtrieb und Formtrieb; „[d]ieses Gleichgwicht bleibt aber immer nur Idee“ (ebd. 66), das sich idealiter als Ziel verfolgen lässt, jedoch nach Auffassung Schillers empirisch nicht zu verwirklichen sei (vgl. ebd.). Unter einer solchen Hinsicht ist dann festzuhalten: „Identität als Bildungsziel […] ist ein Rest-Telos mit rein formalem Charakter, und sie kann auch nur eine formale Bestimmung sein, da sie das einzige denkbare Bil-
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dungsziel ist, das mit allen möglichen geschichtlichen Inhalten verträglich ist.“ (Buck 1984, 151) Konkreter noch betont Schiller, dass im Spieltrieb „Veränderung mit Identität zu vereinbaren“ (Schiller 2009, 57) ist, Identität in seiner Auffassung nicht statisch, sondern dynamisch entworfen wird. Infolgedessen erweist sich Identität als spannungsgeladene Zielvorgabe, die aber wiederum formal dezidiert und zumindest für den Idealfall angezielt nach der Verwirklichung von „Müßiggang und […] Gleichgültigkeit“ in der jeweiligen Subjektivität strebt. Zugleich aber wird deutlich, dass nicht einfachhin alle denkbaren Inhalte formiert werden können (vgl. dazu etwa Foucault 2007; 1994a u.ö.), sondern dass sich damit gerade ganz bestimmte Inhalte ausprägen können – dies macht sichtbar nicht zuletzt das „Bildungsdispositiv, d.h. eine ganze Reihe von Institutionen, Auslesemechanismen, spezifischen Praxen und Ritualen, die einer gebildeten Kultur zur Wiedererkennung der Grenzsicherung gegenüber den Ungebildeten dienen.“ (Orozco 2004, 68; bezieht sich auf das Bildungsideal des Humanismus) Mit Schiller wird deutlich, dass „Bildung zum ersten Mal unter dem Thema der verlorenen und wiederzufindenden Identität“ (Buck 1984, 155) gefasst und auf diese Weise richtungsweisend für spätere Diskurse wurde. Somit kann mit den hier entwickelten Thesen zu Schillers Bildungsbegriff festgehalten werden, dass er Bildung als Rückgewinnung des Menschen versteht. Diese Rückgewinnung arrangiert er innerhalb einer entfremdenden kulturellen wie arbeitsgesellschaftlichen Situation und zeichnet den Ausweg als die Verbindung von ideellem „Innen“ und physischem „Außen“ des Menschen, die in einer, wenn auch spannungsreichen Identität zu ihrem formalen Ziel findet. Zugleich eröffnet Schiller mit seiner Betonung der spielerischen und ästhetischen Momente Perspektiven, die er in seiner Bildungskonzeption selbst nicht eingeholt hat – das Wechselspiel von Stoff- und Formtrieben, die gerade in ihrer Dialektik dem Spieltrieb Raum geben, ohne dass sich dieser für eine Identifizierung des Subjekts verwenden ließe. Vielmehr kann im Spiel auch die exzentrische Hingabe an eine Welt erfolgen (vgl. Fink 2010), wobei diese Hingabe in ihrer eigenen Struktur durch den Entzug logisch-begrifflicher Fassung gekennzeichnet ist. Mehr noch: Schiller bietet die Möglichkeit, den Menschen außerhalb einer Dichotomie von Vernunft und Sinnlichkeit im Erfahrungsbezug des „Schönen“ als eingebunden in die Welt der sich als schön erweisenden
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Dinge zu verstehen. Mit Blick auf das Wechselverhältnis von Sach- und Formtrieb macht er deutlich: „Dieses Wechselverhältnis beider Triebe ist zwar bloß eine Aufgabe der Vernunft, die der Mensch nur in der Vollendung seines Daseins ganz zu lösen im Stand ist. Es ist im eigentlichsten Sinne des Worts die Idee seiner Menschheit, mithin ein Unendliches, dem er sich im Laufe der Zeit immer mehr nähern kann, aber ohne es jemals zu erreichen.“ (Schiller 2009, 57)
Auf diese Weise trägt Schiller dazu bei, das moderne Subjektivitätsverständnis durch seine Fixierung auf die „Identität als Telos“ (Buck 1984, 158) zu ermöglichen, bietet aber genauso von ihm selbst offenkundig kaum beachtete Pfade zur Gewinnung eines Bildungsverständnisses, das sich durch die Eigensinnigkeit ästhetischer Ereignisse und die darin wirksame Verbindung mit den Dingen auszeichnet.
1.1.4 Humboldt Im deutschsprachigen Bildungsdiskurs wurde die rousseausche Auffassung von Individualität und Erziehung in ebenso grundsätzlicher wie spezifischer Weise von Wilhelm von Humboldt (1767-1835) rezipiert (zur bildungsgeschichtlichen Einordnung Humboldts vgl. bereits Menze 1975, 9 ff.). Im Rahmen der forschungsleitenden Frage nach den Voraussetzungen und Gestaltungen von Subjektivität soll im Folgenden insbesondere untersucht werden, inwiefern Humboldt zu einem an diesem Konzept orientierten Verständnis beigetragen und die bei Rousseau gefundenen Auffassungen in seinen Bildungsbegriff aufgenommen hat. Die ebenfalls nicht unwesentliche Frage der Humboldt-Forschung, inwieweit Einzelner und Staat, Individuum und Bürger aufeinander verwiesen sind und einander bedingen, kann an dieser Stelle lediglich aus subjektivitätstheoretischer Perspektive thematisiert werden (vgl. dazu ausführlicher Raithel/Dollinger/Hörmann 2009, 118 ff.; Benner 2003, 35 ff. u.ö.; Hansmann 1989). Die hier entfalteten Anmerkungen zu Humboldt beziehen sich weitgehend auf das ihm – zumeist – zugeschriebene Fragment „Theorie der Bildung des Menschen“ von 1793, wenn auch zu dessen Interpretation gelegentlich weitere Aspekte der humboldtschen Texte herangezogen werden und insbesondere diesbezügli-
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che Sekundärliteratur zu Wort kommt (zur Uneinheitlichkeit der bildungstheoretischen Humboldtinterpretation vgl. Benner 2003, 22 ff.). Die aus der Uneinheitlichkeit des bildungstheoretischen Subjektbegriffs resultierenden Differenzen eines solipsistischen oder aber auf die gesamte Menschheit bezogenen Subjektivitätskonzeptes bei Humboldt (vgl. Buck 1984, 217 ff.) verschiebt die Nuancen im Verständnis des Bildungssubjekts, ändert jedoch dessen Bezüge resp. Differenzen zur nichthumanen Umwelt nur graduell. Letzteren aber gilt das Interesse der hier vorgestellten Analyse. Für die Frage nach einer subjektivierenden Perspektive des Bildungsbegriffes kann nicht zuletzt dessen Diktum angesehen werden, dass der Mensch am „NichtMensch, d.i. Welt“ (Humboldt 1960 I, 235) seine Bildung vollziehe (zu den interpretatorischen Varianten des Weltbegriffes bei Humboldt vgl. Benner 2003, 94 ff.; zu den forschungsstrategischen Möglichkeiten des humboldtschen Bildungsverständnisses vgl. Koller 2009). Dabei solle die Verbindung mit der fremden Welt das Denken und Handeln der Menschen ermöglichen und qualifizieren. Zu diesem Zweck skizziert Humboldt die Dichotomie von innerem Wesen des Menschen und äußerer Welt, an der dieser seine Distanzierung von sich selbst vollziehen und bildende Wirkungen durch ein Ähnlichwerden von Geist und Gegenständen erzielen solle. Gerade das Konzept der Selbsttätigkeit des Menschen (vgl.
18 Rustemeyer hat diese Zweiteilung von Mensch und Welt in der Konzeption neuzeitlicher Vernunft begründet gesehen: „Seit ihrer Selbstkonstitution als seiner selbst gewissem Wissen ist die neuzeitliche Vernunft mit einem Makel behaftet, den zu löschen sie sich vergeblich mühte: In dem Moment, in dem sich das Denken über die Vergewisserung des Gedachten seiner selbst versichern will, konstituiert es für sich immer aufs neue das Andere seiner selbst als das Äußere seines Inneren.“ (Rustemeyer 1985, 99). Vgl. ferner bereits Schütz 1975, 64 ff., der bei Humboldt eine kantisch anmutende Vorrangstellung des ‚inneren Menschen‘ vor der ‚äußeren Welt‘ erkennt. Schütz attestiert Humboldt wie auch Herder eine vernunfttheoretische Konzeption dieses ‚inneren Menschen‘, der unter dieser Hinsicht keine radikale Freiheit finden kann, sondern sich einer Norm der Rationalität unterwerfen muss (vgl. ebd. 74). Zum Weltbegriff in seinem Schillern zwischen Fremdem und „Hervorbringungen des Menschen“ vgl. Menze 1975, 28. Den Begriff der Anpassung in bildungstheoretischer Perspektive wiederum problematisierte bereits Mollenhauer 1961. Er zeigte jedoch auch die Möglich-
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Humboldt 1960 I, 237 u.ö.; zudem Ricken 2006, 258) wird in dieser Hinsicht aktiviert. Somit lässt sich Humboldts Bildungsideal unter der in dieser Untersuchung geltenden Fragerichtung nach subjektivierenden Zusammen hängen dahingehend verstehen, dass eine als innerlich angesetzte Menschennatur durch ihre Erfahrung von und Betätigung am Äußeren und Fremden, d.h. Welt, zu ihrer individuellen Formung gelangen kann. Durch das fremde Äußere kann sich das subjektive Innere seiner bisherigen Entfremdung etwa durch gesellschaftliche Impulse bewusst und sich in seiner gewissermaßen authentischen „Eigenthümlichkeit“ (Humboldt 1960 I, 342; vgl. auch Fischer 1998, 186 ff.) ansichtig werden. Das sich bildende Subjekt benötigt die Arbeit an der Welt, um zu sich zu kommen. „Bildung ist diesem Verständnis zufolge sowohl in ihrem Subjekt- als auch in ihrem Weltverhältnis eine transformatorische Arbeit des Menschen an seiner Bestimmung.“ (Benner 2012, 160 f.) Damit aber wird Welt bloß noch „Mittel zum Zweck“ (Fischer 1998, 197) der Subjektwerdung. Der letztgenannte Aspekt einer als authentisch gezeichneten Individualität wird in doppelter Hinsicht an ein spezifisches, wenngleich von Humboldt nicht positiv definiertes Ideal des Menschseins (vgl. Humboldt 1960 I, 415) gebunden. Zwar könne, so stellt er heraus, das Ideal des Menschseins nicht ein Einziger, sondern „immer nur mehrere gemeinschaftlich und theilweise“ darstellen. Dennoch müsse die Maßgabe des idealen Menschseins auch im Individuum zum Ausdruck kommen. Hier sei Maßstab die Konstellation von Charaktereigenschaften, die – ganz nach der Maxime Rousseaus – „in unserer Natur ursprünglich angezeigt“ sind.
keiten auf, mit Hilfe der Distanzierung „ein gleichsam kulturanthropologisches Axiom“ zu verwirklichen, da eine „autonome Subjektivität hervorzubringen“ (ebd. 361) möglich sei. 19 Ohne dass unterstellt werden soll, dass Humboldts Bildungsbegriff bereits ein subjektivistischer sei; vgl. dazu Prondczynsky 2009, 21. 20 Humboldt hat sich offenkundig nicht in die Falle eines Subjektes begeben, das durch Aufklärung seiner „Tiefenstrukturen“ zur authentischen Identität befähigt werden soll. In diesem Zusammenhang wird nämlich darauf verwiesen, dass eine solche Auffassung individueller Tiefe fundamentalistische Aspekte zum Ausdruck bringt (vgl. Reichenbach 2000). Einen solchen Fundamentalismus der Authentizität sucht auch die hier vorliegende Schrift zu vermeiden.
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„Alles, was man daher, dem Studium des Ideals zufolge, von dem einzelnen Menschen fo[r]dern kann, besteht nur allgemein in einer mit möglichst grosser Stärke und Thätigkeit begabten Kraft, die in durchgängiger Richtigkeit, streng bewahrter Eigenthümlichkeit und stetiger Beharrlichkeit wirke.“ (Ebd. 415 f.)21
Nunmehr ist der im thematisierten Bildungsfragment entworfenen Struktur menschlichen Selbst- und Weltumganges kein „quasi-archimedische[r] Punkt“ menschlicher Vernunft zu attestieren (so auch Ricken 1999, 112), der solcherart gar moderne Subjektivität als Vernunftzentrum von Selbst und Welt empor steigerte. Nach Humboldt entsteht in der Beziehung von Mensch und Welt vielmehr die „eine Figuration […], die er als Bildung beschreibt“ (ebd. 110) und die sich folglich dem gemeinsamen Einfluss von Mensch wie Welt verdankt. Indem Humboldt seinem Bildungsbegriff die Auffassung eines zweipo ligen Verhältnisses unterlegt – inneres Menschsein trifft äußere Welt – wird Welt nicht nur zum Material der Selbsttätigkeit gebraucht, sondern auch noch als Äußeres vom Menschen ferngehalten. Der Mensch nutzt nicht nur Welt, sondern ist zudem von ihr getrennt, indem er sich erst auf sie einlassen und sich dabei nachgerade entfremden muss. Mensch und Welt sind einander fremd und können bestenfalls miteinander vermittelt werden, so stellt sich im diskutierten Bildungsfragment die Verhältnisbestimmung von Mensch und Welt dar. Auf diese Weise setzt Humboldt eine durchaus intensive Beziehung von Mensch und Welt, jedoch keine Identität an. Er nimmt zwar keine unmittelbare Unterordnung der Welt unter den Menschen oder gar dessen Vernunft an, da er „die Verknüpfung unseres
21 Zum Begriff der „Kraft“ bei Humboldt und den sich somit ergebenden semantischen Streuungen im Subjektivitäts- wie im daraus resultierenden Bildungskonzept (s.o.) vgl. u.a. Ricken 2006, 256 ff.; Benner 2003, 51 ff.; Buck 1984, 220 ff.; Menze 1975 28 f. Letzterer rekonstruiert auch das bildungstheoretische Verhältnis von Individuum und Menschheit bei Humboldt (vgl. insbes. ebd. 56 f.). 22 Ballauf brachte diese Konstellation pointiert zur Sprache: „Innerlichkeit wird absoluter Selbstzweck.“ (Ballauf 1966, 194). 23 Dass das Denken und Verstehen der Menschen durch besonders abstrahierende Verfahren wie das Erlernen antiker Sprachen – „ohne jeden Gebrauchswert“ – von unmittelbarem Handeln an dieser Welt entfernt werden sollte, hat Frevert (vgl. Frevert 1999, 149 f.) herausgearbeitet.
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Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung“ (Humboldt 1960 I, 235 f.) unterstreicht. Gerade mit diesen Worten aber stellt er die Distanz und Fremdheit der Welt im Hinblick auf den Menschen deutlich heraus. Insofern lässt sich, wenn eben auch in stärker abgemilderter Form als in Kants Transzendentalismus (vgl. Kant KrV B XVI) oder Fichtes Metaphysik des reflexiv-tätigen Ich in der Wissenschaftslehre von 1794 (vgl. Fichte 1997, 18) , die moderne Entfremdung von Mensch und Welt erst dadurch überwinden, dass die Getrennten durch eine möglichst enge Verbindung – aber eben dennoch voneinander geschieden – in Beziehung gebracht werden sollen (so auch Witte 2010, 125). Bildung im Sinne von Humboldts skizziertem Entwurf betont somit die Autonomie menschlicher Subjektivität nicht im selben Maße wie es andere Entwürfe taten (s.o.: Rousseau, Herder, Schiller), zeichnet sie aber dennoch als herausgehobene in einer ihr fremd bleibenden Welt. Mehr noch: Auch die Selbstreflexivität, die der modernen Subjektivität eignet und mit deren Hilfe sie ein – womöglich konsistentes – Bild der Menschen von sich zu zeichnen sucht, lässt sich im Denken Humboldts mit relevantem Gewicht für den Bildungsbegriff ausweisen (vgl. Benner 2003, 19 sowie 33) . Hier spielt die Welt als das Fremde und Andere eine maßgebliche Rolle, indem sich das Subjekt als selbstgewisses von sich ausgehend der Welt zuwendet, um die ‚Kräfte seiner Natur zu stärken und zu erhöhen‘ sowie ein Verständnis von sich wie der Welt zu gewinnen (vgl. Humboldt 1960 I, 235 f.). Damit aber wird das menschliche Selbstverstehen begründet von einem Standpunkt gegenüber „den Gegenständen ausser
24 Zu Struktur und Genese dieses Gedankens im Werk Fichtes vgl. auch Henrich 1967 sowie 1966. Zu Parallelen der Subjekt-Objekt-Strukturierung von Fichte und Humboldt vgl. Witte 2010, 132. Zu den aus Fichtes Denken abgeleiteten frühen Perspektiven einer Erziehungsphilosophie vgl. Benner 2001, 91 ff. 25 Witte (2010, 124 ff.) macht in diesem Zusammenhang auf den individualisierenden „Verfügungsrationalismus“ des frühen Humboldt aufmerksam. Dass dessen bildungstheoretische Argumentation allerdings weniger vernunft- denn naturphilosophisch geprägt ist, betont andererseits Ricken 2006, 258 f. Beide Auffassung dürften indes darin überein kommen, dass Humboldt auf einen reflexiven Prozess abhebt, bei dem sich das sich bildende Individuum aufgrund bestimmter Selbstzuschreibungen zu einer Selbstorganisation selbst ermächtigt und antreibt, die als Bildung bezeichnet werden kann.
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ihm“ (ebd. 237) und darin seinerseits ebenso selbstbegründend wie weltfremd. Der menschliche Geist, dem diese Aufgabe zunächst obliegt, ist nach Humboldt bestimmt von den Strukturen „vollkommene[r] Einheit und durchgängige[r] Wechselwirkung, beide muss er also auch auf die Natur übertragen“ (ebd.) und dabei doch wieder der Vorherrschaft des Denkens den Weg bahnen. Auch bei Humboldt artikuliert sich die untersuchte Dichotomie von Innen und Außen in einer Dichotomie von Selbstentfremdung und Weltfremdheit. Einen konsistenten Bezug zwischen den angesetzten Innen- und Außenseiten des Menschen scheint diese Struktur ebenso wenig zu ermöglichen wie einen ebenfalls durchgängigen Bezug von Mensch und Welt. Somit kann festgestellt werden, dass – trotz aller Relativierung der Vernunft und Relationierung menschlich-weltlicher Bezüge – auch bei Humboldt die Welt, das Andere des Selbst, der „NichtMensch“ dazu herangezogen wird, dass sich der Mensch im Bildungsprozess selbst besser verstehen, gar erstmalig überhaupt in „emanzipierter Weise“ erfassen kann, indem das Fremde in das Eigene umgewandelt, Welt in den Menschen und das Äußere in das Innere hineingeholt wird. Daher versteht sich der Mensch aus sich selbst, gerade indem er seinen Weltbezug als unhintergehbar betont. Denn nur indem das Andere dem Eigenen als Fremdes angetragen wird, kann sich der Mensch – aber eben als befremdeter – ausbilden und darin seine „Eigenthümlichkeit“ (ebd. 342) verwirklichen. Nun kann Bildung nicht mehr „als ein sowohl relational als auch selbstreferentiell strukturierter Prozess der Selbstgestaltung verstanden werden.“ (Ricken 2006, 263) Vielmehr steht die Relationalität im Dienst der Selbstreferentialität, ist die Beziehung zur Welt lediglich Mittel zum Zweck der Selbstbezogenheit, die eben eines anderen bedarf, um sich selbst als diesem gegenüber zu erfassen. Insofern ist Bildung ein relationaler Prozess der Selbstentfremdung, der den Erfahrungsraum öffnet, sich auf sich selbst zu beziehen und gerade darin auf subjektive Weise das Selbst zu gestalten. Auch Humboldt stilisiert eine Innerlichkeit des Menschen, die mit der äußerlichen Welt zumindest unmittelbar nichts gemein hat, gerade als das Äußere auf das Innere höchstens mittelbar Einfluss ausübt: „Was im Men-
26 Zur durchgehend der Aufklärung verpflichteten Einstellung Humboldts, hier besonders vor dem Hintergrund von dessen Sprachauffassung, vgl. Trabant 1994, 202 f.
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schen gedeihen soll, muss aus seinem Innren entspringen, nicht ihm von aussen gegeben werden“ (Humboldt 1960 I, 36). Humboldt zeichnet den Menschen sicher nicht als autonom (zur sprachphilosophischen Begründung dieser Auffassung vgl. Humboldt 1965 III, 252; zudem Trabant 1990; Borsche 1997; ferner Witte 2010, 145 ff.), wenngleich er ihn doch als letztlich initiativ werdende Innerlichkeit beschreibt: „Die Vernunft hat wohl Fähigkeit, vorhandnen Stoff zu bilden, aber nicht Kraft, neuen zu erzeugen. Diese Kraft ruht allein im Wesen der Dinge, diese wirken, die wahrhaft weise Vernunft reizt sie nur zur Thätigkeit, und sucht sie zu lenken.“ (Humboldt 1960 I, 36)
Insofern wird deutlich, dass Humboldt den Dingen eine weitaus bedeutendere Rolle für die menschliche Erfahrung zuspricht als dies andere Autoren (wie Kant oder Fichte) tun. Die Initiative jedoch geht für ihn von einer die Dinge reizenden Vernunft aus, so dass Letztere die Verfügungsgewalt über die Erfahrungen zumindest zu deren Beginn innehat. Eine solche Erfahrungsprozedur macht des Weiteren die Innerlichkeit des Menschen bedeutsam, als es nach Humboldt gilt, „den Gesichtspunkt von den äussren physischen Erfolgen hinweg auf die innere Bildung des Menschen“ zu richten und solcherart „die innere geistige Stimmung, aus welcher [die äußeren Folgen der Handlungen; A.B.] fließen“, zu qualifizieren (ebd. 127). Daraus wiederum ergibt sich eine „Mortifikation“ der in den Objektstatus versetzten Natur sowie in sozialen Bezügen die „Verobjektivierung des Anderen“ (Witte 2010, 126; anderer Auffassung scheint Benner 2003, 100 zu sein, der nach wie vor die „bildende Wechselwirkung von Mensch und Welt“ herausstreicht). Demzufolge vermag „sich das Ich allererst durch und in Welt“, aber eben nicht als Welt oder zumindest als Teil von Welt „als es selbst hervorzubringen“ (Ricken 2006, 264). Das religiösmetaphysische Erbe des Bildungsbegriffs (vgl. etwa Buck 1984, 157 f. oder auch Witte 2010, 129) kann wohl kaum deutlicher zum Vorschein kommen und markiert zugleich den Prozess einer Subjektivierung der Individuen zum Zweck ihrer (Selbst-)Führung mit Hilfe verschiedener „Existenztechniken“ (Foucault 1989, 11). Würden die hier skizzierten traditionellen Zugänge zum Bildungsgeschehen indes tatsächlich in Gänze realisiert, hätte dies fatale Folgen, wie sich etwa
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mit dem Blick auf das Verständnis des Ich zeigt. Ein Ich als der Welt schlechthin Fremdes bliebe stets der Welt und ihren Dingen distanziert, könnte sich letztlich nicht in diesen finden, sondern müsste letztlich bei sich verbleiben. Die angesetzte Bewegung von Innen – Außen – Innen würde bereits ihren ersten Schritt nicht wirklich realisieren können. Der Versuch der völligen Abkapselung von der Außenwelt jedoch wird sich im bildungstheoretischen Diskurs immer wieder ausweisen lassen und bedarf wohl erst der Analysen einer selbstkritischen Moderne (zu kulturtheoretischen Konsequenzen selbstkritischer Zugänge vgl. etwa Lepenies 1996, 59), um die Enge einer anthropologischen Struktur deutlich werden zu lassen, die sich noch immer in die Dichotomien von Mensch und Welt, d.h. auch von einem Innen und einem Außen im Menschen und am Menschen spannen lässt.
1.2 SKEPTISCHE AUFKLÄRUNG: SUBJEKTIVITÄT ALS DIALEKTIK Kann Aufklärung, wie in der vorliegenden Schrift angesetzt, zumindest noch selbstkritischer Maßstab für ein Bildungskonzept sein – angesichts dessen, was nicht nur spätestens ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an vernunft- und subjektphilosophischer Kritik geübt wurde, und mehr noch vor der beklemmenden Erfahrung des völligen Versagens besonnen abwägender Impulse der Aufklärung im „Weltuntergang“ (so auch Fritzsche 1996, 9 u.ö.) der Schoah? Dieser Frage stellt sich die im Folgenden entfaltete Argumentation und greift zurück auf die „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer/Adorno 1997), jene Programmschrift der „Frankfurter Schule“, die in Fragmenten philosophischen Ringens die Frage nach der Tragfähigkeit aufgeklärten Denkens, nicht zuletzt in totalitärer Zeit, zu beantworten suchte (vgl. auch Wellmer 1985, 137 ff.; Schmied-Kowarzik 2008, 120; Schäfer 2009, 189; Heyl 2010, 115 ff.) . Dass dieses Problem
27 Bildungstheoretisch divergierende Auffassungen rekonstruiert Nieser (1992, 11 ff.) unter dem Begriff des „unter Pädagogen nachgeholten ‚Historikerstreit[s]‘“ (ebd. 11) im Hinblick auf die Frage, ob dieser „Weltuntergang“ als Ausdruck von Kontinuität oder Diskontinuität erziehungswissenschaftlicher Theoriebil-
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der Moderne auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts benannt und bearbeitet werden muss, ist Konsequenz der historischen Katastrophe, die den Zusammenhang von Bildung und Vernunft im Faschismus aufs Schärfste in Frage stellte und auch Jahrzehnte später noch der Thematisierung bedarf (vgl. etwa Kunert 1997), um als kritische Erziehungswissenschaft eine Po sition zu dieser Tragödie erarbeiten zu können. Der Ansatz der Frankfurter Schule verbleibt in der philosophiegeschichtlichen Epoche der Moderne (vgl. dazu die skeptische Einschätzung nachgerade der Philosophie Adornos in Waldenfels 2008, 277). Es geht insbesondere um die Infragestellung, Aufhebung und veränderte Wiedergewinnung der Vernunft als rationaler, nicht um ein als postmodern bezeichnetes „ästhetische[s] Weltverhalten“ (Schnädelbach 1987, 180; bezieht sich auf Adornos Negative Dialektik). Mit modernen Mitteln wurde angestrebt, „daß Auschwitz nicht noch einmal sei“ (Adorno 1997 X.2, 674). Bei dieser Form der Gesellschaftswie der Vernunftkritik muss Vernunft „rational konstruiert sein, selbst
dung zu verstehen sei. Horkheimer/Adorno hingegen scheinen die geschichtsphilosophische Grundlegung ihres Werkes eher in einer ‚dialektischen Strukturthese‘ zu sehen, welche „die Geschichte hinter der Geschichte“ (Schnädelbach 2008, 132) der Aufklärung zu entziffern sucht. Für eine weiter reichende Dialektik der leiblich beschränkten Vernunft vgl. mit Bezug auf Goya Mollenhauer 1998, 76 f. 28 Es versteht sich, dass eine „kritische Erziehungswissenschaft“ nicht mit der Aufnahme kritischer Positionen der Frankfurter Schule ineins zu setzen ist (vgl. bereits Ruhloff 1983, ferner die Aufsätze in Benner/Göstemeyer/Sladek 1999 sowie – mit Bezug auf Ruhloff – Benner 2000; sodann zum Verhältnis von monopolisierter Kritik und pluralen Kritiken in der Erziehungswissenschaft Benner 2008, 70 ff.). Die Einordnung kritischer Varianten der tradierten Erziehungswissenschaft nimmt skeptisch vor: Tenorth 1999a, 138 ff.; sowie im selben Band, jedoch mit mehr Zuversicht Krüger 1999, 162 ff. Silverman (2008) verweist zudem darauf, dass sich im 21. Jahrhundert weitere Perspektiven mit Bezug auf „das Gegen-sich-selbst-Kehren des Traums der Aufklärung“ (ebd. 76) zu verzeichnen sind, als das Attentat vom 11.9.2001 die Doppelbödigkeit der Freiheitsbestrebungen aufgeklärter Nationen deutlich mache: Statt Freiheit als Akt der Entscheidung zu ermöglichen, solle sie in Reaktion auf dieses Ereignis nun gewaltsam durchgesetzt werden – und werde gerade dabei ihrer unfrei machenden Anteile überführt.
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wenn die Wirklichkeit es nicht ist.“ (Schnädelbach 1987, 204) Denn nur für diesen Fall können Kritik und Suche nach Wahrheit ‚auf den Begriff ge bracht‘ werden. Die erstmals 1947 veröffentlichte Schrift versteht sich offenkundig als Antithese zu der Auffassung eines Erfolges westeuropäischer Aufklärung: „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ (Horkheimer/Adorno 1997, 19)
So formulieren Horkheimer und Adorno zu Beginn ihrer Untersuchung, die mit philosophischen Mitteln der Tragödie im Land der aufgeklärten „Dichter und Denker“ auf die Spur kommen möchte. Die Bestrebungen der Aufklärung, mit vernünftigen Mitteln den „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) auszurufen, können nach Auffassung der beiden kritischen Philosophen als Wagnis gesehen werden, zur vernunftbegründeten Freiheit von Fremdherrschaft zu finden. Dass die Praxis der Aufklärung solche Schritte zu gehen versuchte, sind sich auch deren Kritiker bewusst, doch markieren sie die Kehrseite aufklärender Bestrebungen: „Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt. […] Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen.“ (Ebd., 20; vgl. auch Horkheimer 1985, 412)
29 Hegel, einer der maßgeblichen Bezugsautoren für Horkheimer und Adorno, hat „den Begriff das genannt, was der Gegenstand an sich ist, den Gegenstand aber das, was er als Gegenstand, oder für ein Anderes ist, so erhellt, daß das An-sichsein und das Für-ein-anderes-sein dasselbe ist; denn das An-sich ist das Bewußtsein; es ist aber ebenso dasjenige, für welches ein anderes (das An-sich) ist; und es ist für es, daß das An-sich des Gegenstandes und das Sein desselben für ein Anderes dasselbe ist; Ich ist der Inhalt der Beziehung und das Beziehen selbst; es ist es selbst gegen ein Anderes, und greift zugleich über dies Andre über, das für es ebenso nur es selbst ist.“ (Hegel 1970 III, 137 f.).
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Deshalb wird es den aufgeklärten Menschen möglich, mit Hilfe ihrer Vernunft die Verhältnisse zu gestalten – in der Bearbeitung der Natur ebenso wie in der Bearbeitung sozialer Verhältnisse. Die These von Horkheimer und Adorno lautet demgemäß, dass vernünftiges Handeln die Spielräume der Menschen erweitert, es dazu aber offenkundig eines verlässlichen Maßstabes ebenso mangelt wie andererseits vernünftiges Handeln einer – gewissermaßen antithetischen – Konsequenz einsichtig wird: Vernunft zu Herrschaftszwecken eingesetzt, führt zur Herrschaft der Vernünftigen, auch und gerade dort, wo es verschiedene Vernunftbegabte miteinander zu tun bekommen. Wer vernünftig handelt, ist mitunter in der Lage und dann womöglich auch willens, die anderen zu unterwerfen – und kann ebenfalls von ihnen unterworfen werden, sofern sie etwa über strategisch weiterreichende Vernunftmittel verfügen. Und nicht nur dies: Mit Hilfe naturwissenschaftlich vorangetriebenen „Wissen[s], das Macht ist“, entfremdet sich der Mensch auch von sich selbst, macht sich zum unterworfenen Produkt des eigenen Handelns (vgl. auch Heydorn 1979, 316; zur kritischen Bildungstheorie Heydorns vgl. auch Bock 2008, Bierbaum 2004 sowie Pfeiffer 1999, 210 ff.) Kritisch zum kritischen Bildungsbegriff – näherhin: Heydorns – wurde bereits betont, dass die Problematik von Herrschaft in seinem Werk dadurch zum Ausdruck komme, dass „Heydorn freilich nur die Herrschaft meint, der das denkende Subjekt unterworfen ist, nicht aber die, die es selbst ausübt. […] Dieser blinde Fleck der Herrschaftskritik findet sich in Heydorns Gedankengängen kaum anders als bei den Vordenkern aus der griechischen Sklavenhaltergesellschaft; den Einwand der ‚Dialektik der Aufklärung‘, Vernunft verdanke ihre Freiheit der Unterwerfung und Bemächtigung des Anderen, […] nimmt er nicht auf.“ (Boenicke 2000, 57 f.)
Folgerichtig reicht die in der vorliegenden Studie eingenommene Perspektive einer Rekonstruktion von Strukturen der Subjektivität in subjekt- wie gesellschaftskritischer Absicht über eine an Heydorn orientierte Auffassung der Befreiung von Individuen innerhalb der Gesellschaft mit den Mitteln der Bildungsarbeit (vgl. Schmied-Kowarzik 2008, 125 ff.) hinaus, was sich
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auch an der Absetzung von dessen identitätstheoretischen Optionen (vgl. ebd. 69 ff. sowie – mit Rekurs auch auf Foucault – 195 ff.) zeigt. Auch unter dieser Hinsicht ist der Mensch „unterworfener Souverän“ (Foucault), der sich gerade im Bestreben, mehr von seiner Herrschermacht zu verwirklichen, umso tiefer in das Geflecht der entfremdenden Herrschaft anderer wie seiner selbst verstrickt (vgl. auch Sattler 2009, 56 ff.). Horkheimer und Adorno machen eine bestimmte Form der Aufklärung – und nicht diese in Gänze (vgl. zur Kritik der beiden Autoren am Subjektivitätsverständnis der Aufklärung Alker 2007, 137 ff.) – für die „Versklavung“ der Aufgeklärten verantwortlich: „In der Reduktion des Denkens auf mathematische Apparatur ist die Sanktion der Welt als ihres eigenen Maßes beschlossen. Was als Triumph subjektiver Rationalität erscheint, die Unterwerfung des Seienden unter den logischen Formalismus, wird mit der gehorsamen Unterordnung der Vernunft unters unmittelbar Vorfindliche erkauft. Das Vorfindliche als solches zu begreifen, den Gegebenheiten nicht bloß ihre abstrakten raumzeitlichen Beziehungen abzumerken, bei denen man sie dann packen kann, sondern sie im Gegenteil als die Oberfläche, als vermittelte Begriffsmomente zu denken, die sich erst in der Entfaltung ihres gesellschaftlichen, historischen, menschlichen Sinnes erfüllen – der ganze Anspruch der Erkenntnis wird preisgegeben.“ (Horkheimer/Adorno 1997, 43; zur instrumentellen Vernunft vgl. auch Horkheimer 1976, 43)
Dass jedoch Wissenschaft nicht erst durch ihre dialektische Umkehrung in die Negation zu einem dogmatisch-unterwerfenden Verfahren wird, sondern schon in vormodernen Zusammenhängen keineswegs „contradogmatisch“ sei, macht Helmer (1994, 16 f.) an facettenreichen historischen Belegen gerade des 17. Jahrhunderts deutlich. Gleichwohl ist seiner Auffassung entgegen zu halten, dass es sich bei derlei ‚wissenschaftlicher Dogmatik‘ eben um die noch nicht zureichend aufgeklärte Wissenschaft handelt, eben jene im „dogmatischen Schlummer“ (Kant) ihrer reflexiven Selbstkritik.
30 Zur Diskrepanz zwischen aufgeklärt-humanem Denken und inhumanem Handeln am Beispiel Johann Wolfgang von Goethes vgl. auch Scholz 2004, 57. Scholz kreidet Goethe an, sich für die Hinrichtung der Kindsmörderin Johanna Catharina Höhn ausgesprochen zu haben.
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Eine alternative Sichtweise auf die „Entfaltung [des; Anm. A.B.] gesellschaftlichen, historischen, menschlichen Sinnes“ beschreibt Sünker in Anlehnung an die kritische Bildungstheorie Heydorns, indem er auf die „Subjektkonstitution“ durch „Mäeutik und Dialogik“ aufmerksam macht (Sünker 1995, 71). Bildung ermöglicht Subjektivität, als sie auf menschliche Anerkennung verwiesen bleibt und von dorther das Individuum in die Lage versetzt, sich angesichts der ‚bewusst gestalteten gesellschaftlichen Verhältnisse‘ (vgl. ebd. 72) mit sich und der Welt in Beziehung zu setzen. Die beiden Kritiker der Aufklärung verweisen durchaus konstruktiv auf den Ausgang der Aufgeklärten aus ihrer selbstverschuldeten Unterwerfung – durch Momente eines Begreifens, das sich in die „gesellschaftlichen, historischen, menschlichen“ Bezüge begibt und von dorther Sinn erkennen kann. Durch den Verweis auf diese „gesellschaftlichen, historischen, menschlichen“ Maßstäbe scheinen die Autoren eine Aufhebung der aufklärerischen Selbstversklavung in den Blick nehmen zu wollen. Mit nahezu ähnlichem Gedankengang, aber dialektischer Umkehrung des Blicks in die bildungspraktische Sackgasse macht dann Heydorn den Ausweg deutlich: „Die neue Schule, der Superkomplex von business education, wird zur vollendeten Mechanik. Sie wird den Entfremdungsprozeß in der Bildung erst wirklich machen; mit ihr muß die Aufhebung anfangen.“ Und nach einem geradezu prophetisch stilisierten Untergangszenario macht er deutlich: „Es kommt darauf an, die Täuschung zu erkennen, die positivistische Mythologie, die Verewigung des Leidens durch einen Mythos, der seine Irrationalität unter der Statik verbirgt.“ (Heydorn 1979, 326 f.) Die Konsequenzen einer halbierten und die kritische Selbstaufklärung der Aufklärung verunmöglichenden Perspektive wirkt sich auch auf das pädagogische Verhältnis der Generationen aus: „Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt. Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an, und stets war die Lockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart.“ (Horkheimer/Adorno 1997, 50)31
31 Thyen weist darauf hin, dass diese Auffassung im Sinne einer „selbsterhaltende[n] Vernunft“ gelesen werden müsse und lediglich „die Schwundstufe der
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Wurde bereits im Umgang mit den Dingen die „gehorsame Unterordnung der Vernunft unters unmittelbar Vorfindliche“ kritisiert, so wird diese Unterordnung nun sogar pädagogisch gesteigert. Denn nicht allein die Positivität des Vorfindlichen steigt zum Bezugspunkt von Verstehen und Handeln auf, sondern im pädagogischen Bezug wird solche Positivität – als zusam menzuhaltendes Ich – allererst geschaffen. Die Vielgestaltigkeit und Vorläufigkeit menschlichen Selbstumganges und Handelns wird nach Auffassung von Horkheimer und Adorno gewaltsam negiert, in die Form eines Ich gepresst und dort zum vereinheitlichten Maßstab des normierten Selbstverstehens erhoben. Unter der Perspektive der beiden zitierten Autoren werden Erziehung und ihre Wissenschaft zu Agentinnen des Machterhalts, um dafür zu sorgen, dass „das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen“ über die Generationen hinweg eingerichtet und in den Einzelnen erhalten wird (vgl. auch Bernhard 1997, 65).
Idee objektiver Vernunft“ darstelle (Thyen 1989, 65; speziell zu Adornos Vernunftkritik vgl. auch Brunner 1994, 220 ff.). Dem Entfremdungsprozess von Welt und Mensch wird nochmals Vorschub geleistet, als die in dieser Hinsicht zu rekonstruierenden Strukturen von Subjektivität lediglich ihre eigene Bewahrung und Fortführung anzielen, von den weltlichen Zusammenhängen jedoch lediglich unter Verwertungsabsichten Notiz zu nehmen scheinen. Zu einer als „vernunfttranszendierender“ Kritik gelesenen Auseinandersetzung vgl. Fromme 1997, 43 f. Unter der Perspektive einer Auseinandersetzung mit den „Bedingungen neoliberaler Bildungsreformen“ vgl. Messerschmidt 2010, 136 ff. 32 Kritisch zu einer solchen subjekttheoretischen Positivität der Pädagogik vgl. die Beiträge in Fischer 1989 sowie im Anschluss an den dort betonten Ausfall von Letztbegründungen in der modernen Pädagogik Ruhloff 2000. 33 Wenn auch Blankertz (1982, 306 f.) auf die „Dialektik der Aufklärung“ und deren Auswirkungen für eine – zumal neukantianisch verstandene – aufgeklärte Pädagogik aufmerksam macht, so scheint er doch die Skepsis von Horkheimer und Adorno hinsichtlich des Vernunftbegriffs nicht umfänglich übernehmen zu wollen: „Wer pädagogische Verantwortung übernimmt, steht im Kontext der jeweils gegebenen historischen Bedingungen unter dem Anspruch des unbedingten Zweckes menschlicher Mündigkeit – ob er das will, weiß, glaubt oder nicht, ist sekundär.“ (Ebd. 307).
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Für das Verständnis von Bildung als Frage des Menschen nach sich im Umgang mit der Welt ergibt sich abermals die paradoxe Situation eines Ich, das sich auf die Welt beziehen soll, ohne mit ihr in Kontakt treten zu können: „Identität bedeutet, einen Ort einzunehmen, an den sich das Selbst aus seiner Beschäftigung mit der Welt zurückgezogen hat. Zunächst ist das noch der göttliche Kosmos, später die berechenbar gemachte Welt.“ (Schäfer/Thompson 2010, 150; vgl. mit skeptischem Blick auf Husserl und Heidegger bereits Adorno 1997 V, 191 u.ö.)
Der solcherart aufgeklärte Mensch entzieht sich der Welt, um sich ganz auf den Zusammenhalt seiner Identität zu konzentrieren, und greift aus diesem Exil heraus handelnd auf die Welt zu. Eine solche Struktur der durch Identität hervorgerufenen Weltfremdheit lässt zumindest leichter verstehen, inwiefern „die Sanktion der Welt als ihres eigenen Maßes beschlossen“ werden kann. Denn was als gesellschaftliche und praktische Bezugsgröße „eigenen Maßes“ nicht mehr gesehen werden kann, weil das Ich sich von diesem Bezug verabschiedet hat, steht dann zumindest leichter der instrumentellen Nutzung zur Verfügung. Eine eigene Wertigkeit von Welt nämlich kann dann sehr viel weniger wahrgenommen werden, wenn die Identität als „Urform von Ideologie“ (Adorno 1997 VI, 151) den unvoreingenommenen Blick auf die Dinge und die Welt beschränkt.
Gerade an einer normativen „Mündigkeit“ im Sinne einer Konsequenz aus aufgeklärtem Bildungsverständnis muss mit Blick auf die antithetischen Momente der Aufklärung nach Horkheimer und Adorno Zweifel angemeldet werden. Denn die Norm selbstbestimmten vernünftigen Selbst- und Weltumganges kann angesichts der Dialektik von Aufklärung und Selbstunterwerfung kaum plausibel erscheinen; „das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen“ (Horkheimer/Adorno) als negative Folge der Sozialisation in eine aufgeklärte Gesellschaftsstruktur legt eine skeptische Zurückhaltung hinsichtlich der Möglichkeiten und Formen von Mündigkeit nahe. 34 Damit wird auch die Eindeutigkeit von Sprache – nachgerade für den Bildungsbegriff – fraglich, wie Horkheimer in seiner Rektoratsrede aus dem Jahr 1952 deutlich macht: „Definitionen mögen widerspruchslos sein, die Wirklichkeit aber, in der wir leben und die von den Begriffen getroffen werden soll, ist wi-
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Stattdessen verzerrt die Weltfremdheit des Ich, des seiner selbst mächtigen, aber auch machtvoll über die Dinge zu verfügen meinenden Subjekts, dessen Blick auf seine Umwelt: „Wie durch die Scharten eines Turms blickt es [das souveräne Subjekt; Anm. A.B.] auf einen schwarzen Himmel, an dem der Stern der Idee oder des Seins aufgehe. Eben die Mauer ums Subjekt jedoch wirft auf alles, was es beschwört, den Schatten des Dinghaften, den subjektive Philosophie ohnmächtig dann wieder befehdet.“ (Adorno 1997 VI, 143)
Die feste Burg der Subjektivität ist Voraussetzung für einen Weltbezug, der Dinge als verfügbare auffasst und auf diese Weise Handlungssicherheit vermittelt, aber auch die Gewissheit der eigenen Sicherheit vor einem bedrohlich überwältigend erscheinendem Chaos. Das Erkenntnissubjekt flieht somit geradezu vor dem „intimen Verhältnis zu den Dingen“ (Stieve 2003) in die Distanz des gesicherten Zugriffs auf sich selbst als Subjekt (Selbstbewusstsein) und auf Anderes durch das Subjekt (Welt) (zur diesbezüglichen Dialektik des bildenden Weltbezugs vgl. auch Derbolav 1972, 121 ff. sowie diesen interpretierend Schmied-Kowarzik 2008, 100 ff.). Damit wird zwar „die scheinhafte Einheit einer fingierten Sinn-Totalität“ (Wellmer 1985, 163) zum Ziel, das der subjektiven Praxis unterlegt wird, doch letztlich macht sich lediglich eine faktische wie epistemologische Negierung von Welt im Denken der Distanz Suchenden breit, das sich auch auf das instrumentell verkürzte Handeln der Menschen auswirkt (vgl. zu Adornos Kritik am Begriff des distanzierten Subjekts auch Alker 2007, 125 ff.). Die „Angst vor dem Chaos […] prägte in ihren Anfängen die fürs bürgerliche Denken insgesamt konstitutive Verhaltensweise aus, jeden Schritt hin zur Emanzipation
derspruchsvoll.“ (Horkheimer 1985, 409 f.) Dabei ist zur semantischen – und daraus resultierend systematischen – Differenz identifizierenden Sprechens festzuhalten: „Etwas mit etwas zu identifizieren, ist etwas anders, als etwas als etwas zu identifizieren.“ (Thyen 1989, 118) Die hier dargestellte Identitätskritik subjektiver Strukturen legt offenkundig den erstgenannten Aspekt zugrunde. 35 Wellmer (1985, 164) kommt zu dem Schluss, dass Adornos Denken von der Vereinheitlichung des Vernunftbegriffes geprägt und daher der Rekonstruktion pluraler Vernunftauffassungen noch nicht fähig war.
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eilends zu neutralisieren durch Bekräftigung von Ordnung.“ (Adorno 1997 VI, 32; vgl. auch Horkheimer/Adorno 1997, 19)
Solche Angst soll offenkundig dadurch bekämpft werden, dass sich die Menschen von weltlicher wie von menschlichen Eigensinnigkeiten und Unübersichtlichkeiten als Erscheinungsformen des gefürchteten Chaos‘ zurückziehen und eine Identität als Ausdruck subjektiver Ordnungsmaßnahmen anstreben, die ebenso eindeutig wie verfügbar ist. Unter dieser Perspektive strebte die Aufklärung nach Beruhigung der furchterregenden menschlichen Ausgesetztheit in die innere wie äußere Vielgestaltigkeit – und gelangte durch diese gewaltsame Vereinheitlichung von Mensch wie entfremdeter Welt zu einem mechanistischen Umgang mit sich und den Anderen. Dementsprechend ist unter dialektischer Perspektive nach der Synthese beider Optionen zu fragen: Gibt es eine Position, die sowohl die Möglichkeiten (etwa kritisch-emanzipatorische sowie rational-reflexive Selbstbilder) als auch die Probleme aufgeklärten Denkens (technologische und identitätsspezifische Verengung des Menschenmöglichen innerhalb der Welt) und deren Konsequenzen aufheben sowie einen veränderten Ansatz für ein sich daraus ergebendes Bildungsverständnis ermöglichen? In der Struktur einer „negativen Dialektik“ (Adorno 1997 VI) , die sich dem Einzelnen ohne Einordnung in ein „idealistisch“ übergeordnetes System zuwendet (vgl. Wiggershaus 1987, 36 f.), ist davon auszugehen, dass mit einer solchen Synthese der offene und fragmentarische Charakter dieser Lösung bestehen bleibt (vgl. Alker 2007, 169 f.; ferner mit Blick auf eine skeptisch kritische Einstellung der Pädagogik Ruhloff 1999, insbes. 24 ff.). Doch
36 Vgl. auch Guzzoni 1981, 21 sowie unter der Perspektive pädagogischphilosophischer Skepsis Schäfer 1997, 131. Zum Verhältnis der „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer/Adorno 1997) zur „Negativen Dialektik“ (Adorno 1997 VI) vgl. differenzierend Thyen 1989, insbes. 176 ff. 37 Gleichwohl ist mit einer solchen Offenheit und der Suche Adornos nach einer auch metaphysischen Ausdrucksweise (vgl. etwa Alker 2007, 208 ff.) nicht zwingend eine deistische Engführung oder auch nur Verwertbarkeit der Kritischen Theorie für eine Theologie anzusetzen, wie die Autorin dies im eifrigen Bemühen erkennen lässt, solche Nähe von Kritischer Theorie und Erlösungslehre zu konstatieren (vgl. ebd. 193 ff., insbesondere 207; zum Glauben bei A-
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wird es zumindest möglich, die skizzierten Problemfelder kritisch zu verstehen und deren strukturelle Dilemmata nicht unhinterfragt fortzuführen. Durch deren Kritik nämlich wird kenntlich, dass sich Bildung nicht auf die Innerlichkeit eines Subjektes beziehen lässt, sondern auf die Praxis von Menschen gestützt werden muss: „Wenn Herder, Schiller, Humboldt und Schleiermacher auf der ihrer Periode angemessenen Verinnerlichung insistierten, hat das realistische Ingenium von Hegel und Goethe tiefer gesehen als die individualistischen Denker […]. Jene beiden haben gewusst, daß der Weg der Bildung einer der Entäußerung ist; man könnte auch schlicht sagen: einer der Erfahrung.“ (Horkheimer 1985, 415)38
Aus einem solchen Konzept ließe sich ein Verstehen und verstehendes Umgehen des Eigensinnigen und Unübersichtlichen eines Sachverhaltes in eventuell weniger gewaltsamen, weil weniger identifizierend-einordnenden Bezügen ableiten:
dorno, der indes eine dezidiert immanente „Praxis […], die gelingen will“ umschreibe, vgl. Menke 2008, 197 f.; zu den mythischen Motiven, die einen „Erlöser“ in der Geschichtsphilosophie Adornos ermöglichen, vgl. Schnädelbach 2008, 144 f.; schließlich zum auch für die Pädagogik erkennbaren Bestreben, Adornos Negativität ins Positive zu verkehren vgl. bereits Fritzsche 1996, 10). 38 Zu den solcherart von bildungstheoretischer Dialektik betroffenen Sinnbereichen, etwa auch den praktischen und ästhetischen, vgl. Derbolav 1971, 108. Wegen der Relevanz des wenig später von Horkheimer Ausgeführten für die vorliegende Arbeit seien auch die dortigen Hinweise hier wiedergegeben: „Es gibt eine moderne Denkweise, die annimmt, daß ein Mensch nur dann vernünftig handelt, wenn sein eigenes oder fremdes Wohl die letzte Absicht sei. […] Aber diese menschenfreundliche Philosophie weiß nichts davon, daß die Menschen zu leeren Hülsen werden, wenn sie nicht vermögen, in der Sache aufzugehen. […] Jede echte menschliche Beziehung ist vermittelt, sie gründet in einer gemeinsamen Bekümmerung um ein Anderes, sei es das summum bonum, Gerechtigkeit, oder irgendein schlichtes Werk. Erst ein solches Interesse gibt der Beziehung bestand.“ (Horkheimer 1985, 416 f.) Zu einer die bürgerliche Ordnung allerdings bloß affirmierende Dialektik bei Hegel vgl. Schmied-Kowarzik 2008, 41 ff.
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„,Bildung‘ im Sinne von ‚unreduzierter Erfahrung‘ zielt gerade nicht auf irgendeine Form von Identität oder Totalität, sondern besteht im Geltendmachen dessen, was jeder Identität und Totalität notwendigerweise entgeht: des Nichtidentischen.“ (Koller 1999 145; rekurriert auf Adorno)
Das solcherart Nichtidentische verbessert zwar nicht auf dem Umweg der Bildung die Lage der Einzelnen (vgl. Adorno 1997 VIII, 98), verweist jedoch die Einzelnen auf einen praktischen Bezug zu Einzelnem, das sich nicht totalitär durchschauen und nutzen lässt (zur unbestimmten Negation als nicht-teleologischem und widerständigem Konzept von Bildung vgl. Thompson/Weiss 2008, 13). Bildung angesichts der Herausforderung durch das Nichtidentische ist auf die Erfahrung des Gegebenen in seiner schillernden Vieldeutigkeit verwiesen, um darin die Reichweite des eigenen Verstehens und Handelns erkennen und zugleich die damit einhergehenden Grenzen von Autonomie und Freiheit, den Maßgrößen des klassisch formulierten, bürgerlichen Bildungsbegriffs (vgl. Reitemeyer 2001, 132), vorfinden zu können. Ein solcher Bildungsbegriff des Nichtidentischen und somit den subjektiven Verständnisformen Entzogenen wird zu einem kritischen, indem er die labile Position der Einzelnen angesichts der Totalität einer Kultur technologisch-pragmatischer Vernunft kenntlich macht (vgl. diesbezüglich auch Heydorn 1980). Unter der Perspektive der Kritischen Theorie lässt sich festhalten, dass ein identifizierendes Denken, zumal in der Bildungstheorie und ihrer sozia lisatorischen Auswirkungen als „Halbbildung“ (Adorno 1997 VIII, 92) , angesichts der historischen Katastrophen wie philosophischer Einsprüche kaum mehr zu überzeugen weiß: „Identität ist die Urform von Ideologie. Sie wird als Adäquanz an die darin unterdrückte Sache genossen; Adäquanz war stets auch Unterjochung unter Beherrschungsziele, insofern ihr eigener Widerspruch.“ (Adorno 1997 VI, 151)
39 „Im Klima der Halbbildung überdauern die warenhaft verdinglichten Sachgehalte von Bildung auf Kosten ihres Wahrheitsgehalts und ihrer lebendigen Beziehung zu lebendigen Subjekten. Das etwa entspräche ihrer Definition.“ (Adorno 1997 VIII, 103) Vgl. auch Gruschka 2009 sowie mit Blick auf die Immunisierung der Halbbildung gegen das Beunruhigende der Bildung Gruschka 1988, 216 ff.
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Unter dieser Hinsicht ist daher weniger von einer ‚dialogischen‘ und darin ‚ambivalenten Subjektivität‘ (vgl. Zima 2000, 365 ff.) auszugehen, die jeweils auch eine andere als die sichtbare Seite aufzuweisen hätte. Ebenso wird das Ziel eines Bildungsprozesses nach aller Kritik an der ‚Ideologie des Ich‘ kaum noch in einer „emanzipative[n] Selbstfindung“ (Bernhard 1997, 68) auszumachen sein. Vielmehr kann Subjektivität unter der bislang skizzierten Hinsicht verstanden werden als Negativität, als Entzug einer material, sozial oder anderweitig identifizierbaren Größe. Darin ist sie „nicht nichts“ (Gamm 2000), aber auch nicht etwas. Subjektivität ist damit ein Selbstentwurf des Menschen, das nunmehr eher dem leeren Bilderrahmen oder der freigeräumten Ausstellungsfläche als dem idyllischen Stillleben oder der expressiven Performance entspricht. Auf diese Weise lässt sich der antinomische Charakter von Bildung umgehen, auf Freiheit zu fußen und doch in eine vorgegebene, mithin unfreie Ordnung von Bildung zu münden (vgl. Adorno 1997 VIII, 104; vgl. auch Prondczynsky 2009, 28 f.). Die Frage, ob und wie indes die frei gewordenen Felder der vormals strukturierten Subjektivität gerade in einem Prozess von Bildung neuerlich genutzt werden können, scheint nicht mehr positiv beantwortet werden zu können.
40 Diese Perspektive wird erziehungswissenschaftlich nicht allenthalben geteilt, wie die Analyse bereits von „Sokrates‘ negative[r] Didaktik“ (Bühler 2008, 741) vermuten lässt. 41 „Bildung, sowohl individual- als auch menschheitsgeschichtlich betrachtet, existiert nur noch anonym, ist namenlos geworden. Ihr rein plakativer Wert entspricht der warenfetischisierten Scheinexistenz des Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft.“ (Reitemeyer 2001, 138).
II. Subjektkritische Anfragen an die Bildungstheorien in der Moderne „[…] ich denke, wo ich nicht bin, also bin ich, wo ich nicht denke.“ LACAN 1975, 43
Wurden bislang moderne Positionen zum Bildungsproblem aufgegriffen und bereits aus ihrer Innenperspektive einer Kritik unterzogen, sollen nunmehr einige Aspekte vorgestellt werden, die dazu beitragen können, sich mit den Sachverhalten einer flexibleren und selbstkritisch nach den eigenen Möglichkeiten fragenden Bildungstheorie auseinanderzusetzen.
2.1 D IE S TARRHEIT DER EIGENEN S TRUKTUREN : S UBJEKTKRITISCHE ASPEKTE DES B EGEHRENS Die Psychoanalyse hat mit ihren Positionen und Untersuchungsverfahren des menschlichen Lebens in seinen vielfältigen Sparten wie Denken, Fühlen, Handeln, Wissen und Träumen den Weg frei gemacht für den Blick auf menschliche Zusammenhänge auch jenseits rationaler Selbstverständigungen. Damit aber hat sie die Bedeutung der Rationalität, des logischen Denkens und des davon abgeleiteten Selbstbildes der Menschen keineswegs im Sinne eines Irrationalismus außer Kraft gesetzt. Solcher „Irrationalismus ist [höchstens; Anm. A.B.] mit intellektuellen Gruselgefühlen ganz gut vereinbar.“ (Schnädelbach 1987, 66) Vielmehr setzt die Psychoanalyse ein begrifflich-logisches Instrumentarium ein, um die Reichweiten, Formen und
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Bruchstellen der Vernunft zu beschreiben, deren „Anderes“ (Böhme/ Böhme 1996) in seiner Bedeutung für Selbst- und Fremdbilder zu erfassen und diese Sicht für die Erläuterung „der psychischen Apparatur“ (Reckwitz 2010a, 54) möglichst nutzbar zu machen (vgl. auch allgemein Žižek 2010). Für die in dieser Studie bearbeitete Forschungsfrage soll im Folgenden die Psychoanalyse in der Lesart von Jacques Lacan, insbesondere seine Darstellung zum „Spiegelstadium“ (Lacan 1991; vgl. zur Bedeutung dieser Darstellung im Gesamtwerk Lacans auch Chiesa 2007, 196), herangezogen werden, da diese Schrift die Entwicklung und Qualität subjektiver Strukturen im Denken Lacans prägnant zum Ausdruck bringt. Lacan nämlich hat mit seiner Transformation freudscher Begriffe und Bezüge eine besondere Variante psychoanalytischer Kritik des konsistenten Subjektverständnisses der Moderne möglich gemacht. Insbesondere die Ordnungen des Symbolischen, des Imaginären und des Realen bestimmen für ihn das „Kräftegefüge im Feld des Subjekts“ (Schabacher 2007, 256) als begehrendes, das in diesem Modus das frühkindliche Trauma der Trennung von der Mutter zum Ausdruck bringt (vgl. Lacan 1991, 64 ff. sowie Reckwitz 2010a, 56 f., ferner Žižek 2008). Symbolische Ordnung entsteht nach Lacan in der Form der Sprache und weiterer Zeichensysteme. Diese symbolische Ordnung liefert dem Subjekt erst die Form, in der es sein Begehren formulieren kann. Folglich ist die Subjektivität des Begehrens gerade in ihrem „Innersten“ von einer äußeren Ordnung der Signifikanten, der Zeichen, bestimmt (vgl. Reckwitz 2010a, 58). Das Subjekt bedient sich in seinem Begehren einer vorgegebenen Ordnung, um mit ihrer Hilfe eine bestimmtes Objekt zu begehren (zum Begehren des anderen vgl. auch Bilstein 2003, 59 ff.). Dieses Objekt indes wird imaginär angezielt, in einer Weise, die sich in der Vorstellung der Begehrenden findet und dort ihr Ideal formuliert – im Ideal-Ich ebenso wie im idealen Anderen (vgl. allgemein Gekle 1996). Das Ich als einheitliches und vollkommenes wird nach Lacan im Register des Imaginären ausgebildet, indem die „Kategorien der Ähnlichkeit, der Selbigkeit, des Narzissmus, des Homomorphismus und der Abhängigkeit“ (Schabacher 2007, 259) die Vorstellung der Einzelnen durchformen. Damit wird Freuds „gesetzesförmige[s] Ich-Ideal“ von Lacans „bildhaft-attraktivem Ideal-Ich“ (Reckwitz 2010a, 63) abgelöst. Das Reale schließlich verwehrt seine sprachliche – und demgemäß symbolische – Ausdrucksweise; es ist „das psychophysisch
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Reale, das im Subjekt wirkt, ob dieses es will oder nicht“ (ebd. 65). Dazu zählen körperliche Regungen, aber auch geistige Prozesse, die sich innerhalb der Strukturen von Symbolischem und Imaginärem ergeben. Häufig sind sie Symptome für Unerlaubtes innerhalb des gegebenen kulturellen Rahmens (vgl. ebd. 66).
2.1.1 Spiegelstadium Innerhalb von Lacans Konzept lässt sich mithilfe des Spiegelstadiums eine Theorie der Ich-Genese darlegen, die ihrerseits eine Neuformulierung mo derner Subjektivitätsbegriffe ermöglicht. Deshalb sollen die lacanschen Ausführungen zu diesem Konzept im Folgenden Verwendung finden, um die Exposition einer solchen Neuformulierung von Subjektivität den Weg zu eröffnen. Denn im Alter zwischen sechs und achtzehn Monaten, so führt Lacan in (vermeintlicher ) Anlehnung an J. Baldwin aus, erkennt das „Menschenjunge“ (Lacan 1991, 63) seine Gestalt im präsentierten Spiegel. „Dieses Erkennen wird signalisiert durch die illuminative Mimik des AhaErlebnisses“ (ebd.). Eine solche Leistung setzt sich vom Fühlen ab und vereinheitlicht zugleich das Selbstbild im Register des Imaginären. „[…] the Lacanian concept of the Imaginary illuminates the subject’s phantasmic ability to integrate disparate experiences and identifications such that identity and practice do not always appear disjointed.” (Steinmetz 2006, 457)
Das Kind nimmt sich vereinheitlicht im Gegenüber des Spiegelbildes wahr und kann jetzt sein bis dahin von Erfahrungen der Uneinheitlichkeit geprägtes Selbstbild, das „watery subject“ (ebd. 458) als ein einheitliches idealisieren. Das fremde Bild gegenüber dient als Anlass und Vehikel, das zer-
42 Zum Verhältnis der bereits skizzierten „drei Register des Symbolischen, Imaginären und Realen“ bei Lacan und den Bezügen gerade des Imaginären im hier thematisierten Aufsatz Lacans vgl. auch Hammermeister 2008, 41 ff. 43 Vgl. Althans 2010, 57 sowie Hammermeister 2008, 43 f.; beide verweisen auf die Bedeutung Wallons: Erstere als ursprünglichem Autor dieses Begriffs, Letzterer als Rezipient einer Aufzeichnung von Freud. Noch weiter ausholende Rekonstruktionen finden sich bei Chiesa 2007, 195.
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teilt erfahrene Eigene imaginativ zusammenzufügen. Dies ist dem Kind nach Auffassung Lacans erst in dieser entwicklungspsychologischen Phase möglich. Damit gilt: „Es handelt sich nicht so sehr um einen zweiten Körper im Spiegel, sondern um eine Art Identität auf Abstand und eine Ubiquität des Leibes.“ (Merleau-Ponty 1994, 319; 325; vgl. Fuery 1995, 16) Eine solche spiegelbildlich-leiblich aufgefasste, an mehreren Orten auffindbare Identität entspricht der dynamischen Struktur einer Subjektivität, die nach dem Verständnis Lacans ständig um die Setzung ihrer selbst ringt. Mit der identifizierenden Erfahrung vor dem Spiegel bildet sich in der Interpretation Lacans allererst ein ideales Ich („moi“) für das Kind heraus. Denn zuvor hatte es, wie beschrieben, lediglich ein „zerstückelte[s] Bild des Körpers“ (Lacan 1991, 67), nun aber ist ihm „die totale Form des Körpers […] als Gestalt gegeben“ – jedoch als „Relief“ und zudem noch hinsichtlich der dargebotenen „Seiten verkehrt“ (ebd. 64; vgl. auch Althans 2010, 57 f. sowie B. Fink 2006, 59 f.). Dass es sich lediglich um ein vereinheitlichendes Bild und nicht um ein einheitliches Ich handelt, wird nur dann kenntlich, wenn zwischen Betrachtendem und Betrachtetem unterschieden wird. Dazu jedoch ist das Kind „erst allmählich“ (Widmer 2004, 27) imstande. „Mit der Perzeption des Körperbildes gewinnt das Kind einen Halt, der es vor drohendem [resp. als drohend unterstelltem; Anm. A.B.] Auseinanderbrechen schützt.“ (Ebd. 29; vgl. auch Pabst 2004, 21) In diesem Stadium gelingt unter der Perspektive Lacans ein Doppeltes: das einheitliche Ich wird geformt und kann nunmehr in seiner Vereinheitlichung narzisstisch fortgeführt werden. Subjektivität wird erstmals und von da an kontinuierlich durch die ‚identifizierende Selbst-Befremdungsleistung‘ (vgl. Chiesa 2007, 14: „identifying alienation“) möglich. Nach der Lesart Lacans bildet sich somit das Ich als ein „Panzer, der aufgenommen wird von einer wahnhaften Identität, deren starre Strukturen die ganze mentale Entwicklung des Subjekts bestimmen werden.“ (Lacan 1991, 67) Diese Starrheit der eigenen Strukturen wird noch unter dem „Blick des Dritten“ (Widmer 2004, 30 f.) – etwa der Mutter – befestigt. Denn unter dem Blick der Anderen soll das Selbstbild auf eine Weise weiter geführt werden, dass jene es möglichst auch als das ideale auffassen. Ansonsten droht gegebenenfalls die Missachtung, wenn nicht der Ausschluss von sozialen Interaktionen:
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„Wenn das Kind merkt, daß es sich sehen kann, daß aber auch andere es sehen können, wird früher oder später von selbst die Frage auftreten: Wie sehen sie mich? […] Es begehrt ihren Blick, was ihm durch das Gefallen-Wollen wahrscheinlich am besten gelingt.“ (Ebd. 31)
Demzufolge wechselt „das (illusionäre) Bild einer Einheit seiner selbst“ (Hiebel 2005, 59) je nach sozialen Bezügen, wobei das Ich auch durch übersituative Geltungen zu verstehen ist, soll es sich tatsächlich auch in unterschiedlichen Momenten und sozialen Interaktionen als ein einheitliches einschätzen. Mit Merleau-Ponty ließe sich diese Zuordnung von vereinheitlichtem Ich und Anderen folgendermaßen verstehen: „Die Beziehung des Anderen hat den Wert einer wirklichen Struktur, es ist das Beziehungssystem im Innern meiner Erfahrung.“ (Merleau-Ponty 1994, 325) Das Begehren von Angesehen-Werden und Anerkennung durch die Anderen bleibt permanent wirksam, denn die Anderen vermitteln in ihrer Unverfügbarkeit für das Ich diesem die permanente Bedrohung, selbst zu zerbrechen, insofern es nicht seinen Zusammenhalt durch die Anderen bestätigt findet. Mit Blick auf diese Brüchigkeit des subjektiven Erlebens wurde festgehalten: „Man kann das Lacansche Spiegelstadium […] als Genese – oder Rekonstruktion mit quasi transzendentalem Anspruch – lesen, die jenen Bezug auf die Gestalt als der prägenden Form der visuellen Relation noch aus der Konstellation ableitet, in der sich ein noch höchst unfertiges Wesen auf das Bild seiner Einheit und Ganzheit hin entwirft“ (Gondek 2000, 191)
Dabei sucht das angesprochene „Wesen“, sich dieser Einheit als Entwurf stetig neu zu versichern. Subjektivität wird zur ‚Manifestation einer Ordnung der Abwesenheit‘ (vgl. Fuery 1995, 17). Denn die Einheitlichkeit der Subjektivität wird gerade durch die Anderen ermöglicht – und kann so vom einzelnen Ich für sich nie garantiert werden. Wer und was das Ich ist, muss es sich vom Anderen geben lassen und ist gerade so vom Entzug dieser Gabe permanent bedroht. Stets droht zu entschwinden, wovon her sich diese menschliche Selbstdeutung entwerfen kann. Solche vom Entzug verfasste und zugleich bedrohte Subjektivität gerät damit zur zerbrechlichen Gestalt begehrenswerter, jedoch letztlich nicht verfügbarer Zuwendung.
