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German Pages [494] Year 2012
Dimensionen institutioneller Macht Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart
herausgegeben von Gert Melville und Karl-Siegbert Rehberg
2012 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit Mitteln des DFG-Sonderforschungsbereichs 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-20232-3
VORWORT Oftmals ist es trotz allen Bemühens um eine bestmögliche Vorbereitung nicht absehbar, inwieweit mancherlei verschlungene Abläufe zu Verzögerungen führen können, die das Erreichen eines Ziels dann letztlich sogar scheitern lassen. Diesem Band hätte dieses Schicksal beinahe gedroht. Umso mehr beglückt es die Herausgeber, ihn hiermit doch noch vorlegen zu können. Der Band versammelt die überarbeiteten Vorträge einer interdisziplinären Tagung, die der einstige Dresdner Sonderforschungsbereich 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ bereits im Jahre 2005 durchgeführt hat. Beteiligt waren an der Veranstaltung sämtliche Teilprojekte des SFB sowie auswärtige Gäste, deren fachliche Kompetenz das Spektrum des SFB wie schon bei vorausgegangenen Tagungen ungemein bereicherte. In dieser Zusammensetzung war es die letzte Tagung des SFB 537, und hier liegt auch der Grund, dass die Herausgeber das Ziel der Veröffentlichung über alle Widrigkeiten hinweg nicht aufgeben wollten. Die Forschungstätigkeit des SFB 537 war seit seiner Einrichtung am 1. Januar 1996 immer geprägt von interdisziplinär austauschenden Diskursen mit der ihn umgebenden Fachwelt. Diese Struktur symbolisiert dieser Band in besonderer Weise gerade auch unter der Perspektive der mittlerweile regulär erfolgten Beendigung des SFB 537 im Jahre 2008. Somit sahen die Herausgeber hier die Chance, noch einmal wichtige Grundlinien des gesamten Forschungsansatzes des SFB exemplarisch zu präsentieren und sowohl in einleitenden als auch abschließenden Erörterungen – aus der Feder von Karl-Siegbert Rehberg – systematisch zusammenzuführen. Möglich war die Veröffentlichung letztlich nur, weil die Autoren (und insbesondere diejenigen, die vor langem pünktlich geliefert hatten) unendliche Geduld gezeigt und zwischenzeitlich manche Aktualisierung klaglos vorgenommen haben. Ihnen sind die Herausgeber zu großem Dank verpflichtet. Dank schulden sie auch den redaktionellen Helfern, Frau Claudia Markert, Herrn Michael Hänchen und Herrn Marko Thieme, die in den verschiedenen Phasen immer Sachkunde mit Durchhaltevermögen verbanden. Dresden, im Oktober 2011
Gert Melville / Karl-Siegbert Rehberg
Inhalt Vorwort ...................................................................................................................................... V KARL-SIEGBERT REHBERG (Dresden) Institutionelle Machtprozesse im historischen Vergleich − Einleitende Bemerkungen .............................................................................................. 1 JÜRGEN MIETHKE (Heidelberg) Macht und Recht im 14. Jahrhundert. Der Entwurf eines deutschen Staatsrechts: Lupold von Bebenburg († 1363) ..................................... 19 I. Macht und Tradition FRITZ-HEINER MUTSCHLER (Dresden) Macht und Tradition. Eine Einführung ................................................................... 51 MARTIN JEHNE (Dresden) Die Neukonstruktion der Tradition als Machterhaltungs- und Machtsteigerungspolitik des Augustus ............................................................................ 59 GUIDO CARIBONI (Milano/Dresden) Kontinuitätsfiktion und Symbolisierung bei den ersten Visconti in Mailand (1277-1354). Die städtische Tradition und der Legitimationsprozess einer innovativen Macht ............................................ 85 HELWIG SCHMIDT-GLINTZER (Wolfenbüttel) Vom Mönch zum Weltherrscher. Verflechtung von Tradition und Neubeginn ......................................................................................... 105 II. Macht und Ohnmacht der Standardisierung WINFRIED MÜLLER (Dresden) Macht und Ohnmacht der Standardisierung. Eine Einführung ......................... 131 ULRIKE SCHENK / BEATRIX WEBER (Dresden) Die ‚Ars dictaminis’ in England zwischen normativer Setzung und Befolgungspraxis. Eine Analyse anhand der „Paston Letters“ ................... 137
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Inhalt
ARNDT BRENDECKE (München) Die Fragebögen des spanischen Indienrates. Ein Beschreibungsstandard in der kolonialen Praxis ............................................... 155 GERD SCHWERHOFF (Dresden) Die „Policey“ im Wirtshaus. Frühneuzeitliche Soziabilität im Spannungsfeld herrschaftlicher Normsetzung und gesellschaftlicher Interaktionspraxen ...................................................................... 177 III. Deutungsmacht versus Geltungsmacht HANS VORLÄNDER (Dresden) Macht als Deutungsmacht. Das Bundesverfassungsgericht ................................ 197 WERNER J. PATZELT (Dresden) ‚Weiche Faktoren’ institutioneller Macht. Einschätzungen von Bundestag und Bundesverfassungsgericht im Vergleich ............................. 217 HANS-JÜRGEN PAPIER (München) Das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu Politik und Öffentlichkeit ......................................................................................... 253 IV. Ontologie der Macht PEDRO SCHMECHTIG (Erfurt) Ontologie und Macht. Eine Einführung ................................................................ 269 KLAUS TANNER (Heidelberg) Zwischen Allmacht und Ohnmacht. Thematisierungen der Macht im christlichen Deutungshorizont ........................................................ 283 GERHARD SCHÖNRICH (Dresden) Die ontologische Dimension von institutioneller Macht, Normativitäts- und Rationalitätsmustern ............................................................... 301
Inhalt
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V. Macht und Bild TINO HEIM (Dresden) Von der „Centrale der sozialistischen Welt“ zum Stellvertreterort der sozialistischen Konsumgesellschaft. Architektonische Machtrepräsentationen und Geltungsbehauptungen am „Zentralen Ort“ in Ostberlin .................................. 331 MANUELA VERGOOSSEN (Dresden) Eklektizismus als Prinzip institionalisierender Eigenzeit. Die bildliche Aneignung von Lebensmustern im Dienst großbürgerlicher Deutungsmacht ............................................................................ 359 BARBARA MARX (Köln) Feuerwerks-Körper oder die barocke Erfindung des virtuellen Raums ......................................................................................................... 373 ANDREAS SCHWARTING (Dresden) Die Macht der Moderne. Mediale Vermittlungsstrategien des Neuen Bauens ...................................................................................................... 405 KARL-SIEGBERT REHBERG (Dresden) Institutionelle Analyse und historische Komparatistik ........................................ 417 Personenregister ......................................................................................................... 445
INSTITUTIONELLE MACHTPROZESSE IM HISTORISCHEN VERGLEICH Einleitende Bemerkungen KARL-SIEGBERT REHBERG
I. Macht als Schlüsselphänomen institutioneller Prozesse Für die institutionelle Analyse, wie sie in den Untersuchungen zu „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ im Rahmen des Dresdner Sonderforschungsbereiches 537 exemplarisch von der Antike bis in unsere Tage historisch-vergleichend und theoretisch-systematisch angewendet wurde, ist Macht eine Basiskategorie. Keine soziale Beziehung ist ohne diese zu denken und umgekehrt schaffen Durchsetzungserfolge neue Machtpotentiale. Macht ist ein ubiquitäres Phänomen: Von den intimsten und persönlichen Beziehungen bis zu den großen Machtkonstellationen der Staaten und transnationalen Organisationsformen ist überall von jenem Durchsetzungspotential auszugehen, das Max WEBER als „die Chance, seinen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“ definiert hat, dabei den „amorphen“ Charakter einer aus allen möglichen Ressourcen entstehen könnenden Dominanzmöglichkeit durch den Zusatz markierend: „gleichviel worauf diese Chance beruht“.1 Der Machtbegriff steht in einer semantischen Spannung zu „Gewalt“, „Autorität“, „Einfluss“ oder „Herrschaft“. In den seit der frühen Neuzeit entstandenen Gesellschaftstheorien ebenso wie in der im 19. Jahrhundert begründeten akademischen Soziologie lassen sich zwei Denktraditionen ausmachen, die für die institutionelle Analyse bedeutsam sind. Zum einen gibt es die personal zurechenbare (also durchaus auch kollektive) Durchsetzungsmacht, zum anderen strukturelle und prozessuale Machterzeugungen. Das drückt sich in Gerhard GÖHLERs Unterscheidung von transitiver und intransitiver Macht aus. Der erste Machttyp meint das Durchsetzungspotential im Weberschen Sinne, der zweite die Erzeugung einer sozialen, beispielsweise gemeinschaftlichen ‚Mächtigkeit’, wobei GÖHLER an Hannah ARENDT anknüpft: „Macht
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Dank für die Unterstützung bei der Zusammenfassung der Macht-Tagung des SFB 537 sei besonders T. Heim gesagt, sodann für die ebenfalls vielfältig anregende Unterstützung beim Verfassen dieser Einleitung T. Deubel und M. Blank. M. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft [zuerst 1922], 5., rev. Aufl. hg. v. J. WINCKELMANN, 3 Halbbde, Tübingen: Mohr 1976, hier §16 der „Soziologischen Grundbegriffe“ (S. 28); vgl. zu „ontologischen“ Schlussfolgerungen aus WEBERs analytischem Vorschlag auch den Aufsatz von Gerhard SCHÖNRICH im vorliegenden Band.
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entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln, oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln“.2 In dieser Formulierung kommt aber nicht die ganze Breite strukturell verfestigter Machtchancen zur Geltung, vielmehr bezeichnet sie nur den Modus einer Vergesellschaftung in Freiheit und Handlungsautonomie, normativ idealisierbar durch einen Rückbezug auf die antike Polis, wie er für freiheitliche Gesellschaften durchaus zum Maßstab werden konnte. Deshalb wäre auch noch eine weitere Seite der Machtbildung zu erörtern, nämlich die Formen ‚geronnener’ Austauschbeziehungen und Dominanzverhältnisse in strukturierten Asymmetrien von Einflusschancen, das also was Johan GALTUNG etwa „strukturelle Gewalt“ nennt.3
1. „Macht“ in Gesellschaftstheorien Keine Theorie über die Konstitution von „Gesellschaft“ kann das Phänomen der Macht ignorieren. Für die Machtanalyse ist es hilfreich, auch hier wiederum zwei gesellschaftstheoretische Denktraditionen zu unterscheiden, die bis in heutige Machttheorien fortwirken: Zum einen gibt es seit der Antike die Modellvorstellung vom Hervorgehen der Vergesellschaftung aus dem politischen Handeln, werden Herrschaft und Politik zur Quelle der Zügelung der menschlichen Triebe und Egoismen, der Brechung partikularer Gewaltsamkeit sowie der Integration der einzelnen Individuen. Es sind dies Diskurse, welche die Entstehung zentraler und rechtlich kodifizierter Herrschaft (als institutionalisierter Macht) vor allem seit dem 17. Jahrhundert vorbereiteten, begleiteten, legitimierten und kritisierten. Zum anderen gibt es seit den antiken Oikos-Lehren einer hausherrlichpatriarchalischen Gewaltmonopolisierung im Innenbereich der Produktionsgenossenschaft, die von Otto BRUNNER für das Mittelalter als das „Große Haus“ bezeichnet wurde mit der strikten Unterordnung der Frauen, Kinder, Knechte und Mägde und weiterer Abhängiger.4 Seit den Gesamtwirtschaftsmodellen der Produktivität und ihrer Verteilung bei den Physiokraten, in der Begründung der Arbeitswertlehre durch John Locke, besonders aber seit Adam Smith werden die veränderten Produktionsbeziehungen reflektiert und programmatisch ausgebaut, kommt es zu einer sozialtheoretisch fundierten Analyse der Arbeitsteilung und des 2
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Vgl. H. ARENDT, Macht und Gewalt, München 1970, zit. in: G. GÖHLER: Der Zusammenhang von Institution, Macht und Repräsentation, in: DERS. u.a.: Institution – Macht – Repräsentation. Wofür politische Organisationen stehen und wie sie wirken. Baden-Baden: Nomos 1997, S. 1162, hier: S. 38f. J. GALTUNG, Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek: Rowohlt 1982. Vgl. O. BRUNNER, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter [zuerst 1939], Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990.
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Marktes. Es entstehen neben den Theorien der Konstitution von Gesellschaft aus der politischen Einigung solche der Gesellschaftsentstehung und -entwicklung aus dem ökonomischen Handeln heraus, aus den interdependenten Verkettungen und Wirkungen „hinter dem Rücken“ der Akteure. Diese ‚Entdeckung’ des 18. Jahrhunderts hat entscheidend beigetragen zu den Struktur- und Systemtheorien der Macht, welche diese nicht mehr nur als Ressource personaler Durchsetzung, vielmehr als Resultat einer systemisch entfalteten Wirkungsdynamik auffassen. Seither ist strukturell erzeugte Macht ein Thema der Selbstbeschreibung der bürgerlichen Gesellschaft ebenso wie ihrer Kritik (besonders in der Politischen Ökonomie von den frühbürgerlichen Autoren bis zu Karl Marx, aber auch in Ansätzen zu einer kritischen Soziologie). Selbstverständlich liegt die Vorstellung einer Zentralität des Machtphänomens allen Konflikttheorien der Gesellschaft (z.B. des Klassenkampfes) zugrunde. Aber sie konnte auch fundamentaler und von Friedrich Nietzsche geradezu als Universalismus eines „Willens zur Macht“, als anthropologischer und historischer Grundtatbestand, aufgefasst werden.
2. Macht als Grundbegriff der Soziologie An die Theorien politischer Integration knüpfen die handlungsbegrifflich ansetzenden Autoren an – allen voran Max WEBER, auf dessen Explikation eines „amorphen“ Machtbegriffs als personal- oder amtsgebundener Ressource für die Durchsetzung eines Willens schon verwiesen wurde. Demgegenüber bestimmte Émile Durkheim die „faits sociaux“ durch die Zwanghaftigkeit des Sozialen als einer Sphäre sui generis den Individuen gegenüber, also sozial-strukturell.5 Als Autoren der Vermittlung von Handlungs- und Struktur- bzw. Systemansätzen kann man Georg SIMMEL mit seinem Modell der „Wechselwirkungen“ (z.B. der Formen von Über- und Unterordnung) nennen6, aber auch die Analyse des Zusammenhanges von fürstlicher, schließlich staatlicher Pazifisierungsmacht und dem durch Verinnerlichung von Triebzwängen hervorgebrachten Zivilisationsprozess bei Norbert ELIAS7. Auch Talcott PARSONS ging von der Handlung als Grundkategorie aus, um Macht dann als generalisiertes Medium systemtheoretisch zu konzeptualisieren.8 Daran anknüpfend hat Niklas LUHMANN in seiner konstruktivistischen Umformung der Parsonschen Syntheseleistung Macht als kommunikative Systemleis5 6
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Vgl. É. DURKHEIM, Regeln der soziologischen Methoden [franz. zuerst 1895], hg. v. R. KÖNIG, Neuwied/Berlin: Luchterhand 1965. G. SIMMEL, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [zuerst 1908], in: DERS., Gesamtausgabe, Bd. 11, hg. v. O. RAMMSTEDT, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, bes. S. 160-283. N. ELIAS, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde, [zuerst 1939], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976. T. PARSONS, Grundzüge des Sozialsystems [engl. zuerst 1961], in: DERS., Zur Theorie sozialer Systeme, hg. v. S. JENSEN, Opladen: Westdeutscher Verlag 1976, S. 161-274, bes. 204f.
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tung umgedeutet, welche als entscheidungsorientierte Kommunikations-Form anzusehen sei. In der Serie seiner Studien über funktionale Teilsysteme der Gesellschaft hat er (seine frühe Machtstudie darin korrigierend) den Machtbegriff nur noch für die Kodierung politischer Systemkommunikation reserviert, eine Tendenz, die er in seinem großen Abschlusswerk unterschwellig wieder zurücknahm.9 Die Omnipräsenz der Macht sowohl als Gefahren- wie als Pazifizierungspotential und selbstverständlich immer auch als Medium einer unterdrückenden Gleichschaltung und „Normalisierung“ der Menschen wurde mit einem aus dem Strukturalismus entwickelten Denken subtil, wenn auch mit unterschiedlichen Blickrichtungen und Methoden von Michel FOUCAULT10 und Pierre BOURDIEU11 behandelt. Bei beiden Autoren kommt es auf die Erzeugung von Macht in einem Spannungsfeld von sozialen Praktiken einerseits und diskursiven Prozessen der Disziplinierung und Ungleichheitsproduktion andererseits an. Die Präsenz der Macht als einer Dimension in jeder sozialen Beziehung verbietet dann die Vorstellung einer einseitigen Kräfteverteilung, in der die „Mächtigen“ auf der einen, die „Ohnmächtigen“ auf der anderen Seite stünden. Vielmehr handelt es sich immer um ein Relationsverhältnis, in welchem Macht ein Effekt der sozialen Beziehung und aller sie bedingenden Akteure und Aktionen ist. Durch diese Veränderung und Dynamisierung des Begriffs wird die Beschränkung auf das bloße Durchsetzungshandeln aufgelöst. Beschreibbar werden Kraftfelder der Mächtigkeit, die sich in Mikrostrukturen sozialer Beziehungen ebenso zeigen wie in dem Feld sozialer Kämpfe im Rahmen der Gesellschaft als ganzer. Jeweils geht es um die Dynamik von Machtprozessen und -konflikten. Das Forschungsprogramm des SFB 537 geht von der „Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen (TAIM)“ und somit vom Problem der (als unwahrscheinlich unterstellten) institutionellen Stabilisierung sozialer Beziehungen aus, für welche sich das Machtproblem als zentral erweist. Komparativ lässt sich eine in allen Kulturen, Epochen und institutionellen Bereichen vergleichbare Paradoxie herausarbeiten, nämlich die Spannung zwischen der institutionellen Machtformierung durch gesteigerte Sichtbarkeit auf der einen und einer spezifisch institutionellen Verdrängung und Invisibilisierung der Macht auf der anderen Seite. Das Problem der Repräsentation, das Verhältnis von Öffentlichkeit und dem Geheimen, die Differenz von regulierten Herrschaftsverfahren und informellen Einflusskanälen, die 9
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Vgl. N. LUHMANN, Macht, Stuttgart: Enke 1975; DERS., Die Politik der Gesellschaft, hg. v. A. KIESERLING, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000 und DERS., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, bes. S. 355ff. u.ö. Vgl. z.B. M. FOUCAULT, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, bes. S. 25-66; DERS., Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve 1978; DERS., Geschichte der Governementalität. Vorlesungen am Collège de France 1977-1979, 2 Bde., hg. v. M. SENNELART, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004 sowie M. RUOFF, Foucault-Lexikon, Paderborn: Fink 2007, bes. S. 146-156. Vgl. z.B. P. BOURDIEU, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft [franz. zuerst 1979], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984 sowie DERS., Homo academicus [franz. zuerst 1984], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988.
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Unterschiedlichkeit von Rollenerwartungen und tatsächlichen Handlungsvollzügen sind Gegenstandsfelder, an denen sich diese grundlegende Spannung zeigen lässt. Institutionelle Macht-„Speicherung“ und -Steigerung bedarf der Präsenzsymbolik und erhöhten Visibilität von Geltungsansprüchen und der Mächtigkeit des Ganzen. Wichtig sind hier insbesondere ästhetische Symbolisierungen. Zugleich werden reale Machtkämpfe und -potentiale, halb- oder illegitime Bestimmungsgrößen verdeckt und gerade in der symbolischen und ideativen (Re-)Präsentation unsichtbar gemacht. In der Darstellung versucht man zu vermeiden, was die Geltungsbehauptungen schwächen könnte. Jeder, der die Selbstdarstellung von Fürsten, Politikern, Priestern, Künstlern oder Wissenschaftlern oder die Konflikt- und Konsensprozesse in Parteien, Verbänden, Unternehmen oder irgendwelchen anderen Organisationen, aber auch in jeder Gruppe, in Familien oder Zweierbeziehungen beobachtet, kennt diesen Mechanismus: Jede Entscheidung, jeder Entscheidungsverzicht, jede Deutung hängt auch mit Machtkonstellationen zusammen – und gerade dies darf nicht ausgesprochen werden. Gerade daraus ergeben sich aber jene Spannungslagen, Konfliktlinien um Zielsetzungen und Sacherfolge, jene Einflussverschiebungen und Machtkämpfe, die soziale Wandlungen unaufhaltsam werden lassen.
3. Das Verschwinden von Herrschaft? „Herrschaft“ als Sonderfall institutionell regulierter Machtausübung steht im Mittelpunkt der meisten Aufsätze im vorliegenden Band. Eine endgültige Aufhebung der Herrschaft (wie für Hegel der Künste) durch Höherentwicklung des Menschen war der utopische Vorgriff des frühsozialistischen und kommunistischen Denkens, das die emanzipatorischen Bilder einer von Ausbeutung befreiten Menschheit gleichsam chiliastisch entwarf. Das übertrug (vor allem) Vorstellungen der Veränderung der Weltbeziehungen des sündigen Menschen durch die Wiederkunft Christi ins Säkulare und stand in Spannung zu den nüchternen Utopien einer Vernunftsdiktatur durch organisierte Perfektionierung der Lebensregulierung, wenngleich der „real existierende“ Staatssozialismus unter der Hegemonie der Sowjetunion eher an letzteres anknüpfte, es aber mit dem idealisierenden Versprechen eines „neuen Menschen“ und einer endgültigen Höchstform freier Vergesellschaftung rhetorisch verband. Aber es gibt auch „westlich“-kapitalistische Vorstellungen von einer Aufhebung von Herrschaft, vielleicht sogar persönlicher Macht: In poststrukturalistischen und postmodernen Theorien und breitenwirksamen Kulturdeutungen (in denen die Überwindung des Subjekts, etwa der „Tod des Autors“ allgegenwärtig waren) konnte man finden, dass dieser, besonders auf politische Ordnungen bezogene Begriff in dem Maße zurücktritt oder ganz aufgegeben wird, als Personen an Bedeutung verlieren – sei es in der vorgestellten gesellschaftlichen Realität, sei es als heuristische Bezugsgrößen der kultur- und sozialwissenschaftlichen Analyse. So warf Niklas LUHMANN nach dem Abebben der Studentenrevolte in der Kontro-
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verse um „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie“ (wie die beiden Positionen etwas schiefer benannt wurden) seinem Kontrahenten Jürgen HABERMAS vor, dass dieser den vormodernen Begriff „Herrschaft“ bemühe, an den jeder irgendwie „glauben“ müsse, der „Vernunft sucht“. Die Systemtheorie habe sich von beidem bereits emanzipiert: „Für sie ist Vernunft kein Kriterium und Herrschaftsfreiheit eine schlichte Selbstverständlichkeit des Denkens, die weder postuliert noch idealisiert werden muss.“12 Der Theoretiker einer funktional ausdifferenzierten (modernen) Gesellschaft und ihrer Teilsysteme folgt darin einer Vorstellung, die in der Nachkriegszeit bereits von Protagonisten der Leipziger Soziologie und Philosophie entwickelt worden war, dass nämlich die Organisationsdominanz „sekundärer Systeme“ (Hans FREYER)13 und die in der technischen Zivilisation unausweichlich gewordenen „Sachzwänge“ (Arnold GEHLEN) zu einer Aufhebung der Herrschaft von Menschen über Menschen14 in einem expertokratischen „technischen Staat“ geführt hätten, wie Helmut SCHELSKY das ausgedrückt hatte.15 Diese von Konservativen entwickelte Ansicht, die „1968“ durchweg als „reaktionär“ galt, ist heute Grundüberzeugung aller politisch relevanten Akteure, unabhängig von Parteizugehörigkeiten oder Aktionsprogrammen. Im Kontrast sowohl zur Vorstellung eines expertokratischen Endes aller Herrschaft als auch einer Einschränkung des Machtphänomens auf ein neuzeitliches Teilsystem „Politik“ nimmt die institutionelle Analyse die Form „verfasster“ Machtausübung ebenso in den Blick wie weitere Dimensionierungen von Macht. Herrschaft wird dabei verstanden als eine zugleich gesteigerte und institutionell kanalisierte Form der Macht. Sie kann von einem umfassenden Konzept der Souveränität (als der sozusagen säkularisierten Allmacht Gottes) bis zur Gewaltenteilung und pluralistischen Formen der Partizipationen reichen. Immer ist damit jedoch in besonderer Weise das Problem der Legitimation verbunden, wie das schon Weber deutlich gemacht hatte. Auch dürfte dies ein Feld institutioneller Ordnungsmuster sein, das prinzipiell in ganz besonderem Maße symbolisch aufgeladen ist.
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N. LUHMANN, Systemtheoretische Argumentationen. Eine Entgegnung auf Jürgen Habermas, in: J. HABERMAS / N. LUHMANN, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971, S. 401. H. FREYER, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1967, bes. S. 79-147. Vgl. z.B. A. GEHLEN, Industrielle Gesellschaft und Staat [zuerst 1956], in: DERS., Gesamtausgabe, Bd. 7: Einblicke, hg. v. K.-S. REHBERG, Frankfurt a.M.: Klostermann 1978, S. 110-124, hier: 118 u.ö. in diesem Band der Gesamtausgabe. H. SCHELKSY, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation [zuerst 1961], in: DERS., Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf/Köln: Diederichs, S. 439-471 [Diskussion des am 15.3.1961 in der 79. Sitzung der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf gehaltenen Vortrages, S. 471-476], bes. 454-460.
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4. Prozessontologische Überlegungen Eine mögliche philosophische Fassung des Machtproblems wird von Pedro SCHMECHTIG (vgl. im vorliegenden Band, S. 269-281) vorgestellt. Eine Voraussetzung dieser Argumentation liegt darin, dass gegen alle Anfeindungen von Kant über den Neopositivismus bis zum „sog. Dekonstruktivismus“ die Ontologie als Studium der „grundlegendsten Strukturen der Wirklichkeit“ in die Philosophie zurückgekehrt sei. Aus dieser Perspektive sei „Macht“ der metaphysica specialis zuzuordnen. Indem er die heuristischen Prinzipien des SFB 537 aufnimmt und definitorisch ausdifferenziert, wird postuliert, damit eine „völlig neuartige Perspektive“ auf Macht eröffnet zu haben: „Das spezifisch ‚Institutionelle’ der Macht drückt sich nämlich nicht in einer nur auf konkrete individuelle Handlungen zugeschnittenen Definition von Machtausübungen aus“, sondern in Formen des „Machtbesitzes“ und darin, dass „dasjenige, was die Machtrelationen konstituiert, einen sog. ‚produktiven’ Charakter besitzt“. Daraus ergäben sich Überlegungen zu den individuellen Fähigkeiten und Positionen in einem institutionellen Gefüge, etwa Annahmen darüber, was die „sozialen Eigenschaften (z.B. dispositionaler Art)“ seien, die zur Inbesitznahme institutioneller Positionen befähigen, ohne dass diese sich „auf individuelle Fähigkeiten des Trägers dieser Eigenschaften reduzieren lassen“. Für alle diese Bestimmungen fehlten bisher eine „ontologische Basisbeschreibung“ der Machtkonstellationen, -chancen-, -träger etc. Der Rahmen für diese Überlegungen findet sich in der prozessontologischen Konzeption Gerhard SCHÖNRICHs (vgl. im vorliegenden Band, S. 301-327). Institutionen werden darin nicht durch Einzelhandlungen singulärer Akteure, sondern durch Gemeinschaftshandlungen gebildet, die von ihren Teilhandlungen her zu analysieren sind. So wie die Theorie der Einzelhandlungen z.B. auf eine Ereignisontologie verpflichtet seien, liege dem praxeologischen Konzept der Gemeinschaftshandlungen die Annahme einer Prozessontologie zu Grunde, die es erlaube, ganze Praxen als Sequenzen aufeinanderbezogener Handlungen zu modellieren und den zeitlichen Verlauf in (durch Normativität und Machtverhältnisse gesteuerte) „Geschichten“ darzustellen. Die Prozessontologie könne erklären, wie sich Gemeinschaftshandlungen zu festen, aber für Selbstkorrektur offenen rationalen Mustern stabilisieren, die einer immanenten Logik folgen, und wie sich höherstufige Entitäten wie Institutionen etablieren können.
II. Dimensionen der Machtanalyse: Exempla historischvergleichender Forschungen 1. Machtsteigerung durch die Tabuierung der Machtprozesse Treffende Beispiele für eine gesteigerte Mächtigkeit gerade durch die Verdeckung von Machtpotenzialen und -prozessen finden sich in Martin JEHNEs (vgl. im vorliegenden Band, S. 59-83) Studie über eine, im Prinzipat des Augustus meisterhaft
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begonnene und bis weit in die römische Kaiserherrschaft (nicht immer mit gleichem Geschick) fortgesetzte Fiktion, dass trotz der Alleinherrschaft die Regeln der Römischen Republik und die Rechte des Senates unangetastet geblieben seien. Gerade die Gewaltchance im Kriege und die Legitimationsbasis, als Sieger einer Kette von Bürgerkriegen die „Rückkehr zu normalen Zuständen“ versprechen zu können, erlaubte es Oktavian, seinen Machtzuwachs durch ein Wechselverhältnis von neuen Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen bei gleichzeitigem Anleihen an die Tradition dadurch unwiderlegbar zu machen, dass die Herrschaftsokkupation unsichtbar gemacht wurde (wie JEHNE das am Beispiel des Primus-Prozesses in den letzten Dezennien des ersten vorchristlichen Jahrhunderts illustriert hat). In ähnlicher Weise wird von Guido CARIBONI (vgl. im vorliegenden Band, S. 85-103) gezeigt, wie die Legitimationsbasis mit dem Aufstieg der Visconti umgedeutet und inszenatorisch verschoben werden musste, nachdem 1277 Ottone Visconti zum Bischof von Mailand gewählt worden war. Vergleichbar vielen Vertretern der großen Familien auf dem Papstthron, musste der fürstliche Kleriker alles daransetzen, sich als Repräsentant der Gemeinschaft darzustellen, um seine Herrschaftsposition zu rechtfertigen und zugleich persönliche und Familieninteressen befriedigen zu können.
2. Eigengeschichte und Traditionsbemächtigung Dieses Beispiel führt auch zu einem anderen institutionellen Mechanismus, nämlich der symbolischen Suggestion institutioneller Dauer durch die Entwicklung spezifischer Eigengeschichten. Einerseits sollte die Stadtregierung des Bischofs in die Linie einer kontinuierlichen Sukzession ohne radikale Brüche gestellt werden, knüpften die Visconti an die von der Volksversammlung gegründete kommunale Herrschaft an, in dem sie bis 1349, als die erbliche Nachfolge durchgesetzt war, als capitano del popolo auftraten. Zum anderen mobilisierte die neue Herrschaft die legendäre Tradition des heiligen Stadtpatrons und Bischofs Ambrosius, der in ihren symbolischen Selbstdarstellungen unablässig beschworen wurde. Die Bedeutung einer die Tradition festigenden Geschichtskonstruktion zeigt sich eindrücklich in dem von Helwig SCHMIDT-GLINTZER (vgl. im vorliegenden Band, S. 105-127) dargelegten Fall der 1368 von der „Ausnahmegestalt“ Zhu Yuanzhang gegründeten und fast dreihundert Jahre bestehenden Ming-Dynastie, deren Fortführung und Umgestaltung noch lange nach ihrem Ende bis ins 19. Jahrhundert hinein gewirkt habe und die geradezu zum Paradigma von Herrschaftskontinuität wurde. Auch deren „Dauer“ hatte ihre Grundlage in der Kombination einer Befolgung von Traditionen bei gleichzeitiger Einführung neuer Standards. Autokratie und Bürokratie wurden nicht als Widerspruch empfunden, denn es ging um die Ausgestaltung eines durch „Gegensatzbegriffe wie ‚Himmel’ und ‚Erde’ oder ‚weich’ und ‚hart’ gefassten Kontinuums“ (vergleichbar vielleicht der Vereinbarkeit von kommunistischer Einparteienherrschaft und Kapitalismus in der heutigen Volksrepublik). Tradition und deren rituelle Vergegenwärtigung seien
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in China selbst eine Form der („intransitiven“) Macht, welche über das (mit WEBER zu sprechen) ‚Amtscharisma’ entschieden. SCHMIDT-GLINTZER illustriert die Seite institutioneller Symbolproduktion zur Errichtung einer erstaunlichen Spannungsbalance an der Thronbesteigungszeremonie als einer Synthese aus Traditionskonstruktion und Neubeginn, an der Investitur der Herrschersöhne oder der Konstruktion einer neuen Geschichtsschreibung sowie an Einzelheiten der Außenpolitik, der Etablierung überregionaler Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen, der Einrichtung von religiösen Ämtern etc. Aber es wird an diesen Beispielen aus der Geschichte chinesischer Dynastien auch ein anderer Zusammenhang sichtbar, nämlich der zwischen territorialer Okkupation und dem Zwang zu einer sie stützenden Traditionalisierung. Obwohl er als Sinologe von vorschnellen Analogisierungen zwischen sehr unterschiedlichen Kulturen und Subjektvorstellungen abrät, zeigt sich in seinem Beispiel der Fremdherrschaft der mongolischen Yuan-Dynastie das Phänomen, dass gerade eine auf „Überlagerung“ (Ludwig Gumplowicz) und der Eroberung durch eine von außen kommende mobile Führungsgruppe beruhende Herrschaft darauf angewiesen ist, viele der Traditionen weiterzuführen, so dass es gerade unter einer solchen ‚Fremd’-Herrschaft zu einer „Blüte der chinesischen Kultur“ kommen konnte, welche bei den Bildungseliten besondere Schätzung genoss. Verallgemeinernd gesprochen, scheint es in jedem Institutionalisierungsprozess eine Notwendigkeit zu geben, sich zur Tradition in ein Verhältnis zu setzen. Das gilt übrigens auch im Falle eines radikalen Bruchs mit der bestehenden Ordnung – indem etwa Revolutionsregimes ihre eigene Zeitordnung auf die Negation des Überwundenen gründen. Das gilt für den Revolutionskalender von 1792, der das Jahr der Erstürmung der Bastille zum An I de la liberté machte oder für Mussolini, der 1922, das Jahr des „Marschs auf Rom“, auch kalendarisch zum ersten einer neuen Ära erkor. Fritz-Heiner MUTSCHLER (vgl. im vorliegenden Band, S. 51-58) hat einen solchen Vorgang der Traditionszerstörung am Beispiel der aus einer „geschichtslosen“ Usurpation aufgestiegenen chinesischen Herrscher rekonstruiert. 213 v. Chr. ließ Qinshihuangdi, der als „Reichseiniger“ in die Kaisergeschichte einging, die Frage diskutieren, ob eine Herrschaft (der in diesem Falle sogar eine Dauer von „zehntausend Generationen“ prophezeit worden war) sich auf staatliche Vorgänger berufen solle. Sein Kanzler Li Si rät ihm zu einer radikalen Ausmerzung der gesamten historischen Überlieferung, ausgenommen die der eigenen Dynastie und ihres Staates, was der „Terrakottakaiser“ dann auch in die Tat umsetzte. Man ist an die, demgegenüber allerdings nur selektive damnatio memoriae der Bild- und Texteliminationen unter Stalin erinnert. Keineswegs widerspricht ein solcher Vorgang der analytischen Frage nach institutionellen Stabilisierungsleistungen, weil diese gerade von der Unwahrscheinlichkeit einer Verstetigung von Ordnung ausgeht. Somit ist der Mechanismus des Versuchs einer Beherrschung nicht nur der Gegenwart und Zukunft (etwa in einem „Tausendjährigen Reich“), sondern sogar noch der geschichtspolitisch umgedeuteten Vergangenheit ein besonders eindrücklicher Beleg für die machtgestützte Aneignung der Zeit. Das gilt auch wenn (wie im Falle der
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Quin-Dynastie) eine Volkserhebung dem Herrscherhaus ein baldiges Ende bescheidet (und auch das Deutsche Kaiserreich von 1871 wurde nicht einmal zwanzig oder die mächtige Sowjetunion lediglich siebzig, ihre Satellitenstaaten gerade einmal vierzig Jahre alt).
3. Diskursive Institutionalisierungsprozesse Erwähnt wurde die postmoderne Plausibilität einer von Akteuren befreiten Prozess- oder Systemhaftigkeit des Sozialen, woraus sich ein guter Teil der Faszination sowohl der Systemtheorie als auch der Foucaultschen Machtanalysen herleiten lässt. Letztere wollte die sich in der Moderne intensivierenden Machtbeziehungen zuerst in den epistemischen Tiefenstrukturen des Denkens und in den psychiatrischen, medizinischen und pädagogischen Wissensordnungen, sodann in den Praktiken der Disziplinierung der Einzelnen und schließlich in der biopolitischen Kontrolle sogar ganzer Bevölkerungen aufzeigen. All die tritt in der Formierung von Menschen an die Stelle von Intentionen und Interaktionen. In der historischen Analyse lösen sich derartige theoretische Entgegensetzungen allerdings auf: Arndt BRENDECKE (vgl. im vorliegenden Band, S. 155-176) demonstriert das an einem Beispiel kolonialer Herrschaftspraxis durch eine frühe Form sozialer Untertanenerfassung in den spanischen Kolonien. Was als in die Einzelexistenzen eindringendes und disziplinierendes Verfahren am Beispiel der Herrschaftsintensivierung durch Statistiken vielfältig behandelt wurde, erweist sich in diesem Zusammenhang als ein schon im 16. Jahrhundert entwickeltes Konzept einer hoheitlichen empirischen Sozialforschung. Schon unter Karl V., vertieft dann unter Philipp II. sei eine „Herrschaft durch Information“ entstanden, samt allen Problemen der Datenerfassung und -interpretation und vor allem (wie im Falle vieler Geheimdienste, etwa auch des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit) der unbearbeitbaren Informationsflut, der sich auch der spanische Indienrat ausgesetzt sah. Je ausgefeilter seine Fragebögen wurden, je höher waren die Verweigerungen von Antworten. 1578 jedenfalls habe der Vizekönig von Peru darauf hingewiesen, dass die Enquête zu viele Menschen von ihren Amtsgeschäften abziehen würde, und als 1604 ein Questionnaire mit 355 Fragen in das Reich ausgesendet wurde, in dem „die Sonne nie unterging“, sah man sich ganz außerstande die notwendigen Antworten zu liefern, was dann zu flexibleren, man könnte aus heutiger methodologischer Sicht sagen: „qualitativen“ Erhebungsverfahren führte. Aus der Unterschiedlichkeit der Realitäten ergab sich in diesem Zusammenhang sogar eine Kritik am Anspruch zentraler (Welt-)Herrschaft, wenn der Kleriker Luis Sánchez von der Verschiedenartigkeit der spanischen Territorien meinte, jedes bedürfe spezieller Gesetze, während es täglich vorkomme, „dass sie ein einziges Gesetz für alle machen, und so nützt es dem einen während es dem anderen schadet“. Erreicht werden soll mit derartigen Verfahren zentralisierter Wissensanreicherung immer auch eine machtgestützte und zugleich Macht generierende Standardisierung der Gegebenheiten im eigenen Herrschaftsbereich. Winfried MÜLLER (vgl.
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im vorliegenden Band, S. 131-136) schildert das daraus sich ergebende Spannungsfeld von Normvorgaben und Befolgungspraxis mit Verweis auf die neueste Rechtschreibreform des Deutschen, aber auch an Versuchen einer ‚Entbürokratisierung’ oder an den Prätentionen einer kriminaltechnischen Erfassungsperfektionierung durch den „genetischen Fingerabdruck“. Vergleichbare Beispiele liefern Ulrike SCHENK und Beatrix WEBER (vgl. im vorliegenden Band, S. 137-154), welche die Genese und Durchsetzung von Regeln im Zuge der Normierung und Institutionalisierung der Schriftkultur in England untersuchen. Ausgangspunkt sind dabei die Artes dictandi, also Regeln für das Verfassen von Briefen im 15. Jahrhundert. Den Hintergrund bildet die Ausbreitung der Schriftkultur im Mittelalter, als Stilbeispiel die „Paston Letters“ einer Familie mit regem Schriftverkehr. Dabei werden verschiedene „Befolgungsschichten“ ausgemacht, einmal die Einhaltung expliziter Vorgaben der Regelwerke (Gliederung, Grußformel in Abhängigkeit der Statusdifferenzen von Sender und Empfänger etc.), zum anderen die Entlehnung von Wendungen und impliziten Regeln von Beispielsformulierungen und Musterbriefen. Im Ganzen wird der sprachliche Normierungserfolg für England als sehr hoch eingeschätzt, da er eine Praxis generiert habe, die zur weiteren Verbreitung und Stabilisierung des Sprechens beitragen konnte, der englischen Sprache also eine neue Art von „Macht“ verlieh: ‚the power to be used for writing letters’.“ Einen bestechenden Fall der Konstruktion einer normativ aufgeladenen Eigengeschichte durch Verfügung über das sprachlich und vor allem bildhaft erzeugte Wissen und die entsprechende Diskurssteuerung schildert Andreas SCHWARTING (vgl. im vorliegenden Band, S. 405-415) am Beispiel eines erfolgreichen Kanonisierungsprozesses: Bildanalytisch lässt sich das an dem oft als Gründungsbau der neuen Bewegung angesehen Fagus-Werk in Alfeld an der Leine von Walter Gropius (1910-1914) aufweisen. Die verbreiteten Leitbilder des modernen Bauens stützen sich auf eine retrospektive Stilisierung der architektonischen Funktionsästhetik der 1920er und 30er Jahre und deren photografische und literarische Vermittlung. Da die Vertreter des ‚Neuen Bauens’ in klarer Opposition zu einer skeptischen Mehrheit der Bevölkerung standen, sei die Moderne für lange Zeit im Weichbild der europäischen Städte kaum in Erscheinung getreten. Deshalb habe sie sich vor allem durch Nutzung aller erdenklichen Medien (Architekturpostkarten, Magazine, Zeitungen, Architekturfilme) und durch visuelle Komposition, stimmige Erzählstruktur und martialische Sprache („Der Sieg des neuen Baustils“) als beherrschende formale Konvention etabliert. Dazu gehört eine stereotype Situationsbeschreibung, die sich in allen Hagiographien ebenso wie in den Kritiken der Moderne aufweisen lasse: „die Stagnation um 1918, der kühne Aufbruch willenstarker Männer ins Ungewisse und die Legitimation des neuen Stils durch die Geschichte selbst, vor der sich eventuelle Kritiker der modernen Bewegung zu verantworten hätten“. Oder mit negativen Vorzeichen: Der Bruch mit aller gewachsenen Tradition, die zur Zerstörung und Verschandelung der Städte führe. In beiden ‚Großen Erzählungen’ sei der radikale Bruch mit allen Traditionen zentral – als Gründungsmythos oder als Sündenfall.
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4. Räumliche Präsenzsymbolik und deren rituelle Überhöhung Die für institutionelle Symbolisierungen wichtige Seite der Darstellung und herausgehobenen Stilisierung und Formen einer heraushebenden Stilisierung drückten sich in allen Kulturen auch in Festen aus, wie Barbara MARX (vgl. im vorliegenden Band, S. 373-403) das am Beispiel eines 1709 von August dem Starken selbst konzipierten und überwachten, bis dahin an der Elbe ungesehenen Feuerwerksspektakels darstellt. Nur auf den ersten Blick scheine dies einer institutionellen, verstetigend wirken sollenden Memoria zu widersprechen. Jedoch lebt hier die Präsenz der durch den Fürsten verkörperten Ordnung von der überwältigenden „Unmittelbarkeit des Sinneneindrucks“, wird durch diesen institutionellen Körper und seine überlegene Macht die sprichwörtliche „Dunkelheit der Vormoderne“ gesprengt und der fürstliche Machtanspruch sogar auf den Wahrnehmungsraum der Zuschauer ausgedehnt. So werde im flüchtigen Gesamtkunstwerk die dauerhafte Verfügungsgewalt demonstrativ vergegenwärtigt. Für die stadträumliche Inszenierung als einem Medium „symbolischer Macht“ (Pierre Bourdieu) sind auch die von Tino HEIM (vgl. im vorliegenden Band, S. 331-357) dargestellten Planungen für einen „Zentralen Ort“ der Hauptstadt der DDR beispielhaft, denn es war ursprünglich sogar an eine „Centrale der sozialistischen Welt“ gedacht worden. An der Stelle des auf Befehl Walter Ulbrichts gesprengten Berliner Stadtschlosses der Hohenzollern, an welcher in der „Konsensdiktatur“ unter Erich Honecker mit dem (unter den neuen politischen Voraussetzungen nach 1990 abgerissenen) Palast der Republik ein „Stellvertreterort der sozialistischen Konsumgesellschaft“ errichtet wurde, war 1950 eine architektonische Überbietung von Macht-Einschreibungen geplant. Deren Rekonstruktion macht verständlich, wie die (als Sozialistische Einheitspartei organisierte) Kommunistische Partei zugleich als neuer Principe auftrat (um an Antonio Gramscis Vision einer Einigung Italiens aus dem Geiste von Marx und Lenin zu erinnern). Gedacht war für den Platz gegenüber dem einstmaligen Lustgarten und dem Museumsbau Schinkels an einen, den Pergamonaltar zitierenden Basisbau, aus dem – die Vollendung der Kulturleistungen seit der Antike in der DDR symbolisierend – ein Hochhaus hätte emporstreben sollen, in dessen „Ehrenhalle“ überdies „Kleinodien der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung“ zu sehen gewesen wären, etwa die Manuskripte des „Manifestes der kommunistischen Partei“ und Erstdrucke des „Kapitals“. Der Architekt Gerhard Kosel wollte in seinen damaligen Überlegungen zeitweise sogar das berühmte Moskauer Mausoleum auf dem Roten Platz überbieten, wenn er die Überführung der Gebeine des ‚Begründers des Wissenschaftlichen Sozialismus’ vom Londoner Highgate-Friedhof ins Marx-Engels Forum erwog. Demgegenüber scheinen Gasthäuser und Trinkstuben trivial. Und doch sind sie als multifunktionale öffentliche Räume (vor allem, wenn man sie zu Kirchen, Rathäusern und Marktplätzen ins Verhältnis setzt) von erstrangiger Bedeutung, wie Gerd SCHWERHOFF (vgl. im vorliegenden Band, S. 177-193) in seinen Überlegungen zur „‚Policey’ im Wirtshaus“ (einer keineswegs nur obrigkeitlich geschaffener
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‚guten Ordnung’) analysiert. Das setzt die Institutionalisierungen von Eigenräumen von einem einseitig zugespitzten etatistischen Disziplinarmodell ab und zeigt Vorsicht gegenüber einer Überschätzung von Polizeiordnungen als zentralen Quellen, die oftmals dazu verführen mögen, zu schnell von Normierungen auf deren reale Durchgesetztheit und die Wirklichkeiten der lebensweltlichen Handlungszusammenhänge zu schließen. Allerdings spiegeln sich in Normierungsbedürfnissen doch auch anzunehmende Praktiken, Formen eines nicht mehr geduldeten Verhaltens, Störungen der Ordnung – zumindest für Teile der städtischen Bevölkerung. Gasthäuser erweisen sich dabei als eines der exemplarischen Regulierungsfelder der frühen Neuzeit. Sperrstunden und fremdenpolizeiliche Auflagen sind bis heute bekannt. Aber wie zentral diese Räume für die Spannung von brüderlicher Vergemeinschaftung und der ständischen Ehrbehauptung des Individuums waren, belegen vor allem die zahlreichen (oftmals: Über-)Regulierungen für ein rechtes Verhalten im Wirtshaus: „Verboten wurden zeitweilig oder prinzipiell […] Zutrinken, das Tanzen in den Wirtschaften (im katholischen Köln nur in der Fastenzeit) oder das Spielen, jedenfalls das Glücksspiel um höhere Einsätze“. Verboten waren auch „Gotteslästerung und Fluchen, Injurien, Schmähworte, Messerzücken, Schlägereien oder gar Tötungen“. Am Zutrinken erweist sich der Konflikt zwischen obrigkeitlichen Distanzregeln und der durchaus auch pazifizierend wirken könnenden kurzzeitigen Vergemeinschaftung im Wirtshaus. Sichtbar wird eine Komplementarität der Ordnungskräfte von „oben“ und „unten“, wobei insbesondere dem Wirt eine wichtige und permanente Vermittlerrolle zukam.
5. Medien der Herrschaftslegitimation durch Machtbeschränkung Alle diese Beispiele verweisen auf Institutionalisierungsprozesse durch die Akkumulation eingesetzter Machtmittel und deren symbolischer Verstärkung. Allerdings ist es keineswegs so, dass diese Verstetigungsprozesse immer in Richtung einer unbestreitbaren Zentralisierung führten. Vielmehr sind es häufig gerade komplizierte „Machtbalancen“, wie Norbert ELIAS das nannte, und Formen der Einhegung von Gewaltsamkeit, welche die Stabilität von Ordnungen ermöglichen. Geht man noch einmal von Max WEBERS Unterscheidung von „Macht“ und „Herrschaft“ aus, so wird klar, dass Herrschaft ihre Machtbasis verstetigt und intensiviert. Zugleich ist sie aber limitierte, nämlich (zumeist rechtlich) kodifizierte Machtanwendung, im Falle der Weberschen Definition eingeengt auf Befehle „bestimmten Inhalts“, um „bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“.16 Dabei gibt es neben den faktischen vor allem Machtbeschränkungen durch religiöse und/oder rechtliche Normierungen. Klaus TANNER (vgl. im vorliegenden Band, S. 283-299) belegt die Schlüsselrolle religiöser Machtrelativierungen aus der jüdisch-christlichen Tradition heraus, da 16
WEBER, Wirtschaft [wie Anm. 1], S. 28.
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deren Semantiken und Praktiken „Artikulationsmedien für Fragen der Machtgenerierung, Machtausübung und Machtkritik“ seien. Jenseits zeitgeistbedingter Konjunkturen habe die Verflechtung von Macht- und Religionsdiskursen ihre Grundlagen in der Ambivalenz von menschlicher Ausgeliefertheit und Gestaltungskraft. Dabei habe sich im Christentum die unwahrscheinliche, vielleicht „paradoxe“ Konzeption herausgebildet, in der Macht durch einen „Verzicht auf Macht“ gewonnen werden kann, da jede ihrer Formen als an die göttliche Ermächtigung rückgebunden gedacht ist. Deren „schöpferische Benennungsmacht“ steht in einer Spannung zu der an den sündig gewordenen Menschen adressierten Aufgabe, sich die Welt untertan zu machen. Gleichzeitig jedoch sei die Bibel voller Warnungen vor menschlichen Machtansprüchen (Sündenfall) und der mit ihr verbundenen Gewaltbereitschaft (Kain-Abel etc.). Das beeinflusst noch die frühneuzeitliche Staatstheorie (bei Thomas Hobbes, John Locke u.a.). Theologisch stellt sich das Machtproblem am schärfsten als Frage nach der „Allmacht“ Gottes und der damit verbundenen Theodizee, also nach der Rechtfertigbarkeit der von Gott zu ‚verantwortenden’ Ungleichverteilung des Glücks, mehr noch: des Leidens – wie sie ‚nach Auschwitz’ wiederum neu zu stellen war. Max WEBER hatte diese ‚Überlastung’ des monotheistischen Gottes zum Angelpunkt seiner Theorie der aus der Religion heraus entwickelten innerweltlichen Rationalisierung gemacht.17 Heute bestimmen demgegenüber eher Fragen der Lebensführung die Debatte, somit auch eine neutestamentarische Behandlung von Technologien der Herrschaft und des Selbst, insbesondere der Rolle der „Pastoralmacht“ im Sinne Foucaults. Die rechtliche Machtkanalisierung wird deutlich in Jürgen MIETHKES (vgl. im vorliegenden Band, S. 19-47) Darstellung einer Legitimationstheorie der „deutschen“ Kaiserposition im 14. Jahrhundert, in der Beschränkung, aber auch Erhöhung königlicher und kaiserlicher Macht durch Bezug auf „das Recht“ fundiert werden. Bis heute, im Zeitalter der Transformation (nicht: Auflösung) nationalstaatlicher Hoheitsrechte bleiben Aspekte dieses ‚vorstaatlichen’ Konfliktes belehrend, da sich dort Argumentationsstrukturen einer „modernen“ staatsrechtlichen Machtbegründung vorformuliert finden. Auch zeigt sich, dass die „Herrschaft des Rechts“ nicht erst durch den modernen Konstitutionalismus und Parlamentarismus begründet wurde, denn in der politiktheoretischen Diskussion des späteren Mittelalters hatte sich ein kompliziertes Verhältnis von Macht und Recht herausgebildet, indem es gelang, die königliche Entscheidungsgewalt, Gesetzgebungskompetenz und Regierungstätigkeit an das Recht zu binden, woraus auch die Diskussionen um die Berechtigung, ja Verpflichtung zum Tyrannenmord folgten (die nach den heftigen Auseinandersetzungen der 1960er Jahre um die Bonner „Notstandsverfassung“ noch in Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes einen durch die Hitlerdiktatur plausibilisierten Nachklang fanden). Zur zentralen Frage wird dann allerdings immer, wie rechtmäßige von unrechtmäßiger Machtausübung zu scheiden sei. Die Monarchie als „beste“ und der 17
Vgl. dazu besonders F. H. TENBRUCK, Das Werk Max Webers, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 27 (1975), S. 663-702.
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hierarchischen Weltordnung Gottes entsprechende Regierungsform konnte im Mittelalter unter Einbeziehung eines Modells ständisch gegliederter Ehre und einer daraus resultierenden ‚Ethik’ den Rahmen für die Vorstellung von einem, beispielsweise in „Fürstenspiegeln“ zu vermittelnden, angemessenen sittlichen Verhaltens des Herrschers bilden. MIETHKE zeigt, wie seit dem Spätmittelalter primär die Legitimierung durch das Recht eine Schranke für die fürstliche Gewalt setzte. Er bezieht diesen Effekt vor allem auf die nie beigelegten Legitimierungskonflikte zwischen Kaiser und Papst, besonders nachdem Innozenz IV. 1245 in dem Staufer Friedrich II. (mithilfe des Konzils von Lyon) erstmals einen Kaiser abzusetzen gewagt hatte. Nebenbei fällt dabei die gleichwohl durchgesetzte institutionelle Kontinuitätsfiktion auf, die es erlaubte, sowohl die Sukzession der Päpste auf die Einsetzung des Petrus zu gründen wie etwa auch bis zu dessen Auflösung im Jahre 1806 (zumindest im deutschen Sprachbereich) vom „Heiligen Römischen Reich deutscher Nation“ zu sprechen. Die rechtlichen Rahmensetzungen für Herrschaftsansprüche und politische Gestaltungsmacht sind vor allem dann in den modernen Verfassungen verbindlich gemacht worden, deren institutionelle Sicherung vor allem auch durch die von Hans VORLÄNDER (vgl. seinen Beitrag im vorliegenden Band, S. 197-215) untersuchte „Macht der Verfassungsgerichtsbarkeit“ belegt wird. Paradox müsse wirken, dass diese Rechtsnormen lediglich auslegen, nicht hingegen politisch handeln dürfe: „Prima facie also kommt der Tätigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit zwar Bedeutung, aber kaum Macht im eigentlichen Sinne des Wortes zu.“ Zumindest kann man ihr keine Durchsetzungs-, Verfügungs- oder Verteilungsmacht zuschreiben, wohl aber eine Art Vetomacht. Dargestellt wird zunächst die Genese des Bundesverfassungsgerichts als Machtfaktor im Deutschland nach 1945. Über die Quasi-„Selbstermächtigung“ in der Status-Denkschrift des Verfassungsrichters Gerhard Leibholz, in der das Gericht sich im Jahre 1952 zum „Verfassungsorgan“ erklärte, gab es einen Konflikt vor allem mit dem damaligen Bundesjustizminister Thomas Dehler, während sowohl die Opposition gegen eine mögliche Übermacht der Regierung als auch die Länder zur Eindämmung eines zu starken Suprematieanspruchs des Bundes ein Interesse an der Stärkung des Gerichts hatten, das schließlich einen prägenden Einfluss auf die Ausgestaltung der Grundrechte im Verhältnis von Bürger und Staat gewann. Aus Konflikten mit den politischen Instanzen ging das Verfassungsgericht zumeist als Sieger hervor, und wurde ein Machtfaktor nicht nur als Streitschlichter oder Schiedsrichter im politischen Machtkampf, sondern auch als politischer Akteur, der indirekt, aber nachhaltig, ganze Politikbereiche mitgestaltet. Grundlage dieses rechtlich und politisch wirkenden, herausragenden Einflusses sei keine direkte „Durchsetzungsmacht“, da dem Gericht keine unmittelbare Sanktionsfähigkeit mit der Befugnis verliehen ist, eine Folgebereitschaft für seine Urteile zu erzwingen. Dass das Bundesverfassungsgericht zu einer Art „Meta-Institution“ wurde, folgt aus den Erfahrungen der NS-Diktatur. Dessen Präsident, Hans-Jürgen PAPIER (vgl. im vorliegenden Band, S. 253-266), zeigt, dass die Richter in den (symbolisch ambivalenten) roten Roben in der Bundesrepublik über weit mehr politi-
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sche Kontrollrechte verfügen, als dies für vergleichbare oberste Gerichte in anderen Ländern gilt. Ausgehend von den scharfen Konflikten in den 1950er Jahren, wo es noch gemäßigt geklungen habe, von einer „Machtusurpation“ der Karlsruher Richter zu sprechen, erzeugen deren Urteile (selbst in den zwei Prozent, die öffentlich kontrovers diskutiert werden) ein Vertrauen in die Verfassungsordnung. Darin zeige sich auch eine Stärke des Föderalismus und der auf ihm beruhenden Dezentralisierung in Deutschland: Papier meint, dass es dank der Justizpressekonferenz in der südwestdeutschen Residenzstadt in ganz anderer Weise gelinge, „die juristische Information mit möglichst geringem Substanzverlust in die Alltagssprache zu übersetzen“ als dies bei einer Berichterstattung durch weniger fachgeschulte Hauptstadtkorrespondenten erwartbar wäre.
*** Alle diese historischen Beispiele stehen im Zusammenhang mit der, die unterschiedlichen historischen Zugriffe in den Einzelprojekten des SFB 537 methodisch verbindenden Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen (TAIM). Sie tragen dazu bei, die theoretischen Vorannahmen zu überprüfen beziehungsweise zu modifizieren. Obwohl die hier gewählte theoretische Perspektive die Anregungen unterschiedlicher sozial- und kulturwissenschaftlicher Ansätze bereits aufnimmt, können im historischen Vergleich auch alternative Deutungsmuster an Profil gewinnen. Von Anfang an stand das Problem der Macht im Zentrum der hier angewandten und weiterentwickelten Institutionenanalyse, weshalb diese abschließende Publikation des Dresdner Sonderforschungsbereiches in gewisser Weise frühere Resultate der in diesem Rahmen durchgeführten Forschungen nochmals bündelt. Deshalb auch wird der Band durch eine Zusammenfassung des Institutionen-Ansatzes abgerundet (vgl. im vorliegenden Band, S. 417-443).
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Anhang Typologisches Problem- und Begriffsraster Typologisch können verschiedene Machtformen und -dimensionen unterschieden werden: 1. Machtgrundlagen
ökonomische, politische, ideative (einschließlich magischer), ästhetische oder an personale Eigenschaften geknüpfte Machtquellen, einschließlich der Darstellung demonstrativer Ohnmacht
2. Machtstrukturen und -prozesse
Institutionelle Genese („Machtnahme“, Machtstabilisierung und die verschiedenen Phasen der institutionellen Verdichtung und Festschreibung von Machtprozessen), Formen des Machtverlustes oder der Auflösung einer Machtkonstellation
Die prinzipielle Relationalität von Macht, „Machtbalancen“
Gesamt-„Dispositive“ der Macht, strukturelle Gewalt, Normalisierungsstrategien
Machtkonflikte und -kämpfe
3. Machtmodalitäten
Visibilisierung und Inivisibilisierung von
Materielle Verfügungs- und Verteilungsmacht (Ressourcen) bezogen auf Menschen, Sachen, Räume (Territorialmacht ) etc.
Kontrollmacht (Sozialdisziplinierung)
Organisationsmacht (bes. auch als rechtliche Regulierung), Delegation, Partizipation
Deutungs- und Diskursmacht (z.B. über Situationen und Personen); besonders Eigengeschichten (einschließlich der Verfügung über ‚ausgeschiedene’ Alternativen; Geschichtsphilosophie, Geschichtspolitik)
Symbolisierungsmacht, Rituale (Wissenshierarchisierungen), z.B. Kanonbildung und Geltungsfestlegungen (Dogma vs. Häresie); Verfügung über die Zeit (Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsmacht)
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Gegenmacht (z.B. Verhinderungs- und Veto-Macht), institutionell reguliert als Opposition oder polarisiert bis hin zur vernichtenden Feindsetzung; Machtkritik; Revolte und Gegengewalt; Kreislauf der Eliten; Entlastung von Machtdruck, Kompensationsleistungen, Ventil-Formen
4. Machttransfer und -resultate
Subjekterzeugung: „Biographiegeneratoren“, Körper-Disziplinierung, Habitus, Selbstabgrenzungsmacht, Rollenmacht
Trägergruppen: (Privilegierung, Ausschließung), z.B. Spezialisten der Machtausübung
MACHT UND RECHT IM 14. JAHRHUNDERT. Der Entwurf eines deutschen Staatsrechts: Lupold von Bebenburg († 1363) JÜRGEN MIETHKE Häufig kann man in historischen Abhandlungen das Argument lesen, eine bestimmte Entscheidung der Vergangenheit sei eine „Machtfrage“ gewesen oder aufgrund von „machtpolitischen“ Erwägungen gefallen. Das wird dann oft als eine für sich alleine schon hinreichende Erklärung der Motive verstanden. Die Dresdener Tagung, die sich den „Dimensionen institutioneller Macht“ widmet, verschließt sich von vorneherein solch simpler Machtauffassung, wenn sie differenziert. Sie fragt nach in Institutionen geronnener Macht, nach „Macht und Tradition“, nach „Macht der Standardisierung“ und „Deutungsmacht“ (und damit auch nach der Macht des Wortes und des Gedankens). Heute Abend soll jedoch von all dem nicht unmittelbar die Rede sein.1 Ich will über Macht in der politiktheoretischen Diskussion des späteren Mittelalters sprechen, über Macht in Konfrontation zum Recht. Dabei will ich hier nicht eine volle Geschichte des mittelalterlichen Machtbegriffs vortragen. Das würde uns zahlreiche Volten und Kehren zumuten. Es wäre auch in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu bewältigen. Ich möchte vielmehr den Umgang mittelalterlicher Intellektueller mit der Legitimation von Machtübung exemplarisch näher beleuchten. Das tue ich auch in der Absicht, uns die Schwierigkeiten des Mittelalters mit der Macht ins Gedächtnis zu rufen und zugleich damit das mittelalterliche Erbe ins Bewußtsein zu rufen. Henry de Bracton, Richter an einem königlichen Gericht im England des 13. Jahrhunderts und ein Zeitgenosse des Thomas von Aquin, von dem er wohl freilich ebensowenig etwas wußte wie dieser von ihm, hat einen großen Traktat „De legibus et consuetudinibus Anglie“ [„Über die Rechtsverhältnisse in England“] verfaßt. In klassischer Klarheit hat er darin Umfang und Grenzen königlicher Hoheitsgewalt bestimmt: 1
Eine erste Fassung dieser Überlegungen habe ich am 5. Juli 2004 bei der akademischen Feier des 60. Geburtstags von Helmut G. Walther in Jena vorgetragen. Das Ms. Wurde im März 2007 abgeschlossen und jetzt nur geringfügig ergänzt. An dem Text des Vortrags, wie ich ihn am 10. März 2005 in Dresden gehalten habe, habe ich nur wenige Präzisierungen vorgenommen und die nötigsten Nachweise beigefügt. In Text und Belegen überschneidet sich mein Beitrag hier teilweise mit meinem Nachwort zur Editio minor von Lupold von Bebenburg: De iuribus regni et imperii/Über die Rechte von Kaiser und Reich, (lateinisch-deutsch), ed. J. MIETHKE, übersetzt. von A. SAUTER (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens 14), München 2005, S. 280-328. Vgl. auch Text und Einleitungen in der Editio maior in: Politische Schriften des Lupold von Bebenburg (De iuribus regni et imperii, Libellus de zelo veterum principum Germanorum, Ritmaticum), ed. J. MIETHKE / C. FLÜELER (Monumenta Germaniae Historica, Staatsschriften des späteren Mittelalters 4), Hannover 2004.
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Dazu wird ein König erhoben und gewählt, daß er allen Gerechtigkeit erzeige, ja daß in ihm Gott selbst zu Gericht sitzt und durch ihn seine Urteile fällt. Er muß gerecht richten, [die Gerechtigkeit] aufrecht erhalten und schützen. Wäre nämlich niemand vorhanden, der Gerechtigkeit übt, dann könnte der Friede leicht vertilgt werden. Auch wäre es sinnlos, Gesetze zu geben und Gerechtigkeit zu üben, wenn es niemand gibt, der die Gesetze schützt. Weil der König als Gottes Stellvertreter auf Erden wirkt, muß er Recht von Unrecht unterscheiden, das Angemessene und Gerechte vom Unangemessenen und Ungerechten, damit alle seine Untertanen in Ehren leben können, keiner den anderen verletzt und jedem das Seine in rechter Zuteilung zuerkannt wird. […] Weil der König Gottes Diener und Stellvertreter ist, vermag er auf Erden nur das, was er von Rechts wegen kann. […]. Daher gilt: Nicht was vorschnell aus königlicher Willkür verfügt wird, sondern , was mit dem Rat der Magnaten nach zuvor gegebener Einwilligung des Königs und nach reiflicher Erwägung und Verhandlung in richtiger Weise festgelegt wird, . Seine Kompetenz ist also eine Amtsgewalt des Rechts und nicht des Unrechts […].2
Mit diesem Zitat, das sich noch um einige Sätze fortsetzen ließe, bindet Bracton den König deutlich in seiner Entscheidungsgewalt und Gesetzgebungskompetenz an das Recht und läßt dessen gesamte eigentliche Regierungstätigkeit rechtlich gebunden erscheinen.3 2
3
Henry de Bracton, De legibus et consuetudinibus Angliae, ed. G. WOODBINE / S. E. THORNE, 4 Bde., Cambridge, Mass. 1967-1977, die wichtigen Einleitungen von THORNE (der freilich nach meiner Ansicht zu Unrecht von zahlreichen Interpolationen und umfangreicher Fremdredaktionsarbeit ausgeht) finden sich in Bd. 1 (1967), S. vii-xlviii und Bd. 3 (1977), S. xiii-liii. Hier beziehe ich mich auf den Text in: ebd., Bd. 2 (1968), S. 305 (fol. 107): Ad hoc autem creatus est rex et electus, ut iustitiam faciat universis, et ut in eo dominus sedeat, et per ipsum sua iudicia discernat, et quod iuste iudicaverit sustineat et defendat, quia si non esset, qui iustitiam faceret, pax de facili posset exterminari, et supervacuum esset leges condere et iustitiam facere nisi esset qui leges tueretur. Separare autem debet rex cum sit dei vicarius in terra ius ab iniuria, aequum ab iniquo, ut omnes sibi subiecti honeste vivant et quod nullus alium laedat, et quod unicuique quod suum fuerit recta contributione reddatur. […] Nichil enim aliud potest rex in terris, cum sit dei minister et vicarius, nisi id solum, quod de iure potest, nec obstat, quod dicitur, 'quod principi placet, legis habet vigorem', quia sequitur in fine legis: 'cum lege regia quae de imperio eius lata est ', id est: non quidquid de voluntate regis temere praesumptum est, sed quod magnatum suorum consilio, rege auctoritatem praestante et habita super hoc deliberatione et tractatu, recte fuerit definitum. Potestas itaque sua iuris est et non iniuriae […]. (die Ergänzung in spitzen Klammern habe ich nach dem von Bracton offenbar aus dem Gedächtnis zitierten Wortlaut der Lex regia [Inst. 1,2,6 bzw. Dig. 1,4,6] vorgenommen, da mir das für ein korrektes Verständnis des Gedankengangs unentbehrlich scheint). Zur vieldiskutierten Auffassung Bractons über das königliche Amt bes. F. SCHULZ, Bracton on Kingship, in: The English Historical Review 60 (1945) S. 136-176, abgedruckt in: L’Europa e il diritto romano. Studi in memoria di Paolo Koschaker, Bd. 1, Mailand 1954, S. 21-70 (dessen Annahme von häufigen Interpolationen ich freilich nicht folge); E. H. KANTOROWICZ, The King’s Two Bodies, Princeton 1957, S. 143-192 (dt. Übersetzung: Die zwei Körper des Königs, München 1990, S. 159-204); W. FESEFELDT, Englische Staatstheorien des 13. Jahrhunderts, Henry de Bracton und sein Werk, Göttingen 1962; B. TIERNEY, Bracton on Government, in: Speculum 38 (1963), S. 295-317; E. LEWIS, „King above law“? Quod principi placuit in Bracton, in: Speculum 31 (1964), S. 240-269; G. POST, Bracton on kingship, in: Tulane Law Review 42 (1968), S. 519-554; P. CLASSEN, Studium und Gesellschaft im Mittelalter, hg. von J. FRIED (Monumenta Germaniae
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Ausgehend von dieser Konfrontation von Macht und Recht will ich versuchen, das Verhältnis beider in der spätmittelalterlichen politischen Theorie zu beleuchten. Dabei gehe ich so vor, daß ich zuerst kurz das Widerstandsrecht gegen unrechte Machtausübung am Extremfall des Tyrannenmords behandle, dann die Legitimation gerechter Machtübung bespreche, und schließlich (in dem seinem Umfang nach größten Teil meines Berichts) am Beispiel eines konkreten Entwurfs des 14. Jahrhunderts skizziere, wie das Nachdenken über die Legitimierung politischer Macht schließlich den Papst aus der Verfassungsordnung des Römischen Reiches ausgeschlossen hat. Die Theorie des Lupold von Bebenburg hat das erreicht, indem sie den Universalismus der frühmittelalterlichen Kaiserauffassung entschieden verließ. Vielmehr verweist sie bereits deutlich auf die Zukunft, nämlich in die moderne Welt juristischen Staatsdenkens. Wir werden also verfolgen, wie im 14. Jahrhundert aus dem Streit um die Legitimierung von Macht erste Ansätze einer modernen Staatstheorie und einer Legitimierung von Macht durch Verfahren entwickelt wurden, und das auf kanonistischer Grundlage.
Historica, Schriften 29), Stuttgart 1983, S. 223-227; M. BLECKER, The king’s partners in Bracton, in: Studi Senesi 96 (1984), S. 66-118; C. J. NEDERMAN, Bracton on kingship revisited, in: History of Political Thought 5 (1984), S. 61-77, jetzt in: DERS., Medieval Aristotelianism and its Limits. Classical Traditions in Moral and Political Philosophy, 12th-15th Centuries (Variorum Collected Studies Series 565), Aldershot 1997, nr. XII. J. MIETHKE, Mittelalterliche Politiktheorie. Vier Entwürfe des Hoch- und Spätmittelalters (Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie, 35), Baden-Baden 2007, bes. S. 25-32. J. L. BARTON, The Mystery of Bracton, in: The Journal of Legal History 14 (1993), Special Issue, S. 1-143, hat die Wahrscheinlichkeit eines einzigen Autors (nämlich des Henry de Bracton) für den Traktat stark befestigt. Allgemein zur Bedeutung des Jus commune und zur irreführenden Vorstellung des für die Praxis angeblich so unwichtigen „Gelehrten Rechts“ (das auch bei jeder Bracton-Interpretation Beachtung verdient) K. PENNINGTON, „Learned Law“, „droit savant“, „Gelehrtes Recht“: The Tyranny of a Concept, in: Syracuse Journal of International Law and Commerce 20 (1994), 205215.
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1. Tyrannenmord Spätmittelalterliche politische Theorie ist heute nur schwer zu greifen.4 Sie hatte keine eigene wissenschaftliche Disziplin im Rücken. Darum kann sie auch nicht aus Textbüchern und Unterrichtsschriften der scholastischen Universitäten bequem zusammengefaßt werden. Das theoretische Nachdenken über die zeitgenössische Politik mußte damals aktuelle Streitfragen aufgreifen, um sie auf der Basis einer fakultätsübergreifenden Wissenschaftserfahrung zu reflektieren. D.h., Politiktheorie wurde ausgebildet von den verschiedenen mittelalterlichen Wissenschaftsdisziplinen aus, von den philosophischen Traditionen der Artisten her ebenso wie von der Überlieferung der Rechtsvorstellungen in den Quellenschriften der Juristen aus bis zu Bibel, Kirchenvätern und Konzilsbeschlüssen der Theologen hin. Diese unterschiedlichen „Sprachen“ der „Leitwissenschaften“ prägten die Antworten vor, welche eine einzelne Theorie geben mochte. Antworten und Theorieangebote an die Zeitgenossen konnten also sehr verschieden formuliert werden je nachdem, ob ein Jurist oder ein Theologe das Wort ergriff. Alle Autoren freilich mußten versuchen auf teils unmittelbar gestellte und teils nur vermutete Fragen nach normativen Grundlagen im damaligen Zusammenleben der Menschen eine wahrheitsgemäße und vernünftige, methodisch verantwortbare Antwort zu geben. Im Idealfall sollte jede dieser Antworten den Ansprüchen der scholastischen Methode entsprechen, d.h., sie sollte mit der Tradition, den von der Scholastik so hoch geschätzten Autoritäten übereinstimmen, sowie zugleich auch der Wahrheit der Religion und den Erfordernissen vernünftiger Überlegung nicht widerstreiten.5 Mittelalterliche Politiktheorie hatte zentral immer wieder die Frage der Legitimität von realer persönlicher und institutioneller Macht zu klären. Legitime Gewalt
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In Handbüchern, die eine Übersicht über das Politische Denken im Ganzen geben wollen, wird das Mittelalter sehr häufig ausgelassen oder ganz knapp mit wenigen Beispielen behandelt. Zu Widerstand und Tyrannenmord vgl. etwa H. MANDT, Tyrannis, Despotie, in: O. BRUNNER / W. CONZE / R. KOSELLECK (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 651-706; J. MIETHKE, Der Tyrannenmord im späteren Mittelalter, Theorien über das Widerstandsrecht gegen ungerechte Herrschaft in der Scholastik, in: G. BEESTERMÖLLER / H.-G. JUSTENHOVEN (Hgg.), Friedensethik im Spätmittelalter. Theologie im Ringen um die gottgegebene Ordnung (Beiträge zur Friedensethik 30), Stuttgart 1999, S. 24-48 oder DERS., Widerstand, Widerstandsrecht, I: Alte Kirche und Mittelalter, in: G. MÜLLER u.a. (Hgg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 35, Berlin/New York 2003, S. 739-750; demnächst auch DERS., Gehorsam und Widerstand. Herrschaft und Freiheit in mittelalterlicher Politiktheorie, in: T. FRESE / A. HOFFMANN (Hgg.), Habitus – Norm und Transgression in Bild und Text. Festschrift für Lieselotte Gräfin Saurma, Heidelberg [im Druck, voraussichtlich 2010]. Dazu ausführlicher etwa J. MIETHKE, De potestate papae, Die päpstliche Amtskompetenz im Widerstreit der politischen Theorie von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham (Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe 16), Tübingen 2000, S. 1-24 [Davon durchgesehene und korrigierte Studienausgabe jetzt: Politiktheorie im Mittelalter. Von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham (UTB 3059), Tübingen 2008].
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nämlich und nur legitime Gewalt war, so meinten die verschiedensten Autoren, hinzunehmen und zu ertragen. Anordnungen des legitimen Machthabers waren zu befolgen. Das steht ja auch bereits im Brief des Apostels Paulus an die Römer (13,1-2): „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott. Wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott verordnet.“ Wo Luther Obrigkeit übersetzt, steht in der Vulgata potestas. Gemeinhin übersetzt man dieses Wort mit „Amtsgewalt“ oder genauer mit „Kompetenz“. Der Amtsgewalt der Obrigkeit und damit rechtmäßiger, rechter Gewalt war nach diesem Pauluswort Gehorsam zu leisten. Unrechter Gewalt gegenüber war jedoch vielfach Widerstand angesagt. Unrechte Gewalt wurde seit alters im Mittelalter mit dem aus dem griechischen überkommenen Begriff „Tyrannei“ oder „Tyrannis“ benannt. Gerechter Widerstand gegen Tyrannei und gegen Tyrannen war nicht nur erlaubt, sondern schien geboten. Widerstand mochte in einer Zeit schwacher staatlicher Strukturen bis zur Eliminierung des Tyrannen, bis zu seiner Tötung gehen. Ausdrücklich wird seit dem 12. Jahrhundert darüber nachgedacht. Johannes von Salisbury, der spätere Bischof von Chartres, erklärte (kurz vor 1160) emphatisch: „Ein Tyrann ist ein öffentlicher Feind.6 Es ist nicht allein statthaft, einen Tyrannen zu töten, vielmehr ist es angemessen und gerecht […].“7 Wenn mit solchen Sätzen auch die traditionell christli6
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Hostis publicus ist ein Begriff aus der Sphäre des Römischen Rechts, auch wenn der Begriff, soweit ich sehe, im Corpus Iuris Civilis selbst nicht auftaucht; vgl. jedoch nur etwa zu hostis Dig. 48,4,11 ([…] qui perduellionis reus est, hostili animo adversus rem publicam vel principem animatus) bzw. zu publicus die crimina publica: Inst. 4.18.1 (Publica autem dicta sunt, quod cuivis ex populo exsecutio eorum plerumque datur […]). Zur Entwicklung der mittelalterlichen Vorstellungen von crimen publicum seit dem 12. Jhd. vgl. etwa A. GOURON, L’apport des juristes français à l’essor du droit pénal savant, in: D. WILLOWEIT (Hg.), Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts. Bestandsaufnahme eines europäischen Forschungsproblems (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas, Symposien und Synthesen 1), Köln/Weimar/Wien 1999, S. 337-364 (bes. S. 345ff.). Johannes von Salisbury, Policraticus III.15, ed. K. S. B. KEATS ROHAN (Corpus Christianorum, Continuatio mediaevalis 118), Turnhout 1993, S. 229f.: […] tirannus publicus hostis est. […] Porro tirannum occidere non modo licitum est, sed aequum et iustum. […] In eum ergo merito armantur iura qui leges exarmat, et publica potestas saevit in eum, qui evacuare nititur publicam manum. - Zur schillernden Bedeutung von publicus neuerlich zusammenfassend P. VON MOOS, „Öffentlich“ und „privat“ im Mittelalter. Zu einem Problem der historischen Begriffsbildung (Schriften der Philosophischhistorischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 33), Heidelberg 2004; historisch zum Begriff Alfred HAVERKAMP, „...an die große Glocke hängen“. Über Öffentlichkeit im Mittelalter, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs, München 1996, S. 71-112, bes. S. 82-89; zur juristischen Diskussion vgl. knapp auch D. WILLOWEIT, Zum Begriff des Öffentlichen im späten Mittelalter. Ein erweiterter Diskussionsbericht, in: H. SCHLOSSER / D. WILLOWEIT (Hgg.), Neue Wege strafrechtsgeschichtlicher Forschung (Konflikt, Verbrechen, Strafe und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas, Symposien und Synthesen 2), Köln/Weimar/Wien 1999, S. 336-340. Zuletzt in 3 (!) Sammelbände eingehende Beiträge in: G. DILCHER / D. QUAGLIONI (Hgg.), I: Die Anfänge des Öffentlichen Rechts: Gesetzgebung im Zeitalter Friedrich Barbarossas und das Gelehrte Recht zwischen Mittelalter und Moderne [im Druck] (Fondazione Bruno Kessler, Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento, Contributi 19,21, u.a.), Bologna-Berlin 2007 u. 2008 (bzw. voraussichtlich 2010).
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che Demutsgebärde einer duldenden Hinnahme des Unrechts explizit aufgegeben war, so erscheint Tyrannenmord doch nirgends, auch bei Johannes nicht, als leichthin erlaubt. Auch Johannes wollte dabei wichtige und schwierig zu erfüllende Vorbedingungen sichergestellt wissen: Wie die Geschichte lehrt, darf niemand den Tod dessen anstreben, dem er durch das Band eines Treueides oder eines anderen Eides verpflichtet ist […]. Nicht für Gift ist durch irgendein Recht die Erlaubnis gegeben. […] Nicht daß ich etwa glaubte, man dürfe einen Tyrannen nicht beseitigen, jedoch, so meine ich, sollte das ohne Einbuße an eidlicher Bindung und Ehrbarkeit geschehen [sed sine religionis honestatisque dispendio].8
Muß ich unterstreichen, daß in einer Zeit, da staatliche Herrschaftsverhältnisse überwiegend in Form feudaler Eidesbindungen abgesichert wurden, bereits die erste der hier genannten Bedingungen eine erhebliche Einschränkung bedeutete? Die zweite Warnung, die vor heimlichem – im Mittelalter nur schwer nachweisbarem - Giftmord,9 blieb freilich eine eher moralische Bremse. Die dritte Bedingung, die der „Ehrbarkeit“, wiederholt nur, daß bei jeder Überlegung die sittliche Selbstprüfung der politisch Handelnden die verläßlichste Zügelung des politischen Wohlverhaltens blieb, wie das gegenüber dem Herrscher ja auch die Fürstenspiegel voraussetzen. Ein Jahrhundert später wird Thomas von Aquin ebenfalls die Beseitigung eines Tyrannen prinzipiell rechtfertigen, aber ebenso nachdrücklich wird er zur Vorsicht raten. Die „Summa theologiae“ erklärt (um 1271/1272) unter Gebrauch nunmehr deutlich aristotelischer Begrifflichkeit: „Tyrannische Herrschaft ist nicht gerecht, ist sie doch nicht auf das Gemeinwohl gerichtet, sondern auf das private Wohl des Regenten […]. Daher hat der Umsturz solcher Herrschaft nicht den Charakter eines Aufruhrs, es sei denn, die Herrschaft des Tyrannen würde ohne alle Ordnung derart umgestürzt, daß der Menge der Untertanen aus diesem Umsturz größerer Schaden entsteht als aus der Herrschaft des Tyrannen. Der Tyrann selber ist es ja vielmehr, der aufrührerisch handelt […].“10
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Johannes von Salisbury, Policraticus VIII.20, ed. C. C. I. WEBB, London 1909 (Reprint Frankfurt a.M. 1965), Bd. 2, S. 377f.: Hoc tamen cavent historiae, ne quis illius mollatur interitum, cui fidei aut sacramenti religione tenetur astrictus. […] Sed nec veneni […] ullo umquam iure indultam lego licentiam. Non quod tirannos de medio tollendos esse non credam, sed sine religionis honestatisque dispendio. Zur späteren Praxis politischen Giftmords zuletzt M. KINTZINGER, Maleficium et veneficium. Gewalt und Gefahr für den Fürsten im französischen Spätmittelalter, in: M. KINTZINGER / J. ROGGE (Hgg.), Königliche Gewalt – Gewalt gegen Könige. Macht und Mord im spätmittelalterlichen Europa (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 33), Berlin 2004, S. 71-99, bes. S. 79ff. Thomas von Aquin, Summa Theologiae 2-II, q. 42, a. 2, ad 3 (ed. R. BUSA, in: Tomas de Aquino, Opera omnia ut sunt in indice Thomistico, Stuttgart/Bad Cannstatt 1980, Bd. 2, S. 581b): dicendum quod regimen tyrannicum non est iustum, quia non ordinatur ad bonum commune, sed ad bonum privatum regentis […]. et ideo perturbatio huius regiminis non habet rationem seditionis, nisi forte quando sic inordinate perturbatur tyranni regimen, quod multitudo subiecta maius detrimentum patitur ex perturbatione consequenti quam ex
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In seinem Fragment gebliebenen Traktat „De regno ad regem Cypri“ (1271/1273), wohl seiner letzten Äußerung zu unserer Frage, hat Thomas kurz vor seinem Tode noch stärkere Einschränkungen gemacht. Über die Erwägung hinaus, ob nicht der Umsturz mehr Unheil anrichte als die Tyrannei, gibt er nun zu bedenken, daß es besser sei, „eine milde Tyrannei lieber für eine Zeitlang zu ertragen, als durch den Widerstand gegen den Tyrannen sich in viele Gefahren zu verwickeln, die schwerer wiegen als die Tyrannis selbst“.11 Damit setzt Thomas offensichtlich eine gleitende Skala von Schlechtigkeit voraus, eine Skala von unterschiedlicher Erträglichkeit tyrannischer Bedrückung. Er differenziert damit die bisher vorwiegend binäre Alternative, die ausschließlich entweder Tyrannei oder rechtmäßige Herrschaft kannte, verbunden mit den jeweiligen Konsequenzen Widerstand oder Gehorsam. Thomas differenziert noch weiter, wenn er auch eine weitere begriffliche Distinktion anbringt, die seither in der politischen Theorie geläufig blieb. Bereits um 1255 hat er darauf hingewiesen, daß es zwei verschiedene Formen tyrannischer Herrschaft gibt: Neben dem Tyrannen quantum ad modum adquirendi praelationem, welcher als Usurpator unberechtigt die Herrschaft ergriffen hat, gibt es auch Herrscher, die sich erst quantum ad usum praelationis als Tyrannen entpuppen, Regierende, die, obwohl sie legitim an die Macht gekommen waren, diese ihre Macht in tyrannischer Willkür mißbrauchen.12 Gleichwohl weiß auch Thomas bei aller Differenzierung, die er anzubringen bereit ist, daß „Exzesse“ tyrannischer Gewalt für die dieser Gewalt Unterworfenen „unerträglich“ werden können. Auch in solchem Falle freilich spricht er sich eher für christliche Demut als für gewaltsamen Widerstand aus, untersagt Widerstand nicht, rät jedoch dringend ab von vorschnellem Handeln. Ausdrücklich verweist er auf I. Petrus 2[,13-18], wo es heißt (ich zitiere wiederum nach einer Fassung der Lutherübersetzung): Seid untertan aller menschlichen Ordnung um des Herrn willen, es sei dem Könige als dem Obersten oder den Statthaltern, als die von ihm gesandt sind zur Strafe für die Übeltäter und zu Lobe den Rechtschaffenen. […] Tut Ehre jederman, habt die Brüder lieb, fürchtet Gott, ehret den König. Ihr Knechte seid untertan mit aller Furcht den Herren, nicht allein den gütigen und gelinden, sondern auch den wunderlichen [die Vulgata benutzt hier das griechische Fremdwort dyscolis = übelgelaunt!]. Denn das ist Gnade, wenn jemand um des Gewissens willen das Übel erträgt und leidet das Unrecht.
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tyranni regimine. magis autem tyrannus seditiosus est qui in populo sibi subiecto discordias et seditiones nutrit, ut tutius dominari possit […]. Thomas von Aquin, De regno ad regem Cypri, I.6 (ed. H. F. DONDAINE, in der Editio Leonina, Bd. 42, Rom 1979, S. 455a, Zl. 23-26): […] utilius est remissam tyrannidem tolerare ad tempus quam contra tyrannum agendo multis implicari periculis que sunt graviora ipsa tyrannide. Vgl. Thomas von Aquin, II Sent. d. 44 q. 2 art. 2 (ed. BUSA [wie Anm. 10], Bd. 1, S. 256b).
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Thomas begründet ausführlich, daß man mit größter Umsicht vorgehen müsse, selbst wenn es darum gehe, im Tyrannen einen hostis populi zu beseitigen. Schon gar nicht dürfe jeder Privatmann „in eigenmächtiger Anmaßung“ [privata presumptione] einen Tyrannenmord begehen. Ausschließlich publica auctoritate dürfe das geschehen. Schließlich aber, so meint der Theologe, wenn menschliche Hilfe gegen einen Tyrannen nicht zu erhalten sei, so bleibe das Gebet zu Gott für den Frommen die letzte Zuflucht. Gott könne und werde seinem Volk zu Hilfe kommen: Thomas schließt mit dem prophetischen Bußruf: „Die Schuld muß abgetan sein, damit die Plage der Tyrannei aufhört!“,13 er zieht also christliche Buße in Demut einem gewaltsamen Aufstand und Widerstand deutlich vor. Wir brauchen hier die Geschichte der Argumentationen zum Tyrannenmord nicht weiter zu verfolgen: Während des gesamten Mittelalters hat politische Theorie in der Tyrannis weiterhin eine ernste Gefahr politischer Organisation gesehen. Erst danach, erst in der frühen Neuzeit verblaßte der Tyrannenbegriff zu einer nurmehr rhetorisch-appellativen und polemischen Metapher. Damit aber blieb für Theologen, Philosophen und Juristen des Spätmittelalters stets die Überlegung dringlich, ob ein Tyrann notfalls mit Gewalt zu beseitigen sei. In aller Regel freilich heißt das nicht, daß der Tyrannenmord als ein unproblematisch aufgerufenes Patentrezept hätte gelten können. So sehr ungerechte Herrschaft auch verabscheut wurde und so streng man auch am Widerstandsrecht gegen ungerechte Herrschaft festhielt, so gewiß wollte man nicht leichtfertig jedermann den Weg eines politischen Meuchelmordes öffnen. Alle Autoren blieben sich darin einig, daß Tyrannei verwerflich sei, daß Tyrannen beseitigt zu werden verdienten. Vor allem blieb man sich einig darin, daß Herrschaft prinzipiell ausschließlich als gerechte - d.h. gemäß dem Recht, als rechtmäßige Herrschaft – auszuüben sei. Was aber gerechte Herrschaft sei, wie rechte Herrschaft legitimiert werden könne, darüber gab es sehr unterschiedliche Ansichten.
2. Herrschaftslegitimierung Die Frage nach der Legitimierung von Herrschaft war und blieb das traditionell wichtigste Problem politiktheoretischer Reflexion seit den Tagen des Frühmittelalters. Wir könnten uns das an den beherrschenden Themen des damaligen Diskurses verdeutlichen: Einmal war es die Frage nach der „besten“ Regierungsform, die in zahllosen Traktaten gestellt und meist zugunsten der Monarchie beantwortet wurde. Sodann galt auch die gesamte ständeethische Bemühung der Fürstenspie-
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Thomas von Aquin, De regno I.6 (S. 456b Zl. 166f., ed. DONDAINE [wie Anm. 11]): Tollenda est igitur culpa ut cesset tyrannorum plaga.
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gelliteratur nicht zuletzt der Legitimation von Herrschaft, ging es doch immer auch darum, die Herrscher und ihren Hof zu sittlicher Anstrengung anzuregen, um so Herrschaft zu rechtfertigen. Schließlich hatte bereits Augustin gelehrt, daß Herrschaft von Gott erlaubt worden sei, um menschliche Sünde einzudämmen.14 Das gab später Anlaß zu legitimatorischen Überlegungen, erlaubte es freilich auch, Herrschaft an diesem ihrem eigentlichen Zweck funktional zu messen. Ich halte von all dem hier nur so viel fest, daß die Frage nach einer befriedigenden Begründung und Legitimation politischer Organisation sich als Erkennungszeichen mittelalterlicher politiktheoretischer Äußerungen verstehen läßt, als eine Kontrollfrage, die es erlaubt, Politiktheorie von rein pädagogischen oder allgemein ethischen Absichten etwa in der Fürstenerziehung zu unterscheiden. Daß mittelalterliche Institutionen wie Kirche und Papsttum sich in dieses Problem verwickelt fanden, ist nur allzu verständlich. In der spätmittelalterlichen Endphase des langen Ringens zwischen Papsttum und Kaisertum sahen sich die Päpste ihrerseits seit dem 12. Jahrhundert mehr und mehr dazu gedrängt, ihren innerkirchlichen Erfolg bei der Durchsetzung ihrer zentralen Stellung in der Amtskirche, wie er im sogenannten Investiturstreit im 11. Jahrhundert gesichert worden war, nun auch als oberste Leitungskompetenz in der gesamten Christenheit zu realisieren.15 Was das im einzelnen heißen mochte, war weiterhin heftig umstritten. Insgesamt aber blieb noch das gesamte 13. Jahrhundert – von Innozenz III. bis Bonifaz VIII. – von unermüdlichen Bemühungen darum ausgefüllt, für den Papst die Position des „Höchsten Hierarchen“ (des summus hierarcha) in Kirche und Welt allgemein durchzusetzen.16 Das mußte Folgen für die geistliche Legitimierung weltlicher Herrschaft und Macht haben. Die Antworten zu dieser Frage waren zwar erkennbar breit gestreut, doch bei aller Differenzierung im einzelnen blieb Legitimierung durch das Recht eine Schranke, die ausnahmslos alle Entwürfe der Theoretiker dem Vollzug von Herrschaft setzten. Ich habe bereits den emphatischen Text des Henry de Bracton zitiert. Gerade weil der König Gottes Stellvertreter auf Erden ist, muß er sich an das Recht binden. Für Bracton bedeutet das konkret: Bindung an das Recht des Landes, an das Recht Englands, an eben jene leges et consuetudines Anglie, die er in seinem umfänglichen Traktat aufzeichnet. Im etwas älteren Sachsenspiegel (von ca. 14
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Vgl. dazu im einzelnen W. STÜRNER, Peccatum und potestas. Der Sündenfall und die Entstehung der herrscherlichen Gewalt im mittelalterlichen Staatsdenken (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 119), Sigmaringen 1987; B. TÖPFER, Urzustand und Sündenfall in der mittelalterlichen Gesellschafts- und Staatstheorie (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 45), Stuttgart 1999. Dazu etwa O. HAGENEDER, Weltherrschaft im Mittelalter, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 92 (1985), S. 257-278, jetzt in italienischer Übersetzung in: DERS., Il sole e la luna. Papato, impero e reegni nella teoria e nella prassi dei secoli XII e XIII, hg. von M. P. ALBERZONI (Cultura e storia 20), Mailand 2000, S. 11-31. Dazu etwa J. MIETHKE, Kirchenstrukur und Staatstheorien im Zeitalter der Scholastik, in: B. SCHNEIDMÜLLER / S. WEINFURTER (Hgg.), Ordnungskonfigurationen im hohen Mittelalter (Vorträge und Forschungen 64), Ostfildern 2005, S. 127-151.
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1225) kann man im Prolog durchaus ähnliche Gedanken finden. Solche Auffassung ist keineswegs auf das 13. Jahrhundert beschränkt. Erst der Rechtsrahmen legitimiert Machtausübung. Recht ist Voraussetzung, nicht Gegenstand oder Objekt herrscherlichen Handelns. Beständig erscheint das, was wir heute „Regierung“ nennen, in den Texten geradezu terminologisch fixiert als iurisdictio, als Rechtsprechung.17 Recht, das der Macht ihren Rahmen setzt, ist dabei nicht positivistisch gedacht, ist nicht vom Willen des Königs als eines Gesetzgebers abhängig, sondern ist auch dem Herrscher vorgegeben, liegt ihm wie seinen Untertanen voraus. Er hat es zu beachten, kann es nicht völlig frei gestalten, so sehr im Spätmittelalter auch Gesetzgebung zum genuinen Amt eines Herrschers gehörte.18 Strittig freilich war und blieb die Frage, wer diesen vorgegebenen Rahmen konkret im Einzelfall definieren könne, wer die Kompetenz zur Auslegung und Anwendung des Rechts auf die Akte herrscherlichen Handelns besaß. Im Konflikt zwischen imperium und sacerdotium, zwischen Kaiser und Papst, zwischen Papst und Königen Europas, stellte sich diese Frage zunehmend in einer spezifischen Zuspitzung. Stand nicht – um die Formulierungen der sogenannten Gelasianischen Formel19 aus der Spätantike zu verwenden – die geistliche Autorität neben, ja über der königlichen Amtsgewalt? Hatte die auctoritas sacrata pontificum die regalis potestas nicht anzuleiten, ja über sie zu richten, sie einzusetzen oder auch sogar aus ihrem Amt zu entfernen?20 Hatte die Verantwortung des obersten Priesters, des summus pontifex, nicht auch über das Seelenheil und die Rechtmäßigkeit des Machthabers zu urteilen? Weil der deutsche Herrscher Heinrich IV. „sich in unerhörtem Hochmut gegen die Kirche erhoben hat“, widersagt Papst Gregor VII. ihm alle Machtausübung, „denn es ist angemessen, daß wer die Ehre der Kirche zu 17
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Vgl. vor allem P. COSTA , Iurisdictio. Semantica del potere politico nella pubblicistica medievale, 1100-1433 (Università di Firenze, Pubblicazioni della Facoltà di Giurisprudenza 1), Mailand 1969 [Ristampa – mit Einleitungen von O. CAPITANI / B. CLAVERO (Per la storia del pensiero giuridico moderno 62), Mailand 2002]. S. GAGNER, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung (Acta Universitatis Upsaliensis, Studia Iuridica Upsaliensia 1), Stockholm/Uppsala/Göteborg 1960; M. GRIGNASCHI, Quelques remarques sur la conception du pouvoir législatif dans la scolastique, in: Revue Belge de philologie et d’histoire 61 (1983), S. 783-801; A. GOURON / A. RIGAUDIERE (Hgg.), Renaissance du pouvoir législatif et genèse de l’État (Publications de la Société d’histoire du droit et des institutions des anciens pays de droit écrit 3), Montpellier 1988; vgl. auch G. GIORDANENGO, Le pouvoir législatif du roi de France (XIe-XIIIe siècles). Travaux récents et hypothèses de recherches, in: Bibliothèque de l’École des Chartes 147 (1988), S. 283-310. Enchiridion symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, ed. H. DENZINGER, funditus retractavit Adolfus Schönmetzer, S.J., Editio XXXIIa, Barcelona/Freiburg i.B. 1963, Nr. 347 [in der neuesten (37.) Ausgabe, überarbeitet von P. HÜNERMANN, Freiburg i.B. 1991, wurde die Numerierung beibehalten]. Vgl. besonders Hugo von Sankt Viktor, De sacramentis 2.2.4, ed. R. BERNDT, SJ (Corpus Victorinum, Textus historici 1), Münster i.W. 2008, 339: quantum autem uita spiritalis dignior est quam terrena et spiritus quam corpus. tantum spiritualis potestas terrenam siue secularem potestatem honore ac dignitate precedit. Nam spiritalis potestas terrenam potestatem et instituere habet ut sit. et iudicare habet si bona non fuerit. Ipsa uero a deo primum instituta est et dum deuiat a solo deo iudicari potest sicut scriptum est…
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mindern trachtet, auch seine eigene Ehre verliere“.21 Anderthalb Jahre zuvor (10. Sept. 1074) hatte derselbe Papst Gregor VII. den Bischöfen Frankreichs aufgetragen (und ich zitiere hier zuerst die Formulierungen der Zusammenfassung durch Erich CASPAR) „[…] dem König […] Vorstellungen wegen der zerrütteten und friedlosen Zustände des Landes zu machen und gegebenenfalls das Interdikt über ganz Frankreich zu verhängen“, weil, wie es in Gregors Brief wörtlich heißt, „das regnum Francie, das einst so berühmt und mächtig war, von seinem glorreichen Zustand abgewichen ist: […] heute scheint der Gipfel seiner Ehre und sein gesamtes Ansehen zusammengebrochen. Die Gesetze werden mißachtet, die Gerechtigkeit wird mit Füßen getreten; alles was häßlich, grausam, erbärmlich und unerträglich ist, wird dort begangen, ja ist allmählich, da es unbestraft blieb, schon zur Gewohnheit geworden und gilt mit solcherart gewonnener Erlaubnis bereits als Recht.“22Der Papst als kirchlicher Richter richtet hier über die angemessenen Maßstäbe der Gerechtigkeit und Ehrbarkeit, und damit über eine gelungene oder mißlungene Legitimation königlicher Herrschaft insgesamt. Eine Exkommunikation hatte daher nach Gregors Überzeugung delegitimatorische Folgen. Sie bedeutete letztlich eine Absetzung des Herrschers von seinem Amt, wenngleich erst Papst Innozenz IV. die direkte Absetzung eines Kaisers mehr als anderthalb Jahrhunderte später (1245 in Lyon) endgültig wagte. Das „Recht der Fürstenabsetzung durch den Papst“23 ist nur verständlich, wenn wir es aus dem grundsätzlichen Verhältnis von Recht und Macht begreifen. Päpste und Kurie, Theologen und Juristen an den europäischen Universitäten, politische Streitschriften und Traktate haben an einer Weiterentwicklung dieses Gedankens Schritt für Schritt gearbeitet, bis im Pontifikat Papst Bonifaz’ VIII. sich aus diesen Ansätzen ein Weltanspruch,24 man kann auch sagen ein Weltherrschaftsanspruch des Papstes formulieren ließ, wie er im berühmt-berüchtigten letzten Satz der Bulle „Unam sanctam“ in unüberbietbarer Schärfe ausgedrückt ist: 21
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Reg. III.6* bzw. III.10a (Febr. 1076), ed. E. CASPAR, Das Register Gregors VII., Bd. 1 (Monumenta Germaniae Historica, Epp. sel. 2.1), Berlin 1920, S. 252-254 (253) bzw. S. 270f. (270): per tuam potestatem et auctoritatwem Heinrico regi […], qui contra tuam ecclesiam inaudita superbia insurrexit totius regni Teutonicorum et Italie gubernacula contradico […]. Dignum est enim, ut, qui studet honorem ecclesie tue imminuere, ipse honorem amittat, quem videtur habere. Reg. II.5, ed. E. CASPAR, Bd. 1, Berlin 1920, S. 130: Longa iam temporum curricula transacta sunt, ex quo regnum Francie olim famosum ac potentissimum a statu glorie sue cepit inflecti et succrescentibus malis moribus plerisque virtutum insignibus denudari. Verum his temporibus et culmen honoris et tota facies decoris eius collapsa videtur, cum neglectis legibus omnique conculcata iustitia, quicquid foedum crudele miserandum intollerandumque est ibi et impune agitur et adepta licentia iam in consuetudine habetur. O. HAGENEDER, Das päpstliche Recht der Fürstenabsetzung. Seine kanonistische Grundlegung (1150-1250), in: Archivum historiae pontificiae 1 (1963), S. 53-95, in italienischer Übersetzung jetzt in: DERS., Il sole e la luna (wie Anm. 15), S. 165-210 [mit weiteren Literaturhinweisen S. 211]. Eine Skizze dazu versucht J. MIETHKE, Der Weltanspruch des Papstes im späteren Mittelalter. Die politische Theorie der Traktate „De potestate papae“, in: I. FETSCHER / H. MÜNKLER (Hgg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 2: Mittelalter, München 1993, S. 351-445.
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„Wir erklären, sagen, definieren ferner, daß es für jedes menschliche Geschöpf schlechterdings heilsnotwendig ist, dem Papste untertan zu sein.“25
3. Die kanonistische Approbationstheorie der deutschen Königswahl Der dritte Teil meines Vortrags gilt einer Diskussion des 14. Jahrhunderts, die sich an dieser Frage päpstlicher Machtlegitimation entzündet und sich damit an kirchlichen Herrschaftsanspruch in sehr spezifischer Weise kritisch anschließt. Papst und Kaiser26 standen bekanntlich fast das gesamte Mittelalter hindurch in einem höchst spannungsreichen Verhältnis. Wir nähern uns ihrem Streit heute nicht mehr aus der engen nationalstaatlichen Perspektive, wie sie für einen Wilhelm von GIESEBRECHT27 im 19. oder noch für Johannes HALLER im 20. Jahrhundert28 selbstverständlich war. Auch die übersteigerten romantisch-apokalyptischen Farben des spätbürgerlichen Georgekreises, die in dem Friedrich-Buch von Ernst KANTOROWICZ verwendet werden, wirken auf heutige Leser eher fremdartig, ja abschreckend.29 Wir versuchen in erheblich größerer Gelassenheit den Streit zwischen Papst und Kaiser als Teil eines übergreifenden Prozesses der Rationalisierung und Verstaatlichung politischer Herrschaftssysteme in Europa zu begreifen und sehen in ihm eine Verrechtlichung zwischenstaatlicher und innerstaatlicher Verhältnisse am Werk. Wir versuchen also, diesen Kampf als ein Teilproblem jener Entwicklungen zu verstehen, die zur Ausbildung der westeuropäischen „national25 26
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Enchiridion (wie Anm. 19), Nr. 875: Porro subesse Romano pontifici omni humanae creaturae declaramus, dicimus, diffinimus omnino esse de necessitate salutis. Eine knappe Übersicht (mit ausführlichem Quellenteil) in: J. MIETHKE / A. BÜHLER (Hgg.), Kaiser und Papst im Konflikt. Zum Verhältnis von Staat und Kirche im späten Mittelalter (Historisches Seminar 8), Düsseldorf 1988; vgl. auch die rein geistesgeschichtliche Darstellung: W. KÖLMEL, Regimen Christianum. Weg und Ergebnisse des Gewaltenverhältnisses und des Gewaltenverständnisses (8. bis 14. Jahrhundert), Berlin 1970. Die weitausholende Darstellung durch W. von GIESEBRECHT, Geschichte des Kaisertums, 6 Bde., Braunschweig [bzw. Leipzig] 1855-1895; letzte Ausgabe: Ungekürzte Neuausgabe sämtlicher 12 Bücher in vier Bänden unter Weglassung des Beiwerkes, neu bearbeitete Stammtafeln mit Registern, Neubearbeitung von A. HEINE, Essen o.J. J. HALLER, Das Papsttum. Idee und Wirklichkeit, 5 Bde., Stuttgart 1954 (Taschenbuchausgabe: rororo 221/222-229/230), Reinbek bei Hamburg 1965. Damit werden allzu leicht die unbestreitbaren Verdienste des Werks übersehen: E. H. KANTOROWICZ, Kaiser Friedrich der Zweite (11927) mit Ergänzungsband (11931), verschiedene Reprints, z.B. Düsseldorf & München 1963 oder Stuttgart 1971, etc.; zu KANTOROWICZ nenne ich aus der umfänglichen Literatur hier nur den Sammelband: R. L. BENSON / J. FRIED (Hgg.), Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung, Institute for Advanced Study, Princeton, und Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt, Stuttgart 1997, insbesondere hier (hyper-) kritisch O. G. OEXLE, German Malaise of Modernity: Ernst H. Kantorowicz and his „Kaiser Friedrich II.“, S. 33-56. Die Bedeutung des Buches erhellt allein daraus, daß seither alle anderen Darstellungen der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Stofforganisation und Rhythmik dem KANTOROWICZschen Entwurf sichtbar verpflichtet sind.
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staatlichen“ Königreiche geführt haben, wie sie in der frühen Neuzeit die Geschichte Europas bestimmten. Angesichts der Erfolge ihrer westeuropäischen Konkurrenten haben auch die deutschen Herrscher versucht, ihre Herrschaft in der Ländermasse Deutschland(Nord-)Italien-Burgund, die das mittelalterliche „Römische Reich“ bildeten,30 nach den damals modernen Kriterien zu reformieren und zu intensivieren. Das freilich hat nicht allein die Reibungsflächen des Herrschers mit Adel und Fürsten seiner Länder vergrößert, es mußte auch die Prälaten der Kirche in ernste Schwierigkeiten bringen, die sich dann auf der Suche nach Unterstützung an die römische Kurie wenden mochten. So konnte der Konflikt stetig neuen Zündstoff gewinnen und immer wieder neu entfacht auflodern. Das mittelalterliche Römische Reich hat im Spätmittelalter eine ganz eigene Verfassungsstruktur gewonnen, die sich von den Verfassungen der anderen europäischen Königreiche je länger, desto stärker unterschied, insbesondere hinsichtlich der Regelung der Herrschaftsnachfolge. Während in Frankreich und England, in Süditalien und auf der Iberischen Halbinsel, in Polen und Ungarn der Thron mehr und mehr und schließlich ausschließlich durch eine minuziös ausgebildete Erbsukzession zunehmend nach striktem Erstgeburtsrecht von Generation zu Generation überging, behielt in Deutschland die Fürstenwahl ihre entscheidende Bedeutung. Als dann die „Goldene Bulle“ Kaiser Karls IV. (von 1356) die Sukzession der Herrschaft im Reich abschließend regelte, sollte dieses „Reichsgrundgesetz“ bis zum Ende des Ancien Regime, bis 1806 in Kraft bleiben, 450 Jahre lang, eine eindrucksvolle Geltungsdauer eines Verfassungsgesetzes! Ein „Römischer König“, wie sich der deutsche Herrscher (seit dem 11. Jahrhundert) nannte, wurde von den Reichsfürsten gewählt,31 doch war er damit noch nicht automatisch Kaiser geworden.
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Vgl. z.B. E. E. STENGEL, Regnum und Imperium. Engeres und weiteres Staatsgebiet im alten Reich [11930], überarbeitet in: DERS., Abhandlungen und Untersuchungen zur Geschichte des Kaisergedankens im Mittelalter, Köln/Graz 1965, S. 171-205, bes. S. 178-180 (freilich halte ich den dort – beginnend mit dem Titel des Aufsatzes und durchwegs – begegnenden Gebrauch des Begriffs „Staat“ für das 13. und 14. Jahrhundert für anachronistisch). Klassisch die Untersuchung von H. MITTEIS, Die deutsche Königswahl. Ihre Rechtsgrundlagen bis zur Goldenen Bulle, 2. erw. Aufl. Brünn 1944 [Neudruck Darmstadt 1965, u.ö.]. Aus der reichen kontroversen neueren Literatur – dazu K.-F. KRIEGER, König, Reich und Reichsreform im Spätmittelalter (Enzyklopädie deutscher Geschichte 14), München 1992 [22005], bes. S. 46f., S. 70f., S. 109 – seien hier nur genannt: A. WOLF, Die Entstehung des Kurfürstenkollegs 11981298. Zur 700-jährigen Wiederkehr der ersten Vereinigung der sieben Kurfürsten (Historisches Seminar, N.F. 11), Idstein [11998] 22000; F.-R. ERKENS, Kurfürsten und Königswahl. Zu neuen Theorien über den Königswahlparagraphen im Sachsenspiegel und die Entstehung des Kurfürstenkollegiums (Monumenta Germaniae Historica, Studien und Texte 30), Hannover 2002; neuerlich auch T. ERTL, Alte Thesen und neue Theorien zur Entstehung des Kurfürstenkollegiums, in: Zeitschrift für historische Forschung 30 (2003), S. 619-642.
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Dazu benötigte er die Mitwirkung des Papstes. Vom Papst mußte er zum Kaiser gekrönt werden, allein dadurch konnte er Titel und Anspruch eines Römischen Kaisers erlangen. Seit dem 13. Jahrhundert hat sich diese Bedingung zunehmend als Problem erwiesen. Schon Papst Innozenz III. hatte 1202 im deutschen Thronkampf die Fürsten der Stauferpartei mit der rhetorischen Frage konfrontiert, ob denn der Papst verpflichtet werden könne,32 einen Schänder kirchlicher Heiligtümer, einen Gebannten, Tyrannen, Geisteskranken oder Ketzer (sacrilegum, excommunicatum, tyrannum vel fatuum , hereticum) zum Kaiser zu krönen, selbst wenn dieser von den deutschen Fürsten einstimmig gewählt worden sein sollte. Absit omnino! [„Das sei ferne!“] so lautete seine Antwort. Papst Innozenz IV. hat dann fast ein halbes Jahrhundert später (vor 1254) aus diesem reklamierten Prüfungsrecht auf die Idoneität des Gewählten einen Bestätigungsanspruch abgeleitet, so daß nach dieser Vorstellung in der durch den Papst „bestätigten“ oder „bekräftigten“ Wahl die Herrschaftserhebung und Sukzession eines römischen Königs und Kaisers allererst rechtskräftig werde. Es dauerte nicht lange, bis eine emsige Rechtswissenschaft das päpstliche ius examinandi lebhaft erörterte und zu einer handhabbaren Theorie zusammenfügte. Bereits Innozenz IV. selbst hatte im „Prüfungsrecht“ zugleich ein „Bestätigungsoder Bekräftigungsrecht“ des Papstes begründet gesehen, das eine Königswahl erst zu ihrem Ziel, der Einsetzung eines Nachfolgers gelangen ließ, wenn der Papst diesen Akt geprüft und bestätigt bzw. „bekräftigt“ hatte.33 Diese Denkfigur erlaubte es zudem, sich die von den Kanonisten seit langem geleistete Denkarbeit bei der Analyse der innerkirchlichen Bischofswahlen auch hier außerhalb der kirchlichen Ämterordnung zunutze zu machen und alle aufgewandte begriffliche Mühe, die im Falle der Bischofswahlen zu einer ausgeprägten juristischen Theorie der Amts-
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In seinem Brief an den Herzog von Zähringen, der später nach seinem Anfangswort als Venerabilem zitiert wurde. Ursprünglicher Text nach dem sog. Thronstreitregister in: Regestum super negotio imperii, ed. F. KEMPF (Miscellanea historiae pontificiae 12/21), Rom 1947, S. 166175 (nr. 62). Diese Dekretale wurde später aufgenommen in die Compilatio Tertia: 3 Comp. 1.6.19 (Compilationes antiquae, ed. E. FRIEDBERG [11882], Reprint Graz 1956, S. 107) und gelangte auch in den Liber Extra Papst Gregors IX.: X 1.6.34 (Corpus Iuris Canonici, ed. E. FRIEDBERG, Bd. 2, Leipzig 1881 [Reprint Graz 1956], Sp. 79-82). Die ausgedehnte Forschungsliteratur ist hier nicht aufzulisten, vgl. z.B. F. KEMPF, Papsttum und Kaisertum bei Innocenz III. Die geistigen und rechtlichen Grundlagen seiner Thronstreitpolitik (Miscellanea historiae pontificiae 19/58), Rom 1954, bes. S. 48ff., S. 84ff., S. 105-133 und passim oder H. FUHRMANN, Zur Bulle Venerabilem, in: H. BEUMANN (Hg.), Historische Forschungen für Walter Schlesinger, Köln/Wien 1974, S. 514-517. Sinibaldus Flicsus [i.e. Innocentius IV.], Apparatus in V libros decretalium, Straßburg 1478, ad 1.6.36, fol. 107r-108r, hier zitiert nach B. SCHIMMELPFENNIG (Hg.), Die deutsche Königswahl im 13. Jahrhundert, Heft 1 (Historische Texte: Mittelalter 9), Göttingen 1968, S. 38-40, hier S. 38f. (s.v. et coronamus): […] sicut potest inquiri in coronacione de vita et meritis coronandi, ita eciam possit excipi contra eam, arg. infra, De appellationibus, Ut nostrum [= X 2.28.56]. Et est ratio, quia in coronacione tribuitur confirmacio, ut hic, et ea [scil. coronacio und confirmacio] sine examinacione fieri non debent, supra eodem, Cum dilectus [=X 1.6.32].
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nachfolge34 geführt hatte, jetzt auf das Reich und die Königswahl zu übertragen. Dabei durfte man die älteren Anschauungen dann ohne großes Bedauern hinter sich lassen, die in der Königskrönung in Aachen den endgültigen Höhepunkt und abschließenden Vollzug in der Kette der Erhebungsakte gesehen hatten. Papst Bonifaz VIII. erreichte an der Wende zum 14. Jahrhundert schließlich ein in sich konsistentes Vorstellungsmodell, das er dann in der Nomenklatur der offiziellen Briefadressen an die deutschen Herrscher Schritt für Schritt auch anwandte: Zunächst heißt dieser Nomenklatur zufolge der von den Kurfürsten zum König gewählte Fürst rex Alemanniae oder rex Romanorum electus (also „König Deutschlands“ oder „Erwählter König der Römer“), gleichgültig, ob er bereits in Aachen gekrönt war oder nicht.35 Erst durch die päpstliche „Approbation“ wurde der „Elekt“ zu einem vollgültigen Romanorum rex mit voller Herrschaftsgewalt in DeutschlandBurgund-Italien, ob das nun durch entsprechende Krönungen in Aachen, Mailand oder Modena oder im Arelat (wo seit dem 13. Jahrhundert keine Krönungen mehr stattgefunden hatten) eigens öffentlich sichtbar gemacht wurde oder nicht.36 Mit einer Kaiserkrönung wäre ein „römischer König“ schließlich zum imperator Romanorum, zum „Kaiser der Römer“, geworden, freilich hat Bonifaz VIII. selbst wie alle seine Vorgänger seit der Kaiserkrönung Friedrichs II. (1220) keinen römischen Kaiser mehr gekrönt.37
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Die beste Übersicht über die Entwicklung des Wahlrechts für Bischofswahlen im 12. und 13. Jahrhundert liefert R. L. BENSON, The Bishop Elect. A Study in Medieval Ecclesiastical Office, Princeton/N.J. 1968; vgl. auch die knappe Übersicht von B. SCHIMMELPFENNIG, Papst- und Bischofswahlen seit dem 12. Jahrhundert, in: R. SCHNEIDER / H. ZIMMERMANN (Hgg.), Wahlen und Wählen im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 37), Sigmaringen 1990, S. 173-195. Bonifaz VIII. beschreibt (am 15. Mai 1300 an den Bischof von Florenz) die Funktion von Königen und Kaisern der Römer [Monumenta Germainae Historica, Const. IV/1, ed. I. SCHWALM, Hannover/Leipzig 1906, S. 85, 42-44 (nr. 108 §3); Text unten bei Anm. 39]. Vgl. auch etwa die Schilderung der Rechtslage im päpstlichen Schreiben vom 30. April 1303 (also am Tag der Approbation) in: Const. IV/1, 150f. (nr. 176) – rex Alemanie wird der Nichtapprobierte in einem offiziellen Kurienprotokoll genannt: Const. IV/1, S. 145, 2 (nr. 173) genannt. Tolomeo von Lucca schreibt an der päpstlichen Kurie (wohl ca. 1300) in seiner Determinacio compendiosa, c. 10, ed. M. KRAMMER (Monumenta Germainae Historica, Fontes iuris germanici antiqui in usum scholarum 1), Hannover/Leipzig 1909, 23: […] apparet imperialem iurisdictionem sine eius [i.e. pape] potestate et assensu non habere vigorem; et […] manifestum est, per solam eius electionem, nisi aliud sequatur, nullum ius administrationis quesitum, nisi forte in regno Teutonie, in quo ius electo acquiritur sive ex longa consuetudine […] vel forte ex ipsa ordinacione principum dicte provincie, cui se tamquam in re propria possunt subiicere. Vgl. dazu die Titulaturen im offiziellen Schriftwechsel der Kurie mit dem Hofe Albrechts I. und deutschen Fürsten, Const. IV/1, passim. Kaiserkrönungen sind im 14. und 15. Jahrhundert bekanntlich selten: nach dem Tod Friedrichs II. (1250) haben sie nur Heinrich VII. (1312), Ludwig der Bayer (1328; dazu unten!), Karl IV. (1355), Sigmund (1431) und Friedrich III. (1452) erreicht.
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Die in dieser abgestuften Nomenklatur und terminologischen Differenzierung bei Bonifaz VIII. sichtbar werdende Theorie freilich war noch nicht die letztmögliche Ausprägung der sogenannten „kurialen Approbationstheorie“ der deutschen Königswahl. Die Steigerung in der Abfolge der Titel konnte auch als Waffe im Konflikt gebraucht werden. Bereits Bonifaz VIII. wollte die militärische Entscheidung über den deutschen Thron nicht anerkennen, die in der Schlacht bei Göllheim 1198 gefallen war.38 Noch fast zwei volle Jahre danach, am 15. Mai 1300, erklärte er kühl, daß das Römische Reich „derzeit (!) bekanntlich vakant“ sei, da er, der Papst, bisher „den Fürsten Albrecht, Herzog von Österreich“ noch nicht approbiert habe.39 Eine wiederum neue Qualität wurde in der Auseinandersetzung zwischen deutschem Herrscher und Papst erreicht, als sich in Deutschland die Kurfürsten bei einer Königswahl erneut gespalten hatten und (1314) in zwei Wahlakten zuerst in Frankfurt a.M. der Habsburger Friedrich von Österreich und einen Tag später der Wittelsbacher Ludwig von Oberbayern zum König der Römer gewählt worden waren.40 Der damals in Avignon residierende Papst, seit 1316 Johannes XXII., hat danach angesichts der beiden miteinander kämpfenden Könige die kuriale Approbationstheorie noch einmal zugespitzt, indem er sie vor allem im Interesse seiner italienischen Politik mit einer anderen schon längere Zeit weitgehend unbeachtet existierenden kurialen Vorstellung in neuer Schärfe verband. Bereits seit längerer Zeit hatte das kanonische Recht im Falle einer Vakanz des Kaisertums dem Papste das sogenannte „Reichsvikariat“ zugesprochen, das Recht für das Reich lokale Amtsträger – insbesondere in Oberitalien – zu ernennen.41 Dieser Anspruch war zwar in Oberitalien keineswegs flächendeckend wirksam geworden, hatte jedoch verschiedentlich in den großen Kommunen manch einen Herrschaftsanspruch bekräftigt oder begründet. Johannes XXII. erließ nun 1317 eine Dekretale,42 in der 38 39
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Dazu auch ausführlicher (mit exzentrischen Sondermeinungen) WOLF, Entstehung des Kurfürstenkollegs (wie Anm. 31), bes. S. 62-82. Const. IV/1, S. 84-86 (nr. 108), hier §3, S. 85 – im Rahmen von aufgetürmten rhetorischen Fragen: Quod imperium et nunc vacare dinoscitur, dum nobilem principem A[lbertum] ducem Austrie (!) sedes ipsa [i.e. Apostolica] in Romanorum regem nondum admiserit nec approbaverit nec sibi favorem prestiterit impendi solitum legitime in Romanorum reges electis? Quid igitur dictus Lapus [i. e. „Lapus Saltarelli, unus ex prioribus Florentinis“], qui vere dicendus est lapis offensionis et petra scandali, in caninos latratus prorupuit, detrahendo tradite nobis a Deo plenitudini potestatis? Dazu etwa die Darstellung bei H. THOMAS, Ludwig der Bayer (1282-1347). Kaiser und Ketzer, Graz/Wien/Köln 1993, S. 43-69. Maßgeblich immer noch F. BAETHGEN, Der Anspruch des Papstes auf das Reichsvikariat, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 41 (1920), S. 169-265; jetzt in: DERS., Mediaevalia (Schriften der Monumenta Germainae Historica, 17/1), Stuttgart 1960, S. 110-185; jetzt allgemein zu Vikariatsvorstellungen und -einsetzungen M.-L. HECKMANN, Stellvertreter, Mit- und Ersatzherrscher. Regenten, Generalstatthalter, Kurfürsten und Reichsvikare in regnum und imperium vom 13. bis zum frühen 15. Jahrhundert (Studien zu den Luxemburgern und ihrer Zeit 9), Warendorf 2002. 31. März 1317, Text in: Monumenta Germainae Historica, Const. V, ed. J. SCHWALM, Hannover/Leipzig 1909-1913, S. 340f. (nr. 401), später aufgenommen in die Extravag. Jo. XXII. 5,1
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er erklärte, seit Urzeiten gelte unverbrüchlich die Rechtsregel, daß bei einer Vakanz des Kaisertums der Papst die höchste Appellationsinstanz auch im weltlichen Gerichtszug einnehme. Zugleich erklärte er alle vom verstorbenen Kaiser eingerichteten Vikariate für erloschen; sie müßten hinfort vom Papst eigens bestätigt werden. Zuwiderhandelnde bedrohte der Papst mit Bann und Interdikt. Gleichzeitig beeilte sich der Papst aber keineswegs, etwa eine Entscheidung in der strittigen deutschen Doppelwahl herbeizuführen oder zu erleichtern. In Deutschland führte man nämlich seit 1314 in der seit Jahrhunderten althergebrachten Weise einen Bürgerkrieg, um im judicium belli den richtigen, weil siegreichen König herauszufinden. Die Verbindung des Anspruchs auf ein päpstliches Reichsvikariat mit der kurialen Approbationstheorie stellte die Länge einer Vakanz des deutschen Throns praktisch in das Belieben des Papstes. In aller Klarheit hat Johannes XXII. schließlich nach dem Sieg Ludwigs in der Schlacht bei Mühldorf (1322) nach einem Gesandtenbericht an den Hof des Königs von Aragón barsch erklärt, es sei „eine feststehende Tatsache, daß kein König über Deutschland (rex Alamannie) seine Herrschaftsrechte wahrnehmen könne, solange seine Wahl nicht vom Papst geprüft und bekräftigt worden ist; darüber, sagt er, wolle er eine Decretale erlassen.“43 Johannes XXII. forderte Ludwig darum dazu auf, alle Regierungsgeschäfte einzustellen und allererst die päpstliche Approbation zu erwarten.44 Bis dahin betrachte er das Kaisertum als vakant, den gewählten römischen König, auch den in der Schlacht siegreich bestätigten Ludwig als bloßen Kandidaten, den er, der Papst, auch noch verwerfen könne.
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[Corpus Iuris Canonici, ed. E. FRIEDBERG (wie Anm. 32) II, Sp. 1211f. = Extravagantes Iohannis XXII., ed. J. TARRANT (Monumenta Iuris Canonici, B. 6), Vatikanstadt 1983, S. 156-162 [nr. 5]). Acta Aragonensia. Quellen zur deutschen, italienischen, französischen, spanischen, zur Kirchenund Kulturgeschichte aus der diplomatischen Korrespondenz Jaymes II. (1291-1327), hg. von H. FINKE, Bd. 1-2, Berlin/Leipzig 1908, Bd. 3 [11922, mit Nachträgen 1933], Reprint Aalen 1966, hier Bd. 1, S. 391-393 (nr. 261); abgedruckt in: Const. V, S. 613 (nr. 788); hier vor allem S. 392f. (bzw. S. 613): […] dominus noster proposuit hodie, scilicet die lune tercia Octobris, et intendit processus graves facere contra regem Romanorum tanquam contra fautorem et defensorem hereticorum, dicens quod non habet ius in regno nec potest administrare nec donare aliquid de iuribus regni Alamannie nec se impedire de iuribus imperii, allegans quod legato apostolico qui est in Lombardia noluit favere nec suis litteris dignatus est respondere et quod opprimit ecclesias in Alamannia et condempnavit aliquem episcopum vel aliquos in certa pecunie quantitate. Propter quod intendit procedere totis viribus contra eum et excitare sibi bricas in Alamannia {et conferre dominationes Alamannie maxime marchionatum Magdeburgensem, quem rex Romanorum tradidit filio dans sibi unam puellam uxorem, que heres illius marchionatus dicitur esse, si tamen invenerit, qui velit accipere ab eodem}. Et dixit pro fixo quod nullus rex Alamannie potest administrare, donec eleccio sua sit per papam examinata et confirmata, et de hoc se asserit velle facere decretalem. Tamen plures cardinales non consentient libenter, tam periculosam incipi novitatem. Der eingeklammerte Satz ist im Original durch Streichung getilgt. Zu brica vgl. C. DU FRESNE DU CANGE, Glossarium medii et infimae latinitatis, bearb. von L. FAVRE (1954 [=Reprint der Ausg. Paris 1883-1887]), Bd. 1, S. 748f. s.v. briga (1): Jurgium, rixa, pugna. Monumenta Germainae Historica, Const. V, S. 616-619 (nr. 792).
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Am Ende stand binnen kurzer Zeit auf der einen Seite die Amtsenthebung des deutschen Herrschers durch den Papst.45 Johannes XXII. hat (im März 1327) Ludwig den Bayern sogar auch noch wegen Ungehorsams gegen den Apostolischen Stuhl als Herzog von (Ober-)Bayern abgesetzt.46 In seinen offiziellen Schreiben titulierte er Ludwig künftig recht ungewöhnlich als Ludowicus de Bavaria oder mit einem aus diesem Herkunftsnamen gebildeten Kunstnamen als Bavarus, als „der Bayer“, um ihm jede legitime Herrschaft abzusprechen.47 Die heutige Forschung folgt diesem Brauch in aller Regel. Der kuriale Kampfname „Ludwig der Bayer“ ist für uns zu seinem Eigennamen geworden. Auf der anderen Seite hat Ludwig nicht nur in immer erneuten Anläufen gegen die päpstlichen Schritte förmlichen Protest eingelegt, er hat sich schließlich im Januar 1328 nach einem überstürzt aufgenommenen Romzug in Rom von Vertretern der römischen Stadtkommune eine zweifelhafte, aber garantiert papstfreie, ja antipäpstliche „römische“ Kaiserkrone aufs Haupt setzen lassen. Ludwig hat dann einen Franziskanermönch als einen eigenen (Gegen-)Papst eingesetzt, dem freilich kein längeres Wirken beschieden war. Trotz mancherlei Bemühungen um Ausgleich und Versöhnung kam es später auch mit den Nachfolgern Johannes’ XXII. zu keiner Einigung mehr. Ludwig starb 1347, über 30 Jahre nach seiner Wahl, im Bann der Kirche.
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Ebendort, § 3 (S.617f.). Freilich war das keine eigentliche Amtsenthebung, da Ludwig nach Meinung des Papstes ja sein Amt überhaupt nicht angetreten haben konnte. In seinem sogenannten „Fünften Prozeß“ vom 3. April 1327 [Const. Bd. VI/1, S. 178-184, bes. S. 183, 31-39 (nr. 273 §12) – vgl. dazu den Bericht in Acta Aragonensia, Bd. 1 (wie Anm. 43), S. 425f. (nr. 280), also nach dem Aufbruch Ludwigs nach Italien. Die älteste – noch unspezifische - Benennung Ludwigs als Bavarus finde ich bereits 1315 an der Kurie durch einen der Geschäftsträger des Königs von Aragon, vgl. Monumenta Germainae Historica, Const. V, S. 222, 8 (Nr. 260 § 3). Reiches Material zum Gebrauch der Benennung in kurialen Urkunden seit 1324 schon bei J. VON PFLUGK-HARTTUNG, Die Bezeichnung Ludwigs des Bayern in der Kanzlei des Papstes Johannes XXII., in: Historisches Jahrbuch 22 (1901), S. 329-337. Charakteristisch auch weiterhin die Benennung in Berichten von der Kurie nach Aragón: zunächst heißt Ludwig (von 1326 bis ins Jahr 1327 hinein) duch de Bauera bzw. dux Bavariae [Acta Aragonensia, Bd. 1, S. 420, S. 423; Bd. 2, S. 837 (nrr. 276, 278; 403, 427; 518)]; seit Anfang 1326 wird dann zunehmend regelmäßig von ihm als dem Bavarus gesprochen [Acta Aragonensia (wie Anm. 43), Bd. 1, S. 424, S. 427; Bd. 2, S. 636, S. 676; Bd. 3, S. 521, S. 542 (Bd. 1, nrr. 279, 282; Bd. 2, nrr. 404, 427; Bd. 3, nrr. 240, 254)]. Für Mai/Juni 1328 vgl. dann auch Const. VI.1, S. 379, 15 oder S. 383, 20 (nr. 461 oder nr. 465); dazu Nova Alamanniae. Urkunden, Briefe und andere Quellen besonders zur deutschen Geschichte des 14. Jahrhunderts, hg. von E. E. STENGEL, Bd. 1-2.2, Berlin 1921-1976, hier Bd. 2.2, S. 827f. (nr. 1511). Auch kuriale Memoranden brauchen diese Titulatur, etwa das anonyme Compendium maius octo processum papalium cum quibusdam allegacionibus catholicis contra Ludovicum Bavarum maleseductum ecclesie sancte persecutorem publicum et eius fautores factorum ad laudem Christi et honorem ipsius ecclesie sancte in Romana curia fideliter compilatum (kurz nach 30. März 1328) aus Ms. Vatican, Borgh. 86, fol. 165r-171v, ed. R. SCHOLZ, Unbekannte kirchenpolitische Streitschriften aus der Zeit Ludwigs des Bayern, Bd. 1-2 (Bibliothek des Preußischen Historischen Instituts in Rom 9-10, 1911-1914), hier Bd. 2, S. 169-187, wo Ludwig nie anders benannt wird (vgl. etwa S. 169, 2; S. 171, 6; S. 178, 22; usw.).
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In Deutschland rief der Konflikt zwischen Papst und Kaiser eine Vielzahl von Verhandlungen, Flugschriften und Traktaten hervor, ein breites Panorama von Meinungen wurde fixiert, so daß Historiker heute ein weites Forschungsfeld vorfinden, wenn sie die „öffentliche Meinung“ dieser Zeit kennenlernen wollen. Zeitweilig war die Unterstützung, die dabei Ludwig der Bayer erhielt, fast einhellig, besonders am Ende der dreißiger Jahre, als die Kurie in Avignon unter Papst Benedikt XII. mit augenscheinlich schlechtem Willen langwierige Versöhnungsverhandlungen brüsk zum Scheitern brachte. Die deutschen Kurfürsten versammelten sich daraufhin in dem ihnen von ihren Wahlverhandlungen gut vertrauten Baumgarten in Rhens (bei Koblenz) und erließen eine öffentliche Erklärung,48 in der sie ihre eigenen Rechte an einer Königswahl im Römischen Reich unterstrichen und dabei auch erstmalig in der deutschen Verfassungsgeschichte klar das Ergebnis einer Mehrheitsentscheidung bei einer solchen Wahl als gültiges Resultat, und damit das Majoritätsprinzip bei einer Königswahl anerkannten.
4. Lupolds Prolegomena zu einem Staatsrecht des Reichs Im folgenden möchte ich in Umrissen eine Position vorstellen, die im Umkreis der Rhenser Erklärung in Würzburg entstanden ist. Der Text stammt von einem gelehrten Kanonisten und versierten Kirchenpolitiker. Die Streitschrift hatte Erfolg, sie ist heute noch in 20 Handschriften und nicht weniger als 8 frühen Drucken (von 1508 bis 1664) verbreitet, die erste moderne kritische Edition ist im Jahre 2004 erschienen. Lupold von Bebenburg, so heißt der Verfasser, versucht, die Position Ludwigs des Bayern gegenüber päpstlichen Ansprüchen mit juristischen, mit kanonistischen Argumenten zu stützen.49 Lupold stellt sich damit politisch in dieselbe Generallinie, wie sie auch Wilhelm von Ockham oder Marsilius von Padua in ihren allseits bekannten politischen Traktaten vom Münchener Kaiserhof vertraten. Aber Lupold geht das Problem nicht philosophisch oder theologisch, sondern juristisch an. Sein Text darf als der wohl bedeutendste Beitrag eines Deutschen zur politiktheoretischen Diskussion des 14. Jahrhunderts gelten. Im November des Jahres 1339 – also gut ein Jahr nach der Rhenser Erklärung – schloß Lupold seinen Traktat ab. Bereits die Überschrift „De iuribus regni et imperii Romanorum“,50 „Über die Rechte von Kaiser und Reich“, spricht die zentralen Streitpunkte des erbitterten Kampfes Ludwigs des Bayern mit der Kurie prägnant an.
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Die Rhenser Erklärung ist am leichtesten zugänglich bei: Quellen zur Verfassungsgeschichte des Römisch-Deutschen Reiches im Spätmittelalter (1250-1500), hg. von L. WEINRICH (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 33), Darmstadt 1983, S. 286-290 (Nr. 88). Vgl. dazu im einzelnen etwa THOMAS, Ludwig der Bayer (wie Anm. 40); auch die Einleitung in die Editio maior Lupolds (wie Anm. 1) [mit weiterer Literatur]. Zur Datierung vgl. vor allem die Einleitung in der Editio maior (wie Anm. 1), S. 199-203; dort S. 149-182 auch eine nähere Beschreibung der Handschriften und Drucke.
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Ob ein von den Kurfürsten zum König der Römer gewählter Fürst seine Regierungsgewalt im Reich unmittelbar aus der Kurfürstenwahl erhalte, oder ob er erst dann seine Herrschaftsrechte ausüben dürfe, wenn seine Wahl vom Papst geprüft und „approbiert“ worden war, das war der Kernpunkt der damals bereits zwei Jahrzehnte andauernden Auseinandersetzung. Die Kurfürsten hatten sich in Rhens rein deklaratorisch ohne weitere Erörterungen auf unvordenkliche Rechtsgewohnheiten des Reiches berufen. Das tut Lupold selbstverständlich auch hier und da. Jedoch wollte er über dieses „positivistische“ Argument, wie er es nennt, hinaus Angemessenheit und Legitimität dieser deutschen Rechtsgewohnheiten aus allgemein anerkannten Prinzipien einsichtig machen. Lupold erreicht dies durch eine entschlossene Abkehr von der Argumentationsstrategie bisheriger Kaisertheorien. Hatten diese sich zuvor vor allem darum bemüht, die Besonderheiten des Verhältnisses von Papst und Kaiser aus dem Wortlaut der Rechtsquellen abzuleiten und also die kaiserliche Stellung als ein universales Herrschaftsamt in der Christenheit sui generis in mehr oder minder kräftigen Farben mit der Stellung des Papstes an der Spitze der Kirche in ein vernünftiges Verhältnis zu setzen, so kehrt Lupold zunächst einmal die Fragerichtung entschieden um: Er will dem Kaiser endlich jene Rechte zugestanden wissen, welche die westeuropäischen Könige theoretisch fundiert und auch von den Kirchenjuri-sten seit Jahrzehnten unbestritten auszuüben berechtigt schienen. Treffend hat schon 1970 Helmut G. WALTHER betont, Lupold habe die Kaisertheorie mit dem Ziel benutzt, „den Kaiser endlich auch imperator in regno suo werden zu lassen“.51 Auch wenn Lupold selber das niemals so oder auch nur ähnlich formuliert hat, trifft diese Charakteristik doch den Nagel auf den Kopf: Endlich sollte der Kaiser seine Herrschaftsrechte zumindest in seinem Reich so wahrnehmen dürfen, wie die westeuropäischen Konkurrenten auch! Um das richtig verstehen zu können, müssen wir einen Blick auf die kanonistische Auffassung von der Regierungsgewalt eines europäischen Königs werfen. Die kirchliche Rechtswissenschaft und die päpstliche Politik hatten ihren Konflikt mit dem Kaiser lange Zeit keineswegs auf andere Herrscher Europas übertragen. Vielmehr hatte sie diesen gegenüber mit größter Unbefangenheit deren Selbständigkeit unterstrichen, die sie insbesondere gegenüber den universellen Ansprüchen des Kaisers unabhängig machen sollte. Diese Neutralisierung der europäischen Fürsten verfolgten die Päpste unbeirrt von ihren Konflikten mit den Kaisern, zumal die Kirche einer unmittelbaren Konfrontation mit allen weltlichen Herrschern auf einmal gewiß nicht gewachsen gewesen wäre. Ihre eher paränetische Haltung den europäischen Königen gegenüber wurde dadurch gestützt, daß die Grundprinzipien des Organisationsverständnisses weltlicher Herrschaftsordnungen ihrer eigenen Theorie nach durchaus nicht von vorneherein der geistlichen Gewalt die Führungsrolle gegenüber jeder weltlichen Gewalt einräumte.
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H. G. WALTHER, Imperiales Königtum, Konziliarismus und Volkssouveränität. Studien zu den Grenzen des mittelalterlichen Souveränitätsgedankens, München 1976, S. 228.
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Schon früh (im 12. Jahrhundert) hatten die Kanonisten den Satz geprägt „Ein König ist Kaiser in seinem Königreich“ (rex imperator in regno suo).52 Damit hatten sie zugleich elegant dafür gesorgt, daß alle juristischen Aussagen des Römischen Kaiserrechts, die sich im „Corpus Juris Civilis“ Justinians finden ließen, ohne weiteres überall jedem einzelnen König in seinem Reiche bei Herrschaftsintensivierung und Herrschaftssicherung zur Verfügung standen. Der Gedanke selbständiger kaisergleicher Herrschaft in einzelnen Reichen wurde schließlich bis zur Absurdität überspitzt. Schließlich konnte (im 14. Jahrhundert) die absolute Herrschaftsgewalt binnen eines abgegrenzten Kompetenzbereichs metaphorisch sogar auf die Hausgewalt eines Familienvaters in seinem Haushalt Anwendung finden. Diese Anschauung konnte sogar verallgemeinert werden zu der Aussage: „Jeder Hausherr ist König in seinem Hause“ (quilibet paterfamilias est rex in domo suo).53 Wir kennen heute noch das englische Rechtssprichwort: „My home is my castle.“54
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Zur Frühgeschichte dieses Prinzips vor allem W. HOLTZMANN, Das mittelalterliche Imperium und die werdenden Nationen (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes NordrheinWestfalen 7), Köln/Opladen 1953; vgl. auch G. POST, Studies in Medieval Legal Thought, Public Law and the State, 1100-1333, Princeton/N.J. 1963, S. 453-482; H. QUARITSCH, Staat und Souveränität, Bd. 1: Die Grundlagen, Frankfurt a.M. 1970 [mehr nicht erschienen], S. 79-83; WALTHER, Imperiales Königtum (wie Anm. 51), bes. S. 78ff. Ich nenne hier nur einige wenige Belege: Wilhelm von Ockham, Opus Nonaginta Dierum, c. 93 (ed. H. S. OFFLER, in: Guilielmi de Ockham Opera politica, Bd. 2, Manchester 1963, S. 673): et isto modo, largissime accepto nomine regis, imperatores, reges, duces, comites et barones et patresfamilias possent vocari reges, unde et nonnunquam vulgariter dicitur quod quilibet paterfamilias erst rex in domo suo [dazu vgl. bereits J. MIETHKE, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie, Berlin 1969, S. 518f.]. Ähnlich formuliert bereits Philippe de Beaumanoir, Coutumes de Beauvaisis, c. 34, § 1043, ed. A. SALMON, Bd. 2, [11900], Reprint Paris 1970, S. 23: chascun barons est souverains en sa baronie. Zu vergleichen ist auch der anonyme Traktat Non ponant laici os in coelum, ed. R. SCHOLZ, Die Publizistik zur Zeit Philipps des Schönen und Bonifaz’ VIII. (Kirchenrechtliche Abhandlungen 6-8), Stuttgart 1903, S. 471-484, hier S. 474) oder John de Pouillie, in: J. G. SIKES, John de Poullie and Peter de la Palu, in: The English Historical Review 49 (1934), S. 219-240, hier S. 233; Philipp von Leyden, De cura rei publicae et sorte principantis, casus 49, § 48, ed. R. FRUIN / P. C. MOLHUYSEN, s’Gravenshage 1915, S. 215: Item dux, comes vel baro potest dici princeps in sua iurisdictione et suo territorio. Der Hostiensis im 13. Jahrhundert und Johannes Andreae, der wohl bekannteste Kanonist im Bologna des 14. Jahrhunderts, beziehen sich zur Illustration dieses Prinzips auf ein Schulbeispiel, das sie offenbar ihren Studenten zu erzählen pflegten: Hostiensis, Lectura ad X 1.6.34, Venedig 1581, fol. 60ra, Rdnr. 5, was zusammenzuhalten ist mit: Johannes Andreae, In quinque decretalium libros Novella Commentaria, ad X 1.6.34 [Venedig 1581], Reprint Turin 1963, Bd. 1, fol. 108vb-109rb, Rdnr. 43; auf diese Anekdote hat bereits verwiesen R. ELZE, Insegne del potere sovrano e delegato in occidente, in: Simboli e simbologia nell’Alto Medioevo, Spoleto 1978, S. 569-593, hier S. 578 [jetzt in: DERS., Päpste – Kaiser – Könige und die mittelalterliche Herrschaftssymbolik, hgg. von B. SCHIMMELPFENNIG / L. SCHMUGGE (Collected Studies Series, CS 152), Aldershot 1982, nr. XI].
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Schon dieses Sprichwort zeigt, daß die Verselbständigung herrscherlicher Gewalt allein nicht allzu weit trug. Es mußte geklärt werden, wie sich die verschiedenen einzelnen Herrschaftsträger zueinander verhielten. Mit der isolierten Herrschaftsgewalt eines Herrschers in seinem Rechtsbereich war schon staatsrechtlich nicht auszukommen, wenn es um Konflikte zwischen verschiedenen Ebenen der Herrschaftsübung ging. Ebensowenig genügte das, wenn Konflikte der europäischen Politik auszutragen waren, wenn das Verhältnis von verschiedenen Gewalthabern zueinander zur Debatte stand. Hier war die Vorstellung einer Zu- und Unterordnung über das gleichberechtigte Nebeneinander aller Gewalthaber einleuchtend. Bereits Papst Innozenz III. hatte dem in einer berühmt gewordenen Dekretale (Per venerabilem)55 Rechnung getragen, als er – eher en passant als grundsätzlich – einen neuen Gedanken zur Begründung päpstlicher Eingriffsrechte in weltliche Streitfragen formulierte. Innozenz traf eine Unterscheidung zwischen dem Ersuchen des Grafen von Montpellier, seine unehelichen Söhne als legitime Erben ihres Vaters anzuerkennen, und dem sachlich scheinbar ganz ähnlich gelagerten Wunsch des französischen Königs, seine Kinder aus einer kirchlich noch nicht anerkannten Verbindung mit Agnes von Meranien zu legitimieren. Innozenz stellte in seiner Entscheidung eine Erwägung über die Vergleichbarkeit beider Bitten an und kam zu dem Schluß, daß beide Fälle rechtlich gänzlich verschieden zu beurteilen seien.: „Wenn man den wahren Sachverhalt betrachtet, so ist er, wie man sieht, nicht ähnlich, sondern äußerst verschieden.“ (Si veritas diligenter inspicitur, non res similis, sed valde dissimilis invenitur.) Dementsprechend lehnte der Papst den Antrag des Grafen ab, während er zuvor der Bitte des französischen Königs entsprochen hatte. Der Unterschied, so lautete der päpstliche Bescheid, bestehe vor allem darin, daß der Papst erst dann zu einer Entscheidung befugt sei, wenn ein Antragsteller „außer dem Römischen Bischof unter den Menschen keinen anderen als seinen Oberen anerkennt, der die Befugnis zur Legitimation (seiner Erben) haben könnte […]. Da der König von Frankreich in weltlichen Angelegenheiten einen Oberen nicht anerkennt, konnte er sich unserer Gerichtshoheit
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Die Dekretale Per venerabilem (Dezember 1202), überliefert in den Registern Innozenz‘ III., nr. V.127 (128); gedruckt auch in: MIGNE, Patrologia Latina 214, col. 1130-1134; jetzt ediert in: Die Register Innozenz’ III., 5. Pontifikatsjahr, Texte, bearb. von O. HAGENEDER, unter Mitarbeit von C. EGGER / K. RUDOLF / A. SOMMERLECHNER (Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturinstitut in Rom 2.1.5), Köln/Wien 1993, S. 249-255. Der Text ist später eingegangen in die Compilatio tertia: 3 Comp. 4.12.2, und wurde dann in den Liber Extra übernommen: X 4.17.13. Vgl. im einzelnen immer noch KEMPF, Papsttum und Kaisertum (wie Anm. 32), bes. S. 256-262; WALTHER, Imperiales Königtum (wie Anm. 51), S. 14-19; K. PENNINGTON, Pope Innocent III’s Views on Church and State. A Gloss to Per venerabilem [11977], jetzt in: DERS., Popes, Canonists and Texts, 1150-1550 (Variorum Collected Studies Series, CS 412), Aldershot 1993, nr. IV; O. HAGENEDER, Anmerkungen zur Dekretale Per Venerabilem Innocenz’ III. (X 4.17.13), in: M. THUMSER / A. WENZ-HAUBFLEISCH / P. WIEGAND (Hgg.), Studien zur Geschichte des Mittelalters, Jürgen Petersohn zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2000, S. 159-173.
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unterwerfen, ohne die Rechte irgendeines anderen zu verletzen.“56 Anders dagegen stehe es mit dem Grafen von Montpellier. Der Papst verwies also darauf, daß seine gerichtliche Zuständigkeit nicht mit der „normalen“ Zuständigkeit anderer Gerichtshöfe konkurriere, vielmehr nur gewissermaßen als freiwillige oder richtiger subsidiäre Gerichtsbarkeit beim Fehlen einer primär zuständigen Instanz in Frage komme. Das nun war allein deshalb schon eine wichtige Aussage, weil (wie wir bereits gesehen haben) „Gerichtshoheit“ (iurisdictio) in der Sprache der Juristen das ganze Mittelalter hindurch als weithin identisch mit staatlicher Herrschaft gedacht wurde.57 Für die Kanonisten, die sich mit dieser bald berühmten Dekretale auseinandersetzten, war darin wesentlich mehr angesprochen, als es der Sachverhalt auf den ersten Blick für uns hergeben möchte. Hier hatte der Papst, so schien es, anerkannt, daß der französische König in weltlichen Fragen keinen Oberherrn anerkennen wolle, oder sogar, daß er keinen anerkennen müsse. Aus solchem Eigenrecht ließen sich weitere Folgerungen ziehen. Gewiß ließ es sich trefflich darüber streiten, ob die Selbständigkeit des Königs von Frankreich von Rechts wegen oder durch Usurpation und damit widerrechtlich, ob also rechtsgültig (de jure) oder nur faktisch (de facto) erworben war. Künftige Juristengenerationen haben diesen Disput in aller Ausführlichkeit geführt. Wir brauchen hier den Mäandern dieses Diskurses nicht zu folgen. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts (1256) aber konnte jedenfalls bereits Jean de Blanot, Gerichtspraktiker und Offizial des Erzbischofs von Lyon die beiden Gesichtspunkte in eine gemeinsame glatte Formel zusammenbinden: Nam rex Franciae in regno suo princeps est, nam in temporalibus superiorem non recognoscit („Der König Frankreichs ist in seinem Königreich Kaiser, denn er anerkennt in weltlichen Fragen keinen Oberherrn“).58
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Reg. V.127, HAGENEDER (wie vorige Anm.), S. 250: Quod autem super hoc apostolica sedes plenam habeat potestatem, ex illo videtur, quod […] verisimilius creditur et probabilius reputatur, ut eos ad actus legitimare valeat seculares, presertim, si preter Romanum pontificem inter homines superiorem alium non agnoscunt, qui legitimandi habeat potestatem […]. [S. 253:] Insuper cum rex ipse superiorem in temporalibus minime recognoscit, sine iuris lesione in eo se iurisditioni nostre subicere potuit et subiecit […]. Vgl. oben Anm. 15. Vgl. besonders R. FEENSTRA, Jean de Blanot et la formule Rex Franciae in regno suo princeps est, in: Études d’histoire du droit canonique dédiées à Gabriel Le Bras, Paris 1965, Bd. 2, S. 885-895, jetzt in: DERS., Fata iuris Romani. Études d’histoire du droit (Leidse juridische reeks 13), Leiden 1974, S. 139-150, hier S. 144; auch J. KRYNEN, L’empire du roi, Idées et croyances politiques en France, XIIIe-XVe siècles (Bibliothèque des Histoires), Paris 1993, S. 79. Ein späteres Beispiel bietet noch Bartolus of Sassoferrato, De dignitatibus [Textherstellung von GIORDANENGO], zitiert dann [1378] in [Évrart de Trémaugon], Somnium viridarii I, cap. cxxii [§ 40 ter suite], ed. M. SCHNERB-LIEVRE (Sources d’histoire médiévale), Bd. 1, Paris 1993, S. 154: „principatum tenentem“, hoc dixi quia nullus nisi ille qui tenet principatum potest concedere nobilitatem […] Idem de imperatore, rege seu alio quocumque non recognoscente superiorem in terris et eciam de aliis pricipibus inferioribus ut marchio, dux vel comes, qui habent auctoritatem condendi leges in suos, et idem de quolibet populo, qui habet auctoritatem condendi leges.
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Damit war der Anspruch auf Eigenständigkeit des Herrschers und seines Reiches klar formuliert. Fast – fast! – war bereits der moderne Souveränitätsbegriff eines Jean Bodin erreicht.59 Mit juristischen Reflexionen über originäre Kompetenz und delegierte Machtübung unterstützten die Juristen auch künftig Herrschaftsintensivierung und Verstaatlichung in den europäischen Königreichen, zumal solche Selbständigkeit sich auch durch allgemeine Überlegungen über den Ursprung und die Grundlage von Herrschaft in Konsens und Wahl begründen ließ. Die Päpste ihrerseits konnten im Zweifelsfall, wenn sie Verbündete in Konflikten suchten, das Selbständigkeitspostulat mit oder ohne Begründung im einzelnen gehörig unterstreichen. Lupold nun wollte beweisen, daß auch für den deutschen Herrscher uneingeschränkt gelten müsse, was die Juristen an Staatlichkeit für die Könige Europas von diesem Gesichtspunkt her systematisch entfaltet hatten. Lupold selbst hat das niemals so gesagt, doch ließe sich sein Ziel in folgender Formel zusammenfassen: imperator rex in imperio suo! Nach Lupolds Meinung galt, daß auch der Kaiser in seinem Regierungshandeln von nichts und niemanden als von einem „Oberen“ abhängig sein durfte. Der Kaiser brauchte also auch vom Papst keinerlei Einrede zu dulden, hatte er solches doch nach Ausweis der Chroniken und Geschichtszeugnisse seit den längst vergangenen Zeiten Karls des Großen und seiner Nachfolger sich niemals gefallen lassen müssen. Lupold wendet einige Mühe auf diesen historischen Nachweis, den er aus Chroniken und Urkunden, die er in Würzburg finden konnte, aufwendig führt. Es wird ihm völlig klar: Wie seinerzeit Karl der Große und die späteren Karolinger hat auch der spätmittelalterliche römische Kaiser unmittelbar mit seinem Regierungsantritt alle königlichen Rechte in seinem Reich und bedarf dazu keinerlei Approbation durch einen Papst oder sonst jemanden. Und eben diese Selbständigkeit muß der deutsche Herrscher bereits als rex Romanorum haben, bevor er vom Papst die Kaiserkrönung erhalten hat. Auch der rex Romanorum ist in seinen Königreichen regierungsfähig. Kaiser wird ein römischer König erst durch die Kaiserkrönung, daran rüttelt Lupold nicht. Aber was gewinnt der Kaiser an Rechten, die über die Regierungsrechte eines Königs der Römer hinausgehen? Die entscheidende Neuerung in Lupolds Bemühungen um eine juristisch haltbare Theorie des Kaisertums war es, daß er eindeutig darauf verzichtete, an den hohen Ansprüchen des römischen Kaisers auf eine Oberhoheit eines Weltherrschers über alle anderen Herrscher Europas festzuhalten. Noch Dante hatte in seiner „Monarchia“ (also nur knapp eine Generation vor Lupold) das kaiserliche Amt geradezu heilsgeschichtlich aus Gottes 59
Nicht umsonst hat später Jean Bodin in Papst Innozenz IV. einen Vorläufer seines eigenen Souveränitätsbegriffs erkannt, vgl. die lateinische Übersetzung (in der französichen Erstversion findet sich an dieser Stelle keine Entsprechung) seines Hauptwerkes De Republica libri sex, I.8 (hier zitiert nach der 7. Auflage, Frankfurt a.M. 1641, S. 160): At Innocentius IV. pontifex Romanus juris utriusque peritissimus summam illam sine legibus solutam potestatem definiit. Darauf haben bereits J. NEVILLE FIGGIS, Studies in the Political Thought from Gerson to Grotius, 1414-1625, Cambridge 21916 [Reprint 1956], S. 110 sowie auch H. QUARITSCH, Staat und Souveränität (wie Anm. 52), S. 65 hingewiesen.
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Weltenplan heraus zu begründen versucht. Gleichzeitig mit Lupold haben sowohl Marsilius von Padua als auch Wilhelm von Ockham diese theologische Dimension der Erörterung zwar nicht eigens behandelt, hatten aber keine Zweifel an den Weltherrschaftsansprüchen eines Kaisers als des dominus mundi aufkommen lassen. An diesem Thema zeigt sich Lupold fast völlig desinteressiert. Gewiß kann er nicht übersehen, daß in den Texten des Römischen Rechts dem Kaiser gewisse Rechte über die gesamte Welt zuerkannt werden. So will auch Lupold dem Kaiser nach seiner vom Papst vollzogenen Kaiserkrönung bestimmte Rechte zuerkennen. Aber das sind für ihn nur Ehrenrechte, die ein Kaiser – anders als ein König – in der ganzen Welt auch jenseits der Grenzen seines Reiches genießt, Kompetenzen, die einen Kaiser weiterhin zum vornehmsten weltlichen Fürsten machten. Lupold nennt solche Kompetenzen „Reservatrechte“ (actus imperatori de iure reservati) und zählt als solche mehrfach auf die Legitimierung von unehelich Geborenen, die Wiederherstellung der Ehre für ehrlos erklärter Verbrecher, die Autorisierung kaiserlicher Notare, „und dergleichen mehr (et in similibus)“.60 Lupold hat aber diese Aufzählung kaum abgeschlossen, da warnt er den Kaiser auch bereits eindringlich davor, diese Rechte in fremden Königreichen ohne die Einwilligung der zuständigen Könige ausüben zu wollen. Auch wenn die Könige das „eigentlich“ zuzulassen verpflichtet wären, würden sie doch, das weiß auch Lupold nur allzu gut, solche kaiserlichen Rechtsakte in ihrem Reich nicht dulden.61 Denn die Könige selbst haben, so lautet die Hauptthese, in ihrem eigenen Reich und begrenzt auf dieses Gebiet, nicht nur alle üblichen Regierungsrechte inne, sondern auch all diese besonderen kaiserlichen Herrschaftsrechte, und zwar kraft eigenen Rechts seit ihrem Regierungsantritt. Die kaiserliche Prärogative, die jedem König in seinem eigenen Reiche zusteht, darf freilich, und das ist für Lupold der springende Punkt, ein römischer König ebenfalls innerhalb seines eigenen Herrschaftsbereichs beanspruchen. Das scheint ihm viel wichtiger gewesen zu sein, als die luftigen kaiserlichen Reservatrechte jenseits der Reichsgrenzen.62 Damit ist deutlich: Auch die kaiserlichen Reservatrechte sind keineswegs exklusive kaiserliche Kompetenzen, der gekrönte kaiserliche Herrscher darf sie zwar von Rechts wegen in aller Welt auch außerhalb der Grenzen des Römischen Reiches wahrnehmen, kann sie aber nur konkurrierend mit den Königen ausüben. Gegen ihren Widerstand läßt sich diese konkurrierende Kompetenz nur schwer oder gar nicht durchsetzen. Dieses Recht stiftet also eigentlich nur Unfrieden. Darum rät Lupold dem Kaiser auch sofort unverhohlen und dringlich zu politischer Beschei60 61
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Lupold, De iuribus, c. 7, 11 (MIETHKE / FLÜELER [Editio maior, wie Anm. 1], S. 302, S. 305f., S. 340; MIETHKE / SAUTER [Editio minor, wie Anm. 1], S. 110, S. 114/116, S. 170). Ebd., c. 11 (ed. MIETHKE / FLÜELER [wie Anm. 1], S. 341; ed. MIETHKE / SAUTER [wie Anm. 1], S. 172): Licet autem reges eorundem regnorum fortasis non sinerent talia in suis regnis per imperatorem Romanorum fieri, ad hec tamen admittenda de iure tenerentur. An einer Stelle hält Lupold sogar die Oberhoheit des Kaisers in Fragen des merum et mixtum imperium fest, vgl. insbes. Tractatus cap. XV (ed. MIETHKE / FLÜELER [wie Anm. 1], S. 382-392, bes. 388ff.).
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denheit. Klar wird damit, daß es Lupold nicht so sehr auf einen Vorrang des deutschen Kaisers vor den anderen Königen und auf kaiserliche Vorrechte ihnen gegenüber ankommt. Hier wollte er offenbar nur die vollmundigen Quellen des Kaiserrechts fast beschwichtigend in ihrer Geltung belassen. Der Kanonist Lupold setzt vielmehr voll auf eine strikte Gleichbehandlung des römischen Kaisers mit den Königen Europas. Denn im Territorium seines Kaiserreichs hat auch der Kaiser jene Reservatrechte kraft eigenen Rechts und vom Beginn seiner königlichen Regierung an wie alle seine königlichen Nachbarn, ohne dabei vom Papst irgendwie abhängig zu sein. Die Territorialisierung politischer Hoheit, wie sie später Wesenskern auch noch des frühmodernen Souveränitätsbegriffs werden sollte, wird bei Lupold auch für den angeblichen Inhaber der Universalmacht ganz ernst genommen. Mit aller Energie nimmt Lupold damit das kanonistische Theorem der gleichberechtigten Selbständigkeit nationaler Königreiche auch für die Ländermasse Deutschland-Italien-Burgund und für den römischen König und Kaiser in Anspruch, auch und gerade gegenüber Papst und Kurie. Allein damit drängt er die traditionell universalen Ansprüche des Kaisertums zumindest stark zurück, wenngleich er sie nicht vollständig negiert. Lupold konzentriert seine Gedankenführung auf das Ziel „staatlicher“ Autonomie und Souveränität für den deutschen Herrscher. In der faktischen Herrschaftsübung sieht er historisch bei den deutschen Herrschern, den Vorgängern Ludwigs des Bayern, ein untrügliches Anzeichen legitimer Herrschaft. Unterschiede zwischen den verschiedenen Teilbereichen des Römischen Reichs werden dabei nicht sichtbar, die Herrschaftsrechte des Königs der Römer gelten in Deutschland, Burgund und Italien jeweils gleichermaßen. Der Römische König ist damit den Königen von Frankreich, England oder Sizilien, von Kastilien, Aragon oder Portugal in ihrem jeweiligen Königreich völlig gleichgestellt, unabhängig von und vor aller Approbation seiner Wahl durch den Papst. Durch die Königswahl gewinnt er das volle königliche Herrschaftsrecht in seinem Reich. Durch die Kaiserkrönung gewinnt der Herrscher als Kaiser in der ganzen Welt nur noch jene schemenhaften, nicht exklusiven, sondern nur konkurrierend wahrnehmbaren „Reservatrechte“ hinzu, die auszuüben er sich nach Lupolds Rat wohlweislich hüten sollte.
5. Résumé Hier wurde versucht, ein juristisches Staatsdenken in Deutschland aus dem tiefgreifenden Konflikt zwischen Papst und Kaiser und aus der stetigen Frage nach der Legitimierung politischer Herrschaft heraus zu verstehen. Lupold von Bebenburg hat mit nachhaltigem Erfolg eine juristische Theorie gleichberechtigter Staatlichkeit ausgeformt, die ihre Legitimität nicht von kirchlicher Anerkennung oder Billigung, Bestätigung oder Einverständnis herleiten und die damit ihre Legitimation nicht beim Papst suchen mußte. Auch das Spätmittelalter hat niemals darauf verzichtet, Konflikte gewaltsam auszutragen. Langwierige Kriege, erbitterte Fehden, gewaltsamer Aufruhr, blutige Polizeiaktionen von Städten gegen die Adelsburgen der marodierenden „Raubrit-
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ter“ waren überall an der Tagesordnung.63 Aber daneben und darüber hinaus gilt doch auch, daß das Mittelalter in seinen Bestrebungen und in seinem Verlauf nicht zu verstehen ist, ohne die „Rechtsidee in der Geschichte“ zu bemühen.64 Für unsere heute manchmal belächelte und oft gescholtene „alteuropäische“ Tradition ist das, so meine ich, von bleibender Wichtigkeit. Es lohnt, daran mit aller Hartnäckigkeit festzuhalten. Macht und Recht stehen nach den hier behandelten Vorstellungen in einem schwierigen Verhältnis zueinander. Recht begründet und begrenzt Macht, Recht aber muß durch Macht durchgesetzt werden. Dabei geht es nicht um das Recht des Stärkeren oder um die faktische Ausübung angemaßter Kompetenz. Vielmehr soll die Kompetenz zur Machtausübung legitimiert sein, darf ihren Anspruch nicht allein aus sich selbst ableiten. Insofern steht in der Frage nach Macht und Recht zugleich die Ordnung der Welt zur Debatte. Das Mittelalter war nicht das einzige Zeitalter, in dem Religion eine letztgültige Begründung der Weltordnung anbieten wollte. Gleichwohl hat das Spätmittelalter sich auf die Dauer solche Begründung nicht ohne wichtige Differenzierungen gefallen lassen wollen. Die staatsrechtliche Bestimmung politischer Machtübung durch einen allgemeinen rechtlichen Rahmen, die wir in der Theorie Lupolds antrafen, ist ein Beispiel solcher Vorsicht: Nach Lupolds Meinung wird Macht durch Recht zwar legitimiert, dieses Recht aber ist staatsrechtlich fundiert, nicht primär geistlich oder religiös begründet. Recht erwächst geschichtlich aus Machtgebrauch, aber aus einem Machtgebrauch in rechtlicher Weise.65 Methode und Stoff seiner Argumentation nimmt unser Autor ganz aus der Kanonistik, aus dem Kirchenrecht. Aber er eliminiert zugleich den Papst aus einer politisch hochwichtigen Position, er entfernt ihn aus der Reichsverfassung. Lupolds Theorie kann somit als Säkularisierung der mittelalterlich-universalen Kaiservorstellung verstanden werden. Solche Säkularisierung freilich erfolgte nicht gegen uralte oder ureigenste Besitztümer der Kirche, sondern wies eher überspitzte, relativ „junge“ kirchliche Ansprüche zurück. Sie säkularisierte kirchliches Vorpreschen und gebrauchte dazu ursprünglich kirchliche Theoriearbeit. Künftig sollte der Papst den Kaiser immer weniger legitimieren. Er hatte ihn zunächst nurmehr noch zu krönen. Auch das freilich sollte nicht allzu häufig mehr geschehen. Es ist kein Wunder und gewiß kein Zufall, daß 150 Jahre nach Lupold, daß nach Karl V. im 16. Jahrhundert kein römischer Kaiser sich noch von einem Papst hat weihen und krönen lassen. Die Römerkaiser der Neuzeit begnügten sich 63
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Zuletzt dazu zusammenfassend G. MELVILLE, Ein Exkurs über die Präsenz der Gewalt im Mittelalter. Zugleich eine Zusammenfassung, in: Königliche Gewalt – Gewalt gegen Könige (wie Anm. 9), S. 119-134. Das ist der treffende Titel, den der Böhlau-Verlag Weimar, der posthumen Sammlung seiner kleinen Schriften gegeben hat: H. MITTEIS, Die Rechtsidee in der Geschichte. Gesammelte Abhandlungen und Vorträge, Weimar 1957. Lupold möchte daher auch die Angriffs- und Eroberungskriege Karls des Großen als „gerechte Kriege“ gelten lassen: vgl. etwa De iuribus, c. 7 (ed. MIETHKE / FLÜELER [wie Anm. 1], S. 301; ed. MIETHKE / SAUTER [wie Anm. 1], S. 108).
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mit dem Titel eines imperator Romanorum electus, ohne auf die universalen Ansprüche aus ihrem Titel verzichten zu wollen. Erst Napoleon sollte (1804) an sich eine neuartige Kaisersalbung von Papst Pius VII. vollziehen lassen. Napoleon aber setzte sich in Notre Dame in Paris die Kaiserkrone selber aufs Haupt. Die Krönung machte ihn auch nicht zum „Kaiser der Römer“ mit einem wie immer diffusen universalen Weltanspruch, sondern zum „Kaiser der Franzosen“. Auch die Habsburger sollten wenig später den Titel eines Kaisers von Österreich annehmen. Die Säkularisierung universaler Bedeutung des Herrschaftsanspruchs, wie sie auch Lupold von Bebenburg verfolgte, machte zugleich den Kaiser zu einem Herrscher in Deutschland. Bedeutsam dabei war, daß im Reich des 14. Jahrhunderts das Rennen um eine moderne säkulare Staatlichkeit noch keineswegs entschieden war. Lupold steht gleichsam noch vor dem Scheideweg der Verstaatungsprozesse in Deutschland, die aus dem Mittelalter in die Neuzeit führten. Noch war nicht ausgemacht, daß es den Landesfürsten in ihren Territorien viel besser gelingen sollte, die Früchte der Verstaatlichung politischer Herrschaft zu ernten, die in Europa sonst in aller Regel die Könige in ihre Scheuern einfahren durften, während der Kaiser mehr und mehr nur noch einem, wie Samuel Pufendorf (1667) schreiben sollte, wahrhaft ungeheuerlichen monstrum von Staatswesen vorstehen durfte.66 Ein monstrum hatte Pufendorf das Reich zu seiner Zeit genannt, weil er, wie er ausdrücklich schreibt, daran die Elle moderner Staatlichkeit anlegte. Daß Lupold von Bebenburg mehr als 300 Jahre zuvor einen anderen Weg gewiesen hatte, nämlich das mittelalterliche Reich der Römer selbst als Königreich unter Königreichen zu verstehen und seine Staatlichkeit zur Grundlage einer politischen Theorie auf kanonistischer Grundlage zu machen, das erklärt den Rang von Lupolds theoretischer Arbeit. Das mußte jedoch zugleich auch die Wirkung seines Entwurfs in der Zukunft begrenzen, wenn diese in eine andere Richtung lief, als er sie weisen wollte. Wir selber, am Ende eines klassischen Staatsdenkens aus der Perspektive des Nationalstaats in Europa stehend, sollten uns darum bemühen, aus einem Rückblick auf die mittelalterlichen Wurzeln modernen Staatsdenkens das schwierige
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Severini de Monzambano Veronensis [=Samuel Pufendorf], De statu imperii Germanici ad Laelium fratrem dominum Trezolani liber unus, Genevae [= s’Gravenshage] 1667, hier zitiert nach dem Druck: Samuel von Pufendorf, Die Verfassung des Deutschen Reiches, hg. und übers. von H. DENZER (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens 4), Frankfurt a.M./Leipzig 1994, hier c. VI § 9 (S. 198): Nihil ergo aliud restat quam ut dicamus Germaniam esse irregulare aliquod corpus et monstro simile, siquidem ad regulas scientiae civilis exigatur […]. Zu Pufendorf zusammenfassend D. WILLOWEIT, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, Berlin 1990, Sp. 105109; M. STOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1: 1600-1800, München 1988, S. 233-236, S. 282-284; zu den Entstehungsbedingungen der Schrift eingehend D. DÖRING, Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte der Reichsverfassungsschrift Samuel Pufendorfs, in: Der Staat 33 (1994), S. 185-206. Zur Debatte um das „Monstrum“ der Reichsverfassung J. HAAS, Die Reichstheorie in Pufendorfs „Severinus de Monzambano“. Monstrositätsthese und Reichsdebatte im Spiegel der politisch-juristischen Literatur von 1667 bis heute (Schriften zur Verfassungsgeschichte, 76), Berlin 2007.
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Verhältnis von Macht und Recht verstärkt ins Auge zu fassen gerade jetzt, wo wir uns zu neuen Ufern politischer Organisation aufmachen.
MACHT UND TRADITION Eine Einführung FRITZ-HEINER MUTSCHLER Im Jahre 213 v.Chr. gibt Qinshihuangdi, der chinesische Reichseiniger, der „Terrakottakaiser“, ein Festbankett.1 Während des Banketts entwickelt sich eine Debatte unter den Anwesenden. Der Kommandant der Bogenschützen preist den Kaiser für die Reichseinigung und die Etablierung friedlicher Verhältnisse, verkündet dem Reich eine Dauer von zehntausend Generationen und stellt fest, dass es für die Macht und Tugend des Kaisers in der Vergangenheit nichts irgendwie Vergleichbares gegeben habe. Der Gelehrte Chunyu Yue widerspricht. Er verweist auf die Shang- und die Zhou-Dynastie, die mehr als tausend Jahre gedauert hätten, weil jüngere Verwandte und verdiente Minister vom Herrscher mit den wichtigsten Lehen bedacht worden seien. Jetzt herrsche Qinshihuangdi über das gesamte Land zwischen den vier Meeren, seine Verwandten aber seien einfache Gemeine. Er frage sich, wie ohne die Hilfe loyaler Lehensfürsten die Dynastie dauerhaft gesichert werden könne. Überhaupt habe er noch nie von irgendetwas gehört, das von Dauer gewesen sei, ohne dass es sich auf frühere Vorbilder gestützt habe. Der Kaiser befiehlt seinen Ministern, das Problem zu diskutieren. Den entscheidenden Beitrag liefert sein Kanzler Li Si. Die Zeiten hätten sich bereits früher immer wieder geändert, weswegen schon die von Chunyu Yue genannten Dynastien nichts voneinander übernommen hätten. Dementsprechend sei es nicht sinnvoll, sich jetzt nach den früheren Dynastien zu richten. Die Gelehrten aber seien unfähig, sich auf neue Situationen einzustellen; sie studierten die Vergangenheit, um die Gegenwart zu kritisieren, und benützten ihre Gelehrsamkeit, um die Menschen zu verwirren. Ihre Diskussionen müssten verboten werden, wenn das Prestige des Herrschers nicht leiden solle. Deswegen schlage er vor, alle historischen Aufzeichnungen außer denen des Staates Qin, zu verbrennen, ebenso die alten Lieder und die Schriften der philosophischen Schulen. Dazu sollten diejenigen, die in Diskussionen die alten Lieder und Aufzeichnungen zitierten, öffentlich hingerichtet, diejenigen, die die alten Beispielfälle benutzten, um der neuen Ord1
Knappe Überblicksdarstellung Qinshihuangdis bei D. TWITCHETT / M. LOEWE (Hgg.), The Cambridge History of China, Bd. 1: The Ch’in and Han Empires, 221 B.C.-A.D. 220, Cambridge 1986 (mehrere Nachdrucke), S. 40-81. Die wichtigste Primärquelle zum Reichseiniger ist das 6. Kapitel von Sima Qians Shiji („Aufzeichnungen des Historikers“), dem ich eng folge. Übersetzungen des Kapitels in westliche Sprachen sind verfügbar: Les Mémoires historiques de Se-ma Ts’ien, trad. et ann. par E. CHAVANNES, 5 Bde., Paris 1895-1905, ND 1967, Bd. 2, S. 100246; Selections from the ‚Records of the Historian’ written by Szuma Chien, transl. by HS.YI. YANG / G. YANG, Peking 1979, S. 159-204; Sima Qian, Records of the Grand Historian: Qin Dynasty, transl. by B. WATSON, revised edition, Hong Kong/New York 1993, S. 35-83; The Grand Scribe’s Records, transl. by W. N. NIENHAUSER u.a., Bd. 1, Bloomington 1994, S. 87-125.
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nung Widerstand zu leisten, mitsamt ihren Familien vernichtet werden. Wenn dreißig Tage nach der Veröffentlichung dieses Erlasses die Besitzer einschlägiger Bücher dieselben noch nicht zerstört hätten, dann sollten ihre Gesichter straftätowiert und sie selbst zur Zwangsarbeit an der Großen Mauer verurteilt werden. Der Kaiser heißt den Vorschlag seines Ministers gut und setzt ihn in die Tat um. Die Bücherverbrennungen werden durchgeführt, und als es im Jahr darauf Schwierigkeiten mit einigen Gelehrten gibt, werden in zahlreichen Prozessen mehr als vierhundert von ihnen für schuldig befunden und in der Hauptstadt lebendig begraben als Warnung für das ganze Reich. Die Geschichte von der Verbrennung der Schriften und der Beerdigung der Gelehrten bei lebendigem Leib hat über zweitausend Jahre das historische Ansehen Qinshihuangdis wesentlich bestimmt. Jetzt, im Zeitalter der Dekonstruktion, wird sie hier und da in Zweifel gezogen und in ihr eine missgünstige Zuspitzung der Hanzeit gesehen.2 Auch in diesem Fall, ja in diesem Fall ganz besonders, repräsentierte sie ein eindrucksvolles Denkmodell. Was sie verdeutlicht, ist, dass selbst sozusagen geschichtslose Macht, frisch durch Waffengewalt errungen und für den Augenblick uneingeschränkt, in historischen und institutionellen Kontexten steht und dass sie angesichts des Problems ihrer eigenen Auf-Dauer-Stellung, und das heißt nicht zuletzt ihrer Legitimierung, gezwungen ist, sich mit den überkommenen Formen der Machtausübung, kurz also: mit der Tradition, ins Verhältnis zu setzen. Im vorliegenden Fall ist die gewählte Lösung radikal. Weil die Tradition nicht als Quelle möglicher Legitimation, sondern als Reservoir von Alternativen betrachtet wird, die den thetischen Charakter der gegenwärtigen Macht hervortreten lassen, wird entschieden, sie auszulöschen. In bewusster Entgegensetzung wird programmatisch der Anfangscharakter der neuen Dynastie betont und diese nun nicht von der Tradition, sondern von ihrer Ordnungsleistung und der Rationalität und Effizienz ihrer Maßnahmen her legitimiert. Das Ergebnis – und hierin liegt für die historiographische Tradition, der die Erzählung zugehört, natürlich die Pointe des Ganzen – ist allerdings nicht das erhoffte. Statt der angekündigten zehntausend Generationen dauert die Dynastie nur eine einzige und dazu ein paar Jahre, bis das Volk sich gegen Ershihuangdi – wörtlich: den „Zweite-Generation-Kaiser“ – erhebt und nach heftigen Kämpfen der Qin-Dynastie ein frühes Ende bereitet.3 Unsere Geschichte ist zwar für das Folgende, wie sich zeigen wird, als Kontrast und Parallele nicht ohne Interesse, doch sollte sie zunächst nur dazu dienen, das Thema der Sektion „Macht und Tradition“ an einem Beispielfall zu veranschaulichen. Als zweites ist ein kurzes Wort zur Zusammenstellung der nachfolgenden Beiträge angebracht. Sie hängt mit der thematischen Ausrichtung der Teilprojekte zusammen, die sich für die Tagung zur Behandlung des Themas „Macht und Tradition“ zusammengeschlossen hatten. Es waren dies die drei altertumswissen2 3
Dies gilt insbesondere für die Hinrichtung der Gelehrten. Vgl. TWITCHETT / LOEWE, Cambridge History of China (wie Anm. 1), S. 95-96. Vgl. ebd., S. 81-90.
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schaftlichen Teilprojekte, die in unterschiedlicher, aber komplementärer Akzentuierung mit dem antiken Rom befasst sind,4 und die beiden mediävistischen Teilprojekte, die sich mit dem mittelalterlichen Ordenswesen in Europa und mit den mittelalterlichen Städten Oberitaliens beschäftigen.5 Dass diese Teilprojekte sich das Sektionsthema „Macht und Tradition“ wählten, kam natürlich nicht von ungefähr. Denn wenn das Verhältnis zur Tradition auch eine grundsätzliche Dimension von Macht darstellt, so hat es doch in bestimmten historischen Epochen größere Bedeutung als in anderen. Zum Beispiel kommt ihm da besonderes Gewicht zu, wo es um traditionale Gesellschaften geht, also Gesellschaften, in denen die Tradition eine dominierende Rolle bei der Orientierung individuellen und kollektiven Handelns spielt. Nun ist dies ein Punkt, in dem die genannten Teilprojekte eine Gemeinsamkeit ihrer Gegenstandsbereiche sehen: Die Gesellschaften des antiken Rom und des europäischen Mittelalters waren traditionale Gesellschaften in dem eben skizzierten Sinn, und aus diesem Grund musste sich im Verlauf ihrer Geschichte das Problem „Macht und Tradition“ häufiger und immer wieder auch in schärferer Form stellen, als das bei weniger traditionsbestimmten Gesellschaften der Fall ist. Um dies kurz im Hinblick auf das antike Rom zu verdeutlichen: Wenn der Dichter Ennius in dem viel zitierten Vers moribus antiquis res stat Romana virisque die Stabilität und den Erfolg des römischen Staates auf die Orientierung am Überkommenen zurückführt6 und wenn Cicero davon spricht, dass der römische Staat ewig sein könnte, wenn man nur entsprechend den Einrichtungen und Gewohnheiten der Vorfahren leben würde: poterat esse perpetua, si patriis viveretur institutis ac moribus,7 dann sind dies ohne Zweifel Äußerungen eines traditional zu nennenden Denkens. Und da diese Äußerungen für das politische Denken der Römer repräsentativ sind, musste Macht sich im antiken Rom immer wieder zur Tradition ins Verhältnis setzen. Ähnliches kann ohne Zweifel auch für die Gesellschaften des europäischen Mittelalters behauptet werden, so dass es seinen guten Sinn hatte, wenn sich gerade das altertumswissenschaftlich-mediävistische Teilprojektcluster des Themas „Macht und Tradition“ annahm. Die Frage war freilich, in welcher Form dies am besten geschehen könne. Natürlich wurde daran gedacht, jeweils in diachronischen Überblicken Entwicklungslinien im Verhältnis von Macht und Tradition herauszuarbeiten. Doch entschied 4
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Teilprojekt A1 (Leitung F.-H. MUTSCHLER) „Der römische mos maiorum von den Anfängen bis in die augusteische Zeit. Literarische Kommunikation und Werteordnung“, Teilprojekt A2 (Leitung M. JEHNE) „Der römische mos maiorum von den Anfängen bis in die augusteische Zeit. Öffentliche Rituale und soziopolitische Stabilität“ und Teilprojekt V (Leitung M. BETTINI) „Mythische Fundierungen institutioneller Ordnungen und sozialer Normen im antiken Rom“. Teilprojekt C (Leitung G. MELVILLE) „Institutionelle Strukturen religiöser Orden im Mittelalter“ und Teilprojekt W (Leitung G. ANDENNA) „Stadtkultur und Klosterkultur in der mittelalterlichen Lombardei. Institutionelle Wechselwirkung zweier politischer und sozialer Felder“. Der Vers stammt aus dem nur fragmentarisch erhaltenen Epos Annales. Wie wir aus Augustin (De civitate Dei 2,21) wissen, hat Cicero ihn zu Beginn des 5. Buches von De re publica zitiert und ausführlich kommentiert. Cicero, De re publica 3,41.
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man sich für ein anderes Konzept. Statt weit ausgreifender Gesamtdarstellungen, die um der Konturierung der historischen Entwicklung willen bis zu einem gewissen Grad entproblematisieren und vereinfachen müssten, sollten Fallstudien geboten werden, die den Vorteil konkreter Anschaulichkeit und einer größeren Offenheit für Komplexität hätten. Allerdings sollten die untersuchten Fälle keine beliebigen sein, sondern sich durch historische Bedeutung und durch Exemplarität auszeichnen. Diese Bedingung erfüllen insbesondere Fälle von Umbrüchen, bei denen nicht nur ein neuer Machthaber oder eine neue Gruppe von Machthabern sich temporär durchsetzt, sondern zugleich tiefgreifendere Veränderungen der institutionellen Strukturen eintreten oder bewusst ins Werk gesetzt werden. Dass in solchen Fällen auch das Verhältnis von Macht und Tradition Brisanz gewinnt, liegt auf der Hand. Entsprechend der Gesamtkonzeption der Tagung wurden zunächst von Dresdner SFB-Mitgliedern zwei Fallbeispiele der beschriebenen Art untersucht: zum einen von Martin JEHNE das des Augustus und des Übergangs von der Republik zur Monarchie im alten Rom, zum anderen von Guido CARIBONI das der Errichtung des Regiments der Visconti in Mailand. In beiden Fällen geht es nicht nur um die Erringung konkreter Macht für den Augenblick, sondern auch um die Etablierung neuer Formen der Herrschaft, und dementsprechend ist hier wie da tatsächlich eine komplexe Positionierung der Macht gegenüber der Tradition zu beobachten. Andererseits gehören beide Fallbeispiele in historische Epochen, deren Unterschiedlichkeit durchaus dem zeitlichen Abstand von dreizehn Jahrhunderten entspricht. Dazu stehen sich in dem zum Weltreich überdehnten Stadtstaat Rom und der zu überregionaler Bedeutung gerade erst emporsteigenden Stadt Mailand institutionelle Gebilde von sehr unterschiedlicher Größe gegenüber. Aus der Absicht, diesen komparatistischen Ansatz endgültig in die Interkulturalität hinein zu erweitern, erklärt sich die fachliche Orientierung des von auswärts eingeworbenen Vortrags. Vom Thema her drängte sich bei der Einbeziehung anderer Kulturen China als Vergleichsobjekt ohne Zweifel auf. Die chinesische Gesellschaft war bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein das Musterbeispiel einer traditionalen Gesellschaft, was sich durch eine Fülle von Belegen dokumentieren ließe. Zwei sollen hier genügen. Der erste dürfte nicht sonderlich überraschen. Konfuzius sagt von sich u.a.: „Ich bin nicht mit Wissen geboren. Ich liebe das Altertum und erforsche es mit Eifer.“8 Schon erstaunlicher und um so bezeichnender für die Vergangenheitsorientierung der chinesischen Kultur ist, dass noch am Ende des 19. Jahrhunderts die wichtigste Reformbewegung der Zeit sich unter das Motto stellt: „Im Rückgriff auf das Altertum das Staatswesen reformieren.“9 Trotz dieser ausgeprägten Hochschätzung der Tradition gab es natürlich auch in China historische Veränderungen und Umbrüche, und zwar nicht zuletzt im 8 9
R. MORITZ (Hg.), Konfuzius. Gespräche (Lun-Yu), Leipzig 1982 (zahlreiche Nachdrucke), 7,20. „tuo-gu gai-zhi“ war das Motto, unter das Kang Youwei (1858-1927) und seine Anhänger 1898 ihren – von Kaiser Guangxu unterstützten, aber dann durch einen Putsch der Gegner unter der Kaiserinwitwe Cixi zu Fall gebrachten – Reformversuch (Hundert-Tage-Reform) stellten.
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politischen Bereich und in bezug auf die institutionellen Formen der Herrschaft. Ein solcher Fall, der Qinshihuangdis, wurde bereits angesprochen. Ein ebenso interessanter Fall bildet den Gegenstand des Beitrags von Helwig SCHMIDTGLINTZER: der Sturz der mongolischen Yuan-Dynastie und die Etablierung der Ming-Dynastie durch Zhu Yuanzhang. Da die Yuan-Dynastie eine Fremdherrschaft gewesen war, die sich indes stark sinisiert und viele der chinesischen Traditionen der Herrschaftsausübung weitergeführt oder wieder aufgenommen hatte, kann man sich denken, dass die Begründer der Ming-Dynastie bei den Versuchen, ihre neu erworbene Macht zu legitimieren, ein relativ komplexes Verhältnis zur Tradition entwickeln mussten. Die nachfolgenden Studien verzichten fast ganz auf explizite Komparatistik. Um dem Leser Anregungen zu eigenen vergleichenden Überlegungen zu geben, seien deswegen im voraus einige Bezüge zwischen den dann im Detail analysierten Fällen angesprochen. Eine auffällige Gemeinsamkeit liegt darin, dass in jedem der drei Fälle ein militärischer Sieg den neuen Machthaber in eine überlegene Position militärisch gestützter Erzwingungsmacht bringt, von der aus er zum einen als Garant des wiederhergestellten Friedens auftreten und zugleich versuchen kann, seine Macht und/oder die Macht seiner Familie auf Dauer zu stellen. Oktavian/Augustus wird nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges durch seine Siege bei Aktium (31 v.Chr.) und vor Alexandria (30 v.Chr.) zum mächtigsten Mann des römischen Reiches.10 In der siegreichen Armee steht ihm das entscheidende Machtmittel zur Verfügung, dessen Kontrolle er sich auch bei den unterschiedlichen konstitutionellen Arrangements der Folgezeit durchgehend sichert. Auf dieses Machtmittel gestützt „verlockt er alle“, um mit Tacitus zu sprechen, „durch die Süßigkeit des Friedens“11 und etabliert schließlich erfolgreich das julisch-claudische Kaiserhaus. Auch am Anfang der Begründung der Macht der Visconti in Mailand steht ein militärischer Sieg. Ottone Visconti wird vom Papst zum Bischof von Mailand geweiht, aber 1262 von den Mailändern verjagt. Erst nach dem entscheidenden militärischen Sieg im Jahr 1277 kann er nach Mailand zurückkehren und sein Amt antreten, in dem er sich ostentativ um die Überwindung der langjährigen Bürgerzwietracht bemüht.12 Schließlich kommt der Begründer der Ming-Dynastie Zhu Yuanzhang nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs zunächst einmal aufgrund seines militärischen Talents und der entsprechenden Siege an die Macht, und er bleibt auch im Folgenden bereit, seine Herrschaft bei Bedarf durch Anwendung von Gewalt zu sichern. Gleichzeitig tritt auch er als Wiederhersteller einer neuen, in diesem Fall sogar kosmisch orientierten Ordnung auf.13 Das zweite Element, das allen drei Fällen gemeinsam ist, betrifft das Thema „Macht und Tradition“ im engeren Sinn. In allen drei Fällen ist es so, dass die neu10 11 12 13
Vgl. JEHNE, unten S. 59-83. Tacitus, Annalen 1,2,1: cunctos dulcedine otii pellexit. Vgl. CARIBONI, unten S. 85-103. Vgl. SCHMIDT-GLINTZER, unten S. 105-127.
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en Machthaber nach der Erringung der ersten Verfügungsmacht ihre Herrschaft nicht zuletzt durch Anschluss an die Tradition zu legitimieren und zu festigen suchen. Dies gilt schon in Hinblick auf die formale Gestaltung der Herrschaft. Und zwar nicht nur für Zhu Yuanzhang, der ja „lediglich“ versucht, eine neue Dynastie in einem schon immer monarchisch strukturierten Staatsgebilde zu etablieren, und sich etwa, was bestimmte Elemente der Organisation der kaiserlichen Verwaltung betrifft (traditionelle Gliederung der Ministerressorts, Rekrutierung der Beamten durch Examina), an die Tradition anschließt (ohne freilich auf die Erprobung neuer Formen der Herrschaftsorganisation zu verzichten),14 sondern auch für Augustus und die Visconti, für die es darum geht, die Herrschaft eines Einzelnen und/oder einer einzelnen Familie in republikanisch geprägten Gemeinwesen durchzusetzen. In beiden Fällen sind die Akteure so geschickt, in ihren konstitutionellen Arrangements der Tradition zumindest formal Rechnung zu tragen. Der Prinzipat des Augustus ist letztlich erfolgreich, weil er die faktische Etablierung der Lenkung des Staates durch einen einzelnen mit der formalen Wiederherstellung der Republik verbindet und so der Tradition, dem mos maiorum, Rechnung trägt.15 Aber auch die Visconti nutzen neben dem Bischofsamt und dem kaiserlichen Vikariat die traditionellen Ämter der kommunalen Regierung zur Befestigung ihrer Macht.16 Die formelle Rücksichtnahme auf die Verfassungstradition stand freilich in Spannung zu den neuen Machtverhältnissen und konnte deren Legitimation deswegen nur bedingt leisten. Es ist deswegen nicht erstaunlich – und an dieser Stelle wird eine dritte Gemeinsamkeit deutlich –, dass von Augustus und den Visconti, aber in vergleichbarer Weise auch von Zhu Yuanzhang der Versuch gemacht wurde, die Rückbindung der eigenen Macht an die Tradition auch in Medien der symbolischen Repräsentation zu dokumentieren. Besondere Bedeutung kam hierbei Geschichtskonstruktionen zu, die die eigene Person bzw. Familie in zeitübergreifende Zusammenhänge einbanden, zumindest solche Zusammenhänge suggerierten. So ist etwa Augustus – unabhängig von Verfassungsfragen – intensiv darum bemüht, sich in Hinblick auf die äußere Situation Roms als traditionsbewusster Fortführer und Vollender der traditionellen, auf die – gerechte – Ausdehnung der römischen Herrschaft zielenden Politik zu präsentieren. In der Aeneis Vergils und im statuarischen Schmuck des Augustusforums, aber auch in den Res gestae des Prinzeps selbst kommen entsprechende Kontinuitätsbehauptungen eindrucksvoll zur Darstellung.17
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Vgl. SCHMIDT-GLINTZER, unten S. 105-127. Vgl. JEHNE, unten S. 59-83. Vgl. CARIBONI, unten S.85-103. Vgl. JEHNE, unten S. 59-83, sowie F.-H. MUTSCHLER, Geschichten und Legionen. Anmerkungen zu (Cicero, Caesar und) Augustus, in: G. MELVILLE / H. VORLÄNDER (Hgg.), Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 27-53.
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Auch für die Konsolidierung der Herrschaft der Visconti scheint das Legitimierungspotential solcher Konstruktionen genutzt worden zu sein. Sowohl in der den Visconti nahestehenden Geschichtsschreibung als auch in für die Öffentlichkeit bestimmten Werken der bildenden Kunst wird die Einbindung der Visconti in die kommunale Tradition, vor allem aber ihre Nachfolge des heiligen Ambrosius, der angeblich – wie die bedeutendsten Visconti – Bischofsamt und weltliche Leitung der Stadt in seiner Hand vereinigt hatte, hervorgekehrt.18 Ähnliche Legitimationsstrategien sind bei dem Begründer der Ming-Dynastie und bei seinen unmittelbaren Nachfolgern zu beobachten. Als Ergebnis der Beratung durch einen Teil seiner Literaten-Beamten lässt sich Zhu Yuanzhang zeitweise über anderthalb Jahrtausende hinweg auf das Vorbild Gaodis (um 200 v.Chr.), des Begründers der Han-Dynastie, festlegen.19 Und einige Jahre später spielt unter seinem Enkel und Nachfolger Fan Xiaoru (1398-1402) und unter seinem Neffen und indirekten Nachfolger Yongle (1403-1425), dem „zweiten Begründer der Ming-Dynastie“, eine noch ein knappes Jahrtausend weiter zurückreichende Berufung auf die Begründer der Zhou-Dynastie (um 1100 v.Chr.) eine prominente Rolle in den verschiedenen Legitimierungsdiskursen.20 Schließlich sei noch auf eine letzte Gemeinsamkeit zwischen den im Folgenden behandelten Fällen aufmerksam gemacht. In ihr deutet sich möglicherweise, wo nicht eine Gesetzmäßigkeit, so doch eine Tendenz bestimmter institutioneller Verläufe an: Wenn es in einem institutionellen Gefüge zu schwerwiegenderen Umbrüchen kommt, scheint oft ein doppelter Anlauf nötig, bevor die Neuerungen tatsächlich Dauer gewinnen. Der Grund hierfür liegt wohl nicht zuletzt darin, dass die Mehrzahl der Betroffenen meist der Beibehaltung des immerhin bekannten Status quo zuneigt und vor dem möglicherweise besseren, auf alle Fälle aber unbekannten neuen Zustand zurückzuweichen geneigt ist. Jedenfalls ist es auffällig, dass in allen hier behandelten Fällen eine „Doppelung des Anfangs“ vor der endgültigen Etablierung des neuen Zustandes zu beobachten ist. Bezüglich der Ming-Dynastie wurde das Phänomen gerade angesprochen. Die von Zhu Yuanzhang begründete neue Dynastie stand bei dessen Tod keineswegs auf so festen Füßen, dass es nicht bald zu erneuten bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen gekommen wäre, aus denen schließlich der genannte „zweite Begründer der Ming-Dynastie“ Yongle als Sieger hervorging und die Herrschaft der Ming endgültig etablieren konnte.21 Auch bei den Visconti findet sich eine zwar nicht ganz so dramatische, aber doch auch durch nochmalige Vertreibung und anschließende Rückkehr (des zweiten Visconti Matteo) charakterisierte Doppelung des Anfangs der Dynastie, vor allem aber in Ottone als dem Initiator der Herrschaft der Visconti und seinem 18 19 20 21
Vgl. CARIBONI, unten S. 85-103. Vgl. SCHMIDT-GLINTZER, unten S. 105-127. Vgl. ebd. Vgl. ebd.
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Großneffen und indirekten Nachfolger Giovanni als deren endgültigem Konfirmator die Doppelung zweier eindrucksvoller Gründergestalten.22 Einen noch eindrucksvolleren Fall dieser Art stellt freilich der zweifache Beginn des römischen Kaisertums und das Nebeneinander der zwei Gründerfiguren Caesar und Augustus dar. Hier ist zugleich die Verankerung des Phänomens in der Problematik des Institutionellen besonders deutlich. Wenn Institutionalität u.a. der Ausfluss des Bedürfnisses der Menschen ist, Dauer und Erwartbarkeit in den ständigen Wandel ihrer politischen und sozialen Verhältnisse zu bringen, dann ist verständlich, dass schwerwiegende Umbrüche der institutionellen Ordnung wie der von der libera res publica zum Kaisertum auf eine grundsätzliche Widerständigkeit stoßen, die erst in einem zweiten Anlauf, nachdem ein erster zwar gescheitert ist, aber das Terrain gleichwohl bereitet hat, überwunden werden kann. Neben dem römischen Kaisertum mit Caesar und Augustus gibt es ein zweites, ebenso exzellentes Beispiel von ebenso großer weltgeschichtlicher Bedeutung. Wir haben es zu Beginn dieser Einführung zur Hälfte kennen gelernt. Es handelt sich um die Etablierung des chinesischen Einheitsreiches. Denn die Geschichte Qinshihuangdis ist mit dem Scheitern seiner auf die Dauer von tausend Generationen angelegten Dynastie unter seinem Sohn, dem Zweite-Generation-Kaiser, noch nicht zu Ende. Nach mehrjährigen militärischen Auseinandersetzungen, die weite Teile des Reiches in Mitleidenschaft ziehen, setzt sich unter den verschiedenen Prätendenten für den Kaiserthron Liu Bang durch, der als Gaodi zum Begründer der Han-Dynastie wird, die dann tatsächlich vier Jahrhunderte dauert und der weitere Dynastien folgen, unter denen das chinesische Kaiserreich bis ins 20. Jahrhundert hinein fortbesteht. Auch das chinesische Einheitsreich hat also einen doppelten Anfang und in Qinshihuangdi und Gaodi zwei Gründerfiguren, wobei ebenso wie bei Caesar und Augustus der Erfolg des letzteren ohne die Vorgängerschaft des ersteren nicht denkbar gewesen wäre. Doch damit genug der vergleichenden Vorbetrachtungen. Sie sollten ja die Lektüre der nachfolgenden Beiträge weniger verzögern als dazu anregen, bei dieser Lektüre eigene komparatistische Betrachtungen anzustellen, um so den Spielarten des Institutionellen über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg nachzuspüren.
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Vgl. CARIBONI, unten S. 85-103.
DIE NEUKONSTRUKTION DER TRADITION ALS MACHTERHALTUNGS- UND MACHTSTEIGERUNGSPOLITIK DES AUGUSTUS MARTIN JEHNE Die römische Republik als eine Ordnung, in der Angehörige einer kleinen Führungsschicht im harten Wettbewerb miteinander um Ämter, Ehren und Einfluß rangen und die Öffentlichkeit der Politik auch breiteren Bevölkerungskreisen eine bescheidene Rolle in den Entscheidungsprozessen garantierte,1 diese res publica war im Gefolge eines Bürgerkriegs durch das persönliche Regiment Caesars abgelöst worden, der deshalb von einer Gruppe traditionsbewußter Senatoren ermordet wurde. Doch die Hoffnung auf die Wiederherstellung der althergebrachten res publica zerstob schnell in den Nachfolgekämpfen,2 und schon ein gutes Jahr nach dem Attentat auf Caesar wurde zunächst das sog. Triumvirat etabliert, ein Regime von drei Männern, von denen einer 36 v.Chr. zum Rückzug ins Privatleben genötigt wurde. Zwischen den verbliebenen Prätendenten, die das Reich unter sich aufgeteilt hatten, eskalierten die Spannungen bis zum großen Krieg, der mit der Schlacht bei Actium 31 v.Chr. zugunsten von Octavian vorentschieden wurde. Octavian, der Adoptivsohn des großen Caesar und spätere Augustus, mußte zwar 30 v.Chr. noch nach Ägypten ziehen und seinen langjährigen Rivalen M. Antonius und dessen wichtigste Helferin Kleopatra in den Selbstmord treiben, doch trotz der weiterhin nicht unbedeutenden militärischen Potentiale des Gegenseite war der endgültige Sieg Octavians nun sehr wahrscheinlich geworden.3 Daß für den Histo1
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Wie man sieht, bin ich nicht der Auffassung, die römische Republik sei als Demokratie zu klassifizieren. Vgl. zu der Debatte jetzt M. JEHNE, Methods, Models, and Historiography, in: N. ROSENSTEIN / R. MORSTEIN-MARX (Hgg.), A Companion to the Roman Republic, Oxford 2006, S. 3-28. Zur insgesamt geringen Partizipation an der stadtrömischen Politik vgl. DENS., Who Attended Roman Assemblies? Some Remarks on Political Participation in the Roman Republic, in: F. MARCO SIMÓN / F. PINA POLO / J. REMESAL RODRÍGUEZ (Hgg.), Repúblicas y ciudadanos: modelos de participación cívica en el mundo antiguo (Instrumenta 21), Barcelona 2006, S. 221-234. – Ich danke K.-S. REHBERG (Dresden) für eine Durchsicht dieses Beitrages und wichtige Hinweise. Vgl. zu den Auseinandersetzungen nach Caesars Tod vor allem U. GOTTER, Der Diktator ist tot! Politik in Rom zwischen den Iden des März und der Begründung des Zweiten Triumvirats (Historia Einzelschriften 110), Stuttgart 1996. Der Ansicht, der Ausgang des Krieges sei nach Actium noch völlig offen gewesen (so S. BENNE, Marcus Antonius und Kleopatra VII. Machtaufbau, herrscherliche Repräsentation und politische Konzeption [Göttinger Forum für die Altertumswissenschaft. Beihefte 6], Göttingen 2001, S. 149f., vgl. auch die dort zitierte Literatur), kann ich mich nicht anschließen. Aus dem von BENNE a.O., S. 150 zugestandenen Faktum, daß viele Anhänger des Antonius zu Octavian übergelaufen waren, sollte man nicht nur mit BENNE folgern, das habe die Niederlage größer erscheinen lassen als sie war, sondern man muß doch auch annehmen, daß die Loyalität der verbliebenen Soldaten und Offiziere des Antonius durch diese Ereignisse nicht unbedingt gefestigt wurde.
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riker Cassius Dio in seiner mehr als zweieinhalb Jahrhunderte später verfaßten „Römischen Geschichte“ die Monarchie gleich nach Actium beginnt,4 ist daher eine durchaus angemessene Einschätzung der Lage. Mit der Ausschaltung seines letzten Konkurrenten war Octavian faktisch Alleinherrscher im römischen Reich. Seine Position speiste sich zunächst einmal aus einem überragenden Potential direkter Durchsetzungsmacht, d.h. an weitreichenden Möglichkeiten, Widerstand gegen den eigenen Willen zu unterdrücken. Dieses Potential basierte auf der unangefochtenen Kommandogewalt über den größten Teil der römischen Armee und die damit verbundene Option, physische Gewalt anzuwenden. Da Octavian in den zurückliegenden Jahren eindrucksvoll und nachhaltig demonstriert hatte, daß bei ihm hinter der Möglichkeit auch die Bereitschaft zum Gewalteinsatz stand,5 mußte den Reichsbewohnern des griechisch geprägten Ostens, der lange Jahre unter der Kuratel des Antonius gestanden hatte, die Anpassung an die neue Machtlage überlebenswichtig erscheinen. So ist es nicht verwunderlich, daß sie durch einen Strom von Gesandtschaften an ihren neuen Herrscher den gewandelten Machtverhältnissen zur öffentlichen Darstellung verhalfen.6 Die Gravitation der Macht, die Kommunikationsinitiativen und Entscheidungsbedürfnisse anzieht, machte Octavian eben schon im Winter 31/30 zum Magneten des östlichen Mittelmeerraums. Zwischen dem Sieg bei Actium am 2. September 31 und der Rückkehr nach Italien und Rom Mitte des Jahres 29 v.Chr. war Octavian im östlichen Mittelmeerraum zwar als Consul auch offizieller Repräsentant des römischen Gemeinwesens, doch basierte der Gehorsam, den er überall fand, ganz wesentlich auf seinem Gewaltpotential. Dies kommt in bezeichnender Weise im diplomatischen Formular zum Ausdruck, das uns in einigen zufällig erhaltenen Inschriften aus dieser Zeit entgegentritt.
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Daß also die Truppen des Antonius in Massen desertierten, als Octavian nach Ägypten vorrückte, war beileibe keine Sensation. Dio 51,1,1f.; 56,30,5; vgl. F. MILLAR, The First Revolution: Imperator Caesar, 36-28 BC, in: A. GIOVANNINI (Hg.), La révolution romaine après Ronald Syme. Bilans et perspectives (Entretiens sur l’antiquité classique 46), Vandoeuvres/Genève 2000, S. 1-30, hier S. 19. Dio gibt auch andere Daten für den Beginn der Monarchie an (29: Dio 52,1,1; 41,3f.; 27: 53,17,1), vgl. die ausführliche Diskussion bei B. MANUWALD, Cassius Dio und Augustus. Philologische Untersuchungen zu den Büchern 45-56 des dionischen Geschichtswerkes (Palingenesia 14), Wiesbaden 1979, S. 77-100. Die mögliche Inkonsistenz ist hier nicht relevant (sie deutet ohnehin eher auf Unsorgfältigkeit als auf unterschiedliche Quellen, vgl. J. W. RICH, Cassius Dio: The Augustan Settlement [Roman History 53-55.9], Warminster 1990, S. 14), entscheidend ist vielmehr: Der Einschnitt wird in der Schlacht bei Actium gesehen, nicht im Tod des Antonius und dem der Kleopatra und in der Annektion Ägyptens. Besonders nachhaltig wirkten die Proscriptionen von 43, die man allerdings auch Antonius anlasten konnte, und der Perusinische Krieg 41/40, als Octavian die Honoratioren des aufständischen Perusia am Altar des Divus Iulius hinschlachten ließ (Sueton, Augustus 15; Dio 48,14,3-5; Appian, Bella civilia 5,48f. [201-204]). Vgl. MILLAR, First Revolution (wie Anm. 4), S. 20.
Die Neukonstruktion der Tradition
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In Briefen an die syrische Gemeinde Rhosos und die karische Stadt Mylasa von 31 v.Chr. sowie in einem an die Ephesier wohl aus derselben Zeit findet sich als Grußformel des Octavian: „Wenn es euch gut geht, ist das fein. Mir und dem Heer geht es gut.“7 Nun hatte Octavian diese Formel nicht erfunden; der Wunsch, der Kommandeur und das Heer möge sich wohlauf befinden, war in der späten Republik bei Korrespondenz mit römischen Heerführern offenbar gängig und brachte die entsprechende Antwort hervor.8 Doch wurde darin eben das Truppenkommando als Kern der Stellung besonders herausgehoben und so die direkte Durchsetzungsmacht nach außen gekehrt. Nach Erringung der Alleinherrschaft nahmen die Provinzbewohner, die sich an den neuen Herrscher wandten, offenbar weiterhin die militärische Gewalt als das zentrale Element der Position Octavians wahr. Mit seiner Rückkehr nach Rom änderte sich das: Das zivile Antlitz, das Octavian nunmehr für seine Alleinherrschaft konstruierte, vertrug sich nicht mehr mit der Betonung des militärischen Erzwingungspotentials, so daß sich zwar nicht das Oberkommando erledigte, wohl aber das Formular änderte. Die Erwähnung des Heeres und seines Wohlbefindens verschwand aus den Kaiserbriefen. Die Etablierung des augusteischen Herrschaftssystems nach dem Sieg im Bürgerkrieg läßt sich als Intransivierung seiner überragenden transitiven Machtstellung beschreiben. Die Differenzierung zwischen transitiver und intransitiver Macht hat Gerhard GÖHLER entwickelt.9 Seinen Typus der transitiven Macht leitet er weitgehend von der berühmten Definition Max WEBERs her,10 wobei GÖHLER allerdings die konfrontative Durchsetzung betont und somit das Nullsummenspiel, das dabei zwischen dem erfolgreich Macht ausübenden Akteur und dem widerwillig Macht
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R. K. SHERK, Roman Documents from the Greek East. Senatus consulta and epistulae to the Age of Augustus, Baltimore 1969, Nr. 58 Z. 75f. (Rhosos) und Nr. 60 Z. 5f. (Mylasa); AE 1993, 1461 Z. 8f. (Ephesos). Vgl. MILLAR, The First Revolution (wie Anm. 4), S. 20-28 (aber ohne den im Text hervorgehobenen Punkt). Die Formel lautet: καὶ αὐτὸς δὲ μετὰ τ[οῦ] στρατεύματος ὑγίαινον (SHERK, Nr. 60 Z. 5f.). Vgl. J. REYNOLDS, Aphrodisias and Rome (Journal of Roman Studies Monographs 1), London 1982, S. 45 mit Belegen. Vgl. G. GÖHLER, Der Zusammenhang von Institution, Macht und Repräsentation, in: DERS. u.a. (Hgg.), Institution – Macht – Repräsentation. Wofür politische Institutionen stehen und wie sie wirken, Baden-Baden 1997, bes. S. 38-46; DERS., Constitution and Use of Power, in: H. GOVERDE / P. G. CERNY / M. HAUGAARD / H. H. LENTNER (Hgg.), Power in Contemporary Politics. Theories, Practices, Globalizations, London/Thousand Oaks/New Delhi 2000, S. 41-58; DERS., Macht, in: DERS. / M. ISER / I. KERNER (Hgg.), Politische Theorie. 22 umkämpfte Begriffe zur Einführung, Wiesbaden 2004, S. 244-261. M. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hg. von J. WINCKELMANN, Tübingen 51972, S. 28: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ GÖHLER, Zusammenhang (wie Anm. 9), S. 38f.; DERS., Constitution (wie Anm. 9), S. 43; DERS., Macht (wie Anm. 9), S. 258 beruft sich für die transitive Macht dezidiert auf WEBER.
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erleidenden Akteur entsteht.11 Damit wird WEBERs entscheidender Nachsatz („gleichviel worauf diese Chance beruht“) nicht voll gewürdigt. Zwar gesteht GÖHLER selbstverständlich zu, daß der Schwächere in einer bilateralen Machtbeziehung nicht machtlos ist, daß Macht nicht ohne Gegenmacht konzeptualisierbar ist und der Stärkere gut beraten ist, wenn er die Widerstandsund Ausweichpotentiale des anderen einbezieht.12 Aber dennoch bleibt für GÖHLER die Relation ein Nullsummenspiel. GÖHLERs Typus der intransitiven Macht baut vor allem auf Überlegungen Hannah ARENDTs auf.13 Intransitive Macht wird bestimmt als gemeinsamer, symbolisch präsenter Handlungsraum, der die Gemeinschaft erst ermöglicht und dessen Regularien zum einen das Zusammenwirken und damit den Machtzuwachs erlauben, zum anderen die Handlungsoptionen der Akteure begrenzen.14 Intransitive Macht läßt also ein Positiv-Summen-Spiel zu, bettet aber auch transitive Machtaktionen ein.15 Wichtig scheint mir, daß transitive und intransitive Macht nicht – wie die Termini nahelegen – in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen, sondern daß die beiden Formen normalerweise miteinander verschränkt sind.16 Mit der Diagnose einer intransitiven Machtbeziehung wird also ein bestimmter Aspekt markiert oder ein Dominanzverhältnis behauptet, nicht aber die Existenz transitiver Machtrelationen in diesem intransitiven Geflecht ausgeschlossen. Zudem macht GÖHLER darauf aufmerksam, daß die Auf-DauerStellung einer Gemeinschaft mit der zwangsläufigen Ablösung vom rein Situativen durch Institutionalisierungsprozesse hervorgebracht wird.17
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Vgl. GÖHLER, Constitution (wie Anm. 9), S. 43f. Vgl. ebd., S. 44. H. ARENDT, Macht und Gewalt (Serie Piper 1), München 1970 (vgl. die Definition S. 45); DIES., Vita activa oder Vom tätigen Leben (Serie Piper 217), München 1981, S. 193-199. Vgl. GÖHLER, Constitution (wie Anm. 9), S. 45-50. Vgl. ebd., S. 45; S. 48f.; S. 50. Vgl. aber ebd., S. 42: „What is required, then, is that the two conceptions [sc. von Max WEBER und von Hannah ARENDT] concern different aspects of power which cannot be reduced to one basic concept, but must be seen as coexisting in complementary relationship to each other.“ Mir leuchtet ein, daß die beiden Formen nicht auf ein gemeinsames Grundkonzept zurückgeführt werden können, aber ich sehe sie nicht als komplementär, sondern als sich partiell überschneidend. Bei GÖHLER, Macht (wie Anm. 9), S. 258 findet sich jetzt der Ansatz, eine Differenzierung beider Machtdimensionen in jeweils eine aktuelle und eine potentielle vorzunehmen. Das basiert auf guten Beobachtungen, doch sehe ich nicht so recht, wie sich bei seiner transitiven Macht die Durchsetzungsmöglichkeit als „capacity“ von der „Einflußnahme“ als aktueller Form trennen läßt, wenn sich doch die Einflußnahme oft so vollzieht, daß sich die Macht Erleidenden in auf Erfahrung gegründeter Antizipation der Durchsetzungsmöglichkeiten der Macht Ausübenden (vgl. GÖHLER a.O., S. 256) an deren Wünsche anpassen. GÖHLER, Constitution (wie Anm. 9), S. 49.
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Mit dieser, hier nur skizzierten Begrifflichkeit läßt sich, so meine ich, der Vorgang der Entstehung des recht eigentümlichen Principats des Augustus gut erfassen,18 wobei man die beiden Typen der Macht noch in einem Entwicklungsprozeß verbinden kann: Der Überschuß an transitiver Macht, der dem Sieger in einer Kette von Bürgerkriegen infolge der Dominanz physischer Gewalt in den Konkurrenzkämpfen zuwuchs, wurde durch den Ausbau intransitiver Machtformen vermindert und gedämpft.19 In einem durchaus von Augustus gesteuerten oder jedenfalls aktiv beeinflußten Institutionalisierungsprozeß wurde der gemeinsame Handlungsraum, in dem Augustus mit den Angehörigen der Führungsschicht ebenso wie mit den traditionellen Kommunikationspartnern aus dem römischen Volk zusammenwirken konnte, zunehmend ausgebaut und gesichert. Das Spannungsverhältnis zwischen transitiver und intransitiver Macht blieb allerdings bestimmend für die Zeit des Augustus und darüber hinaus, und die intransitiven Formen waren einerseits so wichtig und andererseits so kompliziert, daß die Nachfolger des grandiosen Politikers Augustus das Spiel nicht in gleicher Weise beherrschten, was Friktionen in unterschiedlicher Form und Intensität hervorrief. Nun gehört ein solches Spannungsverhältnis wohl zu jeder staatlichen Struktur, da auf Erzwingungsmacht nicht verzichtet werden kann, deren Einsatz jedoch vermieden werden soll. Aber die Spielarten sind unterschiedlich, und ein monarchisches System, das keines sein darf, leidet zweifellos besonders unter Konflikteskalationen, in denen die transitive Macht des Herrschers bis hin zum Gewalteinsatz offen zutage tritt. 30 v.Chr. war die militärische, ökonomische und soziale Macht des Octavian überwältigend, das riesige Imperium war auf ihn ausgerichtet. Wenn er aber in Rom nicht nur auf permanenter Repression basierenden Gehorsam finden, sondern eine tiefer gehende Akzeptanz erreichen wollte, dann mußte er seine Macht in Formen kleiden, gegen die gerade in der Führungsschicht, deren Macht durch die des Octavian erheblich vermindert wurde, nicht wirksam anargumentiert werden konnte. Erstrebenswert war dabei nicht nur die Einlagerung seiner Herrschaft in die senatorischen Horizonte der nüchternen Kalkulation des gegenwärtig Machbaren, sondern auch in die imaginierte Welt der Wünsche und Hoffnungen jedenfalls in der Weise, daß sich der augusteische Principat nicht in einem diametralen Gegensatz zu dem befand, wie sich die römische Führungsschicht ihre politische Ordnung erträumte. Octavian mußte sich daher wieder stärker in gemeinsame Handlungsräume mit den relevanten Gruppen integrieren, in denen alle Akteure mit leidlich berechenbaren Konsequenzen agieren und auch einmal gewinnen konnten, die er aber auch noch hinreichend steuern konnte, damit sich seine Vorzugsstellung nicht auflöste. 18
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Vgl. auch R. PFEILSCHIFTER, Spielarten der Macht. Augustus und die Begründung einer neuen Herrschaftsform, in: A. BRODOCZ / C. O. MAYER / R. PFEILSCHIFTER / B. WEBER (Hgg.), Institutionelle Macht. Genese – Verstetigung – Verlust, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 57-73. GÖHLER, Constitution (wie Anm. 9), S. 49 faßt den Vorgang als Transformation (bis zu einem gewissen Grade) der Fremdbezüglichkeit transitiver Macht zur Selbstbezüglichkeit intransitiver Macht.
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Akzeptierte Handlungs- und Kommunikationsformen bietet die Tradition, und in Rom war dies in besonderem Maße der Fall. Denn in der römischen Republik war die Orientierung am mos maiorum, den Bräuchen der Vorfahren, ganz zweifelsfrei positiv besetzt, das Wandeln in den Spuren der Tradition war ein entscheidender Legitimationsquell politischen Handelns.20 Diese Grundorientierung war an sich noch nicht ungewöhnlich. Bekanntlich ist der Fortschrittsglauben, der in der Veränderung grundsätzlich eine Verbesserung zu sehen geneigt ist, eine Entwicklung der Neuzeit, und eine gewachsene Verfassung wie die römische, in der ohnehin nur das jurifiziert wird, was in Konflikten strittig geworden ist, basiert auf der selbstverständlichen Reproduktion üblicher Verhaltensweisen.21 Dennoch ging die römische Grundorientierung auf die Tradition über die allgemeinen Reflexe, sich von Neuerungen nichts Gutes zu erwarten und die Vergangenheit als eine rosige zu konstruieren, wohl erheblich hinaus, was vermutlich wesentlich mit dem Krisenbewußtsein des letzten Jahrhunderts der Republik zu tun hat: In diesem Gefühl, daß die gegenwärtige Lage des Gemeinwesens deplorabel sei und der Restabilisierung bedürfe, aber keine Mittel zu sehen seien, wie man dem Verfall entgegenwirken könne,22 wurde die Vergangenheit in ungeahnter Weise zum Gegenstand der Beschäftigung und der Glorifizierung.23 Ein Symptom war die antiquarische Forschung, die mit ungeheurer Liebe auch zum abstrusen Detail alte Formen durch Sammlung und Speicherung vor dem Vergessen bewahren wollte und dabei zahllose Zusammenhänge konstruierte, aus denen ein Universum der 20
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Zum mos maiorum vgl. v.a. W. BLÖSEL, Die Geschichte des Begriffes mos maiorum von den Anfängen bis zu Cicero, in: B. LINKE / M. STEMMLER (Hgg.), Mos maiorum. Untersuchungen zu den Formen der Identitätsstiftung und Stabilisierung in der römischen Republik (Historia Einzelschriften 141), Stuttgart 2000, S. 25-97; M. BETTINI, Mos, mores und mos maiorum. Die Erfindung der „Sittlichkeit“ in der römischen Kultur, in: M. BRAUN / A. HALTENHOFF / F.-H. MUTSCHLER (Hgg.), Moribus antiquis res stat Romana. Römische Werte und römische Literatur im 3. und 2. Jh. v.Chr. (Beiträge zur Altertumskunde 134), München/Leipzig 2000, S. 303-352. Zu den exempla, den vorbildhaften und handlungsanleitenden Taten der Vorfahren, vgl. etwa M. STEMMLER, Auctoritas exempli. Zur Wechselwirkung von kanonisierten Vergangenheitsbildern und gesellschaftlicher Gegenwart in der spätrepublikanischen Rhetorik, in: LINKE / STEMMLER, Mos maiorum (wie oben), S. 141-205; jetzt F. BÜCHER, Verargumentierte Geschichte. Exempla Romana im politischen Diskurs der späten römischen Republik (Hermes Einzelschriften 96), Stuttgart 2006. Zum Begriff der gewachsenen Verfassung vgl. C. MEIER, Res publica amissa. Eine Studie zu Verfassung und Geschichte der späten römischen Republik, Frankfurt a.M. ²1980, S. 56f.; S. 119f.; S. 124-126; S. 157-159; S. XXII-XXVIII; DENS., Introduction à l’anthropologie politique de l’Antiquité classique, Paris 1984, S. 63-70; S. 79-81. Zur Jurifizierung des mos J. BLEICKEN, Lex publica. Gesetz und Recht in der römischen Republik, Berlin 1975, S. 387-393. Vgl. MEIER, Res publica amissa (wie Anm. 21), S. 150f.; S. 201-205; S. 302-306; S. XXXf.; S. XLIII-LIII. Siehe auch die klassische Formulierung des Livius, der im Vorwort seines in frühaugusteischer Zeit begonnenen Geschichtswerks diagnostizierte: […] nec vitia nostra nec remedia pati possumus […] (praef. 9). Zum Umgang mit der Vergangenheit in Rom vgl. jetzt das eindrucksvolle Werk von U. WALTER, Memoria und res publica. Zur Geschichtskultur im republikanischen Rom (Studien zur Alten Geschichte 1), Frankfurt a.M. 2004.
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römischen Identität entstand.24 In dieser Landschaft von Orientierungen und Sehnsüchten mußte sich Octavian bewegen, als er 29 aus dem Osten zurückkehrte und einer unübersehbaren Innovation, der Existenz eines einsam über allen anderen großen Männern thronenden Machthabers, zur Akzeptanz verhelfen wollte. Nun verschlossen sich die Römer natürlich nicht vollkommen allen Neuerungen. Innovationen wurden vielmehr des öfteren als unvermeidlich angesehen und in gewissen Situationen auch begrüßt. Doch blieben sie mit dem Notstand verbunden, der zu neuen Mitteln und Verhaltensweisen zwang. Bezeichnend ist die Argumentation Ciceros in seiner Rede über das Imperium des Cn. Pompeius 66 v.Chr., mit der er der Auffassung entgegentritt, es dürfe nichts Neues gegen die Beispiele und Einrichtungen der Altvorderen eingeführt werden.25 Cicero erklärt dagegen, daß die Vorfahren sich im Frieden an das Althergebrachte, im Krieg aber an das Nützliche gehalten und stets auf neue Umstände der Zeitläufe mit neuen Maßnahmen reagiert hätten.26 Es folgt dann eine Aufzählung von Neuerungen vor allem im Kontext der Karriere des großen Pompeius, den Cicero hier unterstützt.27 Daß die normalen Regeln aber für Pompeius immer wieder suspendiert worden waren, hing wesentlich mit Kriegen zusammen und leitete sich damit aus Situationen ab, in denen man – so jedenfalls Ciceros verführerische Theorie – um der Nützlichkeit willen zur Flexibilität genötigt war. Damit trennte Cicero aber die Neuerungen von der Normalität und verband sie mit dem Notstand,28 was wohl 24
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Vgl. dazu C. MOATTI, La construction du patrimoine culturel à Rome aux Ier siècle avant et Ier siècle après J.-C., in: M. CITRONI (Hg.), Memoria e identità. La cultura romana costruisce la sua immagine, Florenz 2003, S. 81-98; siehe auch schon DIES., La crise de la tradition à la fin de la République Romaine à travers la littérature juridique et la science des antiquaires, in: M. PANI (Hg.), Continuità e trasformazioni fra repubblica e principato, Bari 1990, S. 31-45; DIES., La raison de Rome. Naissance de l’esprit critique à la fin de la République, Paris 1997, S. 100-155; M. FUHRMANN, Erneuerung als Wiederherstellung des Alten. Zur Funktion antiquarischer Forschung im Spätrepublikanischen Rom, in: R. HERZOG / R. KOSELLECK (Hgg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987, S. 131-151. Cicero, De imperio Cn. Pompei 60: At enim ne quid novi fiat contra exempla atque instituta maiorum. Dies ist das Argument des Q. Lutatius Catulus, des princeps senatus, gegen die Kreierung außerordentlicher Kommandovollmachten für den Krieg gegen die Seeräuber. Cicero, De imperio Cn. Pompei 60: Non dicam hoc loco maiores nostros semper in pace consuetudini, in bello utilitati paruisse, semper ad novos casus temporum novorum consiliorum rationes accomodasse, […] Die Eröffnung mit non dicam ist keine Distanzierung vom folgenden Inhalt, sondern eine klassische praeteritio, d.h. Cicero redet eben doch über das, von dem er vorgibt, er wolle gar nicht davon reden. Cicero, De imperio Cn. Pompei 60-64. Darin ist auch impliziert, daß der Frieden für Cicero die Normalität darstellt. Wie M. KOSTIAL, Kriegerisches Rom? Zur Frage von Unvermeidbarkeit und Normalität militärischer Konflikte in der römischen Politik (Palingenesia 55), Stuttgart 1995, besonders S. 166-174 betont hat, ist dies die römische Position, was die politische Theorie angeht: bellum-iustum-Ideologie und Fetialrecht binden den Krieg an Unrechtshandlungen des Gegners und an feste Formen der Kriegserklärung. Doch überschätzt KOSTIAL die Bedeutung dieses Ergebnisses für eine Gesellschaft, in der die Kriterien für den gerechten Krieg so dehnbar waren und die Bereitschaft, sich in eigenen Ansprüchen und Rechten verletzt zu fühlen, so ausgeprägt, daß man fast ständig Krieg führte und
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den Bewußtseinszustand der Römer seiner Zeit insgesamt ganz gut einfängt. Das hatte Konsequenzen für die Aufgabe, der sich Octavian zu stellen hatte: Wenn er nicht den Notstand, den die Bürgerkriegszeit einleuchtend verkörpert hatte, perpetuieren wollte, mußte er zum an der Tradition ausgerichteten Verhalten zurückkehren. Die Sehnsucht nach Frieden war groß, und mit dem Frieden hatte Cicero die Befolgung der alten Bräuche verknüpft. Am 11. Januar 29, als Octavian noch im Osten weilte, wurden per Senatsbeschluß die Pforten des Janustempels geschlossen, die in Kriegszeiten immer offen zu stehen hatten.29 Man weiß nicht, ob diese Maßnahme von Octavian veranlaßt worden ist, doch jedenfalls rühmt er sich noch in seinem Tatenbericht, es sei erst zum dritten Mal in der ruhmreichen Geschichte Roms zu einer solchen Schließung gekommen.30 Dieser hochsymbolische Akt, für den man auch bereit war, kleinere Kampfhandlungen in Ägypten, Spanien und am Rhein zu ignorieren, führte den Bürgern Roms klar vor Augen, daß die Bürgerkriege nun vorbei waren.31 Die Rückkehr zu normalen Zuständen war damit annonciert, bevor der Sieger heimkehrte. In seinem Tatenbericht beschreibt Augustus die Lage und sein Handeln rückblickend folgendermaßen: In meinem 6. und 7. Consulat (also 28 und 27 v.Chr.), als ich die Bürgerkriege ausgerottet hatte, nachdem ich durch allgemeinen Konsens potens rerum omnium, also mit Macht über alle Angelegenheiten versehen gewesen war,32 da habe ich das Gemeinwesen aus meiner Gewalt in die Obhut des Senats und des römischen Volkes transferiert.33 Augustus selbst sieht sich also bis 29 im Zustand der unbegrenzten Macht, die res publica, also das Gemeinwesen, vielleicht auch das Gemeinwesen in seiner traditionellen Form, befindet sich in seiner potestas, in seiner Befehlsgewalt, seine transitive Macht ist umfassend.
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sich die Gesellschaftsstrukturen an dieser Tatsache ausrichteten. Vgl. zu den Defiziten des Buches von KOSTIAL W. V. HARRIS, Rez. Kostial, in: Gnomon 72 (2000), S. 561-563. Dio 51,20,5. Res gestae divi Augusti 13. Vgl. J. BLEICKEN, Augustus. Eine Biographie, Berlin 1998, S. 300f. Der Ausdruck potens, gegen MOMMSENs Ergänzung potitus schon begründet von D. KRÖMER, Textkritisches zu Augustus und Tiberius (Res gestae c. 34 – Tac. Ann. 6,30,3), in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 28 (1978), S. 127-144, ist jetzt durch den Neufund eines Fragments im pisidischen Antiochia gesichert, vgl. P. BOTTERI, L’integrazione mommseniana a Res gestae Divi Augusti 34,1 „potitus rerum omnium“ e il testo greco, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 144 (2003), S. 261-267 (besonders S. 263); W. D. LEBEK, Res gestae Divi Augusti 34,1: Rudolf Kassels potens rerum omnium und ein neues Fragment des Monumentum Antiochenum, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 146 (2004), S. 60. Res gestae divi Augusti 34,1: In consulatu sexto et septimo, postquam [b]ella [civil]ia exstinxeram per consensum universorum [pot]ens rer[u]m om[n]ium rem publicam ex mea potestate in senat[us popul]ique [Rom]ani [a]rbitrium transtuli. Die Klammerung folgt der Integration des neuen Fragments bei LEBEK, Res gestae (wie Anm. 32), S. 60.