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„Otherness determines the relational context of the subject to the systems of absence and desire because the subject positions itself in terms of absence and/or desire through the Other.“ (Ebd. 19)
Allerdings ist fraglich, ob gelten kann: „[…] the ego lies outside […]“ (Chiesa 2007, 15). Das durch die Interaktionen des Subjekts mit den anderen gestaltete Ich liegt nicht außerhalb einer Subjektivität, sondern bleibt ihr letztlich entzogen. Es sind nachgerade die anderen, die dem Ich durch ihre Anerkennung „auf die Füße“ helfen. Das Ich wird durch die Anderen und bei ihnen geformt; ein perspektivisches Innen kommt somit ebenso wenig in Frage wie eine Realität. Das Ich verbleibt im Imaginären und im Entzug, kann bestenfalls noch als „uneinholbare Heterogenität“ (Pabst 2004, 24) verstanden werden, die gleichwohl nicht als „ex-zentrierende“ (ebd.) zu lesen ist, da ein Zentrum eben ausfällt. Das Zentrum wird in diesem Prozess ersetzt durch die anderen, das Ich bleibt diffus (vgl. die ähnlichen Hinweise – wenngleich dort unter sprachanalytischer Perspektive – bei Frank 2012, 66). Ferner ist nochmals ein gesonderter Blick auf die Entwicklung des im Spiegelstadium ablaufenden dramatischen Prozesses zu lenken. Denn nach dem bislang Ausgeführten kann wohl kaum der Ekel vor sich selbst, die Abscheu, Ich zu sein, diese Dramaturgie ins Werk setzen, wie man mitunter lesen kann: „Lacan setzt ein frühkindliches Befinden voraus, das immer schon geschlagen ist von der Unmöglichkeit, sich selbst zu ertragen.“ (Sloterdijk 1999, 543) Warum eine solche Ablehnung gerade eine sein soll, die auf die eigene Zerbrechlichkeit gerichtet ist, kann in diesen Ausführungen nicht einsichtig gemacht werden. Denn weshalb ein „von Grund auf dissoziiertes […] Wesen“ nun ‚in seiner Verlorenheit gären‘ können soll, wird von Sloterdijk nicht verständlich aufgewiesen. Vielmehr findet sich in den Texten Lacans durchaus die Perspektive jenes frühen Kindes, sich nicht einheitlich sehen zu können. Stets bleibt sein Erleben dessen, was augenscheinlich doch zu ihm gehört, bruchstückhaft. Doch die lacansche Psychoanalyse sieht einen Prozess, den sie durch das Phänomen des Spiegelbildes und eben nicht durch den Ekel angestoßen versteht. Subjektivität entwickelt sich unter der Perspektive des Spiegelstadiums in einer totalen und umgekehrten Form, die dann auch Auswirkungen auf die weitere, stets dynamisch um sich ringende Formation des Subjekts im Ich gewinnt, ohne dass es mit diesem zusammenfiele (vgl. zum verobjekti-
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vierten Charakter des Ich mittels Befremdungsprozessen des Subjekts Chiesa 2007, 16 f.). Der skizzierte Narzissmus gerät in seinem Bestreben um soziale Akzeptanz in Konflikt mit einer Aggressivität des Subjekts, die im sozialen Kontext auf die entfremdende Ich-Entwicklung antwortet. Daher führt das Nachdenken über die Selbstformierungen der Menschen „an jene existentielle Negativität“ (Lacan 1991, 69), von der auch zeitgenössische philosophische Entwürfe zu Fragen der Ontologie und des Nichts handeln. „Doch dieses Philosophieren begreift jene Negativität leider nur, soweit sie in den Grenzen bewußtseinsmäßiger self-Genügsamkeit bleibt, die, weil sie bereits in ihre Voraussetzungen eingeschrieben ist, die Illusion der Autonomie – der sie sich überläßt – verkettet mit den konstitutiven Verkennungen des Ich (moi).“ (Ebd.)
Auf diese Weise deutet die Kritik Lacans bereits eine Alternative zur vermeintlichen Genügsamkeit des Selbst an, die den Blick weitet über das Ich in seiner Abgrenzung gegen Andere und Welt. Somit befindet sich das Subjekt im Verständnis von Lacan im permanenten inneren Widerstreit: „Der Begriff des ‚Subjekts‘ wird beibehalten, auch wenn […] klar wird, daß dies eine nur unzureichende Fixierung eines latenten und unablässigen Verfehlungsprozesses ist, der das ‚Subjekt‘ kennzeichnet. Bei Lacan meint ‚Subjekt‘ dieses dynamische, nicht das statische oder ruhende, identische Subjekt.“ (Dörfler 2001, 114)
Žižek gar geht mit seiner Interpretation des lacanschen Subjektivitätsverständnisses noch weiter, indem er auf dessen Leere innerhalb der symbolischen Ordnung, dessen „Nichts“ aufmerksam macht: „Dieses ‚Nichts‘ steht letztlich für das Subjekt selbst, es ist der leere Signifikant ohne Signifikat, der das Subjekt repräsentiert.“ (Žižek 2010, 154)
Allerdings ist die Leere des Subjektes keineswegs ohne Bedeutung. Vielmehr macht es überhaupt erst möglich, dass eine solche Begriffsleere durch die vorgegebenen Bedeutungen gefüllt werden, dass subjektives Begehren den symbolischen Ordnungen entsprechen kann. In dieser Form allerdings scheint das subjektive Begehren nicht mehr leisten zu können als die Befolgung symbolisch geordneter Imperative. Das Subjekt entspricht der Ap-
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pellation „Tue deine Pflicht!“ (ebd. 208) und gewährleistet gerade in seiner Artikulation des Begehrens die Aufrechterhaltung gegebener Ordnungen (vgl. ebd. 220 sowie Žižek 1998, 41). Damit wird ein alternativer Blick auf das permanente dynamische Selbstentwerfen möglich, wobei das Subjekt dann kaum noch als extrovertierter Akteur denn vielmehr als introvertierter Narzisst zu sehen ist (vgl. B. Fink 2006, 65 f.). Anstelle eines aktiven, sich selbst ebenso setzenden wie durchsetzenden Subjektes skizziert Lacan einen Zusammenhang subjektiver Teilmomente, die ihre brüchige Ordnung vom anderen ihrer selbst, nämlich dem Spiegelbild, erhalten und – sofern diese Spiegelungen im sozialen Raum stattfinden – auch noch ständig der Gefahr ausgesetzt sind, dass diese Ordnung des Ich wieder zerbricht oder zumindest der Negativität eigener Gestaltungsmöglichkeiten ansichtig wird. Zunächst jedoch sei Lacans beißende Häme gegen ein solches Subjekt dokumentiert, das sich in die Sackgasse verirrt, die durch die Zentrierung des Ich „auf das Wahrnehmungs- und Bewußtseinssystem“ keinen Ausgang mehr in die Lebenswelt eröffnet. Denn diese Verirrung des zentrierten Subjekts hat höchst problematische Konsequenzen, wie der Analytiker herausstreicht: „Eine Freiheit, die sich nirgends so authentisch bejaht wie innerhalb der Mauern eines Gefängnisses; ein Fordern von Engagement, in dem sich die Ohnmacht des reinen Bewußtseins ausdrückt, irgendeine Situation zu übersteigen; eine voyeurhaftsadistische Idealisierung der sexuellen Beziehung; eine Persönlichkeit, die sich nur im Selbstmord realisiert; ein Bewußtsein des andern, das sich erst mit dem Hegelschen Mord zufrieden gibt.“ (Lacan 1991, 69)
Auch hier kommt die Weltfremdheit und soziale Unterwerfung der Anderen zur Sprache und wirkt schließlich in die Selbstdeutung der Menschen hinein. Die Unfreiheit gilt nicht nur für die Anderen, die sich das Subjekt unterwirft. Die „Einverleibung in fremde ‚Programme‘“ (Zima 2000, 229) ist die Kehrseite der Einverleibung Fremder in die eigenen Programme der Welt- und insbesondere Menschenbilder des Subjektes. Diese Einverleibung ist unausweichlich, wenn die in der vorliegenden Schrift bereits formulierten Hinweise auf das Register des Symbolischen und deren Herrschaft der Signifikanten berücksichtigt werden, insofern diese die fremde
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Ordnung, die in den Zeichen zum Ausdruck kommt, dem Subjekt auferlegen. Im Entwurf Lacans gerät das Ich im Wechselspiel von überzogener Selbstherrlichkeit und konflikthafter Auseinandersetzung mit den Anderen an die Grenzen seiner Selbst-Zentrierung. Da es sie gemeinhin gerade nicht zu übertreten wagt, schottet es sich gegen alternative Zugänge zum Anderen seiner selbst ab. Erstarrt das Subjekt dieses Ich durch die Entwicklungen des Spiegelstadiums in seinem idealisiert gezeichneten Selbstbild, kann es für die lacansche Psychoanalyse nur durch Therapie in seinem weiteren Werdegang zur Einsicht und Akzeptanz eigener Wirklichkeit befreit werden: „In der Zuflucht, welche wir vor dem Subjekt für das Subjekt retten, kann die Psychoanalyse den Patienten bis zur Grenze der Entzückung begleiten, wo sich ihm in der Formel ‚du bist es‘ die Chiffre seiner irdischen Bestimmung enthüllt, aber es steht nicht allein in unsrer Macht als Praktiker, ihn dahin zu führen, wo die wahre Reise beginnt.“ (Lacan 1991, 70)
Die beschriebene Macht der Anderen, die Idealisierung des eigenen Spiegelbilds grundzulegen, kann nicht ebenso durch die Anderen unterlaufen werden. Nach Lacan bedarf es dazu subjektiver Impulse bezüglich der angedeuteten subjektiven Entwicklung – ein reflexiver Prozess mit grundlegender biografischer Bedeutung. Sollte jedoch die von Lacan skizzierte Entwicklung des Spiegelstadiums für alle Menschen gelten, und eine kulturell, sozial oder anderweitig konnotierte Einschränkung seiner Sichtweise formuliert Lacan im hier ana lysierten Text nicht, so ist die Frage aufzuwerfen, ob allein eine Therapie
44 In dieser Hinsicht kritisiert jedoch zumindest Reckwitz den Ansatz Lacans: „Mit Lacan ist das Subjekt ein gespaltenes, ein ‚sujet morcelé‘: es wird in seinem kulturellen Kontext dazu angehalten, sich als einheitliches, in sich balanciertes Wesen zu identifizieren, als Exemplifikation eines widerspruchsfreien Subjektmodells jubilatorisch zu spiegeln – aber diese Homogenität eines bruchlosen Bildes ist ein (konstitutiver) orthopädischer Schein, hinter dem sich eine ‚Zerstückeltheit‘, eine heterogene Binnenstruktur verbirgt. Anders als Lacan voraussetzt, stellt sich diese Gespaltenheit in der soziologisch-kulturwissenschaftlichen Reformulierung nicht als Universalie einer ‚ursprünglichen‘ menschlichen Psyche,
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die Selbstaufklärung der Einzelnen zu leisten vermag. Es könnte nämlich ebenso möglich sein, dass pädagogische Interaktionen Menschen dazu verhelfen, ihre im geschilderten Sinn gespaltene und dezentrierte (vgl. Althusser 1976, 35) Wirklichkeit bewusst und bezogen auf die Menschen und Dinge in ihrem Umfeld zu sehen und diese Bezüge klarer und bestimmter als zuvor zu verwirklichen.
2.1.2 Begehren Doch damit noch nicht genug der Irritationen für das zentrierte Bild des Selbst. Denn gerade durch das bereits erwähnte Begehren wird es seiner Autonomie-Illusionen überführt, wie Lacan zeigt, indem er auf den Mangel als dessen Ort hinweist: „Das Begehren ist Begehren nach Begehren, Begehren des Anderen […], also dem Gesetz unterworfen [soumis à la Loi].“ (Lacan 2007, 14; vgl. B. Fink 2006, 86 ff.) Während der Zirkel des Begehrens sich selbst durch das drängend begehrte Objekt des Anderen hindurch anzielt, bleibt die Vorgabe des Zielens jedoch einem anderen – nämlich: dem ‚Gesetz‘ – unterworfen. Gerade im Innersten der Strukturen von Subjektivität ist auf diese Weise keine Geschlossenheit zu denken, nicht einmal die der Zirkularität von rational erfassbarem Begehren im Sinne eines gewissermaßen „rationalen Begehrens, das Begehren zu verstehen“. Vielmehr ist das solcherart entworfene Subjekt in seinem Begehren zum einen narzisstisch auf sich und zum anderen libidinös auf Anderes bezogen. Diese doppelte Ausrichtung des Begehrens bringt nicht zuletzt das übersubjektive ‚Gesetz‘ zum Ausdruck, indem es das Andere als Erfüllung subjektiven Begehrens kenntlich macht und sich das Subjekt zugleich selbst darin kenntlich wird. Oder anders ausgedrückt: Indem das Subjekt das An-
sondern als ein Produkt der Hybridität kultureller Codes heraus, die unter den Bedingungen der Moderne in den Subjektkulturen miteinander arrangiert sind.“ (Reckwitz 2006, 84; zitiert Lacan) Der Argumentation Reckwitz’ ist jedoch zumindest entgegen zu halten, dass unterschiedliche Argumentationsformen – hier kulturgeschichtlich, dort psychoanalytisch – in Beziehung gesetzt werden, ohne deren jeweils eigenen Argumentationsebenen zureichend zu problematisieren. Zur weiteren, ebenfalls kulturgeschichtlich argumentierenden Kritik an Lacan vgl. zudem Sloterdijk 1999, 544 ff.
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dere begehrt, erfährt es sich als auf die Erfüllung durch das Andere ausgerichtet: „[…] das Begehren kommt vom Anderen, und das Genießen liegt auf der Seite des Dings [la Chose].“ (Ebd. 159) Das Subjekt begehrt das Begehren von Seiten des Anderen und begegnet sich darin einerseits als dessen Begehren Begehrendes und andererseits als demgemäß unter dem „Kulturgebot“ (Althusser 1976, 25) stehend. Diese kulturell gebietende Ordnung erweist sich als Amalgam aus menschlichen Entwicklungsschritten und sprachlichen Bezeichnungen (vgl. ebd. 28) – Entwicklungen des Kindes hin zum Erwachsenen erfolgen mit Hilfe von Bezeichnendem (Signifikanten), die für die gegebene Ordnung (Lacan: „des Vaters“) stehen und im kantischen Sinne des Wortes transzendental fungieren (vgl. ebd. 33). Und doch vermag das begehrende Subjekt nicht, sich auf das Begehrte hin zu überschreiten. Das freudsche Inzestverbot findet in Lacans Auffassung seine Aufnahme wie Umformung hin zum niemals Erreichbaren für die Struktur von Subjektivität. In dieser Ordnung der Spaltung von Begehrenden und Begehrtem wirkt sich das zuvor als das ‚Andere des Subjekts‘ bezeichnete Gesetz innerhalb desselben aus. Es steht daher nicht für das ‚ganz Andere‘, sondern „[d]as Begehren ist stets in einem Mangel gegründet, und deshalb steht das Begehren [und infolgedessen das begehrende Subjekt; Anm. A.B.] auf derselben Seite wie das Gesetz.“ (Miller 2007, 20) Was bewirkt, dass sich das Subjekt seiner selbst entfremdet, ist folglich einerseits das Fremde im Subjekt, also: das Gesetz. Es ist aber mehr noch das Fremde des Subjekts als das ‚Objekt des Begehrens‘. Demgemäß sind es gerade die „verlorenen Objekte“ bzw. jene, die nie erreicht wurden und vom Begehren letztlich auch niemals angerührt werden können, „die die Leere füllen.“ (Ebd. 21) Diese Leere ist die einer fehlenden Identifizierung als Ausbildung des Ideal-Ich, denn was nicht erreicht werden kann, lässt sich auch nicht in seinen Eigenschaften eindeutig festlegen. Eine solche Identifizierung wird nach dem frühen Lacan gerade möglich durch die Anerkennung seitens der sozialen Anderen: „Mit dem Begriff der Anerkennung zeigt Lacan, dass das Begehren jeweils über Identifizierungen befriedigt wird.“ (Ebd. 22) Damit ist der lacansche Begriff von Subjektivität durch eine wechselseitige Zerbrechlichkeit gekennzeichnet, welche die Differenz innerhalb der Strukturen des Subjekts kenntlich macht. Denn das Subjekt kann sich seiner Identität nicht sicher sein und benötigt dazu die Anerkennung der Anderen. Da es jedoch über die Verifizierung des „du bist es“ (Lacan) nicht verläss-
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lich verfügen kann, begehrt es. Genauer: Das Subjekt begehrt, um nicht das Zerbrechen der eigenen Identität als Frucht der ausfallenden Identifizierung durch die Anderen erfahren zu müssen. Somit ist das Begehren nach Lacan Indiz für die Brüchigkeit der Identität durch Andere wie des Bemühens um Abhilfe durch das unstillbare Begehren. Die brüchige Identitätsbildung durch die Anderen hat ihre Konsequenz im nie vollendbaren Begehren des Anderen. Denn jenes Begehren findet Erfüllung nur, indem es nicht durch Zielerreichung abschließend vollzogen wird, sondern durch Anerkennung seitens des Anderen lediglich vorübergehend zur Ruhe kommt. Dabei verweisen die brüchigen Anhalte des Subjekts unter dem Blickwinkel Lacans wechselseitig auf einander – sie sind geprägt von einer wechselseitigen Zerbrechlichkeit. Gerade diese Zerbrechlichkeit als wechselseitige Differenz macht die Struktur eines libidinös auf Andere bezogenen Subjekts aus. Vor diesem Hintergrund unterscheidet sich Lacans Perspektive nicht allein von der modernen Zentralperspektive, sondern zudem auch von der psychoanalytischen Sigmund Freuds: „If the Cartesian subject can be summarily defined by the primacy of the cogito, its methods and processes, and the Freudian model as one of conflict and division, then the Lacanian subject’s intrinsicality is its relationship to a particular type of desire and language.“ (Fuery 1995, 12; vgl. unter wissenschaftshistorischer Perspektive Althusser 1976, 10 f. sowie 23)
Hier gelangt eine Subjektivität in den Blick, die nicht „intrinsisch verschlossen“, sondern gerade von innen her auf anderes verwiesen ist (Begehren) und sich nur mit anderem darzustellen vermag (Sprache). Daher sollen im Folgenden Aspekte dieser offenen und von verschiedenen Anderen her zu begründenden Subjektivität dazu beitragen, ein differenzierteres Bild menschlicher Selbstdeutung unter der Maßgabe der selbstkritischen Moderne zu erarbeiten.
45 „Indem es einen Spalt in der Totalität von Subjekt und Anderem erzeugt, entzieht sich das Begehren des Anderen dem Subjekt – das immerzu nach etwas anderem sucht –, aber dennoch ist das Subjekt in der Lage, einen Rest [rem(a)inder] davon zurückzugewinnen, durch den es sein Sein als Wesen des Begehrens oder begehrendes Wesen aufrechterhält.“ (B. Fink 2006, 88).
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Der Mensch erfährt sich nach Auffassung der Psychoanalyse Lacans Zeit seines Lebens als von einem Mangel gekennzeichnet: „Von Anfang an sei der Mensch mit sich selbst nicht-identisch, er muß und will […] diesen ‚Riß‘ überschreiben.“ (Dörfler 2001, 118) Bereits gezeigt wurde in der vorliegenden Schrift, dass das Neugeborene in seiner Mangelsituation auf die mütterliche Antwort verwiesen ist; selbst erwachsen bedürfen die Menschen der Unterstützung und Zuwendung durch andere. Das „Subjekt des Begehrens“ (Lacan 1980, 96) findet sich demnach als Subjektivität im Sinne der Selbstdeutung als Herrschendes sowie im Begehren als dem Mangel Unterworfenes vor. Beide Aspekte laufen in der zentrierten Selbstdeutung des Menschen zusammen, der sich zugleich dem eigenen Mangel im Begehren ausgesetzt sieht. Folglich ist unter dem Hinblick auf das Begehren festzustellen: Das Subjekt ist „nichts Substantielles, denn es ist darauf angewiesen, repräsentiert zu werden.“ (Widmer 2004, 53) Erst in der Repräsentation durch Andere (etwa die Mutter) und Anderes (etwa das Spiegelbild oder die Sprache) kann sich das Individuum als ein Selbst konstituieren. Was zuvor „zerstückelt“ war, wird erst unter dem machtvollen Blick der Anderen und angesichts der Ausdrucksmacht der Sprache und Bilder zu einem Ganzen, das sich dann auch als Unteilbares, eben Individuum deuten kann. Das Subjekt ist somit „abwesende[r] Ort“ (ebd.) im Sinne einer interpretatorischen Leerstelle, gebildet von der symbolischen Ordnung seiner Umgebung im Wechselspiel mit den imaginären Antworten des Subjektes. Wie dargestellt, schlägt das Subjekt als durch Anderes vorübergehend vereinheitlichtes den Weg des Begehrens ein, um sich die Vereinheitlichung durch das Andere permanent neu zu ermöglichen. Doch bleibt es sich jeweils selbst entzogen, schimmert nur als „Grenzbegriff einer Idee absoluter Einheit“ (Eckert 1994, 253) durch die Bemühungen des Begehrens. Das Subjekt verliert seinen Ort innerhalb der Welt. Denn als ‚Grenzbegriff‘ vermag es nur perspektivisch angezielt zu werden; eine Inszenierung seiner selbst innerhalb weltlicher Bezüge muss wegen der Unabschließbarkeit des Begehrens entfallen. Damit aber wird dieses Selbstverstehen „auf ein unendliches Streben“ (ebd.) nach Einheit verwiesen, das seine Impulse aus dem Begehren erhält und ge-
46 Waldenfels kritisiert unter der Perspektive der Responsivität diese Sichtweise Lacans, die am Mangel anstelle des Überflusses orientiert bleibe (vgl. Waldenfels 1994, 338 ff., hier v.a. 339, Anm. 8).
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rade darin seine Weltlosigkeit permanent neu zum Ausdruck bringt, weil es das Weltliche als das Andere seiner selbst zur Erfüllung eigenen Begehrens anzielen muss. Demzufolge ist das Begehren nicht allein „Verlangen nach Tilgung des Seinsmangels“ (Zichy 2006, 58), sondern in seinem Begehren von Weltlichem, das jedoch nie ganz zu erreichen ist, mehr noch Verlangen nach Tilgung des Weltmangels.
2.1.3 Brüchiges und flüchtiges Ich Begehren im Verständnis von Lacan wirkt als Streben nach dem Anderen, um von dorther erst zum Eigenen zu werden. Subjektivität hat insofern ihre Wurzeln stets im Anderen ihrer selbst, ist im Vollsinn des Wortes fremdbestimmt und der Dynamik des Anderen nicht nur „in“ sich, sondern als sie selbst unterworfen. „Deshalb unterhält das Subjekt eine Beziehung zum Werden. Es ist nicht, es wird.“ (Widmer 2004, 53) Gleichwohl konnte unter der Perspektive Lacans bereits gezeigt werden, dass solches subjektives Werden niemals an ein Ziel gelangen kann, da das Subjekt die Gewissheit seiner selbst von derjenigen der Welt abspaltet – gerade, weil es von Lacan als sprechendes konzipiert wird (vgl. Gondek 2001, 145 ff.) und demzufolge auf die symbolische Ordnung eines Anderen verwiesen bleibt. Der cartesianische Punkt unbedingter Selbstgegebenheit des Subjekts im cogito wird demzufolge ebenso durch das Sprechen unterlaufen und aufgelöst wie zuvor durch den „appetitiven Zirkel“ (Waldenfels 1994, 336; vgl. auch Bernet 2005, 110) des Begehrens. Beide Male nämlich ist die Selbstgewissheit des „Ich denke“ angewiesen auf den Anderen – im Ansprechen wie im Begehren. Sprache ist für Lacan somit „auf immer das Terrain einer primären Andersheit“ (Gondek 2001, 135). Statt sich selbst denkend erfassen zu können, ist der Mensch auch in seinem Sprechen durch sich selbst auf die Anderen angewiesen und bleibt dabei ausgesetzt in das Umfeld, das die Anderen ihm eröffnen: „Der Mensch ist genötigt, sich auf dem Feld des Anderen zu realisieren.“ (Ebd.) Lernen bedeutet in diesem Sinn insbesondere das Lernen des eigenen Selbstverhältnisses – Bildung wird zum erlernten Wissen um das zunächst zu formende Bild seiner selbst aus dem Anderen und auf dem „Feld des Anderen“. Wie bereits gezeigt wurde, kommt solches notwendige Begehren
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niemals zur Ruhe. Der Begriff des Menschen wird auf diese Weise in den eines differenziert aufzufassenden Außer-sich-Seins gefasst: „Als er selbst ist der Mensch nicht er selbst. Ja, mehr noch, er findet sich, wenn überhaupt, nur außerhalb seiner. Aber er findet nicht sich, indem er sich wiederfindet. Sondern er findet sich im Anderen […].“ (Ebd.)
Dass eine solche vom Anderen abgeleitete Selbstbildung durch die Leere und Brüchigkeit der eigenen Einheitlichkeit bewirkt wird, macht die Unabschließbarkeit des Begehrens aus. Denn niemals kann die Fremdheit des Ich gänzlich aufgehoben werden. Jegliches Andere kann das Selbst nur bis zu einem gewissen Maß zusammenführen – und jedes neue den Zusammenhalt wieder auflösen. Die angestrebte ‚Einheit von fremden Gnaden‘ bleibt spürbar. „Das Subjekt sucht unablässig die verlorene Einheit seiner selbst und begegnet der Leere des Realen, die kein Objekt ganz zu füllen vermag.“ (Widmer 2004, 57)
Speziell rationale Annäherungen an die Selbstbilder ‚des Subjekts‘ sind allerdings jeweils nur bedingt erhellend. Was die Subjektivität kennzeichnet, ist primär das Begehren nach der eigenen Vereinheitlichung durch Anderes; dies aber sind nicht immer rationale, sondern insbesondere a-rationale Zugänge zu sich selbst. Dem aufklärerischen Selbstdeuten mit Hilfe rationaler Einsicht ist damit eine Grenze gesetzt: Was das Begehren für die Selbstbildung anzielt, ist nicht allein rational zu fassen. Wer ich bin, kann ich nicht gänzlich unter der Maßgabe meiner Vernunft verstehen – eventuell lässt sich gar eine logische Differenz zwischen Denken und Ich ansetzen: „[…] ich denke, wo ich nicht bin, also bin ich, wo ich nicht denke.“ (Lacan 1975, 43) Es mag jedoch sein, dass sich dem Ich in der ‚Sorge um sich‘ (Foucault, vgl. auch Patoþka) Anhaltspunkte eröffnen, welche die angestrebte Vereinheitlichung des zerstückelten Ego eher verständlich machen.
47 Allerdings nicht notwendig – im Sinn der Psychoanalyse – irrationale. 48 Zu einer ideengeschichtlichen Reihung Descartes – Freud – Lacan unter der Hinsicht eines reflexiv-dynamischen Selbstumganges vgl. Simms 2007, insbes. 23 f., sowie B. Fink 2006, 67 ff.
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Damit kann das Ich aus dem Teufelskreis von Verdrängen des Begehrens der Einheit und Begehren der verdrängten Vereinigung (vgl. Hiebel 2005, 60 f.) zumindest teilweise herausgelöst werden. Die Kafkaeske Spaltung des Subjekts (vgl. ebd. 77) wird unterlaufen, wenn das Begehren nach Einheit mit dem Anderen nunmehr in Beziehung gesetzt wird zu dem Leisten von Kohärenz innerhalb der vielgestaltigen Struktur menschlicher Selbstdeutung. So nämlich kann durch Selbstreflexion die Bildung des Ich auf der Grundlage des Anderen eingesehen werden – das Ich kommt in seiner Herkunft vom Anderen zur Sprache. Demgemäß kann auch der nicht selten formulierte Anspruch nach Authentizität des Ich (vgl. Foucault 2003, 63; ferner auch Reh 2004, 176) nicht mehr unhinterfragt umgesetzt werden. Spätestens dies jedoch wäre der definitive Bruch mit dem Konzept moderner Subjektivität (vgl. 1.1 dieser Schrift). Angesichts dieser begehrten und doch in ihrem letzten Vollzug nur unter sehr markanten Bedingungen näherungsweise einlösbaren, weil vom Engagement der Anderen abhängigen Vereinheitlichung zeigt sich, dass der bzw. die Einzelne selbstkritisch gesehen kein Individuum, kein Unteilbares ist, sich aber sehr wohl als solches gestalten muss, um soziale Teilhabe erlangen zu können. Das „dividuum“ (Nietzsche 1997 I, 491; lat. „das Teilbare“) muss sich als Individuum (lat. „das Unteilbare“) gebärden, um in der sozialen Ordnung moderner Gesellschaften anerkannt zu werden. Solche Normalität gibt eine subjektive Einheit vor, die in ihrer Anfrage durch das Begehren ebenso unterlaufen wird wie sie ständig in neuen Ausdrucksformen in Szene gesetzt werden muss. Bildung hat in dieser Hinsicht zum einen die Aufgabe, zur Ausbildung von darstellbarer Einheit in einem Selbst beizutragen, das jedoch maßgeblich vom Anderen her ermöglicht wird. Zum anderen aber trägt Bildung im Sinne der Aufklärung auch zum Wissen um diese Brüchigkeit bei und demaskiert somit die Vorläufigkeit aller Selbstdeutungen. „Zwischen dem Hoffen auf volle Erfüllung und dem Erfahren des Mangels pendelt das Subjekt in seinem Begehren hin und her.“ (Widmer 2004, 63) Wer Ich sei, muss demgemäß immer wieder neu gefragt und gebildet werden. Das Begehren macht darauf aufmerksam, gerade indem es auf das Unerfüllte des subjektiven Selbstumganges verweist. Dies geschieht besonders, indem es diesen Mangelzustand des Subjektes durch Bezugnahme auf Objekte zu füllen sucht. Daher sorgt das Begehren für die momentane Verwirklichung einer objektbezogenen Selbstausbildung. Was es jedoch aus-
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zubilden und reflexiv einzusehen vermag, sind lediglich brüchige und flüchtige Gestalten eines bestenfalls vorübergehend einheitlichen Ich. Dieses flüchtige Ich indes kann sich unter der Hinsicht seines Begehrens nicht einmal mehr seiner situativen Selbstgegebenheit sicher sein. Denn das Begehren hält die Strukturen der Subjektivität geöffnet für das begehrte Objekt, gleichgültig, ob sich das Begehrte dem subjektiven Verlangen widersetzt oder aber durch den bereits erfolgten Konsum dem Eigenen einverleibt wurde. „Bildungsprozesse werden deshalb immer auch ein Moment imaginärer Verkennung enthalten. Entscheidend freilich ist, ob sie dem Subjekt darüber hinaus auch das eröffnen, was Lacan als Ziel der analytischen Kur beschreibt: die Anerkennung des Begehrens […] – und das heißt die Anerkennung einer unabschließbaren Verweisungsstruktur, die keine Wunscherfüllung je ganz ausloten wird.“ (Koller 2001, 44)
Durch diesen von Lacan inspirierten Hinweis auf die „unabschließbare Verweisungsstruktur“ zeigt sich auch Bildung im vorgenannten Sinne als unabschließbarer Prozess. Denn im Bildungsgeschehen mag das Begehrte verheißen, Antworten zu bieten auf die Lücke in der subjektiven Struktur. Diese Lücke zu schließen wird hingegen nicht verlässlich und erst recht nicht dauerhaft gelingen können, da die Einheit ermöglichende Konstellation mit den Anderen, die in diesem Sinne subjektivierende Kohärenz, ihrerseits dynamisch und somit fragil ist. Damit ergibt sich nicht nur ein Überschuss an Bedeutung im Begehrten, sondern zugleich ein Überschuss an Streben nach Erfüllung in den Begehrenden. Bildung unter der lacanschen Perspektive des Begehrens streckt sich aus nach dem, was dem Mangel abhelfen soll, und greift gerade dadurch jeweils zu kurz, weil diese Abhilfe ihr Ziel niemals dauerhaft verwirklichen kann. Bildung als subjektive Antwort auf den subjektiven Mangel muss zwangsläufig strukturell an ihre Grenzen stoßen – und kann sich angesichts des fortwährend nagenden Begehrens dennoch ihrer Aufgabe nicht entledigen. Deshalb kann die Analyse des lacanschen Begriffs des Begehrens nur bedingte Bedeutung für den Bildungsdiskurs aufweisen. Über eine nega-
49 Vgl. die gegenteilige Einschätzung in Koller 2007, 79; ob jedoch die bildungsphilosophische Perspektive bei Kokemohr mit seinem Rekurs auf Fink die „metonymische Verschiebbarkeit [der] Objekte“ (ebd.) im Bildungsverlauf unzuläs-
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tive Eingrenzung des Bildungsbegriffs hinaus scheint diese Konzeption noch nicht zu weisen. Anders wird dies, wenn anstelle der Fassung unter Perspektive des Begehrens nach Lacan die responsive nach Waldenfels zur Geltung gebracht wird. Denn unter dieser Hinsicht werden nicht Mangel und endlose Versagung ihrer Erfüllung Thema, sondern vielmehr der „Überschuß des Begehrens in der Sphäre biologisch vorgeprägter Bedürfnisse“ (Waldenfels 1994, 339). Dieser Überschuss responsiver Wechselspiele kommt nunmehr zur Sprache.
2.2 Z WISCHENRÄUME : APPELLIERENDE D INGE ANTWORTENDE M ENSCHEN
UND
Waren bislang Hinweise aus der psychoanalytischen Subjekttheorie Lacans wichtige Impulsgeber, um den vereinheitlichten Subjektbegriff einer modernen Lesart in Frage zu stellen, soll nunmehr eine zweite Perspektive eingenommen werden, um für die in der vorgelegten Schrift angestellten Analysen entsprechende Fragehorizonte gewinnen zu können. Dies soll im Folgenden zunächst durch die Gestalttheorie und ihre phänomenologischen Interpretationen geschehen.
2.2.1 Gestalt im Feld Im Sinne der Gestalttheorie entstehen Formationen mit einem bestimmten Sinngehalt, indem sich vor einem Hintergrund verschiedene Elemente zu einem jeweiligen Ganzen gruppieren. Eine derart verstandene Gestalt ist hinsichtlich ihrer verschiedenen Komponenten ein geeintes Ganzes verschiedener Bedeutungen. Dieses Ganze ist anders als die Summe seiner Teile, da die Erscheinung eines einzelnen Teils zugleich von dem Kontext geprägt wird, innerhalb dessen dieser Bestandteil sich zeigt. Die Gestalt bestimmt insoweit nicht nur ihr Umfeld, sondern zugleich auch ihre Bestandteile (vgl. Gurwitsch 1975, 96 f.). Wird diese Gestalt wiederum als eine
sig übersehe – oder nicht vielmehr aufgrund der oben skizzierten Uneinholbarkeit der Objekte und des letztlichen Ausfalls ihrer vereinheitlichenden Impulse für das Subjekt vernachlässigt werden kann –, wäre eigens zu diskutieren.
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sinnvolle gesehen, weil somit eine verständliche Ordnung einzelner Teile kenntlich wird, lässt sich unter dieser Perspektive sagen: Sinn zeigt sich als Struktur, bevor er reflexiv fassbar wird. Daraus wiederum folgt: „Sinn entsteht in der Kontingenz der Erfahrung; er ist nicht eindeutig vorgezeichnet, weder durch den Gang der Dinge noch durch leitende Ideen.“ (Waldenfels 1987a, 142) Näherhin erhält ein situativ gegebener Gegenstand durch den Horizont seine Konkretisierung: „Der Horizont […] ist es, der im Forschen des Blickes die Identität des Gegenstandes gewährleistet, als Korrelat der meinem Blick noch verbleibenden Verfügung über die soeben betrachteten Gegenstände und der ihm zum voraus schon eigenen Verfügung über neue Einzelheiten, die zu entdecken er sich anschickt.“ (MerleauPonty 1966, 92)
Dadurch entsteht die Perspektivität des Wahrgenommenen, denn der Horizont fügt es ein in ein Feld weiterer, zunächst lediglich potentiell wahrnehmbarer Gegenstände. Diese Gegenstände bieten sich dem leibgebundenen Blick des im Feld befindlichen Menschen jeweils von einer bestimmten Seite und in einem situativ gestalteten Profil dar. Weil sich Horizont und Feld-Elemente ändern können, ist infolgedessen die Gestalt nur situativ gegeben und jeweils mit weiteren Möglichkeiten ausgestattet. Feststellen ließe sich also, dass ein solches Sein „derart mit Nicht-Sein oder mit Möglichem aufgebläht ist, daß es nicht nur ist, was es ist. Gerade das wäre das Gestalthafte“ (Merleau-Ponty 1986, 234). Gestalt ist in dieser Hinsicht die situativ gegebene Formation eines Dinges, die sich mit Möglichkeiten zur Veränderung ausgestattet zeigt und das Erkennen jeweils schon potentiell übersteigt. Die wahrnehmbare Welt ist demgemäß geprägt durch die Strukturbildung innerhalb des Erscheinungsfeldes. Darin begegnen sich Wahrnehmende und Wahrgenommene, indem sie miteinander als situativ geordnete Ganzheiten in Kontakt kommen. Auch das Feld ihrer Begegnung muss daher kein abgedichtetes und gleichförmiges Areal der immerfort gleichen Kontaktnahme sein, sondern wird, seinerseits durchwirkt von den Gefügen der einander Begegnenden, unterschiedlich formiert. Wahrnehmung in der Welt der leiblichen Verbundenheit mit den Dingen führt ihrerseits zu einem veränderten Subjektbegriff:
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„Die ästhetische Welt muß als Raum der Transzendenz, als Raum der Inkompossibilitäten, des Zerspringens, des Aufklaffens und nicht als objektiv-immanenter Raum beschrieben werden. Und in der Folge ist das Denken und das Subjekt ebenfalls als räumliche Situation, mit seiner eigenen ‚Ortschaft‘ zu verstehen.“ (Ebd. 276)
Wer wahrnimmt, nimmt innerhalb eines bestimmten Feldes eine bestimmte, durch das Feld strukturierte Gestalt in einer für das Wahrnehmungsfeld gegebenen Situation wahr – und kann von diesen Feldstrukturen nicht unberührt bleiben. Dies wird beispielsweise deutlich, wenn Lehreinheiten zum sozialen Lernen von Schulklassen an andere Orte als die Unterrichtsräume verlegt werden. Indem nämlich andere Räume und andere Rahmenbedingungen auf die Lernenden einwirken, sind Letztere eher in der Lage, überkommene Rollenmuster abzulegen und sich in neuen Formen der Interaktion zu erproben. Ein anderes Feld eröffnet Möglichkeiten für andere Selbstdeutung und macht die Perspektivität des Lernens mit Hilfe von räumlichen Selbst-Interpretationen deutlich. Solche gestaltenden Wechselspiele weisen noch weitere erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf. Denn nicht nur hinsichtlich des angesprochenen Phänomens der Ortsveränderung für soziales Lernen, sondern auch in weiteren Situationen des pädagogischen Handelns zeigen sich solche mehrpoligen Ordnungen. Für erzieherische Interaktionen gilt dies z.B. auch mit Blick auf die Zweiteilung von Freiheit und Autorität. Einerseits nämlich strebt Erziehung die Freiheit der zu Erziehenden an, andererseits wird sie dies stets zumindest mit einem gewissen Maß an Macht zu verwirklichen suchen. Insofern weist die kantische Frage: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ (Kant 1998 VI, 711) auf eine Spannung, die sich in der pädagogischen Beziehung nicht einfachhin auflösen lässt, sofern zumindest Teilziele den Erziehungsprozess prägen. Denn zu deren Realisierung ist ein gewisses Maß an autoritativer Vorgabe vonnöten – vielleicht gerade dort am meisten, wo am intensivsten um eine subjektive Gestalt von Freiheit gerungen wird. Dies mag für Fragen des Sozialverhaltens in Schulklassen ebenso gelten wie für die Offenheit hinsichtlich MinderheitenPositionen in erwachsenenbildnerischen Prozessen: Wer in diesen pädagogischen Kontexten die Freiheit der Schwächeren oder Minderheiten verwirklicht sehen möchte, ist als PädagogIn jeweils herausgefordert, jene sozial schwächeren Positionen mit einem Anspruch an reglementierender Macht zu schützen.
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Damit kommen in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Formen erzieherischer Maßnahmen zur Geltung. Hinsichtlich der Frage nach der Angemessenheit solcher Maßnahmen sind wohl kaum generelle Aussagen möglich, doch muss der schlichte Verweis auf die eigene Einschätzung („Das muss jeder für sich selbst entscheiden!“) auch nicht der einzige Ausweg sein. Vielmehr kann eine gründliche Analyse des gegebenen „pädagogischen Feldes“ das Für und Wider offenlegen, pädagogisch relevante Rahmenbedingungen in ihrer Bedeutung für eine konkrete Gestalt zwischenmenschlicher Bezüge zu Tage treten lassen und somit eine mehrperspektivische Ergebnislage bieten. Auf deren Grundlage können dann zumindest leichter Entscheidungen getroffen werden. Dass solche Entscheidungen auch dann stets vorläufig und fragil bleiben, ist dem Faktum des pädagogischen Feldes mit seinen fortwährend brüchigen Begründungs- und Wirkungszusammenhängen geschuldet. Doch können vor einem solchen Hintergrund notwendige Entscheidungen eher argumentativ belegt werden und auf diese Weise auch Kants Frage nach dem pädagogischen Verhältnis von Freiheit und Machtausübung aufzuklären helfen. Diese Anfrage nämlich wird im Zuge des hier Entwickelten wohl kaum eine allgemein gültige Antwort finden, erhält aber ihre mehrperspektivische Klärung aus der Analyse und dem Abwägen von Argumenten angesichts der zwischenmenschlichen Bezüge erzieherischen und bildenden Handelns innerhalb einer konkret gegebenen Situation. Das pädagogische Feld ordnet sich unter sprachpragmatischer Hinsicht nicht aus der verallgemeinernden Perspektive der dritten Person, deren Sprecher außerhalb des Feldes stehen würde und von dort aus allgemeine Aussagen über das im Blick befindliche Geschehen formuliert. Vielmehr lässt sich das Geschehen innerhalb dieses Feldes aus den zwischenmenschlichen Vollzügen der ersten und zweiten Person formulieren, die miteinander in Beziehung stehen und dabei den „pädagogischen Bezug“ (Herbart) in der gegebenen Situation verwirklichen.
2.2.2 Leiblichkeit und Sozialität Im Verlauf des zu entwickelnden Gedankenganges hinsichtlich der Mehrperspektivität von Bildungsprozessen sind weitere Anmerkungen zum klassischen Bildungsbegriff und seine Bedeutungen geboten, um das hier erar-
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beitete Konzept noch weiter zu exponieren. Im folgenden Schritt soll daher die Frage gestellt werden, inwiefern der Mensch in seinen Aspekten von „Leiblichkeit und Sozialität“ (Meyer-Drawe 2001) in den Blick kommt. Gerade diese nämlich fallen im tradierten Bildungsbegriff weitestgehend aus. Stattdessen wird vornehmlich Rationalität als exklusiver Zugang der Menschen zur Welt verstandenen. Die so interpretierte Welt wird vernünftig konstruiert, aber zugleich auch auf Distanz gebracht, da nur bestimmte Aspekte von Welt in Erscheinung treten. Weder die leibliche Verortung innerhalb der Handlungsfelder noch die Bezüge zwischenmenschlicher Kommunikation (vgl. ebd. 62 ff.; verweist auf Schaller) kommen hinreichend in den Blick, um somit den Prozess des Bildungsgeschehens erfassen zu können. Denn nicht zuletzt „als Handelnde beziehen wir unausweichlich Stellung“ (ebd. 81) und müssen folglich unseren Bildungsgang aus den Stellungnahmen des Handelns verstehen. Im Unterschied jedoch zur Tradition moderner Bildungstheorie soll hier gefragt werden, woran sich – nicht zuletzt dank der „Sperren“ von Leib, sozialen Bezügen oder auch unbewussten Impulsen und Bildern – das menschliche Selbstverhältnis als rationales bemisst. In diesem Zusammenhang „müssen wir eine menschenmögliche Vernunft zu denken versuchen, die sich nicht an übermenschlichen, kontra-faktischen Idealen mißt, sondern an dem faktisch Möglichen.“ (Ebd. 82) Denn Interpretationsvarianten, die sich den „kontra-faktischen Idealen“ verschreiben, laufen oft genug Gefahr, die menschlichen Bedingungen zu übersehen: als Leibliche in den Bezug zu anderen Menschen gestellt zu sein und sich von dorther verstehen zu müssen. Insofern gilt: „Die Genese von Identität und Sozialität vollzieht sich als […] lebendige[s] Paradox unserer Existenz. Dadurch daß ich nie ganz Ich, immer schon mitkonstituiert durch Andere bin, wird ein Überschuß an Nicht-Identität, an non-egologischen Strukturen deutlich, der so etwas wie eine Genese überhaupt erst begreiflich macht.“ (Ebd. 151)
Vor dem Hintergrund der bildungstheoretischen Abgrenzung von Leiblichkeit und Sozialität zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist danach zu fragen, was überhaupt die Frage ist, auf die Bildung nunmehr die Antwort zu suchen beansprucht (vgl. Ricken 2006, 217). Dies kann angesichts historischer wie individueller Umbrüche wohl kaum noch diejenige des 18. Jahrhunderts sein, die mit dem Konzept moderner Subjektivität leibliche und soziale Be-
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züge der Menschen – wenn auch in unterschiedlichen Maßen – ausgliederte und deren Bedeutung demzufolge vernachlässigte. Vielmehr hat Bildung nunmehr auf die gegenwärtigen Fragestellungen – Vernunft, Biomacht, aber auch soziale Transformation, Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe, Verteilung materieller Ressourcen, Verwertung menschlicher Arbeitskraft u.v.m. – zu antworten. An dieser Stelle soll zumindest der Versuch unternommen werden, entlang der erwähnten Leitlinien weitere Fragestellungen der gegenwärtigen Herausforderungen für den Bildungsbegriff zu ermitteln. Dabei kann eine ergänzende Antwortperspektive durch die Einführung des Bezugs von Erscheinen und Erscheinendem (Asubjektivität) gewonnen werden, welche die Subjektivität als Ort ermöglicht, an dem Erscheinen und Erscheinendes gedacht werden. Welche Rolle Leiblichkeit und Sozialität spielen, bedarf dann noch einer ausführlicheren Untersuchung im Anschluss an die Entfaltung des asubjektiven Konzeptes. Bereits an dieser Stelle sei jedoch angedeutet, dass innerhalb eines Feldes der Erscheinungen, das nicht mehr als durch die Subjektivität gestiftet verstanden wird, die Ausgesetztheit und erkenntniskritische Uneindeutigkeit der menschlichen Positionen im sozialen Feld eher kenntlich werden kann. Dies ist insbesondere dadurch möglich, dass sich unter dieser Perspektive einer Subjektivität die Doppeldeutigkeit der leiblich und sozial gestalteten Menschen solcherart darstellt, dass ihnen eine eindeutige Distanz zum Beziehungsgeflecht der Dinge und Menschen nicht mehr möglich scheint. Demzufolge werden die Konzepte von Leiblichkeit und Sozialität in ihren historisch gewachsenen subjektiven Formationen fraglich. So wird betont: „Der Körper ist zum selbstverständlich eingesetzten Instrument unserer alltäglichen Selbstinszenierung geworden, die nicht länger nur die Verhüllung und Oberfläche des Körpers betrifft. Die Inszenierung reicht unter die Haut, und zwar bis hin zu einschneidenden chirurgischen Eingriffen.“ (Barkhaus/Fleig 2002, 11)
Auf diese Weise kommen soziale Bezüge und die leibliche Verortung mit den lebensweltlichen Strukturen in Kontakt, denen sich Menschen ausgesetzt sehen und denen sie sich dennoch nicht gänzlich unterworfen sehen. Leiblichkeit und Sozialität engen die (vermeinte) Beweglichkeit des freien Geistes ein, um gerade in einer solchen Bindung Freiheit als Möglichkeit zu
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qualifizieren, Welt ebenso wie sich in der eigenen Körperlichkeit zu gestalten. Freiheit ist unter dieser Hinsicht kein ungezügeltes Handeln in weltlichen Strukturen, sondern die verbundene und sich erfahrende Verbindung mit Anderem und Anderen. Die Register von Leiblichkeit und Sozialität in ihrer bildungstheoretischen Bedeutung einschätzend, kann hier festgehalten werden: Der Mensch findet in der Moderne durch seine Selbstdeutung als der Vernunft unterworfenes und vernünftig agierendes Subjekt mit eben dieser Vernunft ein Zentrum seiner Selbst- und Welt-Interpretation. Gerade vernünftig nämlich lässt sich für ihn das einordnen, was er an sich vorfindet. Rational entdeckt der Mensch eine Ordnung, die für ihn ebenso Platz einräumt, wie sie die Dinge und Prozesse in Ordnungen fasst. Die im Zuge der Aufklärung ihrer ewiggöttlichen Stabilität verlustig gegangene Welt der Menschen findet wieder festen Halt: am Menschen selbst oder genauer an der menschlich aufgefassten Vernunft. Die Bezüge von Leiblichkeit wie Sozialität jedoch unterlaufen die zunächst rational betriebene Selbstabgrenzung von den Dingen und Menschen. Die Trennung in Subjekt und Objekt, in Vernunft und vernünftig Erfasstes, bricht sich nochmals an der leiblichen wie der sozialen Verfassung. Einerseits stehen die Menschen den Dingen nicht allein frontal gegenüber, sondern sind immer auch in deren Konstellationen eingeordnet, ihrerseits sehend, hörend oder auch tastend. Ähnliches gilt für die anderen Menschen, mit denen uns zudem die Spuren unserer nicht nur vernunftgemäßen Verbindungen – etwa der Sympathie, der erotischen Attraktivität oder auch anderer leiblich arrangierter Regungen – in Beziehung setzen. Die moderne Vernunftkonzeption, die sich selbst zu gründen sucht, erfährt ihre eigene Doppeldeutigkeit angesichts ihrer leiblichen und sozialen Eigentümlichkeiten, die in den Brüchen der Lebenswelt zur Geltung kommen. Die machtvolle Deutung des rationalen Ich als Zentrum von Erkenntnis und Weltverfügung wird unter dieser Hinsicht permanent sabotiert: Eine Bildungsphilosophie, die den Menschen in seiner gegebenen Existenz ernst- und wahrzunehmen beansprucht, wird auch eine Philosophie der Endlichkeit, Undurchsichtigkeit und Doppeldeutigkeit sein müssen, sofern sie die leiblichen Artikulationen und Bezüge in die Lebenswelt hinein berücksichtigt. Wähnte sich das moderne Subjektdenken noch in der Lage, die Welt in die distanzierte Struktur der Objekte auslagern zu können, wird nun kenntlich, dass dieses Denken zu öffnen ist. Das Subjekt regiert nicht aus
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den Höhen der reinen Vernunft, sondern ist bei all seiner Vernünftigkeit leiblich gebunden an die oft nicht durchschaubaren und mehrdeutigunverständlichen Menschen wie Dinge. Daher ist alle Vernunft des Menschen leibliche Vernunft. Im Unterschied zur bisher üblichen Redeweise soll an dieser Stelle jedoch nicht für eine ‚inkarnierte Vernunft‘ plädiert werden, die sich im Leib findet und dort ihr denkendes Geschäft betreibt. Vielmehr scheint „eine karnierte Vernunft, die nicht im Fleisch (‚chair‘ – Merleau-Ponty), sondern als Fleisch erscheint“ (Böhmer 2005, 106) sehr viel plausibler. Die Vernunft bleibt gebunden an den Leib des Menschen, sie ist gewissermaßen der Leib des Menschen – in dem Sinne nämlich, als er das Areal des Menschen ist, das sich auch vernünftig gebärdet. Wer sich beispielsweise unwohl fühlt, denkt anders oder tut sich gar schwer, überhaupt „einen klaren Gedanken“ zu fassen, wie die Alltagssprache weiß. Natürlich zeigen sich auch gegenläufige Tendenzen, wie ein Blick auf die Schaffenskraft des chronisch erkrankten späten Nietzsche lehrt. Und doch: Die leibliche Verfasstheit hat ihre Auswirkungen auf Denken und Handeln. Denken geschieht nur leiblich und in Bezug auf die eigene leibliche Verfassung. „Die Freiheit vom Ressentiment, die Aufklärung über das Ressentiment – wer weiß, wie sehr ich zuletzt auch darin meiner langen Krankheit zu Dank verpflichtet bin! […] Man weiß von nichts loszukommen, man weiß mit nichts fertig zu werden, man weiß nichts zurückzustoßen – alles verletzt. Mensch und Ding kommen zudringlich nahe […].“ (Nietzsche 1997 II, 1077)
Diese Nähe kennzeichnet das Denken grundsätzlich; gleichwohl erfährt der leiblich Eingeschränkte diese Nähe noch weitaus stärker als belastend, anstrengend, indiskret. Denken bleibt gebunden – an die Menschen und Dinge, vor allem aber auch an das eigene, leibhafte Menschsein. Somit kommt eine ‚Transzendentalität des Leibes als Gesichtspunkt zur Welt‘ (vgl. Boehm in Merleau-Ponty 1966, V) in den Blick. Leiblichkeit erhält transzendentale Bedeutung, der Leib ist die Bedingung der Möglichkeit, überhaupt denkend erkennen zu können – und prägt insofern auch die Art und Weise des Denkens. Denken geschieht leibhaftig, sofern es menschliches Denken ist, und Leiblichkeit ist auch vernünftig, sofern sie als menschlichvernünftige strukturiert ist.
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Dieses ‚Denken mit dem Leib‘ als karnierte Vernunft betrifft wiederum das menschliche Selbstverstehen unter den Perspektiven der Moderne. War nämlich bislang ein Denken gebräuchlich, das im Ich sein Zentrum – gar das genealogische für alle Nicht-Ich (Fichte) – zu erkennen meinte, so wird deutlich, dass eine generelle vor-ichliche Sinnlichkeit das Denken prägt und es erst im Nachgang auch zu einem individuellen formt (vgl. Lippitz 1993, 299). Damit fallen eine radikale Egologie (Verstehen vom Ich aus) wie auch eine radikale Xenologie (Verstehen vom Fremden aus) des Denkens aus. Nun kann weder allein vom Ich noch allein vom Fremden her das menschliche Denken verstanden werden. Ich und Fremdes bleiben aneinander gebunden und bestimmen gerade in ihrer Wechselseitigkeit menschliches Selbstverstehen. Damit ist auch der Leib nicht bloß „Spiegel unseres Seins“ (MerleauPonty 1966, 204), sondern geradezu unser Sein selbst. Die Leibphilosophie des früheren Merleau-Ponty scheint an dieser Stelle zu kurz zu greifen, wenn sie mit dem Hinweis auf den „Spiegel“ allein die Verweisstruktur von Leiblichkeit und ichlicher Subjektivität benennt. Aufgrund der hier formulierten Überlegungen ist vielmehr davon auszugehen, dass der Leib als ein Moment menschlichen Selbstverstehens zu fassen ist – ebenso wie Vernunft, Sozialität und Geschichtlichkeit. Erst diese Aspekte des Menschseins gemeinsam genommen (und sicherlich ergänzt um manche andere) machen es möglich, die Menschen mit möglichst vielen ihrer Seiten in den Blick zu bekommen und daraus ableitend einen Bildungsbegriff zu formulieren, der die Einseitigkeit der „Normalisierungspädagogik“ zumindest eher zu umgehen vermag, als er die „leibliche Eigensinnigkeit“ mindestens in sein Kalkül mit einbeziehen muss. Mit Blick auf das Leib-Sein sowie das Körper-Haben ist kein Entweder-Oder – gar mit moralisch akzentuiertem Unterton – zu entwerfen. Vielmehr ist die besondere Herausforderung, beide Verständnisformen des leiblichen Existierens in angemessener Zuordnung in den Blick zu nehmen.
2.2.3 Zwischenleiblichkeit Dass das moderne Subjekt sich nicht allein als abgeschlossene Reflexivität verstehen lässt, wenn leibliche, soziale und die Bezüge zu den Dingen Berücksichtigung finden sollen, haben die bisherigen Überlegungen dargelegt.
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Doch ist der Bezug von Mensch und Anderem darüber hinaus gehend nicht allein von einem Aktzentrum der Subjektivität aus zu denken. Menschen und Dinge begegnen einander – und nehmen Beziehung miteinander auf. Die Dimensionen von An-sich (das Ding verbleibt in seinem Verhältnis zu sich, ohne von uns erkannt werden zu können) und Für-uns (das Ding wird im Verhältnis zu uns erkennbar und kann erst in diesem Bezug zu uns seine Charaktere darstellen) werden um die des Mit-einander ergänzt, das die logische Vorgängigkeit von Ding oder Erkenntnissubjekt durch die Wechselseitigkeit und Gleichzeitigkeit der Bezüge ersetzt. Die in der Phänomenologie höchst bedeutende Perspektive der Intentionalität wird hierbei unterlaufen (vgl. Novotný 2003, 159). Statt nämlich ausgehend vom Erkenntnis- und Aktzentrum des Subjektes allein einen intentionalen Bezug auf das Andere hin anzusetzen (vgl. diesbezüglich zu den Perspektiven von Intersubjektivität bei Husserl kritisch Schmid 2000, v.a. 76), ist überdies danach zu fragen, auf welche Weise Menschen und Dinge aufeinander wirken und eine weitere Dimension enthüllen, die keinem der Beteiligten zu eigen ist und gerade dadurch die Bezugnahme von Menschen und Dingen ermöglicht. Dies ist gewissermaßen die Frage nach dem „gemeinsamen Grund“ von Dingen und Menschen, auf dem sich beide erst begegnen und somit kreuzen können. Für ein solches Überkreuzen, gerade für ein leibbezogenes, gilt: „[…] was als Ding beginnt, endet als Bewußtsein des Dinges, was als ‚Bewußtseinszustand‘ beginnt, endet als Ding.“ (Merleau-Ponty 1986, 274; zur Relevanz der Chiasma-Struktur für die Inter-Subjektivität vgl. Herkert 1987, 124 ff.) Spätestens mit dieser Perspektive wird die Phänomenologie als Wissenschaft von „den Sachen selbst“ überschritten. Denn diese „Sachen selbst“ wurden von Husserl im Wechselspiel von Ding und Bewusstsein verortet: „Am Prinzip aller Prinzipien: daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ‚Intuition‘ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen.“ (Husserl 1976, 43 f.)
Eine dritte Dimension zwischen Bewusstsein und Dingen ließ sich auf diese Weise nicht ausmachen.
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Nunmehr ist die Frage aufzuwerfen, inwieweit eine solche Dimension des Zwischenraumes bzw. eines gemeinsamen Grundes gedacht werden kann. Merleau-Ponty führt dazu unter Verwendung des schillernden Seinsbegriffes weiter aus: „Dieses doppelte ‚Chiasma‘ kann man nicht gewinnen, indem man es vom Fürsich und vom Ansich abzieht. Es bedarf einer Beziehung zum Sein, die sich aus dem Inneren des Seins ergibt […].“ (Merleau-Ponty 1986, 274)
Sein wird an dieser Stelle zumindest als Bezugnehmen von Mensch und Ding zu einander verstanden. Es handelt sich nicht mehr um das statische Konzept einer mittelalterlich-scholastischen Seinslehre , die den Höhepunkt aller ontologischen Aufstufung im unbewegten Beweger fand und insofern auch als Wegbereiterin für die ebenfalls statische Subjektivität der Moderne als säkularisierte Fassung einer vormals theologisch begründeten Seinslehre verstanden werden kann. Vielmehr wird Sein als produktive Sphäre in Bewegung gedacht. Eine ontologische Bewegung (vgl. Böhmer 2002, 63; bezieht sich auf E. Fink) prägt das, was ist, und vereitelt, dass Dinge und Menschen in ihrer Position verschlossen bleiben. Nicht allein eine Öffnung der ontologischen Struktur, sondern eine dynamische Bezugnahme auf Anderes wird somit in diesem Sprachspiel von Sein angesetzt. Unter dieser Hinsicht wird Subjektivität nicht mehr einer Welt oder einem Sein gegenüber gestellt. Subjektivität verlässt – wenigstens mit einem ersten Schritt – die Bahn eigener Selbstbestimmung mit dem Mittel der Distanzierung von Dingen und Menschen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass „die Verfassung der Beziehungs- und Erkenntnisart, kraft deren uns eine Welt erschlossen ist, und die Weise des Wissens von sich, welche in den Prozeß der Subjektivität zieht, auch ihrerseits wechselweise von einander abhängig sind und eigentlich eine einzige komplexe Gesamtverfassung ausmachen.“ (Henrich 1999, 28)
50 Damit auch nicht um die Rekapitulation der platonischen Anamnesislehre, die Lernen als Wiedererinnerung des Seienden im in dieser Form lernenden Menschen ansetzt (vgl. dazu paradigmatisch Rustemeyer 2004).
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Sein und Mensch, letztlich Welt und Mensch lassen sich unter dieser Perspektive nicht mehr in Frontstellung zu einander bringen, der Mensch zeigt sich als Weltwesen, als „ens cosmologicum“ (E. Fink 1977, 273), und die Welt als Feldstruktur des Erscheinens von Menschen wie Dingen. Von Bedeutung für den hier entwickelten Gedankengang ist nun, dass sich in dieser ontologischen Sichtweise nicht allein Kraftfelder o.ä. auf einander beziehen, sondern dass innerhalb dieses Wechselspiels von Menschen, Dingen und weltlichen Strukturen ein Neues offenkundig wird: Zwischenräume, in denen sich die Begegnung ereignen kann. Hintergrund dieses Offenkundig-Werdens ist jedoch nicht das Bezugnehmen allein, sondern gewissermaßen die Beziehung aus der Diastase (Waldenfels), aus der Kluft heraus – einer Kluft freilich, welche die Verbindung zweier Teile ermöglicht. Denn eine solche Bezugnahme wird erst möglich, indem vom vermeintlich statisch festen Seienden das Denken auf das dynamisch Bezug eröffnende Sein gewendet wird; eine Denkfigur, die sich bei verschiedenen Autoren phänomenologischen Seinsdenkens findet (vgl. E. Fink 1990; Heidegger 1993; Patoþka 2010). Bei diesem Denken geht es im phänomenologisch geprägten Sprachgebrauch Jan Patoþkas um „die Entdeckung des Seins des Seienden jenseits der Grenzen alles Seienden und seiner Bedeutsamkeit, die Entdeckung des Seins, das nicht Seiendes, sondern aus der Perspektive des Seienden das bloße Nichts, das bloße Wunder ist – das Wundersame, das[s] Seiendes ist, das, was jenen ‚Schritt zurück‘ vor alles Seiende ermöglicht, aufgrund dessen das menschliche Leben ist, was es ist: die ständige Distanz gegenüber den seienden Dingen und die Möglichkeit, sich in diesem spatium und dank seiner auf sie zu beziehen.“ (Patoþka 2010, 80, spatium = lat. Zwischenraum)
Daraus ergibt sich, dass die Distanz von Sein und Mensch die Nähe von Seiendem und Mensch ermöglicht. Genauer: Die Erfahrung eines grundlegenden ontischen Nichts ist dem Denken des Menschen möglich. Indem er z.B. in schicksalshaften Erfahrungen wie der Geburt eines Kindes, dem glücklichen Ausgang eines dramatischen Geschehens oder auch dem Tod eines nahestehenden Menschen eine Ahnung davon bekommt, dass neben allem als Seiendes Gegebenen eine andere Form von Wirklichkeit mehr erfahren als gedacht werden kann, die zunächst bloß negativ, eben als Nichts des Seienden, kenntlich wird, eröffnet sich ein anderer Interpretationsraum für den Umgang mit den Menschen sowie den Dingen. Nunmehr wird deut-
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lich, dass Menschen wie Dinge ‚aus demselben Stoff sind, der die Welt bedeutet‘ – und darin miteinander verbunden bleiben. Die Distanz im Seinsverstehen eröffnet gerade die Nähe zum seienden Ding, das auf demselben Boden des Seins steht wie die Seinsverstehenden. Eine solche Auffassung steht freilich in Differenz zum Begriff der Negativität, den Levinas als Ausdruck bloßer Frustration in einem abgelehnten Diesseits ansetzt (vgl. Levinas 2002, 47). Unter dieser Hinsicht wird zugleich eine weitere der Bruchkanten aufgeklärten Denkens deutlich: Sein kann gedacht werden. Doch ein differenzierteres Denken des Seins scheint nicht möglich. Es bleibt, wie gezeigt, für das ontisch geprägte Denken als ein Nichts. Hier bricht der Zugriff der Vernunft ab. Es handelt sich nicht um das transparente Denken einer gelichteten Wahrheitsmetaphysik, die als Unverborgenheit, als A-LETHEIA (Heidegger) zumindest die Dinge in ihrer Wahrheit zu durchleuchten vermöchte, sondern um die Grenze des Aufklärungsdenkens. Anstelle der Durchleuchtung von Fakten gerät das Denken, das inmitten der Welt steht, deren Dinge aus demselben „Stoff“ sind wie es selbst, an das Dunkel seines unterscheidenden Verstehens: „Dieses dunkle Verstehen ist keine Weise des abständigen Verstehens, sondern ein inständiges Verstehen, was auf der ontischen Nähe beruht, aber keinen ontologischen Reichtum aufweist.“ (E. Fink in Heidegger/Fink 1970, 231)
Ein solches leibliches Stehen inmitten der Gegebenheiten des Seienden als „Zwischenleiblichkeit“ (Merleau-Ponty 2003, 263) hat gewichtige Folgen: Rührt die Erfahrung des „Zwischen“ aus der räumlichen Existenz als karniertes Subjekt, so fügen sich Leib und Dinge in ihrem Zwischenraum des wechselseitigen Bezuges gewissermaßen aneinander. Daraus ergibt sich ein laterales Wahrnehmen: Kein Ding kann aus der Perspektive des menschlichen Leibes „total erfasst“ werden, sondern zeigt sich stets nur im wahrsten Sinne des Wortes unter bestimmten Blickwinkeln. Hinzu kommt, dass die Zwischenleiblichkeit zu ihrem eigenen Vergessen beiträgt (vgl. ebd.), weil sie im Erfassen der Dinge nicht an die Wahrnehmung ihrer selbst gebunden, sondern im Überschreiten auf das Neue hin ausgerichtet wird. Daraus ergibt sich, dass im engagierten Weltbezug den Menschen weder die Eigenleiblichkeit noch die zu behandelnde Sache in ihrer Eigenheit ganz erkennbar werden. Beide werden erst wieder eigenständig durch die Reflexion auf
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den Prozess – oder, im Sprachspiel der zuvor angestellten seinsphilosophischen Überlegungen: durch die Herstellung einer ontologischen Distanz. Husserl interpretierend erläutert dazu Merleau-Ponty: „Der Leib ist nicht weniger, aber auch nicht mehr als die Möglichkeitsbedingung der Sache. Wenn man von ihm zu ihr übergeht, gelangt man weder von einem Prinzip zu einem Schluß noch von einem Mittel zu seinem Zweck: Man wohnt einer Art von Ausdehnung, Einmischung und Übergreifen bei, die den Übergang vom Solus ipse zum Anderen, von der ‚solipsistischen‘ Sache zur intersubjektiven vorbereitet.“ (Ebd.)
Damit wird das eigenwillige Bild verständlich, das Merleau-Ponty an anderer Stelle verwendet, um diesen Vorgang zu erläutern, indem er vom „Einrollen des Sichtbaren ins Sichtbare“ (Merleau-Ponty 1986, 185) spricht. Er illustriert die Verbundenheit von Mensch und Ding im Engagement, die nicht zwei getrennte Seiende sind (Subjekt – Objekt), sondern bei aller Unterschiedenheit doch auf einander bezogen sind. ‚Unvermischt und ungetrennt‘ bleiben Mensch und Ding aufeinander verwiesen, solange die Beschäftigung mit einander erfolgt. Erst nachträglich wird es dann möglich, reflexiv die Dinge in der Welt – und auch sich selbst als in ihr Situierte – zu erfassen: „Weit davon entfernt, das zu enthüllen, was ich seit jeher gewesen bin, erklärt sich mein reflexiver Zugang zu einem universellen Geist aus der Verflochtenheit meines Lebens mit den anderen Leben, meines Leibes mit den sichtbaren Dingen, aus der Überschneidung meines Wahrnehmungsfeldes mit dem der Anderen, aus der Verquickung meiner eigenen Dauer mit der Dauer der Anderen. […] Ich konnte bezüglich der Welt und der Anderen nur deshalb an mich appellieren und den Weg der Reflexion beschreiten, weil ich vorher außer mir, in der Welt und bei den Anderen war; und immerzu ist es diese Erfahrung, die meine Reflexion nährt.“ (Ebd. 73 f.)
Daher bekommt der Leib eine transzendentale Bedeutung (vgl. bereits 2.2.2 dieser Untersuchung). Denn er ist die Bedingung der Möglichkeit für Erkenntnis – von Anderem, Ding und Welt, aber ebenso auch des reflexiv verstandenen Ich. Diese Transzendentalität konkretisiert Merleau-Ponty, wenn er vom ‚Außer-sich-sein‘ der Reflektierenden spricht. Waren Äußerungen, die gerade ein „Bei-sich-sein“ signalisierten, Kennzeichen eines
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„authentischen“ Ich, so macht der Phänomenologe hier deutlich, dass die Wechselbewegung von Bei-sich und Außer-sich das Menschsein nach seiner Auffassung kennzeichnen. Anstelle eines stabilen Ich, das sich verlässlich und nachvollziehbar von sich her an Andere gibt – dosiert, überlegt, „authentisch und selektiv“ (Cohn), kommt viel eher eine Struktur menschlichen Selbstverstehens vor Augen, die sich ebenso sehr von sich wie von den Dingen her versteht. Möglich wird dieses umgeformte Selbstbild durch die Erfahrung der erwähnten „Zwischenleiblichkeit“ als Verortung des Menschen, welcher der Reflexion ebenso wie des Dingumganges fähig ist. Subjektivität öffnet sich dank der Initiativen des Leibes für die Dinge und kommt im Hinblick auf sie wie sich selbst in Bewegung.
2.2.4 Responsivität Eine weitere Perspektive auf die Öffnung der Menschen für umweltliche Bedingungen soll nun zur Sprache kommen: die Responsivität (vgl. Waldenfels 1994). Im Unterschied zu den zuvor diskutierten Blickwinkeln etwa auf frühkindliche Erfahrungen oder das Begehren als menschliche Konstanten kann die responsive Struktur jedoch nicht auf dieselbe Weise als Infragestellung der zentrierten Selbstdeutung angesehen werden. Denn gerade die von Lacan angesprochenen Perspektiven machten deutlich, dass der Mensch nicht als umfassend informierter Herrscher über sich und die Welt fungieren kann. Er muss als unterworfenes „sujet“ sein Leben unter den Bedingungen des Mangels gestalten – und angesichts des leiblich geprägten Verlangens ebenso wie der Angewiesenheit auf die Anderen. Die Konzeption der Responsivität hingegen wählt einen davon unterschiedenen Weg. Sie erläutert nämlich die Mittelstellung des Menschen, der sich als Antwortender in gestaltbaren Spielräumen der Wirklichkeit erfährt. In dieser Form wird die Position des Menschen gezeichnet zwischen allmächtiger Unterwerfung der Welt einerseits und ohnmächtiger Opferrolle angesichts entmündigender Macht- oder Mangelsituationen andererseits. Responsivität als die Struktur antwortenden Verhaltens zu den Dingen und Menschen ist eher im Zwischenbereich von Herrschaft und Unterwerfung anzusiedeln und bringt beide Bereiche in ein Verhältnis zu einander. Dieser Ansatz vereinnahmt deswegen keines der Felder, wie es hingegen das Begehren anstrebte.