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Doch schon 28 – und keineswegs erst mit den großen Staatsakten vom Januar 27, die in der Forschung oft als Beginn des augusteischen Principats markiert werden34 – begann er damit, die res publica an Senat und Volk zu übergeben. Wie er weiter berichtet, wurde er für dieses sein Verdienst mit großen Ehrungen belohnt wie etwa mit dem Augustusnamen,35 womit wir bei der großen Senatssitzung vermutlich am 15. Januar 27 angekommen sind.36 Danach resümiert er seine Stellung mit der berühmten Formulierung: Nach dieser Zeit habe ich alle an auctoritas überragt, ich habe aber nichts an potestas mehr gehabt als die übrigen, die mir in jeder Magistratur Kollegen gewesen sind.37 Die auctoritas des Augustus, seine auf Verdiensten und Leistungen beruhende Autorität, die nicht auf physische Gewalt zurückgreift, ist also nach der Übergabe der res publica an die traditionell zuständigen Organe und dem angemessenen Empfang großer Ehrungen singulär, hier kann ihm niemand mehr das Wasser reichen. Seine potestas, die Befehlsmacht, wie sie römischen Oberbeamten zukommt und aus der er die res publica wieder frei gegeben hat, ist keineswegs verschwunden, er verfügt weiterhin darüber, aber sie ist nicht mehr größer als die anderer Oberbeamter, die mit ihm, wie es römischer Brauch war, kollegial Ämter verwalteten. Die transitive Macht, deren Durchsetzung mit der Ohnmacht der Konkurrenz korrespondiert, ist also nun wieder – so suggeriert Augustus – mit Hilfe des römischen Kollegialitätsprinzips begrenzt, die intransitiv eingebettete Macht der auctoritas dagegen, mit deren Hilfe man nicht befiehlt, sondern in strukturierten Kommunikationsräumen Ratschläge gibt, denen gerne gefolgt wird, geht über die aller anderen hinaus, als gerechte Konsequenz der herausragenden Verdienste. Auch wenn Augustus hier bei der Charakterisierung seiner formalen Kompetenzen besonders vage ist und damit zweifellos die Machtverhältnisse beschönigt,38 so ist doch bemerkenswert, daß er sich sogar noch kurz vor seinem Tode39 veranlaßt fühlt, den Übergang von der Bürgerkriegszeit zu seinem 34
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Zu Recht betonen J. W. RICH / J. H. C. WILLIAMS, Leges et Iura P.R. Restituit: A New Aureus of Octavian and the Settlement of 28-27 BC, in: Numismatic Chronicle 158 (1999), S. 191 diese klare Angabe des Augustus, daß die Reduzierung seiner Obmacht schon 28 begann. Siehe auch J.-M. RODDAZ, La métamorphose: d’Octavien à Auguste, in: S. FRANCHET D’ESPÈREY / V. FROMENTIN / S. GOTTELAND / J.-M. RODDAZ (Hgg.), Fondements et crises du pouvoir (Ausonius-Publications Études 9), Bordeaux 2003, S. 398f.; J.-L. FERRARY, Res publica restituta et les pouvoirs d’Auguste, ebd., S. 419f. Res gestae divi Augusti 34,2: Quo pro merito meo senatu[s consulto Au]gust[us appe]llatus sum et laureis postes aedium medrum v[estiti] publ[ice coronaq]ue civica super ianuam meam fixa est [et clu]peus [aureu]s in [c]uria Iulia positus, quem mihi senatum pop[ulumq]ue Rom[anu]m dare virtutis clement[iaeque e]t iustitiae et pieta[tis cau]sa testatu[m] est pe[r e]ius clupei [inscription]em. Zum umstrittenen Tagesdatum RICH / WILLIAMS, A New Aureus (wie Anm. 34), S. 203f. mit Anm. 100. Res gestae divi Augusti 34,3: Post id tem[pus a]uctoritate [omnibus praestiti, potest]atis au[tem n]ihilo ampliu[s habu]I quam cet[eri, qui m]ihi quoque in ma[gis]tra[t]u conlegae f[uerunt]. Vgl. dazu R. RIDLEY, The Emperor’s Retrospect. Augustus’ res gestae in Epigraphy, Historiography and Commentary (Studia Hellenistica 39), Löwen/Dudley, MA 2003, S. 90-92; S. 222-227. Die res gestae verfaßte Augustus in seinem 76. Lebensjahr (Res gestae divi Augusti 35,2), also zwischen seinem Geburtstag am 23. Sept. 13 und seinem Tode am 19. Aug. 14. Alle Spekulatio-
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Friedenssystem als Abbau von offenbar anstößiger Erzwingungsmacht und als Gewinn offenbar weniger anstößiger Beratungsmacht zu gestalten. Auch im Rückblick stellte sich demnach der Vorgang so dar: Weniger der Machtverzicht als vielmehr die Überführung von Macht in einen anderen Aggregatzustand war der Weg zur Akzeptanz seiner Stellung gewesen.40 Als Octavian Mitte des Jahres 29 aus dem Osten zurückkehrte, stand die erste Zeit im Zeichen von Siegesfeiern, Ehrungen und unmittelbaren Konsolidierungsmaßnahmen. Im Jahr 28 setzte Octavian dann ein Zeichen, das manche Zeitgenossen überrascht haben dürfte: Per Edikt verkündete er, daß zum 31. Dezember 28 die ungesetzlichen und ungerechten Maßnahmen der Triumviratszeit auslaufen sollten.41 Was das praktisch hieß, ist unklar. Es war völlig ausgeschlossen, alle Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte wie etwa Proscriptionen und Konfiskationen rückgängig zu machen, so daß man wohl vermuten kann, daß sich nicht sehr viel änderte.42 Die Setzung einer Zeitgrenze für die Gültigkeit deutet darauf hin, daß in erster Linie persönliche Privilegien und Diskriminierungen davon betroffen waren, die zeitlich unbestimmt festgelegt worden waren und jetzt endeten.43 Aber auch wenn sicher keine grundlegende Überprüfung aller Maßnahmen der letzten 15 Jahre einsetzte, so stellte das Edikt doch eine deutliche Distanzierung von der Triumviratszeit dar, die als Periode des Notstands, in der auch manche Regel gebrochen worden war, deklariert wurde.
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nen über frühere Stufen sind willkürlich, vgl. E. S. RAMAGE, The Date of Augustus’ Res Gestae, in: Chiron 18 (1988), S. 71-82; DENS., Nature and Purpose of Augustus’ „res gestae“ (Historia Einzelschriften 54), Stuttgart 1987, S. 15. Insofern scheint mir die Kategorie des Machtverzichts, unter der U. HUTTNER, Recusatio Imperii. Ein politisches Ritual zwischen Ethik und Taktik (Spudasmata 93), Hildesheim 2004, S. 81; S. 83 u.ö. den Transformationsprozeß zu fassen versucht, nicht angemessen zu sein, um das Handeln Octavians angemessen zu beschreiben. Dio 53,2,5; vgl. Tac. ann. 3,28,2. Dazu J. BLEICKEN, Zwischen Republik und Prinzipat. Zum Charakter des Zweiten Triumvirats (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse 3/185), Göttingen 1990, S. 83f.; RICH / WILLIAMS, A New Aureus (wie Anm. 34), S. 197f. Die Suggestion Dios, das Edikt sei erst Ende des Jahres erlassen worden, ist wohl Folge der Kompositionstechnik und daher nicht ernst zu nehmen; wahrscheinlich gehört das Edikt früh ins Jahr, vgl. RICH / WILLIAMS a.O., S. 199; S. 202. Vgl. auch ebd., S. 197. Bei BLEICKEN, Augustus (wie Anm. 31), S. 323 gewinnt man den Eindruck, er sei der Auffassung, die Wirkungsdauer auch der Gesetze über die Veteranenansiedlung sei auf den 31. Dezember 28 terminiert worden, doch ist dies nicht möglich: Selbstverständlich blieben die Veteranen auf den ihnen in der Triumviratszeit zugeteilten Ländereien, insofern war die Wirkung der zugrundeliegenden Gesetze auch nicht begrenzt worden. D. KIENAST, Augustus. Prinzeps und Monarch, Darmstadt ³1999, S. 83 vermutet, „daß die Verfügungen Oktavians aus der Triumviratszeit überprüft und gegebenenfalls vom Senat neu bestätigt wurden“. Wenn überhaupt, so dürfte dies jedenfalls nur in wenigen Einzelfällen geschehen sein. Ein mögliches Beispiel bei BLEICKEN, Zwischen Republik und Prinzipat (wie Anm. 41), S. 93 mit Anm. 261. Möglicherweise zielte das Edikt besonders auf die Mitgliedschaft im Senat, der infolge zahlreicher Ernennungen durch die Triumvirn auf ca. 1000 Mitglieder angewachsen war und den Octavian seit 29 gemeinsam mit Agrippa zu reduzieren suchte.
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Am Jahresende schwor Octavian dann den traditionellen Eid der Consuln, nicht gegen die Gesetze verstoßen und im Interesse der res publica gehandelt zu haben.44 Er nahm also für sich in Anspruch, sich 28 v.Chr. wie ein normaler Consul verhalten zu haben, und implizierte damit gleichzeitig, daß es in den Jahren zuvor anders gewesen war. Im Januar 27 erfolgte die ostentative Rückgabe aller Sondervollmachten, womit Octavian anzeigte, daß jetzt die Normalität wieder einkehren sollte, wozu die traditionellen Rechte und Formen wieder in Geltung gesetzt werden mußten. Natürlich war dieser feierliche Verzicht kein Rücktritt von der Dominanz im Staate, denn Octavian blieb ja weiterhin regulärer Consul, und zudem lief nun eine Inszenierung ab, die ihm weitere Kompetenzen sicherte.45 Einige Senatoren bestürmten ihn, sich weiter um das Gemeinwesen zu kümmern, und den anderen blieb gar nichts anderes übrig als sich anzuschließen.46 Hier wurden die Rollen in der durch die Machtstellung des Augustus deformierten res publica neu verteilt: Die Senatoren als die Elite des Gemeinwesens, der die Sorge für den Erhalt und die Prosperität der res publica in besonderer Weise oblag, mußten die notwendigen Maßnahmen zur Abwendung von Bedrohungen treffen, und das hieß: Sie mußten den einzig geeigneten Mann mit der Aufgabe betrauen, das Reich zu schützen und die Unruheherde zu beseitigen. Der große Held Octavian mußte sich zieren, seinen Wunsch nach Befreiung von einem Leben im Dienst für das Gemeinwesen bekunden und dann am Ende aus vorbildlichem Pflichtgefühl heraus den Bitten des Senats nachgeben.47 Doch indem Augustus, wie er sich jetzt nennen durfte, im Jahre 27 die Kontrolle über die militärisch wichtigsten Provinzen des Reiches übertragen wurde mit dem Auftrag, dort für Frieden und Sicherheit zu sorgen,48 wird deutlich, daß er seine Macht eben doch nur in Koppelung an eine Notstandssituation erhalten und akzeptabel machen konnte. Diese Kommandogewalt als die wichtigste Kompetenz der Kaisermacht versorgte ihn und alle seine Nachfolger mit dem Erzwingungspotential, das zur transitiven Machtausübung gehörte, und koppelte es an die Aufgabe der Erhaltung und gegebenenfalls Erweiterung des Reiches, die den Römern als Verpflichtung selbstverständlich war. Wie intensiv Augustus dann damit warb, die res publica wiederhergestellt zu haben, ist in der modernen Forschung umstritten. Es wurde zu Recht darauf hinge-
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Dio 53,1,1. Dio 53,2,7; 11,1. Dios Unterstellung, Augustus habe diese Proteste gegen seinen Rücktritt und die Angebote neuer Kompetenzen organisiert, ist völlig überzeugend: In dieser Kernfrage konnte Octavian kein Risiko eingehen. Vgl. P. SATTLER, Augustus und der Senat. Untersuchungen zur römischen Innenpolitik zwischen 30 und 17 v.Chr., Göttingen 1960, S. 41f.; RICH / WILLIAMS, A New Aureus (wie Anm. 34), S. 203; HUTTNER, Recusatio Imperii (wie Anm. 40), S. 88f.; S. 94f. Dio 53,11,1-4. Zum recusatio-Ritual vgl. HUTTNER, Recusatio Imperii (wie Anm. 40), v.a. S. 81-106 (speziell zu den Ereignissen von 27 v.Chr.). Sueton, Augustus 47; Dio 53,12,1-7; 13,1.
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wiesen, daß der Slogan res publica restituta in unseren Quellen kaum auftaucht,49 doch die neu gefundene, durch die Erwähnung von Octavians 6. Consulat sicher ins Jahr 28 v.Chr. datierte Goldmünze mit der Legende leges et iura p(opulo) R(omano) restituit, d.h.: er stellt dem römischen Volk seine Gesetze und Rechte wieder her,50 diese Münze also ist schon ein starkes Argument dafür, daß die Normalisierungspolitik unter das Vorzeichen der Restitution und damit der Rückkehr zur Tradition gestellt war.51 Wie Jean-Louis FERRARY überzeugend dargelegt hat, sind die neben den leges, die ja in einem formalisierten Verfahren verabschiedet wurden, genannten iura des Volkes am ehesten als pouvoirs, als Kompetenzen, ja als Macht des Volkes zu verstehen.52 Die Macht des Volkes ist eben einerseits formelle Regelungsmacht, die sich in Gesetzen niederschlägt, und andererseits der Einfluß, der über den Anspruch auf öffentliche Politik im traditionellen Kommunikations- und Partizipationsrahmen ausgeübt wird, etwa wenn in den Volksversammlungen Projekte vorgestellt und in Reden verteidigt oder attackiert werden müssen, wenn Gesetze nur nach etablierten Abstimmungsverfahren verabschiedet werden können, wenn Publikumsreaktionen bei Spielen als Barometer der Popularität sorgsam registriert werden, wenn den aktiven Politikern joviale Umgangsformen gegenüber dem Volke abverlangt werden. Gerade in diesen iura stecken also Formen intransitiver Macht, denn hier befinden sich die Angehörigen der Führungsschicht mit einfachen Männern aus dem Volke in einem gemeinsamen Kommunikationsraum, in dem sie zusammenwirken und die Machtentfaltung aller Beteiligten nicht notwendig zu Lasten der anderen geht. In diesem Sinne konnte demnach Augustus die Macht des Volkes wiederherstellen,53 ohne selbst nachhaltig an Einfluß zu verlieren, sofern er in diesen Kommunikationsakten die Stimmung zu seinen Gunsten zu beeinflussen wußte. 49
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Vgl. E. A. JUDGE, „Res publica restituta“. A Modern Illusion?, in: J. A. S. EVANS (Hg.), Polis and Imperium. Studies in Honour of Edward Togo Salmon, Toronto 1974, S. 279-311; vgl. auch G. R. STANTON, Tacitus’ View of Augustus’ Place in History, in: T. W. HILLARD / R. A. KEARSLEY / C. E. V. NIXON / A. M. NOBBS (Hgg.), Ancient History in a Modern University, Bd. 1: The Ancient Near East, Greece, and Rome, Grand Rapids/Cambridge 1998, S. 281298. Vgl. die Publikation mit umfassender Einordnung von RICH / WILLIAMS, A New Aureus (wie Anm. 34), S. 169-213. Auch die Auflösung iura p(opuli) R(omani) ist nicht ausgeschlossen, doch liegt darin praktisch kein Bedeutungsunterschied (vgl. RICH / WILLIAMS a.O., S. 182). Vgl. ebd., S. 208-211; K. BRINGMANN, Von der res publica amissa zur res publica restituta. Zu zwei Schlagworten aus der Zeit zwischen Republik und Monarchie, in: J. SPIELVOGEL (Hg.), Res publica reperta. Zur Verfassung und Gesellschaft der römischen Republik und des frühen Prinzipats, Festschrift für J. Bleicken zum 75. Geburtstag, Stuttgart 2002, S. 118-123. FERRARY, Res publica restituta (wie Anm. 34), S. 420. Dazu gehörte auch, daß über wesentliche Regelungen im Gemeinwesen wieder die Volksversammlung abstimmte, wie etwa über die Verleihung des Augustusnamens, vgl. Dio 53,16,6; siehe auch 12,1; zu Recht betont von C. J. SIMPSON, Reddita Omnis Provincia. Ratification by the People in January, 27 B.C., in: C. DEROUX (Hg.), Studies in Latin Literature and Roman History, Bd. 7 (Collection Latomus 227), Brüssel 1994, S. 297-309; siehe auch J.-L. FERRARY, À propos des pouvoirs d’Auguste, in: Cahiers du Centre Gustave-Glotz 12 (2001), S. 109 Anm. 36.
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Dafür sorgten seine auctoritas sowie seine Meisterschaft in den jovialen Umgangsformen.54 Doch der Grundwiderspruch, daß eine überragende Machtstellung, wie Augustus sie besaß und auch nicht aufgeben konnte und wollte,55 an sich der republikanischen Tradition zuwiderlief, war in der Substanz unheilbar. Da ein Fundament der überkommenen res publica darin bestand, daß sie eben nach römischem Selbstverständnis nicht monarchisch geordnet sein durfte, sondern als Mischverfassung – oder wie immer die Römer ihr Gemeinwesen in den Kategorien der griechischen Staatstheorie zu beschreiben versuchten56 –, da also die Monarchie so grundlegend verpönt war, daß sogar die Tötung von Aspiranten als Bürgerpflicht angesehen wurde,57 konnte die Herrschaft eines einzelnen nicht einfach als angemessene Lösung für die offenkundigen Probleme proklamiert werden. Die Behutsamkeit des Augustus im Umgang mit althergebrachten Partizipationsansprüchen und Handlungsformen war demnach wichtig. Dabei war von den beiden Gruppen, die die res publica verkörperten, der populus, inkarniert in der kleinen Schar der politisch aktiven Stadtplebejer, erheblich leichter zufrieden zu stellen als die Senatoren.58 Die Einbuße an Einflußmöglichkeiten auf Entscheidungen, die das Stadtvolk zweifellos erlitt, wurde ihm durch die Stabilisierung der Getreideversorgung, durch prächtige Spiele und statuskonfirmierende Rituale sehr vorteilhaft vergolten. Zudem war auch früher nicht die eigene Interessenpolitik, sondern die Anhängerschaft an populäre Protagonisten der Kern der politischen Eigenständigkeit der plebs gewesen,59 und die Rolle des großzügigen und durchsetzungsstarken Volks54
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Zur Jovialität vgl. M. JEHNE, Jovialität und Freiheit. Zur Institutionalität der Beziehungen zwischen Ober- und Unterschichten in der römischen Republik, in: LINKE / STEMMLER, Mos maiorum (wie Anm. 20), S. 207-235; zum Verhalten des Augustus vgl. auch schon DENS., Augustus in der Sänfte. Über die Invisibilisierung des Kaisers, seiner Macht und seiner Ohnmacht, in: G. MELVILLE (Hg.), Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 283-307. Vgl. immerhin zu angeblichen Erwägungen des Octavian/Augustus, sich zurückzuziehen, Sueton, Augustus 28,1. Vgl etwa W. NIPPEL, Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit (Geschichte und Gesellschaft 21), Stuttgart 1980, S. 142-156; A. LINTOTT, The Theory of the Mixed Constitution at Rome, in: J. BARNES / M. GRIFFIN (Hgg.), Philosophia Togata, Bd. 2: Plato and Aristotle at Rome, Oxford 1997, S. 70-85; W. BLÖSEL, Die Anakyklosis-Theorie und die Verfassung Roms im Spiegel des sechsten Buches des Polybios und Ciceros De re publica, Buch II, in: Hermes 126 (1998), S. 32-57. Vgl. zur oligarchischen Tyrannenmordideologie z.B. A. ALFÖLDI, Caesar in 44 v.Chr., Bd. 1: Studien zu Caesars Monarchie und ihren Wurzeln (Antiquitas 3.16), Bonn 1985, S. 294-317; neuerdings vor allem F. PINA POLO, The Tyrant Must Die: Preventive Tyrannicide in Roman Political Thought, in: MARCO SIMÓN / PINA POLO / REMESAL RODRÍGUEZ, Repúblicas y ciudadanos (wie Anm. 1), S. 71-101. Vgl. BLEICKEN, Augustus (wie Anm. 31), S. 305-307. Zur sehr beschränkten Zahl politisch aktiver Bürger vgl. JEHNE, Assemblies (wie Anm. 1). Zur Bedeutung der großen Popularen für die populare Politik vgl. etwa C. MEIER, Populares, in: Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Supplement 10, Stuttgart 1965, Sp. 549-615, besonders Sp. 554f.; Sp. 611f.
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führers füllte nun Augustus aus wie kein zweiter.60 Dagegen hatte die andere relevante Gruppe, die der Senatoren, eine Einengung des Bewegungsspielraums zu akzeptieren, die mit dem Frieden nach den langen Bürgerkriegen wohl nicht vergleichbar überzeugend kompensiert wurde. Hier war es ein wichtiges Signal, daß Augustus so stark betonte, daß die wilden Zeiten der Rechtlosigkeit nun vorbei seien und herkömmliche Formen der Politik und Staatsverwaltung wieder praktiziert werden sollten. Indem sich Augustus verschiedene Versatzstücke einer in sich ohnehin recht heterogenen Tradition zunutze machte, um die unvermeidbaren Innovationen seiner Position möglichst weitreichend aus traditionsgeheiligten Teilen zusammenzukomponieren, nahm er den potentiellen Gegnern, die ja nur in der alternativlosen alten Republik ihr Ideal suchen konnten, viele Möglichkeiten, überzeugend gegen die augusteische Variante anzuargumentieren und sich um klare Differenzmarkierungen herum zu sammeln und zu solidarisieren. Die besten Beispiele für die Komposition des Neuen aus Versatzstücken des Alten bieten die zentralen Komponenten der Kaisermacht, das seit 27 v.Chr. bestehende Provinzkommando61 und die Amtsgewalt der Volkstribunen, die seit 23 v.Chr. ein wesentliches Merkmal der Stellung des Augustus war.62 Für die Übertragung mehrerer Provinzen an einen Kommandeur für eine feste Anzahl von Jahren boten die sog. außerordentlichen Kommanden der späten Republik eine Reihe von Vorbildern.63 Cicero hatte in der schon zitierten Rede über das Imperium des Pompeius zugestanden, daß es sich bei Kommanden dieses Typs um Ausnahmen handelte, hatte aber auch die Argumente geliefert, daß man in Kriegszeiten eben zu außergewöhnlichen Mitteln zu greifen habe.64 Als Octavian bestürmt wurde, sich doch um die unruhigen Provinzen zu kümmern,65 zeichnete sich dieselbe Begründungsrichtung ab: Dem Notstand war mit den üblichen Verfahren 60
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Zum Verhältnis des Augustus zur plebs urbana vgl. Z. YAVETZ, Plebs and Princeps, Oxford 1969, S. 83-102; R. GILBERT, Die Beziehungen zwischen Princeps und stadtrömischer Plebs im frühen Principat, Bochum 1976, S. 50-73; S. 139-144; S. 152-197. Vgl. dazu besonders K. M. GIRARDET, Imperium ‚maius’: Politische und verfassungsrechtliche Aspekte. Versuch einer Klärung, in: GIOVANNINI, La révolution romaine (wie Anm. 4), S. 167236, speziell S. 191-195; FERRARY, Pouvoirs (wie Anm. 53), S. 108-115. Vgl. zur Bedeutung und Geschichte des Titels in der augusteischen Zeit W. K. LACEY, Augustus and the Principate. The Evolution of a System (ARCA 35), Leeds 1996, S. 154-168; FERRARY, Pouvoirs (wie Anm. 53), S. 115-120. Man denke nur an das Ostkommando des Pompeius seit 66 v.Chr., verliehen durch die lex Manilia (vgl. zu dem dadurch übertragenen imperium des Pompeius und zu seiner provincia, die das Kommando über die Territorialprovinzen Bithynia et Pontus und Cilicia einschloß, v.a. K. M. GIRARDET, Imperia und provinciae des Pompeius 82 bis 48 v.Chr., in: Chiron 31 [2001], S. 176-190), das Kommando Caesars seit 59 über Gallia Cisalpina und Illyricum, verliehen durch die lex Vatinia (vgl. dazu M. GELZER, Die lex Vatinia de imperio Caesaris, in: DERS., Kleine Schriften, Bd. 2, Wiesbaden 1963, S. 206-228), das Kommando von Pompeius über Hispania ulterior und Hispania citerior seit 55 v.Chr., verliehen durch die lex Trebonia (vgl. GIRARDET a.O., S. 193f.). Siehe oben Anm. 25. Siehe oben S. 10f. mit Anm. 45.
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nicht beizukommen, so war der Einsatz des großen Mannes erforderlich. Daß Augustus dann seine Provinzen auf 10 Jahre erhielt,66 war neu, aber gegenüber früheren Befristungen nur eine graduelle Steigerung,67 daß sie ihm bis an sein Lebensende immer wieder verlängert wurden, ebenfalls. Die Lage der Provinzen, die weit über den Mittelmeerraum verstreut waren, machte die persönliche Anwesenheit des princeps zu einer Seltenheit, aber auch das konnte man als nur graduelle Steigerung der Verfahrensweisen des Pompeius auffassen.68 Mit der tribunicischen Gewalt verhielt es sich ähnlich. Die Übertragung von Amtsgewalten ohne Amt war in Bezug auf das Tribunat neu, war allerdings bei zahlreichen Militärkommandeuren, die anstelle eines Consuls mit dessen Kompetenzen, aber ohne dessen Amt im Felde agierten, im Laufe der Republik schon viele Male vorgekommen.69 Die neuartige Übernahme tribunicischer Kompetenzen wurde aber mit vorbildlichem Respekt vor dem mos maiorum garniert, denn schließlich besaß Augustus nicht mehr Rechte als die zehn jährlich amtierenden Volkstribunen, und er hatte als Patrizier die Tradition geachtet, daß das Volkstribunat nur von Plebejern bekleidet werden durfte. Die unvermeidbare Innovation und das Interesse an Berücksichtigung der Tradition führen also im augusteischen Principat zur Neukombination alter Elemente zur Verdeckung der Neuerung.
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Dio 53,13,1; 16,2. FERRARY, Pouvoirs (wie Anm. 53), S. 110f. sieht die Vorläufer für die Ermächtigung des Augustus im Jahre 27 zu Recht in den außerordentlichen Imperien der späten Republik. Caesars Imperium hatte eine Laufzeit von 5 Jahren (offenbar war durch die lex Vatinia 59 zum ersten Mal einem Consul seine Provinz für einen festen Zeitraum zuerkannt worden, vgl. auch GIRARDET, Imperia [wie Anm. 63], S. 193 mit Anm. 159), 55 v.Chr. wurde es durch eine lex Pompeia Licinia um weitere 5 Jahre verlängert, und im selben Jahr wurden auch Pompeius und Crassus durch die lex Trebonia Kommanden für 5 Jahre zugestanden (dazu GIRARDET a.O., S. 193). Pompeius war 55/4, nach Übertragung der beiden spanischen Provinzen durch die lex Trebonia, nicht nach Spanien gegangen, sondern hatte seine Provinzen von Legaten verwalten lassen, vgl. GIRARDET, Imperia (wie Anm. 63), S. 195f. Daß Augustus durchaus bewußt auf das Vorbild des Pompeius verwies, hat jetzt wieder G. A. LEHMANN, Der Beginn der res gestae des Augustus und das politische exemplum des Cn. Pompeius Magnus, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 148 (2004), S. 151-162 mit neuen Argumenten untermauert. Zum Kommando pro consule, also anstelle eines Consuls, vgl. H. KLOFT, Prorogation und außerordentliche Imperien 326-81 v.Chr. Untersuchungen zur Verfassung der römischen Republik (Beiträge zur klassischen Philologie 84), Meisenheim am Glan 1977, v.a. S. 13f. Wie GIRARDET, Imperium ‚maius’ (wie Anm. 61), S. 176-180 (u.ö.) klar gestellt hat, handelt es sich bei der Befehlsgewalt der pro consule im Reich agierenden Kommandeure um ein imperium consulare. Bei Prolongierung aus dem Amt heraus war wenigstens noch eine Koppelung an den Wahlakt gegeben, doch es wurden ja auch privati per Volksbeschluß mit Kommandogewalt versehen (vgl. z.B. die Übertragung des Seeräuberkommandos an Pompeius 67 v.Chr. im Gefolge der lex Gabinia), und dies stellte eine Übertragung von Amtsmacht ohne Amt dar.
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Darüber hinaus gab es aber einen allgemeinen Schub zur Wiederherstellung des Alten wie beispielsweise bei der Renovierung von Tempeln und der Kräftigung alter Kulte,70 so daß sich die Person und die Stellung des Augustus untrennbar mit der Verteidigung der Tradition verband, die ohne ihn – so die Suggestion – dem weiteren Niedergang geweiht gewesen wäre. Ein Edikt des Augustus, in dem er seinem Wunsch Ausdruck verlieh, die res publica auf eine sichere Basis zu stellen und dafür den verdienten Lohn zu empfangen, als Urheber des besten Zustandes angesehen zu werden,71 wird von Sueton so kommentiert: Und er brachte sich selbst in den vollen Genuß seines Gelübdes, da er sich auf jede Weise bemühte zu erreichen, daß niemand etwas an dem neuen Zustand auszusetzen hatte.72 Die augusteische res publica war insofern neu, als der Verfall aufgehalten und sogar rückgängig gemacht worden war, aber nicht dahingehend, daß die alten Prinzipien abgelöst worden wären. Wie Augustus in seinem Tatenbericht stolz betonte, gelang ihm sogar durch neue Gesetze die Wiederbelebung vieler vorbildhafter Beispiele der Vorfahren, und gleichzeitig hinterließ er den Nachfahren viele Beispiele zur Nachahmung.73 Hier kommt die Verteilung von neu und alt im römischen Horizont besonders schön zum Ausdruck: Solange die Ziele die altbewährten sind und sich an den Vorbildern der Vergangenheit orientieren, können die Mittel durchaus innovativ sein. Die Makroinstitution der res publica Romana bewahrte so lange ihre Identität, wie die Leitideen fortbestanden, und so konnte der Auftrag zur Erweiterung und Erhaltung des Weltreiches eben ein einigendes Band bilden von den mythischen Stammvätern Aeneas und Romulus bis zum neuen Gründer Augustus, der in seinen unbefriedeten Provinzen für die Fortführung und den Ausbau der Herrschaft sorgte.74 70 71
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Vgl. bes. res gestae divi Augusti 20: Duo et octoginta templa deum in urbe consul sex[tu]m ex [auctori]tate senatus refeci, nullo praetermisso, quod e[o] tempore [refici debeba]t. Sueton, Augustus 28,2: ita mihi salvam ac sospitem rem p. sistere in sua sede liceat atque eius rei fructum percipere, quem peto, ut optimi status auctor dicer et moriens ut feram mecum spem, mansura in vestigio suo fundamenta rei p. quae iecero. Vgl. dazu jetzt die genaue Wortuntersuchung von D. WARDLE, Suetonius and Augustus’ ‚Programmatic Edict’, in: Rheinisches Museum für Philologie 148 (2005), S. 181-201, besonders S. 181-194. Die Datierung dieses Edikts ist umstritten, WARDLE a.O., S. 195-201 glaubt an eine Reaktion auf die Verleihung des Augustusnamens und des Provinzkommandos, setzt die Verlautbarung also an den Anfang des Jahres 27, K. M. GIRARDET, Das Edikt des Imperator Caesar in Suetons Augustusvita 28,2. Politisches Programm und Publikationszeit, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 131 (2000), S. 231-243 sieht das Edikt als Ankündigung unmittelbar nach der Rückkehr aus dem Osten, datiert also auf das Jahr 29 (eine Übersicht über frühere Datierungsansätze ebd., S. 231, Anm. 1). Sueton, Augustus 28,2: fecitque ipse se compotem voti nisus omni modo, ne quem novi status paeniteret. Res gestae divi Augusti 8: Legibus novi[s] m[e auctore l]atis m[ulta e]xempla maiorum exolescentia iam ex nostro [saecul]o red[uxi et ipse] multarum rer[um exe]mpla imitanda pos[teris tradidi]. Vgl. auch H. BELLEN, Novus status – novae leges. Kaiser Augustus als Gesetzgeber, in: G. BINDER (Hg.), Saeculum Augustum, Bd. 1: Herrschaft und Gesellschaft (Wege der Forschung 266), Darmstadt 1987, S. 308-348. Vgl. die berühmte Formulierung in der Jupiterrede bei Vergil, Aeneis 1,278f.: his [sc. den Römern] ego nec metas rerum nec tempora pono, / imperium sine fine dedi. Zum Umgang des Augustus mit der Tra-
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Daß die Kernkompetenz des Augustus, das Provinzkommando, 27 v.Chr. mit der Diagnose verknüpft worden war, daß diese Regionen der Aufmerksamkeit des ersten und besten Mannes bedurften, hatte zur Folge, daß Augustus nun auch in seine Provinzen gehen mußte, um sich um die Probleme zu kümmern. So zog er Mitte des Jahres 27 zunächst nach Gallien und von dort nach Spanien, von wo er Mitte des Jahres 24 zurückkehrte.75 Während der gesamten Zeit und auch noch 23 bekleidete Augustus jedes Jahr aufs Neue das Consulat und besetzte damit eine von zwei Stellen des Oberamtes, auf das sich der Ehrgeiz römischer Politiker in besonderem Maße ausrichtete. Die Kontinuation des Consulates widersprach nicht nur den Regeln der res publica, sondern verminderte auch drastisch die Chancen der Senatoren, selbst in dieses Amt gewählt zu werden und so ein wesentliches Lebensziel erreichen zu können. Wenn Augustus die Senatoren aus den arrivierten Familien, die durch seine Machtstellung am meisten an Einfluß verloren hatten und deren Mitarbeit dennoch für das Prestige des Regimes wichtig war, nicht dauerhaft verprellen wollte, mußte er sich aus dem Consulat zurückziehen. Mitte des Jahres 23 war es so weit. Man hat lange Zeit angenommen, Augustus habe hier unter dem unmittelbaren Druck einer Verschwörung gestanden,76 doch wurde dagegen zu Recht eingewandt, daß es in Anbetracht der Traditionsorientierung des augusteischen Principats eigentlich evident war, daß er den Weg zum Consulat nicht auf Dauer verengen konnte.77 Vielmehr läßt sich aus dem Faktum, daß Augustus das Amt erst 23 aufgab und eine Sonderkonstruktion zur Kompensation der nun wegfallenden innerrömischen Kompetenzen und Statuselemente entwi-
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dition vgl. etwa den interessanten Beitrag von J. SCHEID, Auguste et le passé. Restauration et histoire au début du principat, in: N. GRIMAL / M. BAUD (Hgg.), Événement, récit, histoire officielle. L’écriture de l’histoire dans les monarchies antiques (Colloque du Collège de France amphithéâtre Marguerite-de-Navarre 24-25 juin 2002), Paris 2003, S. 247-257. Vgl. zum Itinerar vgl. H. HALFMANN, Itinera principum. Geschichte und Typologie der Kaiserreisen im Römischen Reich (Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien 2), Stuttgart 1986, S. 157. So noch M. H. DETTENHOFER, Herrschaft und Widerstand im augusteischen Principat. Die Konkurrenz zwischen res publica und domus Augusta (Historia Einzelschriften 140), Stuttgart 2000, S. 208; F. ROHR VIO, Le voci del dissenso. Ottaviano Augusto e i suoi oppositori, Padua 2000, S. 315. Vgl. v.a. E. BADIAN, „Crisis Theories“ and the Beginning of the Principate, in: G. WIRTH / K.-H. SCHWARTE / J. HEINRICHS (Hgg.), Romanitas – Christianitas. Untersuchungen zur Geschichte und Literatur der römischen Kaiserzeit. Johannes Straub zum 70. Geburtstag am 18. Okt. 1982 gewidmet, Berlin/New York 1982, S. 18-41; siehe auch W. EDER, Augustus and the Power of Tradition: The Augustan Principate as Binding Link between Republic and Empire, in: K. A. RAAFLAUB / M. TOHER (Hgg.), Between Republic and Empire. Interpretations of Augustus and His Principate, Berkeley/Los Angeles/Oxford 1990, S. 108; J.-L. FERRARY, Les pouvoirs d’Auguste: l’affranchissement de la limite du pomerium, in: N. BELAYCHE (Hg.), Rome, les Césars et la Ville aux deux premiers siècles de notre ère, Rennes 2001, S. 9.
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ckelte,78 deutlich ablesen, daß er sich 27 durchaus noch unsicher fühlte und über die dauerhafte Gestalt seiner Position noch keine Klarheit besaß. In der Ausübung seines Provinzkommandos, das Augustus noch einmal von 22 - 19 v.Chr. nach Sizilien, Griechenland und weiter in den Osten führte,79 wurde er fast zwangsläufig immer erfolgreicher, wozu auch die Kriege beitrugen, die er an seine Unterfeldherrn delegiert hatte. Schon am Ende des Bürgerkriegs hatte Augustus nach den üblichen Leistungsindikatoren – militärische Erfolge, Zahl der Ämter, Ausmaß der Ehren – alle anderen Römer in den Schatten gestellt, und nun vergrößerte sich sein Vorsprung Jahr für Jahr. Daß Leistungen anerkannt wurden und sich daraus Prestige und letztlich Einfluß – römisch: auctoritas – ergab, war aber ganz konventionell, so daß dagegen nicht vom Horizont der alten Republik aus anargumentiert werden konnte. Hinzu kam, daß die Abwesenheit des Augustus in Rom ein Machtvakuum hinterließ, in dem es leicht zu Konflikten und Unruhen kam und zur Aufschiebung von Entscheidungen. Gerade 19 v.Chr. war die Rückkehr des Augustus eine spürbare Erleichterung,80 und nachdem er die Ordnung und Versorgung in der Hauptstadt wiederhergestellt hatte,81 dürfte sich noch deutlicher im allgemeinen Bewußtsein verankert haben, daß es ohne ihn nicht mehr gut funktionierte.82 Der Charme monokratischer Strukturen, die Pazifizierungs- und Organisationsleistung des Machthabers, entfaltete auch hier zunehmend seine Wirkung.
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Dio 53,32,5f. Vgl. zur Entwicklung der Kompetenzen des Augustus zwischen 23 und 18 v.Chr., besonders auch zum Ersatz von Rechten eines Consuls durch Spezialregelungen, v.a. FERRARY, pomerium (wie Anm. 77), S. 9-22; DENS., Pouvoirs (wie Anm. 53), S. 115-144; H. M. COTTON / A. YAKOBSON, Arcanum Imperii: The Powers of Augustus, in: G. CLARK / T. RAJAK (Hgg.), Philosophy and Power in the Graeco-Roman World. Essays in Honour of M. Griffin, Oxford 2002, S. 193-209. Vgl. HALFMANN, Itinera principum (wie Anm. 75), S. 158. Nach den durch Egnatius Rufus ausgelösten Konflikten und Unruhen, vgl. dazu P. BADOT, A propos de la conspiration de M. Egnatius Rufus, in: Latomus 32 (1973), S. 606-615; D. A. PHILLIPS, The Conspiracy of Egnatius Rufus and the Election of Suffect Consuls under Augustus, in: Historia 46 (1997), besonders S. 109-112; K. A. RAAFLAUB / L. J. SAMONS II, Opposition to Augustus, in: RAAFLAUB / TOHER, Between Republic and Empire (wie Anm. 77), S. 427; A. R. BIRLEY, Q. Lucretius Vespillo (cos. ord. 19), in: Chiron 30 (2000), S. 716-719; ROHR VIO, Voci del dissenso (wie Anm. 76), S. 169-187; I. COGITORE, La légitimité dynastique d’Auguste à Néron à l’épreuve des conspirations (Bibliothèque des Écoles Françaises d’Athènes et de Rome 313), Rom 2002, S. 136-141 (mit recht willkürlichen Spekulationen über die Affäre als exemplum zur Rechtfertigung der Einrichtung einer städtischen Praefectur, was schon chronologisch nicht wirklich überzeugend ist). Wegen der Unruhen mit Mord und Totschlag erkannte der Senat dem einzigen amtierenden Consul in der ersten Jahreshälfte 19 v.Chr., Sentius Saturninus, sogar eine Leibwache zu, wovon er allerdings keinen Gebrauch machte (Dio 54,10,1f.). Wahlunruhen mit der Aufforderung an Augustus, nach Rom zurückzukehren, hatte es auch schon 22 und 21 gegeben (Dio 54,6,1-3). Nach Velleius 2,91,3f. plante Egnatius Rufus, Augustus zu ermorden, doch wurde die Sache bekannt, er wurde mit seinen Komplizen festgenommen und nahm sich im Gefängnis das Leben. Vgl. etwa SATTLER, Augustus (wie Anm. 45), S. 83-88; EDER, Augustus (wie Anm. 77), S. 111f.
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Wie aber die Macht des Augustus unvermeidlich auch bei bester Befolgung der Tradition die herkömmlichen Kommunikationsprozesse deformierte, scheint mir recht deutlich aus dem Primus-Prozeß hervorzugehen, der wohl ins Jahr 23 v.Chr. zu datieren ist.83 M. Primus, ehemaliger Statthalter von Makedonien, hatte dort einen vom Senat nicht autorisierten Krieg geführt und war nach seiner Rückkehr deswegen angeklagt worden. Zu seiner Verteidigung hatte er vorgebracht, er habe dies nicht aus eigenem Antrieb getan, sondern aufgrund einer Meinungsäußerung, wobei er teils Augustus, teils Marcellus, den Neffen und Schwiegersohn des Augustus, als den Urheber nannte.84 83
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Dio 54,3,2-4, die einzige Quelle, verzeichnet den Prozeß für das Jahr 22 v.Chr. Die Datierung ist dennoch umstritten. Einige akzeptieren das Jahr 22, vgl. R. HANSLIK, Horaz und Varro Murena, in: Rheinisches Museum für Philologie 96 (1953), S. 284-286; BADIAN, „Crisis Theories“ (wie Anm. 77), S. 35f.; RAAFLAUB / SAMONS II, Opposition (wie Anm. 80), S. 425; RICH, Cassius Dio (wie Anm. 4), S. 174f.; FERRARY, Pouvoirs (wie Anm. 53), S. 108, Anm. 72; COGITORE, Légitimité dynastique (wie Anm. 80), S. 133. Für das Jahr 23 plädieren: SATTLER, Augustus (wie Anm. 45), S. 62 mit Anm. 149; H. BRANDT, Marcellus „successioni praeparatus“? Augustus, Marcellus und die Jahre 29-23 v.Chr., in: Chiron 25 (1995), S. 11 (im Frühjahr 23); J. S. ARKENBERG, Licinii Murenae, Terentii Varrones, and Varrones Murenae, II: The Enigma of Varro Murena, in: Historia 42 (1993), S. 489-491 (Frühherbst 23); KIENAST, Augustus (wie Anm. 42), S. 101; ROHR VIO, Voci del dissenso (wie Anm. 76), S. 313 (Frühjahr 23); DETTENHOFER, Herrschaft (wie Anm. 76), S. 97 (mit einer Übersicht über die Datierungsvorschläge in Anm. 49); BIRLEY, Vespillo (wie Anm. 80), S. 791f. G. CRESCI MARRONE, La congiura di Murena e le ‚forbici’ di Cassio Dione, in: M. SORDI (Hg.), Fazioni e congiure nel mondo antico, Mailand 1999, S. 193203 hat Dios Kompositionstechnik bezüglich dieser und anderer Gerichtsszenen untersucht und festgestellt, daß Dio hier nach sachlichen Gesichtspunkten Material zusammenstellt, das sich nicht unbedingt auf das Jahr 22, unter dem er den Primus-Prozeß vermerkt, beziehen muß, daß vielmehr nur der Anlaß für Dios Digression in dieses Jahr gehört, nämlich das Gesetz des Augustus über Gerichtsabstimmungen in Abwesenheit des Angeklagten (Dio 54,3,6). Dieses Gesetz ist eine Reaktion auf die Abstimmung über die ‚Verschwörer’ Fannius Caepio und Murena, die zum Zeitpunkt ihres Prozesses selbst auf der Flucht waren, und dieses Ereignis gehört mit Sicherheit in die Zeit nach dem Primus-Prozeß, so daß sich die Beobachtungen von CRESCI MARRONE bestens mit einer Datierung des Verfahrens gegen Primus ins Jahr 23 vertragen. Aber für meine Überlegungen hier ist die genaue Datierung nicht relevant. Dio 54,3,2: Mάρκου τέ τινος Πρίμου αἰτίαν ἔχοντος ὅτι τῆς Μακεδονίας ἄρχων Όδρύσαις ἐπολέμησε, καὶ λέγοντος τοτὲ μὲν τῇ τοῦ Αὐγούστου τοτὲ δὲ τῇ Μαρκέλλου γνώμῃ τοῦτο πεποιηκέναι, […]. Leider wissen wir nicht genau, wann Primus Statthalter in Makedonien war, si-
cher nach M. Crassus, der wohl im Frühjahr 27 oder frühestens ganz am Ende des Jahres 28 von dort zurückkehrte (vgl. BADIAN, „Crisis Theories“ [wie Anm. 77], S. 25f.; die nicht weiter begründete Ansicht von J. NITSCHKE, Dignitas und auctoritas. Der römische Senat und Augustus. Prosopographische Überlegungen zur Karriere der Konsuln und Statthalter 30 v.Chr. bis 14 n.Chr. [Quellen und Forschungen zur Antiken Welt 39], München 2001, S. 71; S. 130f., Primus sei 23 Statthalter gewesen, ist nur haltbar, wenn der Prozeß erst 22 stattfand, was ich nicht glaube). Da Augustus wohl im Mai/Juni 27 Rom verließ und erst nach Gallien, später nach Spanien reiste (vgl. HALFMANN, Itinera principum [wie Anm. 75], S. 157), bestand immerhin die Möglichkeit, daß Augustus mit einem Anfang 27 nach Makedonien gehenden Statthalter Primus gesprochen hatte. Doch falls Primus erst 26 oder 25 dort das Kommando übernahm, war Augustus nicht mehr in Rom, als die Provinz ausgelost wurde, und so kam überhaupt nur noch Marcellus als Gesprächspartner für Primus in Frage. Klar ist jedenfalls, daß es sich nicht um eine schrift-
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Diese Nachricht läßt sich wohl am ehesten so verstehen, daß Primus auf eine Bemerkung des Marcellus hinwies, hinter der er aber den Augustus als Auftraggeber vermutete.85 Formal korrekt benannten weder die Vertreter der Anklage, noch die der Verteidigung Marcellus oder Augustus als Zeugen. Nach den alten Regeln war eine Bemerkung des Marcellus, der seit 24 v.Chr. unter den Praetoriern im Senat sprechen durfte und im Jahre 23 curulischer Aedil war,86 völlig belanglos für die Kriegsentscheidung eines Statthalters,87 und selbst Augustus konnte in den ihm nicht unterstellten Provinzen, zu denen Makedonien gehörte, nicht einfach einen Statthalter in den Krieg schicken. Die Entschuldigung des Primus war also rechtlich irrelevant. Daß Primus den Marcellus und Augustus überhaupt zur Sprache brachte, ließ daher erkennen, daß neben den Gesetzen die Übermacht des Augustus stand, die eben nicht einfach ignoriert werden konnte. Primus implizierte mit seiner Aussage, daß er es aufgrund der Machtlage nicht hatte riskieren wollen, eine Bemerkung des jungen Marcellus nicht zu beachten, da darin möglicherweise der Wille des Augustus zum Ausdruck kam, und viele der Richter dürften für diese Vorsicht Verständnis gehabt und jetzt unter derselben Unkalkulierbarkeit möglicher Wünsche des Augustus gelitten haben. Der Prozeß hatte damit eine für Augustus und seine Bemühungen um Intransivierung seiner Machtstellung peinliche Wendung genommen,88 hinter den traditionellen Verfahren grinste die Fratze des autoritären Regimes hervor, in dem alle Regeln durch eine Laune des Machthabers bzw. seiner Familienangehörigen außer Kraft gesetzt werden können. Als Augustus dann aus eigenem Antrieb zur Verhandlung erschien, wurde er vom Praetor ge-
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liche Äußerung gehandelt haben kann, denn einen Brief des Augustus oder auch des Marcellus hätte Primus wohl dem Gericht vorgelegt. Die Vermutung, den Marcellus habe Primus erst genannt, als Augustus die Direktive abstritt, und dabei habe sich Primus zunutze gemacht, daß Marcellus inzwischen gestorben sei (so HANSLIK, Horaz [wie Anm. 83], S. 285; BADIAN, „Crisis Theories“ [wie Anm. 77], S. 35f.), ist nicht überzeugend, denn das wäre doch völlig sinnlos gewesen: Wenn Augustus schon ausgesagt hatte, er habe Primus keine Anweisung gegeben, wie sollte sich Primus mit der Behauptung, es sei der gerade verstorbene Marcellus gewesen, noch aus der Affäre ziehen? Diese Wendung des Primus, er habe auf Empfehlung eines rechtlich völlig unzuständigen jungen Mannes, den nur die Verwandtschaft mit Augustus auszeichnete, die Gesetze übertreten, hätte die Richter doch nur überzeugen können, wenn sie angenommen hätten, daß dahinter der Wunsch des Augustus stand, und der hatte genau das gerade bestritten. Aus der Erwähnung des Marcellus kann man also gerade kein Indiz gewinnen für eine Datierung des Primus-Prozesses auf die Zeit erst nach dem Tod des Marcellus. Dagegen scheint mir eben die eigentlich abstruse Erwähnung des Marcellus darauf hinzudeuten, daß Primus durchaus glaubte, im Sinne des Augustus gehandelt zu haben, vgl. auch KIENAST, Augustus (wie Anm. 42), S. 102. Vgl. zu seiner Stellung BRANDT, Marcellus (wie Anm. 83), S. 1-16, besonders S. 10f. Vgl. auch DETTENHOFER, Herrschaft (wie Anm. 76), S. 98. Vgl. ebd., S. 98: „Für Augustus war die Angelegenheit in höchstem Maße kompromittierend“. Allerdings überzeugt mich ihre Hintergrundanalyse nicht, in der sie davon ausgeht, daß Augustus tatsächlich den Feldzug des Primus veranlaßt hatte (vgl. a.O., S. 97). Das wäre erst zu beweisen.
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fragt, ob er Primus zum Krieg aufgefordert habe, und stritt das ab.89 Der Leiter der Verhandlung begnügte sich also nicht mit der juristischen Irrelevanz der Behauptung des Primus, sondern befragte Augustus in der Sache, wodurch er dokumentierte, daß eine entsprechende Empfehlung des Augustus bedeutsam gewesen wäre. Licinius Murena, der Verteidiger des Primus, war verärgert über die Aussage des Augustus und fragte ihn brüsk, was er denn hier mache und wer ihn herbeigerufen habe, worauf Augustus geantwortet haben soll: das öffentliche Interesse.90 Die Reaktion des Verteidigers ist nachvollziehbar, denn Augustus hatte mit seiner Auskunft den Prozeß zuungunsten seines Mandanten entschieden, auch wenn einige Geschworene für Freispruch stimmten.91 Niemand hatte erwarten können, daß Augustus eine Empfehlung an Primus zugab, ob sich Marcellus nun vorlaut geäußert hatte oder nicht, denn damit wären die mühselig neu belebten Verantwortungsbereiche des Senats zur Farce erklärt worden. Die Verteidigungsstrategie von Primus und Murena hatte darauf basiert, daß der Hinweis auf Marcellus und Augustus ausreichte, um der Jury zu suggerieren, man könnte mit einer Verurteilung vielleicht das Mißfallen des Augustus erregen, und diese Strategie hatte Augustus durch sein überraschendes Auftauchen und seine Aussage zunichte gemacht.92 Augustus hatte damit die kleinere Übertretung des Herkommens, indem er sich ungeladen vor Gericht zu Wort meldete, in Kauf genommen, um der größeren – eigenmächtige Anweisungen des Augustus im Zuständigkeitsbereich des Senats – entgegenzutreten. Dennoch war der ganze Vorgang für ihn peinlich. Der Primus-Prozeß hatte offensichtlich gemacht, daß das Gerichtswesen, das noch weitgehend in den spätrepublikanischen Formen ablief,93 89
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Dio 54,3,2: […] ἔς τε τὸ δικαστήριον αὐτεπάγγελτος ἦλθε, καὶ ἐπερωτηθεὶς ὑπὸ τοῦ στρατηγοῦ εἰ προστάξειέν οἱ πολεμῆσαι, ἔξαρνος ἐγένετο. Die Auffassung, der Zusammenhang bei Dio impliziere, daß Augustus zunächst die Verteidigung seines Freundes Primus beabsichtigt habe (so etwa DETTENHOFER, Herrschaft [wie Anm. 76], S. 99f.; vgl. auch RAAFLAUB / SAMONS II, Opposition [wie Anm. 80], S. 426), hat MANUWALD, Cassius Dio (wie Anm. 4), S. 117f. überzeugend widerlegt: In Dios sachlich geordnetem Abschnitt, in dem sich auch seine Darstellung des Primus-Prozesses findet, ist nicht der Einsatz des Augustus für seine Freunde der leitende Gesichtspunkt, sondern die metriótes, die Zurückhaltung und das moderierende Verhalten des Augustus. Dio 54,3,3: τοῦ τε συναγορεύοντος τῷ Πρίμῳ Λικινίου Μουρήνου ἄλλα τε ὲς αὐτὸν οὐκ ἐπιτήδεια ἀπορρίψαντος, καὶ πυθομένου ʺτί δὴ ἐνταῦθα ποιεῖς, καὶ τίς σε ἐκάλεσεν;ʺ τοσοῦτον μόνον ἀπεκρίνατο ὅτι τὸ δημόσιον.
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Dio 54,3,4. Die Deutung, Primus habe mit seinem Hinweis auf Marcellus und Augustus letzteren dem Verdacht monarchischer Herrschaft und dynastischer Integration der Familie in die Herrschaft aussetzen wollen, um seine eigene Regelverletzung in den Hintergrund treten zu lassen (so SATTLER, Augustus [wie Anm. 45], S. 62; BRANDT, Marcellus [wie Anm. 83], S. 11f.), ist nicht überzeugend: Diesem Verdacht hätte Augustus doch nur entgegentreten können, indem er sich für die Verurteilung des Primus stark machte, so daß eine solche Strategie für Primus politischen Selbstmord bedeutet hätte. Es gab allerdings Eingriffe Caesars (vgl. dazu etwa M. JEHNE, Der Staat des Dictators Caesar [Passauer Historische Forschungen 3], Köln/Wien 1987, S. 423-429) und die lex Antonia iudiciaria
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durch die Existenz der Macht des Augustus in Fällen, in denen dessen Interessen berührt zu sein schienen, paralysiert zu werden drohte. In einer anderen Gerichtsepisode wird deutlich, daß Augustus diese Widersprüchlichkeit zwischen der Arbeit traditioneller Einrichtungen in den alten Formen und seiner diese Arbeit deformierenden Macht durchaus erkannte. Als sein Freund Nonius Asprenas von dem gefürchteten Ankläger Cassius Severus wegen Giftmords vor Gericht gebracht wurde, konsultierte Augustus den Senat, wie er sich pflichtgemäß verhalten solle: Denn er zögere, damit er nicht, wenn er Nonius beistehe, den Angeklagten den Gesetzen entreiße, wenn er sich aber heraushalte, für jemand gehalten werde, der einen Freund im Stich lasse und vorverurteile; auf einstimmige Empfehlung der Senatoren saß er dann für einige Stunden beim Angeklagten und seinen Verteidigern, schwieg aber und hielt keine Verteidigungsrede.94 Augustus artikulierte hier sehr deutlich, daß seine Parteinahme in einem Prozeß den Ausgang determinierte, daß er aber als Freund und Patron95 nach den Normen des Bindungswesens verpflichtet war, eindeutig Stellung zu beziehen. Der Senat empfahl einen Kompromiß in der äußeren Form, wenn schon hinsichtlich des Ergebnisses keiner möglich war: Augustus nahm ostentativ eine Position ein, hielt sich aber zurück, und zweifellos prägte er damit dennoch das Ergebnis. Asprenas wurde am Ende freigesprochen96 – kein Wunder, wenn man berücksichtigt, daß jedenfalls ein Teil der Senatoren, die Augustus beraten hatten, dann unter den Geschworenen war. Die Macht des Augustus und seine Orientierung an einer Tradition, die keinen Herrscher kannte, erzeugten also eine doppelbödige Struktur. Die Macht wurde zu einem erheblichen Teil mit dem Funktionieren alter Formen verwoben und damit auf Dauer gestellt. Denn den Diskurs über die Geltung der Tradition konnte Augustus nicht kappen, aber er konnte eine Ordnung konstruieren, in der eben diese Traditionen geachtet und organisatorisch weitgehend realisiert waren, so daß sich im Modus der Ehrfurcht vor der Tradition nur noch schwer gegen das Regime Stimmung machen ließ.
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kurz nach Caesars Ermordung (Cicero, Philippicae 1,19; 24). Eine wesentliche Reform nahm Augustus erst 17 v.Chr. in Angriff (vgl. etwa K. BRINGMANN, Zur Gerichtsreform des Kaisers Augustus, in: Chiron 3 [1973], S. 235-244). Sueton, Augustus 56,3: cum Asprenas Nonius artius ei iunctus causam veneficii accusante Cassio Severo diceret, consuluit senatum, quid officii sui putaret; cunctari enim se, ne si superesset, eriperet legibus reum; sin deesset, destituere et praedamnare amicum existimaretur; et consentientibus universis sedit in subselliis per aliquot horas, verum tacitus et ne laudatione quidem iudiciali data. Vgl. Dio 55,4,3; Plinius d.Ä., Naturalis historia 35,164; Quintilian, Institutio oratoria 10,1,22; 11,1,57. Zu der Episode, unter anderem Aspekt, auch JEHNE, Sänfte (wie Anm. 54), S. 303. Seine Pflichten als Patron nahm er durchaus wahr, vgl. Sueton, Augustus 56,4: affuit et clientibus, […]. Dio 55,4,3; vgl. C. DEROUX, Auguste, Cassius Severus et le procès de Nonius Asprenas (Suétone, Aug. LVI,6 et Dion Cassius LV,4,3), in: Latomus 63 (2004), S. 178-181.
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Der Traditionalismus des Augustus bewirkte nicht, daß sich die politische Klasse, also im wesentlichen die Senatoren, so fühlte, als lebe sie noch in der alten Republik. Daß die eigenen Erfolge und Rückschläge nun ganz wesentlich von einem Manne abhängig waren, konnte niemand übersehen, und daß das etwas anderes war als die einigermaßen freie Konkurrenz der Vorfahren im politischen Raum, war auch denen klar, die diesen Zustand gar nicht mehr persönlich erlebt hatten. Das ehrwürdige republikanische Ritual der salutatio, bei der sich Menschen aller Schichten bei einflußreichen Senatoren zur morgendlichen Begrüßung einfanden und Zahl und soziales Gewicht der Besucher den Status dieses Senators in Konkurrenz zu anderen augenfällig machten, dieses Ritual entwickelte sich denn auch unter Augustus zu einer Veranstaltung, bei der tendenziell alle Senatoren fast jeden Tag im kaiserlichen Schlafzimmer an ihrem princeps vorbeidefilierten.97 Deutlicher ließ sich nicht mehr zur Darstellung bringen, daß es jetzt einen gab, der alle anderen weit überragte. Daß dieser Systembruch, den die Existenz eines Monarchen bedeutete, in vielen Einzelelementen mit überlieferten Praktiken und Werthaltungen im Einklang stand, machte es immerhin schwer, gegen den Principat anzuargumentieren, und bot – was eine wichtige Konsequenz war – vielfältige Vorwände, sich mit dem augusteischen Gemeinwesen zu arrangieren. In dieser Art von Monarchie, gegen die man nur unter großen persönlichen Risiken aufbegehren und von der man sich nur um den Preis des Rückzugs ins Privatleben fernhalten konnte, war es angenehm, wenn es die weitgehende Orientierung des Herrschaftssystems an der geheiligten Tradition und die Umgangsformen des Machthabers erlaubten, sich ohne Gesichtsverlust anzupassen. Mit dieser Einlagerung des eigenen Handelns in die traditionellen Verfahren konnte Augustus die senatorischen Interaktionsräume und damit die Wirkungsmöglichkeiten intransitiver Macht wieder stärker beleben, als dies in der Triumviratszeit der Fall gewesen war. Dadurch hat er zweifellos zur Akzeptanz und Stabilisierung seiner eigenen Stellung und damit letztlich zur Steigerung seiner Macht beigetragen. Doch die schon genannte Doppelbödigkeit seines Principats schlug sich gelegentlich in offenen Konflikten mit der überkommenen Form nieder. So beklagte er, nur er allein könne nicht, wie es in der römischen Gesellschaft gängig war, einem Freund nach Fehlverhalten zürnen.98 Tatsächlich bedeutete der Entzug der kaiserlichen Freundschaft für den Betroffenen, daß sich auch andere Angehörige der Oberschicht zurückzogen, da sie nicht mit jemandem kooperieren wollten, von dem sich der wichtigste Mann des Staates ostentativ distanziert hatte. Die Entscheidung des Princeps bedeutete also zumeist den sozialen Tod des Be-
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Vgl. die Analyse von A. WINTERLING, Aula Caesaris. Studien zur Institutionalisierung des römsichen Kaiserhofes in der Zeit von Augustus bis Commodus (31 v.Chr. – 192 n.Chr.), München 1999, S. 122-138. Sueton, Augustus 66,2: […] vicem suam conquestus est, quod sibi soli non liceret amicis, quatenus vellet, irasci. Vgl. dazu v.a. W. KIERDORF, Freundschaft und Freundschaftskündigung. Von der Republik zum Prinzipat, in: BINDER, Saeculum Augustum, Bd. 1 (wie Anm. 73), S. 223-245.
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troffenen.99 Dabei blieb es dann aber nicht, wie das Beispiel des Cornelius Gallus 27 v.Chr. zeigt, als das von Augustus gegen Gallus ausgesprochene Verbot, sein Haus und seine Provinzen zu betreten, Ankläger auf den Plan rief, die sich offenbar in dem Glauben, dem Augustus damit einen Gefallen zu tun, auf Gallus stürzten und ihn mit Prozessen überzogen.100 In dieser verzweifelten Lage setzte Gallus seinem Leben durch Selbstmord ein Ende.101 Gerade indem Augustus versuchte, sich so wie andere Senatoren zu verhalten, trat in den Konsequenzen offen zutage, daß er keineswegs ein Senator wie andere war. In der politischen Diskussion der römischen Republik dominierten zwei Argumentationstypen, mit denen sich Geltungsansprüche untermauern ließen: Man konnte entweder auf Leistung verweisen, die den Anspruch auf Anerkennung und Einfluß begründete, oder auf die exempla und den mos maiorum, also auf die Verhaltensweisen der Vorfahren, die durch die einzigartige Erfolgsgeschichte Roms unanfechtbare Akzeptanz gewonnen hatten. Hinsichtlich der Leistungen hatte Augustus schon frühzeitig alle denkbaren Konkurrenten weit übertroffen, was er in seinem Tatenbericht in ganz konventioneller Weise betonte. Indem er nach seinem Sieg im Bürgerkrieg den Traditionsdiskurs besetzte und sich als Vorkämpfer für die Rückkehr zu den alten Bräuchen präsentierte und in vielen Bereichen glaubwürdig machte, verstellte er den potentiellen Gegnern aber auch den zweiten Weg, sich unter Rückgriff auf allseitig akzeptierte Geltungsfonds selbst in ihrer Ablehnung des Regimes zu stabilisieren und einen Oppositionskurs für viele andere einleuchtend zu machen. Gleichzeitig konnte man in den wieder eröffneten Kommunikationsräumen leidlich berechenbar mitwirken und sich bewähren, und man konnte die Laufbahn durchlaufen wie die eigenen Ahnen, so daß die Notwendigkeit zur Fundamentalopposition vermindert wurde. Mit dieser partiellen Intransivierung seiner Machtstellung von 31/30 v.Chr. holte Augustus allmählich viele ins Boot, die ihm und seiner Dominanz zunächst äußerst distanziert gegenüber gestanden hatten. Daß Augustus die republikanischen Geltungsbegründungen 99
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Die Ausnahme bildete der Schriftsteller Timagenes von Alexandria, dem Augustus ebenfalls die Freundschaft kündigte, den aber der Consular Asinius Pollio in sein Haus aufnahm (Seneca, De ira 3,23,4-8; Seneca (der Ältere), Controversiae 10,5,22; Plutarch, Moralia 68 B). Der entscheidende Grund dafür, daß Timagenes noch eine Chance erhielt, war weniger die relative Unabhängigkeit, die sich Pollio bis zu einem gewissen Grade bewahrt hatte, als vielmehr die soziale Irrelevanz des Timagenes im römischen Kontext, da er ja nicht einmal römischer Bürger, jedenfalls kein Mitglied des Senatsadels war. Vgl. auch KIERDORF, Freundschaft (wie Anm. 98), S. 235f. Sueton, Augustus 66,2; Dio 53,23,6-24,1. Vgl. KIERDORF, Freundschaft (wie Anm. 98), S. 233235; S. 239f.; T. STICKLER, „Gallus amore peribat“? Cornelius Gallus und die Anfänge der augusteischen Herrschaft in Ägypten (Althistorische Studien der Universität Würzburg 2), Rahden/Westf. 2002, S. 51-65. Den rätselhaften Senatsbeschluß, der nicht zu einem Strafverfahren vor einem Gerichtshof paßt (Dio 53,23,7; s. auch Sueton, Augustus 66,2), hat W. KUNKEL, Über die Entstehung des Senatsgerichts (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse 2 [1969]), München 1969, S. 14-21 überzeugend als einen vorgreifenden Beschluß gedeutet („entgegen allen Geboten juristischer Fairness“, a.O., S. 17), daß Gallus zu verurteilen sei. Sueton, Augustus 66,2; Dio 53,23,6f.
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so umfassend für sein neues System vereinnahmte, verhinderte vielleicht auch, daß sich eine organisierte Opposition gegen ihn bildete, was vereinzelte Verschwörungen nicht ausschloß.102 Erst mit den Verhaltensregeln der stoischen Philosophie gewann der römische Senatorenstand wieder einen Rückhalt, um jenseits persönlicher Unverträglichkeiten und Kränkungen zur Herrschaft einzelner Kaiser auf Distanz zu gehen. Doch der Stoizismus ist in seinem Kern privatistisch, so daß er eher auf den Rückzug aus dem öffentlichen Leben als auf die Umgestaltung des politischen Systems hinführt.103
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Vgl. zum Fehlen einer dauerhaften Opposition überzeugend RAAFLAUB / SAMONS II, Opposition (wie Anm. 80), S. 447-454; siehe auch FERRARY, Res publica restituta (wie Anm. 34), S. 426f. gegen DETTENHOFER, Herrschaft (wie Anm. 76), passim. Dies ist nicht die einzige Möglichkeit, doch stellte die stoische Philosophie mit ihrer Grundmaxime, daß ein Leben in Kontemplation und in Beschäftigung mit Philosophie und Wissenschaft das angemessene sei, jedenfalls Argumente bereit, um zu privatisieren. Darüber hinaus war ihr Ansatz zur Beurteilung politischen Handelns tugendorientiert und nicht strukturell, d.h. die dadurch mobilisierbare Opposition gegen einen Kaiser neigte zur Akzentuierung des individuellen Versagens dieser Person vor den Idealen, nicht zur Attacke auf die Unangemessenheit monarchischer Herrschaftsstrukturen. Vgl. dazu etwa P. A. BRUNT, Stoicism and the Principate, in: Papers of the British School at Rome 43 (1975), S. 7-35.
KONTINUITÄTSFIKTION UND SYMBOLISIERUNG BEI DEN ERSTEN VISCONTI IN MAILAND (1277-1354). Die städtische Tradition und der Legitimationsprozess einer innovativen Macht GUIDO CARIBONI Ich widme diese Arbeit dem Andenken Fabio Bisognis. Mit Waffengewalt oder durch Amtsuntreue eroberte Macht bedarf, um dauerhaft zu werden,1 eines auf die Erlangung von Legitimität gerichteten Stabilisierungsprozesses. Legitimität kann erreicht werden, indem von Seiten der neuen Macht eine scheinbare, in Wirklichkeit aber fiktive Kontinuität zu der vorangegangenen Geschichte vermittelt wird.2 Eine solche Inanspruchnahme von Tradition geschieht auf der einen Seite durch ihre nur formale Annahme bzw. durch die Konstruktion institutioneller Mechanismen, die den Anschein von Legitimität garantieren; auf der anderen Seite durch die Konstruktion eines gut strukturierten symbolischen Apparates, der scheinbar auf gemeinsame und einhellig geteilte Werte verweist. Es handelt sich in diesem Fall um eine Repräsentation von Herrschaft, die zwei unterschiedliche Bedeutungsdimensionen besitzt: zum einen eine technischinstrumentelle Dimension, das heißt der Gebrauch eines fiktiven strukturellen Mittels, welches „der Herstellung politischer Handlungs- und Willenseinheit dient“,3 zum anderen eine symbolische Dimension, und zwar die „symbolische Darstellung und Verkörperung von Prinzipien (z.B. „Leitideen“) und Geltungsan 1
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Der Beitrag wurde übersetzt von Juri Haas. B. STOLLBERG-RILINGER, Herstellung und Darstellung politischer Einheit: Instrumentelle und symbolische Dimensionen politischer Repräsentation im 18. Jahrhundert, in: J. ANDRES / A. GEISTHÖVEL / M. SCHWENGELBECK (Hgg.), Die Sinnlichkeit der Macht. Herrschaft und Repräsentation seit der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 2005, S. 75: „Macht und Herrschaft bedürfen in einem elementaren Sinne der symbolischen Repräsentation, weil sie nicht bestehen könnten, wenn sie laufend ihre Sanktionsdrohungen gewaltsam realisieren müssten.“ K. S. REHBERG, Die stabilisierende „Fiktionalität“ von Präsenz und Dauer. Institutionelle Analyse und historische Forschung, in: B. JUSSEN / R. BLÄNKNER (Hgg.), Ereignis und Institutionen, Göttingen 1998, S. 387: „Gerade für die geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen mag durch diese Betrachtungsweise ein Verständnis des Zusammenhanges von Kontinuität und Wandel befördert werden. Was als ‚Dauer’ verstanden oder ausgegebenen wird ist kein bloßes Faktum, sondern ein zu erklärendes Phänomen und es ist eine der Aufgaben institutioneller Analyse, die ‚fiktionale’ gleichwohl wirksame und insofern ‚reale’ Herstellung von Geltung begründender ‚Dauer’ zu rekonstruieren.“ STOLLBERG-RILINGER, Herstellung und Darstellung (wie Anm. 1), S. 73.
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sprüchen, die auf kulturelle Sinn- und Wertvorstellungen verweist“.4 Diese beiden Ebenen sind in Wirklichkeit eng miteinander verbunden,5 verstecken sie doch eine neue, personale Macht hinter den Äußerlichkeiten einer entstellten, wenn auch nach außen immer gleichen kollektiven Tradition. Es handelt sich nicht einfach um politische Propaganda, denn in diesem Fall ist der Begriff der Propaganda zu oberflächlich und einschränkend. Wie Hagen KELLER hervorgehoben hat, handelt es sich hier vielmehr um einen Versuch, auf der Ebene gemeinsamer Werte und Prinzipien nachdrücklich sowohl auf den Einzelnen, als auch auf die Gemeinschaft Einfluss zu nehmen. Ziel ist dabei eine tief greifende Transformation der Prinzipien sozialer Ordnung.6 Diese Dynamiken lassen sich sehr deutlich anhand der Entwicklung der Herrschaft der Visconti in der Stadt Mailand bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts skizzieren. Dazu ist es aber zunächst notwendig, kurz die wichtigsten historischen Eckdaten zu skizzieren, innerhalb derer sich die Vorherrschaft dieser Familie entwickelt hat. Seit dem 10. Jahrhundert erlaubten eine sehr schwach ausgeprägte Königsherrschaft und das nahezu vollständige Fehlen öffentlicher Beamter – der Grafen – dem Erzbischof von Mailand genauso wie anderen lombardischen Bischöfen, in der eigenen Stadt die politische Führungsfunktion faktisch zu übernehmen. Die weltliche Herrschaft (Signoria) der Bischöfe hatte ihre Wurzeln in dem religiösen Prestige, das sie genossen, und einer umfassenden, weit über die Stadtgrenzen
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G. MELVILLE, L’institutionnalité médiévale dans sa pluridimensionnalité, in: J. C. SCHMITT / O. G. OEXLE (Hgg.), Les tendances actuelles de l’histoire du Moyen Âge en France et en Allemagne. Actes des Colloques de Sèvres (1997) et Göttingen (1998) (Histoire Ancienne et Médiévale 66), Paris 2003, S. 244. Dazu siehe auch REHBERG, Die stabilisierende „Fiktionalität“ (wie Anm. 2), S. 387-389. Die Frage der Symbolisierung als Mittel zur Stabilsierung von Institutionen und sozialen Ordnungen war in den letzten Jahrzehnten Gegenstand verschiedener Forschungsprojekte. Vgl. dazu auch MELVILLE, L’institutionnalité médiévale (s.o.), S. 243-264; B. STOLLBERG-RILINGER, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 489-527; K. S. REHBERG, Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien. Eine Einführung in systematischer Absicht, in: G. MELVILLE (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 3-49 und DERS., Präsenzmagie und Zeichenhaftigkeit. Institutionelle Formen der Symbolisierung, in: G. ALTHOFF (Hg.), Zeichen – Rituale – Werte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Münster 2004, S. 19-36. Diese internen Dynamiken der norditalienischen Städte sind untersucht worden von H. KELLER / C. DARTMANN, Inszenierungen von Ordnung und Konsens. Privileg und Statutenbuch in der symbolischen Kommunikation mittelalterlicher Rechtsgemeinschaften, in: ALTHOFF, Zeichen – Rituale – Werte (s.o.), S. 212-223. STOLLBERG-RILINGER, Herstellung und Darstellung (wie Anm. 1), S. 76-79. H. KELLER, La responsabilità del singolo e l’ordinamento della comunità, in: G. CONSTABLE / G. CRACCO / H. KELLER / D. QUAGLIONI (Hgg.), Il secolo XII: la „renovatio“ dell’Europa cristiana. Atti della XLIII settimana di studio (Trento, 11-15 settembre 2000) (Annali dell’Instituto storico italo-germanico in Trento, Quaderni 62), Bologna 2000, S. 88 und Anm. 44.
Kontinuitätsfiktion und Symbolisierung bei den ersten Visconti in Mailand (1277-1354)
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hinausreichenden ökonomischen Basis.7 Die Erzbischöfe, deren bedeutendster Vertreter zwischen dem 11. und 12. Jahrhundert Ariberto di Intimiano war (auf dem Mailänder Bischofsstuhl von 1018 bis 1045), vertraten zweifelsohne die weltlichen Interessen der eigenen kirchlichen Institution, die sie allerdings in Einklang mit den Interessen der Stadt brachten, indem sie die Verteidigungsvorkehrungen organisierten und die Entwicklung des Handels schützten.8 Die weltliche Regierung des Bischofs war keineswegs als eine unbeschränkte Herrschaft zu verstehen, sondern sie bewegte sich innerhalb der Grenzen, welche eine von verschiedenen inneren Spannungen und Widersprüchen gekennzeichnete Bürgerschaft vorgab, und fügte sich so in ein differenziertes Geflecht sozialer Beziehungen ein, welche häufig von heftigen internen Kämpfen bestimmt waren.9 Die Zeit der Kirchenreform in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts gab diesen Auseinandersetzungen eine starke religiöse Konnotation. Gleichzeitig stellte sie aber auch die Basis für ein intensives „institutionelles Experimentieren“ durch Konflikte, aber auch Kompromisse der verschiedenen Parteien, dar.10 Die anhaltende Schwäche des Bischofsamts während der Zeit der Gregorianischen Reform war sicherlich eine der Ursachen, die dazu führten, dass die verschiedenen sozialen Gruppen schrittweise einen neuen, vom Erzbischof abgelösten politischen Bezugspunkt suchten, indem sie eigene weltliche Strukturen und Magistraturen entwickelten, die ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts mit dem Begriff „comune“ belegt wurden.11 Der Erzbischof wurde allerdings nicht 7
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A. AMBROSIONI, Gli arcivescovi e il comune cittadino, in: Milano e la Lombardia in età comunale. Secoli XI-XIII, Mailand 1993, S. 24-34; DIES., Gli arcivescovi nella vita di Milano, in: Atti del X congresso internazionale di Studi sull’Alto Medioevo (Milano, 26-30 settembre 1983), Spoleto 1986, S. 85-118 und auch G. PICASSO, La Chiesa vescovile: dal crollo dell’Impero Carolingio all’età di Ariberto (882-1045), in: A. CAPRIOLI / A. RIMOLDI / L. VACCARO (Hgg.), Diocesi di Milano, 1a°parte (Storia religiosa della Lombardia 9), Brescia 1990, S. 143-166. C. VIOLANTE, La società milanese nell’età precomunale (Biblioteca Universale Laterza 11), Bari 1981, S. 211-302. G. ANDENNA, L’età delle signorie rurali e dei feudi, in: DERS. / R. BORDONE / F. SOMAINI / M. VALLERANI, Comuni e signorie nell’Italia settentrionale: La Lombardia (Storia d’Italia 6), Turin 1998, S. 256-291. G. TABACCO, La sintesi istituzionale di vescovo e città in Italia e il suo superamento nella „res publica“ comunale, in: DERS., Egemonie sociali e strutture del potere nel medioevo italiano, Turin 1979, S. 397-427; G. DILCHER, Die Entstehung der lombardischen Stadtkommune (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, Neue Folge 7), Aalen 1967. H. KELLER, „Kommune“. Städtische Selbstregierung und mittelalterliche „Volksherrschaft“ im Spiegel italienischer Wahlverfahren des 12.-14. Jahrhunderts, in: G. ALTHOFF (Hg.), Person und Gemeinschaft im Mittelalter. Karl Schmid zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1988, S. 573-616; DERS., Der Übergang zur Kommune: zur Entwicklung der italienischen Stadtverfassung im 11. Jahrhundert, in: B. DIESTELKAMP (Hg.), Beiträge zum hochmittelalterlichen Städtewesen (Städteforschung A 11), Köln/Wien 1982, S. 55-72; G. TABACCO, Le istituzioni di orientamento comunale nell’XI secolo, in: Milano e il suo territorio in età comunale (XI-XII secolo). Atti dell’XI congresso internazionale di Studi sull’Alto Medioevo (Milano, 26-30 ottobre 1987), Bd. 1, Spoleto 1989, S. 55-81; F. MENANT, L’Italie des communes: 1100-1350, Paris 2005.
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durch einen plötzlichen revolutionären Akt – Ausdruck der Kämpfe konkurrierender Mächte – entmachtet. Der Stadtkommune gelang es vielmehr schrittweise durch den Willen der führenden Köpfe der jeweiligen sozialen Gruppen, eine kollektive Vertretung der gesamten Stadt zu schaffen.12 Diese neue Institution gewann ihre Form im Laufe des 12. Jahrhunderts, indem sie nach und nach immer mehr öffentliche Rechte und Funktionen übernahm. Dank so innovativer Regierungsformen wie dem Konsulat oder dem Podestà als exekutive Mächte und dem „consiglio magno“ oder „arengo“, also der großen städtischen Volksversammlung, die ab dem Ende des 12. Jahrhunderts immer stärker legislative Aufgaben übernahm, konnte ein positives, statuarisch gesetztes Recht auf konsensualer Basis geschaffen werden.13 Die institutionelle Form der Stadtkommune war dennoch alles andere als stabil.14 Die inneren Spannungen brachen erneut auf, als aufgrund einer raschen Ausdifferenzierung der urbanen Gesellschaft neue soziale Gruppen eine deutlichere Beteiligung an der städtischen Regierung einforderten. Diese Widersprüche wurden nur zeitweilig, während der heftigen Kämpfe, die Mailand zu Zeiten der beiden Kaiser Friedrich I. und Friedrich II. gegen äußere Feinde führte, hintan gesetzt.15 In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts führten diese internen Kämpfe zu einem von wechselnden Konfliktlagen begleiteten Bürgerkrieg. Eine beachtliche Gruppe von Familien mit althergebrachter aristokratischer Tradition wurde gezwungen, Mailand zu verlassen, wo für über 15 Jahre – von 1262 bis 1277 – die Macht von Seiten der „populares“, den Vertretern der aufsteigenden Schicht der Handwerker und kleinen Kaufleute, übernommen wurde. Diese Partei, die sich in der „Credenza di Sant’Ambrogio“ genannten Organisation vereinigte, stand unter der Führung des Adligen Napoleone della Torre und seiner Familie.16 12 13
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KELLER, La responsabilità del singolo (wie Anm. 6), S. 67-88. G. ROSSETTI, Le istituzioni comunali a Milano nel XII secolo, in: Milano e il suo territorio in età comunale (wie Anm. 11), S. 83-112; G. CHITTOLINI, Aspetti e caratteri di Milano „comunale“, in: Milano e la Lombardia in età comunale (wie Anm. 7), S. 15-21. Zum Prozess der Verrechtlichung H. KELLER / R. SCHNEIDER, Rechtsgewohnheit, Satzungsrecht und Kodifikation in der Kommune Mailand vor der Errichtung der Signorie, in: H. KELLER / J. W. BUSCH (Hgg.), Statutencodices des 13. Jahrhunderts als Zeugen pragmatischer Schriftlichkeit (Münstersche Mittelalter-Schriften 64), München 1991, S. 15-24. F. MENANT, La transformation des institutions et de la vie politique milanaises au dernier âge consulaire, in: Milano e il suo territorio in età comunale (wie Anm. 11), S. 113-144; TABACCO, Egemonie sociali e strutture del potere (wie Anm. 10), S. 275-292; zu den Mängeln der Kommune G. CHITTOLINI, La crisi delle libertà comunali e le origini dello Stato territoriale, in: DERS., La formazione dello stato regionale e le istituzioni del contado. Secoli XIV-XV (Piccola Biblioteca Einaudi 375), Turin 1979, S. 6-11. R. HERMES, Totius Libertatis Patrona. Die Kommune Mailand in Reich und Region während der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts (Europäische Hochschulschriften, Reihe III 858), Frankfurt a.M. 1999. Für eine ausführliche Darstellung dieser Periode der Mailänder Geschichte unter besonderer Beachtung sozialer Aspekte siehe P. GRILLO, Milano in età comunale (1183-1276). Istituzioni, società, economia (Istituzioni e società 1), Spoleto 2001, S. 498-508, S. 660-674.
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Der politische Aufstieg der Visconti, die Vertreter der aristokratischen Partei in der Verbannung waren, ist indes in keiner Weise verknüpft mit der Autorität, dem politischen Prestige oder der ökonomischen Macht, welche das Geschlecht in der Zeit der Stadtkommune hatte.17 Zur Mitte des 13. Jahrhunderts waren sie zwar eine angesehene adlige Familie, aber im Vergleich zu anderen nicht außerordentlich reich und auch politisch nicht besonders einflussreich. Zum Aufstieg der Familie trug ein eher kontingenter Faktor bei, der aus verschiedenen Gründen nicht vorhersehbar war. Eine unheilbare Spaltung innerhalb des Metropolitankapitels hatte es dem Papst im Jahre 1262 möglich gemacht, den ambrosianischen Bischofsstuhl mit einem Vertreter der Familie Visconti zu besetzen, welcher bis dahin einfacher Kaplan des Kardinals Ottaviano degli Ubaldini gewesen war.18 Der zusammen mit vielen Adligen bis 1277 aus der Stadt verbannte neue Erzbischof Ottone Visconti wusste daraufhin sehr geschickt seine Bischofswahl auszunutzen, die der Ausgangspunkt für sein politisches Glück und das seiner Familie wurde. Es gab drei Strategien19 die von den Visconti umgesetzt wurden, um sich eine rechtliche Basis zu schaffen bzw. zu versuchen, die über Mailand und das umliegende Gebiet ausgeübte Herrschaft abzusichern, welche viele Male nur durch militärische Gewalt oder militärisch-politische Bündnisse erlangt worden war. Der erste Weg war die Erlangung des Episkopats. In der Geschichte Mailands hatten die Bischöfe nämlich schon zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert zivile Ämter öffentlicher Natur in der Stadt ausgeübt.20 Verdrängt von weltlichen Institutionen 17
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G. BISCARO, I maggiori dei Visconti signori di Milano, in: Archivio Storico Lombardo 38 (1911), fasc. 31, S. 5-76; F. COGNASSO, I Visconti, Mailand 1966, S. 10-12, S. 39-40, S. 47-51; GRILLO, Milano in età comunale (wie Anm. 16), S. 291-295 und E. OCCHIPINTI, I Visconti di Milano nel XII secolo, in: A. SPICCIANI (Hg.), Formazione e strutture dei ceti dominanti nel medioevo: marchesi, conti e visconti nel regno italico (secc. IX-XII). Atti del terzo convegno (Pisa, 18-20 marzo 1999) (Nuovi Studi Storici 56), Rom 2003, S. 122-135; einige wichtige Bemerkungen auch in A. LUCIONI, Somma e la sua pieve dall’alto Medioevo all’età borromaica, in: A. BURATTI MAZZOTTA (Hg.), La basilica di Sant’Agnese. L’antica prepositurale di Somma e la sua pieve: storia, arte, architettura, Varese 2006, S. 45-49; F. SOMAINI, Processi costitutivi, dinamiche politiche e strutture istituzionali dello Stato visconteo sforzesco, in: ANDENNA / BORDONE / SOMAINI / VALLERANI, Comuni e signorie (wie Anm. 9), S. 681-683. E. CATTANEO, Ottone Visconti arcivescovo di Milano, in: DERS., La Chiesa di Ambrogio. Studi di storia e di liturgia (Scienze Storiche 34), Mailand 1984, S 82-87. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Beobachtungen und die Bibliographie von SOMAINI, Processi costitutivi (wie Anm. 17), S. 682-683. Zu den ersten Formen der Herrschaft der Signoria und deren Bestätigung sowohl von oben als auch von unten vgl. MENANT, L’Italie des communes (wie Anm. 11), S. 120-121. TABACCO, Egemonie sociali e strutture del potere (wie Anm. 10), S. 381-382: „I Visconti impiegarono oltre settant’anni per comporre questi vari orientamenti in un medesimo e stabile quadro politico, nuovamente utilizzando, fra l’altro, intorno alla metà del Trecento – fu l’età dell’arcivescovo Giovanni Visconti – quella dignità ecclesiastica che già ad Ottone Visconti, nel primo affermarsi della signoria viscontea in Milano, aveva procurato mezzi di azione ecclesiastica, economica e clientelare capaci di integrare le clientele delle famiglie e della parte dei nobili: quella dignità che già in età precomunale, ai tempi di Ariberto arcivescovo, aveva altamente rappresenta-
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und der kollektiven Regierung der Stadtkommune, war die Form der bischöflichen Regierung allerdings vom Ende des 11. Jahrhunderts an in eine Krise geraten. Die Ernennung der Bischöfe war in der Lombardei seit dem Ausgang des 13. Jahrhunderts überdies an die Approbation des Papstes gebunden.21 Das Amt des Bischofs bekleideten zwei Mitglieder der Familie: zuerst Ottone Visconti22 (Bischof ab 1262, aber tatsächlich nur von 1277 bis 1295 in Mailand tätig) und dann dessen Großneffe Giovanni Visconti (von 1342 bis 1354; obwohl er bereits 1318 sowie 1339 für dieses Amt vom Metropolitankapitel ausersehen worden war).23 Der zweite Weg war die Wahl in die ältesten Ämter der kommunalen Regierung, also dem „capitanato del popolo“ oder dem dominatus bzw. rectoratus, das heißt den Ämtern außerordentlichen Charakters, die am Anfang nur für begrenzte Zeit, ab 1330 aber lebenslang verliehen wurden.24 In diesem Fall kam die Ernennung sozusagen von unten, von den Kommunalversammlungen, also vom „Consiglio del popolo“ und vom „Consiglio di Credenza“.25
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to Milano nello sviluppo di un’azione politica in Lombardia. Ma l’autorità arcivescovile era ormai, a metà del Trecento, riguardo alla potenza politica di Milano e dei Visconti, non più il fulcro di un’egemonia cittadina come nell’XI secolo, o dell’egemonia di una Parte e di una famiglia, come per un ventennio nel XIII secolo, bensì uno strumento fra i molti: uno strumento del resto estorto alla Chiesa romana dal prepotente soverchiare della famiglia in Lombardia, in una pausa della lotta che il papato avignonese condusse quasi ininterrottamente contro il crescere irrefrenabile di quell’organismo politico.“ Dazu siehe auch G. M. VARANINI, Aristocrazie e poteri dell’Italia centro-settentrionale dalla crisi comunale alle guerre d’Italia, in: R. BORDONE / G. CASTELNUOVO / G. M. VARANINI (Hgg.), Le aristocrazie dai signori rurali al patriziato, Bari 2004, S. 129-130; SOMAINI, Processi costitutivi (wie Anm. 17), S. 683-685; O. CAPITANI, Dal comune alla signoria, in: Storia d’Italia UTET, Bd. 4: Comuni e Signorie, Turin 1981, S. 153, S. 163. K. GANZER, Papsttum und Bistumsbesetzungen in der Zeit von Gregor IX. bis Bonifaz VIII. Ein Beitrag zur Geschichte der päpstlichen Reservation (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 9), Köln/Wien 1968, S. 89-91, S. 382; P. LANDAU, Der Papst und die Besetzung der Bischofsstühle, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 37 (1992), S. 241254. CATTANEO, Ottone Visconti arcivescovo di Milano (wie Anm. 18), S. 77-113; G. G. MERLO, Ottone Visconti e la Curia arcivescovile di Milano. Prime ricerche su un corpo documentario, in: M. F. BARONI (Hg.), Gli atti dell’Arcivescovo e della Curia arcivescovile di Milano nel secolo XIII. Ottone Visconti (1262-1295), Mailand 2000, S. IX-XXXIV. Zu Giovanni Visconti siehe G. BISCARO, Le relazioni dei Visconti di Milano con la Chiesa. Azzone, Giovanni e Luchino – Benedetto XII, in: Archivio Storico Lombardo 47 (1920), S. 193-271; F. COGNASSO, L’unificazione della Lombardia sotto Milano, in: Storia di Milano, Bd. 5: La signoria dei Visconti (1310-1392), Mailand 1955, S. 217-357; DERS., I Visconti (wie Anm. 17), S. 148222. Siehe auch G. SOLDI RONDININI, Chiesa milanese e signoria viscontea, in: CAPRIOLI / RIMOLDI / VACCARO, Diocesi di Milano (wie Anm. 7), S. 303-309 und DIES., Visconti Giovanni I (1290-1354), in: Dizionario della Chiesa Ambrosiana, Bd. 4, Mailand 1993, S. 3968-3970. SOMAINI, Processi costitutivi (wie Anm. 17), S. 692-693. TABACCO, Egemonie sociali e strutture del potere (wie Anm. 10), S. 352-358 und MENANT, L’Italie des commune (wie Anm. 11), S. 84-86.
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Ein dritter Weg war der des imperialen Vikariats,26 das heißt eine Ermächtigung für öffentliche Ämter von oben durch den Kaiser, oder im Falle einer kaiserlichen Vakanz durch den Papst. Oft stand hinter solchen Ernennungen eine entsprechende jährliche Zahlung (Matteo erhielt das Vikariat im Jahre 1294 vom römischen König Adolf von Nassau und dann im Jahre 1311 vom Kaiser Heinrich VII., Azzone im Jahre 1329 vom Kaiser Ludwig der Bayer). Bei diesem letzten Weg handelt es sich ohne Zweifel um den „unberechenbarsten“. Das Vikariat war nämlich eng gebunden an die Person, welche es gewährte, und verfiel im Falle von Tod oder Exkommunikation dieser Person. Auch konnte es zu jeder Zeit widerrufen werden. Das Vikariat überschnitt sich zwar mit der Legitimation, die den Visconti von den „consigli cittadini“ geboten wurde, aber sie ersetzte sie bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts nie vollständig. Mindestens aus formaler Perspektive handelte es sich mithin nicht um eine Herrschaft über die Gesellschaft, sondern um eine Herrschaft aus dem Inneren der Gesellschaft heraus.27 Diese drei Wege wurden jedoch nie einzeln verfolgt.28 Sowohl das Episkopat als auch das „capitanato del popolo“ als Mittel, um in den Besitz der Macht zu gelangen, verweisen auf die Geschichte und Tradition der Stadt vor der Herrschaft der Visconti. Es waren darüber hinaus Ämter, die zumindest scheinbar den Herrschern ermöglichten, ein bürgerliches Amt super partes einzunehmen, abseits von innerstädtischen Parteiungen und Fraktionsbildungen. All dies zeigt sich deutlich seit den ersten Jahren der Machtübernahme des ersten Vertreters des Hauses Visconti, dem schon erwähnten Bischof Ottone. Diesem, zwar vom Papst zum Bischof geweiht, aber 1262 aus Mailand verjagt, gelang es, dank der militärischen Unterstützung eines politisch und sozial genau bestimmbaren Teiles der Stadt in dieselbe zurückzukehren. Dazu gehörten Gruppen von Mailänder Familien, sowohl aus aristokratischer Herkunft als auch aus der Schicht der Kaufleute. Diese Familien waren, wie auch die des Ottone, von der Fraktion der populares, angeführt von der Familie Torriani, aus Mailand verbannt worden.29 26
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TABACCO, Egemonie sociali e strutture del potere (wie Anm. 10), S. 357-358; DERS., Programmi di politica italiana in età avignonese, in: Aspetti culturali della società italiana nel periodo del papato avignonese (15-18 ottobre 1978) (Convegni del Centro di Studi sulla spiritualità medievale 19), Todi 1981, S. 71-72; DERS., L’Italia delle signorie, in: Signorie in Umbria tra medioevo e rinascimento: l’esperienza dei Trinci (Foligno, 10-13 dicembre 1986), Bd. 1, Perugia 1989, S. 9-12. C. STORTI STORCHI, Aspetti generali della legislazione statutaria lombarda in età viscontea, in: Legislazione e società nell’Italia medievale. Per il VII centenario degli statuti di Albenga (1288). Atti del Convegno (Albenga, 18-21 ottobre 1988), Bordighera 1990, S. 75. Zur Akkumulation zweier Ämter mit hohem legitimatorischen Gehalt, in diesem Fall das kaiserliche Vikariat und das „capitanato del popolo“ sowie das Amt des „podestà perpetuo“ bei den Scaligeri di Verona in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts siehe G. M. VARANINI, Propaganda dei regimi signorili: le esperienze venete del Trecento, in: P. CAMMAROSANO (Hg.), Le forme della propaganda politica nel Due e nel Trecento (Trieste, 2-5 marzo 1993) (Collection de l’École française de Rome 201), Rom 1994, S. 317-318. SOMAINI, Processi costitutivi (wie Anm. 17), S. 681-686; P. MAINONI, Ricerche sulle arti milanesi tra XIII e XV secolo, in: Economia e politica nella Lombardia medievale. Da Bergamo a Milano
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Als Ottone im Jahre 1277 nach seinem militärischen Sieg tatsächlich sein Amt als Bischof antrat und von den Vertretern der Stadt zum außerordentlichen Rektor Mailands ernannt wurde, vertrat er allerdings sehr bald nicht mehr vorrangig die Interessen der politischen Kräfte, die ihn maßgeblich unterstützt hatten. In den Vordergrund trat nun, dem eigenen religiösen und politischen Primat sehr deutlich Aspekte personaler und familiarer Macht hinzuzufügen, die es ermöglichen würden, diese Herrschaftsposition innerhalb des eigenen Geschlechts durch Vererbung weiterzugeben. Die Ambiguität seines Wirkens tritt schließlich zu Tage, als nur wenige Jahre nach seiner Machtübernahme der Übergang von einer Form der städtischen Regierung, verstanden als eine Art Reproduktion der traditionellen Autorität des Bischofsamtes, zu einem System personaler Macht mit einer dynastischen Tendenz vollzogen war. Diese Entwicklung zeichnet sich vor allem durch die Überwindung der Kennzeichnung ‚parteiisch’ aus, welche die Anfangsphase der neuen Bischofsherrschaft charakterisiert hatte und welche dazu neigte, tatsächlich diejenigen Familien zu unterwerfen, zu behindern oder gar zu vernichten, die ihren Aufstieg überhaupt erst ermöglicht hatten.30 Ottone dagegen, der seine Macht einer einzigen Partei verdankte, zielte, um eigene und familiäre Ziele zu verfolgen, darauf ab, sich als Repräsentant aller darzustellen. Für ihn war es wichtig, niemandem verpflichtet zu sein und als Vertreter von allgemein-städtischen Werten und Bestrebungen nachsichtig mit seinen Gegnern umzugehen sowie in unmittelbarer Weise an die städtischen Traditionen anzuknüpfen.31 Besonders deutlich spiegelt sich diese Haltung in den Handlungen, den Worten und den Ritualen wider, die seine Machtübernahme nach den fünfzehn Jahren Exil charakterisieren; oder besser durch die Rekonstruktion und Kommunikation, welche diese Handlungen durch die Geschichtsschreibung und visconteische Kunst der folgenden Jahrzehnte erfahren haben. Es sind die Darstellungen seines Wirkens, die zu einer Legendenbildung beitrugen und die, abgesehen von ihren rein zeremonialen Zwecken, ohne Zweifel auch auf eine breite öffentliche Wirkung und Legitimation abzielten.32 Die dominikanischen Geschichtsschreiber Stefanardo da Vimercate33 und Galvano Fiamma34, die den Visconti sehr nahe standen, erarbeiteten eine Rekonstruk-
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fra XIII e XV secolo (Le testimonianze del passato, Fonti e Studi 2), Cavallermaggiore 1994, S. 207-215. SOMAINI, Processi costitutivi (wie Anm. 17), S. 689-695. Ebd., S. 691. Zu sehr ähnlichen Dynamiken in den ersten Jahrzehnte der Signorien in Veneto siehe VARANINI, Propaganda dei regimi signorili (wie Anm. 28), S. 329-331 sowie im Allgemeinen CAPITANI, Dal comune alla signoria (wie Anm. 20), S. 153-154. REHBERG, Die stabilisierende „Fiktionalität“ (wie Anm. 2), S. 401-402. Fratris Stephanardi de Vicomercato Liber de gestis in civitate Mediolani, ed. G. CALLIGARIS (Rerum Italicarum Scriptores, Nuova edizione 9/1), Città di Castello 1912. Zu Stefanardo, der das Liber wahrscheinlich am Ende der siebziger Jahre des Duecento verfasste, vgl. G. CREMASCHI, Stefanardo da Vimercate. Contributo per la storia della cultura in Lombardia nel secolo XIII (Pubblicazioni dell’Università Cattolica del Sacro Cuore, N. S. 32), Mailand 1950.
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tion der Stadtgeschichte, die in einem berühmten Fresken-Zyklus wieder aufgenommen wurde.35 Dieser befindet sich in einem Saal (Abb. 1) des Kastells von Angera, also an einem wichtigen Ort der bischöflichen und dann visconteischen Macht.36 In diesem Werk wird Ottone als jemand dargestellt, der unbewaffnet den Feinden verzeiht und sich nicht für das erlittene Unrecht rächt. Wir sehen ihn hier nach dem militärischen Sieg über die Torriani beim Akt der Vergebung gegenüber seinem Todfeind Napoleone, der zu seinen Füßen kniet (Abb. 2). Darüber hinaus stoppt Ottone das wütende Heer in dem Augenblick, als es sich auf die schon überwältigten Gegner stürzen will. An seinem Einzug in Mailand nehmen feiernd und in Eintracht alle religiösen und weltlichen Kräfte der Stadt teil. Er präsentiert sich schließlich der Bürgerschaft nicht als der siegreiche Soldat, sondern als der 34
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G. ODETTO, La cronaca maggiore dell’ordine domenicano di Galvano Fiamma, in: Archivum Fratrum Predicatorum 10 (1940), S. 297-373; P. TOMEA, Fiamma Galvano, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 47, Rom 1997, S. 331-338; DERS., Per Galvano Fiamma, in: Italia medioevale e umanistica 39 (1996), S. 77-120. Für nützliche Informationen zum kulturellen Umfeld Mailands und zu den vom Predigerbruder verwendeten Quellen siehe auch J. W. BUSCH, Die Mailänder Geschichtsschreibung zwischen Arnulf und Galvaneus Flamma (Münstersche MittelalterSchriften 72), München 1997. In Bezug auf die Rituale der Unterwerfung und des öffentlichen Vergebens K. SCHREINER, Gerechtigkeit und Frieden haben sich geküsst (Ps. 84, 11). Friedensstiftung durch symbolisches Handeln, in: J. FRIED (Hg.), Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen 43), Sigmaringen 1996, S. 37-86, besonders S. 65-72 (Friede durch Buße und Unterwerfung); G. ALTHOFF, Demonstration und Inszenierung. Spiegelregeln der Kommunikation in mittelalterlicher Öffentlichkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 27 (1993), S. 31-39. In der Bildunterschrift in einem Rahmen unter dem Fresko, welches diese Episode darstellt, kann man noch lesen: Absolvit dominum Napoleonem ab excommunicatione, pircit (sic) suis et vitam conservat ei veniam petentem. Es handelt sich um ein Zitat eines Abschnitts im Catalogus episcoporum Mediolanensium (Anonymi Mediolanensis Libellus de situ civitatis Mediolani, de adventu Barnabe Apostoli et de vitis priorum pontificum Mediolanensium, ed. A. COLOMBO / G. COLOMBO [Rerum Italicarum Scriptores2 1/2], Bologna 1952, S. 107, Z. 14-21). Hier wird noch einmal die Barmherzigkeit und friedliche Gesinnung des Bischofs unterstrichen, der die Racheabsicht seiner Partei unterdrückt. Zu dieser Quelle siehe BUSCH, Die Mailänder Geschichtsschreibung (wie Anm. 34), S. 254-255 sowie P. TOMEA, Tradizione apostolica e coscienza cittadina a Milano nel medioevo. La leggenda di san Barnaba (Bibliotheca erudita 2), Mailand 1993, S. 97-98. D. BLUME, Planetengötter und ein christlicher Friedensbringer als Legitimation eines Machtwechsels: die Ausmalung der Rocca di Angera, in: Akten des XXV. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte (Wien, 4.-10. September 1993), Bd. 6/Sektion 6: Europäische Kunst um 1300, Wien/Köln/Graz 1986, S. 175-185; DERS., Regenten des Himmels. Astrologische Bilder in Mittelalter und Renaissance (Studien aus dem Warburg-Haus 3), Berlin 2000, S. 64-69; P. TOESCA, La pittura e la miniatura nella Lombardia dai più antichi monumenti alla metà del Quattrocento, Mailand 1912, S. 157-170; T. TIBILETTI, Dipingere il contemporaneo, in: C. BERTELLI (Hg.), Lombardia medievale. Arte e architettura, Mailand 2002, S. 229-251. Die Datierung des Freskenzyklus ist noch immer umstritten. Es gibt zwei Hypothesen, die beide auf historischen und stilistischen Erwägungen fußen. Die erste datiert den Abschluss der Ausmalung in die Zeit des Episkopats von Ottone, welches 1295 endete. Die zweite Hypothese geht dagegen von einer Fertigstellung in der zweiten Signoria von Matteo aus, also gleich nach 1311. Eine spätere Datierung ist aus stilistischen Gründen unwahrscheinlich BLUME, Planetengötter und ein christlicher Friedensbringer (s.o.), S. 176-177, S. 182, Anm. 8.
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Bischof, der sein Amt in Besitz nimmt und Worte verkündet, die den Frieden und die soziale Eintracht preisen, welche endlich nach so langer Zeit wieder gefunden wurden. Galvano Fiamma rekonstruiert den schon im Werk Stefanardos dargestellten Einzug nach Mailand wie folgt:37 Als der Erzbischof Ottone nun endlich sein Amt als Bischof der Stadt antrat, aus der er 18 Jahre verbannt gewesen war, und die Adligen um sich versammelt hatte, die mit ihm zusammen in der Verbannung gewesen waren, sprach er zu ihnen (Abb. 3): ‚Dieser Sieg ist nicht unser Verdienst, sondern wir verdanken ihn Gott. Niemand soll das Schwert zücken, niemand soll Armen oder Reichen etwas wegnehmen und niemand soll sich der erlittenen Beleidigungen oder Verletzungen erinnern. Es soll nicht sein, dass der Erzbischof freudig zu seinem Stuhl zurückkehrt und dabei neue Plünderungen oder neues Blutvergießen beweinen muss. Betreten wir lieber die Stadt, indem wir singen und den Herrn hochleben lassen’. Daraufhin erklärten alle einstimmig mit lauter Stimme: ‚Wir werden machen, was Du von uns verlangst’. Ottone sagte, als er sah, dass alle die Feinde schonen und den Sieg als von Gott geschickt anerkennen würden: ‚Gehen wir mit dem Segen in die Stadt Mailand’. Die verschiedenen Gruppen der Religiosen und der gesamte Klerus kamen ihm mit Gesängen entgegen (Abb. 4 und 5). Und die Einwohner kamen mit den Kindern und jubelten ihm zu ‚Frieden, Frieden’. Als der Erzbischof nach Mailand hineingekommen war, besuchte er als erstes die Kirche des Heiligen Ambrosius (Abb. 6) und wurde zum geistlichen und zum weltlichen Herrn gemacht.38
Stefanardo da Vimercate fügte in Bezug auf diese Handlungen hinzu: Der Bischof setzt sich dafür ein, dass die Res publica wieder zurückkehrt zur alten Ordnung des Rechts und zu den alten Traditionen. […] Das alte Gesetz kehrt zurück und die Unterdrückung entfernt sich aus der Stadt. […] Nun kehren in die Stadt wieder die alte Verfassung und die Bescheidenheit der Väter zurück, das Gemeinwohl nimmt wieder den Platz des Eigennutzes ein.39 37
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Zum Zusammenhang zwischen geschriebenem Text und Abbildung im Spätmittelalter siehe D. ARASSE, L’art et l’illustration du Pouvoir, in: Culture et idéologie dans la genése de l’état moderne (Collection de l’École Française de Rome 82), Rom 1985, S. 231-244. Quando vero Otto archiepiscopus debuit intrare civitatem Mediolani, de qua exul fuerat existens archiepiscopus annis fere XVIII., convocatis nobilibus qui similiter exules fuerant, sic eos alloquutus est dicens: Ista victoria non est nostra, sed est Dei beneficium. Nullus nudet ensem, nullus spoliet pauperem, nec divitem, nullus recordetur iniuriarum aut vulnerum. Non enim decet archiepiscopum ad suam sedem reverti cum gaudio et alios plorare expoliatos vel vulneribus rubricatos. Sed omnes cantantes et laudes Deo referentes, intremus civitatem nostram. Tunc omnes una voce clamaverunt dicentes. Faciemus quod hortaris. Otto ergo viso quod quilibet volebat inimicis parcere et a Deo hanc victoriam recognoscere, ait: Omnes ergo ad Civitatem Mediolanensem cum benedictione eamus. Cui venienti omnes religiosi per turmas suas totusque clerus cum canticis obviavit, civesque cum parvulis acclamabant dicentes: Pax, Pax. Ingressus itaque Otto archiepiscopus civitatem Mediolani, primus visitavit ecclesiam Beati Ambrosii et factus est dominus in temporalibus et spiritualibus. Ordinatum quoque est quod festum Sancte Agnetis fiat, quia illo die victoria fuit. Galvaneus de la Flamma, Chronica Mediolani seu Manipolus Florum, ed. L. A. MURATORI (Rerum Italicarum Scriptores 11), Mediolani 1727, Sp. 704-705. Presul at, ut veteri statuatur in ordine iuris | publica res satagit, priscum revocetur ad usum. | […] Lex antiqua redit, pressuraque cessit ab urbe. | […] Sic Urbs, prolixi langoris pressa dolore, | crimine purgato, dive relevata
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Der beständige Bezug auf die Tradition40 ist ohne Zweifel ein fundamentales Instrument, das ein Herrscher nutzte, um die eigene personale Macht zu verhüllen. Dabei stellt er sich als ein einfacher Träger und Vertreter der Interessen und Ideale der gesamten Gemeinschaft dar, wobei er all jene Aspekte seiner mit Gewalt erlangten Macht zu verstecken und abzumildern versucht, die seine Herrschaft als etwas Neues, tendenziell Zentralistisches und Tyrannisches, also im Grunde Illegitimes, erscheinen lassen. Aber auf welche Tradition, auf welchen Zeitraum beziehen sich die Visconti in dem Versuch, ihre Macht zu legitimieren und zu stabilisieren? Mindestens bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts wird mit der Signoria Giovanni Viscontis ein Rückbezug auf zwei verschiedene Momente der Geschichte der Stadt Mailand deutlich, die von den Visconti geschickt eingesetzt wurden, um eine kontinuierliche Sukzession ihrer Regierung ohne Brüche gegenüber der Vergangenheit zu bezeugen. Strukturell gesehen präsentierten sie sich zumindest formell als direkte Nachfolger der Kommune als kollektive Institution, die auf der Volksversammlung gründet. Was die Visconti taten, war kein Putsch oder Staatsstreich, und es kann auch angesichts der anfänglichen Schwäche ihres Regimes in den ersten Jahrzehnten nicht als solcher angesehen werden.41 Sie integrierten sich in eine zivile Regierungsstruktur ohne sie aufzulösen,42 versuchten jedoch, diese durch kleine Schritte aus dem Inneren heraus zu verändern, um sie kontrollieren zu können und so in der Lage zu sein, sich vor eventuellen Handlungen entgegen gesetzter sozialer Kräfte zu schützen.43 Das Prinzip der erblichen Übertragung der Herrschaft setzte sich erst 1349, also fast siebzig Jahre nach der Machtübernahme Ottones, durch.44 Die Übereignung der Macht durch Erzbischof Ottone auf seinen Neffen Matteo und im Folgenden auf dessen Sohn Galeazzo wurde formell abgesichert durch die Ernennung der beiden letzten zum „capitanato del popolo“, dem ältesten Amt der
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| vigore virtutis, fortique sui medicamine Patris, | tendit ad antiqui cursum sanata tenoris. Stephanardi de Vicomercato Liber de gestis (wie Anm. 33), S. 92-93, Z. 719-720, Z. 725, Z. 732-735. Zum Gebrauch der Tradition im institutionellen Umfeld der Kommune vor der Signoria siehe G. ANDENNA, Eredità di Roma e originalità nelle istituzioni comunali, in: Roma antica nel Medioevo. Mito, rappresentazioni, sopravvivenze nella „Respublica Christiana“ del secoli IX-XIII. Atti della quattordicesima Settimana internazionale di studio (Mendola, 24-28 agosto 1998), Mailand 2001, S. 399-422. TABACCO, Egemonie sociali e strutture del potere (wie Anm. 10), S. 352-353. VARANINI, Aristocrazie e poteri dell’Italia centro-settentrionale (wie Anm. 20), S. 139-143. Zum Prozess der Bewahrung und Transformation der kommunalen Institutionen unter der Signoria siehe MENANT, L’Italie des commune (wie Anm. 11), S. 119-121 sowie TABACCO, Egemonie sociali e strutture del potere (wie Anm. 10), S. 359-361. Zu den Scaligeri siehe VARANINI, Propaganda dei regimi signorili (wie Anm. 28), S. 317-318, S. 323. F. COGNASSO, Istituzioni comunali e signorili di Milano sotto i Visconti, in: Storia di Milano, Bd. 6: Il ducato visconteo e la repubblica ambrosiana (1392-1450), Mailand 1955, S. 455.
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(Stadt)Kommune.45 Diese Wahl wurde zumindest anfänglich nur zeitlich begrenzt vorgenommen – für jeweils ein beziehungsweise fünf Jahre. Azzone, dem im Februar 1329 von Ludwig dem Bayern das kaiserliche Vikariat bestätigt wurde, hielt dieses Amt aber nicht für ausreichend, um legitim regieren zu können. Er ließ sich daher im März 1330 vom „consiglio generale del comune“ zum dominus generalis et perpetuus civitatis et districtus Mediolanensis akklamieren. Auch die Erhebung der Brüder Giovanni und Lucchino zu domini wurde von totus populus et universi officiales et nobiles civitatis Mediolanensis concorditer et unanimiter vorgenommen. Das wichtigste Beschlussorgan der Stadtkommune, der Rat der Achthundert, ratifizierte dabei immer die Übergänge der Herrschaft und die wichtigsten Eingriffe in diese Institution. Aber auch der Rat der Achthundert wurde stufenweise verändert, und es wurden ihm viele Funktionen zugunsten einer neuen Magistratur, nämlich dem „Ufficio dei Dodici di provvisione“ (Amt der Zwölf zur Versorgung), genommen. Die weit reichenden politischen, administrativen, steuerlichen und richterlichen Kompetenzen dieses Organs führten faktisch dazu, dass die Regierung der Stadt einer begrenzten exekutiven Gruppe übertragen wurde, die unmittelbar abhängig von den Visconti war. Der Rat der Achthundert dagegen, dessen Funktion es noch immer war, die herrschaftliche Macht zu bestätigen, wurde reformiert. Seine Mitglieder wurden nicht mehr entsprechend ihrer sozialen Herkunft gewählt, so dass also die verschiedenen sozialen Schichten in ihm vertreten waren, sondern auf territorialer Basis nach genauen zentralen Vorgaben. Das höchste verfassungsgebende Organ der Stadtkommune verlor so also seinen Charakter einer aus der Bürgerschaft hervorgegangenen Einrichtung und wurde nunmehr zu einer Versammlung von unmittelbar vom Herrscher ausgewählten Männern.46 Auch die Statuten der Kommune, das ius proprium der Stadt, welches ein Ergebnis des Konsens gleichberechtigter Vertreter der Gemeinschaft war, wurden nicht abgeschafft, sondern schrittweise reformiert, indem Regelungen und Normen zu Gunsten des Herrschers eingeführt wurden. Solche Reformen wurden aber zumindest formell nicht von oben auferlegt, vielmehr waren sie Ergebnis der Ermächtigung, welche die cives den Visconti bzw. denen von den Visconti gewählten Kommissionen gegeben hatten.47 Es handelt sich hier – wie einige zeitgenössische Juristen unterstrichen haben – um die Erlangung der Herrschaft dank einer fictio
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F. COGNASSO, Le basi giuridiche della signoria di Matteo Visconti in Milano, in: Bollettino storico-bibliografico subalpino 53 (1955), S. 81-89; DERS., Note e documenti sulla formazione della Stato visconteo, in: Bollettino della Società Pavese di Storia Patria 23 (1923), S. 23-169. SOMAINI, Processi costitutivi (wie Anm. 17), S. 689-694; COGNASSO, Istituzioni comunali e signorili (wie Anm. 45), S. 449-466; C. SANTORO, Gli offici del comune di Milano e del dominio visconteo-sforzesco (1216-1515), Mailand 1968, S. 75-80. STORTI STORCHI, Aspetti generali della legislazione statutaria lombarda (wie Anm. 27), S. 71-101 sowie im Allgemeinen MENANT, L’Italie des communes (wie Anm. 11), S. 119-121 und J.C. MAIRE VIGUEUR, Comuni e signorie in Umbria, Marche e Lazio, in: Storia d’Italia UTET, Bd. 7/2, Turin 1987, S. 528.