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Das responsive Verhältnis ist bei aller Verortung im Zwischenbereich jedoch keines der wohltemperierten Ausgewogenheit und der harmonischen Wechselbezüge. Vielmehr wird die Response gerade wegen der Unangepasstheit und dem Ungleichgewicht innerhalb des phänomenalen Feldes kenntlich (vgl. ebd. 459). In dem unterschiedlich strukturierten Feld, das Menschen und Dingen Platz gewährt, wird der Zwischenbereich nicht zur Kluft zwischen alternativen Polen, sondern vielmehr zum Feld von „vermischten Handlungen“, zum Areal dosierter Mitwirkung (vgl. Waldenfels 1987, 131) von Menschen und Dingen. Denn als responsiver weiß sich der Mensch in die Wechselspiele mit weltlich Begegnendem hineingenommen. Er formuliert seine Antworten immer dann, wenn er sich von einem Ereignis angesprochen erfährt und er aufgrund seiner Offenheit zu erwidern sucht. Dies weitet die Möglichkeiten menschlicher Selbstdeutung, die nicht mehr allein auf die Modelle von Intention und Kommunikation eingeengt bleiben müssen: „Mit dem Beharren auf der responsiven Differenz zwischen dem Was und dem Worauf einer Antwort […] wird eine Zwischensphäre zurückgewonnen, die weder in subjektiven Intentionen noch in transsubjektiven Koordinationen zu ihrem Recht kommt. […] Die Konzeption der Responsivität, die wir im Auge haben, läßt sich also begreifen als Transformation der phänomenologischen Konzeption der Intentionalität, und dies unter Benutzung kommunikationstheoretischer Einsichten.“ (Waldenfels 1994, 332)
Diese Auffassung der intentions- wie kommunikationstheoretisch unterlegten Umformung der Intentionalität als ansonsten in der Phänomenologie gebräuchlicher Denkform soll im Folgenden genauer dargestellt werden. Der Begriff der Responsivität gründet auf den Positionen der Gestalttheorie und ihrer phänomenologischen Rezeption (etwa Kurt Goldstein, Kurt Lewin, Aron Gurwitsch, Maurice Merleau-Ponty). Responsivität nach Bernhard Waldenfels lässt sich verstehen als Alternativkonzept zu demjenigen subjektiver Intentionalität sowie Kommunikativität. Anstelle des einzig aktiv, „intentional“ Beziehungen mit dem Anderen aufnehmenden und so kommunizierenden Subjektes wird vielmehr ein Antworten angesetzt, das als „Anknüpfen an … und Eingehen auf …“ (ebd. 324) die Andere antwortet. Das (scheinbar) aktiv die Beziehung beherrschende Subjekt wird zurückverwiesen in seine Beziehungen mit denjenigen, die ihm im Umfeld
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begegnen. Statt selbst mit seinen Formen der Anschauung die „Bedingung der Möglichkeit“ von Erkenntnis (Kant) zu liefern, erfährt das Individuum die Möglichkeit zur Erkenntnis aus den Impulsen, die es im Umgang mit Menschen und Dingen erhält. Als responsiver versteht sich der Mensch somit eingebunden in die ihn umgebenden Verhältnisse. Er gestaltet und wird gestaltet, bewegt sich insofern im Zwischenbereich von allmächtiger Gestaltung der Objekte und ohnmächtigem Gestaltetwerden durch die Ordnungen der Macht (vgl. Foucault). „Man kann ebenso wenig bloß antworten, wie es ausgeschlossen ist, daß man in der Rede einen Aussagevorgang realisiert, einer Regel folgt und einen Geltungsanspruch erhebt in der gleichen Weise, wie man den Mund auftut, die Ohren aufsperrt oder sonst etwas tut.“ (Waldenfels 1994, 324)
Antworten wie Vernehmen geschehen als Anknüpfen an Vorgegebenes, indem aktiv und in vielfältig möglicher Weise (mit Adorno: nicht „identitätslogisch“) darauf Bezug genommen wird. Nunmehr ist das Konzept der transzendental entworfenen Intentionalität als ein Bezug-Nehmen, das Erkenntnis seinerseits bedingt, geweitet um die Ordnung, die erst solche Bezüge möglich und womöglich nötig macht. Mehr noch: Vor aller „Gabelung in individuelle Ereignisse und generelle oder gar universale Strukturen und Regeln“ (ebd. 327) ist das Konzept der Responsivität dazu angetan, den Bezug von Angebot und Antwort in einer eigenen Zuordnung darzulegen. Denn während im Verhältnis von Reiz und Reaktion reflexartige Konsequenzen unmittelbar und ohne jeglichen Gestaltungsspielraum auf einen Impuls folgen, kann die responsive Interaktion größere Offenheit für sich beanspruchen. „[…] ohne solche offenen Stellen wären Handlungsordnungen nichts als Konditionierungen und Dressuren.“ (Waldenfels 1987, 44) Auf diese Weise wird die Verschlossenheit einer Reiz-ReaktionsStruktur deutlich, die sich bloß im Kreis bewegt, weil sie auf einen bestimmten Reiz nur mit einem bestimmten Reflex reagieren kann und unter dieser Hinsicht das Vorherige bloß wieder bestätigt. Ein solcher kreisförmiger Ablauf wird mit der Struktur von Anspruch und Antwort auf das Fremde geöffnet: „Die Zirkularität des Strebens wird durchbrochen im Ereignis des Anhörens und Antwortens selbst. Eine Antwort, die von anderswoher kommt, kehrt nicht zu sich
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selbst zurück, auch nicht auf dem Umweg durch das Andere oder den/die Andere(n).“ (Waldenfels 1994, 338)
Vielmehr bildet sie erst Fragende als Fragende und Antwortende als Antwortende. Was geworden ist, ist dies durch das responsive Geschehen geworden. Was ist, ist gerade im Spalt der „responsiven Differenz“ (ebd. 317) von Worauf und Was der Antwort miteinander verbunden. Da Hören und Antworten auf den fremden Anspruch eingehen, gelangt der Mensch somit an die undurchsichtig-vielgestaltige Welt, die sich ihm als Fremdes darbietet. In dieser Begegnung entsteht allerdings eine Vernunft eigener Form – die „responsive Rationalität“ (Waldenfels 1987, 47), die sich nun nicht als einzig mögliche Abfolge von unmittelbar miteinander verknüpften Elementen verstehen lässt. Vielmehr ergibt sich aus dem erwähnten Spalt der responsiven Differenz ein „Zwischenereignis“ (ebd.) als an Anderes anknüpfendes Geschehen, das im Hiatus von Anreiz und Antwort seine Gestalt gewinnt. Dies geschieht jedoch als besagte responsive Rationalität mit den Variationen dessen, was sich als mögliche Antworten aus den Anteilen von Appellierenden wie Antwortenden ergibt. Hinzu kommen die durch das „Zwischenereignis“ eröffneten Spielräume, die auf unterschiedlichste Art gestaltet werden können. So tritt beispielsweise das Hören der SchülerInnen auf dasjenige, was im Unterrichtsgeschehen gesprochen wird, mit einer oft bemerkenswerten Varianzbreite auf: Nicht alle hören – und antworten – darauf in derselben Form, sondern jede Einzelne erlebt den Impuls des Gesprochen oder mittels anderer didaktischer Register Gezeigten auf unterschiedliche Weise. Insbesondere das Verhältnis zwischen Sprechender und Hörenden spielt für die Formierung des antwortenden Zwischenereignisses eine nicht zu unterschätzende Rolle. Dies wird jede erfahren können, die ein als so rational angesehenes Fach wie Mathematik unterrichtet hat und feststellen musste, wie viel des Unterrichtsgeschehens gerade vom persönlichen Verhältnis zwischen Unterrichtender und Lernenden geprägt wird. Appell und Antwort sind so unterschiedlich, dass sie bestenfalls in einer ausgeprägten Varianzbreite antizipiert werden können. Eine solche Sichtweise auf Menschen und ihre Handlungen hat auch Auswirkungen auf deren Selbsterleben. Ein „responsives Ich“ erlebt sich in das Antwortgeschehen eingebunden und entsteht darin erst aufgrund der Struktur von Appell und Antwort in der jeweiligen Situation. Diese Her-
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ausbildung eines Ich im Antwortgeschehen ist nachgerade von zwei verschiedenen Organisationsschüben bestimmt – demjenigen der vor-ichlichen Kraftfelder und denen über-ichlicher Regelungen (vgl. ebd. 133). So erfolgt gleich in zwei Formen eine Verschiebung der Subjektivität, die in der Moderne als zentrale Instanz für das Selbst- und das Weltverständnis konzipiert wird. Denn noch bevor sich jemand als „Ich“ in einem Interaktionsgeschehen verstehen kann, ist er bereits bestimmten Kraftfeldern ausgesetzt, die auf ihn einwirken und in denen er selbst mitwirkt (vgl. Böhmer 2008b; ferner auch Blaschek-Hahn 1995, 269). Dies können im zuvor erwähnten Mathematikunterricht z.B. Bezüge von Sympathie oder Antipathie sein, von aktueller leiblicher Verfassung, geistigen Blockaden oder auch weiteren, etwa emotionale Faktoren. Andererseits sind Ordnungen am Werk, die sich über das „Ich“ stellen und ihm zu verstehen geben, wie es sich innerhalb einer bestehenden Situation darzustellen und in welcher es sich überhaupt legitimer Weise aufzuhalten habe. Solche Ordnungen können im schulischen Kontext die Versetzungs- ebenso wie die Schulordnung sein. Zu denken wäre aber auch an die unterschwelligen Ordnungen sozialer Schichtung aufgrund bestimmter Verhaltensformen in der Gruppe der SchülerInnen, die jenen, die ‚dazu gehören‘, andere Chancen eröffnen als jenen, die ‚nicht dazu gehören‘. Gerade für das Ineinander gesellschaftlicher und institutioneller Ordnungsprozesse wurde dies bereits vor einiger Zeit eindrücklich beschrieben: „Indem das Unterrichtssystem […] soziale Hierarchien zu schulischen Hierarchien erklärt, erfüllt es eine Legitimationsfunktion, die zur Perpetuierung der ‚sozialen Ordnung‘ immer notwendiger wird […].“ (Bourdieu 1973, 108)
Doch zurück zum responsiven Geschehen zwischen Ich und Anderem: Dass sich darin eine eigene Bildung von Fragenden und Antwortenden noch vor aller subjektiven Selbstbeschreibung zeigt, wurde bereits dargestellt. Eine solche Struktur des Erscheinens ermöglicht erst Gebende und Empfangende noch vor aller Gestaltung durch ein machtvolles Subjekt. „Am Anfang steht kein ‚Subjekt‘, das einen Akt des Gebens ‚vollzieht‘, vielmehr sucht sich das Geben erst seinen Geber und Empfänger.“ (Waldenfels 1994, 618)
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Auch unter dieser Hinsicht wird deutlich, dass es Ordnungen gibt, die Menschen betreffen, noch bevor Menschen sich dazu verhalten, Wirklichkeiten schaffen oder auch ihre eigene Position in einem solchen Wechselspiel rational festlegen. Diese Ordnungen werden nicht rational geformt, sondern sind erst die Grundlage dafür, dass Rationalität als Antwortgeben verwirklicht werden kann. Somit entsteht eine eigene Struktur von Wirklichkeit, die zum einen die Beziehung rational verfasster Menschen, aber zum anderen genauso den Umgang mit den Dingen kennzeichnet: „Werden Handlungen nicht bereits zurechtgestutzt, so bietet sich im Umgang mit den Dingen durchaus die Möglichkeit, auf Anforderungen und Verlockungen der Dinge einzugehen, ein Zusammenspiel zu erproben, Verletzungen zu riskieren. Handlungen lassen sich demgemäß nicht nur danach beurteilen, ob sie gelungen oder richtig sind, sondern auch danach, ob wir einer Sache oder einer Aufgabe gerecht geworden sind, ob wir ihre Möglichkeiten genutzt und entfaltet oder bewahrt haben und ob wir mit ihr zurechtgekommen sind.“ (Waldenfels 1987, 45 f.)
Antwortgeben verbindet Dinge und Menschen weitaus stärker denn nur als Nutzende und Benutztes – eine eigene, nahezu ethische Struktur durchzieht die Gefüge von Menschen und Dingen in ihren Begegnungen. Daher eröffnet die Perspektive der Responsivität weitere Möglichkeiten, innerhalb einer – etwa: pädagogischen – Situation Maßstäbe für das Handeln zu gewinnen. Denn die Frage, „ob wir einer Sache oder einer Aufgabe gerecht geworden sind,“ eröffnet einerseits den Raum dieser Anfrage an unser Verhalten, organisiert andererseits jedoch auch die als angemessen erscheinenden Möglichkeiten. Dadurch ist noch immer nicht geklärt, welche Maßstäbe als die gerade richtigen gelten können – der bloßen Beliebigkeit des Antwortens aber wird auf diese Weise zumindest entgegengewirkt. Solche handlungsleitenden Einschätzungen verbleiben demgemäß in einer mittleren Reichweite; sie legen nichts fest, lassen aber auch nicht alles offen. Es wird deutlich, dass das hier skizzierte Antworten nicht einfachhin im Füllen einer Wissenslücke besteht, sondern als Eingehen auf fremde Ansprüche zu verstehen ist, „wobei Anspruch im doppelten Sinne von Appell und Prätention zu verstehen ist.“ (Waldenfels 2000, 313) Das Antworten gelangt zu einer Einstellung, die über das Zuschütten einer Kluft des Nochnicht-Bekannten hinausführt. Gerade die Bruchlinie, welche die responsive Differenz aufreißt, lässt sich nicht mit einer Zielerreichung schließen, son-
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dern macht sich nachgerade in ihrer produktiven Offenheit des Antwortgeschehens bemerkbar. Responsives Sprechen verbindet unter dieser Hinsicht nicht nur Fragende und Antwortende, sondern erhält eine dreigliedrige Struktur. Denn Ich, Andere und das Thematisierte bleiben in einem stilbildenden Zusammenhang miteinander verflochten und ermöglichen somit die Unvorhersehbarkeit und Typik bestimmter Antwortvarianten. Die Verhältnisse zwischen diesen drei Elementen des Antwortgeschehens sind durchaus verwickelt: „Die Reden der Anderen bringen mich zum Sprechen und zum Denken, weil sie in mir einen Anderen als mich, eine Abweichung im Verhältnis zu … dem, was ich sehe, erschaffen und ihn mir selbst dadurch bezeichnen. Die Reden des Anderen bilden ein Sprachgitter, durch das hindurch ich mein Denken sehe.“ (Merleau-Ponty 1986, 285)
Nicht allein Fragende und Antwortende bleiben in ihren Aussagen aufeinander verwiesen und nehmen ihre „Rollen“ im responsiven Wechselspiel gegenseitig durch das Stichwort des Gegenübers ein. Vielmehr ist auch das Thematisierte des Antwortgeschehens als „Problem“, als vorgelegte Fragwürdigkeit, ein Bruchstück, das in die Wissenslücke zwischen Ding und Mensch gerückt werden kann. Dieses Problem bietet zugleich als Anhaltspunkt für das Ich durch die Sprachgitter des Anderen hindurch die Gewähr, „Ich“ zu sein, wie es ebenso die Schwierigkeit aufwirft, mir als „abweichendem Ich“ zu erscheinen. Denn als vernehmbares „Ich“ kann sich das Subjekt zu einem Problem äußern und erfährt in seinem Antwortgeben dennoch Abweichungen vom bisherigen Selbstbild. Was ich antworte, ist mir nicht in allen Zügen restlos vertraut. Das Sprachbild vom „lauten Nachdenken“ zeigt, dass im vernehmlichen Antwortgeben neue Gedanken von mir formuliert werden können. Dann aber ist das als Problem Thematisierte auch Impuls zur weiteren Frage, evtl. verworfene Antwort auf die Frage und in all dem mehr Markierung des Unbekannten in Wissen und Fragen als vollendetes Schließen der Wissenslücke. Fragende, Antwortende und Thematisiertes verbleiben in der Spannung einer nicht letztendlich festlegbaren situativen Ordnung, die als Problem-Dynamik alle drei Knotenpunkte des responsiven Gefüges miteinander in Beziehung hält.
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Leiblichkeit bekommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung, weil somit Responsivität in einer größeren Breite von Antwortmöglichkeiten gesehen werden kann. Zu erwähnen sind etwa Blick, Stimme oder auch die Hand (vgl. Waldenfels 1994, 480). Als „leiblich verankerte Responsivität“ (ebd. 478) kommt hier insbesondere die leibbezogene Struktur der Antwort im Umgang mit dem Anderen zum Vorschein und wird zur „Heterosomatik“, als Lehre vom Leib, der als anderer sichtbar wird. Für sie gilt: „Responsivität, die den Anspruch des Fremden als Fremden im Antworten wahrt und aufrechterhält, speist sich […] aus einer Beunruhigung, die von einem Nichtetwas und Nicht-jemand ausgeht. Das Worauf des Antwortens differiert von jeglichem Was und Wozu […].“ (Ebd.)
Dazu lassen sich eine Vielzahl von leiblichen Antwortmöglichkeiten finden, die auf jeweils unterschiedliche Weise verschiedene Möglichkeiten des Ausdrucks miteinander verbinden (vgl. ebd. 487 ff.). Die verschiedenen Formen des Antwortens – ob sprachlich, leiblich oder in weiteren Registern formuliert –, die diesen Möglichkeiten eignen, bringen ihrerseits verschiedene Verweisungszusammenhänge zum Vorschein. Erfahrung mit Anderen zeigt sich demzufolge je nach Antwortform unterschiedlich und kommt zu unterschiedlichen Ergebnissen der Interpretation von Wirklichkeit. Mehr noch: Werden unterschiedliche Möglichkeiten zugleich herangezogen, können Unterschiede zu Tage treten, die das Antworten verkomplizieren. So unterscheiden sich etwa gesprochene und Körpersprache mitunter dergestalt, dass die angesprochenen Anderen erhebliche Verständnisschwierigkeiten bekommen. Eine solche kommunikative Rätselhaftigkeit macht gerade die vielgestaltige Offenheit subjektiver Strukturen kenntlich. Denn es lassen sich auf denselben Appell mit unterschiedlichen leiblichen oder sprachlichen Möglichkeiten ganz verschiedene Antworten finden, so dass die jeweils gezeigte Identität der Antwortgebenden verschwimmen kann. Nicht nur der Umgang von Menschen mit Anderen und Anderem ist von der Struktur der Responsivität geprägt, sondern auch das Ich wird unter dieser Hinsicht in die Wechselspiele von Appell und Response verwickelt. Das Ich kann näherhin als zeitliche Struktur aufgefasst werden, in der ein Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb der raum-zeitlichen Ordnung seiner Lebenswelt sich zu den Dingen, Menschen und sich in Be-
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ziehung setzt. Eine solche vom Subjekt ausgehende Aufnahme der Beziehung zum Anderen verweist auf die Selbstsetzung dieses Subjekts (vgl. Merleau-Ponty 1966, 279). Dabei gilt natürlich unter dieser zeitlichen und auf das Selbstverhältnis des Ich abzielenden Hinsicht, dass ein solches Ich sich nie völlig erfassen und demzufolge ebenso wenig gänzlich setzen kann: „Wohl sind dank der Zeit vergangene Erfahrungen in die nachkommenden eingefügt und übernommen, nirgends und nie aber ist das Ich im absoluten Besitz des Ich, da die Höhlung der Zukunft sich stets aufs neue mit neuer Gegenwart ausfüllt.“ (Ebd. 281)
Deswegen ereignet sich diese Setzung eines Ich in seiner Selbstbeziehung als Antwort auf den Anruf eigener Erfahrungen und dessen, was es vorfindet. Ich erlebe mich in bestimmten Bezügen und werde mir aufgrund von Störungen, Unbekanntem oder auch unerwartet Erfreulichem fraglich. Die Antwort auf diese Frage nach mir selbst zielt dann auf „mein Ich“ in der gegebenen Fraglichkeit – gerade als in einer konkreten Situation verursachte und formulierte Nachfrage nach dem eigenen Ich. Dies jedoch zeigt, dass bei jeder Empfindung ein anderes Ich gegeben sein kann, das sich an die Welt wendet: „Ich erfahre die Empfindung als Modalität einer allgemeinen Existenz, die je schon einer physischen Welt sich ausgeliefert hat, die mich durchdringt, ohne daß ich ihr Urheber wäre.“ (Ebd. 254)
Das sich solcherart responsiv erfahrende Ich ist nicht mehr Funktionszentrale der Weltbemächtigung kraft eigener Vernunft, auch nicht mehr nach außen abgeschlossener Reflexionszirkel. Vielmehr steht es in einer wechselvollen Beziehung mit den erscheinenden Dingen und Menschen, die ihre Aufforderung an es richten. Auf diese Weise wird kenntlich, dass „das Ich in Form eines ‚Adressendativs‘ […] auftritt, bevor es als das ‚Ich‘ der Zuwendung in den Nominativ übergeht.“ (Waldenfels 2000, 318; verweist auf K. Bühler) Das Ich wird zunächst dadurch sichtbar, wie es sich zu einem bestimmten Umgang auffordern lässt und in Bezügen zu sich und dem Anderen steht (vgl. Burchardt 2006, 364). Daher ist das responsiv verstandene Ich in erster Linie in seiner ursprünglich antwortenden Dynamik zu sehen
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und erst nachträglich als vernünftig aufzufassende Wahrnehmung. Wenn etwa in der Phänomenologie darauf verwiesen wird, dass das Ich eine ‚synthetische Einheit von Dispositionen, Handlungen, Qualitäten‘ sei (vgl. Gurwitsch 1966, 298), so ist dieser Auffassung insoweit zuzustimmen, als sowohl eher aktive (Handlungen) wie auch eher passive (Dispositionen, Qualitäten) Aspekte des Ich angesprochen werden. Doch ist darauf zu achten, dass nunmehr beide in derselben Intensität und in ihren Wechselbezügen zur Sprache kommen – ein Aspekt, dem aufgrund moderner Subjektivitäts-Konzepte nicht immer im angemessenen Umfang Rechnung getragen wurde. Aufgrund der Bezüge von Appell und Antwort entsteht ein Spielraum der Antwortmöglichkeiten im Selbstwahrnehmen wie Weltgestalten der Menschen. Daraus wiederum ergibt sich ein verzögertes Verhalten zu sich und zur Zeit: „Am Ende ist der Selbstbezug in der Verzögerung immer ein Bezug auf sich als einen Vergangenen, der gegenwärtig ist.“ (Dörpinghaus 2005, 570) Diese gegenwärtige Vergangenheit im Selbstverhältnis ist gerade nicht das, was sich jeweils aktuell einstellt. Vielmehr hat sie als nicht mehr verfügbare in ihrem zeitlichen Entzug Bedeutung und wird als Hinweis auf die generelle Negativität des hier zu entfaltenden Bildungsbegriffs noch ihre Auswirkungen haben (vgl. 4.2 dieser Schrift). Doch gilt über den zeitlichen Rückbezug hinaus: Nicht allein zeitliche, sondern auch die Vernunft betreffende Verschiebungen werden unter dem Blickwinkel des Antwortgeschehens erkennbar. Denn aufgrund einer Wahrnehmung, die in leiblich-situativer Verfasstheit jeweils Teilmomente der Anderen erfasst und von eben diesen Teilmomenten der fremden Erscheinung ‚angesprochen‘ worden ist, entsteht auch ein eigenes Verstehen dessen, was sich in dieser Form zeigt. „Der Andere existiert niemals nach Art der Objekte in frontaler Gegenüberstellung zu mir, sondern impliziert in jedem Fall eine gewisse Richtung und einen Bezug zu mir. Er ist das alter ego, eine Art Spiegelung für mich.“ (Merleau-Ponty 1994, 55)
Da eben weder zeitlich (Verzögerung) noch räumlich (Lateralität) ein umfassendes und transparentes Erkennen möglich ist, entsteht eine Aussageform des verdeckten und undurchschaubaren Seins mit Bezugnahme auf diejenige, die sich jeweils nur teilweise zeigt, einen Bezug zu mir mindestens ermöglicht und sich zugleich verbergend entzieht.
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Das bereits angedeutete Abschreiten von Grenzen, die der Vernunft gegebenen sind, wird auch im Bezug zu den Dingen möglich. Denn wenn die menschliche Vernunft wegen ihres perspektivischen Zugangs zu ihnen nur Teilaspekte der Dinge erkennen und verstehen kann, bleibt sie eingebunden in den Dingbezug. Sie kann sich nämlich nicht mehr mit dem Anspruch auf umfassende Sichtweise über die Dinge erheben und vermag sich so bestenfalls an die Schwelle der Phänomenalität (vgl. Böhmer/Hilt 2008) heranzutasten. Was sich zeigt, entzieht sich dem Totalzugriff menschlichen Verstehens. Dass es sich hierbei nicht allein um ein erkenntnistheoretisches Problem handelt, liegt auf der Hand. Denn das perspektivische Erkennen hat seine Begrenzung nicht allein in der epistemologisch kritisierbaren Beschränktheit menschlichen Verstehens, sondern fußt auf dem besonderen Verhältnis von Dingen und Menschen. Dieses Verhältnis aber ist nicht allein als Kritik menschlicher Erkenntnismöglichkeiten aufzufassen, sondern in einer Form des Seinsdenkens. Was ist, spricht die Menschen an und bietet ihnen nur Teilausschnitte seines Erscheinens. Seiendes wie Sein lassen sich somit immer nur als Erscheinende – oder aber als deren Entzug – sehen. Dass auch Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis aufgeworfen werden, ist offenkundig, macht aber gleichwohl noch nicht die gesamte Problemweite der diskutierten Frage nach Subjektivität und Bildung aus, die vielmehr durch die Fragen nach dem Erscheinenden, dem Erscheinen sowie dem Entzug näher zu beschreiben ist. Das damit zusammenhängende Problem von Sein, Erscheinen und Erkennen wird noch eigens Thema werden (vgl. 3.3 dieser Studie). Nochmals sei der Blick auf das Ich gelenkt. Eingebunden in das neuzeitliche Bestreben mathematisch formulierbarer Wissenschaftlichkeit wird der undurchsichtige Leib zum Stein des Anstoßes, da er als erlebter Leib nicht gänzlich in mathematischen Formeln abgebildet werden kann. Leiblichkeit lässt sich jedoch nicht schlicht in ein größeres Ganzes – die Natur – eingebettet denken; darauf weist Gamm kritisch hin, wenn er solche Auffassungen kritisiert: „Die Endlichkeit des Menschen wird [darin; Anm. A.B.] als Teilsein einer naturalen Größe gedacht. Sie erlaubt es nicht, die schlechte Unendlichkeit der Natur, das heißt ihren relativen Unfreiheitszusammenhang, auf ein Allgemeines hin zu transzendieren, welches in intersubjektiven Anerkennungsprozessen erst geschaffen/erhandelt werden muss.“ (Gamm 2004, 21)
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Deshalb kann der Begriff des Menschseins nicht aufgelöst werden in eine alles umfassende Eingebundenheit in die Natur, noch kann der Mensch total getrennt vom ihn Umgebenden verstanden werden. Hier kommt Merleau-Pontys Konzept der Überkreuzung (Chiasma) als weitere Alternative in den Blick, um den Bezug von leiblichem Mensch und den Leib beeinflussender Umwelt zu denken. Das Ich wird jedoch im Zuge moderner Entwürfe dieses Ich zunächst von seinen Leibvollzügen logisch abgetrennt, um es im neuzeitlichen Verständnis durchschaubar zu machen. Dies geschieht z.B. durch die Abtrennung des lebensweltlichen von wissenschaftlichem Wissen oder auch durch die schrittweise Durchleuchtung des menschlichen Körpers. Was vom Ich bleibt, ist nunmehr ein zwischenmenschliches Gebilde als Spiegelung der anderen. Die Spiegelmetapher deutet ein Nach-außen-gerichtet-Sein des Menschen in der Moderne an. Dies besagt zum einen, dass er aufgrund der Bedeutungssteigerung des Wissens seinen Bezug zum Erlebten verliert, zum anderen wird eine solche Enteignung nur möglich aufgrund des nach außen gerichteten menschlichen Handelns in der Lebenswelt. Die skizzierte ‚Auslagerung‘ des Ich zeichnet dessen doppeldeutige Situation nach: das Nach-außen-gerichtet-Sein des Menschen lässt sich als anthropologische Struktur ebenso wie als Gefahr individueller und sozialer Entfremdung lesen. Zugespitzt können die bisherigen Überlegungen so zusammengefasst werden: ‚Homo hominem speculum – Der Mensch ist dem Menschen ein Spiegel‘ (mit Merleau-Ponty 2003, 287). Denn mit Blick auf das Spiegelbild des Menschen, seine dabei erfahrenen Empfindungen und deren Bedeutung für das Verhältnis zu den Anderen formulierte Merleau-Ponty: „Das Phantom des Spiegels zieht meinen Leib (chair) nach außen, und gleichzeitig kann das ganze Unsichtbare meines Körpers (corps) die anderen Körper (corps), die ich sehe, besetzen. Von nun an kann mein Leib Teilstücke von anderen aufweisen, wie meine Substanz in sie eingeht, der Mensch ist für den Menschen ein Spiegel.“ (Ebd.)
Diese Überlegung macht deutlich, dass auch vor aller vernunftgegründeten Auseinandersetzung von Individuen ebenso wie vor aller Untersuchung eines als bloßes Objekt verstandenen Ich die Bezugnahme der Menschen untereinander erfolgt. Appell und Antwort wirken als Wechselspiel, das sich
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auch durch die Leibwahrnehmung ergibt. Diese Auffassung unterscheidet sich von derjenigen eines allein auf sich gestellten Ich, einem Verständnis, das bereist Husserl als „solipsistische[s] Subjekt“ (Husserl 1952, 165) kritisierte. Denn ein solches, bloß auf sich selbst gegründetes Ich müsste sich als Aktzentrum gegen alle Zwischenmenschlichkeit stellen und könnte doch seine Eigenständigkeit nicht überzeugend begründen: „Wenn man sagt, daß das Ego ‚vor‘ den Anderen allein ist, so situiert man es bereits im Hinblick auf das Phantom eines Anderen, so stellt man zumindest eine Umwelt vor, in der auch Andere sein könnten. Die wahrhafte und transzendentale Einsamkeit ist das nicht: […] Die besagte solipsistische ‚Schicht‘ oder ‚Sphäre‘ ist ohne Ego und ohne Ipse. Die Einsamkeit, aus der wir zum intersubjektiven Leben emportauchen, ist nicht diejenige der Monade. Es ist nur der Nebel eines anonymen Lebens, der uns vom Sein trennt, und die Schranke zwischen uns und den Anderen ist nicht greifbar.“ (Merleau-Ponty 2003, 264)
Anstelle einer Abgrenzung, die jeweils nur gegen ein anderes aufzurichten wäre, greift Merleau-Ponty über diese logische Abhängigkeit eines Einzelnen von den Anderen hinaus. Darum kann er die vernünftig nicht auflösbare Einsamkeit des Ich, dem man eben doch noch eine Tendenz der Vergemeinschaftung nachweisen kann, umgehen. Soll jedoch der oder die Einzelne nicht bloß als Objekt gegen Andere abgegrenzt werden, bleibt nur noch die Möglichkeit, eine Sphäre ohne jegliche Andere zu denken – eben jenen Bereich, in dem keine erkennbaren Vereinzelungen möglich sind. In der vorliegenden Schrift allerdings kann mit Hilfe des bislang zurückgelegten subjekttheoretischen Weges anstelle der solipsistischen Vereinsamung des Ich die responsive Bezugnahme auf den Anderen thematisiert werden: „Wenn ich ‚ausgehend‘ vom Eigenleib den Leib und die Existenz des Anderen verstehen kann, wenn die Kompräsenz meines ‚Bewußtseins‘ und meines ‚Leibes‘ sich in der Kompräsenz des Anderen und meiner selbst fortsetzt, so deshalb, weil das ‚Ich kann‘ und ‚Der Andere existiert‘ immer schon zur selben Welt gehören, weil der Eigenleib die Vorahnung des Anderen, die Einfühlung das Echo meiner Inkarnation ist […].“ (Merleau-Ponty 2003, 266)
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Dieser Widerhall des Anderen in mir vor dem Hintergrund der „selben Welt“ bezeugt die zwischenmenschliche Gemeinsamkeit, die gerade für die einzelnen wichtige Möglichkeiten zur sozialen Beziehung bietet. Lernen, besonders mit dezidiert sozialer Perspektive, bedarf daher nicht unbedingt der sprachlich-vernunftbezogenen Argumentation, um zu Einsichten und Verhaltensänderungen zu führen. Vielmehr kann mindestens genauso auf die „Einfühlung“ (Empathie) der Beteiligten verwiesen werden. Soziales Lernen kann von hierher erste Strukturen seiner eigenen Prozesse ableiten, die sich durch die Aspekte von Appell, Antwort, situative oder auch dauerhafte Umformung der Haltungs- und Wissensbestände von Lernenden sowie eine neuerliche Verschränkung mit der Umwelt beschreiben lassen. Denn aus der Umwelt ergehen Appelle an die Lernenden, denen diese sich antwortend zuwenden und somit eine Gestaltung eröffnen, die der konkreten Herausforderung möglichst angemessen erscheint. Deren Konkretisierungen können durchaus unterschiedlich sein – je nach Antwortenden und deren Möglichkeiten des Antwortens. Deswegen ergeben sich situationsbezogene oder auch darüber hinausreichende Umgestaltungen des Denkens, Wollens oder Könnens auf Seiten der Lernenden. Und mit diesen veränderten Möglichkeiten verschränken sich die Einzelnen wiederum mit ihrer Umwelt, geben weitere Antworten auf neue Appelle innerhalb ihrer Welt und bringen so die Bildungserfolge ihrer Lernprozesse zum Ausdruck.
2.2.5 Existenz im Verschwinden Des Weiteren ergibt sich im diskutierten Zusammenhang einer selbstkritischen Moderne und ihres Subjektbegriffs, dass ein Ich als „Unterschied der Masken“ (Foucault 1981, 190) denkbar wird. Damit wird eine Struktur angesprochen, die sich gerade nicht auf exakt ein einziges Antlitz in seiner „Authentizität“ festschreiben lässt, sondern in den soeben dargestellten Spielräumen des Antwortens jeweils neue Möglichkeiten zum Ausdruck bringt, sich selbst in der Antwort darzustellen und die Verschränkung mit der Welt mitzugestalten. Nicht ein bestimmtes Bild des Menschen („Maske“), sondern gerade dessen Bandbreite möglicher Formen und letztlich die Leere der Identität ist der Ertrag des Nachdenkens über die Menschen innerhalb der kritischen Moderne. „[…] das Ego ist nicht auf Anschauung zurückführbar“ (Richir 1994, 81). Diese Auflösung des mit sich identischen
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Ich wird angetrieben „vom Verschwinden des Subjekts (das heißt seiner neuen Existenzweise, die im Verschwinden besteht)“ (Blanchot 1987, 28). Eine solche „Existenzweise […] im Verschwinden“ ist angesichts ihrer Verortung in unterschiedlichen Gefügen von Anruf und Antwort nicht allein dadurch zu erkennen, womit sie auf welche Weise handelt und sich eine „Identität“ erarbeitet, sondern ist gerade als sich entziehende und nicht dauerhaft fassbare in die sozialen wie die Ding-Bezüge eingewoben. Mit dieser „Transformation des Subjekts“ (Waldenfels 1987a, 550) ergibt sich, dass eine Ambiguität das Subjekt in Aufruhr versetzt, die durch die Antwortbezüge nicht schlicht aufgeklärt werden kann. Nicht ein Innen, Außen oder Zentrum, sondern die vorübergehenden und brüchigen Beziehungen mit den Anderen machen diese spezielle Formation aus. Es entsteht eine Struktur, die als unterworfene Subjektivität nicht einfachhin verschwimmt, sondern ihre (leiblichen, sozialen, epistemischen o.a.) Grenzen im Wechselspiel mit dem Anderen zieht und nicht selten einfach vorfindet. Unter dieser Hinsicht lässt sich Anderes nicht schlicht externalisieren, so als gelte: „Das Fremde, das sind die Anderen.“ Denn das Fremde wird angesichts der Vieldeutigkeit und offenen Struktur des Subjekts auch in ihm selbst sichtbar, z.B. als die verdrängten Anteile der Identität oder auch die nicht-vernünftigen Reflexe des Leibes, die vom Ich als unpassend oder überraschend erlebt werden. Anderes lässt sich im hier entwickelten subjekttheoretischen Zugang jedoch auch nicht allein internalisieren, etwa nach der Maxime: „Das Ich, das sind die Anderen.“ Das Ich ist deshalb auch nicht allein Summe sozialer Impulse der Anderen, so dass das Ich bloß Ergebnis eines Sozialisationsprozesses wäre. Denn auch auf diese Weise wäre eine Bestimmtheit für die Entstehung des Ich gültig, die im Rahmen der im vorgelegten Gedankengang zitierten AutorInnen als nicht mehr überzeugend erscheint. Infolgedessen kommt eine Struktur von Subjektivität in den Blick, die gerade durch den Begriff der Dezentrierung angemessen beschrieben werden kann. Im Unterschied zum Subjekt-Begriff der Moderne findet darin nachgerade kein Zentrum der Weltaneignung seine begriffliche Gestalt. Zudem ist die Subjektivität im Verständnis des responsiven Geschehens von Appell und Antwort ebenfalls keine, die in sich selbst ein Zentrum des Selbstverstehens ausmachen könnte. Hier zeigt sich eine „differentielle Struktur – als ‚Gleichzeitigkeit‘ von Vertrautheit und Entzogenheit“ (Ricken 2002, 341; verweist auf Gustafsson). Denn vertraut ist das aus Eigenem und Fremdem vermischte Ich mit
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sich, den Anderen und der Welt in der Weise, dass gewohnte Ansichten, Abläufe und Zusammenhänge bekannt scheinen. Zugleich aber sind alle diese Elemente einer Welt in ihrer Verfügbarkeit entzogen, da sie ihre Appelle auf unterschiedliche Weise formulieren können. Mehr noch: Auch das Ich bleibt sich in gewisser Weise entzogen, da es Fremdes in sich findet, das es verunsichert, und zugleich ist es ein auch nach außen Verlagertes, so dass es über keine verlässliche Anhaltspunkte einzig in sich selbst verfügen kann. Deutlich wird diese Ordnung der Differenz etwa in der Begegnung mit einer unbekannten Person. Wer ich ihr gegenüber bin, nicht nur wie sie mich sieht, sondern ebenso wie ich mich angesichts der Erfahrung eines Fremden sehe, greift auf Eigenes und Fremdes des Ich zugleich zurück. Denn vertraut sind mir meine Strategien der Kontaktaufnahme, meine bisherigen Erfahrungen mit Anderen u.ä.m. Doch ob es mir auch mit dieser Person auf eine vergleichbare Weise gelingt, in Kontakt zu kommen, ist meinem Zugriff ebenso entzogen wie das Bild, das die Person und auch ich von mir und meinen Interessen – und umgekehrt – haben. Dies alles ergibt sich erst im Verlauf des Kontaktes und ist somit ein Prozess des Entdeckens meiner selbst innerhalb des sozialen Prozesses von Vertrautem und Fremdem in mir und mir gegenüber. An der Stelle einer subjektiven Zentralinstanz, die den Weltbezug der Menschen letztlich aufheben würde, zeigen sich nunmehr Verflechtungen, Kreuzungen und Bruchkanten, welche die Antwortversuche der Menschen im Kontakt mit Anderen charakterisieren. Der Mensch wird nicht mehr neuzeitlich verstanden als zentriert in sich selbst und ausgestattet mit einem inneren Kern, der in Evidenz aufzufinden sowie klar und bestimmt zu durchschauen wäre. Die in einer solchen Subjekttheorie konstruierte Auffassung eines denkenden Dinges, die res cogitans des Descartes, bewirkte den Verlust von Welt und meinte, nur noch eine welt- und beziehungslose Subjektivität zu finden. Der sich dezentriert, ohne Zentralinstanz ausgestattet interpretierende Mensch hingegen vermag nicht mehr, den ‚Kern seiner Identität‘ auszumachen oder gar zu umfassen. Die Botschaft von der Selbstbemächtigung, welche die Kontrollhoheit in sich selbst garantieren könne, wird stattdessen durch die Appelle aus der Lebenswelt wie sich selbst bestritten. Dem Blick der Menschen auf sich selbst bietet sich eine Mischung aus Vertrautheit und zugleich auch Undurchschaubarkeit des eigenen Daseins. Eine solche Dezentrierung der Subjektivität vermag jedoch weder sich noch die Anderen dauerhaft unter die identifizierende Kontrolle
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zu bringen. „Identität ist kein apriorischer Zustand, sondern das prekäre Produkt eines Differenzierungsprozesses“ (Lippitz 1993, 22; vgl. Ricken 2002). Sich dies eingestehen zu müssen, ist wohl der Preis, den die Menschen für ihren Ausgang aus der modern verschuldeten Weltlosigkeit zu entrichten haben. Solcherart zum Austausch mit den auf die Welt bezogenen Menschen ebenso wie den Dingen zurückgekehrt, erfahren sich die Individuen dann auch in der „Vor-habe [pre-possession] einer Totalität, die da ist, noch bevor man weiß, wie und warum, deren Verwirklichungen nie so sind, wie wir sie uns vorgestellt hatten, die aber eine heimliche Erwartung in uns erfüllt, da wir unermüdlich an sie glauben.“ (Merleau-Ponty 1986, 65)
Nicht mehr allein über bewusstes Zur-Kenntnis-Nehmen des Umgebenden oder durch Reflexion auf sich und das eigene Reflexionsvermögen finden sich verlässliche Anknüpfungspunkte an die ‚äußere Wirklichkeit‘. Eine Totalität – die Welt – umfasst die Menschen offensichtlich bereits vor allem vernunftgemäßen Zugriff auf sie und sich. Infolgedessen erfahren sich Menschen als dezentriert in den Austausch mit Anderem eingebundene. Dabei sind sie gerade außerhalb einer Personenmitte in besonders intensiver Weise in Kontakt. Dementsprechend lassen sich Eigenes und Fremdes nicht mehr präzis voneinander abheben: „Der Andere wohnt in meinem eigenen Haus, in meiner eigenen Stadt als Eindringling, der im Inneren von außen kommt, so daß jede Abwehr des Fremden eine Abwehr des Eigenen einschließt.“ (Waldenfels 1994, 423)
Bringt man zudem noch in Stellung, dass ein Innen und ein Außen bereits durch die Auffassung der Responsivität fraglich wurden, so wird deutlich, dass der Andere vom Eigenen her kommt. Denn das Eigene lässt sich nicht mehr allein in den bergenden Innenraum der Subjektivität einschließen, sondern steht im Austausch mit dem Fremden. Dieses Eigene aber wird dem Kontakt ausgesetzt und im Zuge dessen verändert – dem ändernden Anderen angenähert. Ein solches nach außen gerichtetes Menschsein kann im Anschluss an seine erlebte Ausgesetztheit versuchen, durch Nachdenken und Rekonstruk-
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tion das vernünftig zu verstehen, was ihm zuvor widerfahren ist. Nachträglich zum gelebten Umgang mit den Dingen wird der Mensch dann wieder zum Subjekt als reflexiv erfassende Gebärde seines Lebens in der Welt, die das Objekt vor sich bringt. Auf diese Weise wird eine Subjekt-ObjektBeziehung plausibel begründbar – aber eben nicht mehr als Ausgangssituation eines subjektiven Aktzentrums, das von der Welt entfremdet ist. Vielmehr wird die Beziehung von Subjekt und Objekt als reflektierende Leistung des vernunftbegabten Menschen sichtbar, der im Anschluss an erlebte Widerfahrnisse in der Welt durch Denken das auseinanderbringt, was zunächst verflochten erfahren wurde: Eigenes und Fremdes. Gerade die Psychoanalyse hat gezeigt, wie in einer solchen, hier antwortend verflochtenen Subjektivität das Unbewusste seine besondere Rolle spielt als „nicht-anerkanntes, unformuliertes Wissen, das wir nicht ertragen wollen. […] Forscht man in dieser Richtung weiter, so wird man eine Kennzeichnung für jenes Bewußtsein finden, das seine Gegenstände nur streift, ihnen in dem Augenblick, wo es sie setzt, ausweicht, so wie ein Blinder auf Hindernisse eher reagiert als daß er sie erkennt; ein Bewußtsein, das von seinen Gegenständen kein Wissen besitzt, das sie ignoriert, insofern es sie versteht, sie versteht, insofern es sie ignoriert, und das unseren ausdrücklichen Handlungen und unseren Erkenntnissen zum Grunde liegt.“ (Merleau-Ponty 2003, 79)
Diejenigen Bestände, die dem Bewusstsein nicht unmittelbar verfügbar sind, zeugen von einer Negativität des Wissens, das doch nicht einfach als „Nicht-Wissen“ (ebd.) zu bezeichnen ist. Die Negativität des nicht mehr bewussten Zugriffs auf das Erleben schließt nämlich gerade nicht aus, dass andere Formen des Wissens im Sinne eines „Bezugnehmens auf …“ möglich sind. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Hinweis Lacans darauf, dass das „Unbewußte [als] der Diskurs des Andern“ (Lacan 1980, 137) zu sehen sei. Er schließt an, indem er die Rolle des Analytikers angesichts der Übertragung erläutert: „Dieser Diskurs des Andern aber, den es zu realisieren gilt, der Diskurs des Unbewußten, ist nicht jenseits des Abschließens, er ist draußen.“ Der Analytiker hat nach der Auffassung Lacans die Aufgabe, das Abschließen der Persönlichkeit, die Schließung von Subjektivität, aufzuheben, indem er als derjenige „draußen“ dem Diskurs des
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Unbewussten, der vom „subjektiven Drinnen“ ausgeschlossen wurde, eine Gestalt anbietet und eine Stimme verleiht. Gerade das, was die Subjektivität kennzeichnet, ohne von ihr beherrscht zu werden, liegt nicht in einem abschließbaren Innenraum. Das Unbewusste zeugt durch seine Wirksamkeit in der Übertragung vom „Außer-sich-sein und Sich-empfangen“ (Patoþka) des psychoanalytisch ‚aufgeklärten’ Subjekts und seiner unterschiedlichen ‚Diskurse’. Gerade dieses Unbewusste prägt einen ganz eigenen Diskurs mit einer sehr speziellen Sprache – der Sprache der Negation und des Entzugs. Versprecher, die sich als nicht beherrschbar erweisen, oder auch Themenfelder, die sich scheinbar nicht in klare Worte fassen lassen und als Verwirrung stiftende allererst sichtbar werden, zeugen von solchen Sprachbarrieren. Unter dieser Hinsicht wird ein Begriff des Subjekts, seines Wissens und seiner Wege im Bildungsgeschehen denkbar, der gerade als nichtzentrierter und negativer die Erkenntnisse anderer Diskurse in den bildungstheoretischen aufnimmt. Dadurch wird ein Ausweg aus der zentralisierenden Verengung von Bildungskonzepten möglich, die im Zuge einer Bildungstheorie der Aufklärung formuliert wurden. Dass Reflexionen auf die Negativität des Bildungsbegriffs bereits verschiedentlich angegangen wurden (vgl. etwa Benner 2003a und 2005; Koch 2005; Ricken 1999 und 2005), erleichtert es, sie im Sinne einer subjekttheoretischen Kritik weiter zu führen (vgl. insbesondere 3.3.6 dieser Schrift). Zum Ende des Nachdenkens über die responsive Subjektivität ergibt sich eine Struktur, die nicht mehr an das bewusste Ich allein gebunden ist. Als non-egologische, d.h. nicht allein an die Vorstellung von einem Ich gebundene, verweist sie u.a. auf die Sozialisation, die eine bewusste Selbstgestaltung durch soziale Einflüsse auf den Habitus unterläuft (Bourdieu; vgl. weiterführend 2.3.4 dieser Untersuchung). Sie verweist außerdem auf Unbewusstes im Werdegang der Menschen, das seine ganz eigene Sprache spricht (Lacan). Die non-egologische Struktur der Subjektivität zeigt weiter Naturales, dem sich keine Reflexion entziehen kann, sofern sie mit der leiblichen Verfassung der Denkenden Ernst macht (Merleau-Ponty). Sodann sind Menschen und Dinge in ein gemeinsames Netzwerk der Lebenswelt eingebunden, das ein Antwortgeschehen bezüglich der Appelle aus der Lebenswelt einsichtig werden lässt (Waldenfels). Schließlich verweisen nonegologische Aspekte auf die Gefüge der Macht als gesellschaftlich etablierte (Foucault). Unter diesen Perspektiven ist das dezentrierte Subjekt hinein-
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genommen in non-egologische Verbindungen mit dem Anderen, die ihrerseits das Subjekt der Moderne als zentriertes Zentrum in Frage stellen.
2.3 ANALYTISCHE P ERSPEKTIVEN : D IE AUFLÖSUNG DER S UBJEKTIVITÄT IN EINER SELBSTKRITISCHEN M ODERNE Nach diesem Durchgang der entsprechenden Argumentationen kann auch dieser Teil der vorliegenden Schrift zusammenfassend eingeschätzt werden. Die Frage nach der Subjektivität in einigen philosophischen Ansätzen des 20. Jahrhunderts hat aus unterschiedlichen Blickwinkeln erkennbar werden lassen, dass die Vernunft nicht das zentrale Kriterium für ein selbstkritisches Bildungsverständnis der Moderne liefern kann. Hatten bereits Rousseau eine Normierung der Individuen durch seine Naturmetapher angezielt, Herder den Menschen auf einen unabschließbaren Weg der „Bildebewegung“ gesandt, Schiller das menschliche Selbstverständnis trotz aller ästhetischer Spielräume auf die Zielvorgabe einer, wenn auch spannungsgeladenen, Identität eingestellt und Humboldt zumindest der Welt eine gewisse Bedeutung, wenn auch nicht Eigenständigkeit für den Bildungsprozess als Selbstdisziplinierung zugestanden, so wird diese moderne Bildungskonzeption mitsamt ihren unterschiedlichsten Spielarten im 20. Jahrhundert unter subjekttheoretischer Hinsicht mehr als fraglich. Dies gilt umso mehr angesichts des Phänomens, dass solche auf die Vernunft zentrierte Selbstdeutung durch eine Biomacht unterlaufen wird. Ihre Ansatzpunkte werden als die ‚Dressur des Körpers durch die Disziplinarmacht’ sowie die ‚regulierende Kontrolle einer Bio-Politik der Bevölkerung’ beschrieben (vgl. Foucault 2003, 134 f.). Ziel dieses Zugriffes ist das „Funktionieren der Norm“ (ebd. 139). Deutlich wird für die Frage nach der Subjektivität angesichts von Bildung: Rationale Selbstdeutung und normalisierende Strategien gehen eine Allianz ein, die sich als durchaus problematisch für einen Bildungsbegriff erweisen kann, der nach der Eindeutigkeit von Bildung des Individuums fragt. Dies gilt umso mehr, als gemeinhin mit Begriffen wie Emanzipation und Mündigkeit Kategorien angesprochen werden, die unter der Vorgabe der Normalisierung dazu beitragen, dass ein der Moderne verpflichteter pädagogischer Diskurs durch die ge-
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sellschaftliche Realität ins Abseits gespielt wird, noch bevor überhaupt Vor- und Nachteile der Debatte um den Bildungsbegriff zur Sprache kommen können. Denn vor dem Hintergrund von ökonomisierter Verwertbarkeit des Humankapitals als zentraler gesellschaftlicher Bedeutungsgröße (vgl. auch Gamm 1994, 90) wirken die gelegentlich mit Emphase vorgetragenen Optionen für Mündigkeit und Emanzipation rasch als bloße „Pathosformeln“ (Rieger-Ladich 2002), deren rhetorischer Gehalt kaum zu politischer Wirklichkeit wird. Im Anschluss an diese Einschätzung werden die folgenden Überlegungen bei der modernen Selbstdeutung der Menschen mittels Vernunft einsetzen, um von dort her eine alternative Perspektive zu den aktuellen humankapitalen Diskursformationen aufzeigen zu können. Unter bildungstheoretischer Hinsicht sollen nun einige Aspekte dessen formuliert werden, was sich im Vorhergehenden gezeigt oder zumindest angedeutet hat. Die Darstellung dieser Phänomene und Subversionen erfolgt freilich, ohne den anschließenden Analysen und sich daraus ergebenden Anschlüssen vorgreifen zu wollen. Vielmehr soll in kritischer Absetzung von klassischen Bildungsauffassungen (vgl. 1.1 und 1.2 dieser Studie) nunmehr eine erste Zwischensumme gezogen werden, welche die Kritikpunkte am klassischen deutschen Bildungsverständnis in weiterführende Fragen an dieses Konzept umformuliert.
2.3.1 Bildung des Ich So ist zunächst festzuhalten, dass mit der Dynamik des Spiegelstadiums eine vereinheitlichende Entfremdung von Leiberfahrungen der einzelnen zur Sprache kommt, die nach Lacan erst wieder durch therapeutische Aufklärungsprozesse zurück gewonnen werden können. Der Psychoanalytiker deutet dies mit dem identifizierenden Hinweis auf das „du bist es’“ (Lacan 1991, 70) an, in dem nach seiner Auffassung therapeutische Prozesse ihr Ziel finden sollen. Dass sich jemand so als identifiziert erfährt, verhilft ihm nach Einschätzung Lacans dazu, die biografischen Einschlüsse in sich und die sozial festgeschriebenen Verständnisformen seiner selbst zu überwinden. Im Zusammenhang mit den hier angestellten Überlegungen zur Struktur des Subjekts kann deutlich werden, inwieweit Selbstverstehen vom Fremdverstehen abhängt: Irritiert durch die Verzerrungen der gespiegelten frühkindlichen Selbstwahrnehmung bedarf es gerade der Anderen, um zu
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einem realistischeren Selbstbild zu gelangen – einem Selbstbild, das wirklichkeitsnaher ist als das mit den Projektionen des eigenen Begehrens angefüllte Spiegelbild des entfremdeten Ich (vgl. Borch-Jacobsen 1999, insbes. 109 f.). Dabei wird über die auch andernorts formulierte Auffassung, „am Anderen zu sich selbst kommen“ (Buber) zu können, ein weiterer Aspekt herausgearbeitet. Lacan macht deutlich, dass der „Ausgang des Menschen aus der [mittels gespiegelter Verzerrungen hervorgerufenen; Anm. A.B.] selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) gerade nicht durch bloße Reflexion des vernünftigen Subjektes geschehen kann. Vielmehr wird es erst mithilfe therapeutischer Eingriffe möglich, sich befremdlicher Projektionen des eigenen Werdegangs bewusst zu werden und sich von den biografischen Zwängen befreien zu lassen. Eine auf Vernunft gegründete Subjektivität rührt also dort an ihre Grenzen, wo sie sich als karnierte (d.h. fleischliche) Vernunft erfährt und auf die Erhellung der eigenen Situation durch fremde Hinweise angewiesen ist. Wer „Ich“ bin, kann ich mir an den entscheidenden Stellen meiner Biografie nicht zureichend reflexiv erschließen und selbst sagen. Ich muss es mir sagen lassen, um darauf antwortend erst zu meiner eigenen Fassung des gemeinsam mit dem Fremden gebildeten „Ich bin“ zu finden. Diese Perspektive wird ebenso deutlich in Lacans Ausführungen zum Begehren. Der Mangel als ständige Ordnung des Selbsterlebens verweist die Menschen fortdauernd auf das Andere ihrer selbst. Nur dort nämlich scheint der Mangel gestillt werden und das Begehren zur Ruhe kommen zu können. Ein Schein, der freilich in jedem Moment der augenblickhaften Erfüllung bereits wieder verfliegt und durch neuerliches Begehren in seiner Entwicklung wiederum aufgegriffen und fortgeführt wird. Damit wird die menschliche Selbstdeutung stets in Unruhe gehalten, immer wieder wird das Selbstbild entworfen als eines der Vorläufigkeit – „wenn ich dies erreicht habe, dann endlich habe ich genügend, um davon leben zu können“. Es wird i.a. übersehen, dass diese Zielerreichung zwar notwendig, aber nicht zureichend ist, um zu einer derartigen Erfüllung und Vereinheitlichung des Selbst zu finden. Der Mensch als Selbst bleibt fortwährend auf dem Weg zur Erfüllung seines Begehrens; momentane Befriedigungen jedoch stellen jeweils nur ein Zwischenstadium dar. Der begehrende Mensch ist stets ein Wandernder, ein homo viator, der sein Ziel nie dauerhaft zu erreichen vermag.
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Mehr noch: Wer fortgesetzt unterwegs ist, vermag das Erreichen seines Zieles nicht aus eigener Kraft zu erlangen. Die eingeschlagene Richtung gibt das Streben nach Einheit – mit sich, v.a. aber mit dem Begehrten – vor, diese Einheit aber wird vermeintlich nur durch das ‚Objekt der Begierde’ ermöglicht. Subjektivität als Identität ist den Begehrenden demzufolge einzig durch die begehrten Anderen und mit ihnen möglich. Die Einheit des Subjekts ist somit eine ‚von fremden Gnaden’. Noch vor aller rationalen Reflexion kommt am Phänomen des Begehrens in den Blick, dass der Mensch sich nicht als Individuum, als Unteilbares, verstehen kann. Denn er bleibt gebunden an das, was er begehrend vermisst. Deswegen ist er jeweils aufteilbar in dasjenige Moment, in dem sich Begehren regt, und jenes, auf das sich das Begehren richtet. Der begehrende Mensch ist ein „dividuum“ (Nietzsche), ein jeweils Teilbares, das sich aus Verschiedenem zusammenstückt. Dieses menschliche Stückwerk wird daher nur durch das Andere seiner selbst, es ist in einem gewissen Sinn sogar einzig als das Andere seiner selbst verwirklicht. Denn erst dort kann das Begehren für einen Augenblick Erfüllung finden. Der begehrende Mensch gelangt zur Bildung seiner selbst durch die Anderen und geradezu als Anderer. Wer ich bin, meine ich erst sagen zu können, wenn ich jenes Andere erreicht oder konsumiert habe, auf das sich mein Begehren richtet. Doch das Ich bleibt auch im Nachhinein verwiesen auf das jeweils Andere, das ihm die gegenwärtige Einheit erst verleiht – indem es als gegenwärtig Begehrtes dem Verfügen aktuell entzogen ist.
2.3.2 Menschliche Verflechtungen Der Verweis auf die Antwort-Strukturen, über die Menschen mit ihrer Umwelt in Austausch kommen, macht deutlich, dass Subjektivität nicht mehr als „Ursprung von Welt“ (nach Merleau-Ponty) verstanden werden kann. Ein weiteres Mal im Verlauf der Moderne wird der Mensch seines Thrones im Herrschaftsgebiet der Welt beraubt. Nach der astronomischen Dezentrierung (Nikolaus Kopernikus), der biologischen Nivellierung (Charles Darwin), der psychoanalytischen Subversivität (Sigmund Freud) und der kybernetischen Verrechnung unter die Kommunikations- und Steuerungssysteme (Norbert Wiener) büßt der Mensch nun auch seine transzen-
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dentalphilosophische Vormacht ein. Zwar sind weiterhin Denkmuster vorstellbar, die sich auf die Ermöglichung bedingter Erkenntnisse beziehen, doch müssen sie nunmehr in Bezug zu der Möglichkeit gesetzt werden, dass jedes transzendentalphilosophisch begründete Erkenntniszentrum durch die anrufende Geste des „Adressendativs“ (Waldenfels) aufgebrochen wird. Somit wird eine solche Seinslehre der Brüchigkeit und Negativität keineswegs zur Niederlage des aufgeklärten Denkens, sondern kann die besondere Bedeutung von Perspektivität, Situationsbezogenheit und Mehrdeutigkeit der menschlichen Verflechtungen innerhalb der Welt zur Sprache bringen. Das Subjekt als unterworfenes – oder besser: in die Netze der Lebenswelt eingewobenes – wird allerdings keineswegs zum Spielball der Beliebigkeit und Regellosigkeit. Vielmehr kann es sich dank dieser Sicht in seine Eingebundenheit bewusst werden, die stets Halt (Bindung) wie Unfreiheit (Gebundenheit) zugleich beschreibt. Die Struktur der Subjektivität lässt sich darlegen durch die Praktiken von Unterwerfung und Befreiung innerhalb einer umfassenderen Ordnung. Hier liegt es nahe, auf den Begriff des „sozialen Feldes“ (Bourdieu) zu verweisen, innerhalb dessen sich Subjektivität allererst ereignen kann. Die Feldstrukturen der Subjektivität machen deutlich, wie sich Menschen durch den Kontakt innerhalb von ordnenden Vorgaben der Gesellschaft selbst erfassen und sich gemäß ihren eigenen, im Austausch mit der Umwelt strukturierten Ordnungen, in den gegebenen Relationen (vgl. Bourdieu/ Wacquant 1996, 138) eine Gestalt geben. Auf diese Weise werden ideologiekritische Impulse möglich. Denn zum einen können die bislang gültigen Maßgaben eines Feldes durch Neulinge in Frage gestellt werden. Wer Ordnungen noch nicht hinreichend als maßgebende zu verstehen gelernt hat, wird häufiger Rückfragen – und damit einhergehend stets auch: Infragestellungen – artikulieren. Zum anderen können die Vorgaben unterschiedlicher sozialer Felder die subjektiven Antworten von den eventuell nicht mehr hinterfragten Gesetzmäßigkeiten entkoppeln, so dass bislang Selbstverständliches in anderen Feldern fraglich wird.
51 Welsch macht darauf aufmerksam, dass Kant als Restaurator einer anthropozentrischen Auffassung mittels Transzendentalphilosophie aufzufassen sei (vgl. Welsch 2012, 12 f.; verweist auf Russel).
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„In hochdifferenzierten Gesellschaften besteht der soziale Kosmos aus der Gesamtheit dieser relativ autonomen sozialen Mikrokosmen, dieser Räume der objektiven Relationen, dieser Orte einer jeweils spezifischen Logik und Notwendigkeit, die sich nicht auf die für andere Felder geltenden reduzieren lassen.“ (Ebd. 127)
Es wird offenkundig, dass ‚Logiken und Notwendigkeiten‘ außerhalb des gegebenen Feldes keineswegs ebenso sehr Gültigkeit beanspruchen können. Und: Auch die Verhältnisse von Feldern untereinander lassen sich aufgrund ihrer eigenlogischen Entwicklungen nicht überzeitlich, nicht „transhistorisch“ (ebd. 141) festschreiben. Akteure handeln daher im jeweiligen Feld auf eine spezifische Weise, die in anderen Feldern nicht im selben Maß verwirklicht werden kann. So lassen sich beispielsweise Rollenverwirrungen erkennen, wenn ein Lehrer zugleich als Trainer in einem Sportverein aktiv ist. Obwohl er beide Male Autorität und Herrschaftswissen verkörpert, besteht sowohl für ihn als auch für seine Schülerinnen bzw. Sportler die Aufgabe, verschiedene Verhaltensformen, Selbstverständlichkeiten und Logiken je nach Feld eigens zu verwirklichen. In beiden Feldern gelten nicht einfachhin dieselben Maßgaben; vielmehr müssen unterschiedliche in ebenso unterschiedlichen sozialen Interaktionsformen zum Ausdruck gebracht werden. Das Subjekt des Handelns wie des angemessenen Verhaltens muss nach Regeln erstellt werden, die sich von Feld zu Feld ändern. Je mehr ein Mensch unterschiedliche Felder aufsucht, desto höher wird die Herausforderung für ihn sein, die Feldangemessene Regelbefolgung – oder eben auch die absichtliche Brechung solcher geltenden Regeln – zu verwirklichen. Dies ergibt die besonderen Herausforderungen für eine Feldtheorie des Lernens und ihre Bezüge zu einer die Subjektivität in Frage stellenden Bildungstheorie. Vor diesem Hintergrund zeigen sich ferner neue Chancen für ein Menschenbild, das sich in der Moderne selbst überfordert hat: „Indem der ‚Tod des Menschen’ verkündigt wird, rückt vieles, was sich vorher unterschwellig bemerkbar machte, in ein grelles Licht. Der Mensch, der die alten natur- oder gottgegebenen Ordnungen in eigener Regie übernehmen wollte und als Statthalter einer universalen Vernunft fungierte, hat sich selbst hoffnungslos überfordert und überlebt.“ (Waldenfels 1987a, 549)
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Der Mensch kann in einer solcherart selbstkritisch gewordenen Moderne nicht mehr als „Statthalter einer universalen Vernunft“ fungieren, sondern bleibt angewiesen auf die Strukturen und Ordnungen, in denen er sich vorfindet, ohne ihnen jedoch gänzlich ausgeliefert zu sein. Anstelle der punktuellen Auffassung eines Aktzentrums lässt sich Subjektivität als Feld fassen, das ein System von Strukturen bildet (vgl. Waldenfels 1987a, 203; verweist auf Merleau-Ponty). Statt einer individuellen Ortsangabe des Ich innerhalb der Gefüge zwischen Menschen und Dingen („Ich bin hier.“) wird vielmehr der Blick gerichtet auf die vielgestaltigen und nicht immer durchsichtigen Bezüge mit dem Umgebenden. Aufgrund der Feldstruktur des eigenen Aufenthaltes jedoch ist die Beschreibung nur noch situationsbezogen mit relativ klaren Ortsangaben denkbar („Jetzt bin ich hier bei …“). Anstelle der Möglichkeit, sich aufgrund eigener Selbstbezüglichkeit zu definieren, erwächst an dieser Stelle die Möglichkeit, sich aufgrund der Bezüge zu einzelnen Elementen des Feldes zu umschreiben. Dies ist freilich eine Umschreibung, die sich binnen Kurzem überholt haben kann, da jede Änderung innerhalb des Feldes Auswirkungen auf das darin befindliche Subjekt hat. In Folge dessen wird ein Verständnis der Menschen möglich, das sehr viel wandelbarer als in modern-zentralisierten Bezügen erscheint. Gleichwohl sehen sich die Menschen auch fremden Ansprüchen sehr viel stärker ausgeliefert und erfahren sich höchstens noch in einzelnen Momenten als über die Sachlage Herrschende. Das Subjekt wird zweideutig, weil es weder nur herrschend noch einzig beherrscht in den Feldstrukturen erscheint. Vielmehr leistet es inmitten eines weiten Feldes möglicher Bezüge seinen eigenen, oftmals eher bescheidenen Anteil an der Gestaltung dieses Areals. Eine solche Komposition von „Mir und Welt“ lässt die menschliche Selbstdeutung nicht mehr zur Ruhe kommen. Im Unterschied zur Auffassung einer Subjekt-Objekt-Trennung wird jetzt deutlich, dass und inwieweit Menschen und Dinge ‚aus demselben Stoff’ sind. Gerade ihre leibliche Verfasstheit bringt die Menschen in Kontakt mit den Dingen der Welt und eröffnet die Zwischendimension, in welcher der Leib und die Dinge sich wechselseitig aufeinander beziehen: „Mein Leib als sichtbares Ding ist im großen Schauspiel mitenthalten. Aber mein sehender Leib unterhält diesen sichtbaren Leib und mit diesem alles Sichtbare. Es
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gibt ein wechselseitiges Eingelassensein und Verflochtensein des einen ins andere.“ (Merleau-Ponty 1986, 182)
Durch diesen Zugang der Spätphilosophie Merleau-Pontys wird die Gegenstellung von Mensch und Ding aufgebrochen und durch eine Zwischensphäre, „ein wechselseitiges Eingelassensein und Verflochtensein des einen ins andere“ ersetzt. Anstelle des Trennenden wird das Gemeinsame betont. Statt der Abgrenzung kommt die bereits thematisierte Verflechtung von Menschen und Dingen zum Ausdruck durch die gewissermaßen „fleischliche Struktur“ der schillernden und mehrdeutigen Begegnung von Mensch und Welt.
2.3.3 Feldstrukturen der Vernunft Vor dem Hintergrund der hier vorgestellten Kritik moderner Subjektivität lässt sich deren charakterisierender Begriff – derjenige der Vernunft – ebenso weiten. Solcherart nämlich kann Subjektivität ein Bedeutungsfeld umschreiben, das Vernunft ebenso beinhaltet wie diejenigen Momente, die ihr vorausgehen oder sie überschreiten – etwa Gefühle, gesellschaftliche Ordnungen u.ä.m. Das modern verstandene ‚Aktzentrum Vernunft’, in welchem der Mensch sein Selbstbild in Subjektivität beschreiben wollte, wird aufgehoben. „Offensichtlich kann [vernunftbezogene; Anm. A.B.] Subjektivität ihrer selbst nicht in reiner Autarkie habhaft werden. Sie steht vielmehr in partieller Selbstentzogenheit und immanenter Transzendenz in gestuften Wechselverhältnissen mit anderem.“ (Dierken 2004, 119; vgl. auch ebd. 114 ff.)
An die geleerte Stelle der eigenständigen Subjektivität tritt die Beziehung von Mensch und Welt, in welcher der Anfang dieses gemeinsamen Handelns nicht mehr von vornherein dem Menschen zugeschrieben werden kann. Vielmehr ermöglicht das gemeinsame ‚Sein als Fleisch’ sowohl Menschen als auch Dingen, innerhalb von Welt Appelle zu formulieren. Responsivität als antwortendes Verhalten bedarf gerade des vorherigen Anrufes. Mensch und weltliche Dinge ordnen sich daher innerhalb des Geschehens miteinander, Menschen antworten auf das jeweils Andere ihrer
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selbst. Ob das Ding meinen Griff nach ihm ausgelöst hat oder ob zunächst ich in subjektiver Freiheit mein Interesse für das Ding erweckt und dann meine Hand nach ihm ausgestreckt habe, kann und muss nicht mehr gegeneinander abgegrenzt werden. Freiheit wird unter dieser Hinsicht zum freien, weil angemessenen Antworten auf das, was dem Menschen begegnet. Interesse wird unter einer solchen Hinsicht zum Inter-esse, zum DazwischenSein des Menschen inmitten der Dinge, der um seinen Aufenthalt weiß (vgl. Böhmer 2002, 131 ff.) und ihn antwortend zu gestalten versteht. Das auf diese Weise in seiner Freiheit interessierte Ich – nicht zuletzt das moderne eines „Ich denke“ (Kant KrV B 131) – zeigt sich somit als situationsbezogener Knotenpunkt vielfältiger Bezüge und spannt sein Feld innerhalb von Welt auf. Angesichts der Frage nach Subjekt und Selbstverhältnis gelangt Henrich selbst mit seinen Anleihen beim Deutschen Idealismus zu der Auffassung: „Geht aller Aktivität des Subjekts sein Selbstverhältnis voraus, so muß dies Verhältnis in einer Sprache und Begriffsform aufgefaßt werden, die in einem Kontrast zu den Begriffen stehen und ihn deutlich artikulieren, über die sich Aktivitäten und Erzeugungsleistungen auffassen lassen. Es liegt dann nahe, das Selbstverhältnis des Subjektes von Bedingungen her zu verstehen, die nicht in seiner Macht stehen und die in keinem Sinne seine Produkte sind. Soll aber die grundlegende Rolle der Leistungen des Subjektes in der Organisation von Erkenntnis nicht gleich auch noch bestritten werden, so muß Selbstbewußtsein als nicht durch sich ermöglicht und zugleich als Grund der Möglichkeit aktivischer Organisation verstanden werden, die von ihm ausgeht. Daraus ergibt sich ein doppelter Wissenssinn.“ (Henrich 1989, 137 f.)
Wird dieser „doppelte Wissenssinn“ des Subjekts gekoppelt mit der oben entwickelten Feldstruktur vielfältiger Unterscheidungen, ergibt sich das Bild einer vielgestaltigen Subjektivität, die weder in ihrem Werden noch in ihren Feldbezügen eindeutige, überdauernde Strukturen aufweist. Die damit hervorgerufene „Identität“ ist auch geprägt als die vielseitige Gestalt aus subjektiver Machtlosigkeit (Heidegger: „Geworfenheit“) und fremden Ansprüchen (Waldenfels: „Responsivität“) – in sich wie aus den Anderen. Zunächst mag sich „eine Aneignung dessen, was ist, […] eine Ausbeutung der Wirklichkeit“ (Levinas 2002, 55) andeuten. Denn vorderhand setzt ein solches sich freiheitlich denkendes Ich sich selbst als „ich kann“, als
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ermächtigtes und eigenständiges Aktzentrum der eigenen Existenz inmitten der Dinge und Menschen. Aus dieser Haltung heraus wird das neuzeitlichmoderne Verhältnis des Menschen zu den Anderen und den Dingen als das eines Subjektes zu Objekten (oder eben anderen eigenständigen Subjekten) möglich. Daraus ergibt sich dann: „Die Ontologie als Erste Philosophie ist eine Philosophie der Macht.“ (Ebd.) Wie gezeigt, isoliert sich mit diesem herrschaftlichen Denken als Macht der Herrscher von den zu Beherrschenden, das Ich vom Anderen. Zwischen beiden klafft ein „garstig breiter Graben“ (Lessing), der nicht mehr überschritten werden, sondern lediglich durch Erkenntniskritik und Epistemologie das Gegenüber zu erfassen und womöglich dessen Unverständlichkeit durch abgesichertes Wissen zu überwältigen suchen kann. Das Subjekt eines solchen Ich unterwirft sich die Anderen. Hingegen entsteht zwischen Ich und Anderem eine „dritte Dimension“, sobald deren Wechselbeziehung im Rahmen des Responsivitätskonzepts in den Blick kommt. Denn darin wird kenntlich, dass ein Feld nicht durch das Subjekt geformt, sondern durch das Wechselspiel von Ich und Anderen mitgestaltet wird. Dieses Feld wird somit zum Spielfeld von Menschen und Dingen, die sich in zeitlich wie räumlich spezieller Form entfalten und auf einander beziehen. So ist nicht allein die Weitung der Subjekt-Struktur zu erkennen, sondern zugleich deren wechselhafte Gestalt: „Das Subjekt ist immer auf Achse, es ist immer anderswo. Das Anderswo ist das [im hier skizzierten Sinne wechselhafte; Anm. A.B.] moderne Subjekt.“ (Gamm 2000, 209 f.)
Das Subjekt wird offen für das, was im Feld der begegnenden Menschen und Dinge zur Bildung menschlichen Selbstverstehens beiträgt – Begegnungen mit Menschen, Arbeit an Dingen u.v.m. Das Ich wird zunächst zum „Adressendativ“ (Waldenfels) der anderen Menschen und Dinge, noch bevor es als Nominativ zum Sprach- und Aktzentrum der eigenen menschlichen Verhältnisse in der Lebenswelt aufsteigt. Gleichwohl lässt sich in diesem Zusammenhang keine umfassende Vereinheitlichung von Ich und Anderem denken. Es bleibt bei der Kluft innerhalb des Eigenen:
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„Aber dieser Hiatus zwischen meiner rechten berührten und meiner rechten berührenden Hand, zwischen meiner [von mir; Anm. A.B.] gehörten und meiner artikulierten Stimme, zwischen einem Augenblick meines taktilen Erlebens und dem nächsten ist keine ontologische Leere und kein Nicht-Sein: er ist umspannt von der Gesamtheit meines Leibes und von der Gesamtheit der Welt, er ist der Drucknullpunkt zwischen zwei festen Körpern, der bewirkt, daß sie wechselseitig aneinander haften. Mein Fleisch und das der Welt sind also umgeben von Helligkeitszonen und von Lichtern, um die herum ihre Dunkelzonen kreisen“ (Merleau-Ponty 1986, 194 f.; zu Merlau-Pontys Entwicklung hin zur „Welt der rohen Wahrnehmung“ vgl. Orlikowski 2012).
Hier zeigt sich: Weder ist die Verbindung von Ich und Welt eine Gleichsetzung, die höchstens noch aus Gründen einer Bewältigung von erlebter Wirklichkeit nachträglich die Scheidung der Empfindungen in „die meines Leibes“ und „die der weltlichen Dinge“ vornähme. Denn dementsprechend bliebe ja stets noch ein Aktzentrum der Ort, an dem die Unterscheidung in „meines“ und „nicht meines“ erfolgte. Andererseits ist auch nicht die Auflösung des Subjekts in ein Unbestimmt-Offenes lebensweltlicher Impulse zu sehen, in deren Mitte die Strukturen der Subjektivität zunächst verflüssigt und schließlich abgeschafft würden. Ich und Welt bleiben verschieden – freilich ohne deshalb voneinander abgelöst zu sein. Diese Formation des ‚Unvermischt und Ungetrennt‘ soll im Folgenden noch genauer dargestellt werden. Phänomenologische Anthropologie hat den Menschen mitunter als das Wesen der Ek-sistenz (Martin Heidegger, vgl. auch Eugen Fink u.a.m.) beschrieben. Dabei wird i.a. eine anthropologische Struktur entworfen, die aus sich heraus in die umgebende Welt hinein ragt. Ansatzpunkt dieser ekstatischen Formation bleibt das Subjekt; von ihm ausgehend wird die Welt erreicht. Das Subjekt wandelt sich unter dieser Perspektive vom Zentrum zum Ausgangspunkt. Seine besondere Stellung im Erkenntnisgeschehen wird umgestaltet, jedoch nicht aufgegeben. Mit Merleau-Pontys Entscheidung für die Beziehung von Subjektivität und Welt ergibt sich nun ein gänzlich anderes Bild. An die Stelle der Ek-sistenz tritt bei ihm die Ek-stase als die Gegenwart von Welt und Subjekt, die sich wechselseitig ineinander schieben:
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„Inneres und Äußeres sind untrennbar. Die Welt ist gänzlich innen, ich bin gänzlich außer mir. […] Das Subjekt ist aber in Situation, es ist selbst nichts anderes als eine Möglichkeit von Situationen, weil es seine Selbstheit nur verwirklicht als wirklich Leib seiendes und durch diesen Leib in die Welt eingehendes.“ (Merleau-Ponty 1966, 464)
Das Subjekt verliert seine bisherige Vorrangstellung in der Weltkonzeption der Moderne. Welt und Subjekt sind miteinander verstrickt, durchdringen sich in unauflösbarer Form und werden so in einen Bezug vielschichtiger Bedingungen und Bedingtheiten verwoben. Welt kann nur mit dem Subjekt und das Subjekt nur mit Welt verstanden werden.
2.3.4 Soziale Milieus Eine solche kritische Sicht auf die Subjektformation der Moderne hat auch Auswirkungen auf die sozialen Ordnungen. Im sozialen Bezug nämlich wird jeder Andere zum Stil und zum Milieu der gemeinsamen Existenz (vgl. Merleau-Ponty 1966, 417). Anderer und Ich sind nicht exakt gegeneinander abzugrenzen, sondern wirken wechselseitig auf einander ein. Dadurch werden die Ergebnisse der Sozialisationsforschung nachgerade in subjekttheoretischer Hinsicht zugespitzt. Subjektivität zeigt sich nunmehr als zwischenmenschliche, die mittels ihrer Verflechtungen der individuellen Wahrnehmungen zu einem Gesamt der Handlungen aller Beteiligten gelangt. Es ergibt sich noch vor aller Konstruktion einer „sozialen Kompetenz“ (vgl. dazu auch Haeske 2008, insbes. 185 ff.) ein erfahrbarer Bezug zwischen Ich und Anderem – es muss noch nicht einmal „eine winzige Öffnung in die Symmetrie, in die Reziprozität des [sozialen; Anm. A.B.] Systems gesprengt werden, ein unökonomisches Moment in den Kreislauf einer auf Leistung und Gegenleistung basierenden Ökonomie der Anerkennung eingespielt werden.“ (Gamm 2000, 215) Vielmehr erweisen sich solche zwischenmenschliche Tauschgeschäfte als bestenfalls abgeleitete Bezugsformen der Menschen untereinander. Lange vor aller Logik des Habens, Tauschens und Mehr-Bekommens durch die verallgemeinerbaren Anderen erweisen sich die Beziehungen zu den „signifikanten Anderen“ (ebd. 223) als grundsätzliche Struktur von Subjektivität.
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Die gemeinsame Existenz wird so „Milieu“ als die Formation dessen, was sich als Zwischenmenschliches zeigt, und verbleibt nicht als Summe ihrer Einzelteile. Diese situativ geformte Gestalt von Vergemeinschaftung lässt sich näherhin beschreiben als vor-reflexive Struktur. Gerade auf diese Weise bringt sie die Bedeutung von neuzeitlichem Vernunftverständnis (cogito = lat. ich denke) zum Ausdruck, indem sie einerseits nicht-rational auf die hier ausstehende Vernunft verweist, da ein gegebenes Milieu auch vernünftig verstehbar werden kann. Andererseits nimmt diese vor-reflexive Struktur gerade so den Unterschied im Denken der Anderen auf und vermittelt die Gestaltung von Ich und Anderen innerhalb des gemeinsamen Milieus. Diese Perspektive lässt sich mit Rekurs auf Gurwitschs nonegologischen Ansatz gar über die Relation von Ich und Anderen auf den Selbstbezug eines Ich ausweiten: „As long as we are absorbed in the experience, living it through, no ego appears.“ (Zahavi 2005, 100) Und selbst wenn sich sodann ein Ego zeigt, ist unter dieser Hinsicht das damit einhergehende Bewusstsein kein selbstbewusstes, sondern aufgrund seiner nonegologischen Genese dasjenige bezüglich eines Ego (vgl. ebd. 101 f.; seinerseits Sartre, nun aber auch Hume, Nietzsche und Husserl interpretie rend).
52 Zahavi macht jedoch mit Blick auf die von ihm analysierte „mineness or ipseity“ darauf aufmerksam, dass ihm – vermittelt durch Ricoeur und Henry sowie zuvor Sartre und Merleau-Ponty – eine non-egologische Differenzierung als nicht hinreichend plausibel erscheint. Vielmehr findet er Ansätze eines „basic sense of self“ (Zahavi 2005, 116) auch in nicht-reflexiven Zusammenhängen von Erfahrung: „[…] the idea is to link an experiential sense of self to the particular first-personal givenness that characterizes our experiential lives; it is the firstpersonal givenness that constitutes the mineness or ipseity ef experience.“ (Ebd., 125; vgl. seine Herleitung ebd. 115 ff.). In anderer Form hat jüngst Larmore ebenfalls auf eine nicht epistemologischreflexive Verständnisform von Subjektivität hingewiesen, indem er die normative „Grundierung“ von Subjektivität betont: „Diese beiden Beziehungen zu uns selbst und zur Welt, von denen die eine normativ und die andere epistemisch ist, sind, wie ich betont habe, gleichursprünglich: Zusammen bilden sie das Gesamtphänomen der Subjektivität. Es ist aber zu beachten, dass das Subjekt dabei keine wesentliche Wissensbeziehung zu sich selbst hat. Eine solche geht man nur dann ein, wenn man über sich selbst reflektiert.“ (Larmore 2012, 90)
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Auch der intersubjektive Bezug bringt das Nach-außen-gerichtet-Sein von Subjektivität in das jeweilige Milieu, dessen vor-reflexive (und damit: vor-rationale) Struktur sowie das Fehlen eines Zentrums von Vernunft und Weltverstehen im Menschen in den Blick. Denn gerade im bereits beschriebenen Sinne der ekstatischen Verflochtenheit (Nach-außen-gerichtetSein), als jeweils situativ Geformtes (Milieu-bezogene und vor-rationale Struktur) und im wechselseitigen Antwortgeschehen mit Anderen Verbundene (Fehlen eines Zentrums von Vernunft und Weltverstehen) können Menschen nunmehr beschrieben werden und sich selbst interpretieren. Der Zwang zur Identität als übersituativer Bestimmbarkeit zerfällt unter dem Blick auf die Begegnungen der einzelnen miteinander. In der Herausbildung eines individuellen Stils zeigt sich auf dem Feld des zwischenmenschlichen Kontaktes, dass der Mensch ein Bild seiner selbst darzustellen sucht und „eine Formulierungsweise, die für die anderen ebenso erkennbar, für ihn selbst aber so wenig sichtbar ist wie seine Silhouette oder seine alltäglichen Gesten.“ (Merleau-Ponty 2003, 131) Dieser individuelle Stil als nicht ausdrückliche Bedeutungsschicht zwischen Sprache und Denken (vgl. Merleau-Ponty 1994, 90) trägt zur Herausbildung eines eigenen Habitus’ bei, der in einer leiblichen, nicht jedoch mit Hilfe der Vernunft formulierten Einsicht gründet (vgl. ebd. 175; vgl. besonders
In der hier vorgelegten Schrift soll jedoch an der Differenz von egologischen und non-egologischen Perspektiven insoweit festgehalten werden, als die auch von Zahavi angesetzte Dynamik der „mineness or ipseity“ in der Erfahrung mit Blick auf die Struktur von Subjektivität zwischen ihren denkmöglichen Polen beschrieben und auf diese Weise eine möglichst weite Form der Analyse gewonnen werden kann. Diese Weite scheint insofern notwendig, als eine „primitive form of self-giveness or self-referentiality“ (ebd. 129) zumindest so subtil selbstreferentiell sein mag, dass ihre unmittelbare Nähe zum (nicht: Identität mit dem) non-egologischen Pol des Subjektivitätsverständnisses plausibel wird. Des Weiteren wird mit Hilfe einer asubjektiven Phänomenologie deutlich, dass die Gegebenheit des Selbst erst durch das Erscheinen als solches vermittelt wird; eine Selbstgegebenheit also unter dieser phänomenologischen Perspektive erst als sekundär aufzufassen ist (vgl. Patoþka 2000, 121 f.). Vgl. darüber hinaus zu einem „nichtsubjektiven Wahrnehmungssinn“ bei Patoþka Novotný 2003, 160.
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Bourdieu 1987, 686). Was die Wiedererkennbarkeit im Alltag ausmacht, ist für gewöhnlich gerade nicht auf ausdrückliche Verstandestätigkeit in einer unmittelbaren Begegnung allein zurückzuführen. Eher ist diese Wiedererkennbarkeit als Annäherung leiblicher Ausdrucksformen an die Gegebenheiten über einen erheblich längeren Zeitraum hinweg – und mit den situativen Varianzen einer solchen „Identität“ – erfolgt. Demzufolge können Menschen von anderen erkannt werden. Allerdings wird auch ein Erkennen der Dinge dank eines bestimmten Stils möglich. Denn auch die Dinge erscheinen trotz unterschiedlichster Perspektiven, Umfelder und Schattierungen dann als wiedererkennbare, wenn ein bestimmter Stil kenntlich wird, sich in das Umfeld einzufügen. Der Bleistift zu meiner Rechten ermöglicht mir den Griff danach, wenn ich am Schreibtisch einen neuen Gedanken zu Papier bringen möchte – unabhängig davon, ob ich ihn in derselben Lage wie vor dem letzten Schreibakt sehe oder ob ich ihn überhaupt aktuell mit meinem Blick fixiere. Allein meine mittlerweile vertrauter Umgang mit dem Schreibgerät genügt, seine Typik „aus dem Augenwinkel“ zu erfassen und ihn inmitten der anderen Dinge auszumachen, um ihn so für mein Vorhaben zu nutzen. Meine Wahrnehmung und die Typik des Dinges kreuzen sich: Nicht allein greife ich dorthin, wo ich den Stift erwarte, sondern er zeigt sich in der ihm typischen Weise. Umgekehrt appelliert er nicht beständig an meine Möglichkeit, ihn zu nutzen, sondern sein Anspruch an mich findet zunächst seinen Raum durch mein Bedürfnis, schreiben zu wollen. Beides ist miteinander überkreuzt – die Aufforderung durch das Ding und meine Absicht zu seiner Nutzung –, und erst durch die Überkreuzung wird es mir möglich, „gedankenlos“ und dennoch gezielt nach dem Bleistift zu greifen. Die Frage nach der Identität wird daher sowohl hinsichtlich anderer Menschen als auch hinsichtlich der Dinge geweitet durch die Perspektiven des Stils, der in der jeweiligen Erscheinung feststellbar ist. Es ergibt sich wiederum eine Zwischenstellung von zeitlich uneingeschränkter Wiedererkennbarkeit und Beherrschbarkeit (Identität) einerseits wie der völligen Auflösung der Einzelnen in sprachliche, körperliche oder andere Struktu-
53 Demgemäß kann Bourdieu zur Klärung des Habitusbegriffes anmerken, dass „die Beziehung zwischen Existenzbedingungen und Praxis oder Sinn der Praxis weder als mechanische noch als bewußte begriffen werden darf.“ (Bourdieu 1987, 279, Anm. 1).
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ren, die sich die Individuen unterordnen, andererseits. Stil und Habitus markieren insbesondere eine Gestalt, die in unterschiedlichen Situationen als die entsprechende verstehbar wird, ohne dabei dem Zwang zeitlich uneingeschränkter Identifizierung unterworfen zu sein (vgl. auch MerleauPonty 1986, 222). Die Ordnung im Feld wird also stets von den Elementen im Feld mitbestimmt und ist zudem zeitbedingt vergänglich. Daraus resultiert, dass Wahrheit auch eine Frage des lokalen wie temporalen Standpunktes im Feld wird: „[…] das Nahe, das Ferne und der Horizont bilden in ihrem deskriptiv nicht erfaßbaren Kontrast ein System, und ihre Beziehung untereinander innerhalb des Gesamtfeldes ist es, die ihre perspektivische Wahrheit ausmacht.“ (Merleau-Ponty 1986, 40) So aber wird selbst Kausalität als Ordnungsmacht innerhalb der Feldstruktur aufgehoben. Denn die Wahrnehmungswelt „gehorcht den Gesetzmäßigkeiten des Feldes und seiner inneren Organisation und nicht wie das Objekt den Gesetzen einer mitlaufenden Kausalität.“ (Ebd. 41) An die Stelle der Naturgesetze tritt in der wahrgenommenen Welt die Abfolge einzelner Prozesse, die sich wiederum in ihren konkreten Gestaltungen ‚Stil und Typik des Feldes’ verdanken. Das Feld als „raumzeitliche Zuordnung von Kräften und Prozessen“ (Waldenfels 1987, 54) verortet die Dinge ‚an Ort und Stelle’ sowie in der Zeit. Es wirkt – ganz im Sinne der Responsivität – auch auf die erkennenden Subjekte ein. Diese Einwirkung geschieht gleichfalls nicht mit Hilfe eines einzigen Zuganges, so dass etwa nur die verstandesmäßigen Bezüge zum Feld für das Subjekt bedeutend wären. Vielmehr erfolgen Bezüge sowohl vernünftig als auch sozial, leiblich, mit Autorität und Sorge verbunden oder auch anderweitig. Verschiedene „Antwortregister“ (Waldenfels 1994) liegen nicht nur innerhalb des Umfeldes der Subjekte vor, so dass sich die dortigen Dinge auf unterschiedliche Weise den subjektiven Impulsen fügen könnten. Noch weitaus mehr stehen die unterschiedlichsten Möglichkeiten antwortender Bezugnahme gerade auch für die Menschen in ihren Zusammenhängen mit den Menschen und Dingen des umgebenden Feldes offen. Zu den vielfältigen sinnlichen Zugangsweisen der Menschen zur Welt merkt Merleau-Ponty an: „Die Sinne sind von einander und von der intellektuellen Einsicht verschieden, insofern ein jeder von ihnen eine nie völlig übertragbare Seinsstruktur mit sich trägt.
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Dies erkennen wir, wenn wir uns von allem Bewußtseinsformalismus befreien und den Leib als das Subjekt der Wahrnehmung begreifen.“ (Merleau-Ponty 1966, 263)
So lassen sich etwa Gehör, Blick, Berührung, der begehrende Leib oder auch das Antlitz als jeweils unterschiedliche leibliche Antwortregister beschreiben (vgl. Waldenfels 1994, 490 ff.). Das leiblich verfasste Subjekt ist nach Merleau-Ponty genauer zu verstehen als ein durch Fremde geformtes Feld, d.h. „als hierarchisches System von Strukturen, die durch ein anfängliches es gibt eröffnet werden.“ (Merleau-Ponty 1986, 302) Diese Strukturen sind in ihrer Prägung nicht schlichtweg von Bewusstsein bestimmt, sondern durch das vorgängige „es gibt“ gekennzeichnet. Woher sich eine solche Dimension der Gabe verstehen lässt, wird noch ausführlicher zu untersuchen sein (vgl. 3.2.2 sowie 4.3.2.1 dieser Schrift). Doch bereits an dieser Stelle ist mit Merleau-Ponty anzudeuten, dass das wahrnehmende Subjekt nicht allein aus sich selbst heraus, sondern durch den lebensweltlich gebildeten „Chiasmus und das intentionale ‚Übergreifen’“ (Merleau-Ponty 1986, 302), also durch die überkreuzenden Beziehungen von sich und den Anderen als Feldstruktur geformt wird. Auch mit diesem Hinweis wird kenntlich, dass eine ausschließlich rationale Deutung der Subjektivität im Sinne der Transzendentalphilosophie aufgehoben werden kann zugunsten der Kreuzung von Mensch und Welt. Nicht entwirft allein der Verstand mittels seiner „Formen der Anschauung“ die Struktur der wahrzunehmenden Dinge und des Feldes, sondern zugleich wird auch die Subjektivität ihrerseits als Feld geformt. Somit wird eine Subjektivität sichtbar, die nun weit weniger aus eigener Macht feldförmig gestaltet ist, sondern sich insbesondere in Kreuzung mit dem in der Welt Begegnenden ihrerseits engagiert. Darum ist das Subjekt ebenso strukturiert wie strukturierend. „Promiskuität mit dem Sein und der Welt“ (ebd.) entmündigt nicht gänzlich, lässt aber auch den in der Moderne geforderten mündigen Selbststand nicht mehr zu, weil der Ort der Subjektivität nicht mehr außerhalb des jeweiligen Feldes liegt und seinerseits mindestens auf dieses Feld antwortet, womöglich auch strukturell mit ihm korrespondiert, wie das bereits erwähnte Habituskonzept nahelegt. Daher wäre zunächst jene Auffassung Husserls zur Intentionalität zu kritisieren, die in jeder Wahrnehmung ein – zudem als Ich verfasstes – cogito ausmachen zu können meinte:
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„In jedem aktuellen cogito richtet sich ein von dem reinen Ich ausstrahlender ‚Blick’ auf den ‚Gegenstand’ des jeweiligen Bewußtseinskorrelats, auf das Ding, den Sachverhalt usw. und vollzieht das sehr verschiedenartige Bewußtsein von ihm.“ (Husserl 1976, 168 f.)
Nicht der Wahrnehmungsstrahl, den ein distanziertes Ich auf ein Objekt richtet und mit dessen Hilfe es in seinem Bewusstsein ein inneres Abbild äußerer Wahrnehmung erzielt, sondern die nachgerade engagiert-praktische Kreuzung von Ich und Ding formt in der Folge des hier Entwickelten eine Wahrnehmung als Antwort auf das Widerfahrnis des Kontakts in der Lebenswelt.
2.3.5 Sein und Denken
Nunmehr ist anstelle der cartesianisch begriffenen Vernunft eine Offenheit des Subjektes anzusetzen, das nicht in sich abgeschlossen zunächst an
54 Schnädelbach macht deutlich, wie die Grundlagen solcher Verschließung des cogito in die eigene Ideenwelt bei Descartes ihren Ausgang nehmen: „[…] man sollte das cogito immer mit ‚Mir ist etwas bewußt’ übersetzen und nicht mit ‚Ich denke’ […]. Was bei Descartes mit ‚ich denke’ gemeint ist, kann man wohl am besten mit Foucault erläutern, dem zufolge auch der Cartesianismus von der klassischen epistéme der Repräsentation bestimmt ist. Nach Foucault ist die Repräsentation dadurch gekennzeichnet, daß sie ihr Repräsentieren mitrepräsentiert, was erklärt, warum bei Descartes sich die cogitatio auf cogitata bezieht, die als cogitata gewußt werden, d. h. als ideae (Vorstellungen). Vernunft (ratio) ist nun bei Descartes nichts anderes als das Vermögen, etwas in klaren und deutlichen Vorstellungen zu repräsentieren, und dies ist ausschließlich im Wissen der res cogitans von sich, von Gott und von den mathematischen Eigenschaften der res extensa der Fall. Kant wird später Verstand und Vernunft als besondere Erkenntnisquelle bezeichnen, aber dies kann man nicht unmittelbar auf Descartes beziehen; bei ihm ist die ratio nichts anderes als ein Spezialfall des allgemeinen Vermögens der cogitatio, etwas in Vorstellungen zu repräsentieren, und zwar der Spezialfall, bei dem diese Vermögen sich auf eingeborene Ideen bezieht, denn nur die verleihen dem Vorstellen Klarheit und Deutlichkeit.“ (Schnädelbach 2000, 201) Infolgedessen findet sich bei Descartes bereits der
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eine gegenüberliegende Welt der Objekte intentional herantreten muss. Denn noch vor allem cogito als „ich denke“ ist im Anschluss an das bislang Ausgeführte, insbesondere zum praktischen Engagement im jeweils gegebenen Feld, das sum als „(ich) bin“ für den subjektiv situierten Weltumgang zu sehen. Zu diesem Vorrang der Existenz vor dem Denken im Weltbezug kommt hinzu, dass im cogito selbst gesellschaftlich-sprachliche Elemente auszumachen sind: „[…] nur durch das Medium der Sprache habe ich mein Denken und mein Dasein erfaßt, und eigentlich müßte die Formulierung dieses cogito lauten: ‚man denkt, man ist.’“ (Merleau-Ponty 1966, 456)
Dadurch verweist die sprachliche Prägung des Denkens darauf, dass das cogito als sprachliches aus einem sozialen Feld stammt und ihm die Abgrenzung gegen die Anderen bestenfalls nachträglich möglich sein kann. Doch selbst die Erfassung eines Themas, noch vor den verschiedenen Phasen des wahrnehmenden Aktes, kann nicht einfachhin die Form eines reinen „cogito“ bekommen. Denn diese Formation ist lediglich als Grenzbegriff des mit der Welt gekreuzten Subjektes anzusehen. Als schlicht logischer Begriff mag ein solches „cogito“ regulativ seine Bedeutung haben, da es auf die Vernunftleistung des Subjektes verweist. Als gegebener Sachverhalt wird es hingegen stets die ‚Beimischung durch die Welt’ erfahren; wenn auch in unterschiedlicher Form und verschieden weitem Umfang. Die Kreuzung mit den Dingen erfolgt je nach Situation und Intensität auf verschiedene Weise. Das cogito erfasst sich auch in jeweils verschiedenen Ordnungen und unterschiedlichen Teilen eines Feldes. Das solcherart in der Moderne geformte rationale Selbstbild der Menschen findet daher je nach Feld und subjektivem Ort darin unterschiedliche Ausdrucksgestalten. Gleichwohl lässt sich die Entscheidung für die Wahrnehmungsform cogito zumindest dann aufrechterhalten, wenn man wie Merleau-Ponty ein „verschwiegenes Cogito“ (Waldenfels 1987a, 170) ansetzt, das sich nicht
Zug zur Verschließung des cogito, ohne es allerdings damit schon zur Bedingung der Möglichkeit von Erscheinen zu erheben; diese erkenntniskritische Zuspitzung menschlicher Vernunft blieb bekanntlich Kant vorbehalten. 55 Vgl. aber Gurwitsch 1975, 282, der dies zumindest der Erfassung des Themas innerhalb des Themenfeldes zuerkennen möchte.
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selbst gegeben ist, sondern eher im Untergrund der Wahrnehmung mitspielt, ohne gänzlich fassbar zu werden. „Doch diese undeklinierbare Subjektivität hat bei sich selbst und bei der Welt nur einen gleitenden Anhalt. Sie konstituiert nicht die Welt, sondern errät sie als ein sie umgebendes Feld, das nicht sie selbst sich gegeben hat; sie konstituiert nicht das Wort, sondern spricht, wie man singt, weil man fröhlich ist; sie konstituiert nicht den Sinn des Wortes, vielmehr entspringt ihr dieser aus ihrem Umgang mit der Welt und den anderen Menschen, die sie bewohnen, er findet sich am Schnittpunkt einer Mehrzahl von Verhaltungen und bleibt, auch als einmal ‚erworbener’, so genau und doch so undefinierbar wie der Sinn einer Geste.“ (Merleau-Ponty 1966, 459 f.)
Ein solches cogito ist somit jedoch zu unterscheiden vom Cartesianischen „ego cogito, ego existo“ – in dessen Gefolge sich Edmund Husserl wie Aron Gurwitsch verstanden. Diese konzipierten ein cogito, das denkend die Wirklichkeit des Ich postulierte und es – unter der Hand – auch noch selbst in Position brachte, indem es als Ausgangspunkt des Weltverstehens sowie ein Ich als Zentrum dieses Denkaktes eingesetzt wurde. Vielmehr ist es der ohne ein Ich auskommende Selbstbezug, der sich seiner selbst (noch) nicht habhaft wurde und demzufolge nicht als der Grenzwert anzusehen ist, den Aron Gurwitsch als Ergebnis der Thematisierung von Strukturen eines Bewusstseinsfeldes zu erreichen hoffte. Selbstbewusstsein bleibt unter dieser Hinsicht durchzogen von nicht-bewussten Anteilen, das Ich ist stets nonegologisch unterwandert und dessen cogito „keineswegs mit sich im reinen“ (Waldenfels 2000, 368; zu Gurwitschs non-egologischer Perspektive und den Resultaten für das Verhältnis von Selbstbewusstsein und Selbst vgl. auch Zahavi 2005).
2.3.6 Felder der Freiheit Bedeutend bleibt namentlich für eine Philosophie auf dem Boden der Aufklärung, dass auch die von ihr so vehement eingeforderte Freiheit auf Feldstrukturen verwiesen ist: „Freiheit gibt es nicht ohne ein Feld.“ (MerleauPonty 1966, 499) Denn nur innerhalb eines Feldes der Kreuzungen von Menschen und Dingen ist es möglich, das eigene Engagement als Beweis der Freiheit von Willen wie Tatkraft unter Beweis zu stellen – und in den
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Setzungen des freien Willens zu „verspielen“ (E. Fink). Dass Freiheit nicht Beliebigkeit, sondern sehr viel mehr die Freiheit zur – nunmehr Antwort einfordernden – Notwendigkeit bedeutet, wurde nicht zuletzt durch Hegels Werk angebahnt, wenn er – freilich noch unter der Maßgabe eines objektiven Geistes – darlegte: „Die Freiheit, zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet, erhält die Form von Notwendigkeit, deren substanzieller Zusammenhang das System der Freiheitsbestimmungen und der erscheinende Zusammenhang als die Macht, das Anerkanntsein, d. i. ihr Gelten im Bewußtsein ist.“ (Hegel 1970 X, 303)
Gerade in der Perspektive der Responsivität kann jedoch kein „erlebter Solipsismus“ (Merleau-Ponty 1966, 409) mehr angesetzt werden, kein Verweis, dass Erleben nur auf ein einsam erlebendes Ich zurückzuführen sei. Unter einer solchen Perspektive würde Engagement lediglich als ebenso einsame Entscheidung des Ich verstanden werden können. Vielmehr verweisen die bisherigen Analysen des menschlichen Weltbezuges darauf, dass Engagement Antwort ist – gleichwohl eine Antwort, die in ihren Möglichkeiten nicht von vornherein festliegt. Das Spiel von ‚Frage und Antwort’ kann je nach Situation unterschiedliche Formen erhalten. Auch als antwortender bleibt der Mensch frei, wenngleich nicht ungebunden. Gerade die Nötigung zur Antwort gebenden Verbindung mit den Dingen macht den Menschen frei zum Engagement für diese. Mit anderen Worten: Im hier diskutierten Zusammenhang ist keine Einschränkung oder gar Auflösung der Freiheit durch die Hintertür der Responsivität angezielt. Vielmehr gilt es, die Freiräume der Subjektivität gerade und noch präziser als Antworten, und dabei gebunden an Vorgegebenes, zu verstehen. Freiheit ist somit weniger die „Selbsttätigkeit“, die abgelöst von den Verflechtungen mit Anderem rein „sich selbst zum bestimmten Handeln“ (Fichte 1997, 158) bestimmt, – sondern mehr noch die Möglichkeit, eine eigene Antwort angesichts der fremdbestimmten Impulse und aufgrund des Überschusses im Antwortgeben zu formulieren. Gerade darin wird die Struktur der Responsivität deutlich, ohne den Menschen zur Marionette der Umwelt herabzustufen.
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2.3.7 Dezentrierung Dieser Begriff entstammt ursprünglich der Entwicklungspsychologie Jean Piagets, um dort die Verbindung verschiedener Blickwinkel eines vom Kind wahrgenommenen Gegenstandes auf ein und denselben Sachverhalt hin zusammenzufassen (vgl. Piaget 1973; ferner Sodian 2008, 437 ff. sowie Bödeker 2006, 73 ff.). Piaget setzte den Schwerpunkt auf das Wahrgenommene. Andererseits kam auch die Bedeutung der Wahrnehmenden zur Sprache – an die Stelle des „zentrierten Zentrums“ (vgl. 1.1 dieser Schrift) trat der dezentrierte und eingebundene Lernende. Diese Auffassung wird in anderem Zusammenhang von Jacques Lacan weiter geführt und kommt beredt in dessen Aussagen zum ‚Spiegelstadium’ zum Ausdruck (vgl. 2.1.1 dieser Untersuchung). So kann er in Fortführung seiner psychoanalytischen Erörterungen die dezentrierte Erfahrung des Denkens festhalten: „ich denke, wo ich nicht bin, also bin ich, wo ich nicht denke.“ (Lacan 1975, 43) Auf diese Weise wird auch von Lacan das Auseinanderfallen der neuzeitlich gedachten Verbindung von Denken und Existenz („ego cogito, ego existo“ – „ich denke, ich bin“) in kritischer Absicht dargestellt. Hier nun soll unter der Hinsicht einer solcherart dezentrierten Auffassung von Subjektivität danach gefragt werden, wie sich Subjekt und Welt in ihrer jeweiligen Feldstruktur überschneiden, durchdringen und durch die Erfahrung der Wahrnehmungswelt den tradierten Subjektbegriff der Aufklärung in Frage stellen. Dass der These eines Zentrums nicht schlicht die Antithese eines fehlenden Zentrums entgegengestellt werden kann, sondern sehr viel komplexere und wohl nur schwerlich überschaubare Ordnungen zu erwarten sind, dürfte nach den bisherigen Überlegungen naheliegend sein. Wir Menschen sind ‚eines Fleisches’ mit der Welt (vgl. Merleau-Ponty 1986). Näherhin gilt, dass wir Menschen unseren Aufenthalt nicht allein inmitten der Dinge haben, die von derselben ‚fleischlichen’ Ordnung geprägt sind wie wir. Vielmehr wird bei genauerem Zusehen außerdem deutlich, dass es Verschiebungen gibt zwischen dem, was die Dinge prägt, und dem, was uns Menschen ausmacht. „Es gibt ein wechselseitiges Eingelassensein und Verflochtensein des einen ins andere. Oder vielmehr […] gibt es zwei Kreise, zwei Wirbel oder Sphären, die kon-
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zentrisch sind, solange ich naiv dahinlebe, und leicht gegeneinander verschoben, sobald mein Fragen beginnt …“ (Ebd. 182)
Diese Erfahrung mag machen, wer in einer bestimmten Tätigkeit geradezu „aufgeht“. Es gibt jedoch weder einen ‚eindeutigen subjektiven Bereich‘ noch den davon abgetrennten Gegenstand, sondern die Handlung geschieht ohne bewusste Unterscheidung der beiden Felder. Beim Schreiben etwa werden nicht Hand, Schreibgerät, Lampe und das zu Schreibende in unterschiedlichen Teilmomenten aufgefasst, sondern vielmehr gilt dann: „Ich schreibe dies.“ Das Ringen um die geeignete Formulierung, der Gedankenfluss und die Bezugnahme auf bereits Formuliertes haben eine sehr viel umfänglichere Bedeutung als alle aufgezählten Teilmomente und Instrumente dieser Handlung. Dies ändert sich erst, wenn die Frage aufkommt: „Was machst du da?“ oder auch „Wie mache ich dies?“ Durch die fragende Distanzierung zum Geschehen werden zum einen jedes der Teilmomente und die benutzten Gegenstände fraglich – und können somit fragend vereinzelt, in den Blick genommen und womöglich auch beantwortet werden. Noch mehr aber gerate ich als bislang Handelnder in eine Distanz zur Handlung, zu den Dingen und ebenso zu dem, der gerade noch schrieb. Die bislang verbindende Gestalt zerbricht mit der Frage. Anstelle der Einheit liegen nun unterschiedene Teilbereiche vor, die zwar einer bestimmten Handlung zugeordnet werden können, von der ich als Fragender aber nicht mehr vereinnahmt werde. Es war zwar eben noch mein Tun, jetzt aber distanziere ich mich fragend davon. Was bleibt, sind zwei Themenfelder: Schreiben und Nach-dem-Schreiben-Fragen. Sie fallen nicht gänzlich auseinander; sonst nämlich hätte mein diesbezügliches Fragen ja keinen Sinn, da es sich auf nichts mehr richten und keine Antwort mehr erwarten könnte. Doch beide Felder sind „leicht gegeneinander verschoben“, so dass ich in der Lage bin, fragend Distanz herzustellen; zugleich aber werde ich durch diese Distanz aus der Verbindung mit dem Fraglichen „leicht“, doch überaus merklich heraus geschoben. Indes erfolgt diese – zunächst noch bewusstseinstheoretisch bestimmte – Dezentrierung ebenso über die Wahrnehmungen durch die Leiblichkeit, die Sozialität sowie die Geschichtlichkeit (vgl. Lippitz 1993, 22). Alle drei Perspektiven (und manche mehr) nämlich unterlaufen die Festlegung des Selbstbewusstseins auf ein Ich. Der Leib inmitten der Dinge, die gemeinschaftliche Offenheit inmitten der sozialen Anderen sowie die eigene Situa-
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tion angesichts der vorhergehenden und nachfolgenden Momente, Generationen oder Epochen verorten die Menschen in Bezügen, die sie nicht allein denkend erfassen und mit ihrer Vernunft beherrschen. Dezentrierung verweist vielmehr als bildungsphilosophischer Begriff auf den Ansatz einer Subjektivität, die sich in ihrer eigenen Vielgestaltigkeit in vielfältige Bezüge begeben kann – ja nachgerade muss, um die ihr eigene Struktur zu verwirklichen. Vielgestaltigkeit muss deswegen nicht unbedingt als Krisengestalt einer nicht mehr wirkmächtigen Zentral-Vernunft zum Problem erhoben werden, sondern kann als Ausdrucksform einer dezentrierten, weil in vielfältige Bezüge eingebundenen Subjektivität verstanden werden. Solche Dezentrierung ist gleichwohl keine Ablehnung von Subjektivität (vgl. Merleau-Ponty 1986, 248), sondern vielmehr deren Umgestaltung: Anstelle einer Nichtung von Vernunft und subjektiv zentrierter Erkenntnis kommt hier die Umformung zu einer vielgestaltigen Vernunft (der rationalen ebenso wie einer leibhaftigen, sozialen oder geschichtlichen) und einer episodischen sowie an die ‚dritte Dimension’ des Erscheinens gebundenen Wahrnehmung. In dieser Hinsicht sei an die Existenzialien (Heidegger) wie etwa das In-der-Welt-Sein, die Sorge, die Befindlichkeit, die Angst, das Verstehen, das Verfallen, die Rede und manche mehr erinnert. Sie machen als Ordnungsbegriffe für menschliches Selbstverstehen jeweils kenntlich, dass Zugänge zu den Sprech- und Handlungsfeldern von Menschen auf nicht-zentrierte Weisen erfolgen können, wobei diese dennoch ihre augenfällige Bedeutung für die Bezugnahme von Personen mit dem Anderen besitzen. So verweist das In-der-Welt-Sein als ‚Grundverfassung des Daseins’ (vgl. Heidegger 1993, 130) auf die existenziale Eingebundenheit in die Zusammenhänge der Welt. Die Sorge in ihrer Struktur des „Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)“ (ebd. 192) etwa verwirklicht innerhalb von Welt eine Interaktionsweise mit den Dingen (als „Besorgen“ von Heidegger gefasst) und Menschen (als „Fürsorge“ verstanden). Solche Sorge trachtet nicht allein einer berechnenden Zielerreichung
56 Auf Heideggers Konzeption solchen Daseins als formalen Ausdruck der menschlichen Existenz sei hier der Vollständigkeit halber verwiesen: „Dasein ist Seiendes, das sich in seinem Sein verstehend zu diesem Sein verhält.“ (Ebd. 52 f.).
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zu entsprechen, sondern sucht vielmehr den Bezug der eigenen Existenz durch aufmerksamen Umgang zu gestalten. „’Selbstsorge’ nach der Analogie von Besorgen und Fürsorge wäre eine Tautologie. Sorge kann nicht ein besonderes Verhalten zum Selbst meinen, weil dieses schon ontologisch durch das Sich-vorweg-Sein charakterisiert ist […].“ (ebd. 193; vgl. zum Themenfeld von Selbst und Sorge auch Foucault 1989)
Dieses Umgehen ist ebenso zugehend wie annehmend, ebenso formulierend wie antwortend zu verstehen. Denn das sorgende Gestalten weiß sich gerade ausgesetzt in die Welt, so dass „Sorge“ die besorgte Frage aufkommen lässt, wie das Nötige zu besorgen sei angesichts von Ordnungen, die sich dem Zugriff aus dem eigenen Zentrum entziehen. Das Existenzial der Sorge drückt eine Verfassung aus, die Antwort gibt auf die offenkundige Unmöglichkeit, sich selbst als Zentrum von Welt einzurichten und dennoch sich ‚verstehend zum eigenen Sein verhalten’ zu müssen. Auch weitere von Heidegger konzipierten Existenzialien – etwa: Befindlichkeit, Angst, Verstehen, Verfallen und Rede – bringen die dezentrierte und gleichfalls keineswegs nichtige Position der vernunftbegabten Menschen innerhalb von Welt zum Ausdruck. Die Befindlichkeit ist jenes Existenzial, das die dauernde Selbstübereignung des Daseins an die Welt darlegt (vgl. ebd. 139). Folglich ist nicht mehr eine zentrale Perspektive auf die Welt gegeben, sondern die Geworfenheit des Menschen überantwortet ihn der Welt als die Einheit bedeutsamer Bezüge (vgl. ebd. 364), in denen er sich vorfindet, ohne diese Einheit selbst leisten oder gar garantieren zu können. In den Worten Heideggers: „Seiend ist das Dasein geworfenes, nicht von ihm selbst in sein Da gebracht.“ (Ebd. 284) Die Angst – letztlich vor der Welt als solcher (vgl. ebd. 187) – wiederum bewirkt im Vollsinn des Wortes Entsetzen. Angst setzt heraus aus der Mitte behaglicher Selbstverständlichkeit, schiebt an den Rand und de zentriert somit die Position des Menschen in der Welt. Das hier gemeinte Verstehen ist seinerseits immer schon der Geworfenheit ausgeliefert und nachgerade kein Aktzentrum für reine Anschauungsformen, sondern angewiesen auf das, worin es sich erst nachgängig als Entwurf vorfindet: „[…]
57 Sprechendes Bild solch existenzialer Angst ist Edvard Munchs „Der Schrei“.
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als geworfenes ist das Dasein in die Seinsart des Entwerfens geworfen.“ (Ebd. 145) Das Verfallen bestimmt das Dasein der Menschen (vgl. ebd. 176), insofern es nicht als mangelhafter Zustand des souveränen Menschen zu verstehen ist, vielmehr jedoch als unauflösbare Bezogenheit auf die Welt hin. In solcher Weise ist gleichfalls kein Zentrum des Umganges, sondern der Aufenthalt bei dem zahlreichen und vielgestaltigen Menschen und Dingen in der Welt festzustellen. Menschen sind nicht nur in die Welt geworfen, sondern auch der Welt verfallen. Schließlich ist die Rede existenziale Aussprache des menschlichen Aufenthaltes in der Welt (vgl. ebd. 161) und hat dementsprechend nicht zunächst ein Zentrum als Ort, sondern eine Verwiesenheit auf den Bezug. Im bisherigen Sprachspiel dieser Studie ließe sich sagen: Rede als Existenzial verweist auf die Eingewobenheit der Menschen, die sich im Sprechen hin auf die Netzwerke der sprachbegabten Lebenswelt zum Ausdruck bringt. Unter dem Blickwinkel heideggerscher Phänomenologie dürfte ebenfalls deutlich geworden sein, dass Menschen auf unterschiedliche Weise einer zentralen Position innerhalb ihrer Welt verlustig gehen. Mit den skizzierten Dezentrierungen kann eine Identitätslogik nicht mehr aufrechterhalten werden, die für jedes „Ding“ nur eine einzige, allgemein gültige Bezeichnung gestattete. Dinge wie Menschen – so soll mit den bisherigen Ergebnissen der Untersuchung und nunmehr über Heidegger hinausgehend betont werden – erscheinen vielgestaltig. Je nach der Situation der im Feld der Erscheinung sichtbar werdenden Elemente ergeben sich vielfältige Formen und deswegen in der Schilderung unterschiedliche Einsichten, also in Vielzahl sichtbar werdende Wahrheiten.
2.3.8 Verschiedene Wahrheiten Nach dem zuvor Entfalteten gilt: Eine Theorie der Wahrheit kann nicht mehr die Frage aufwerfen oder gar beantworten, welche denn nun die ‚richtige Wahrheit’ wäre. Vielmehr kommt es mit Blick auf die Wahrheitsfrage sehr viel mehr darauf an, die Bezüge der verschiedenen Wahrheiten als unterschiedliche Auffassungen bezüglich eines zwischenmenschlichen Bezugs oder eines Dinges zum Ausdruck zu bringen. Wahrheit ist damit zu verstehen als Gefüge situationsgemäßer Einsichten, das sich höchstens mit
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anderen Gefügen in Bezug setzen lässt. Folgerichtig ist auch der Aussage zuzustimmen: „Ich glaube zu sehr an die Wahrheit, um nicht zu unterstellen, dass es verschiedene Wahrheiten und verschiedene Weisen, sie zu sagen, gibt.“ (Foucault 2007, 284)
Obgleich solche Bezüge die einzelne Situation bestimmen und an weitere anzuschließen vermögen, ist nach dem bislang zurück gelegten Denkweg dieser Schrift ein Wahrheitsbegriff jenseits vernünftiger, leibhaftiger, sozialer, geschichtlicher oder etwa auch sorgender Konkretheit, abgelöst von tatsächlichen Erfahrungen, nicht mehr nachvollziehbar. Allerdings bedeutet diese Auffassung von Wahrheit eine Herausforderung für die Aufgabe, übersituative und darin verlässliche Ansätze für zwischenmenschliches, nicht zuletzt: pädagogisches, Handeln zu finden (vgl. dazu auch 4.1.2 dieser Untersuchung). Hinweise auf die Tragweite dieser herausfordernden Aufgabe können durch verschiedenste Erfahrungen des pädagogischen Alltags belegt werden. So ist z.B. zu beobachten, dass Kinder in institutionellen Bezügen ein deutlich vom Freizeitleben unterschiedenes Verhalten zeigen. Die zurückhaltende und strebsame Schülerin des Physikunterrichts kann auf dem Fußballplatz zur durchaus hartgesottenen Stürmerin werden, ohne dass eine dieser beiden Verhaltensformen nun das „wahre Gesicht“ entpuppte und das andere schlicht einem Anpassungs- oder Imponiergebaren zuzurechnen wäre. Beide Äußerungen des Kindes zeugen vielmehr von seinen persönlichen Eigenschaften. Wer „dem Kind“ gerecht werden möchte, muss wohl nach dem Zusammenhang dieser und manch weiterer Verhaltensformen in den gegebenen Situationen fragen, um zu einem angemessenen Verständnis vorzudringen. „Pädagogischer Takt“ (Herbart) als Vermittlung zwischen der Einschätzung des kindlichen Verhaltens auf Seiten der Erwachsenen und deren Antwort auf das kindliche Handeln zeigt sich dann derart, dass mit unaufgeregter Zurückhaltung die Begegnung von PädagogInnen mit den Kindern gestaltet wird – offen und immer auf eine Überraschung gefasst. „So habe ich dich ja noch nie erlebt!“ muss dann nicht der vorwurfsvolle Ausruf eines überforderten Lehrers sein, sondern kann vielmehr Wertschätzung und Bestätigung für die verschiedenen Spielarten der situationsgemäßen Ausdrucksformen wiedergeben.
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Dieses Verständnis von Wahrheit, das sich am gegebenen Feld mit dessen vielzähligen Ordnungen orientiert, lässt sich mit den bislang entwickelten Überlegungen gestalttheoretisch bestimmen. Demnach ist Gestalt „ein Ganzes, das sich nicht auf die Summe seiner Teile reduzieren läßt“ (Merleau-Ponty 1986, 262). Insofern lassen sich weder Einzelaspekte der Dinge noch unterschiedliche Erfahrungen mit Menschen schlichtweg zusammentragen, um ein Verständnis von deren momentaner Verfassung zu erzielen. „Die Erfahrung einer Gestalt machen, bedeutet nicht, eine Koinzidenz empfinden, aber was dann? Sie ist ein Verteilungsprinzip, die Angel eines Systems von Äquivalenzen […]. Die Gestalt ist nicht ein raum-zeitliches Individuum, sie ist bereit, in eine Konstellation einzugehen, die Raum und Zeit übergreift – aber sie ist nicht frei im Verhältnis zu Raum und Zeit.“ (Ebd. 262 f.)
Es ist also nicht allein eine Bewusstseinsleistung der Erkennenden dafür verantwortlich, um aus der Wahrnehmung eine gestalttheoretisch relevante Einheit zu bilden. Vielmehr ergibt sich aufgrund der Ordnung im Feld die Einheit aus verschiedenen Elementen eines Dinges, aus verschiedenen Perspektiven eines handelnden Menschen oder des Erlebens eines Menschen und deren Bezügen zueinander. Der Mensch formt nicht zunächst denkend die Gestalt, sondern die Gestalt zeigt sich den Menschen durch ihre Ausformung im Feld und regt dann eventuell zum denkenden Interpretieren oder auch antwortenden Handeln an. Die erkenntniskritische Gestaltungsmöglichkeit durch die Menschen mindert sich vor diesem Hintergrund erheblich. Nicht die ‚Formen der Anschauung’ (Kant), noch der ‚Primat des Willens’ (Schopenhauer) oder gar der Überstieg hin zum ‚Übermenschen’ (Nietzsche) geben uns die Vollmacht, Dinge oder soziale Bezüge nach unserem Maß zu entwerfen. Stattdessen ordnen sich Mensch wie Ding erst in ihren vielfältigen Zusammenhängen und bilden in diesen Überkreuzungen brüchige Geflechte der Erkenntnis. Dies dürfte alles andere als dauerhafte Klarheit und Bestimmtheit ergeben: „In unentwirrbarer Konfusion sind wir der Welt und den Anderen beigemischt.“ (Merleau-Ponty 1966, 516) Doch hat es den Anschein, dass eine solche Verwirrung keinen schlichten Schadensfall aufgrund mangelnder Bereitschaft der Subjekte zum ordnenden Ausgleich darstellt. Vielmehr ist eine dergestaltige Irritation das Ergebnis der vielfältigen und indirekten Bezüge in der Welt. Diese Vielfalt
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und Vermittlung in den Bezügen bewirken die Undurchsichtigkeit der Welt und werden umgekehrt von ihr wiederum verstärkt.
2.3.9 Wahrheiten an den Rändern Ein Begriff kommt in Bewegung, den Aron Gurwitsch an prominenter Stelle seiner Phänomenologie etabliert hat: der des Bewusstseinsfeldes. Dieses Feld bestimmt Gurwitsch „als die Gesamtheit der kopräsenten Gegebenheiten“ (Gurwitsch 1975, 2), die nach seiner Auffassung als Gestalt durch den „autochthonen Charakter von Bewußtsein“ (ebd. 7) formiert wird. Hier gilt, dass ein Feld durch die gemeinsam gegebenen Teile geformt wird und das Bewusstsein darin aufgrund seiner ihm innewohnenden, „autochtonen“ Charaktere eine Gestalt bildet. Ist für Gurwitsch die Feldstruktur als solcherart bewussteinsphänomenologische Größe gebildet aus Thema – thematischem Feld – Rand, so setzt er eine konzentrische Struktur an, die er durch die Auffassung eines Randbewusstseins einzugrenzen sucht: „Der Terminus Randbewußtsein soll zum Ausdruck bringen, daß das jeweils Gegebene sich kreisförmig anordnen läßt. Im Zentrum dieses Kreises steht das Thema, dem wir zugewandt sind; es steht im thematischen Felde, das, um beim Bilde zu bleiben, die Fläche des Kreises ausmacht, und um dieses herum, an der Peripherie gleichsam, gruppiert sich das randmäßig Bewusste.“ (Gurwitsch 1929, 366)
Mit dem in der vorliegenden Schrift bislang Entwickelten kommt diese Position unter zweierlei Hinsichten in Bewegung: Zum einen lässt sich ein gemeinsames Zentrum von Thema und Feld angesichts der Untersuchungen lebensweltlicher Verflechtungen nicht durchgängig aufrechterhalten. Vielmehr ist das Zentrum durch die Dezentrierung des Subjektes und des Themas innerhalb eines Feldes zu ersetzen. Subjektivität und Themen des Feldes gruppieren sich häufig nicht um ein gemeinsames Zentrum, werden nicht von einem einheitlichen Bezugspunkt geordnet, sondern zeigen sich „verschoben“. Sichtbar wird diese Dezentrierung in Phänomenen wie dem Aneinander-vorbei-Sprechen oder auch nicht feldkonformen Verhaltensformen eines Menschen (vgl. dazu etwa für das Feld des akademischen Studiums Schmitt 2010). Zum anderen aber kann auch die Zentrierung innerhalb des Subjektes nicht mehr aufrechterhalten werden. Denn die ver-
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schiedenen Formen der Wahrnehmung wie der solcherart karnierten Vernunft versetzen das Subjekt mindestens in die prekäre Lage der internen Verschiebung, Eigenes und dieses Eigene Wahrnehmendes zu unterschei den (vgl. auch Zahavi 2005, 99 f.). Die bewusstseinsphänomenologische Theorie wird mit den bislang erarbeiteten analytischen Ausgangspunkten der vorliegenden Arbeit somit gleich an zwei Stellen kritisiert, da sie den ‚Ort’ des Themas ebenso einseitig und folglich unterbestimmt lässt wie die vermeintliche Unerlässlichkeit der Funktion des Subjektes im besagten Geschehen unterstreicht. Diese Vernachlässigungen können jedoch anhand der verwendeten Begriffe ausgewiesen und über den Rückbezug auf transzendentalphilosophische Nachlässe aufgeklärt werden. Eine solche Wirkung des kantischen Erbes in Gurwitschs Arbeiten verwundert indes umso mehr, als er durchaus Ergebnisse formulierte, welche die Dezentrierung des erkennenden Subjektes zumindest nahe legen. Denn gerade mittels der Aufnahme gestalttheoretischer Ansätze wurde ihm deutlich, dass eine Veränderung der Rahmungen einer Gestalt sie selbst verändert. So unterstreicht er bereits in seiner Dissertation: „Die Behauptung der Subjektivität der Aufmerksamkeit im Sinne der Ichhaftigkeit ruht auf der Lehre, daß Wandlungen der Aufmerksamkeitsrichtung den sachlichen Bestand des Gegebenen nicht tangieren.“ (Gurwitsch 1929, 364)
Werde die Aufmerksamkeit von einem Element auf ein anderes verschoben, so werde weder das zuvor mit Aufmerksamkeit Bedachte noch das neu in den Blickpunkt Gerückte in seinen sachlich sichtbaren Gegebenheiten verändert. Dies stellt Gurwitsch jedoch grundsätzlich in Frage: „An Stelle des ‚identischen noematischen Kerns’ der Husserlschen Lehre […] tritt in der hier vertretenen Auffassung folgender Sachverhalt, der in dem allgemeinen Überführungsgesetz seinen Ausdruck findet. Jeder Gegebenheit sind andere Gegebenheiten, jedem Thema in seinem thematischen Felde sind andere Themen in ihren Feldern zugeordnet, so daß in einer jeweils vorliegenden Bewußtseinslage Möglichkeiten des Übergangs gesetzlich vorgezeichnet sind.“ (Ebd. 365)
58 Auf diese Weise rücken die hier vorgelegten Untersuchungen in die Nähe der von
Foucault
diskutierten
(Foucault 2008, 389).
„empirisch-transzendentalen
Reduplizierung“
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Gurwitsch kritisiert die von Husserl als „identischen noematischen Kern“ aufgefasste ‚nukleare Struktur‘ der Dinge, wobei letztere durch einen Bestand an klar beschreibbaren Eigenschaften identifiziert werden könnten. Gurwitsch hingegen betont die Wirkungen der verschiedenen Themen im Feld, so dass nach seiner Auffassung der Wechsel von einer Einschätzung („Bewußtseinslage“) in eine andere möglich ist. Nun aber könnte einem Ding der identifizierbare „identische noematische Kern“ nicht mehr zugesprochen werden. Denn was sich je nach Feld unterschiedlich zeigt, kann dann lediglich noch in Abhängigkeit von diesem Feld identifiziert werden. Über dieses Feld hinaus sind allenfalls Analogien auszumachen. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Frage, welche Auffassung Gurwitsch im Hinblick auf das Subjekt erlangt. Hängt die Subjektivität als Struktur des wahrnehmenden Ich mit dem Wahrnehmen zusammen und gewinnt von dorther in einer einheitlichen Struktur des Wahrnehmens ihre Stetigkeit, so ist sie gerade dann nicht mehr möglich, wenn diese Bewusstseinsstruktur aufgehoben wird. Genau dies aber stellt Gurwitsch heraus, wenn er den „identischen noematischen Kern“ in Zweifel zieht. So lautet denn auch das Ergebnis seiner diesbezüglichen Diskussion: „Nirgends finden wir bei den attentionalen Modifikationen ein ‚reines Subjekt des Aktes’ beteiligt; diese Modifikationen stellen sich nicht dar als Wechsel der Ichzuwendung oder als Wanderung des Ichblicks. Die phänomenologisch getreue Deskription findet kein reines Ich, das in den cogitationes lebt, und keinen ‚aufmerkenden Strahl’, der ‚vom reinen Ich ausstrahlt und im Gegenständlichen terminiert’.“ (Ebd. 366; verweist auf Husserl)
Es scheint, als habe Gurwitsch den Weg von der Kritik an der Dingidentität hin zum fraglich gewordenen Subjekt vermieden, um stattdessen den Weg der Wandlung von Gestalten („Modifikationen“) hin zum Wandel der Wahrnehmung – je nach Feld – einzuschlagen. Dass beide Strukturänderungen wiederum voneinander abhängen, jedoch nicht bewusstseinsphilosophisch, sondern in ihren Feldstrukturen zu sehen sind, konnte offenkundig erst später gezeigt werden. Merleau-Ponty nämlich sah sich in der Lage, deutlich zu machen, dass aus der Struktur Nahes – Fernes – Horizont eine Wahrheit entspringt, die den unterschiedlichen Blickwinkeln innerhalb dieses Systems ‚gehorcht’ (vgl. Merleau-Ponty 1986, 40 f.).
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Doch zurück zur Feldstruktur: Die von Gurwitsch noch in kantischer Weise kritisierte Wahrnehmung des Dinges erfolgt in der Auffassung einer Phänomenologie, die nicht auf dem Grund eines intentionalen Bewusstseinslebens ruht. Eine solche Auffassung kann mit Gurwitsch als nonegologische bezeichnet werden. Solcherart werden Wahrnehmendes – Wahrgenommenes – Wahrnehmen miteinander verflochten: „Das Subjekt der Wahrnehmung bleibt uns unzugänglich, ehe wir uns nicht aus den Alternativen von naturatum und naturans, von Empfindung als Zustand des Bewußtseins und als Bewußtsein eines Zustandes, von Existenz an sich und Existenz für sich befreien.“ (Merleau-Ponty 1966, 245)
Daher sind an der Stelle des Ansich eines Dinges vielmehr Felder zu denken, die sich überschneiden und subjektive Sichtweisen integrieren. Die ehemaligen Trennlinien „von Empfindung als Zustand des Bewußtseins und als Bewußtsein eines Zustandes“ lassen sich nicht mehr aufrechterhalten. Wechselseitige Formungen und Beziehungen ersetzen die vormalige Zweipoligkeit der Wahrnehmung. Dies hat nachhaltige Konsequenzen: „Ich darf mich nicht mehr in der Welt im Sinne der ob-jektiven Räumlichkeit denken, denn dies würde darauf hinauslaufen, daß ich mich selbst setze und mich im uninteressierten Ego einrichte – Das kausale Denken wird ersetzt durch die Idee der Transzendenz, das heißt durch die Idee einer Welt, die aufgrund und dank der Inhärenz in dieser Welt gesehen wird, die Idee einer Intra-Ontologie, eines umfangendumfangenden Seins, einer Dimensionalität – / Und die damit zusammenhängende Gegenbewegung der Reflexion (die Immanenz der ‚Idealisten’) wird ersetzt durch die Falte oder Höhlung des Seins, die grundsätzlich ein Außen hat, durch die Architektonik von Konfigurationen.“ (Merleau-Ponty 1986, 288)
Anstelle eines Selbstbildes vom „Fremden in der Fremde“ wird unter dieser Maßgabe Merleau-Pontys der Mensch nun ‚Feld im Feld’ (vgl. ebd.). In dieser Form nämlich ist er eingebettet und verbunden mit dem, was er als Welt einerseits als nicht mit sich Identisches erfährt, von dem er aber andererseits auch nicht getrennt sein kann. Die Ordnungen innerhalb der wahrnehmbaren Welt zeigen jeweils Strukturen, die ein Innen und ein Außen vorgeben, ohne jedoch die ‚Äuße-
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ren’ gänzlich abzutrennen. Die LehrerIn im Unterricht etwa ist weder „innerhalb’ der Schulklasse noch „außerhalb“: Wäre sie gänzlich darinnen, könnte sie keine neuen Impulse setzen, keine unbekannten Inhalte anbieten und keine Systematik von Lerngelegenheiten praktizieren, da ein Wissensvorsprung und didaktische Regiequalitäten sie von den anderen unangemessen trennten oder aber von diesen gar nicht als passend aufgefasst würden. Wäre sie gänzlich draußen, kämen ihre Impulse nicht mehr an – sie würden als befremdlich, unverständlich und unpassend schlicht von den SchülerInnen nicht angenommen werden können. Durch die Ordnung „Schulunterricht“ entsteht ein Begegnungsraum, der Felder eröffnet, um Lern-Gelegenheiten gestalten zu können. Gerade die „dritte Dimension“ der Feldstruktur macht möglich, dass anstelle der Frontstellungen von Menschen und Dingen oder – wie im schulpraktischen Beispiel – von Menschen unterschiedlicher Positionen innerhalb einer gegebenen Ordnung nunmehr wechselseitige Verbindungen innerhalb des jeweiligen Feldes möglich werden. Die in Frage stehenden Felder werden keineswegs ausschließlich durch die Bewusstseinsleistung geformt. Vielmehr nehmen sie das leistende Bewusstsein ebenso wie die leibliche Struktur oder die Dinge in sich auf und bringen sie als einander Antwortende in Beziehung. Die vorgegebene Struktur einer Ordnung, in der unterschiedliche Positionen einander zugeordnet werden, bleibt stets in ihrer Doppeldeutigkeit vorgegeben. Diese Ambiguität dessen, was sich zeigt, ist kein durch Bewusstseinsleistung abzuschaffender Makel der menschlich beschränkten Erkenntnisfähigkeit, sondern schlicht die vorgegebene Ordnung der Elemente im gegebenen Feld. Was sich zeigt, kann nicht geradehin, begrifflich und seine Identität vereindeutigend abgebildet werden, sofern es durch eine dezentrierte Subjektivität wahrgenommen wird. Stattdessen muss, was sich zeigt, in seiner Vielgestaltigkeit, Doppeldeutigkeit und Undurchsichtigkeit nachgezeichnet werden. Darin gleicht die von Merleau-Ponty formulierte Phänomenologie durchaus der „Kritik der ableitenden Vernunft“ (Gamm 1994, 84), die sich dem Satz vom zureichenden Grund versperrt, um nicht einer begrifflichen Bestimmung des Unbestimmten in allem, was sich zeigt, zu erliegen. Demzufolge zeigt sich an der Stelle des vom Bewusstsein geformten Feldes eine diesem vorgängige Struktur. Denn nach dem bislang dargelegten Verständnis formt nicht das Bewusstsein zunächst das Wahrnehmbare. Die in Frage stehende Erscheinungsstruktur ist zunächst unabhängig vom
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Subjekt (vgl. Kapitel 3 dieser Schrift). Merleau-Ponty entscheidet sich vielmehr für das „Wahrnehmungsfeld“, das durch die fleischliche Kreuzung von Leib und – an dieser Stelle: – Tastbarem eröffnet wird: „[…] die Tasterfahrung vollzieht sich ‚mir zuvor’ und ist nicht in mir zentriert. Nicht ich bin es, der berührt, sondern mein Leib; berührend denke ich nicht ein Mannigfaltiges, vielmehr finden sich meine Hände in einem bestimmten ihrem Bewegungsvermögen zugehörigen Stil, und eben dies will die Rede von einem Wahrnehmungsfeld eigentlich sagen: Die Wirksamkeit der Berührung setzt voraus, daß das Phänomen in mir sein Echo findet, mit einer gewissen Natur meines Bewußtseins zusammenstimmt, daß das ihm begegnende Organ mit ihm synchronisiert ist.“ (Merleau-Ponty 1966, 366)
Für die so verstandene Wahrnehmung lässt sich festhalten, dass sie nicht mehr allein als Bewusstseinsleistung verstanden wird, sondern mit dem bislang zurückgelegten Argumentationsgang gerade als Kontaktnahme auf unterschiedlichen Wegen – z.B. mit dem des Tastsinnes – zu verstehen ist. Wahrnehmung erfolgt unter dieser Hinsicht mit verschiedenen Übergängen der Wahrnehmenden und mit verschiedenen „Eingängen“ in deren Verstehen. Wird ferner der bereits angesprochene Entzug mitgedacht, erfolgt aus diesem Verständnis ein Eingebundensein in die Windungen der lebensweltlichen Bezüge, so dass das fragliche Feld zum „Erfahrungsfeld“ (Waldenfels 1987, 54) wird. Das Erfahrungsfeld macht in der Dramaturgie des Kräftespiels auch den Entzug als negativ Erfahrbares, weil durch sein Fehlen eine Kluft Öffnendes, nicht aber als positiv Wahrnehmbares oder gar durch die Leistungen des Bewusstseins zu Entwerfendes kenntlich. Denn Erfahrung als raumzeitliche Abfolge der Subjektivitätsstruktur angesichts von Kräften und Prozessen kommt nicht allein mit dem in ‚Fühlung’, was sich unmittelbar zeigt, sondern auch mit dem, was entweder vermisst wird oder wovon Leerstellen im Feld Auskunft geben. Zu denken ist etwa an Situationen, in denen sich während des Zuhörens der Eindruck einstellt, das Gegenüber wolle etwas verheimlichen. Gestik, Mimik oder auch Sprachgeschwindigkeit machen deutlich, „dass hier etwas nicht stimmt“, weil entweder erwartbare Auskünfte sprachlich umgangen werden – das sprichwörtliche „Reden um den heißen Brei“ – (Vermisstes) oder weil erwartbare Fortführungen nach dem Gesagten – etwa als vereinbarte Handlung – nicht
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erfolgen (Leerstelle im Feld). Was dieses Entzogene aber jeweils ist, muss noch nicht unbedingt deutlich werden. Angesichts von Uneindeutigkeit, Perspektivität und etwaigem Widerstreit der Dinge soll im Sinne der für diese Schrift gewählten hermeneutisch-phänomenologischen Methodik ein abtastendes Sprechen im Angesicht der Phänomene gesucht werden. Auf diese Weise nämlich müssen weder Vollständigkeit noch volle Richtigkeit beabsichtigt werden, sondern es ist nunmehr eher darzustellen, was sich dem Subjekt im Abschreiten des Wahrnehmungsfeldes zeigt und was sich ihm als Entzogenes zumindest andeutet. Es entsteht eine „Hyperphänomenologie“ (Waldenfels 1994, 18), die auch das Abwesende im sich Zeigenden thematisiert. Die nonegologischen und asubjektiven Widerrufe auf den mit einer Identität ausgestatteten Menschen (vgl. Schaller 2004, 63) müssen darin eigens zum Thema werden. Dies gilt nicht zuletzt, um die enorme „Anstrengung“ der Selbstorganisation als Subjekt angesichts von Dezentrierung (vgl. Fuchs 2004, 181) angemessen einschätzen zu können, die Menschen in der Moderne aufbringen müssen, um sich der Forderung nach Identifizierbarkeit auch in Bildungsprozessen fügen zu können, obgleich ihre Bezüge mit der Lebenswelt alles andere als eindeutig sind. Der Perspektive einer solchen subjektiv-lebensweltlichen Uneindeutigkeit und deren bildungstheoretischen Konsequenzen ist die folgende Untersuchung gewidmet, die ihren Leitfaden aus der asubjektiven Phänomenologie Jan Patoþkas gewinnt.