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iuris, durch welche die legislative Gewalt, welche das römische Recht dem populus anvertraute, in die Hände des dominus überging.48 Die Schaffung von Kontinuität in Bezug auf die Vergangenheit – die so genannte Kontinuitätsfiktion49 – mit dem Ziel, die eigene, spezifische Herrschaft zu legitimieren, indem sie mit der Regierung aller identifiziert wurde, fand auf einem höheren Niveau auch in der symbolischen Kommunikation statt. Symbole und symbolische Handlungen mit großer Öffentlichkeitswirksamkeit, welche die in Wirklichkeit fiktiven Leitideen von städtischer Eintracht, städtischer Identität und besonderer Religiösität transportierten, waren ohne Zweifel wichtige institutionelle Instrumente zur Stabilisierung und Konsolidierung der Macht.50 An dieser Stelle möchte ich einige Beispiele analysieren, die meiner Meinung nach kennzeichnend waren für die Nutzung medialer Instrumente symbolischen Charakters, mit denen Kontinuität vermittelt wurde, um eine personale und familiäre Herrschaft zu legitimieren und zu stabilisieren. Während auf der Ebene der formalen Institutionen der Regierung versucht wurde, eine Kontinuität zur Epoche der Stadtkommune herzustellen, haben die Visconti, um ihrer Macht ein legitimes Fundament zu verschaffen und den jeweiligen Herrscher als Vertreter der gesamten Bürgerschaft und Ergebnis einer gemeinsamen Tradition erscheinen zu lassen, zumindest in den ersten Jahrzehnten versucht, offensichtlich wieder an die präkommunale Periode der Bischofsherrschaft bzw. mehr noch an die nahezu legendäre Tradition des heiligen Bischofs und Stadtpatrons Ambrosius anzuknüpfen.51 Die Figur des Ambrosius, dessen sterbliche Überreste sich in der gleichnamigen Basilika innerhalb der Stadtmauern befanden, wurde beständig herangezogen und auch sichtbar dargestellt und nahm mindestens drei fundamentale Bedeutungen an. In erster Linie ist Ambrosius Heiliger und Stadtpatron, defensor civitatis, er verweist auf das Transzendente und garantiert göttlichen Schutz und göttliche Bestärkung. An zweiter Stelle ist er Bischof und verkörpert insofern die Kontinuität der Regierung der Stadt von episkopaler Seite her. An dritter Stelle ist er die Personifikation der städtischen Tradition, also der Gesamtheit der Ideale und Werte, die der Stadt Mailand eigen sind und die den Kern ihrer Identität ausmachen.52
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STORTI STORCHI, Aspetti generali della legislazione statutaria lombarda (wie Anm. 27), S. 80-86. REHBERG, Die stabilisierende „Fiktionalität“ (wie Anm. 2), S. 406-407. Ebd., S. 7-9, S. 12-15. Im speziellen Fall siehe MENANT, L’Italie des communes (wie Anm. 11), S. 242-248. Ebd., S. 205-207. P. BOUCHERON, La mémoire desputée: le souvenir de saint Ambroise, enjeu des luttes politiques à Milan au XVe siècle, in: H. BRAND / P. MONNET / M. STAUB (Hgg.), Memoria, Communitas, Civitas. Mémoire et conscience urbaines en Occident à la fin du Moyen Âge (Beihefte der Francia 55), Ostfildern 2003, S. 203-223; E. CATTANEO, La tradizione e il rito ambrosiani nell’ambiente lombardo-medievale, in: DERS., La Chiesa di Ambrogio (wie Anm. 18), S. 117-159. In Bezug auf die städtische Identität und das kollektive Zugehörigkeitsgefühl auch in der Zeit der Signoria siehe VARANINI, Aristocrazie e poteri (wie Anm. 20), S. 138; DERS., Propaganda dei
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Die Bedeutung Ambrosius’ als Bischof war am wichtigsten für Ottone, der hierin die solideste Basis seiner Herrschaft fand. Die Möglichkeiten dieses Stabilisierungsinstruments werden aber noch klarer beim zweiten Bischof des Hauses Visconti, Giovanni, dem Sohn des Neffen Ottones. Dieser sieht sich als unmittelbarer Nachfolger seines Großonkels, was nicht zuletzt in seinem Wunsch zum Ausdruck kommt, im gleichen Grab bestattet zu werden (Abb. 7 und 8).53 Die Wahl Giovannis zum Erzbischof von Mailand durch das Metropolitankapitel geht zwar schon auf das Jahr 1319 zurück; er wurde aber erst gut 23 Jahre später, 1342, auch zum Erzbischof geweiht. Die Päpste Johann XXII. und Benedikt XII. hatten nämlich zunächst seine Wahl annulliert und ihn dann im Jahre 1321 zusammen mit seiner Familie der Häresie angeklagt. Als er nach gut 9 Jahren im Herbst 1330 davon freigesprochen wurde, bestimmte man ihn für den unbedeutenderen Bischofssitz in der Stadt Novara, deren Herr er durch einen Handstreich im Mai 1332 wurde.54 Tatsächlich aber blieb er die gesamte Zeit über Verwalter der Diözese von Mailand und hatte somit auch ihre beachtlichen ökonomischen Reichtümer zu seiner Verfügung, während es dem legitimen, vom Papst designierten Bischof, dem Novareser Aicardo di Camodeia aufgrund des Widerstandes der Visconti nie gelang, den Mailänder Bischofsstuhl in Besitz zu nehmen. In den Jahren bis zu seiner Weihe zum Erzbischof und insbesondere seit der Lösung seiner Exkommunikation war Giovanni bestrebt, sich gegenüber seiner Stadt als rechtgläubiger und würdiger Bischof für den Mailänder Stuhl zu profilieren und sich in die Nachfolge Ambrosius zu stellen. Darüber hinaus versuchte er, indem er die Figur Ambrosius nutzte, erneut die Tradition der zivilen und politischen Macht der Bischöfe herauszuarbeiten, die in der Lombardei seit der kommunalen Zeit fast vollständig in Vergessenheit geraten war. Mit einer beachtlichen Reihe öffentlicher liturgischer Geschehnisse, in welche die Bürgerschaft einbezogen wurde, machte er mittels symbolischer Handlungen, die in pectore zeigten, deutlich, wer – wenn auch noch nicht rechtlich bestätigt – Erzbischof von Mailand sei, um jeden Zweifel an seiner orthodoxen Einstellung zu
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regimi signorili (wie Anm. 28), S. 329-331, S. 341 und TABACCO, L’Italia delle signorie (wie Anm. 26), S. 13-14. Das Epitaph Ottones an der Stirnseite des Sarkophags ist auch abgebildet in Catalogus Archiepiscoporum Mediolanensium (wie Anm. 35), S. 109. Für dasjenige von Giovanni an der Längsseite desselben Sarkophargs siehe F. NOVATI / G. LAFAYE, L’anthologie d’un humaniste italien au XVe siècle, in: Mélanges d’archeologie et d’histoire 12 (1892), S. 167-169, n. CXLVII; E. WELCH, Scaligeri e Visconti: omogeneità e differenze, in: P. MARINI / E. NAPIONE / G. M. VARANINI (Hgg.), Cangrande della Scala. La morte e il corredo di un principe nel medioevo europeo, Venedig 2004, S. 211-212. Auch Galvano Fiamma unterstreicht die Kontinuität von Ottone und Giovanni: Ipse enim [Iohannes] Ottonis Vicecomitis archiepiscopi patrui sui vestigia imitatus, iura ecclexie Mediolanensis totis viribus instauravit, perditos reditus recuperavit, pallatia et domos et sallas archiepiscopatus refecit. Galvanei de la Flamma Opusculum de rebus gestis ab Azone, Luchino et Johanne Vicecomitibus ab anno MCCCXXVIII usque ad annun MCCCXLII, ed. C. CASTIGLIONI (Rerum Italicarum Scriptores² 12/4), Bologna 1938, S. 11, Z. 24-27 sowie ebd., S. 52, Z. 13-20. Für eine vollständige Rekonstruktion dieser Periode siehe BISCARO, Le relazioni dei Visconti (wie Anm. 23), S. 193-271.
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beseitigen. Am Ende der dreißiger Jahre des 14. Jahrhunderts unterstützte er den Bau eines neuen und wertvollen Grabmales für Petrus Martyr, eines Heiligen des Predigerordens und Inquisitor, dessen Leichnam in der Mailänder Basilika von Sant’Eustorgio beigesetzt worden war (Abb. 9).55 Im Gedenken an den großen Beitrag Giovannis wurde er auf der Deckplatte des Sarkophags dargestellt (Abb. 10). Darüber hinaus nahm er als Bischof von Novara und gewählter Erzbischof von Mailand an der aus Anlass des Generalkapitels der Dominikaner stattfindenden feierlichen Translation des Leichnams des Heiligen im Juni 1340 teil und unterstützte diese auch großzügig.56 Interessanterweise waren die Dominikaner in der Tat der Orden, aus dem einige der Inquisitoren hervorgegangen waren, die ihn noch ein Jahrzehnt zuvor verdammt hatten.57 Des Weiteren war Giovanni der erste, der 1335, als er noch Bischof von Novara war, in Mailand eine feierliche Prozession zu Ehren des Corpus domini ausrief. An der Prozession, die durch die gesamte Stadt führte, nahmen nach Angaben von Galvano Fiamma hunderttausend Personen teil. Der wichtigste Protagonist dieses Ereignisses war Giovanni und nicht der verbannte Erzbischof der Stadt, Aicardo di Camodeia. Es war nämlich Giovanni, der die eucharistische Gabe auf der Prozession durch die Straßen der Stadt bis zur Basilika von Sant’Ambrogio trug und anschließend die Nobilität der Stadt zu einem großzügigen Bankett in den neuen Palast einlud, den er sich direkt neben der Kirche hatte bauen lassen.58 55
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E. CARLI, Giovanni di Balduccio a Milano, in: C. BERTELLI (Hg.), Il millennio ambrosiano. La nuova città dal Comune alla Signoria, Mailand 1989, S. 70-103; A. MOSKOWITZ, Giovanni di Balduccio’s Arca di San Pietro Martire: Form and Function, in: Arte Lombarda 96 (1991), S. 7-18. Eodem anno, scilicet in MCCCXL, die quarto junij, in festo sancte Pentecostes congregatum fuit Mediolani capitulum generale fratrum predicatorum in domo sancti Eustorgii, et interfuerunt episcopi Johannes Vicecomes episcopus Novariensis ellectus in archiepiscopatum Mediolani; item episcopus Luchanus, episcopus Cremonensis, episcopus Papiensis, episcopus Adrie et episcopus de Bestatio. Isti sunt sex episcopi cum magistro ordinis predicatorum et diffinitoribus capituli generalis in vigilia Pentecostes, ordinante et cuncta disponente venerabili Johanne Vicecomite episcopo Novariensi, cui totius capituli generalis et translationis corporis beati petri martyris cura commissa fuerat, aperta fuit archa marmorea antiqua, in qua jacuerat beatus Petrus fere anni LXXXVII. Et inventum fuit corpus eius integrum cum capillis et barba et omnibus membris, itaque rectus ut in pedibus stare potuisset. Et sequenti die, scilicet in festo Pentecostes in alto aere in platea coram innumera multitudine populi ostensum fuit fere usque ad horam sextam. Deinde translatum fuit in archam novam marmoream mirabilis pulcritudinis, nec fuit in universis regnis totius christianitatis tam nobile sepulchrum de marmore (Galvanei de la Flamma Opusculum [wie Anm. 53], S. 38-39. Z. 35-41, Z. 1-8). BISCARO, Le relazioni dei Visconti di Milano (wie Anm. 23), S. 227. Iohannes Novariensis, ac ecclexie Mediolanensis conservator, Azi Vicecomitis patruus, attendens Dei beneficia facta Vicecomitibus, festum de Corpore Christi celebrari ordinavit. Ibi fuit universus clerus et quedam mirabilis processio religiosorum, qualem Roma sibi ipsi relicta afcere non potuisset. Et unus episcopus in pontificalibus Corpus Christi de ecclexia maiori portavit cum cantibus et solemnitatibus mirabilibus. Per viam erat tantam cereorum numerositas, quod nullus nisi vidisset, credere posset. Cum Corpus Christi apropinquaret monasterio sancti Ambrosii, tunc episcopus Novariensis in pontificalibus cum mitra episcopali Corpus Christi de mano alterius episcopi substulit, et usque ad altare sancti Ambrosii portavit. Fuerunt in ista processione Azo Vicecomes dominus civitatis cum aliis nobilibus: et fuit computatum quod promiscui sexus persone festivitati interfuerunt ultra c mille. Postea per alium episcopum Corpus Christi ad aliam ecclexiam maiorem fuit reportatum. Fecitque episcopus Novariensis supradictus grade convivium in domo sua iuxta sanctum Ambrosium, nobilibus dominabus, et aliis quam-
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Das Gleichsetzen seiner Person mit der des Ambrosius geschah von nun an immer häufiger. Galvano Fiamma, der Kaplan und Schreiber Giovannis’, schrieb und widmete dem künftigen Erzbischof von Mailand im Jahr 1339 die Historia episcoporum Mediolanensium.59 Dieses Werk hatte das Ziel, die ununterbrochene und stete bischöfliche Sukzession zu bezeugen, indem es unmittelbar und ohne Bruch die Gegenwart mit der Tradition der ersten heiligen Bischöfe verband, als deren unmittelbarer und würdiger Nachfolger sich Giovanni darstellen wollte.60 Galvano, der als Zeuge und eigentlicher Bewahrer der Herrschaftsideologie der Visconti zu Zeiten Giovannis galt, stellte Giovanni auch direkt Ambrosius gegenüber, als er ihn in seiner Darstellung der Feierlichkeiten anlässlich der Weihe zum Erzbischof von Mailand im Jahre 1342 ermahnte, stets dem Kirchenvater nachzueifern: Tau Clemens palium, scheptrum, Johannes, pyleum, Archthos esto flaminum, emuleris Ambroxium.61 Abgesehen davon, dass auf den goldenen und silbernen Münzen, die seit 1339 in Mailand geprägt wurden, der Name Giovannis als Herr der Stadt erscheint (Abb. 11), finden wir seinen Namen sogar auf der gleichen Seite wie den des Heiligen Stadtpatrons und zwar neben der Figur des segnenden Ambrosius.62 Es han-
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pluribus, statutumque fuit quod perpetuis temporibus hec solemnitas celebraretur (Galvanei de la Flamma Opusculum [wie Anm. 53], S. 19, Z. 20-33). Es handelt sich nicht um die einzelne öffentliche rituelle Handlung, die in diesen Jahren geschaffen wurde. Handlungen mit starker symbolischer Wirkung waren auch das Fest zu Mariä Geburstag am 7. September (ebd., S. 22, Z. 1-10) und das Fest der Heiligen Drei Könige am 6. Januar, an welchem im Freien einige Episoden des Evangeliums aufgeführt wurden (ebd., S. 22, Z. 12-30). Zu den Riten und der Prozession anlässlich des Sieges von Azzone, Giovanni und Luchino Visconti in Parabiago im Winter 1339 siehe G. CARIBONI, I Visconti e la nascita del culto di sant’Ambrogio della Vittoria, in: Annali dell’Istituto Storico italo-germanico di Trento 24 (2000), S. 595-613 (URL: http://fermi.univr.it/RM/biblioteca/scaffale/c.htm#Guido%20Cariboni). Um nur einige Arbeiten in Bezug auf städtische Rituale zu zitieren P. VENTRONE, Feste e rituali civici: città italiane a confronto, in: G. CHITTOLINI / P. JOHANEK (Hgg.), Aspetti e componenti dell’identità urbana in Italia e in Germania (secoli XIV-XVI) (Annali dell’Istituto storico italo-germanico, Contributi 12), Bologna 2003, S. 155-189 und G. CHITTOLINI, Civic Religion and the Countryside in Late Medieval Italy, in: T. DEAN / C. WICKAM (Hgg.), City and Countryside in Late Medieval and Renaissance Italy. Essais Presented to Philip Jones, London 1990, S. 69-80; MENANT, L’Italie des communes (wie Anm. 11), S. 211-214; BISCARO, Le relazioni dei Visconti di Milano (wie Anm. 23), S. 226-228. Mit diesem noch nicht edierten Werk ist auch ein Brief von Oktober 1339 erhalten, in dem Galvano die Historia Giovanni widmete, der zwar in Mailand schon gewählt aber noch nicht zum Bischof geweiht war (ed. in E. CATTANEO, Arcivescovi di Milano santi, in: Ambrosius 31 [1955], S. 111); vgl. TOMEA, Per Galvano Fiamma (wie Anm. 34), S. 103-104; E. CATTANEO, Cataloghi e biografie dei vescovi di Milano dalle origini al secolo XVI (Archivio Ambrosiano 44), Mailand 1982, S. 22-25. Für die Analyse des Phänomens der Konstruktion einer institutionellen Kontinuität durch Eigengeschichte siehe REHBERG, Die stabilisierende „Fiktionalität“ (wie Anm. 2), S. 401-402. Galvanei de la Flamma Opusculum (wie Anm. 53), S. 50, Z. 35-36. Zum Gebrauch von Münzen und Siegeln als Machtsymbole in der Territorialstaatsbildung siehe M. PASTOREAU, L’état et son image emblématique, in: Culture et idéologie dans la genése de l’état moderne (Collection de l’École Française de Rome 82), Rom 1985, S. 145-153.
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delt sich um einen einmaligen Fall, der die angestrebte unmittelbare Verbindung zwischen dem Bischof und Herrn der Stadt Giovanni und Ambrosius bezeugt. Im Übrigen zeigt diese Dynamik der Symbole der symbolischen Handlungen und propagandistischen Texte, dass Giovanni Visconti als legitimer Erzbischof von Mailand sich nicht darauf beschränkte, nur unmittelbar an die episkopale Tradition Mailands anzuknüpfen. Die Propagandaaktionen in diesen Jahren vermittelten der Öffentlichkeit also das Bild eines Bischofs, der sich nicht nur der Seelsorge und der Verwaltung seiner Güter widmet, wie es die Bischöfe der kommunalen Epoche taten, sondern sie zeigten einen Bischof, der auch Protagonist der weltlichen Macht seiner Stadt war. Sehr aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist der Sarkophag von Giovannis Vorgänger im Amt der Signoria, Azzone Visconti.63 Der Sarkophag war Bestandteil eines sehr viel größeren Grabmals, von dem heute leider nur noch Bruchteile vorhanden sind (Abb. 12). Dieses von Giovanni Visconti in Auftrag gegebene und durch Giovanni di Balduccio zwischen 1342 und 1346 ausgeführte Werk wurde in einer großen, öffentlichen, der Heiligen Maria und San Gottardo gewidmeten Kapelle aufgestellt, die der gleiche Azzone neben einem neuen herrschaftlichen Palast mitten in der Stadt hatte bauen lassen. Der Sarkophag erwies sich als zentral für die Konstruktion einer symbolischen Identität der Visconti gegenüber der Stadt. Wenn wir vom Grab Ottone Viscontis absehen, war dies das erste öffentliche Begräbnis eines Signore in Mailand. Vom Großvater Azzones, Matteo, kennen wir die Begräbnisstätte nicht. Da er exkommuniziert starb, ist er streng geheim beigesetzt worden, um zu verhindern, dass sein Leichnam verbrannt wird. Der Vater von Azzone dagegen, Galeazzo, verschied im Jahre 1328 im Exil und ist in Lucca beigesetzt worden. Auf dem Sarkophag ist ein ikonographischer Zyklus abgebildet, der erst noch gedeutet werden muss (Abb. 13).64 Wir wollen an dieser Stelle nur ein spezielles Relief an der Vorderseite des Sarkophags betrachten (Abb. 14). Hier ist in der Mitte Sant’Ambrogio als herausragende Gestalt dargestellt. Zu seiner Rechten haben wir in bürgerlicher Kleidung einen Vertreter der Mailänder Aristokratie und zu seiner Linken einen Vertreter des Kaisers, erkennbar an der Erdkugel, die dieser in 63
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P. SEILER, La trasformazione gotica della magnificenza signorile. Committenza viscontea e scaligera nei monumenti sepolcrali dal tardo Duecento alla metà del Trecento, in: V. PACE / M. BAGNOLI (Hgg.), Il gotico europeo in Italia, Neapel 1994, S. 119-140; DERS., Das Grabmal des Azzone Visconti in San Gottardo in Mailand. Mit acht Tafeln, in: J. GARMS / A. M. ROMANINI (Hgg.), Skulptur und Grabmal des Spätmittelalters in Rom und Italien. Akten des Kongresses (Rom, 4.- 6- Juli 1985) (Publikationen des Historisches Instituts beim Österreichischen Kulturinstitut in Rom, 1. Abteilung: Abhandlungen 10), Wien 1990, S. 367-392; P. BOUCHERON, Tout est Monument. La mausolée d’Azzone Visconti à San Gottardo in Corte (Milano 1342-1346), in: D. BARTHÉLEMY / J. M. MARTIN (Hgg.), Liber Largitorius. Études d’Histoire médiévale offertes à Pierre Toubert par ses élèves (Hautes études médiévales et modernes 84), Genf 2003, S. 303-329; E. S. WELCH, Art and authority in Renaissance Milan, New Haven/London 1995, S. 18. Zu den unterschiedlichen Interpretationen siehe SEILER, Das Grabmal des Azzo Visconti (wie Anm. 63), S. 374-385; BOUCHERON, Tout est Monument (wie Anm. 63), S. 317-319.
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seiner linken Hand hält. In der rechten Hand hält der Heilige eine Fahne mit einem Kreuz, dem Emblem der Stadt Mailand; in der linken Hand hingegen hält Ambrosius ein Banner und einen Gegenstand über dessen Charakter wir leider nur Vermutungen anstellen können, da er beschädigt ist. Es ist interessant zu sehen, dass beide Stäbe, die der Heilige in der Hand hält, auch von den beiden Persönlichkeiten der unteren Rangstellungen berührt werden. Wenn man ausschließt, dass der Gegenstand, den der Vertreter des Kaisers ergreift, ein Hirtenstab ist, wäre die Symbolisierung sehr mehrdeutig: Man könnte vermuten, dass es sich entweder um ein Kaiserbanner handelt oder sogar um ein Symbol der kaiserlichen Herrschaft. Die Figur in bürgerlicher Kleidung, welche die Mailänder Bürgerschaft darstellt, bietet dem heiligen Bischof die Signoria, den Rectoratus über die Stadt an, während der Kaiser ihm die kaiserliche Macht, also das Vikariat anbietet. Signoria und Vikariat, die beiden Wege, die Azzone Visconti zwischen 1329 und 1330 genutzt hatte, um seine Herrschaft über die Stadt zu legalisieren, waren im Übrigen die gleichen Fundamente, auf die auch der Erzbischof Giovanni seine Regierung stellte. Das, was im Kern das Neue der symbolischen Repräsentation ausmacht, ist die Gleichsetzung der traditionellen Figur des Bischofs und Stadtpatrons, welche die Identität der Stadt verkörpert, mit der politischen Macht, die im Zeitalter der Stadtkommune in den weltlichen Händen lag. Und es ist sicher nicht von ungefähr, dass ab diesem Zeitpunkt die ikonografische Darstellung des Ambrosius’, dessen Kult auch enorm anwächst, einer signifikanten Veränderung unterliegt. Der Heilige wurde nicht mehr als einfacher, segnender Bischof mit Pallium und Hirtenstab dargestellt (Abb. 11 und 15), sondern häufiger auch in Reiterpose, damit beschäftigt, mit der Peitsche in der rechten Hand die Feinde der Stadt zu bekämpfen (Abb. 16, 17, 18).65 Dieses ikonografische Modell kam in Mailand sporadisch schon in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts vor, aber es hatte die stärkste Verbreitung erst seit den vierziger Jahren des 14. Jahrhunderts.66 Es war gewiss nicht beabsichtigt, die damalige Form der Bischofsherrschaft über die Stadt wieder aufleben zu lassen, sondern es ging darum, diese alte Traditi65
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Zur Ikonografie von Ambrogio siehe im Band Ambrogio. L’immagine e il volto. Arte dal XIV al XVII secolo, Venedig 1998 die Beiträge von S. ZUFFI, Un volto che cambia, una figura che si consolida: l’iconografia ambrosiana dalle origini all’età sforzesca, S. 13-21 und von G. A. VERGANI, Defensor civitatis: l’iconografia di sant’Ambrogio negli apparati scultorei delle porte medievali di Milano (secoli XII-XIV), S. 117-132; G. CALLIGARIS, Il flagello di S. Ambrogio e le leggende delle lotte ariane, in: Ambrosiana. Scritti vari nel XV centenario della morte di Sant’Ambrogio, Mailand 1897, S. 1-63; BOUCHERON, La mémoire desputée (wie Anm. 52), S. 203-223 und CARIBONI, I Visconti e la nascita del culto (wie Anm. 58), S. 595-613. Die erste Münze in Mailand auf dem Sant’Ambrogio mit der Peitsche erscheint, ist der Grosso d’argento von Bernabò und Galeazzo II. Visconti, welche nach 1354 geprägt wurde (C. CRIPPA, Le monete di Milano dai Visconti agli Sforza dal 1329 al 1535, Mailand 1986, S. 49); E. A. ARSLAN, Ambrogio e la sua moneta, in: Ambrogio. L’immagine (wie Anm. 65), S. 35-44. Auf dem Siegel der Erzbischöfe Mailands erscheint zumindest für das gesamte 14. Jahrhundert der seg-nende Sant’Ambrogio ohne Peitsche (G. C. BASCAPÈ, I sigilli degli arcivescovi di Milano, in: Milano 1937, luglio, S. 337-344).
Kontinuitätsfiktion und Symbolisierung bei den ersten Visconti in Mailand (1277-1354)
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on teilweise überarbeitet für eine vollkommen neue, personale und typisch dynastische Herrschaft zu nutzen.67 Die Versuche, eine Herrschaftsform bewusst an die institutionelle und symbolische Tradition Mailands anzuknüpfen, wurden durch beständige Anklagen der Tyrannei, propter titulum – zum Beispiel von Bartolo von Sassoferrato – sowie der Häresie in Frage gestellt. Und es ist sicherlich ebenfalls kein Zufall, dass ein Jahrhundert nach Ottones Aufstieg zur Macht das vielleicht von Francesco Petrarca stammende Motto „A bon droit“ von der Familie der Visconti ausgewählt wurde, um es überall nahezu zwanghaft zu wiederholen, zum Beispiel auf einem Banner (Abb. 19) und auf Spielkarten (das berühmte Tarockspiel von Yale, Abb. 20), und es ist ein deutliches Indiz dafür, wie sehr immer noch die Notwendigkeit bestand, die eigene Legitimität zu konsolidieren.68
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Zur Legitimation oder Verurteilung der zur Tyrannis neigenden Signoria in den theoretischen Reflexionen im städtischen Umfeld siehe C. DOLCINI, Aspetti del pensiero politico in età avignonese: dalla teocrazia ad un nuovo concetto di sovranità, in: Aspetti culturali della società italiana (wie Anm. 26), S. 138-141, S. 151-153, S. 169-173; F. COGNASSO, Note e documenti (wie Anm. 45), S. 25-31; STORTI STORCHI, Aspetti generali della legislazione statutaria lombarda (wie Anm. 27), S. 75-76; D. QUAGLIONI, Situazione e dottrine. Le elaborazioni dei giuristi, in: Signorie in Umbria (wie Anm. 26), S. 39-53 und DERS., Politica e diritto nel Trecento italiano. Il „De Tyranno“ di Bartolo di Sassoferrato (1314-1357), Florenz 1983, S. 11, S. 29-38, S. 60, S. 64, S. 68. Zur Überlieferung dieses Mottos, der heraldischen Darstellung, in welche es häufig eingefügt ist, und seine Herkunft, welche Francesco Petrarca in einigen Briefen von Pier Candido Decembrio seit den dreißiger Jahren des Trecento zugeschrieben wird, siehe F. NOVATI, Il Petrarca ed i Visconti. Nuove ricerche su documenti inediti, in: Francesco Petrarca e la Lombardia. Miscellanea di studi storici e ricerche critico-bibliografiche, Mailand 1904, S. 54-58.
VOM MÖNCH ZUM WELTHERRSCHER. Verflechtung von Tradition und Neubeginn HELWIG SCHMIDT-GLINTZER
Vorbemerkung Wenn ich vom Weg eines Mönches zum Weltherrscher spreche, ist die „chinesische Welt“ gemeint. „China“ war freilich in jener Zeit auch in China keineswegs „selbstverständlich“, was nicht verwundert angesichts der vielen zum Teil gleichzeitigen Dynastien auf „chinesischem Boden“ in den vorangehenden Jahrhunderten. Und doch gab es ein „China vor dem China“, eine „chinesische Welt“. Damit sind gewisse Konstanten angesprochen, die mit einem spezifischen Weltbild zusammenhängen. Ich will hier nur an frühere Versuche erinnern, von „dem chinesischen Denken“1 zu sprechen. In den letzten Jahren sind die grundlegende Bedeutung des Bildungswissens und seiner schriftlichen Fixierung für die staatlichen Strukturen und Herrschaft hervorgehoben worden,2 oder gewisse Ungleichzeitigkeitsentwicklungen, wie sie Rolf Trauzettel und neuerdings Yuri Pines konstatiert haben. Alle diese Diagnosen eint, daß sie eine Grundfärbung, eine Spezifik Chinas konstatieren, die wir mit in Rechung zu stellen haben. Dies soll hier nur angedeutet werden und muß einer Rekonstruktion der „Rede von China“ vorbehalten bleiben, bei der gerade die Zeiten von Dynastiewechseln in einem größeren asiatischen Kontext neue Aufschlüsse geben.3 Einen festen Ort wie Rom hatte China nicht, und noch im 20. Jahrhundert blieb die Entscheidung für Peking nicht unangefochten. Überhaupt definierte sich China erst sekundär von einer Stadt her, sondern es war selbst erst die Folge der Überwindung aus der Rivalität mehrerer Territorien mit eigenen zentralen Kultorten. Wenn man jedoch einmal von den äußeren Grenzen absieht, gehört zur Spezifik Chinas unter anderem der besondere Umgang mit den Göttern bzw. mit dem, was von ihnen noch geblieben war.4 Zhu Yuanzhang jedenfalls, die Hauptfigur in den folgenden Darlegungen, nahm diese sehr ernst und suchte sie auf unterschiedliche Weise zu beeinflussen, etwa indem er seine Söhne zur Abwendung einer Dür1 2 3 4
M. GRANET, Das chinesische Denken. Inhalt – Form – Charakter, München 1963. M. E. LEWIS, Writing and Authority in Early China, Albany 1999. Siehe zum Beispiel die Beiträge in L. A. STRUVE (Hg.), Time, Temporality, and Imperial Transition. East Asia from Ming to Qing, Honolulu 2005. Die Debatte hierzu hat sich neuerdings intensiviert und kann noch nicht als abgeschlossen gelten. Siehe etwa R. van GLAHN, The Sinister Way. The Divine and the Demonic in Chinese Religious Culture, Berkeley/Los Angeles 2004; H. SCHMIDT-GLINTZER, Wohlstand, Glück und langes Leben. Chinas Götter und die Ordnung im Reich der Mitte, Frankfurt/Main 2008.
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re fasten ließ und selbst fastete. So erwies er sich als Regenmacher.5 Auf der anderen Seite tat er alles, um den Einfluß volkstümlicher religiöser Praktiken einzudämmen; im Juni 1370 verbot er alle unorthodoxen Religionsgemeinschaften, Weiße Lotus-Gruppen und manichäische Gemeinden.6 Hier kommt systematisch das Volk ins Spiel. Und dessentwegen wohl auch behielt sich Zhu Yuanzhang selbst die Opferung an Himmel und Erde vor.7 Wegen der besonderen Rolle der Transzendenz und des spezifischen Umgangs damit, wegen des „Fehlens“ eines von einer Kirche oder gar von einem Papst sanktionierten Rituals, wegen anderer Formen von Gemeindeöffentlichkeit8 und Territorialherrschaft sind allerdings rasche Vergleiche mit China nicht leicht zu haben. Dies gilt auch für die von den monotheistischen Religionen gänzlich verschiedene Behandlung des TheodizeeProblems. Was für unseren Helden nun „die Tradition“ vorsah, war mehr als dann tatsächlich geschah. Zwar griff sein Enkel und Nachfolger ganz anders die Heilsversprechungen der Vergangenheit auf, doch er wurde dann von seinem Onkel, dem dritten Herrscher, kaltgestellt, der die Machtpragmatik des Gründers auf Dauer stellen wollte. Es muß also auch davon die Rede sein, was die Tradition noch hätte bieten können, oder anders gewendet: Wir haben es mit mehreren Traditionen zu tun. Und diese Traditionen bedeuten selber Macht. Dabei stelle ich anheim, ob diese Beziehungen in der Gegenüberstellung von transitiver und intransitiver Macht (Martin JEHNE) darstellbar sind. Der Widerspruch aber war vielleicht doch – anders als im alten Rom des Augustus – heilbar. Dies wurde von einem Beobachter als eine verlorene Chance interpretiert, womit ein Scheitern beklagt wird.9 Wegen solcher Dissoziation verschiedener Traditionen und weil es immer auch noch andere Vorstellungen von der guten Ordnung gab, ist der Erfolg zugleich ein Scheitern. Es ist dies nun aber ein Konstituens chinesischer Herrschaftstradition, daß eine zweitbeste Lösung oft die besseren Chancen hatte. Ich gehe noch einen Schritt weiter und behaupte, daß nicht im Sieg, sondern in der Niederlage der Tri5 6
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F. W. MOTE / D. TWITCHETT (Hgg.), Cambridge History of China, Bd. 7, Cambridge 1988 [im folgenden zitiert als: CHC 7], S. 122. Die Frage nach der Orthodoxie-Heterodoxie-Unterscheidung sowie die neuere Deutung volksreligiöser Strömungen als eigene Erscheinung jenseits bisheriger Unterscheidungen in „große“ und „kleine“ Traditionen können hier nicht systematisch behandelt werden. CHC 7, S. 122. – Auch rebellisch war unser Held nicht von Anfang an, sondern wurde es erst, und auch nur vorübergehend, um sich bald wieder davon zu lösen. Alfred Döblins „Drei Sprünge des Wang Lun“ beschreiben etwas anderes. Siehe hierzu H. SCHMIDT-GLINTZER, Strukturwandel der Öffentlichkeit in China, in: Orientierungen. Zeitschrift zur Kultur Asiens 16/2 (2004), S. 20-66. Dies findet seinen Niederschlag in der Bemerkung: „It happened that the culture and brilliance [of Zhu Yunwen, r. 1399-1402, grandson of Taizu] could have started a new age, a unique moment in a thousand years.“ – Siehe Huang Zongxi über Fang Xiaoru, in: J. CHING (Hg.), The Records of Ming Scholars by Huang Tsung-hsi, Honolulu 1987, S. 49; anders als J. CHING fasse ich die Möglichkeit des Wirkens von Fang Xiaoru als auf den Jianwen-Kaiser, den Enkel Zhu Yuanzhangs, bezogen auf.
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umph lag,10 denn der Sieg wäre zugleich eine Entwertung der Herkunft gewesen. Diese Bemerkung verlangt nach Aufschlüsselung: Ich behaupte, im System des sogenannten Späten Kaiserreichs – gemeint ist die Zeit von 1368 bis 1911 – sind, auch infolge der massenhaften Verbreitung gleichförmiger Texte durch den Buchdruck, Traditionscluster verfügbar, die eine eindeutige Orientierung erschweren. Und doch blieb dieses Cluster in seinem Anspruch wirkungsmächtig genug, die Einführung eines „Neuen Organon für die Regierung“ zu verhindern. In dieser Ambivalenz sind eine Anwendung der institutionellen Analyse und die Rolle der symbolischen Darstellung normativer Vorstellungen schwierig. Es kommt etwas hinzu: Wenn nach Fällen von Verschleierung von Machtpositionen etwa gefragt oder von fingierter Kontinuität gesprochen wird, ist stets schon ein beurteilendes Subjekt im Spiel, dessen Konstituierung keine anthropologische Konstante ist. Andererseits ist mit der Formierung einer inneren Persönlichkeit im Zuge der achsenzeitlichen Wende und dem darauf folgenden reflexiven Bezug auf Schriftlichkeit seit der Verschriftlichung der Überlieferung auch in China eine Voraussetzung gegeben, die Frage dieses Symposiums auf diese andere Kultur anzuwenden. Wegen dieser Reflexivität einerseits und andererseits wegen des im Kern fortbestehenden magischen Weltbildes können hier nur einige Vergleichsansätze identifiziert werden. Ich kann hier also nicht die ganze Dynastienfolge Revue passieren lassen, nicht die Anfänge während der später idealisierten Westlichen Zhou-Zeit, nicht die Zeit der Eisentechnologie und der Teilstaatenzeit, nicht die Errichtung des Einheitsreiches durch Li Si mit dem Ersten Kaiser Qin Shihuangdi, dessen Herrschaft besonders in seinem Grabkult auf Dauer gestellt wurde, während sein Einigungswerk nur kurz Bestand hatte. Die zentrifugalen Kräfte waren und blieben stark, und zusammengehalten bzw. immer wieder neu zusammengefügt wurde das Reich durch die Tradition und ihre Verfechter, die oft auch leicht irreführend als „Konfuzianer“ bezeichneten Literatenbeamten. Erwähnt werden müssen die Phasen des Mittelalters, der Reichsteilungen und der Fremdherrschaften im Norden, Nordwesten und Nordosten, weil durch sie neue Impulse nach China gelangten, auch neue Methoden der Machtgewinnung und des Machterhalts. Ich habe diese Aspekte an anderen Stellen zusammenfassend dargelegt, zuletzt unter dem Titel „Die Geschlossenheit einer offenen Welt“.11 Immer wieder hat sich China so erneuert. Wenn ich nur gewisse Stationen nennen soll, dann ist es nach der Han-Zeit die Staatenvielfalt (bis ca. 600 n.Chr.) und sodann die Machtdiffusion und nach einer Neuordnung durch das Song-Reich wiederum ein Vielstaatensystem, das der mongolischen Eroberung schließlich nicht standhalten konnte. Wenn man so will, erfand sich China dann erst langsam 10
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Man wird nach durch Tugend gerechtfertigten Triumphen suchen; andererseits fehlte es an Bildern von Fürsten zum Zwecke des Rangvergleichs mit anderen Fürsten, weil es nur einen Herrscher geben konnte wie es nur eine Sonne unter dem Himmel gab. Siehe H. SCHMIDT-GLINTZER, Reich und Gesellschaft in China. Die Geschlossenheit einer offenen Welt, in: Saeculum 55/2 (2004) S. 157-174.
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wieder neu. Aus den Wirren des 14. Jahrhunderts entstand eine neue Welt, von der ich nun sprechen will. Dabei kann ich nicht einmal alles nennen, was hier interessieren könnte, nicht die Traditionen von Legitimitätsdebatten, nicht die sozioökonomischen Hintergründe, nicht die soziale Lage. Reizvoll wäre gewesen, auf die Öffentlichkeitswirksamkeit einzelner Ritualakte einzugehen; nach Siegesprozessionen, nach pompa triumphalis wird nicht gefragt, weil es sie nicht gab.12 Der Sieger erntete keinen Beifall, sondern Respekt, er suchte nicht die Akklamation des Volkes. Dagegen gab es öffentlich beklagten Auszug der Besiegten, wie beim Weg der letzten Song-Herrscher im Jahre 1126 durch die Straßen Kaifengs in die Gefangenschaft der Dschurdschen. Was ich aber ansprechen muß, ist der seit der sogenannten Achsenzeit geführte Diskurs über die stets kontrovers erörterte Frage, ob eher durch das Gesetz (fa) oder durch Tugend (de) regiert werden solle. Dieser Diskurs gehört zum permanenten Subtext Chinas. Wenn Chinas Gesellschaft und Staatlichkeit durch irgendetwas seine Identität erhalten hat, dann durch diesen Diskurs, der freilich nicht nur auf der Ebene der politischen Theoriebildung, sondern auch auf der Ebene der Praxis sowie in religiöser Verkleidung ausagiert wurde. Die jüngsten Dokument- und Textfragmentfunde aus der Zeit seit den Streitenden Reichen bestätigen die Dauerhaftigkeit dieses Diskurses.13 Im Vordergrund stand und steht der Begriff des „Rituals“ (li), das KÖSTER als „Wahren der Tradition“ übersetzt. Bei Xunzi wird vorweggenommen, was die folgende Zeit der Kaiserreiche prägen sollte:14 Riten machen überhaupt erst soziale Ordnung und Differenzierung möglich und sind die Basis eines starken Staates (guo) und der rechte Weg für Autorität und sichern den wohlverdienten Ruhm. Wenn Könige und ihre Vasallen sich auf sie beziehen, können sie die Ökumene (tianxia) erlangen. Andernfalls verlieren sie ihre geheiligten Altäre. Daher gilt: schwere Rüstungen und scharfe Waffen genügen nicht für den Sieg.15
Warum die Ausnahmegestalt Zhu Yuanzhang (1328-1398)? Sie werden fragen, warum ich gerade Zhu Yuanzhang ausgewählt habe, um zu der Thematik „Macht und Tradition“ etwas zu sagen, Zhu Yuanzhang, der heute noch als Rätsel gilt, als „enigma“,16 als „one of the intriguing puzzles of Chinese history“,17 zumal auch ich dieses Rätsel nicht zu lösen verspreche! Zhu Yuanzhang, 12 13
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Siehe hierzu E. FLAIG, Ritualistische Politik. Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom. Göttingen ²2004, S. 34ff. Siehe hierzu etwa S. COOK, The Debate over Coercive Rulership and the „Human Way“ in Light of Recently Excavated Warring States Texts, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 64/2 (2004), S. 399-440. Siehe hierzu auch Y. PINES, Disputers of the Li: Breakthroughs in the Concept of Ritual in Preimperial China, in: Asia Major, 3rd series 13/1 (2000), S. 1-41. Xunzi jijie, ed. Zhuzi jicheng, S. 186-187; vgl. H. KÖSTER, Hsün-tzu, Kaldenkirchen 1967, S. 195196; vgl. auch COOK, The Debate (wie Anm. 13), S. 425. Siehe F. W. MOTE, Imperial China 900-1800, Cambridge/Mass. 1999, S. 549. Ebd., S. 549.
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postum auch als Ming Taizu bekannt, ist Gründer der letzten chinesischstämmigen Dynastie; mit seinem Namen wird der Despotismus der späten Kaiserzeit verknüpft. Dieser Zhu Yuanzhang ist nicht nur einer der bedeutendsten Dynastiegründer Chinas, auf einer Stufe mit Mao Zedong und Qin Shihuangdi zu sehen und doch von ihnen verschieden – als Mann aus einfachsten Verhältnissen allenfalls mit dem Gründer der Han-Dynastie zu vergleichen, auf den er sich später selbst bezog. Er begründete unter Bezugnahme auf die Tradition eine Herrschaftstradition, die gewiß bis ins 19. Jahrhundert Bestand hatte, 500 Jahre!, und die bis heute an Paradigmatischem für Herrschaftsausübung und Machterhalt in China vieles zu bieten hat. Er war eine Ausnahmepersönlichkeit.18 F. W. MOTE (19222005) bemerkte einmal: „There is no other personal success story quite like this in all of Chinese history.“19 Diesem Gründer der Ming-Dynastie wird die Begründung der spätkaiserzeitlichen Regierungsform zugeschrieben, er gilt als der Prototyp des Tyrannen und Despoten. Doch war er dies wirklich? Freilich, es gab auch Rivalen. Da ist an erster Stelle Zhang Shicheng (13211367) zu nennen,20 aber auch Fan Guozhen (1319-1374).21 Zhu Yuanzhang war nur einer der Kriegsherren, der mit seinen Rivalen nach deren Unterwerfung sehr unterschiedlich umging. Daß er, der nicht der einzige war, aus der Gruppe der Aufständischen, der Banditen, zum ersten Anwärter auf die neue Herrschaft wurde, ist das, was uns an ihm interessiert.
1. „Dynastischer Zyklus“ oder das Werden einer neuen Welt Ein langes halbes Jahrhundert von 1350 bis 1400 wird hier besichtigt, das in China den Zusammenbruch der Mongolenherrschaft, 17 Jahre Bürgerkrieg, die Gründung der Dynastie Ming und dann einen abermaligen Zerfall und erneuten Bürgerkrieg (1399-1402) sah. Es war zugleich eine Zeit lange gesproßter Hoffnung. Denn seit der Herrschaft Khubilai Khans im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts hatte dieser mongolische Herrscher den chinesischen Ritualen und der chinesischen Kultur ein immer stärkeres Gewicht gegeben, und sein Urenkel Ayurbarwada, der als Renzong regierte (1312-1320), hatte 1315 die Staatsprüfungen wieder eingeführt und Zhu Xis Klassikerauslegungen zum Standard erklärt.22 Es brach eine Blüte der chinesischen Kultur an, und so bedarf es doch einer ausführlicheren Erklärung, was denn als das „nationale“ und das spezifisch „Chinesische“ an der neuen MingDynastie auftrat. Denn war die Yuan-Dynastie nicht eigentlich schon chinesisch geworden? 18 19 20
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Dies betont F. W. MOTE, ebd., S. 553 ausdrücklich. Ebd., S. 561. Zur Persönlichkeit Zhang Shichengs siehe ebd., S. 561-563; siehe auch CHC 7, S. 30-35; siehe auch SEUNGHYUN HAN, Bandit or Hero? Memories of Zhang Shicheng in Late Imperial und Republican Suzhou, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 68:2 (December 2008), S. 115-162. Siehe CHC 7, S. 36f. Siehe hierzu F. W. MOTE in: CHC 7, S. 15-16.
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An Legitimation mangelte es der Yuan-Dynastie jedenfalls nicht unter den Angehörigen der Bildungselite. Ihnen galt die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Gewährleistung der notwendigen Rahmenbedingungen für ein friedliches Auskommen der chinesischen Bevölkerung als das oberste Prinzip, und hier sahen sie Handlungsbedarf. Sie waren nicht einem Herrscherhaus, sondern einer guten Ordnung verpflichtet, und auch deswegen hat dann auch die junge Bildungselite der ausgehenden Mongolenzeit – sicher auch mit dem Ming-Gründer neue Handlungsspielräume für sich erwartend – wesentlich zur Etablierung und Gestaltung der Ming-Herrschaft beigetragen. Die Gebildeten waren es nämlich, die gewährleisteten, daß auf der örtlichen und regionalen Ebene trotz der Militarisierung und der Bürgerkriegssituation gewisse Ordnungsstrukturen fortbestanden, die dann auch zur Basis der neuen Ordnung wurden. Dort also müssen wir einen Teil der Wurzeln und Antriebe für das Gelingen der folgenden Dynastiegründung suchen.23 Daß diese Elite passiv gewesen sei und nicht aktiv am Umsturz der Yuan beteiligt war, was man ihr später zum Vorwurf gemacht hat,24 ist sicher andererseits eben auch Ausdruck der Hoffnungsstärke, daß es vielleicht doch noch gut werde. Die Frage könnte gestellt werden: Wann erkannten sie, daß doch eine neue Zeit anbrechen würde? Doch diese Frage ist falsch gestellt. Denn sie wollten keine neue Zeit, keine neue Ordnung, sondern die Herstellung einer „alten“ Ordnung. Natürlich ist nicht zu bestreiten, daß es Elemente des sogenannten „dynastischen Zyklus“ gab, wozu Desintegration der Zentralgewalt und Regionalismus gehören. Dabei spielten u.a. regionale Kriegsherren, lokale Machtnetzwerke, Banditen und Schmuggler und Sektenbewegungen, namentlich die „Roten Turbane“ (Hongjin), eine Rolle.25 Aber dieser Zyklus war nicht im Bewußtsein der Gelehrten. Doch er mußte bemüht werden, als die Sektenbewegung zum Ausgangspunkt einer neuen Dynastiegründung wurde. Wie aber wandelte sich diese Sektenbewegung in eine „konfuzianische Dynastie“?26 In der Mitte des 14. Jahrhunderts war China höchst fragmentiert und hatte sich in einzelne Herrschaftsgebiete aufgespalten.27 China war in Auflösung wie seit Jahrhunderten nicht. MOTE spricht von „general chaos“28 und von einem „process of militarization“, ein Prozeß, in dem Yuan-Loyalisten, lokale Selbstverteidigungsorganisationen und ein ausgedehntes Banditenunwesen lokale und regionale Machtzentren bildeten und in dem Sektenbewegungen miteinander rivalisierten.29 23
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Siehe hierzu die Arbeiten von J. D. LANGLOIS in dem von ihm und anderen herausgegebenen Sammelband „China under Mongol Rule“, und insbesondere seine Arbeiten zum Chin-hua (Jinhua)-Konfuzianismus daselbst sowie in CHC 7. F. W. MOTE in: CHC 7, S. 17. Siehe F. W. MOTE in: CHC 7, S. 18. F. W. MOTE in: CHC 7, S. 18. Siehe CHC 7, S. 19. MOTE, Imperial China 900-1800 (wie Anm. 16), S. 521. F. W. MOTE, ebd., S. 522-533, bezeichnet, diese Gruppen als „Yuan Loyalists“, „Local SelfDefense Leaders“, „Bandits and Smugglers“ und „Sectarian Rebels“. Ein farbiges Bild aus dieser Zeit bietet auch H. Frankes Übersetzung eines Berichts von der Belagerung der Stadt Shaoxing.
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Die Sektenbewegungen In der fragmentierten Gesellschaft wurden dann aber die religiösen Bewegungen zum Ferment für eine neue Gesellschaft. Manichäische und buddhistische Lehren, insbesondere der in China zu einer messianistischen Lehre gewandelte MaitreyaKult, hatten sich mit einem neuen als Weiße Lotos-Gesellschaft bezeichneten populären buddhistischen Kult verbunden. Daraus war eine Heilslehre entstanden, als deren Vollstrecker sich die sogenannten „Roten Turbane“ (hongjin) verstanden. Diese in den 1330er Jahren erstmals belegte Bewegung wurde prominent unter ihrem ersten großen Anführer, einem revolutionären Volkshelden, namens Peng Yingyu, auch als „Mönch Peng“ bekannt.30 Zhu Yuanzhang bezog, als er die Nachfolge in der Anführerschaft der Roten Turbane des Nordens übernommen hatte, im südlich gelegenen Nanjing sein Hauptquartier. Von dort gelang es erst Jahre später, die weiter westlichen Rivalen, die eine Han-Dynastie errichtet hatten, zu neutralisieren. So hatten sich zwei große Kräfte herausgebildet, die seit der Mitte des 14. Jahrhunderts mit jeweils dynastischem Anspruch um die Vorherrschaft rivalisierten. Dies waren einmal der Yuan-Hof und seine Verbündeten einerseits und die Aufständischen unterschiedlichster Couleur andererseits.
Rettung des „Prinzen des Lichts“ Unter den Aufständischen hatten die Roten Turbane des Nordens im Jahre 1355, unter der Anführerschaft Liu Futongs, erklärt, daß sie die Song-Dynastie wiedererrichten würden. Den Sohn des 1351 hingerichteten Anführers Han Shantong, Han Lin’er, hatte Liu Futong zum „König des Lichts“ (Ming wang) erklärt. Als dieser 1363 in Gefangenschaft geriet, war es Zhu Yuanzhang, der ihn und seine Mutter rettete und auf diese Weise sich des Trägers dynastischer Legitimität bemächtigte.31 Im Jahre 1363 hatte Zhu Yuanzhang bei der Schlacht am Boyang-See in Jiangxi, in der Nähe von Jiujiang, schließlich den Rivalen der Südlichen Roten Turbane, Chen Youliang, besiegt und damit die Han-Dynastie beendet. Auf diese Weise wurde durch die Zusammenführung unterschiedlicher Dynastiegründungsansprüche ein eigener dynastischer Geltungsanspruch etabliert. Die Erbschaft der Jahrzehnte des Bürgerkriegs und der damit verbundenen Entwicklung für die folgenden Jahrhunderte bezeichnete John W. DARDESS als „einen gegenüber früheren Zeiten im Höchstmaße gesteigerten kaiserlichen Herrschaftsanspruch“ („sustained principle of imperial autocracy, raised to a higher and
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MOTE, Imperial China 900-1800 (wie Anm. 16), S. 530. – Die Erben dieser ersten Roten Turbane vermischten sich mit den Weißen Lotus unter der Anführerschaft Han Shantongs in Zentralchina und entwickelten eine gemeinsame Identität als Rote Turbane, von denen es jedoch zwei getrennte Bewegungen gab, eine im Süden und eine im Norden. Wichtig war auch die Bemächtigung von Zhang Shicheng und dessen Wu-Dynastie; als Gönner der Literaten und Intellektuellen zog so Zhu Yuanzhang damit auch diese auf seine Seite.
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purer level than at any earlier time in history“).32 Unter welchen Bedingungen wurde diese Erbschaft begründet? Es war jedenfalls, darauf legt MOTE wert, kein „typischer Dynastiewechsel“.33 Und es war eben nicht nur die Folge von Anti-YuanRebellionen der 1350er Jahre, sondern eher eine Machtransformation, die nur in gewissen bürokratischen Elementen an die vorhergehende Zeit anknüpfte und sich sonst aus dem Rückgriff auf ältere Traditionen und in gewisser Hinsicht gänzlich neu „erfand“?34
2. Das „nationale“ und das„moralische“ Argument Die Auseinandersetzung mit Bedrohungen von der Grenze her, die Auseinandersetzung mit „fremden“ Herrscherfamilien hatte seit jeher, jedenfalls seit der HanZeit, insbesondere seit der Zeit Han Wudis, die politische Diskussion in China geprägt.35 Als Zhu Yuanzhang den Anspruch auf das Zentrum und die Abgrenzung gegenüber den Barbaren kombinierte, bestritt er das Fortdauern von deren Legitimität mit dem Hinweis auf den moralischen Niedergang der Mongolen.36 Hier findet sich ein neuer Ton, der besonders in dem „Kriegsaufruf zum Nord-
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J. W. DARDESS, Confucianism and Autocracy. Professional Elites in the Founding of the Ming Dynasty, Berkeley/Los Angeles 1983, S. 1. Siehe CHC 7, S. 11. – Weil es keine feste Thronfolgeregel gab und trotz einer gewissen Befolgung des Prinzips der agnatischen Erbfolge das Wahlkönigtum daneben als Ideal bestand, war jeder Herrscherwechsel prekär. Auch wenn Ming Taizu die agnatische Erbfolge diktatorisch festlegte, muß hier die Frage gestellt werden, warum dann nicht die gescheiterte Alternative immer wieder neu eingefordert wurde. Die Antwort ist: Die Thronfolgefrage wurde zwar auch in der Folge häufig kontrovers erörtert, doch wurde die Befolgung der Hausgesetze des Gründers der Ming-Dynastie als zwingend erachtet, zumal sie der Bürokratie entgegen kam. Korrespondierend zur offenen Thronfolgefrage war die Frage des Machtzentrums lange offen und blieb dies im Prinzip bis heute. Von einem statischen Zentralstaat mit festem Zentrum kann also insofern schon nicht die Rede sein, sondern lediglich von einer Zentralstaatsidee, deren Verwirklichung einer Vielzahl von strategischen Kriterien zu gehorchen hatte, u.a. mit der Folge, daß China viele Hauptstädte hatte und ein topographisches Machtzentrum bis heute nicht kennt. Es gab also keine Erfolge Nankings wie wir von solchen Roms sprechen. Für den vorliegenden Fall der MingDynastie wurde die Hauptstadtfrage erst nach einem längeren Prozeß geklärt. – Und noch ein Gedanke: Es gab nicht die ideale Aussichtsbestimmung vom Herrschersitz in die Stadt wie in Urbino im 15. Jahrhundert. Der Herrscherblick war und blieb verstellt. E. L. DREYER, in CHC 7, S. 58, schreibt: „The founding of the Ming dynasty was the end product of the anti-Yüan peasant rebellions of the 1350s.“ Er spricht von Ressentiments gegen die Mongolenherrschaft und dem Versagen der Yuan bei der Bekämpfung der Hungersnöte in den 1340er Jahren. Eine neue Qualität erreichte diese Argumentation erst gegen Ende der Ming-Dynastie, als viel von den Grausamkeiten der Mongolenherrschaft geredet (und mehr noch geschrieben) wurde. In der Gründungsphase war dies nicht entscheidend. Siehe E. L. FARMER, Zhu Yuanzhang & Early Ming Legislation. The Reordering of Chinese Society following the Era of Mongol Rule, Leiden 1995, S. 2.
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feldzug“ von 1367, der „ersten nationalen Propagandaschrift“, seinen Ausdruck findet.37
Zhu Yuanzhangs Aufstieg: Fragen zum Erfolg Woher aber nahm ein junger Mann seine Ordnungsvorstellungen, der als Sohn eines armen Bauern in Anhui in der Ebene des Huai-Flusses am 21. Oktober 1328 in eine Situation des Chaos hineingeboren worden war? Zunächst war sein Erfolg ein militärischer, und insofern entsprachen seine Talente der damaligen Militarisierung der Gesellschaft.38 Rivalitäten einzelner Militärführer kennzeichneten die Situation Chinas in der Zeit von Zhu Yuanzhangs Geburt.39 Der Erfolg beginnt also mit dem Zerfall der Mongolenherrschaft, wird jedoch nicht einfach durch das Aufstandsmodell erklärt, wie es Wolfram EBERHARD in seinem bahnbrechenden Werk „Conquerors and Rulers. Social Forces in Medieval China“ dargelegt hat40 und das von chinesischen Gelehrten in Studien zu den Bauernaufständen der Yuan-Zeit weiter verfolgt wurde.41 Was aber heißt das: „[…] beginnt mit dem Zerfall der Yuan“? Von der Reaktion der Elite auf den Niedergang der Mongolenherrschaft war die Rede,42 ebenso von den Welterrettungsvorstellungen einer Reihe von Denkern jener Zeit, die DARDESS als „geistige bzw. konzeptionelle Begründer der MingAutokratie“ bezeichnet. Dafür gab es mehrere Gründe, vor allem den zu starken Regionalismus und die Uneinigkeit innerhalb der mongolischen Regierungselite, aber auch das kalte Weltklima im 14. Jahrhundert mit seinen kalten Wintern und kurzen Sommerzeiten und die verheerenden Überschwemmungen des Gelben 37
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Manche haben auch die „neue soziale Ordnung“ Zhu Yuanzhangs als Schlüssel zum Verständnis der Dauerhaftigkeit der Ming-Herrschaft gedeutet. Siehe FARMER, Zhu Yuanzhang (wie Anm. 36). Diese Sichtweise bedient zugleich ein anderes Klischee der chinesischen Geschichtsschreibung, daß nämlich Eigenart und Verlauf einer Dynastie von deren Gründung bestimmt würden (im Songshi [439.12,997] heißt es: „It has been so from old that in the case of a founding and unifying ruler one could predict the pattern of an entire era from what his times valued. When the Great Ancestor (T’ai-tsu; r. 960-976) changed the mandate, he first gave employment to wen officials and took power away from the military [wu] officials.“ [zitiert nach P. K. BOL, „This Culture of Ours“: Intellectual Transitions in T’ang and Sung China, Stanford/Cal. 1992, S. 150]). Dieses, zumeist auf moralische Schwächen zielende Klischee wurde bis in die Gegenwart bedient (siehe A. CHAN, The Glory and Fall of the Ming Dynasty, Norman 1982). Woher die militärischen Kenntnisse dieser im Grunde ja doch zivilen Gesellschaft kamen, beantwortet F. W. MOTE unter Hinweis auf die Absicht, letztlich eine zivile Gesellschaft errichten zu wollen – und zeigt somit sich selbst dem alten Klischee verpflichtet. – F. W. MOTE, Imperial China 900-1800 (wie Anm. 16), S. 554ff. Als er in den 50er Jahren des 14. Jahrhunderts seine Generäle zusammenführte, die dann äußerst erfolgreich agierten, gab er einen weiteren Beweis für die Möglichkeit der Aufstiegschancen im traditionellen China. – Siehe P. T. HO, The Ladder of Success in Imperial China. Aspects of Social Mobility, 1368-1911, New York 1962. Siehe W. EBERHARD, Conquerors and Rulers. Social Forces in Medieval China, Leiden ²1965. Siehe MOTE, Imperial China 900-1800 (wie Anm. 16), S. 1010 (Anm. 2). Siehe DARDESS, Confucianism and Autocracy (wie Anm. 32), S. 85ff.
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Flusses 1344 mit einer anschließenden Flußbettveränderung trugen zur katastrophalen Lage bei.43 Die Gebildeten konzentrierten sich auf die lokale Ebene, und zugleich suchten sie die neue Dynastie zu stärken und ihr zu dienen. Fälle wie der des Fang Xiaoru sind außergewöhnlich und doch beispielhaft, wenn etwa dieser hoch begabte junge Mann trotz der ungerechtfertigten Verfolgung seines Vaters durch drakonische Maßnahmen Zhu Yuanzhangs dennoch der Dynastie weiter diente. Solche Leute standen in einer Tradition der Suche nach einer stabilen Ordnung, die unabhängig von der Loyalität zum Herrscherhaus bestand.44 Mit dieser Abwendung vom Kaiserhaus verbunden war die Toleranz gegenüber dem Buddhismus, die das intellektuelle Klima beherrschte.45 Es war ja nicht einfach ein Sieg, sondern ein langer Entwicklungs- und Lernprozeß. Daß am Ende dann der letzte Mongolenherrscher Toghon Temür, mit dessen Vertreibung aus China die Gründung der neuen Dynastie „Ming“ zusammenfällt, von seinem Besieger mit dem postumen Tempelnamen Shundi, als „der sich fügende Herrscher“, in die Ahnenreihe aufgenommen und zugleich als „weibisch“ belästert wurde, ist nur eines jener Indizien für die enge Verzahnung von Macht und symbolischer Repräsentation und zugleich ein Zeichen der Verachtung Ming Taizus gegenüber dem letzten Mongolenherrscher. Nicht alles erklärt seine Herkunft, aber sie kann doch manches erhellen. Mit 16 Jahren war Ming Taizu infolge von Seuchen und Plagen zum Vollwaisen geworden und hatte große Teile seiner Verwandtschaft verloren. Er wird 1344, bereits mit seinem pockennarbigen Gesicht mit vorspringendem Unterkiefer als eindrucksvoll geschildert, in ein buddhistisches Kloster geschickt und muß in den folgenden Jahren als Bettelmönch – manche vermuten auch Militärdienst und das Erlernen von Kampfkünsten – umherziehen. 1347 kehrt er ins Kloster zurück und bleibt dort bis 1352, wo er sich Bildung und Wissen aneignet. Im Zuge von wahllosen Militäraktionen der Mongolenherrschaft gegen Aufständische wird sein Kloster zerstört, und hier ist wohl der entscheidende Antrieb dafür zu suchen, selbst das Heft in die Hand zu nehmen. Er schließt sich am 15. April 1352 dem Anführer der Roten Turbane, Guo Zixiang (starb 1355), in der Stadt Haozhou an.46 Dort
43 44 45
46
Zum Klima im Europa des 14. Jahrhundert siehe U. DIRLMEIER / G. FOUQUET / B. FUHRMANN, Europa im Spätmittelalter 1215-1378, München 2003, S. 6-7 und die Literaturangaben S. 265. DARDESS, Concufianism and Autocracy (wie Anm. 32), S. 131. Dies änderte sich erst wieder nach der Herrschaft des Hongwu-Kaisers, doch blieb eine Offenheit auch später bestimmend und war etwa die Voraussetzung für die Positionen Wang Yangmings über das eingeborene Wissen. – Andererseits unterband bereits Zhu Yuanzhang den freien Verkehr zwischen Angehörigen der Elite und den buddhistischen Klöstern. Siehe T. BROOK, Praying für Power. Buddhism and the Formation of Gentry Society in Late-Ming China, Cambridge/Mass. 1993, S. 93, siehe auch S. 116. Siehe CHC 7, S. 45.
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wird er mit der 19jährigen Adoptivtochter Guos, einer Waisen namens Ma, verheiratet und auf diese Weise in die Familie Guos eingebunden.47 Nach der schließlich erfolglosen Belagerung Haozhous durch die mongolischen Truppen im Winter 1352/53 kehrt Zhu, inzwischen zum Schwiegersohn eines der mächtigsten Rebellenführer avanciert, in sein Heimatdorf zurück und rekrutiert über 700 Mann unter der Anführung von 24 früheren Freunden. Zunächst im Auftrag des Schwiegervaters Guo Zixiang baut er allmählich eine eigene Armee auf. Nach etwa zwei Jahren am Unteren Yangzi-Lauf zieht er weiter nach Süden in Richtung Nanjing und nimmt diese Stadt schließlich am 10. April 1356. Dieser Ort hatte bereits eine lange Geschichte als Hauptstadt und Regierungssitz. Die Ordnung der Welt, die Taizu anstrebte, war auch im Sinne seiner konfuzianischen Berater, und diese trugen erheblich zur Propagierung der neuen Politik bei.48 Es war eine Zeit der Propaganda und der Massenerziehung. Ganz offenkundig analysierte Taizu selbst die Ursachen und Folgen sozialer Unruhen und setzte dagegen seine „Großen Ankündigungen“ (Dagao). Eines seiner Erfolgsrezepte war die Durchsetzung moralischer Regeln bei seinen Truppen. Weil er die verheerenden Folgen plündernder und vergewaltigender Truppen kannte, stellte er Regeln auf, deren Universalisierung zugleich auch als „totalitär“ empfunden wurde. Diese Kontrolle trat als Retraditionalisierung, als „Wiederherstellung der vorbildlichen Zustände des Altertums“ (fugu) auf.49 Diese von DARDESS dargestellten Entwicklungslinien entsprechen in gewisser Weise zwar noch dem traditionellen Konzept von der Abfolge von Unordnung, Erlösungswunsch und Utopie, Ordnungsgewinnung durch einfachen Rigorismus und schließlich Mäßigung, doch wird bei diesem Konzept die neue Art der Verschränkung von äußerlicher Stabilität und innerlicher Labilität der folgenden Dynastien Ming und Qing nicht berücksichtigt. Denn die Sequenzen Qin/Han [221 v.Chr.-220 n.Chr.: 441 Jahre], Sui/Tang [581-906: 327 Jahre], Wudai/Song [906-1279: 385 Jahre] sahen nach einer Reichseinigungsphase eine frühe Reichszersplitterung bzw. Fragmentierung von Einflußsphären. Demgegenüber waren die Dynastien Ming und Qing etwa bis um 1800 erstaunlich stabil.50 Den Preis hierfür zu erkunden, wäre ein eigenes Forschungsprogramm. Diese Stabilisierung hängt natürlich auch mit der äußeren Bedrohung durch die Mongolen zusammen, gründete vor allem aber in dem Sendungsbewußtsein des Gründers, der als Verwirklicher kosmischen Ordnungsstrebens auftrat. Demgegenüber spielte das rigide Bestrafungssystem nur eine sekundäre Rolle. Es handelte 47
48 49 50
Auf die besondere Beziehung Zhus zu der jüngeren Frau Guos und zu deren Tochter sei hier nur hingewiesen. Siehe CHC 7, S. 46. – Zur späteren Popularisierung seiner Kindheit und insbesondere seines Aufenthalts im Kloster siehe auch HOK-LAM CHAN, Xie Jin (1369-1415) as Imperial Propagandist: His Role in the Revisions of the Ming Taizu shilu, in: T’oung Pao 91 (2005), bes. S. 94ff. Siehe DARDESS, Confucianism and Autocracy (wie Anm. 32), S. 183ff. Ebd., S. 196. Ebd., S. 255.
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sich um gemäßigte Formen der Herrschaft und der Machtausübung, bei denen freilich immer noch zahlreiche rigoristische Komponenten erhalten blieben, die mit dazu beitrugen, das System ebenso stabil wie innovationsfeindlich werden zu lassen. Unter einer anderen Perspektive war die Ming-Zeit der lang andauernde Widerstand gegen die Entwicklung zu einem „Greater China“, wie es dann die Mandschu realisierten.51
Ein Indikator: Die Hauptstadtfrage Zunächst war sich Zhu Yuanzhang nicht sicher, ob Nanjing seine Hauptstadt werden solle. Sie lag ihm eigentlich zu weit südlich!52 Diese Unsicherheit ist zugleich bezeichnend für die – ich nenne es einmal – „reichsweite Ubiquität“ seines Herrschaftsanspruchs, obwohl offen bleiben muß, ob er wirklich zu jenem Zeitpunkt das ganze Reich im Auge hatte. (Die Frage der Reichsgrenzen klammere ich hier aus!) Nanjing wurde nach ersten Bestrebungen, an seinem Geburtsort in der Provinz Anhui (beim heutigen Fengyang) eine Hauptstadt zu errichten,53 dann – inzwischen in „Yingtian“ [wörtlich: „Himmelsentsprechung“] umbenannt – ab 1375 doch neue Hauptstadt.54 Bis zur formellen Dynastiegründung (1368) aber hatte es noch 13 Jahre gedauert, eine Zeit, in der Zhu begierig lernte. 1364 hatte er sich als Wuwang (Prinz/König von Wu) ausrufen lassen55 und stellte sich damit in die Tradition der Zeit der Drei Reiche bzw. griff einen regionalen Bezug auf. In großem Stil ausgebaut wurde die Hauptstadt Yingtian (Nanjing) dann erst seit 1367; sie blieb es, bis der Yongle-Herrscher 1421 die Hauptstadt nach Peking verlegte. Bezüglich der Lage der Hauptstadt blieben indes Zweifel. Noch 1391 ließ Taizu seinen ältesten Sohn, den Thronfolger Zhu Biao, die Lage der Hauptstadt der Han- und der TangZeit in der Gegend des heutigen Xi’an erkunden. Nach Zhu Biaos Tod 1392 wurde die Erkundungsidee nicht weiter verfolgt, doch die Unsicherheit bestand fort. Trotz dieser Unsicherheit war Nanjing seit der Proklamation der Ming-Dynastie von etwa 100.000 Einwohnern auf das Zehnfache gewachsen. Um nur einige Zahlen der Hauptstadtbevölkerung zu nennen: 10.000 Zivilbeamte, 12.000 Militärbeamte, 50.000 Amtsdiener. In der Nähe der Hauptstadt standen etwa 200.000 Mann unter Waffen, und die Kaiserliche Universität (Guozijian) hatte mehr als 8000 von staatlichen Stipendien lebende Studierende.56 Diese Zahlen sprechen für eine Dynamik, die nicht allein der Hauptstadtfunktion, sondern wirtschaftlicher Prosperität geschuldet ist. 51 52 53 54 55 56
Siehe FARMER, Zhu Yuanzhang (wie Anm. 36), S. 17. MOTE, Imperial China 900-1800 (wie Anm. 16), S. 567. Erst 1375 wurden die Ausbaumaßnahmen in Fengyang beendet. Bereits 1366 hatte er begonnen, Nanjing zur Hauptstadt auszubauen. Siehe CHC 7, S. 57. Siehe CHC 7, S. 55. F. W. MOTE, The Transformation of Nanking, 1350-1400, in: G. W. SKINNER (Hg.), The City in Late Imperial China, Stanford/Cal. 1977, S. 101-153, hier S. 138-139.
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Der lernbegierige Rebell Überhaupt kennzeichnet trotz des Sendungsbewußtseins Unsicherheit die Herrschaft Taizus, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Einmal gab es rivalisierende Ansprüche.57 Taizu entwickelt sich erst allmählich von einem „Anführer einer religiös inspirierten militärischen Aufstandsbewegung“ zum „Führer einer politischen Bewegung mit traditionellem Führungsanspruch“.58 Bei der Ausgestaltung dieses Rollenwechsels spielten seine Literatenberater eine entscheidende Rolle, die ihn der Vorbildrolle Han Gaozus versicherten. Bei der Dynastiegründung konnte er sich dann selbst gegen die Lehren der Roten Turbane wenden und diese als Massenverführungsideologie brandmarken.59 Die Durchsetzung als neuer Herrscher war also vielfältig gefährdet bis zuletzt,60 auch wenn die Annalen der Ming die Zeit seit etwa 1356 mit Dynastiegründungmaßnahmen verknüpfen. Dies war aber erst der Blick aus der Retrospektive und unter Verwendung bereits seines postumen Ehrennamens Ming Taizu.61 Zu solchen Maßnahmen gehört die vermutlich auch tatsächlich erfolgte Errichtung von Steuereinnahmestellen für Wein und Essig und die Stärkung des Salzmonopols im Jahre 1360. Es folgte 1361 die Errichtung einer Münzanstalt sowie bald darauf ein Teehandelsmonopol.62 1360 soll er Song Lian zum Verantwortlichen für Erziehung gemacht haben.63 Bei dem Aufbau seiner Verwaltung knüpfte er an das Verwaltungssystem der Mongolen an und betonte Riten und Gesetze (li und fa) als die Grundlagen des Staates.64 Höchst bemerkenswert aber ist, daß im Ablauf die Dynastiegründung vor der Konsolidierung des Reiches gegen äußere Feinde stattfindet; Dynastiegründung ist nicht das Ergebnis, sondern mit dieser wird ein bestimmter Anspruch geltend gemacht. (Es wäre einmal der Mühe wert, die Zahl der Dynastieproklamationen in China in den letzten zweitausend Jahren zu den tatsächlich erfolgreichen Dynastien in Beziehung zu setzen.)
57 58 59
60 61 62 63 64
Siehe CHC 7, S. 47. From „leader of populist sectarian revolt“ to „leader of a political movement aspiring to traditional legitimacy“. Siehe CHC 7, S. 48. Seit der Zeit um 1354 sind Legenden über sein Mitleid mit der leidenden Bevölkerung überliefert. Siehe kritisch zum Bild des frühen Zhu Yuanzhang u.a. HOK-LAM CHAN, The rise of Ming T’aitsu: Facts and fictions in early Ming official historiography, in: Journal of the American Oriental Society 95 (1975), S. 679-715. Siehe CHC 7, S. 51. Siehe CHC 7, S. 52; siehe auch R. TAYLOR (Übers.), The basic annals of Ming T’ai-tsu, San Francisco 1975. Siehe CHC 7, S. 54. Siehe CHC 7, S. 54f. Siehe DARDESS, Confucianism and Autocracy (wie Anm. 32), S. 196ff.
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Die Gründungszeremonie und Konsolidierung: die Korrelation aller Sphären 1367 lobte Taizu Staatsprüfungen aus und errichtete die Hanlin-Akademie. Ferner errichtete er einen Tempel für seine Vorfahren und ließ einen Himmels- und Erdaltar errichten.65 Im Dezember 1367 verkündete er seine ersten Gesetze, auch in Umgangssprache,66 und einen weiteren neuen Kalender und die Große MingDynastie, die am 20. Januar 1368 begann, nachdem er am 12. Januar 1368 nach dreimaliger Ablehnung die Kaiserwürde angenommen hatte. Hier finden wir also die ganze konventionelle Symbolik einer Dynastiegründung. Insofern stellte sich Taizu in die Tradition. Am 23. Januar 1368 vollzog dann der neue Herrscher die Opfer für Himmel und Erde; seine Thronbesteigung wurde den Geistern mitgeteilt und der Dynastiename wurde verkündet: „Ming“, d.h.: „Leuchtend“,67 übrigens nach dem programmatischen „Yuan“ (d.h.: „Uranfänglich“) Khubilai Khans die erste programmatische Dynastiebezeichnung. Das war neu! Der Tradition entsprechend aber war, daß Zhu seinen Vorfahren, vier Generationen zurück, obwohl er deren Namen ja nicht einmal kannte!, postume Tempelnamen verlieh. Zwei Herrscherrollen wurden hier verknüpft. Zhu agierte als Repräsentant einer Ahnenreihe sowie als Vertreter des Reiches gegenüber dem Himmel und der Erde. Die Thronbesteigungsproklamation verdeutlicht dies unmißverständlich.68 Der Geltungsanspruch des neuen Herrschers drückte sich auch darin aus, daß er in dem Amnestieerlaß aus dem Jahre 1368 die Mongolen und Innerasiaten innerhalb seines Landes als seine „Kinder“ bezeichnete; zugleich wandte er sich gegen fremde Sitten und betonte die Notwendigkeit der Wiedereinführung und der Stärkung alter chinesischer Sitten und Gebräuche.69 Zhu Yuanzhangs Frau wurde Kaiserin, sein ältester Sohn Zhu Biao (1355-1392) wurde zum Thronfolger bestimmt.70 Diesen hatte Zhu unter anderen von dem Gelehrten Song Lian (1310-1381), der sich ihm 1360 angeschlossen hatte, unterrichten lassen. Die systematische Unterweisung des Thronfolgers war ein bewußt gewähltes Element der Herrschaftssicherung.71 Welche Rolle die Familie hinfort spielen soll, zeigt sich auch in den Himmels- und Erd-Zeremonien, die Zhu Ende 1369 auch für seinen Vater ausrichten ließ. Damit wurde das Herrscherhaus zu65 66 67 68
69 70 71
Siehe CHC 7, S. 57; siehe auch S. 108. Siehe CHC 7, S. 108. Li Shanchang führte die Beamten und Staatsgäste zur formalen Gratulation. Vgl. CHC 7, S. 109. Der Text findet sich in CHC 7, S. 109-111; siehe auch WANG CHONGWU, Ming benji jiaozhu, Shanghai 1948, ND HK 1967, S. 107-108. Ferner Mingshi lu. Taizu shilu 29, S. 482-483, zitiert auch bei MOTE, Imperial China 900-1800 (wie Anm. 16) , S. 559-560. Siehe auch H. SCHMIDT-GLINTZER, China. Vielvölkerreich und Einheitsstaat, München 1997, S. 177-179. Biographie in L. C. GOODRICH / Chaoying FANG (Hgg.), Dictionary of Ming Biography 13681644, 2 Bde., New York 1976, S. 346-348. Siehe CHC 7, S. 131.
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gleich gegenüber dem Staat verselbständigt. Dies betont MOTE, wenn er schreibt: „This was the first time an imperial father was so honoured, and this rite in effect elevated the status of the emperor’s lineage to an unprecedented degree.“72 Mit der Kaiserwürde hatte Zhu Yuanzhang sich, unterstützt durch vor allem drei Männer, Xu Da, Chang Yuchun und Li Shanchang, seiner sog. Anhui-Clique,73 die Ausgangsbasis für die endgültige Konsolidierung seiner Herrschaft erkämpft und konnte nun gegen die Mongolenherrschaft im Norden sowie gegen die XiaDynastie unter dem manichäischen Prinzen Ming Sheng vorgehen.74 In den nächsten Monaten des Jahres 1368 organisierte Taizu die weitere Eroberung des Nordens, unterstützt von seinen Generälen. Am 14. September 1368 erreichen die Truppen Dadu („Große Hauptstadt“), das dann in Peiping („Der Norden ist befriedet“) umgenannt wird und das erst der Yongle-Herrscher zur Hauptstadt machen sollte. Von da an verlagern sich die Kampfzonen an die Grenzen,75 doch mißlingt dem Ming-Gründer insbesondere bei einer verlorenen Schlacht 1372 gegen die Mongolen die Ausdehnung seiner Macht auf das Territorium der vorhergehenden Yuan-Herrschaft, insbesondere in die Äußere Mongolei. Erst der folgenden Mandschu-Dynastie gelingt die Befriedung der Grenzen.
3. Konsolidierung und Legitimation Weitere Maßnahmen zur Legitimierung seiner Herrschaft waren die Beauftragung einer Geschichte der vorherigen Dynastie. Bereits 1368 beauftragte Taizu Song Lian und Wang Wei (1323-1374) mit der Kompilation der Yuan-Geschichte; dieser Kommission wurden gelehrte Männer aus dem Umfeld der Yuan-Herrscher wie Wei Su zugeordnet.76 Im März 1369 führte Zhu das rituelle Pflügen am Altar des Xian Nong durch und belebte damit eine unter den Mongolen aufgegebene Tradition wieder. Im selben Jahr (1369) wurde die Rolle der Prinzenmacht ins Auge gefaßt, auch wenn die entsprechende Verordnung Zuxunlu (Familieninstruktionen, Hausgesetze), das Hausgesetz der Herrscherhauses, das Kernstück des „Modernismus“ Zhu Yuanzhangs, erst 1373 verkündet wurde.
72 73 74 75 76
F. W. MOTE in CHC 7, S. 119. Siehe CHC 7, S. 107. Siehe CHC 7, S. 108. Vgl. DREYER, in: CHC 7, S. 98ff. Vgl. CHC 7, S. 116.
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Investitur der Söhne und Prinzenerziehung Im Mai 1370 übertrug er neun von seinen zehn Söhnen fürstliche Titel und Territorien, sicher aus der Überlegung heraus, sie würden gewissermaßen als Markgrafen das Reich verteidigen. Als sie das Alter erreicht hatten, wies sie der Vater tatsächlich an, gegen die Mongolen an den Grenzen vorzugehen.77 Prinzenerziehung blieb ein Thema, so auch als er 1373 Song Lian und den Ritenminister Tao Kai unabhängig voneinander beauftragte, Berichte über Prinzen früherer Zeiten zusammenzustellen. Das Ergebnis war eine Kompilation, das Zongfan zhaojian lu („Bright mirror for the feudatories of the imperial clan“). In diesem Zusammenhang formulierte Song Lian: „Der Himmelssohn ist das Haupt, die Prinzen sind die Hände und Füße; sie können als ein Leib bezeichnet werden.“78 Sechs Jahre soll Zhu an seinen „Hausgesetzen“, den Ancestral Instructions, gearbeitet haben, die er 1373 verkündete, von denen wir allerdings erst diejenige von 1381 kennen.79 Der Text beginnt mit einem Vorwort, dessen Eingangssätze lauten: „Ich habe festgestellt, da seit ältester Zeit, immer wenn Staaten ihre Gesetze erließen, dies immer von dem Herrscher ausging, der als erster das Mandat erhielt.“80 Im Gegensatz zu früheren Zeiten verfügte er, daß alle Prinzen und Töchter aus dem Herrscherhaus ausgeschlossen sein sollen von zivilen Karrieren. Dies führte dazu, daß der Unterhalt des in der Mitte des 16. Jahrhunderts auf geschätzte 100.000 Angehörige angewachsenen kaiserlichen Haushalts eine große Belastung für die Staatskasse geworden war.81 Sonst aber entwickelte Zhu Yuanzhang seine Hausgesetze und veränderte sie im Laufe der Jahre.82 Und es bleibt Spekulation, was geworden wäre, wenn dieser experimentelle Zug fortgesetzt worden wäre. Die Wiederbesinnung auf die Tradition unter Jianwen und die folgende Berufung auf die von Zhu Yuanzhang erlassenen Regelungen führten dann jedoch zur Inflexibilität. Taizu warb nicht nur um die Tüchtigsten, sondern förderte auch die akademische Ausbildung der Jüngeren und setzte auf die Palastexamina. Im Juni 1370 wurden die Palastprüfungen wiedereingeführt. Doch offenbar war Zhu Yuanzhang mit der Rekrutierung durch das Palastprüfungssystem unzufrieden, so daß er dieses im März 1373 wieder abschaffte und durch ein Empfehlungssystem ersetzte. Dies blieb für die folgenden zehn Jahre so.83 77 78 79 80 81
82 83
CHC 7, S. 120. CHC 7, S. 132. Übersetzt bei FARMER, Zhu Yuanzhang (wie Anm. 36), S. 114-149. Opt. cit., S. 117. Der Umgang mit diesem Problem eines sich zahlenmäßig schnell vergrößernden Herrscherklans hat für die Song-Dynastie J. W. CHAFFEE untersucht. Siehe J. W. CHAFFEE, Branches of Heaven. A History of the Imperial Clan of Sung China, Cambridge/Mass. 1999. MOTE, Imperial China 900-1800 (wie Anm. 16), S. 566. CHC 7, S. 131.
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Bezeichnend ist, daß erst mehr als zwei Jahre nach der Inthronisierung, am 12. Juli 1370, der endgültige Sieg über die Yuan am Himmelsaltar im Süden der Hauptstadt verkündet wurde.84 Im selben Jahr errichtet der Herrscher den Palast zur Verehrung der Ahnen (Fengxian dian), „perhaps the emperor’s most signficant innovation in 1370“ (Langlois).85
Außenpolitik Im folgenden Jahr (1371) wird Sichuan in das Reich integriert und ein Feldzug gegen das Xia-Reich gestartet.86 Teil der Konsolidierung war auch die Regelung der Außenbeziehungen (etwa zu Japan), bei denen der Buddhismus eine gewisse Rolle spielte. Denn 1372 sandte der Herrscher den buddhistischen Mönch Zushan (fl. 1360-73) als Leiter einer Gesandtschaft nach Japan, nachdem zuvor eine große Zeremonie für alle Seelen (pudu hui) in Nanking durchgeführt worden war, an der drei Tage lang neben tausend Mönchen der Herrscher selbst teilnahm.87 Die Vereinigung des Reichsgebietes unter seiner Herrschaft dauerte jedoch fast 20 Jahre und war erst im Jahre 1387 abgeschlossen. Die nach seiner Regierungsdevise bezeichnete Periode Hongwu (1368-1398) und die Zeit der Regierung des Yongle-Herrschers (1403-1424) waren noch von diplomatischer und zugleich militärischer Expansion sowie von seewärtigen Expeditionen begleitet. Bereits seit 1364 war die Außenpolitik von drei Aspekten gekennzeichnet:88 1. Sicherung der Nordgrenze und Errichtung von Militärkolonien. 2. Eroberung und Assimilierung im Süden und Westen, bei der jedoch 1427 der Yongle-Kaiser bei einer Expedition gegen Annam eine große Niederlage erlitt. 3. Die Beziehungen nach Osten und Südosten waren bestimmt durch Handelsbeziehungen und Tributgesandtschaften. Der berühmteste Bericht aus diesem Zusammenhang ist jener über die Reisen des großen Seefahrers Zheng He von dessen Begleiter Ma Huan unter dem Titel „Wunder der Meere“ (Yingya shenglan).89 Diese expansive Politik wurde seit der Mitte des 15. Jahrhunderts durch eine Phase des Rückzugs und der Verteidigung, aber auch der inneren Konsolidierung bzw. der Integration des Südwestens abgelöst.
84 85 86 87 88 89
CHC 7, S. 123. CHC 7, S. 124. Yunnan war immer noch unter mongolischer Herrschaft. CHC 7, S. 128. Siehe E. L. DREYER, Early Ming China. A Political History, 1355-1435, Stanford 1982, S. 240. Neuere Forschungen, insbesondere von R. PTAK, München, haben den seewärtigen Beziehungen Chinas wieder die ihnen gebührende Aufmerksamkeit geschenkt. Siehe auch B. WIETHOFF, Chinas dritte Grenze. Der traditionelle chinesische Staat und der küstennahe Seeraum, Wiesbaden 1969.
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Regulationen und institutionelle Absicherung Der Ming-Gründer mußte die durch die Fremdherrschaft der Mongolen zerrütteten Strukturen neu festigen, wobei eine der größten Schwierigkeiten darin bestand, die Orientierung der Literatenschicht an den regionalen Interessen soweit zurückzudrängen, daß sie sich wieder der Dynastie als ganzer verpflichteten. Jedenfalls waren die despotischen Züge des Ming-Gründers vielleicht weniger ein Erbe der angeblich so brutalisierenden Mongolenherrschaft,90 sondern der Versuch, die „unstrukturierten und lockeren Züge der mongolischen Herrschaft zu überwinden“.91 Diese Sichtweise hat Herbert FRANKE folgendermaßen zusammengefaßt: „Aus heutiger Sicht können wir also folgern, daß der chinesische Staat unter den Ming gestärkt werden mußte, weil er durch die vorangegangenen Fremdherrschaften entscheidend geschwächt worden war.“92 Tatsächlich hatte Ming Taizu selbst die Mongolenherrschaft als nachlässig und lax gekennzeichnet.93 Ein wesentliches Element der Herrschaftssicherung war der Erlaß von Verhaltensregeln für den gesamten „öffentlichen Dienst“. Dabei ging es Taizu auch um die Abwehr fremder Einflüsse, etwa von seiten des Harems oder auch von seiten des Klerus. So erließ er im Juli 1372 die „Regeln für die sechs Ministerien“ (Liubu zhi zhang), die dann in die Verwaltungsregeln inkorporiert wurden, welche auch die jährlichen Verdiensteinstufungen der Beamten regelten.94 Natürlich mußte es Taizu um die Sicherung seiner Herrschaft gehen. So wurde bereits 1368 ein Rechtskodex erlassen, der dann mehrfach überarbeitet wurde. Im September 1368 wurden die traditionellen Sechs Ministerien eingerichtet. Taizu war sich des Umstandes sehr wohl bewußt, dass er einer Bürokratie bedurfte. In einem Erlaß vom November 1368 heißt es: The empire is of vast extent; because it most certainly cannot be governed by [my] solitary self, it is essential that all the worthy men of the realm now join in bringing order into it. Heretofore the disorders of war and conflicts over boundaries [among the rival contenders] have prevailed, with the consequence that the Great Way of gathering in the worthy men to care for all the people has not yet received full attention.95
Sodann betont Zhu, daß viele Talentierte noch in Zurückgezogenheit lebten, und all diese fordert er auf, sich an der Verwirklichung des Großen Weges mit ihm zu beteiligen. 90 91
92 93 94 95
Siehe F. W. MOTE, The Growth of Chinese despotism. A Critique of Wittfogel’s Theory of Oriental Despotism as applied to China, in: Oriens Extremus 8 (1961), S. 1-41. H. FRANKE, Fremdherrschaften in China und ihr Einfluß auf die staatlichen Institutionen (10.14. Jahrhundert), in: Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaft 122/3 (1985), S. 47-67, hier S. 67. Ebd. J. W. DARDESS, Ming Tai-tsu on the Yüan: An Autocrat’s Assessment of the Mongol Dynasty, in: Bulletin of Sung and Yüan Studies 14 (1979), S. 6-11. Das Werk „Liubu zhi zhang“ ist nicht in der Originalfassung überliefert; CHC 7, S. 131. MOTE, Imperial China 900-1800 (wie Anm. 16), S. 570-571.
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Why should all the worthy men and scholar-officials, or young scholars and stalwart men of action, who long for the rule of a sage-king such as Yao and Shun [paragons of hight antiquity], just go on wasting away their lives waiting [fort he millenium]? For the realm is now at last stabilized and We are eager to discuss and clarify with all learned men the Great Way of governing, to enrich Our mind and thereby to attain more perfect rule. As for all the scholars still in the wilderness who have the capacity to give Us worthy assistance, who by their virtue can bring succor to all the people, let the responsible offices courteously dispatch them here, where We shall select from among them for appointment.96
Im Gegensatz zu diesen freundlichen Zügen in der Werbung um talentierte Beamte zeigte sich Zhu Yuanzhang äußerst grausam und brutal, wenn es um die Sicherung seiner Macht ging. Als 1380 vom Kanzler Hu Weiyong ein Anschlag gegen ihn geplant wurde, war dies auch eine Reaktion auf äußerst grausame Massenexekutionen, die Zhu Yuanzhang 1376 an Tausenden hatte vollstrecken lassen.97 Zhu aber reagierte nicht nur mit größter Grausamkeit, sondern er zog auch Konsequenzen wie die Abschaffung des Kanzleramtes und restrukturierte ein über eineinhalb Jahrtausende gewachsenes bürokratisches System, indem er vieles persönlich an sich zog. Niemals vor ihm, und wohl auch kaum nach ihm, hat je ein Herrscher sich so intensiv um die Regierungsgeschäfte im Einzelnen bemüht, wobei ihm mehr und mehr die Palasteunuchen zur Hand gingen. Es war klar, daß dieses System von schwächeren Nachfolgern nicht aufrechterhalten werden konnte. Zhu Yuanzhang war weniger der Despot, als der er oft gerne hingestellt wird, sondern er war Gestalter und Experimentator der Macht, eine asketische Persönlichkeit – er wird auch als Luxusverächter geschildert. Mit seinem Tode endete eine Ära. Die Erneuerung und die kreative Anknüpfung an die Ideale des Altertums wurde nicht fortgesetzt, sondern mit dem Neffen, dem Yongle-Herrscher, setzte sich eine „Tradition“ durch, eine nördliche Tradition, welche die Spuren der Neuerungsbewegung tilgte und unter Berufung auf die Hausgesetze Taizus ein Herrschaftssystem sicherte, das die folgende wirtschaftliche Prosperität nicht verhinderte und nicht verhindern wollte, aber letztlich doch gestaltungsunfähig wurde.
Religionspolitik Und wie setzte er Religion und Ritual als Herrschaftsmittel ein? Gleich nach der Thronbesteigung errichtete Zhu Ämter für die Religionen (Buddhismus und Daoismus);98 die Bezeichnung „tianshi“, Himmlischer Meister, die er als „Lehrherr des Himmels“ deutete, war ihm ein Dorn im Auge, daher gab er dem obersten Daoisten, dem tianshi, den neuen Titel Da zhenren („Großer Vollkommener“). Am Zhong-Berg außerhalb Nankings vollzog der gelehrte Mönch Fanqi (1296-1370) 96 97 98
Ebd., S. 571; Text zitiert nach SUN ZHENGRONG, Zhu Yuanzhang xinian yaolu, Hangzhou 1983, S. 166. MOTE, Imperial China 900-1800 (wie Anm. 16), S. 572ff. CHC 7, S. 114.
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Zeremonien zum Gedenken an die im Kriege Gefallenen. Dort übrigens ließ Taizu sein Grab errichten, an einer Stelle, an der tausend Jahre zuvor die Verehrungsstätte des Kriegergottes Jiang Ziwen und dann ein buddhistisches Kloster war.99 Solche regionalen Wurzeln blieben also bestimmend, und doch richtete sich seine Bemühung auf die geistliche Befriedung des ganzen Reiches, wenn er zu Beginn des Jahres 1369 alle Geister der Wälle und Gräben im gesamten Reich, die Stadtgötter, einsetzte und damit an sich band.100
4. Die Dauer der Ming-Dynastie Warum konnte die Ming-Dynastie trotz dieser schwierigen Ausgangslage, im Gegensatz etwa zur Qin-Dynastie, so lange dauern? Dies ist einer Parallelentwicklung zu verdanken. Ich folge dabei DARDESS in der Einschätzung, daß die Zentralisierung und Autokratie nicht eine Folge ungenügender Verwaltungskapazität für das Reich war, sondern eine Folge lang währender Anstrengungen zum Zwecke der Machtsicherung. Das 14. Jahrhundert war eher gekennzeichnet von Bevölkerungsabnahme (von zwischen 80 bis 100 Mio. auf etwa 65 Mio.) und wirtschaftlichem Niedergang. Vielmehr ist der spezifische Charakter der konfuzianischen Elite, eine Professionalisierung – DARDESS spricht von einer „a national community of Confucian public-service professionals“101 – und eine moralische Verselbständigung der Elite der Grund für die langfristig erfolgreiche Reformierung des Reiches und die Durchsetzung von Zentralismus und Autokratie;102 zugleich ist dies der Grund für die Stagnation.
Die blutige Schrift auf dem Palastboden und die Dissoziierung von Herrschaft und Staat: Thronfolge als Familienangelegenheit Eine weitere Antwort auf die Frage, warum die Ming-Dynastie dann doch so lange dauern konnte, hängt mit der Bewältigung der Krise zusammen, in welche die Ming-Dynastie zunächst geriet. Zwei Probleme standen im Vordergrund:103 1. Der Thronfolger, Enkel Zhu Yuanzhangs und als Jianwen-Kaiser kanonisiert, war mit einer dysfunktionalen Administration konfrontiert. Insbesondere „fehlte“ das „Kanzleramt“ (Central Secretariat zhongshusheng), das wieder einzurichten von Zhu Yuanzhang strengstens untersagt worden war. Der neue Herrscher wandte sich in dieser Angelegenheit an Fang Xiaoru (1357-1402). 2. Die militärischen Kräfte waren durch die Aufteilung auf die vielen Söhne Zhus dezentralisiert. 99 100 101 102 103
Zu diesem Ort siehe H. SCHMIDT-GLINTZER, Baozhi (418/425-514). Ein Prophet für Volk und Staat in China, in: Oriens Extremus 35 (1992), S. 93-105. CHC 7, S. 115; siehe R. TAYLOR, Ming T’ai-tsu and the gods of the walls and moats, in: Ming Studies 4 (1977), S. 31-49. DARDESS, Confucianism and Autocracy (wie Anm. 32), S. 1. Ebd., S. 3. MOTE, Imperial China 900-1800 (wie Anm. 16), S. 585.
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Aus diesem zweiten Umstand erwuchs Gefahr und Chance zugleich, nämlich in Person des Onkels Jianwens, Zhu Di, Prinz von Yan, mit seiner Militärmacht in der Gegend des heutigen Peking. Unter Berufung auf die „Hausgesetze“ des Gründers machte er sich daran, seinen Neffen „vor schlechten Einflüssen zu erretten“. Im Sommer 1399 kam es zu ersten kriegerischen Auseinandersetzungen, die erst im Juli 1402 mit der Einnahme Nanjings endeten. Jianwen verbrannte – angeblich nach Selbstmord – mit Frau und Kind im Palast. Zhu Di ließ sich sodann unter der Devise „Yongle“ („Anhaltendes Glück“) inthronisieren. Freilich war Zhu Di zunächst seiner Sache nicht ganz sicher. Daher bezog er sich vor allem auf seine „Pflicht, Unordnung vom Hofe zu vertreiben“ und dies propagandistisch auszuschlachten. Das Problem bestand für ihn vor allem darin, daß er keineswegs reguläre Thronfolgeansprüche geltend machen konnte. Dies wäre nur der Fall gewesen, wenn er der älteste lebende Sohn der Hauptfrau gewesen wäre. (Söhne der Hauptfrau waren sie wohl alle nicht, aber das ist noch eine andere Geschichte!) Es gab aber noch Söhne Jianwens.104 Auf welche Person mit öffentlichem Ansehen konnte er sich berufen? Er versuchte Lian Zining zu überzeugen, dass er wie der Herzog von Zhou im Jahre 1116 v.Chr. (traditionelle Datierung) gehandelt habe, der seinem Neffen, König Cheng, dem Sohn des Herrschers und seines Bruders, König Wu, zur Hilfe geeilt sei, was Konfuzius stets als Beispiel für höchste Staatsräson betrachtet hatte. Dieser Lian Zining weigerte sich, und noch nachdem ihm die Zunge herausgeschnitten worden war, schrieb er mit dem Finger die Frage auf den Boden: „Wo ist König Cheng?“ Er wollte die Analogie nicht bestätigen. Dann ließ er Fang Xiaoru aus der Gefängniszelle holen und stellte ihm die gleiche Frage, ob er nicht ein zweiter Zhougong sei. Der Dialog ist bezeichnend: Als auch Fang Xiaoru fragte, „Wo ist König Cheng?“, erwiderte Zhu Di: „Er hat sich durch Feuer getötet.“ – Frage: „Warum kommt dann nicht der Sohn von König Cheng auf den Thron?“ – Die Antwort: „Die Dynastie braucht einen erwachsenen Herrscher.“ – Frage: „Warum wird dann nicht König Chengs jüngerer Bruder inthronisiert?“ – Antwort: „Dies ist allein eine Angelegenheit meines Hauses.“ Familienangelegenheiten des Kaiserhauses wurden hier also erstmals auch rituell von den Staatsregeln getrennt behandelt. Nun ist natürlich klar, daß diese Wendung nur eine Reaktion auf den ZhouTraditionalismus des Jianwen-Herrschers war und daß Yongle sich gegen diesen Traditionalismus auf die Hausregeln Zhu Yuanzhangs als die für ihn verbindlichen Regeln berief.105 Fang Xiaoru aber weigerte sich weiterhin, woraufhin er gevierteilt wurde, und auch seine Verwandten „bis zur zehnten Verwandtschaftsstufe“ wurden ausfindig gemacht und exekutiert. Die Säuberungen betrafen auch alle, die in
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Ebd., S. 587f. Siehe dazu B. A. ELMAN, The Formation of ‚Dao Learning’ as Imperial Ideology During the Early Ming Dynasty, in: T. HUTERS / R. BIN WONG / PAULINE YU (Hgg.), Culture and State in Chinese History. Conventions, Accomofdations, and Critique, Stanford 1997, S. 58-82.
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Helwig Schmidt-Glintzer
irgendeiner Weise zu dem vorherigen Herrscher besondere Loyalitätsbeziehungen hatten.106 Die Rede aber von der „Familienangelegenheit“ gründete auch auf der Errichtung eines zweiten Ahnenschreins durch Taizu im Inneren Palast namens Fengxiandian („Temple of Offerings to the Imperial Forebears“),107 nachdem er bereits 1368 einen Ahnentempel außerhalb, den Tai Miao, errichtet hatte. Dieser Dissoziierung von Herrscherfamilie und Staat entsprach die „Konfuzianisierung“ der Beamten im Laufe der Yuan-Zeit, wie sie DARDESS dargelegt hat. Es war der alte Konflikt des Widerspruchs zwischen Gong tianxia („das Reich für alle“) und Jia tianxia („das Reich als Sache der[einer] Familie“). Fang Xiaoru und seine Position, institutionell an die Regeln der Zhou-Zeit anknüpfen zu können, war also gescheitert. Statt dessen siegte eine zynische Variante militärischer Macht.
Erfolgreiche Usurpation Der 1360 geborene vierte von 26 Söhnen Ming Taizus und der vierte von fünf (angeblichen)108 Söhnen der Hauptfrau war also um 1400 der älteste überlebende dieser fünf Söhne und zugleich seit 1377 Schwiegersohn Xu Das, des mächtigen Militärs im Norden, und in den 19 Jahren, die er in den Palästen der Mongolen lebte, hatte er seine Erwartungen, in die Thronfolge einzutreten, durchaus kultivieren können.109 Die Thronübernahme dieses Yongle-Herrschers, der von 1403 bis 1424 regierte, haben manche als „zweite Dynastiegründung“ bezeichnet. Er pflegte internationale Kontakte, führte Kriege und reorganisierte die Verwaltung. Im Inneren Palast etablierte er eine Art Beraterstab (Neige) für die alltäglichen Regierungsgeschäfte. Im Äußeren Hof hatte er sechs Minister mit den traditionellen sechs Geschäftsbereichen (Personal – Steuern – Riten – Krieg – Bestrafungen – Öffentliche Arbeiten) sowie zwei Zensoren – einen zur Linken, einen zur Rechten. Er war es auch, der Peking zur zweiten Hauptstadt machte, die bald wieder die eigentliche Hauptstadt werden sollte.
5. Schlußfolgerungen Wollte ich eine „take-home-message“ meines Vortrages versuchen, so lautete diese: Zhu Yuanzhang begründete seine Macht durch Befolgung von Traditionen und Begründung neuer Standards, und zwar in einem bisher nie gekannten – und daher auch: neuen Maße. Ähnlich wie Augustus mußte auch Zhu Yuanzhang seine Macht in Formen kleiden. Doch Autokratie und Bürokratie wurden nicht als Widerspruch empfunden, sondern es ging um die Ausgestaltung eines durch Gegensatzbegriffe wie Himmel und Erde und weich und hart gefaßten Kontinuums. Er 106 107 108 109
MOTE, Imperial China 900-1800 (Anm. 16), S. 588-589; dort auch Bemerkungen zur Legendenbildung und zur späten Rache der Linien Jianwens am Ende der Ming. Ebd., S. 590. Siehe hierzu ebd., S. 594. Ebd., S. 595-596.
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begründete eine eigene Form der Herrschaftsausübung, sehr personenzentriert und kaum übertragbar. Anders als Augustus wurde ihm Macht auch nicht von Institutionen delegiert, sondern er „wuchs“ in das Zentrum der Macht. Daraus resultierten Chancen zur Neugestaltung, die er wahrnahm und die sein Nachfolger mit Hilfe von Beratern und unter Anknüpfung an Ideale des Altertums weiter nutzen wollte. Auf diese Weise brach er unter Rückgriff auf die Tradition mit derselben. Solche durch eine professionalisierte und verselbständigte Literatenbeamtenschicht getragene Innovativität wurde schließlich zerschlagen durch die Durchsetzung der Machtansprüche des Yongle-Herrschers, des „zweiten Gründers“, dessen Traditionsbezug in einer doppelten Abkehr bestand, einmal in der Ausblendung der Innovativität des Gründungsherrschers, zum anderen in der Ablehnung des Traditionsbezugs des Jianwen-Kaisers und seiner Berater. Ich möchte Taizu daher auch nicht als den bezeichnen, der eine Despotie begründete, sondern er reagierte auf ein Vakuum und füllte es mit den rigoristischen Vorstellungen einer bestimmten Gruppe von Beratern. Das Vorherrschen des Elementes von Unsicherheit, in der Hauptstadtfrage, in der ständig neu überarbeiteten Gesetzgebung, in der Thronfolgefrage, um nur einige Aspekte zu nennen, steht in merkwürdigem Gegensatz zur Kontinuität etwa des Devisennamens Hongwu, der von 1368 bis zu seinem Tode 1398 beibehalten wurde und vorbildhaft für die folgenden Jahrhunderte blieb.
MACHT UND OHNMACHT DER STANDARDISIERUNG. Eine Einführung WINFRIED MÜLLER „Jede zweite Vorschrift fällt“ – so lautete die Hauptschlagzeile einer regionalen Sonntagszeitung, die im zeitlichen Umfeld der im vorliegenden Band dokumentierten Tagung erschienen war. Berichtet wurde dabei über eine Regierungsinitiative, die derzeit rund 4500 Verordnungen, die die Arbeit der sächsischen Landesverwaltung regeln, drastisch zu reduzieren.1 Die „Teilrodung des Vorschriftenwaldes“ wurde auf der Titelseite positiv gewürdigt, ein Kommentar spornte mit dem Anfeuerungsruf „Weiter so und weg damit!“ zu weiteren Anstrengungen an und verwies u.a. auf den Spott der europäischen Nachbarn über die „deutsche Zwanghaftigkeit, alles regulieren zu wollen“. Ganz offenkundig übersah der Kommentator in seinem Enthusiasmus allerdings, was im letzten Abschnitt eben desselben Berichts über die Verwaltungsvereinfachung angekündigt wurde: „Genetischer Fingerabdruck soll zum Regelfall werden“, d.h., die DNA-Analyse, die bislang nur bei Personen angewandt wurde, die bereits eine schwere Straftat begangen haben und von denen weitere schwere Straftaten zu erwarten sind, soll zum Schutze der Bürger insofern zum Regelfall werden, als erst die Annahme, ein Betroffener werde künftig keine erheblichen Straftaten begehen, eine DNA-Analyse ausschließt. Hier haben wir es nun mit einem klassischen Standardisierungsvorgang zu tun,2 insofern eine methodische Vereinheitlichung angestrebt wird, die den Informationsabgleich vereinfacht, den Aufwand, in diesem Fall für die Ermittlung von Kriminalität, und damit die Kosten senkt und die Verbraucher, in diesem Falle die von krimineller Energie bedrohten Bürger, schützen soll. Der Zeitungsartikel, in dem im gleichen Atemzug über eine Deregulierung der Landesverwaltung und einen für die Gesellschaft möglicherweise weit reichenden Vorgang der Standardisierung berichtet wurde, ist in mehrerer Hinsicht aufschlussreich. Zum einen zeigt er, dass die Reduzierung von Vorschriften im Sinne von Entbürokratisierung und Verwaltungsvereinfachung in der öffentlichen Wahrnehmung ausgesprochen positiv besetzt ist – so positiv, dass der Kommentator ganz offenkundig dem Lockruf der Entbürokratisierung erlag und die Ankündigung eines anderen tiefgreifenden Standardisierungsvorgangs übersah. Das verweist zum Zweiten auf eine auch aus anderen Bereichen bekannte und zugleich erfolgreiche Methode von Administrationen, Deregulierung anzukündigen, um Standardisierung gleichermaßen zu invisibilisieren wie auch voranzutreiben. Beides, positive 1 2
Vgl. Sächsische Zeitung vom 27. Februar 2005, S. 1. Vgl. zuletzt S. FRANK / S. WINDMÜLLER (Hgg.), Normieren, Standardisieren, Vereinheitlichen, Marburg 2005; A. KLAMPFL / M. LANZINGER (Hgg.), Normativität und soziale Praxis. Gesellschaftspolitische und historische Beiträge, Wien 2006.
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Bewertung und Invisibilisierungsstrategie, kündet drittens von einem offenkundigen Unbehagen oder fehlender Akzeptanz eines von ausdifferenzierten Bürokratien oder sich verselbstständigenden Gremien ausgeübten Standardisierungsdrucks. Weitere Beispiele hierfür sind geläufig. Ein prominentes ist die Rechtschreibreform3 – ein Vorgang der Sprachstandardisierung, der als Vereinfachung angekündigt wurde, durch eine Sprachkommission von oben ohne Abstimmung etwa mit Autoren, die ihrerseits viel zu spät aufbegehrt haben, oktroyiert wurde, und der eine Diskussion auslöste, die mitten hineinführt in unser Thema: die Macht und die Ohnmacht der Standardisierung, das Spannungsfeld von normativen Vorgaben und Befolgungspraxis. Ein anderes Beispiel dafür ist der Bologna-Prozess und die Modularisierung der Studiengänge. Dahinter steht bekanntlich das Bestreben, das Studium nach einheitlichen europäischen Standards zu organisieren und die Vergleich- und damit Austauschbarkeit der Studienabschlüsse herzustellen. Austauschbarkeit von Komponenten, Vereinfachung des Informationsflusses, methodische Vereinheitlichung, kurzum: die klassische Trias der Standardisierung ist dahinter zu erkennen. Bei den betroffenen Hochschullehrern löste das, was als Flexibilisierung angekündigt wurde, freilich die – schon längst Realität gewordene – Befürchtung aus, es komme zu einer Hypertrophierung des bürokratischen Aufwands4 bei der Studienorganisation und zur Homogenisierung des Studienwissens auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den Mindeststandard. Eben diese Befürchtung einer Homogenisierung des Wissens steht, dies als drittes und letztes Beispiel, hinter einer Kontroverse zwischen der amerikanischen Internet-Suchmaschine Google und europäischen Bibliotheken. Ziel von Google ist es bekanntlich, die Bestände fünf großer amerikanischer Bibliotheken zu digitalisieren und damit in den kommenden zehn Jahren 15 Millionen Bücher online zur Verfügung zu stellen. „In einer Art Lesefabrik“, so berichtete die „Süddeutsche Zeitung“,5 „werden Automaten die Bücher selbstständig durchblättern und fotografieren, 5000 Bücher pro Tag“. Nicht dieser Vorgang des standardisierten Zu3
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Vgl. B. SAALFELD, Sprachwandel – von der Rechtschreibvielfalt zur Normierung. Rechtschreibung im historischen Kontext verstehen, in: Deutschunterricht 58 (2005), S. 13-20; H. SITTA, „Documenta Orthographica“. Stationen des Bemühens um die deutsche Rechtschreibung vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 125 (2006), S. 91107; K. RÄDLE, Groß- und Kleinschreibung des Deutschen im 19. Jahrhundert. Die Entwicklung des Regelsystems zwischen Reformierung und Normierung, Heidelberg 2003. Vgl. P. J. BRENNER, Die Bologna-Maschine. Die Universität im Strudel der Bürokratie, in: Forschung & Lehre 14 (2007), S. 86ff.; vgl. auch L. J. WAKS, Globalisierung, Staatstransformationen und das Bildungssystem. Werden künftig bürokratische Standardisierung oder postmoderne Vielfalt vorherrschen?, in: Engagement (2004), S. 324-336. Vgl. K. M. WIEGANDT, Googles Gegner, in: Süddeutsche Zeitung vom 26/27. Februar 2005, S. 15. In zeitlichem Abstand zu der in diesem Band dokumentierten Tagung ist – dies nur als interssante abweichende Variante zu der im text angesprochenen kulturellen Homogenisierung – die Bayerische Staatsbibliothek in München dem privatwirtschaftlich finanzierten Digitalisierungsprojekt von Google beigetreten. Zu dem zwischen dem Freistaat Bayern und Google geschlossenen Vertrag vgl. Süddeutsche Zeitung vom 7. März 2007, S. 1.
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griffs auf Texte ist es, der europäische Kulturhüter schreckt, sondern die Befürchtung einer standardisierten Rezeption – dass nämlich durch Google künftigen Generationen vermittelt werde, dass lesenswerte Bücher ausschließlich in englischer Sprache verfasst worden seien und dass dies zu einer überwältigenden kulturellen Dominanz Amerikas führe. Europa müsse, so auch der von der Deutschen Bibliothek in Frankfurt unterstützte Appell, mithilfe der EU zum Gegenangriff rüsten und seine nationalsprachlichen Literaturen ins Netz stellen. Wie verhalten sich nun diese partiell von Unbehagen unterfütterten aktuellen kontroversen Diskussionen zu den basalen Prämissen des Dresdner Sonderforschungsbereichs 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“,6 dass die Wiederholbarkeit von Regeln und ordnungsstiftenden Normen gesichert, dass Handlungsoptionen reduziert und der Beliebigkeit persönlichen und kollektiven Handelns entzogen werden müssen, um die Dauerhaftigkeit sozialer Gefüge im Fluss der Zeit sicherzustellen? Nun wird niemand in Abrede stellen, dass Standardisierungsvorgängen, mit denen die Norm sozusagen in Serie geht, im Prozess der Produktion von Dauerhaftigkeit eine zentrale Rolle zukommt. Jeder von uns, um beim scheinbar Einfachen zu beginnen, nimmt es für selbstverständlich, dass das Blatt Papier der Deutschen Industrienorm A 4 entspricht7 und dass dieses Blatt von jedem an einen Computer angeschlossenen Drucker akzeptiert wird. Und wir wissen, um zu komplexeren sozialen Interaktionen und Kommunikationsakten fortzuschreiten, dass Sprache in ihrer heutigen Gestalt nichts Naturwüchsiges ist, sondern dass wir es mit einem kodifizierten Standard zu tun haben.8 Gleiches gilt für die Kategorie Zeit:9 man denke an Sommerzeit oder Mitteleuropäische Zeit, an die Homogenisierung lokaler und regionaler Zeitunterschiede durch die Einteilung des
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8
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Vgl. u.a. G. MELVILLE (Hg.), Institutionalität und Geschichtlichkeit. Ein neuer Sonderforschungsbereich stellt sich vor, Dresden 1997; DERS., Institutionen als geschichtswissenschaftliches Thema, in: DERS. (Hg.), Institution und Geschichte. Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde (Norm und Struktur 1), Köln/Weimar/Wien 1992, S. 1-24. Vgl. 75 Jahre DIN. 1917 bis 1992, hg. vom Deutschen Institut für Normung, Berlin 1993. Vgl. auch V. WANG, Die Vereinheitlichung von Maß und Gewicht in Deutschland im 19. Jahrhundert. Analyse des metrologischen Wandels im Großherzogtum Baden und anderen deutschen Staaten 1806-1871, St. Katharinen 2000; T. WÖLKER, Der Wettlauf um die Verbreitung nationaler Normen im Ausland nach dem Ersten Weltkrieg und die Gründung der ISA aus der Sicht deutscher Quellen, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 80 (1993), S. 487-509. Vgl. beispielsweise K. JAKOB, Die Sprachnormierungen Johann Christoph Gottscheds und ihre Durchsetzung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Sprachwissenschaft 24 (1999), S. 146. Vgl. R. WENDORFF, Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Wiesbaden 1980; G. J. WHITROW, Die Erfindung der Zeit, Hamburg 1991; H. OTTOMEYER (Hg.), Geburt der Zeit. Eine Geschichte ihrer Bilder und Begriffe. Ausstellungskatalog Museum Fridericianum Kassel, Kassel 1999; U. G. LEINSLE / J. MECKE (Hgg.), Zeit – Zeitenwechsel – Endzeit. Zeit im Wandel der Zeiten, Kulturen, Techniken und Disziplinen, Regensburg 2000.