III. Asubjektivität nach Jan Patoþka „Was aber wäre, wenn die Philosophie nicht zu Gewißheiten, sondern zu Ungewißheiten führte, was, wenn es schwieriger wäre, den Ursprung aller unserer Gewißheiten zu erfassen, als naiv Gewißheiten zu erlangen?“ PATOýKA 1990, 66
Wurden in den ersten beiden Kapiteln dieser Schrift die Ansätze und Möglichkeiten für einen modernen Bildungsbegriff kritisch gesichtet und anschließend unter dem Blickwinkel dezentrierter Perspektiven dekonstruiert, soll im nun folgenden Teil eine weitere phänomenologische Position zur Sprache kommen, die ihrerseits die Skepsis hinsichtlich subjektiver Machtformen aufgreift. Chance eines solchen Vorgehens ist die Weiterführung der bisherigen Überlegungen für den Bildungsdiskurs: Wenn Subjektivität nicht die Grundlage für eine an Identität orientierte Bildung sein kann, was ist dann der Ausgangspunkt – und in welchen Zielpunkt soll ein solcher Prozess dann münden? Wenn Subjektivität als Folge von materiellen, historischen, sozialen, kulturellen und politischen Gegebenheiten verstanden werden kann, was ermöglicht dann ein Bildungsgeschehen, in dem Menschen zu ihrem modernen Selbstverstehen gelangen? Welche Konsequenzen hat dann ein nicht mehr subjektivistisches Bildungskonzept? In dieser Hinsicht nutzt die anschließend skizzierte Position nicht mehr die Mittel der transzendentalen Phänomenologie, indem sie die Bedingungen möglicher Erkenntnis (vgl. bereits Kant KrV B XVI) im Konzept der Subjektivität
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verortet, sondern transformiert Subjektivität als Ergebnis einer rationalen Selbstkritik der Phänomenologie. Dabei sind die hier vorgestellten Antworten auf den obigen Fragenkatalog dem Denken Jan Patoþkas (1907 – 1977) entlehnt, der allerdings nicht als einziger einen solchen „asubjektiven“ Ansatz verfolgte. Marc Richir nämlich macht deutlich, dass auch „Merleau-Ponty, wenigstens in seinem letzten Werk, die asubjektive Phänomenologie praktizierte, ohne es zu wissen.“ (Richir 1994, 79) Richir belegt seine Auffassung mit dem Hinweis darauf, dass asubjektive Phänomenologie etwas sichtbar werden lasse, das nicht zuerst mit dem cogito erfasst werden könne. Diese Perspektive außerhalb des Diktats eines „Ich denke“ soll im Folgenden entlang des Leitfadens einer asubjektiven Phänomenologie nach Jan Patoþka entwickelt werden. Zu diesem Zweck wird zunächst, in einem eher tastend formulierten Zugang, das Erscheinen von Phänomenen aus dem Blickwinkel Patoþkas exponiert und hinterfragt werden, um in einem zweiten Schritt dessen Auffassungen zur Feldstruktur des Erscheinens entfalten zu können. Auf diese Weise kann im dritten Schritt die zentrale Frage dieser Untersuchung bearbeitet werden – die nach der Subjektivität in transformierten epistemologischen Zusammenhängen. Zum Schluss dieses Kapitels können dann erste Ergebnisse für die damit einhergehenden bildungstheoretischen Gesichtspunkte vorgestellt werden. Deren ausführlicher Entfaltung wird sich das anschließende Kapitel dann ausführlicher annehmen.
3.1 D AS E RSCHEINEN
DER
P HÄNOMENE
Mit Blick auf das neuzeitliche Verständnis des Ich als Grundlage der Subjektivität kritisiert Jan Patoþka das Motiv der Gewissheit des Selbstbewusstseins. Daher können seine diesbezüglichen Überlegungen als anschlussfähig an die im ersten Teil dieser Studie entwickelten subjektkritischen Überlegungen gesehen werden. Seine Anfrage weiterführend merkt Patoþka an: „Das sich selbst denkende Ich darf nicht schon deshalb zum Ausgangspunkt allen Wissens gemacht werden, weil es die erste Gewißheit ist.“ (Patoþka 1990, 66)
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Diesbezüglich kommt insbesondere die Frage nach der Gewissheit und ihrem Ursprung auf: „Was aber wäre, wenn die Philosophie nicht zu Gewißheiten, sondern zu Ungewißheiten führte, was, wenn es schwieriger wäre, den Ursprung aller unserer Gewißheiten zu erfassen, als naiv Gewißheiten zu erlangen? Wer kann darauf a priori eine Antwort geben?“ (Ebd.)
3.1.1 Das Erscheinen als geschichtliches Jan Patoþka stellt sich insbesondere der Frage, wodurch Erscheinen innerhalb von Welt bewirkt wird – und kommt zu einer überraschenden Perspektive: Erscheinen wird ermöglicht durch Geschichte: „Die Öffnung der Welt ist […] in all ihren Gestalten immer geschichtlich, sie ist angewiesen auf das Sich-Zeigen der Phänomene und auf die Tätigkeit der Menschen, die aufbewahren und tradieren.“ (Patoþka 2010, 29)
Insofern sind die Erscheinungen für Patoþka möglich durch geschichtliche Abläufe und das Mitwirken der Menschen. Erscheinen ist daher Folge von Abläufen innerhalb der Welt und den sich mit ihnen befassenden Menschen. Mehr noch: Nicht allein die Eröffnung des Erscheinungsfeldes wird erst durch geschichtliche Abläufe möglich, so Patoþka, sondern Erscheinen ist schlichtweg geschichtlich. Diese unter phänomenologischer Hinsicht zunächst ungewohnt erscheinende Blickrichtung auf das Erscheinungsgeschehen wird jedoch bei näherem Zusehen verständlicher. Denn aufgrund der geschichtlich vorgenommenen „Verstellungen, Verdeckungen und Verschüttungen“ von Sachverhalten kommt auch die subjektive Vernunftleistung an ihre Grenzen. Die in der Phänomenologie unter methodischer Hinsicht so bedeutende Epoché, die als phänomenologischer Verzicht auf die Weltthese verstanden werden kann (vgl. auch Micali 2008, 35), setzt die
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aktuellen Meinungen über die Dinge außer Kraft. Indem nämlich das Phänomenologie treibende Subjekt sich der These enthält, dass es eine Welt gebe, die das Phänomen in Raum und Zeit mit seinen Eigenschaften beinhaltet und es dadurch charakterisiert, werden nach Auffassung der transzendentalen Phänomenologie dessen Eigenheiten ohne die Beeinflussung der Welt sichtbar. Das Phänomen der Epoché zeigt sich, so diese Auffassung weiter, in seiner Gestalt, ohne innerhalb der Welt einen festen Platz einnehmen zu müssen oder zu können (vgl. auch Novotný 2011, 332 ff.) und von diesem weltlichen Milieu (vgl. auch 2.3.4 dieses Bandes) bestimmt zu werden. Dass im Zuge dessen auch die Weltstrukturen in ihrer Formalität sichtbar werden können, hat Patoþka deutlich gemacht (vgl. Novotný 2003, 166 ff.). Jedoch werden diese Strukturen nicht der Immanenz einer erkennenden Subjektivität zugeschrieben (vgl. auch Novotný 2010, 171). Es soll nun insbesondere ein geschichtliches Verfahren den früheren Verdeckungen der Phänomene auf die Spur kommen, um die „Sachen selbst“ in den Blick nehmen zu können (vgl. Patoþka 1991, 438 f.; ferner Merlier 2009, 151 ff. sowie Findlay 2002, 83 ff.). In seinem spezifischen Zugang nimmt Jan Patoþka die Tradition der Phänomenologie auf und führt sie geschichtsphilosophisch weiter. Mit dieser Perspektive steht er im phänomenologischen Diskurs keineswegs isoliert da. Denn der Geschichtsbegriff in der Phänomenologie findet sich sehr deutlich ebenso bei Husserl wie bei Heidegger (vgl. Patoþka 2010, 65 ff.). Für Patoþka hingegen entsteht Geschichte als die Erschütterung des bislang von einer Kultur akzeptierten Sinnverständnisses (vgl. ebd. 87; vgl. diesen Ansatz interpretierend Novotný 2011). Dies macht Patoþka umfassend mit seinen Studien zur Kulturgeschichte Europas deutlich (vgl. Patoþka 2006 und 2002; vgl. auch Blaschek-Hahn 2003, 140 ff.). Europa nämlich ist nach seinem Verständnis kulturgeschichtlich durch eine ‚Sorge für die Seele‘ geprägt. Für ihn steht das Ich als „unser eigenes, volles und unveräußerli ches Sein“ (Patoþka 2010, 123) am Anfang der Geschichte.
59 Zur erkenntniskritischen Zurückweisung der Epoché vgl. bereits den frühen Adorno aus dem Jahr 1937 in ders. 1997 XX.1, 49 sowie in grundsätzlicher Skepsis zum „Vernunftcharakter“ der Phänomene ebd. 55. 60 Dass man denselben Begriff weniger egologisch, sondern vielmehr im Hinblick auf „Technologien des Selbst“ interpretieren kann (vgl. etwa Foucault 2007, 287
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Im Unterschied zu manch anderer historischer Deutung des Werdeganges von Europa ist jedoch bei Patoþka diese Sicht ohne den Gottesbegriff gezeichnet (vgl. Chvatík 2003, 16). Daraus erwächst im Vergleich zu den sonst gebräuchlichen Auffassungen eine kulturell unterschiedliche Einschätzung des Europa-Gedankens. Diese Einschätzung könnte nicht allein die gegenwärtigen Debatten um die europäischen Einigungsprozesse – etwa hinsichtlich der Frage nach einem Werte-Konsens – beeinflussen, sondern dürfte bereits in systematischer Hinsicht einige geschichtsphilosophisch überraschende – und im Jargon Patoþkas „ketzerische“ – Einschätzungen ermöglichen. Gerade diese abweichlerischen Verständnisformen dürften die weitere Erörterung der Fragen nach Geschichte, Menschen in europäischer Hinsicht und Asubjektivität stark beeinflussen, wie noch gezeigt werden soll.
3.1.2 Das Erscheinen im Handeln Im Detail zielt Patoþkas Auffassung von Geschichte auf ein Bemühen um Verständnis der erscheinenden Dinge. Diese Auffassung verlangt jedoch nicht nach Lehrsätzen und vernünftigen Systematiken, sondern richtet sich allererst auf Handeln (vgl. Chvatík 2007, 200 f.). Indem das Christentum bereits im Ausgang aus der Antike ein „redi in te ipsum“ (Augustinus), die meditative Einkehr bei sich selbst, bevorzugte, bahnte es – so die These innerhalb der im Folgenden ausgeführten Patoþka-Forschung – die Möglichkeit eines Selbst- und Weltverständnisses unter der Maßgabe der mathematisierten Naturwissenschaften an. Denn das Bemühen, die Welt von einem persönlichen Innenleben aus zu durchschauen und sich in deren Mitte, machte schließlich die Vorstellungen von Mathematik und Metaphysik als Denkformen möglich. Diese eröffnen die Perspektive auf ein (epistemologisch konzipiertes) Innenleben der Menschen, von dem aus zugleich die Welt erkennbar und durchschaubar werden solle. Die Transparenz von Welt und Selbst wurde Leitmotiv des Erkennens (vgl. Chvatík 2003, 11 f.). Damit aber war über lange Zeit eine bestimmte Form festgeschrieben, die in
ff.), wird der anschließend auswertenden Diskussion noch einige weitere Impulse verleihen. Vgl. dazu 4.1.1 dieser Schrift.
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der Welt erscheinenden Dinge und sich selbst zu deuten – mathematisch strukturiert und metaphysisch ausgespannt. In diesem Zusammenhang ist das Verhältnis von Erscheinen und Verstehen der Erscheinungen in der Sichtweise Patoþkas von besonderer Bedeutung: Was sich als Seiendes zeigt, entspricht nach seiner Auffassung einerseits der Weise, wie Menschen Sein verstehen, und verdeckt doch andererseits häufig dieses Verstehen, weil bestimmte, etwa kulturell und geschichtlich bedingte Seh- und Denkgewohnheiten andere Möglichkeiten ausschließen. Somit kann Seinsverstehen nur um den Preis des Kampfes um ein solches Verständnis errungen werden (vgl. Chvatík 2007, 187). Mit diesem Blickwinkel vermag Patoþka wiederum, seine asubjektive Sichtweise ins Spiel zu bringen, da auf diese Weise nicht eine bestimmte Form von Subjektivität das Erscheinen aus sich entlässt oder gar konflikthaft die Wirklichkeit zu verstehen meint: „Die asubjektive Phänomenologie ist keineswegs eine Philosophie, die das Ende des Subjektes erklärt. Sie kennt nicht nur die Subjektivität des gelebten Leibes, der handelnden und für ihre Handlungen verantwortlichen Person, sie kennt auch die ‚transzendentale Subjektivität’, die sich in der Einstellung der Epoché die Welt zeigt.“ (Novotný 2003, 163; vgl. zudem Patoþka 1970)
Die Erkenntnisse aus der Epoché weiterführend wird der Blick insbesondere auf die Bedeutung von Geschichte gelenkt, um ein Verständnis für die Gegebenheiten, eine Seinslehre zu entwickeln. Durch diesen Bezug zum Denkstil Heideggers gelingt es Patoþka, das Gefüge des Ich zu überschreiten, das Husserl in den transzendentalphänomenologischen Vorgang der Formung des Phänomens eingezogenen hatte (vgl. dazu auch die auf Husserl rekurrierende Perspektive in E. Fink 1988). Es ist nicht mehr ein
61 An dieser Stelle sei ausdrücklich vermerkt, dass hier wie auch im Folgenden lediglich Patoþkas Kritik an der Transzendentalphänomenologie referiert und weitergeführt werden soll, da die vorliegende Schrift unter systematischer Hinsicht dieser Perspektive besondere Bedeutung beimisst. Dass Husserl durchaus alternative Optionen in seiner Philosophie vorzutragen wusste, sei jedoch ebenso wenig verschwiegen (vgl. etwa Husserl 1952; 1966; 1991; zudem Lee 2002, 50 ff.) wie diesbezüglich zu bedenken gegeben werden soll, dass er solche Passivität bezogen sah auf die Aktualisierung hinsichtlich eines zentralen Ich: „Da aber
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fungierendes, beobachtendes oder anderweitig aufgefasstes Ich, das dann die Aufgabe der Erscheinung und des Erkennens kraft eigener Subjektivität hätte. Vielmehr geht nach Patoþkas Auffassung das Sein dem Menschen voraus, der ontologische Konflikt dem menschlichen Erkennen und schließlich auch das Erscheinen der Dinge dem subjektiven Formen reiner Anschauung. Erscheinen im Feld der Geschichte ereignet sich daher nach Patoþka vor aller Formierung durch eine Subjektivität. In den geschichtlichen Bezügen ist das menschlich-zentrierte Selbstverstehen offenkundig nicht mehr in der Lage, die lebensweltlichen Prozesse allein aus eigener Kraft zu bestimmen. Vielmehr spielen die Menschen ihre Rollen gemeinsam mit anderen Strängen im lebensweltlichen Netzwerk. Die Achsen von Wissen – Macht – Ethik (vgl. Foucault 2007, 188 f.) etwa sind nun nicht schlichte Spielarten moderner Subjektivität, sondern vom Subjekt abgelöste Diskurse, Ordnungen oder auch Technologien, die erst in ihrer Verflochtenheit mit den Arealen des Subjekts auf dessen Strukturen Einfluss nehmen können. Diese Impulse aufgreifend, lässt sich festhalten: Das Individuum bestimmt unter der Perspektive Jan Patoþkas keineswegs seine Bildungsprozesse, indem es sich aus eigener Vollmacht auf den Weg dazu machte. Vielmehr sind Menschen darauf angewiesen, sich den geschichtlichen Gegebenheiten zu stellen und auf deren Freiräume wie Begrenzungen eine individuelle Antwort zu suchen. Dies machen etwa jene Biografien deutlich, die durch den letzten Weltkrieg daran gehindert wurden, eine ungestörte Abfolge bildender Prozesse durchlaufen zu können und sich trotz dieser Widerstände als gebildete Menschen erweisen. Ähnliches gilt für jene MigrantInnen, die gegenwärtig den Weg nach Europa suchen und in ihren Herkunftsländern problematische Verhältnisse der Bildungsmöglichkeiten vor-
stoßen wir bald auf Wesensgesetzmäßigkeiten einer passiven, teils aller Aktivität voranliegenden, teils alle Aktivität selbst wieder umgreifenden Bildung von immer neuen Synthesen, auf eine passive Genesis der mannigfaltigen Apperzeptionen als in einer eigenen Habitualität verharrender Gebilde, die für das zentrale Ich geformte Vorgegebenheiten scheinen, wenn sie aktuell werden, affizieren und zu Tätigkeiten motivieren.“ (Husserl 1991, 82; zum Bezug auf ein Ich vgl. bereits Seebohm 1962, 101 sowie jüngst mit dem Hinweis auf ein Ego, das jedoch (noch) nicht aktiv werde Mohanty 2011, 302: „At the level of passivity there are […] feelings without active ego-participation“.).
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gefunden haben (zu deren wiederum, wenn auch anders gelagerten, problematischen Perspektiven im aufnehmenden Kulturkreis vgl. etwa die Beiträge in Koller/Kokemohr/Richter 2003 sowie Böhmer 2013a). Bildung im entwickelten und auf Patoþka Bezug nehmenden Sinn entspricht einer ‚Freiheit in der Notwendigkeit‘, die ihre Formatierung in, mit und nicht selten trotz lebensweltlicher Maßgaben erfährt.
3.2 D AS E RSCHEINUNGSFELD Jan Patoþka entwirft eine phänomenologische Philosophie, die ausgehend von den Ansätzen insbesondere bei Husserl und Heidegger danach fragt, wie Erscheinen möglich ist (vgl. Novotný 2003, v.a. 172). Dabei folgt er dem Ansatz, sich der Trennung von Subjekt und Objekt kritisch anzunähern; weder misst er dem einen noch dem anderen von vornherein den philosophischen Vorrang für das Erscheinungsgeschehen zu. Was sich zeigt, muss dies nach Patoþka in einer Bewegung tun, welche die jeweils sichtbar werdende Gestalt aus dem allgemein unübersichtlichen und zergliederten Hintergrund des Erscheinungsgeschehens entlässt, um sie als einheitliche Gestalt zum Erscheinen gelangen zu lassen (zur Gestalttheorie vgl. auch 2.2.1 dieser Schrift). Genauer ist nun zu fragen, wie solches Erscheinen verstanden werden kann. Husserl etwa hatte seine transzendentale Phänomenologie so entworfen, dass sich Erkennen und Erkanntes im Bewusstsein des Subjekts finden lassen. Patoþkas asubjektive Phänomenologie hingegen „will das erfassen, was Husserl bei seinem ‚korrelativen Thema’ entgeht: nämlich den Vorrang des Erscheinens selbst.“ (Blecha 1995, 81; vgl. auch Richir 1994, 69 f.) Dieses Erscheinen wiederum ist keines, das sich einzig dem Subjekt „gibt“, wie sich in Anlehnung an Heideggers Auffassung eines Daseins nahelegen könnte, das dem Sein gegenüber offen und auf dieses ausgerichtet ist. Bevor die asubjektive Auffassung jedoch näher dargelegt und analysiert werden kann, sei mit wenigen Schlaglichtern der geistesgeschichtliche Hintergrund der Frage nach dem Erscheinen beleuchtet (vgl. Patoþka 2000, 154 ff.), um sie historisch zumindest in Anfängen einordnen und deren Konsequenzen im Folgenden nutzen zu können. Während bekanntermaßen Platon das Erscheinen mit den Begriffen von Bild und Abbild darzustellen suchte,
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bei dem das Abbild einen niedrigeren Seinsrang als das originale Bild einnehmen sollte, ging Aristoteles seinerseits davon aus, dass sich Erscheinungen in der formgebenden „Seele“ zeigen. Leibniz wie Kant wiederum fassten später die Erscheinungen als von der Vorstellung geprägt auf, wobei Kant dieser Frage eine transzendentalphilosophische Form verlieh und insofern nicht in einer schlicht psychologischen Sichtweise des Verstehens verblieb. Begriff und Anschauung als Modi des Wissens vom Seienden waren hier die maßgeblichen Größen des Erscheinungsgeschehens. Mit dem Deutschen Idealismus wurde die kantische Auffassung einer auf das erkennende Subjekt bezogenen Transzendentalphilosophie nochmals weitergeführt: „[…] nicht mehr nur die Formen, sondern auch der Inhalt soll aus der reinen Subjektivität konstituiert werden,“ (Schulz 1963, 24), wie sich gerade für Fichte, aber in jeweils abweichender Form auch für Schelling und Hegel (vgl. ebd. 27 f.) zeigen lässt. Eine nachidealistische Kritik – wie die von Kierkegaard – wendete die Frage nach den subjektiven Anteilen am Bezug zum Seienden in ihr Gegenteil und blieb gerade mit ihrem Widerstand gegen die Subjektivierung des Erscheinungsgeschehens noch immer einem metaphysischen Konzept von Grundlegung und Prinzipiendenken verhaftet (vgl. ebd. 29 ff.). Dieser Kritik am Idealismus gelang es nicht, den Blickwinkel auf mögliche Grundlagen und ein angenommenes Wesen des Erscheinenden tatsächlich zu überwinden. Die Frage nach dem Erscheinen und den Erscheinenden blieb weiter virulent.
3.2.1 Die Wissenschaft vom Erscheinen als solchem Mit Patoþka gilt nun hinsichtlich der solcherart fraglich gewordenen Erscheinung, dass sie Gegenstand der Phänomenologie wird. Und dies nicht in einer noch allgemeinen und unspezifischen Form; vielmehr ist mit Patoþka zu betonen: Phänomenologie ist „Wissenschaft vom Erscheinen als solchem.“ (Patoþka 2000, 133) Hierbei wird, durchaus in der Tradition weiterer phänomenologischer Autoren wie etwa Martin Heidegger oder Eugen Fink, eine Differenz eingeführt – bei Jan Patoþka diejenige von Erscheinen und Erscheinendem, die insbesondere vom Heideggerschen Differenzdenken der Ontologie geprägt ist.
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„Auch in den späteren Versuchen der sechziger und siebziger Jahre […] wird dieser Heideggersche Gedanke der ontologischen Differenz beibehalten. Dies ist eine der Quellen seines Gedankens der Differenz zwischen dem Erscheinenden und dem Erscheinen selbst, auf der sich das Bemühen um eine ‚asubjektive’ Phänomenologie als Lehre vom Erscheinen als solchem aufbaut.“ (Novotný in Patoþka 2000, 16)
Mit diesem ‚Bemühen um eine asubjektive phänomenologische Philosophie’ schlägt sich Patoþka gewissermaßen auf keine der Seiten, die ihm die zuvor knapp referierte Geistesgeschichte für die Frage nach dem Erscheinen anbietet. Er sieht weder im Erscheinenden den Vorrang, Erscheinen in Abbild- oder anderen Ordnungen zum Ausdruck zu bringen (z.B. Platon), noch zieht er sich auf die Seite der Subjektivität zurück, um sich mit dem Anschein eines Dinges zu begnügen, weil mehr vom subjektiven Standpunkt aus nicht zu erreichen sei (insbesondere Kant, aber in abgewandelter Form auch der Husserl der Transzendentalphänomenologie). Patoþka wählt jedoch, und dies dürfte die besondere philosophische Pointe ausmachen, auch nicht schlicht eine Mittelstellung zwischen beiden Angelpunkten. Vielmehr nimmt er den logisch früheren Standpunkt innerhalb des Nachdenkens über das Erscheinungsgeschehen ein und fragt nach diesem Geschehen selbst. Ausgangspunkt ist somit keine subjektive oder objektive Grundlage und auch keine „ausgeklügelte“ Sowohl-als-auch- oder Teilsteils-Position, sondern der phänomenologisch strukturierte Blick auf das Erscheinen als solches (vgl. Patoþka 2000, 125; obwohl der Verfasser an dieser Stelle noch im Grundlagenkonstrukt metaphysischer Denkmodelle argumentiert).
62 Dass dieser markante Terminus Patoþkas hier und im Folgenden ohne Anführungsstriche zur Anwendung kommt, soll zum Ausdruck bringen, dass die vorliegende Studie auch im Fortgang dieser Untersuchung gänzlich die Bezüge zu Patoþkas Denken teilt, aber zugleich systematisch weiterführend zu verwenden sucht. 63 Damit kann auch die von Novotný jüngst unter der Hinsicht einer an Husserl orientierten Phänomenologie formulierte Frage beantwortet werden: „Wie fängt es das Ding an, in sich selbst Ursprung des Erscheinens zu sein?“ (Novotný 2010, 174) Mit dem oben entwickelten Verständnis von Patoþkas Blickwinkel nämlich ist es nicht das Subjekt, aber eben auch nicht das Ding, das Erscheinen ursprünglich möglich macht; vielmehr macht das Erscheinen umgekehrt mög-
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Deshalb wäre der Einladung durchaus Folge zu leisten, selbst wenn sie in den Manuskripten ihres Verfassers wieder gestrichen wurde: „Wie wäre es, wenn einmal Erscheinen als eine spezifische (Welt)struktur aufgefaßt würde, welche a priori das Seiende als solches im Voraus bestimmt, ohne notwendig selbst aktuell zu werden?“ (Ebd.)
Diese Struktur des Erscheinens wäre daher als Ausweg aus der kantischen wie der cartesianisch-husserlschen Lesart des Erkenntnissubjektes zu verstehen. Anstelle der transzendentalen Konstruktion oder der bewusstseinsspezifischen Intuition käme eine Ordnung zur Geltung, die allererst Formen von Subjektivität – und ebenso die Spielarten der Objektivität – zum Erscheinen bringen würde. In der Sprache Patoþkas wird somit eine asubjektive, weil der subjektiven nicht mehr zugehörige, sondern dieser strukturell vorgängige Philosophie entfaltet. Darum erfährt auch die kantische Problemstellung des ‚Dinges an sich selbst’ (vgl. Kant KrV B 59, A 42) eine asubjektive Aufhebung, denn „das Ding ist nicht nur in sich selbst, sondern auch außerhalb von sich selbst, und außerhalb von sich selbst ist [es; im Original: sie; Anm. A.B.] nicht etwas von sich Verschiedenes, sondern umgekehrt gerade [es] selbst – das ist aber gerade nur im Bereich des Erscheinens möglich, wenn das reale Sein durch das Erscheinen bestimmt wird.“ (Patoþka 2000, 263 f.)
Vor diesem Hintergrund kann Patoþka – durchaus Kritik am frühen Eugen Fink übend – darauf verweisen, dass in der Epoché als phänomenologischer Einklammerung der Weltthese nicht ein absoluter Seinsboden aufgedeckt wird. Ein solcher Boden böte für das Seinsdenken die scheinbare Chance, als Ausgangsbasis für weitere Argumente dienen zu können. Dies jedoch wird mit Patoþkas Kritik an einem „zureichenden Grund“ außer Kraft gesetzt. Vielmehr zeigt sich mit seinem Ansatz eine universell vorausliegende Struktur, die nicht nur die Phänomene zum Vorschein bringt, sondern ebenso sehr das Selbst betrifft. Anstelle eines transzendentalen Ich gelangt die „universal durchgeführte epoché“ jetzt
lich, dass Dinge und Subjekte sich als Erscheinende von diesem ihrem Ursprung her begegnen können.
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„zum Apriori, welches in keiner Weise als seiend angesprochen werden kann, sondern seine Funktion darin entfaltet, daß es ein Selbstverhältnis ermöglicht, eine Seinsstruktur, ohne welche kein Erscheinen möglich ist.“ (Patoþka 1975, 83)
Patoþka sieht die vermeintliche Alternative endlicher oder unendlicher Bewusstseinskonstruktionen als aufgehoben an. Die Phänomenologie muss sich nach seiner Auffassung daran nicht mehr weiter abarbeiten, weil sie anstelle der Leistungen eines (transzendentalen) Bewusstseins nunmehr eine apriorische, d.h. diesem vorgängige Struktur aufzuweisen vermag – das Erscheinen als solches. Indem Patoþka die Formen des Erscheinenden von derjenigen des Erscheinens abhebt, kann er dieses Erscheinen als solches verstehen „als eine Dinge und Subjekt umspannende und umfassende Struktur“ (Patoþka 2000, 123). Im Unterschied zu Aron Gurwitschs Auffassung eines Bewusstseinsfeldes (vgl. bereits 2.3.9 dieser Schrift) formuliert Patoþka in seiner asubjektiven Phänomenologie eine dem Subjekt vorausgehende Struktur des Verstehens, eben das Feld des Erscheinens. Darin kann nun nach seiner Auffassung auch das Bewusstsein der Menschen zur Erscheinung kommen; Bewusstsein ist somit „eine der Realitäten, die unter anderem im Rahmen der Welt vorfindlich sind.“ (Patoþka 2000, 153) Auf diese Weise vermag Patoþka nochmals herauszustreichen, dass die Subjektivität nicht eine erkenntnisrelevante Vorzugsstellung eingeräumt bekommt, sondern „zurück ins Glied“ der Erscheinungen tritt, um sich ebenso wie den erscheinenden Dingen das Erscheinen ihrer selbst erst geben zu lassen. Dass das Subjekt solche Gegebenheiten wiederum zu erfassen vermag, macht seine doppeldeutige Stellung im Erscheinungsfeld aus, ändert jedoch nichts an seinem phänomenologisch gleichursprünglichen Status im Erscheinungsfeld (vgl.
64 Demgemäß kann an dieser Stelle Rabanus nicht beigepflichtet werden, wenn er die asubjektive Position Patoþkas unter der Perspektive Husserls als „aus einer naiven, vor-phänomenologischen Haltung heraus“ (Rabanus 2010, 148) formuliert versteht. Vielmehr ist die Fragerichtung Patoþkas als eine Radikalisierung der husserlschen aufzufassen, da ersterer die Haltung der Epoché auch für das Phänomen des Subjekts geltend macht. Dass indes damit nicht das letzte Wort einer Radikalisierung der Phänomenologie gesprochen sein muss, macht Novotný mit Rekurs auf Richirs „hyperbolische“ Phänomenologie deutlich (vgl. Novotný 2010, 182 ff.).
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zur Kritik an Gurwitschs Bewusstseinsfeld unter dieser Hinsicht auch Waldenfels 1986, 41).
3.2.2 Die phänomenologische Binnenperspektive Entgegen der von Patoþka selbst vorgeschlagenen Begrifflichkeit ist diese Erscheinungsstruktur phänomenologisch jedoch nicht als „Welt“ (Patoþka 2000, 153; vgl. ebenso Crowell 2011, 20, der statt dem expliziten Weltbegriff allerdings den cosmos in der Lesart Eugen Finks anführt) aufzufassen. Denn er selbst formuliert differenzierend: „Das strikte Thema der Phänomenologie ist […] nicht die Welt, sondern ihr Erscheinungsfeld.“ (Patoþka 2000, 161) Welt ist zu verstehen als Gesamtstruktur, Erscheinungsfeld hingegen als die Sphäre dessen, was sich zeigt (zur Differenz von Erscheinendem und Entzogenem vgl. – im Rekurs auf Eugen Fink – auch Böhmer 2002). Nicht-Erscheinendes (vgl. bereits die Prolegomena dieser Untersuchung) findet im Erscheinungsfeld nicht seinen Platz. Es wird höchstens als Kluft zwischen den Phänomenen kenntlich (vgl. bereits 2.3.9). Gleichwohl wird innerhalb dieses phänomenologischen Feldes eine exklusive Wechselbeziehung zwischen Mensch und Welt deutlich. Die Welt als Rahmen des Erscheinens erschließt das Feld für das Handeln und die Aufnahme von Beziehung von Seiten der Menschen (vgl. Lehmann 2004, 45). Die strukturelle Beschreibung eines solchen Feldes kann für Patoþka nur aus der Innenperspektive erfolgen: „[…] das Feld selbst könnte etwas sein, was man nie von außen als Objekt, sondern nur als eine Struktur beschreiben könnte, in welcher man darin ist.“ (Patoþka 2000, 151)
Diese einzig mögliche Binnenperspektive ergibt sich in der asubjektiven Phänomenologie aus der Angleichung der Subjektivität an die Erscheinungen der anderen Menschen und der Dinge. Werden nämlich die Subjektivität ebenso wie die Dinge mit demselben Erscheinungsgeschehen gegeben, kann sich die Subjektivität nicht über die ihr vorgängigen Strukturen des Erscheinungsfeldes erheben und infolgedessen die Welt nicht als Schauplatz des Erscheinens überblicken. Dies zu fordern bleibt einer transzendental agierenden Philosophie vorbehalten, die asubjektive nach Jan Patoþka
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muss sich notwendigerweise von einem solchen machtvollen Ausgangspunkt in der Subjektivität verabschieden. Denn Subjektivität wird nunmehr lediglich als Ergebnis eines vorgängigen Erscheinungsgeschehens verstanden, nicht als dessen Aktzentrum. Die Feldstruktur des Erscheinens wiederum hat Auswirkungen auf die Phänomenologie, die sich mit dem Erscheinen als solchem befasst: „Kein Ding und Sachverhalt kann erscheinen, ohne in die Felder von Anschaulich – Unanschaulich, Leere – Fülle, Nähe – Akme – Ferne usw. einbezogen zu sein. Diese Zusammenhänge und ihr ‚Funktionieren’, ihren Sinn zu durchforschen scheint uns, anstatt der ‚noetisch-noematischen Strukturen’, die Aufgabe einer Phänomenologie als Erscheinungslehre zu sein.“ (Ebd.; Akme = gr. Höhepunkt)
Phänomenologie wird im asubjektiven Sinne des Wortes zur Feldforschung. Sie sucht, die erscheinenden Menschen und Dinge innerhalb des jeweiligen Feldes zu erfassen, wobei sich die Charakteristika des Feldes auf die Phänomene auswirken. Deshalb können nicht in erster Linie bewusstseinsspezifische Faktoren wie die von Husserl angesetzten „noetischnoematischen Strukturen“ das Erscheinen bestimmen, sondern zunächst zeigen sich die Menschen und Dinge im Rahmen der Möglichkeiten, die ihnen das Feld bietet. In Anlehnung an Husserls Begriff des „unmittelbar Gegebenen“ spricht sich Patoþka des Weiteren dafür aus, diese Auffassung für das Erscheinungsfeld zu verwenden. Allerdings grenzt er sein Verständnis des Unmittelbaren vom husserlschen deutlich ab: „Das Erscheinungsfeld liegt 1. nicht offen zu Tage; ist 2. nicht leicht zu umgrenzen […]; 3. gehört zu ihm eine spezielle Struktur dessen, dem das Zeigende sich zeigt […]; 4. ist nichts in ihm, woraus in irgendeinem Sinne ein Seiendes entspringen könnte; es ist rein formal, reine Offenbarmachungsstruktur und keine Seinsstruktur.“ (Ebd. 146)
Spätestens mit dieser Position wird deutlich, dass sich die asubjektive phänomenologische Philosophie trotz aller Nähe zum Entwurf Heideggers von einer ontologischen Verständnisform verabschiedet hat. Ihr Selbstverständnis ist das einer ‚ersten Philosophie’, insofern sie das Erscheinen als Ausdruck von Wahrheit allererst auf seine Möglichkeiten hin erforscht.
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Damit ist nun keine Metaphysik einer prima philosophia scholastischen Zuschnitts (etwa nach Thomas von Aquin oder Johannes Duns Scotus) gemeint. Vielmehr werden hier ontologische Sichtweisen durch phänomenbezogene ersetzt und bringen somit einen umgeformten Wahrheitsbegriff zur Sprache. Wahrheit ist im Zuge dieser Auffassung keine Annäherung von Dingen und menschlichem Intellekt (lat. „adaequatio rei et intellectus“), sondern Aufweis der Strukturen der Erscheinungen, die noch vor aller rationalen Erfassung formiert wurden und der ‚Offenbarmachung‘ dienen sollen. Dass sich die Aufweisenden in ihrem subjektiven Selbstverstehen gerade dem Erscheinen als solchem verdanken und innerhalb des Erscheinungsfeldes verortet sind, bringt die bereits erwähnte Innenperspektive zur Geltung. Der auf diese Weise formierte Begriff der Wahrheit ist keine von Menschen erfasste oder von einer transzendentalen Subjektivität in materiellen Zusammenhängen gefundene, sondern das Achten auf das, was sich zeigt, obgleich die solcherart Achtsamen diesem Geschehen selbst zugehörig sind. Dadurch wird dieses Verständnis von Wahrheit nicht nur deshalb relativ, weil eine natürliche Erkenntnisfähigkeit der Menschen („lumen naturale“ = lat. das natürliche Licht [der Erkenntnis]) keiner absoluten Erkenntnis fähig wäre, sondern mehr noch, weil die Position innerhalb des Erscheinungsfeldes sich je nach Aussagenden verändern kann. Solche Wahrheit wird Gabe eines Anderen – gleichwohl nicht metaphysisch verstandene Gabe eines subjektiven Anderen, sondern nunmehr Gabe eines asubjektiven Geschehens: eben des Erscheinens als solchem. Möglich wird dieses Ersetzen durch die Form eines Erscheinungsfeldes, innerhalb dessen sich das Erscheinen als solches überhaupt erst ereignen und Erscheinendes ‚offenbaren’ kann.
65 Deshalb ist Patoþkas Ansatz des asubjektiven Erscheinungsfeldes, das Subjektivität allererst möglich macht, durchaus als qualitative Fortführung transzendentalphänomenologischer Ansätze innerhalb des Beobachters zu verstehen. Der Skepsis, ob denn Patoþkas „Denken radikal genug war, wirklich ontologischer Vielfalt Spielraum zu er-öffnen“ (Blaschek-Hahn 2010, 167), kann mit dem Hinweis begegnet werden, dass hier nicht ontologische Vielfalt, sondern zunächst eine vertikale Phänomenologie (vgl. Merleau-Ponty 1986) durch die Asubjektivität ermöglicht wird, welche die Grundlage des Phänomens außerhalb des Subjekts zu suchen und aufzufinden versteht.
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3.2.3 Subjektivität als Engagement für die „Sachen selbst“ Durch diese Klärung des Begriffs „Erscheinungsfeld“ hebt Patoþka noch deutlicher als zuvor heraus, wie er Erscheinen auffasst. Phänomene erscheinen nach ihm nicht schlicht, sondern werden offenbar. So hebt er die Dynamik einer phänomenologisierenden Bewegung hervor, die weder den Dingen eignet – diese würden sich dann „sehen lassen“ –, noch den erkennenden Menschen – diese würden das Phänomen dann subjektiv formatiert (Kant) „erscheinen lassen“. Stattdessen wird etwas offenbar, also sichtbar, was vorher im Verschlossenen und in der phänomenalen Negativität nicht nur unzugänglich, sondern im ausdrücklichen Sinn des Wortes unsichtbar war. „Wenn man will, kann man das Offenbarungsfeld als ‚Subjektivität’ bezeichnen, aber man muß sich dann bewußt sein, daß diese ‚Subjektivität’ Verständnis in Form des Verstandenen, d.h. [Verständnis] vom Auftreten der Erscheinungscharaktere des Seienden ist, daß aus ihm heraus nichts ‚konstituiert’ [werden] und keine ‚Erscheinung’ aus ihm sich im Sinne eines selbständigen Seienden, welches vom eigentlichen absperrt, ergeben kann.“ (Patoþka 2000, 146; vgl. bereits die ähnliche Position in seiner Habilitationsschrift, Patoþka 1990, 49)
Mit diesem Hinweis, der offenkundig Patoþkas Auseinandersetzung mit Husserl geschuldet ist, begibt sich ersterer in einen durchaus problematischen Argumentationsgang. Denn soll das Offenbarwerden von jeglicher subjektiver Leistung entbunden werden, scheint es wenig plausibel, sich des Subjektivitätsbegriffs – wenn auch unter dem Vorbehalt einer Hinordnung auf asubjektive Prozesse – weiterhin zu bedienen. In dieser Argumentation gelangt also begrifflich zumindest in eine deutliche Nähe, was phänomenologisch voneinander zu unterscheiden ist: asubjektives Offenbarwerden und subjektives Verstehen. Mit dem bislang Dargelegten wäre stattdessen eher an der Unterscheidung phänomenologisch wie logisch fest-
Dabei soll unter dieser „Vertikalität“ die Struktur eines asubjektiven Erscheinungsgeschehens verstanden werden, d.h. die einander übergeordneten Verweisungszusammenhänge des Erscheinens, wie sie bereits in den vorhergehenden Abschnitten dieses Kapitels in einigen Aspekten entfaltet wurden.
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zuhalten: Was sich zeigt, wurde im Erscheinungsfeld offenbar, und kann dann erst in der wahrnehmenden Subjektivität seinen Widerhall werden. Dies macht Patoþka an anderer Stelle selbst deutlich, wenn er im Stil seiner Notizen ausführt: „Die Subjektivität als Bewegung – nicht im objektiven, sondern gerade im Sinne der Erscheinungsbewegung – sie geht den Sachen selbst nach, nicht ist sie selber eine Sache, deren Ablauf interessiert – An der objektiven Bewegung interessiert [der] Ablauf, an der Erscheinung die Gestalt des im Ablauf als identisch Erscheinenden, es ist eine ideale Bewegung von Näherung und Entfernung, Auseinandersetzung und Zusammenfassung, Konfusion und Klarwerden usw. […] In alledem Subjektivität als Selbstklarwerdung […].“ (Ebd. 164)
Subjektivität kann sich also insbesondere dann über sich selbst klar werden, wenn sie sich in ihrer Beschäftigung mit den „Sachen selbst“ (Husserl) vorfindet, wenn sie nach deren Erscheinung, nach deren „Bewegung“ in das Erscheinungsfeld hinein fragt. Engagement für die und mit den Sachen bringt Subjektivität zu sich selbst – man könnte (mit der nötigen Vorsicht) sogar formulieren: Engagement führt zu Subjektivität. Menschen wie Dinge erscheinen also einander und ermöglichen menschliches Selbstbewusstsein durch das Offenbarwerden im phänomenalen Feld, innerhalb dessen der Appell der Dinge und das Engagement von Menschen erfolgen. Dies ist der phänomenologische Gewinn der asubjektiven Philosophie Patoþkas im Hinblick auf das Selbstverstehen der Menschen unter der Perspektive von Subjektivität. Nicht allein ein durch seine Erlebnisse bestimmtes Ich findet sich daher im Handeln innerhalb des Feldes (vgl. Lehmann 2004, 44). Vielmehr kann das Ich am anderen seiner selbst erkennen, dass es ebenso wie die Dinge vom Wechselverhältnis mit den anderen Phänomenen abhängt. Deshalb trifft die Formulierung „soul has a ‚noematic’ side“ (Chvatík 2007a, 204) genau diese Auffassung der asubjektiv geformten Subjektivität. Die „Seele“, verstanden als alternativer Ausdruck für Subjektivität, ist nicht als nach innen gewendete Struktur zu verstehen, die lediglich in sich Bilder eines
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außen gegebenen Objekts hervorbringen könnte (vgl. Kühn 2012, 63 ff.). Stattdessen findet sich Subjektivität in derselben phänomenologischen Bewegung des Offenbarwerdens wie die Dinge in ihrer ‚noematischen Darstellungsform’. Die Innenwendung des Subjekts ist aufgebrochen, „all alleged content of ‚me’ is […] outside, in the phenomenological sphere“ (ebd. 210). Ferner ist Chvatík auch dann zuzustimmen, wenn er darauf verweist, dass die Dinge gerade nicht subjektiv sind, weil sie im phänomenalen Feld erscheinen und dazu nicht erst der leistenden Subjektivität bedürfen. Das bedeutet in bildungstheoretischer Fragerichtung: „the phenomenal field teaches us all we know“ (ebd. 211). Denn was als zu Wissendes gelehrt werden kann, findet sich innerhalb der Dynamik des phänomenalen Feldes wieder und kann von dorther erst gelernt – oder weiter noch: erfahren – werden. Anstelle der Objektivierung des Gegebenen ist eher von einer gleichberechtigten Coexistenz der Menschen, Dinge und Sachverhalte auszugehen. Eine nach außen gewendete und somit nicht intern zentrierte Wahrnehmung missdeutet sich angesichts der kulturell bedingten Vorgabe der Zentrierung jedoch rasch als Nichtwahrnehmung (vgl. Merleau-Ponty 1986, 270 ff.). Diese Umdeutung in die seit der Renaissance vorgegebene Denkbahnen hat jedoch bloß eine begrenzte Berechtigung, sobald deutlich wird, dass die Form der „wilden Erfahrung“ (ebd. 272) nicht wiederum eine des ‚absoluten Wissens’ mit dessen Ambition der allseitigen und transparenten Wahrnehmung sein kann. Die „wilde Erfahrung“ bezieht sich ja vielmehr auf das, was im Erscheinungsfeld ebenso begrenzt wie konkret offenbar wird, und ist ihrerseits in dieses Feld eingebunden. Entzogenes und erst noch vor der Schwelle zum Offenbarwerden Stehendes hingegen lassen sich dort nicht ausmachen. Dabei ist jede Wahrnehmung schon auf ihre Beschränkung verwiesen und kann sich stets als teilweise Nichtwahrnehmung verstehen. Wahrnehmung bleibt also stets durchzogen von NichtWahrgenommenem, daraus abgeleitetes Wissen von Nicht-Wissen. Das Offenbarungsfeld macht also nicht nur deutlich, was der leistenden Subjektivität nicht möglich ist – die Dinge und Menschen in ihren wechsel-
66 Hinweise auf eine solche Sichtweise ließen sich – wenn auch mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen wie Konsequenzen – für Platon, Augustinus, Kant, aber auch die Systemtheorie finden.
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seitigen Bezügen letztgültig zu ordnen. Darüber hinaus nämlich wird unter dem hier entworfenen Blickwinkel ersichtlich, dass die Selbstbilder der Menschen aus den Tendenzen eines Abschlusses in die eigene Innenwelt herausgeführt werden können – hinein in ein vielfältiges Netz von Begegnungen mit Anderem. Dementsprechend ist nicht nur das phänomenale Andere als „noematisch“, also als den Sinngehalt des Wahrnehmens ausdrückend, zu sehen, sondern gleichfalls die Subjektivität, da an ihr das Engagement im Feld der Dinge und Menschen sichtbar wird und es in dieser praktischen Vollzugsform die Selbstbilder der Menschen formt. Subjektivität im bislang bereits entwickelten Sinne bildet sich im Engagement mit und für die Dinge wie Menschen und bleibt von daher in ihrer Entwicklung wie in ihrer Wirkung auf die Anderen verwiesen. Es ergibt sich die Frage, wie das Sich-Zeigen, das Erscheinen oder auch das Offenbarwerden unter asubjektiver Hinsicht zu verstehen sind. Um in diesem Zusammenhang eine Antwort auszumachen, analysiert Patoþka die „Fünf Vorlesungen“ Husserls (vgl. Husserl 1973; vgl. auch Rabanus 2010, 143 ff.) unter der Fragestellung, wie dort das Erscheinen verstanden wird. Dazu bemerkt er: „Vielleicht ist die Hauptquelle des Mißverständnisses des Erscheinungsproblems als solchem gerade dies, daß man Erscheinungsstruktur mit der Struktur eines Erscheinenden verwechselte oder vermengte. […] Weil er diese Unterscheidung (zwar irgendwie im Sinne hatte, aber) nicht ausdrücklich vollzieht, sucht Husserl nach einem absolut gegebenen Seienden, statt nach der Gegebenheit des Seienden, meinetwegen einer absoluten, zu fahnden.“ (Patoþka 2000, 119)
Hier wird Patoþka dank seiner Unterscheidung von Subjektivität und Asubjektivität eine Kritik möglich, die sich aus der Doppelstruktur transzendentalphänomenologischer Theorien zu lösen vermag. Husserl hatte sich in seinen diesbezüglichen Untersuchungen der Denkbewegungen des „extramundanen Ego“ so weit vorgewagt, dass ihm Lebenswelt nur noch nachträglich über die neuerliche Leistung des Phänomenologie treibenden Ego erreichbar schien. Allzu sehr nämlich war das Phänomenologie trei-
67 Deswegen kann Eugen Fink in seiner VI. Cartesianischen Meditation zur natürlichen Einstellung innerhalb lebensweltlicher Bezüge more Husserl darlegen: „Die natürliche Einstellung ist selbst eine transzendentale Situation: die Ur-
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bende Ich in der transzendentalen Sphäre und in den Analysen innerhalb des Subjektes von den lebensweltlichen Bezügen abgetrennt. Diese Version des Subjektivismus bei Husserl dürfte ein Erbe der philosophischen Moderne sein. Patoþka hingegen kann durch die Unterscheidung von „Erscheinungsstruktur“ und „Struktur eines Erscheinenden“ das Erscheinen innerhalb lebensweltlicher Bezüge thematisieren. Denn was gegeben ist, wird nach seiner Auffassung just in den lebensweltlichen Vollzügen offenbar und muss nicht erst in transzendentalen Strukturen darauf hin befragt werden, wie es subjektiv gebildet wurde. Auf diese Weise ist die Lebenswelt nun wieder der Ort, in dem sich die Menschen in ihren Bezügen mit den Dingen finden. Unter dem Blickwinkel der asubjektiven phänomenologischen Philosophie kann die extramundane Sphäre durch die lebensweltliche aufgehoben werden, die subjektive Ordnung durch die lebensweltliche Gegebenheit. Eine „Sphäre des absoluten Gebens, des Sich-Zeigens, der Manifestation“ (Patoþka 2000, 119) kommt in den Blick, die in ihrer Absolutheit von derjenigen des Seienden und Erscheinenden zu unterscheiden ist. Angesichts einer solchen Sphäre „ziehen wir es vor, das Erscheinen als eine Dinge und Subjekt umspannende und umfassende Struktur aufzufassen. Die einzige Dinge und Subjekt umfassende Struktur ist aber die Welt selbst, und deshalb möchten wir sie als Weltstruktur aufgefaßt wissen.“ (Ebd. 123) Welt ist in dieser Hinsicht die asubjektive Struktur der Gegebenheit der Phänomene. Wie diese Gegebenheit genauer verstanden werden kann, ohne mit dem Erscheinungsfeld verwechselt zu werden (s.o.), soll später eigens ausgeführt werden (vgl. 3.3 dieser Schrift). Die Struktur der Welt als Geben der Erscheinungen findet im Menschen ihren Widerhall. Ihm nämlich eignet eine doppelte Offenheit für die Gegebenheiten durch die Welt. Seine Erkenntnis bezieht sich apriori (im Voraus der Erfahrung) ebenso wie aposteriori (im Nachhinein) auf das in der
sprungs- und Heimatidee von Seinsidee und Seinsbegriff. In ihr lebend bin ich als ‚Subjekt‘ schon eine endkonstituierte Einheit: Mensch in der Welt, und erfahre prinzipiell nur end-konstituierte Gegenständlichkeit. Die genetischen Konstitutionsprozesse, die allererst zu den Apperzeptionen des ‚Seienden‘ durch mannigfache konstitutive Schichten des ‚Vor-Seins‘ hindurch hinführen, sind immer, wenn wir ‚natürlich eingestellt‘ sind, schon abgeschlossen.“ (E. Fink 1988, 83).
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Weltstruktur Gegebene. In den Worten Merleau-Pontys findet sich diese Erfahrung folgendermaßen ausgedrückt: „Von dem Augenblick an, in dem ich erkannt habe, daß meine Erfahrung, gerade insofern sie die meine ist, mich dem öffnet, was ich nicht bin, daß ich für die Welt und die Anderen empfindsam bin, nähern sich mir in einzigartiger Weise alle Wesen, die das objektive Denken auf Distanz hielt.“ (Merleau-Ponty 2003, 63)
Somit wird einerseits das Chiasma, die Kreuzung, von Mensch und Ding innerhalb der Welt verwirklicht. Andererseits wird diese Kreuzung als asubjektive für den Menschen wiederum verständlich und eröffnet ihm zugleich den Blick in die eigene Verflochtenheit mit den bislang distanziert gedachten Menschen und Dingen. Denn beide Stränge der Überkreuzung – von den Menschen zu den Dingen und von den Dingen zu den Menschen – sind unter asubjektiver Hinsicht in ihrem Gegebensein gleichursprünglich. Beide können auf einander eingehen, sich dem Anspruch des jeweils anderen antwortend zuwenden, darin ihre Verbindungen gestalten – und doch sind sie einander innerhalb einer Weltstruktur (auf)gegeben, über die beide nicht verfügen. Mehr noch: Der solcherart verbundene Mensch kann seine Bezüge vernünftig erkennen und erklären; er verbleibt dennoch innerhalb dieser Ordnung. Dies macht die doppelte Erkenntnisfähigkeit deutlich, indem sie offen ist für das Ereignis des Gebens – als Erkenntnis apriori – sowie für das Gegebene innerhalb der Weltstruktur – als Erkenntnis aposteriori. Die Vernunft eröffnet dem Menschen jedoch nicht mehr die Möglichkeit, erkennend über das Erkannte zu herrschen, indem jenem die Formen der Anschauung (Kant), deren eigene Setzung (Fichte) oder anderes zugedacht werden könnte. Das Subjekt verbleibt gerade mit seiner Doppelstruktur der Erkenntnis – apriori und aposteriori – innerhalb der Dynamik des Erscheinens als solchem.
3.2.4 Die Dynamik der Kraft „Die Beschreibung und Strukturanalyse der ‚natürlichen Welt’“ (Patoþka 1990, 23) lässt sich nun – anders als noch in Patoþkas Habilitationsschrift – nicht mehr über das Erleben und dessen Reflexion durch das Subjekt verwirklichen, sondern nutzt den asubjektiv gebahnten Zugang zum Erschei-
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nenden innerhalb des Offenbarungsfeldes. Statt einer (selbst)begründenden Rationalität wird durch das Erscheinen als solches ein Selbstverstehen gestaltet, das sich bereits im Austausch mit den anderen Erscheinenden vorfindet. Der Begriff von Subjektivität wird asubjektiv umgeformt. Das in seiner Erkenntnis auf sich selbst gründende Ich der Moderne zerbricht wegen dieser Struktur einer dialogischen Philosophie (vgl. Waldenfels 1994, 419). Als Folge wird menschliches Selbstverstehen eingebunden in die Dynamik einer Welt, die durch das Erscheinen als solches ihre Charakteristika gewinnt. Patoþka benutzt für die Beschreibung dieser Eingebundenheit in eine allgemeine Dynamik – nicht zuletzt wegen kulturgeschichtlicher Konnotationen – den Begriff der Kraft: Kraft wird „zur Wirklichkeit schlechthin. Alles existiert nur noch in der Wirkung, in der Akkumulation und in der Freisetzung von Potenzialen, alle übrige Realität verliert sich, jede Qualität, jede objektive Existenz. Das Erkenntnissubjekt erkennt nicht mehr, sondern transformiert nur noch … So erweist sich die Kraft als die größte Verbergung des Seins […].“ (Patoþka 2010, 138)
Mit Hilfe des Kraftbegriffes versucht Patoþka daher, die Statik des Seinsbegriffs („Das ist so.“) durch die Dynamik der Kraft („Das wird so bewirkt.“) zu ersetzen. Damit vermag er auch die bisherigen Formen menschlichen Selbstverstehens zu verändern, weil der Mensch jetzt nicht mehr allein auf bestimmte Ist-Zustände der Erscheinungen verwiesen bleibt, sondern sich vor allem als derjenige versteht, der sich durch deren (kraftvolle) Veränderung ebenso wie durch die eigene auszeichnet: „Der Mensch hat aufgehört, der Bezug zum Sein zu sein, und ist zu einer Kraft, zu einer der mächtigsten Kräfte überhaupt geworden. […] Es scheint, als sei der Mensch in einer nur aus Kräften bestehenden Welt zu einem großen Akkumulator geworden, der auf der einen Seite die Kräfte nutzt, um zu existieren und sich zu mehren, der aber auf der anderen Seite gerade deswegen selbst in diesen Prozess verschaltet ist und wie jeder andere Kräftekomplex kumuliert, vorausberechnet, verbraucht und manipuliert wird.“ (Ebd. 137)
Der asubjektive Blickwinkel ermöglicht eine Einsicht in menschliches Selbstverhalten und -verstehen, in denen der modern verstandene Herrscher der Welt nunmehr in das Spiel der Kräfte und Mächte eingeordnet wird. In
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diesem Zusammenhang also bietet sich Patoþka ein ähnliches Bild der Menschen wie den bereits erwähnten AutorInnen einer selbstkritischen Moderne (vgl. Kapitel 2 dieser Studie).
3.2.5 Das Wechselspiel von Nichts und Etwas Doch nicht nur das menschliche Selbstbild wird durch diese Lesart Patoþkas umgestaltet. Auch die Dinge zeigen sich anders als in vorhergehenden Epochen. Das Erscheinen der Dinge wird möglich wegen des „schwarzen Hintergrundes“, „der aber selbst kein Ding ist und von dem der verantwortungsvolle Denker letzten Endes sagen muß, daß er soviel wie nichts ist.“ (Chvatík 2003, 8) Allerdings ist der „schwarze Hintergrund“ als Unbestimmtheit und Undurchsichtigkeit im Erscheinungsfeld nicht einfach als leeres Nichts (lat. „nihil negativum“) zu sehen (vgl. bereits Kapitel 1 dieser Schrift). Vielmehr ist diese Leere „ein Modus der Gegebenheit“ (Patoþka 2000, 129). Denn das phänomenologisch nicht auszuleuchtende Dunkel schafft durch den Kontrast eine Helle des davor liegenden phänomenalen Feldes (vgl. Lehmann 2004, 63), in dem sich dann die vereinzelt Erscheinenden zeigen können. Das so verstandene Erscheinen der Menschen und Dinge ist deshalb von der Undurchsichtigkeit der „schwarzen“ Leere umgeben. Nichts und Etwas werden deutlich als die verschiedenen Bereiche desselben Erscheinungsereignisses. Somit zeigt sich: Erscheinendes ist in diesem Zusammenhang nur möglich als Wechselspiel von Nichts und Etwas im Erscheinen als solchem, das im weltoffenen Menschen seine Resonanz finden kann, weil er Erscheinen ebenso wie seinen Ort im Erscheinungsgeschehen zu verstehen vermag. Dabei wird eine Struktur vor allen Bezügen auf ein Ich denkbar („PräEgologie“), die in der vielgestaltigen Welt mit ihren unterschiedlichen Ordnungen kenntlich wird (vgl. Merleau-Ponty 1986, 281). Denn noch bevor ein Ich zur Grundlage von Selbstdeutung wie Interpretation der Dinge dienen kann, eröffnet die Welt durch die in ihr zu entdeckenden Appelle an die Menschen eine Möglichkeit, Gleichursprünglichkeit alles Erscheinenden innerhalb der Lebenswelt zu sehen. Unter dieser Hinsicht wird das Subjekt zwischen Allmacht und Machtlosigkeit seines Zugriffs auf Menschen und Dinge verortet. Aus der Perspektive der Asubjektivität ergeben sich nämlich Welt als Struktur der Gegebenheit und die Menschen als diejenigen,
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die auf das Erscheinen innerhalb der Welt antworten. Auf diese Weise wird der moderne Subjektbegriff in die Ordnungen des Erscheinens als solchem rückgebunden.
3.3 S UBJEKTIVITÄT ALS D EZENTRIERUNG UND E NTZUG Im weiteren Verlauf soll der Frage nachgegangen werden, wie innerhalb dieser asubjektiv verstandenen Weltstruktur menschliches Selbstverstehen – und von dort aus: menschliche Bildung – gesehen werden können. Mit Blick auf die zuerst exponierte Frage nach der Subjektivität macht Patoþka in seiner Untersuchung der Texte von Brentano, Husserl und Heidegger deutlich: „Die ‚phänomenale Sphäre’ ist nicht in dem Sinne subjektiv, daß sie aus subjektiven Verläufen, ‚belebenden Intentionen’, ‚Auffassungen’ und allerlei Erlebnissen bestünde oder in ihnen ‚konstituiert’ wäre als noematisches Korrelat einer in Evidenz absoluter Selbsterfassung gegebenen Noese. Sie ist allerdings subjektiv in einem viel einfacheren Sinn; sie deckt sich nicht mit dem Seienden an sich, sie ist in gewissem Sinne breiter, umfassender, sie ist ein Entwurf jeder möglichen Begegnung mit ihm. Als Entwurf einer möglichen Begegnung hat sie natürlich Bezug zum Seienden, das in Möglichkeiten lebt, als Mögliches ist, und gerade das ist dasjenige, was ‚sum’ besagt.“ (Patoþka 1991, 282; sum = lat. Ich bin)
Mit diesem Hinweis distanziert sich Patoþka von jeglicher Auffassung einer herrschaftlichen Subjektivität mit ihren Bemühungen, Dinge als Phänomene zu ‚konstituieren‘. Er setzt sich zugleich ab von Husserls transzendentalphänomenologischer Position eines Subjekts als leistendem Ego, da Patoþka Subjektivität einbindet in ‚Möglichkeiten der Begegnung mit Seiendem‘, die folglich dem Subjekt logisch vorausliegen und solcherart unverfügbar sind. Damit wird auch die Struktur moderner Subjektivität transformiert, wie nun gezeigt werden soll.
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3.3.1 Die Existenz geht dem Ich voraus Den Zusammenhang von Erscheinen und Subjekt löst Patoþka nicht gänzlich auf (vgl. auch Barbaras 2007, insbes. 85 ff.). Durch die Existenz des Menschen vor aller Selbstreflexion, durch das „sum“, besteht gewissermaßen eine Strukturanalogie zwischen Erscheinungsfeld und dem Existenzfeld der Menschen. Patoþka verbindet die Erscheinungs- und die Existenzstruktur nicht einfach miteinander – und vermeidet die in dieser Logik nicht stichhaltig auflösbare Problematik der Frage, ob das Wahrgenommene dem Wahrnehmenden vorgängig sei (Empirismus) oder umgekehrt (Rationalismus ebenso wie Transzendentalismus). Vielmehr vermittelt er beide durch Heideggers Konzeption des Seins, das im „sum“ als Ausdruck menschlicher Existenz seinen besonderen Ort findet. „Im ‚sum’, im ‚ich bin’ und den dazugehörigen korrelativen Strukturen tritt das Sein in Erscheinung, und im Entwurf der phänomenalen Sphäre bietet es [nämlich das Sein; Anm. A.B.] allem Seienden die Helle seines Raums. Das Seiende wird deshalb im Eintritt in die phänomenale Sphäre nicht sich selbst entfremdet, es verwandelt sich nicht in eine ihm wesensfremde Subjektivität; wenn es sich in einem neuen Kontext, im Kontext des Erscheinens, wirklich wandelt, dann nur in sich selbst; hier in dieser Sphäre wird auch demjenigen Seienden, welches seinem Sein ursprünglich völlig fremd und fern liegt, das Sein als sein eigenes zurückgegeben.“ (Patoþka 1991, 283)
Zunächst scheint der Autor an dieser Stelle wiederum mit seinem Verständnis der Asubjektivität zu ringen. Denn einerseits versteht er das Erscheinen als solches jeglichem Zugriff durch das wahrnehmende Subjekt entzogen. Andererseits wird das Erscheinende an die Existenz des Menschen rückverwiesen, nicht an die moderne Subjektivität, die durch Vernunft und die Zentralinstanz des Wahrnehmens gekennzeichnet ist. Zwar entwirft in der zitierten Stelle nicht ein subjektkritisch über sich selbst aufgeklärtes Subjekt die anschaubaren Formen des Erscheinenden, dennoch eröffnet das weltoffene Dasein der Menschen erst das Feld der Erscheinungen. Dieses vermeintliche Dilemma – Erscheinen als solches ist als asubjektives dem Subjekt vorgängig und doch verwiesen auf die Subjektivität – kann erst durch das Aufgeben einer zweistelligen Logik gelöst werden. Es
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muss daher im Sinne einer nicht-binären Ordnung nicht mehr zwingend geklärt werden, ob das Erscheinen dem Subjekt voraus geht oder nicht. Denn durch den „Eintritt in die phänomenale Sphäre“ wird das Erscheinungsfeld für das Ding eröffnet. Das Erscheinungsfeld liegt dem menschlichen Verstehen zugleich voraus und findet andererseits doch gerade dort den Ort seiner eigenen Wahrnehmung; in der Subjektivität kann Erscheinen reflexiv verstanden werden. Auf diese Weise erhält die „phänomenale Sphäre“ zwar eine Gliederung, die auch subjektive Züge trägt, jedoch einzig, weil im Erscheinungsfeld Erscheinen und menschliche Existenz miteinander vermittelt werden. Zudem ist diese Existenz zunächst lediglich im Handeln dem Geschehen im Erscheinungsfeld zugewandt. Eine Subjektivität, die sich ihrer selbst bewusst wurde, ist erst ein weiterer Schritt, den Patoþka an dieser Stelle noch nicht ansetzt. Vielmehr ist für ihn das Ich der Subjektivität lediglich die personale Konsequenz der Existenz (vgl. ebd. 284) und ergibt sich erst im Nachgang reflexiven Selbstbezugs (vgl. Patoþka 2000, 201; hier im Blick auf die Epoché). Vor aller Reflexivität sind deshalb andere Formationen der Existenz – etwa auch der Sorge, des Begehrens oder des Engagements – denkbar, in denen sich die Menschen dem Erscheinenden innerhalb des Offenbarungsfeldes zuwenden.68
68 Eine ähnliche Position findet sich auch bei Merleau-Ponty: „Aussagend, daß ich Sinne habe und diese mir Zugang zur Welt verschaffen, bin ich nicht Opfer einer Verwirrung, vermenge ich nicht kausales Denken und Reflexion, sondern bringe ich einfach jene Wahrheit zum Ausdruck, die jeder integralen Reflexion sich aufdrängen muß: Auf dem Grunde einer Natur, die ich mit dem Sein gemein habe, bin ich fähig, in bestimmten Anblicken des Seins einen Sinn zu entdecken, ohne ihn ihnen selbst kraft einer konstituierenden Leistung erst verliehen zu haben.“ (Merleau-Ponty 1966, 254) In der o.g. Zuwendung zum Erscheinenden erschließen sich Sinnbestände, die nicht erst reflektierend konstituiert werden müssen, sondern sich unmittelbar zeigen. Dass mit dem dargestellten Gedankengang Patoþkas Sein und Erscheinen auf besondere Weise verbunden werden, insofern – ähnlich wie auch bei MerleauPonty (1986) – Ontologie als Phänomenologie und vice versa gedacht werden können, soll zunächst lediglich erwähnt werden. Ihre argumentative Ausarbeitung wird erst später erfolgen können (vgl. 3.3.3 ff. dieser Schrift).
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Erscheinen bedeutet also die Vermittlung von Subjektivität und Erscheinendem. „Die auf das ‚sum’ gegründete Analyse der phänomenalen Sphäre, des Erscheinens in seinem Erscheinen, ist […] mit gutem Recht ‚asubjektiv’ zu nennen. Sie vermeidet die Punktualität des ego, welches für den Kantischen Transzendentalismus zum Grundstein der Bewußtseinssynthesen, aber auch zur Besiegelung seiner subjektiven Absperrung in der ‚bloßen’ Phänomenalität wurde.“ (Patoþka 1991, 283 f.; vgl. auch Richir 1994, 74 f.)
Es ergibt sich ein Blick auf die Offenheit der Subjektivität. Statt eines punktuellen Ich, das als Zentralinstanz Objekt wie Welt gleichermaßen ausrichtete, findet sich in der Erfahrung mit den Dingen eine Beziehung, die reichhaltigere und verschiedenförmige Verflechtungen von Menschen und Dingen zeigt. Die Vielzahl der Erfahrungen kann so durch die Vielzahl der interpretierenden Deutungen aufgegriffen werden und bleibt nicht auf ein subjektives Zentrum festgelegt. Soweit bereits die Überlegungen der vorhergehenden Kapitel. Die Kritik des Erscheinens nun trägt ihrerseits und neu dazu bei, in einer Theorie der Asubjektivität eine Subjektivität solcherart umzuformen, dass sie als offene Struktur mit vielgestaltigen Weltzugängen kenntlich und wirksam wird. Genauer bedeutet dies für den Subjektbegriff: Ist er Bestandteil der Erscheinungsstruktur, so kann er angesichts der Vielgestaltigkeit dieser Struktur nicht mehr punktuell definiert und auf dieser Basis seine Erkenntnisleistung als von einem Zentrum ausgehend verstanden werden (Intentionalität). Was am Erscheinen beteiligt ist, ist eines von dessen Strukturmomenten: „[…] es gehört zum Sich-Zeigen, zum Erscheinen, [als; Anm. A.B.] dasjenige, wem das Sichzeigende sich zeigt, aber [als] nichts mehr, außer daß die […] Bewegungen des Sich-Zeigens sich darauf beziehen. Und dies ‚Subjekt’ ist genauso keine Realität wie das Sich-Zeigen, […] [es ist; Anm. A.B.] nur ein leerer, rein seiender Bestandteil der Erscheinungsstruktur; eingebaut in eine Realsubjektstruktur gewinnt es erst die Konkretion eines Seienden.“ (Patoþka 2000, 165)
Dadurch ist das Subjekt im Erscheinungsgeschehen beteiligt, zeigt sich jedoch nicht als mundanes, sondern verbleibt als Strukturelement außerhalb der nachweisbaren Erfahrung. Diese außer-erfahrungsbezogene Struktur
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von Subjektivität ist ein weiteres Ergebnis der asubjektiven Analysen mit den Mitteln der phänomenologischen Philosophie. Auch in den Akten des cogito ist kein Ich zu entdecken (vgl. bereits Gurwitsch 1929, 317). Denn Vernunft als Erfahrungsvollzug ist gewissermaßen der erste Schritt aus der asubjektiven Gestalt des Subjekts in die lebensweltliche; dieser aber geschieht jeweils im Vollzug der Beziehung zu den Menschen und Dingen in der Lebenswelt. Die Reflexion, die das vernünftige Ich moderner Subjektivität bezeichnen könnte, erfordert einen weiteren, nämlich selbstreflexiven Schritt und kann demzufolge erst im Anschluss an den Akt des denkenden Bezugs zum Erscheinenden gesetzt werden. Insofern ist jedes cogito als Beziehung im Erscheinungsfeld zu sehen. Denn einzig in seiner Beziehung zum Erscheinenden wird es tätig. Ein „absolutes cogito“ indes verstellt den Prozess des Erscheinens (vgl. Lehmann 2004, 40). Die Auffassung Eugen Finks hinsichtlich des Ich muss nun kritisch eingeschätzt werden: „Nur wenn und solange es Selbstbewußtsein hat und darin sich weiß, […] muß es ‚notwendigerweise‘ sein. Diese Seinsnotwendigkeit des Ego ist eine erkenntnisrelative Seinsnotwendigkeit, keine schlechthinnige.“ (E. Fink 1959, 231)
69 Dass Novotný im Gegensatz dazu Patoþkas „Auffassung vom ‚anschaulichgegenständlichen‘ Gegebensein“ (Novotný 2010, 179) als dessen phänomenologische Grundposition beschreibt, verwundert in nicht geringem Maße. Denn Patoþka macht u.a. mit dem oben angeführten Zitat (vgl. aber auch Patoþka 2000, 116 ff.) deutlich, dass selbst die Bestandteile der „Erscheinungsstruktur“ „keine Realität“ besitzen, darum nicht anschaulich werden und dennoch ihre Bedeutung in Patoþkas Phänomenologie haben. Man mag Novotný zugestehen, dass Patoþka oftmals selbst nicht eindeutig genug ist – etwa wenn er formuliert: „Ist aber das Subjekt […] ursprünglich nichts anderes als dies, dem die Welt sich zeigt, gibt es keine reine Anschauung des Subjektiven in seiner Konkretion, dann muß eben diese Konkretion auf die Seite der Dinge fallen“ (ebd. 123). Dass die Konkretion indes gerade nicht an Subjekt oder Objekt, am Ich oder am Ding festgemacht werden muss, sondern aus dem Erscheinen als solchem aufgrund seiner Vorgängigkeit (Apriori) abgeleitet werden kann, macht Patoþka andernorts deutlich (vgl. etwa Patoþka 1975, 82 f.), vernachlässigt diese Position aber offenkundig allzu häufig.
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Statt also das Ich an die Erkenntnis – gar eine rationale cartesischen Zuschnitts – zu binden, wäre nach dem bislang Entfalteten diese Fassung des reflexiven Selbstbezugs als durch die spezifische Struktur des Erscheinens ermöglicht anzusehen. In Ausweitung des hier vorgestellten Argumentationsganges ist das sum, das „ich bin“ der menschlichen Existenz, näherhin als leibliches zu verstehen. Denn der Leib als Organ menschlicher Anwesenheit in der Welt ist zugleich Verortung innerhalb des Erscheinungsfeldes und Ausdruck der Existenz, aus der sich die vernunftbezogene menschliche Selbstdeutung in der Moderne erst nachträglich ergibt. Jan Patoþka macht mit dieser Verhältnisbestimmung von Erscheinen und Subjektivität deutlich, dass er keine Veränderung, gar Revolution des husserlschen Ansatzes durch Heideggers Konzept sieht, sondern die plausible Konkretisierung ebenso wie die angemessene Fortführung. Daher kann er auch an die im Vorherigen hauptsächlich referierten Gedanken seines Aufsatzes über die „Möglichkeit einer ‚asubjektiven’ Phänomenologie“ (Patoþka 1991, 267 ff.) anschließen: „Durch Ansetzen am ‚sum’, durch dessen ontologische Abhebung gegenüber nichtdaseinsmäßigem Seienden ist ein Durchbruch ermöglicht worden zu fundamentaleren erfahrungsbegründenden Strukturen. Er ist allerdings erst in der späteren Zeit der sogenannten ‚Kehre’ erfolgt; hier erst wurde das im ‚sum’ in Bewegung und lichtende Wirksamkeit kommende Sein in dieser phänomenalisierenden Leistung gezeigt.“ (Ebd. 284 f.)
Dieser Hinweis lässt sich derart interpretieren, dass Sein an der Existenz der Menschen deutlich wird als dasjenige, das ihr Denken, aber mehr noch ihr Erleben und Handeln, eröffnet für das Erscheinende. Sein ermöglicht Erfahrung, indem es die Erfahrenden für Seiendes als Erscheinendes öffnet. Genauer: Erscheinendes kann erfahren werden, weil es als Seiendes gleichursprünglich ist wie die Erfahrenden – und es als Seiendes zur Erscheinung für die seinsoffenen Erfahrenden gelangt. Seiendes erhält deshalb phänomenologisch die Form des Erscheinenden und zeigt sich auf diese Weise einem Subjekt, das Seiendes/Erscheinendes als seinsoffenes erfahren kann. Mithin geht das sum dem ego voraus, die Existenz dem Ich, denn vor aller rationalen Formung des Erfahrungszentrums eines Subjekts findet es sich bereits als Erfahrung Sammelndes im Erscheinungsfeld vor.
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3.3.2 Geflechte von Ich und Welt Das Erscheinen und mit ihm die Erscheinenden lassen sich nun noch genauer im Hinblick auf die Erscheinungsstruktur von Welt verstehen. Denn die in der Welt erscheinenden Seienden sind den Menschen auf unterschiedliche Weisen und jeweils perspektivisch gegeben. Keine Gegebenheitsweise kann den – leiblich im Erscheinungsfeld verorteten – Wahrnehmenden den Totaleinblick vermitteln. „Die Erscheinungscharaktere umwinden das Erscheinende, die Welt, wie sie sich zu erkennen gibt, wie sie sich manifestiert, in einem dichten und farbigen Geflecht. Aber dieses Geflecht ist kein Material, aus welchem die Erscheinungen bestehen, sondern es sind nur die Blickpunkte, die den Erscheinungskern, die Welt, konzentrieren und zentrieren; sie sind nie als etwas zu fassen, woraus die Welt ‚entstehen’ kann, in welchem Sinne es auch sei.“ (Patoþka 2000, 131 f.)70
Patoþka macht wiederum ernst mit seiner bereits entfalteten Option, Phänomenologisches ontologisch zu interpretieren und umgekehrt. Was erscheint, „ist“, jedoch nicht in der Weise, dass hier eine Reifizierung der Phänomene, eine Verdinglichung der Erscheinungen erfolgen könnte, so als ob das Erscheinende auf seine Erscheinung als Sache festgelegt werden könnte. Vielmehr ist das Seiende schlicht als Interpretations- und Verständnisform für das Ereignis des Erscheinens als solchem zu sehen. Das Ich – als auf Vernunft fußendes bereits fraglich geworden – wird in seiner Bedeutung für das Erscheinungsgeschehen nun wiederum aufgewertet: Das „Doppelwesen des Ich, daß es Erscheinungsaufnahme und Kausalwirksames [als Adressat der Erscheinung macht es Erscheinung in diesem Sinn erst möglich; Anm. A.B.] ist, das muß allerdings zum Erscheinungscharakter des Ich selber gehören, das muß in der Erscheinungsstruktur apriori vorgesehen sein.“ (Ebd. 148)
70 Hier scheint Patoþka bezüglich der Erscheinungscharaktere an Typisierungen wie die kantischen „Formen der Anschauung“ zu denken, wobei sein asubjektiver Zugang ihn offensichtlich daran hindert, diese Typisierungen – ähnlich Kant – subjektiv zu fassen.
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Auf diese Weise kommt die Asubjektivität als Beziehungsangebot des appellierenden Erscheinens in den Blick. Denn was erscheint, nimmt nicht nur auf anderes Erscheinendes Bezug, indem es beispielsweise auf die umstehenden Dinge räumlich „antwortet“ und seine eigene Position im Erscheinungsfeld festlegt. Über diese Form der „Erscheinungsaufnahme“ hinaus wird das Erscheinende im Erscheinungsgeschehen selbst wirksam; das Erscheinen als solches wird vom Erscheinenden gewissermaßen unterstützt. Was an der Schwelle des Erscheinens steht, sich in der erscheinenden Gestalt zeigt, kann dies nur mit weiteren erscheinenden Elementen tun, die sich ebenfalls vom Hintergrund abheben und das Feld des einzelnen Erscheinenden ebenso möglich machen wie sie es strukturieren. Diese Gesamtkonstellation einer im Erscheinen begriffenen Gestalt ist nicht als das Erscheinen als solches zu missverstehen, es ist ja ebenso wie anderes Erschienenes vom asubjektiven Prozess des Erscheinens betroffen. Erscheinen eines Dinges ist in seiner Feldstruktur durch weitere Dinge als appellierende und Antwort gebende für ein Erscheinendes geprägt. Diese anderen Erscheinenden wirken auf ein Verfahren ein, dessen Verursachung sie nicht leisten können, bei dessen Zustandekommen sie jedoch förderliche Wirkung entfalten. Dass beispielsweise ein grünes Licht im Straßenverkehr die FußgängerInnen zum Voranschreiten animiert, ein rotes hingegen zum Stehenbleiben, verdankt seine Wirkung nicht zuletzt seiner Verortung in einem kulturell-rechtlichen Raum der Straßenverkehrsregelungen, einem territorial strukturierten Raum mit Straßen und Fußgängerüberwegen sowie einem sozialen Raum mit Regelbefolgenden und gegebenenfalls einigen Regelüberschreitenden. So erweisen sich die Dinge als notwendige, jedoch nicht zureichende Bedingungen für die Erscheinenden – in diesem Beispiel: Menschen, die eine Straße auf ein bestimmtes Lichtsignal hin überqueren. Die asubjektive Dynamik des „Erscheinens als solchem“ ist auf die Dinge und ihre Verortungen verwiesen, sie können jedoch als vereinzelte Erscheinende nicht als begründende Bedingungen für Erscheinen angesehen werden. Was sich zeigt, entspringt der Bewegung innerhalb des Erscheinungsfeldes und schlägt sich gewissermaßen an denen nieder, die sich bereits gezeigt haben. Gleichwohl kommt Subjektivität in diesem Netzwerk von Erkennenden und Erscheinenden auf besondere Weise zur Geltung. Dort nämlich, wo sich das Denken in seiner neuzeitlichen Form des „ich denke“ auf die Phänomene bezieht und seine Selbstsicherheit im Hinblick auf die erscheinen-
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den Dinge prüft, wird deutlich, dass dieses Ich ein Bestandteil der Erscheinungsstruktur ist (vgl. Patoþka 2000, 120). Dabei kann unter asubjektiver Perspektive keine absolute Differenz von Ich und Wahrgenommenem aufrechterhalten werden – insbesondere dann nicht, wenn sich das Wahrnehmen nicht mehr allein auf ein Ich, sondern auf den Anderen bzw. die Sache bezieht. Hier kann die Wahrnehmung nicht auf die Ichseite verrechnet werden. Es gibt insofern schlicht kein subjektives Reich von Wahrnehmungen mehr (vgl. ebd. 118). Vielmehr sind Ich und das Feld der Erscheinungen wechselseitig für einander eröffnet. Daher gilt mit Merleau-Ponty: „Das Subjekt der Empfindung ist […] ein Vermögen, das mit jedem Existenzmilieu in eins entspringt und mit ihm sich synchronisiert.“ (Merleau-Ponty 1966, 249). Es kann sich nicht in sich abschließen, sondern ist – auch mit seinem (Selbst-)Erkenntnisvermögen – verflochten mit den Erscheinenden. Wie sich das Ich gestaltet, ist nicht allein milieuabhängig, sondern muss zudem im Wechselspiel von Umfeld und eigenen Momenten zu einer Ausgestaltung seiner selbst gelangen, die sich sodann auch auf das jeweils gegebene „Existenzmilieu“ bezieht. Das Charakteristikum einer Sache, mehr noch des Ich, ist also nicht allein aus den Bedingungen des Umfeldes abzuleiten, sondern steht im wechselseitigen Austausch mit diesem Feld, beeinflusst das Feld und wird von diesem wiederum verändert. Anstelle einer transzendentalen Wahrnehmungsstruktur im Erkenntnissubjekt, welche die Dinge nur unter ihrem eigenen gestaltenden Blickwinkel aufzufassen vermag, ergibt sich nunmehr ein kontinuierlicher Prozess wechselseitiger Umformungen von Ich oder Ding und Feld, der aufgrund der andauernd wechselnden Bezüge permanent oszilliert und letztlich bestenfalls vorübergehend zum Stillstand zu bringen ist. Wer „ich“ bin oder was „das“ ist, lässt sich lediglich innerhalb eines bestimmten Kontextes und je nach Situation aussagen. Außerhalb dieses konkret gegebenen Zusammenhanges und des ebenso konkret festzulegenden Momentes ist eine solche Aussage nicht verlässlich, da sie entscheidende phänomenologische Bezugsgrößen nicht in den Blick zu nehmen vermag. Auf diese Weise kommt unter anthropologischer Hinsicht das nicht auf das Ich eingegrenzte und demgemäß exzentrische Bild des Menschen (vgl. Schaller 2004, 119) neu zur Geltung. Nietzsches Diktum: „bleibt der Erde treu“ (Nietzsche 1997 II, 280) erhält dadurch seine Einordnung in das menschliche Selbstverstehen. Denn nicht ein Selbstbild aus einem inneren Verständnis- und Gestaltungszentrum von Welt (Kant, Fichte oder in ge-
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wisser, nämlich transzendentalphänomenologischer, Weise auch der Husserl seiner diesbezüglichen Schaffensphase) gelangt dabei ins Blickfeld, sondern die Verwiesenheit auf die Feldstruktur von Erscheinen und Erscheinendem (mit Nietzsche: die „Erde“). Nur im Bezug und der Verflochtenheit mit Anderem können die Menschen ihre „Grundlage“, genauer: die Bedingungen ihrer Gestaltung erfassen. Nur im Verhältnis zu Anderen wird sich das Ich ansichtig – und sobald sich die Verhältnisse ändern, gilt dies auch für diese Ansichten. Darum ist das Ich als Knotenpunkt von Verknüpfungen der Erfahrungen zu sehen (vgl. Merleau-Ponty 1966, 17). Und zumindest unter der Hinsicht des denkenden Subjektes ist dieses Ich in diesem Fall sogar Mittelpunkt seiner Erscheinungsstruktur, eben der Welt. Was das – wohlgemerkt reflexive – Ich Wirklichkeit werden lässt, ist das produktive Offenhalten der Möglichkeit, sich mit den Momenten des Umfeldes in Beziehung zu setzen (vgl. Gurwitsch 1966, 295). Jene allein aus eigener Kraft hervorzubringen, und sei es lediglich für sich selbst, ist ihm jedoch versagt. Einzig kann es die Erscheinenden in den Blick nehmen, sich mit ihnen zusammenbringen lassen und so eine gemeinsame Gestaltung innerhalb des Feldes des gemeinsamen Erscheinens verwirklichen. In diesen Geflechten von Ich und den in der Welt aufscheinenden Phänomenen findet es seine Struktur. Das Ich ist letztlich nicht mehr und nicht weniger als Teil eines Knotenpunktes in den Netzen der Feldstrukturen.
3.3.3 Brüchige Erscheinungen Wurde bereits auf das problematische Verhältnis von Sein – Erscheinen – Erkennen (vgl. 2.2.4 dieser Schrift) hingewiesen, so lässt sich nun die Frage, wie Seiendes in seinem Sein zu erkennen sei, insofern es als sich Zeigendes erscheine, mit Maurice Merleau-Ponty und Jan Patoþka beantworten: In diesem Kontext mag zunächst desillusionierend wirken, dass sich menschliches Erkennen nicht mehr graduell an die Phänomene annähern kann, um ihnen so schrittweise Erkenntnis abzuringen. Anstelle dieser „adaequatio rei atque intellectus“ ist unter der Perspektive einer asubjektiv „aufgeklärten“ Phänomenologie deutlich, dass
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„es keinen Schein ohne Erscheinung gibt, sodaß jeder Schein das Gegenstück zu einer Erscheinung bildet, sodaß der Sinn des ‚Realen’ nicht auf den des ‚Wahrscheinlichen’ reduziert werden kann, sondern das ‚Wahrscheinliche’ vielmehr eine endgültige Erfahrung des ‚Realen’ beschwört, deren Fälligkeit nur aufgeschoben ist.“ (Merleau-Ponty 1986, 63)
Somit ist jede Wahrnehmung immer schon mit den Brüchen der Erscheinenden und den Lücken des Erscheinungsfeldes konfrontiert. Soweit Wahrnehmung realistisch ist, ist sie gerade keine durchgängig informierte. Areale des Unverstehens und des Entzugs zeugen nicht von defizitärer Erfahrung, die im Nachgang schlicht aufgebessert werden könnte. Vielmehr hat jedes Wahrnehmen und jeder Verstehensversuch immer schon zu gewärtigen, dass sich Unverstehen und fehlende Einsicht in Erkenntnis und Verstehen einstellen. Dies muss keineswegs das Bestreben negieren, genauer oder besser erkennen und verstehen zu wollen. Gleichwohl sind Undurchsichtigkeiten mit Blick auf das Reale noch keine Ausweise für mangelhaftes Forschen. Erkennen kann sich im asubjektiven Verhältnis stets nur als beschränktes und fragiles begreifen, weil es auf das Erscheinungsgeschehen innerhalb des jeweiligen Feldes angewiesen bleibt und davon seinerseits tangiert ist. Gerade aus der Negativität des Verstehens gewinnt Erkennen seine gewandelte Bedeutung, indem sich nämlich das Lernen anschickt, diese „Fallibilität und ‚Negativität des Wissens’ selbst pädagogisch zu nutzen; eine solche Perspektive erlaubte, die an Lernen und Lehren unweigerlich gekoppelte Nichtsouveränität (entlastend) an die Offenheit des Wissens selbst zu binden.“ (Ricken 2005, 117)
Lernprozesse verlieren unter dieser Hinsicht ihre Souveränität und stellen die Auffassung einer Subjektivität in Frage, die durch Spielräume eigener Vollmacht geprägt sein soll. Das Subjekt dieses Lernens ist kein absoluter Machthaber mehr, sondern brüchiges Verhältnis schillerndundurchsichtiger Strukturen menschlichen Bemühens, sich zu sich selbst sowie zu Menschen und Dingen zu verhalten. Diese bildungstheoretisch relevante Fragilität des Wissens, aber ebenso auch des Könnens ist nicht allein eine solche der Lernenden, sondern betrifft ebenso sehr auch die Lehrenden. Auch hier nämlich
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„ist pädagogische Erfahrung über eine zweifache oder doppelte Negativität vermittelt: Sie schließt nicht nur Enttäuschungen und Irritationen auf Seiten der Lernenden, sondern auch auf Seiten der Lehrenden als Lernende ein.“ (Benner 2003, 99)
Mit den Perspektiven, wie sie durch Ricken und durch Benner beigebracht wurden, sind nunmehr nicht allein gemäß der transzendentalphänomenologischen Perspektive „Akte als Erlebnisse, die selber reflexiv originär zugänglich sind“ (Patoþka 1991, 298) zur Grundlage des Erscheinungsgeschehens im erziehungswissenschaftlichen Zusammenhang zu erheben. Vielmehr werden bei asubjektivem Zugang einerseits auch die Erkenntnisakte in das Erscheinungsgeschehen eingebunden, andererseits sind es jedoch nicht mehr sie, die Erscheinen als subjektive Leistung realisieren. Stattdessen eröffnet das Erscheinen als solches Felder, in denen sich Erscheinende und Erkennende für einander in der Vorläufigkeit und lediglich relativen Verfügbarkeit ihrer Gestaltungsmöglichkeiten finden. Solcherart sind im pädagogischen Geschehen alle Beteiligten auf die asubjektiv gegebenen Möglichkeiten innerhalb der Erscheinungsfelder und den darin in ihrer Gestaltbarkeit vorab beschränkten Handlungsspielräumen verwiesen.
3.3.4 Zerklüftete Erfahrungen Wurden existenzielle Aspekte im Erscheinungsgeschehen und daraus abgeleitet die Struktur einer auch auf Wissen bezogenen Subjektivität im Anschluss an Patoþkas Verständnis von Asubjektivität dargestellt, soll nun der Entzug als phänomenale Negativität in der asubjektiven Phänomenologie Thema werden. Bereits in einem vorhergehenden Abschnitt (vgl. 2.3.9 dieser Untersuchung) wurde der Entzug als Aufweis von Klüften und Lücken im Erscheinen des Phänomens sowie im Phänomenbezug zur Sprache gebracht. Hier soll dieser Spur weiter gefolgt und die Bedeutung der sich dabei ergebenden Perspektive im Hinblick auf die Subjektstrukturen erörtert werden. Zunächst sei allgemein angemerkt, dass in der Phänomenologie Leere als ein möglicher „Modus der Gegebenheit“ (Patoþka 2000, 129) fungieren kann. Solche Leere ist nicht allein als das Fehlen eines Sichtbaren – oder eines solchen Teilmomentes innerhalb einer bestimmten Gestalt – aufzufas-
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sen. Vielmehr kann Leere genauso als erst nachträgliche Nichtung in einer sich zeigenden Figuration verstanden werden. Das Nichts gilt dann nach Patoþka als Moment eines zentrifugalen, exzentrischen Sinnes, der beispielsweise in der Angst aus der Verdecktheit durch alltägliche vermeinte Plausibilitäten hervortritt (vgl. Patoþka 2002, 299). Angst kann auf diese Weise die Leere eines alltäglich nicht hinterfragten Sinn-Konzeptes aufzeigen. Brüche im phänomenalen Feld erscheinen nicht allein aufgrund der Opazität und Inkonsistenz der Erscheinungen, die somit allein durch ihr Erscheinen bereits für Klüfte im Erscheinungsfeld sorgen. Unter asubjektiver Hinsicht nämlich ergeben sich „Bruchlinien der Erfahrung“ (Waldenfels 2002) auch als Resultat eines Prozesses der Sinnbildung, der sich im Zwischenraum von offener Subjektivität und mit ihr verflochtenen Dingstrukturen ereignet. Zwar wird nicht erst ein „Zentrum“ verlassen oder schleudert gar die Sinnstrukturen in die Weite einer Lebenswelt, wie Patoþkas Begriffe eines „zentrifugalen“ und eines „exzentrischen“ Sinnes vermuten lassen. Doch weist er recht plausibel nachvollziehbar darauf hin, dass sich verstreute, laterale und vorübergehende Sinngenesen in einem unübersichtlichen Erscheinungsfeld ausmachen lassen – Angst etwa als der horror vacui (horror vacui = lat. der Schrecken der Leere) in einer ansonsten mit Dingen überfüllten Lebenswelt. Doch auch außerhalb eines Angst-bezogenen Erscheinungsfeldes lässt sich die Bedeutung nicht-transparenter Momente aufweisen: Wird beispielsweise Nachhilfeunterricht für verschiedene im Lernprozess eingeschränkte Kinder angesetzt, um ihnen eine sinnvolle Unterstützung angesichts ihrer Lerndefizite zu bieten, so zeigen sich trotz aller Sinn ergebenden Interventionspläne unterschiedliche Ergebnisse. Solche Ergebnisse wiederum lassen unterschiedliche Formen oder sogar unterschiedliche Intensitäten von neuerlichen Sinnbildungen bei den Beteiligten erwarten. Ein evtl. gleichermaßen angesetztes Sinnkonzept (in ihren Lernerfolgen schwache SchülerInnen erhalten eine spezielle Unterstützung beim Lernen) ergibt unterschiedliche Konsequenzen bei unterschiedlichen Menschen. Nicht nur verschiedene, in ihren Folgen jedoch durchaus identifizierbare Rahmenfaktoren spielen in ein solches Geschehen mit hinein, sondern genauso Momente, die in ihrer Erscheinung entzogen sind. So wird zwar deutlich, dass das eine Kind sich mit einem solchen nachqualifizierenden Unterricht schwerer tut als ein anderes, woran dies im Einzelnen liegt, bleibt jedoch
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verdeckt. Dies verweist darauf, dass das Lernen von Menschen schwerlich in Gänze analysiert werden kann – immer bleiben Teilmomente im lernrelevanten Verhalten, im Lernen selbst oder im erlernten Umgang mit den Dingen in einigen ihrer Aspekte entzogen. Insofern bedarf die pädagogische Intervention in der Unterstützung des Lernens und seiner Ergebnisse im Bildungsprozess stets der Berücksichtigung entzogener Momente – Bildung lässt sich durch das Angebot von Gelegenheiten fördern, nicht jedoch als durchgängig planbar prognostizieren und gestalten.
3.3.5 Die „Pädagogik der Wende“ Das erkennende Ich findet sich in zahlreichen Zusammenhängen auf jeweils unterschiedliche Weise wieder. Doch kommen Differenzen noch in anderer Hinsicht zur Geltung. Insbesondere ist das fraglich gewordene Ich zu denken als anonym geprägte (und wohl nicht mehr im klassischen Wortsinn „gegründete“) Namentlichkeit des eigenen Weltaufenthaltes. Denn die Aussage „Ich bin …“ kann nicht mehr Auskunft geben über die Grundlage der eigenen Bezüge zu sich und dem Anderen. Eine transzendentale Formulierung, was denn die Bedingung der eigenen Möglichkeit, „ich“ zu sagen, sei, lässt sich vor dem Hintergrund der Kreuzung und Vernetzung mit den Strukturen der Welt nicht mehr eindeutig ausformulieren. Es lässt sich zwar äußern „Ich bin jetzt ein …“ oder „Ich bin hier als …“, doch was mich überhaupt möglich macht, ist mit Patoþkas Konzept der Asubjektivität keine Vernunftleistung, die ‚all mein Dasein muss begleiten können‘ (vgl. Kant), sondern eine nicht mehr rational ausweisbare Dimension, die Rationalität ihrerseits erst möglich macht. Das, was dem Bewusstsein entzogen ist und somit als non-egologische In-Frage-Stellung moderner Subjektivität wirkt, ist nicht als chaotische Ungestaltetheit zu verstehen. Im Rückgang auf Lacan (vgl. 2.1 dieser Schrift) zeigt sich vielmehr eine Architektur, die nicht-vernünftig, also auch nicht von vernünftiger Identifizierung zu erfassen ist. Demzufolge ist im Hinblick auf das unbewusst Entzogene nach dem zu suchen, was sich dem Zugriff durch die Vernunft entzieht. Dieses Fehlende wird als dem vernünftigen Erkennen Entzogenes pädagogisch höchst wirksam, da es menschliches Leben prägt, jedoch nicht nach dem Verständnis der Moderne mit rationalen Verfahren bewirtschaftet werden kann. Soll es daher kein unvermitteltes
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Eigenleben in Bildungsprozessen entwickeln, ist nun zu fragen, wie ein Entzogenes und auf diese Weise der Vernunft Unverfügbares im Bildungsprozess Beachtung finden kann. In dieser Hinsicht ist das Ich durch die Dynamik des eigenen Entwurfs, durch Fremdes, durch die vielfältigen Verklammerungen der bewusst gestalteten Bezüge zum weltlich Gegebenen sowie durch die sich im Entzug andeutenden Momente seiner selbst zu denken. Das Ich bleibt in der Schwebe zwischen all diesen Gelenkstellen, justiert sich in diesem Spannungsfeld je nach Situation neu und doch immer nur vorübergehend. Die einzige Kontinuität, die in diesem permanenten „Projekt Ich“ auszumachen ist, kann dann die eines ‚egologischen Feldes’ sein, das gerade bestimmt und in Schwingung gehalten wird durch asubjektive „Ströme“ des Entzugs und intersubjektive sowie dinggegebene Appelle. Folglich ist das Ich ein Entwurf und bereits ein potentielles Zu-Ende-Kommen seiner eigenen Form, um mit neuem Beginnen je anders ausgerichtet einzusetzen. Da sich das asubjektiv durchzogene Ich je nur feldspezifisch formen lässt, um sich anschließend selbst wiederum aufzuheben, kann eine solche phänomenologische Egologie als ‚Wissenschaft vom Nichts’ (vgl. Patoþka 1991, 441) bezeichnet werden. Dass deshalb Konstruktionen eines Ich mittels abgrenzender Beschreibungen von Eindeutigkeit, d.h. identitätslogische Definitionen des Ego, ihre Plausibilität einbüßen, liegt auf der Hand. Phänomenologische Egologie wird im Zuge dessen zur Lehre der schildernden Suche angesichts asubjektiver Felder mitsamt der ihnen inhärenten Herausforderungen. In diesem Zusammenhang lässt sich die Anregung entfalten, die Patoþka gerade von seinem Landsmann Komenský (1592 – 1670) erhält: Dieser dezidiert vormoderne Pädagoge und Theologe entwirft ein
71 Daher sollen die strukturellen Angebote Komenskýs genutzt werden, dessen theologische Fundierung mit ihren Offenbarungs- und Ordnungsmaßgaben hingegen müssten einer eigenen Reflexion zugeführt werden. Da eine solche im gegebenen Kontext nicht hinreichend geleistet werden kann, werden die diesbezüglichen Implikationen im Entwurf Komenskýs nicht mitberücksichtigt – wohl wissend, dass Komenský ohne Theologie nicht zu seinen entsprechenden Positionen gefunden hätte. Diese Differenz reflektiert einzuführen, entspricht dem einleitend skizzierten Bricolage-Konzept, das Ansatzpunkte für eine Umformung tradierter Verständnisvarianten ermöglichen soll.
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menschliches Selbstverstehen, das mit Hilfe der „offenen Seele“ (vgl. Patoþka 1987, 177 f.) einen Bezug des Menschen auf die Bezüge der Welt denkt. Kein Denken, das den Menschen auf sich selbst zu stellen trachtet (Descartes), kein Selbsterleben des Denkens, das „alle meine Vorstellungen begleiten können“ (Kant KrV B 131) muss, auch keine in sich abgeschlossene Monade (Leibniz) macht hier menschliches Selbstverstehen aus, sondern ein Handeln mit den Dingen und Menschen, die dem Ich nicht nur seine Spiegelung vermitteln – sondern weit darüber hinaus zum Einfügen in das Erscheinungsfeld, Bildungsgeschehen und zur Reform des Bestehenden aufgrund des aktuell Begegnenden auffordern. Gerade so wird eine „Pädagogik der Wende“ denkbar, welche die Menschen anhält und befähigt, sich existentiell in ihrer bisherigen Ich-Zentrierung umzuwenden und sich sodann entschieden ihren Weltbezügen zu widmen (vgl. Patoþka 1987, 190). Mit dem Bild der „offenen Seele“ bei den Educanden wird die Verausgabung an Dinge oder Menschen – und für Patoþka auch Gott – denkbar (Patoþka 1987, 178; vgl. auch Hagedorn 2011). Denn der Mensch verbleibt in dieser Form von Bildung nicht bei seinem von der Welt abgeschlossenen, das Denken über sich und die Dinge in der Welt zentrierenden Standpunkt. Vielmehr wird mit Hilfe Patoþkas ein Bildungsgeschehen zur Sprache gebracht, das sich von dem Anderen seiner selbst herausfordern und belehren lässt – seien dies lehrende Menschen oder lehrreiche Dinge. Patoþka spezifiziert diesen Gedanken noch weiter, wenn er darauf verweist, dass im Wahrnehmungsakt eine Identifikation dieser als „Seele“ beschriebenen humanen Struktur und des Wahrgenommenem geschehe, wobei nach seiner Folgerung das Wahrgenommene als EIDOS gewissermaßen in die Seele übergehe (vgl. Patoþka 2000, 65; bezieht sich auf Aristoteles). Deshalb ist ein solches Geschehen der weltoffenen Wahrnehmung für Patoþka „zugleich objektiv und subjektiv“, eine Dualität von Sehen und Gesehenem wird zugunsten der Doppeldeutigkeit eines Sehens unterlaufen, das mit Hilfe des Gesehenen fungiert. Denn ähnlich Merleau-Pontys Konzept vom „Fleisch“ ist offenkundig auch für Patoþka die Beziehung zwischen Menschen und Dingen stets so, dass die Ähnlichkeiten je größer sind als die Unähnlichkeiten. Daher findet der Mensch seinen Platz in dem Feld, in welchem er ebenso wie alles andere zur Erscheinung gelangt. Patoþkas Phänomenologie der Wahrnehmung ist eingebettet in seine Konzeption einer asubjektiven phänomenologischen Philosophie – eine Einbettung, die sich auch für Merleau-Pontys Spätphilosophie als hermeneutischer Schlüs-
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sel anbietet, zumal Merleau-Ponty darin die Abhängigkeit des Sichtbaren aufgreift (vgl. auch Lacan 1980, 78). Dies erweist sich als umso gewichtiger, insofern deutlich wird, dass sich auch in der sinnlichen Welt Negativitäten, nämlich als Abwesenheiten des Wahrnehmbaren finden lassen: „Ein wahrnehmender Leib, den ich sehe, ist ebenso eine gewisse Abwesenheit; sein Verhalten zieht sie nach sich, sie wird hinter ihm zurückgelassen. Aber selbst die Abwesenheit ist in der Anwesenheit verwurzelt, durch ihren Leib ist die Seele des Anderen in meinen Augen Seele.“ (Merleau-Ponty 2003, 261)
Gerade im intersubjektiven Bezug macht Merleau-Ponty kenntlich, inwieweit der Kontakt nicht nur vermittels der wahrnehmbaren Fakten verwirklicht wird, sondern ebenso sehr auf das verweist, was die Kontaktnahme ermöglicht, ohne selbst kenntlich zu werden – wie die bereits angesprochene menschliche Chiffre einer „Seele“. Die Konstitution des Anderen als „Mensch mit Leib und Seele“, als konsistente Person wird mir ermöglicht, indem ich lediglich einen gewissen Aspekt – hier: den Leib – meines Gegenübers wahrnehme und dementsprechend die Kohärenz des mir begegnenden Menschen auffasse. „Seele“ kann einerseits als die besagte phänomenale Negativität des Menschen verstanden werden, da sie im Sinne einer überdauernden Struktur im Menschen gerade als nicht Erfassbares ihre Wirkung erzielt. Andererseits macht der Begriff deutlich, wie Sichtbares und Unsichtbares ineinander verwoben sind – eben als eine „Art von Ausdehnung, Einmischung und Übergreifen“ (ebd. 263) der einander Begegnenden und ihrer Aspekte. Sichtbares wie Unsichtbares gehen also nicht mehr in einem Übergang von „Solus ipse zum Anderen“ über (ebd.), sondern sind in derselben Situation, in demselben Feld miteinander verflochten und einander zugleich Anruf wie Antwort. Damit ist die Problematik von ego und alter ego, von Ich und anderem Ich aufgehoben, „weil nicht ich sehe und nicht er sieht, sondern weil uns beiden eine anonyme Sichtbarkeit und ein Sehen im allgemeinen innewohnt“ (Merleau-Ponty 1986, 187). Diese Anonymität desjenigen, das sich meinem Sehen zeigt und umgekehrt dem des Anderen, ist die Weltstruktur, die jene bereits beschriebene Verschränkung von Ontologie und Phänomenologie ermöglicht, weil das Sehen hier mit jenem überkreuzt ist, das sich sehen lässt (vgl. 3.3.7 dieser Untersuchung). Merleau-Ponty fasst sie unter der Perspektive von Welt als
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Fleisch (vgl. Merleau-Ponty 1986, 187), sie ließe sich unter der Fragerichtung nach der Subjektivität im vorgenannten Sinne als „Seele“ begreifen – als subjektive überdauernden Struktur in der Anonymität der Kreuzung von Ich und Anderem, die Sehende wie Gesehene umfasst. Die Begriffe „Fleisch“ bei Merleau-Ponty und „Seele“ bei Patoþka umschreiben einen ähnlichen Sachverhalt, nämlich die Kreuzung von Sichtbaren im Gesamt des Gegebenen, das „durchlöchert“ ist von Negativitäten; „Fleisch“ beschreibt die Gemeinsamkeit von und daraus resultierend die Schrankenlosigkeit zwischen Ich und den Dingen, „Seele“ jene zwischen Ich und Anderem. Beide Male wird kenntlich, dass das Ich sich nicht als abgegrenzt vom Umgebenden verstehen kann, sondern verflochten ist mit dem Anderen. Ermöglicht wird dies durch eine vorausgehende Struktur, die Merleau-Ponty in ihrer Anonymität benennt. Mit dessen phänomenologischem Ansatz wird plausibel, was sich ebenfalls in der Philosophie Patoþkas ergibt, nämlich „der Gedanke, dass die Seele nicht von vornherein da ist, sondern erst am Ende, dass sie in ihrem ganzen Wesen etwas Geschichtliches ist und nur kraft dessen dem Verfall entgeht.“ (Patoþka 2010, 129)
Nicht allein aufgrund geschichtlicher Vorkommnisse, sondern zumal wegen ihres Wirkens innerhalb der geschichtlich gegebenen Situation wird die subjektive überdauernde Struktur in ihrer Unsichtbarkeit „sichtbar“. Dieses Wahrnehmen des nicht (positiv) Wahrnehmbaren hat ihre Voraussetzung in der Ek-stase der Wahrnehmenden (vgl. auch Merleau-Ponty 2003, 259), in der Öffnung der Wahrnehmenden für die Welt. Infolgedessen bringt der Mensch nach Patoþka zwar sein alter ego, den ihm begegnenden Anderen nicht mittels Einfühlung hervor, wie Merleau-Ponty in Anlehnung an Husserls Konzeption vermutet (vgl. ebd.), sondern beide werden in der Struktur des Escheinens als solchem sichtbar. Dennoch kommt die Verwiesenheit von Ich und Anderem in ihrer gemeinsamen Situation zum Tragen. Lehrende sind beispielsweise nicht einfachhin Lehrende, sondern sie werden dies innerhalb der Situation des Unterrichts, der sie zugleich mit den SchülerInnen als Adressierte wie als Appellierende verbindet. Erst im gemeinsamen Austausch werden Ich und Andere zu denjenigen, die sie in dieser Situation sind – wenngleich eine solche Situation nicht allein in ihrem sozial definierten Ort, etwa der Schule, statthaben muss,
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sondern durchaus auch an anderen Orten inszeniert werden kann. Dennoch sind erst sich autorisiert artikulierende Lehrende und in darauf bezogener Form sich artikulierend Belehrte (sowie vice versa) dort in einem gemeinsamen Feld aufeinander verwiesen, wo eine Situation dies ermöglicht und die Beteiligten diese Gegebenheit zumindest annehmen. Dass solche Inszenierungen hingegen andernorts keinesfalls immer in demselben Maße gelingen, lehrt die lebensweltliche Erfahrung.
3.3.6 Bildung durch Negativität Angesichts des Entzugs kommen innerhalb sozialer und dinglicher Bezüge ferner auch Verhaltensweisen in den Blick, die nicht allein auf lebensweltliche Ordnungen verwiesen sind, sondern nun in speziellen Realisierungen ihre Wirkung zeitigen; etwa in der Hingebung im Rahmen von Kunst oder auch Denken (vgl. Patoþka 1990, 275). Dieses Konzept soll mit der vorliegenden Untersuchung auch für den Bereich der Bildung umschrieben werden. So wird etwa im Feld des pädagogischen Prüfungswesens deutlich, dass die Genese von epistemologischer Subjektivität einerseits durch Wissenshervorbringung und andererseits im Rahmen einer klassifizierenden Matrix erfolgt (vgl. Ricken 2005, 116 f.), die nicht allein einen subjektiven Bestand an Erlerntem überprüft, sondern dies zugleich in objektivierten Ordnungen leistet. Prüfungen belegen – bei erfolgreichem Ausgang – nicht allein das gelernte Wissen, sondern auch die gelernte Ordnung der Wissensdarbietung, die jedoch in aller Regel unthematisiert und in solchen Sinne negativ, weil verdeckt erfolgt. Durch und in Prüfung geformte Subjektivität kann solcherart nicht als abgeschlossene mit ihrer besonderen, nicht für jedermann zugänglichen Kenntnis identifiziert werden, sondern muss als diejenige offener Verhaltensweisen in den bildungsrelevanten Situationen wie etwa einer Prüfung und ihren spezifischen Anforderungen an die Darbietung von Selbst- und Wissensbeständen aufgefasst werden, ohne diese in allen Bezügen sichtbar zu machen. Jenseits solcher pädagogischer Pflichtübungen zeigt sich die bildungsrelevante Bedeutung der Negativität auch darin, dass sich Anerkennung durch Entzug (vgl. Ricken 2006) ergibt. Denn Anerkennung gewinnt gerade nicht dadurch ihre Bedeutung für das individuelle Subjektivitätskonzept, dass jemand „– wie ein Trabant – um das Zentrum des Selbst kreist“ (ebd.
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223), sondern vielmehr als nicht Verfügbarer und dadurch Entzogener dem Individuum Bestätigung und Anerkennung verleiht. Es wird kenntlich, dass mir der Andere auch in seiner Verborgenheit erscheint (vgl. Merleau-Ponty 1994, 443 sowie die vorhergehenden Darstellungen zu „Fleisch“ und „Seele“). Nicht nur eine Sozialität der Sichtbarkeit, sondern ebenso sehr eine solche der in der vorgenannten Weise skizzierten Negativität prägt das intersubjektive Bildungsgeschehen angesichts der entzogenen Momente sozialer Interaktionen. Denn nicht nur körperliche Gestalt, Habitus und Kenntnis der sozialen Umstände formieren den pädagogischen Bezug zwischen LehrerInnen und SchülerInnen, sondern in ähnlichem Umfang auch die entzogenen, jedoch in ihrer Negativität relevanten Ansichten über die anderen wie etwa vermutete Motivationen, unterstellte (Un-)Kenntnis oder auch angenommene Bildungsziele sowie gesellschaftliche und historisch entfaltete Maßgaben. Gegebenes wie Entzogenes prägen somit in ihrem jeweiligen Zusammenspiel Bildungsprozesse, so dass beide Dimensionen für einen phänomenologisch konzipierten Bildungsbegriff berücksichtigt werden können.
3.3.7 Interesse an den Dingen Wenngleich die soziale Interaktion dem Bildungsgeschehen seine jeweils spezielle Form verleiht, muss dem Bezug von Menschen und Dingen gleichfalls große Aufmerksamkeit geschenkt werden. Denn das massive Sein von Ding und Welt ist zugleich voller inkompatibler Details (vgl. Merleau-Ponty 1986, 19), die auf solche Weise Lücken und Brüche im lebensweltlichen Kontext offenkundig werden lassen. Diese Fragilitäten können, dies dürfte bereits der bisherige Untersuchungsgang in seiner Kritik am Subjektivitätsbegriff der Moderne deutlich gemacht haben, nicht allein als Resultat subjektiver Perspektiven verstanden werden. Vielmehr ist deutlich geworden, dass die Dinge sich nicht der Formatierung der Erkenntnissubjekte verdanken, sondern ihre eigene Artikulation (vgl. Stieve 2003, 71) im jeweiligen Kontakt mit der subjektiven Wahrnehmung verwirklichen. Das Ding erweist sich als eine eigene Dimension innerhalb der Welt, weil es das Ergebnis der Aufspaltung des Seins (vgl. in zumindest subjektiver Perspektive Merleau-Ponty 1986, 191) darstellt. Genauer ist das Ding die Zusammenführung von Eigenschaften als Identität herstellende Form
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(vgl. ebd. 210), die in ihrer Verknüpfung das wahrnehmbare Ding ergeben – eben jenes Ding, das sich wahrnehmen lässt als des Weiteren verknüpft mit anderen Dingen ebenso wie den wahrnehmenden Menschen. Ding wie leiblich Wahrnehmende erhalten ihre Gestalt erst im Wechselspiel ihrer Bezüge. Denn was ich in die Hand nehme, um es genauer zu betrachten und so zu verstehen, was es mit diesem Ding auf sich habe, wird erst durch meinen leiblichen Bezug zum Gebilde meines praktizierten Interesses. Umgekehrt bin ich erst Interessierter, als sich mir ein Ding auf eine Weise darbietet, dass ich es näherhin zu erkennen suche. Das Inter-esse als Dazwischen-Sein beschreibt an dieser Stelle prägnant, in welcher Hinsicht Bildung nicht nur in der Intercorporeité (Merleau-Ponty), sondern auch im Zwischenraum von leiblichen Menschen und leiblich anrührenden Dingen statthat. Aufgrund der bisherigen Überlegungen zu Dingstruktur und Wahrnehmungsgeschehen lassen sich weitere Ableitungen formulieren. So ist zum einen „das Ding“ keine statische Angelegenheit, die sich in ein „Ansich“ entzöge und in den Abschattungen ihrer selbst eine lebensweltliche Ahnung ihres Seins anböte. Vielmehr zeigt sich das Ding je nach Situation – und daher auch: Wahrnehmenden – auf verschiedene Weise. „The same appears in different ways” (Chvatík 2003, 8). Nicht die Hinterwelt eines „wirklichen” im Unterschied zu einem bloß „wahrnehmbaren” Ding legt sich in diesem Zusammenhang nahe, sondern der Begriff „Ding selbst“ erweist sich nun als in der Moderne geformter Ausdruck von Imperialismus und Solipsismus (vgl. Merleau-Ponty 1986, 26), von Herrschaft und Alleinstellung der metaphysisch entworfenen Subjektivität, die des Dinges nicht habhaft zu werden vermag und diese Erfahrung in eine epistemologisch defizitäre Struktur des Dinges ummünzt. Mit der zuvor skizzierten Kritik an diesem modernen Anspruch ist die ausweglose Grundstruktur, das „Ding an sich selbst“ (Kant) sei unerreichbar, nunmehr überwunden zugunsten eines Erscheinungsgeschehens, das seine Rechtfertigung und seine Form dem asubjektiven Geschehen innerhalb des Erscheinungsfeldes verdankt. Anstelle von einander getrennter und in Folge dessen für einander nicht einsehbarer Pole eines zweigliedrigen Wahrnehmungskonzeptes macht die asubjektive Phänomenologie kenntlich, wie Menschen und Dinge aufeinander verwiesen sind, wie sie interagieren und in dieser Herausforderung von Appell und Response ihre jeweiligen Gestaltungen entwickeln. Dinge und
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Menschen sind deshalb nicht voneinander abgeschieden, sondern im Erkennen wie Handeln mit einander verstrickt. Allerdings wird in einer zweiten Hinsicht der Leib zum zwischen die Dinge geratenen Selbst (vgl. Merleau-Ponty 2003, 280), letztlich gar zum Selbst, das seine konkrete Form dem beschriebenen Austausch mit den Dingen verdankt. Merleau-Ponty kleidet dies in die prägnante Formulierung, dass „zwischen Dingen und mir verborgene Kräfte“ (Merleau-Ponty 1986, 24) bestehen. Denn anstelle einer Trennung von Subjekt und Objekt wird im Erscheinungsfeld das Chiasma von Menschen und Dingen solcherart deutlich, dass sich die Feldstruktur als von Kraftlinien durchzogene (vgl. Lewin 1982) erweist. Statt der transzendentalphänomenologischen Intentionalität des Bewusstseins zeigen sich Verweisungen am Ichlichen ebenso wie am Erscheinenden (vgl. Patoþka 2000, 123), die gerade in ihrer Verweisungsstruktur Menschen wie Dinge in ihrer lebensweltlichen Zuordnung innerhalb des beide gemeinsam umspannenden Erscheinungsgeschehens darlegen. Auf diese Weise ergibt sich schließlich eine Neuformulierung des Intentionalitätskonzeptes. Denn „Intentionen sind [nunmehr; Anm. AB.] nichts anderes als Kraftlinien des Erscheinens am Erscheinenden“ (ebd. 124), die aufgrund des dargestellten Zusammenhanges die Wechselwirkungen aller im Erscheinungsfeld zur Darstellung Gelangenden zum Ausdruck bringen. Phänomenalität von Menschen wie Dingen ergibt sich in deren Wechselwirkung, nicht aus deren vermeintlicher Abschottung, aus welcher sich ein Strahl der Intentionalität auf die umgebenden Phänomene richtete.
3.3.8 Zurück in die Welt der Dinge Jan Patoþka fordert mit seinem asubjektiven Begriff des Erscheinungsgeschehens nicht nur die geistesgeschichtlichen Denkgewohnheiten, sondern auch die phänomenologischen Traditionen auf besondere Weise heraus. Was bislang selbstverständlich schien, wird damit fraglich: Was sich zeigt, ist nicht einfachhin da und sichtbar. Auch ist das, was sich zeigt, nicht aufgrund der Anstrengungen eines sich besonders zurichtenden Ich (den phänomenologischen Beobachter) in einer anderen Welt als derjenigen der Erkennenden (nämlich der Lebenswelt) für dieses in seiner tatsächlichen Struktur (im Bewusstsein der Beobachtenden) gegeben. Vielmehr führt
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Patoþka die Zurückweisungen des modernen Menschen fort, indem er ihn nicht mehr zum Quell und Maßstab seines eigenen Schauens werden lässt. Was sich dem Menschen zeigt, hat in der asubjektiven Phänomenologie denselben erkenntniskritischen Status wie der Mensch. Beide sind eingebunden in das Erscheinungsgeschehen, das sich der Verfügungsgewalt der Schauenden ebenso entzieht wie sie sich selbst in ihrem Selbstgewärtigen entzogen bleiben. Unter der Maßgabe eines revidierten modernen Subjektbegriffs (vgl. Kapitel 2 dieser Schrift) ist folglich die asubjektive Philosophie eine Fortsetzung der Modernekritik mit phänomenologischen Mitteln. Patoþka macht nämlich mit der Konzeption einer selbstkritischen Moderne ernst, indem er das phänomenologische Konzept für Subjektivität und Phänomenalität zunächst zusammennimmt und sodann auf diese Verbindung selbst anwendet. Anders wäre es kaum möglich gewesen, die Epoché als phänomenologisierende Einstellung (vgl. 3.1.1 dieser Untersuchung) auf den Prüfstand zu stellen, sie auch auf das Erkenntnissubjekt selbst anzuwenden und schließlich daraus resultierend zu dem vorzudringen, was Subjekt wie Phänomen erst zur Erscheinung gelangen lässt – eben das Erscheinen als solches. Die Phänomenologie Jan Patoþkas lässt sich in die Kritik einer revidierten Moderne einbringen. Indem nämlich das Erkenntnissubjekt durchaus seine phänomenologisierende Leistung aufbringen muss, gleichwohl nicht die „Zügel der Anschauungsformen“ in der Hand behalten kann, sondern auf eine ihm vorgängige Dimension des Erscheinens stößt, wird es in seiner Position zwischen den anderen Menschen und Dingen von seinem subjektphilosophischen Thron gestoßen. Das Subjekt ist ebenso wie das Ding in asubjektiver Hinsicht ein Ergebnis eben dieses asubjektiven Geschehens – eines Erscheinungsprozesses, der Menschen wie Dinge gleichermaßen in den Selbststand entlässt und in dem sich beide dennoch einander kontinuierlich weiter verpflichtet sehen. Was sich zeigt, zeigt sich uns im Zuge von Entwicklungsprozessen, die der Formierung von Subjektivität vorausliegen. Dies gilt auch für das Selbstverstehen und – mehr noch – für das, was als Identität und Authentizität oft genug pädagogische Normativität entfaltet. Ergebnis dieser asubjektiven Weitung des anthropologischen wie des auf die Dinge bezogenen Blickfeldes ist ein neu gewichtetes Subjektverständnis, das den Menschen neuerlich in Zusammenhänge verweist, die seiner Kontrolle entzogen bleiben. Indes taucht nun der Mensch nicht allein
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innerhalb der Dinge als gleichgestellter Partner auf, auch in sich selbst erkennt er Wechselwirkungen und Lücken der vormals so mächtigen egologischen Strukturen. Die Versuche einer Selbstaufklärung der Vernunft verweisen den asubjektiv aufgeklärten Träger dieser Vernunft wiederum „zurück in die Welt der Dinge“, und dies nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Vernunftbegabung. Der asubjektive Vernunftbegriff nämlich verweist nicht allein auf die Entmachtung des Erkenntnissubjekts, sondern lässt dies zugleich nur aufgrund der Reflexivität des denkenden Subjekts erkennen. Nur im Rückbezug auf das eigene Erscheinungsgeschehen kann subjektive Einsicht der non-egologischen Bruchstellen ansichtig werden. Somit ließe sich mit einiger Vorsicht formulieren, dass das Erscheinen als solches dem Menschen vorausgeht, gleichwohl in ihm zu sich selbst kommt und infolgedessen die Neubestimmung des Subjektes im Erscheinungsgeschehen weiter führt. Gerade denkend entmachtet sich der Mensch innerhalb des Erscheinungsfeldes, um sich in dieses Feld eingebunden wieder zu finden. Subjektivität lässt sich im asubjektiven Konzept nur solcherart verstehen, dass die Feldstrukturen des Erscheinens als solchem zugleich mitbedacht werden. Subjektivität erweist sich im Erscheinungsfeld als vielgestaltige und brüchige Struktur, die ihre jeweils aktuelle Form wiederum der gesamten Struktur innerhalb des phänomenalen Feldes verdankt. Subjektivität kann demgemäß in ihrer Konkretheit jeweils nur aus der Feldkonstellation heraus abgeleitet werden. Patoþkas Geschichtsbegriff (vgl. Patoþka 2006) bekommt nunmehr einerseits eine auch subjektive Note: Nicht allein kulturelle und ideengeschichtliche Abfolgen sind für eine Interpretation der Gegenwart von Bedeutung, sondern über das Anliegen Patoþkas hinausgehend auch die Diskursformationen der Anthropologie und der Dinge (vgl. Foucault 2008) sowie letztlich der Welt als Spielraum von Erscheinung. Dabei muss jedoch nicht allein von einem geistesgeschichtlichen Epochenformat ausgegangen werden, dessen Menschenbild dann „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ (ebd. 462) auch wieder verginge. Vielmehr lässt sich in Fortschreibung von Patoþkas Asubjektivitätskonzept zudem ein Begriff von Subjektivität formulieren, der, eingebunden in die Situativität seines jeweiligen Diskurses, zugleich inmitten einer geistesgeschichtlichen Aktualität unterschiedliche Konzepte menschlichen Selbstverstehens und -umgehens ausweist. Für die Erziehungswissenschaft ergibt sich daraus die Chance, eine Gleichzeitigkeit „fraktaler Anthropologien“ zu ermöglichen
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und beispielsweise auch Personalität subjektiv zu denken. Wie bereits an anderen Stellen, folgt auch hieraus keinesfalls die Beliebigkeit eines endlosen Sowohl-als-auch, sondern vielmehr die Aufgabe, situative anthropologische Zuschreibungen aus dem Kontext der jeweiligen Situation heraus zu legitimieren. Maßstab für die Berechtigung eines bestimmten anthropologischen Begriffs ist dann nicht allein die Plausibilität für Nachbardiskurse, sondern mehr noch die überzeugende Darbietung der eigenen Argumente mit Bezug auf die Situation, innerhalb derer sich ein solches menschliches Selbstverstehen gebildet hat. Dem Erscheinungsfeld eignen weitere bildungstheoretische Bedeutungen, insofern es die Dinge zum Erscheinen kommen lässt und dementsprechend die „Bedingung der Möglichkeit“ der Dingerkenntnis ist. Zudem lässt sich vor dem Hintergrund des zuvor entwickelten Situationsbegriffes sagen, dass uns das Feld gewissermaßen erst die Dinge einsichtig werden lässt (vgl. Chvatík 2007a, 211). Denn welcher Art ein Ding ist, kann keineswegs überzeitlich und raumlos formuliert werden. Vielmehr gilt für die Dinge ebenso wie die – allerdings in ihrer Reflexivität nochmals eigens herausgeforderten – Menschen: Was etwas ist, zeigt sich zunächst innerhalb der Bezüge, in denen es steht. Ob die Zinsrechnung innerhalb des Mathematikunterrichts vorgestellt oder angesichts des geplanten Kaufs eines Motorrollers erprobt wird, macht für die betreffenden Jugendlichen einen zuweilen nicht unerheblichen Unterschied aus. Doch nicht allein die Dinge und ihre abstrahierenden Zuordnungen werden uns durch das jeweilige Feld ihrer Erscheinungen offenkundig. Auch die sozialen Anderen kommen erst innerhalb konkreter Feldgegebenheiten als ebenfalls in Konkretheit Coexistente (E. Fink) ins Spiel. Denn wie ein konkreter Anderer zu mir steht, erfahre ich nicht in reflektierender Abkehr von unserer gemeinsamen Umgebung, sondern einzig indem ich mich mit ihm innerhalb eines Feldes erfahre. Der offenkundig schlafende Student in meinem Hochschulseminar mag nicht nur mich als Dozierenden irritieren. Treffe ich ihn hingegen außerhalb des Feldes Hochschulseminar – und dazu genügt mitunter der Ortswechsel von wenigen Metern, wenn
72 Klaus
Schaller
rückte
durch
seine
Frage
„Sollte
nicht
auch
ein
a-subjektivistischer Personalismus denkbar sein?“ (Schaller 2006, 73) die bislang kaum vereinbar erscheinenden Denktraditionen an einander heran. Vgl. auch Merlier 2009, 69 ff.
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wir einander vor der nächsten Sitzung auf dem Flur der Hochschule treffen –, so kann das Gespräch mit ihm mir nicht nur sein ganz offenkundiges Interesse für die im Seminar bearbeitete Thematik aufzeigen, sondern weitere Aspekte kenntlich machen, die mich ihm gegenüber versöhnlich stimmen, gerade weil sie mir den Grund seines gelegentlichen Einschlafens aufzeigen. Unter dieser Hinsicht lehrt das Feld auch die Menschen als coexistent in dieser Situation gegebene. Zugleich hat dies Auswirkungen auf die Instrumentarien phänomenologischen Arbeitens. Denn die Variation innerhalb der Reduktion, um somit in der Weise von Husserl auf die eidetischen Bestände eines Phänomens zu stoßen, wird innerhalb des hier vorgestellten sozialwissenschaftlichen Bezugs fraglich. Nicht eine überzeitliche Wesensschau (Eidetik) durch die Enthaltung aller zufälligen Anteile einer Sache (Reduktion), sondern die situative Momentaufnahme trägt dazu bei, soziale Bezüge einzuschätzen und die sich darin zeigenden sozialen Strukturen erst im Nachgang herauszuarbeiten. Ergebnis ist dann nicht die Formulierung eines zugeschriebenen Wesens („du bist …“), sondern die situationssensible Begegnung („du hast dich damals und dort gezeigt als …“), die zu einer schrittweisen Annäherung an die konkret gegebene Andere und an die situationsrelevante Darlegung sozialer Strukturen im Sinne von „Komplementaritätsrelationen“ (Kockelmans) führt („dort hast du dich damals so gezeigt wie …“). Anders gewendet: Anstelle einer ungeschichtlichen Eidetik erfolgt in der asubjektiv konzipierten Bildung eine material, räumlich wie zeitlich schrittweise Annäherung an Subjektivitätskonzepte und soziale Strukturen, freilich ohne den Anspruch, das jeweils gegebene Konzept von Subjektivität der Anderen auch tatsächlich einmal erfassen zu können. Im Hinblick auf diese situative und sodann strukturale Untersuchung sozialer Phänomene zeigt sich ein weiterer Zusammenhang menschlicher Selbstverständigung. Was sich innerhalb des Feldes an menschlichem Selbstverstehen und rational strukturiertem Bezug zu den Dingen ergibt, verweist die Subjektivität zurück in die Situation, innerhalb derer sich Menschen wie Dinge zeigen. Damit sind nicht bloß die Bezüge zu den Dingen und sozialen Anderen feldstrukturiert aufzufassen, sondern ebenso sehr die Subjektivität selbst. Mehr noch: Es sind nicht allein noetische und noematische Endpunkte (vgl. auch 2.3.9 dieser Schrift) eines Kontinuums subjektiver Feldstrukturen zu gewärtigen, sondern es zeigt sich, dass die Dinge und Menschen mit mir als Wahrnehmendem – wohlgemerkt: in der gege-
200 | DISKRETE DIFFERENZEN
benen Situation – unauflösbar verflochten sind. Ich sehe diesen Stuhl vor mir nicht nur deshalb so, wie ich ihn sehe, weil er sich mir in diesem konkreten Raum zu dieser konkreten Zeit zeigt, sondern weil ich mit ihm gemeinsam in dieser raum-zeitliche Rahmung unserer Begegnung verbunden bin. Der gegebene Stuhl zeigt sich mir nicht nur als kühl und abweisend, weil er mir in einem nüchtern gestalteten Unterrichtsraum begegnet, sondern auch, weil mir dieses distanzierende und auf leibloses Raisonnieren angelegte Setting nicht behagt. Lieber würde ich meinen Unterricht ins Freie verlegen und die dortigen Raumerfahrungen der SchülerInnen in mein Unterrichtsangebot integrieren, als auf diesem Stuhl Platz zu nehmen und Distanz wahrende Lernanweisungen zu formulieren. Infolgedessen stößt mich nicht nur dieser Stuhl ab, sondern ich weise ihn zugleich zurück, auch wenn dies keinesfalls im Fokus meiner Absicht lag, als ich den Raum betrat und diesen Stuhl wahrnahm. Eingewoben in die konkrete Situation erscheint mir das Ding anders als an anderem Ort und zu anderer Zeit. Das Feld bildet deshalb Ding-bezogene Subjektivität als eine in die Feldstrukturen eingefügte und als lateral vernetzte.
3.4 B ILDUNG
ALS
Z ERRÜTTUNG VON S UBJEKTIVITÄT
Bildung ist nicht allein von den Feldstrukturen bestimmt. Zugleich ist im Zuge eines asubjektiven Konzepts phänomenologischer Philosophie die Bedeutung des Entzugs bzw. der Negativität in den Blick zu nehmen. Die sich ergebenden „löchrigen Strukturen von Bildung“ verunmöglichen, wie bereits gezeigt, eine durchgängige Planbarkeit von Bildungsprozessen ebenso wie ein gänzliches Selbstverstehen der gebildet Werdenden. Dies bedeutet für einen systematisch exponierten Begriff von Bildung, dass ihre Einzelprozesse unverfügbar bleiben – z.B. auch in formalen Bildungssettings (vgl. Otto/Rauschenbach 2008) für diejenigen, die Bildungsangebote gestalten, ebenso wie für die gebildet Werdenden selbst. Insofern erfordern einerseits bildungsbezogene Initiativen jeweils ein breites Spektrum an Impulsen, um den Spielraum möglicher Prozesse möglichst anfüllen zu können. Zum anderen ist der Bildungsprozess nicht mit letzter Sicherheit verfügbar. Denn was auch immer im Bildungsprozess geschieht, ist gerade aufgrund des Entzugs von Phänomenalität auch für die gebildet Werdenden
ASUBJEKTIVITÄT | 201
nicht im vollen Umfang vorhersehbar. Bildung geschieht dementsprechend immer überraschend und erfordert von pädagogisch Tätigen eine hohe Toleranz für eigensinnige Bildungswege ebenso wie für sich eigens fügende Phänomene des Lernens und die sich im Zuge dessen einstellenden Momente von Bildung. In einer Gruppe werden daher nicht allein alle Beteiligten auf unterschiedliche Weise gebildet, sondern was sie bildet, erscheint ihnen auch nicht kontinuierlich als identisch. Denn des Öfteren zeigen sich die Dinge je nach Fortgang des Bildungsprozesses aus unterschiedlichen Perspektiven – und darin mit jeweils unterschiedlichen „Lücken“. So kann eine Lehrsequenz über makroökonomische Prozesse manchen gebildet Werdenden allein die Bedeutung von Außenhandelsprozessen verdeutlichen, anderen hingegen werden die Verflechtungen innerhalb des Euroraumes deutlich und wieder andere erkennen eine besondere wirtschaftsethische Bedeutung der Währungsunion. Dabei sind aber die auftretenden Ergebnisse nicht unmittelbar auf einander abzubilden; es bleiben Lücken zwischen den verschiedenen Positionen, so dass sich nicht abschließend bestimmen lässt, wer was als „Richtiges“ gelernt und sich ebenso selbst bildend wie gebildet werdend zu den ökonomischen, ethischen, sozialen oder auch subjektiven Gesichtspunkten verhalten habe. Für die pädagogische Profession hat ein solches lückenhaftes Bildungskonzept weiterreichende Konsequenzen. Denn die Ermöglichung, Inszenierung und Begleitung von intransparenten und schillernden Prozessen stellen veränderte Anforderungen an berufliches Handeln im Bildungssystem. Können Lernziele nun bestenfalls teilweise antizipiert werden, so ist die sich daraus ergebende Konsequenz dann auch nicht einfachhin die Beliebigkeit auf Bildung zielender Interaktionen. Vielmehr erfordert solches Handeln vor dem Hintergrund asubjektiv ermittelter Lücken und Bruchkanten ein strukturell aufgeklärtes Rahmenkonzept, innerhalb dessen bildendes
73 Um die bereits erfolgte semantischen Grenzziehung (vgl. die Prolegomena dieser Schrift) nochmals in Erinnerung zu rufen: Lernen beschreibt den Prozess des „Erwerb[s] von Wissen und Können“ (Nohl), Bildung hingegen die Auseinandersetzung von Menschen mit sich und dem ihnen Fremden angesichts der Welt sowie den sich daraus ergebenden Auffassungen von sich, den Fremden und der Welt, wie sie im Lerngeschehen eröffnet werden.
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Handeln stattfinden kann. Eine solche Aufklärung über diejenigen Strukturen, die den Bildungsprozess umgeben, ist indes keineswegs zu verwechseln mit dem Konzept von Formalzielen. Letzteres nämlich ist – unter phänomenologischer Hinsicht – statisch, da es die Formationen möglicher Lernerträge und Bildungsformationen bereits festlegt und das Kenntlichwerden der Bruchkanten von Erscheinungen ebenso sehr zu bestimmen sucht als es sich bemüht zeigt, die subjektiven Prozesse einzuhegen. Im Unterschied dazu sucht das hier vorgestellte Konzept einer Bildungstheorie unter Hinsicht auf die Asubjektivität, sich über Möglichkeiten und Grenzen der rationalen Reflexion der gebildet Werdenden auf das Lerngeschehen Auskunft zu geben, ohne bereits im Vorhinein mögliche Lernereignisse und -ergebnisse zu definieren. Der Entzug phänomenaler Zugänge zu bestimmten Erfahrungen und in den Dingbezügen umgrenzt dieses Konzept, jedoch ohne es bereits material oder formal zu fixieren. Mehr noch: auch eine subjektive Fixierung findet auf diese Weise nicht statt. Denn ein asubjektives Bildungsgeschehen zielt zunächst nicht auf appellierende oder respondierende Akteure innerhalb des Bildungsgeschehens, sondern fragt zuvor nach den Voraussetzungen von und den Prozessen hin zu den Wechselspielen responsiver Subjektivität. Erst nach einem Erscheinen als solchem wird das „Erscheinende für uns“ sichtbar und kann zur Antwort herausfordern. Deutlich wird, dass die zunächst trivial anmutende Erkenntnis, asubjektive Phänomenologie setze auf ein Erscheinen ohne (oder: vor einem) Subjekt, alles andere als ein Pleonasmus ist. Eine asubjektive Phänomenologie in der hier vorgestellten Lesart geht also nicht davon aus, dass subjektive Aspekte mit der asubjektiven Phänomenologie verkoppelt blieben (vgl. jedoch mit dieser Option Blaschek-Hahn 2010, Novotný 2010, Rabanus 2010). Vielmehr macht die vorgelegte Untersuchung eine Phänomenalität geltend, die Phänomene sichtbar werden lässt, ohne auf ein Subjekt – als Erkenntnissouverän oder auch den Prozessen der Erkenntnis Unterworfenes – zu rekurrieren. Vielmehr lautet die dabei vertretene Auffassung, dass sich Erkenntnis auf das asubjektive Erscheinen als solches gründet und mit diesem Prozess erst – nachträglich – Subjektivität als reflexive Erkenntnisstruktur gleich welcher Machtausstattung ins Spiel kommt.