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Globus in Zeitzonen im 19. Jahrhundert,10 an die Synchronisierung von Zeit in den Fahrplänen. Standardisierungen werden also allgemein als notwendig begriffen, und deshalb wird ihre organisatorische Verdichtung und dauerhafte Bewahrung, ihre Institutionalisierung betrieben. Unsere theoretische Neugierde gilt also etwas in vielen Lebensbereichen Praktiziertem, das die an diesem Cluster beteiligten Teilprojekte verklammert, beschäftigen sie sich doch allesamt mit Vorgängen der Verstetigung von Kommunikationsund Ordnungsmustern, mittels derer dauerhafte Handlungsordnungen und Verhaltenssicherheit hergestellt werden. Das von Ursula SCHAEFER geleitete Teilprojekt „Institutionalisierung der Volkssprache“ untersucht die Verschriftlichung11 und Standardisierung des mittelalterlichen Englisch – ein Vorgang, der ausgesprochen interessant verlaufen ist, weil er nicht einfach als Übertritt vom Mündlichen ins Schriftliche zu begreifen ist. Vielmehr herrschten in England insofern besondere Verhältnisse, weil schriftsprachliche Bereiche nicht nur durch das Latein, sondern – als Folge der normannischen Eroberung – auch durch das Französische besetzt waren: die Volkssprache rückte also in etablierte schriftliche Domänen ein. In der hier zur Rede stehenden Tagungssektion wurde das an den Vorgaben der „Artes dictandi“ exemplifiziert, Briefstellern, die zwar ausschließlich in lateinischer und anglonormannischer Sprache vorliegen, die aber gleichwohl einen nicht unerheblichen Beitrag zum Ausbau und zur (Neu-)Verschriftlichung des Englischen leisteten, wie ein Vergleich der Regeln mit Briefen des 15. Jahrhunderts erweist. Das von Gerd SCHWERHOFF geleitete Teilprojekt „Institutionelle Ordnungsarrangements öffentlicher Räume in der Frühen Neuzeit“ analysiert die Ausprägung und Verstetigung von Ordnungsmustern in öffentlichen Räumen wie Gast- und Wirtshäusern, Kirchenräumen und Ratshäusern.12 Anliegen des Teilprojekts ist es dabei, die Herstellung von Ordnungsarrangements nicht nur unter dem Paradigma der Sozialdisziplinierung zu diskutieren, sondern dieser in der Frühneuzeitforschung lange Zeit dominanten etatistischen Perspektive einer Normierung von
10 11
12
Vgl. C. BLAISE, Die Zähmung der Zeit. Sir Sandford und die Erfindung der Weltzeit, Frankfurt a.M. 2001. Vgl. u.a. U. SCHAEFER (Hg.), Schriftlichkeit im frühen Mittelalter, Tübingen 1992; DIES., Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Mittelalter, in: M. MAURER (Hg.), Aufriß der historischen Wissenschaften, Bd. 5: Mündliche Überlieferung und Geschichtsschreibung, Stuttgart 2003, S. 148-187. Vgl. u.a. G. SCHWERHOFF, Öffentliche Räume und politische Kultur in der frühneuzeitlichen Stadt. Eine Skizze am Beispiel der Reichsstadt Köln, in: R. SCHLÖGL (Hg.), Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2004, S. 113-136; DERS., Das Gelage. Institutionelle Ordnungsarrangements und Machtkämpfe im frühneuzeitlichen Wirtshaus, in: G. MELVILLE (Hg.), Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 159-176; DERS. / S. RAU (Hgg.), Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Norm und Strukur 21), Köln/Weimar/Wien 2004; C. HOCHMUTH / S. RAU (Hgg.), Machträume der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2006.
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oben13 die Selbstorganisation und die Selbstregulierungskräfte der Gesellschaft als Ordnungsfaktor gegenüberzustellen. Wenn dabei auch der Frage nachgegangen wird, inwieweit obrigkeitliche Normen nicht nur als Oktroy aufzufassen sind, sondern auch auf gesellschaftliche Bedürfnisse antworten, so verweist das frühneuzeitliche Forschungsfeld der „Policey im Wirtshaus“ aus anderer Perspektive unmittelbar zurück zu den Ambivalenzen der einleitend angesprochenen aktuellen Standardisierungsvorgänge. Das vom Verfasser dieser Einführung geleitete Teilprojekt „Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus“ schließlich befasst sich mit der Etablierung von standardisierter, regelmäßig getakteter Zeit am Beispiel des historischen Jubiläums14 – einer Zeitkonstruktion also, in der sich Organisationen und Personen ihrer Vergangenheit vergewissern, um mit deren Inszenierung sich und anderen zu beweisen, dass sie sich im Prozess ihrer Selbstgenerierung befinden. Das Jubiläum indiziert mithin Institutionalität. Das Teilprojekt war an der Tagung nicht unmittelbar durch einen eigenen Vortrag beteiligt, sondern indirekt durch den für jedes Cluster vorgesehenen Gastreferenten. Eingeladen wurde Arndt Brendecke, der sich vor allem durch sein Buch über die Jahrhundertwenden als Spezialist für Zeitkonstruktionen einen Namen gemacht hat,15 der allerdings nicht über Zeitkonstruktionen, sondern am Beispiel der Fragebögen des spanischen Indienrats über standardisiertes Beschreiben sprach und der Geburtsstunde des modernen Formulars nachging. Da diese formalisierte Niederschrift von Wissensbeständen gerade auch im Kontext der Etablierung von Zeitstandards von Interesse ist – man denke an die verknappten Notizen in den Schreibkalendern,16 den formalisierten Lebenslauf, die rhetorische Uniformität der Jubiläumsfestschrift17 –, durfte man sich vom Gastreferenten zu Recht wichtige Impulse erhoffen. Diese hier nur angedeuteten Standardisierungsvorgänge wurden, die Titel bzw. Untertitel der nun verschriftlichten Vorträge deuten es an, jeweils in dem zu Beginn angesprochenen Spannungsfeld von Normensetzung und Befolgungspraxis 13 14
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Vgl. A. LANDWEHR, „Normdurchsetzung“ in der frühen Neuzeit? Kritik eines Begriffs, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000), S. 146-163. Vgl. W. MÜLLER (Hg.), Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster 2004; DERS., Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus. Dresdner Sonderforschungsbereich 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“, Teilprojekt R, in: Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Berichtsjahr 2004 (2005), S. 89-100. Vgl. A. BRENDECKE, Die Jahrhundertwenden. Eine Geschichte ihrer Wahrnehmung und Wirkung, Frankfurt a.M./New York 1999. Vgl. H. MEISE, Das archivierte Ich. Schreibkalender und höfische Repräsentation in HessenDarmstadt 1624-1790, Darmstadt 2002. Vgl. A. BRENDECKE, Reden über Geschichte. Zur Rhetorik des Rückblicks in Jubiläumsreden der Frühen Neuzeit, in: P. MÜNCH (Hg.), Jubiläum, Jubiläum... Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung, Essen 2005, S. 61-83.
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analysiert. Indem die Vorträge im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit ansetzten, wurde einem aktuellen Problem historische Tiefenschärfe gegeben in dem Sinn, dass wir an die Vergangenheit Fragen stellen, die uns heute intensiv beschäftigen. Und in der Tat sind Diskrepanzen zwischen normativer Setzung und Befolgungspraxis auch bei spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Standardisierungsvorgängen aufgetreten, sei es, weil die normativen Vorgaben zu komplex waren, sei es, dass die Menschen nicht das wollten, was sie befolgen sollten. Freilich ging es nicht primär darum, nur historische Belege für einen auch heute zwiespältigen Umgang mit Standardisierungsvorgängen beizubringen. Der Abgleich von Norm und Befolgungspraxis verweist vielmehr auf die grundsätzlichen Ambivalenzen von Institutionalisierungsprozessen.18 Mit der Verfestigung von Normen und ihrer seriellen, standardisierten Anwendung wird einerseits Beliebigkeit des Handelns verwehrt und Freiheit genommen. Andererseits sind diese sich in institutionellen Formen verfestigenden Normen unabdingbar für die Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse, sie stellen die einzige Chance des Menschen dar, soziale Interaktionen zu koordinieren, zu harmonisieren und zu stabilisieren. Exakt in diesem grundsätzlichen, sowohl dem historischen Material als auch den aktuellen Beispielen übergeordneten Spannungsfeld wurden Macht und Ohnmacht der Standardisierung diskutiert. Auf der einen Seite agieren und sprechen wir alle mehr oder minder unbewusst in und mit historisch gewordenen Standards. Auf der anderen Seite empfinden wir Standardisierungsvorgänge partiell als einen unsere Selbstbestimmung und Kreativität einengenden Kontingenzverlust, insbesondere, wenn das Proprium des Menschen, seine Körperlichkeit, seine Sprache, seine Identität betroffen zu sein scheint oder ist. Tun wir das, weil es uns an tieferer Einsicht in die normativen Vorgaben fehlt? Oder sind wir skeptisch, weil sich die Normen gebenden und Standards setzenden Organisationen von unseren Bedürfnissen entfernt haben und dem Perfektionsdrang erliegen, sozusagen der Erbsünde von Institutionen verfallen sind: der Hypertrophierung und dem Selbstzweck – mit der Folge, dass die Homogenisierung in ihr Gegenteil umschlägt, Dysfunktionalitäten hervorbringt und konflikterzeugend wirkt. Die historische Analyse kann vielleicht Licht in dieses Spannungsverhältnis von Oktroy und Bedürfnisorientierung bei der Formulierung und Durchsetzung von Normen bringen. Ganz sicher kann sie aber eines leisten: Sie kann zeigen, dass Standardisierungsvorgänge nicht nur im Sinne der im Dresdner Sonderforschungsbereich verhandelten Institutionalität Dauerhaftigkeit produzieren wollen, sondern dass die Überführung der Standards in die gesellschaftliche Interaktionspraxis, in die Geschichtlichkeit, selbst meistens ein Vorgang von langer Dauer gewesen ist – aller institutionellen Ungeduld zum Trotze, die uns auch heute plagt und für manches Unbehagen mitverantwortlich ist.
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Vgl. G. MELVILLE, Institutionen als geschichtswissenschaftliches Thema (wie Anm. 6).
DIE ARS DICTAMINIS IN ENGLAND ZWISCHEN NORMATIVER SETZUNG UND BEFOLGUNGSPRAXIS. Eine Analyse anhand der „Paston Letters“ ULRIKE SCHENK / BEATRIX WEBER
1. Einleitung Die moderne Welt bietet uns eine Vielzahl von Möglichkeiten, über räumliche Distanzen hinweg zu kommunizieren. Telefon, Fax und E-Mail sind aus unserem Alltag kaum mehr wegzudenken. Neben diesen vergleichsweise jungen Medien hat sich jedoch auch eine sehr traditionsreiche Kommunikationsform erhalten – der Brief. Briefe dienen der Kommunikation über räumliche Distanzen hinweg. Jedoch war es in den Anfängen der Geschichte des Briefes keineswegs in erster Linie das Schriftstück selbst, das diese Funktion übernahm. Der Bote, der mit dem Sendschreiben unterwegs war, händigte es nicht wortlos aus, sondern gab den Inhalt mündlich wieder, was noch nicht einmal das Verlesen des Brieftextes einschließen musste.1 Das Vertrauen in die Schrift, von dessen Existenz die moderne Gesellschaft oft geradezu axiomatisch ausgeht, hatte sich noch nicht etabliert.2 Mit dem Ansteigen der pragmatischen Schriftlichkeit im späten Mittelalter gewann der eigentliche Brief dann aber an Bedeutung.3 Für das Abfassen solcher Schriftstücke gab es zahlreiche Richtlinien, die in Lehrbüchern und Musterbriefsammlungen festgeschrieben waren. Diese Regeln waren keineswegs aus dem Nichts entstanden. Sie waren aus der Technik eines antiken öffentlichen Distanzdiskurses erwachsen – der Rhetorik. Der Begriff D i s t a n z verweist hierbei auf Charakteristika wie ‚Monologizität’, ,Situationsentbindung’, ,Öffentlichkeit’, ,Reflektiertheit’, die typischerweise mit geschriebener Sprache assoziiert werden, aber durchaus nicht an das graphische Medium gebunden sein müssen.4 So ist die Rhe1 2
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4
H. HOFFMANN, Zur mittelalterlichen Brieftechnik, in: K. REPGEN / S. SKALWEIT (Hgg.), Spiegel der Geschichte. Festgabe für Max Braubach, Münster 1964, S. 141-170, hier S. 145-147. Vgl. K. EHLICH, Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung, in: A. ASSMANN / J. ASSMANN / C. HARDMEIER (Hgg.), Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation, München ²1993, S. 24-43, hier S. 39f. Zum Begriff der pragmatischen Schriftlichkeit und ihrer Zunahme im späten Mittelalter H. KELLER, Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, in: DERS. / K. GRUBMÜLLER / N. STAUBACH (Hgg.), Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter, München 1992, S. 1-7. Zum Konzept der Distanzsprachlichkeit vs. Nähesprachlichkeit: P. KOCH / W. OESTERREICHER, Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von
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Ulrike Schenk / Beatrix Weber
torik – rein medial betrachtet – zwar in der Sphäre der Mündlichkeit angesiedelt, die antike Rede selbst ist jedoch keinesfalls eine spontane Äußerung, die ad hoc produziert wird. Vielmehr erfordert der Entwurf einer Rede zunächst eine Ausarbeitung, die durchaus auch schriftlich erfolgen kann. Obwohl diese Ausarbeitung lediglich als Mittel zum Zweck – dem eigentlichen Vortrag vor Publikum – dient, ist sie doch unerlässlich, da die kognitive Kapazität der meisten Menschen eine spontane Rede nicht in der Komplexität zulässt, die den rhetorischen Anforderungen Genüge tun würde. Konzeptionell gesehen haben Brief und Rede also durchaus Gemeinsamkeiten aufzuweisen. Beide Textsorten oder – um einen Begriff von Peter KOCH und Wulf OESTERREICHER aufzugreifen – beide Diskurstraditionen sind insofern distanzsprachlich, als sie Reflexion, Korrektur und Präzisierung zulassen.5 Die historische und inhaltliche Affinität von Brief und Rede wird insbesondere in den Briefstellerlehren der so genannten Ars dictaminis deutlich, die ihren Ursprung in den italienischen Stadtkommunen des 12. Jahrhunderts hatte.6 Diese Disziplin, die anfangs noch allgemein als Kunst des Prosaschreibens begriffen wurde, wurde bald auf die Kunst des Verfassens von Briefen reduziert.7 Lehrbücher aus dieser Tradition erreichten seit dem 12. Jahrhundert auch England, wo sie zunächst als Richtlinien für das Abfassen lateinischer und vor allem französischer Briefe Verwendung fanden.8 Die Regelwerke der Ars dictaminis, die wir – einer Unterscheidung Martin CAMARGOS folgend9 – als Artes dictandi bezeichnen möchten, sind insofern besonders bedeutsam, als sie sprachgeschichtlich einen diskurstraditionellen Sonderfall darstellen. Mit ihnen erhalten wir einen expliziten Einblick in die Normativität einer Textsorte, der uns in anderen Fällen zumindest für diese Epoche verwehrt bleibt. Die Regeln, nach denen Briefe abgefasst werden sollen, werden hier gewissermaßen meta-diskurstraditionell dargestellt und mit zahlreichen Beispielformulierungen und vollständigen Musterbriefen angereichert. Mit Blick auf die englische Sprache wird diese außergewöhnliche Konstellation noch dadurch aufgewertet, dass die lateinisch- bzw. französischsprachigen Regel-
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Sprachtheorie und Sprachgeschichte, in: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), S. 15-43; DIES., Schriftlichkeit und Sprache, in: H. GÜNTHER / O. LUDWIG (Hgg.), Schrift und Schriftlichkeit. Writing and Its Use (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 10/1), Berlin/New York 1994, S. 587-604. Zum Konzept der Diskurstradition P. KOCH, Diskurstraditionen: zu ihrem sprachtheoretischen Status und ihrer Dynamik, in: B. FRANK / T. HAYE / D. TOPHINKE (Hgg.), Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit, Tübingen 1997, S. 43-79; W. OESTERREICHER, Zur Fundierung von Diskurstraditionen, in: FRANK / HAYE / TOPHINKE, Gattungen (s.o.), S. 19-41. Vgl. H. M. SCHALLER, Ars dictaminis, Ars dictandi, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, München 2002, Sp. 1034-1039, hier Sp. 1035. Ebd., Sp. 1034. Zu den Anfängen der Ars dictaminis in England vgl. auch Abschn. 4. M. CAMARGO, Ars dictaminis, ars dictandi (Typologie des sources du Moyen Âge occidental 60), Turnhout 1991, S. 20.
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werke im 15. Jahrhundert auch als Richtlinien zum Verfassen von Briefen in englischer Sprache benutzt werden, was eine sprachliche Transferleistung erheblichen Ausmaßes einschließt, die wir in unserem Beitrag beleuchten wollen.
2. Die Diskurstradition ‚Brief ’ in England In angelsächsischer Zeit verfügte das Englische mit der Varietät des Westsächsischen über eine für damalige Verhältnisse ausgesprochen weit standardisierte Schriftsprache.10 Mit Ausnahme z.B. des Sendschreibens Alfreds an den Bischof Werferth von Worcester, in dem der König die Übersetzung der Cura Pastoralis Gregors des Großen ins Englische rechtfertigte, wurden Briefe nicht in der Volkssprache abgefasst. Dafür diente lediglich das Latein.11 Nach der normannischen Eroberung 1066 trat neben dem Lateinischen vom 13. Jahrhundert an das Französische als Schriftsprache in Erscheinung und wurde zunehmend auch in Briefen verwendet, während das Englische nahezu gänzlich aus der Schriftlichkeit verschwunden war. Erst im späten 14. bzw. 15. Jahrhundert konnte es sich in Recht und Verwaltung langsam wieder etablieren. Seit dem 15. Jahrhundert wurden dann auch Briefe in größerem Umfang auf Englisch verfasst.12 König Heinrich V. wird hierbei häufig eine wichtige Rolle zugeschrieben, da er 1417 begann, seine vom Kriegsschauplatz Frankreich nach England versandten Briefe nicht länger in französischer, sondern in englischer Sprache abzufassen.13 Dabei diente freilich das Französische mit seiner mächtigen Schrifttradition als Orientierungshilfe. Ob die Vorbildwirkung der königlichen Sendschreiben allein dafür ausgereicht hat, dass auch außerhalb des Hofes Briefe auf Englisch verfasst wurden, mag dahingestellt bleiben, auf jeden Fall wuchs die Zahl englischsprachiger Dokumente in 10
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U. SCHAEFER, Textualizing the Vernacular in Late Medieval England: Suggestions for Some Heuristic Reconsiderations, in: A. J. JOHNSTON / F. VON MENGDEN / S. THIM (Hgg.), Language and Text. Current Perspectives on English and Germanic Historical Linguistics and Philology, Heidelberg 2006, S. 269-290, hier S. 269. R. H. ROBBINS, Brief, Briefliteratur, Briefsammlungen, IV.: Englische Sprache und Literatur, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2, München 2002, Sp. 670-671, hier Sp. 670; M. GARRISON, Letter Collections, in: M. LAPIDGE (Hg.), The Blackwell Encyclopaedia of Anglo-Saxon England, Oxford 1999, S. 283f., hier S. 283: „[…] extant letters indicate that correspondence in Anglo-Saxon England was almost always conducted in Latin.“ ROBBINS, Brief (wie Anm. 11), Sp. 670-671. M. RICHARDSON, Henry V, the English Chancery, and Chancery English, in: Speculum 55 (1980), S. 726-750; J. H. FISHER, Caxton and Chancery English, in: DERS., The Emergence of Standard English, Lexington 1996, S. 121-143, hier S. 122 [zuerst 1984]; DERS., A Language Policy for Lancastrian English, in: DERS., Emergence (s.o.), S. 16-35, hier S. 22 [zuerst 1992]; vgl. dazu aber auch U. SCHAEFER, Emergente Macht. Die spätmittelalterliche Re-Institutionalisierung der Volkssprache in der Prosa, in: G. MELVILLE (Hg.), Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 335-354, hier S. 343f; DIES., The Beginnings of Standardization: The Communicative Space in Fourteenth-Century England, in: DIES. (Hg.), The Beginnings of Standardization. Language and Culture in Fourteenth-Century England (Studies in English Medieval Language and Literature 15), Frankfurt a.M./u.a. 2006, S. 3-24, hier S. 10.
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der Folgezeit rapide an, was unter anderem durch mehrere erhaltene Briefsammlungen englischer Familien bezeugt wird. Zu ihnen gehören die „Stonor Papers“, die „Paston Letters“, die „Plumpton“ und die „Cely Papers“. Mit der Textsorte ,Brief’ wurde dem Englischen ein weiterer schriftlicher Diskursraum erschlossen. Dies ging im Einzelnen allerdings recht mühsam vor sich, da dem Englischen eine schriftliche Prosatradition, an der man sich hätte orientieren können, noch fehlte.14 Die englische Sprache war darüber hinaus auch noch weit davon entfernt, grammatisch, lexikalisch oder gar orthographisch standardisiert zu sein. Grammatiken oder Handreichungen, die auf einen bon usage hätten verweisen können, existierten noch nicht. Ganz auf sich gestellt war der Briefschreiber allerdings nicht, denn in seinem speziellen Fall konnten Lehrwerke und Modellbriefe als Vorlagen herangezogen werden. Allerdings lieferten ihm diese keine englischsprachigen Beispiele, denn die lateinischen und anglonormannischen Modellbriefsammlungen und Traktate zur Briefschreibekunst boten dem hilfesuchenden Verfasser naturgemäß nur Material in Französisch und Latein. Dennoch begann man im späten 14. Jahrhundert, Briefe in englischer Sprache zu schreiben. Die fremdsprachlichen Vorgaben zu adaptieren und zu übersetzen war offenbar weniger problematisch geworden, als ganze Briefe in Latein oder Französisch abzufassen.
3. Die Ars dictaminis als normierende Kraft und normierte Praxis In diesem Beitrag wollen wir nun der Frage nachgehen, inwieweit die expliziten Normen der Ars dictaminis in englischsprachigen Briefen tatsächlich erfüllt werden, inwiefern man hier also von Regelbefolgung sprechen kann. Dieses Erkenntnisinteresse bzw. diese Art der konzeptionellen Annäherung an ein sprachwissenschaftliches Thema ist aus der interdisziplinären Zusammenarbeit innerhalb des Sonderforschungsbereichs 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ hervorgegangen. Unser anglistisch-mediävistisches Teilprojekt – geleitet von Ursula SCHAEFER – konnte im Zuge einer eingehenden Auseinandersetzung mit den Forschungen des philosophischen Teilprojekts von Gerhard SCHÖNRICH seine Analysekategorien um zahlreiche Perspektiven der theoretischen Philosophie erweitern. Die Zusammenhänge zwischen Regeln und ihrer Befolgungspraxis bilden einen Kern der Untersuchungen des philosophischen Teilprojekts.15 Eine Grundannahme ist hierbei, dass Regeln aus der Praxis heraus generiert werden. Nicht das Explizieren einer Regel ist für ihre Existenz entscheidend, sondern vielmehr ihre Befolgung in der Praxis: 14 15
SCHAEFER, Textualizing (wie Anm. 10), S. 269. Vgl. Teilprojekt L, G. SCHÖNRICH, Philosophische Theorie der Institutionen, in: Sonderforschungsbereich 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“, Finanzierungsantrag 2006 – 2007 – 2008, Dresden 2005, S. 495-536. G. SCHÖNRICH, Institutionalisierung des Regelfolgens – Der Ausgang aus dem semiotischen Naturzustand, in: U. BALTZER / DERS. (Hgg.), Institutionen und Regelfolgen, Paderborn 2002, S. 101-118; DERS., Handeln als Zeichenprozess und die Praxis des Regelfolgens, in: Sozialpsychiatrische Informationen 33 (2002), S. 28-34.
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Nicht eine praxis-externe Regel produziert die Handlungspraxis, sondern unsere Handlungspraxis produziert die Regel. Dieses Konzept einer rückbezüglichen Reproduktivität der Regelbefolgungspraxis hat jedoch eine entscheidende Schwäche: es verdeckt die Instabilität der Praxis. Würden die Mitglieder einer Regelbefolgungsgemeinschaft plötzlich ihr Verhalten ändern, so wäre auch die Regel eine andere geworden. Die Geltung der Regel verdankt sich der Aufrechterhaltung der Befolgungspraxis, aus der sie gewonnen wird.16
Vor diesem Hintergrund möchten wir der Frage nachgehen, inwieweit explizite Regeln, wie sie in den Briefstellerlehren formuliert sind, und individuelle Briefpraxis, wie sie in einer englischen Familie im 15. Jahrhundert zu finden ist, konform gehen. Denn die Ars dictaminis kann ihre normierende Kraft nur dann entfalten, wenn sie in der Lage ist, eine normierte Praxis zu generieren. Wir untersuchen also, ob der normative Anspruch der explizit formulierten Vorgaben tatsächlich durch eine entsprechende Befolgungspraxis legitimiert wurde. Die Vorschriften der Lehrwerke stellten neben inhaltlichen Gliederungsrichtlinien, die den Briefaufbau vorgaben, vor allem Formulierungsvorschläge für verschiedenste Briefbestandteile zur Verfügung. Da diese Wendungen nicht in englischer Sprache vorlagen, mussten sie erst übersetzt oder entlehnt werden, was man als eine Art sekundärer Befolgungspraxis auffassen könnte, auf die die Regelwerke nicht in dieser Form abzielten. Die Normen der Ars dictaminis hätten durch ihre Anwendung im Englischen folglich sogar eine neuerliche Legitimation erfahren, die ihren Geltungsanspruch zusätzlich untermauern würde. Bevor wir dies eingehend an Beispielen verdeutlichen, möchten wir kurz auf die Entwicklung der Ars dictaminis in Europa und die Charakteristika der Briefstellerlehren eingehen, da diese Kontextualisierung für ein Verständnis der Situation in England unerlässlich ist.
4. Entstehung und Ausbreitung der Ars dictaminis in Europa Das vermehrte Schriftaufkommen in Recht, Verwaltung und Handel in den oberitalienischen Stadtkommunen des späten Mittelalters führte zu einem hohen Bedarf an Unterweisungsinstrumenten, die unmittelbar auf diese Kommunikationsbedürfnisse ausgerichtet waren.17 Um diesen Normierungsbedarf zu decken, trafen die Verfasser der frühen Briefstellerlehren aus bereits vorhandenen rhetorischen, juristischen und grammatischen Lehrbüchern eine Auslese wesentlicher Regeln für das Abfassen von Briefen.18 Die für die Ars dictaminis charakteristische Unterteilung 16 17 18
Ebd., S. 30. Vgl. P. KOCH, Urkunde, Brief und Öffentliche Rede. Eine diskurstraditionelle Filiation im ‚Medienwechsel’, in: Das Mittelalter 3 (1998), S. 13-44, hier S. 32. W. D. PATT, The Early ‚Ars dictaminis’ as a Response to a Changing Society, in: Viator 9 (1978), S. 133-155, hier S. 149. Zur Vorgeschichte der Ars dictaminis s. auch M. GRIFFITH, Aelfric’s Preface to Genesis: Genre, Rhetoric and the Origins of the Ars Dictaminis, in: Anglo-Saxon England 29 (2000), S. 215-234, hier S. 228; CAMARGO, Ars dictaminis, ars dictandi (wie Anm. 9), S. 29-41; SCHALLER, Ars dictaminis (wie Anm. 6), Sp. 1035.
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des Briefes in die fünf Teile salutatio, captatio benevolentiae bzw. exordium, narratio, petitio und conclusio tritt erstmals in den anonymen Rationes dictandi aus dem Jahre 1135 auf.19 In Bologna etablierte sich zu Beginn des 13. Jahrhunderts innerhalb der Artistenfakultät die erste bedeutende Schule der Ars dictaminis, an der zahlreiche namhafte dictatores wirkten und lehrten, so auch Guido Faba, der als eigentlicher Begründer der Ars dictaminis gelten kann. Er verfasste erstmals Traktate in italienischer Volkssprache und entwarf nach lateinischen Vorlagen italienische Musterbriefe für den geschäftlichen und privaten Verkehr.20 In England war die Ars dictaminis in der Zeit, in der sie auf dem Kontinent florierte, noch nahezu bedeutungslos. Zwar verfasste der Franzose Peter von Blois, der im Dienst des Erzbischofs von Canterbury stand, um 1185 die erste lateinische Ars dictandi auf englischem Boden, jedoch begründete er keine eigene insulare Tradition.21 Sein Zeitgenosse Geoffrey de Vinsauf, vermutlich ein Anglonormanne, wirkte gegen Ende des 12. Jahrhunderts in Bologna, wo er seine „Summa de arte dictandi“ verfasste, die auf dem Kontinent sehr populär war, England aber wohl nicht erreichte.22 Erst im 14. und 15. Jahrhundert kam es auf der Insel zu einer bescheidenen universitären Blüte der Ars dictaminis, deren Zentrum Oxford bildete und deren bedeutendste Vertreter Thomas Merke, John of Briggis, Thomas Sampson, Simon of Oxford und William Kingsmill waren. In England wurde die Ars dictaminis zum einen – unter Verwendung von Artes dictandi französischer und italienischer Provenienz – innerhalb der Artistenfakultät gelehrt, wobei der Fokus deutlich auf der theoretischen Unterweisung lag. Zum anderen boten praktischer orientierte dictatores wie Thomas Sampson im weiteren Umfeld der Universität Kurse an, die stärker auf Handel und Verwaltung ausgerichtet waren und neben lateinischen auch anglonormannische Schreiben behandelten.23 Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts verlor die Lehre der Ars dictaminis in Oxford an Bedeutung.24 Dies lag wohl vor allem daran, dass der königlichen Kanzlei in London und den Inns of Court – Rechtsschulen, die zugleich Herberge für Lehrer und Studenten waren – mittlerweile die größere praktische Bedeutung als Ausbildungsstätten für Rechtsgelehrte und Verwaltungsangestellte zukam.25 Neben einigen anglonormannischen Traktaten waren die meisten in England kursierenden Artes dictandi auf Latein verfasst. Briefsteller in englischer Sprache tauchten erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf. Hier sind vor allem William Fullwoods „The Enimie of Idlenesse“ (1568), Abraham Flemings „A Panoplie of Epistles“ (1576) und Angel Days „The English Secretorie“ (1586) zu 19 20 21 22 23 24 25
GRIFFITH, Aelfric’s Preface (wie Anm. 18), S. 227. Vgl. SCHALLER, Ars dictaminis (wie Anm. 6), Sp. 1035f. M. CAMARGO, Medieval Rhetorics of Prose Composition. Five English Artes Dictandi and Their Tradition, Binghamton/NY 1995, S. 3. Ebd., S. 5. Ebd., S. 24-25. Ebd., S. 19. Ebd., S. 34.
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nennen.26 Allerdings kamen hierin weniger die Einflüsse der Ars dictaminis als vielmehr die der Humanisten zum Tragen, deren Briefschreibkunst wieder wesentlich stärker an den antiken Autoren orientiert war.27 Vor dem Hintergrund der späten Neuverschriftlichung des Englischen ist es freilich nicht verwunderlich, dass metasprachliche Regelwerke in englischer Sprache nicht früher in Erscheinung treten.
5. Der Aufbau der Artes dictandi In den Regelwerken der Ars dictaminis werden die fünf Teile, salutatio, captatio benevolentiae, narratio, petitio und conclusio, – ihrer Abfolge im Brief entsprechend – nacheinander theoretisch abgehandelt, wobei freilich auch zahlreiche Beispielformulierungen angeführt werden. In den meisten Artes dictandi folgt auf diesen theoretischen Teil eine Sammlung von Musterbriefen, bei denen es sich entweder um vom Verfasser entworfene Modelle oder um authentische Schreiben handelt. Diese Briefsammlungen sind oft systematisch nach sozialen Rängen der Absender und Empfänger oder nach Themen arrangiert. Vereinzelt stößt man allerdings auch auf Artes dictandi, die allein aus einer theoretischen Abhandlung bzw. allein aus einer Sammlung von Musterbriefen bestehen.28 Bei der individuellen Behandlung der Briefbestandteile kam der salutatio die größte Aufmerksamkeit zu, was zum einen daran lag, dass sich hier das soziale Verhältnis zwischen Absender und Empfänger manifestierte – ein delikater Bereich, in dem unangemessene Formulierungen den Empfänger unmittelbar verstimmen könnten. Zum anderen war es natürlich erheblich einfacher, sprachliche Formeln für einen formal wie inhaltlich so eingeschränkten Briefbestandteil anzugeben als beispielsweise für eine ausführliche narratio, die einen individuellen Sachverhalt darstellen sollte. Für die salutatio wurden mitunter sämtliche denkbaren Personenkonstellationen in Modellbeispielen berücksichtigt.29 Wie der Name schon sagt, hatte die captatio benevolentiae die Funktion, sich den Empfänger geneigt zu machen und ihn auf die folgende Nachricht oder auch Bitte einzustimmen. Hierzu bediente sich der Verfasser häufig gängiger Sprichwörter und Sentenzen, von denen die Artes dictandi zumeist eine Auswahl anboten.30 Den verbleibenden drei Bestandteilen kam, wie schon angedeutet, in den Regelwerken weit weniger Aufmerksamkeit zu. Narratio, petitio und conclusio wurden in den meisten Fällen gemeinsam und eher knapp abgehandelt.31 Die wesentlichen Charakteristika der Diskurstradition ,Brief’ lassen sich in den zahlreichen Eingangsfloskeln wiederfinden, während die Teile, die der eigentlichen Informationsvermittlung 26 27 28 29 30 31
CAMARGO, The Middle English Verse Love Epistle (Studium zur Englischen Philologie, NF 28), Tübingen 1991, S. 161. Ebd., Medieval Rhetorics (wie Anm. 21), S. 32. CAMARGO, Ars dictaminis, ars dictandi (wie Anm. 9), S. 27. Ebd., S. 22. Ebd., S. 22-23. Ebd., S. 23.
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dienen, naturgemäß weit schwieriger zu standardisieren sind. Hier kommt es eher auf allgemeine rhetorische Grundsätze zugunsten einer nachvollziehbaren Darstellung als auf epistolarische Formulierungsvorgaben an, was die Unterweisung erheblich erschwert. Der Briefschreiber bleibt in diesen Fällen folglich auf sich allein gestellt und muss sich auf seinen common sense verlassen. Die Artes dictandi begnügten sich oft damit, zu betonen, ein Brief solle nach Möglichkeit kurz gehalten werden und nur ein Thema behandeln.32 Neben dem Hinweis auf diese beiden wichtigsten virtutes, die in kaum einer Ars dictandi fehlten, wurden bisweilen auch zu vermeidende Unarten, vitia, aufgelistet wie z.B. Länge, Unklarheit, exzessive Alliteration und mehrfache Wortwiederholungen. Gelegentlich enthielten die Artes dictandi auch umfangreichere Listen rhetorischer Mittel, sogenannter colores rhetorici, mit detaillierten Definitionen und Beispielen.33
6. Die Sammlung der „Paston Letters“ Nach diesem kurzen Überblick über Geschichte und Charakteristika der Ars dictaminis soll im Folgenden exemplarisch untersucht werden, inwieweit diese diskurstraditionellen Regeln im Englischen tatsächlich befolgt worden sind. Dazu haben wir Teile der Korrespondenz der Pastons, einer Familie des Landadels aus Norfolk, ausgewertet. Die Sammlung der „Paston Letters“ zählt zu den bekanntesten erhaltenen mittelenglischen Familienkorrespondenzen. Sie liegt in einer kürzlich überarbeiteten kritischen Edition vor und ist darüber hinaus auch elektronisch zugänglich, so dass sie sich besonders gut wissenschaftlich auswerten lässt.34 Die Sammlung enthält neben Briefen, die häufig als Entwürfe oder Kopien erhalten sind, auch juristische Dokumente wie Testamente und Petitionen, die offenbar wegen ihres rechtlich oder verwaltungstechnisch relevanten Inhalts bewusst aufbewahrt wurden. Sofern sich die Korrespondenz innerhalb der Familie abspielte, konnten auch Briefe im Original archiviert werden. Die Sammlung umfasst insgesamt über 1000 Schreiben aus den Jahren 1425 bis 1510. Der letzte Nachfahre der Pastons, Robert Paston, der 1732 verarmt starb, hatte wohl selbst damit begonnen, Familiendokumente zu sammeln und zu erschließen. Der Antiquar John Fenn entdeckte gegen Ende des 18. Jahrhunderts die kulturhistorische Bedeutung der Briefe und edierte sie 1789 in zwei Bänden. Die Briefe gerieten jedoch wieder in Vergessenheit, bis sie 1933 in das British Museum gelangten, wo bereits vereinzelte Briefe der Pastons verwahrt wurden.35 Von 1958 bis 1976 edierte der Philolo32 33 34
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G. CONSTABLE, Letters and Letter-Collections (Typologie des sources du Moyen Âge Occidental 17), Turnhout 1976, S. 19-20. CAMARGO, Ars dictaminis, ars dictandi (wie Anm. 9), S. 24-25. N. DAVIS (Hg.), Paston Letters and Papers of the Fifteenth Century, Part I & II (Early English Text Society, Supplementary Series 20, 21), Oxford ²2004; online zugänglich unter http://etext.lib.virginia.edu/etcbin/browse-mixed-new?id=Pas Lett&images=images/modeng& data=/lv1/Archive/mideng-parsed&tag=public; Stand: 30.08.2006. Zur Tradierung und Publikationsgeschichte der „Paston Letters“ DAVIS, Paston Letters (wie Anm. 34), S. XXIV-XXXIII.
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ge Norman DAVIS das Familienarchiv der Pastons in einer zweibändigen kritischen Ausgabe fast vollständig. Inzwischen ist eine überarbeitete Neuauflage beider Bände bei der „Early English Text Society“ erschienen.36 Die Pastons benannten sich nach dem Ort Paston, der ungefähr 20 Meilen nordöstlich von Norwich nahe der englischen Ostküste liegt. Das erste Familienmitglied, dem aufgrund seines beruflichen Erfolges der Aufstieg in die ‚Gentry’ gelang, war der Richter William Paston.37 Seine frühesten Briefe, die überwiegend geschäftlicher Natur sind, stammen aus den zwanziger Jahren des 15. Jahrhunderts und bilden den Auftakt der hier untersuchten Sammlung. Seine Frau Agnes und seine fünf Kinder waren ebenfalls eifrige Korrespondenten. Die Briefe der männlichen Pastons sind zumeist Autographe, während die der Frauen nahezu ausschließlich von Sekretären verfasst wurden.38 Da die männlichen Familienmitglieder – die meisten waren Juristen – fast alle eine universitäre Ausbildung genossen hatten, waren sie innerhalb ihres Studiums auch in der Rhetorik unterrichtet worden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie dabei auch mit den Lehren der Ars dictaminis in Berührung kamen, zumal einige von ihnen die Inns of Court in London besucht hatten, an denen die Briefstellerkunst nachweislich praktisch gelehrt wurde.39 Gegenstand der Briefe der Pastons war meist der Erhalt und die Verwaltung des reichen Landbesitzes, jedoch behandeln die meisten Schreiben auch private Angelegenheiten. Da sich die männlichen Familienmitglieder oft beruflich in London aufhielten, korrespondierten sie rege mit ihren Ehefrauen und erteilten ihnen Anweisungen geschäftlicher Natur, regelten auf diesem Wege aber zugleich familiäre Angelegenheiten wie Heiratsverhandlungen und Ähnliches. Somit sind die „Paston Letters“ nicht nur von sprachlichem und rechtshistorischem, sondern auch von allgemeinem sozial- und kulturhistorischen Interesse.
7. Die Befolgungspraxis der Regeln der Ars dictaminis in den „Paston Letters“ Für unsere Untersuchungen haben wir, um das Material einzugrenzen, aus dem gesamten Corpus die 345 Briefe herausgegriffen, die von den Pastons selbst verschickt worden sind. Im Mittelpunkt der Analyse steht folglich – mit wenigen Ausnahmen – die innerfamiliäre Korrespondenz. Die Schreiben stammen aus den Jahren 1425 bis 1495. Um die Befolgungspraxis in diesen Briefen mit der normati36
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Early English Text Society, Supplementary Series 20, 21, 2004; darüber hinaus wird die Sammlung durch einen dritten Teil komplettiert, der von Richard BEADLE und Colin RICHMOND ediert worden ist (Early English Text Society, Supplementary Series 22, 2006). F. GIES / J. GIES, A Medieval Family. The Pastons of Fifteenth-Century England, New York 1998, S. 24-29. In der Edition ist für jedes Dokument der Schreiber vermerkt. M. RICHARDSON, The Dictamen and Its Influence on Fifteenth-Century English Prose, in: Rhetorica 2 (1984), S. 207-226, hier S. 220.
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ven Setzung der Ars dictaminis zu vergleichen,40 haben wir exemplarisch zwei Regelwerke herangezogen: eine anglonormannische Ars dictandi aus der Schule Thomas Sampsons, die in England in der Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden ist, sowie die anonyme lateinische „Regina sedens rhetorica“, die in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Oxford entstand.41 Beide Lehrwerke enthalten sowohl explizit formulierte Regeln als auch Formulierungsvorschläge und Musterbriefe. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die Briefanfänge, denen, wie schon erwähnt, in den Briefstellerlehren die größte Bedeutung beigemessen wird. Der hohe Grad an Standardisierbarkeit mithilfe formelhafter Wendungen macht gerade diese Passagen zu besonders geeigneten Untersuchungsobjekten. Neben der Betrachtung der salutationes fragt unsere Untersuchung ganz besonders danach, welche Wendungen auf die jeweiligen Anredeformeln folgen. Der erste Brief der Sammlung von William Paston I. aus dem Jahr 1425 an den Steinmetz John Staynford enthält allerdings weder eine salutatio noch eine captatio benevolentiae, sondern beginnt unmittelbar mit der Bestellung von Baumaterial: To my weel beloued John Staynford of Furnyvales Inne. þe instruccion to comune of to John Robynson of Carleton bysyde Snayth. To enquerre and wyte whether þe stoon may be sawed or nought, […].42
Die übrigen Schreiben William Pastons, die meist an Rechtsanwälte und Geistliche gerichtet sind, beginnen hingegen mit den üblichen, oft sehr elaborierten salutationes, gefolgt von einer captatio benevolentiae.43 In jedem Fall stimmen hier Norm und Befolgungspraxis überein, denn Thomas Sampson formuliert die explizite Regel, dass die salutatio in Briefen an sozial niedriger gestellte Personen durchaus fehlen dürfe bzw. ein einfaches Saluz völlig ausreiche.44 Im hier untersuchten
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Zur Befolgung von Regeln der Ars dictaminis in den „Paston Letters“ vgl. U. SCHAEFER, The Late Middle English Paston Letters. A Grammatical Case in Point for Reconsidering Philological Methodologies, in: J. KLEIN / D. VANDERBEKE (Hgg.), Anglistentag 1995 Greifswald. Proceedings, Tübingen 1996, S. 313-323. Die anglo-normannische Ars dictandi ist in fünf Manuskripten überliefert. Der theoretische Teil des laut Uerkvitz „besten“ (S. 7) dieser Texte ist – mit einem umfangreichen kritischen Apparat versehen – ediert in: W. Uerkvitz (Hg.), Tractate zur Unterweisung in der anglo-normannischen Briefschreibekunst nebst Mitteilungen aus den zugehörigen Musterbriefen, Diss., Greifswald 1898. Die lateinische „Regina sedens rhetorica“ ist ediert in: CAMARGO, Medieval Rhetorics (wie Anm. 21), S. 176-221. Der leichteren Lesbarkeit wegen verzichten wir darauf, die im Layout repräsentierten editorischen Eingriffe wie Kursivsetzungen aufgelöster Abkürzungen wiederzugeben. Zum besseren Verständnis übertragen wir längere Zitate ins Neuenglische: „To my well beloved John Staynford of Furnivals Inn. The instruction to commune of to [= which should be shared with] John Robinson of Carlton beside Snaith. To enquire and wit whether the stone may be sawed or not.“ DAVIS, Paston Letters (wie Anm. 34), S. 1. Z.B. ebd., S. 3, S. 6, S. 13. UERKVITZ, Tractate (wie Anm. 41), S. 30: „si nulle des seignours mande a son suget, come a son baillif, prouost, vadlet ou altre tiel, en la Salutation de telles l[ett]res ne serra pas mys le noun de luy mandant ne de luy resceyuant, mes en tiel Salutation il suffit dire ,Saluz’ sans pluis.“
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Corpus besteht die Anrede in Schreiben an Angestellte, Pächter und Handwerker meist allein aus dem Namen der adressierten Person. Williams Ehefrau Agnes Paston, die nach dessen Tod zusammen mit dem ältesten Sohn John I. die Familiengeschäfte übernahm, grüßt ihre Söhne stets mit einem schlichten I grete yow well, meist gefolgt von einer Segensformel wie I send yow Goddys blyssyng and myn („I send you God’s blessing and mine“). Die captatio benevolentiae, die sie in einem Brief an ihren Ehemann durchaus verwendet, scheint demnach in Briefen von Eltern an ihre Kinder unüblich gewesen zu sein, während die Segensformel offenbar ein integraler Bestandteil war. Ein Blick in die „Regina sedens rhetorica“ bestätigt dies: Eine Modellantwort einer Mutter an ihren Sohn enthält zwar keine captatio benevolentiae, jedoch eine ausführliche Segensformel.45 Die praktische Befolgung dieser Regel lässt sich auch in der nachfolgenden Generation beobachten: In den 32 Schreiben Margaret Pastons an ihre beiden ältesten Söhne ist nie eine captatio benevolentiae enthalten, jedoch findet sich in 80 % der Briefe die Segensformel, so z.B. an John Paston II. am 29. Oktober 1466: I grytte you well, and send you God ys blessyng and myn.46 Umgekehrt enthalten die meisten Briefe von Kindern an ihre Eltern neben sehr elaborierten salutationes fast immer eine captatio benevolentiae sowie die explizite Bitte um den elterlichen Segen. Darauf erkundigen sich die Kinder häufig formelhaft nach dem Wohlergehen der Eltern, wie z.B. John Paston III. an John Paston I., 10. November 1461: Most reuerent and worchepfull fadyr, I recomande me to yow lowly, preying yow of yowyr blyssyng and hertly desyiryng to her of yowyr welfare and prosperyté, the whyche I prey God preserue and kepe to hys plesans and to yowyr hertys desyir.47
Im Folgenden möchten wir diesen wesentlichen Briefbestandteil als sanitas-Formel bezeichnen. Die Vorgabe der sanitas-Formel und die, dass Kinder in Schreiben an die Eltern deren Segen erbitten müssen, finden sich sowohl in der Ars dictandi Thomas Sampsons als auch in der „Regina sedens rhetorica“. Bei Thomas Sampson heißt es als Formulierungsbeispiel für die Segensformel: lour benisoun mult humblement empriant („Euren Segen höchst demütig erbittend“).48 Im lateinischen Traktat findet sich in einem Beispielbrief eines Sohnes an seine Mutter die Wendung vestramque dulcissimam benediccionem […] humiliter implorando („und Euren freundlichsten Segen demütig erbittend“).49 Sowohl das lateinische als auch das französische Beispiel geben hier das Adverb humiliter bzw. humblement vor, an das sich im französischen 45 46 47
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CAMARGO, Medieval Rhetorics (wie Anm. 21), S. 200. „I greet you well and send you God’s blessing and mine.“ DAVIS, Paston Letters (wie Anm. 34), S. 333. „Most reverend and worshipful father, I recommend me to you lowly, praying you of your blessing and heartily desiring to hear of your welfare and prosperity, the which I pray God preserve and keep to his pleasance and to your heart’s desire.“ Ebd., S. 521. UERKVITZ, Tractate (wie Anm. 41), S. 22. CAMARGO, Medieval Rhetorics (wie Anm. 21), S. 200.
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Beispiel ein Partizip anschließt. Zwar enthält die lateinische Entsprechung mit implorando ein ablativisches Gerundium, dieses ersetzt im mittelalterlichen Latein jedoch häufig das Partizip Präsens. Interessant ist nun, dass diese Segensformel in den „Paston Letters“ als direkte Lehnkonstruktion in der Phrase lowly beseeching you of your blessing auftaucht.50 Hier wird nicht nur der Inhalt genau wiedergegeben, sondern auch die sprachliche Form imitiert. Sowohl mit dem Adverb – lowly – als auch mit dem Partizip – beseeching – wird die Struktur der fremdsprachlichen Formel exakt nachgebaut. Ob der Verfasser eines dieser beiden Regelwerke kannte und deshalb ganz bewusst diese Formulierungsvariante wählte, lässt sich natürlich nicht feststellen. Es ist allerdings auch nicht entscheidend, da die Tatsache, dass sich englischer Wortlaut in der Praxis und romanische Vorgabe in der Theorie so detailgetreu gleichen, bereits für sich spricht. Die fremdsprachliche Wendung ist als Formel ins Englische übernommen worden und tritt hier nun verbreitet auf. Über die Formel wird – gewissermaßen sekundär – auch eine syntaktische Konstruktion importiert. Diese adverbiale Partizipialkonstruktion ist typisch für gehobene Register der Schriftlichkeit und kommt bis heute in mündlicher Alltagskommunikation kaum vor, da sie kognitiv recht anspruchsvoll ist.51 Es liegt nahe, zu vermuten, dass diese syntaktische Variante keine autochthon englische Konstruktion ist, da sie zuerst überwiegend in Übersetzungsliteratur bzw. in vom Lateinischen oder Französischen beeinflussten Diskurstraditionen – wie dem Brief – auftaucht.52 Inwiefern es sich hierbei um eine Art calque, genauer um eine ‚Konstruktionsentlehnung’, handelt, kann jedoch ohne umfassendere Untersuchungen auch anderer Textsorten noch nicht zweifelsfrei beantwortet werden. Auch auf lexikalischer Ebene lassen sich die Einflüsse der Ars dictaminis feststellen: Eine Entsprechung zu humiliter bzw. humblement findet sich in den „Paston Letters“ z.B. in einem Brief von John Paston III. aus dem Jahr 1471 in der adverbialen Umschreibung jn as humbyll wyse as I can I beseche yow of your blyssyng, […].53 Die direkte Entlehnung des romanischen Stammes macht die Regelbefolgung sehr deutlich, während in unserem zuvor angeführten Beispiel humiliter bzw. humblement mit dem aus dem Altnordischen entlehnten Adjektiv low + Adverbendung -ly wiedergegeben wurde. Der Demutsausdruck humiliter kommt in der captatio benevolentiae häufig in Kombination mit dem Verb recommendare vor. In der „Regina sedens rhetorica“ heißt es in dem Musterbrief eines Sohnes an die Mutter: vestre maternali reuerencie me humiliter
50 51 52 53
Beispielsweise in einem Brief von John Paston III. an Margaret Paston, Oktober 1467: „lowly besechyng yow of your blyssyng“; DAVIS, Paston Letters (wie Anm. 34), S. 536. Vgl. D. BIBER / u.a., Longman Grammar of Spoken and Written English, London (Longman) 1999, S. 826. Zum Phänomen der Partizipialkonstruktionen in den „Paston Letters“ SCHAEFER, Paston Letters (wie Anm. 40). John Paston III. an Margaret Paston, 30. April 1471: „in as humble wise [= way] as I can I beseech you of your blessing“; DAVIS, Paston Letters (wie Anm. 34), S. 565.
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recommendo („Eurer mütterlichen Verehrung empfehle ich mich demütig“).54 In den „Paston Letters“ findet man dies zum Beispiel in einem Brief von John Paston III. aus dem Jahr 1471 in folgender Form wieder: […] as humbylly as I can I recomand me on-to yow […].55 Das romanische Adjektiv humble wird hier offenbar nicht mehr als Fremdkörper empfunden, sondern vollständig in das Englische integriert, was sich daran zeigt, dass es mit der autochthonen Adverbmarkierung -ly gekennzeichnet wird. Die häufigste Formel der captatio benevolentiae in den „Paston Letters“ verzichtet allerdings auf einen zusätzlichen Demutsausdruck und lautet – ins Neuenglische transponiert – schlicht: „I recommend me unto you“. Die entscheidende Vokabel in den englischen captationes benevolentiae ist also „(to) recommend“, das in den lateinischen und französischen Musterbriefen als recommendare bzw. recomander vorgegeben ist. Das „Middle English Dictionary“ führt als Erstbeleg der Entlehnung dieses Verbs in dieser Bedeutung die „Christ Church Letters“ um 1430 an.56 Es findet sich jedoch bereits in den frühesten Briefen William Pastons aus dem Jahr 1425. Ob das Lateinische oder das Französische als Gebersprache fungierte, lässt sich nicht entscheiden. Beide Fundorte legen aber die Vermutung nahe, dass das Verb über die Diskurstradition ,Brief’ in die englische Sprache gelangte. Sie oktroyierte das Lehnwort über die adaptierte Formel sozusagen dem Englischen auf, woran sich deutlich zeigt, wie stark die Normierung durch die Ars dictaminis wirkte. Auf der Ebene der inhaltlichen Normierung lässt sich beobachten, dass die Vorgaben der Ars dictaminis mitunter mehr als bloße Topoi waren. Dies zeigt sich beispielsweise am Gebrauch der Segensformel, die sowohl Eltern als auch Kinder zuweilen sehr bewusst einsetzten. Theorie und Praxis belegen dies gleichermaßen. In der Ars dictandi von Thomas Sampson findet sich ein Hinweis für den Fall, dass das Verhältnis zwischen Eltern und Kind gestört ist. Unter diesen Umständen möge das Kind den Brief mit der Formel Saluz come vous auez deserui („Seid gegrüßt, wie Ihr es verdient habt“) beginnen.57 Die Bitte um Segen wird also ganz bewusst übergangen. In den „Paston Letters“ findet sich aber andererseits ein Hinweis darauf, dass das Auslassen der Bitte um Segenserteilung durchaus das Missfallen der Eltern hervorrief: John Paston II. hatte seine Mutter in einem Brief vom 7. August 1477 in forderndem Ton gebeten, für seine Schulden aufzukommen:
54 55 56 57
CAMARGO, Medieval Rhetorics (wie Anm. 21), S. 200. John Paston III. an Margaret Paston, 5. Juli 1471: „as humbly as I can I recommend me unto you“; DAVIS, Paston Letters (wie Anm. 34), S. 566. H. KURATH / R. LEWIS (Hgg.), Middle English Dictionary, Bd. 8: Q-R, Ann Arbor 1984-1986, Eintrag recommenden, 1. (d), S. 231. UERKVITZ, Tractate (wie Anm. 41), S. 22.
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[…] iff it please yow at yowre ease here-afftre to performe yowre seyde gyffte and promysse, so þat I maye have it wyth-in a yere ore ij, ore yitt iij, […] I beseche yow to sende me an answere in hast.58
Dies wird in Margaret Pastons – wahrhaft postwendender – Antwort vom 11. August verärgert abgelehnt mit dem Zusatz, ihr Sohn scheine auf ihren Segen offenbar keinen Wert zu legen, denn sonst hätte er ihn in seinem Schreiben explizit erbeten: I thynke e sette butte lytyl be myn blyssyng, and yf ye dede ye wulde a desyyrdyt in yowyr wrytyng to me.59 Tatsächlich hatte Johns Brief absolut nicht den Vorgaben der Ars dictaminis entsprochen, denn er beginnt ohne salutatio und ohne captatio benevolentiae unvermittelt mit den Worten: Please it yow to weete […] („es möge Euch gefallen, zu erfahren“).60 Auffällig ist auch, dass in Margaret Pastons Antwort salutatio und Segensformel ausgelassen werden, was sicherlich implizit Ausdruck ihrer Verärgerung ist, denn ansonsten enthalten alle ihre Briefe an ihren Sohn John II. eine salutatio und 80 % die Segensformel. Regeln wurden somit bewusst befolgt und gegebenenfalls auch gebrochen, jedoch konnte diese variable Praxis – je nach Hierarchiegefälle – entsprechende Sanktionen nach sich ziehen. Häufig hängt der Elaboriertheitsgrad eines Briefanfangs deutlich vom Anliegen ab sowie von der Hierarchie, die zwischen den Korrespondenten besteht. Elizabeth Poynings, geborene Paston, bittet ihre Mutter Agnes im Januar 1459 demütigst darum, die noch ausstehende Mitgiftzahlung von einhundert Mark an ihren Ehemann Robert Poynings zu begleichen: Right worshipfull and my most entirely beloude moder, in the most louly maner I recommaund me vnto youre gode moderhode, besekeyng you dayly and nyghtly of your moderly blissing, euer-more desiryng to here of your welfare and prosperité, þe which I pray God to contynw and encresce to youre hertes desyre; and yf it lyked youre gode moderhode to here of me and how I do, at the makyng of thys lettre I was in gode hele of body, t[h]anked be Jesu.61
Nach einer äußerst elaborierten salutatio folgen sämtliche Bestandteile, mit denen ein Brief überhaupt beginnen kann: die captatio benevolentiae, gefolgt von der Bitte um mütterlichen Segen – die häufig übliche Spezifizierung, diesen Segen täglich zu erteilen, wird hier noch zugespitzt in dem Ausdruck besekeyng you dayly and nyghtly of your moderly blissing. Anschließend steht die eher seltene sanitas-Formel in ihrer noch selteneren Ausformung, dass sowohl nach der Gesundheit der Adressatin gefragt 58
59 60 61
„If it please[s] you at your ease hereafter to perform your said gift and promise, so that I will have it within a year or two, or yet three, […] I beseech you to send me an answer in haste.“ DAVIS, Paston Letters (wie Anm. 34), S. 505. Margaret Paston an John Paston II., 11. August 1477: „I think you set but little by [= care little about] my blessing, and if you did, you would have desired it in your writing to me“; ebd., S. 380. Ebd., S. 504. „Right worshipful and my most entirely beloved mother, in the most lowly manner I recommend me unto your good motherhood, beseeching you daily and nightly of your motherly blessing, evermore desiring to hear of your welfare and prosperity, the which I pray God to continue and increase to your heart’s desire; and if it liked your good motherhood to hear of me and how I do, at the making of this letter I was in good health of body, thanked be Jesus.“ Ebd., S. 206.
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wird als auch unterwürfig über das eigene Wohlergehen berichtet wird. Dies ist der längste Briefauftakt der gesamten Sammlung und erklärt sich vielleicht mit der besonders tragischen Situation der einzigen Tochter Agnes Pastons: jahrelang war die Familie darum bemüht gewesen, einen geeigneten Ehemann für Elizabeth zu finden, und in dieser Zeit hatte sie sehr unter dem Druck ihrer Mutter gestanden. Als sie nun mit dreißig Jahren schließlich verheiratet worden war, musste sie die Mutter regelrecht anflehen, die mit dem Ehemann vereinbarte Mitgift auch tatsächlich zu zahlen, um ihr endlich gefundenes Eheglück nicht zu gefährden. Ein weiterer sehr elaborierter Briefanfang findet sich in einem Schreiben Walter Pastons an seine Mutter Margaret aus dem Jahr 1479, in dem er seine Mutter um Geld bittet: Rytgh reverent and worchypfull moder, I recomavnd me on-to yowre good moderchypp, besechyng yow to geve me yowre dayly benedyiccyon, desyeryng hartyly to heere of yowre prosperyté, whych God preserve to hys plesure and to yowre hartys desyyre, […].62
Auch hier werden sämtliche Regeln der Briefschreibekunst befolgt: Auf eine sehr unterwürfige salutatio folgt eine captatio benevolentiae, dann steht die Bitte um mütterlichen Segen, und eine sanitas-Formel bildet den Abschluss dieses Briefauftaktes. Diese Abfolge entspricht exakt der Vorgabe des Musterbeispiels in der „Regina sedens rhetorica“.63 Auffällig ist dabei auch, dass Walter in der Segensformel statt des üblichen germanischen blessing das Wort benediction verwendet, das dem benedictio der lateinischen Vorlage(n) entspricht. Diese Vokabel kommt im untersuchten Corpus in keiner anderen Segensformel vor. Zur Zeit der Abfassung dieses Autographs war Walter Paston Student in Oxford, wo er sein Studium im Juni 1479 mit dem Grad eines baccalaureus abschloss.64 Es ist mehr als wahrscheinlich, dass er innerhalb seines Studiums mit den Vorgaben der Ars dictaminis vertraut gemacht wurde, so dass er sie in diesem Brief ganz gezielt anwenden kann, um sein Anliegen vorzubringen. Offenbar spielte die Hierarchie zwischen dem Absender und Adressaten eines Briefes auch unter Brüdern durchaus eine Rolle. John Paston II. spricht seinen jüngeren Bruder üblicherweise mit brother an, meist in der elaborierten Form Ryght wyrshypffull and well belovyd brother.65 Der jüngere Bruder hingegen verwendet in Schreiben an den älteren generell die respektvolle und wenig vertrauliche Anrede Sir, meist in der Wendung Ryght worchepfull syr.66 Eine Ausnahme bildet lediglich der erste überlieferte Brief des jüngeren an den älteren Bruder aus dem Jahr 1462, in 62
63 64 65 66
„Right reverend and worshipful mother, I recommend me unto your good motherhood, beseeching you to give me your daily benediction, desiring heartily to hear of your prosperity, which God preserve to his pleasure and to your heart’s desire.“; ebd., S. 644. CAMARGO, Medieval Rhetorics (wie Anm. 21), S. 200. Dies teilt er seinem Bruder in einem Brief vom 30. Juni 1479 mit; DAVIS, Paston Letters, (wie Anm. 34), S. 646-647; vgl. auch GIES / GIES, Medieval Family (wie Anm. 37), S. 311-313. Z.B. im Brief vom 25. November 1473, DAVIS, Paston Letters, (wie Anm. 34), S. 473. Z.B. im Brief vom 25. September 1469; ebd., S. 546.
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dem John II. mit Ryth worchepfull brodyr angesprochen wird.67 Im folgenden Jahr wurde der ältere Bruder dann zum Ritter geschlagen und war fortan als Sir anzusprechen.68 Insofern hält sich der jüngere Bruder auch innerhalb des brüderlichen Verhältnisses an die gesellschaftlichen Gepflogenheiten. Während die captatio benevolentiae ein wesentliches Element in den Briefen der Brüder ist, werden weder die sanitas- noch die Segensformel in Briefen unter Geschwistern verwendet. Vor allem die Segensformel scheint allein in Briefen zwischen Eltern und Kindern üblich zu sein. Auch bei Thomas Sampson sind Alter bzw. gesellschaftliche Stellung entscheidende Kriterien für die jeweilige salutatio unter Brüdern.69 Dass aber selbst ein großer Altersunterschied zwischen Brüdern gewissen Respektlosigkeiten des jüngeren gegenüber dem älteren nicht entgegenstand, zeigt ein Brief Clement Pastons an seinen 21 Jahre älteren Bruder John Paston I. vom 18. März 1466.70 Darin teilt Clement seinem älteren Bruder mit, dass er dessen Brief, den er an den Kanzler William Waynflete aushändigen sollte, nicht weitergegeben habe, da er ihn im Ton einer so hoch gestellten Person gegenüber nicht angemessen fand: Rythe worchypfwll brodere, I recomawnde me to ow; and as fore our letter to my lorde Chawncelere, I haue not delyueryd it, […]. Also me thowte our letter was not most plesauntly wrytyn to tak to swyche a lorde.71
Clement, der erst in Cambridge studiert und dann die Inns of Court besucht hatte, empfand diesen Verstoß seines Bruders gegen die üblichen Konventionen offensichtlich als so gravierend, dass er über dessen Willen hinweg entschied, den Brief nicht auszuhändigen. Dies ist auch ein weiterer Beleg dafür, welch wesentlicher Bestandteil die Beachtung der Hierarchie zwischen Schreiber und Empfänger in der spätmittelalterlichen Briefschreibekunst war. Die bewusste Befolgungspraxis zeigt auch der zuweilen beinahe spielerische Umgang der Pastons mit der sanitas-Formel. So heißt es in einem sehnsuchtsvollen Schreiben Margery Pastons an ihren in London weilenden Mann John Paston III. vom Februar 1477: And yf it please owe to here of my welefare, I am not in good heele of body ner of herte, nor schall be tyll I here from yowe […].72 Als John Paston I. 1465 im Zuge von Erbstreitigkeiten in London ins Gefängnis kam, schrieb ihm seine Frau Margaret einen Brief, der fast ausschließlich aus einer sehr ausgefeilten sanitas-Formel besteht: 67 68 69 70 71
72
John Paston III. an John Paston II., 11. Dezember 1462; ebd., S. 523. GIES, A Medieval Family (wie Anm. 37), S. 155. UERKVITZ, Tractate (wie Anm. 41), S. 23. DAVIS, Paston Letters (wie Anm. 34), S. 204-205. „Right worshipful brother, I recommend me to you; and as for your letter to my Lord Chancellor, I have not delivered it, […] I also thought your letter was not most pleasantly written to take to such a lord.“ Ebd., S. 205. „And if it please you to hear of my welfare, I am not in good health neither of body nor of heart, nor shall be till I hear from you.“ Ebd., S. 662.
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Right worchepful hosbond, I recommand me to yow and pray you hertely at þe reverence of God that ye be of good comfort and trost veryly be þe grase of God that ye shall ouercome your enemys and your trobelows maters ryght welle, yf ye wolle be of good comfort and not take your maters to heuely, þat ye apeyr not your-self, and thynk veryly that ye be strong j-nowe for all your enemys, be þe grace of God.73
Auch dies zeigt wieder, wie bewusst das vorhandene Inventar an Formeln verwendet und für aktuelle Zwecke jeweils moduliert wurde.
8. Fazit Diese Beispiele mögen genügen, um zu illustrieren, wie die normative Setzung der importierten Ars dictaminis in spätmittelenglischen volkssprachlichen Briefen befolgt wurde. Wie wir gezeigt haben, sind mehrere ,Befolgungsschichten’ zu erkennen: zum einen gilt es, sich an die expliziten diskurstraditionellen Vorgaben der Regelwerke – die inhaltlichen Gliederungsmuster – zu halten. Zum anderen werden die Beispielformulierungen der Musterbriefe als implizite Regeln angesehen und dadurch befolgt, dass man Wendungen übersetzte oder entlehnte. Während für die Sprachen Latein und Französisch die in den Artes dictandi formulierten Regeln zum Teil auch nur die bereits existierende Befolgungspraxis normativ wiedergegeben haben dürften, hatten die Briefsteller für das Englische noch eine echte normative Wirkung. Hier wurde tatsächlich eine für die Volkssprache neue Diskurstradition mithilfe expliziter Regelwerke geformt. Die fremdsprachlichen Formulierungsvorgaben mit ihren teilweise formelhaften Wendungen erleichterten es, englische Briefprosa zu verfassen und hatten so am Ausbauprozess, den jede Verschriftlichung einer Sprache mit sich bringt bzw. erfordert, einen nicht unwesentlichen Anteil. Die Sprecher und Sprecherinnen des Englischen wurden gewissermaßen ermächtigt, Briefe einer etablierten Diskurspraxis gemäß zu verschriftlichen. Die hierfür entlehnten und lehnübersetzten Formen und Konstruktionen mussten jedoch nicht auf diese Diskurstradition beschränkt bleiben. Sie breiteten sich aus und konnten später unter Umständen auch Eingang in die englische Standardsprache finden. Heuristisch wirft dies die Frage auf, ob sich der Ursprung mancher grammatischer Konstruktionen tatsächlich allein auf bestimmte Diskurstraditionen zurückführen lässt. Selbst wenn dies hier nicht der Fall sein sollte, so wird man doch die fortgeschrittene Schriftsprachlichkeit der Briefprosa konstatieren können.74 Weitere 73
74
„Right worshipful husband, I recommend me to you and pray you heartily at the reverence of God that you be of good comfort and trust verily by the grace of God that you shall overcome your enemies and your unsettled matters right well, if you will be of good comfort and not take your matters too heavily, that you deteriorate not yourself and think verily that you be strong enough for all your enemies, by the grace of God.“ Ebd., S. 317. Vgl. die Untersuchungen zu englischen Briefen von Terttu NEVALAINEN und Helena RAUMOLINBRUNBERG, z.B. T. NEVALAINEN, Introduction, in: DIES. / H. RAUMOLIN-BRUNBERG (Hgg.), Sociolinguistics and Language History. Studies Based on the Corpus of Early English Correspondence, Amsterdam/Atlanta 1996, S. 3-9; DIES., Continental Conventions in Early English Correspondence, in: H.-J. DILLER / M. GÖRLACH (Hgg.), Towards a History of English as a History of
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Untersuchungen mit Blick auf die Zusammenhänge zwischen einzelnen Diskurstraditionen und Sprachkontaktphänomenen wären hier sicher ebenso wünschenswert wie lohnend. Auf jeden Fall deuten unsere sporadischen Befunde darauf hin, dass gerade die Befolgungspraxis in englischen Briefen wesentlich zur Verbreitung von bestimmten Konstruktionstypen und Entlehnungen geführt und die Vertrautheit mit ihnen beträchtlich erhöht hat. Darüber hinaus dürfte eine nicht unerhebliche Anzahl lexikalischer Entlehnungen auf den Sprachkontakt über die Ars dictaminis zurückgehen. Folglich ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Normen der Briefstellerlehre die Verschriftlichung englischer Gebrauchsprosa letztlich wesentlich erleichtert und das schriftsprachliche Leistungspotential der englischen Sprache beträchtlich erhöht haben. In diesem Sinne war es also die Ars dictaminis, die der englischen Sprache eine neue Art von Macht verlieh: „the power to be used for writing letters“.
Genres, Heidelberg 2001, S. 203-224; H. RAUMOLIN-BRUNBERG, Forms of Address in Early English Correspondence, in: NEVALAINEN / DIES., Sociolinguistics and Language History (s.o.), S. 167-181.
DIE FRAGEBÖGEN DES SPANISCHEN INDIENRATES. Ein Beschreibungsstandard in der kolonialen Praxis* ARNDT BRENDECKE Als man in der Mitte des 16. Jahrhunderts von der Häufigkeit schwerer, teilweise tödlicher Stichwunden erfuhr, die in den amerikanischen Territorien aufgetreten waren, verordnete der spanische Hof kürzere Maße für Schwerter, Degen und Dolche. Wer fortan Klingen mit einer Länge von mehr als 5/4 kastilischer Ellen (ca. 1,06 m) mit sich führte, dem drohten Geld-, Gefängnisstrafen und Verbannung.1 Vergleichbare Regulierungsmaßnahmen sind für den europäischen Raum insbesondere durch die Policey-Forschung bekannt und diskutiert worden.2 Im Rahmen dieses Beitrages möchte ich mich nicht mit der Übertragung von Maßen, Normen oder Sprachen selbst beschäftigen, wie sie im Zuge der europäischen Expansion der Frühen Neuzeit vielfach erfolgte, sondern vielmehr mit zeitgenössischen Versuchen, epistemische Standards des Informationsaustauschs durchzusetzen, konkreter: Mithilfe des seriellen Einsatzes von Fragebögen standardisierte Beschreibungen der amerikanischen Territorien zu produzieren. Ich werde dazu zunächst in einem einleitenden Abschnitt methodische Aspekte des Einsatzes solcher Erfassungsformulare ansprechen und den Kontext des Einsatzes von Fragebögen in der spanischen Kolonialherrschaft skizzieren. Anschließend wird ein Bild der Praxis entwickelt, bei dem es mir besonders wichtig erscheint, das Tableau der Variationen und Abweichungen herauszuarbeiten, das sich in der kolonialherrschaftlichen Anwendung ergab. Ziel ist es, vor diesem Hintergrund die Reichweite und Durchsetzungskraft wie auch die spezifischen Spielräume des Erfassungsformulars ‚Fragebogen’ beurteilbar werden zu lassen.
1. ‚Formulare’ und ‚Fragebögen’ Dass schriftlicher Informationsaustausch, noch dazu zwischen Amtsträgern, auf formale Regeln rekurriert, ist nicht weiter erstaunlich. Die Forschungen zur pragmatischen Schriftlichkeit, zur monastischen Schriftkultur und zum frühen Druckzeitalter haben jedoch deutlich gemacht, wie sich die Funktion des Formalen mit* 1 2
Der Artikel basiert auf Ergebnissen meiner Habilitationsschrift: A. BRENDECKE, Imperium und Empire. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft, Köln/Weimar/Wien 2009. Vgl. Biblioteca Nacional de España, Ms. 3045, fol. 178v-180r. Ihren besonderen Reiz verdanken kolonialgeschichtliche Versuche, Standards über den Atlantik hinweg zu setzen, nicht zuletzt der Tatsache, dass das sich darin abbildende Spiel aus Normierung und métissage auf jüngere Erfahrungen mit Effekten der Globalisierung vorauszuweisen scheint. Dazu jüngst: S. GRUZINSKI, Les quatres parties du monde. Histoire d’une mondialisation, Paris 2004.
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telfristig verschob. Während das genaue Einhalten formaler Schreibregeln im Mittelalter in erster Linie die Echtheit und Rechtsgültigkeit eines Dokumentes zu stützen hatte, gewann mit zunehmender Verwaltungsschriftlichkeit der Neuzeit eine zweite Funktion an Bedeutung.3 Sie betrifft nicht die Rechtskraft des Dokuments, sondern die Serialität der dahinter stehenden Administrationsvorgänge. Die Semantik des Begriffes ‚Formular’ verweist in der Frühen Neuzeit noch auf beide Funktionen. So versteht man darunter entweder im normativen Sinne festgelegte Formeln mit rhetorischer oder juristischer Funktion oder – schon im Sinne serieller Verwaltungsprozesse und ihres Standardisierungsbedarfs – das ‚papierene’ Interface, das die Kommunikation z.B. mit amtlichen Stellen normiert.4 Serielle Prozesse sind in hohem Maße auf standardisierte Formate angewiesen, da jeder abweichende Datensatz nicht nur als Sonderfall behandelt werden müsste und damit zur Unterbrechung von Arbeitsroutinen führen würde, sondern auch die Vergleichbarkeit der Datensätze und ihre möglichst verlustfreie Übertragung in andere Formate, also z.B. in Tabellen, quantifizierenden Zusammenstellungen etc., gefährdet. Standardisierung funktioniert dabei in der Praxis nur bei starker Reduktion, d.h. bei der Begrenzung auf klar bestimmte und eng umgrenzte Parameter, die zu erfassen bzw. anzugeben sind. Das prototypische Dokument zur Erzeugung solcher Datensätze ist deshalb das Formular im modernen Sinne, also ein Lückentext, dessen Lücken die Eingabe einiger weniger, spezifischer Angaben – und nur dieser! – erlauben. Solche Formulare produzieren potenziell konsistente Datensätze zum Zweck serieller Weiterverarbeitung um den Preis einer starken Reduktion.5 3
4
5
Vgl. R. I. BURNS, Society and Documentation in Crusader Valencia, Princeton 1985, S. 21; zum frühen Gebrauch formaler Verfahren für serielle Prozesse siehe jedoch auch beispielsweise: L. KUCHENBUCH, Teilen, Aufzählen, Summieren. Zum Verfahren in ausgewählten Güterverzeichnissen des 9. Jahrhunderts, in: U. SCHAEFER (Hg.), Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ScriptOralia 53), Tübingen 1993, S. 181-206. Vgl. E. GULICH, Formulare als Dialoge, in: I. RADTKE (Hg.), Der öffentliche Sprachgebrauch, Bd. 2: Die Sprache des Rechts und der Verwaltung, Stuttgart 1981, S. 322-356, S. 329; M. GÓMEZ GÓMEZ, Forma y expedición del documento en la Secretaría y del Despacho de Indias, Sevilla 1993, S. 200. Eine auf Datenbankanwendungen ausgerichtete Definition des Formulars lautet: „Formulare bestehen aus einem in vielfach reproduzierter Version vorliegenden Schriftsatz mit Aufforderungen zu bestimmten schriftlichen Handlungen, die in Form und Inhalt eng festgelegt sind (nach dem Muster von slot und filler). Sie erzwingen ein uniformes Problemlöseverhalten und uniforme Darstellungsweisen. Formulare haben auf verschiedenen Ebenen die Voraussetzungen für moderne Datenbanken, speziell das Datensatzformat, geschaffen, indem sie die Ersteller und die Benutzer auf ein fest definiertes sprachliches und inhaltliches Inventar verpflichten. Für die Benutzer besitzen sie insbesondere dann einen disziplinierenden Charakter, wenn sie die einzige Kommunikationsform bilden, in der eine gesellschaftliche Aufgabe abgewickelt werden kann und individuelle Formen der Sachverhaltsdarstellung nicht möglich sind. Historisch gesehen kommt ihnen also eine starke erzieherische Funktion in der Herausbildung jener formatierten Verhaltensweisen und Einstellungen zu, die in der informatisierten Welt verlangt werden.“ Vgl. R. WEINGARTEN, Datenbanken, in: H. GÜNTHER / O. LUDWIG (Hgg.), Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung, 2 Bde, Berlin/New York 1994, Bd. 1, S. 158-170, S. 159f. – Zu Lückentexttechniken schon in der römischen Formularpraxis:
Die Fragebögen des spanischen Indienrates
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Obwohl es bereits sehr früh gedruckte Lückentextformulare gibt, erscheint es für die Frühe Neuzeit sinnvoller, einen weiter gefassten ‚Formular-Begriff’ zu verwenden, der das regulierte ‚Abfragen’ von Information an sich als formulargesteuerten Vorgang begreift, unabhängig davon, ob tatsächlich ein papierenes Lückentextformular vorlag oder z.B. ein halbschriftliches Verfahren mit vergleichbaren Effekten durchgeführt wurde. Interrogatorien steuerten beispielsweise im Rahmen von kirchlichen Visitationen oder auch von Inquisitionsverfahren die mündliche Befragung von Zeugen und prägten somit sekundär auch das schriftliche Protokoll. In den Blick kämen auch weitere Aufschreibeformen, die über die Strukturierung der Schreibflächen das Verzeichnen von Information standardisieren, z.B. Listen oder Tabellen.6 Insgesamt zeigt sich im Bereich administrativer, pragmatischer Schriftlichkeit ein dauerhaftes Bemühen darum, die Schriftlichkeitsformate gemäß ihrer spezifischen Aufgaben und Verteilungswege zu gestalten. Um ein Beispiel aus dem Bereich der Kolonialverwaltung anzuführen: 1605 forderte Philipp III. seinen peruanischen Vizekönig auf, fortan die verschiedenen Materien in seinen Briefen deutlich voneinander abzusetzen. Es sollten etwa Fragen des Haushalts oder der Kriegsführung in je eigenen Schreiben oder wenigstens in voneinander unterschiedenen Kapiteln abgehandelt werden und jeweils eine Kurzzusammenfassung am Rande mitnotiert werden. Auch den übrigen Kronbeamten sei diese Regelung mitzuteilen. Man könne die Schreiben so künftig schneller auswerten.7 Die zu verwaltenden Territorien und Belange, die Schriftlichkeitsformate und nicht zuletzt auch die Binnenordnung und Verarbeitungsprozesse der Verwaltung selbst beginnen sich dabei deutlicher aufeinander zu beziehen. So wird nicht nur auf den Schreibtischen „jede Materie einzeln abgelegt“, sondern beispielsweise die Raumund Arbeitsaufteilung in den Arbeitsräumen des Indienrats selbst zum administrativen Spiegel Spanischamerikas. Eintreffende Schreiben werden im 18. Jahrhundert nach einem ausgearbeiteten Plan auf die verschiedenen Tische und Bearbeiter verteilt, wobei jeder ‚Tisch’ eine bestimmte Region, eine Institution oder einen Sachzusammenhang repräsentierte. Geographisch übergreifende Belange, die keiner bestimmten Audiencia Amerikas zuzuordnen waren, bilden heute die enorme Archivsektion ‚Indiferente’.8
6
7 8
H. FOTHERINGHAM, Allgemeine Gesichtspunkte des Formulars, in: S. GROSSE / W. MENTRUP (Hgg.), Bürger – Formulare – Behörden. Wissenschaftliche Arbeitstagung zum Kommunikationsmittel „Formular“ (Mannheim, Oktober 1979), Tübingen 1980, S. 25-43, S. 26. Zur Rolle von Tabellenwerken in der Historiographie vgl. B. STEINER, Die Ordnung der Geschichte. Historische Tabellenwerke in der Frühen Neuzeit (1500-1800) (Norm und Struktur, 34), Köln 2008. Vgl. I. GAREIS, Die Geschichte der Anderen. Zur Ethnohistorie am Beispiel Perus (1532-1700), Berlin 2003, S. 218. Vgl. M. GÓMEZ GÓMEZ, La nueva tramitación de los negocios de Indias en el siglo XVIII. De la ‚vía del consejo’ a la ‚vía reservada’, in: F. BARRIOS (Hg.), El gobierno de un mundo. Virreinatos y audiencias en la América Hispánica, Cuenca 2004, S. 203-250, S. 229f.
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Für die spanische Kolonialherrschaft ist der Einsatz von Fragelisten aufgrund der großen Distanz und des Wissensgefälles zwischen den kolonialen Territorien und Spanien ein relativ nahe liegendes Verfahren. Schon die frühen Entdecker und Konquistadoren waren der Krone berichtspflichtig, wobei ihre Instruktionen neben Auflistungen derjenigen Aspekte, die die Krone in besonderem Maße interessierten, schon auf das umfassende Informationsbedürfnis voraus weisen, das sich dann in einer Formulierung Karls V. von 1533 manifestierte: „wir wollen vollständige Kenntnis (entera notica) über die Angelegenheiten diese Landstriche haben“.9 Dieses grundlegende Informationsbedürfnis verstärkte und verbreiterte sich im Zuge des Übergangs zu einer auf große Territorien ausgedehnten Kolonisation und mit dem Aufbau von Justiz- und Verwaltungsinstanzen, da die letztgültige politische Entscheidungsinstanz auf der spanischen Halbinsel verblieb. Spanien etablierte auf diese Weise bemerkenswert früh den Gestus und die Techniken einer ‚Herrschaft durch Information’, nämlich bereits im 16. Jahrhundert unter Karl V., besonders intensiv dann unter Philipp II. Gegründet wurde dies auf das vergleichsweise formelle Verfahren von Fragebögeneinsätzen und auf die Mitwirkung der Verwaltungsinstanzen vor Ort, kaum beispielsweise auf Expeditionsunternehmungen.10 Als Ergebnis einer 1567 durch Juan de Ovando begonnenen Reform des Indienrates,11 lag 1577 erstmals ein Fragebogen in gedruckter Form vor.12 Zusätzlich wurde das Amt eines obersten Kosmographen und Chronisten Amerikas (cosmógrafo cronista mayor de las Indias) geschaffen, womit fortan ein zentraler ‚Leser’ der erwarteten Antworten existierte, der die Ergebnisse mit wissenschaftlichem Anspruch auszuwerten hatte. Mit seiner Hilfe sollte eine Dienstanweisung Philipps II. für den Indienrat erfüllt werden, in der es heißt: Da keine Sache verstanden oder angemessen behandelt werden kann, deren Subjekt nicht zuvor von denjenigen Personen gewusst wäre, die darüber Bescheid wissen und entscheiden müssen, ordnen wir an und bestimmen, dass die von unserem Indienrat, sich bemühen, stets eine wahrhafte Beschreibung und abgeschlossene Untersuchung 9
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„Queremos tener entera noticia de las cossas dessa tierra“, vgl. die Real Cédula aus Monzón vom 19. Dezember 1533, abgedruckt in: Colección de documentos inéditos relativos al descubrimiento, conquista y organización de las antiguas posesiones españolas de ultramar, Segunda serie, Bd. 10/3: De los documentos legislativos, Madrid 1897, ND Nendeln 1967, S. 185. Zum frühen Einsatz von Fragelisten siehe: J. BUSTAMANTE GARCÍA, El conocimiento como necesidad de Estado. Las encuestas oficiales sobre Nueva España durante el reinado de Carlos V, in: Revista de Indias 60/218 (2000), S. 33-55. Jüngst dazu: DERS., Plinio y Dioscórides frente al Nuevo Mundo. Problemas de método y sus consecuencias en los resultados de la primera expedición científica a suelo americano (siglo XVI), in: F. REGOURD / C. CASTELNAU-L’ESTOILE (Hgg.), Connaissances et pouvoirs. Les espaces impériaux (XVIe-XVIIIe siècles). France, Espagne, Portugal, Pestac 2005, S. 169-186. Die Fragebögen wurden ediert in: F. SOLANO / P. PONCE LEIVA (Hgg.), Cuestionarios para la formación de las relaciones geográficas de Indias. Siglos XVI/XIX (Tierra nueva e cielo nuevo 25), Madrid 1988; zur Reform durch Juan de Ovando, siehe S. POOLE, Juan de Ovando. Governing the Spanish Empire in the Reign of Philip II, Norman 2004, S. 116-137. Eine Übersetzung findet sich bei: M. RASSEM / J. STAGL (Hgg.), Geschichte der Staatsbeschreibung. Ausgewählte Quellentexte 1456-1813, Berlin 1994, S. 144-156.
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der Angelegenheiten des estado de las Indias zu haben, sowohl des Landes wie des Meeres, der Natur wie der Sitten, der ewigen wie der zeitlichen Dinge, der kirchlichen wie der säkularen, der vergangene wie der gegenwärtigen und der, die mit der Zeit sein werden, [d.h. von den Dingen,] auf die sich die Verwaltung oder die Bestimmungen des Gesetzes beziehen können.13
Nicht nur die Verschiedenheit der amerikanischen Territorien, die ‚Neuheit’ ihrer Naturgestalt, Sprachen, Kulturen und Völker, machte die Fragebögen des Indienrates zu Dokumenten enzyklopädischer Neugier, sondern auch die schon in der Institution angelegte Vermengung von praktischen, regierungsbezogenen Interessen mit geographischen, historischen, natur- und kulturwissenschaftlichen Fragen des Kosmographen und Chronisten.14 Insgesamt wurden so nach den Anfängen unter Karl V. vor allem seit der Regierungszeit Philipps II. und der zwischen 1567 und 1571 durchgeführten Reform des Indienrates durch Juan de Ovando systematisch Fragebögen zur Einholung serieller Information aus Spanischamerika eingesetzt. Nach dem bekanntesten Fragebogen von 1577 ist für das 17. Jahrhundert insbesondere auf die Initiativen von 1604, 1635 und 1648 hinzuweisen. Die Antworten auf diese Fragebögen, die seit dem 19. Jahrhundert als Relaciones geográficas bezeichnet werden, stellen eine der wichtigsten Quellen der frühen Kolonialzeit dar. Bedeutend sind sie auch aufgrund der spezifischen Beantwortungssituation vor Ort, da häufig auf das Erfahrungswissen und die Mithilfe der älteren Indios, die in Gruppen befragt wurden, zurückgegriffen wurde.15 So faszinierend die Ausrichtung des administrativen Diskurses, seiner Verfahren und Formate auf serielle Prozesse auch ist, so sehr bleibt es methodisch entscheidend, die jeweilige Verankerung solcher Aufschreibeverfahren in der kulturellen Praxis zu untersuchen, also von einzelnen Projekten, Normen oder Dokumenten zu abstrahieren und nach dem Standing zu fragen, das das zu Grunde liegende ‚Format’ in der jeweiligen kulturellen Praxis besaß. Inwieweit sind beispielsweise Tabellen, Formulare oder Fragebögen selbst – als Form – jeweils schon zu einem Standard geworden, ‚auf Dauer gestellt’, etwas, das ohne Erklärung evident erschien, stillschweigend akzeptiert und verwendet wurde? Inwieweit prägen sie nicht nur das Notat, sondern auch bereits die Perzeptionen, Bezeichnungen und die Bewertung empirischer Umstände? Für die Untersuchung des Umgangs mit den Fragebögen muss man also auch den Erwartungshorizont der zeitgenössischen Betreiber und Erdulder des Verfahrens rekonstruieren, d.h. ihre jeweiligen Vorstellungen von verfahrenskonformem oder zumindest tolerablem Verhalten. In unserem Fall: 13 14 15
Recopilación de leyes de los reynos de las Indias […], 3 Bde., Madrid 1791, ND Madrid 1998, fol. 134b, libro II, tít. II, ley v. Ein Überblick bei: S. VILAR, La trajectoire des curiosités espagnoles sur les Indes. Trois siècles d’‚interrogatorios’ et ‚relaciones’, in: Melanges de la Casa de Velázquez 6 (1970), S. 247-308. Zu den Bildern vgl. B. E. MUNDY, The Mapping of new Spain. Indigenous Cartography and the Maps of the Relaciones Geográficas, Chicago 1996.
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Mit welcher Strenge erwartete der Indienrat die Einhaltung des formellen Standards? Was erschien den Antwortenden angemessen und korrekt? Welche Abweichungen gab es und wie wurden sie gerechtfertigt? Ohne dass hierbei ein ausführlicher Bericht über die Vorformen standardisierter Erhebungen erfolgen kann,16 sei zunächst auf zwei strukturelle Unterschiede hingewiesen, die den Einsatz von Fragebögen im spanischen Kolonialreich von Vorformen, wie etwa den Interrogatorien mittelalterlicher Visitationen, unterscheiden. Bei monastischen Visitationen wurde erstens der Vorgang der Informationserhebung mit dem der Sanktionierung verknüpft, da die Überprüfung und Wiederherstellung von Observanz im Rahmen eines gemeinsamen Verfahrens erfolgte. Dieses Verfahren erforderte zweitens den Einsatz einer vor Ort arbeitenden und mit strafberechtigter Autorität ausgestatteten Visitationskommission. Die sich im 13. Jahrhundert ausbreitende Schriftlichkeit bei Visitationen besaß deshalb im Wesentlichen nur eine komplementäre, dokumentierende Funktion.17 Ein Verfahren der Erhebung von Information in einem abstrakteren Sinne entstand erst durch die Trennung von Informationserhebung einerseits, Urteilsbildung und Sanktion andererseits sowie durch die damit verbundene Notwendigkeit, alle potenziell relevanten Daten für abwesende Leser systematisch zu erfassen und zu verschriftlichen, d.h. das Notat zur primären Beurteilungsgrundlage zu erheben. Erst dadurch wurde das Interrogatorium ein Stück weit zum Fragebogen, der als schriftliches Dokument mehr oder minder direkt in den Händen der Antwortenden lag und die Gestalt ihrer schriftlichen Auskunft vorzuschreiben versuchte.18 Dennoch ist in Hinsicht auf die Bezeichnung ‚Fragebogen’ – dies wird später auch anhand der praktischen Beispiele deutlich – Vorsicht geboten. Schon die zeitgenössische Begriffswahl zeigt dies, da nicht von Fragebögen (cuestionarios) gesprochen wurde – der Begriff wird überhaupt erst im 18. Jahrhundert im Spanischen geläufig –, selten auch von Interrogatorien (interrogatorio), da dieser Begriff wiederum stärker mit gerichtlichen Zeugenbefragungen assoziiert wurde.19 Die Quellen formulieren umständlicher und sprechen, beispielsweise im Falle des gedruckten Fragebogens von 1577, von einer: „Instruktion und Memoria, über die Berichte, die zur Beschrei16
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Vgl. hierzu etwa J. OBERSTE, Visitation und Ordensorganisation. Formen sozialer Normierung, Kontrolle und Kommunikation bei Cisterziensern, Prämonstratensern und Cluniazensern (12.frühes 14. Jahrhundert) (Vita regularis 2), Münster 1996. Ebd., S. 42f. u. S. 119. Die methodische Bereitschaft, Fragebögen in schriftlicher Form kursieren zu lassen, ist freilich im Falle spezieller Herausforderungen bereits im 13. Jahrhundert zu erkennen, wie Johannes FRIED anhand der päpstlichen Initiativen zur systematischen Erkundung der Mongolengefahr darstellen konnte. Vgl. dazu: J. FRIED, Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Die Mongolen und die europäische Erfahrungswissenschaft im 13. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 243 (1986), S. 287-332. Ich verdanke diesen Hinweis Gert MELVILLE. Vgl. die Bezeichnung der Initiative von 1604 als ‚Interrogatorio’, dazu F. SOLANO / P. PONCE LEIVA, Cuestionarios (wie Anm. 11), S. 97; zum Begriff des Fragebogens aus soziologischer Sicht vgl.: J. STAGL, Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550-1800, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 33.
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bung Amerikas anzufertigen sind, welche Seine Majestät anzufertigen anordnet“.20 Die Instruktion ist dabei eine Art Arbeitsanweisung, die memoria stellt die eigentliche Liste der durchnummerierten Fragen dar. Die Instruktion zeigt aber, dass durchaus im Sinne der oben angesprochenen Formularfunktion serielle Antworten mit gleich bleibendem Format und Beglaubigungsstatus erwartet wurden. So wurde in den Instruktionen nicht nur das genaue Verteilungsverfahren erläutert, sondern auch das der Beantwortung: Zuerst setzen sie [die Beantwortenden] auf ein eigenes Stück Papier als Kopf den Tag, Monat und das Jahr der Ausfertigung, mit dem Namen der Person oder der Personen, die sich eingefunden haben, um den Bericht zu verfassen sowie des Gouverneurs oder der Person, die ihnen die Anweisung zugesendet hat. Und aufmerksam jedes Kapitel der Memoria lesend, schreiben sie, was darüber zu sagen ist, in einem anderen Kapitel je für sich, auf jedes nach der Nummerierung beantwortend, so wie [die Kapitel] in der Memoria aufeinander folgen, eines nach dem anderen. Und dort wo es nichts zu sagen gibt, lassen sie es kommentarlos aus und gehen zum nächsten über, bis alle [Kapitel] gelesen sind und auf diejenigen geantwortet wurde, die zu beantworten waren. Wie schon gesagt, in allem kurz und klar, dasjenige als sicher bejahend, was sicher ist. Und das, was es nicht ist, als zweifelhaft bezeichnend, so dass die Berichte wahrheitsgetreu und konform dem Inhalt der nachfolgenden Kapitel eintreffen.21
Die Bemerkung, dass man einzelne Fragen überspringen kann, bezieht sich hauptsächlich darauf, dass einige Passagen nur für spanische, andere nur für indigene Siedlungen angelegt waren. Sie verweist bereits auf ein gewisses Maß an Flexibilität, das den Fragebögen des Indienrats innewohnte, und in der Praxis noch deutlicher zum Tragen kam.
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„Instruction, y memoria, de las relaciones que se han de hacer, para la descripción de las Indias, que su Magestad manda hazer, para el buen govierno y ennoblescimiento dellas“, vgl. Real Academia de la Historia, Madrid, Ms. 9-4663, relación del obispado de Michoacán, fol. 1a. „Primeramente, en un papel a parte, pondran por caveza de la relación que hizieren, el día, mes, y año de la fecha de ella: con el nombre de la persona, o personas, que se hallaren a hazerla, y el del Governador, u otra persona que les uviere embiado la dicha instruction. Y leyendo atentamente, cada Capítulo de la memoria, screviranlo que huviere que dezir a el, en otro capitulo por si, respondiendo a cada uno por sus numeros, como van en la memoria, uno tras otra y en los que no huviere que dezir, dexarlos sin hazer mencion de ellos, y passaran a los siguientes, hasta acavarlos de leer todos, y responder los que tuvieren que dezir: como queda dicho, breve y claramente, en todo: afirmando por cierto lo que lo fuere, y lo que no, poniendolo por dudoso: de manera que las relaciones vengan ciertas, conforme a lo contenido en los capitulos siguientes“; vgl. Real Academia de la Historia, Madrid, Ms. 9-4663, relación del obispado de Michoacán, fol. 1a.
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2. Praktische Probleme des Einsatzes von Fragebögen Für den Fragebogen von 1577 sind mehr als 200 Antworten erhalten und ediert.22 Es ist dennoch von einer großen Menge nicht beantworteter Fragebögen auszugehen, von einem Ignorieren der Anfrage, dessen Gründe naturgemäß schwer zu bestimmen sind. Erkennbar sind in den wenigen expliziten Kommentaren zunächst praktische und logistische Probleme. So formuliert ein Einwand aus Honduras auf eine frühe Frageliste von 1533, man könne die Provinz nicht beschreiben, da diese in vielen Bereichen noch gar nicht bekannt, geschweige denn erobert sei.23 Umso mehr man schließlich aber erobert und erschlossen hatte, um so eher trat die Beantwortbarkeit an die Grenze des logistisch Bewältigbaren: So meldete 1578 z.B. der Vizekönig von Peru, dass ihm das Ausfüllen des Fragebogens nicht möglich sei. „Eure Hoheit verlangt so viele Dinge.“ Zu viele Leute müssten für die Beantwortung von ihren Amtsgeschäften abgezogen und auch bezahlt werden.24 Die Krone aber wollte kein zusätzliches Geld für die Befragungen aufbringen, die sie gewissermaßen als Gegenstand der normalen Dienstpflicht betrachtete. Mit dem Fragebogen von 1604 geriet die systematische Neugier des Indienrates auf ihren Höhepunkt. Er enthielt nunmehr 355 Fragen, was dazu führte, dass fast keine Antworten eintrafen. Man sah sich offenbar außer Stande, auf eine derart umfassende Befragung zu antworten. Vonseiten der Audiencia Limas erreichte den Indienrat immerhin die Bemerkung, dass man die Fragebögen an untergeordnete Stellen weitergeleitet habe, nicht jedoch ohne einen skeptischen Kommentar: Der Distrikt der Audiencia umfasst der Länge nach beinahe 600 Meilen [ca. 2.520 km] und der Breite nach ca. 200 [ca. 840 km]. Diese Gebiete sind nicht wie die Spaniens. Der größte Teil ist gebirgig und unzugänglich. Die Flüsse durchlaufen unbekannte, noch uneroberte Gebiete und deshalb kann man nicht gut wissen oder ausmachen, wohin sie laufen und wie viele Meilen. Herauszufinden, welche Böden fruchtbar seien und welche nicht, halten wir für genauso unmöglich wie vieles, was der Fragebogen enthält. Trotzdem haben wir alle Fragebögen über den Distrikt verteilt, aber wir gehen davon aus, dass die Gouverneure, Corregidores und sonstigen Richter es nicht wagen werden, sich mit derartigen Schwierigkeiten zu beschäftigen, da schon das Herausfinden des Allereinfachsten viel Zeit und hohe Kosten erfordern würde.25
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Für das Vizekönigreich Neuspanien siehe die Edition von R. ACUÑA, Relaciones geográficas del siglo XVI, 10 Bde., Mexiko Stadt 1982-1988. R. KONETZKE, Die ‚Geographischen Beschreibungen’ als Quellen zur hispanoamerikanischen Bevölkerungsgeschichte der Kolonialzeit, in: Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas 7 (1970), S. 1-75, S. 19. „Porque vuestra majestad manda en ellas tantas cosas que si hubiesen de ocuparse en ellas todas las personas que vienen apuntadas, será menester vacar mucho tiempo de sus oficios y mucha plata para pagarles su trabajo […] y también fuera menester, ser dotados de muchas partes de las perfecciones de lo que se les pregunta los que habían de entender en ellas“, zit. nach ebd., S. 31. „El distrito desta Audiencia tiene casi seiscientas leguas de largo y de ancho casi doscientas. No son estas tierras como las de España; la mayor parte dellas son tierras montuosas y casi inaccesibles, los rios corren por tierras no descubiertas ni conquistadas y así no se puede bien
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Gut dreißig Jahre später nahm der Vizekönig von Peru erneut Stellung zu der Aufgabe, die Einwohner zu zählen und Karten zu erstellen. Er berief sich dabei auf ein Gespräch, in dem er sich durch den erfahrenen Kosmographen Francisco de Quirós in Hinsicht auf die Durchführbarkeit eines solchen Vorhabens beraten lassen hatte. Quirós hatte auf eine Reihe zu erwartender Schwierigkeiten hingewiesen, die dann in einen dramatisierenden Arbeitsplan mündeten. Demnach müsste man viele weglose Gebiete bereisen, reißende Flüsse ohne Brücken überqueren und Gebiete feindlich gesinnter Indianer passieren. Es seien dabei mehr als 9.000 Meilen [knapp 40.000 km] zurückzulegen, was etwa fünf Jahre dauern werde. In den Provinzen seien mehr als 1.500 Ortschaften zu besuchen, in denen man sich mindestens einen Tag, oft aber auch drei oder vier Tage aufzuhalten habe, um die entsprechenden Daten zu erheben. Für eine gründliche Landeserfassung sei deshalb nach Quirós ein Zeitraum von über 17 Jahren zu veranschlagen, wolle man nicht Beschreibungen liefern, zu denen man zwar Lima nicht verlassen, aber dafür vieles erfinden müsse. Der Vizekönig veranschlagte utopische Kosten in Höhe von 63.000 Pesos, wozu noch Gehaltszahlungen für Francisco de Quirós hinzukämen.26 Gerade aus der Perspektive höherer Instanzen schien also der Wunsch nach entera noticia kaum erfüllbar. Die Fragebögen wurden jedoch an untergeordnete weltliche und kirchliche Instanzen weitergeleitet, und auf diese Ebene der je spezifischen Beantwortungssituationen vor Ort wird nun zu wechseln sein, zumal sich dort das in der Praxis herrschende Maß an Flexibilität besonders deutlich ausmachen lässt. Das reichhaltigste Quellenmaterial dafür bieten die Editionen der Relaciones geográficas in Antwort auf den Fragebogen von 1577 wie auch einzelne Quellenbestände zu den Initiativen der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts.
3. Die Flexibilität der Fragen und der Antworten 1566 formulierte der Kleriker Luis Sánchez, der zuvor 18 Jahre im Dienste des Bischofs von Popayán im heute kolumbianischen Südamerika verbracht hatte, eine beißende Kritik an der spanischen Amerika- und Indiopolitik, die auch deshalb hervorsticht, weil sie nicht auf moralische, sondern vorwiegend auf strukturelle Defizite hinweist. Den ersten Grund für das Versagen der Amerikapolitik sah Sánchez in dem Versuch der spanischen Krone, die völlig verschiedenen Territorien durch einen einzigen normativen Ansatz regieren zu wollen: […] da es so viele Territorien gibt und diese so weit weg von Spanien liegen, so viele Provinzen, die so verschieden sind und sich in nichts mit den dortigen gleichen, bedarf
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saber ni averiguar, por donde corren, ni cuantas leguas; averiguarse las tierras útiles e inútiles que hay en tan gran distrito, también lo tenemos por imposible y a este respecto muchas de las cosas que se contienen en el interrogatorio. Sin embargo desto se repartirán todos por el distrito, pero entendemos que los gobernadores y corregidores y demás justicias no se han de atrever a entrar en semejantes dificultades, porque la averiguación de lo más fácil requiere mucho tiempo y mucho gasto“, zit. nach ebd., S. 36. Francisco de Quirós an den Vizekönig von Peru, 20. April 1635, zit. nach ebd., S. 42f.
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jede von ihnen spezieller Gesetze, aber täglich kommt es vor, dass sie ein einziges Gesetz für alle machen, und so nützt es den einen während es den anderen schadet.27
Der serielle Fragebogeneinsatz erzeugte das gleiche Problem des einen Standards auf diskursiver Ebene. Insofern alle Orte den gleichen Fragebogen erhielten, wurde beispielsweise auch in Wüstengegenden nach den Gewässern gefragt (Frage 20). Was aber bedeutet dies für die Praxis des Fragebogeneinsatzes? Welches Maß an Flexibilität herrschte beim Einsatz des Fragebogens und bei seiner Beantwortung? Betrachtet man zunächst die Fragestruktur intensiver, so fällt auf, dass die einzelnen Abschnitte des Fragebogens in der Regel eine komplexe Binnenstruktur besaßen. Sie formulierten nicht eine Frage, sondern eine ganze Reihe von Aspekten und Unterfragen zu einem thematischen Oberbegriff, weshalb zeitgenössisch in der Regel auch zumeist nicht von Fragen (preguntas), sondern von Kapiteln (capítulos) gesprochen wurde. Um vorerst ein geographisches Interesse vorzustellen: Im Fragebogen von 1577, der insgesamt 50 Punkte umfasste, lautet das Kapitel 6: „Die Polhöhe, auf der sich die genannten Dörfer der Spanier befinden, ob sie schon genommen worden sei und ob man sie wisse oder jemanden habe, der sie zu messen wisse, oder: in welchen Tagen des Jahres die Sonne mittags keinen Schatten werfe.“28 Ein zweites Beispiel: Frage 15 verdeutlicht die Verbindung von im heutigen Sinne ‚ethnologischen’ Interessen mit Fragen der eigenen Herrschaftsgestaltung: „Wie man sie [die Indios] früher regierte, mit wem sie Krieg führten und auf welche Weise, und die Habite und Gewänder, die sie trugen und heute tragen. Und die Lebensgrundlage, von der sie zehrten und heute zehren, und ob sie früher gesünder oder weniger gesund lebten, und den Grund, den man dafür annehme.“29 Der letzte Teil der Frage nach der veränderten Gesundheitssituation der Indios und den dazugehörigen Gründen stellt übrigens denjenigen Gegenstand des Fragebogens von 1577 dar, auf den mit Abstand am wenigsten Reaktionen vorliegen. 73 % der Antworten aus Neuspanien reagierten überhaupt nicht auf diesen Teil von Kapitel 15. Weitere 17 % gaben an, man wisse keine Antwort.30 Ganz offenbar stellte der Indienrat hier eine Frage, die man vor Ort nicht nur sachlich schwer 27
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„La primera [causa] es, que como son tantas las tierras de las yndias y tan remotas de España, tantas provincias tan differentes unas de otras y en nada se parecen a las de acá, cada una tiene necessidad de sus particulares leyes, y cada día acontece que dan una misma ley para todas, y ansi lo que aprovecha a una daña a otra, […]“, Memorial de Luis Sánchez, Archivo General de Indias, Sevilla, Patronato Real 171, n. 1, r. 11, fol. 4r. „La altura o elevación del polo, en que están los dichos pueblos de españoles, si estuviere tomada, y si se supiere, o hubiere quien la sepa tomar, o en que días del año el sol no echa sombra ninguna al punto del medio día.“, vgl. F. SOLANO / P. PONCE LEIVA, Cuestionarios (wie Anm. 11), S. 82. „Cómo se gobernaban, y con quién traían guerra, y cómo peleaban, y el hábito y traje que traían, y el que ahora traen. Y los mantenimientos de que usaban y ahora usan, y si han vivido más o menos sanos antiguamente que ahora, y la causa de que de ello se entendiere“, vgl. ebd., S. 83. J. GONZÁLEZ RODRÍGUEZ, Aprovechamiento informático de las relaciones geográficas de la época de Felipe II, in: M. CUESTA DOMINGO (Hg.), Descubrimientos y cartografía en la época de Felipe II, Valladolid 1999, S. 165-203, S. 194.
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beantworten konnte, sondern häufig gegenüber den Indios des Ortes nicht stellte oder nicht stellen wollte. Die Frage war in Madrid berechtigt, im Kontext ihrer Beantwortung weitgehend tabu. Insgesamt zeigten sich die Befragten aber auch in Hinsicht etwa auf ethnographische Aspekte durchaus auskunftsfreudig und beobachtungsstark. Auch Zahlenangaben, etwa zur Demographie, wurden häufig erbracht, wenngleich hierzu eine Bemerkung im Bericht aus Xalapa auffällt, bei der der Antwortende der Aufforderung der oben zitierten ‚Instruktion’ gefolgt war, das Zweifelhafte auch als zweifelhaft zu bezeichnen. Man muss darauf hinweisen, dass, obwohl in diesem Bericht […] zu jedem Dorf die Zahl seiner Bürger notiert ist, wir diese keineswegs sicher wissen. Es ist eher so, dass wir schätzen was wir mehr oder weniger sagen gehört haben oder was wir meinen, das es dort gibt. Darauf weisen wir hin, damit man nicht auf der Basis dieser unsicheren Rechnung regiere.31
Eine letztlich noch weitergehende Infragestellung der Aufgabenstellung durch die Antwortenden erfolgte im Bericht aus Tlaxcala. Hier wurde der Abstand des Dorfes zu anderen Dörfern zwar, wie gewünscht, in spanischen Meilen angegeben, aber danach in einem ausgiebigen Kommentar erläutert, dass den indigenen Bewohnern des Dorfes diese Maßeinheit völlig fremd sei und man hier Wegstrecken beispielsweise nach den Pausen berechne, die man beim Gehen mache.32 An einem etwas ausführlicher zu betrachtenden, dritten Beispiel sei veranschaulicht, bis zu welchem Maße der Wortlaut der Frage in der Lage war, die Antwort zu determinieren. Kapitel 3 des Fragebogens von 1577 formulierte die erwarteten Alternativen der Beschreibung in einigen Teilen bereits vor: Und generell, die Art und Qualität der genannten Provinz oder des Landstrichs, ob diese sehr kalt oder warm, feucht oder trocken, mit vielen oder wenigen Niederschlägen (aguas) sei, und wann es mehr und wann weniger gebe, und die Winde, die darin blasen, wie gewaltig, von woher und in welchen Jahreszeiten.33
Betrachten wir dazu die entsprechende Antwort aus Antequera, in der es heißt:
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„Hase de advertir que aunque en esta relación, y asimismo en la descripción que va por pintura, se pone en cada pueblo el número de los vecinos que tiene, esto no es porque nosotros lo sepamos de cierto; mas de poner a bulto lo que poco mas o menos hemos oído decir o nos parece que habrá; y esto se advierte para que no se rija por esta cuenta, que es incierta, […]“, vgl. J. GARCÍA ICAZBALCETA, Nueva colección de documentos para la historia de México, Bd. 2: Códice franciscano. Siglo XVI. Informe de la provincia del Santo Evangelio al visitador lic. Juan de Ovando. Informe de la provincia de Guadalajara al mismo. Cartas de religiosos, 1533-1569, Mexiko Stadt 1889, S. 30. Vgl. R. ACUÑA, Relaciones geográficas (wie Anm. 22), Bd. 4: Tlaxcala, Bd. 1, S. 35f. „Y generalmente, el temperamento y calidad de la dicha provincia, o comarca, si es muy fría o caliente, o humeda o seca, de muchas aguas o pocas, y cuándo son más o menos, y los vientos que corren en ella, que tan violentos, y de qué parte son y en qué tiempo del año“, vgl. F. SOLANO / P. PONCE LEIVA, Cuestionarios (wie Anm. 11), S. 81.
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Es handelt sich um einen Landstrich mit mildem Klima, der weder in der Hitze noch in der Kälte allzu sehr hervorsticht. Er neigt eher zur Trockenheit als zur Feuchtigkeit. Es gibt wenig Regenwasser, auch wenn die Eingeborenen sagen, dass es in vergangenen Zeiten viel gab. Üblicherweise regnet es von Anfang Mai bis Ende September, wenngleich nicht täglich, sondern zwischendurch. Normalerweise gibt es Nordwind, denn dieser weht beinahe das ganze Jahr. Stark ist er, nachdem die Niederschläge zurückgehen, bis vier Monate des Jahres vergangen sind. Es ist ein Wind, dessen Kälte die Menschen auskühlt und Erkältungen und andere Krankheiten hervorruft. Er trocknet die Pflanzen und Saatfelder. Der Ostwind weht selten und in der Regenzeit, er bringt Regen. Es ist ein gesunder Wind. Der Südwind weht in der Regenzeit und bringt Sturm.34
Erkennbar ist also ein durchaus kompetentes, genaues und dem Frageansatz folgendes Antwortverhalten, das jedoch weitere, sich sachlich anbietende, aber nicht gefragte Aspekte, in diesem Falle also die Erinnerung der Indios, die Auswirkungen des Klimas auf Krankheiten und Landwirtschaft, einbezog. Die Auswirkungen dieses spontanen Hinzufügens sachlich nahe liegender Aspekte sind insofern fatal, als sie die Ordnung des Fragebogens unterwandern und Antworten auf einzelne Fragen häufig bereits geben, bevor sie überhaupt gestellt wurden. Wird dann in einem späteren Kapitel tatsächlich danach gefragt, so überspringen dies die Antwortenden oder weisen darauf hin, schon geantwortet zu haben. So fehlt in vielen Antworten beispielsweise eine Antwort auf Frage 20, die eine Beschreibung der Gewässer einfordert, und zwar deswegen, weil man die Gewässer spontan schon in Antwort auf Kapitel 3 beschrieben hatte.35 Und dies irrtümlicherweise, ist doch dort, wie wir schon gesehen haben, nicht eigentlich nach Gewässern, sondern nach dem Klima, den Winden und Niederschlägen gefragt worden. Da dort das Thema ‚Niederschläge’ jedoch nicht mit der notwendigen Unmissverständlichkeit formuliert worden war – es wird lediglich von „muchas aguas o pocas“ gesprochen, nicht explizit von „aguas pluviales“, also Regenwasser –, handelten viele Antworten auch den Bereich der Gewässer schon an dieser Stelle ab, eben alles, was man mit ‚aguas’ assoziierte. Dass solche Formulierungs- und Verständnisprobleme schließlich tatsächlich die Reihenfolge und damit den Ort von Information im Antwortschreiben bestimmten, zeigt wiederum, dass die Relaciones geográficas in der Regel relativ direkt den sukzessiven, mündlichen Antwortprozess protokollierten und 34
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„Es tierra de mediano temperamento; no excede en calor ni en frío demasiado; participa más de sequedad que de humedad. Es de pocas aguas pluviales, aunque dicen los naturales que, en los tiempos pasados, eran muchas. Suele llover desde principio de mayo hasta en fin de septiembre, aunque no cotidianamente, sino por días interpolados. El viento que comúnmente corre es norte, porque corre casi todo el año. Su violencia es, desde que pasan las aguas, hasta pasados cuatro meses del año. Es viento que con su frialdad destiempla los cuerpos humanos y causa catarro y otras enfermedades; seca las plantas y sembrados. El viento leste corre pocas veces y, en tiempo de aguas, causa pluvias. Es viento sano. El viento sur corre por tiempo de aguas y causa tempestad.“, vgl. R. ACUÑA, Relaciones geográficas (wie Anm. 22), Bd. 2: Antequera, tomo primero, S. 32. Beispiele: Relación de Axocopan, ebd., Bd. 8: México, Bd. 3, S. 127-130; Relación de Tuzantla, ebd., Bd. 7: México, Bd. 2, S. 154-158.