74 Dies zu ermöglichen ist ja u.a. auch das Ziel der vorliegenden Schrift.
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Somit ist Bildung nicht allein transformativ (vgl. etwa 2.2.4 und 3.3.3 dieser Schrift) zu verstehen, sondern der Bildungsprozess zerrüttet zugleich die bis dahin gegebenen Formen von Subjektivität. War eventuell bis zum Zeitpunkt des Lernens ein kohärentes Bild des Selbst gegeben, so zerstört Lernen aufgrund der überraschenden Negativitäten den bisherigen Zusammenhang von Selbst und Dingen in der Welt. Der Zusammenhang von gebildet Werdenden und Welt wird angesichts des Negativen im Bildungsprozess deformiert und führt mitunter – zumindest phasenweise – in die gänzliche Unmöglichkeit des Verstehens. Unter dieser Perspektive erlangt Bildung nicht nur den Gestus der Umformung, sondern aufgrund der phänomenalen Negativitäten wird zudem deutlich, dass mit ihnen auch die Zusammenhänge löchrig und schließlich negiert werden. Angesichts dieser Zerrüttung der vormals gegebenen Auffassung von Subjektivität bedarf es einer spezifischen bildungstheoretischen Kompetenz, um in solchen Erfahrungsprozessen sachkundig (das heißt: gelassen und umsichtig bleiben zu können angesichts der Verlegenheit der bisherigen Selbstbilder) und ermutigend agieren zu können. Bildung unter dieser prekären Hinsicht wird sicherlich nicht zum alltäglichen Erfahrungsrepertoire der in einer Bildungsinstitution Tätigen zählen. Gleichwohl muss ein solcher Bildungsprozess als möglicher mitbedacht werden, wenn es sich um die Artikulation eines asubjektiven Bildungsverständnisses handelt. Denn möglich bleibt eine derartige Zerrüttung von Subjektivität auch dann, wenn sie nicht permanent beobachtet oder gar veranlasst werden kann. Schließlich sei darauf verwiesen, dass unter dieser Perspektive die Demarkationslinien eines „Bildungsbegriffs der Moderne“ ins Blickfeld rücken. In der asubjektiv formierten Bildungstheorie nämlich erfolgt die Nachverfolgung der gegebenen Grenzen der Vernunft mit Mitteln der Ver nunft. Was sich hier unter der Perspektive der Asubjektivität zeigt, ist die gewissermaßen korrodierte und fibröse Struktur moderner Subjektivität (vgl. Böhmer 2006). Statt der modernen Konzeption menschlicher Selbstinterpretationen deutet sich ein „Bildungsbegriff der selbstkritischen Moderne“ an, der mit den nicht überschreitbaren Beschränkungen der Vernunft angesichts der Negativität solcherart umzugehen versucht, dass aus dem Unzugänglichen das Fremde einzubrechen vermag: Dieses Begriff geht da-
75 Dass dies historisch nicht erstmalig geschieht, verrät spätestens der Blick auf Kants Kritiken.
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von aus, sich im Bildungsprozess verwirren und übermächtigen zu lassen. Anstelle des Glanzes subjektiver Selbst- und Weltbeherrschungen rücken die situative Fraglichkeit und Begrenztheit asubjektiver Selbst- und Weltwahrnehmungen in den Blick. Mit diesem Resümee einiger ausgewählter Aspekte von Asubjektivität sollte ein Rundblick über das Areal geleistet werden, welches das Erscheinen als solches dem Bildungsgeschehen eröffnet. Dabei lässt sich erkennen, dass nicht nur einzelne Teilgebiete des menschlichen Selbstumganges davon betroffen sind, sondern zugleich der menschliche Ort des Weltaufenthaltes fraglich wird. Damit eröffnet sich das Panorama einer bildungstheoretischen Interpretation der asubjektiven Phänomenologie Jan Patoþkas für die Konsequenzen, die sich daraus für eine Revision des Bildungsbegriffes ergeben. Diese Revision soll im nun folgenden abschließenden Kapitel entfaltet werden.
IV. Eine asubjektive Revision des Bildungsbegriffs „Die Solidarität der Erschütterten ist die Solidarität derer, die verstehen.“ PATOýKA 2010, 158
Vor dem Hintergrund der bislang entfalteten Gesichtspunkte einer kritisch umformulierten Phänomenologie der Subjektivität kann nunmehr zusammenfassend festgestellt werden, dass das Subjekt mit dem Denken der Moderne letztlich zu einem Grenzbegriff wurde. Denn das menschliche Selbstverstehen, das sich als Zentrum der vernünftig zu verstehenden Welt gebärdete, reicht nicht (mehr) aus. Es reicht insbesondere nicht mehr aus, um die Zugänge zur Welt mittels verschiedener Zugänge unter die Herrschaft der Vernunft und ihrer Ordnungen zu bringen. Unter moderner Hinsicht konnte Kant noch deutlich machen, „daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden.“ (Kant KrV B 29, A 15)
Nun aber ist diese Zwei-Stämme-Theorie deutlich zu weiten. Denn neben Verstand und Sinnlichkeit treten weitere Felder des Austausches zwischen Menschen und Dingen, die sich nicht schlicht der Sinnlichkeit unterordnen lassen. Was Leiblichkeit, Geschichtlichkeit, Vorgaben der Selbstsorge oder auch der Übermächtigung und manches mehr den Menschen an Erkennen ermöglichen, sind keineswegs unter die Leitung des Verstandes oder aber
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der theoretischen Vernunft zu bringen. Vielmehr unterlaufen die erwähnten Zugänge zur Welt den Anspruch des Verstandes auf ordnende Vorherrschaft wie der Sinnlichkeit auf das schlichte Vernehmen eines Äußeren. Ordnungen verbleiben stattdessen im Zwielicht der verschiedenen Zugänge des menschlichen Erkenntnisvermögens zur Welt und Austausch in der Welt. Nicht das von Kants Erkenntnistheorie geforderte „Ding an sich selbst“ noch die Wege zu ihm oder gar in eine subjektive Innensphäre lassen sich infolgedessen umschreiben oder kritisch in ihre eigenen Grenzen verwei-
76 Zum Verständnis der Selbstsorge – nun bei Foucault – wird angemerkt: „Das Individuum muss sich auch im Konzept der Selbstsorge der herrschenden Moral anpassen. Das Ziel der Selbstsorge ist aber nicht die moralische Autonomie. Von dieser will sich Foucault nach wie vor abgrenzen, weil er der Autonomie keine transzendierende Kraft zusprechen will. Das Konzept der Selbstsorge zielt dagegen auf ‚Heautokratie‘, d. h. auf die Beherrschung seiner selbst“ (Volkers 2008, 121; vgl. ferner ebd. 127 f.). Doch auch die Selbstsorge bleibt einem autokratischen, deshalb beherrschenden Zugriff auf das Individuum überantwortet. Dies gilt auch dann, wenn eine kritische Haltung des Individuums dazu beitragen soll, sich den Zumutungen einer bestimmten, kulturgeschichtlich geformten Individualität zu widersetzen (vgl. diesbezüglich Thompson 2004, 46; bezieht sich allerdings eher auf den früheren Foucault der Schrift Was ist Kritik? [1992]). Fremde Macht über ein Selbst scheint günstigstenfalls lediglich durch eigene Macht gegen das Fremde ausgetauscht werden zu können. Eine solche Sicht ließe sich jedoch mit den Ansätzen von Foucaults Umsetzung „diskursiver Ereignishaftigkeit“ (Lüders 2004, 60 ff.) unterlaufen: Die ironische Demaskierung subtiler Machtbezüge durch die individuelle Missachtung einzelner Diskursregeln lassen den bisherigen Anschein von Wahrheit als „Willen zur Macht“ sichtbar werden – und entmachten ihn auf diese subversive Weise, ohne jedoch eine neue Regel oder gar ein autoritäres Subjekt wiederum machtvoll an dessen Stelle setzen zu müssen. Diese Variante subversiver Kritik scheint eher ohne Machtkalkül auskommen zu können, bleibt jedoch auf eine Haltung der Kritik angewiesen. Somit wäre das Verhältnis von Ereignis und Intention, die einander nach gängiger Auffassung ausschließen (vgl. ebd. 66 Anm.), mit Blick auf ein aktives, wenn auch nicht der Herrschaft mächtiges Individuum zu reformulieren. Eine solche Möglichkeit soll auch mit der vorliegenden Arbeit (vgl. etwa 4.2 dieser Schrift), nun unter asubjektiver Hinsicht, geboten werden.
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sen. Beide Formen des sich seiner selbst bewussten Zuganges zu Anderem müssen sich in eine vielfältig undurchschaubare Welt einfügen und auf solche Weise umformen lassen. Diese Umformung des modernen Selbstbewusstseins bedeutet jedoch nicht einfachhin die Zersetzung aller kulturell geprägten Wertvorstellung und einer diesbezüglichen Bildungstheorie. Vielmehr sollten die Einsichten in die Vielgestaltigkeit menschlichen Lebens bildungstheoretisch aufgenommen, in die modern geformten Denkbahnen kritischer Vernunft eingereiht und in dieser Weise verantwortet in die Fachdiskurse wie die Praktiken der Bildungsprofession einbezogen werden. Zu erwarten ist unter dieser Hinsicht nicht schlicht die völlige Abdankung einer vernünftig-wissenschaftlichen Zugangsweise zur Wirklichkeit von Bildung, sondern sehr viel mehr der bewusste und um die eigenen Grenzen wissende Umgang mit den Herausforderungen pädagogischer Tat sachen: Wie kultiviere ich die Freiheit bei der Vielfalt? Auch in dieser Hinsicht bietet der in der vorliegenden Schrift (vgl. etwa 2.2.5) verwendete Begriff der Dezentrierung zwar keine zentralen, jedoch einige richtungenweisende Anhaltspunkte. Denn die als vielgestaltige verstandene Wahrnehmung der Wirklichkeit ergibt nur dann die Gefahr einer Auflösung bildungstheoretischer Vernunft, wenn diese als nicht vielfältig, d.h. in diesem Fall zentriert begriffen wird. Wie kann freiheitliche Bildung als Selbstverantwortung, als kreative Selbstgestaltung oder auch als geschichtlich eingebundenes Lernen menschlicher Sichtweisen entwickelt und zu einem angemessenen Ziel geführt werden, wenn sich dieses Ziel angesichts der vielfältigen Möglichkeiten (zumindest als einheitliches) nicht mehr zeigt? Weder ein unreflektiertes bloßes „Entscheiden nach Faktenlage“ für eines aus dem Kreis der vielen Möglichkeiten noch eine Selbstbeschränkung auf die formalen anstelle der inhaltlichen Bestimmungen scheinen zufriedenstellende Ergebnisse zu verheißen. Denn sonst wären die regelmäßig wiederkehrenden Mahnrufe kaum zu erklären, die eine sich konsequent gebärdende, disziplinierende, „zero tolerance“ fordernde pädagogische Praxis betonen (vgl. dazu auch die Hinweise in Wacquant 2009 sowie 2000). So einfach dürfte es mit den Zielen von Bildungsprozessen nicht sein.
77 Zur Bedeutung von Bildungskonzepten als „Menschlichkeitsentwürfe“ vgl. Ruhloff 2000, 119 ff.
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Eindeutigkeit scheint nicht allein die Sehnsucht matter Geister zu sein, die sich in einer vielgestaltigen Welt nicht mehr zurechtfinden können. Solche Eindeutigkeit erweist sich stattdessen in zahlreichen pädagogischen Situationen durchaus als das ‚Mittel der Wahl’ erzieherischer Intervention wie bildender Angebote, um „die Freiheit bei dem Zwange“ anzuzielen (Kant 1998 VI, 711). Dem soll auch mit den hier entwickelten Überlegungen zunächst nicht widersprochen werden. Doch bleibt zu fragen, wie die notwendigen Klarheiten angesichts der vielerorts anzutreffenden Unübersichtlichkeit im pädagogischen Alltag gestaltet werden können. Das Motto „Zurück zu alten Tugenden“ scheint indes kaum zu tragen – zu viel Energie muss oft genug aufgewandt werden, um solche alten Einrichtungen für mitunter bloß kurze Zeit zu gewährleisten. In diesem Zusammenhang haben die bisherigen Überlegungen ein Subjektivitätskonzept zu Tage gefördert, das der selbstkritisch revidierten Moderne sehr viel mehr zu entsprechen scheint als die Rückbezüge auf traditionell gefasste Ordnungen mit ihren tradierten Menschenbildern. Somit bieten die veränderten Verständnisformen und -ordnungen der Vernunft alternative Zugänge zu den Fraglichkeiten des pädagogischen Alltags. Anstelle vereinheitlichender Maßnahmen ließe sich angesichts der Vielfalt von Lebenswelten und ihren Ordnungen eine Bildungstheorie entfalten, welche die Vielgestaltigkeit der Lebenswelt mit der Vielgestaltigkeit der menschlichen Selbstdeutungen in Beziehung setzt. Mit Dezentrierung wird nicht die völlige Auflösung aller Zusammenhänge in einen Begriff gefasst, denn eine solche Auflösung der Bezüge lässt sich lebensweltlich nicht evident ausweisen. Vielmehr ist damit im Blick, dass sich bestimmte Ordnungen und Strukturen aufgrund der dargestellten Feldstrukturen ergeben und als solche eine bildungstheoretisch aufgeklärte Herangehensweise erfordern. Die neuen Dimensionen einer solchen Struktur machen pädagogische Bezüge möglich, die in den überlieferten Denkbahnen der Moderne allzu oft nicht gesehen werden und sich daher nicht in ihrer Bedeutung erweisen können. Im Rückbezug auf das bislang Entwickelte kann zumindest angedeutet werden, dass eine Perspektive im Wechselspiel mit den Dingen beispielsweise dadurch entsteht, dass sich Subjek-
78 Dieser Aufgabe sind die vorliegende Schrift in Gänze und das folgende Kapitel im Besonderen gewidmet.
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tivität als vieldeutige, situative und mit einer nicht unerheblichen Varianzbreite ausgestattete zwischen den einzelnen Arealen im Feld bewegt. Auf diese Weise kommt ein Bildungsbegriff ins Spiel, der nach solchen Arealen fragt und sie dadurch mitzugestalten sucht, dass er die Bildung des Flechtwerkes von Menschen und Dingen im lebensweltlichen Feld so prägt, dass alle Beteiligten ein beträchtliches Maß an eigenem Anspruch verwirklichen können. Da hierbei das Subjekt als lediglich eine beteiligte Größe neben anderen in den Blick kommt, kann ein derartiger Bildungsbegriff bereits „asubjektiv“ interpretiert werden. Es lässt sich also zunächst festhalten: Subjektivität in einer sich mit den eigenen Möglichkeiten und Grenzen auseinandersetzenden Moderne verweist auf ein Verständnis menschlichen Weltaufenthaltes, der (begrenzte) Herrschaft ebenso wie Unterwerfung und Begehren in Beziehung setzt. Subjektivität wird auf diese Weise begreiflich als vielgestaltige Struktur aus Selbstbemächtigung, Ausgesetztheit, auf Anderes gerichteter Spannung sowie als Wechselseitigkeit der Bezüge von Menschen und Dingen zugleich – als Dezentrierung also, freilich in situativer und in die sozialen wie politischen Felder eingefügter Ordnung.
4.1 ASUBJEKTIVE K RITIK DES B ILDUNGSVERSTÄNDNISSES Für die Methodik phänomenologischer Bildungstheorie ist zu Beginn der hier thematisierten Überlegungen auf die Erkenntnis Patoþkas zu verweisen, dass „‚Intention’ […] selbst schon ein Stück der Metaphysik des Subjekts [als sich absolut klares und bestimmtes Phänomen; Anm. A.B.] – ego – cogito – cogitatum“ (Patoþka 2000, 84) ist. Deshalb kann sich auch die vorliegende Schrift kaum dieser Verfahrensweise bedienen, um nicht schlechterdings in die bisherigen Verengungen solchen Subjektdenkens zu geraten. Vielmehr muss sie auf die kritische Anwendung des Responsivitätskonzepts (Waldenfels) verweisen (vgl. auch 2.2.4 dieser Schrift). Dieser Verweis nämlich macht deutlich, dass nicht aus dem Subjekt als Steuerungszentrale von Denken und Weltbild ein Bildungsverstehen abzuleiten ist, das mithilfe der asubjektiven Phänomenologie gewandelter Perspektiven von Bildung gerecht werden kann. Vielmehr erweist sich – aufgrund der dem Erscheinungsgeschehen und jeglichem Subjekt vorhergehenden
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Geschehnisse (Asubjektivität) – jede Form von Subjektivität als zunächst eingebunden in das Erscheinungsgeschehen und dessen Prozesse der Responsivität. Noch vor aller Selbstdeutung der Menschen als Subjektivität ereignet sich ein Erscheinen als solches, das Menschen dann erst in die Lage versetzt, auf die Ansprüche der Erscheinungen ihrer selbst, der anderen Menschen und der Dinge hin eigene Antworten zu formulieren. Anstelle eines Subjekts, das der Aufforderung zur Transparenz unterworfen ist und solcherart die anderen unterwirft, wird mit der Perspektive von gleichursprünglicher Phänomenalität und der individuellen Antwort auf die Erscheinungen der anderen ein Selbstverständnis der Menschen möglich, das an die Stelle der eigenen Intentionalität die Frage stellt, „ob wir einer Sache oder einer Aufgabe gerecht geworden sind, ob wir ihre Möglichkeiten genutzt und entfaltet oder bewahrt haben und ob wir mit ihr zurechtgekommen sind.“ (Waldenfels 1987, 46)
Weniger das machtvolle Durchschauen der Sachverhalte, sondern vielmehr die mit Zurückhaltung und Aufmerksamkeit antwortende Einstellung der Verantwortung sind nun die Konsequenzen einer ebenso asubjektiven wie responsiven Phänomenologie. In diesem Zusammenhang wird ein Selbstbild der Menschen möglich, das sich vornehmlich der Sorge um die anderen und deren Eigenheiten verpflichtet weiß. „Die Freiheit liegt nicht im Entwurf der Möglichkeiten, sondern in der Verantwortung für die Aktion, darin, daß es nicht ein Prozeß, ein passiv rezipiertes Geschehen, sondern eine Leistung ist, die ich dadurch erbringe, daß ich die Möglichkeit, die mich aus der Welt anspricht, als meine aufnehme oder abweise.“ (Patoþka 2000, 87; vgl. auch Böhmer 2007)
Daher kann auch Bildung im modernen Verständnis als der Freiheit verpflichteter Prozess der Selbstgestaltung angesichts der Herausforderungen durch die Welt seine bisher vornehmlich auf das sich bildende Individuum beschränkte Semantik verändern. Denn anstelle der auf das Individuum und dessen soziale, leibliche und insbesondere epistemologische Gestalt zielende Prozedur wird nunmehr ein Bildungsgeschehen erkennbar, das angesichts der phänomenologischen Gleichursprünglichkeit von Menschen und
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Dingen für den Bezug zu diesen – und so nach der Verantwortung für die Menschen und Dinge sowie den sorgenden Umgang mit ihnen fragt. Gebildet ist unter dieser alternativen Perspektive nicht mehr allein die Persönlichkeit, die über einen bestimmten Kanon all‘ dessen verfügt, was „man“ gemeinhin wissen zu müssen meint, sondern sehr viel mehr diejenige, die ihr Wissen als ebenso kluge wie bedachte Sichtweise auf die Menschen und Dinge zu lenken und deren Eigenheiten sorgsam zu berücksichtigen versteht (vgl. Böhmer 2008b). Diese Form „veränderter Bildung“ beschränkt sich insofern auch nicht auf Erkenntnis und Habitualität, sondern ist einem „praktischen Sinn“ (Bourdieu 1993) verpflichtet, der sich nachgerade darin zeigt, dass Verstehen und Verantwortung in praktischen – und durchaus auch: perspektivenreichen – Konsequenzen zum Ausdruck kommen. Auch hier gilt es demzufolge, der Korrektur Bourdieus am physikalischen Verstehen durch sein Feldkonzept zu folgen – und die Forderung aufzuwerfen, „das Feld, durch welches ein Individuum bestimmt ist, nicht in ‚objektiven, physikalischen’ Begriffen zu beschreiben, sondern in der Art und Weise, wie es für das Individuum zu der gegebenen Zeit existiert […]. Diese Welt des Individuums durch die Welt des Lehrers, des Arztes oder sonst jemandes zu ersetzen ist nicht objektiv, sondern falsch.“ (Lewin 1982, 159)
4.1.1 Die Geburt des individualisierten und totalisierten Subjekts Im Folgenden soll ein Gedankengang entfaltet werden, der versucht, den bereits eingangs formulierten Anspruch einzulösen und die Möglichkeiten pädagogischer Vernunft im phänomenologisch denkenden Selbstversuch unter dem Anspruch einer Rückfrage auf die Genese von Strukturen der Subjektivität zu erproben. Das Lesen eines Textes beispielsweise ermöglicht zunächst die rationale Bezugnahme auf die Gedanken eines anderen Menschen. Was geschrieben steht, ist der sprachliche Ausdruck eines Denkens, das sich mit einem bestimmten Sachverhalt auseinanderzusetzen suchte und zu spezifischen Auffassungen und Formulierungen gelangte. Diese Auffassungen sollen sodann in – dem zeitlichen Prozess des Lesens geschuldeten – linearen
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Strukturen des geschriebenen Textes wiedergegeben und zugleich in ihren wechselseitigen Verweisen dargelegt werden. Dabei wird das Bildungsgeschehen des Lesens als ein subjektiv gestalteter Prozess kenntlich, der zwar auf den Impuls der Schreibenden angewiesen ist, sodann aber in selbsttätiger Form die Auseinandersetzung mit dem Geschriebenen aufnehmen muss. Der Text, selbst wenn er womöglich ausnehmend schlicht formuliert wurde, verlangt die Tätigkeit der verstehend Lesenden. Wer um Verständnis bemüht liest – und mehr noch: wer gar um die Erkenntnis der Voraussetzungen des gegebenen Textes sich mühend liest –, erweist sich nach gängiger Auffassung darin als Subjekt des eigenen Leseaktes. Das Lesen des gegebenen Textes erfüllt somit einen zentralen Aspekt eines bildungstheoretischen Anspruches der subjektivitätsverpflichteten Moderne. Unter asubjektiver Perspektive wird indes ersichtlich, dass diese lesende Tätigkeit der sich Bildenden nicht allein auf das Andere des Textes angewiesen ist – und ohne Fremdes niemals ein Selbst zur Betätigung gelangen lassen kann. Mehr noch wird deutlich, dass sich im asubjektiv verstandenen Erscheinungsgeschehen von Subjekt und Text ein Feld auftut, das die Erscheinungen beider allererst ermöglicht. Was sich als Subjekt des Lesens zeigt, verdankt sich zunächst einem Erscheinen als solchem, das einen menschlichen Selbstbezug in rationaler Form eröffnet: Dass ich mir als Lesender sichtbar werde, muss zunächst einem Erscheinungsgeschehen entsprechen, in welchem ich mir als Lesender dergestalt zur Anschauung gelange, dass ich mitdenkend, kritisch reflektierend, eigenen Intuitionen zum Gelesenen folgend, eventuell auch mich einer aufgegebenen Pflicht zur Lektüre unterwerfend und solcherart Gedanken des Geschriebenen verarbeitend das aufnehme, was die Schrift mir an Erträgen intellektueller Anstrengung einer Anderen vermittelt. Indem ich mich als ein solcher Lesender erfahre, finde ich mich als ein Selbst, das sich in diesem Tun „erblickt“. Lesend erfahre ich mich und bin in der Lage, mich zu „subjektivieren“, mir distanziert gegenüber zu treten und im Zuge dessen ein Selbstverhältnis zu entwickeln: „Dieser Lesende bin ich.“ Zugleich kann ich nun erst den Text als Objekt des Lesevorganges samt den verschieden geschichteten Inhalten, den Verweisen auf außerhalb des Textes verortete Inhalte oder auch die Sprach- und Denk-Besonderheiten der AutorIn verstehen. Wenn aber dieses Subjektivierungsgeschehen nicht schlicht meiner eigenen Leistung entspringt, wie es in der Moderne gefordert wird und wie es im Rahmen der
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vorliegenden Schrift in Frage gestellt wurde, muss es eine andere Dynamik und einen anderen Spielraum geben, um Subjektivität zu ermöglichen. Das Bildungsgeschehen des Lesens wurzelt dementsprechend letztlich nicht nur in der Tätigkeit eines Selbst, das in dieser Form selbsttätiger Bildung ein ‚erstes Wagestück menschlicher Vernunft‘ (Schiller) finden könnte, sondern ist in ihrer Betätigung auf ein Erscheinungsgeschehen verwiesen, das diese Selbstartikulation innerhalb des Bildungsprozesses in Verbindung mit den Text-spezifischen Zusammenhängen und die beide umfassenden Formationen des Umfelds allererst ermöglicht. Nunmehr kann gezeigt werden, dass eine solche asubjektive Interpretation des Bildungsgeschehens nicht allein Tätigkeit, sondern ebenso sehr auch die tradierten Positionen zu Allgemeinheit mitsamt deren „Grundfigur einer gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung“ (Ricken 2006, 300) aufgreift und in Frage stellt. Mit Blick auf die Allgemeinheit des im Bildungsgang zu Erfassenden zeigt sich nun, dass sich der Lesende mit einer Spielart des Allgemeinen befasst – einem Gedankengang, der eingebettet in die kulturelle, soziale oder auch lebensweltliche Allgemeinheit von eben dieser zeugt. Durch die Allgemeinbildung, so die gängige Auffassung einer der pädagogischen Aufklärung verpflichteten Bildungskonzeption, wird das Individuum vorbereitet auf den ihm eigenen Platz innerhalb gesellschaftlicher Zusammenhänge (vgl. mit Rekurs auf Humboldt: Benner/Kemper 2009, 250 ff.; kritisch hinsichtlich der subjektivierenden Regierung qua Individualisierung auf dem „Markt- und Lernplatz“ der Gesellschaft Masschelein 2003, 139). Ein Akt wie der des Lesens macht das Individuum zum Subjekt seines Handelns, indem es sich durch Lesen denkend und verstehend ‚zu sich selbst verhalten‘ (Kierkegaard) kann. Bildung subjektiviert, so kann das Beispiel des Lesens kenntlich machen, indem sie vor aller berufsspezifischen Nutzung im Modus des Allgemeinen dazu befähigt, eine Selbstformierung als Subjekt vorzunehmen und Positionen im sozialen Kontext zu beziehen. Dabei kommt das auf diese Weise geformte Subjekt in Kontakt mit dem Nicht-Eigenen, demjenigen, das für die umgebende Kultur typisch ist – und gerade angesichts des Lesens eines spezifischen Textes in die Kultur, die allgemein solche Besonderheiten (und eben nicht allgemein jegliches Vorstellbare) ermöglicht. Diesem Konzept verdanken sich offenkundig die schulischen Lektüren der „Klassiker“ oder auch der „typischen zeitgenössischen Autoren“, da sich mit dieser Auffassung die Hoffnung zu verbinden
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scheint, am Spezifischen ablesen zu können, welche Typiken eine bestimmte Kultur oder Epoche prägen. Somit ist auch die „ursprüngliche Einsicht Humboldts“ (Benner 2003, 32) zu erweitern, die den Bezug von Mensch und Welt im Bildungsgeschehen die Struktur verlieh: „Selbstbewusstsein als ursprüngliche Tätigkeit des Ich an der Welt, die der Mensch ebensowenig wie sein Ich in reflexiver Vergewisserung einholen kann, sondern als eine hinter allem Bekannten unbekannte voraussetzen muss […].“ (Ebd. 32 f.)
Beizupflichten ist dieser Dialektik von Bekanntem und Unbekanntem, mit der Benners Interpretation argumentiert; dies belegt auch die Analyse des Phänomens, wie sie soeben dargelegt wurde. Doch ist dieses Wechselspiel unter asubjektiver Hinsicht nicht erst auf das Ich und seine „ursprüngliche“ oder „reflexive“ Tätigkeit zu beziehen, sondern zuvor bereits auf die Möglichkeiten der Erscheinung von Ich, Anderen, Dingen sowie Welt. Denn erst innerhalb des Erscheinungsfeldes als schlicht formale Struktur des Erscheinens (vgl. Patoþka 2000, 146) und der ihm eigenen Erscheinungsdynamik können sich Phänomene wie Ich, Text, Welt und in deren Folge womöglich allgemeine Maßstäbe zeigen. Dass sich daran anschließend auch die von Benner skizzierte „Einsicht Humboldts“ ergibt, kann unter asubjektiver Hinsicht zugestanden werden; gleichwohl kommt sie nicht mehr als „ursprüngliche“ zur Geltung, da sie dem asubjektiven Erscheinungsgeschehen erst nachfolgt. Es ergibt sich für die Frage nach Bildungsprozessen im Modus des Allgemeinen, dass die Individuen in der klassischen Lesart von Bildung mithilfe der Bezüge von Allgemeinheit in die Lage versetzt werden sollen, ihre Individualität noch vor aller beruflichen Nutzung mithilfe von Kenntnissen und Prozeduren zu verwirklichen, die ihnen das Bildungsgeschehen eröffnet und übereignet. Zugleich werden sie in ein Allgemeines eingeordnet, das sich ebenso gesellschaftlich wie kulturell darbietet und Individualität in dem ihm eigenen Rahmen einfügt (aktuell etwa die „Erwerbsarbeitsgesellschaft“). Es wird besonders die subjektivierende Kategorie der Individualität zur verallgemeinernden Zurichtung von Menschen und in diesem Sinne zur erwähnten „Totalisierung“ (Ricken). Denn jedeR habe das Ziel, sich bildend zu individualisieren – so lässt sich der Imperativ klassischmoderner Bildungsbegriffe cum grano salis zusammenfassen (vgl. auch unter soziologischer Perspektive Lessenich 2013, 97 ff. sowie Elster 2007).
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Das Bildungsgeschehen des Lesens bedeutet unter der Perspektive der Moderne, dass nicht jede mögliche Umgangsweise mit einem Text als Bildungsgeschehen verstanden werden kann, sondern nur diejenige, die in die formal angemessenen und anerkannten Modi von Individualität einführen. Dies ist dann unter der Maßgabe einer Bildungstheorie der Aufklärung etwa die Anschlussfähigkeit (nun doch Einzug haltender) beruflicher Lerngänge an die zugrunde liegende Allgemeinbildung: „Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne jede Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Giebt ihm der Schulunterricht, was hierzu erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher sehr leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschiehet, von einem zum anderen überzugehen.“ (Humboldt 1964, 218)
Dem gegenüber ist ein asubjektiver Bildungsbegriff zumindest in der Lage, auf die Engführung einer solchen binnenkulturellen Lesart zu verweisen. Was sich zeigt, ist nicht das schlechthin Gültige – weder unter epistemologischer Hinsicht als das einzig solcherart Erkennbare, noch unter subjektiver Perspektive als das einzig ‚ursprünglich Einsichtige‘ für die menschliche Frage nach sich selbst. Vielmehr wird die Bedeutung eines kulturellen und gesellschaftlichen Rahmens deutlich, der in das „Erscheinungsfeld“ ebenso hineinwirkt, wie sich aus ihm erst Subjekt und Objekt des paradigmatisch angeführten Leseaktes als Segment des Bildungsprozesses ergeben. Sodann kann ebenfalls kenntlich werden, dass auch die Frage nach sich als transparent und eindeutig analysierbarem Gegenstand der Selbsterkenntnis („Authentizität“) eine Spielart moderner Fragerichtung ist. Asubjektive Phänomenologie dient in diesem Zusammenhang der Aufklärung über die Reichweite wie Struktur des modernen Bildungsbegriffs. Somit konnte in der bislang dargelegten Analyse gezeigt werden, dass sich die Individualisierung durch Allgemeinheit im modernen Bildungsverstehen rekonstruieren und unter der Perspektive einer asubjektiven Phänomenologie kritisch umformen lässt. Weiter kann hier die Individualisierung als kulturell festgelegte entschlüsselt werden: Nur eine spezifische Individualisiertheit, nämlich die rationale, disziplinierte, mit Sekundärtugenden
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ausgestattete etc., wird üblicherweise als solche in einer modernen Gesellschaft anerkannt. Andere erscheinen hingegen gesellschaftlich als defizitär, als solche der „Anormalen“ (Foucault 2007a). Folgerichtig muss sich die Individualisierung einer kulturellen Verallgemeinerung – nämlich derjenigen gesellschaftlicher Anerkennung von spezifischen Äußerungsformen der Subjektivität – unterziehen. Damit aber kommt die doppeldeutige Gestalt von Bildung zum Tragen: Sie ist im hier entwickelten Sinne emanzipatorisch und usurpatorisch, freisetzend und unterdrückend zugleich. Emanzipatorisch nämlich wirkt sich Bildung dergestalt aus, dass sie zunächst die individuellen Möglichkeiten, Interessen und Ziele eines Menschen zu verwirklichen ermöglichen soll. Ein gebildeter Mensch ist unter dieser Hinsicht eben ein solcher, der noch vor aller Verwendung in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen – etwa der bereits erwähnten Erwerbsarbeit – zunächst seiner Individualität verpflichtet und diese durch Bildungsakte weiter auszuformen bestrebt ist. Zugleich usurpatorisch ist Bildung, als sie diese Individualität nur in einem klar umgrenzten Spielraum (etwa dem „spätindustriellen Kapitalismus“) gestattet. Als gebildet gilt dort, wer innerhalb der Normen und angesichts definierter „Entwicklungsaufgaben“ bestimmte Ausdrucksformen von Sprache, Gestus, Habitus, Distinktion u.v.m. erworben hat, um solcherart die „feinen Unterschiede“ (Bourdieu 1987; zur Entwicklung des Habitus vgl. auch Wacquant 2003) zur Geltung zu bringen. So wurde für die im letztgenannten Sinne zu bildenden „Armen“ einer Gesellschaft das Ziel ihrer Disziplinierung umrissen: „Sie sollen Mehrwert leisten, aber sie sollen es gern tun“ (Bernfeld 1967, 68). Deswegen bedarf es zur weiteren Bestimmung eines kritisch reformulierten Bildungsbegriffes der Aufmerksamkeit auf die Ambiguität einer ebenso emanzipatorischen wie usurpierenden Bildung. Die Frage bleibt, wie eine Kritik dieser Doppeldeutigkeit möglich ist, um nicht allein – dem Anliegen dieser Schrift folgend – die Grenzen pädagogischer Vernunft ausloten, sondern ebenso sehr die verschiedenen Seiten bildungstheoretischer Begriffe aufklären zu können. Die asubjektive Phänomenologie scheint dieser aufklärenden Kritik eine weitere Perspektive hinzufügen zu können, als sie sich der Grenzen rationaler Selbstbestimmung bereits vergewissert hat. Insofern sollen auch nunmehr weitere Erträge der vorhergehenden Kapitel entfaltet werden.
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4.1.2 Anfragen an die Subjektivität des klassischen Bildungsverständnisses Die vorliegende Schrift ist nach dieser Selbstvergewisserung pädagogischer Vernunft insbesondere in der Lage, die „Geburt des Subjekts“ durch Interpretationshilfen der asubjektiven Phänomenologie Jan Patoþkas kritisch zu sichten, indem insbesondere der vortheoretische Zusammenhang der Menschen und Dinge deutlich wird (vgl. Stieve 2008, 25). Dabei kann sie des Weiteren die Hinweise von Bernhard Waldenfels zur Responsivität aufgreifen, um mit deren Unterstützung eine Entlastung für den mit der modernen Subjektkonzeption überlasteten und ‚erschöpften Patienten‘ (vgl. Waldenfels 1987a, 550) zu leisten. Mithilfe dieser begrifflichen Instrumentarien kann gezeigt werden, dass einerseits ‚Selbsthervorbringung’ in und durch ‚Weltaneignung’ sowie ‚Ausarbeitung’ als eine historisch kontingente Form der Subjektivierung zu verstehen ist, die in modernen Gesellschaften – nicht zuletzt im Modus von Bildung – praktiziert wird. Andererseits ist diese Auffassung erst nachgängig ableitbar aus der gemeinsamen Entstehung von Selbst und Weltlichem aus dem vorgängig asubjektiven Erscheinungsgeschehen, worauf hin das Individuum seine bildungsspezifische Antwort eben erst nachträglich formuliert. An dieser Stelle zeigt sich also, dass der traditionelle Bildungsbegriff in seinem „explizit individualtheoretischen Aufriss“ (Ricken 2006, 22) sowie als „Selbstmacht des Menschen“ (ebd. 247) kaum noch uneingeschränkt haltbar, sondern vielmehr in Berücksichtigung der Bedeutung des Erscheinungsfeldes zu erweitern ist. Dies gilt umso mehr, als asubjektiv sichtbar wird, dass das „cogito […] kein Seiendes [ist], sondern bloß Bestandteil der Erscheinungsstruktur“ (Patoþka 2000, 120). Mit diesem Hinweis macht Patoþka deutlich, dass das „Ich denke“ der modernen Subjektivität an der Entstehung derjenigen speziellen Form beteiligt ist, wie Erscheinungen zustande kommen – eben als Bedeutungen für ein wahrnehmendes Subjekt. Daher müssen unter asubjektiver Perspektive die rational-individualistischen Tendenzen eines der Aufklärung verpflichteten Bildungsbegriffs entlang des Leitfadens des cogitari kritisch dekonstruiert und unter Berücksichtigung der „Erscheinungsstruktur“ umgeformt werden. Entsprechend den bislang entwickelten Überlegungen wird deutlich, dass sich aus der asubjektiven Genese von Selbst – Feld – Anderem, bzw.
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in der vorhergehenden Phänomendarstellung: Lesender – Feld – Text, Bildung als ein Ereignis zeigt, das nicht zuletzt in • • • •
zeitlichen, feldspezifischen, subjektphänomenologischen sowie objektphänomenologischen
Kategorien den tradierten Bildungsbegriff anfragen kann, um demgemäß Einsichten in die durch ‚Fremdheit’ ebenso wie durch ‚Entzogenheit‘ (vgl. Ricken 2006, 348) fraglich gewordene Subjektivität zu erlangen. Diese Fragen sollen in der nun anschließenden Analyse eigens zur Darstellung gebracht werden (4.1.2.1-4 dieser Untersuchung), um sie erst nach ihrer umfänglichen Entfaltung an einem späteren Ort ausführlich zu beantworten (insbesondere 4.2 und 4.3 der vorliegenden Schrift). 4.1.2.1 Zeitliche Anfragen an die Bildung von Subjektivität Die zeitlichen Aspekte von Bildung machen nicht allein das klassische Nacheinander von individueller Subjektivierung mit Hilfe von Bildung deutlich, woran sich dann erst ein arbeitsgesellschaftliches Ausbilden für den spezifischen Beruf anschließt. In dieser Weise forderte die von Humboldt bereits zitierte zeitliche Struktur, dass der zu Bildende zunächst das Ziel verfolgen solle, „ohne jede Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger“ zu werden. Gerade so erwerbe er schließlich „die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher sehr leicht“ (Humboldt 1964, 218). Unter asubjektiver Hinsicht ist im Unterschied dazu die Frage nach dem Erscheinungsfeld und dessen Bedeutung für Bildung zu stellen, die über ein solches individuelles und zugleich totalisierendes, weil den „ganzen“ Menschen anzielendes Ausbilden des Individuums hinausreicht. Deutlich werden solche zeitlichen Zusammenhänge in den leiblichen Ausdrucksgestalten (vgl. auch Woo 2007, 150 ff.). Durch Habitualisierung kommen gelernte Gesten wie das Sich Erheben vom Sitzplatz, um einen anderen zu begrüßen, oder auch Ausdrucksformen wie das angespannte Sitzen auf der vorderen Kante des Stuhls im Dialog mit Autoritäten zum Ausdruck. In der Vergangenheit erlernte Muster spielen in der Gegenwart eine Rolle, ohne jeweils rational aktiviert werden zu müssen.
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Die „Kunst des rechten Augenblicks“ (Meyer-Drawe 2007) fragt nicht nur nach zeitlichen Punkten außerhalb der üblichen Linearität, in denen der kairos, der günstige Augenblick beispielsweise in einer Bildungseinrichtung, gekommen sei, sondern fragt ebenso sehr nach dem richtigen Moment für den Umgang mit bisherigen Bildungsprozessen. Wie kann ich einem Menschen angesichts seiner bisherigen Bildungsgeschichte einen spezifischen Sachverhalt verdeutlichen, eine konkrete Problemstellung aufzeigen oder mit einem spezifischen Segment der Welt in Kontakt bringen? Und: Wie ist das gegebene Bildungsgeschehen zu interpretieren angesichts der in den Leib inkorporierten Stile von Milieus und Kulturen? Ein nicht zentriertes Verständnis von Subjektivität (vgl. 2.2.5 sowie 2.3.7 dieser Studie) fragt daher nach den auch zeitlich nicht fixierten Bildungsangeboten, es sucht nach Antworten auf die zeitlichen Überlappungen oder Lücken von Lernen einerseits sowie Wissen und Können als Resultate früherer Bildungsprozesse andererseits. Sodann ergeben sich durch Wiederholungen und Variationen (vgl. Dörpinghaus 2008) weitere zeitliche Ordnungen. Diese machen sich nicht nur durch neuerlich in Szene gesetzte Bildungsanstrengungen bemerkbar. Vielmehr bringen sie durch ihre veränderlichen Arrangements aus Attentionalität und Intentionalität (vgl. ebd.), aus Aufmerksamkeit auf Fremdes und Streben hin zu solchem Fremden Brüche in die subjektive Zeitlichkeit und lagern auf diese Weise gewissermaßen verschiedene Ebenen zeitlicher Verläufe übereinander. So kann der vormals erlernte effiziente Umgang mit Texten, der gemeinhin als „Querlesen“ bezeichnet wird, im Umgang mit bislang unbekannten Schriften einerseits erneut aktiviert werden, zum anderen aber zugleich „unterschwellig“ als problematisch erfahren werden, da er offenkundig bestimmte Lektüreerfahrungen ausschließt, denen z.B. ein avantgardistischer Text mit seinen das flüssige Lesen hemmenden Verfremdungen von Semantik oder Orthografie besonders verpflichtet ist. Das Subjekt, das unter moderner Hinsicht als ein seiner selbst mächtiges Ich verstanden wird, ist in solchen Erfahrungen nunmehr jeweils auch darauf verwiesen, sich angesichts der „Verzögerung“ (Dörpinghaus 2005, 565) des Bildungsgeschehens „Erfahrungsspielräume als Differenzen“ (ebd. 566) geben zu lassen, auf welche es dann Antworten suchen und formulieren kann. Somit aber wird eine überzeitlich fixierte Identität (vgl. ebd. 568) in Frage gestellt. Denn ein innerhalb zeitlicher Spielräume und in Mehrebe-
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nen-Geschehen eingebundenes Ich muss stets darum ringen, die Sorge um sich auch in zeitlichen Zusammenhängen in den Blick bekommen zu können. Wer ich bin angesichts aller meiner Erfahrungen, Habitualisierungen, der Gleichzeitigkeit von einander womöglich widersprechenden Ereignissen oder Projekten sowie angesichts der formulierten, verworfenen, neuerlich reformulierten Antworten auf diese Begebenheiten: dies alles lässt sich nicht in einem lediglich linearen Zeitverständnis auffassen (vgl. ebd. 567), sondern kann etwa im Sinne von Schillers dynamischem „Spielbegriff“ (vgl. 1.1.3 dieser Untersuchung) als spannungsgeladene Variationen von Gleichzeitigkeit, längerfristiger Auswirkung, Brüchen und verschiedenen Ebenen zeitlicher Zusammenhänge aus Erfahrungen einerseits und menschlicher Kreativität andererseits (zu Letzterem vgl. Düsing 1984, 211 f.) verstanden werden. Daraus resultiert die Frage nach der zeitlichen Struktur einer solcherart in Bildungsgeschehnisse verwobenen Subjektivität. Eine überzeitlich stabile dürfte ebenso unwahrscheinlich werden wie eine, die sich schlicht als zufälliges Produkt situativer Arrangements versteht. Wie also lässt sich ein asubjektiver Begriff von Bildung und Bildungsergebnissen unter zeitlicher Hinsicht verstehen? 4.1.2.2 Feldspezifische Anfragen an die Bildung von Subjektivität Wurde bereits die Feldstruktur als Alternative zur zentrierten und autonomen Subjektivität dargestellt (vgl. 2.2, 2.3 sowie 3.2 dieser Schrift), so sollen von dorther nun Anfragen formuliert werden, die kritisch an einen tradierten Bildungsbegriff anschließen und so die Umformung dieses Bildungsverständnisses anbahnen können. Der asubjektive Feldbegriff Patoþkas ist ein pragmatischer, der nicht allein auf Erscheinungsstrukturen abhebt, sondern mehr noch die Praxis der Menschen im Blick behält: „Das Feld ist kein Feld des ‚Vorstellens’, sondern der Aktion […]; hier begegnen wir nicht demjenigen, was ist, sondern dem, was noch nicht ist […].“ (Patoþka 2000, 87)
Handelnd erleben Menschen, wie sich die Wirklichkeit in einer gegebenen Situation zeigt; sie sind nicht allein auf meditatives Schauen verwiesen, sondern erhalten gerade in ihrer Praxis Anteil an der Realität (zur Relevanz des Situationsbegriffs in Patoþkas asubjektiver Phänomenologie vgl. auch
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Kouba 2005, 173). Somit mach Patoþka deutlich, dass sich die Bezüge innerhalb eines Feldes nicht allein theoretisierend erfassen lassen, sondern zunächst aufgrund der „Aktion“ durch die Agierenden erfasst werden können. Ein Bildungsprozess lässt sich unter dieser Hinsicht weniger als das Nachdenken über etwas und Diskutieren von etwas verstehen, sondern ist hinsichtlich seiner „praxeologischen“ (vgl. Benner 2012 sowie Bourdieu 1993) Bedingungen aufzufassen. Diese praxistheoretische Annäherung an einen transformierten Bildungsbegriff macht auf Aspekte aufmerksam, die in der phänomenologischen Tradition als non-egologische bezeichnet werden. Dies sind insbesondere Phänomene, die Feldstrukturen kenntlich machen, indem sie Dezentrierung und Pluralisierung zum Ausdruck bringen. Dazu zählen etwa Naturhaftigkeit, Sozialität, Sprachlichkeit sowie die bereits dargestellte Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit (vgl. Lippitz 1993, 21 f.). Insofern findet sich ein engagiertes Bewusstsein innerhalb der Feldstrukturen, ohne alles Erfahrene rational darstellen zu können. Wie beispielsweise die studentische Aushilfe während des Dienstes in einer Pflegeeinrichtung für Demente den Umgangsstil der übrigen Pflegekräfte mit den BewohnerInnen verändert hat, lässt sich nicht einfach vernünftig-distanziert schildern, es bedarf vielmehr häufig der Umschreibung, der Beschreibung von Vorkommnissen und nicht zuletzt des Erlebens einer nunmehr veränderten Interaktion mit den verwirrten Menschen. Unter asubjektiver Perspektive macht dies deutlich: „[…] das Feld selbst könnte etwas sein, was man nie von außen als Objekt, sondern nur als eine Struktur beschreiben könnte, in welcher man darin ist.“ (Patoþka 2000, 151)
Daraus lässt sich die Frage ableiten, wie unter bildungstheoretischer Hinsicht eine solche Binnenperspektive eingenommen und bildungsspezifisch angemessen dargestellt werden kann. Wie sind dann überhaupt objektive Aussagen über Bildungsprozesse denkbar? Denn es handelt sich ja gerade in institutionellen Bildungsbezügen nicht selten um das „vertrackte Gemenge aus Geschichte und Geschichten, aus Gemachtem und Ungewolltem, aus Ökonomie, Politik und gutem Willen, aus Zuwendung zum Kind und zugleich dessen Abwehr, aus guten Erfahrungen und schlimmen Entbehrungen, aus
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Zustimmung und Entwertung, Liebe und Gleichgültigkeit, Verständnis und Unverstandensein – diese ‚Größe des Stoffs’ geht über die Möglichkeit zuverlässigen Wissens hinaus, und zwar über Gedächtnis und Verstand“ (Mollenhauer 1994, 11).
Wie aber lässt sich diese Melange in ihrer Felddimension überhaupt erfassen? Phänomenologische Perspektiven auf Feldstrukturen lassen sich näherhin konkretisieren. Hier kommen insbesondere Horizont, Responsivität und Entzug in den Blick (vgl. Böhmer 2008, 464 f.). Dabei ist deren Bedeutung für das Bildungsgeschehen noch genauer zu untersuchen: Welche Rolle spielen die Randstrukturen (vgl. unter bewussteinsphänomenologischer Hinsicht dazu bereits Gurwitsch 1929, 366 f.) einer Bildungssituation – etwa die institutionellen Vorgaben des Pflegeheimes, in dessen Räumen die Arbeit mit dementiell Erkrankten erlernt und praktiziert wird? Wie kann auf „die Gesamtheit der kopräsenten Gegebenheiten“ (Gurwitsch 1975, 2) im Feld angemessen geantwortet werden, wenn gerade der Horizont als Rahmen der Gegebenheiten im Feld darin eine umfassende Orientierung des Themas vornimmt? In diesem Zusammenhang kann eine ‚dritte Dimension‘ angesetzt werden, die sich als Sphäre verstehen lässt, welche durch einen „vertikalen Schnitt“ feldhafter Strukturen von Ich und dem (intersubjektiven oder auch dinglichen) Anderen eröffnet wird. Das bedeutet für die Frage nach der Feldstruktur von Bildung, dass das Verstehen von Anderem und die Bezugnahme darauf nicht allein rational erfolgt (dies ist zwar auch möglich; vgl. Gurwitsch), sondern vielmehr und zunächst ein Ereignis darstellt, ohne ausschließlich auf die eindeutige Absicht einer Verstandesleistung eingegrenzt zu sein. Bildung unter dieser Feldperspektive lässt sich somit verstehen „als Eröffnen von Sinnräumen“ (Stenger 2004, 568), von ansprechenden und einfordernden Ordnungen, die verflochten sind mit individuell formulierten Antworten. Bildung wird nicht zum factum (= lat. Gemachten), sondern vielmehr zum responsiv-leidenschaftlichen fiens (= lat. Machendem) (vgl. Patoþka 1992, 10) in den wandelbaren Flechtwerken der Lebenswelt. Wie lässt sich daher ein asubjektiv formierter Begriff von Bildung und Bildungsergebnissen unter feldspezifischer Hinsicht verstehen?
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4.1.2.3 Subjektphänomenologische Anfragen an die Bildung von Subjektivität In der bereits skizzierten subjektphänomenologischen Kritik (vgl. insbesondere die Abschnitte 2.3 sowie 3.4 dieses Textes) kamen Anfragen an das zentrierte Subjekt der Moderne zur Sprache. Demgemäß sind deren Ergebnisse als Anfrage an den Bildungsbegriff derselben Moderne heranzutragen. Zum einen ist fraglich, wie ein zentriertes Subjekt in einem dezentrierten Feld gedacht werden kann: Sind die Bezüge von Menschen und Dingen lateral und vielgestaltig, so dass sie ein einziges Zentrum des Feldes aufheben, wie ist dann eine zumindest für sich zentrierte Subjektivität begründbar? Ist ferner das Erscheinen als solches als universal apriorische Struktur (vgl. 3.2 dieser Untersuchung) noch vor aller Subjektivität zu verstehen, die das Erscheinen z.B. durch ihre Anschauungsformen zu definieren vermöchte, so wird darüber hinaus ersichtlich, dass sich Subjektivität erst einem Geschehen außerhalb ihrer selbst verdankt – dem Erscheinen als solchem. Diese Exteriorität der eigenen Herkunft aber verunmöglicht zugleich auch die Zentrierung der eigenen Struktur; was von außen ermöglicht wird, kann nicht mehr in sich ruhen. Wie also lässt sich ein asubjektiver Begriff von Bildung und Bildungsergebnissen unter subjektphänomenologischer Hinsicht verstehen? 4.1.2.4 Objektphänomenologische Anfragen an die Bildung von Subjektivität Ähnlich wie mit Blick auf das Verständnis von Subjektivität wird unter asubjektiver Perspektive fraglich, wie das Verständnis von Anderem reformuliert werden kann, wenn die zentrierte Subjektivität nicht mehr überzeugend erscheint (vgl. 2.2 dieser Schrift). Eine asubjektive Phänomenologie verweist auf die nicht mehr plausible Frontstellung von Subjekt gegen Objekt, da das Offenbarungsfeld die noematische, d.h. auf die Inhalte der Wahrnehmung bezogene Seite von Subjektivität wie Objektivität gleichermaßen darlegt (vgl. bereits 3.2.3 f. dieser Studie). „[…] es ist überhaupt nicht zu begreifen, wie etwas wie die ‚noematische Sphäre‘, das ‚Gegenüber‘ ‚entsteht‘ oder ‚sich konstituiert‘, das zu erklären aus der Subjektivität ist unmöglich […].“ (Patoþka 2000, 99)
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Vielmehr macht Patoþka mit seiner asubjektiven Perspektive auf die Gleichursprünglichkeit von Subjektivität und Objektivität aufmerksam. Was sich zeigt, sind nicht nur die Dinge im Bewusstsein der Betrachtenden, sondern es ist auch die Subjektivität als Sphäre des reflexiven Bezugs des Individuums zu sich selbst und den Dingen. Wie aber solche Bezüge überhaupt sichtbar werden, dies lässt sich eben mit einer klassischen Subjektphilosophie nicht mehr zureichend einholen, wenn davon auszugehen ist, dass auch die erkennende Subjektivität sich einem nicht erkennbaren Prozess, dem Erscheinen als solchem, verdankt. Zu diesem Zweck ist die Dekonstruktion mithilfe einer asubjektiven Phänomenologie der erste Schritt auf dem Weg zu einem transformierten Bildungsbegriff, der die unvermittelten Positionen von Subjektivität ebenso wie Objektivität auflöst, um Ich und Dinge in einen gewandelten Bezug zu setzen und die sich hierbei ergebenden Anforderungen an die Gestaltung von – auch solcherart reformuliert-subjektiven – Bildungsprozessen weiter zu entwickeln. Eine Objektivität, welche die Erkennenden transzendiert, wird aufgehoben: „Von dem Augenblick an, in dem ich erkannt habe, daß meine Erfahrung, gerade insofern sie die meine ist, mich dem öffnet, was ich nicht bin, daß ich für die Welt und die Anderen empfindsam bin, nähern sich mir in einzigartiger Weise alle Wesen, die das objektive Denken auf Distanz hielt.“ (Merleau-Ponty 2003, 63)
Anstelle einer distanzierten Beziehung von Ich und Ding wird in einer asubjektiven Phänomenologie des Dinges gerade dessen Status fraglich. Denn wenn die Überkreuzung von Ich und Ding in einer Weise begründet werden kann, dass beide in derselben Sphäre des Erscheinens als solchem gemeinsam und zugleich aufeinander verwiesen erscheinen, kann das Ding weder vom Subjekt entworfen werden, noch kann es gemäß dessen Anschauungsformen zur Erscheinung gelangen – doch auch die vom Subjekt unabhängige Seinsform eines ‚Dinges an sich selbst‘ (Kant) ist nicht mehr plausibel darzustellen. Vielmehr ist dann asubjektiv zu entfalten, wie das Schillern der Dinge als Ausdruck von deren Verortung im nicht mehr zentrierten Erscheinungsfeld zu begreifen ist. Denn wenn die Dinge mehrdeutig werden, da sie sich nicht mehr der subjektiven Ansicht einer Zentralperspektive unterordnen, sondern vielmehr ihre Erkennbarkeit auf unterschiedliche Weise möglich wird, so ist deren Bedeutung für die Bildung ei-
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ner neu formulierten Subjektivität ebenso wie einer auf diese Weise umgeformten Objektivität eigens zu interpretieren. Wie lässt sich ein asubjektiver Begriff von Bildung und Bildungsergebnissen unter objektphänomenologischer Hinsicht verstehen? Im Hinblick auf die hier entwickelten Anfragen lässt sich resümieren: Durch die oben entfalteten vier Fragestellungen wird der traditionelle Bildungsbegriff letztlich mit seiner potentiellen Auflösung konfrontiert. Denn anstelle der individualisierten Totalität (s.o.) wird möglich, die Menschen innerhalb ihrer lebensweltlichen Bezüge in den Blick zu nehmen, deren Antworten auf die Begegnungen mit anderen Menschen und mit Dingen im Hinblick auf deren bildende, d.h. den Menschen eine intellektuelle, leibliche, soziale u.a. Gestalt verleihende Folgen zu erkennen und somit Bildung als asubjektiven Prozess aufzufassen, der nicht in einem Subjekt seinen Ausgang nimmt, sondern im neu verstandenen Subjekt als – situativer und dezentrierter – Zusammenhang menschlicher Antworten auf die jeweilige Situation zu einem vorläufigen Resultat gelangt. Die begrifflichen Grundlagen für ein solches Verständnis von Subjektivität als situativer und dezentrierter Kohärenz menschlicher Antworten auf die jeweiligen Gegebenheiten sollen im Folgenden entfaltet werden.
4.2 ASUBJEKTIVE KATEGORIEN Waren bislang insbesondere systematische Analysen des tradierten Bildungsbegriffs mithilfe des phänomenologischen Instrumentariums einer asubjektiven Kritik Gegenstand der Darstellungen, so soll nunmehr der Ertrag dieser Untersuchungen in Form von Kategorien als „Aussageklassen“ (vgl. Aristoteles Kat. 4, 1b; vgl. zudem den Hinweis in den Prolegomena dieser Studie) erfolgen. Der sich damit ergebende kategoriale Aufriss von Bildung ist folglich dem Anliegen verpflichtet, die zuvor entwickelten Analysen in Begriffe münden zu lassen, mit deren Hilfe Bildungsprozesse asubjektiv interpretiert und eingeschätzt – letztlich gar über unterschiedliche Situationen hinweg verallgemeinernd, indes nicht allgemein, verstanden (vgl. auch Schäfer 2009, 185 f.) – werden können. Deshalb ist die nun vorzulegende Übersicht solcher Aussageformen der Erweis eines bildungstheoreti-
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schen Neuansatzes ebenso wie die Gelenkstelle für die pragmatische Umsetzung eines asubjektiven Bildungsverständnisses (vgl. teilweise auch Böhmer 2008). Entsprochen werden soll dem bislang entfalteten Vernunftkonzept als brüchiger, durch Negativitäten begrenzter und auf ‚entgegenkommende Verhältnisse‘ (vgl. Witte 2010, 150) angewiesene Denkform. Die dargestellten asubjektiven Kategorien von Bildung erheben insofern den Anspruch, die bisher in dieser Schrift vorgelegten Analysen zusammenzufassen und auszuwerten, wenngleich sie nicht dem Anspruch auf völlige Durchdringung des Themenfeldes unterworfen werden sollen. Weitere kategoriale Bestimmungen bleiben ebenso möglich wie gegenläufige Argumentationsstränge. Von Bedeutung soll gemäß der Anlage dieser Studie für die Überzeugungskraft der folgenden Darstellung jeweils sein, dass und inwiefern sie an den vorherigen Denkweg nachvollziehbar anschließt. Zunächst sollen daher als Bilanz der Untersuchung diejenigen Begriffe dargestellt werden, die das Konzept der Asubjektivität im Ausgang von Jan Patoþkas Phänomenologie umschreiben. Dabei dienen diese Termini noch nicht einer Festschreibung des in dieser Forschungsarbeit angezielten asubjektiven Bildungsbegriffes, sondern haben die Aufgabe, das diesbezügliche Themenfeld bildungsphilosophisch vorzubereiten. Deswegen sind im Folgenden nicht vornehmlich „Schlüsselbegriffe“ oder Fachtermini versammelt, sondern „Aussageklassen“, durch die sich im aristotelischen Sinne Sachverhalte in ihren unterschiedlichen Aspekten begrifflich ordnen lassen, bzw. finden sich im kantischen Verständnis erkenntniskritische und solcherart -relevante Begriffe, wenngleich deren ‚erschöpfende Darstellung‘ (vgl. Kant KrV B 105, A 79) an dieser Stelle aus den genannten systematischen Gründen nicht mehr geleistet werden kann. Gegebenheit Als erste Kategorie einer asubjektiven Phänomenologie ist die Kategorie der Gegebenheit zu nennen. Indem nämlich im Erscheinungsfeld Anderes zur Darstellung gelangt, ist das sich Zeigende als Gegebenheit noch vor aller subjektiven Eigenleistung zu verstehen. Die Dinge sind gegeben und können vom Individuum sodann wahrgenommen, mitgestaltet und in ihrem Appellcharakter beantwortet werden. Zugleich wird unter asubjektiver Hinsicht deutlich, dass nicht allein Erscheinendes im Modus ‚originärer Gegebenheit‘ (vgl. Husserl 1973, 233 f.;
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vgl. dazu auch Rang 1990, 53) erscheint, sondern dass sich zugleich auch der Entzug des asubjektiven Geschehens, eben des Erscheinens als solchem seinerseits gibt (vgl. Patoþka 2000, 129). Gegebenheit im Sinne Patoþkas lässt sich umschreiben als die Weise, in der Wahrnehmung auf Erscheinungsvoraussetzungen gestoßen zu werden. Gegebenheit als Kategorie der Asubjektivität beschreibt somit die Form, Wahrnehmung als asubjektives Geschehen mitsamt seinen Entzügen aufzufassen. Responsivität Als weitere Kategorie kann die von Bernhard Waldenfels entfaltete Auffassung von Responsivität als Umformung vormals auf das Subjekt eingeschränkter Intentionalität (vgl. Waldenfels 1994, 332) gesehen werden. Durch diese Aussageform nämlich ist es möglich, die Interaktion zwischen Selbst und Anderem nicht allein aus der Zentralperspektive der Subjektivität zu interpretieren, sondern mehr noch die „Zwischensphäre“ (ebd.) zwischen Mensch und Ding in ihrer eigenen Bedeutung für das Erscheinen wie für das Agieren der Beteiligten aufzufassen. Eine asubjektive Phänomenologie gewinnt unter dieser Hinsicht ihren Spielraum zurück, das Erscheinen von Ich und Anderem in einer beiden vorgängigen Dimension auszumachen – dem Erscheinen als solchem. Das phänomenologische Konzept der Responsivität bietet eine Fährte, um mit dem skizzierten Verhältnis von Anspruch und Antwort das Erscheinungsgeschehen diesseits der Zweiteilung von Subjekt und Objekt in einem Zusammenhang zu erkennen. Dieser Zusammenhang ermöglicht solche, aber eben auch weitere Ordnungen wie das Chiasma oder die Lebenswelt als Verflechtung der Erscheinungen und weist auf diese Weise der zuvor entwickelten Kategorie der Gegebenheit ihren Ort zu – innerhalb der „Netze der Lebenswelt“ (Waldenfels). Gleichursprünglichkeit von Subjektivität und Phänomen Indem Subjektivität und Phänomen sich im asubjektiv geformten Erscheinungsfeld allererst als sie selbst begegnen, wird deutlich, dass beide ihren Ursprung in diesem Feld haben. Denn was sich zeigt, offenbart sich durch ein Geschehen, das nicht zuerst durch ein Subjekt strukturiert wurde. Wenn beide zur Darstellung gelangen in einem „Feld reiner, von allen Anschauungen und theoretischen Voraussetzungen unabhängiger Erfahrung, das in adogmatischer Sicht gegeben ist“ (Patoþka 1990, 70), so folgt daraus, dass
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ein Subjekt mit seinen Anschauungen und theoretischen Auffassungen noch nicht wirksam geworden sein kann. Phänomenalität ist nicht die Leistung dieses Subjektes, sondern dessen Voraussetzung. Die Strukturen des Erscheinungsfeldes jedoch bekommen eine zusehends größere Bedeutung für das Verständnis der Phänomene. Die Kategorie der Gleichursprünglichkeit von Subjektivität und Phänomen eröffnet den Blick auf die Möglichkeit der Wechselbeziehungen zwischen den Erscheinungen, ohne dass diese sich dem Diktat der Subjektivität beugen müssten oder dass sich das Subjekt als herrschende Instanz über die Erscheinungen verstehen könnte. Der Blick wird frei für die Genealogien von Subjektivität wie Phänomenalität im Erscheinungsfeld – und bietet solcherart nicht zuletzt dem erscheinenden Subjekt die Möglichkeit, sich nicht nur anders zu verstehen, sondern auch, sich innerhalb des Erscheinungsfeldes in weiteren Bezügen stärker emanzipiert mitzugestalten. Denn wenn ich davon ausgehen kann, dass mein gegenwärtiges Selbstbild von den feldspezifischen Strukturen mitbestimmt wird, erkenne ich mich als weniger festgelegt, mehr adressiert aus dem Umfeld – und bekomme somit einige der darin möglichen wie unmöglichen Spielräume meiner Selbstgestaltung zu Gesicht. Der Blick auf die Gleichursprünglichkeit von Subjektivität und Phänomen kann den emanzipatorischen Gehalt einer asubjektiven Perspektive und dessen jeweilige Reichweite deutlich werden lassen. Negativität Die Aussageform der Negativität verweist auf die nicht-phänomenalen Bereiche des Erscheinens als solchem. Damit sind diejenigen Zusammenhänge des Erscheinungsgeschehens benannt, die für das Erscheinen konstitutiv sind, allerdings selbst nicht zutage treten. Sie bleiben als Erscheinen entzogen. Das Erscheinen als solches erscheint nicht. In dieser Weise wird eine Aussageklasse innerhalb der asubjektiven Phänomenologie möglich, die das Erscheinungsgeschehen nicht allein auf Prozesse des Erscheinens zu beziehen vermag. Oder anders formuliert: Die asubjektive Phänomenologie rechnet mit der Bedingung der Möglichkeit von Erscheinungen, die selbst nicht erscheint. Zum einen wird der spekulativ-philosophische Zugang zu Phänomenen und ihren Ordnungen gewonnen. Zum anderen aber wird ein Denken möglich, das seinen Ausgangswie seinen Endpunkt bei den Dingen und Menschen nimmt, ohne sich auf
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pure Positivität beschränken zu müssen. Denn was sich zeigt, verdankt sich auch etwas, das sich nicht zeigt. Insofern wird eine Spannbreite von Realitäten denkmöglich, die sich durchaus dem phänomenalen Feld verpflichtet weiß und dennoch mit weiteren Möglichkeiten zu denken in der Lage ist. Negativität als Entzug im Erscheinen qualifiziert das Erscheinen als Teil eines umfänglicheren Interpretationsrahmens von Wirklichkeit. Diese Kategorie kann den Blick lenken auf Zusammenhänge, welche dieser Blick nicht mehr zu durchleuchten vermag, die er aber dennoch in ihren Grenzen auszuloten versteht (vgl. programmatisch bereits die Prolegomena dieser Untersuchung). Perspektivität War die Subjektphilosophie der Moderne durch die Zentralperspektive gekennzeichnet, so eröffnet die asubjektive Phänomenologie den Blick auf die Dezentrierung des Individuums mit seinen mannigfaltigen Aufenthaltsorten und -zeiten, ferner melden sich die Opazität und teilweise Entzogenheit der erscheinenden Dinge sowie die Wirkungen von Negation und Entzug im Erscheinungsgeschehen selbst zu Wort (vgl. nicht zuletzt 2.3 dieser Schrift). Damit ergibt sich ein lebensweltlicher Zugang zu den Dingen und Menschen, der ebenso aufgeklärt über die Begrenztheit seiner Erkenntnisse wie über die mögliche Vielfalt seiner eigenen Aussichten des Verständnisses ist. Denn das Postulat einer transparenten Welt und in ihr transparenter Fremd- wie Selbstbilder lassen sich zum einen nicht mehr zureichend rechtfertigen, wenn kenntlich wird, dass unterschiedliche Perspektiven nebeneinander stehen und jeweils zugleich zutreffende Aussagen über Menschen oder Sachverhalte formulieren können (vgl. auch 2.3.7 dieser Studie). Ergeben sich aus der Perspektivität Differenzen der Wahrnehmung, so wird zum anderen ein Zugang zur Welt und den in ihr Befindlichen denkbar, der mit diesen Differenzen kunstfertiger umzugehen versteht als die sich herrschaftlich gebärdende Zentralität des modernen Subjekts. Denn die differierenden Bilder einer Person oder eines Dinges müssen einander nicht widersprechen, sondern ermöglichen je nach Perspektive unterschiedliche Antworten – und fordern sie mitunter geradezu ein. Deshalb bietet die Kategorie der Perspektivität im Umkehrschluss die Möglichkeit, Differenzen durch Dezentrierung zu beantworten, also nicht mehr möglicherweise auftretende Unterschiede in der Wahrnehmung auf-
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heben zu wollen, sondern, sich der dezentrierten Position im Erscheinungsfeld bewusst, den wechselnden Anblicken der Dinge und Menschen entsprechen zu wollen. Varianz erfreut nicht nur, wie das Euripides zugeschriebene Bonmot vermerkt („varietas delectat“), sondern zeigt auch die Vielfalt möglicher Antwort- und Existenzformen auf. Die der Dezentrierung entsprechende Perspektivität eröffnet Spielräume kreativer Antwort auf die Ansprüche der Menschen und Dinge. Zeitliche Offenheit Zeit als Abfolge von Momenten der Wechselwirkungen innerhalb eines Feldes kann unter asubjektiver Hinsicht aus dem Diktat einer Linearität herausgewunden werden. Denn nunmehr sind unterschiedliche und jeweils zeitlich geprägte Bezüge von Netzwerkstrukturen denkbar, die nicht erst von einem Subjekt in gegliederter Schrittfolge aufgefasst werden müssen, sondern dem Wechselspiel der sich jeweils unterschiedlich zeigenden Dinge und Menschen innerhalb des Feldes geschuldet sind. Im Zuge dieser Offenheit zeitlicher Strukturen für deren Vielgestaltigkeit und (auch, aber eben nicht mehr exklusiv) subjektive Mitgestaltung kann die Grundlosigkeit menschlicher Positionen im zeitlichen Ablauf kenntlich werden. Denn verdanken sich zeitliche Ordnungen und Bezüge der Phänomene nicht mehr vornehmlich subjektiver Anschauung (Kant), sondern insbesondere den Ansprüchen unterschiedlicher Feldelemente in ihrer jeweils gegebenen Gestalt, ist deren Interaktionsgeschehen unter zeitlicher Hinsicht weder subjektiv antizipierbar noch durchschaubar. Diese Offenheit zeitlicher Bezüge erweist sich dementsprechend als Aussagemöglichkeit für Abläufe ohne erkennbare Anfangs- und Beendigungsinitiativen und lässt somit Zeit in einem Beziehungsgeflecht verschiedener dinghafter wie individueller Akteure sichtbar werden. Die zeitlichen Aspekte von Bildung können dann gedeutet werden als Verlauf einer Beziehung zu den Dingen und Menschen innerhalb des Feldes, der seinen Ausgangs- wie seinen Endpunkt nicht im gebildet werdenden Menschen findet. Die Kategorie zeitlicher Offenheit ergibt Perspektiven, die dem Ereignis des feldspezifischen Anspruchs individuelle und kollektive Antworten geben, ohne deren Erträge und Konsequenzen unbedingt subjektiv abzumessen.
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„Die Öffnung der Welt ist […] in all ihren Gestalten immer geschichtlich, sie ist angewiesen auf das Sich-Zeigen der Phänomene und auf die Tätigkeit der Menschen, die aufbewahren und tradieren.“ (Patoþka 2010, 29)
Die Rolle der Menschen in dieser asubjektiven Interpretation von zeitlich offenen Strukturen ist weitaus weniger ein beschauliches Aufnehmen der Äußerungen aus der Lebenswelt, sondern eher deren Vernehmen und daraus resultierendes engagiertes Antwortgeben. Die Offenheit der zeitlichen Strukturen ermöglicht auf diese Weise den Ausblick auf die handelnden Antworten der Menschen innerhalb geschichtlicher Verläufe (vgl. auch Patoþka 2006 sowie Hagedorn 2006a, 211 ff.). Dynamik der Existenz Mit dem Konzept einer „Bewegung der Wahrheit der Existenz“ (Patoþka 2000, 53) legt Patoþka ein ebenso entsubjektiviertes wie entobjektiviertes Verständnis menschlichen Selbstverstehens vor. Dieser in Patoþkas Spätphilosophie des Öfteren verwendete Ausdruck (vgl. Crowell 2011, 22 oder auch Hagedorn 2006, 11; ferner Karfík 2008, 71 ff. sowie Rabanus 2006, 264 ff.) kann unter der systematischen Fragestellung der vorliegenden Studie dahingehend interpretiert werden, dass Existenz weder von der subjektivierten Position moderner Zentralität noch von dem objektivierten Standpunkt einer Überformung des Menschen durch das Andere seiner selbst verstanden wird. Dabei wird insbesondere die dritte und letzte der von Patoþka angesetzten Stufen dynamischer Existenz (vgl. Patoþka 1990, 248 ff.; interpretierend Schaller 1994, 23 sowie Böhmer 2008a, 332), die des „Durchbruchs“ (Patoþka 1990, 261) zum Engagement für die Welt. „Eine so verstandene Bewegung des ursprünglichen Lebens setzt kein bereits konstituiertes Seiendes voraus, an dem sie stattfinden kann, sondern konstituiert es vielmehr selbst, indem sie es hervortreten und zu einem Erscheinenden werden lässt.“ (Hagedorn 2006, 18)
Dieses Verständnis wird nur möglich durch seinen Bezug zum aristotelischen Entelechie-Verständnis (vgl. ebd.), das Bewegung als das Anzielen einer noch nicht gegebenen Wirklichkeitsform auffasst. Die Dynamik der Existenz wird demzufolge geprägt durch die Transformation eines asubjektiven Prozesses, an dessen Ende die zum Engagement fähige und bereite
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Subjektivität als Wirklichkeit der betreffenden Menschen ausgebildet wird. Die von Patoþka angesetzte Bewegung der Existenz öffnet einen Interpretationsraum menschlicher Wirklichkeiten und zeigt, dass erst im Tätigsein der Menschen deren Subjektivität zur Erscheinung kommt. Diese Auffassung steht im Gegensatz zu der Position, die Subjektivität als schlicht aktivierte (vgl. dazu kritisch Lessenich 2013) auffasst, sie ist weitaus mehr noch als sich pragmatisch solidarisierende angesichts der Krise moderner Sinnentwürfe (vgl. auch Böhmer 2007) zu verstehen. Daraus folgt, dass die Subjekt-Objekt-Zweiteilung aufgegeben und der Ort des Erscheinens nicht mehr „zwischen“ Subjekt und Objekt, sondern ihnen vorausgehend gesucht werden kann: im Erscheinungsfeld. Das Erscheinen als solches unterbreitet ein „Angebot“ (Stieve 2008, 177; bezieht sich auf Gibson) für die lebensweltliche, darin auch bildungsspezifische Vernetzung von Menschen und Dingen. Die in dieser Form gewonnene Aussagemöglichkeit asubjektiver Philosophie ließe sich konzentrieren in der Position: Die Dynamik der Existenz mündet, sofern sie auf das Angebot des Erscheinens als solchem eingeht, in das antwortende Engagement für die Dinge und Menschen in der Welt. Subjektivität wird demnach reformuliert als abgeleitete Antwort innerhalb eines Erscheinungsfeldes, in dem sie aufgrund menschlicher Praxis zu einer feldspezifischen Gestalt gebildet wird. „Es genügt hierzu, sich in die ‚wirkliche, sinnliche Tätigkeit‘ als solche, d.h. in ein praktisches Verhältnis zur Welt zu versetzen.“ (Bourdieu 1979, 228) Das asubjektive Selbstverständnis der Menschen ist ein praktisches im Sinne der zuvor von Bourdieu entlehnten Perspektive, das seinem telos (vgl. 1.1.1 ff. dieser Untersuchung) zu entsprechen sucht, indem es nicht natural oder sozial, sondern eben asubjektiv – und das heißt nun: engagiert antwortend – sich den anderen Menschen und den Dingen verbunden weiß. Das Erscheinen als solches Leitender Begriff von Patoþkas asubjektiver Phänomenologie ist das „Erscheinen als solches“, das er unterschieden sieht von dem modern konzipierten rationaler Souveränität. Patoþka formuliert den Erscheinungsbegriff in zwei möglichen Formen: zum einen das – unabhängig von meiner subjektiven Leistung – vor mich gestellte Erscheinende und sodann das Erscheinen selbst (vgl. Patoþka 2000, 98). Unter dieser Hinsicht kann Patoþka das Ich als rezeptives wie spontanes bestimmen, folglich als „doppelte
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Selbstgegebenheit – 1. an Dingen, Einzelnem in der Welt in ihren Gegebenheitsweisen – also Zeichen, wie ich mich verhalten muß und kann 2. Global, in der ganzheitlichen Färbung“ (ebd. 99). Erscheinen als solches gibt zunächst die Phänomene, die dann einen Kontakt mit dem wahrnehmenden Menschen ermöglichen und so dazu verhelfen, dass das Ich nunmehr seine konkrete Gestalt gewinnt. Erst von dorther, im Nachgang zum Kontakt mit den Dingen und Menschen, kann der Mensch seine eigene Subjektivität ausbilden. Die Besonderheiten solcher asubjektiv geformter Subjektivität „zu den Dingen“ und Menschen werden demgemäß erst im Engagement sichtbar; jedoch „[n]icht weil hier etwas ‚verborgen‘ ist ‚hinter‘ diesen Charakteren, aber weil sie selber vielleicht zwar ich bin, aber im Modus einer Veräußerlichung an die Umgebung“ (ebd.). Insofern können unter dieser Perspektive des Erscheinens als solchem Aussagen gewonnen werden, die menschliches Selbstverstehen in einer dergestaltigen Verausgabung an die Phänomene im Erscheinungsfeld bestimmen. Selbstaussagen werden möglich durch die Berücksichtigung solcher Aspekte wie Engagement, Raum – Zeit – Horizont des Feldes sowie die Dinge und Menschen im spezifischen Erscheinungsfeld, mit denen ich mich praktisch befasst habe. Subjektivität – different und dezentriert Nunmehr zeigt sich die asubjektiv verstandene Subjektivität als nicht mehr souveräne und, mehr noch, als eine, die nicht mehr überzeitlich und unräumlich festgelegt werden kann. Wer ich bin und wer du für mich bist, kann nur gesagt werden und sich in Interaktionen fügen angesichts der Berücksichtigung unseres gemeinsamen Feldes samt seiner unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Verschränkungen. Welche biografischen Erfahrungen uns prägen, welche weiteren Beziehungen wir im Feld pflegen und manches mehr kann dann nicht unbeachtet bleiben, wenn Raum und Zeit als offene Strukturen subjektiver Gestaltfindung wirken. Demzufolge kann Patoþka den Unterschied zu bisherigen Subjektivitäts- und Phänomenalitätskonzeptionen herausstellen: „Es ist ein Vorurteil, daß Erscheinung etwas sei, was Subjekte als Träger und Grundlage braucht; vielleicht ist es umgekehrt – Subjekte [sind] möglich nur, falls es die Erscheinungsebene gibt, welche so etwas wie ein Zu-sich-Verhalten ermöglicht, da ja Sich-zu-sich-Verhalten eine Selbsterscheinung voraussetzt […].“ (Ebd. 100)
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Auf diese Weise wird ersichtlich, dass sich Subjektivität als differente verstehen lässt, die erst durch die sich je wandelnde „Erscheinungsebene“ zu je unterschiedlichen Formen findet. Da zudem gezeigt werden konnte, dass sie dies insbesondere nicht nur aufgrund eigener Initiative zu leisten vermag, sondern vornehmlich auf das Erscheinungsgeschehen sowie die lebensweltlichen Appelle angewiesen bleibt, ist Subjektivität weder für ihr „Sich-zu-sich-Verhalten“ noch in der Interaktion mit den Erscheinungen des Feldes das Zentrum des Erscheinungsprozesses. Eine in dieser Weise von ihr unabweislich zugehöriger Differenz und Dezentrierung geprägte Subjektivität bietet die Möglichkeit, Aussagen zur Bestimmung von menschlichen Überkreuzungen mit der Welt zu formulieren, die deren Besonderheiten auch auf die jeweilig „Selbsterscheinung“ anzuwenden verstehen. Damit kann ich mir ein Selbstbild verschaffen, das sich anhand der lebensweltlichen Erfahrungen – und weniger anhand idealisierter Selbststilisierungen – formt: „Ich bin derjenige, der dort und dann so und nicht anders gehandelt hat.“ Ob ich unter dieser Hinsicht einem Idealbild entspreche oder davon frevelhaft abweiche, ist nicht mehr die Frage einer asubjektiv grundgelegten Ethik. Diese ersetzt die vormaligen metaphysischen Ideale durch den Blick auf lebensweltliche Praktiken, die auf ihre Sinngestalt hin befragt werden können, ohne jeweils schon im Voraus von einem Bewertungsraster vermessen worden zu sein. Maßstab einer solchen asubjektiven Ethik ist vielmehr die gelungene oder misslungene Einbezogenheit (vgl. E. Fink 1978, 180) innerhalb des jeweiligen Erscheinungsfeldes – ohne jedoch daraus eine plumpe Folgsamkeit dem status quo gegenüber abzuleiten. Welt als ambivalente Erscheinungsstruktur In der asubjektiven Phänomenologie bekommt auch der Begriff der Welt neue Aussagegehalte. Denn Welt lässt sich nun verstehen als „Ermöglichung einer endlichen Freiheit“ (Patoþka 2000, 92) – und dies gerade, indem Welt für Patoþka die Erscheinungsstruktur als solche ist (vgl. ebd. 123).79 Innerhalb der Welt als „einzige Dinge und Subjekte umfassende
79 Damit ist der der Weltbegriff Patoþkas von demjenigen E. Finks zu differenzieren, da Letzterer Welt als Sphäre von Erscheinen wie phänomenalen Entzug gleichermaßen beschreibt (vgl. zusammenfassend Böhmer 2002, 60 ff.), Patoþka
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Struktur“ (ebd.) wird Erscheinen möglich und gewinnt von dorther seine phänomenologische und daraus abgeleitete subjektivierende Bedeutung. Wird Subjektivität so verstanden, dass sie eine Form menschlichen Selbstverstehens ist, die in die Weltbezüge eingebettet ist (vgl. mit Rekurs auf E. Fink auch Böhmer 2002, 99 ff.), so konkretisiert sie die zuvor dargestellte Kategorie von Differenz und Dezentrierung. Denn wenn Welt als Erscheinungsstruktur begriffen wird und sich in ihr die jeweiligen Erscheinungsfelder auffinden lassen, so ist der Weltbegriff maßgeblich für die Ausgestaltung von Selbstverstehen und Dingbezügen. Was sich an Gehalten einer engagierten und entäußerten Subjektivität darstellen lässt, muss eingeordnet werden in die Welt als „Allheit des Erscheinens“ (Patoþka 2000, 129) samt ihrer Phänomene und im Wissen um die in ihr fungierenden Entzüge. Denn Welt ist nicht allein als die Struktur der Erscheinungen, sondern ebenso als die Struktur der unabdingbar mit den Erscheinungen gegebenen Negationen, Leeren und Entzüge zu verstehen (vgl. insbesondere 3.2.5 dieser Schrift). Infolgedessen gilt: Was sich zeigt, entzieht stets auch bestimmte seiner möglichen Aspekte. Das sich daraus ergebende Selbstverständnis der Menschen innerhalb dieser Ambivalenz von Welt skizziert Patoþka als Auseinandersetzung mit der Grundlosigkeit der Existenz, wie Klaus Schaller, Patoþka interpretierend, darstellt: „Das geistige Leben besteht darin, dass wir nicht einfach das Leben übernehmen, sondern seine Fraglichkeit.“ (Schaller 2006, 72) Diesbezüglich deuten sich die Fraglichkeit der Phänomene ebenso wie die der eigenen Existenz im Spielraum der Welt an und ermöglichen eine Existenzform, die mit dem Entzug von Sichtbarkeiten wie Möglichkeiten des Verstehens rechnet. Diese Form ambivalenter Existenz zur Sprache zu bringen, leistet der Weltbegriff, den Patoþka in seiner asubjektiven Phänomenologie als eben nur teilweise transparenten einführt. Wende Aus dem bislang Entwickelten leitet sich schließlich die Kategorie der „Wende […] in das Dunkel der Nacht“ (ebd. 73) ab. Denn angesichts des Ausfalls von verlässlichen Interpretationen der eigenen Existenz inmitten sozialer und politischer Verwerfungen (für die 90er Jahre des 20. Jahrhun-
hingegen seinen Schwerpunkt auf das Erscheinen legt und darin allerdings dann auch den Entzug mit bedenkt.
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derts vgl. Schaller 1994, 27 ff.) scheint es notwendig, eine Umkehrung der Blickrichtung zu leisten. V.a. die Bedeutung der offenen Strukturen von Raum, Zeit und Welt, aber auch die angesprochene Dimension des Entzuges sollte in den Blick kommen und eine „Pädagogik der Wende“ (ebd. 29; vgl. 3.3.5 dieser Studie) angebahnt werden. Gerade diese „Pädagogik der Wende“ nämlich könnte die mit den Undurchsichtigkeiten der modernen Existenz einhergehenden Fraglichkeiten zum Anlass nehmen, nach dem Zusammenhang von Subjektivität und Bildung zu fragen. Die Aussageklasse der Wende ermöglicht deswegen Analysen der individuellen wie kollektiven Standpunkte innerhalb kulturgeschichtlich geprägter Felder, die allerdings ihrerseits keine eindeutigen Antworten auf das Woher und Wohin menschlichen Handelns geben. Die Wende als Kategorie der Asubjektivität deutet in diesem Zusammenhang eine Veränderung gewohnter Denk- und Handlungsmuster an, um auf diese Weise der jeweiligen Situation angemessenere Antworten der Einzelnen und Gruppierungen zu suchen. Diese Wende mündete in der Biografie ebenso wie in der Philosophie Jan Patoþkas in die ‚Solidarität der Erschütterten, doch Unerschrockenen’ (vgl. Patoþka 2010, 158; diesen Begriff interpretierend Chavatík 2011 sowie Böhmer 2008a). Sind nämlich in der asubjektiven Phänomenologie Aussagen möglich, die sich mit der jeweils gegebenen Situation befassen und darin die Existenz der Menschen unter dem Blickwinkel von Fraglichkeit und Wende nachgerade angesichts des faktischen Nihilismus als auf Sinn hin entworfen interpretieren (vgl. Chvatík 2011, 276), so können somit Erkenntnisse gewonnen werden, die selbst miteinander im Streit Liegende vereinen – freilich ohne deren Streit dadurch zu unterbinden. Vielmehr wissen die miteinander Streitenden zumindest um die gemeinsame Erfahrung, dass ihr Sinnverstehen erschüttert wurde. Wie sich hingegen welche Antwort auf den Sinnverlust formulieren lässt, darüber können die Konfliktparteien uneins bleiben. Unumstößlich ist jedoch die gemeinsame existenzielle Bewegung der miteinander im Streit Liegenden: „Reaching for meaning in a situation where meaning has been lost“ (ebd.). Die Kategorie der Wende lässt demzufolge Asubjektivität zum Leitfaden einer Umkehrung bisheriger, nicht zuletzt kultureller, sozialer und politischer Ordnungen reifen, ohne die Fraglichkeit der Existenz oder den Streit über die Antworten darauf vorschnell aufzulösen.
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„In the hermeneutical quest and constitution of meaning, absolute meaning is not necessary for acts to be meaningful. It is fully made up for by the blundering, fumbling, groping solidarity of the shaken.“ (Ebd. 279)
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die hier dargestellten Kategorien der Asubjektivität erkennen lassen, in welcher Form die moderne Perspektive des souveränen Subjektes abgelöst wird durch eine vielgestaltige und in das Erscheinungsfeld integrierte Subjektivität. Asubjektivität ist unter dieser Hinsicht nicht zu verstehen als schlichte Destruktion des überlieferten Subjektivitätskonzeptes (vgl. dazu auch die Hinweise in 1.1 dieser Untersuchung), sondern sehr viel eher als Negation der Negation im hegelschen Sinne (vgl. Hegel 1970 III, 94): Dialektisch aufgehoben im Sinne des lateinischen „negare“ (= lat. verneinen) wie des „conservare“ (= lat. bewahren) wird das moderne Verständnis eines einheitlichen und zentralen Subjektes, indem es zugunsten eines differenten und dezentrierten auf eine andere Ebene gehoben (lat. „elevare“) wird, um dort noch immer als selbstinterpretatorischer Bezugspunkt menschlichen Fragens nach sich, dem Ort innerhalb von Welt sowie dem Ziel und den Formationen des eigenen Handelns Wirkung zu entfalten. Dabei wird die drohende Beliebigkeit eines differenten und dezentrierten Subjektes ebenso vermieden wie schließlich das Bild eines in die Netzwerke des Erscheinungsfeldes eingewobenen Akteurs gezeichnet wird. Vermieden wird die Beliebigkeit, da nicht beliebig unterschiedliche Auffassungen von Subjektivität unkritisch nebeneinander gestellt werden, sondern sich jeweils am Verständnis einer gegebenen Situation und deren interpretatorischen Bezugskonzept, der Asubjektivität im Sinne Jan Patoþkas, bewähren müssen. Auch der in die Netzwerke des Erscheinungsfeldes eingewobene Akteur wird in die Lage versetzt, angesichts seiner Verbindung zu den anderen Menschen und Dingen innerhalb seiner Situation diese und sich selbst zu verstehen – nicht zuletzt innerhalb seines feldbezogenen Engagements für die Menschen und Dinge. Auf diese Weise kann festgestellt werden, dass Patoþka mit seiner asubjektiven Phänomenologie eine Sichtweise eröffnet, die nachgerade mit dem selbstbestimmten Handeln von Menschen rechnet, indem nicht nur die Grenzen dieser Pragmatik ausgelotet, sondern mehr noch deren Entwicklung und Bedingungen dargestellt werden – herkommend aus dem Erscheinen als solchem und antwortend auf die Appelle der Menschen und Dinge innerhalb des jeweiligen Feldes.
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Es ergeben sich für die Ableitung der obigen Kategorien auf die Bildungstheorie unterschiedliche Aussagewege. Denn zum einen ist zu verweisen auf die soeben zur Sprache gekommene vielgestaltige und nie gänzlich transparente Subjektivität in ihren unterschiedlichen Entstehungs-, Bedingungs- und Wirkfaktoren. Subjektivität in diesem von Patoþka ermöglichten Sinne wird aussagbar als eine qualifizierte, weil in ihrer Qualität – mithilfe der obigen Kategorien – beschreibbare Vielgestaltigkeit. Eine in kritischer Distanz zum Subjektivitätskonzept der Moderne erfolgende asubjektive Reformulierung wird sich folglich an diesen kategorialen Besonderheiten der Asubjektivität orientieren können – und nicht zuletzt durch diese Orientierung zu einer Vielzahl von möglichen Aussagen über menschliches Selbstverstehen und menschlichen Selbstumgang finden. Allerdings sollte der Versuchung widerstanden werden, solche vielgestaltigen Aussagen wiederum zu vereinheitlichen oder unter das Diktat einer spezifischen Kategorie zu zwingen. Gerade die systematische Herleitung der asubjektiven Aussageklassen dürfte diese Auffassung anschaulich gemacht haben. Mit dem hier entwickelten Subjektivitätskonzept lassen sich des Weiteren vielgestaltige Interpretationen über Bildungsprozesse gewinnen (vgl. konkretisierend den folgenden Abschnitt 4.3), da diese der subjektiven Vielfalt von Erscheinungs- und Verstehensformen Rechnung tragen sollten. Daher vermeidet es die vorliegende Untersuchung, aus den Aussagevarianten der asubjektiven Phänomenologie nunmehr solche der asubjektiven Bildungstheorie schlicht abzuleiten. Statt einer solchen argumentativen Deckungsgleichheit sollten die bislang vorgelegten Überlegungen verdeutlicht haben, dass die Bildungstheorie aus dem doppeldeutigen, weil zum Erscheinen führenden wie zugleich andere Aspekte entziehenden Prozess des Erscheinens als solchem zu einem bestenfalls teilweise beschreibbaren und wohl kaum transparent werdenden Bild von Wirklichkeit gelangen kann. Aus einer entsprechenden Weltsicht ergibt sich sodann Bildung als feldspezifische Erscheinung von subjektiven Spielräumen und Überkreuzungen mit den Anderen. Ein derartig vielschichtiges Bildungsverständnis kann sehr wohl eigene Positionen darlegen, was Bildung sei und wie sie verwirklicht werden kann. Gleichwohl ist deutlich geworden, dass sich solche Initiativen nicht aus einem subjektiven Fundament heraus begründen lassen, sondern zu ihrer fachlichen Einschätzung ebenso wie zu ihrer praktischen Weitergestaltung die Ansprüche aus dem Feld sowie das Geschehen des Erscheinens als solchem berücksichtigt, um einem modernen „Fundamenta-
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lismus der Subjektivität“ zu entgehen. Das tradierte Bildungskonzept changiert in nicht geringem Maße, als die Formierung einer bereits bestehenden und in ihren Strukturen wie Funktionen durchleuchteten Subjektivität nun weniger das Artikulationsfeld von Bildung sein kann. Vielmehr ist Bildung unter asubjektiver Hinsicht als Prozess zu denken, der sich mit einem werdenden, fragilen und nicht selten fraktalen Gebilde befassen muss – ohne Bildungsziele und -kompetenzen einfachhin postulieren und nach vollbrachter Bildungstat bemessen zu können. Schließlich verdeutlichen die obigen Kategorien auch, inwiefern Bildung mit vielgestaltigen Sozialstrukturen zu rechnen hat und sie zugleich beeinflusst. Bildung als soziales Geschehen kann nach Darstellung der asubjektiven Aussagemöglichkeiten verstanden werden als eingebunden in die Vielgestaltigkeit sozialer Bezüge – und als dieser Vielgestaltigkeit zugleich verpflichtet. Soziale Strukturen können als dezentrierte, weil von einer Vielzahl von Akteuren geprägte und zudem von einer Vielzahl von Ansprüchen herausgeforderte Prozesse aufgefasst werden, die sich erst in einem Erscheinungsfeld in ihrer tatsächlichen Form zeigen. Die asubjektiven Kategorien lassen deshalb erkennen, dass Bildung nicht allein als integratives Moment biografischer Gestaltung aufzufassen ist, wie dies nicht selten geschieht, wenn die Bedeutung von Bildung für den soziale Zusammenhalt angemahnt wird (vgl. etwa die Hinweise in 1.1 dieser Schrift; zur Kritik an einer solchen Auffassung vgl. auch Bourdieu 1973, 93). Vielmehr kann Bildung unter asubjektiver Hinsicht in theoretischen Bezügen zur Aussage gebracht werden, welche die Vielfalt von sozialen Feldern – und deren jeweils unterschiedliche Bedeutung für die sich in ihnen bewegenden Menschen – einsichtig machen. Bildung im hier entfalteten Verständnis lässt sich demzufolge weit weniger als „soziales Integrationsprojekt“ schlechthin verstehen, sondern bedarf der jeweils asubjektiv aufgeklärten Selbst- und Felderläuterung, um solcherart mögliche wie verstellte Integrationsprozesse in die unterschiedlichen Felder darzustellen. Bildung bekommt somit eine inklusive Bedeutung, als sie die unterschiedlichsten Felder, Dinge und Menschen auf ebenso unterschiedliche Weise semantisch wie pragmatisch vereint – und nach dem Wechsel der zunächst vereinenden Situation dann auch wieder entlässt. Asubjektivität als theoretisches Konzept kann also zu einem ebenso begründeten wie veränderten Bildungsverständnis beitragen. Dieses Bildungsverständnis soll im Folgenden abschließend entfaltet werden.
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4.3 ASUBJEKTIVE BILDUNG Im Folgenden werden, wie bereits skizziert, aus den Kategorien der Asubjektivität keine bildungstheoretischen unmittelbar abgeleitet, um auf diese Weise das komplexe Beziehungsgeflecht innerhalb von lebensweltlichen Bildungsprozessen nicht voreilig durch die Reduktion auf philosophische Konzepte in der Einstellung der Epoché zu verkürzen (vgl. auch die Prolegomena dieser Studie). Stattdessen können aus den Aussagemöglichkeiten der asubjektiven Phänomenologie Perspektiven für das Bildungsgeschehen gewonnen werden, indem insbesondere deren lebensweltliche Phänomenbezüge zur Sprache gebracht und in ihrer Reichweite ausgelotet werden. Diese Perspektiven sollen nun dargestellt werden.
4.3.1 Perspektiven asubjektiver Bildung Bildung in der Lebenswelt Die Aussageklassen hinsichtlich der Transformation, Dezentrierung sowie ihrer lebensweltlichen Vernetzung als „Veräußerlichung“ subjektiver Strukturen haben deutlich werden lassen, dass eine asubjektiv interpretierte Subjektivität nicht als ‚innerer Mensch’ (vgl. Merleau-Ponty 1966, 7), sondern als weltoffene Formation zu fassen ist. Eine unter dieser Perspektive formulierte Bildungstheorie muss deswegen dieser Struktur der Weltoffenheit bei denjenigen, die gebildet werden, Rechnung tragen. Dies hat zur Konsequenz, dass Bildung zunächst ebenso wenig als Entscheidung des Subjekts wie als Initiative eines „Lehrmeisters“ verstanden werden kann. Was primär bildet, ist nicht das sich gestaltende Individuum und ist auch nicht die kompetente Fachkraft für Didaktik. Vielmehr muss die Bildung des weltoffenen Subjekts konzeptionell gefasst werden durch die Reflexion auf die Ansprüche aus der Lebenswelt. Es sind demzufolge die Dinge, andere Menschen und Umstände, die bilden. Diese können
80 Der hier vorgelegte Ansatz geht über den von Witte hinaus, der für die „entgegenkommende Verhältnisse“ forderte, „dass sie die Bildungsprozesse zumindest nicht verhindern.“ (2010, 150) Grund für die weiterreichende Bedeutung, die den Umständen beigemessen wird, ist die Relevanz des Responsivitätskonzep-
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durchaus rational bedacht, formal organisiert und zielstrebig angegangen werden – und spielen eine ähnlich bedeutende Rolle für Bildungserfolge wie jene, die nicht formal strukturiert waren und als zufällige, ungeplante und nachgerade dadurch biografisch und existenziell relevante ihre bildenden Impulse verwirklichen. Beispielsweise könnte eine Analyse der im Regelschulbetrieb nicht selten in hoher Frequenz zwischen den SchülerInnen ausgetauschten verdeckt ausgetauschten Schriftstücke (oder mittlerweile: der über Smartphones ausgetauschten Formate) durchaus deutlich machen, welche Unterschiede zwischen formalisierten und informell gestalteten Appellen der Lebenswelt bestehen. So werden die fachdidaktischen Darstellungen etwa einer mathematischen Formel in ihrer Bildungsrelevanz dann leidlich außer Kraft gesetzt, wenn die zu Bildenden Fragen ihrer peergroup, der Freizeitgestaltung oder andere bewegen. Während einerseits ein didaktisch kunstfertig und wohlüberlegt in Szene gesetzter Impuls vermittelt und der Hoffnung Ausdruck verliehen wird, dass auf diesem Wege Bildung als das Gewinnen von Kenntnis über die – auch mathematisch interpretierbare – Welt gewonnen werde, sind die mitunter sehr viel eher zu Antworten motivierenden Anrufe aus der Lebenswelt von – situativ – größerer Bedeutung für die Jugendlichen. Bildungstheorie ist demgemäß vor die Aufgabe gestellt, Bildungsprozesse angesichts der unterschiedlichen – und je nach Individuum ebenso wie je nach Situation, Inhalten, Rahmenbedingungen u.ä.m. wechselnden – Appelle aus der Lebenswelt Rechnung zu tragen. Für die überlieferten schulischen Bildungsinstitutionen kann daraus beispielsweise die Frage erwachsen, wie nicht nur lebensweltliche Prozesse in fachdidaktischen Inszenierungen berücksichtigt werden können – etwa indem man die SchülerInnen „dort abholt, wo sie stehen“ (müssten) oder indem man Material aus der Lebenswelt der Lernenden einbezieht. Vielmehr sollte eine asubjektive didaktische Analyse zunächst der Frage nachgehen, welche bildenden Impulse die mit weltoffener Subjektivität ausgestatteten SchülerInnen ohnehin schon zu beantworten haben. In deren Lücken ebenso wie in Feldern, die solche Appelle weniger darbieten, zeigen sich mitun-
tes: Was „entgegenkommt“, gestaltet auch die bildende Situation mit und bekommt auf diese Weise mindestens mittelbar bildende Wirkung. 81 Eine Auffassung, über die bekanntlich bereits Humboldt weit hinaus war (vgl. 1.1.4 dieser Schrift).
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ter Spielräume für weitere Impulse, die bildenden Charakter gewinnen sollen. Und mitunter wirken in das didaktische Setting Faktoren und Ereignisse hinein, die den für Bildungsprozesse geplanten Lernweg gänzlich außer Kraft setzen. Bildung als zeitlich individualisiertes Geschehen Im Unterschied zu gegenwärtig verbreiteten Zeitdispositiven, die ihre Macht dadurch gewinnen, dass sie „ausschließlich die permanente Anpassung an vorgegebene Ordnungsmuster und die Ausbildung von Kompetenzen für solche Anpassungsleistungen“ (Dörpinghaus 2009, 167) fordern, wird das Selbstverhältnis der Menschen unter asubjektiver Hinsicht als zeitlich individualisiertes Geschehen sichtbar. Dies hat seinen Grund darin, dass gebildet Werden asubjektiv formuliert bedeuten kann, um die Perspektivität des eigenen Weltbildes und die zeitliche Offenheit des Erscheinungsfeldes samt der in ihm Erscheinenden zu wissen: Was mir hier und heute auf eine bestimmte Weise als plausibel erscheint, kann mit guten Gründen von Anderen – oder auch von mir zu anderen Zeiten – anders eingeschätzt werden. Daraus ergeben sich zeitliche Ordnungen, die nicht mehr allein dem einheitlichen, störungsfreien Ablauf von didaktischen Prozessen entsprechen, sondern die Vielfalt zeitlicher Zusammenhänge ebenso berücksichtigen wie die Verzögerung (vgl. Dörpinghaus 2005), die Unterbrechung, die Beschleunigung, Abkürzung oder gar den Abbruch bestimmter Verläufe. Dabei sind Erfahrungen von Bedeutung, anhand derer der Bezug zur Welt für die gebildet Werdenden deutlich wird und sie ihre Antworten geben (vgl. Dörpinghaus 2009, 175). Die sich eröffnenden Spielräume und Erscheinungsfelder der Anderen – der Menschen, Dinge und Strukturen – ergeben auch zeitliche Möglichkeiten, sodass sich Entwicklungen in ihrer „Eigenzeit“ ereignen, aber ebenso auch, dass sich diese Ereignisse in ihrer je eigenen Weise und Geschwindigkeit zeigen können (vgl. 2.2.4 sowie 4.1.2.1 dieser Schrift). Bildung als die Begegnung mit deren Impulsen und zeitlich veränderte (damit: verzögerte, beschleunigte, umstrukturierte oder auch abgebrochene), weil erst noch zu formulierende Antworten darauf, ermöglicht das Engagement für die Menschen und Dinge in der Welt (vgl. Patoþka 1987, 190) in unterschiedlichen zeitlichen Formen. Bildung bedarf infolgedessen der zeitlichen Transformation, um als den Dingen und Menschen angemessene Antwort gelten zu können, und kann somit gestaltet
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werden als Prozess, der Verzögerungen, Doppelungen, aber auch die bereits angesprochenen Beschleunigungen und Abkürzungen vorsieht – kurz: Bildung lässt sich theoretisch verstehen als zeitlich individualisiertes Geschehen, um dem individuellen Komplex aus gebildet Werdenden, anderen Menschen, anderen Dingen, Zeit, Feld und lebensweltlichen Bezügen Rechnung tragen zu können. Folgerichtig lässt sich Bildung als individualisierter Prozess gestalten – jedoch nicht auf ein menschliches Individuum und dessen institutionelle oder familiale „Transmission kulturellen Kapitals“ (Bourdieu 1983, 186) festgelegt, sondern auf eine individuelle zeitliche Ordnung hin ausgerichtet. Eine asubjektive Bildungstheorie bedarf der Aufmerksamkeit für die Einmaligkeit der bildungsspezifischen Ordnung, ohne diese auf das menschliche Individuum zu beschränken. Bildung als Verortung Die Bildung von Menschen hat deren leibliche Verfassung zum Ausgangspunkt. Mit ihrem Leib bewohnen Menschen die Lebenswelt, werden in ihr angerufen, formulieren in ihr die eigenen Antworten und sind auf die Unwägbarkeiten der Orte und Räume verwiesen (vgl. auch Waldenfels 2009). Für die gebildet werdenden Menschen bedeutet deren leibliche Verortung innerhalb der Lebenswelt: „diese finden in ihr Ziele, Wege, Hindernisse und Aufenthaltsorte, an deren Konstitution sie selbst beteiligt sind, sie kommen nicht bloß in ihr vor wie in einem großen Container.“ (Ebd. 19) Die lebensweltliche Verortung ist auch für die Bildungsgeschehnisse von besonderer Bedeutung. Denn die Möglichkeit zur ‚Konstitution der Lebenswelt‘ verdankt sich unter asubjektiver Hinsicht dem Erscheinen als solchem, das sodann auch die menschliche Ausgestaltung der lebensweltlichen Zusammenhänge, Möglichkeiten und Grenzen eröffnet. Insofern gilt: Was gestaltet werden kann, muss sich zumindest teilweise gezeigt haben, um dem formgebenden Zugriff der Menschen einen Ansatz bieten zu können. Deshalb sind die verorteten Zugriffe der Menschen auf ihre Lebenswelt und die Dinge innerhalb des Erscheinungsfeldes abhängig vom asubjektiven Geschehen, das den Menschen die Anderen oder auch die Dinge zeigt. Bildung als Zugriff der Menschen und Dinge auf die zu Bildenden und deren antwortende Rückgriffe auf die Erscheinungen ist auch von den Orten innerhalb des Erscheinungsfeldes geprägt. Was sich dort zeigt, näher-
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hin: was sich dort in einer bestimmten Kombination der Zuordnung, der Neben-, Über- oder Unterordnung darbietet und von dorther an die zu bildenden Menschen appelliert, vermag auch von deren Orten aus die Typiken (vgl. Merleau-Ponty 1986, 222) des konkreten Erscheinungsfeldes und dessen Bildungsmöglichkeiten zu transportieren. Die Orte innerhalb der solcherart lebensweltlich bedeutenden Felder sind nicht statisch festgeschrieben. Vielmehr werden sie je nach Situation und Atmosphäre durch „Strukturen und Raumlagen“ (Waldenfels 2009, 22) allererst gebildet. Solche Raumbildung erfährt ihre Bedeutung für das Bildungsgeschehen nicht allein als situativ konkretes Raum-Zeit-Gefüge, sondern wird seinerseits stets doppeldeutig und schillernd sichtbar: „Die Welt ist nicht, sie bildet sich.“ (Ebd. 27) Deswegen kann die asubjektive Sicht auf die Bildungsbedeutung der Orte deutlich machen, dass dynamische Ortsverhältnisse auf die zu Bildenden einwirken und ihrerseits Konsequenzen für die Bildungsprozesse erlangen. Das topologische Verständnis von Bildung lässt erkennen, dass sich ein solcher Prozess für eine leibliche (Merleau-Ponty), weltoffene (E. Fink) und responsive (Waldenfels) Existenz nur verstehen lässt als ebenso an einen konkreten Ort (wie an eine konkrete Zeit) gebundenes Geschehen. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass ein topologisches Bildungsverständnis nach wie vor von Entzug (vgl. insbesondere 3.3 dieser Untersuchung) und den Impulsen anderer Orte beeinflusst ist. Bildung innerhalb des gegebenen Erscheinungsfeldes muss mit dessen ortsgebundener Typik rechnen – und kann dennoch nicht gänzlich darin aufgehen. Der Überschuss der Ortsverschiebungen führt zu einem Defizit an lokaler Verlässlichkeit; denn was mich hier bildet, kann ich nie ganz diesem Ort zuschreiben, wenngleich ich ohne diesen Ort nicht zu meiner gegebenen Antwort auf die Dinge und Menschen am gegebenen Ort gelangt wäre. Das Wechselspiel von Ort und Selbst hat in einer solchen offenen Situation seine besondere Bedeutung: „Offene Situationen erfordern eine mehr oder weniger kreative Antwort. Orte werden nicht nur gefunden, sondern auch erfunden. Wer mit Glück oder unter Mühe an seinen Ort gelangt, hat ihn nicht schon.“ (Waldenfels 2009, 37)
Vielmehr bedarf es innerhalb des Bildungsgeschehens einer Antwort des betreffenden Menschen auf seine Situation und den Ort des bildenden Er-
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eignisses. Erst im antwortenden Mitgestalten des bildenden Ortes, etwa durch die Körperbewegung (vgl. ebd. 48), erfährt dieser Mensch seine Bildungsimpulse und gewinnt daraus – wiederum als Beteiligter wie als Adressat – seine eigene Bildungsgestalt. Bildung kann unter dieser Hinsicht nicht allein als aktiver Prozess eines Subjekts verstanden werden („sich bilden“) noch als dessen ausschließlich passiver („gebildet werden“), sondern muss mindestens in der Schwebe des aktiv auf einen vorgängigen Appell Antwortenden bleiben. Daraus resultieren entsprechende Blickwinkel auf die Menschen im Bildungsprozess. Sie können als „das gebildet Werden mitgestaltend Zulassende“ bzw. einfacher und mit einigen Abstrichen als „sich bilden Lassende“ beschrieben werden. Erst aus dieser Perspektive wird das Frage-Antwort-Spiel eines asubjektiv-responsiven Bildungsverständnisses deutlich und macht das Subjekt zu einem aktiven Beziehen, das auf die ihm vorgängigen Impulse aus der Lebenswelt eingeht (vgl. Patoþka 1991, 91) und zugleich in seinem Begehren über sie hinausgehen kann (vgl. Waldenfels 2009, 98 f.; vgl. auch 2.1 dieser Studie). Bildung als feldspezifische Verortung verweist deshalb bereits auf die dezentrierende Option eines asubjektiven Bildungsbegriffes, wie im Folgenden noch ausführlicher gezeigt werden soll. Bildung als fragiler Selbstversuch Asubjektivität bringt zum Ausdruck, wie sich Responsivität und Negativität im Erscheinungsgeschehen auf das Selbstverstehen der Menschen auswirken können: Die Appelle der Dinge und Menschen fordern je unterschiedlich zu Antworten auf, die entzogenen Aspekte eines Phänomens verweisen durch das Fehlen auf eine situativ nicht einholbare Verstehens- und Umgangsform mit dem sich Zeigenden. Daraus ergibt sich zunächst ein zerbrechliches Bild des Anderen. Denn was sich mir am Anderen zeigt, kann unter einem weiteren Blickwinkel, zu einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort im Feld und nicht zuletzt in einer gänzlich neuen Situation zerbrechen und einem abweichend geformten Bild weichen. Was ich am Anderen erkennen kann, ist von der Flüchtigkeit dieses Phänomens und der Brüchigkeit der daraus abgeleiteten Sinnentwürfe geprägt. Unter dieser Hinsicht sind die Bemühungen der Menschen, sich aufgrund ihrer biografischen, räumlichen, sozialen wie materiellen Verortungen innerhalb der Felder ihrer Lebenswelt als Zusammenhang von Eigenschaften, Geltungen oder auch Kompetenzen zu interpretieren, stets von
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den situativ gegebenen Besonderheiten abhängig und darum befristet und beschränkt. Mehr noch: Auch in derselben Situation können sich aufgrund verschiedener Impulse im selben Feld unterschiedliche Standpunkte oder auch Perspektiven des Selbstbildes ergeben und auf diese Weise subjektive Geschlossenheit verunmöglichen. Das Individuum weiß noch nicht einmal „hier und jetzt“, wer genau es ist oder sein soll – wie also kann es durch Bildung seine künftigen Eigenschaften und Fähigkeiten definieren? Bildung wird in diesem Zusammenhang zum Versuch, im Umgang mit den Anderen ein Bild seiner selbst zu suchen, das angesichts der gegebenen Situation ein hohes Maß an Angemessenheit und Anschaulichkeit gewinnt. Dennoch kann ein solches Selbstbild nur angestrebt werden in dem Verständnis, dass Gebildet-sein nunmehr heißt, um die brüchige Situativität des Selbst- wie des Weltbildes zu wissen. Bildung ist somit einem gewissermaßen reflexiven Begehren geschuldet, sich als ein Selbst zu entdecken und zu gestalten – einem Begehren, das nicht nur angesichts persönlicher Unzulänglichkeiten bruchstückhaft und vorläufig erfüllt werden kann, sondern mehr noch angesichts der asubjektiv ausweisbaren Bedingungen (vgl. 3.2 dieser Schrift) innerhalb der gegebenen Felder. Bildung ist folglich der unabschließbare Selbstentwurf als Selbstversuch gefährdeter Freiheit innerhalb schillernder und mindestens teilweise undurchsichtiger Felder. Bildung macht das Verstehen wie Handeln in den solcherart nur teilweise verständlichen Feldern des eigenen Aufenthaltes deutlich, indem durch Bildungsprozesse neue Antworten auf die lebensweltlichen Appelle möglich und bisherige in anderer Weise verständlich werden. Bildung befähigt demzufolge zu transformierter Erkenntnis und transformierter Praxis, wenngleich dem rationalen wie pragmatischen Engagement angesichts der Brüchigkeit von Selbst – Situation – Feld jeweils Grenzen gesetzt bleiben. Bildung als Differenzierung des Ich Im Hinblick auf Impulse aus der asubjektiven Phänomenologie lässt sich für die in dieser Form als Bildung konzipierte Beziehung zwischen Mensch und Welt feststellen, dass sich die Differenz von Eigenem und Fremden nicht einfachhin in den Bezug von Ich und Anderem hineinlesen lässt. Ermöglicht Bildung die Kreuzung der Bezüge von Ich und Anderem innerhalb von Welt, so ergeben sich Perspektiven des wechselseitigen Bezugs beider Beteiligter, die durch Differenzen in ihrer eigenen Struktur gekenn-
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zeichnet sind: Was zu mir gehört, stammt eben doch mitunter vom Impuls des Anderen. Meine Überzeugung zu einem Thema z.B. verdankt sich der Überzeugung durch eine andere Person und führt mich doch zu anderen Konsequenzen als diese. Es wird deutlich, dass „meine“ Position und die „deine“ mitunter stärker verbunden sind, als die sprachliche Ordnung dies vermuten lässt. Diese Differenzen weisen Eigenes wie Fremdes auf beiden Seiten der Kreuzung auf und signalisieren auf diese Weise die Möglichkeit des Ich, eigene Aspekte im Anderen zu entdecken. Bildung als Differenzierung des Ich bedeutet die Auseinandersetzung mit dem, was das Ich prägt und was sich nicht allein innerhalb dieses Ich auffinden lässt. Dazu zählen beispielsweise Eigenheiten, Gewohnheiten und Ansichten, die sich auch im Anderen wiederfinden lassen und bei denen nicht ausgemacht ist, wer sie von wem „gelernt“ hat. Bildung bedarf daher nicht einer abgeänderten ‚Rückkehr zu sich selbst‘ (vgl. etwa 1.1.4 dieser Schrift), mit der die Erfahrung innerhalb der Welt bildungsrelevant werden soll, wie dies bereits die philosophische Tradition vortrug: „Das Bewußtsein weiß und begreift nichts, als was in seiner Erfahrung ist; denn was in dieser ist, ist nur die geistige Substanz, und zwar als Gegenstand ihres Selbsts. Der Geist wird aber Gegenstand, denn er ist diese Bewegung, sich ein Anderes, d.h. Gegenstand seines Selbsts zu werden und dieses Anderssein aufzuheben. Und die Erfahrung wird eben diese Bewegung genannt, worin das Unmittelbare, das Unerfahrene, d.h. das Abstrakte, es sei des sinnlichen Seins oder des nur gedachten Einfachen, sich entfremdet und dann aus dieser Entfremdung zu sich zurückgeht und hiermit jetzt erst in seiner Wirklichkeit und Wahrheit dargestellt wie auch Eigentum des Bewußtseins ist.“ (Hegel 1970 III, 38 f.; vgl. dazu auch die asubjektive Kritik in Böhmer 2005)
Dieser Rückkehr zu sich ist indes unter asubjektiver Perspektive nicht zuverlässig, da sich die Feldstrukturen oder gar die Felder des Erscheinens mittlerweile geändert haben können und nun das Ich zu einem Bild seiner selbst vordringen kann, das in Differenz zu seiner Ausgangsgestalt erscheint. Was sich im Verlauf des Bildungsprozesses zeigt, ist somit ein Ich, das nachgerade nicht identisch ist mit dem vormaligen – sondern mehr oder minder dem Anderen angenähert scheint, mit dem es sich bildend auseinandergesetzt hat.
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Die asubjektiv verstandene Bildung führt zu einer Formation des Ich, die nicht durch eine „kompakte Identität“ (unter dezidiert kritischer genderpolitischer Perspektive Dominijanni 2008, 152), sondern durch die Veränderung seitens Anderer und durch die Dynamik der Erscheinungsfelder als Differenz geprägt ist. Asubjektiv konzipierte Bildung erbringt deshalb keine gebildete Identität, sondern eine gebildete Differenz – die Differenz zu sich an anderem Ort und zu anderer Zeit mit dem Sinn, durch diese Transformation eine angemessene Spielart möglicher Antworten auf das Feld und die darin befindlichen Menschen, Dinge und sich selbst zu formulieren. Diese Formel des Ich aber ist so wenig vorhersehbar wie auf die Zukunft hin zu verlängern; sie bleibt brüchig und bedroht. Eine dergestaltige „Desolation des Ich“, die Feststellung der desolaten Struktur des Ich ist Ausdruck eines gebildeten Ich, das durch die Impulse der Anderen auch jetzt nicht ist, was es zuvor ohnehin nicht sein konnte: in Identität mit sich. Vielmehr fordert dieses Verständnis von Bildung, solche Nicht-Identität „als eigene wie andere ‚Fremdheit’ und ‚Entzogenheit’ an[zu]nehmen und miteinander gestalten zu lernen.“ (Ricken 2006, 348) Bildung erfordert im Anschluss an diese Überlegungen Transformation, da Eigenes wie Fremdes das Ich und das Andere durchziehen und insofern nach gemeinsamen Antworten auf die wechselseitigen Befremdungen verlangen. Bildung als Dezentrierung des Ich Eng verbunden mit den Differenzen im asubjektiv interpretierten Bildungsgeschehen sind die Phänomene der Dezentrierung. Denn innerhalb des jeweiligen Erscheinungsfeldes kann sich das Subjekt nicht mehr als Zentrum dieses Gebietes verstehen, sondern empfängt aus unterschiedlichen Richtungen Appelle, auf die es dann in jeweils unterschiedlich ausgerichteter Form antworten kann. Noch bevor sensuelle Daten in einem Akt- und Verarbeitungszentrum ein „Ziel“ erreichen, appellieren bereits mannigfaltige Dinge an die nicht mehr im Zentrum ihrer Welt verbliebenen Menschen und verlangen Antworten in unterschiedlichen Teilen des Erscheinungsfeldes. Diese Antworten wiederum strukturieren das Feld insofern neu, als sie neue Informationen, Handlungen und Gestaltungen ergeben, die ihrerseits wiederum die weiteren Verläufe in der gegebenen Situation prägen. Deswegen heißt asubjektiv verstandenes Gebildet-sein, um die Ursprünglichkeit des Erscheinens als solchem zu wissen und den Anspruch eigener Zentralität der Beobachtenden zugunsten des Erscheinungsgesche-
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hens aufgegeben zu haben. An die Stelle einer subjektiven Zentralperspektive tritt die asubjektive Empfänglichkeit für die Appelle der Menschen und Dinge. Denn deren Anrufungen bringen das Individuum allererst dazu, sich in ein Verhältnis zu ihnen zu setzen. Eine solche Auffassung unterläuft keineswegs die eigene Initiative der Subjekte, doch bedarf es zu einem solchen Tätigwerden eben des Erscheinens innerhalb des Feldes und einer dem Subjekt logisch wie phänomenologisch vorausliegenden asubjektiven Initiative. Bildung angesichts einer solchen Auslagerung von Subjektivität in den Reigen der Phänomene hinterfragt nicht nur die Zentralität der Subjektivität im Erscheinungsgeschehen, sondern eröffnet auch neue Spielräume für die Möglichkeiten, dass Menschen und Dinge an ein erscheinendes Subjekt appellieren können. Konsequenz dieses bildungstheoretischen Zuganges ist die Irritierbarkeit der gebildet Werdenden, die im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit dem Anderen nicht vornehmlich nach Bestätigungen ihres bisherigen Weltbildes Ausschau halten können oder zumindest der Anschlussfähigkeit solcher Bildungsimpulse bedürfen, sondern mehr noch durch irritierende Perspektivenverschiebungen neue Einblicke in das gegebene Feld und die Besonderheiten der darin Befindlichen erlangen. Dies mag auch auf die Gefahr einer umfänglichen Zersetzung bisheriger Verstehens- und Handlungsformen geschehen (vgl. Böhmer 2006), die sich dann bis hinein in leibliche Antworten auswirken. Das mit einem Lächeln formulierte Aufstöhnen eines Hauptschülers nach einer philosophisch ausgelegten Unterrichtsstunde mag dies belegen: „Jetzt ist mir ganz schwindelig!“ Die leibliche Antwort auf eine offenkundig rational anstrengende und den Schüler gleichwohl ansprechende Thematik führte zu einer als überfordernd, irritierend und sogar verstörend erlebten Lehreinheit, die dennoch nicht als unerträglich eingeschätzt wurde. Die Antwort des Lehrers darauf kann denn auch in einem nächsten Schritt so gestaltet werden, dass dieser schwindelerregenden Irritation mit versöhnender Anschaulichkeit begegnet wird, die dennoch nicht von den neu erworbenen Perspektiven ablässt. Aus diesem Blickwinkel ergeben sich Duldsamkeit für das noch nicht Verständliche und Geduld für die verzögerten wie lokal verschobenen Prozesse der Antwort auf die erfahrenen Phänomene als Qualitäten eines Bildungsverständnisses, das sich der Asubjektivität der eigenen Position vergewissert hat (vgl. Böhmer 2008b). Sodann kann aus dieser Einstellung die Bereitschaft erwachsen, sich an die irritierend anders erscheinenden Dinge und die Menschen zu verausgaben (vgl. Patoþka 1987, 178), um auf diese
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Weise der Überkreuzung von adressierbaren wie zur Antwort fähigen Momenten der Subjektivität im Bildungsprozess zu entsprechen. Bildung als Habitus von Diskretion und Solidarität Im Verlauf der hier vorgelegten Studie hat sich gezeigt, dass „Offenheit“ eine maßgebliche Strukturkonstante von Patoþkas Konzept der Asubjektivität darstellt (vgl. insbesondere 3.2 und 3.3 dieser Schrift). Strukturell „offen“ ist nach seiner Auffassung die Seele als Synonym für eine der Subjektivität verpflichtete Selbstdeutung der Menschen (vgl. Patoþka 1987, 178), für die Beziehung der Menschen untereinander – nicht zuletzt als Erschütterte – (vgl. Patoþka 2010, 64; erläuternd Novotný 2011, 331), für das Feld der Phänomene (vgl. Patoþka 2000, 161) und sodann für die Struktur des Erscheinens selbst im Phänomen der Welt (vgl. ebd. 165). Unter bildungstheoretischer Hinsicht sollen nun abschließend die offenen Strukturen von Subjektivität thematisiert werden. Dabei zeigt sich, dass das Erscheinen als solches die moderne Auffassung der Subjektivität als Zentrum der Erscheinungen entmachtet und als Untertan gesellschaftlicher Strategien ablöst – zugunsten einer episodischen Position im vielschichtigen Erscheinungsfeld. Damit kann sich jedoch nicht allein das Selbstverhältnis der sich als Subjekte begreifenden Menschen verändern, sondern zugleich deren Haltung zu den anderen Menschen und Dingen. Denn was sich mir zeigt, hat dieselbe Bedeutung im Erscheinungsgeschehen wie auch mein Erscheinen; Phänomene begründen sich in ihrer Genese nicht mehr primär wechselseitig, sondern fußen auf einem gemeinsamen Grund: dem Erscheinen als solchem. Bildungstheoretisch wie -praktisch ist daher eine besondere Aufmerksamkeit von Bedeutung, welche die verschiedenen Möglichkeiten des Erscheinungsfeldes als potentielle Antwort- wie Handlungsstränge zu berücksichtigen versteht (vgl. auch Woo 2007, 165 ff.) Diese achtsame Haltung kann in den Habitus als „strukturierte Struktur“ (vgl. Bourdieu 1987, 279) der Diskretion münden, der Befähigung zur Unterscheidung nämlich dessen, was sich in der sozialen Beziehung nunmehr von besonderer Bedeutung ist, und dessen, was sich als nachrangig erweist, um „Menschlichkeit als Aufgabe gegenüber sich selbst und der Welt auf sich zu nehmen.“ (Schaller 2006, 64) Subjektivität als Struktur der Differenz bekommt ihre gewandelte Bedeutung, denn „soziale Identität gewinnt Kontur und bestätigt sich in der Differenz.“ (Bourdieu 1987, 279)
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Weiter gilt: „Der [solcherart gegebene; Anm. A.B.] kairos fordert pädagogisches Handeln als eine Antwort, auf günstige Gelegenheiten, deren Gunst sich allererst im Ergreifen zeigt.“ (Meyer-Drawe 2007, 249) Das Ergreifen des günstigen Momentes kann darin bestehen, aktiv zu werden und etwa eine bereits aktiv erstellte didaktische Planung im Verlauf der Lehreinheit nochmals umzustrukturieren. Zugleich aber kann die Aktivität auch im entschiedenen Nichthandeln bestehen. Dies kann deutlich werden, indem beispielsweise die in einer Lehrveranstaltung aufkommende Diskussion zu einem bestimmten Themenfeld nicht unterbrochen wird, obwohl die didaktische Planung anderes vorgesehen hatte. Diesen Diskussionsfaden gerade nicht aufzuheben und damit eine veränderte Interaktion mit den Teilnehmenden einzufordern, sondern diskret Zurückhaltung zu üben und auf den günstigen Moment, eventuell auch den günstigen Ort und die günstigen Interaktionsformate für die sich nun auftuenden Fragen und Irritationen zu warten, kann ebenfalls Ausdruck der asubjektiv motivierten diskreten Achtsamkeit sein. Asubjektive Bildung erfolgt in dieser Hinsicht unter der Maßgabe, Diskretion im Hinblick auf die Anderen zu üben, um unterscheiden zu können, welche Antwort auf die jeweilige Erscheinung des Gegenübers situationsangemessen sein kann, um Bildung als Antwort auf die sich zeigenden Aspekte der Phänomene zu ermöglichen. Des Weiteren ergibt sich aus der von Patoþka entfalteten Struktur der Offenheit die Einstellung einer Bezugnahme selbst auf diejenigen, die dem Einzelnen in einer ablehnend gesinnten Haltung begegnen: „Die Widersacher treffen sich in der Erschütterung des gegebenen Sinns und bilden so eine neue Seinsweise des Menschen – die einzige vielleicht, die in den Stürmen der Welt Hoffnung gibt: die Einheit der Erschütterten, aber Unerschrockenen.“ (Patoþka 2010, 64; vgl. dazu kommentierend Böhmer 2008a sowie 2007)
Solidarität als Antwort auf die Erschütterungen ist insofern keine auf rationalem Abwägen gründende Entscheidung der Individuen, sondern ein wortwörtlich grundstürzendes Widerfahrnis, das bisherige Begründungen für soziale oder rationale Positionen aufhebt. Was bleibt, ist das gemeinsame Wissen um die rationale wie soziale Grundlosigkeit menschlicher Existenz – ein Einvernehmen, in dem Patoþka die Möglichkeit erkennt, „die Einheit der Erschütterten, doch Unerschrockenen“ entstehen zu lassen. Da-
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raus ergibt sich eine bildungstheoretische Auffassung, die mit der Solidarität der Menschen aufgrund der ihnen widerfahrenden Ereignisse rechnet. Folglich geht es nicht um eine ‚Präventivbildung‘, die Menschen die Möglichkeit verstellte, sich diesen existenziellen Erfahrungen auszusetzen (vgl. Schaller 2006, 64). Vielmehr ist im Gefolge von Patoþkas asubjektivem Verständnis eine Ordnung für Bildungsprozesse anzustreben, die den Erfahrungen von Menschen samt deren vielgestaltigen Interpretationsmöglichkeiten Raum bietet. Asubjektive Bildung kommt nicht in einem klar definierbaren Bildungskanon an ihr Ziel, sondern eröffnet freie Räume und Zeiten, um Menschen Gelegenheiten zu bieten, sich von der irritierenden Vielfalt lebensweltlicher Felder ansprechen zu lassen und ihre oftmals eher tastenden Antwortversuche in der Solidarität mit gleichfalls existenziell Erschütterten zu formulieren (vgl. Patoþka in Blaschek-Hahn/Schifferová 2010, 76).
4.3.2 Fragmente der Bildung einer entthronten Subjektivität Der Ansatz einer asubjektiven Bildungstheorie nimmt in der vorliegenden Studie seinen Ausgang beim modernen Verständnis von Subjektivität und führt dessen Sichtung einer asubjektiv-phänomenologischen Reduktion zu, die als Epoché, als die Einklammerung der Weltthese mitsamt dem ihr unterlegten menschlichen Selbstbild der Subjektivität gestaltet wird (zur Erläuterung dieser Termini vgl. bereits 3.1.1 und 3.3.8 dieser Studie). Es zeigte sich, dass Bildung unter dieser Maßgabe nicht einfachhin operativ von einem solchen Subjekt in die Tat umgesetzt werden kann. Vielmehr geschieht Bildung als Ausbildung von Interpretationsformen der Subjektivität in Kontexten, die das Verständnis von Subjektivität zunächst herausfordern und sodann in ihren jeweiligen Zusammenhängen bestätigen oder auch zurückweisen. Im Falle einer Zurückweisung wird dann eine Umgestaltung der bisherigen Subjektivitätsvorstellungen nötig. Bildungsprozesse sind deshalb solche der Erprobung und eventuellen Transformation menschlicher Selbstbeschreibungen. Herausfordernd wirkt insbesondere, was sich jeweils zeigt und an die Einzelnen appelliert. Dies können Menschen sein, aber auch Dinge, Strukturen, geschichtlich-kulturelle Rahmungen. Es ergibt sich, dass in einer asubjektiven Bildungstheorie zunächst ein menschlicher Willens- und Gestaltungsakt ebenso wenig bildend wirkt wie
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die appellierenden Menschen und Dinge in der Welt. Bildend wirkt zunächst vielmehr das Erscheinen als solches. Denn dieses asubjektive Erscheinen „phänomenalisiert“ allererst, sofern es Phänomene zum Aufscheinen kommen lässt und somit daraus abgeleitet Bildungsimpulse ermöglicht, zu denen die Initiative dann bei den Menschen oder der Ausgang bei den Dingen liegen kann. Daraus ergeben sich zwei theoretische Ebenen des Bildungsbegriffs: 1. 2.
Bildung als Phänomenalisierung, d.h. als Zum-Erscheinen-kommenLassen – Bildung im Modus des Erscheinens als solchem. Bildung als antwortendes Geschehen zwischen Menschen und Dingen – Bildung im Modus der Erscheinungen. Beide Auffassungen sollen zum Abschluss der vorgelegten Untersuchungen kurz charakterisiert werden.
4.3.2.1 Bildung im Modus des „Erscheinens als solchem“ Bildung bringt zum Erscheinen, weil erst als Gestalt geformt – und darum: gebildet – wird, was die Schwelle zur Erscheinung überschreitet. Dies bedeutet: a) Asubjektive Bildung beginnt ohne Subjekt. Bildung unter asubjektiver Hinsicht wird, soviel haben die vorgelegten Studien deutlich gemacht, nicht zwingend durch Subjektivität als reflexive und selbsttransparente Version menschlichen Bezugs zu sich und zur Welt konzipiert. Vielmehr setzt der Bildungsprozess im hier entfalteten umfänglichen Sinne dort ein, wo sich im Prozess des Erscheinens als solchem diejenigen Phänomene ergeben, die allererst im Bildungsprozess einander zum Antwortgeben herausfordern. Wird Bildung also als verbunden mit dem Erscheinen als solchem verstanden, ist das Erscheinen die ‚Bedingung der Möglichkeit‘ für Bildungsprozesse. Deswegen setzt Bildung in einem Moment dieses Prozesses an, der dem Subjekt noch nicht verfügbar ist. b) Bildung wird auch nicht vom „Anderen des Subjekts“, der (womöglich objektivierten) Welt angestoßen. Näherhin gilt – nun für die anderen Menschen und Dinge –, dass auch deren Bedeutung für das Bildungsgeschehen nicht von diesen aus-
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geht. Stattdessen erfolgt auch deren Erscheinen in einem Raum, der gestaltenden Zugriffen durch diese nicht verfügbar ist. c) Asubjektive Bildung setzt vielmehr „an der Schwelle zur Phänomenalität“ (Böhmer/Hilt 2008) an und formt dort zu Beginn das, was sich sodann als das Antwortgeschehen zwischen Menschen und Dingen ereignet. Diese Responsivität wiederum eröffnet in ihrem Zwischenraum einen Spalt, der den Blick frei gibt in die asubjektiven Kulissen des Erscheinens als solchem. Eine solche Zirkularität der Argumentation bedeutet hingegen keinen sich selbst rechtfertigenden logischen Zirkelschluss. Vielmehr zeigt der Ausweis der Phänomene bzw. des Entzugs an ihnen und in ihren responsiven Wechselspielen die in den Phänomenen ansetzende Argumentation, die allerdings beide Ebenen des Erscheinungsgeschehens – Erscheinen als solches sowie Erscheinendes – wechselseitig aufeinander verweist. d) Doch zumindest bleibt im Zusammenhang von Bildung im Modus des Erscheinens als solchem darzulegen, dass Bildung hier insbesondere als Möglichkeit aufzufassen ist. In den Blick kommt auf diese Weise eine Möglichkeit als Aufmerksamkeit für das, was sich im Erscheinen gibt. Denn im Konzert mit dieser Gabe des Erscheinens kann sodann Bildung im Modus der Erscheinungen erfolgen. Bildung wird zu einem Prozess und einem Ergebnis – zwar nicht zu einem abschließenden, über das hinaus Größeres hinsichtlich Wissen, Können, Distinktion, Habitus oder anderem nicht gedacht werden könnte. Bildung wird vielmehr Ergebnis eines Antwortprozesses, der um den Gabecharakter der Phänomene weiß und sich diesbezüglich in einer gewandelten Form von Subjektivität äußert – epistemologisch, mehr aber noch in den Praktiken der einzelnen. Selbstverständlich ist unter dieser Hinsicht kein materiales telos, kein schlicht definierbares Ziel von Bildung beschrieben, sehr wohl aber eine subjektive Struktur, die nämlich eines apriorischen „Wissens um“ (E. Fink; vgl. Böhmer 2002, 131 ff.) die eigene Offenheit in der Offenheit des asubjektiven Erscheinungsfeldes. e) Aus dieser Haltung eines „Wissens um die phänomenale Gabe“ erwächst die Position einer asubjektiven Aufklärung über die eigene Subjektivität. Wenn nämlich Subjektivität ebenso erscheint wie die Dinge und sich selbst als Phänomen erfasst, macht sie ihre reflexive Struktur deutlich. Diese subjektive Reflexivität antwortet auf sich als dasjenige, was sich
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gewissermaßen „in sich selbst“ zeigt. Allerdings muss dieses Appellierende einerseits bereits erschienen sein (Subjektivität als Phänomen) – und kann zum andere sich als Erscheinendes erfassen (Subjektivität als Reflexivität). f) Somit zeigt sich: In der Epoché der Subjektivität erscheint eine anthropologische Struktur, der mindestens zwei Aspekte eignen: • •
Offenheit für die Elemente des Feldes, Offenheit für sich selbst als Reflexivität.
g) Von dorther wird auch Merleau-Pontys Konzept des ontologischen „Fleisches“ (Merleau-Ponty 1986, 183 f.) einsichtig. Denn aus der vorgenannten Offenheit ergibt sich die Möglichkeit, das Andere in derselben phänomenalen Ordnung wie die eigene Subjektivität zu erkennen. Daraus wiederum erwächst die Möglichkeit von Übergängen zwischen den Erscheinungen, so dass ein erkennender Übergang in eine „Ontologie des Fleisches“ (Vanzago 2007, 176) münden kann. Responsivität ist unter dieser ontologischen Hinsicht nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Überlagerung von Unterschiedlichem im Geflecht des Selben, von Eigenem und Fremdem im „Fleisch“ der Welt nämlich, das in der Struktur der Subjektivität reflexiv wird – für sich ebenso wie für Andere. h) Bildung im Modus des „Erscheinens als solchem“ ist deshalb die über sich wie die Welt aufgeklärte Möglichkeit der Offenheit für ein Geschehen, das die unterschiedlichsten Phänomene im jeweils gegebenen Feld miteinander zum Erscheinen gelangen lässt, andererseits verschiedene ihrer Seiten dem Blick entzieht. Dabei sind die Strukturmomente der Offenheit, der Gabe und der Antwort formgebend für den Prozess, der das fleischliche Geflecht im Erscheinungsfeld gestaltet. Der hier skizzierte Modus von Bildung ermöglicht eine strukturierte Subjektivität als reflexive Innenansicht des Geschehens im Erscheinungsfeld. 4.3.2.2 Bildung im Modus der Erscheinungen In einer weiteren, auf das Feld der Erscheinungen gerichteten Sichtweise lässt sich Bildung als Prozess der Auseinandersetzung von Menschen mit sich und dem ihnen Fremden angesichts der Welt sowie den sich daraus ergebenden Bildern von sich, dem Fremden und der Welt nunmehr auffassen als antwortendes Geschehen zwischen Menschen und Dingen innerhalb der
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Welt. Es zeigt sich, dass aus der zuvor entwickelten Offenheit für sich und die Welt die Möglichkeit erwächst, Appelle der Anderen aufzunehmen und darauf eine Antwort zu formulieren, die einer Formation oder Transformation bisheriger Bilder von sich, den Anderen und der Welt zu entsprechen sucht. Solche Appelle richten sich zunächst nicht zwingend an ein „subjektives System“, das sich, abgeschlossen gegen eine Systemumwelt, autopoietisch jeweils neu konstruierte. Vielmehr führen Appelle und sich daraus ergebende Antworten zu einer situativ neuen Ordnung der Beteiligten. Aus der Struktur der Offenheit ergibt sich eine eher tastende als zupackende Annäherung an die Menschen und Dinge – stets in dem Wissen um die Unmöglichkeit, diese gänzlich bestimmen oder umfassend über sie verfügen zu können. Bildung im Modus der Erscheinungen heißt letztlich, dass stets die Angewiesenheit auf die „Kollaboration der Menschen und Dinge“ bestehen bleibt, wenn Bildung als Antworten und Transformation bisheriger Bilder möglich werden soll. Über das situative Verstehen von Bildung hinaus kommt hier dem jeweiligen Wechselspiel mit den Menschen und Dingen besondere Bedeutung zu. Bildung ist stets als „praktische“ zu verstehen, denn sie praktiziert ihre Verwirklichung mit sich und den Menschen bzw. mit und an den Dingen, findet sich je nach der Ordnung der Menschen und Dinge neu strukturiert und bewahrheitet sich demzufolge jeweils, indem sie mit den Menschen und Dingen „zu schaffen“ hat. Ein solcher Bildungsbegriff bringt nicht allein Distinktion und Habitus zu Wort, fragt nicht allein nach ethischem und ästhetischem Wollen, sondern zeigt sich im konkreten Vermögen zu handeln und in der jeweiligen Formation des Feldes Handeln zu gestalten. Ergebnis der vorliegenden bildungstheoretischen Studien ist eine Umformulierung des modernen Selbstverständnisses der Menschen und ihrer Bildung zum „Subjekt ihres Lebens“, die sich im Verlauf der entfalteten Überlegungen als Ausflüsse von Subjektivierungsbestrebungen verschiedener gesellschaftlicher Strategien zeigten. Möglich werden die bildungstheoretische Umformulierung menschlicher Selbstbilder sowie die Umformung der Bildungspraxis. „Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas da-
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von wird noch in jeder Kindheit wiederholt. Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an, und stets war die Lockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart.“ (Horkheimer/ Adorno 1997, 50)
Die vorliegende Schrift hatte das Anliegen, sich von dieser Perspektive einer dialektischen Aufklärung irritieren zu lassen, nicht um die Aufklärung aufzuheben und zu verabschieden, sondern um sie abzusinken zu lassen – auf die asubjektive Ebene des Denkens und Handelns angesichts des Erscheinens als solchem. Von dort her können auch künftig Irritationen und potentielle Weitungen einer dem Konzept moderner Subjektivität verpflichteten Aufklärung erfolgen, die mit Hilfe der Asubjektivität einen Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Selbstverzweckung eröffnen und der Entthronung eines in die Jahre gekommen Machthabers Vorschub leisten könnte. Sollte diesem Anliegen tatsächlich durch die vorliegenden Überlegungen voran geholfen worden sein, so wäre die so verstandene asubjektive Kritik überlieferter Bildungskonzepte der Weltdistanz und gegenwärtiger sozialer Hegemonien zu verstehen als „die Kunst, nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden“ (Foucault 1992, 12) – noch nicht einmal durch sich selbst. Bildung könnte nämlich dem fremden Herrschaftsanspruch dadurch entrinnen, dass sie nicht mehr vornehmlich einer Disziplinierung für aktuelle gesellschaftliche, und insofern: arbeitsgesellschaftliche, Zwecke entsprechen wollte. Somit wird Bildung unter asubjektiver Hinsicht eher zur Aufgabe und zur Chance der „reflektierten Unfügsamkeit“ (ebd. 15) in sozialen wie subjektiven Feldern.
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