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nicht stark nachträglich überarbeitet wurden. Besonders auffällig ist der Effekt, spätere Fragen kaum mehr zu beantworten, da ihr Inhalt bereits in vorausgehenden abgehandelt wurde, in dem Bericht aus Tepeapulco. Schon bei Frage 12 heißt es dort: „In Bezug auf das 12. Kapitel sagen sie [die Antwortenden], dass sie es schon im vorausgehenden Kapitel beantwortet haben.“ In der Antwort zu Frage 13 dann: „Darauf antworten sie, dass sie es schon im ersten Kapitel gesagt haben.“36 Am stärksten redundant erschien den Befragten offenbar das Interesse des Fragebogens am Wasser, zumal auch sie schon in der Antwort auf Frage 3 angegeben hatten, dass es in der ganzen Provinz keinen Fluss gebe und die Indios das Trinkwasser von einem einzigen Wasserloch herbeibringen würden. Nachdem in Frage 19 dann erneut ausgiebig nach „dem Fluss“ gefragt wurde, gaben sie wieder an: „dass es in dieser ganzen Provinz keinen Fluss oder Bach gibt, der durchflösse oder vorhanden sei, außer dem Wasser[loch], an dem sich, wie zuvor gesagt, die Indios versorgen. Und mehr haben sie zu diesem Kapitel nicht zu sagen.“ Auf Frage 20, die sich dann abermals auf Gewässer bezog, in diesem Fall auf Seen, Lagunen und Quellen, lautete die Antwort nurmehr: „Auf das 20. Kapitel sagten sie, dass sie darüber nichts zu sagen haben.“37 Bemerkenswert sind in unserem Zusammenhang solche Vorwegnahmen, Auslassungen und Querverweise nicht deshalb, weil sie relativ unmittelbar das jeweilige lokale, teilweise offenbar mündlich ausgehandelte Verständnis der Fragen dokumentieren, sondern vor allem, da sie eine der hauptsächlichen Leistungen des seriellen Einsatzes standardisierter Fragebögen blockieren, nämlich durch gleich strukturierte Antwort-Datensätze einen einfachen, verlässlichen Zugriff auf ein vorbestimmtes Thema zu ermöglichen. Der oberste Kosmograph und Chronist konnte keineswegs einfach auf die Angaben aus jeweils einem Kapitel aller Antworten zugreifen, um beispielsweise seine Beschreibung der Gewässer zu kompilieren; er war in der Regel gezwungen, die Beschreibung ganz zu lesen. Der Fragebogen produzierte in diesen Fällen also keine gleichartig strukturierten Datensätze. Er stellte jedoch gerade durch das intensive, teilweise redundante Ausformulieren der Themen relativ erfolgreich sicher, dass die gewünschten Aspekte überhaupt beantwortet wurden. Auf den geringen Standardisierungsgrad reagierte Pedro Fernández de Castro, Conde de Lemos, Indienratspräsident von 1603 bis 1609, in dem er einen Bericht aus dem heutigen Ecuador sekundär überarbeitete, um so eine Art Musterbericht zu produzieren, an dem sich nachfolgende Beschreibungen orientieren sollten. Dabei hoffte er zwar in erster Linie auf einen Lernerfolg bei den Beschreibern vor Ort, praktizierte aber durch seine Redaktionsarbeit zugleich ein alternatives Standardisierungsverfahren, dem größere Realisierungschancen zuzutrauen sind, nämlich die Applizierung des formalen Standards erst durch die Bearbeiter im Indienrat. Aus den thematisch
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Relación de Tepeapulco, ebd., Bd. 7: México, Bd. 2, S. 169-183. Relación de Tepeapulco, ebd., Bd. 7: México, Bd. 2, S. 177.
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vollständig, aber faktisch durcheinander argumentierenden ursprünglichen Berichten hätten so auch formal gleichartige Datensätze produziert werden können.38
4. Alternative Textverständnisse Die Antwortenden lassen sich also in vielfältiger Weise nicht auf die Rolle des bloß reaktiven Kommunikationspartners vor Ort reduzieren, der Frage für Frage seine Antwort liefert. Sie interpretieren, fügen hinzu oder lassen Aspekte aus. Ein ähnlicher Effekt lässt sich noch auf einer zweiten, das Gesamtformat der Antwort betreffenden Ebene, erkennen. Denn für einige Respondenten widersprach die Aufgabe, auf einen Fragebogen zu antworten, ganz offensichtlich ihrer grundsätzlichen Einstellung zum ‚Text’ und zur Funktion von schriftlicher Kommunikation. Insbesondere gelehrte Respondenten verstanden den Fragebogen keineswegs als mechanisch abzuarbeitendes Formular, sondern vielmehr als eine thematische Anregung, selbst eine Geschichte ihrer Region vorzulegen, die dann jedoch eher den Regeln des Genres der Historie und ihres Stils genügen musste und weniger den strengen Vorgaben der Fragenfolge. Entsprechend erläuterte beispielsweise der Bischof von Guadalajara dem Indienratspräsidenten seinen Umgang mit dem Fragebogen von 1604: […] wenngleich Seine Exzellenz verlangt, dass man gemäß der Fragen des Interrogatoriums antworte, was jeder Ort und jedes Dorf habe: wir haben es so begonnen und es als großes Hindernis empfunden. Das Hindernis bestand darin, diesen Bericht durch das Wiederholen der Fragen in jedem Dorf zu schwerfällig zu machen und die Beschreibung weitschweifiger zu gestalten als die Dekaden des Titus Livius. [...] Und daher erschien es mir sinnvoll, die Fragen nach ihrer Bedeutung zu kategorisieren und zu lösen, und von einem Genre zu einem anderen überzugehen, wodurch man auf alles, was das Interrogatorium enthält, antworten wird und die Lektüre des Kompendiums erträglich bleibt. Ich habe dafür gesorgt, dass die Berichte miteinander verkettet sind. Wenn etwas aus dem Interrogatorium einfach ausgelassen wird, so ist dies als Hinweis zu verstehen, dass es diese Sache an dem gerade behandelten Ort nicht gibt. Man erspart sich dadurch, vielmals zu wiederholen, dass das Gefragte nicht existiert [...].39
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Vgl. P. PONCE LEIVA (Hg.), Relaciones histórico-geográficas de la Audiencia de Quito. S. XVIXIX, Bd. 2: siglo XVII-XIX, Madrid 1992, S. 98-100. „Aunque V. Ex. manda que se responda por las preguntas del interrogatorio, lo que cada lugar, y pueblo tiene, y haviendolo comenzado a hacer ansi, dabamos en un gran inconveniente, que era hacer esta relacion demasiado pesada en repetir las pregunas en cada pueblo, y lugar, con que se hiciera esta descripcion mas prolija, que las Decadas de Tito Livio; […]: y anssi me parecio tomar por generos todas las preguntas, que simbolizan, y satisfacerlas, y pasar deste genero a otro, con lo qual se respondera a todo lo que el interrogatorio contiene, y sera tolerable la leienda deste compendio, procurando, que las relaciones vaian encadenadas, y sera advertencia, que todo aquello que no se satisficiere al interrogatorio, sera señal, que no la hai en aquel lugar, de quien se va tratando, con lo qual se ahorrara el repetir muchas veces, no hai lo que esta pregunta pide, sino con el no tratar della sera visto, que no hai aquel genero.“, Biblioteca Pública de Toledo, Ms. 99:
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Solche Überwindungen des starren Frageschemas aus teils pragmatischen, teils stilistischen Erwägungen wurden vor allem bei gelehrten Schreibern immer wieder praktiziert, wodurch jedoch nicht nur Variationen des Standards produziert wurden, sondern sich die Kommunikationssituation insgesamt veränderte. Die Schreiber in den amerikanischen Territorien stellten sich dabei tendenziell auf die Augenhöhe des Chronisten im Indienrat. Sie verstanden sich nicht als bloße Lieferanten einzelner Daten, sondern selbst als Historiker oder Gelehrte. Dies mag beim gerade zitierten Bischof von Guadalajara nicht verwundern, trat jedoch auch bei niedereren, kirchlichen Amtsträgern in Erscheinung. Die Antwort auf den Fragebogen von 1648 wurde beispielsweise im Falle Quitos vom dortigen Bischof dem Sekretär des Domkapitels, Diego Rodríguez Docampo übertragen. Interessant ist es, das Selbstverständnis dieses Autors zu betrachten.40 Wie sich herausstellt, arbeitete Rodríguez Docampo ohnehin seit Jahren an einem eigenen, längeren Geschichtswerk, und zwar in Reaktion auf eine ältere königliche Aufforderung, historische Beschreibungen vorzulegen, die leider nicht genauer spezifiziert wird.41 Er verstand seinen eigenen Beitrag zur Anfrage insofern auch gar nicht als ein ‚Ausfüllen’ des Fragebogens, sondern als einen thematischen Auszug aus seinen eigenen historiographischen Bemühungen, den er vorab zur Verfügung stellte. Einen von neun geplanten Bänden hatte er bereits abgeschlossen, umfangreiche Archivrecherchen waren vorausgegangen und seinen nach Madrid 1650 übersandten Auszug schloss er mit humanistischen Formeln der captatio benevolentiae. Die Arbeit habe sich verzögert, da keine Schreiber und keine finanziellen Hilfen verfügbar gewesen seien. Seine Majestät möge Fehler verzeihen und die vorgelegte Version autorisieren, damit sie die notwendige Gültigkeit erlange.42 Rodríguez Docampo dachte also keineswegs an eine stückweise Weiterverarbeitung seiner Angaben durch den obersten Kosmographen und Chronisten, sondern vielmehr selbst an eine, noch dazu königlich autorisierte, Publikation seines Werkes. Gil González Dávila, der zuständige Chronist im Indienrat, sollte schließlich zwar Angaben von Rodríguez Docampo und aus dem ebenfalls höchst elaborierten Bericht Vasco de Contreras y Valverdes aus Cuzco für seine Teatro eclesiástico de las Indias occidentales verwenden, er bezog sich dabei jedoch auf die Autoren der Berichte nur anonymi-
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Alonso de la Mota y Escobar: Descripción geográfica de los reinos de Galicia, Vizcaia y León, fol. 9r-10v. Anzeichen eines mehr oder weniger subtil zum Ausdruck gebrachten Überlegenheitsbewußtseins der Historiker vor Ort finden sich durchaus häufig, zumal die Schreiber vor Ort de facto über eine viel direktere und umfangreichere Kenntnis der lokalen Umstände, teilweise auch der indigenen Sprache verfügten und darüberhinaus originale Dokumente in den Archiven konsultieren oder Zeitzeugen befragen konnten. Instruktiv hierzu die bissigen Kommentare von Gonzalo Fernández de Oviedo, vgl. dazu A. GERBI, La naturaleza de las Indias Nuevas de Christóbal Colón a Gonzalo Fernández de Oviedo, Mexiko Stadt 1992, S. 279-282 u. S. 284f. P. PONCE LEIVA, Relaciones histórico-geográficas (wie Anm. 38), S. 208. Ebd., S. 212, S. 214 u. S. 322.
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sierend mit Bemerkungen wie: „in einem interessanten Bericht habe ich gelesen […]“.43 Die Tendenz, dem Fragebogen durch einen überbordenden Text zu begegnen, lässt sich jedoch nicht alleine auf gelehrten Ehrgeiz zurückführen, sondern auch auf ein alternatives Verständnis von der Funktion eines Textes. Einen exemplarischen Fall dafür stellt die Descripción de la ciudad y provincia de Tlaxcala des Diego Muñoz Camargo dar, auf die bereits Walter Mignolo hingewiesen hat. Ihr mestizischer Autor antwortete auf mehr als 300 Seiten auf den Fragebogen von 1577, zusätzlich sind 80 Bilder überliefert.44 Er vermengte eigene Erfahrungen aus mehr als 35 Jahren mit klassischen Zitaten und betrachtete sein Werk schließlich als so bedeutsam, dass er es nicht dem Postweg überantwortete, sondern persönlich nach Spanien reiste und es dort Philipp II. übergab.45 Obwohl also die Technik des Fragebogens eine sachlich knappe Reihe spezifischer Auskünfte einforderte, wurde sie in solchen Fällen als willkommene Gelegenheit verstanden, dem König eine persönlich verfasste Chronik oder Beschreibungen des jeweiligen Landstriches zuzueignen. Muñoz Camargo verstand seinen Text als eine ‚Gabe’, die er dem König erwies. Er musste, um einen maximalen Dienst an der Krone darzustellen, den durch den Fragebogen markierten Standard weit übertreffen, d.h. so viel wie möglich schreiben, das Werk stilistisch ausschmücken und in einer möglichst feierlichen Weise widmen und übergeben. Bemerkenswert ist nun vor allem die Reaktion der Krone, hatte doch der Autor nicht nur gegen den Standard des Fragebogens verstoßen, sondern auch gegen die Politik Philipps II., die Geschichtsschreibung über Amerika ganz dem obersten Kosmographen und Chronisten in Madrid zu übertragen. Aber Philipp II. akzeptierte das Werk nicht nur, er nahm es auch in seine Privatbibliothek auf.46 Der Indienrat und sein Chronist bekamen den Text auf diese Weise nie zu sehen, da er sich von der Herstellung, über den Transportweg bis hin zu seiner Einordnung in die Privatbibliothek des Königs erfolgreich dem Status der bloßen Antwort auf einen Fragebogen entzogen hatte.
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Dazu ausführlicher in: A. BRENDECKE, El cuestionario de 1648 y la redacción del ‚Teatro eclesiástico de las Indias Occidentales’ de Gil González Dávila, in: W. OESTERREICHER / R. FOLGER (Hgg.), Talleres de la memoria. Reivindicaciones y autoridad en la historiografía indiana de los siglos XVI y XVII (Pluralisierung & Autorität 5), Hamburg 2006, S. 99-121, S. 110f. W. D. MIGNOLO, El mandato y la ofrenda. La ‚Descripción de la provincia y ciudad de Tlaxcala’ de Diego Muñoz Camargo y las Relaciones de Indias, in: Nueva revista de filología hispánica 35/2 (1987), S. 451-484; D. MUÑOZ CAMARGO, Descripción de la ciudad y provincia de Tlaxcala de las Indias y del Mar Océano para el buen gobierno y ennoblecimiento dellas. Edición fac-símil del Manuscrito de Glasgow con un estudio preliminar de René Acuña, Mexiko Stadt 1981. L. REYES GARCÍA, Introducción, in: D. MUÑOZ CAMARGO, Historia de Tlaxcala (Ms. 210 de la Biblioteca Nacional de París). Paleografía, introducción, notas, apéndices e índices analítocos de Luis REYES GARCÍA, con la colaboración de Javier LIRA TOLEDO, Tlaxcala 1998, S. 5-61, hier S. 26. W. D. MIGNOLO, El mandato y la ofrenda (wie Anm. 44), S. 455.
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Diese Formen der Übererfüllung der gestellten Aufgabe durchbrachen also nicht nur de facto die Serialität und Gleichförmigkeit der Antworten, sie zielten vielmehr genau darauf ab, da die Autoren des Textes nur auf diese Weise ihre Absicht, der Krone einen außergewöhnlichen Dienst zu erweisen, verwirklichen konnten. Besonders deutlich wird die Asymmetrie zwischen der Absicht des Verfahrens und seinem Ergebnis schließlich am Beispiel des Berichts aus Cuzco. Sein Autor, der bereits genannte Vasco de Contreras y Valverde, hatte ebenfalls in Reaktion auf den Fragebogen von 1648 eine überlange historische und naturhistorische Abhandlung über Cuzco verfasst, deren besondere Gelehrsamkeit er durch die Integration längerer Textstücke aus bereits gedruckten Werken über Spanischamerika unter Beweis zu stellen versuchte. Damit freilich geriet eine weitere zentrale Leistung des Einsatzes von Fragebögen in Gefahr, nämlich das Abrufen empirischer Information aus der Ferne durch eine Instanz der Zentrale. Der Fragebogen von 1648 bat beispielsweise um Materialien und Beobachtungen der kolonialen kirchlichen Verwaltung, um so dem Chronisten in Madrid Material für das zu Schreibende kirchengeschichtliche Theatrum zur Verfügung zu stellen. Der Bericht aus Cuzco bestand jedoch letztlich zu zwei Dritteln aus einer Abschrift aus der 1601 in Madrid gedruckten Historia general de los hechos de los Castellanos en las islas y tierrafirme del Mar Océano Antonio de Herreras. Faktisch erhielt so der Indienrat aus Peru die Abschrift eines Druckes zugesandt, den sein eigener Chronist beinahe 50 Jahre zuvor veröffentlicht hatte. Selbst in den geographischen Angaben, die man mitlieferte, zeigt sich ein vergleichbarer Effekt: Um die geographische Lage Cuzcos zu bestimmen, zog der Beantworter des Fragebogens nicht etwa Instrumente zur Messung der Gestirnshöhen heran, sondern lieber die – übrigens widersprüchlichen – Angaben europäischer Druckschriften, nämlich von Antonio de Herrera und Giovanni Botero. Die Enttäuschung der amtlichen Leser in Madrid drückt sich deutlich in einer Marginalie aus, die man neben dem Botero-Zitat zur Geographie Cuzcos finden kann: „Schön, dass man in der Stadt selbst über ihre Polarhöhe zweifelt, wo es doch so einfach ist, sie durch Beobachtung zu ermitteln.“47
5. Zusammenfassung Die Betrachtung der Praxis zeigte, dass das standardisierte Abfragen durch die zugesendeten Fragelisten des Indienrates nur eingeschränkt funktionierte. Zwar bestimmte die Themenfolge ganz maßgeblich die Reihenfolge und das Themenspektrum der mündlichen Befragungssituation vor Ort, aber schon dabei luden die komplexen, teilweise redundanten Formulierungen der einzelnen Fragen dazu ein, in der jeweiligen Beantwortung eines Kapitels sachlich sich anschließende Phäno47
„Bueno es que en la mesma ciudad se dude de su altura Polar siendo tan facil el saberla por su observación“, vgl. Biblioteca de Palacio Real, Madrid, Ms. II/1280: Relación de la ciudad de Cuzco, de su fundación, Descripción y de todo lo demás perteneciente a lo Ecclesiástico dede el descubrimiento deste Reyno hasta el tiempo pressente, fol. 1v.
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mene mit aufzunehmen. Die sich so ergebende Flexibilität nimmt zwar einerseits auf die Vielfalt und Diversität der spezifischen Situationen vor Ort Rücksicht, wie es bei einer sehr engen Fokussierung auf einige wenige Parameter nicht gelungen wäre. Sie verhindert jedoch andererseits durch die sich daraus ergebenden Vorwegnahmen, Rückverweise und Auslassungen, dass die Antworten durch den Indienrat und den obersten Kosmographen und Chronisten tatsächlich seriell weiterverarbeitet hätten werden können. Gleichförmige Datensätze wären wohl nur durch das Einbeziehen weiterer Filter und Redaktionsstufen möglich geworden, wie es sich in dem Versuch des Conde de Lemos abzeichnete, einen eingetroffenen Bericht in einen Musterbericht umzuarbeiten.48 Man sieht hier besonders klar den Kontrast zwischen den spanischen Fragebögen und dem Formular im modernen Sinne, denn die formale Strenge moderner ‚Lückentextformulare’, aber auch von Schreibräume kategorisierenden Dokumenten wie zum Beispiel Tabellen, erübrigt in der Regel eine spätere Redaktion, indem sie alle Angaben exakt an ihren vorgesehen Platz zwingt und ein Schreiben außerhalb der Reihe, der Lücke oder zwischen den Zeilen und Spalten zu verunmöglichen sucht. Besonders bemerkenswert erscheint darüber hinaus, dass sich Abweichungen und Variationen des Standards nicht einfach als ‚defizitäres Erfüllen’ des Auftrags abtun lassen, etwa so, als hätte sich der bürokratische Geist nur noch nicht genügend gleichmäßig auf alle, auch die niedrigsten und weit entferntesten Amtsträger, verteilt. Es wurde vielmehr deutlich, dass alternative Textverständnisse gerade von gelehrten Respondenten, aber auch von solchen Untertanen, die ihren Text als Gabe und besonderen Diensterweis verstanden, gepflegt und kreativ zur Anwendung gebracht wurden. Man wird auch in Rücksicht auf solche Beobachtungen festhalten können, dass es zwar Bemühungen um schriftliche Standards gab, jedoch weder auf der Sender-, noch auf der Empfängerseite eine Mentalität der rigiden Einhaltung der entsprechenden Form festzustellen ist. Dies dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass Kommunikation zwischen Untertanen und dem Hof, der Peripherie und dem Zentrum, zu keinem Zeitpunkt reine Übermittlung von ‚Information’ darstellte, sondern zugleich auch immer Herrschafts-, Dienst- und Treueverhältnisse abbildete und stabilisierte und zumindest potenziell auch die Ökonomie aus Diensten und Gnadenerweisen mit zu betreiben hatte. Die Polyfunktionalität offizieller Kommunikation konnte weder durch den Versuch der Instruktionen, Amtleute und Untertanen auf bloße Beobachter zu reduzieren, noch durch die Sachlichkeit der Fragelisten, aufgelöst werden. Dies zeigt sich nicht zuletzt an den zeitgenössisch durchaus erfolgreichen Strategien, gerade durch das Missachten des Standards, d.h. durch den Wechsel in ein anderes Genre, dem Dokument und seinem Schreiber eine letztlich höhere Resonanz zu verleihen, als es durch die Einfügung in den Formstandard möglich gewe48
Ein noch komplexeres Verfahren, die ursprünglichen Berichte gestaffelt institutionelle Redaktionsstufen durchlaufen zu lassen, war in Juan de Ovandos Projekt einer kontinuierlichen Beschreibung Amerikas angelegt, das von Philipp II. durch Ordonanz vom 3. Juli 1573 erlassen wurde. Archivo General de Indias, Sevilla, Indiferente: 427, L. 29, fol. 5v-66v.
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sen wäre. Nur so, d.h. durch Abweichung, konnte man sich erfolgreich der beabsichtigten Serialität des Verfahrens und der damit verbundenen Anonymisierung des eigenen Falls als ‚Datensatz’ unter Datensätzen entziehen.
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DIE „POLICEY“ IM WIRTSHAUS. Frühneuzeitliche Soziabilität im Spannungsfeld herrschaftlicher Normsetzung und gesellschaftlicher Interaktionspraxen GERD SCHWERHOFF
1. Die frühneuzeitliche Normierungsoffensive der „guten Policey“ Standardisierungsvorgängen, mit denen die Norm sozusagen in Serie geht, kämen im Prozess der Produktion von Dauerhaftigkeit sozialer Gefüge eine zentrale Rolle zu, so Winfried MÜLLER in der Einleitung zu dieser Tagungs-Sektion.1 Wer sich in der Frühen Neuzeit für derartige Prozesse interessiert, sieht sich schnell auf jene Fülle von Polizeiordnungen verwiesen, die in der Epoche des entstehenden Staates für die Produktion und Verstetigung sozialer Ordnung standen.2 Der Begriff der „guten Policey“ begegnet – wahrscheinlich als Lehenswort aus der burgundischen Kanzleisprache – in Deutschland vereinzelt seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und entwickelte sich im 16. Jahrhundert zur gängigen Münze in der Rechts- und Verwaltungssprache.3 Der fast inflationären Verbreitung des Wortes entsprach eine sehr weitläufige Semantik. Erst seit dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 sollte sich allmählich ein moderner Sprachgebrauch durchsetzen, der den Polizeibegriff auf die Maßnahmen zur Erhaltung öffentlicher Sicherheit und Ordnung sowie zur Gefahrenabwehr einengte. In der Frühneuzeit dagegen rechnete man zum Polizeiwesen alles, was guter Zucht und Ordnung, Notdurft, Wohlstand, Bequemlichkeit und Nutzen des allgemeinen Lebens diente, wie Johann Jacob Moser 1773 schrieb. Unter dem Wort „Policey“ verstand Moser all jene „landesherrliche[n] Rechte und Pflichten […], welche die Absicht haben, der Unterthanen äusserliches 1
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Eine ausführlichere Fassung dieses Aufsatzes erschien unter dem Titel: Die Policey im Wirtshaus. Obrigkeitliche und gesellschaftliche Normen im öffentlichen Raum der Frühen Neuzeit. Das Beispiel der Reichsstadt Köln, in: C. HOCHMUTH / S. RAU (Hgg.), Machträume der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2006, S. 355-376. Allein für die Reichsstadt Kölner erfasst ein neu erschienenes Repertorium für die Frühe Neuzeit annähernd 9000 Ordnungen, vgl. K. HÄRTER / M. STOLLEIS (Hgg.), Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, Bd. 5: Reichsstädte/Bd. 2: Köln, hg. von K. MILITZER, 2 Teilbände, Frankfurt a.M. 2005. Dies und das Folgende nach F.-L. KNEMEYER, Art. „Polizei“, in: O. BRUNNER u.a. (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 875-897; jetzt grundlegend T. SIMON, „Gute Policey“. Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 2004; J. J. MOSER, Von der Landes-Hoheit in Policey-Sachen nach denen Reichs-Gesezen und dem ReichsHerkommen, Franckfurt/Leipzig 1773, Kap. 1, § 2.
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Betragen im gemeinen Leben in Ordnung zu bringen und zu erhalten, wie auch ihre zeitliche Glückseligkeit zu befördern“. Polizei bezeichnet so zuallererst den Zustand einer guten Ordnung nach Maßgabe des bonum commune, des gemeinen Besten. Konkreter meinte Polizei: Gesetze für das so bezeichnete Gemeinwesen, ebenso Mittel und Wege zur Herstellung und Durchsetzung des intendierten Zustandes. So weitläufig der Begriff, so vielfältig sind die Bestimmungen jener Polizeiordnungen, die zwischen dem späten 15. und dem 18. Jahrhundert massenhaft entstanden sind. Ob in Recht, Gesellschaft oder Ökonomie, kaum ein Lebensbereich blieb von der polizeilichen Regelungswut unberührt; charakteristisch für den frühmodernen Staat erscheint gerade der umfassende und alle Lebensbereiche ergreifende Geltungsanspruch seiner Gesetze zu sein. Es schien der Forschung deshalb lange Zeit überaus plausibel, die Polizeiordnungen im Kontext jener Sozialdisziplinierung zu verorten, die der Absolutismusforscher Gerhard OESTREICH als einen frühneuzeitlichen Fundamentalprozess dingfest gemacht hatte. Die Polizeiordnungen wurden hier gleichsam als normative Leitlinien des obrigkeitlichen Disziplinierungsprogramms verstanden.4 Bald aber erhoben sich kritische Stimmen gegen den etatistischen Zuschnitt des Konzeptes, gegen eine Hypostasierung des Disziplinierungsvorganges und damit auch gegen eine Überschätzung der Polizeiordnungen. Allzu umstandslos neigten die Befürworter des Konzeptes dazu, so die Kritiker, von der Norm auf die Wirklichkeit bzw. auf deren Umsetzung zu schließen. Das sei ebenso plausibel, als nähme man die Bestimmungen der heutigen Straßenverkehrsordnung als Beschreibung der tatsächlichen Zustände auf den Straßen. Entschieden betonten die Kritiker dagegen die Kluft zwischen Norm und Wirklichkeit. Der in den Polizeiordnungen zum Ausdruck kommende Regulierungswillen sei keineswegs ein hinreichender Beleg für die Realisierung des Programms. Dazu habe es dem entstehenden Staat bis weit ins 18. Jahrhundert hinein an einem entsprechenden Stab von Beamten gefehlt, die dem obrigkeitlichen Willen nachdrücklich genug Geltung verschaffen konnten. Vielmehr sei die soziale Wirklichkeit im Ancien Régime geprägt gewesen von einer Vielzahl intermediärer Gewalten und Akteure mit eigenen Interessen. Vielfach habe es den Untertanen am Willen gefehlt, den obrigkeitlichen Geboten nachzukommen. Weit davon entfernt, bloße Objekte staatlicher Repression zu sein, hätten sie Widerstandspotentiale entfaltet, die die Vertreter der Sozialdisziplinierungsthese stark unterschätzten. Das Geflecht traditioneller Werte und Erfahrungen habe als Gegenkraft zur obrigkeitlichen Disziplinierung gewirkt. Normative Kraft hätten weniger obrigkeitliche Satzungen entfaltet als lebensweltlich verankerte Vorstellungen von Ordnung, Zusammenleben und Konfliktlösung. 4
W. SCHULZE, Gerhard Oestreichs Begriff „Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit“, in: Zeitschrift für Historische Forschung 14 (1987), S. 265-302; vgl. zur neueren Diskussion z.B. die Beiträge in H. SCHILLING (Hg.), Institutionen, Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Disziplinierung im frühneuzeitlichen Europa/Institutions, Instruments and Agents of Social Control and Discipline in Early Modern Europe, Frankfurt a.M. 1999; K. KRÜGER, Policey zwischen Sozialregulierung und Sozialdisziplinierung, Reaktion und Aktion – Begriffsbildung durch Gerhard Oestreich 1972-1974, in: K. HÄRTER (Hg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 107-119.
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Nach dem Verdikt der Kritiker handelt es sich bei den Polizeiordnungen oft lediglich um Papiertiger, um Produkte eines bei allen Omnipotenzphantasien doch Lichtjahre von der Verwirklichung seiner Disziplinierungsideale entfernten Apparates, der mit dem Verordnungsausstoß nur mühsam seine Ohnmacht zu kaschieren verstand. Die ständige Wiederholung und Einschärfung der Ordnungen sei ein deutliches Indiz für ihre Wirkungslosigkeit.5 Das zeitgenössische Bonmot des Hallenser Philosophen Christian Thomasius aus dem Jahr 1717 bringt diese Haltung ironisch so auf den Punkt, „daß unsere Policey-Ordnungen“ von niemandem gehalten werden „als von den Kirchthüren […], daran sie wegen der publikation angeschlagen“ sind.6 Diese Kritik hat nun eine neue Generation von Polizei-Forschern aufgegriffen und konstruktiv gewendet. Ihrerseits bemängeln sie an den Kritikern die allzu simplifizierende Betonung der Norm-Praxis-Differenz als unproduktiven Manichäismus. Die zahlreichen Übertretungen der heutigen Straßenverkehrsordnung, so eine aktualisierende Zuspitzung der Gegenargumente, erweise diese Ordnung ja weder als überflüssig noch als für das praktische Verhalten irrelevant. Arbeiten wie diejenigen von Achim LANDWEHR oder André HOLENSTEIN betonen denn auch die enge Verzahnung der Polizeigesetze mit den Bedürfnissen der Gesellschaft, die „Umstände der Normen“ (HOLENSTEIN).7 Nicht allein obrigkeitliche Normierungs- und Disziplinierungsabsichten standen bei ihrer Entstehung Pate, sondern ein komplexes Geflecht sozialer Anforderungen und, oft genug, sehr konkrete Lobbyarbeit einzelner Stände oder Berufsgruppen. Was aus der Distanz wie die rituelle Wiederholung der immergleichen Bestimmungen aussieht, habe sich nach und nach als flexible und praxisbezogene Reaktion der Normgeber auf die Wirklichkeit entpuppt. Und was in der Vogelperspektive als Vollzugsdefizit erscheint, wird durch detaillierte Forschungen als Ergebnisse von Aushandlungsprozessen zwischen Obrigkeit und Untertanen erkennbar. Indem sich die Polizeiforschung damit aus dem Bannkreis des Disziplinierungsparadigmas gelöst hat, ist sie im Übrigen anschlussfähig geworden für vergleichende Machtanalysen. Im Anschluss an Theoretiker wie Michel FOUCAULT wird Macht als eine relationale Kategorie verstanden, als dynamisches Ensemble von Techniken und Kräfteverhältnissen. Macht stellt in diesem Sinne keinen Besitz dar, sondern manifestiert sich in den menschlichen Interaktions- und Kommunikationsprozessen.8 Obrigkeitliche Nor5 6 7
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Pointiert J. SCHLUMBOHM, Gesetze, die nicht durchgesetzt werden – ein Strukturmerkmal des frühmodernen Staates?, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 647-663. Zitiert nach M. WEBER, Die schlesischen Polizei- und Landesordnungen in der Frühen Neuzeit, Köln 1996, S. 153, Anm. 20. Stellvertretend für viele Titel A. LANDWEHR, „Normdurchsetzung“ in der Frühen Neuzeit? Kritik eines Begriffs, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000), S. 146-162; A. HOLENSTEIN, Die Umstände der Normen – die Normen der Umstände. Policeyordnungen im kommunikativen Handeln von Verwaltung und lokaler Gesellschaft im Ancien Régime, in: HÄRTER, Policey (wie Anm. 4), S. 1-46. Vgl. statt vieler Titel die Darstellung von M. MASET, Diskurs, Macht und Geschichte. Foucaults Analysetechniken und die historische Forschung, Frankfurt a.M. 2002, S. 57-63.
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mierung und Standardisierung kann her lediglich als ein Faktor im komplexen Kräftespiel der widerstreitenden gesellschaftlichen Akteure verstanden werden. Ein zentrales und in konzeptueller Hinsicht interessantes Regelungsfeld der frühneuzeitlichen Polizei bildeten nun die Orte kommerzieller Gastlichkeit. Wie in einem Brennglas bündelten sich dort die Ordnungsprobleme der Epoche. Tavernen und Gasthäuser standen im Ruf, der Inbegriff sozialer Unordnung und Unmoral, der Hort seelischer und körperlicher Gefahren zu sein; der Jesuit Ägidius Albertinus bezeichnete sie Anfang des 17. Jahrhunderts bündig als Schulen „aller irdischen und höllischen Laster“.9 Gleichsam ex negativo ist damit aber zugleich die Rolle des Wirtshauses als zentrale kommunikative Schnittstelle in der frühneuzeitlichen Stadt benannt. Seit dem Ausgang des Mittelalters lassen sich die verschiedenen Ausprägungen kommerzieller Gastlichkeit als öffentliche Orte charakterisieren, die für Menschen verschiedenster sozialer Herkunft, für Einheimische und für Fremde und häufig auch für Frauen ebenso wie für Männer zugänglich waren.10 Mit den vergleichbar niedrigen Zugangsschwellen korrespondierten die zahlreichen Funktionen, die das Wirtshaus übernahm: Neben den nahe liegenden Dienstleistungsfunktionen wie (vor allem) dem Ausschank alkoholischer Getränke und (gelegentlich) Essen, Übernachten und Zeitvertreib gehörten dazu seine Aufgaben als Bühne für Familien- und Nachbarschaftsfeiern; als Umschlagplatz für Informationen, seien es obrigkeitliche Mandate, Flugblätter und Zeitungen oder mündlich umlaufende Gerüchte; als Arbeitsmarkt ebenso wie als Markt der Meinungsbildung, Propaganda und Agitation.11 Seine große Zugänglichkeit und seine vielfältigen Funktionen machten den Mikroraum Wirtshaus zu einer zentralen Facette frühneuzeitlicher städtischer Öffentlichkeit – und damit zugleich zu einem instabilen und potentiell gefährlichen Ort. Dieser Ort taucht deshalb regelmäßig in den frühneuzeitlichen Polizeiordnungen auf. Waren Wirtshäuser „wilde“ Orte, die erst durch die herrschaftlichen Normen des entstehenden Staates mehr oder weniger erfolgreich zivilisiert bzw. 9
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Zitiert nach O. D. POTTHOFF / G. KOSSENHASCHEN, Kulturgeschichte der Deutschen Gaststätte, Berlin 1933, S. 306f.; vgl. auch S. RAU / G. SCHWERHOFF, Frühneuzeitliche GasthausGeschichte(n) zwischen stigmatisierenden Fremdzuschreibungen und fragmentierten Geltungserzählungen, in: G. MELVILLE / H. VORLÄNDER (Hgg.), Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln 2002, S. 181-201. Diese idealtypische Charakterisierung verkennt nicht die vielfältigen Zugangsbeschränkungen, die es in bestimmten Typen von Gasthäusern tatsächlich gab, etwa aufgrund sozialer oder berufsständischer Exklusivität (Geschlechtertrinkstuben) oder durch den immer stärkeren Ausschluss von Frauen im Verlauf der Frühen Neuzeit. Vgl. B. KÜMIN, Useful to have, but difficult to govern. Inns and Taverns in Early Modern Bern and Vaud, in: Journal of Early Modern History 3 (1999), S. 153-175; B. A. TLUSTY, Bacchus and Civic Order. The Culture of Drink in Early Modern Germany, Virginia 2001; B. KÜMIN / DIES. (Hgg.), The World of the Tavern, Aldershot 2002; G. HIRSCHFELDER, Alkoholkonsum am Beginn des Industriezeitalters (1700-1850), Bd. 1: Die Region Manchester, Köln 2003, Bd. 2: Die Region Aachen, Köln 2004; T. BRENNAN, Public Drinking and Popular Culture in EighteenthCentury Paris, Princeton 1988; R. MUCHEMBLED, L’invention de l’homme moderne. Cultures et sensibilités en France du XVe au XVIIIe siècle, Paris 1994, besonders S. 203-230.
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zumindest: im Zaum gehalten worden sind? Aufgrund der konzeptuellen Vorüberlegungen kann eine solche Hypothese kaum befriedigen. Es wird sich zeigen, dass neben den Polizeinormen weitere spezifische, Ordnung stiftende Verhaltensregeln an diesen Orten existierten. Erst wenn beide Ebenen, die herrschaftlichen Polizeinormen und die informellen sozialen Regeln, rekonstruiert sind, kann ihr Verhältnis zueinander näher bestimmt werden. Das exemplarische Untersuchungsfeld der folgenden Erkundung bildet die Reichstadt Köln in der Frühen Neuzeit, eine multipolare Handels- und Gewerbestadt mit ca. 40000 Einwohnern, die sich durch strikte Katholizität, ein kompliziertes System politischer Partizipation und nicht zuletzt durch ein reiches Spektrum an kommerzieller Gastlichkeit auszeichnete, das sowohl große Bierhäuser wie auch zahlreiche, von Kölner Bürgern im Nebengewerbe betriebene Weinschenken beinhaltete.12 Natürlich setzt das besondere Profil dieser (wie jeder anderen) frühneuzeitlichen Stadt ein Fragezeichen hinter die Verallgemeinerbarkeit von regionalen Befunden.13 Nicht in Bezug auf die Details, sondern in Bezug auf die Problemkonstellation beansprucht die folgende Skizze jedoch durchaus Geltung jenseits des Fallbeispiels.
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G. SCHWERHOFF, Öffentliche Räume und politische Kultur. Kultur in der frühneuzeitlichen Stadt: Eine Skizze am Beispiel der Reichsstadt Köln, in: R. SCHLÖGL (Hg.), Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2004, S. 113-136. Das tritt im Vergleich zu den anderen Städten, die im Teilprojekt S („Institutionelle Ordnungsarrangements öffentlicher Räume in der Frühen Neuzeit“) des Dresdner SFB 537 untersucht werden, deutlich zutage. Vgl. zu Görlitz K. LINDENAU, Brauen und herrschen: Die Görlitzer Braubürger als städtische Elite in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Leipzig 2008; zu Dresden C. HOCHMUTH, Die Macht des Messens. Über Maßsysteme als Machttechniken im Dresdner Brau- und Schankwesen des 18. Jahrhunderts, in: A. BRODOCZ / C. O. MAYER / R. PFEILSCHIFTER / B. WEBER (Hgg.), Institutionelle Macht. Genese – Verstetigung – Verlust, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 347-363; zu Lyon S. RAU, Eine Stadt im Bann des Weins. Weinkonsum und städtische Machtverhältnisse in Lyon (1300-1800), in: ebd., S. 455-471; DIES., Orte der Gastlichkeit – Orte der Kommunikation. Aspekte der Raumkonstitution von Herbergen in einer frühneuzeitlichen Stadt, in: R. DÜRR / G. SCHWERHOFF (Hgg.), Kirchen, Märkte und Tavernen. Erfahrungs- und Handlungsräume in der Frühen Neuzeit (= Zeitsprünge 9/3 und 4 [2005]), Frankfurt a.M. 2005, S. 394-417.
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2. Wirtshaus – Polizei: Eine Typologie obrigkeitlicher Normierungen Ein guter Teil der obrigkeitlichen Verordnungs- und Regelungstätigkeit des Kölner Rates betraf die beiden Getränke Wein und Bier sowie die Orte ihres Ausschanks.14 Nur durch eine Typisierung lässt sich ein grober Überblick gewinnen. Viele Normen betrafen erstens die Produktion dieser Getränke. Dabei ging es zum einen um die Qualitätskontrolle, indem etwa die Güte und die richtige Menge der Zutaten für das Brauen von Bier festgeschrieben wurden. So bestimmte ein Edikt vom November 1709, nach alten Gesetzen dürfte kein anderes Bier gebraut werden als „was von guten gemengten Früchten/ als Gersten/ Waitzen und Speltzen gemacht“, mit Hefe angesetzt und ohne Zusatz von „allerhand Ingredientzien“ gebraut werde.15 Zum anderen stand die Erhebung von Steuern und Abgaben im Mittelpunkt. Das galt insbesondere für den Wein, für den Köln ein Hauptumschlagplatz geworden war und der Anlass war „für die wichtigsten und ertragreichsten Akzisen“ der Stadt in Gestalt der Zapf- und der Einfuhrsteuer.16 Eine zweite Gruppe von Normen betraf die Distribution der Getränke und somit das Wirtshaus direkt. Kaum überschaubar ist die Flut von Kölnischen Verordnungen zum Wein. Komplizierte Einfuhrbestimmungen sollten sicherstellen, dass die Verbrauchssteuer (Akzise) korrekt erhoben wurde, die für die Stadtkasse lebenswichtig war. Zugleich sollte der Import verfälschter und gepanschter Weine verhindert werden.17 Als eine dritte Gruppe von Polizeinormen können Bestimmungen isoliert werden, die zur Sicherung der Exklusivität des Personenkreises zielten, der bestimmte Getränke herstellen und vor allem ausschenken durfte. In Köln waren seit dem Spätmittelalter der Weinzapf, der Hausverkauf von Wein an den Endverbraucher, ein bürgerliches, zeitweilig sogar patrizisches Vorrecht. Neben dem passiven Wahlrecht bildete der Weinzapf nach dem Sturz der Geschlechterherrschaft 1396 das einzige bürgerliche Privileg gegenüber den bloßen Eingesessenen. Die Weinzapfgerechtigkeit war mithin nicht nur ökonomisch lukrativ, sondern offenbar auch mit hohem Sozialprestige besetzt. Dementsprechend wurden illegale Weinzapfer 1668 von obrigkeitlicher Seite als „Verbrecher“ tituliert.18 Weniger sozial als berufsstän14 15 16 17 18
Statt vieler Titel sei hier lediglich verwiesen auf HÄRTER / STOLLEIS, Repertorium (wie Anm. 2), vgl. im Sachregister unter „Bier“, „Bewirtung/ Gaststätten“, „Wein“ usw. Ebd., Nr. 7805 (Historisches Archiv der Stadt Köln [= HAStK] Edikte 4, Nr. 130). Ebd., S. 46f. (Einleitung des Herausgebers). Ebd., Nr. 8861 oder Nr. 8917. Ebd., Nr. 5921 (HAStK Edikte 4, Nr. 19). Zur Exklusivität des Weinzapfs G. SCHWERHOFF, Apud Populum Potestas? Ratsherrschaft und korporative Partizipation im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Köln, in: K. SCHREINER / U. MEIER (Hgg.), Stadtregiment und Bürgerfreiheit. Handlungsspielräume in deutschen und italienischen Städten des Späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Göttingen 1994, S. 188-243, S. 201; vgl. z.B. den Neubürgereid aus dem 16. Jahrhundert
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disch exklusiv war die Braugerechtigkeit geregelt, indem sie an die Zugehörigkeit zur Brauerzunft gebunden war. Ein vierter Regelungskomplex betraf die Festlegung der zeitlichen Zugangsmöglichkeiten zu den Wirtshäusern. Die abendliche Sperrstunde lag im Winter eine Stunde früher als in der hellen Jahreszeit, wo die Wirte nach neun oder zehn Uhr nicht mehr zapfen durften.19 Diese sollten ihre Gäste rechtzeitig auf die bevorstehende Schließung aufmerksam machen, nach dieser Zeit keine Getränke mehr ausschenken und hatten bisweilen eine regelrechte Fürsorgepflicht für die sichere Heimkehr der Gäste. Mindestens ebenso große Sorgfalt verwandten die obrigkeitlichen Edikte auf die Schließung der Wirtshäuser während der sonn- und feiertäglichen Gottesdienste.20 Der Sicherheit und Kontrolle über die Sphären kommerzieller Gastlichkeit dienten ebenso wie die Sperrstunden fünftens die Bestimmungen der Fremdenpolizei; sie betrafen mit den Herbergen, die für die Übernachtung von Gästen eingerichtet waren, nur eine Minderheit von Wirtshäusern. Seit dem 16. Jahrhundert existierte die Auflage für die Kölner Wirte, jeden Abend eine Stunde nach Schließung der Stadttore einen Meldezettel mit den Namen der Gäste an das Rathaus zu liefern; 1744 forderte eine Verordnung detaillierte Angaben „über die Nahmen/ Vatterland/ den Betreib/ Gewerb/ fort die Zeit des jetz= und künfftigen Auffenthalts“.21 Gänzlich verboten wurde nicht selten die Beherbergung von Bettlern oder verdächtigen Personen. Bereits die Sperrstunden und die Fremdenpolizei betrafen direkt die Ordnung des öffentlichen Ortes Wirtshaus. Als einen sechsten, vergleichsweise diffusen Bereich polizeilicher Normen lassen sich schließlich die zahlreichen Ge- und Verbote über das rechte Verhalten im Wirtshaus benennen. Verboten wurden zeitweilig oder prinzipiell etwa das eingangs erwähnte Zutrinken, das Tanzen in den Wirtschaften (im katholischen Köln nur in der Fastenzeit22) oder das Spielen, jedenfalls das Glücksspiel um höhere Einsätze. Einen großen Raum nehmen naturgemäß Bestimmungen gegen jede Form von physischer oder verbaler Gewalt ein: Gotteslästerung und Fluchen, Injurien, Schmähworte, Messerzücken, Schlägereien oder gar Tötungen. Politische Disputationen, jedenfalls respektlose Reden gegen die
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bei J. DEETERS, Das Bürgerrecht der Reichsstadt Köln seit 1396, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 104 (1987), S. 1-83, hier S. 34f. J. SPELTHAN, Das Kölner Wirtsgewerbe bis zum Ende der reichsstädtischen Zeit, masch. Diss. Köln 1923, S. 100; allerdings variierten die Zeiten, gelegentlich findet sich auch zehn oder sogar elf Uhr. Vgl. z.B. HÄRTER / STOLLEIS, Repertorium (wie Anm. 2), Nr. 5485. Ebd., Nr. 8669 (HAStK Edikte 17, Nr. 92); vgl. ebd. Stichwort „Fremdenlisten“. A. KÜNTZEL, Die Überwachung von Fremden in Köln im 18. Jahrhundert. Normen und Wirklichkeit in einer freien Reichsstadt (= PoliceyWorkingPapers. Working Papers des Arbeitskreises Policey/Polizei im vormodernen Europa 9), 2005 [online: http://www.univie.ac.at/policey-ak/pwp/pwp_09.pdf]. HÄRTER / STOLLEIS, Repertorium (wie Anm. 2), Nr. 9620 zum 15. Februar 1790 (HAStK Edikte 17, Nr. 16).
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eigene oder auch auswärtige Obrigkeiten, wurden ebenfalls zu unterbinden versucht, ebenso Wahlpropaganda oder die Anwerbung von Soldaten.23 Die Auflistung der Normbereiche liest sich in der Übersicht imposant. Dabei ist allerdings kaum zu übersehen, dass bereits viele der zugrunde liegenden Ratsbeschlüsse auf Ordnungsdefizite reagieren. So weisen die Einschärfungen der Sperrstunde etwa auf ihre ständige Übertretung hin.24 Produktions- und Konsumverbote scheinen, soweit man es bislang beurteilen kann, wenig nachhaltigen Erfolg gebracht zu haben. Im Dezember 1687 gesteht der Rat z.B. selbst ein, das bisherige Verbot des Herstellens und Importierens von Branntwein habe wenig gefruchtet. Nun solle das Brennen in Zukunft erlaubt sein, wobei die Kessel registriert und die Produkte versteuert werden sollten.25 Dem Kampf gegen verbotene Biersorten, gegen das hochprozentige sogenannte Dollbier oder andere Kräuterbiere (Grutund Keutebier), blieb ein nachhaltiger Erfolg ebenso versagt wie dem Vorgehen gegen illegale Hecken- und Winkelschänken in der Stadt; Dollbierschänken jenseits der Stadtmauern lagen – trotz gelegentlicher wütender Proteste des Magistrats – ohnehin jenseits seines Zugriffsbereichs.26 Gerade auf dem Gebiet der Fremdenpolizei manifestierten sich regelmäßig die angesprochenen Defizite. Wie zahlreiche ähnlich lautende Bestimmungen legitimiert sich eine Beherbergungsordnung vom März 1635 aus der Tatsache, dass der alten Ordnung nicht nachgelebt und dass vielfach gegen sie verstoßen werde; deshalb erneuert sie durch öffentlichen Anschlag die Bestimmungen über tägliche Registrierungspflicht der Gäste gegenüber den städtischen Behörden.27 In dieser Sache führte der Kölner Rat allerdings offenbar geradezu einen Kampf gegen Windmühlenflügel. Selbst der Marquis de Torcy, Stadtkommandant während der französischen Einquartierung im Siebenjährigen Krieg, war kaum erfolgreicher. Seine ungehaltenen Befehle, mit denen er im Juni 1759 die Einhaltung der jahrhundertealten Bestimmungen zur Meldepflicht anmahnte, fanden kein nachhaltiges Echo. Immerhin sind gedruckte Meldebögen erhalten, eine verwaltungstechnische Innovation im eher rückständigen Köln – allerdings sind sie unausgefüllt.28 Die Wirte kultivierten weiterhin eine Haltung, die der Wirt „Im Hufeisen“ bereits 1591 gegenüber den Ratsmeistern lakonisch formuliert hatte: Auch die Nachbarn hielten 23
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Ein Schlaglicht auf die politischen Funktionen des Gasthauses wirft z.B. ein Kölner Mandat von 1712, das unlautere Wahlwerbung durch Wirte verbietet und diese mit einem Jahr Berufsverbot bedroht, ebd., Nr. 7900 (HAStK Edikte 4, Nr. 11). Vgl. ebd., Stichwort „Sperrstunde“, exemplarisch Nr. 6620. Ebd., Nr. 6722 (HAStK Edikte 1, Nr. 114). Im November 1692 sollen dann die Branntweinkessel wegen der „fast betrübten und thewren zeiten“ abgeschafft und die Einfuhr des gebrannten Wassers verboten werden, ebd., Nr. 7006 (HAStK Edikte 2, Nr. 124/2). Ebd., Nr. 7805 (HAStK Edikte 4, Nr. 130); ebd., Nr. 8890 (HAStK Edikte 2, Nr. 213). Ebd., Nr. 4865 (HAStK Edikte 18, Nr. 158). Ebd., Nr. 8983f. (HAStK Edikte 2, Nr. 234/1, Nr. 235, Nr. 236/1, 2). Vgl. generell W. HAMACHER, Die Reichsstadt Köln und der Siebenjährige Krieg, Diss. Phil. Bonn 1911, S. 2225.
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Herberge, und keiner liefere Meldezettel an die Obrigkeit, also täte er es auch nicht.29
3. Das Gelage: Eine interaction order des Wirtshauses Wechseln wir die Perspektive und versuchen einen Blick ins Innere des frühneuzeitlichen Kölner Gasthauses, ohne durch die obrigkeitliche Brille der Polizeiordnungen zu schauen.30 Besitzt dieser Ort eine eigene räumliche Signatur oder eigene Muster sozialer Ordnung? Im Vergleich zu anderen öffentlichen Räumen wie Kirche oder Rathaus erscheinen das typische räumliche Arrangement und die Möblierung außerordentlich karg. Zur Mindestausstattung einer Taverne gehörten lediglich ein Wirt und ein zum Ausschank bereites alkoholisches Getränk. In den Weinhäusern gab es außer vielleicht einem oder mehreren Holztischen und -bänken keinerlei weitere Einrichtung – vielfach wurde der Wein in mitgebrachte Gefäße gezapft und der Laufkundschaft „über die Straße“ mitgegeben. In großen Bierschenken gab es wohl mehrere Zimmer, darunter vielleicht eine Herrenstube für die bessere Gesellschaft. Zumindest am Ende der Frühen Neuzeit befand sich im Flur zudem das „Kontörchen“ oder die „Theke“, ein Kassentisch.31 In der Regel dürfte mit „Theke“ jedoch ein einfacherer Ladentisch bezeichnet worden sein. Er diente als eine Art Grenzmarkierung zwischen der Sphäre des Wirts und derjenigen der Gäste, wo der Wirt oder die Wirtin die Bestellungen der Laufkundschaft entgegennahm und das Geld einstrich, das er im übrigen auch dort lagerte.32 Ein Ort des Konsums war diese Theke ganz ausdrücklich nicht.33 Die geringe Zahl wirtshaustypischer Einrichtungsgegenstände verweist darauf, dass das Wirtshaus trotz seiner öffentlichen Funktionen und seiner Zugänglichkeit in manchen Aspekten ein Privathaus darstellte.34 Essen und Übernachtung wurde nur in einem schmalen Segment der kommerziellen Gastlichkeit im frühneuzeitlichen Köln bereitgestellt, nämlich in den größeren Gasthäusern und Herbergen. Die Ordnung des Wirtshauses wurde mithin nicht durch ausgefeilte räumliche Arrangements gesichert, nicht durch geschriebene Verhaltensregeln und nicht 29 30
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HAStK Verf. u. Verw. G 226, fol. 285bf. Vgl. ausführlicher zu diesem Abschnitt G. SCHWERHOFF, Das Gelage. Institutionelle Ordnungsarrangements und Machtkämpfe im frühneuzeitlichen Wirtshaus, in: G. MELVILLE (Hg.), Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 159-176. SPELTHAN, Kölner Wirtsgewerbe (wie Anm. 19), S. 54 bzw. S. 69f. 1608 versuchte ein junger Bettler vergeblich, mit einer Leimrute Geld aus der Theke zu stehlen; HAStK Verf. u. Verw. G 237, fol. 200af. HAStK Verf. u. Verw. G 225, fol. 122bf. B. A. TLUSTY, ‚Privat’ oder ‚öffentlich’? Das Wirtshaus in der deutschen Stadt des 16. und 17. Jahrhunderts, in: S. RAU / G. SCHWERHOFF (Hgg.), Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Norm und Struktur 21), Köln/Weimar/ Wien 2004, S. 53-73. In manchen Regionen war die Verwandlung eines privaten Hauses in ein Wirtshaus ohnehin nur zeitlich begrenzt, vgl. B. KRUG-RICHTER, Das Privathaus als Wirtshaus. Zur Öffentlichkeit des Hauses in Regionen mit Reihebraurecht, in: ebd., S. 99-117.
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durch einen großen Stab von Experten und Spezialisten. Allerdings stellte der gemeinsame Konsum von alkoholischen Getränken in der Frühen Neuzeit ebenso wenig wie heute eine anomische Situation dar, sondern wurde durch typische Regeln und Rituale strukturiert. Mit Eva BARLÖSISUS (die freilich eher das Essen als das Trinken thematisiert) kann die Tischgemeinschaft als eine „soziale Institution“ charakterisiert werden, die auf den reziproken Habitualisierungen und Standardisierungen der Handlungen der Beteiligten beruht;35 als Bausteine dieser sozialen Situation benennt sie etwa zeitliche und räumliche Arrangements (typische Essenszeiten, hierarchische Tischordnungen), Tischsitten, Regeln über Tischgespräche etc. Als Funktionen dieser Tischgemeinschaft rückt sie z.B. die Symbolisierung von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit oder Friedensstiftung in den Vordergrund.36 Diese Überlegungen bringen uns auf die Spur der interaction order (Erving GOFFMAN) des frühneuzeitlichen Wirtshauses. Freilich muss diese Ordnung noch zeitgemäß spezifiziert werden, denn die Überlegungen von BARLÖSIUS besitzen wohl in ihren Grundzügen universale Geltung. Mehr frühneuzeitliches Gepräge ergibt sich, wenn wir nach einem zeitgenössischen Begriff für den soziologischneutralen Terminus der Tischgemeinschaft fragen. Als Tisch- und spezieller noch als Trinkgemeinschaft erscheint in den Kölner Quellen das Gelage („Jelach“, „Jeläch“, „Geloch“), das auch eine menschliche Zusammenkunft, eine ‚Gesellschaft’, schlechthin bezeichnen kann (ebenso wie ‚Zeche’).37 Die ethymologische Herleitung ist nicht ganz klar: Manche Autoren wollen den Begriff als Verweis auf das gemeinsame Lager, das Niedersetzen oder -legen, verstehen; wahrscheinlich aber leitet sich der Begriff vom Zusammenlegen des Geldes zum Bezahlen der Wirtshauszeche – idealiter zu gleichen Teilen – ab. Jedenfalls handelt es sich nicht um einen blutleeren Terminus technicus, sondern um einen in Prosa und Dichtung ebenso wie im Alltagsleben affektiv hoch besetzten Leitbegriff mit einer markanten Doppelbedeutung: Gelage bezeichnete sowohl die Gesamtheit des gemeinschaftlich Verzehrten wie auch die Gemeinschaft selbst. Man saß „im Gelage“ zusammen bzw. gehörte zu einem bestimmten „Gelage“ (oder eben nicht) und man bezahlte das „Gelage“. Und auch der Kölner Rat sprach in seinen Verordnungen in politisch unruhigen Zeiten davon, verdächtige Zusammenkünfte, Conventicula und „Gelage“ sollten verhindert werden.38 35 36 37
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Dies nach P. L. BERGER / T. LUCKMANN, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 1982, S. 49-98, insbesondere S. 58. E. BARLÖSISUS, Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung, Weinheim/München 1999, S. 165-198. A. WREDE, Neuer kölnischer Sprachschatz, Bd. 1, Köln 1956, S. 281; Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 16 in 32 Bd.en, ND München 1999 (online-Ausgabe unter http://www.dwb.uni-trier.de/welcome.htm [zuletzt besucht am 2.3.2006]), cf. „gelag“ (Bd. 5, Sp. 2845-52); ebd., cf. „zeche“ (Bd. 31, Sp. 422-427). HÄRTER / STOLLEIS, Repertorium (wie Anm. 2), Nr. 6620 (HAStK Edikte 2, Nr. 106/2 zum Heiligabend 1686).
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Der Begriff war also keineswegs lediglich ein harmloser Bestandteil der Alltagsfolklore, auch wenn Kölns erster Stadtarchivar die vielen Gelage des Ancien Régime als Ausdruck der „Lebenslust“ und des „heiteren Charakters“ der Einwohner gewertet sehen wollte.39 Das Gelage war der semantische Kristallisationspunkt der Vergesellschaftung im Wirtshaus;40 zugleich bezeichnet er soziale Praxen von Inklusion und Exklusion, die das Leben in der Taverne strukturierten. Die Zugehörigkeit zu einem Gelage zeigte sich in der gemeinschaftlichen Bezahlung der Zeche oder doch jedenfalls in der Verständigung darüber, wer welche Anteile daran übernahm.41 Außerhalb eines Gelages konnte es im Kölner Wirtshaus kaum eine andere Form der Soziabilität geben. Alleine trinken war eher verpönt und ein Hinweis auf asoziales Verhalten. Auch das unstete Springen von einem Gelage zum anderen galt als sozial unehrenhaft, schon allein, weil es das Begleichen der Zeche unüberschaubar und konfliktträchtig machte. Ansonsten konnte sich ein Gelage durch den gemeinschaftlichen Besuch eines Wirtshauses durch eine Gruppe von Freunden, Nachbarn oder Berufskollegen konstitutieren oder aber nach und nach durch das Hinzukommen neuer Gäste gebildet und erweitert werden. So überbrückte das Gelage auch den Grat unterschiedlicher Berufszugehörigkeit oder divergenter Herkunft. Zumindest im 16. Jahrhundert konnten auch Frauen einem Gelage angehören, wobei es den Regeln der Ehrbarkeit entsprach, dass sie von ihrem Ehemann begleitet wurden.42 Die gemeinschaftliche Bezahlung der Zeche bildete den konstitutiven Kern des Gelages. Das musste jedoch nicht bedeuten, dass alle den gleichen Anteil bezahlten. Ebenso war es möglich, dass jeder reihum einen Anteil übernahm oder dass – aus welchem Anteil und mit welchem Motiv auch immer – jemand „ein Hälfgen Wein“ oder eine „Kanne Bier“ zum Besten gab, d. h. eine Runde ausgab. So zweigte der Kölner Gewaltrichter Johann Brackerfelder regelmäßig einen bestimmten Anteil der eingenommenen Bußgelder „zom gelaich“ ab, das dann wohl von den
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L. ENNEN, Geschichte der Stadt Köln, Bd. 3, Köln 1869, S. 913f., hier S. 915. Dabei sei nicht verkannt, dass das Gelage auch als Begriff für die Trinkgemeinschaft außerhalb des Wirtshauses gängig war. So wird etwa das Bruderschaftsessen der Marienbruderschaft von St. Jacob vom Kölner Ratsherren Herman von Weinsberg als „nachparlich fruntlich gelaich“ bezeichnet. Vgl. R. von MALLINCKRODT, Struktur und kollektiver Eigensinn. Kölner Laienbruderschaften im Zeitalter der Konfessionalisierung, Göttingen 2005, S. 18; SCHWERHOFF, Das Gelage (wie Anm. 30), S. 173. Der Begriff findet sich im Übrigen auch in Westfalen; vgl. G. GERSMANN, Orte der Kommunikation, Orte der Auseinandersetzung. Konfliktursachen und Konfliktverläufe in der frühneuzeitlichen Dorfgesellschaft, in: M. ERIKSSON / B. KRUG-RICHTER (Hgg.), Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (16.-19. Jahrhundert), Köln 2003, S. 249-268, hier S. 251. Die folgenden summarischen Darlegungen fußen vor allem auf dem Quellenmaterial der Kölner Turmbücher; vgl. für Einzelnachweise und Beispiele SCHWERHOFF, Das Gelage (wie Anm. 30), S. 165-173. Ebd., S. 166f.
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an der Bußgelderhebung Beteiligten gemeinschaftlich vertrunken wurde.43 Kehrseite der Symbolisierung sozialer Gleichheit und brüderlicher Freundlichkeit waren häufige Konflikte, die über die Bezahlung der Zeche in Wirtshäusern ausbrachen und in den Archiven der Kölner Justiz dokumentiert sind. Die Wirte, den obrigkeitlichen Auflagen gemäß zu Schiedsrichtern und Aufsehern des Treibens in ihren Häusern bestellt, wurden nur allzu häufig in derartige Konflikte hineingezogen. Es konnte einer schwierigen Kunst gleichkommen, die Zeche für konsumierte Getränke einzutreiben, über deren anteilige Begleichung innerhalb einer Gesellschaft Uneinigkeit herrschte. Streit konnte es natürlich auch über die Qualität und die Menge des Weines oder des Bieres geben. Das Einbehalten von Pfändern, Kleidungsstücken oder Waffen, war eine gängige Praxis der Wirte, um später nicht auf ihrer Rechnung sitzen zu bleiben.44 Räumlich wurde das Gelage allein durch das gemeinschaftliche Sitzen an einem Tisch oder in einer Runde konstitutiert; andere räumliche Markierungen oder Möblierungen scheinen nicht notwendig gewesen zu sein. Wichtiger als vorgegebene materielle Ordnungsarrangements, wie sie in modernen Wirtshäusern mit dem Tresen, mit Raumteilern oder mit Stammtischschildern bedeutender werden sollten, waren die interaktiven Rituale der Begrüßung, des Trinkens und des Abschieds. In den Quellen haben sie nur rudimentäre Spuren hinterlassen. Markant immerhin war das häufig verbotene Zutrinken, das darauf hindeutet, dass der gemeinsame Alkoholkonsum im Gelage keineswegs regellos erfolgte. Man trank gemeinsam, und das Erheben des Glases und das Zuprosten setzte die Gegenüber in Zugzwang, den Trinkgruß zu erwidern („Bescheid zu tun“) und mitzutrinken. Im Extremfall konnte diese Verhaltensweise zu einem regelrechten Wetttrinken ausarten, dem sich kein Mitglied unter Verletzung der Höflichkeitsnorm so ohne Weiteres entziehen konnte.45 Die interaction order des Wirtshauses konnte in diesen Fällen einen Faktor ausufernder Unordnung darstellen. Das Zutrinken steht am Schnittpunkt zweier nun typisierend gegeneinander stehender Ordnungsmodelle. Von den Polizeiordnungen als Normverstoß stigmatisiert, stellte es in der sozialen Praxis ein nicht nur legitimes, sondern bisweilen sogar gebotenes Verhalten dar. Wenn die Interaktionsordnung des Gelages damit diametral gegen die obrigkeitlichen Normen stand, so wies sie – bei aller Differenz in den Mitteln – durchaus eine Konvergenz zur „guten Policey“ auf: Sollte hier ein brüderliches Miteinander sinnfällig gemacht werden, so stellte dort der Frieden die älteste Leitvorstellung der politischen und polizeilichen Programmatik dar.46 Das Gelage als eine ad hoc für die begrenzte Zeit der Wirtshausgeselligkeit konstitutierte Gruppe sollte einen relativ geschützten Binnenraum von freundlich 43
G. ECKERTZ (Hg.), Tagebuch des kölnischen Ratsherren und Gewaltrichters Jan von Brackerfelder, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 6 (1859), S. 136-160, hier S. 141, ähnlich S. 158.
44
Vgl. SCHWERHOFF, Das Gelage (wie Anm. 30), S. 168.
45
Ebd., S. 171. SIMON, „Gute Policey”(wie Anm. 3), passim.
46
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und freundschaftlich miteinander umgehenden Personen bilden. Es handelte sich um ein gewohnheitsrechtlich verankertes System von Verhaltensregeln, die die Ordnung gemeinschaftlichen Trinkens sicherten. Sie waren in der Regel nicht schriftlich fixiert, ja noch nicht einmal allen Beteiligten bewusst, entfalteten aber dennoch außerordentlich hohe Normierungskraft. Diese Regeln waren in ihrer Substanz sehr starr und ritualisiert, in ihrer Applikation andererseits aber von hoher Flexibilität. Diese Flexibilität war geradezu inhärent, weil aufgrund der Fluidität des sozialen Mechanismus’ Gelage alle wichtigen Aspekte – etwa: Wer gehört dazu und wer nicht? Wer muss die Zeche begleichen? – immer wieder neu ausgehandelt werden mussten.
4. Komplementäre Ordnungskräfte „von oben“ und „unten“ Auf der einen Seite die obrigkeitliche Wirtshaus-Polizei, auf der anderen Seite die informelle interaction order des Gelages: Was für die Zwecke der idealtypischen Skizzierung zunächst getrennt dargestellt wurde, stand tatsächlich in einer engen Wechselwirkung. Viele der polizeilichen Wirtshaus-Normen in der Reichsstadt Köln waren sehr wohl gesellschaftlich eingebettet und konvergierten mit den Interessen und Deutungen zentraler Gruppen der städtischen Einwohnerschaft. Das betrifft etwa Regelungen zur Produktion und Distribution von Getränken. Insofern sie dem Gemeinwohl im Sinne von Steuereinnahmen oder dem Verbraucherschutz dienten, waren sie kaum kritisch. Wurden aus ordnungs- oder moralpolitischen Erwägungen heraus bestimmte Getränke völlig verboten oder wurde versucht, die soziale Exklusivität von Zapf- und Schankrechten zu sichern, dann kam es letztlich auf die Konstellation der sozialen Kräfte in der Stadt an: Konnten sich die privilegierten Gruppen durchsetzen oder erzeugte das Bedürfnis potentieller Konsumenten und das kommerzielle Interesse möglicher Anbieter einen Gegendruck, der den Rat zur Kompromissbereitschaft zwang? Letztlich war der Rat als Normgeber in diesen Fragen Moderator widerstreitender Meinungen und Interessen und keine souverän agierende, herrschende Obrigkeit. Die tatsächliche Konvergenz zwischen den Polizei-Normen und den informellen Regeln vor Ort kommt auch in den Adressaten der Ordnungen zum Ausdruck. Viele der obrigkeitlichen Verordnungen über das Wirtshaus richteten sich nicht oder jedenfalls nicht in erster Linie an die Gäste, sondern an die Wirte. Das betrifft nicht nur die Registrierung von Fremden oder die Frage der Bezahlung des Essens und der Speisen. Zusammen mit der Beachtung der Sperrstunde wurden die Wirte häufig verpflichtet, unzulässige Verhaltensweisen ihrer Gäste zu verhindern oder wenigstens unverzüglich anzuzeigen. So sah eine Morgensprache des 15. Jahrhunderts vor, Wirte mit einer Geldbuße zu belegen, die ihre Gäste nicht ermahnten, ihre Messer abzulegen. Und die 1604 erneuerte Gewaltrichterrolle fügte der Bestimmung über die Sperrstunde unmittelbar einen Passus an, nach dem die Bier-
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und Weinzapfer keine Würfelspieler in ihren Häusern dulden dürften.47 Angesichts der notorischen Schwäche der obrigkeitlichen Exekutivgewalt, die sich in Köln vielleicht noch ein wenig dramatischer gestaltete als anderswo, war der Einsatz von Wirten als ‚Hilfssheriffs’ eine logische Konsequenz.48 Zugleich aber lag damit ein beträchtlicher Teil der Definitionsmacht bei der Normenumsetzung in den Händen von Moderatoren, die obrigkeitlichen „Auftrag“ und die Interessen ihrer Konsumenten, von denen sie wirtschaftlich abhängig waren, beständig zu vermitteln suchen mussten. Auch für das hier im Mittelpunkt stehende Feld der Ordnung des Wirtshauslebens wird man die interne Ordnungsstiftung des Gelages nicht der polizeilichen Normsetzung entgegensetzen dürfen. Vielmehr könnte man sie als die Ordnungsleistung eines zentralen sozialen Raumes verstehen, die polizeiliche Normensetzung notwendig ergänzt. Selbst im engen und kommunikativ intensiv vernetzten Soziotop der Reichsstadt Köln gab es einen Bereich informeller Selbstorganisation, der einer obrigkeitlichen Regelung kaum zugänglich war. Der herrschaftlich formulierten Verordnung muss komplementär eine Ebene sozialer Regeln im Inneren zugeordnet sein. Konnte sich schon die Polizei nicht allein auf die bescheidenen obrigkeitlichen Erzwingungsstäbe beschränken, sondern musste alle Beteiligten einbeziehen, so ist dies für die informelle Ordnung des Gelages konstitutiv. Zudem belässt sie es nicht bei negativen Verboten, sondern beinhaltet positive Verhaltensnormen für alle Mitglieder. Als ein System gesellschaftlicher sozialer Kontrolle greift sie damit wesentlich tiefer als die obrigkeitlichen Bestimmungen.49 Die historische Beurteilung der Leistungsfähigkeit dieses Systems komplementärer Ordnungsfaktoren, die Bestimmung seines Erfolges und seiner Grenzen, ist schwierig. Ordnung ist stets prekär, ein transitorischer Zustand, der immer wieder aufs Neue hergestellt werden muss. Immerhin lässt sich im Kölner Kontext beobachten, dass die Gasthausgeselligkeit über Jahrhunderte hinweg, vom Spätmittelalter bis ans Ende des Ancien Régime, im Spannungsfeld dieser zwei Ordnungen überdauerte. Die institutionellen Kontinuitäten sind mithin beeindruckend und sprechen für einen „Erfolg“. Weniger positiv fällt die Bilanz aus, wenn wir die Vogelperspektive verlassen. Im Interesse einer möglichst großen Eindeutigkeit 47 48
49
HÄRTER / STOLLEIS, Repertorium (wie Anm. 2), Nr. 595; Nr. 3967. Vgl. bereits ebd., Nr. 454, oder in der Ratsverordnung über den „wijnzappe“ von 1475, ebd., Nr. 988. Vgl. zu Köln G. SCHWERHOFF, Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn 1991, S. 59-65 und HÄRTER / STOLLEIS, Repertorium (wie Anm. 2), Einleitung, S. 32; vgl. zur obrigkeitlichen Exekutivgewalt allgemein A. BENDLAGE, Henkers Hetzbruder? Das Strafverfolgungspersonal der Reichsstadt Nürnberg im 15. und 16. Jahrhundert, Konstanz 2003. Unter „sozialer Kontrolle“ fasse ich in Anlehnung an einen neueren Definitionsvorschlag von Martin Dinges jede Form sozialer Interaktion und Kommunikation, bei der Personen oder Gruppen abweichendes Verhalten definieren und darauf mit einer Maßnahme reagieren; M. DINGES, Justiznutzungen als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit, in: A. BLAUERT / G. SCHWERHOFF (Hgg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, Konstanz 2000, S. 503-544, hier S. 508f.
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wäre es z.B. möglich, eine erfolgreiche Ordnungsstiftung durch die Abwesenheit von Gewalt zu definieren. Die obrigkeitlichen Polizeinormen deklinieren schließlich das ganze Spektrum dessen durch, was als Elemente von Gewalt bzw. Gewaltförderung verstanden werden kann: Schmähworte, Flüche und Gotteslästerungen; Spiele als agonale, damit potentiell gewaltträchtige Wettkämpfe; kompetitives Wetttrinken; Waffen als Gewaltinstrumente; nächtliches Tumultieren als Vorform gewalthafter Performanz; und schließlich Gewalthandlungen selbst, insbesondere Verwundungen und Totschläge. Und auch das Gelage als brüderliche Tisch- und Trinkgemeinschaft zielt auf das genaue Gegenteil von feindseliger Gewalt. Legen wir diesen Maßstab an, so lässt sich konstatieren, dass das frühneuzeitliche Wirtshaus geradezu ein hervorstechender Hort der Gewalt war. Ca. jede fünfte Gewalttat im Köln des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts ereignete sich in einem Wein- oder Bierhaus; viele weitere nahmen von dort ihren Ausgang.50 Oft werden derartige Befunde mit der berauschenden und enthemmenden Rolle des konsumierten Alkohols erklärt. Sicherlich kam diesen Getränken die Rolle eines wichtigen Katalysators zu; doch mögen Bier, Wein und Branntwein zwar ‚gewaltfördernd’ gewirkt haben, generierten aber die Gewalt nicht ursächlich.51 Andere Erklärungen sind notwendig. Grundlegend wird man hier wiederum auf die Rolle der Wirtshäuser als polyfunktional genutzte öffentliche Orte, als kommunikative Brennpunkte der frühen Neuzeit verweisen können. Wo viel kommuniziert wurde und wo viele Personen zusammenkamen, dort häufen sich eben auch die Konflikte.52 Hier stoßen obrigkeitliche Normen des Gewaltverbotes ebenso wie die positiven Verhaltensregulative der brüderlichen Tischgemeinschaft im Gelage offenkundig auf Grenzen ihrer Wirksamkeit. Mehr noch: Das Gelage selbst besitzt einen wesentlich ambivalenteren Charakter als bisher dargestellt. Indem es unter den Imperativen der Formen öffentlicher Kommunikation stand, wie sie für die stratifizierte Gesellschaft des Ancien Régime eigentümlich war, konnte es in gewissen Situationen durchaus gewaltfördernd wirken. Als ein Kennzeichen der Epoche hat Rainer WALZ auf den Spuren von LUHMANN die „agonale Kommunikation“ benannt. Charakteristikum der Interaktionen unter Anwesenden sei ihre Zentrierung auf die Ehre („Achtungsmoral“). Ständig würden die Akteure die Handlungen und Äußerungen Anderer auf potentiell ehrmindernde Aspekte abtasten; es existierte 50 51
52
SCHWERHOFF, Köln im Kreuzverhör (wie Anm. 48), S. 296. Vgl. die abwägende Diskussion bei P. WETTMANN-JUNGBLUT, Gewalt und Gegen-Gewalt. Gewalthandeln, Alkoholkonsum und die Dynamik von Konflikten anhand eines Fallbeispiels aus dem frühneuzeitlichen Schwarzwald, in: ERIKSSON / KRUG-RICHTER, Streitkulturen (wie Anm. 40), S. 17-58. Auch Policeynormen gegen die Unordnung im Kaffeehaus verweisen auf die Grenzen der Alkohol-Erklärung, vgl. HÄRTER / STOLLEIS, Repertorium (wie Anm. 2), Nr. 7666 (HAStK Edikte 2, Nr. 145/3 zum Jahr 1706). So auch einige neuere Studien für die Schweiz, vgl. K. HÜRLIMANN, Soziale Beziehungen im Dorf. Aspekte dörflicher Soziabilität in den Landvogteien Greifensee und Kyburg um 1500, Zürich 2000, S. 249; K. SIMON-MUSCHEID, Die Dinge im Schnittpunkt sozialer Beziehungsnetze. Reden und Objekte im Alltag (Oberrhein, 14. bis 16. Jahrhundert), Göttingen 2004, S. 266-282.
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ein Zwang zur Reaktion, wollte man sein Gesicht nicht verlieren.53 Diese Interaktionslogik war bei den Aushandlungsprozessen im Kontext der Kölner Gelage stets grundlegend. Trotz oder gerade wegen der Suggestion von friedlicher und brüderlicher Gemeinschaft erwies sich die Ordnung der Trinkgemeinschaft stets als fragil. Sie beruhte auf der steten Rejustierung der sozialen Balance zwischen allen Beteiligten und auf einer genauen Beachtung der rituellen Praxis und war deshalb äußerst störanfällig. Dank der zahlreichen Konflikte sind wir über das Innenleben Kölner Gasthäuser aus den Turmbüchern eben auch gut informiert. Innerhalb eines Wirtshauses kam es z.B. häufig zu Konflikten zwischen den Angehörigen verschiedener Gelage, erst recht, wenn die Beteiligten verschiedenen Berufen angehörten oder verschiedener Herkunft waren. Die Herstellung eines friedlichen Binnenraums stand offenbar in Spannung zur erhöhten Abgrenzung nach außen. Streit entstand aber auch regelmäßig über nicht eingehaltene Versprechungen und Absprachen, was das Begleichen der Zeche anging. Konfliktträchtig war schließlich die Klärung der Frage, wer zu einem Gelage gehörte und wer nicht.54 Derartige Störungen konnten das Gelage aus dem Gleichgewicht bringen und zur verbalen oder physischen Konfrontation führen. Gewalt gehörte für den frühneuzeitlichen Mann im Rahmen der „agonalen Kommunikation“ zu den sozial tolerierten, akzeptierten und in gewissen Situationen sogar legitimen Verhaltensoptionen.55 Ebenso wie das zunächst einmal friedliche Gelage waren auch gewaltsame Handlungen von rituellen Elementen durchzogen. Selbst hier greift also eine gewisse interaction order, die Gewalt trägt keineswegs einen völlig anomischen Charakter. Wie man das Gelage als einen Versuch sozialer Kontrolle zur Gewaltvermeidung begreifen kann, so kann die Gewalt selbst auch als Medium sozialer Kontrolle interpretiert werden. Bestimmte Elemente der Wirtshausgeselligkeit trugen dabei deutlich agonale Züge und bargen somit den Keim der Konflikthaftigkeit und Gewalt gewissermaßen in sich, auch wenn dieses agon meist auf der spielerischen Ebene verbleibt und somit gebändigt und zivilisiert wird. Ein solches Element sind etwa Glücksspiele mit Würfeln oder Karten, die die Soziabilität des Gelages bekräftigen und zugleich deren Belastbarkeit im spielerischen Wettkampf ständig testen. Begleitet werden sie häufig von markigen Worten, rauhen Flüchen oder Schwüren.56 Ein anderes, viel53
54 55 56
R. WALZ, Agonale Kommunikation im Dorf der Frühen Neuzeit, in: Westfälische Forschungen 42 (1992), S. 215-251; R. SCHLÖGL, Vergesellschaftung unter Anwesenden. Zur kommunikativen Form des Politischen in der vormodernen Stadt, in: DERS. (Hg.), Interaktion und Herrschaft (wie Anm. 12), S. 9-60; für eine Zentrierung auf die Gewalt zuletzt G. SCHWERHOFF, Gewaltkriminalität im Wandel (14.-18. Jh.) – Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, in: C. OPITZ / u.a. (Hgg.), Kriminalisieren – Entkriminalisieren – Normalisieren/Criminaliser – décriminaliser – normaliser, Zürich 2006, S. 55 -72. SCHWERHOFF, Das Gelage (wie Anm. 30), S. 165. SCHWERHOFF, Gewaltkriminalität im Wandel (wie Anm. 53). G. SCHWERHOFF, Zungen wie Schwerter. Blasphemie in alteuropäischen Gesellschaften 12001650, Konstanz 2005, S. 266-278; TLUSTY, Bacchus (wie Anm. 11), S. 152-155.; HÜRLIMANN, Soziale Beziehungen (wie Anm. 52), S. 253-256.
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leicht das zentrale Element war das Ritual des Trinkens selbst. Es trug deutlich die Züge eines Wettkampfes, bei dem derjenige sich behauptete, der mithalten konnte, ohne einen alkoholbedingten Verlust über die eigene Körperkontrolle zu erleiden.57 Die sozialen Umgangsformen im Kontext des „Gelages“ stehen damit für ein grundlegendes, nur schwer aufzulösendes Spannungsverhältnis zwischen zwei Leitvorstellungen der Frühen Neuzeit: auf der einen Seite das friedliche und einträchtige Miteinander, auf der anderen Seite die persönliche Ehre, deren kämpferische Behauptung schnell auch gewaltsame Mittel wenn nicht legal, so doch legitim erscheinen ließ. Zugespitzt könnte man formulieren, dass die gesellschaftlichen Selbstregulierungskräfte im Wirtshaus in Bezug auf das Problem der Gewalt tendenziell versagten. Ihre Ordnungsleistung war nur begrenzt erfolgreich, weil sie den rituellen Machtkämpfen keinerlei eindeutige Grenzen zu setzen in der Lage waren. Wirft diese Feststellung ein anderes Licht auf die polizeilichen Ordnungsnormen? Die Durchschlagskraft dieser Normen und der sie exekutierenden Diener der Obrigkeit (inklusive der Wirte selbst) war begrenzt. Kurzfristig betrachtet, vermochten sie es keineswegs, heftige und blutige Streitigkeiten in den Tavernen zu unterdrücken. Allenfalls könnte man sie als eine Art von obrigkeitlichem Angebot verstehen, dass in jeder Konfliktsituation eine Alternative zur gewaltsamen Eskalation präsent war. Die externe Ordnungsmacht der Polizei hätte danach mit ihrer Autorität die Forderung nach friedlichem Miteinander gestärkt und zur Delegitimierung der ehrorientierten Gewaltdynamik beigetragen. Dass ein solches Angebot in einer machtpolitisch vielfach zerklüfteten Stadt wie Köln von herausragender Bedeutung gewesen sein könnte, erscheint als plausible Hypothese. Ob das zutrifft und inwieweit hier generell das Potential für einen historischen Wandlungsprozess weg von der Gewalt als legitimer Form der Soziabilität liegen könnte, wäre empirisch näher zu untersuchen.
57
Sehr schön gezeigt bei M. FRANK, Trunkene Männer und nüchterne Frauen. Zur Gefährdung von Geschlechterrollen durch Alkohol in der Frühen Neuzeit, in: M. DINGES (Hg.), Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 1998, S. 187-212, vor allem S. 195.
MACHT ALS DEUTUNGSMACHT. DAS BUNDESVERFASSUNGSGERICHT* HANS VORLÄNDER
1. Hat die Verfassungsgerichtsbarkeit Macht? Ungewöhnlich ist es, nach der Macht der Verfassungsgerichtsbarkeit zu fragen. Verfassungsgerichte, so die orthodoxe Auffassung, sagen das, was in der Verfassung steht, allenfalls legen sie die in der Verfassung enthaltenen Rechtsnormen aus. Auch ist es so, dass Verfassungsgerichte in der Regel nicht selbst tätig werden können, sie werden von Klägern oder Beschwerdeführern angerufen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sieht hierfür eine Reihe von Verfahren vor, von der individuellen Verfassungsbeschwerde über die abstrakte und konkrete Normenkontrolle bis zu verfassungsgerichtlichen Verfahren, Streitigkeiten zwischen dem Bund und den Ländern, aber auch zwischen den Ländern, zu entscheiden. Prima facie also kommt der Tätigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit zwar Bedeutung, aber kaum Macht im eigentlichen Sinne des Wortes zu. Dieser erste Eindruck wird durchaus von den Annahmen und Aussagen gedeckt, die sich in der Geschichte des politischen Denkens und in der Auseinandersetzung mit der Recht sprechenden Gewalt finden und die das Bild der Judikative bis auf den heutigen Tag geprägt haben. Da ist zum einen das berühmte Diktum von MONTESQUIEU, nach dem Richter nichts anderes als der „Mund des Gesetzes“ sind. Richter sagen, was in den Gesetzen steht, die Gesetze aber selbst werden vom Gesetzgeber, von der legislativen Macht, gegeben. Montesquieu geht indes noch einen Schritt weiter und bezeichnet die Macht der Judikative als „en quelque façon nulle“.1 Denn, so seine Überlegung, die Judikative besitzt auch keine ausführende Gewalt, ihre Judikate bedürfen, um durchgesetzt zu werden, des langen exekutiven Armes. Dieser Argumentation folgend, befand Alexander HAMILTON in den Federalist Papers apodiktisch, dass die Judikative nicht auf die Ressourcen von „Schwert“ und „Börse“ zurückgreifen könne,2 also, anders als Exekutive und Legislative, weder Zwangsgewalt anwenden noch mittels der Budgetgewalt Einfluss nehmen und Handeln verwehren könne. Eine Durchsetzungs- oder Verfügungs*
1 2
Leicht veränderte und erweiterte Fassung der beiden Aufsätze Macht und Ansehen des Bundesverfassungsgerichts, in: Annali dell’Instituto storico italo-germanico in Trento 31 (2005), Bologna 2006, S. 417-437 und Die Deutungsmacht des Bundesverfassungsgerichts, in: M. H. MÖLLERS / R. C. VAN OOYEN (Hgg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, Wiesbaden 2006, S. 189-200. MONTESQUIEU, De l’esprit des lois, in: DERS., Œuvres complètes, Paris 1964 [1748], S. 588f. (L.XI, ch VI). Federalist Paper Nr. 78, in: A. HAMILTON / J. MADISON / J. JAY, The Federalist Papers, hgg. von C. ROSSITER, New York 1961, S. 465.
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macht, eine Verteilungs- oder Verhinderungsmacht, wie sie exekutive oder legislative Gewalten besitzen, kann der Verfassungsgerichtsbarkeit folglich kaum zugesprochen werden. Und doch scheint der Verfassungsgerichtsbarkeit eine spezifische Macht zu Eigen zu sein, die zumindest Effekte erzeugt, die der exekutiven oder legislativen Verfügungs- oder Vetomacht nahe kommen.3
2. Ein Machtfaktor im politischen System Schon eine kurze episodische Geschichte des Bundesverfassungsgerichts lässt die „machtvolle“ Stellung des Bundesverfassungsgerichts in ihrer historischen Genese deutlich werden. Das Bundesverfassungsgericht, 1951 eingerichtet, erklärte sich in der so genannten Status-Denkschrift, die 1952 von Gerhard LEIBHOLZ verfasst, dann an die politischen Verfassungsorgane gerichtet und 1953 veröffentlicht worden war, selber zum „Verfassungsorgan“.4 Offensichtlich war es der Verfassungsgerichtsbarkeit wichtig, auf einer Stufe mit den anderen Gewalten zu stehen und zugleich die besondere Aufgabe, nämlich die Verfassung auszulegen und anzuwenden, im Status eines „Verfassungsorgans“ ausüben zu können. Erstaunlich war und bleibt, dass sich nur anfänglich schwacher politischer Protest erhob, der aber die „Selbstermächtigung“ des Bundesverfassungsgerichts zum Verfassungsorgan nicht in Frage stellte, sie hingegen im Zuge späterer Novellen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes und des Grundgesetzes ratifizieren sollte.5 War damit die Machtstellung einer „Institution ohne Tradition“6 behauptet und anerkannt worden, so konnte das Bundesverfassungsgericht auch früh, in dem berühmten „Lüth“-Urteil von 1958,7 nicht nur einen prägenden Einfluss auf die Ausgestaltung der Grundrechte im Verhältnis zwischen Bürger und Staat gewinnen, sondern zugleich auch seine Suprematie gegenüber der ordentlichen (Fach-)Gerichtsbarkeit dokumentieren. Anfang der 1960er Jahre scheiterte das Adenauersche Projekt eines regierungsnahen Fernsehsenders in Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht hatte festgestellt, dass die Rundfunkgesetzgebung Sache der Länder sei und dass damit dem 3
4
5 6 7
Hierzu und zum folgenden umfassend H. VORLÄNDER, Deutungsmacht – Die Macht der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: DERS. (Hg.), Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, Wiesbaden 2006, S. 9-34. Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts (27.6.1952). Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts. Gerichtet an Bundespräsident, Präsidenten von Bundestag und Bundesrat sowie Bundesregierung, veröffentlicht am 19.1.1953, in: Juristenzeitung 8/5 (1953), S. 157-158 (wiederabgedruckt in Journal des Öffentlichen Rechts, N.F. 6 [1957], S. 144-148). D. HERRMANN, Akte der Selbstautorisierung als Grundstock institutioneller Macht von Verfassungsgerichten, in: VORLÄNDER, Deutungsmacht (wie Anm. 3), S. 141-173; H. LAUFER, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß. Studien zum Bundesverfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1968, S. 254-334. Verankerung der Verfassungsbeschwerden im Grundgesetz. Neunzehntes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes, 29.1.1969 (Änderung der Art. 93 u. 94 GG). J. LIMBACH, Das Bundesverfassungsgericht, München 2001, S. 11, S. 14. BVerfGE 7, 198 – Lüth (15.1.1958).
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Bund die Kompetenz für die Gründung eines „Regierungsfernsehens“ fehlte. Obwohl Bundeskanzler Adenauer erklärt hatte, das Kabinett habe einstimmig beschlossen, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts sei „falsch“, konnte sich das Verfassungsgericht des Angriffs der Bundesexekutive erwehren, indem der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Gebhard Müller, festhielt, dass kein Verfassungsorgan befugt sei zu beschließen, ein Spruch des Bundesverfassungsgerichts entspreche nicht dem Verfassungsrecht.8 Das Bundesverfassungsgericht konnte seine Stellung behaupten, und das galt auch in der „Verfassungskrise“ der 1970er Jahre, als das Karlsruher Verfassungsgericht Reformprojekte der sozialliberalen Mehrheit des Deutschen Bundestages stoppte.9 Die Wehrdienstnovelle, die Reform des Abtreibungsparagrafen des Strafgesetzbuches, die Hochschulmitbestimmung, der Grundlagenvertrag – diese und andere Entscheidungen setzten das Bundesverfassungsgericht den Vorwürfen des „Obergesetzgebers“, der „Konterkapitäne von Karlsruhe“, der „Usurpation von evidenten Aufgaben des Gesetzgebers“ und der „Entmächtigung des Parlaments“ aus.10 Hier war es nicht der Konflikt mit der Exekutive, sondern der mit dem Gestaltungswillen des Bundesgesetzgebers, der die institutionelle Stellung des Bundesverfassungsgerichts herausforderte. Erst die Entscheidung zur Unternehmensmitbestimmung von 197911 befriedete das Verhältnis zwischen Politik und Bundesverfassungsgericht wieder. Rückblickend betrachtet, ging das Bundesverfassungsgericht als Sieger aus dem Machtkampf hervor.12 Dass das Bundesverfassungsgericht im Laufe seiner Geschichte eine überra8
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BVerfGE 12, 205 – Deutschland-Fernsehen (28.2.1961); Adenauer vor dem Bundestag, 8.3.1961, Bundestagsprotokolle, 3. Wahlperiode, S. 8308; Entgegnung Müllers vom 15.3.1961 bei LAUFER, Politischer Prozeß (wie Anm. 4), S. 473. BVerfGE 39, 1 – Schwangerschaftsabbruch I (25.02.1975), BVerfGE 35, 79 – Hochschul-Urteil (29.05.1973), BVerfGE 36, 1 – Grundlagenvertrag (31.07.1973), BVerfGE 40, 296 – Abgeordnetendiäten (05.11.1975), BVerfGE 44, 125 – Öffentlichkeitsarbeit (02.03.1977), BVerfGE 45, 1 – Haushaltsüberschreitung (25.05.1977), BVerfGE 44, 249 – Beamtenkinder (30.03.1977), BVerfGE 48, 127 – Wehrpflichtnovelle (13.04.1978). Vgl. dazu auch H.-J. VOGEL, Videant Judices! Zur aktuellen Kritik am Bundesverfassungsgericht, in: Die Öffentliche Verwaltung 31/18 (1978), S. 665-668 und H. VORLÄNDER, Verfassung und Konsens. Der Streit um die Verfassung in der Grundlagen- und Grundgesetz-Diskussion der Bundesrepublik Deutschland. Untersuchungen zu Konsensfunktion und Konsenschance der Verfassung der pluralistischen und sozialstaatlichen Demokratie, Berlin 1981. H. SCHUELER, Die Konterkapitäne von Karlsruhe. Wird Bonn von den Verfassungsrichtern regiert?, in: Die Zeit vom 24. 2. 1978, S. 9-11; R. LEICHT, Die Obergesetzgeber von Karlsruhe, in: Süddeutsche Zeitung vom 17. 4.1978, S. 4; K. ZWEIGERT, Einige rechtsvergleichende und kritische Bemerkungen zur Verfassungsgerichtsbarkeit, in: C. STARCK (Hg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Tübingen 1976, Bd. 1, S. 74; Ministerpräsident Holger Börner in einer Rede vor dem rechtspolitischen Kongress der SPD in Kassel 21.5.1978, wiedergegeben in der Aktuellen Stunde des Hessischen Landtages vom 31. 5. 1978, Sten. Protokolle des Hess. Landtags, 8. WP, 78. Sitzung, S. 4743. BVerfGE 50, 290. Nach der einstweiligen Anordnung zur Volkszählung (BVerfGE 64, 67 vom 13.04.1983) titelte der Spiegel, indem er zugleich den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Benda,
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gende Bedeutung in der politischen Auseinandersetzung gewonnen hatte, machten schließlich jene Entscheidungen in den 1990er Jahren deutlich, die auf ein sehr geteiltes Echo in der veröffentlichten und öffentlichen Meinung stießen. Der Erste Senat löste durch die Sitzblockadenentscheidung, die „Soldaten-sind-Mörder“Beschlüsse und durch den Kruzifix-Beschluss in weiten Bevölkerungskreisen erheblichen Unmut aus.13 Hier waren es also nicht Exekutive und Legislative, sondern große Teile der politischen Öffentlichkeit, die die bundesdeutsche Verfassungsgerichtsbarkeit kritisierten. Diese episodischen Beispiele zeigen, dass das Bundesverfassungsgericht ein Machtfaktor im politischen System geworden ist. Es ist nicht nur, wie die Verfassung es gebietet, Streitschlichter und Schiedsrichter im politischen Machtkampf,14 es ist auch zu einem politischen Akteur geworden. Es gestaltet, indirekt zwar nur, aber doch auch nachhaltig, ganze Politikbereiche mit: Steuerpolitik, Familienpolitik, Sozialpolitik, Rentenpolitik, Hochschulpolitik.15 Hier ist das Verfassungsgericht ein „policymaker“ und als solches in den politischen Machtkampf verstrickt. Damit wäre die herausragende Stellung der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit aber nur unzureichend umschrieben. Denn bedeutender noch ist die Rolle, die die Verfassungsgerichtsbarkeit für die konkrete Ausgestaltung, auch die verändernde Fortschreibung der Grundlagen politischer Ordnung, also die eigentliche „polity“, spielt.16 Zum einen übernimmt sie hier die Aufgabe eines Hüters der konstitutionellen Kompetenz- und Verfahrensordnung. Zum anderen bestimmt das deutsche Bundesverfassungsgericht ganz wesentlich über die Interpretation und Anwendung der Grund- und Bürgerrechte die Räume öffentlicher Freiheit und politischer Beteiligung, die Grenzen öffentlicher Macht und die Sphäre privater Freiheit der Bürger. In nicht wenigen Fällen hat das Bundesverfassungsgericht über Entscheidungen zur Meinungs- und Pressefreiheit, über die Urteile zur Stellung von Medien und Parteien und über die Rechtsprechung zu konfligierenden Grundrechtskonkretisierungen eine konstitutive Bedeutung für die Grundlagen der bundesdeutschen
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machtvoll ins Bild rückte: „Der Spruch von Karlsruhe: Bonn ausgezählt.“ Der Spiegel 37/16 (18.4.1983). BVerfG 1 BvR 1423/92 – „Soldaten sind Mörder“ (25.08.1994), BVerfGE 92, 1 – Sitzblockaden II (10.01.1995), BVerfGE 93, 1 – Kruzifix (16.05.1995), BVerfGE 93, 266 – „Soldaten sind Mörder“ II (10.10.1995). H.-P. SCHNEIDER, Richter oder Schlichter? Das Bundesverfassungsgericht als Integrationsfaktor, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 16 (16. April 1999), S. 9-19; R. LHOTTA, Vermitteln statt Richten: Das Bundesverfassungsgericht als judizieller Mediator und Agenda-Setter im LERVerfahren, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 12/3 (2002), S. 1073-1098. BVerfGE 93, 121 – Vermögensteuer (22.06.1995), BVerfGE 99, 216 – Familienlastenausgleich II (10.11.1998), BVerfGE 100, 1 – Rentenüberleitung I (28.04.1999), BVerfGE 106, 62 – Altenpflege (24.10.2002), BVerfGE 111, 226 – Juniorprofessur (27.07.2004). R. A. DAHL, Decision-Making in a Democracy: The Supreme Court as a National Policy-Maker, in: Journal of Public Law 6/2 (1957), S. 279-295; J. LIMBACH, Das Bundesverfassungsgericht als politischer Machtfaktor, in: DIES., Im Namen des Volkes, Stuttgart 1999, S. 127-147; R. LHOTTA, Das Bundesverfassungsgericht als politischer Akteur: Plädoyer für eine neo-institutionalistische Ergänzung der Forschung, in: Swiss Political Science Review 9/3 (2003), S. 142-153.
Macht als Deutungsmacht
201
Demokratie gewonnen.17 Gerade in diesen Bereichen manifestiert sich eine überragende, „machtvolle“ Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit, nicht zuletzt in einer Rolle, die ihre ehemalige Präsidentin, Jutta LIMBACH, als „Bürgergericht“18 charakterisierte. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts erklärt sich nur zu einem Teil aus den formalen Kompetenzen des Artikels 93 des Grundgesetzes. Entscheidend ist der herausgehobene institutionelle Rang, der auch den Unterschied zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und der ordentlichen Gerichtsbarkeit markiert. Beide interpretieren und wenden Rechtsnormen und Gesetze an, die Verfassungsgerichtsbarkeit aber ist, soweit Verfassungsfragen berührt sind, den obersten Fachgerichten vorgeordnet. Doch erschöpft sich darin der besondere institutionelle Charakter des Bundesverfassungsgerichts keineswegs. Hinzu kommt die Vorrangstellung gegenüber den politischen Institutionen. Im Konfliktfall gehen die Judikate des Bundesverfassungsgerichts vor, weshalb sich Exekutive und Legislative den höchstrichterlichen Entscheidungen fügen müssen. Nun ist damit aber keineswegs garantiert, dass sie dies auch tun. Denn wenn die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht über die notwendigen Sanktionsmittel verfügt, um ihre Entscheidung tatsächlich auch durchsetzen zu können, wäre es Exekutive und Legislative theoretisch unbenommen, die Entscheidungen und Urteile zu ignorieren oder, wie der bayerische Ministerpräsident feinsinnig die Kruzifix-Entscheidung kommentierte, „sie zu respektieren, aber inhaltlich nicht zu akzeptieren“.19 Hier stellt sich also die Machtfrage, und die Macht des Bundesverfassungsgerichts würde sich empirisch dann genau darin zeigen, dass die politischen wie auch die judikativen Institutionen den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts folgen und sich den Entscheidungen in ihrem faktischen Verhalten auch fügen. Da aber das Bundesverfassungsgericht keine unmittelbare Sanktionsfähigkeit mit der Befugnis besitzt, die Folgebereitschaft zu erzwingen, muss die Macht der Verfassungsgerichtsbarkeit letztlich auf anderen Voraussetzungen beruhen.
3. Was ist Deutungsmacht? Das Bundesverfassungsgericht deutet die Verfassung. Es verleiht den grundlegenden Ordnungsvorstellungen des politischen Gemeinwesens Ausdruck. Diese Deutungsvorstellungen sind in den Rechtsnormen der Verfassung kodiert. Sie bedürfen aber einer Ausdeutung und Anwendung im Konfliktfall. So kann eine jede Ent17
18
19
Vgl. dazu die seit den 1950er Jahren unregelmäßig erscheinenden Allensbacher Jahrbücher der Demoskopie, hgg. von E. NOELLE / R. KÖCHER sowie H. VORLÄNDER / G. SCHAAL, Integration durch Institutionenvertrauen? Das Bundesverfassungsgericht und die Akzeptanz seiner Rechtsprechung, in: H. VORLÄNDER (Hg.), Integration durch Verfassung, Wiesbaden 2002, S. 343-374. J. LIMBACH, Arbeit im Bundesverfassungsgericht, in: Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Architektur und Rechtsprechung, hg. vom Verein der Richter des Bundesverfassungsgerichts e.V., Basel/Boston/Berlin 2004, S. 61. Süddeutsche Zeitung, 9.9.1995.
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Hans Vorländer
scheidung des Verfassungsgerichts als Deutungsangebot verstanden werden, das, nicht zuletzt mittels der tragenden Entscheidungsgründe, um Anerkennung der Streitparteien und Befolgung durch Gesellschaft und Politik wirbt. Prinzipiell besteht eine institutionelle Konkurrenz von Verfassungsgerichtsbarkeit und den politischen Institutionen von Gesetzgebung und Exekutive um die Deutung der Verfassung. Im Wege der Gesetzgebung können Aufträge, die der Verfassungsgeber der einfachen Gesetzgebung auferlegt hat, eingelöst werden. Auch lassen sich Gesetzgebung und deren administrative Umsetzung als Ausgestaltung der in der Verfassung nur als Rahmen rechtlich normierten Ordnung verstehen, weshalb legislatives und exekutives Handeln immer konkretisierende Verfassungsinterpretation in praxi ist. Damit besitzen die politischen Institutionen einen Interpretationsvorsprung, der indes im Konfliktfall in den Interpretationsvorrang der Verfassungsgerichtsbarkeit mündet. Das Bundesverfassungsgericht ist von seiner Aufgabe und Funktion der autoritative, letzt verbindliche Interpret der Verfassung und stellt deshalb mit seinen Entscheidungen immer auch den Anspruch auf die Hoheit über die verbindliche Deutung.20 Wenn folglich das Deutungsangebot der Verfassungsrichter in einem konkreten Fall Zustimmung von den politischen Institutionen und der Öffentlichkeit erhält, dann kann von der Akzeptanz einer Entscheidung gesprochen werden. Über eine Folge von zustimmungsfähigen Entscheidungen baut sich so ein generalisiertes Vertrauen in die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit auf, das nicht mehr allein von der konkreten Spruchpraxis abhängig ist. Auf diese Weise etabliert sich verfassungsrichterliche Deutungsmacht, die, will sie wirksam bleiben, sowohl das Vermögen des Gerichts, im Einzelfall überzeugen zu können, wie auch den Glauben des Publikums, die verfassungsdeutende Institution sei legitim, voraussetzt. Bei dieser Deutungsmacht handelt es sich folglich um eine „weiche“ Form der Ausübung von Macht, die gleichwohl in der Lage ist, nachhaltig zu wirken. Sie ist eine Macht mit Veto-, Verhinderungs- und auch Konformitätse f f e k t e n . So kann die Drohung, „nach Karlsruhe zu gehen“, ausreichen, um verfassungswidriges Tun zu unterlassen oder verfassungsgemäßes Handeln zu initiieren. Die Deutungsmacht des Bundesverfassungsgerichts beruht damit vor allem auf der Autorität der Verfassungsgerichtsbarkeit als autoritativem Verfassungsinterpreten.21 Hat damit das Verfassungsgericht ein starkes Argument auf seiner Seite, nämlich „für“ die Verfassung zu sprechen, so ist doch die tatsächliche Deutungs20
21
Vgl. ausführlich zu diesen Zusammenhängen H. VORLÄNDER, Die Suprematie der Verfassung. Über das Spannungsverhältnis von Demokratie und Konstitutionalismus, in: W. LEIDHOLD (Hg.), Politik und Politeia. Formen und Probleme politischer Ordnung, Würzburg 2000, S. 373383 und H. VORLÄNDER, Der Interpret als Souverän. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts beruht auf einem Vertrauensvorschuß, der anderen Institutionen fehlt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.4.2001, S. 14. Vgl. hierzu H. VORLÄNDER, Gründung und Geltung. Die Konstitution der Ordnung und die Legitimität der Konstitution, in: G. MELVILLE / H. VORLÄNDER (Hgg.), Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 243-263.
Macht als Deutungsmacht
203
macht in vielen Hinsichten konditioniert. Zum einen ist die Deutungsmacht des Bundesverfassungsgerichts von der Wirkungsmächtigkeit der Verfassung selbst abhängig. So ist das Bundesverfassungsgericht immer darauf angewiesen, dass der von ihr gedeuteten Verfassung jener hohe symbolische Gehalt zugeschrieben wird, durch den sich die Deutung der Verfassung zu einem Akt von Macht, von Deutungsmacht, steigert. Erst wenn das Grundgesetz integrativ wirkt22 und ihm ein hohes Maß an Zustimmung entgegengebracht wird, transformiert sich die kommunikative Macht der gedeuteten Verfassung in die Deutungsmacht ihres Interpreten. Zum zweiten ist ja auch der Interpret der Verfassung immer darauf angewiesen, dass der Adressat der Interpretation seine Autorität anerkennt. Gerade weil die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht auf dem Mittel physischer Zwangsgewalt wie die Exekutive, auch nicht auf die Mittel monetärer Verteilungsgewalt wie die Legislative rekurrieren kann, muss der autoritative Status der verfassungsdeutenden Institution im Machtfeld konkurrierender Institutionen erst etabliert und dann stetig behauptet werden. Deshalb beruht die Anerkennung des Interpreten durch den Adressaten wie auch die Erzeugung von Deutungsmacht vor allem auf den institutionellen Praktiken zwischen Verfassungsgericht und den – im engeren Sinne – politischen Institutionen, zwischen Verfassungsgericht und ordentlicher Gerichtsbarkeit sowie zwischen Verfassungsgericht und Öffentlichkeit. Daraus folgt drittens, dass das Verfassungsgericht zwar nur sehr bedingt die Prozesse der Erzeugung eigener Deutungsmacht beeinflussen kann. Gleichwohl kann es jedoch jenseits des eigenen Vermögens, im einzelnen Entscheidungsfall überzeugen zu können und Akzeptanz zu finden, institutionelle Praktiken der Rechtsprechung und Strategien der Eigendarstellung und Selbstlegitimierung entwickeln, die ihr helfen, Deutungsmacht zu gewinnen und zu erhalten.
4. Wie die Deutungsmacht des Bundesverfassungsgerichts entstanden ist In empirischer Hinsicht liegt der Deutungsmacht und ihren Ressourcen ein komplexes Zusammenspiel von symbolisch-kommunikativen Voraussetzungen, instrumentellen Rahmenbedingungen und praktischen Auswirkungen zugrunde, das Anerkennung verfassungsgerichtlicher Autorität gewähren, aber auch verwehren kann. So musste auch das Bundesverfassungsgericht seine Deutungsmacht vor allem in den Beziehungen zu den gewählten Institutionen, der Legislative und Exekutive, aber auch zu den Institutionen der Recht sprechenden Gewalt und schließlich zur Öffentlichkeit etablieren und behaupten.23 Wie ein Paukenschlag musste es in der Frühphase der Bundesrepublik Deutschland gewertet werden, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner StatusDenkschrift die Gleichrangigkeit als Verfassungsorgan für sich reklamierte und 22 23
Vgl. H. VORLÄNDER, Integration durch Verfassung? Die symbolische Bedeutung der Verfassung im politischen Prozeß, in: DERS. (Hg.), Integration durch Verfassung, Wiesbaden 2002, S. 9-40. Vgl. hierzu die Beiträge in VORLÄNDER, Deutungsmacht (wie Anm. 3).
204
Hans Vorländer
dabei auf die Logik des Grundgesetzes, das den interpretativen Vorrang bereits enthielt, verweisen konnte. Die Machtprobe mit der Bundesregierung, vor allem mit Justizminister Dehler, konnte das Bundesverfassungsgericht für sich entscheiden, weil Bundestag und Bundesrat die Feststellung des Statusberichts akzeptierten. Auch konnte sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Etablierungsphase auf die Fachöffentlichkeit verlassen, die zum einen den Statusbericht positiv aufnahm, zum anderen eine Stärkung der Verfassungsgerichtsbarkeit befürwortete. Auch die Opposition im Bund hatte ein großes Interesse an einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit, sah sie doch in ihr ein Unterpfand für die verfassungsrechtliche Auseinandersetzung um die Wiederbewaffnung, genauso wie die Ministerpräsidenten der Länder, die im Bundesverfassungsgericht eine Gewähr gegen eine zu starke Zentralregierung sahen. Ende der 1950er Jahre schien der Status des Bundesverfassungsgerichts kaum noch ernsthaft bestritten zu werden.24 Das galt im Übrigen auch für das Verhältnis zu den Obersten Bundesgerichten. In der Einrichtungsphase des Bundesverfassungsgerichts war zunächst die Hierarchiefrage nicht geklärt, in Streitfällen, bei denen Fachgerichte Gesetze und Verordnungen wegen Zweifeln an ihrer Verfassungsmäßigkeit beim Bundesverfassungsgericht vorlegten, wurden vom jeweils zuständigen Bundesgericht Gutachten erstellt und diese Gutachten oftmals auch veröffentlicht. Dadurch war der Entscheidungsspielraum des Bundesverfassungsgerichts erheblich eingeengt. Zudem hatte sich das Bundesverfassungsgericht in jener Phase auch mit mehreren Bundesgerichten in einem inhaltlichen Dissens befunden. Auch hier wurde das Bundesverfassungsgericht „eigenmächtig“ tätig, indem der Erste Senat 1955 ein Ende der für die Gerichte „wesensfremden“ Gutachten beschloss. Der Protest der Präsidenten der Oberen Bundesgerichte lief leer, weil es dem Bundesverfassungsgericht gelang, den Bundesgesetzgeber für sein Anliegen zu gewinnen, woraufhin die Novelle des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes die Gutachten abschaffte. Die Autorität des Bundesverfassungsgerichts gegenüber den Recht sprechenden Instanzen war somit eindeutig institutionell und prozedural gestärkt worden. Nach dieser Etablierungsphase verfassungsgerichtlicher Deutungsmacht musste das Bundesverfassungsgericht seine Autorität in der öffentlichen Auseinandersetzung mit den anderen Gewalten zu behaupten suchen. Vor allem die 1970er Jahre sahen eine Reihe von politischen, auch institutionellen Konflikten im Zusammenhang mit der kritischen Verfassungsrechtsprechung gegenüber Legislative und Exekutive. Dabei wurde sehr wohl die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, vor allem ihre Interpretationsprärogative bestritten. Nicht selten fanden in dieser Konfliktphase Versuche der politischen Institutionen statt, das Bundesverfassungsgericht zu instrumentalisieren, indem, in diesen Zeiten starker politischer Polarisierung zwischen Parteien sowie zwischen Regierung und parlamentarischer Opposition, das Bundesverfassungsgericht angerufen wurde, um den politischen 24
LAUFER, Politischer Prozeß (wie Anm. 4), S. 254-334; U. WESEL, Der Gang nach Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht in der Geschichte der Bundesrepublik, München 2004, S. 76-82; HERRMANN, Selbstautorisierung (wie Anm. 4), S. 141-173.
Macht als Deutungsmacht
205
Gegner auf dem Feld des Verfassungsrechts eine Niederlage zuzufügen, die sich auf dem Feld der politischen oder gesellschaftlichen Auseinandersetzung nicht erreichen ließ. In dieser Periode fanden jene wechselseitigen Schuldzuweisungen der „Politisierung der Verfassungsjustiz“ und der „Verrechtlichung der Politik“ statt.25 Paradoxerweise aber, so zeigt die historische Bilanz, stärkte der Konflikt um die Judikatur die Deutungsmacht des Bundesverfassungsgerichts. Dies liegt vor allem darin begründet, dass zum einen gerade die politische Anrufung die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit verdeutlicht und zum anderen die Verfassungsgerichtsbarkeit sich selbst zum Schiedsrichter und Schlichter im politischen Konflikt zu inszenieren versteht. Aus dieser Konfliktphase der 1970er Jahre ging also das Bundesverfassungsgericht gestärkt hervor, weshalb in der Folge die Deutungsmacht nicht mehr prinzipiell in Frage gestellt wurde. Hinzu tritt, dass das Bundesverfassungsgericht selber im Laufe der Zeit eine institutionelle Praxis ausgebildet hat, die ihre Stellung als Interpret der Verfassung zu befestigen und Deutungsmacht zu beweisen vermochte. Dabei kommt es dem Bundesverfassungsgericht schließlich – wie allen starken Verfassungsgerichtsbarkeiten – zugute, als Repräsentant des ursprünglichen Verfassungsgebers wie auch als Sprecher der Verfassung auftreten zu können. Das Bundesverfassungsgericht „verkörpert“ die Verfassung, ihren Wandel und ihre fortdauernde Interpretationsnotwendigkeit. Insofern ist das Bundesverfassungsgericht wie eine jede Verfassungsgerichtsbarkeit das Scharnier zwischen der Ursprungsverfassung und der jeweilig geltenden Verfassung. Als autoritativer Interpret ist das Bundesverfassungsgericht die entscheidende Institution, die Verfassung auf Dauer zu halten. Allerdings läuft eine jede Verfassungsgerichtsbarkeit auch Gefahr, ihre Sonderstellung bei der Interpretation der Verfassung zu überziehen und in der Öffentlichkeit den Eindruck hervorzurufen, dass sie sich selbst an die Stelle der Verfassung setzt. Insofern ist hier die Bewahrung verfassungsgerichtlicher Deutungsmacht auch immer ein Balanceakt, die Differenz zwischen Ursprungsverfassung und Verfassungstext und die selbstständige verfassungsauslegende und verfassungsfortbildende Tätigkeit nicht allzu deutlich hervortreten zu lassen. Verfassungsgerichte, so auch das Bundesverfassungsgericht, disziplinieren sich selbst, nach innen hin versuchen sie, durch ihre Interpretationsmethoden, die Rechtsprechungskohärenz, die Herausstellung von Präjudizien und – daraus folgend, die Herausbildung einer institutionellen Eigengeschichte, die schriftlichen Begründungen anerkennungswürdig zu halten und die institutionelle Sonderdarstellung zu demonstrieren. Das Bundesverfassungsgericht ist auch bemüht, eine besondere Form der institutionellen Eigendarstellung zu pflegen. Wenn Entscheidungen „im Namen des Volkes“ ergehen, so versucht das Bundesverfassungsgericht immer deutlich zu machen, dass hier allein die Verfassung ausgelegt, also allein dem Willen des Verfassungsgebers oder des die Verfassung ändernden Gesetzgebers Rechnung getragen wird. 25
Vgl. hierzu VORLÄNDER, Verfassung und Konsens (wie Anm. 9); D. GRIMM, Verfassungsrechtlicher Konsens und politische Polarisierung in der Bundesrepublik Deutschland, in: P. HAUNGS (Hg.), Verfassung und politisches System, Stuttgart 1984, S. 35-42.
206
Hans Vorländer
Wenn „Karlsruhe gesprochen“ hat, dann entkleidet sich verfassungsrichterliche Entscheidungspraxis hier, wo sie zugleich hinter der Verfassung zurücktritt, der eigenen Körperlichkeit. Die Interpretation wird nicht schon am einzelnen Verfassungsrichter, sondern in entpersonalisierter, in entsubjektivierter Form verkündet. Das gilt nicht für alle Verfassungskulturen, in der legalistischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, die der Objektivitätsbehauptung das Recht zu folgen bereit ist, lebt auch das Bundesverfassungsgericht vom Charisma des Amtes, weniger, wie in den USA, vom personalen Charisma des einzelnen Verfassungsrichters.26 Der öffentlichen Zurückhaltung, die vom Verfassungsgericht und seinen Richtern erwartet wird, entspricht auch die Restriktion der Öffentlichkeit im und beim Bundesverfassungsgericht selbst. Erst seit kurzem darf beim deutschen Verfassungsgericht auch massenmedial durch das Fernsehen berichtet werden, aber nur dann, wenn eine Entscheidung des Verfassungsgerichts öffentlich verkündet wird. Der Zugang der Medienöffentlichkeit bleibt somit auf einen kleinen Kreis interessierter und zumeist sachkundiger Medienvertreter beschränkt. Zur weitergehenden Invisibilisierung gehört auch, dass das Bundesverfassungsgericht im Grundsatz keine Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Erst seit den öffentlichen Auseinandersetzungen um die so genannte Kruzifix-Entscheidung und die Entscheidung „Soldaten sind Mörder“ hat sich das Bundesverfassungsgericht zur Einstellung einer Pressesprecherin verstanden. Wird hier die Tätigkeit des interpretierenden Verfassungsrichters nur ausschnittweise sichtbar – für den Bürger spielt sie im Arkanum des Rechts –, so findet auf der anderen Seite eine demonstrativ sichtbare Inszenierung des kollektiven richterlichen Spruchkörpers statt. Die Rituale des Einzugs des Hohen Gerichts in den großen Saal des Bundesverfassungsgerichts, die Respektbezeugung von Parteien und Publikum, die Verkündungspose sind Mechanismen verfassungsgerichtlicher Selbstinszenierung, die die Autorität des Verfassungsgerichts und der von ihr autoritativ gedeuteten Verfassung sicht- und spürbar werden lassen. Von dieser Auratisierung der Rechtssphäre und ihrer fallweisen Verkörperung durch die in würdevoller Distanz zur Politik agierende, in roter Robe die Entscheidungen verkündende Richterschaft profitiert ganz ohne Frage die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit. Auf diese Weise inszeniert sich verfassungsrichterliche Deutungsmacht, die, will sie wirksam bleiben, den Glauben des Publikums, die verfassungsdeutende Institution spreche als Stellvertreterin der Verfassung, voraussetzt.
5. Das Vertrauen der Öffentlichkeit als Machtressource des Bundesverfassungsgerichts Für die Beziehung des Bundesverfassungsgerichts zur Öffentlichkeit stellt sich die Frage nach den Ressourcen der Deutungsmacht als Frage nach dem 26
H. VORLÄNDER, Hinter dem Schleier des Nichtpolitischen. Das unsichtbare Verfassungsgericht, in: G. MELVILLE (Hg.), Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 113-127.
207
Macht als Deutungsmacht
Institutionenvertrauen, das ihm entgegengebracht wird. Es lässt sich zeigen, dass das Bundesverfassungsgericht ein hohes generalisiertes Institutionenvertrauen genießt (Abb. 1), das momentane Erschütterungen und Akzeptanzverweigerungen bei Einzelentscheidungen zu absorbieren vermag. Konkrete Entscheidungen, ihre Akzeptanz oder ihre Ablehnung schlagen kaum auf das hohe generelle Vertrauen durch (Abb. 2).
Abbildung 1: Vertrauen in das BVerfG 1984-2004 80
69,87 70
64,9
60,29 60
Angaben in %
52,64
57,54
50
40
w
30
20
10
23,96
22,02
21,7
18,4
23,4 16,4
20,54 13,73
18,01
16,7
0 1984
1994
2000
eher kein bis überhaupt kein Vertrauen
Quelle: Allbus (1984-2002), eigene Umfrage/Ipsos (2004)
teils, teils
2002
2004
eher großes bis sehr großes Vertrauen
208
Hans Vorländer
Abbildung 2: Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht / Konfliktive Entscheidungen Hochkonfliktive Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 19741999
in %, fehlende Prozent zu 100: k.A. oder weiß nicht
60
56 50
50
52
51
47
53
51
50
47 42
42
42 40
40
37 34
33 30
28
28
32
29
31
31
33 30
20
16 13
13 10
9
8
9
9
11 7
7
7
8
19 74 19 75 19 76 19 77 19 78 19 80 19 83 19 85 19 88 19 94 19 95 19 99
0
1975: Schwangerschaftsabbruch I, Radikalenbeschluss 1977: Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung, Numerus Clausus 1978: Wehrpflichtnovelle 1979: Mitbestimmung 1981: Privater Hörfunk 1983: Volkszählung 1984: Atomwaffenstationierung 1985: Brokdorf 1986: Sitzblockaden I 1987: 5. Rundfunkentscheidung 1991: Enteignungen in der SBZ 1993: Schwangerschaftsabbruch II, Maastricht 1994: "Soldaten sind Mörder" 1995: Kruzifix, Sitzblockaden II 1996: Drittstaatenregelung 1997: Überhangmandate 1998: Familienlastenausgleich 1999: Finanzausgleich
gute Meinung
teils, teils
schlechte Meinung
Quelle: Institut für Demoskopie, Allensbach; eigene Zusammenstellung
Nun zeigt die bisherige Praxis, dass nicht alle Entscheidungen zu Konflikten führen; genau genommen handelt es sich nur um eine kleine Minderheit. Darüber hinaus werden keineswegs alle Entscheidungen, gerade einmal die Hälfte, überhaupt in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Wie umstritten eine Entscheidung ist, liegt keineswegs an der Entscheidungsmaterie selbst, sondern hängt von der öffentlichen Debatte ab, vor allem von der Berichterstattung der Massenmedien. Dabei lassen sich verschiedene Gattungen umstrittener Entscheidungen identifizieren.27 Eine Tendenz zur Konflikthaftigkeit scheinen jene Entscheidungen zu besitzen, die eine soziomoralische Konfliktlinie berühren. Bei solchen Entscheidungsmaterien kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie auf unbestrittene Akzeptanz stoßen. Beispiele sind hier die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch oder der Kruzifix-Beschluss. Sie zeigen zugleich die Grenzen der Interpretationsmacht der Bundesverfassungsrichter auf. Trifft – wie in der Kruzifix-Entscheidung – das Verfassungsgericht die soziokulturelle, religiöse Vorstellungswelt des – bayerischen 27
VORLÄNDER, Der Interpret als Souverän (wie Anm. 20); VORLÄNDER / SCHAAL, Integration durch Institutionenvertrauen? (wie Anm. 17).
Macht als Deutungsmacht
209
– Adressaten nicht, läuft das Interpretationsangebot leer. Die Akzeptanz eines verfassungsrichterlichen Deutungsangebotes ist also in pluralistischen Gesellschaften nicht von selbst gegeben, weshalb prinzipiell ein Spannungsverhältnis zwischen der autoritativen Deutungsmacht des Bundesverfassungsgerichts und der gesellschaftlichen Akzeptanz konkreter Entscheidungen besteht. Ähnliches scheint für Entscheidungen zu gelten, die in ein parteipolitisch polarisiertes Umfeld fallen. Konflikte sind immer dort vorgezeichnet, wo sich gesellschaftliche und politische Lager um brisante politische Themen gebildet haben, wo eine im parlamentarischen Gesetzgebungsprozess unterlegene Gruppe das Bundesverfassungsgericht anruft. Die Auseinandersetzung um die Reformgesetze der sozialliberalen Regierungskoalition in den 70er Jahren, von der Ostpolitik über die Gesellschafts- und Bildungspolitik bis hin zur Wehrpolitik, haben dies deutlich gezeigt. In beiden Kontexten, dem soziomoralischen und dem parteipolitisch polarisierten Umfeld, kann die Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts keineswegs befriedend oder streitschlichtend, sondern sehr wohl auch konfliktverlängernd wirken. Von einem eher niedrigen Grad der Konflikthaftigkeit sind solche Entscheidungen, die im „technischen“ Bereich des Staatsorganisationsrechtes anzusiedeln sind. Von hoher Aufmerksamkeit und öffentlicher Wahrnehmung begleitet, jedoch von ebenfalls niedriger Konflikthaftigkeit sind Entscheidungen, die das Verfassungsgericht als Anwalt des Bürgers, zum Teil auch gegen das politische System und seiner Akteure, auszeichnen. Zum Beispiel ist hier die Entscheidung zur Volkszählung zu nennen, die ein Gesetz, das mit fast einstimmiger Mehrheit des Deutschen Bundestages verabschiedet worden war, im Interesse der vom Datenschutz gebotenen „informationellen Selbstbestimmung“ des Bürgers für verfassungswidrig erklärte. Ähnlich verhält es sich dort, wo das Bundesverfassungsgericht zum Ausfallbürgen für die Politik wird und der Untätigkeit der Legislative durch eigene Entscheidungen abhilft, wie es im Familien- und Steuerrecht geschehen ist.
210
Hans Vorländer
Abbildung 3: Institutionenvertrauen Wie sehr vertrauen Sie der jeweiligen Institution? 1
2
Vertrauen
3
4
5
Polizei
4,95
Bundesverfassungsgericht
4,94
4,52
Justiz
Institution
7
4,7
Bundesprsident
4,07
Fernsehen Zeitung
4,07 3,95
Bundesrat
3,93
staatliche Verwaltung
3,76
Verbnde und Interessengruppen
3,7
Bundestag 3,4
Bundesregierung Parteien
6
2,97
Skala von 1 = „ganz und gar kein Vertrauen“ bis 7 = „volles Vertrauen“ Quelle: Eigene Untersuchung/Ipsos (2004)
Das hohe generalisierte Institutionenvertrauen zeigt sich demnach als eine Machtressource, die bislang nicht nachhaltig durch Konflikte um einzelne Entscheidungen des Gerichts beschädigt oder verbraucht worden ist. Im Gegenteil: von den maßgeblichen Verfassungsorganen der grundgesetzlichen Ordnung genießt das Verfassungsgericht, in Ost- wie Westdeutschland, einen Vertrauensvorsprung vor den anderen, im engeren Sinne politischen Institutionen wie der Gesetzgebung, der Exekutive oder den politischen Parteien (Abb. 3).28 Fast 65% der Befragten haben eher großes bis volles Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht (Abb. 4: Werte 5 bis 7), nur 18,4% der Befragten vertrauen dem Bundesverfassungsgericht eher nicht bis überhaupt nicht (Abb. 4: Werte 1 bis 3). Vergleicht man diese Daten aus 28
Eigene Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage zu Vertrauen, Performanz, Responsivität und symbolischer Selbstdarstellung von Bundestag und Bundesverfassungsgericht, im Auftrag des Dresdner Sonderforschungsbereichs 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ konzipiert im Rahmen der Projekte I (Prof. Dr. Hans VORLÄNDER/Dr. André BRODOCZ) und K (Prof. Dr. Werner J. PATZELT/Sabine FRIEDEL, M.A.) und durchgeführt von der IPSOS GmbH Mölln, Okt./Nov. 2004. Die Interviews wurden als computerunterstützte persönliche Befragung in der Zeit vom 19.10.2004 bis 12.11.2004 durchgeführt. Die Dauer der Interviews betrug durchschnittlich 44:09 Minuten. Die Grundgesamtheit für diese Untersuchung waren alle deutschsprachigen Personen ab 18 Jahren, die in Privathaushalten in der Bundesrepublik Deutschland leben. Insgesamt wurden 1835 Personen befragt. Zu den Ergebnissen und ihrer Deutung vgl. ausführlich H. VORLÄNDER / A. BRODOCZ, Das Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage, in: VORLÄNDER, Deutungsmacht (wie Anm. 3), S. 259-296.
211
Macht als Deutungsmacht
dem Jahre 2004 mit denen des Allbus (Abb. 1) aus den Jahren 1984, 1994, 2000 und 2002, dann ist zwar das Vertrauensniveau heute nicht mehr so hoch wie 1984, doch bestätigen die aktuellen Daten eine aufsteigende Tendenz seit dem Tiefpunkt 1994. Es kann mithin festgehalten werden, dass das Bundesverfassungsgericht ein sehr hohes generalisiertes Vertrauen in der Bevölkerung genießt und dieses die entscheidende, den Mangel an Zwangsgewalt kompensierende Machtressource der Verfassungsgerichtsbarkeit darstellt.
Abbildung 4: Vertrauen in das BVerfG volles Vertrauen
15,45 28,01
6 21,35
5 16,70
4 10,63
3 4,93
2 ganz und gar kein Vertrauen
2,92 0
5
10
15
20
25
30
Quelle: eigene Umfrage
Das zeigt sich insbesondere dann, wenn der institutionelle Charakter das Bundesverfassungsgericht im Kontrast zu einer im engeren Sinne politischen Institution, dem deutschen Bundestag als dem demokratischen Gesetzgeber, profiliert wird. Hierzu kann auf die Ergebnisse der empirischen Umfrage zurückgegriffen werden, in der unter anderem nach mit den beiden Institutionen identifizierten Leitideen gefragt wurde.29 Nach Meinung der Mehrheit der Befragten ist es für das Bundesverfassungsgericht in erster Linie von Relevanz, dass es Gesetze überprüft, für Gerechtigkeit sorgt sowie die Ziele und Werte des Grundgesetzes verwirklicht (vgl. Tab. 1).30 Die 29 30
Vgl. hierzu VORLÄNDER / BRODOCZ, Vertrauen (wie Anm. 28). Den Befragten wurden 15 mehr oder weniger plausible Leitideen vorgelegt. Im ersten Schritt legten sie zunächst die heraus, von denen sie schon mal gehört hatten, dass das Bundesverfassungsgericht dafür zuständig ist. Im zweiten Schritt gaben Sie Auskunft über die Relevanz, die sie
212
Hans Vorländer
Erfüllung dieser Leitideen betrachten nahezu alle Bürger als sehr wichtig. Diese Funktion wird vom Bundesverfassungsgericht insgesamt sehr gut ausgefüllt. So beurteilen die Bürger die Durchsetzung dieser drei Leitideen als nahezu sehr gut. Sowohl die Relevanz als auch die Performanz dieser drei Leitideen weisen zudem einen Zusammenhang zum Institutionenvertrauen in das Bundesverfassungsgericht auf. Auffällig dabei ist, dass die Durchsetzung der Leitideen in einem engeren Zusammenhang zum Institutionenvertrauen steht als ihre Relevanz. Je wichtiger die Befragten also eine Leitidee beurteilen, desto höher ist das Vertrauen in das BVerfG; noch stärker hängt das Vertrauen allerdings davon ab, wie gut diese Leitideen faktisch durchgesetzt werden.
Tabelle 1: Leitideen des BVerfG
Relevanz: Mittelwert1 Relevanz: Korrelation mit Vertrauen Performanz: Mittelwert2 Performanz: Korrelation mit Vertrauen
Gesetze überprüfen
Für Gerechtigkeit sorgen
Ziele und Werte des GG verwirklichen
6,31
6,35
6,41
,246**
,167**
,296**
5,46
5,13
5,56
,443**
,480**
,517**
1
von 1 = ganz und gar unwichtig bis 7 = sehr wichtig von 1 = ganz und gar nicht gut durchgesetzt bis 7 = sehr gut durchgesetzt ** Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant. 2
Im Unterschied zum Bundesverfassungsgericht ist der Bundestag nach der mehrheitlichen Meinung für fünf Leitideen zuständig: Er soll den Willen der Mehrheit des Volkes durchsetzen, gesellschaftliche Reformen voranbringen, Gesetze beschließen, Ziele und Werte des Grundgesetzes verwirklichen und für das Gemeinwohl sorgen (vgl. Tab. 2). Ähnlich wie beim Bundesverfassungsgericht messen die Bürger diesen Leitideen an hohes Maß an Wichtigkeit bei. Allerdings wird der Bundestag bei der Erfüllung seiner Leitideen nicht annähernd so gut beurteilt wie das Bundesverfassungsgericht. Einige Leitideen erscheinen noch teilweise gut durchgesetzt, andere eher teilweise schlecht. Auch beim Zusammenhang mit dem Institutionenvertrauen gibt es einen Unterschied und eine Gemeinsamkeit. Anders als beim Bundesverfassungsgericht steht die Relevanz der Leitideen nur in einem schwachen oder keinem Zusammenhang mit dem Institutionenvertrauen. Genauso wie beim Bundesverfassungsgericht kommt es für das Institutionenvertrauen allerdenen von ihnen herausgelegten Leitideen beimessen. Im dritten Schritt beurteilten sie bei denselben Leitideen, wie gut sie vom Bundesverfassungsgericht durchgesetzt werden.
213
Macht als Deutungsmacht
dings vor allem auf die Durchsetzung dieser Leitideen an. Dass der Bundestag weniger Vertrauen genießt als das Bundesverfassungsgericht, hängt demnach auch davon ab, dass die Bürger die Performanz seiner Leitideen schlechter beurteilen.
Tabelle 2: Leitideen des BT
Relevanz: Mittelwert1 Relevanz: Korrelation mit Vertrauen Performanz: Mittelwert2 Performanz: Korrelation mit Vertrauen
Ziele und Werte des GG verwirklichen
Für das Gemeinwohl sorgen
6,01
6,31
6,18
,041
,158**
,128**
-,002
3,43
3,88
4,77
4,51
3,66
,476**
,443**
,346**
,489**
,536**
Den Willen der Mehrheit des Volkes durchsetzen
Gesellschaftliche Reformen voranbringen
5,91
5,89
,001
Gesetze beschließen
1
von 1 = ganz und gar unwichtig bis 7 = sehr wichtig von 1 = ganz und gar nicht gut durchgesetzt bis 7 = sehr gut durchgesetzt ** Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant. 2
Nicht nur hinsichtlich der Performanz ihrer Leitideen, sondern auch hinsichtlich ihres institutionellen Charakters unterscheiden sich Bundesverfassungsgericht und Bundestag (vgl. Tab. 3). Die kennzeichnenden Charakterzüge des Bundesverfassungsgerichts sind das deutliche Bemühen um gerechte Entscheidungen, der offensichtliche Sachverstand und das sachliche Austragen von Meinungsverschiedenheiten. Der Bundestag wird hingegen dadurch charakterisiert, dass er kaum kostengünstig arbeitet, zuviel Zeit für seine Aufgaben benötigt und eher Parteiinteressen als dem Gemeinwohl folgt. Auch diese Charakterzüge stehen in einem Zusammenhang mit dem Vertrauen in die beiden Institutionen. Denn je positiver der institutionelle Charakter beurteilt wird, desto höher ist das Institutionenvertrauen.
214
Hans Vorländer
Tabelle 3: Institutioneller Charakter von BVerfG und BT Charakterzug
Lässt sich bei seinen Entscheidungen vom Gemeinwohl leiten und nicht von den Interessen einiger durchsetzungskräftiger Gruppen Bemüht sich um gerechte Entscheidungen Erzielt mit seinen Entscheidungen auch die gewünschten Wirkungen Erledigt seine Aufgaben in angemessener Zeit Arbeitet kostengünstig Arbeitet mit Sachverstand und gekonnt Trägt Meinungsverschiedenheiten sachlich aus Setzt nicht Parteiinteressen an die erste Stelle
BVerfG BT Mittelwert Korrelation Mittelwert Korrelation mit Vermit Vertrauen trauen 4,92
,424**
3,31
,374**
5,51
,472**
3,94
,456**
4,86
,429**
3,55
,439**
4,14
,329**
3,19
,404**
3,61 5,34
,267** ,529**
2,42 3,57
,386** ,464**
5,30
,440**
3,41
,387**
5,16
,359**
3,26
,240**
** Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant. Skala von 1 = völlig falsch bis 7 = völlig richtig
Es lässt sich damit das Vertrauensprofil des Bundesverfassungsgerichts in der Kontrastierung zum Bundestag wie folgt zusammenfassen: Das Bundesverfassungsgericht genießt ein signifikant hohes, von der Polizei abgesehen, das höchste Institutionenvertrauen der Institutionen der Bundesrepublik Deutschland. Es wird mit drei zentralen Leitideen identifiziert, der Überprüfung von Gesetzen, der Verfolgung der Idee der Gerechtigkeit sowie der Verwirklichung der Ziele und Werte der Verfassung. Das hohe Institutionenvertrauen beruht dabei auch auf der Relevanz dieser Leitideen, vor allem aber auf der Einschätzung, dass diese Leitideen auch in der Praxis vom Bundesverfassungsgericht durchgesetzt werden. Die Einschätzung der Performanz des Bundesverfassungsgerichts ist damit entscheidend höher als die des Bundestages. Die Tätigkeit des Verfassungsgerichts wird also sehr viel positiver eingeschätzt als die des Bundestages, was auch von den Bürgern hinsichtlich der massenmedialen Berichterstattung bestätigt wird. Die Massenmedien berichten zwar weniger über das Bundesverfassungsgericht, aber eben doch positiver als über den Bundestag. Auch der institutionelle Charakter der Verfassungsgerichtsbarkeit wird entschieden besser eingeschätzt und korreliert positiv mit dem Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht. Insgesamt ist das Bundesverfassungsgericht also die entschieden „sympathischere“ Institution. Das sichert der Verfas-
Macht als Deutungsmacht
215
sungsgerichtsbarkeit Autorität und Ansehen, mithin die für die Akzeptanz der Rechtsprechung erforderliche Deutungsmacht.
‚WEICHE FAKTOREN’ INSTITUTIONELLER MACHT. Einschätzungen von Bundestag und Bundesverfassungsgericht im Vergleich WERNER J. PATZELT Ein oft Mao Zedong zugeschriebenes Wort lautet: „Die Macht kommt aus den Läufen der Gewehre!“ Das ist höchst plausibel. Nicht minder leuchtet allerdings ein anderes Wort ein: „Auf Bajonetten kann man nicht ruhig sitzen!“ Gemeinsam erschließen beide politischen Lehrsätze, dass den Kern von Machtentfaltung zwar gewiss die Chance darstellt, den eigenen Willen gegen Widerstreben auch mit Gewalt durchzusetzen, dass aber nachhaltig aufrechtzuerhaltende Macht wohl breitere Grundlagen braucht als nur die Angst vor Ungemach. Sie braucht Freiwilligkeit der Gefolgschaft und, ihr vorausliegend, die Achtung vor jenen Personen oder Institutionen, gar die Zuneigung zu ihnen, denen man folgt und so deren Macht in Geltung hält. Gerade Institutionen verdanken ihre Macht großenteils solchen ‚weichen’ Faktoren der Machtbildung.1 Wer nun Parlamente für wertvolle Institutionen hält und politischen Systemen darum machtvolle Parlamente wünscht, wird es daher gerne sehen, wenn sich Parlamente großer Zustimmung und Zuneigung in einem Volk erfreuen.2 Sie tun das freilich nicht. Vielmehr zeigen demoskopischen Befunde zum Vertrauen in politische Institutionen, dass die Parlamente dort regelmäßig weit unten stehen, während die Spitzenplätze an solche Institutionen fallen, mit denen man auch einen wohlmeinenden Obrigkeitsstaat betreiben könnte: an Polizei, Gerichte und das Staatsoberhaupt.3 In Deutschland ist zumal das Bundesverfassungsgericht stets ein 1
2
3
Eine systematisch ausgearbeitete institutionelle Machttheorie, wie sie den Forschungen des Teilprojekts K im Dresdner Sonderforschungsbereich 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ zugrunde liegt, findet sich in W. J. PATZELT u.a., Institutionelle Macht. Kategorien ihrer Analyse und Erklärung, in: DERS. (Hg.), Parlamente und ihre Macht. Kategorien und Fallbeispiele institutioneller Analyse, Baden-Baden 2005, S. 9-46. Weil der folgende Beitrag in erster Linie empirische Befunde präsentieren soll und darum ganz den sehr konkreten Fragestellungen des ihm zugrunde liegenden Forschungsprojekts folgt, werden die Bezüge zu jener Theorie in ihm nur sehr indirekt sein. Vgl. hierzu etwa W. J. PATZELT, Vergleichende Parlamentarismusforschung als Schlüssel zum Systemvergleich. Vorschläge zu einer Theorie- und Forschungsdebatte, in: W. STEFFANI / U. THAYSEN (Hgg.), Demokratie in Europa. Zur Rolle der Parlamente (=Zeitschrift für Parlamentsfragen, Sonderband zum 25jährigen Bestehen), Opladen 1995, S. 355-385. Siehe die einschlägigen Zusammenstellungen in E. NOELLE-NEUMANN / R. KÖCHER (Hgg.), Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie, München 1947-2002 (bis 1973 „Jahrbuch der öffentlichen Meinung“); Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen, ALLBUS-Erhebungen, Mannheim 1980-2004 und O. W. GABRIEL / D. FUCHS / K. VÖLKL, Vertrauen in politische Institutionen und politische Unterstützung, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 4 (2002), S. 427-450.
218
Werner J. Patzelt
Spitzenreiter öffentlichen Ansehens und allgemeinen Vertrauens.4 Gewiss gönnt man diesen Institutionen ihre Popularität und erkennt, dass hier Legitimitäts- und Stabilitätsreserven nicht nur unseres politischen Systems lagern. Dennoch schmerzt es, mit dem Parlament ausgerechnet jene Institution beim Volk so unbeliebt zu finden, die doch am allermeisten mit dem Volk zu tun hat und Voraussetzung nachhaltig wirksamer Demokratie ist.
I. Fragestellung und Datengrundlage Warum aber steht es um das Vertrauen und Ansehen des Parlaments so schlecht und muss diese Institution ihre Macht eher formellen Rechtsnormen und informellen institutionellen Mechanismen verdanken als breitem Rückhalt in der öffentlichen Meinung?5 Mehrere Erklärungen liegen nahe. Einesteils können Parlamente und Abgeordnete in den Augen der Bürger eine unbefriedigende Leistungsbilanz haben,6 und zwar sowohl objektiv als auch aufgrund überzogener Erwartungen7 oder als Folge von massenmedialem Negativismus bei der Berichterstattung über sie. Andernteils können Parlamente einfach anders sein und anders arbeiten, als sich das eine über die Eigenart dieser Institution unaufgeklärte Bevölkerungsmehrheit wünscht.8 Dann wird gerade das ordnungsgemäße Funktionieren von Parlamenten eher Tadel als Lob auf sie ziehen: sei es, dass der in Parlamenten gepflogene Streit viele Bürger abstößt,9 sei es, dass die Funktionslogik von Parlamenten aus geistesgeschichtlichen oder anderen Gründen10 von der Bevölkerung einfach nicht 4
5
6
7 8
9 10
Vgl. die Daten in R. SCHMITT-BECK / R. ROHRSCHNEIDER, Soziales Kapital und Vertrauen in Institutionen, in: R. SCHMITT-BECK / M. WASMER / A. KOCH (Hgg.), Sozialer und politischer Wandel in Deutschland. Analyse mit ALLBUS-Daten aus zwei Jahrzehnten, Wiesbaden 2004, S. 235-260 sowie in H. VORLÄNDER / G. SCHAAL, Die Deutungsmacht des Bundesverfassungsgerichts. Entscheidungsakzeptanz und Institutionenvertrauen, Wiesbaden 2004. Zu den Quellen und Anwendungsformen von Parlamentsmacht siehe systematisch W. J. PATZELT, Phänomenologie, Konstruktion und Destruktion von Parlamentsmacht, in: DERS., Parlamente und ihre Macht (wie Anm. 1), S. 255-302, zum Konzept des institutionellen Mechanismus W. J. PATZELT, Institutionalität und Geschichtlichkeit von Parlamenten. Kategorien institutioneller Analyse, in: DERS. (Hg.), Parlamente und ihre Funktionen. Institutionelle Mechanismen und institutionelles Lernen im Vergleich, Wiesbaden 2003, S. 50-117, hier S. 66-82. Vgl. K. NEWTON / P. NORRIS, Confidence in Political Institutions. Faith, Culture, or Performance?, in: S. PHARR / R. D. PUTNAM (Hgg.), Disaffected Democracies. What’s Troubling the Trilateral Countries?, Princeton 2000, S. 52-73. Vgl. D. C. KIMBALL / S. C. PATTERSON, Living Up to Expectations. Public Attitudes toward Congress, in: Journal of Politics 59 (1997), S. 701-728. Vgl. W. J. PATZELT, Was muss Öffentlichkeitsarbeit der Parlamente leisten?, in: Unverstandenes Parlament – unaufgeklärte Bürger. Warum parlamentarische Öffentlichkeitsarbeit?, hg. vom Sächsischen Landtag, Dresden 2001, S. 6-17. Vgl. J. R. HIBBING / E. THEISS-MORSE, Congress as Public Enemy. Public Attitudes toward American Political Institutions, Cambridge 1995. Vgl. E. FRAENKEL, Historische Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus (1959), in: DERS., Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart u.a. 1979, S. 13-31 und DERS., Ursprung und politische Bedeutung der Parlamentsverdrossenheit (1966), ebd., S. 101-110.
‚Weiche Faktoren’ institutioneller Macht
219
akzeptiert wird. Letzteres wurde für das Verhältnis der Deutschen zum Bundestag bereits empirisch nachgewiesen.11 Was insgesamt hinter der schlechten Vertrauens- und Ansehenslage von Parlamenten steht, sollte sich nun besonders gut bei einem Vergleich zwischen Parlamenten und jenen Institutionen herausfinden lassen, deren Ansehens- und Vertrauenslage vorzüglich ist.12 Im deutschen Fall wäre also eine Gegenüberstellung von Bundestag und Bundesverfassungsgericht höchst aufschlussreich. Eine solche vergleichende Untersuchung, anscheinend die erste ihrer Art, wurde im Herbst 2004 denn auch durchgeführt.13 Sie zeigt auf der Grundlage repräsentativer Bevölkerungsdaten (n=1835) sehr klar, dass und aus welchen spiegelbildlich wirkenden Gründen die Deutschen ihren Bundestag ziemlich verachten sowie ihr Bundesverfassungsgericht so sehr lieben. Und sie zeigt dadurch erst recht, auf wie unterschiedlichen Grundlagen die Autorität beider Institutionen ruht.
II. Die Vertrauens- und Beurteilungslage von Bundestag und Bundesverfassungsgericht Tatsächlich haben die Deutschen, so der Befund der Tabelle 1, persönlich viel weniger Vertrauen in den Bundestag als in das Bundesverfassungsgericht. Sie sind auch, alles in allem, beim Bundestag viel weniger als beim Bundesverfassungsgericht damit zufrieden, wie die jeweilige Institution arbeitet und sich darstellt (‚Ge-
11 12
13
W. J. PATZELT, Ein latenter Verfassungskonflikt? Die Deutschen und ihr parlamentarisches Regierungssystem, in: Politische Vierteljahresschrift 39 (1998), S. 725-757. Dass selbst so gründliche Analysen von Ursachen des – meist ja geringen – Parlamentsvertrauens wie jene von S. ECKL, Das politische Vertrauen in das Parlament am Beispiel des Deutschen Bundestags, Stuttgart 2000, zu zwar plausiblen, doch nicht sonderlich markanten Befunden gelangen, mag einen wichtigen Grund im Fehlen einer Vergleichsperspektive haben, welche genau die Differenzen zwischen vertrauensarmen und vertrauensreichen Institutionen aufzudecken unternimmt. Finanziert wurde sie von der DFG im Rahmen des Dresdner Sonderforschungsbereichs 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“; Auftraggeber waren die Dresdner Politikwissenschaftler Werner J. PATZELT und Hans VORLÄNDER, die auch bei der Entwicklung des Fragebogens zusammenwirkten. Die Datenerhebung (computerunterstützte persönliche Interviews; n= 1835; deutschlandweit repräsentatives ADM-Mastersample für Personen ab 18 Jahren; Feldzeit: 19.10.12.11.2004) sowie die Aufbereitung des Datensatzes besorgte die IPSOS GmbH, Mölln. Die Datenanalyse übernahm der Verfasser, der seiner Mitarbeiterin Sabine FRIEDEL für mannigfaltige und wertvolle Unterstützung dankt. An bisherigen Publikationen aus diesem Projekt sei verwiesen auf W. J. PATZELT, Warum verachten die Deutschen ihr Parlament und lieben ihr Verfassungsgericht? Ergebnisse einer vergleichenden demoskopischen Studie, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 36 (2005), S. 517-538, eine gekürzte und nicht die Machtdimension erkundende Version des nachstehenden Textes, und auf H. VORLÄNDER / A. BRODOCZ, Das Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage, in: H. VORLÄNDER (Hg.), Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, Wiesbaden 2006, S. 259-298.
220
Werner J. Patzelt
samtbewertung’).14 Mehr noch: Zum Bundestag haben die Deutschen im Durchschnitt eher weniger Vertrauen, doch zum Bundesverfassungsgericht eher mehr; und mit dem Bundestag sind sie der Tendenz nach eher unzufrieden, hingegen mit dem Bundesverfassungsgericht eher zufrieden. Tabelle 1: Vertrauenslage und Gesamtbewertung von Bundestag und Bundesverfassungsgericht persönliches Zufriedenheit mit persönliches Vertrauen Arbeit und SelbstVertrauen (erfragt am Ende darstellung beider (erfragt zu Beginn des Interviews) Institutionen des Interviews) BT BV BT BV BT BV (1) ganz und gar kein Ver9,0 1,9 7,5 1,7 trauen / ganz 8,7 2,9 und gar unzufrieden 2 12,8 4,9 13,5 4,6 14,0 5,4 3 20,7 10,6 24,3 9,5 24,6 11,6 4 = Mittelka29,8 20,6 33,2 28,1 28,3 16,7 tegorie 5 18,4 21,4 17,0 28,0 15,2 27,8 6 8,8 28,0 5,4 25,5 4,8 19,6 (7) volles Vertrauen / 1,1 9,9 0,7 5,7 2,3 15,5 völlig zufrieden Mittelwert 3,7 4,9 3,5 4,9 3,5 4,6 Legende: Erhoben wurden die Daten auf siebenstufigen Einschätzungsskalen; angegeben sind Spaltenprozent
Das zu beiden Institutionen bekundete persönliche Vertrauen blieb im Verlauf der Interviews ziemlich stabil.15 Ferner hängen persönliche Vertrauensbekundung und
14
15
Bei der Vorstellung von Tabellen oder sonstigen Ergebnissen werden die jeweiligen Frageformulierungen entweder im Text möglichst exakt wiedergegeben oder ausdrücklich in den Fußnoten zitiert. Der Fragebogen und ein ausführliches Analysepapier sind vom Verfasser unter folgender Email-Anschrift erhältlich: [email protected]. Das war der Fall, obwohl im Interview aufgrund der gestellten Einzelfragen eine Vielzahl von Gesichtspunkten vor Augen geführt wurde, die eine Veränderung des Urteils hätte bewirken können. Doch an den Mittelwerten änderte sich wenig, und die Zusammenhänge zwischen ‚Erstmessung’ und ‚Zweitmessung’ sind ziemlich stark: r=.62 (Bundestag) und r=.60 (Bundesverfassungsgericht).
‚Weiche Faktoren’ institutioneller Macht
221
Gesamtbewertung der Institution jeweils stark zusammen.16 Beide Fragen erfassen anscheinend ziemlich dieselbe Einstellungsdimension, ohne freilich ganz äquivalente Indikatoren zu sein. Vor allem gibt es zwischen den Aussagen zum Bundestag und zum Bundesverfassungsgericht untereinander starke Zusammenhänge.17 Offenbar wirkt sich im Hintergrund der besonderen Urteile zu Bundestag und Bundesverfassungsgericht die allgemeine Grundeinstellung zum bundesdeutschen System aus.18 Die Tabelle 2 zeigt, wie viel Vertrauen die Deutschen ausgewählten politischen Institutionen einerseits selbst entgegenbringen, andererseits bei der Bevölkerung allgemein vermuten. Die Vertrauensreihenfolge dieser Institutionen19 zeigt einmal mehr das aus allen einschlägigen Untersuchungen bekannte Bild: An der Spitze stehen Institutionen, die normativ wie faktisch oberhalb oder außerhalb der Parteipolitik agieren; unten liegen hingegen jene, die Parteien sind oder von Parteien geprägt werden; und in der Mitte finden sich die Vermittler und Kommentatoren des politischen Geschehens. Clusteranalysen bestätigen diesen Eindruck. Denn ganz gleich, ob man sie auf der Basis persönlich bekundeten oder bei der Allgemeinheit vermuteten Vertrauens rechnet, zeichnen sich stets und völlig klar drei Gruppen von Institutionen ab: die ‚parteiischen Akteure’ (Bundesregierung samt Staatsverwaltung, Bundestag und Bundesrat, sowie Verbände und Parteien); die ‚nichtparteiischen’ bzw. ‚überparteilichen’ Akteure (Polizei und Justiz, Bundesverfassungsgericht und Bundespräsident); sowie die Beobachter bzw. Berichterstatter (Fernsehen und Zeitungen).
16
17 18 19
Zwischen der Vertrauenszumessung zu Beginn der Interviews und der Gesamtbeurteilung besteht für den Bundestag ein Zusammenhang von r=.50, für das Bundesverfassungsgericht von r=.56. Weil die Wiederholungsfrage zum persönlichen Institutionenvertrauen unmittelbar vor jener nach der Gesamtbeurteilung gestellt wurde, lässt sich hier ein Ausstrahlungseffekt der Vertrauensfrage beobachten: Er führt zu r=.70 beim Bundestag und zu r=.73 beim Bundesverfassungsgericht. r=.56 bei der Vertrauensfrage zu Beginn der Interviews, r=.50 bei jener am Ende; r=.46 bei der Gesamtbewertung beider Institutionen. Siehe hierzu im einzelnen den Abschnitt III/1 sowie die Tabelle 8. Die Zusammenhänge zwischen dem persönlich bekundeten und dem bei der Allgemeinheit vermuteten Institutionenvertrauen sind stets sehr groß und liegen zwischen r=.54 und r=.68. Lediglich bei Fernsehen und Zeitungen sind sie mit r=46 bzw. r=.50 niedriger. Hier gilt ausweislich der Mittelwerte: Sich selbst hält man eher für kritischer, die anderen eher für unkritischer.
222
Werner J. Patzelt
Tabelle 2: Persönliches und vermutetes Vertrauen zu ausgewählten Institutionen Vertrauen zu … persönliches bei der Bevölkerung allgemein vermutetes Vertrauen Vertrauen Polizei 5,0 4,9 Bundesverfassungsgericht 4,9 4,9 Bundespräsident 4,7 4,7 Justiz 4,6 4,6 Fernsehen 4,1 4,6 Zeitungen 4,1 4,5 Bundesrat 4,0 4,1 staatliche Verwaltung 3,9 4,0 Verbände und Interessen3,8 4,0 gruppen Bundestag 3,7 3,8 Bundesregierung 3,4 3,5 Parteien 3,0 3,2 Legende: Angegeben sind Mittelwerte von siebenstufigen Einschätzungsskalen zwischen 1 = ‚ganz und gar kein Vertrauen’ und 7 = ‚volles Vertrauen’
In Deutschland scheint somit der erste wichtige Faktor für die Entstehung und Bewahrung von Institutionenvertrauen die Nähe einer politischen Institution zu den Parteien zu sein, gewissermaßen ihr ‚parteiischer’ oder ‚überparteilicher’ Charakter. Das macht nun freilich ein großes legitimatorisches Dilemma unserer politischen Kultur sichtbar: Ausgerechnet die demokratisch am besten legitimierten Institutionen – nämlich die Parteien, die sich als einzige immer wieder freien, kompetitiven Wahlen stellen20 – gelten den Deutschen als besonders wenig vertrauenswürdig und kontaminieren nachgerade die von ihnen getragenen staatlichen Institutionen. Hierzu mag zum einen der traditionelle deutsche Antiparteienaffekt beitragen, den populäre Parteienschelte immer wieder neu belebt.21 Zum anderen
20
21
Formal mag zwar argumentiert werden, nicht Parteien, sondern Parlamente würden durch Wahlen demokratisch legitimiert. Doch tatsächlich wird in Deutschland nie in irgendeiner von Parteien abstrahierender Weise ein Parlament gewählt, in dem sich dann ganz erstaunlicherweise auch Parteien und Parteipolitiker wiederfänden, sondern stets werden Parteien und Parteipolitiker in die Parlamente gewählt. Eben dass man Parteien und Parteipolitiker vielfach verachtet, obwohl man sie wählt und mit den Ergebnissen ihrer Politik seit Jahrzehnten doch recht gut lebt, begründet das legitimatorische Dilemma unserer Parlamente. Siehe etwa H. H. v. ARNIM, Vom schönen Schein der Demokratie. Politik ohne Verantwortung – am Volk vorbei, München 2000; A. BIRKE / M. BRECHTKEN (Hgg.), Politikverdrossenheit – Der Parteienstaat in der historischen und gegenwärtigen Diskussion, München 1995; G. HOFMANN / W. A. PERGER (Hgg.), Richard von Weizsäcker im Gespräch mit Gunter Hofmann und Werner A. Perger, Frankfurt a.M. 1992; DIES., Die Kontroverse. Weizsäckers Parteienkritik in der Diskussion, Frankfurt a.M. 1992; G. RIEGER, „Parteienverdrossenheit“ und „Parteienkritik“ in der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 3 (1994), S. 459-471 und
‚Weiche Faktoren’ institutioneller Macht
223
ist es wohl der von den Parteien immer wieder – und stellvertretend (!) für die Gesellschaft – ausgetragene politische Streit und somit der Kern pluralistischer Demokratie, welcher den Deutschen den Eindruck von ihren Parteien und den von Parteien getragenen Institutionen so folgenreich verdirbt.22
III. Hintergrundfaktoren der Vertrauens- und Bewertungslage Es ist zu vermuten, dass hinter der Vertrauens- und Bewertungslage von Bundestag und Bundesverfassungsgericht zwei Gruppen von Faktoren wirken. Die eine Gruppe sollte mit der grundsätzlich eher positiven oder eher negativen Beurteilung von Institutionen zu tun haben und Faktoren wie allgemeines Systemvertrauen, politisches Interesse oder die persönliche Mediennutzung umfassen. Zwar werden auch diese Faktoren sich beim Urteil über Bundestag und Bundesverfassungsgericht unterschiedlich auswirken können. Doch die zentralen Ursachen von Beurteilungsunterschieden dürfte die andere Gruppe von Faktoren erfassen: Einschätzungen des ‚institutionellen Charakters’ von Bundestag und Bundesverfassungsgericht, der Aufgaben dieser Institutionen sowie ihrer Performanz bei der Aufgabenerfüllung.
1. Systemzufriedenheit und Systemakzeptanz Es ist nicht nur ohnehin plausibel, sondern erhärtet sich auch aus den nachstehenden Ergebnissen, dass die grundsätzliche Haltung zum bundesdeutschen System und seinen Politikern sowohl das Vertrauen zu Bundestag und Bundesverfassungsgericht als auch die Gesamtbewertung beider Institutionen überaus stark prägt. Im Einzelnen zeigt sich: Positiver steht beiden Institutionen gegenüber, wer Demokratie allgemein stärker befürwortet;23 wer den Rechtsstaat generell stärker befürwortet;24 wer mit dem grundsätzlichen Funktionieren unseres Staates zufriedener ist;25 wer mit dem aktuellen Funktionieren unseres Staates zufriedener ist;26
22 23
24
25
R. STÖSS, Parteienkritik und Parteienverdrossenheit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 21 (1990), S. 15-24. Siehe hierzu die Befunde im Abschnitt IV/1 zum ‚institutionellen Charakter’ von Bundestag und Bundesverfassungsgericht. Item: Zustimmung zur Aussage „Es ist gut, dass wir in Deutschland eine Demokratie haben!“ Korrelationen mit Vertrauen zu Bundestag bzw. Bundesverfassungsgericht: r=.32 bzw. .46; mit der Gesamtbewertung beider Institutionen: r=.26 bzw. .38. Item: Zustimmung zur Aussage „Es ist gut, dass wir in Deutschland einen Rechtsstaat haben!“ 83 % der Befragten konnten sich unter einem ‚Rechtsstaat’ etwas vorstellen. Korrelationen der Aussagen dieser Befragten mit Vertrauen zu Bundestag bzw. Bundesverfassungsgericht: r=.26 bzw. .37; mit der Gesamtbewertung beider Institutionen: r=.25 bzw. .32. Item: Zustimmung zur Aussage „Von tagespolitischen Problemen und Missständen abgesehen: Wie zufrieden sind Sie ganz grundsätzlich mit dem Funktionieren unseres Staates – angefangen von der Regierung über das Parlament bis hin zu den Gerichten?“ Korrelationen mit Vertrauen zu Bundestag bzw. Bundesverfassungsgericht: r=.52 bzw. .47; mit der Gesamtbewertung beider Institutionen: r=.41 bzw. .40.
224
Werner J. Patzelt
wer die allgemeine wirtschaftliche Lage in Deutschland besser beurteilt;27 wer mit unserem politischen Personal zufriedener ist.28 Die Antworten zu diesen sechs Items lassen sich obendrein valide zu einer Gesamtskala ‚Systembewertung/Systemakzeptanz’ zusammenfassen.29 Auch die Werte der Befragten auf dieser Skala hängen dann stark mit ihrer persönlichen Vertrauenszumessung an den Bundestag (r=.57) und an das Bundesverfassungsgericht (r=.51) zusammen, desgleichen mit ihrer Gesamtbewertung beider Institutionen (r=.50 bzw. .43). Also speist sich die grundsätzliche Vertrauens- und Ansehenslage von Bundestag und Bundesverfassungsgericht klar aus allgemeinen Einschätzungen der Bürger zu den Grundprinzipien, zur Funktionsweise, zu den Politikergebnissen und zu den konkret handelnden Politikern des Staates. Doch mehr noch als die zusammenfassenden Korrelationen der Vertrauensund Beurteilungsaussagen mit der Skala ‚Systembewertung/Systemakzeptanz’ zeigen die in den Fußnoten angegebenen Korrelationskoeffizienten der Einzelitems dieser Skala, dass die Ankoppelung der Einschätzung des Bundestags an die Einschätzung der konkreten Leistungen des politischen und wirtschaftlichen Systems klar enger ist als jene des Bundesverfassungsgerichts. Das heißt: Stärker als beim Bundesverfassungsgericht wird beim Bundestag die Vertrauens- und Bewertungslage von der aktuellen – und natürlich massenmedial vermittelten – Performanz des Gesamtsystems beeinflusst. Besonders deutlich führen das die Ergebnisse einer Faktorenanalyse vor Augen, in welche sowohl die sechs Items der Skala ‚Systembewertung/Systemakzeptanz’ als auch die vier Variablen zur Vertrauens- und Bewertungslage von Bundestag und Bundesverfassungsgericht einbezogen wurden.30 Die Ergebnisse zeigt die Tabelle 3: Ganz offensichtlich wird ein positives Urteil über den Bundestag sehr stark nicht nur von der allgemeinen Systemzufriedenheit geprägt, sondern ebenso auch von einer positiven Einschätzung der tagespolitischen Performanz des politischen Systems, der wirtschaftlichen Lage und des politischen Personals. Hingegen ist für ein positives Urteil über das Bundesverfas-
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29 30
Item: Zustimmung zur Aussage „Kommen wir zuerst zur aktuellen Situation: Wie zufrieden sind Sie eigentlich damit, wie unser Staat derzeit funktioniert – angefangen von der Regierung über das Parlament bis hin zu den Gerichten?“ Korrelationen mit Vertrauen zu Bundestag bzw. Bundesverfassungsgericht: r=.51 bzw. .37; mit der Gesamtbewertung beider Institutionen: r=.43 bzw. .28. Item: Zustimmung zur Aussage „Wie beurteilen Sie ganz allgemein die heutige wirtschaftliche Lage in Deutschland?“ Korrelationen mit Vertrauen zu Bundestag bzw. Bundesverfassungsgericht: r=.32 bzw. .23; mit der Gesamtbewertung beider Institutionen: r=.28 bzw. .26. Item: Zustimmung zur Aussage „Wie zufrieden sind Sie eigentlich zur Zeit mit den Leuten, die bei uns auf der Bundesebene Politik machen – ganz gleich, ob sie in der Regierung oder Opposition sind?“ Korrelationen mit Vertrauen zu Bundestag bzw. Bundesverfassungsgericht: r=.57 bzw. .35; mit der Gesamtbewertung beider Institutionen: r=.45 bzw. .26. Cronbachs α = .79. Das KMO-Maß betrug .84. Eine besonders plausible Lösung fand sich bei zwei extrahierten Faktoren, die gemeinsam nicht weniger als 58 % der Varianz erklären.
‚Weiche Faktoren’ institutioneller Macht
225
sungsgericht die Akzeptanz zentraler Systemgrundsätze maßgeblich, nämlich des Rechtsstaats- und des Demokratieprinzips. Tabelle 3: Faktoren populärer Einschätzungen von Bundestag und Bundesverfassungsgericht
persönliches Vertrauen zum Bundestag persönliches Vertrauen zum Bundesverfassungsgericht Gesamtevaluation Bundestag Gesamtevaluation Bundesverfassungsgericht Einschätzung allgemeine wirtschaftlichen Lage Zufriedenheit mit gegenwärtigem politischen Personal Systemzufriedenheit – tagespolitisch überformt Systemzufriedenheit – allgemein Demokratieakzeptanz Rechtsstaatsakzeptanz
Ladungszahlen (nach Varimax-Rotation) Faktor 1: Faktor 2: Gründe guter Gründe guter Einschätzung Einschätzung des Bundesdes Bundestags verfassungsgerichts .69 .30 .38 .63 .61 .29 .31 .62 .63 .07 .82 .08 .83 .16 .72 .36 .12 .81 .06 .83
Die Folgen dieser so unterschiedlichen Beurteilungsgrundlagen beider Institutionen dürften drastisch sein. Denn das hohe Ansehen des Bundesverfassungsgerichts verdankt sich offenbar der Tatsache, dass es als über der realen Systemperformanz schwebend und von akzeptierten Prinzipien her zu verstehen gilt, was die Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts recht unabhängig vom Auf und Ab realer wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Prozesse macht. Hingegen wird das Ansehen des Bundestags ganz wesentlich von der Performanz des Systems und seiner Politiker angesichts aktueller Herausforderungen geprägt – also von den die Bürger so oft recht wenig zufriedenstellenden Ergebnissen des konkreten politischen Betriebs. Natürlich ist es fair, dass die Bürger an beide Institutionen so unterschiedliche Maßstäbe anlegen: Der parteiengetragene Bundestag und die aus ihm hervorgegangene Regierung sind nun einmal für das politische Agieren da, während vom Bundesverfassungsgericht zu Recht das Wachen über wertvolle staatspolitische Prinzipien erwartet wird. Doch es sind ganz ohne Zweifel die Aufgaben beider Institutionen unterschiedlich leicht mit Erfolg zu meistern. Dabei fällt dem Parlament eindeutig der schwierigere Part zu. Bei dessen Bewältigung gibt es denn auch deutliche Defizite in der Leistungsbilanz. Also muss es nicht wundern, wenn der Bundestag schlechter abschneidet.
226
Werner J. Patzelt
2. Responsivitätsvermutungen Das Bundesverfassungsgericht spricht seine Urteile zwar im Namen des Volkes. Doch niemand erwartet, dass das Volk unmittelbaren Einfluss auf diese Rechtsprechung nehmen sollte. Im Gegenteil ist weithin akzeptiert, dass Richter unabhängig zu sein haben. Anders verhält es sich beim Bundestag: Bei einer Volksvertretung liegt nichts näher als das doppelte Verlangen, sie solle auf die Ansichten, Interessen und Wünsche der Bevölkerung eingehen, d.h. Responsivität praktizieren, und obendrein von den Bürgern auch effektiv beeinflusst werden können. Beide Forderungen sind in einem freiheitlichen Staat höchst angemessen und auch populär.31 Nun vermuten die Deutschen erstaunlicherweise, dass sie auf das Bundesverfassungsgericht fast ebenso viel Einfluss nehmen könnten wie auf den Bundestag: 14% sprechen sich auf das Bundesverfassungsgericht gewissen bis sehr großen Einfluss zu (geringer Einfluss: 69%), 18% auf den Bundestag (geringer Einfluss: 64%). Umgekehrt meinen aber viel mehr Deutsche, der Bundestag gehe nicht auf die Ansichten, Interessen und Wünsche des Volkes ein, als das beim Bundesverfassungsgericht vermuten: 62% halten den Bundestag für überwiegend irresponsiv (responsiv: 13%), nur 50% das Bundesverfassungsgericht für irresponsiv (responsiv: 20%). Von vornherein gilt also ausgerechnet der auf freien Wahlen beruhende Bundestag, der von recht wählersensiblen, immer wieder des Populismus geziehenen Parteien getragen wird, als bürgerferner denn das Bundesverfassungsgericht, welches vom unmittelbaren Bürgereinfluss und vom Druck auf Responsivität nun gerade freigestellt ist. Damit wäre ein weiterer Grund gefunden, warum es der Bundestag mit seinem Ansehen und einer nennenswerten Vertrauensbekundung seitens der Bürger schwerer hat als das Bundesverfassungsgericht. Wenig verschlägt es dabei, dass die Deutschen sich bei den Grundlagen ihres Urteils täuschen und den Bundestag zu Unrecht für weniger responsiv und beeinflussbar halten als das Bundesverfassungsgericht. Hier wie anderswo wirkt nämlich der vom sogenannten Thomas-Theorem beschriebene Zusammenhang: Wenn Menschen eine Situation für real halten und aus dieser Situationsdefinition heraus handeln, dann sind die Folgen solchen Handelns real, ganz gleich wie irreal jene Situationsdefinition war.32 Dieser Zusammenhang wirkt bei dem so unterschiedlichen Urteil über Bundestag und Bundesverfassungsgericht sogar besonders stark zum Nachteil des Bundestags. Vor allem dem Bundestag vertraut nämlich mehr und bewertet ihn besser, wer ihn für responsiver hält (r=.39 bzw. .37) sowie mehr effektiven Bürgereinfluss auf ihn vermutet (r=.25 bzw. .23). Beim Bundesverfassungsgericht hingegen fallen all diese Zusammenhänge viel geringer aus und liegen nur zwischen r=.07 und 31 32
Zu einschlägigen empirischen Befunden siehe PATZELT, Latenter Verfassungskonflikt (wie Anm. 11). Siehe R. K. MERTON, Die Eigendynamik gesellschaftlicher Voraussagen, in: E. TOPITSCH (Hg.), Logik der Sozialwissenschaften, 10. veränd. Aufl., Meisenheim/Ts. 1980, S. 144-161.
‚Weiche Faktoren’ institutioneller Macht
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r=.13. Also spielen die den Bürgern so wichtigen Wünsche nach Responsivität und öffentlicher Beeinflussbarkeit einer politischen Institution nur beim Bundestag eine sonderliche Rolle und somit bei jener Institution, welche diese Wünsche nun gerade besonders schlecht zu erfüllen scheint. So völlig in Übereinstimmung mit den Leitgedanken parlamentarischer Demokratie es zwar ist, genau jenen Responsivitätsmaßstab an den Bundestag anzulegen, so sehr schlägt nun gerade dies dem Parlament beim öffentlichen Urteil zum Nachteil aus. Die Pointe ist, dass dem Bundestag dies ein Stück weit zu Unrecht widerfährt.33 Das Bundesverfassungsgericht hingegen steht von vornherein im Ruf, auch an Responsivität dem Bundestag überlegen zu sein, wobei das vor allem aus anderen Quellen gespeiste vorzügliche Ansehen des Bundesverfassungsgerichts selbst durch diesen guten Ruf kaum mehr weiter gesteigert werden kann. Das ohnehin viel schlechtere Urteil über den Bundestag aber wird durch den ebenfalls viel schlechteren Ruf seiner Responsivitätsleistung noch weiter nach unten gezogen.
3. Die Rolle von institutioneller Selbstdarstellung und Massenmedien Zwar können Bundestag und Bundesverfassungsgericht auch durch geschickte Selbstdarstellung zu punkten versuchen. Doch es haben nur 19% der Deutschen am Bundestag und ganze 9% am Bundesverfassungsgericht schon einmal derartige Versuche wahrgenommen, die Ziele und Funktionsweise der jeweiligen Institution auch symbolisch zum Ausdruck zu bringen. Allerdings zeigt eine nähere Analyse, dass derlei Bemühungen durchaus mehr Erfolg haben, als das diese Zahlen nahelegen. Es wurden nämlich a l l e Befragten im Interview mit einigen Mitteln solcher symbolischer Selbstdarstellung konfrontiert. Beim Bundestag waren das unter anderem die Sitzordnung, einzelne Auffälligkeiten seiner Debattenordnung sowie die Glaskuppel des Reichstagsgebäudes, beim Bundesverfassungsgericht etwa die Roben der Richter oder die Verkündung von Entscheidungen ‚im Namen des Volkes’. Es erwies sich, dass die meisten Befragten alle diese zeichenhaften Dinge recht plausibel ausdeuten konnten. Anschließend wurden sie gefragt, ob ihnen derartige Mittel der symbolischen Selbstdarstellung wirklich hilfreich wären, dasjenige zu verstehen, worum es bei der jeweiligen Institution geht. Für hilfreich, nur teilweise hilfreich oder weniger hilfreich hielt das jeweils rund ein Drittel der Befragten.34 Das weist an sich noch nicht auf eine sonderliche Durchschlagskraft solcher symbolischer Selbstdarstellung hin.35 Doch es zeigte sich ferner, dass beiden Institutionen sowohl mehr vertraut36 als auch sie besser bewertet,37 wer ihre 33 34
35
36
Siehe die Befunde in PATZELT, Latenter Verfassungskonflikt (wie Anm. 11), S. 749. Hilfreich: Bundestag: 34 %, Bundesverfassungsgericht: 36 %; teilweise hilfreich: Bundestag: 32 %, Bundesverfassungsgericht: 30 %; weniger hilfreich: Bundestag: 34 %, Bundesverfassungsgericht: 32 %. Im Übrigen wirkt hier ein gemeinsamer Hintergrundfaktor: Wem Praxen der symbolischen Selbstdarstellung beim Bundestag hilfreicher sind, um diese Institution zu verstehen, dem sind sie das auch beim Bundesverfassungsgericht: r=.65. Bundestag: r=.28, Bundesverfassungsgericht: r=.25.
228
Werner J. Patzelt
jeweiligen Mittel der symbolischen Selbstdarstellung für hilfreicher findet. Wer dies tut, bewertet außerdem den jeweiligen ‚institutionellen Charakter’38 sowie die Performanz der Institution besser.39 Also hat die symbolische Selbstdarstellung von Bundestag und Bundesverfassungsgericht sehr wohl einen gewissen Einfluss darauf, wie man beide Institutionen bewertet. Sicher spielen auch hier die Massenmedien eine Vermittlungsrolle. Sie zeigt sich ebenfalls in den Daten, fällt aber nicht allzu stark aus. Die Massenmedien leisten offenbar mehr und anderes, als nur Transmissionsriemen institutioneller Selbstdarstellung zu sein. Doch ein solcher sind sie eben auch: Hilfreicher für ein besseres Verständnis ist jenen die symbolische Selbstdarstellung von Bundestag oder Bundesverfassungsgericht, die sich häufiger aus Radio und Fernsehen40 bzw. aus Zeitungen und Zeitschriften41 informieren; je besser man sich aus den Medien über die jeweilige Institution informiert fühlt, um so hilfreicher findet man auch ihre Praxen der symbolischen Selbstdarstellung;42 und das gleiche gilt dafür, um wie viel vorteilhafter man eine dieser Institutionen in den Medien dargestellt fühlt.43 Institutionelle Selbstdarstellung und massenmediale Berichterstattung greifen also ineinander, ohne ineinander aufzugehen. Insgesamt kann es wohl gar nicht anders sein, als dass die Bevölkerungsurteile über Bundestag und Bundesverfassungsgericht großenteils auf jenen Eindrücken beruhen, welche die Massenmedien über beide Institutionen vermitteln. Dabei sind Radio und Fernsehen die erstrangigen politischen Informationsquellen der Deutschen,44 gefolgt mit einigem Abstand von Zeitungen und Zeitschriften,45 während das Internet noch relativ selten zur politischen Information genutzt wird.46 Politisch Interessierte47 informieren sich dabei häufiger und fühlen sich durch die Massenmedien auch besser über Bundestag und Bundesverfassungsgericht informiert, wobei die Deutschen deutlich mehr über den Bundestag als über das Bundesverfassungsgericht zu wissen meinen.48 Die so überaus positiven Urteile der meisten 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48
Bundestag: r=.25, Bundesverfassungsgericht: r=.29. Bundestag: r=.28, Bundesverfassungsgericht: r=.30; zum Konzept und zur Erfassung des ‚institutionellen Charakters’ siehe den Abschnitt IV/1. Bundestag: r=.25, Bundesverfassungsgericht: r=.20; zur Analyse der institutionellen Performanz siehe den Abschnitt IV/2. Bundestag: r=.21, Bundesverfassungsgericht: r=.23. Bundestag und Bundesverfassungsgericht: jeweils r=.22. Bundestag: r=.25, Bundesverfassungsgericht: r=.29. Bundestag: r=.18, Bundesverfassungsgericht: r=.21. 72 % der Deutschen nutzen diese beiden Quellen (eher) häufig, 12 % (eher) nie. 63 % der Deutschen nutzen diese beiden Quellen (eher) häufig, 20 % (eher) nie. 13 % der Deutschen nutzen das Internet (eher) häufig zur politischen Information, 80 % (eher) nie. (Eher) politisch interessiert nannten sich 34 % der Deutschen, (eher) nicht an Politik interessiert 42 %. (Eher) gut fühlen sich über den Bundestag 46 % informiert, (eher) schlecht 25 %. Über das Bundesverfassungsgericht nannten sich hingegen nur 29 % (eher) gut informiert, (eher) schlecht
‚Weiche Faktoren’ institutioneller Macht
229
Deutschen über das Bundesverfassungsgericht scheinen also keine sehr solide Wissensgrundlage zu haben, sondern sich recht stark auf diffuse, doch trotzdem weit verbreitete und üblicherweise nicht in Frage gestellte Vermutungen und Glaubenshaltungen zu stützen. Wo nun freilich dem Urteil über die jeweilige Institution massenmediale Information zugrunde liegt, dort scheint es für Bundesverfassungsgericht und Bundestag recht unterschiedliche Wirkungsketten zu geben. Denn nur beim Bundesverfassungsgericht ist es so, dass jene die massenmediale Berichterstattung über diese Institution als positiver einschätzen, die sich stärker für Politik interessieren und sich auch – gestützt auf intensiveren Medienkonsum – besseres politisches Wissen zuschreiben.49 Beim Bundestag fehlt hingegen ein solcher Zusammenhang. Die Ursache könnte darin liegen, dass die massenmediale Berichterstattung über den Bundestag anders geartet ist als jene über das Bundesverfassungsgericht. Tatsächlich wäre ein solcher Unterschied, empirisch durch parallele Inhaltsanalysen der massenmedialen Berichterstattung über beide Institutionen zu erfassen, höchst plausibel. Immerhin gibt es von beiden ganz Unterschiedliches zu berichten: parteipolitischen Streit aus dem Bundestag – recht formelle öffentliche Verhandlungen50 sowie gemeinhin mit Respekt bedachte Urteile aus dem Bundesverfassungsgericht. Streitereien in Berlin haben nun aber in der Regel einen größeren Nachrichtenwert als formvollendete Verhandlungen und die meisten Urteilsverkündungen aus Karlsruhe, weswegen es zu einem klar negativeren Nachrichtenaufkommen aus dem Bundestag kommen sollte. In der Tat meinen 27% der Deutschen, der Bundestag werde in den Massenmedien (eher) negativ dargestellt (eher positiv: 28%), während nur 12% der Befragten das Bundesverfassungsgericht in den Massenmedien (eher) negativ, 56% hingegen als (eher) positiv präsentiert empfinden.
49
50
hingegen 46 %. Sonderlich gut ist das Wissen der Bevölkerung über den Bundestag aber dennoch nicht; siehe W. J. PATZELT, Das Wissen der Deutschen über Parlament und Abgeordnete. Indizien für Aufgaben politischer Bildung, in: Gegenwartskunde 45/3 (1996), S. 309-322. 26 % der Deutschen schreiben sich (eher) viel Wissen über zentrale politische Institutionen zu, 47 % (eher) wenig Wissen. Das sich selbst zugeschriebene politische Wissen hängt klar mit der Häufigkeit der Information aus Radio und Fernsehen (r=.40) bzw. aus Zeitungen und Zeitschriften (r=.43) zusammen, nur tendenziell aber mit der Häufigkeit politischer Information aus dem Internet (r=.14). Kontroverse Verhandlungen und Streit zwischen den Prozessparteien können sich auch deshalb auf das öffentliche Bild des Bundesverfassungsgerichts kaum negativ auswirken, weil darüber – ganz im Unterschied zum Profil der Berichterstattung über den Bundestag – in den Massenmedien kaum berichtet wird.
230
Werner J. Patzelt
Tabelle 4: Medienkonsum und Institutionenbewertung Bundestag persönliches GesamtVertrauen bewertung Info aus Radio und Fernsehen Info aus Zeitungen und Zeitschriften Info aus Internet Wie gut fühlt man sich aus den Medien über den BT informiert? Wie gut kommt der BT in den Medien weg? Wie gut fühlt man sich aus den Medien über das BV informiert? Wie gut kommt das BV in den Medien weg?
Bundesverfassungsgericht persönliches GesamtVertrauen bewertung
.10
.13
.13
.18
.12
.14
.14
.16
.05
-.04
-.02
-.05
.19
.19
(.22)
(.23)
.28
.29
(.20)
(.19)
(.22)
(.22)
.23
.25
(.22)
(.21)
.35
.44
Legende: Angegeben sind r-Koeffizienten; eingeklammert sind die inhaltlich wenig aussagekräftigen Koeffizienten. Angesichts der großen Fallzahlzahlen sind so gut wie alle Koeffizienten mit zweistelligem Wert auf dem 5%-Niveau signifikant.
‚Weiche Faktoren’ institutioneller Macht
231
Das bleibt natürlich, wie die Tabelle 4 zeigt, nicht ohne Folgen für die Vertrauensund Bewertungslage beider Institutionen: Wer den Bundestag oder das Bundesverfassungsgericht in den Massenmedien positiver dargestellt findet, der vertraut der jeweiligen Institution auch deutlich mehr und bewertet sie klar besser. Weil aber der Bundestag, gerade auch nach dem Eindruck der Befragten, bei der massenmedialen Darstellung viel schlechter als das Bundesverfassungsgericht wegkommt, kann es wohl nicht anders sein, als dass auch insgesamt die Vertrauens- und Ansehenslage des Bundestages schlechter sein muss als die des Bundesverfassungsgerichts.51 Und dieser Zusammenhang wird wohl jenen anderen überlagern, der in Tabelle 4 ebenfalls gut erkennbar ist: Wer sich über Bundestag und Bundesverfassungsgericht besser informiert fühlt, vertraut diesen Institutionen auch mehr und bewertet sie besser. Die reine Nutzungshäufigkeit von Massenmedien läuft zwar ebenfalls – mit freilich geringer Wirkung – darauf hinaus, dass ein etwas besseres Bild von Bundestag und Bundesverfassungsgericht hat, wer sich besser informiert, dürfte aber Teil eines komplexeren Wirkungsgefüges aus Bildungsstand, politischem Interesse, politischem Engagement und Institutionenbewertung sein.52
4. Weitere Hintergrundfaktoren Geschlecht und Alter, die sonst oft mit politischen Einstellungen und Handlungsweisen einhergehen, entfalten beim Vertrauen zu Bundestag und Bundesverfassungsgericht oder bei der Gesamtbeurteilung beider Institutionen keine Wirkung. Im Großen und Ganzen dasselbe gilt für den Grad, in dem man sich von der Tätigkeit der beiden Institutionen in seinem persönlichen Leben betroffen fühlt. Wenig einflussreich ist ferner, ob man den Bundestag oder das Bundesverfassungsgericht von anderen Instanzen53 kontrolliert empfindet oder wünscht. Wichtiger sind die folgenden Zusammenhänge: Komplex ‚Bildungsstand / Interesse’: Ein positiveres Verhältnis zu Bundestag und Bundesverfassungsgericht geht (schwach) einher mit besserem Bildungsstand und etwas stärker mit praktiziertem politischem Interesse, desgleichen mit größerem politischem Wissen, zu dem bessere Bildung und aktiveres Interesse führen. Das alles wirkt sich auch darin aus, dass intensiveres politisches Informationsverhalten zu einer etwas positiveren Haltung zum Bundestag und – vor allem – zum Bundesverfassungsgericht führt. Hinzu kommt, dass gerade den politisch Interessierten auch etliche jener Maßnahmen auffallen, mit welchen Bundestag und Bundesverfassungsgericht der Öffentlichkeit den Zweck 51
52 53
Aus diesem Grund gibt es auch ganz gleichartige Zusammenhänge zwischen dem Ausmaß und der wahrgenommenen Tendenz massenmedialer Berichterstattung über Bundestag und Bundesverfassungsgericht sowie den Werten beider Institutionen auf den unten erörterten Skalen zu ihrem ‚institutionellen Charakter’ und zu ihrer Gesamtperformanz; siehe die Abschnitte IV/1 und IV/2d. Siehe hierzu den Abschnitt III/4. Gefragt wurde hier nach der Kontrolle durch andere politische Institutionen, die Medien sowie die Bürger, desgleichen jeweils spiegelbildlich durch Bundesverfassungsgericht und Bundestag.
232
-
-
54 55
Werner J. Patzelt
und die Besonderheiten dieser Institutionen zu vermitteln versuchen: Wem sie auffallen, und gar wem sie für sein Verständnis der jeweiligen Institution hilfreich sind, der vertraut beiden Institutionen mehr und bewertet sie auch besser.54 Komplex ‚parteipolitische Stellung im System’: Die Anhänger der protestierenden Parteien am linken und rechten Flügel des politischen Spektrums stehen Bundestag und Bundesverfassungsgericht deutlich negativer gegenüber als die Anhänger der systemtragenden Parteien. Im Hintergrund steht hier, dass die Bewertung und Akzeptanz des bestehenden politischen Systems bei den Parteien am Rande des politischen Spektrums verständlicherweise schlechter ausfällt als bei jenen Parteien, die sich klar innerhalb des Verfassungsbogens befinden. Komplex ‚Ost/West-Unterschiede’: Alles, was mit den so verschieden akzentuierten politischen Teilkulturen Ost- und Westdeutschlands zu tun hat,55 wirkt sich auch in deutlichen Ost/West-Unterschieden beim Verhältnis zu Bundestag und Bundesverfassungsgericht aus. Doch im Hintergrund der Tatsache, dass Ostdeutsche Bundestag und Bundesverfassungsgericht merklich negativer gegenüberstehen als Westdeutsche, steht der auch hier gemessene Befund, dass die Bewertung und Akzeptanz des bundesdeutschen Systems in Ostdeutschland nun einmal viel geringer ausfällt als in Westdeutschland.
Zu Details siehe das vom Verfasser erhältliche ausführliche Analysepapier. Vgl. hierzu auch W. J. PATZELT, Demokratievertrauen und Partizipationsbereitschaft. Einstellungen und Verhaltensmuster in den neuen Bundesländern, in: U. EITH / B. ROSENZWEIG (Hgg.), Die Deutsche Einheit. Dimensionen des Transformationsprozesses und Erfahrungen in der politischen Bildung, Schwalbach/Ts. 2003, S. 15-49. Im Übrigen unterscheiden sich die hier untersuchten Merkmalszusammenhänge bei Ost- und Westdeutschen kaum; sie entfalten ihre Wirkungen allerdings auf sehr unterschiedlichen Niveaus der allgemeinen Systembewertung. Dass sich bei der Einschätzung von Bundestag und Bundesverfassungsgericht so ähnliche Zusammenhangsprofile zeigen, obwohl die länger zurückliegende politische Sozialisation von erwachsenen Ost- und Westdeutschen doch so verschieden ist, legt zwei miteinander vielleicht konkurrierende, vielleicht aber auch zusammenwirkende Erklärungen nahe. Entweder sind die Wahrnehmungsund Bewertungsmuster von Parlamenten und Gerichten in sehr tiefen Schichten politischen Alltagsdenkens verankert; oder es sind vor allem aktuelle, medienvermittelte, genau darin aber über viele Jahre konsistente Deutungsmuster, die bei der Wahrnehmung und Bewertung von Bundestag und Bundesverfassungsgericht jedwede grundständige Prägung des politischen Denkens wirksam überlagern. Solche jahrelang konsistenten massenmedialen Deutungsmuster könnten ‚kulturimperialistisch’ aus den alten Bundesländern in die neuen Bundesländer gelangt sein; sie könnten aber auch ihrerseits nur an die Oberfläche heranreichende Ausformungen sehr tiefliegender Schichten gesamtdeutschen politischen Denkens sein. Letzteres passte gut zu FRAENKELs Analyse der geschichtlichen Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus (siehe Anm. 7) sowie zur Diagnose eines ‚latenten Verfassungskonflikts’ in Deutschland; siehe PATZELT, Latenter Verfassungskonflikt (wie Anm. 11).
‚Weiche Faktoren’ institutioneller Macht
233
IV. Zentrale Faktoren der unterschiedlichen Vertrauens- und Bewertungslage von Bundestag und Bundesverfassungsgericht 1. Der ‚institutionelle Charakter’ Im Anschluss an Untersuchungen von HIBBING und THEISS-MORSE56 galt es zu versuchen, die populären Wahrnehmungen des institutionellen Charakters von Bundestag und Bundesverfassungsgericht zu erfassen. Zu diesem Zweck wurden Fragen nach Gemeinwohl- und Gerechtigkeitsorientierung, nach Kompetenz und Sachlichkeit, nach der Zeit-, Kosten- und Wirkungseffizienz beider Institutionen gestellt. Die Antworten auf sie gibt die Tabelle 5 wieder. Ihre Befunde sind für den Bundestag niederschmetternd: So gut wie alle positiv formulierten Behauptungen über ihn werden von den meisten Deutschen für eher falsch gehalten. Erfreulich sind die Ergebnisse hingegen für das Bundesverfassungsgericht: Es wird nicht nur in jeder Hinsicht besser beurteilt als der Bundestag, sondern auch – mit Ausnahme kostengünstiger Arbeitsweise – von den meisten Deutschen überwiegend positiv. Tabelle 5: Einschätzungen zum ‚institutionellen Charakter’ von Bundestag und Bundesverfassungsgericht Der BundesDas Bundestag … verfassungsgericht … bemüht sich um gerechte Entscheidungen 3,9 5,5 erzielt mit seinen Entscheidungen auch die 3,6 4,9 gewünschten Wirkungen arbeitet mit Sachverstand und gekonnt 3,6 5,3 trägt Meinungsverschiedenheiten sachlich aus 3,4 5,3 lässt sich bei seinen Entscheidungen vom Ge3,3 4,9 meinwohl leiten und nicht von den Interessen einiger durchsetzungskräftiger Gruppen setzt nicht Parteiinteressen an die erste Stelle 3,3 5,2 erledigt seine Aufgaben in angemessener Zeit 3,2 4,1 arbeitet kostengünstig 2,4 3,6 Legende: Angegeben sind die Mittelwerte von siebenstufigen Beurteilungsskalen, mit 1 = „Diese Behauptung ist völlig falsch!” und 7 = „Diese Behauptung ist völlig richtig!”
Im Übrigen hat es das Profil der jeweiligen Charaktereinschätzung wirklich in sich. Der Bundestag gilt den meisten Deutschen als eine Institution, die sich zwar halbwegs um gerechte Entscheidungen bemüht, aber ziemliche Schwierigkeiten damit hat, mit ihren Entscheidungen auch die gewünschten Wirkungen zu erzielen. Ferner scheint sie nicht mit sonderlichem Sachverstand oder allzu gekonnt zu arbeiten 56
Siehe HIBBING / THEISS-MORSE, Congress as Public Enemy (wie Anm. 9).
234
Werner J. Patzelt
und trägt obendrein ihre Meinungsverschiedenheiten nicht allzu sachlich aus. Überdies haben die Deutschen den Eindruck, durchaus nicht stelle der Bundestag des Gemeinwohls willen die Interessen durchsetzungskräftiger Gruppen oder von Parteien zurück. Zu guter Letzt sind die Bürger auch keineswegs davon überzeugt, der Bundestag erfülle seine Aufgaben in angemessener Zeit oder gar kostengünstig. Das ist ein ziemlich hässlicher Steckbrief, den das Parlament ausgestellt bekommt. Das Bundesverfassungsgericht hingegen gilt den Deutschen in jeder Hinsicht als besser: Es bemühe sich klar um gerechte Entscheidungen, arbeite mit Sachverstand und gekonnt, trage Meinungsverschiedenheiten sachlich aus und setze Parteiinteressen gerade nicht an die erste Stelle. Auch erziele es mit seinen Entscheidungen so ziemlich die gewünschten Wirkungen – und obendrein erledige es seine Aufgaben auch noch in halbwegs angemessener Zeit. So gut wie alles, was sich die Deutschen von der Politik wünschen, finden sie – oder glauben sie – vom Bundesverfassungsgericht vorgelebt. Am Bundestag jedoch erkennen sie alles, was sie an der Politik im Grunde verachten oder gar hassen. Dabei passen die in der Tabelle 5 zusammengestellten Beurteilungsmaßstäbe im Denken der Befragten gut zusammen: Sie lassen sich valide sowohl in eine einzige Skala als auch in jeweils getrennte ‚Charakterskalen’ für Bundestag und Bundesverfassungsgericht zusammenfassen.57 Wenn aber viele Deutsche einen solchen impliziten ‚Charaktermaßstab’ tatsächlich gebrauchen, wäre es höchst erstaunlich, wenn folgenlos für das Gesamturteil über Bundestag und Bundesverfassungsgericht bliebe, was er jeweils misst. Genau solche Folgen führt die Tabelle 6 vor Augen: Sie stellt zusammen, wie die Werte der Charakterskalen von Bundesverfassungsgericht und Bundestag mit der Bewertung beider Institutionen sowie mit deren Hintergrundfaktoren zusammenhängen.
57
Gemeinsame Skala: Cronbachs α = .89; Charakterskala Bundestag: Cronbachs α = .89; Charakterskala Bundesverfassungsgericht: Cronbachs α = .88.
‚Weiche Faktoren’ institutioneller Macht
235
Tabelle 6: Folgen und Ursachen von Urteilen über den ‚institutionellen Charakter’ von Bundestag und Bundesverfassungsgericht Folge / Ursache Beurteilung des institutionellen Charakters des Bundestags Bundesverfassungsgerichts persönliches Vertrauen zum .52 (.40) Bundestag persönliches Vertrauen zum (.22) .55 Bundesverfassungsgericht Gesamtbewertung Bundes.49 (.30) tag Gesamtbewertung Bundes(.17) .58 verfassungsgericht Systemzufriedenheit – .36 .42 allgemein Systemzufriedenheit – .44 .33 tagespolitisch überformt Zufriedenheit mit dem aktu.56 .29 ellen politischen Personal Einschätzung der wirtschaft.33 .22 lichen Lage Demokratieakzeptanz .11 .41 Rechtsstaatsakzeptanz .14 .31 vermutete Responsivität der .58 .22 Institution vermutete Beeinflussbarkeit .31 .10 der Institution positive Darstellung des .41 (.22) Bundestags in den Medien positive Darstellung des Bundesverfassungsgerichts (.14) .42 in den Medien Legende: Angegeben sind r-Koeffizienten; eingeklammert sind inhaltlich wenig aussagekräftige Werte. Wegen der großen Fallzahlen sind alle Koeffizienten auf dem 5%-Niveau signifikant.
Eindeutig hängt die Beurteilung des institutionellen Charakters der jeweiligen Institution sehr stark mit jenem Vertrauen zusammen, das man ihr entgegenbringt, und mit jenem Gesamturteil, das man über sie fällt. Weil allerdings der institutionelle Charakter des Bundestags um vieles schlechter eingeschätzt wird als jener des Bundesverfassungsgerichts,58 wird der unterstellte institutionelle Charakter wohl
58
Auf der jeweils von 8 (= sehr schlecht) bis 56 (= sehr gut) reichenden ‚Charakterskala’ erreicht der Bundestag einen Mittelwert von 26,5, das Bundesverfassungsgericht von 38,3.
236
Werner J. Patzelt
auch eine wichtige Ursache für den Vertrauens- und Bewertungsunterschied zwischen Bundestag und Bundesverfassungsgericht sein.59 Was prägt nun aber das jeweilige Urteil über den institutionellen Charakter? Bei einem positiven Urteil über den institutionellen Charakter des Bundestags fällt – so die Befunde der Tabelle 6 – viel stärker ins Gewicht als beim Bundesverfassungsgericht, wie zufrieden die Deutschen mit ihrem jeweiligen politischen Personal sind, wie gut sie die tagesaktuelle Performanz des politischen Systems sowie die Wirtschaftslage einschätzen, für wie responsiv sie den Bundestag halten und wie gut bei alledem der Bundestag in den Massenmedien wegkommt. Zwischen massenmedialer Berichterstattung, realen politischen Schwierigkeiten und tausendfachen persönlichen Urteilen über den Bundestag dürften einander wechselseitig beeinflussende Wirkungszusammenhänge bestehen, welche die Einschätzung des Bundestags meist eher nach unten als nach oben ziehen.60 Also zeigt sich wiederum:61 Gerade auch seine mit großen Herausforderungen verbundene Stellung im realen politischen Leben macht es dem Bundestag schwer, auf die Deutschen attraktiv zu wirken. Das Bundesverfassungsgericht hat es da deutlich leichter: Es profitiert das gute öffentliche Urteil über seinen institutionellen Charakter neben der allgemeinen Systemzufriedenheit vor allem von der normativen Wertschätzung des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips. Das letztere Staatsprinzip bringt das Bundesverfassungsgericht auch symbolisch äußerst dicht zum Ausdruck. Dasselbe sollte hinsichtlich des Demokratieprinzips zwar eigentlich vom Bundestag gelten. Doch an ihm missfällt den Deutschen offenkundig, dass Demokratie in der Praxis nun eben nicht Überparteilichkeit, rein sachliche Auseinandersetzungen sowie vorzügliche Zeit- und Kosteneffizienz bedeutet. Anscheinend wird das Urteil über den Bundestag durch die Wirklichkeit praktizierter parlamentarischer Demokratie vergällt, während das Bundesverfassungsgericht vor allem im Abglanz von Prinzipien erstrahlt.
2. Der Eindruck von den Aufgaben und der Aufgabenerfüllung beider Institutionen Das Urteil über eine Institution wird sich nicht zuletzt darauf stützen, welche Aufgaben der Institution man kennt, als wie wichtig man welche Aufgabe erachtet und 59
60 61
Unverkennbar strahlt ein positiver Gesamteindruck vom Charakter des Bundesverfassungsgerichts viel nachhaltiger auf einen guten Eindruck auch vom Charakter des Bundestags aus, als das umgekehrt der Fall ist. Möglicherweise lässt sich bei Bürgern, die selbst vom Bundestag viel halten, ihr Eindruck vom Bundesverfassungsgericht kaum mehr weiter verbessern. Grundsätzlich besteht zwischen den Charaktereinschätzungen von Bundestag und Bundesrat ein Zusammenhang von r=.35, hinter welchem wohl der Einfluss des im Abschnitt III/1 erörterten allgemeinen Systemvertrauens wirkt. So etwa ein zentraler Befund aus M. MAURER, Politikverdrossenheit durch Medienberichte. Eine Paneluntersuchung, Konstanz 2003, S. 244. Siehe den Abschnitt IV/1.
237
‚Weiche Faktoren’ institutioneller Macht
für wie gut man die – vor allem wichtigeren – Aufgaben der Institution erfüllt hält. Bei konkreten Fragen nach alledem besteht eine erste Schwierigkeit darin, solche Aufgabenbeschreibungen zu finden, die sowohl auf den Bundestag als auch auf das Bundesverfassungsgericht passen. Eine zweite Herausforderung ist es, wirklich nur zu solchen Aufgaben von Bundestag und Bundesverfassungsgericht Beurteilungen zu erheben, die den Befragten auch bekannt sind, da man sonst Phantasiewerte erhält. Um mit diesen Problemen zurechtzukommen, wurde den Gesprächspartnern jeweils eine Reihe von Karten mit Aufgaben der beiden Institutionen überreicht, aus denen sie dann jene Karten auswählen sollten, die ihnen persönlich bekannte Aufgaben des Bundestags bzw. des Bundesverfassungsgerichts nannten.62 Nur auf die in den herausgelegten Karten genannten Aufgaben bezogen sich dann die Anschlussfragen zur Wichtigkeit der jeweiligen Aufgabe und zur institutionellen Performanz bei ihrer Erfüllung.63 Die Tabelle 7 zeigt, was sich dabei ergab. Tabelle 7: Aufgaben und Aufgabenerfüllung von Bundestag und Bundesverfassungsgericht in der Wahrnehmung der Deutschen Bundestag gekannt (%)
Wichtigkeitsurteil
Performanzurteil (Mittel)
(Mittel) gesellschaftliche Konflikte offen austragen ges. Konflikte durch Entscheidungen beenden
62
63
Bundesverfassungsgericht Differenz: Performanz Wichtigkeit
gekannt (%)
Wichtigkeitsurteil
Performanzurteil (Mittel)
Differenz: Performanz Wichtigkeit
(Mittel)
30
5,7
4,2
-1,5
11
5,2
4,3
-0,9
31
5,8
4,0
-1,8
41
5,9
5,1
-0,8
Bei jedem zweiten Interview wurde die Reihenfolge der Befragung zu Bundestag und Bundesverfassungsgericht verändert. Die Frage lautete jeweils: „Auf diesen Karten finden Sie einige Dinge, von denen manche Leute sagen, dass unsere politischen Institutionen dafür zuständig sind. Bitte legen Sie die Karten mit den Dingen heraus, von denen Sie meinen, dass gerade auch der Bundestag/das Bundesverfassungsgericht dafür zuständig ist!“ Die Fragen lauteten: a) „Jetzt interessiert uns, für wie w i c h t i g Sie es halten, dass der Bundestag /das Bundesverfassungsgericht diese einzelnen Aufgaben erfüllt! Dabei spielt es im Moment keine Rolle, wie gut oder schlecht er sie Ihrer Meinung nach erfüllt. Gehen wir also die herausgelegten Karten durch, und Sie sagen mir jeweils, für wie w i c h t i g Sie es halten, dass der Bundestag /das Bundesverfassungsgericht diese Aufgaben erfüllt!“; b) „Sagen Sie mir bitte jetzt noch, wie gut der Bundestag /das Bundesverfassungsgericht, Ihrer Meinung nach, wohl die einzelnen Aufgaben auch t a t s ä c h l i c h erfüllt!“ Die Antworten wurden jeweils mit Ziffern zwischen 1 und 7 erteilt.
238 Willen der Mehrheit des Volkes durchsetzen Minderheiten schützen Gesellschaftliche Reformen voranbringen Gesetze beschließen Gesetze überprüfen Regierung kontrollieren in religiösen Fragen Neutralität des Staates sichern für Gerechtigkeit sorgen Ziele und Werte des GG verwirklichen Vielfalt des Volkes, seiner Ansichten und Interessen widerspiegeln Wünsche und Ansichten des Volkes zur Grundlage von Entscheidungen machen mit Argumenten auf die öffentliche Meinung einwirken für stabile Regierung sorgen für das Gemeinwohl sorgen
Werner J. Patzelt
53
5,9
3,4
-2,5
26
5,7
4,4
-1,3
36
5,9
4,4
-1,5
37
6,0
5,2
-0,8
59
5,9
3,9
-2,0
17
5,6
4,6
-1,0
72
6,0
4,8
-1,2
26
5,7
5,1
-0,6
37
6,0
4,3
-1,7
70
6,3
5,5
-0,8
46
6,2
4,3
-1,9
37
6,2
4,8
-1,4
22
5,9
4,7
-1,2
24
6,1
5,3
-0,8
43
6,3
3,8
-2,5
54
6,4
5,1
-1,3
51
6,3
4,5
-1,8
58
6,4
5,6
-0,8
41
6,0
3,8
-2,2
14
5,9
4,7
-1,2
42
6,1
3,5
-2,6
21
5,9
4,6
-1,3
29
5,7
4,2
-1,5
9
5,6
4,5
-0,9
49
6,1
4,0
-2,1
17
6,0
4,4
-1,6
50
6,2
3,7
-2,5
23
6,1
4,7
-1,4
239
‚Weiche Faktoren’ institutioneller Macht gegen den Willen des Volkes entscheiden, falls das als die bessere oder richtige Lösung erscheint Mittel im Durchschnitt heraus gelegte Karten
16
5,4
4,4
-1,0
22
5,6
5,2
-0,4
41,5
6,0
4,1
-1,9
29,8
5,9
4,9
-1,0
7
5
Legende: Angegeben sind a) die Prozentanteile durchschnittlich gekannter Aufgaben beider Institutionen sowie der Mittelwert dieser Prozentanteile; b) Mittelwerte der auf siebenstufigen Beurteilungsskalen gemessenen Einschätzungen der Wichtigkeit der einzelnen Aufgaben sowie das Mittel dieser Mittelwerte (7 = sehr wichtig, 1 = ganz unwichtig); c) Mittelwerte der auf siebenstufigen Beurteilungsskalen gemessenen Einschätzungen, wie gut die jeweilige Aufgabe erfüllt würde, sowie das Mittel dieser Mittelwerte (7 = sehr gut, 1 = gar nicht gut); d) die Differenzen zwischen dem Performanzurteil und der Wichtigkeitsvermutung zu jeder bekannten Parlamentsaufgabe.
a) Gekannte Aufgaben von Bundestag und Bundesverfassungsgericht Entweder passten die abgefragten Aufgaben besser zum Bundestag als zum Bundesverfassungsgericht: 42% der Befragten kannten mindestens eine der vorgelegten Aufgaben des Bundestags, doch nur 30% mindestens eine der Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts. Oder die Deutschen wissen über die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts einfach weniger als über jene des Bundestags,64 so dass sie darum im Durchschnitt zwar sieben Aufgaben des Bundestags, doch nur fünf des Bundesverfassungsgerichts nennen konnten. Vermutlich werden beide Gründe hinter den Befunden der Tabelle 7 stehen.65 Ansonsten gehen schon aus dem Vergleich der Häufigkeiten, mit denen einzelne Aufgaben von Bundestag und Bundesverfassungsgericht genannt werden, Gründe der so unterschiedlichen Institutionenbeurteilung hervor. Erstens ist offenbar vom Bundestag viel stärker als vom Bundesverfassungsgericht bekannt, er habe gesellschaftliche Konflikte offen auszutragen; hingegen wird dem Verfassungsgericht deutlicher als dem Bundestag die Aufgabe zugeschrieben, es habe Konflikte durch Entscheidungen zu beenden. Zerstrittenheit und Konflikte sind den meisten Deutschen aber politisch wenig willkommen. Genau sie gelten vor allem als beim Bundestag angesiedelt, während die so wünschenswerte Rückkehr zur vermeintlichen Normalität eines streitfreien Zustandes als Leistung vor allem des Bundesverfassungsgerichts wirkt. 64 65
So die Befunde im Abschnitt III/3. Im Übrigen dürfte auch ein gewisser ‚Ratefaktor’ hinter den Angaben stehen. Anders ist schwerlich zu erklären, warum etwa 17 % der Befragten behaupteten, das Bundesverfassungsgericht habe die Aufgabe, für eine stabile Regierung zu sorgen.
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Zweitens hält man – und zwar mit Recht – vor allem den Bundestag dafür zuständig, die Vielfalt des Volkes, seiner Interessen und Wünsche widerzuspiegeln: Schließlich ist er das zentrale Repräsentationsorgan der Deutschen. Auch sei es vor allem seine Sache, die Wünsche und Ansichten des Volkes zur Grundlage von Entscheidungen zu machen sowie den Willen der Volksmehrheit durchzusetzen. Widerspiegelung von Vielfalt gerät aber rasch zur stellvertretenden Austragung von anschließend wenig geschätzten Konflikten. Obendrein widersprechen gerade umstrittene Parlamentsentscheidungen mitunter klar dem empirisch vorfindbaren Volkswillen. Dass es dazu ganz legitimerweise kommen kann, mag man zwar – etwa mit FRAENKELs Rede von der ‚Veredelung des empirisch vorfindbaren Volkswillens’ – auch als einen Vorteil von Repräsentation auffassen. Doch dem Volk klingt derlei eher nach Abgehobenheit und Politikerarroganz. Obendrein wird dem Bundestag ohnehin weniger als dem Bundesverfassungsgericht die Aufgabe zugeschrieben, auch gegen den Willen des Volkes zu entscheiden, falls das als die bessere oder die richtige Lösung erscheint: Richtern beugt man sich, Repräsentanten werden beauftragt – und sind schlecht angesehen, wenn sie derlei Aufträge nicht erfüllen. Drittens – und ebenfalls mit Recht – gilt vor allem der Bundestag als für das Voranbringen gesellschaftlicher Reformen sowie für die Sorge um das Gemeinwohl zuständig: Immerhin trägt der Bundestag jene Bundesregierung, welche nach ihrem Amtseid den Nutzen des Volkes zu mehren, Schaden vom Volk aber abzuwenden hat, und obendrein gewinnen meist jene Parteien eine zur Regierungsbildung befähigende Parlamentsmehrheit, denen das Volk im Wahlkampf glaubt, bei ihnen wären die jeweils anstehenden Reformaufgaben in guten Händen. Geht es also mit Reformen nicht richtig voran, oder scheint es gerade bei Reformen mit deren Gemeinwohlverträglichkeit zu hapern, so trifft die öffentliche Schuldzuweisung ganz natürlich das Parlament, wenn auch dessen regierungstragende Mehrheit mit noch mehr Recht als die Opposition. Nötigenfalls rückt anschließend das Bundesverfassungsgericht, oft als Oberschiedsrichter angerufen von der Opposition, verunglückte Gesetzeskonstruktionen wieder gerade: Klar stärker als dem Bundestag wird ihm die Aufgabe zugeschrieben, für Gerechtigkeit zu sorgen. So wirkt das Bundesverfassungsgericht wie eine verlässliche letzte Instanz, der Bundestag hingegen wie eine immer wieder zur Ordnung zu rufende Schulklasse.66
b) Als wie wichtig gelten die gekannten Aufgaben von Bundestag und Bundesverfassungsgericht? Beim Bundestag gelten die allermeisten Aufgaben als ziemlich wichtig, wobei sich auch nur geringe Abstufungen der Wichtigkeitszuschreibung finden. Für überdurchschnittlich wichtig werden mit der Verwirklichung der Ziele und Werte des 66
Verständlicherweise sind vom Bundestag auch die traditionell gelehrten Parlamentsaufgaben recht bekannt, zumal die der Gesetzgebung, der Regierungskontrolle und – in unserem politischen System – der Regierungsbildung.
‚Weiche Faktoren’ institutioneller Macht
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Grundgesetzes, der Sorge um Gerechtigkeit und für das Gemeinwohl solche Aufgaben gehalten, die zwar in der Tat wichtig sind, doch nicht allzu spezifisch das erfassen, was ein Parlament konkret tut. Freilich schließt sich in der Wichtigkeitszumessung gleich die Masse der konkreten Funktionen und Leitideen des Bundestags an. Zu ihnen gehört auch die unterstellte Aufgabe, die Ansichten des Volkes zur Grundlage von Entscheidungen zu machen sowie den Mehrheitswillen durchzusetzen. Beides ist normativ sicher richtig, schöpft aber den aus Responsivität u n d Führung bestehenden Zweck von Repräsentation nicht aus. Für am wenigsten wichtig werden denn auch jene Bundestagsaufgaben gehalten, in deren Erfüllung das Parlament genau die F ü h r u n g saufgabe von Repräsentanten verwirklicht: indem es nämlich mit Argumenten auf die öffentliche Meinung einwirkt oder nötigenfalls auch gegen den Willen des Volkes entscheidet. Beides aber tun Parlamentarier immer wieder und auch ganz pflichtgemäß, vergehen sich damit aber gegen die klare Präferenz des Volkes für Responsivität. Beim Bundesverfassungsgericht werden von vornherein gerade jene Aufgaben für wichtig gehalten, die nicht nur – wie beim Bundestag – in jeder Hinsicht populär sind (Verwirklichung der Ziele und Werte des Grundgesetzes, Sorge für Gerechtigkeit und Gemeinwohl), sondern die von einem Gericht auch noch ohne nach außen gekehrte Konflikte und mit unbestrittener Autorität erfüllt werden können. Letzteres gilt gerade für die beim Bundesverfassungsgericht als so wichtig eingestuften Aufgaben der Gesetzeskontrolle und eines Agierens als Gegengewicht zur Bundesregierung: Nicht als politischer Mitakteur, sondern als der Parteipolitik übergeordnete und sich mit ihr darum auch nicht beschmutzende Oberinstanz wird die Karlsruher Institution wahrgenommen. Also passen beim Bundesverfassungsgericht viel besser als beim Bundestag jene Verhaltenserwartungen, welche die Bevölkerung legitimerweise an Gerichtshöfe und Parlamente richtet, zu dem, was eine solche Institution eben tun kann und auch tatsächlich tut, ohne auf das Volk anstößig zu wirken.
c) Urteile über die Performanz beider Institutionen Sehr durchschnittlich erfüllt nach Meinung der Bürger der Bundestag seine Aufgaben, deutlich besser das Bundesverfassungsgericht.67 Hierin zeigt sich eine weitere Ursache der dürftigen Vertrauens- und Bewertungslage des Bundestags. Am schlechtesten – und außerdem klar unterdurchschnittlich – wird seine Performanz bei der Durchsetzung des Mehrheitswillens des Volkes sowie bei der unterstellten Pflicht eines Parlaments bewertet, die Wünsche und Ansichten der Bevölkerung zur Grundlage seiner Entscheidungen zu machen. Dasselbe gilt für die Widerspiegelung der Vielfalt des Volkes, desgleichen für die Sorge um das Gemeinwohl und um Gerechtigkeit, ferner auch für das Voranbringen gesellschaftlicher Reformen. 67
Der Mittelwert der auf siebenstufigen Einschätzungsskalen erhobenen durchschnittlichen Performanzbeurteilungen bei Bundestagsaufgaben ist 4,1, jener der durchschnittlichen Performanzbeurteilungen der Aufgabenerfüllung des Bundesverfassungsgerichts 4,9.
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Werner J. Patzelt
Das alles stellt dem Bundestag kein gutes Zeugnis aus und ist auch kein guter Befund für die Legitimitätslage der deutschen Demokratie. Zwar mögen die hier vorliegenden Urteile der Deutschen in mancherlei Hinsicht zu hart oder desinformiert sein. Doch ohne Zweifel spiegelt sich hier die populäre Rede von der ‚Abgehobenheit’ des Parlaments, desgleichen das Fehlen eines weit gespannten Politikkonsenses zwischen dem Volk und seinen Vertretern. Beides dürften aber wichtige Ursachen dafür sein, dass die Deutschen zu ihrem Bundestag so wenig Vertrauen und vor seinen Leistungen so wenig Respekt haben. Überdurchschnittlich beurteilen sie ihn eigentlich nur dort, wo es um die rein praktische Erfüllung instrumenteller Parlamentsaufgaben geht: beim Beschließen von Gesetzen, bei der Überprüfung – und anschließenden Novellierung – von Gesetzen, sowie bei der Kontrolle der Regierung.68 Das alles reicht zwar aus, um den Bundestag der Bevölkerung als eine funktionierende Institution vor Augen zu führen, nicht aber auch als eine, die das Volk genau so vertritt, wie dieses vertreten zu werden wünscht. Die Performanz des Bundesverfassungsgerichts bewerten die Deutschen hingegen nur dort als unterdurchschnittlich, wo sie ihm zuvor Aufgaben zugeschrieben haben, welche diese Institution gar nicht hat: bei der Gewährleistung einer stabilen Regierung, beim offenen Austragen gesellschaftlicher Konflikte, beim bewussten Einwirken auf die öffentliche Meinung, bei der Durchsetzung des Mehrheitswillens der Bevölkerung und dabei, die Wünsche und Ansichten des Volkes zur Grundlage seiner Entscheidungen zu machen. Recht positiv schneidet das Bundesverfassungsgericht dafür bei seinem Kerngeschäft ab: bei der Verwirklichung der Ziele und Werte jenes Grundgesetzes, dessen machtvoller Hüter das Gericht ja ist; bei der Kontrolle der Regierung als Vetospieler im System horizontaler Gewaltenteilung; bei der Sicherung der Neutralität des Staates in religiösen Fragen; beim Schutz von Minderheiten; bei der Sorge um Gerechtigkeit; und bei der Beendigung von Konflikten durch Entscheidungen. Somit gibt es eine folgenreiche Asymmetrie in der öffentlichen Wahrnehmung beider Institutionen: Beim Bundesverfassungsgericht beurteilen die Deutschen alles das, was es wirklich tun muss, als auch gut getan; doch beim Bundestag gilt alles das als eher schlecht getan, was man von ihm jenseits bloßen Funktionierens i n h a l t l i c h erwartet. Eben diese Asymmetrie hinterlässt beim Urteil über beide Institutionen ihre Spuren. Besonders deutlich wird das beim Vergleich zwischen einerseits den Mittelwerten der Wichtigkeit, welche die Deutschen den einzelnen Aufgaben von Bundestag oder Bundesverfassungsgericht zuweisen, und andererseits den Mittelwerten ihres Urteils, wie gut diese Aufgaben wohl wirklich erfüllt werden. Wo nämlich die Mittelwertunterschiede besonders groß sind, dürften sich besonders neuralgische Punkte der Institutionenbeurteilung finden: Soll und Ist klaffen dort weit auseinander. Beim Bundestag sind das seine – vor allem als praktizierte Responsivität 68
Auf wie dünner Wissensgrundlage alle diese Urteile stehen, geht auch aus der Performanzbeurteilung des Bundestags bei der Sorge für eine stabile Regierung hervor: Die Deutschen vermuten hier eine mittelmäßige Leistung, während der Bundestag diese Aufgabe tatsächlich so gut wie immer ganz hervorragend erfüllt hat.
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verstandene – Repräsentationsaufgabe sowie seine staatspolitischen Gesamtaufgaben: Besonders viel lässt er, in den Augen der Deutschen, bei den Aufgaben zu wünschen übrig, die Vielfalt des Volkes widerzuspiegeln, die Wünsche und Ansichten des Volkes zur Grundlage seiner Entscheidungen zu machen sowie den Mehrheitswillen des Volkes durchzusetzen, desgleichen bei der Sorge um Gerechtigkeit und um das Gemeinwohl, die beide von den Befragten wohl als überparteilich definierbar angesehen wurden. Das alles sind zentrale Themen publizistischer wie populärer Parlamentskritik. Offenbar sind es auch diese weithin wahrgenommenen oder immerhin unterstellten Defizite des Bundestags, die zu dessen so wenig befriedigendem Erscheinungsbild führen. Das Bundesverfassungsgericht aber steht hier von vornherein besser da als der Bundestag: Das Mittel der Mittelwertdifferenzen beträgt bei ihm -1,0, beim Bundestag hingegen -1,9. Obendrein werden beim Bundesverfassungsgericht sonderliche Ist/Soll-Unterschiede nur bei solchen Aufgaben empfunden, die entweder ohnehin nicht Sache dieser Institution sind (v.a. die Sicherung einer stabilen Regierung, die Widerspiegelung der Vielfalt des Volkes sowie die Befolgung und Durchsetzung von dessen Mehrheitswillen) oder bei welchen das Bundesverfassungsgericht auch nur nachsorgend tätig wird und zunächst einmal Regierung oder Parlament gefordert sind (nämlich bei der Sorge für das Gemeinwohl und bei der Regierungskontrolle). Also werden solche ‚Performanzlücken’ dem Bundesverfassungsgericht auch schwerlich zum Nachteil ausschlagen. Nicht nur der von den Deutschen wahrgenommene institutionelle Charakter des Bundesverfassungsgerichts macht dann diese Institution höchst achtenswert, sondern obendrein so ziemlich alles, was man von ihr kennt, für wichtig hält und geleistet fühlt.
d) Gesamtwirkungen des Urteils über die Aufgaben und Aufgabenerfüllung von Bundestag und Bundesverfassungsgericht Verdichtende Analysen sollten zeigen, wie eng und wie unterschiedlich diese Einschätzungs- und Beurteilungskomplexe für Bundestag und Bundesverfassungsgericht zusammenwirken. Um sie durchzuführen, wurden – getrennt für Bundestag und Bundesverfassungsgericht – sowohl die Einschätzungen der Wichtigkeit der einzelnen institutionellen Aufgaben als auch die Urteile über die Performanz der Aufgabenerfüllung in vier Skalen zusammengefasst.69 Ferner wurden die Angaben der Befragten so gewichtet, dass nicht Unterschiede in der Anzahl gekannter – und anschließend auch nach Wichtigkeit und Performanz beurteilter – Institutionenaufgaben die Ergebnisse verzerren.70 Mit diesen Skalen sowie mit jener zum institutionellen Charakter von Bundestag bzw. Bundesverfassungsgericht wurden dann
69
70
Die entsprechenden Werte von Cronbachs α sind .99 (Wichtigkeit der Aufgaben des Bundestags), .96 (Wichtigkeit der Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts) und jeweils ebenfalls .96 bei den Urteilen über die Qualität der Aufgabenerfüllung von Bundestag und Bundesverfassungsgericht. Details finden sich im vom Verfasser erhältlichen ausführlichen Analysepapier.
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Korrelationsanalysen durchgeführt. Sie bestätigten das bislang interpretativ gewonnene Bild. Erstens wird der institutionelle Charakter des Bundestags um so besser beurteilt, je besser man auch die Performanz des Bundestags einschätzt (r=.58). Hingegen hat die Wichtigkeit, die man den einzelnen Aufgaben des Bundestags zumisst, keinen Einfluss auf das Charakterurteil (r=-.02). Ganz anders verhält es sich beim Bundesverfassungsgericht: Besser beurteilt dessen institutionellen Charakter, wer auch seine Aufgaben für wichtiger hält (r=.33), während die alltagspraktische Performanz dieser Institution das Urteil über ihren Charakter viel weniger beeinflusst, als das beim Bundestag der Fall ist (r=.28). Beim Bundesverfassungsgericht hängt obendrein der Glaube, diese Institution habe wichtige Aufgaben, stark mit einem positiven Urteil über die Erfüllung dieser Aufgaben zusammen (r=.43), während beim Bundestag ein sonderlicher Zusammenhang dieser Art nicht besteht (r=.11). Beim Bundestag ist es somit vor allem die massenmedial vermittelte Funktionswirklichkeit, die das Bild dieser Institution prägt, während beim Bundesverfassungsgericht positive normative Zuschreibungen für die Beurteilung der Institution ausschlaggebend sind. Zweitens erklärt sich die so unterschiedliche Vertrauens- und Bewertungslage beider Institutionen ebenfalls nach dem gleichen Muster. Dem Bundestag vertraut nämlich um so mehr, wer auch die Performanz dieser Institution gut beurteilt (r=.49), während die Einschätzung der Wichtigkeit der Bundestagsaufgaben mit dem Grad persönlichen Vertrauens zu ihm wenig zu tun hat (r=.11). Nicht anders verhält es sich mit der Gesamtbewertung des Bundestags: Sie hängt mit dessen perzipierter Performanz zusammen (r=.43), kaum aber mit dessen vermuteter Wichtigkeit (r=.10). Beim Bundesverfassungsgericht hingegen kommt neben der Performanz auch der Glanz seiner Aufgaben ins Spiel: Es vertraut dem Bundesverfassungsgericht mehr und bewertet es besser, wer ebenfalls seine Aufgaben für wichtiger hält (r=.30 bzw. .33), und nicht nur, wer seine Leistungen besser beurteilt (r=.47 bzw. .41). Offenbar erscheint das Bundesverfassungsgericht den Deutschen im Vergleich zum Bundestag als die viel ‚rundere’ Institution, bei welcher Wichtigkeit der Aufgaben, Qualität der Aufgabenerfüllung und institutioneller Charakter deutlich besser zusammenstimmen als beim Parlament. Da überdies sowohl der institutionelle Charakter als auch die Performanz des Bundestags für viel schlechter gehalten werden als jene des Bundesverfassungsgerichts,71 müssen die so großen Vertrauens- und Bewertungsunterschiede beider Institutionen nun überhaupt nicht mehr wundern. Und weil sich an ihren Prägefaktoren ohne energische Anstrengungen auf absehbare Zeit nichts ändern wird, können wir auch in absehbarer Zukunft davon ausgehen, dass der Bundestag bei Bevölkerungsumfragen weit hinter dem Bundesverfassungsgericht rangieren wird. 71
Auf den Performanzskalen haben Bundestag und Bundesverfassungsgericht Mittelwerte von 69,5 bzw. 85,5, auf den Charakterskalen von 26,5 bzw. 38,3, wobei niedrige Werte negativ, hohe Werte positiv zu deuten sind.
‚Weiche Faktoren’ institutioneller Macht
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V. Das Muster der Vertrauens- und Bewertungsgründe beider Institutionen Bislang haben wir eine ziemlich überzeugende Reihe von Ursachen für die so unterschiedlichen Vertrauens- und Bewertungslagen von Bundesverfassungsgericht und Bundestag gefunden. Einige dieser Ursachen hängen wohl enger und direkter, andere schwächer oder indirekter miteinander zusammen. Also wäre ein Gesamtbild der am meisten ausschlaggebenden Ursachen und ihrer Wechselwirkungen wünschenswert. Es lässt sich mittels einer Reihe von multiplen schrittweisen Regressionsanalysen zeichnen.72 Sie wurden parallel für Bundestag und Bundesverfassungsgericht durchgeführt, desgleichen jeweils gesondert für die abhängigen Variablen ‚persönliches Vertrauen zur Institution’ und ‚Gesamtbeurteilung der Institution’.73 Dabei war mit dem Problem rasch sinkender Fallzahlen umzugehen, da nicht alle Befragten auf alle in die Analyse einzubeziehenden Fragen Antworten gaben und es somit zu fehlenden Werten kommt. Jede der drei Möglichkeiten, auf dieses Problem zu reagieren, hat Vor- und Nachteile. Schließt man alle Befragten aus, von denen auch nur auf eine einzige Frage die Antwort fehlt (‚listenweiser Fallausschluss’), so sinken die Fallzahlen drastisch: auf n=879 bei den Analysen zum Bundestag, auf n=747 bei jenen zum Bundesverfassungsgericht. Schließt man nur jene Fälle aus, bei denen es bei der Berechnung paarweiser statistischer Kennziffern zu fehlenden Werten kommt (‚paarweiser Fallausschluss’), so behält man zwar mehr Fälle in der Analyse (n=942 bzw. n=796), muss aber mit der Möglichkeit von statistischen Artefakten rechnen. Ersetzt man hingegen eine vom Befragten nicht gegebene Antwort durch das arithmetische Mittel der Antworten aller anderen Befragten auf die jeweilige Frage (‚Mittelwertersetzung’), so gibt es zwar überhaupt keine fehlenden Fälle mehr (jeweils n=1834), doch eine Verzerrung der Ergebnisse durch die jeweils häufigste Antwort der Befragten auf die einzelnen Fragen. Zur Bewältigung dieses Problems wurden alle Regressionsanalysen mit allen drei Möglichkeiten der Behandlung fehlender Werte durchgeführt, was auf die Berechnung von 12 Regressionsmodellen hinauslief.74 Dabei zeigte sich, dass immer wieder die gleichen Variablen nennenswerte Erklärungskraft für die Vertrau72
73 74
In sie wurden 15 unabhängige Variablen einbezogen, darunter alle, deren Wirkungen Gegenstand dieses Textes waren. Der Vorteil der multiplen schrittweisen Regressionsanalyse besteht darin, dass – nach aus Gründen statistischer Aussagekraft getroffenen Auswahlentscheidungen – am Schluss unter allen zunächst in die Analyse einbezogenen Variablen genau jene selektiert sind, die eine statistisch aussagekräftige Stärke haben. Wie im Abschnitt II gezeigt wurde, hängen beide Variablen zwar stark zusammen, werden aber trotzdem wohl keine ganz äquivalenten Indikatoren sein. Sowohl für den Bundestag als auch für das Bundesverfassungsgericht wurden Regressionsanalysen mit je zwei abhängigen Variablen durchgeführt: Vertrauen zur Institution und Bewertung der Institution. Jede dieser vier Regressionsanalysen wurde obendrein mit den drei verschiedenen Behandlungsweisen fehlender Werte gerechnet, so dass abschließend die Befunde aus insgesamt 12 Regressionsanalysen zu vergleichen waren.
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ens- und Bewertungslage von Bundestag und Bundesverfassungsgericht haben.75 Die Häufigkeit, mit welcher sich die einzelnen Variablen als statistisch signifikant erwiesen,76 kann darum als grober Indikator für ihren tatsächlichen Stellenwert dienen. Die Tabelle 8 stellt die Ergebnisse dieser Analysen zusammen. Tabelle 8: Zusammenstellung regressionsanalytischer Befunde zu den Ursachen von Institutionenvertrauen und Institutionenbewertung Variable
allgemeine Systemakzeptanz (zwölfmal β-Koeff.) institutioneller Charakter (zwölfmal β-Koeff.) Performanz der Institution (neunmal β-Koeff.) positive Mediendarstellung (neunmal β-Koeff.) hilfreiche symbolische Selbstdarstellung (fünfmal β-Koeff.) Wie wichtig sind die Aufgaben? (fünfmal β-Koeff.) Responsivität (viermal β-Koeff.) 75 76
Mittel der Häufigkeitsverteilung BT BV L
(25,1)
(25,1)
P M L
26,5
38,3
P M L
69,5
P M L P
.25
.29
.12
.42 .41
.29 .29
.36 .36
.18 .22
.33
.24
.29
.39
.33 .21
.28 .21
.33 .24
.39 .29
.36
.12
.16
.24 .25
.23
.12 .13
.09
.16
.10 .12
.18 .21
.05 3,9
.08 .09
4,0
P M L
.40
4,7
P M L
Bewertung
.16 4,0
.09 .06 .06
99,7
3,0
Bundesverfassungsgericht VerBewertrauen tung
Vertrauen
85,5
P M L
Bundestag
102,0
3,3
.08 .05 -.22
-.18 .12
-.16 -.17 .08
-.18
Die statistische Signifikanz aller 12 Modelle betrug p=.00, die Anzahl in der Gleichung verbleibender unabhängiger Variablen zwischen 3 und 7, die erklärte Varianz zwischen 33 % und 47 %. Natürlich beträgt die maximale Häufigkeit, mit der bei 12 Regressionsanalysen eine Variable als signifikante unabhängige Variable auftreten kann, zwölf Mal.
Guido Carboni 1 Angera, Rocca.
2 Angera, Rocca.
3 Angera, Rocca.
Guido Carboni 4 Angera, Rocca.
5 Angera, Rocca.
6 Angera, Rocca.
Guido Carboni
7 Grabmal von Ottone und Giovanni Visconti, Duomo, Mailand (Carlo Bertelli [a cura di], Il millennio ambrosiano. La nuova città dal Comune alla Signoria, Milano 1989, S. 161).
8 Grabmal von Ottone und Giovanni Visconti, Duomo, Mailand (Bertelli, Il millennio ambrosiano, S. 161).
9 Giovanni di Balduccio, Arca di San Pietro Martire, Cappella Portinari, Sant’Eustorgio, Mailand (Anita Moskowitz, Giovanni di Balduccio’s Arca di San Pietro Martire: Form and Function, in: Arte Lombarda 96 1991, S. 7).
Guido Carboni
10 Giovanni di Balduccio, Arca di San Pietro Martire, Cappella Portinari, Sant’Eustorgio, Mailand (Anita Moskowitz, Giovanni di Balduccio’s Arca, S. 12).
12 Grabmal des Azzo Visconti, S. Gottardo, Mailand (Peter Seiler, Das Grabmal des Azzone Visconti in San Gottardo in Mailand. Mit acht Tafeln, in: Jörg Garms / Angiola Maria Romanini (Hgg.), Skulptur und Grabmal des Spätmittelalters in Rom und Italien. Akten des Kongresses, Rom, 4.- 6Juli 1985 [Publikationen des Historisches Instituts beim Österreichischen Kulturinstitut in Rom, I. Abteilung: Abhandlungen 10], Wien 1990, S. 392).
11 Fiorino von Giovanni und Luchino Visconti (Carlo Crippa, Le monete di Milano dai Visconti agli Sforza dal 1329 al 1535, Milano 1986, S. 36).
Guido Carboni
13 Grabmal des Azzo Visconti, S. Gottardo, Mailand (Peter Seiler, Das Grabmal des Azzone Visconti, S. 392).
14 Grabmal des Azzo Visconti, S. Gottardo, Mailand (Peter Seiler, Das Grabmal des Azzone Visconti, S. 392).
15 Votivtabernakel, Lombardische Kunst, XII. Jh., Mailand, Civiche Raccolte d’Arte Antica del Castello Sforzesco (Milano e la Lombardia in età comunale. Secoli XI-XIII, Milano 1993, S. 475).
16 Grosso d’argento von Galeazzo II. und Bernabò Visconti, (Carlo Crippa, Le monete di Milano dai Visconti agli Sforza dal 1329 al 1535, Milano 1986, S. 49).
Guido Carboni
17 Schüssel mit den Heiligen Ambrogio, Gervaso und Protaso, letztes Viertel des XIV. Harhunderts, Museo della basilica di Sant’Ambrogio, Mailand (Ambrogio. L’immagine e il volto. Arte dal XIV al XVII secolo, Venezia 1998, S. 56).
18 Maister der Pala Sforzesca, Sant’Ambrogio in der Schlacht von Parabiago (1495), Musée diu Petit Palais, Avignon (Ambrogio. L’immagine e il volto, S. 9).
19 Banner von Mailand mit Taube und Sonnenstrahlen.
Tino Heim 1 Sowjetische Vorbilder der frühen Planungen. Entwurf eines Verwaltungs- hochhauses von Dimitri Tschetschulin (1947/49).
2 Entwurf für das „Zentrale Gebäude“ von Richard Paulick (1951).
Tino Heim
3 „Marx Engels Forum“ in Öl. Ölgemälde nach Entwürfen Gerhard Kosels (1959).
4 Zusammenfassung und Überbietung der „hervorragendsten Baudenkmäler“. Handskizze von Gerhard Kosel von 1955.
Tino Heim
5 In Zusammenfassung des Ideenwettbewerbs modernisierte Variante des Marx-Engels-Forums von Kosel, Hopp und Mertens mit den gestauten Spreebecken (1959). 6 Das bis zur Bauplanung getriebene Projekt Hermann Henselmanns mit Regierungshochhaus und kugelför- miger Volkskammer im „Ehrenhof“ (1962).
Tino Heim
7 Transparenzsuggestion. Der 1976 eröffnete „Palast der Republik“ bei Nacht.
8 Gebrochenes Geschichtsbild. Bernhard Heisigs Ölgemälde „Ikarus“ (1975) in der Dauerpräsentation der Galerie im „Palast der Republik“.
Manuela Vergoosen
1 Anton von Werner, Tages Arbeit, Abends Gäste/ Saure Wochen, frohe Feste Fries für den Salon von Werners Wohnung in der Villa VI, Öl auf Leinwand, 1871.
2 Anton von Werner, Taufe in meinem Hause, Öl auf Holz, 1880.
3 Fotografie von 1938: Anton von Werner, Wandbilder im Kinderzimmer; Dornröschen, Schneewittchen und die sieben Zwerge, Aschenputtel, Grisaillen, ab 1873.
Manuela Vergoosen 4 F. Albert Schwartz, Palais Pringsheim, Berlin, Wilhelmstr. 67, Fotografie, um 1910.
5 Anton von Werner, Juventus, Farbskizze zum Mosaikfries an der Villa Pringsheim, Öl auf Leinwand, 1872.
6 Anton von Werner, Amicitia, Farbskizze zum Mosaikfries an der Villa Pringsheim, Öl auf Leinwand, 1872.
Manuela Vergoosen
7 Anton von Werner, Amor, Farbskizze zum Mosaikfries an der Villa Pringsheim, Öl auf Leinwand, 1872.
8 Anton von Werner, Felicitas, Farbskizze zum Mosaikfries an der Villa Pringsheim, Öl auf Leinwand, 1872.
9 Anton von Werner, Ars, Farbskizze zum Mosaikfries an der Villa Pringsheim, Öl auf Leinwand, 1872.
Manuela Vergoosen
10 Anton von Werner, Exitium, Farbskizze zum Mosaikfries an der Villa Pringsheim, Öl auf Leinwand, 1872.
11 Anton von Werner. La Festa, Wandbild im Treppenhaus der Villa Behrens in Hamburg, Öl, 1876.
12 Anton von Werner, Das Gastmahl der Familie Mosse, Wandbild im Speisesaal der Villa Mosse, Öl und Wachsfarben, 1899.
Manuela Vergoosen
13 Julius Scholz, Das letzte Gastmahl der Generale Wallensteins, Öl auf Leinwand, 1862.
14 Anton von Werner, Entwurf zu einem Wandbild Was Ihr wollt für das Herrenzimmer der Villa Pringsheim, schwarze Feder über Bleistift, aquarelliert, 1870.
Manuela Vergoosen 15 Anton von Werner, König Wilhelm am Sarkophag seiner Mutter im Mausoleum Charlottenburg, Öl auf Leinwand, 1881.
16 Ed. Mey, Das Siegerdenkmal im Augenblick der Enthüllung, Fotografie, 1873.
17 Anton von Werner, Siegesallee-Velarium mit der Niederlage Napoleons, Öl auf Leinwand, um 1873.
Manuela Vergoosen 18 Anton von Werner, Porträt der Familie Pringsheim in Kostümen der Renaissance für ein Wandbild im Herrenzimmer der Villa Pringsheim, Öl, 1879.
19 Anton von Werner, Farbskizze zum Wand- bild Morgen aus dem Zyklus Ein römischer Tag für das Café Bauer, Öl auf Leinwand, 1882.
Manuela Vergoosen
20 Anton von Werner, Farbskizze zum Wandbild Bekränzung aus dem Zyklus Ein römischer Tag für das Café Bauer, Öl auf Leinwand,1882.
21 Anton von Werner, Farbskizze zu den Wandbildern Symposium und Pantomimia aus dem Zyklus Römisches Leben für das Café Bauer, Öl auf Leinwand, 1877.
22 Anton von Werner, Entwurf zum Wandbild Horatius Flaccus aus dem Zyklus Römisches Leben für das Café Bauer, Öl auf Leinwand, 1877.
Barbara Marx
1 Joseph Boillot, Artifices Defeu, et divers Instruments de guerre. Das ist künstlich Feuerwerck und Kriegs Instrumenta, aus dem Franzoeischen transferirt durch Joannem Brantzium Unior Argentinensem, Straßburg: Bertram 1603, S. 7 III. SLUB, Deutsche Fotothek.
2 Joseph Boillot, Artifices Defeu, et divers Instruments de guerre. Das ist künstlich Feuerwerck und Kriegs Instrumenta, aus dem Franzoeischen transferirt durch Joannem Brantzium Unior Argentinensem, Straßburg: Bertram 1603, S. 2 I. SLUB, Deutsche Fotothek.
3 Matthias Daniel Pöppelmann, Festungsaufbau für das Feuerwerk zu Ehren König Friedrichs IV. von Dänemark in Dresden 1709, Entwurf, Feder, Tusche, aquarelliert. SLUB, Ms. Dresd. L.4, Bl. 23. SLUB, Deutsche Fotothek.
Barbara Marx
4 Moritz Bodenehr, Feuerwerk zu Ehren König Friedrichs IV. von Dänemark in Dresden 1709. Schabetechnik. SLUB, in Eigentlicher Abriß und Beschreibung Des noch niemahls allhier so groß und kostbar vorgestellten FeuerWercks, Welches dem Aller=Durchlauchtigsten Großmächtigsten König in Dennemarck und Norwegen Herrn Friedrich dem Vierdten […] allhier in Dreßden zu Ehren […], Alt-Dresßden: Schwencke 1709.
5 C.H. Fritsche, Feuerwerk auf der Elbe anlässlich des Besuches des dänischen Königs am 6. Juni 1709, Gouache. Dresden, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. C 1968-792. SLUB, Deutsche Fotothek.
Barbara Marx
6 Johann August Corvinus, nach Planzeichnung von Matthias Daniel Pöppelmann, Feuerwerk auf der Elbe beim Holländischen Palais 1719, Kupferstich, vor 1728. Dresden, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. A 136570. SLUB, Deutsche Fotothek.
7 Matthias Merian d.Ä., Prospect Der Brücken zu Dresden, Kupferstich 1650. Dresden, Kupferstichkabinett Inv.-Nr. A 13145. SLUB, Deutsche Fotothek.
Barbara Marx
8 Zacharias Longuelune: Schlossfassade zur Elbe, Projekt, Feder, Tusche, laviert. HStA Dresden, OHMA, Pläne und Risse, Cap. I A, Nr. 60a, Bl. 22. HStA Dresden.
Barbara Marx
Barbara Marx 9 Zacharias Longuelune, Grundriss einer Schlossanlage, Entwurf, Feder, Tusche, laviert. HStA Dresden, OHMA, Pläne und Risse, Cap. I A, Nr. 60a, Bl. 18. HStA Dresden.
10 Bernardo Bellotto, Dresden vom linken Elbufer unterhalb der Festungswerke, Öl auf Leinwand, 1748. Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Inv.Nr. Gal. Nr. 607. SLUB, Deutsche Fotothek.
Barbara Marx
11 Carl Gustav Heraeus, Facies prima arcus aditum aperientis ad Circum Max. qui exhibendus fuit in Imp. Car. VI Natali XXXIII, in Heraeus, Inscriptiones et symbola varii argumenti, Lipsiae 1734, S. 108 I.. Kupferstich. SLUB, Deutsche Fotothek.
12 Carl Gustav Heraeus, Idea Circensis Spectaculi edendi in S. Caes. Et Cath. Maj. Natali, in Heraeus, Inscriptiones et symbola varii argumenti, Lipsiae 1734, S. 112 II. Kupferstich. SLUB, Deutsche Fotothek.
Barbara Marx
13 Jean Le Pautre, Quatrième journée. Festin dont la table était dressé autour de la fontaine de la cour de marbre du château de Versailles, au-dessus de laquelle s’élévait une colonne toute de lumière, in: André Félibien, Les Divertissements de Versailles, donnez par le Roy…au retour de la conqueste de Franche-Comté en l’année MDC.LXXIV, Paris 1676. Kupferstich, 1676. Dresden, Kupferstich-Kabinett, Inv.-Nr. B 1967, 284889. Dresden, Kupferstich-Kabinett.
14 Jean Le Pautre, Cinquième journée. Feu d’artifice sur le canal de Versailles, in André Félibien, Les Divertissements de Versailles, donnez par le Roy…au retour de la conqueste de Franche-Comté en l’année MDC.LXXIV, Paris 1676. Kupferstich, 1676. Dresden. Kupferstich-Kabinett, Inv.-Nr. B 1967, 284890. Dresden, Kupferstich-Kabinett.
Barbara Marx 15 Carl Heinrich Jakob Fehling, Chiffre du Roi illuminé et entouré des 7 Planètes, in Das Saturnus-Fest im plauischen Grunde 1719. Eigentliche Vorstellung des vortrefflichen und prächtigen Bergwerks-oder Saturnus- Festes, Kupfer Nr. 8. SLUB, Hist. Sax. C 237m. SLUB, Deutsche Fotothek.Eintrag zu Phaleg und die Reihe der Regierungsjahre des ersten assyrischen Königs Nimrod Saturnus.
16 Carl Heinrich Jakob Fehling, Façade latérale du temple de Saturne. Entrée des Mineurs, in Das Saturnus-Fest im plauischen Grunde 1719. Eigentliche Vorstellung des vortrefflichen und prächtigen Bergwerks-oder Saturnus-Festes…in dem sogen. Plauischen Grund …aufgeführt und celebriret worden am 20. Septembr. 1719, Kupfer Nr. 2. SLUB, Hist. Sax. C 237m. SLUB, Deutsche Fotothek.
Barbara Marx
17 Carl Heinrich Jakob Fehling, Plan du Temple de Saturne pour la Fête donnée à Plauen en 1719, in Das Saturnus-Fest im plauischen Grunde 1719. Eigentliche Vorstellung des vortrefflichen und prächtigen Bergwerks-oder Saturnus-Festes, Kupfer Nr. 7. SLUB, Hist. Sax. C 237m. SLUB, Deutsche Fotothek.
Andreas Schwarting
1 L. Mies van der Rohe: Deutscher Pavillon auf der Weltausstellung in Barcelona 1929, rekonstruierte Ansicht nach J. Quetglas (Anm. 1). 2 Der Barcelona-Pavillon 1929, bauzeitliche Ansicht.
3 W. Gropius: Fagus-Werk in Alfeld an der Leine, ab 1911. Foto A. Renger-Patzsch1928.
Andreas Schwarting 4 W. Gropius: bauhausbauten dessau, Seiten 98f. Windfang und Hausflur des Hauses Gropius mit Bildern aus dem Film „Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich?“ (Anm. 9).
5 S. Giedion: Raum, Zeit, Architektur, S. 96f. Gegenüberstellung der Kuppel von Sant Ivo von F. Borromini mit dem Denkmalentwurf für die III. Internationale von W. Tatlin (Anm. 15).
6 Icomos: Konservierung der Moderne? Titel des Hefts 24 des deutschen National komitees, 1996 (Anm. 19).
Andreas Schwarting 7 S. Ebeling, Der Raum als Membran, Leipzig 1926, Buchtitel.
8 Transparenz und Reflexionen. Der wiederaufgebaute Barcelona-Pavillon. Foto A. Schwarting.
Andreas Schwarting 9 Werbespot der Firma e.on. Der Barcelona-Pavillon als Modeboutique, 2001 (Regie: D. Buck).
10 T. Ruff: d.b.p. 02.1999.
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‚Weiche Faktoren’ institutioneller Macht
politisches Wissen (viermal β-Koeff.) Inst. wird stärker kontrolliert! (viermal β-Koeff.) Institution soll stärker kontrolliert werden! (zweimal β-Koeff.) politisches Interesse (einmal β-Koeff.)
M L P M L
.08 (3,6)
(3,6)
15,0
11,6
.07 .07
.07
.09 .06 -.07
P M
-.06
L
20,0
15,5
-.06
P M L P M
(3,8)
(3,8)
.07
-.05 -.06
-.06
Legende: Die erste Spalte gibt die unabhängigen Variablen sowie die Häufigkeit wieder, mit welcher sie in den errechneten Regressionsgleichungen als β-Koeffizient auftraten. Die zweite Spalte gibt an, bei welcher Behandlungsweise fehlender Werte die mitgeteilten β-Koeffizienten berechnet wurden: P steht für paarweisen, L für listenweisen Fallausschluss, M für Mittelwertsubstitution. In der dritten und vierten Spalte finden sich, wann immer sinnvoll für Bundestag und Bundesverfassungsgericht getrennt, die Mittelwerte der jeweiligen unabhängigen Variablen. In den übrigen Spalten stehen die – allesamt auf dem 5%-Niveau signifikanten – β-Koeffizienten, welche angeben, wie stark die jeweilige unabhängige Variable auf die jeweilige, Spaltenkopf angegebene abhängige Variable einwirkt.
Als der erste wichtige Prägefaktor der Vertrauens- und Bewertungslage von Bundestag und Bundesverfassungsgericht erweist sich die allgemeine Systembewertung. Von ihr hängt – wie sich auch im Abschnitt III/1 schon zeigte – der Bundestag sogar noch stärker ab als das Bundesverfassungsgericht. Genauso wichtig ist die Einschätzung des institutionellen Charakters beider Institutionen. Letzterer wird beim Bundestag klar schlechter beurteilt als beim Bundesverfassungsgericht und trägt darum wesentlich zum insgesamt so deutlich schlechteren Abschneiden des Bundestags bei. Zumindest für die Gesamtbeurteilung beider Institutionen ist obendrein das Urteil über ihre Performanz wichtig. Insbesondere das Bundesverfassungsgericht profitiert ferner von einer positiven Darstellung in den Massenmedien für seine Vertrauens- und Bewertungslage. Ein wenig Wirkung – beim Bundestag eher für die Vertrauenslage, beim Verfassungsgericht eher für die Bewertungslage – tut auch die symbolische Selbstdarstellung beider Institutionen. Beim Bundestag – kaum aber beim Bundesverfassungsgericht – spielt zumal für die Bewertungslage ebenfalls eine gewisse Rolle, für wie wichtig man die Aufgaben dieser Institution einschätzt. Aus den im Abschnitt IV/2c erörterten Gründen wird der Bundestag dabei um so schlechter beurteilt, für je wichtiger man seine Aufgaben einschätzt. Eine geringe, wenn auch gerade noch messbare Wirkung hat für die Bewertungslage beider Institutionen auch das politische Wissen und überdies für die Einschätzung des Bundestags dessen perzipierte Responsivität, für das Urteil über das Bundesverfassungsgericht aber dessen
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Werner J. Patzelt
Freiheit von äußerer Kontrolle. Die Pointe dieser – wiewohl schwachen – Zusammenhänge ist, dass man offenbar dem Bundestag Fügsamkeit, dem Bundesverfassungsgericht aber Unabhängigkeit wünscht, doch im Grunde nur letzteres wirklich bekommen kann – was dann zum Nachteil des Bundestags ausschlägt. Die Aussagen der Tabelle 8 geben unmittelbar an, wovon die Vertrauens- und Bewertungslage beider Institutionen abhängt, und mittelbar ebenfalls, woher deren so markanter Unterschied kommt. Direkt ließ sich dieser Unterschied durch schrittweise multiple Regressionsanalysen erklären, deren abhängige Variablen genau die Differenzen im Vertrauen zu Bundestag und Bundesverfassungsgericht sowie in deren Bewertung waren. Als unabhängige Variablen dienten die Differenzen zwischen Bundestag und Bundesverfassungsgericht beim Urteil über ihren institutionellen Charakter, bei der Wichtigkeitszumessung zu ihren Aufgaben, bei der Beurteilung der institutionellen Performanz, bei der Verwendung von Selbstdarstellungspraxen, beim Tenor ihrer Darstellung in den Massenmedien sowie bei einer Reihe weiterer hierfür einschlägiger Variablen.77 Die Befunde bestätigen das in Tabelle 8 gezeichnete Bild. Es rückt lediglich die allgemeine Systemakzeptanz als einen generell – wenn auch für Bundestag und Bundesverfassungsgericht unterschiedlich stark – auf eine positive Institutioneneinschätzung hinwirkenden Faktor ins Hintertreffen. Hingegen steht klar an der Spitze der jeweilige institutionelle Charakter; ihm folgen – jeweils mit einigem Abstand und immer schwächerer Wirkung – vor allem die Urteile über die institutionelle Performanz, Responsivität, Mediendarstellung und Selbstdarstellung. Das alles erwies sich auch bei den im Lauf dieses Beitrags erörterten Analysen als harter Kern der gesuchten Ursachen für die Beurteilungsunterschiede von Bundestag und Bundesverfassungsgericht.
VI. Diagnose und Therapie Alles in allem verstehen wir nun gut, warum die Deutschen ihr Parlament so sehr verachten und ihr Verfassungsgericht so sehr lieben. Vieles läuft hinaus auf die Art der jeweils ausgeübten Macht. Vor allem Entscheidungs- und Gestaltungsmacht besitzt – über die von ihm getragene Regierung – der Bundestag, und mit beiderlei Macht eckt er bei denen an, welche den Weg der Regierungsmehrheit entweder für ohnehin falsch oder für nicht rasch genug beschritten halten. Meist gehört die Mehrheit der Bürger zur einen oder anderen Gruppe. Das Bundesverfassungsgericht hingegen übt – neben (mit-)gestaltender Entscheidungsmacht bei den ihm vorgelegten Fällen – vor allem Deutungsmacht aus. Deren Angelpunkt aber sind 77
Mit dem Problem fehlender Werte wurde in der oben erörterten Weise verfahren; allerdings wurde auf Analysen mit nur paarweisem Fallausschluss verzichtet. Alle vier gerechneten Regressionsmodelle waren signifikant mit p=0,0; sie erklärten mit drei bis acht Variablen und β-Werten von (selten) .24 bis .44 und (häufig) .05 bis .10 nur 15 % bis 28 % der Varianz. Der geringere Erklärungswert dieser Modelle wird darauf zurückgehen, dass sich bei den in die Analyse einbezogenen Differenzvariablen die Messfehler sämtlicher Variablen summieren. Zu allen Details siehe das vom Verfasser erhältliche Forschungspapier.
‚Weiche Faktoren’ institutioneller Macht
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gerade die gesellschaftlich am höchsten geschätzten politischen Leitwerte. Solange sich das Verfassungsgericht ganz klar an ihnen orientiert, die Niederungen unpopulärer und allzu politischer Entscheidungen aber meidet, kann es an Glanz darum kaum einbüßen. Sodann sind die Regelungsmaterien beider Institutionen höchst unterschiedlich. Um recht konkrete und oft zu scharfen Interessenkonflikten führende Dinge geht es dem Bundestag – um ziemlich grundsätzliche und meist auf gesellschaftlichen Konsens abzielende Entscheidungen hingegen dem Bundesverfassungsgericht. Also hat das Gericht viel bessere Chancen als das Parlament, beim Bürger Anerkennung zu gewinnen, Tadel aber zu vermeiden. Außerdem nähern sich die Bürger, und zwar aus guten Gründen, den Entscheidungen von Bundestag und Bundesverfassungsgericht mit ganz unterschiedlichen Vermutungen über deren inhaltliche Richtigkeit. Was der Bundestag entscheidet, liegt nämlich ganz offen im ‚streitigen Sektor’ der interessenpluralistischen Gesellschaft. Also werden Parlamentsbeschlüsse von all jenen als unausgewogen und problematisch erachtet, deren Interessen nicht berücksichtigt oder hintangestellt wurden. Das Bundesverfassungsgericht indessen spricht aus, was im ‚unstreitigen Sektor’ unserer Gesellschaft liegt oder zu liegen hätte; obendrein ist es durch das akzeptierte Tabu scharfer Richterschelte gegen populistische Infragestellungen seiner Urteile gut geschützt. Also kann das Bundesverfassungsgericht bittere Nebenwirkungen seiner Machtausübung gut vermeiden, während der Bundestag ihnen kaum zu entgehen vermag. Gerade wenn das Parlament seine von legitimen Auseinandersetzungen geprägte Arbeit tut, wird es Einbußen an Performanzbeurteilung und Vertrauensbereitschaft erleiden, während das über den politischen Streit erhobene Verfassungsgericht spiegelbildliche Nebengewinne an Ansehen und Zuneigung leicht einstreichen kann. Das alles kann man wiederum nicht ändern, weil beide Institutionen nun einmal verschiedene Aufgaben haben, deren Erfüllung die Bevölkerung ganz unterschiedlich versteht und bewertet. Auch weiterhin werden sich darum am Bundestag Politik- und Institutionenverachtung auskristallisieren, was alles die eigene politische Beteiligung für viele Bürger unattraktiv, die demonstrative Wahl von Protestparteien hingegen attraktiv macht. Dennoch geben die Befunde auch Hinweise darauf, was innerhalb dieses Gesamtdilemmas wohl die aussichtsreichsten Strategien für eine wenigstens geringfügige Verbesserung der Vertrauens- und Ansehenslage des Bundestags wären. Erstens muss der Bundestag wohl wirklich besser auf die Wünsche und Sichtweisen der Bürger eingehen und dem Volk solche Responsivität auch klarer vor Augen führen. Dies ist ein Problem sowohl der Politikgestaltung als auch der Politikvermittlung. Nicht nur könnten die handwerklichen und strategischen Leistungen des Bundestags besser werden. Er sollte sich zudem weniger als bislang durch Anmutungen ‚politisch korrekten’ Argumentierens davon abhalten lassen, dem Volk auch in dessen eigener Sprache und Darlegungsweise vor Augen zu führen, dass im Bundestag sehr wohl bekannt ist, wie die einfachen Leute welche Probleme sehen, erklären und lösen möchten. Zweitens müssen die tatsächlichen Leistungen einer Volksvertretung den Deutschen besser und wirksamer vor Augen geführt werden,
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Werner J. Patzelt
und zwar gerade dort, wo das Parlament in Wahrnehmung seiner Führungsaufgabe dem Volk zwar aufs Maul schaut, ihm aber nicht nach dem Munde redet. Das verlangt nach einer Überprüfung und Verbesserung der Öffentlichkeitsarbeit von Bundestag und Landtagen. Drittens – und vor allem – ist daran zu arbeiten, dass die besondere Eigenart eines Parlamentes sowie pluralistischer Demokratie überhaupt der Bevölkerung wirksamer vermittelt wird, so dass die Bürger ein Bild vom institutionellen Charakter des Bundestags gewinnen können, das viel besser als bislang mit den Tatsachen und der Funktionslogik unseres Regierungssystems zusammenpasst.78 Dabei käme es auch darauf an, der oberflächlichen Gleichsetzung von einerseits Parlament und Demokratie sowie andererseits von Demokratie und gutem Regieren entgegenzuwirken. Nur solcher Erfolg wird die angelegten Maßstäbe nämlich dem Realisierbaren anpassen und dazu führen, dass sich zur verbesserungsfähigen Praxis eher zielbewusste Tatkraft als mosernde Verdrossenheit gesellt. Damit dies alles auf solider Informationsgrundlage gelingen kann, braucht es künftig auch Medieninhaltsanalysen, welche die wichtigsten Merkmale und Besonderheiten der Berichterstattung über den Bundestag ausfindig machen. Die Ergebnisse wären anschließend mit maßgeblichen und einflussreichen Journalisten unter dem Gesichtspunkt zu diskutieren, ob es an der Praxis der Berichterstattung über den Bundestag oder an der Kommentierung zum Bundestag nicht mancherlei zu verändern gäbe. Falls die einschlägigen Studien und Diskussionen auch Ansatzpunkte für wünschenswerte Verbesserungsmöglichkeiten offen legten, sollte man unbedingt auf deren Verwirklichung hinwirken. Außerdem müssten Bundestag und Landtage eine präzise Evaluation ihrer Selbstdarstellungspraxen und Öffentlichkeitsarbeit vornehmen, und zwar von deren Reichweite ebenso wie von deren Effekten. Auch die dabei sich zeigenden Mängel wären abzustellen. Im übrigen kann sich die politische Bildungsarbeit hinsichtlich der Wichtigkeit von drei Zielen bestärkt sehen: Es muss ihr um die Weckung politischen Interesses gehen; um die Verbesserung politischen Wissens; und obendrein um eine positive Grundhaltung zu unserem ganzen System, welche sich auf zutreffend erkannte Tatsachen und auf rationale Argumentationen stützt, nicht aber auf solche Idealisierungen demokratischer Institutionen und Verfahren, die sich von deren Funktionspraxis weit entfernen. Solche Bildungsziele nachdrücklich zu verfolgen heißt aber keineswegs, dass sie auch ganz oder rasch erreichbar wären. Alle vorgelegten Befunde und aus ihnen abgeleiteten Folgerungen bringen im Grunde nichts völlig Neues. Sie bestätigen vielmehr Dinge, die viele Experten und aufgeklärte Bürger längst wussten oder wenigstens fühlten. Weitestgehend finden wir also eine Bestätigung jener Hypothesen, die dem ganzen Forschungsansatz zugrunde lagen. Doch das macht unsere Ergebnisse nicht trivial: Immerhin waren etliche der nunmehr bestätigten Aussagen in Fachkreisen und Öffentlichkeit bis78
Zu den entsprechenden Herausforderungen und Anknüpfungspunkten siehe PATZELT, Latenter Verfassungskonflikt (wie Anm. 11) und DERS., Was muss Öffentlichkeitsarbeit der Parlamente leisten? (wie Anm. 8).
‚Weiche Faktoren’ institutioneller Macht
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lang umstritten, und zwar sowohl der Tendenz als auch der Dimension nach. Also können die Befunde dieses Beitrags da, wo Streit ist, endlich gemeinsame Klarheit stiften – oder wenigstens bessere Argumente dort liefern, wo der Streit weiterzuführen sein wird. Und er wird weiterzuführen sein, damit wir zu solchen Veränderungen bei der Selbstdarstellung unseres Parlaments und dessen massenmedialer und politisch-bildnerischer Vermittlung kommen, derentwegen die Macht auch des Bundestags dereinst nicht nur auf Rechtsnormen und informellen institutionellen Mechanismen beruhen wird, sondern auch weitgehend einem Verständnis seiner Eigenart und breiter Zuneigung zu dieser Institution entspringen mag.
DAS VERHÄLTNIS DES BUNDESVERFASSUNGSGERICHTS ZU POLITIK UND ÖFFENTLICHKEIT HANS-JÜRGEN PAPIER
1. Einleitung Ich danke Ihnen für die Einladung, zu der Interdisziplinären Tagung über die „Dimensionen institutioneller Macht“ einen Vortrag aus der Perspektive des Bundesverfassungsgerichts beisteuern zu dürfen. Die Sektion der Tagung, die am heutigen Abend verhandelt wird, steht unter der Überschrift „Deutungsmacht versus Gestaltungsmacht?“, wobei der Part, der dem Bundesverfassungsgericht zugewiesen ist, ersichtlich derjenige der ‚Deutungsmacht’ ist. Die ‚Deutungsmacht’ des Bundesverfassungsgerichts, oder anders ausgedrückt: seine Kompetenz zur letztverbindlichen Entscheidung, richtet sich auf das geltende V e r f a s s u n g s r e c h t , also auf die rechtliche Grundordnung, die für das Handeln aller staatlichen Organe verbindlich ist. Ich möchte mich daher im folgenden nicht unmittelbar auf die empirische Studie über das Vertrauen der Bürger in die politischen Institutionen beziehen, deren Ergebnisse Hans VORLÄNDER und Werner J. PATZELT soeben vorgestellt haben; insoweit ist das Bundesverfassungsgericht G e g e n s t a n d der wissenschaftlichen Untersuchung und interessierter Beobachter, während die ‚Deutungsmacht’ hier bei der Politikwissenschaft und der Sozialforschung liegt. Mein Beitrag soll diese empirische Untersuchung durch eine Darstellung aus verfassungsrechtlicher Sicht ergänzen. Ich möchte dabei - zum einen - auf das mit den Begriffen der ‚Deutungsmacht’ und ‚Gestaltungsmacht’ bezeichnete Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zur Politik, und hier insbesondere zur Gesetzgebung, eingehen. Zum anderen möchte ich mich in einigen kurzen Anmerkungen mit der Öffentlichkeitsfunktion des Bundesverfassungsgerichts befassen.
2. Zu Funktion und Status des Bundesverfassungsgerichts Die Frage nach dem Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik ist ein Dauerthema, das so alt ist wie das Bundesverfassungsgericht selbst. Ebenso alt sind auch die seitdem immer wieder erhobenen Vorwürfe an das Gericht. So ließ sich - um ein Beispiel aus den ersten Jahren des Gerichts zu zitieren - der erste Bundesjustizminister Thomas DEHLER 1952 im Zusammenhang mit den verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen um den Vertrag über eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zu den Worten hinreißen, dass das Bundesverfassungsgericht in einer erschütternden Weise vom Wege des Rechts abgewichen sei und dadurch eine ernste Krise geschaffen habe; man könne wegen eines solchen Gremiums Deutschland nicht vor die Hunde gehen lassen. Geradezu maßvoll hört es sich an, wenn demgegenüber ‚nur’ von einer Machtusurpation durch das Gericht, von Übergriffen in die Politik, vom Weg in den verfassungsgerichtlichen
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Hans-Jürgen Papier
Jurisdiktionsstaat oder vom Bundesverfassungsgericht als Ersatzgesetzgeber die Rede ist. Die Liste ließe sich verlängern und fast jeden Vorwurf gibt es auch in einer umgekehrten Version, so etwa, wenn dem Gericht vorgehalten wird, es habe sich - wie etwa im sog. Kopftuch-Streit - mit seinem Urteil vor einer Entscheidung gedrückt oder es lasse die erwarteten klaren Vorgaben an den Gesetzgeber vermissen. Unabhängig von diesen Schlagworten ist allerdings in der Tat festzustellen, dass die politischen Kräfte in Deutschland wie in kaum einem anderen Staat dem richterlichen Rechtsspruch unterworfen sind, sich ihm zum Teil aber auch selbst unterworfen haben. Es gibt kaum einen politischen Streit, der nicht in der einen oder anderen Form seine Fortsetzung vor dem Bundesverfassungsgericht fände, und kaum ein nennenswertes legislatives Vorhaben, das nicht über kurz oder lang und in der einen oder anderen Form auf den Karlsruher Prüfstand gestellt würde. Nicht selten werden von den politischen Organen aber auch Entscheidungen, die sie selbst treffen könnten, dem Bundesverfassungsgericht zugeschoben oder es werden jedenfalls Entscheidungshilfen oder Gestaltungsmaximen aus Karlsruhe erwartet.
Gericht und Verfassungsorgan mit Teilhabe an der politischen Staatsleitung Verfassungsrechtlich hat das Spannungsverhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik seine Grundlage in dem Doppelstatus des Bundesverfassungsgerichts, das nicht nur ein Gericht und damit ein Teil der Recht sprechenden Gewalt ist, sondern auch eines der fünf Verfassungsorgane des Bundes darstellt. Die Stellung als Verfassungsorgan spiegelt sich insbesondere in den zahlreichen Zuständigkeiten wieder, die das Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht zuweist und die in ihrer Fülle und Tiefe sowohl für die deutsche Verfassungstradition als auch im internationalen Vergleich äußerst weit reichend, ja man kann sagen: nahezu einmalig sind. In ihrer Summe gewähren diese Kompetenzen dem Bundesverfassungsgericht eine Art T e i l h a b e a n d e r p o l i t i s c h e n S t a a t s l e i t u n g des Landes. Insbesondere ist die verfassungsgerichtliche Bestätigung und Verwerfung von Parlamentsgesetzen in funktional-politischer Hinsicht den Entscheidungen des Gesetzgebers durchaus vergleichbar, auch wenn das Gericht selbst nie Gesetzgebungsakte, sondern immer nur Rechtsprechungsakte setzen kann. Wenn von einer Teilhabe an der Staatsleitung die Rede ist, so darf das allerdings nicht missverstanden werden. Zwei Gesichtspunkte scheinen mir besonders wichtig. Zum einen: Das Bundesverfassungsgericht kann nie von sich aus in politisch oder gesellschaftlich kontroversen Fragen tätig werden. Als Organ der Recht sprechenden Gewalt kann es immer nur auf Antrag und in den normativ vorgegebenen Verfahren und Formen entscheiden. Auch für das Bundesverfassungsgericht gilt: Wo kein (Verfassungs-)Kläger, da kein (Verfassungs-)Richter. Es gilt aber auch: W e n n das Bundesverfassungsgericht angerufen wird, dann m u s s es entscheiden. Wer also eine Streitfrage vor das Bundesverfassungsgericht bringt, darf sich nicht wundern, dass er auch eine Antwort bekommt, gelegentlich auch eine, die er
Das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu Politik und Öffentlichkeit
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so vielleicht gar nicht haben wollte. „Dat ham wir uns so nich vorjestellt“, soll Konrad ADENAUER zum Verfahrensausgang in dem schon genannten Streit um die Wiederbewaffnung gesagt haben. Der zweite wichtige Gesichtspunkt lautet: Das Bundesverfassungsgericht findet seinen Beurteilungsmaßstab immer nur im geltenden Verfassungsrecht, nicht in politischen, sozialen oder ökonomischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen. Gerade verfassungsrechtliche Normen sind zwar häufig relativ unbestimmt und eröffnen gewisse Auslegungsspielräume. Richtig ist auch, dass Verfassungsrecht ‚politisches Recht’ in dem Sinne ist, dass es die Rahmenbedingungen setzt, unter denen die Politik agieren und gestalten kann. Mag die Grenze im Einzelfall auch schwer zu ziehen sein oder gewisse Unschärfen aufweisen, so ist dennoch zunächst der Grundsatz festzuhalten: Verfassungsrechtsprechung ist nicht politische Gestaltung, sondern Rechtserkenntnis nach juristischen Methoden. Zuzugeben ist allerdings, dass mit dieser Unterscheidung, so wesentlich sie auch ist, natürlich nicht alle Anwendungsprobleme gelöst sind.
Nur wenige wirklich kontroverse Entscheidungen Fragt man deshalb weiter, wo im Einzelfall - auf den es letztlich ankommt - die Grenze zwischen Verfassungsrechtsprechung und politischer Gestaltung verläuft, so konzentriert sich die Diskussion zumeist sehr schnell auf einige wenige, man muss fast sagen: auf eine Handvoll Entscheidungen - wie etwa die Urteile zur Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs (BVerfGE 39, 1 und 88, 203) oder zur steuerlichen Anerkennung von Kinderbetreuungskosten (BVerfGE 99, 216) -, in denen das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber in der Tat relativ dichte Vorgaben gesetzt hat. Diese wenigen wirklich strittigen Entscheidungen sind, auch das ist vorab festzustellen, eine m a r g i n a l e G r ö ß e , bezogen auf die mittlerweile rund 150.000 vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Verfahren, aber auch bezogen auf die zwar geringere, jedoch wohl immer noch im Tausenderbereich liegende Zahl von Verfahren, in denen unmittelbar oder mittelbar gesetzliche oder sonstige Rechtsvorschriften überprüft wurden. Will man also ein realistisches Bild von der Beziehung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Legislative gewinnen, so wird man einen anderen Ansatzpunkt wählen müssen. Im Folgenden soll ein Weg beschritten werden, der auf den ersten Blick vielleicht etwas ungewöhnlich erscheinen mag. Ich möchte nämlich, losgelöst von einzelnen strittigen Fällen, die verschiedenen E n t s c h e i d u n g s a l t e r n a t i v e n darstellen, die dem Bundesverfassungsgericht zur Verfügung stehen, wenn es die Verfassungsmäßigkeit eines Parlamentsgesetzes überprüft. Wie kann der Tenor, also der Entscheidungsausspruch, lauten, der am Ende einer solchen Überprüfung steht? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus jeweils für den Gesetzgeber, welche Möglichkeiten hat umgekehrt das Bundesverfassungsgericht, um seiner Entscheidung Nachdruck zu verleihen? Diese Fragen hören sich etwas rechtstechnisch an und das ist durchaus auch so beabsichtigt. Der verfahrensrechtliche Zugang illustriert jedoch, wie ich meine, sehr anschaulich, wie Verfassungsge-
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Hans-Jürgen Papier
richtsbarkeit und Legislative in der gewaltenteiligen Staatsordnung des Grundgesetzes praktisch zusammenwirken und ineinander greifen.
3. Das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung im Spiegel der Tenorierungspraxis des Bundesverfassungsgerichts Gemäß § 31 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht kann das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz - erstens - für mit dem Grundgesetz v e r e i n b a r , - zweitens - für n i c h t i g oder - drittens - für mit dem Grundgesetz u n v e r e i n b a r erklären.
a) Die Vereinbarkeitserklärung Ich beginne mit der ersten Alternative, der Vereinbarkeitserklärung, also der förmlichen Feststellung, dass ein Gesetz verfassungsmäßig ist. Dies ist gewissermaßen der unspektakulärste Entscheidungsausspruch und es ist - das möchte ich betonen - vor allem auch der Normalfall. Gesetze sind in Deutschland in der Regel verfassungsmäßig; alles andere wäre auch sehr verwunderlich. Die öffentliche Wahrnehmung und damit auch der Eindruck von der Tätigkeit des Verfassungsgerichts ist allerdings vielfach ein anderer, was vermutlich daran liegt, dass für viele Medien nur eine ‚schlechte’ Nachricht eine ‚gute’ oder jedenfalls eine mitteilenswerte Nachricht darstellt. Während über geringfügige Korrekturen an Gesetzen nicht selten ausschweifend und überzeichnend berichtet wird, wird auf der anderen Seite etwa die Tatsache, dass ein legislatives Großprojekt wie die Einführung der sog. Öko-Steuer ohne die geringste Beanstandung den Karlsruher Prüfstand durchlaufen hat, relativ schnell ‚abgehakt’.
Gesetzesüberprüfung im Rahmen von Verfassungsbeschwerden Hinzu kommt ein Weiteres. Die Zahl der Gesetze oder Vorschriften, die vom Bundesverfassungsgericht überprüft und für verfassungsmäßig befunden werden, lässt sich nicht allein an den Entscheidungen ablesen, die einen solchen förmlichen Ausspruch im Tenor tragen. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet derzeit jährlich über mehr als 5.000 Verfassungsbeschwerden. Die Erfolgsquote bei Verfassungsbeschwerden liegt, über die Jahre fast konstant, bei nur etwa 2,5 %. Die ganz überwiegende Zahl der Verfassungsbeschwerden wird also entweder bereits von den Kammern des Bundesverfassungsgerichts nicht zur Entscheidung angenommen oder aber anschließend von einem der beiden Senate zurückgewiesen. Viele dieser Verfassungsbeschwerden richten sich nicht nur gegen die Gesetzesanwendung durch Verwaltung und Gerichte, sondern – mittelbar oder unmittelbar auch gegen das Gesetz selbst. Wird eine solche Verfassungsbeschwerde nicht angenommen oder zurückgewiesen, so bedeutet das vielfach, dass das Gericht auch das beanstandete Gesetz für verfassungsmäßig erachtet hat, ohne dass dies im Entscheidungstenor explizit zum Ausdruck käme.
Das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu Politik und Öffentlichkeit
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Der Grundsatz der verfassungskonformen Auslegung Von besonderer Bedeutung bei der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes ist schließlich der G r u n d s a t z d e r v e r f a s s u n g s k o n f o r m e n A u s l e g u n g . Dieser Grundsatz besagt, dass von mehreren möglichen Normdeutungen, die teils zu einem verfassungswidrigen, teils zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führen, diejenige vorzuziehen ist, die mit der Verfassung in Einklang steht. Liegt eine solche Fallkonstellation vor, so erklärt das Bundesverfassungsgericht das Gesetz oder die Norm für vereinbar mit der Verfassung, dies jedoch nur nach Maßgabe der sich aus der Entscheidung ergebenden verfassungskonformen Auslegung, die damit zugleich verbindlich für alle Verfassungsorgane, Gerichte und Behörden wird. Der Grundsatz der verfassungskonformen Auslegung hat also den positiven Effekt, dass sich die Zahl der beanstandeten Gesetze vermindert. Im Verhältnis zum Gesetzgeber stellt die verfassungskonforme Auslegung – im Vergleich etwa zur Nichtigerklärung des Gesetzes – die schonendere Vorgehensweise dar. Sie erspart dem Gesetzgeber den Erlass einer neuen Regelung. Der Grundsatz der verfassungskonformen Auslegung darf allerdings nicht zu einem allgemeinen Reparaturinstrument werden, mit dem das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber letztlich die Verantwortung dafür abnimmt, eine in jeder Hinsicht verfassungsmäßige Regelung zu erlassen; auch darauf achtet das Gericht.
b) Die Nichtigerklärung Ich komme damit zu der zweiten Entscheidungsalternative, der Nichtigerklärung eines Gesetzes oder einer einzelnen Vorschrift. Nichtigkeit ist die Rechtsfolge, die grundsätzlich eintritt, wenn eine Norm gegen höherrangiges Recht - wenn also ein Gesetz gegen die Verfassung - verstößt. Nichtigkeit bedeutet dabei nach deutschem Rechtsverständnis (- in anderen Staaten wird dies zum Teil anders gesehen -), dass das verfassungswidrige Gesetz grundsätzlich v o n A n f a n g a n unwirksam ist, also rückwirkend auf den Zeitpunkt des Gesetzeserlasses. Die logische Folge einer Nichtigerklärung wäre demnach, dass alle Entscheidungen, die auf der nichtigen Norm beruhen, ohne Rechtsgrundlage ergangen wären. Würde beispielsweise ein Steuergesetz, das zehn Jahre lang in Kraft war, für nichtig erklärt, so könnten hiervon Millionen von Steuerbescheiden betroffen sein. Es leuchtet ein, dass eine solche dogmatische Konstruktion ein ganz erhebliches Konfliktpotential zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik enthält.
Bewältigung der Nichtigkeitsfolgen durch Politik und Gesetzgebung Dieses Konfliktpotential, das sich aus dem rechtsdogmatischen Ausgangspunkt ergibt, hat der Gesetzgeber weitgehend entschärft, und zwar, wenn man so will, zu seinen Gunsten. § 79 BVerfGG bestimmt, dass zwar gegen ein rechtskräftiges Strafurteil die Wiederaufnahme des Verfahrens zulässig ist; im übrigen aber bleiben die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf der nichtigen Norm beruhen, unberührt. Die Folgen der Nichtigerklärung eines Gesetzes treten also praktisch erst für die Zukunft sowie für die noch offenen Verfahren ein. Ansonsten liegt es
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Hans-Jürgen Papier
im politischen Ermessen des Gesetzgebers, welche Konsequenzen er aus der Nichtigerklärung des Gesetzes für die Vergangenheit ziehen möchte. Diese Rückverlagerung der ‚Vergangenheitsbewältigung’ in die Hände von Politik und Gesetzgebung scheint mir im Allgemeinen durchaus sinnvoll; auch die meisten ausländischen Staaten folgen diesem Modell. Dennoch liegt in der Idee, dass ein verfassungswidriges Gesetz grundsätzlich von Anfang an nichtig ist, ein nicht ganz unberechtigter Kern. Denn für die betroffenen Bürger kann es unbefriedigend und schwer verständlich sein, wenn die Verletzung der Verfassung für die Vergangenheit letztlich ohne Sanktion bleibt und wenn der Zeitpunkt der Nichtigerklärung auch davon abhängt, wie lange es dauert, bis ein entsprechendes Verfahren überhaupt vor das Verfassungsgericht gelangt. Das Bundesverfassungsgericht erinnert deshalb in geeigneten Fällen den Gesetzgeber daran, dass es durchaus möglich ist, die erforderliche verfassungsgemäße Neuregelung auch auf bereits unanfechtbar gewordene Fälle und auf zurückliegende Sachverhalte zu erstrecken. Allerdings ist der Gesetzgeber hierzu von Verfassungswegen nicht verpflichtet.
c) Die (bloße) Feststellung der Unvereinbarkeit mit der Verfassung Ich komme damit zu der dritten und zugleich spannendsten Entscheidungsalternative, der bloßen Feststellung der Unvereinbarkeit mit der Verfassung. Diese Variante war ursprünglich gesetzlich nicht vorgesehen. Sie wurde vielmehr vom Bundesverfassungsgericht selbst entwickelt und 1970 dann, wenn auch nur bruchstückhaft, in das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht übernommen. Ihr Kern besteht darin, dass das Bundesverfassungsgericht ein verfassungswidriges Gesetz nicht für nichtig erklärt, sondern sich darauf beschränkt, die U n v e r e i n b a r k e i t des Gesetzes mit der Verfassung festzustellen. Dieser Entscheidungsausspruch ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mittlerweile etwa genauso häufig anzutreffen wie die Nichtigerklärung. Typischer Anwendungsfall der Unvereinbarerklärung sind Entscheidungen, in denen es um eine Verletzung des Gleichheitssatzes geht. So sah beispielsweise das deutsche Arbeitsrecht ursprünglich unterschiedlich lange Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte vor; die Kündigungsfristen für Arbeiter waren dabei in einer ansonsten vergleichbaren Situation jeweils kürzer als die für Angestellte. Das Bundesverfassungsgericht erkannte darin eine ungerechtfertigte Benachteiligung der Arbeiter gegenüber den Angestellten und einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Eine Nichtigerklärung der gesetzlichen Bestimmungen hätte allerdings dazu geführt, dass überhaupt keine Kündigungsfristen mehr gegolten hätten; die Arbeiter wären im Falle der Kündigung also n o c h schlechter gestellt. Andererseits konnte das Verfassungsgericht die Gleichbehandlung zwischen Arbeitern und Angestellten nicht selbst herstellen. Denn hierfür bestehen mehrere Möglichkeiten: eine Verlängerung der Kündigungsfrist für Arbeiter, eine Verkürzung der Kündigungsfrist für Angestellte oder auch ein ganz neues Modell gleicher Kündigungsfristen für alle Arbeitnehmer. Welche dieser Möglichkeiten gewählt wird, fällt in die Zuständigkeit und in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers.
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Übergangsregime bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber Wie ist in einer solchen Situation nun weiter zu verfahren? Sicher ist zunächst, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, die Rechtslage unverzüglich mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen. Welche Regelung aber gilt zunächst in der Zwischenzeit? Gesetzliche Vorgaben bestehen hierzu keine. Das Bundesverfassungsgericht praktiziert im Wesentlichen drei Varianten: Eine erste Variante besteht darin, dass das mit der Verfassung unvereinbare Gesetz s o f o r t mit der Entscheidung des Verfassungsgerichts n i c h t m e h r a n g e w e n d e t werden darf. Die Gerichte müssen anhängige Verfahren, bei denen die Entscheidung von der verfassungswidrigen Norm abhängt, a u s s e t z e n , bis die Neuregelung in Kraft tritt. Dieser Weg wurde in dem geschilderten Fall der gleichheitswidrigen Kündigungsfristen gewählt. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, dass das beanstandete Gesetz bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber v o r l ä u f i g w e i t e r a n g e w e n d e t werden darf. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass in gewissen Situationen die übergangsweise Anwendung einer verfassungswidrigen Norm akzeptabler ist als ein völlig ungeregelter Zustand. In dieser Weise ist das Bundesverfassungsgericht etwa im Falle des Vermögensteuergesetzes verfahren, das wegen der unterschiedlichen steuerlichen Belastung von Grundbesitz und sonstigem Vermögen verfassungswidrig war. Hier wurde die vorläufige weitere Anwendbarkeit dieses Gesetzes angeordnet, um die staatliche Finanz- und Haushaltsplanung nicht zu gefährden. Diese Entscheidung ist im übrigen auch ein Beispiel dafür, dass das Bundesverfassungsgericht - entgegen manch gegenteiliger Behauptung - die finanziellen Folgen seiner Entscheidungen sehr wohl mit berücksichtigt. Passt keine der beiden genannten Varianten, so besteht eine dritte Möglichkeit darin, dass das Bundesverfassungsgericht selbst eine – ähnlich wie ein Gesetz formulierte – e i g e n e Ü b e r g a n g s r e g e l u n g anordnet. Solche Übergangsregelungen wurden zum Beispiel in den beiden Entscheidungen zur Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs (die allerdings Fälle der Nichtigerklärung betrafen) erlassen. Ein anderes Beispiel einer Übergangsregelung betraf die Bestimmung des Ehenamens sowie des Familiennamens der Kinder, wenn sich die Ehegatten hierauf nicht einigen konnten.
d) Appell und Fristsetzung an den Gesetzgeber Die Frage ist schließlich, wie das Verfassungsgericht die Verpflichtung des Gesetzgebers durchsetzen kann, eine verfassungsgemäße Rechtslage herzustellen. Auch in diesem Punkt hat das Bundesverfassungsgericht eine gewisse Kreativität entwickelt. Eine erste – zugegebenermaßen nicht besonders scharfe – Maßnahme ist der A p p e l l an den Gesetzgeber, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen. Seit längerer Zeit ergänzt das Bundesverfassungsgericht diesen Appell mit einer genauen, nach dem Kalender bestimmten F r i s t s e t z u n g , bis zu der die verfassungskonforme Neuregelung zu ergehen hat. Das Gericht bemisst die Frist u.a. nach der Dringlichkeit der Neuregelung, aber auch nach der Schwierigkeit und Komplexität
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der zu regelnden Materie. In dem genannten Fall des Vermögenssteuergesetzes betrug die Frist zum Beispiel ungefähr eineinhalb Jahre. Eine besonders lange Frist von fast dreieinhalb Jahren, die am 31.12.2004 endete, hatte das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber in seiner Entscheidung zur Beitragserhebung in der Pflegeversicherung eingeräumt. Bei der Bemessung dieser Frist hat das Gericht berücksichtigt, dass der Gesetzgeber die Konsequenzen dieses Urteils auch für andere Versicherungszweige, insbesondere für die Rentenversicherung, zu prüfen habe. Flankierend zu Appell und Fristsetzung kommen im Einzelfall auch weitere Instrumente in Betracht. So hat das Bundesverfassungsgericht in manchen Entscheidungen zugleich eine Regelung festgesetzt, die in Kraft tritt, wenn der Gesetzgeber nicht innerhalb der Frist seiner Verpflichtung zur Beseitigung des Verfassungsverstoßes nachgekommen sein sollte. Nicht selten - und zwar vor allem bei verfassungswidrigen Normen, die den Bürger b e l a s t e n - muss das Verfassungsgericht neben der Fristsetzung aber auch gar nichts unternehmen und kann sich gewissermaßen abwartend zurücklehnen. Denn wenn nichts anderes bestimmt ist, endet spätestens mit Ablauf der dem Gesetzgeber gesetzten Frist auch der Zeitraum, in dem die verfassungswidrige Norm längstens weiter angewendet werden darf. So lag es beispielsweise im Falle des Vermögensteuergesetzes. Da der Gesetzgeber die Option zu einer verfassungskonformen Neuregelung innerhalb der ihm gesetzten Frist nicht ergriffen hat, ist das Vermögensteuergesetz seit dem 1. Januar 1997 nicht mehr anwendbar. Seitdem und bis heute wird bekanntlich keine Vermögenssteuer mehr erhoben.
e) Fazit Lassen Sie mich die Darstellung der Tenorierungspraxis des Bundesverfassungsgerichts an dieser Stelle abbrechen und auf einige weitere Details, die sich noch anfügen ließen, verzichten. Mir ging es vor allem darum, am Beispiel der Normenkontrollentscheidungen zu zeigen, dass das Verhältnis zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Legislative sehr viel differenzierter und vielgestaltiger ist, als dies etwa in den eingangs genannten Pauschalvorwürfen zum Ausdruck kommt. Das Gericht bemüht sich, dem Gesetzgeber in den - ich betone nochmals: vergleichsweise wenigen - Fällen, in denen Normen als verfassungswidrig beanstandet werden, soweit möglich Lösungen ‚nach Maß’ und nicht Lösungen ‚von der Stange’ anzubieten. Das Gericht verzichtet auf die ‚Keule’ der Nichtigerklärung dort, wo eine verfassungskonforme Auslegung in Betracht kommt oder wo durch eine bloße Unvereinbarkeitserklärung schonende und bruchlose Übergänge zu einer verfassungskonformen Gesetzgebung möglich sind. Das Gericht berücksichtigt die Folgen seiner Entscheidungen, auch etwa in haushalts- und finanzpolitischer Hinsicht. Wo Fristen gesetzt werden, werden diese realistisch bemessen. Alle geschilderten Formen der Entscheidung finden dabei ihre Grundlage in der Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die Verfassungsmäßigkeit der Rechtsordnung zu wahren und die Bindung der gesetzgebenden Gewalt an die Verfassung durchzusetzen.
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Verfassungsgerichtsbarkeit und Legislative sind Teile der gewaltenteiligen Staatsordnung des Grundgesetzes. Das Prinzip der Gewaltenteilung zielt auch im Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Politik nicht auf Konfrontation und gegenseitige Lähmung, sondern auf die Organisation eines effektiven Zusammenwirkens der staatlichen Institutionen. Wie bei jedem Zusammenwirken gibt es natürlich auch hier gelegentlich Reibungen an den Scharnierstellen. Wenn heute verschiedentlich von Problemen bei der Steuerungs- und Handlungsfähigkeit des Staates die Rede ist, so vermag ich allerdings nicht zu erkennen, das diese Probleme ihre Ursache gerade in der Beziehung von Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik hätten.
4. Bundesverfassungsgericht und Öffentlichkeit Lassen Sie mich damit zu meinem zweiten Thema, dem Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Öffentlichkeit kommen. Ich möchte dabei zwei Aspekte aufgreifen: Zum einen die Frage, wie das Gericht seine Rechtsprechungstätigkeit gegenüber der Öffentlichkeit vermittelt; zum anderen die Problematik, ob und inwieweit Richter des Bundesverfassungsgerichts berechtigt sind, sich in der Öffentlichkeit zu allgemein interessierenden Themen zu äußern.
a) Vermittlung der Rechtsprechungstätigkeit gegenüber der Öffentlichkeit Ich beginne mit der Frage nach der öffentlichen Vermittlung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Für das Bundesverfassungsgericht gelten zunächst, was die Verfahrensgestaltung betrifft, die für alle Gerichte geltenden Grundsätze über die Öffentlichkeit der Verhandlung und der Urteilsverkündung (§ 17 BVerfGG i.V.m. §§ 169 ff. GVG). Als Besonderheit gegenüber den Fachgerichten kommt hinzu, dass in der mündlichen Verhandlung bis zur Feststellung der Anwesenheit der Beteiligten sowie bei der öffentlichen Verkündung von Entscheidungen Rundfunk- und Fernsehaufnahmen zulässig sind (§ 17a BVerfGG). Dies scheint auf eine gesteigerte Öffentlichkeit der Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht hinzudeuten. Tatsächlich ist jedoch - sieht man von wenigen spektakulären Verhandlungsterminen ab - gerade das Gegenteil der Fall. Denn anders als bei den Fachgerichten bilden beim Bundesverfassungsgericht mündliche Verhandlungen die seltene Ausnahme; sie finden allenfalls in einem Dutzend der jährlich über 5.000 erledigten Verfahren statt. Die Kammerentscheidungen, mit denen etwa 98 % der Verfassungsbeschwerden erledigt werden, ergehen allesamt nichtöffentlich in einem Akten-Umlaufverfahren und auch in den Verfahren vor den Senaten wird in der Regel ohne mündliche Verhandlung beraten und beschlossen. Ginge es allein nach der prozessordnungsgemäßen Öffentlichkeit des Verfahrens, so wäre das Bundesverfassungsgericht möglicherweise weniger wahrnehmbar als ein durchschnittliches Amtsgericht. Die Vermittlung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedarf also besonderer Vorkehrungen und Anstrengungen. Erstaunlicherweise ist dazu erst
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unter der Präsidentschaft meiner Vorgängerin die Stelle einer hauptamtlich tätigen Pressesprecherin geschaffen worden. Anders als etwa bei der Bundesregierung ist die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Bundesverfassungsgerichts dabei nicht Bestandteil und Mittel einer operativen Politik, sondern hat im Kern nur eine ‚transportierende’, d.h. den Inhalt der Entscheidungen in die Öffentlichkeit tragende Funktion. Die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Bundesverfassungsgerichts ist deshalb stärker als die anderer Verfassungsorgane auf ergänzende Leistungen durch die Medien angewiesen. Auch wenn das Gericht in seinen Pressemitteilungen versucht, den Inhalt seiner Entscheidungen auf das Wesentliche zu vereinfachen, bleibt für die Medien immer noch die - durchaus nicht leichte - Aufgabe, die juristische Information mit möglichst geringem Substanzverlust in die Alltagssprache zu ‚übersetzen’ und im jeweiligen politischen Kontext zu verorten.
Die Karlsruher Justizpressekonferenz Das Bundesverfassungsgericht profitiert dabei - das möchte ich an dieser Stelle hervorheben - eminent von der Existenz der Justizpressekonferenz Karlsruhe. Die Karlsruher Justizpressekonferenz ist eine Arbeitsgemeinschaft rechtspolitischer Journalisten, deren Tätigkeit satzungsgemäß in der ständigen Berichterstattung über die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe sowie über Fragen der Rechtsund Justizpolitik bestehen muss. Mitglieder können nur die ständig bei den Karlsruher Gerichten tätigen Korrespondenten und Redakteure sein. Der Justizpressekonferenz gehören derzeit 24 Voll- und ebenso viele Gastmitglieder an. Es ist in meinen Augen vielfach der Berichterstattung durch diese spezialisierte und besonders sachkundige Gruppe von Journalisten zu verdanken, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in einer inhaltlich zutreffenden und angemessenen Form in die Medienlandschaft ‚eingespeist’ wird, so dass sich daran eine qualifizierte Auseinandersetzung durch den allgemeinpolitischen Journalismus anschließen kann. Insofern erweist sich im Übrigen auch der Sitz des Bundesverfassungsgerichts in der südwestdeutschen ‚Provinz’ - fern der Hauptstadt - als vorteilhaft. Es ist schwer einzuschätzen, ob und ggf. wie sich die Arbeitsweise des Gerichts verändert hätte, wenn es seinen Sitz, wie dies nach der Wiedervereinigung erwogen wurde, von Karlsruhe nach Berlin verlegt hätte. Mit Sicherheit aber würden sich die Darstellung in den Medien und die Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erheblich verändern, wenn die Berichterstattung unmittelbar in den Händen der sehr viel politischer denkenden und agierenden Hauptstadtstudios und Hauptstadtkorrespondenten bzw. Zentralredaktionen etwa in Frankfurt oder München läge.
Neutrale Information und öffentliche Kritik Die Aufgabe der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Bundesverfassungsgerichts liegt, was den Bereich der Rechtsprechung betrifft, - wie gesagt - im Wesentlichen im Bereich der neutralen Information. Wertende Stellungnahmen, Rechtfertigungen der Entscheidungen oder ihre Verteidigung gegenüber Kritik gehören in der Regel nicht zu dieser Aufgabe. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
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ist dadurch geschützt, dass die Entscheidungen des Gerichts alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden binden. Eine Intervention in die politische Diskussion erübrigt sich auf diese Weise, und sie verbietet sich zugleich. Das Gericht erträgt deshalb im allgemeinen jede Kritik an seiner Rechtsprechung, zwar nicht ungerührt, aber doch schweigend, jedenfalls solange gewisse Grenzen des Respekts vor der Institution des Bundesverfassungsgerichts als solcher gewahrt bleiben. Die Neutralität gegenüber der politischen Bewertung seiner Entscheidungen schließt allerdings nicht aus, dass das Gericht dort Stellung bezieht, wo es nicht um diese Bewertung geht, sondern wo schon der Inhalt der Entscheidung falsch, unvollständig oder verzerrt dargestellt wird. In solchen Fällen gegebenenfalls eine Richtigstellung anzubringen, gehört durchaus zur Informationsaufgabe und Öffentlichkeitsfunktion des Bundesverfassungsgerichts.
b) Öffentliche Äußerungen von Richtern des Bundesverfassungsgerichts Damit komme ich zu der zweiten Frage, die ich an dieser Stelle kurz ansprechen möchte, nämlich ob und inwieweit sich Richter des Bundesverfassungsgerichts in der Öffentlichkeit zu allgemein interessierenden und damit zumeist auch ‚politischen’ Themen äußern dürfen. Diese Frage ist von der eben erörterten Information des Bundesverfassungsgerichts über seine Rechtsprechung zu unterscheiden. Richterliche Tätigkeit einerseits und öffentliche Äußerungen außerhalb der richterlichen Tätigkeit andererseits berühren sich allerdings in dem auch im Verfassungsprozessrecht vorgesehenen Institut der Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit (§ 19 BVerfGG). Derartige Ablehnungsanträge gegen einzelne Richter hat es in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts immer wieder gegeben, wobei sich Anschauungsmaterial vor allem aus dem Streit um die Ablehnung des Richters Rottmann im Verfahren über die Verfassungsmäßigkeit des Grundlagenvertrags mit der DDR von 1972 sowie aus den hierzu ergangenen zwei Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts ergibt (BVerfGE 35, 171 und 35, 246). Das Gericht selbst ist hier davon ausgegangen, dass auch einem Verfassungsrichter grundsätzlich „das freie politische Wort“ zustehe (BVerfGE 35, 246 ; ähnlich BVerfGE 35, 171 ). „Politische Äußerungen von Demokraten zu politischen Tagesfragen“, so heißt es in dem sog. zweiten Rottmann-Beschluss weiter, „werden, wenn nicht besondere Umstände hinzutreten, kaum je Anlass sein, eine Besorgnis der Befangenheit zu hegen. Auch für rechtliche Auffassungen wird innerhalb desselben Rahmens im Allgemeinen dasselbe gelten können, insbesondere dann, wenn sie wissenschaftliche Äußerungen sind“ (BVerfGE 35, 246 ). Das Gericht hat allerdings auch die Grenzen solcher Äußerungen aufgezeigt, die sich im konkreten Fall vor allem aus der zeitlichen Nähe zu einem anhängigen Verfahren sowie aus dem Charakter der Veranstaltung ergaben, in deren Zusammenhang die Äußerungen gemacht wurden.
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Das Bild des Verfassungsrichters Ich kann diese prozessrechtlichen Fragen der Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit an dieser Stelle nicht vertiefen, zumal sie ohnehin nur einen engen Ausschnitt der Problematik betreffen. Ich möchte stattdessen an dem Richterbild insbesondere dem Bild des V e r f a s s u n g s richters - ansetzen, das hinter der im Kern berechtigten, aber häufig eben auch maßlos überdehnten Forderung nach richterlicher, insbesondere verfassungsrichterlicher Zurückhaltung bei öffentlichen Äußerungen steht. Nicht selten trifft man hier auf die Behauptung, dass ein Richter - auch ein V e r f a s s u n g s richter - allein durch seine Urteile sprechen dürfe und ansonsten zu schweigen habe. Das Bild, das auf diese Weise gezeichnet und gleichsam zum ‚Vor-Bild’ erhoben wird, ist das eines Richters, der nur im Urteilsspruch kurze Zeit sein Visier hochklappt, um danach sofort wieder hinter einer undurchdringlichen Maske zu verschwinden. Bei allen Unterschieden und Abstufungen, die man dabei insbesondere zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und den Fachgerichten wird vornehmen müssen, halte ich eine solche Reduktion weder für rechtlich geboten noch überhaupt für wünschenswert. Verfassungsrichter werden nicht im politischen Vakuum gezeugt oder unter Quarantäne gehalten, um sie im Zustand möglichst vollständiger Naivität in ihr Amt einzusetzen. Verfassungsrichter - nur auf diese beziehe ich mich im folgenden - werden vielmehr bekanntlich von politischen Organen des Bundes gewählt, nämlich je zur Hälfte vom Bundesrat und von einem Wahlausschuss des Bundestags, wobei bei der Wahl auf einen gewissen parteipolitischen oder gesellschaftspolitischen Proporz und auf eine Parität zwischen Regierungs- und Oppositionsseite geachtet wird. Das Erfordernis einer Zwei-Drittel-Mehrheit in den jeweiligen Wahlgremien verstärkt dies. Unabhängig von diesen Zuordnungen haben Verfassungsrichter jedenfalls eine politische Auffassung; sie haben möglicherweise gewisse Grundüberzeugungen oder einen bestimmten weltanschaulichen Hintergrund; und sie haben eine persönliche, berufliche und wissenschaftliche Biographie, die sie auch in Berührung mit den Dingen gebracht hat, über die sie als Verfassungsrichter entscheiden sollen. Wäre all dies nicht der Fall, so wären sie vermutlich ungeeignet für ihr Amt. Kurzum: Von einem Verfassungsrichter wird nicht erwartet, dass er keine Meinung und Gesinnung hat, sondern dass er in den anhängigen Verfahren o h n e R ü c k s i c h t auf seine persönliche Auffassung unvoreingenommen und unparteilich entscheidet.
Das ‚verantwortungsvolle politische Wort’ Dennoch bleibt natürlich die Frage: Soll ein Verfassungsrichter eine Meinung zwar haben dürfen, sich aber gleichwohl bedeckt halten müssen? Man kann diese Frage allerdings auch umgekehrt stellen: Ist es nicht vielleicht sogar besser, die Einstellungen und Auffassungen eines Verfassungsrichters zu kennen? Werden dann nicht viel leichter Vorurteile, persönliche Ideologien oder Befangenheiten fassbar, wenn solche bestehen sollten? Und entspricht es nicht viel eher demokratischen Standards, wenn von den Inhabern höchster Staatsämter - die im Falle der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts zudem auf zwölf Jahre unabsetzbar gewählt
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sind - wenigstens eine grobe Kontur ihrer Persönlichkeit und ihrer Weltsicht erkennbar wird? Nach meinem Dafürhalten sind die Fragen erst in dieser umgekehrten Formulierung richtig gestellt und auch die Antworten ergeben sich dann im Grunde von selbst. Wenn also auch einem Verfassungsrichter grundsätzlich das ‚politische Wort’ zusteht, so ist damit selbstverständlich kein unbeschränkter Freibrief erteilt, sondern nur ein falscher Ausgangspunkt korrigiert. Ich würde deshalb auch gar nicht so weit gehen, wie in dem zitierten zweiten Rottmann-Beschluss von einem „f r e i e n politischen Wort“ zu sprechen, sondern würde die Wendung von einem „v e r a n t w o r t u n g s v o l l e n politischen Wort“ vorziehen. Richterliche Zurückhaltung ist etwa geboten, wenn anhängige oder künftig möglicherweise anhängig werdende Verfahren berührt sind. Richterliche Zurückhaltung ist auch geboten, wo der Bereich der operativen Politik beginnt und Äußerungen mehr oder weniger zwangsläufig in den Strudel der partei- und tagespolitischen Auseinandersetzung gezogen werden. Auf der anderen Seite kann es einem Verfassungsrichter nicht verwehrt sein, sich etwa zu grundsätzlichen oder strukturellen Fragen und Entwicklungen des Verfassungsrechts, des politischen Systems oder der Gesellschaft zu äußern. Die Modernisierung unserer bundesstaatlichen Ordnung, die wachsende internationale Verflechtung und Integration der Staaten, der demographische Wandel der Gesellschaft und dessen Konsequenzen für den Sozialstaat - dies sind, nur beispielhaft genannt, Themen, die unser Gemeinwesen insgesamt betreffen und die sich nicht einseitig vereinnahmen lassen. Es schiene wenig einleuchtend, wenn gerade denjenigen, denen anvertraut wurde, die Grundordnung unseres Gemeinwesens zu wahren, in solchen Fragen das Wort abgeschnitten wäre.
5. Schluss Ich komme damit zum Schluss. Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in das Bundesverfassungsgericht ist hoch. Das haben bisherige und hat auch die heute vorgestellte empirische Untersuchung ergeben. Besonders erfreulich ist, dass das Vertrauen offenbar wesentlich darauf beruht, dass das Gericht nach Auffassung der Bürger seine institutionellen Leitideen in der Praxis gut durchsetzt, besser als der Bundestag. Ein renommierter Staatsrechtslehrer (KLOEPFER, JZ 2003, 481 ) hat vor nicht allzu langer Zeit gemeint, dass das hohe Ansehen des Bundesverfassungsgerichts in der Bevölkerung um so bemerkenswerter sei, als das Gericht unter allen Verfassungsinstitutionen diejenige sei, bei der die Öffentlichkeit die agierenden Personen am wenigsten kennen würde. Ein entscheidender, wenn auch kaum erörterter Grund für das hohe Ansehen des Bundesverfassungsgerichts - so fügte dieser Staatsrechtslehrer hinzu - liege jedoch in der deutschen Sehnsucht nach dem Unpolitischen im politischen System. Bei diesen Sätzen ist sicherlich auch ein wenig Ironie im Spiel. Dennoch: Nach mehr als 50 Jahren, in denen sich sowohl die Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit als auch das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes bewährt haben, wäre es wohl kein schlechtes Zeichen, wenn eine künftige Untersuchung über die politischen Institutionen in Deutschland ergäbe, dass das Vertrauen in das Bundesver-
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fassungsgericht - nach wie vor - hoch ist, obwohl oder vielleicht sogar w e i l die Bevölkerung das Gericht noch besser als heute kennt, - und dass zugleich das Ansehen von Parlament, Regierung und Parteien gestiegen ist, weil die Bürger auch das P o l i t i s c h e am politischen System zu schätzen gelernt haben.
ONTOLOGIE UND MACHT. Eine Einführung PEDRO SCHMECHTIG Noch vor einigen Jahren wäre es kaum vorstellbar gewesen, eine Einführung, die das Wort ‚Ontologie’ im Titel trägt, nicht mit einer ausführlichen Rechtfertigung zu beginnen, wie Ontologie trotz der neuzeitlichen Metaphysik-Kritik überhaupt möglich ist. Spätestens seit dem Erscheinen von KANTs „Kritik der reinen Vernunft“ schien fest zu stehen, dass metaphysische Fragestellungen ausschließlich unter einer erkenntnistheoretischen Perspektive zu beantworten sind. Und die damit einsetzende Tendenz der Ablehnung ontologischen Denkens hat sich bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts durchgesetzt, weshalb selbst so konträre geisteswissenschaftliche Strömungen, wie die des Neukantianismus, des Neopositivismus oder auch des sog. Dekonstruktivismus sich zumindest in einem Punkt einig waren, nämlich darin, dass die Ontologie – und alles was damit in Verbindung steht – aus dem Kanon der philosophischen Disziplinen zu streichen sei. Diese Situation hat sich in letzter Zeit spürbar gewandelt, wobei es nicht einer gewissen Ironie entbehrt, dass die analytische Philosophie – die sich in ihrer Gründerphase noch konsequent anti-metaphysisch zeigte1 – dazu einen wesentlichen Beitrag geleistet hat. Doch ungeachtet dessen, dass ontologische Fragestellungen besonders unter analytischen Philosophen eine Art Renaissance erleben, gibt es einige wichtige Veränderungen, die mit dieser neuartigen ‚Hinwendung’ zur Ontologie verbunden sind. Aus diesem Grund werde ich zunächst einmal versuchen – bevor ich dazu übergehe, den Zusammenhang von Macht und Ontologie zu betrachten –, einige Missverständnisse auszuräumen, die einem gewandelten Ontologie-Verständnis möglicherweise im Weg stehen. Am einfachsten wäre es natürlich, ich könnte damit beginnen, eine präzise Definition vorzulegen, aus der hervorgeht, was Ontologie aus heutiger Sicht bedeutet. Aber wie in jeder modernen Wissenschaft gibt es hierzu sehr verschiedene, oft eben auch miteinander konkurrierende Auffassungen. Am ehesten wird man sich darauf einigen können, dass eine ontologische Untersuchung das systematische Studium der g r u n d l e g e n d s t e n S t r u k t u r e n d e r W i r k l i c h k e i t erfordert, womit im Wesentlichen zwei Aufgabenbereiche verknüpft sind:2 Erstens 1 2
Vgl. hierzu R. CARNAP, Meaning and Necessity. A Study in Semantics and Modal Logic, Chicago 1956, S. 205-229. Vgl. C. COCCHIARELLA, Ontology II: Formal Ontology, in: H. BURCKHARDT / B. SMITH (Hgg.), Handbook of Metaphysics and Ontology, Bd. 2, München 1991, S. 640-647; E. J. LOWE, Die Metaphysik und ihre Möglichkeit, in: J. BRANDL / A. HIEKE / P. SIMONS (Hgg.), Metaphysik. Neue Zugänge zu alten Fragen, St. Augustin 1995, S. 11-32; E. RUNGGALDIER / C. KANZIAN, Grundprobleme der analytischen Philosophie, Paderborn 1998; S. LAURENCE / C. MACDONALD,
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sollte eine ontologische Untersuchung eine feststehende Einteilung liefern, welche Klassen oder Arten von Entitäten angenommen werden müssen, um eine komplette Beschreibung bzw. Erklärung der zugrunde liegenden Phänomene zu ermöglichen. Müssen wir z.B. unterstellen, dass nur diejenigen über Macht verfügen, die ganz bestimmte E i g e n s c h a f t e n besitzen, oder ist Macht ein Phänomen, dass gar nichts mit den Eigenschaften von Personen zu tun hat, sondern nur aufgrund von R e l a t i o n e n zwischen Personen, zwischen Personen und externen Gegenständen (z.B. bestimmten Ressourcen) oder gar nur aufgrund von spezifischen E r e i g n i s s e n und P r o z e s s e n zustande kommt. Zweitens muss geklärt werden, worin die Natur der verschiedenen Arten von Entitäten besteht, d.h. es muss gefragt werden, welche Entitäten sich auf andere Dinge reduzieren lassen und welche als notwendige Basis-Konstituenten anzusehen sind. Ontologie in diesem zweiten Sinne lässt sich als Suche nach den gesetzmäßigen Beziehungen verstehen, die zwischen den verschiedenen kategorialen Bestimmungen bestehen. Wie unschwer zu erkennen ist, lässt diese – zugegebenermaßen nur sehr vorläufige – Bestimmung bewusst offen, welchen kategorialen Festlegungen im Einzelfall der Vorzug zu geben ist. Und damit bin ich bei einem ersten Missverständnis. Obwohl das Wort ‚Ontologie’ eine sehr späte Erfindung der Schulphilosophie des 16. Jahrhunderts ist,3 findet sich die ontologische Thematik selbstverständlich schon viel früher, insbesondere natürlich bei Aristoteles. Allerdings bestand bei Aristoteles noch eine eindeutige Trennung zwischen Ontologie und Metaphysik, denn er ging nicht nur davon aus, dass der Gegenstand der Metaphysik in vier unterschiedliche Bereiche zerfällt, von denen man einen als ‚allgemeine Ontologie’ bezeichnen könnte; er war zugleich der Auffassung, dass die später im 17. Jahrhundert zentral gewordene Unterscheidung zwischen einer metaphysica generalis (Struktur des Seienden im Ganzen) und einer metaphysica specialis (bestimmte Bereiche oder ‚Ausschnitte’ des Seins wie z.B. Theologie, Physik oder Ästhetik)4 in einer übergreifenden Wissenschaft von Seienden a l s Seiendem aufzuheben sei.5
3
4
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Introduction: Metaphysics and Ontology, in: DIES. (Hgg.), Contemporary Readings in the Foundations of Metaphysics, Oxford 1998, S. 1-7; A. ZDUNEK, Ontologie, Wahrheit und Kausalität, Frankfurt a.M./Lancaster 2004, S. 134-138; P. van INWAGEN, Introduction, in: DERS., An Essay on Free Will, Oxford 1983, S. 1-17; DERS., The Nature of Metaphysics, in: S. LAURENCE / C. MACDONALD (Hgg.), Contemorary Readings in the Foundations of Metaphysics, Oxford 1998, S. 11-21. Das Wort ‚Ontologie’ ist um 1613 von zwei Philosophen offenbar unabhängig voneinander eingeführt worden R. Göckel (Goclenius) in „Lexicon Philosophicum“ und J. Lorhard (Lorhardus) in „Theatrum Philosophicum“. Micraelius (1597-1658) hat z.B. die Metaphysik in eine allgemeine – in der das Seiende in seinen abstrakten Formen ohne jede Indifferenz betrachtet wird – und in eine besondere Wissenschaft unterteilt. Letztere hat die Funktion diejenigen Arten von Substanzen zu untersuchen, die von jeglicher Materie getrennt sind (göttliche und seelische Substanzen). J. MICRAELIUS, Lexicon philosophicum, Stettin 1653, S. 654. Im sechsten Buch der Metaphysik spricht Aristoteles von der ‚ersten Philosophie’ ( ) als Wissenschaft vom Seienden als Seiendem; damit ist bestimmt, was Ontologie im Allgemeinen bedeuten soll. Aristoteles, Met. VI 1 1026a.
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Die damit verbundene G r u n d l a g e n f u n k t i o n der Ontologie ist jedoch aus heutiger Sicht nicht nur überholt, sondern ihrem Anspruch nach tatsächlich uneinlösbar. Einer der Gründe für diese Ablehnung ist der Folgende: Da Aristoteles seiner allgemeinen Ontologie zutraute ‚erste Philosophie’ und somit gemeinsame Grundlage für sämtliche Einzelwissenschaften zu sein, stellte sich für ihn die Frage, wie die unterschiedlichen Kategorien, gemäß denen etwas existieren kann, einen einheitlichen Zusammenhang bilden können. Bekanntlich löste er dieses Problem dadurch, dass er einer einzigen Kategorie – nämlich dem substantiellen Einzelding – eine einmalige Sonderstellung einräumte. Demnach existieren Dinge anderer Kategorien nur insofern, als sie mit einer individuellen Substanz verbunden sind. Aber eine derartige Engführung auf den Substanzbegriff wird gegenwärtig von niemandem mehr ernsthaft in Erwägung gezogen, selbst von denjenigen nicht, die der Substanz-Kategorie weiterhin großes Gewicht beimessen.6 Zwar gibt es nach wie vor einen Streit darüber, ob eine ontologische Untersuchung monokategorial oder besser mehrkategorial angelegt sein sollte,7 aber die alleinige Orientierung am substantiellen Einzelding scheint nun wirklich Vergangenheit zu sein. Ein zweites Missverständnis, das durch die Rede von einer Seinswissenschaft als prima Philosophia erzeugt wird, betrifft die problematische Behauptung, es würde sich bei ontologischen Erklärungen um unfehlbare, nicht-kontingente Einsichten handeln, die gewissermaßen letzte metaphysische Wahrheiten darstellen. Natürlich wäre es absurd zu bestreiten, dass sich ontologische Untersuchungen, was den Abstraktionsgrad der Beschreibung und die Universalität des Gegenstandsbereichs angeht, nicht von anderen Einzelwissenschaften unterscheiden. Aber das bedeutet 6
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Besonders augenscheinlich wird dies bei der zur Zeit am besten ausgearbeiteten Substanzontologie, die von Hoffman / Rosenkrantz (1994, 1997) stammt. Dieser Ansatz schlägt eine Analyse von Einzeldingen vor, bei der die Substanzkategorie ontologisch neutral verwendet wird, d.h. es wird keine Festlegung bezüglich der Existenz einer bestimmten Art getroffen. Entscheidend ist vielmehr, dass Entitäten – ganz gleich welcher Art sie sind – nur dann die Kategorie der Substanz instanziieren, wenn sie ganz bestimmte formale Kriterien der Unabhängigkeit erfüllen. Vgl. J. HOFFMAN / G. S. ROSENKRANTZ, Substance among Other Categories, Cambridge 1994; DIES., Substance – It Nature and Existence, London 1997. Während Vertreter einer monokategorialen Ontologie die These vertreten, dass die mit Hilfe von verschiedenen Kategorien (Eigenschaften, Einzeldinge Ereignisse, Sachverhalte usw.) eingeführten Existenztypen als ‚Spezialisierungen’ einer einzelnen grundlegenden Basiskategorie zu betrachten sind (SEIBT 1995, S. 374) – auf deren Grundlage alle anderen ontologischen Größen rekategorisiert werden – müssen mehrkategoriale Ansätze noch einmal wie folgt unterteilt werden: (a) Theorien, die das Nebeneinanderbestehen verschiedener Kategorien (auf gleicher Abstraktionsebene) zum Ausgangspunkt nehmen, ohne dabei eine das kategoriale Sein überschreitende Ebene von ontologischen Bestimmungen anzunehmen, sind als multikategorial zu bezeichnen. (b) Hingegen werden ontologische Ansätze ‚transkategorial’ genannt, wenn sie zusätzlich zu den verschiedenen kategorialen Komponenten eine Stufe der begrifflichen Bestimmung von ontologischer Allgemeinheit einführen, die insofern höherstufig ist, als die dabei verwendeten Begriffe (z.B. Modalität, Existenz, ontologische Abhängigkeit usw.) auf alle Kategorien des Seins gleichermaßen anwendbar sind. J. SEIBT, Individuen als Prozesse. Zur ontologischen Revision des Substanz-Paradigmas, in: Logos, N.F. (1995), S. 352-384.
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keinesfalls, dass empirische Erkenntnisse in der ontologischen Abstraktion ausgeklammert werden. Ganz im Gegenteil, gerade ontologische Erklärungen sind darauf angewiesen, mit den empirischen Fakten über ihre Explananda verbunden zu sein. Und gleichwohl es keinen direkten kausalen Zugang zum Gegenstand der ontologischen Erklärung geben kann, heißt das nicht, dass ontologische Untersuchungen frei von empirischer Erfahrung sind. Eine ontologische Erklärung nach heutigem Zuschnitt stellt man sich besser so vor, dass den empirisch gewonnenen Daten im Rahmen eines Schlusses auf die beste Erklärung eine kategoriale Festlegung zugeordnet wird, mit deren Hilfe sich verständlich machen lässt, warum das betreffende Phänomen so und nicht anders existieren kann. Erklärungen in diesem Sinne werden ontologisch genannt, weil ihr explanatorischer Gehalt erst mit dem Einführen bestimmter Entitäten zum Vorschein gebracht wird.8 Eng verbunden mit dieser Auffassung ist die unmittelbare Einsicht, dass Aussagen über die Wirklichkeit ein sog. ‚Wahrmacherprinzip’ verlangen. Dahinter verbirgt sich der in der analytischen Ontologie weit verbreitete Gedanke, dass die Notwendigkeit, mit der kontingente Aussagen als wahr behauptet werden, nicht auf der bloßen Annahme von kausalen Beziehungen beruht. Doch wenn die Notwendigkeit, aufgrund der etwas als wahr bezeichnet wird, nicht rein kausaler Natur ist, was ist sie dann? Ein Hauptmotiv für das Festhalten am Wahrmacherprinzip ergibt sich aus der Beantwortung dieser Frage; sie läuft kurz gesagt auf die Behauptung hinaus, dass Wahrheit o n t o l o g i s c h begründet ist. Geht man davon aus – wie es allgemein üblich ist – dass die Wahrheitsträger von Aussagen Propositionen sind, dann ist unter einem Wahrmacher genau jene Entität zu verstehen, die dafür sorgt, dass die entsprechende Proposition wahr ist. Entsprechend lässt sich das folgende allgemeine Wahrmacherprinzip formulieren: W a h r m a c h e r p r i n z i p: Es gilt notwendigerweise, wenn eine ‚Proposition, dass p’ wahr ist, dann gibt es irgendeine Entität aufgrund der die ‚Proposition, dass p’ wahr ist.
Diesem Prinzip zufolge wäre beispielsweise eine Proposition der Form ‚x übt mit Handlung G auf y Macht aus’ erst dann wahr – und damit ontologisch fundiert – falls eine Entität existiert, nämlich die wirkliche Machthandlung G von x, aufgrund der die angeführte Proposition wahr ist. Oft wird versucht das Wahrmacherprinzip mit der Begründung zu rechtfertigen, dass wir ohne das Anführen von Wahrmachern nicht mehr in der Lage wären,
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In diesem Zusammenhang hat unlängst C. Swoyer (1999) für eine noch stärkere Umorientierung in der analytischen Ontologie plädiert. Zu diesem Zweck diskutiert Swoyer eine Vielzahl verschiedener Fälle von wissenschaftlicher Erklärung (z.B. der Erklärung von qualitativer Ähnlichkeit, a priori Wissen, kausaler Kraft, Naturgesetzen, kognitiven Phänomenen, Problemen der intensionalen Logik usw.), die seiner Meinung nach allesamt zeigen, dass man für die Einführung ontologischer Entitäten (insbesondere von Eigenschaften und Universalien) dann am überzeugendsten argumentieren kann, wenn man sich darauf einigen würde, eine ‚Ontology as Inference to the best Explanation’ zu vertreten. Vgl. C. SWOYER, How Ontology might be possible: Explanation an Inference in Metaphysics, in: Midwest Studies in Philosophy 23 (1999), S. 100-131.
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unsere realistischen Intuitionen zu wahren.9 Aber diese These ist nicht überzeugend. Auch ein Antirealist könnte das Wahrmacherprinzip akzeptieren, wenn er z.B. die betreffenden Wahrmacher als geist-abhängige Entitäten konzipiert.10 Aus diesem Grund ist es besser, die Rechtfertigung des Wahrmacherprinzips nicht davon abhängig zu machen, ob wir tatsächlich eine realistische Weltauffassung vertreten oder nicht. Dies ist auch gar nicht nötig, denn wie sich zeigt, betrifft die Einsicht, die hinter der ‚Idee der Wahrmacher’ steckt, bereits unsere Vorstellung von Wahrheit selbst. Setzt man einmal voraus – wofür es gute Gründe gibt – dass Wahrheit nicht primitiv ist, sondern in irgendeiner Weise fundiert sein muss, dann kann zur Rechtfertigung von Wahrmachern auf das folgende, sehr einfache Argument verwiesen werden:11 1. Jede kontingente Wahrheit hat einen Grund. 2. Das ‚Haben’ eines Grundes stellt eine Relation dar. 3. Relationen verbinden Entitäten.
Also gilt: (K) Wahrheit ist begründet durch Entitäten.
Falls man dieses Argument akzeptiert – wobei wahrscheinlich nur Prämisse (2) als wirklich problematisch empfunden wird12 – ist leicht einzusehen, wie die bereits dargelegte Behauptung, dass ontologische Bestimmungen zumeist einen Schluss auf die beste Erklärung beinhalten, mit dem jetzt hervorgehobenen Wahrmacherprinzip Hand in Hand geht. Hält man den Gedanken für zwingend, dass Wahrheit durch Entitäten begründet ist, scheint die Annahme von Wahrmachern die beste Erklärung dafür zu sein, warum zwischen der Wahrheit einer Proposition und dem, worin diese Wahrheit begründet ist, eine a s y m m e t r i s c h e Beziehung besteht.13 Das Bestehen einer solchen asymmetrischen Beziehung (zwischen Wahrheit und Wahrheitsgrund) macht die Annahme von Wahrmachern unter explanatorischen Gesichtspunkten interessant. Denn obwohl die Wahrheit einer Proposition gemäß des vorliegenden Arguments in der Realität bestimmter Entitäten begründet ist, gilt umgekehrt nicht, dass die Realität dieser Entitäten durch die Wahrheit von Propositionen 9 10 11 12
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Vgl. beispielsweise D. M. ARMSTRONG, A World of States of Affairs, Cambridge 1997, S. 128. Vgl. ausführlich zu dieser Kritik C. DAILY, So Where’s the Explanation?, in: H. BEEBEE / J. DODD (Hgg.), Truthmakers – The Contemporary Debate, Oxford 2005, S. 85-104. Dieses Argument wurde in ähnlicher Form zuerst von Rodriguez-Pereyra (2005, S. 25) angeführt. Vgl. G. RODRIGUEZ-PEREYRA, Why Truthmakers, in: BEEBEE / DODD, (wie Anm. 10), S. 17-32. So wurde z.B. von Horsnby (2005) bezweifelt, dass das ‚Haben’ eines Grundes eine Relation impliziert, die mit einer Reifizierung von Gegenständen verbunden ist. Vgl. J. HORNSBY, Truth without Truthmaking Entities, in: BEEBEE / DODD, Truthmakers (wie Anm. 10), S. 33-48. Zu Recht hat daher Rodriguez-Pereyra hervorgehoben, dass es diese asymmetrische Beziehung der Begründung von Wahrheit ist, die uns an der Idee festhalten lässt, dass Wahrheit aufgrund von Wahrmacher-Entitäten fundiert ist. Vgl. RODRIGUEZ-PEREYRA, Why Truthmakers (wie Anm. 11), S. 27.
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begründet wird. Will man also verstehen, weshalb unsere Vorstellung von Wahrheit auf einer solchen Asymmetrie basiert, scheint es der Schluss auf die beste Erklärung zu sein, wenn man sagt, dass wahre Propositionen durch Entitäten begründet sind, die als deren Wahrmacher fungieren. Unabhängig von der eben angesprochenen Problematik, ist es aber auch so, dass sich die vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitete Auffassung – man könnte die empirischen Komponenten des Wissens in jedem Fall von den nicht-empirischen Komponenten trennen – als illusorisch erwiesen hat. Selbst bei den basalsten erfahrungswissenschaftlichen Theorien fließen Behauptungen über die Wirklichkeit ein, die nicht eigens thematisiert werden und die sich nicht auf Aussagen über das empirisch Gegebene reduzieren lassen. Darüber hinaus gibt es oft Probleme und Fragestellungen, die weder rein empirischer, noch rein logischer Natur sind, aber dennoch auf rationaler Grundlage entschieden werden. Unter Berücksichtigung dieses Aspekts kommt der ontologischen Untersuchung eine zusätzliche, wenn man so will, kritische Funktion zu; sie hat deutlich zu machen, dass das, was wir bereitwillig als empirische Wahrheit anerkennen, nicht selten davon abhängig ist, was ontologisch für m ö g l i c h gehalten wird. Man muss diese Abhängigkeit vielleicht so verstehen, dass es zur Aufgabe der Ontologie gehört, die G r e n z e n des Bereichs der Möglichkeiten abzustecken, die im Rahmen unserer empirischen Erfahrungen leitend sind und die schon deshalb nicht unerkannt bleiben dürfen, weil sich anderenfalls nicht bestimmen ließe, was aktual als gegeben anzusehen ist.14 Die damit angedeutete Wechselseitigkeit von empirischer Erkenntnis und ‚ontologischer Möglichkeit’ bildet jedenfalls einen der Gründe, warum der vermeintliche Gegensatz zwischen Erfahrungswissenschaft auf der einen und ontologischer Forschung auf der anderen Seite, nach heutigen Maßstäben als äußerst konstruiert erscheint. Ein letztes Missverständnis, das ich an dieser Stelle allerdings nur sehr kurz ansprechen möchte, betrifft die irrige Meinung, die Ontologie sei schon deshalb nicht mit anderen Disziplinen zu vergleichen, weil in ihr – bezogen auf die Art der Erkenntnisgewinnung – eine viel zu große Freizügigkeit herrscht, was die Form der methodischen Anleitung anbetrifft. Dass diese Beobachtung nicht den Tatsachen entspricht, wird bereits durch den Hinweis deutlich, dass sich die Methoden der modernen Ontologie nur wenig von den Methoden der Philosophie im Allgemeinen unterscheiden. Auch in der Ontologie geht es um die Entwicklung und Verbesserung von Theorien, die anhand von konkurrierenden Ansätzen, Gegenbeispielen oder neuen Erkenntnissen aus anderen Bereichen der Wissenschaft getestet werden müssen und die – falls es sich als notwendig erweist – selbstverständlich zu revidieren sind. Darüber hinaus gibt es aber auch eine Besonderheit; denn im Zentrum der m e t h o d i s c h e n Ü b e r l e g u n g e n steht naturgemäß die Frage, unter welchen Bedingungen man verpflichtet ist, bestimmte Entitäten einzuführen bzw. unterschiedliche kategoriale Zuordnungen vorzunehmen. Dem analytischen 14
Vgl. zu diesem Aspekt der ontologischen Untersuchung LOWE, Die Metaphysik (wie Anm. 2).
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Ontologen stehen in dieser Hinsicht unter anderem drei zentrale Grundsatzregeln zur Seite: (i) Das auf Wilhelm von Ockham zurückgehende Prinzip der ontologischen Sparsamkeit, demzufolge nur dann weitere Entitäten eingeführt werden dürfen, wenn es für die Erklärungsleistung der Theorie unbedingt erforderlich ist.15 (ii) Das von QUINE herausgestellte Prinzip der ‚ontologischen Verpflichtung’, welches im Kern besagt, dass Aussagen, mit denen wir Behauptungen über die Wirklichkeit anstellen, in eine kanonische Notation zu überführen sind, so dass anhand des Wertebereichs der gebundenen Variablen festgestellt werden kann, welche ontologischen Voraussetzungen auf der Gegenstandsebene unvermeidlich sind.16 Die für dieses Prinzip eingebürgerte Kurzformel lautet in etwa so: Etwas zu s e i n , bedeutet der Wert einer gebundenen Variablen zu sein. (iii) Die ebenfalls von QUINE abstammende Forderung, dass nur solche Objekte als echte Entitäten der ontologischen Theorie zu akzeptieren sind, für die es eindeutige Identitätskriterien gibt. Auch hier gibt es einen berühmten Slogan, der in seiner bekanntesten Form besagt: ‚Keine Entität ohne Identität’.17 Die Tatsache, dass ontologische Untersuchungen nicht ohne methodische Prinzipien auskommen, lässt mich direkt zur Frage überleiten, worin der Zusammenhang von Macht und Ontologie besteht. Unter methodischen Gesichtspunkten ist zunächst einmal festzuhalten, dass eine ontologische Analyse der Macht über die bestehenden Prinzipien hinaus wenigsten zwei weiteren Beschränkungen unterliegt: Auffällig ist erstens, dass mit der Machtthematik ein einzelner, sehr spezifischer Bereich der Wirklichkeit herausgegriffen wird, so dass es sinnvoll ist, entgegen der aristotelischen Auffassung an der oben erwähnten Trennung zwi15 16
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Dem Ockhamschen ‚Rasiermesser’ zufolge sind diejenigen Theorien vorzuziehen, die bei gleichem Erklärungswert weniger Entitäten einführen müssen. Dies wird vielleicht deutlicher, wenn man sich die alltagweltliche Rede von ‚es gibt ein Ding, das a ist’ etwas genauer anschaut. Formal wird diese Behauptung mittels der Einführung des Existenzquantors (plus Identitätszeichen) wiedergeben: x (x=a). Da Existenz in dieser Form durch den Quantor ausgedrückt wird, hat man sich mit einer Theorie, die eine solche Behauptung enthält, auf genau diejenigen Gegenstände ontologisch verpflichtet, die unter den Werten der gebundenen Variablen stehen. Welche ontologischen Kategorien von einer Theorie vorausgesetzt werden, zeigt sich also an der Ersetzung der gebundenen Variablen. Eine wichtige Implikation dieser Sichtweise besteht allerdings darin, dass man ontologische Fragen nicht in einem direkten Zugriff auf die Dinge selbst beantworten kann. Vielmehr ist die ontologische Verpflichtung einer Theorie nur über die Sprache zu erschließen. Geht es um die ontologische Verpflichtung einer Theorie ist nicht danach zu fragen, was es alles geben könnte, vielmehr steht im Vordergrund, was von einer Theorie unterstellt werden muss, damit die von ihr postulierten Sätze wahr sind. Vgl. W. V. QUINE, Was es gibt, in: DERS., Von einem logischen Standpunkt, Berlin/Wien 1979. Quines diesbezügliche Intuition beruht auf der schlichten Feststellung, dass es keinen Sinn hat, über irgendwelche Entitäten reden zu wollen, von denen man nicht mit Bestimmtheit sagen kann, dass sie mit sich selbst identisch sind. Doch abgesehen von der synchronen Identität einer Entität (Selbstidentität zu einem konkreten Zeitpunkt) stellt es eine äußerst umstrittene Frage dar, ob zum Verständnis der diachronen Identität von persistierenden Objekten strikte Identitätskriterien notwendig sind. Vgl. W. V. QUINE, Von einem logischen (wie Anm. 16), S. 9-25; T. MERRICKS, There are no Criteria of Identity Over Time, in: Nous 32 (1998), S. 106-124.
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schen einer metaphysica generalis und einer metaphysica specialis festzuhalten. Ganz offenkundig geht es bei Macht – zumal wenn sie unter einer institutionellen Perspektive betrachtet wird – weniger um eine Analyse der allgemeinsten Struktur der gesamten Erfahrungswelt, als vielmehr um Probleme und Fragestellungen, die verschiedene Teilbereiche der sozialen Wirklichkeit berühren. Und gleichwohl eine ontologische Untersuchung der Macht nicht ohne die Einbindung in eine allgemeine Kategorientheorie möglich sein wird, besitzt sie selbst eher den Status einer wissenschaftlichen Spezialuntersuchung. Die zweite Einschränkung betrifft den Gegenstandsbereich. In der Vergangenheit hat es – wie hinlänglich bekannt ist – unzählige Versuche gegeben den Machtbegriff in die Sozialtheorie einzuführen.18 Auf systematischer Ebene unterscheiden wir nicht nur zwischen verschiedenen Formen der M a c h t a u s ü b u n g (wie z.B. Gewalt, Zwang, Bestechung oder Einflussnahme)19 und unterschiedlichen Arten des M a c h t b e s i t z e s (wie z.B. Ermächtigungen, Erlaubnisse oder bestimmte Arten von Koalitionen),20 sondern auch hinsichtlich sog. Q u e l l e n d e r M a c h t . Zu diesen Quellen der Macht gehören in erster Linie ökonomische Ressourcen, aber auch – und dies in einem ganz besonderen Maße – all diejenigen M e d i e n d e r M a c h t , mit denen die bestehenden Herrschaftsverhältnisse legitimiert und symbolisch repräsentiert werden.21 Die auf dieser Ebene Erkenntnis leitende Fragestellung – welche mediale Funktion besitzen Machtausübungen – wird im vorliegenden Cluster aus zwei unterschiedlichen Richtungen näher beleuchtet: (i) Unter einer spezifisch theologischen 18
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Einen guten Überblick geben T. BALL, Transforming Political Discourse, Oxford 1988; W. BALZER, Soziale Institutionen, Berlin /New York; S. CLEGG, Framwork of Powers, London 1989; M. HAUGAARD, The Constitution of Power, Manchester 1997; S. HRADIL, Die Erforschung der Macht, Stuttgart 1980; M. E. OLSON / M. N. MARGER (Hgg.), Power in Modern Socities, Boulder 1993. Vgl. hierzu S. B. BACHARACH / E. J. LAWLER, Power and Polities in Organizations, San Francisco/Washington/London 1980; W. BALTZER, A Theory of Power in Small Groups, in: H. WESTMEYER (Hg.), The Structuralist Programm in Psychology: Foundations and Applications, Bern 1992; N. LUHMANN, Macht, Stuttgart 1989; T. E. WARTENBERG, The Forms of Power, Philadelphia 1990, Chapter 5. Vgl. hierzu H. BRÄUER, Formen der Macht. Dresdner Berichte in theoretischer Philosophie und philosophischer Logik 18 (2005); P. MORRISS, Power – A philosophical Analysis, Manchester 1987; R. PARIS / W. SOFSKY, Figurationen sozialer Macht. Autorität – Stellvertretung – Koalition, Frankfurt a.M. 1994; P. SCHMECHTIG, Ontologie, Disposition und soziale Macht, in: A. BRODOCZ / C. O. MAYER / R. PFEILSCHIFTER / B. WEBER (Hgg.), Institutionelle Macht. Genese – Verstetigung – Verlust, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 309-327. Bei den ‚Quellen der Macht’ handelt es sich weniger um eine strukturelle Analyse von einzelnen, ganz konkreten Machtbeziehungen, als vielmehr darum, wie eine bereits bestehende Machtkonstellation aufgrund der unterschiedlichen A n e r k e n n u n g von Macht (Gründe für die Geltung legitimierter Gewaltsamkeit) – zentral hierfür ist natürlich die auf Weber (1973) zurückgehende Einteilung in charismatische, traditionale und rationale Herrschaftstypen – innerhalb einer sozialen Ordnung reproduziert wird. Aus diesem Grund zielen Fragen, welche die ‚Quellen der Macht’ betreffen, in erster Linie auf den eher makroskopischen Begriff der p o l i t i s c h e n Herrschaft ab. Vgl. M. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1973.
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Perspektive wird gefragt: Wie hängt die Entfaltung und kulturelle Ausprägung christlicher Überzeugungen mit der inner-theologischen Diskussion von Macht zusammen? Inwiefern lässt sich die religiöse Sprache als ein Medium begreifen, das für Fragen der Machtausübung hochgradig sensibel ist, obgleich der ihr zugrunde liegende Gottesgedanke nicht nur als Ursprung oder Quelle der Macht dient, sondern zugleich auch derjenige Ort ist, an dem die Idee der christlichen Nächstenliebe entspringt. Das zentrale Problem, das sich in diesem Zusammenhang ergibt, gründet in der Vermutung, dass eine zunehmende Ausdehnung christlicher Deutungsmacht auf ganz bestimmte legitimierende Vorstellungen – wie die von einer ‚Macht der Liebe’ oder einer ‚Macht der sittlichen Erkenntnis’ – angewiesen ist. Wobei die damit in Gang gesetzte Umkodierung von einer ‚Macht der Stärke’ hin zur ‚Ohnmacht’ religiöser Erfahrungen eine gewisse Spannung erzeugt, von der fraglich ist, wie sie sich innerhalb der christlichen Symbolik vermitteln lässt. (ii) Und Zweitens wird die mediale Funktion von Machtausübungen unter einem noch stärker kulturellen Blickwinkel untersucht, womit näher betrachtet eine genauere Analyse der spezifischen Verkopplung von semiotischen und politischen Sachverhalten gemeint ist. Im Mittelpunkt dieser Überlegungen steht die Frage: Was bedeutet es eigentlich, dass Macht im kulturellen Kontext mit Hilfe konkreter Kommunikations-Medien ausgeübt wird, und welche Auswirkungen hat der im modernen Zeitalter einsetzende Strukturwandel dieser Medien auf die jeweiligen Formen der Ausübung von Macht? Neben den eben genannten Unterscheidungen, die für eine allgemeine Theorie der Institutionen unerlässlich sind, stellt sich zudem die weiterführende Frage, ob es – jetzt wieder bezogen auf die Ebene der konkreten Handlungsvollzüge – etwas ganz spezifisch ‚Institutionelles’ am Machtbegriff gibt, und wenn ja, ob dabei ontologische Überlegungen eine entscheidende Rolle spielen. Eine erste Antwort auf diese Frage wird sichtbar, wenn man sich einmal die folgende Tatsache vor Augen führt: Von fast allen Theorien der Macht wird mehr oder weniger bewusst eine ganz bestimmte O n t o l o g i e d e s s o z i a l e n H a n d e l n s in Anspruch genommen. Regelmäßig wird behauptet, dass Macht etwas ist, das allein den i n d i v i d u e l l e n Handlungen von Personen und den damit verbundenen Absichten, Präferenzen oder Einstellungen zurechenbar ist. Entsprechend werden die zugrunde liegenden Machtrelationen stets als Interaktionen zwischen k o n f l i g i e r e n d e n Handlungsinteressen gedeutet.22 Die Ausübung von Macht wird dann für gewöhnlich so definiert, dass sie isoliert von allen anderen Sozialbeziehungen ausschließlich im responsiven Interaktions-Spielraum von ego und alter 22
Dies lässt sich ganz einfach damit begründen, dass im Ausgang von Webers Bestimmung der Machtsübung zumeist davon ausgegangen wird, dass zu einer vollständigen Definition individueller Machtausübungen die folgende W i d e r s t a n d s b e d i n g u n g gehört: Eine Handlung H der machthabenden Person a kann nur dann als eine Machtausübung gezählt werden, wenn mittels H ein Widerstand in Bezug auf die Handlung G des subordinierten Agenten b überwunden wird, so dass G ohne das Auftreten von H nicht stattgefunden hätte. Vgl. zu dieser Widerstandsbedingung WEBER, Gesellschaft (wie Anm. 21), S. 28.
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stattfindet, ohne dass dabei die nicht-individuelle ‚institutionelle Wirklichkeit’ – in der die konkreten Machthandlungen eingelassen sind – eine stärkere Berücksichtigung findet. Demgegenüber eröffnet das Forschungsprofil des SFB 537 und die damit verbundene Idee der i n s t i t u t i o n e l l e n V e r s t ä t i g u n g von Machtverhältnissen eine umgekehrte – wenn man so will – völlig neuartige Perspektive. Das spezifisch ‚Institutionelle’ der Macht drückt sich nämlich n i c h t in einer nur auf konkrete individuelle Handlungen zugeschnittenen Definition von Machtausübungen aus, sondern in dem, was man vielleicht am besten als e n t p e r s o n a l i s i e r t e P o s i t i o n s m a c h t bezeichnen könnte.23 Damit ist im Wesentlichen gemeint, dass es bestimmte Formen des M a c h t b e s i t z e s gibt, deren Besonderheit gerade darin liegt, dass sie n i c h t mit dem Widerstand oder der Gegenwehr machtunterworfener Akteure zu rechnen haben, weil dasjenige, was die Machtrelationen konstituiert, einen sog. ‚produktiven’ Charakter besitzt. Dieser produktive Charakter zeigt sich daran, dass die vermeintliche Gegensätzlichkeit individueller Präferenzen zugunsten einer gemeinsamen s o z i a l e n O r i e n t i e r u n g aufgehoben wird.24 Denn durch das ‚Hineinwachsen’ in soziale Positionen – die mit klar vorgegebenen Machthierarchien und Statuszuweisungen verbunden sind – wird die institutionell geprägte Ausübung der Macht nicht etwa als Restriktion der eigenen Handlungsmöglichkeiten erfahren, sondern als ‚Mittel’ der Erschließung und transformativen Aneignung neuer handlungsleitender Kompetenzen. Zum Abschluss dieser Einführung möchte ich die Gelegenheit nutzen, am Beispiel der gerade erwähnten entpersonalisierten Positionsmacht kurz zu demonstrieren, warum wir tatsächlich nicht umhin kommen, uns über die ontologischen Implikationen derjenigen Begriffe Gedanken zu machen, die von uns zu explanatorischen Zwecken eingeführt werden: Wie ich eben sagte, wird zumeist die Auffassung vertreten, Macht sei in erster Linie ein Phänomen, das über die Art der Machtausübung zu definieren ist. Doch gerade in institutionellen Zusammenhängen erweist sich Macht erst dann als ein robuster und durchgängig präsenter Faktor, wenn es dafür, dass jemand im institutionellen Rahmen über Macht verfügt, n i c h t der permanenten Bestätigung eines konkreten machtausübenden Handlungsereignisses bedarf.25 Im Rahmen von Institutionen scheint es daher besonders 23 24
25
Dieser Begriff geht auf HRADIL (1980, S. 62f.) zurück, wird aber hier in einer etwas anderen Ausrichtung verwendet. Vgl. HRADIL, Die Erforschung (wie Anm. 18). Im Gegensatz zu WARTENBERG (1992, S. 88f.), der als einer der Ersten versucht hat, den Begriff ‚social alignment’ auf systematische Weise einzuführen, wird hier davon ausgegangen, dass sich eine gemeinsame Orientierung nur dann im ‚sozialen Raum’ verankern lässt, wenn es institutionelle Mechanismen des ‚Explizitmachens’ regelhafter Verhaltensmuster gibt, die anzeigen, dass man eine ganz bestimmte soziale Sichtweise bereits internalisiert hat. Vgl. T. E. WARTENBERG, Situated Social Power, in: DERS. (Hg.), Rethinking Power, New York 1992, S. 79-101. Dieser Gedanke lässt sich anhand des folgenden Beispiels veranschaulichen: Es ist sicherlich nicht falsch, zu sagen, dass ein Hochschullehrer die Macht besitzt, durch die Bewertung von Studienleistungen die berufliche Entwicklung seiner Studenten in die eine oder andere Richtung zu beeinflussen. Aber diese Art der Beeinflussung basiert nicht – jedenfalls nicht in erster Line – auf
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wichtig zu sein, zwischen individueller Machtausübung und entpersonalisiertem Machtbesitz zu trennen. So weit so gut. Doch angenommen es wäre so, dass ein institutioneller Machtbesitz nicht – jedenfalls nicht in erster Linie – von den individuellen Fähigkeiten der Macht ausübenden Person abhängig ist, sondern von der Art der Position in einem institutionellen Gefüge. Auf was haben wir uns dann mit der Verwendung des Begriffs der entpersonalisierten Positionsmacht verpflichtet? Oder anders gefragt, was muss ontologisch investiert werden, um behaupten zu können, jemand verfüge n i c h t aufgrund von individuellen Fähigkeiten, sondern qua seiner institutionellen Position über Macht? Eine mögliche Antwort könnte so aussehen, dass man einfach annimmt, es gäbe ganz spezielle soziale E i g e n s c h a f t e n (z.B. dispositionaler Art), die man erst durch die Inbesitznahme institutioneller Positionen erwirbt, und die sich nicht auf individuelle Fähigkeiten des Trägers dieser Eigenschaften reduzieren lassen. Eine andere Überlegung wäre hingegen die, dass man auf die ontologische Annahme von Eigenschaften ganz verzichtet, und statt dessen behauptet, dass das Einzige, was wirklich existiert, ein komplexes soziales Netzwerk ist – bestehend aus einer Menge von Positionen und verschiedenen Relationen zwischen diesen Positionen – das für den unterstellten institutionellen Machtbesitz verantwortlich ist. Diese Antwort würde darauf hinauslaufen, dass der zugrunde liegende Handlungsraum ontologisch gesehen durch ein soziales F e l d von bloßen relationalen Beziehungen fundiert ist, innerhalb dessen die jeweiligen Positionen fixiert sind.26 Doch ganz gleich, welche Antwort man letztlich favorisiert – und hier sind natürlich auch eine ganze Reihe von anderen Möglichkeiten denkbar – wichtig ist an dieser Stelle nur, dass man in j e d e m Fall eine o n t o l o g i s c h e B a s i s b e s c h r e i b u n g benötigt, auf deren Grundlage sich erklären lässt, warum die Annahme eines spezifisch institutionellen Machtbesitzes kein bloßes Hirngespinst ist, sondern etwas bezeichnet, dass in unserer Welt wahrhaft existiert. Und um genau diesen Punkt kenntlich zu machen, bedarf es der weiter-
26
der permanenten Machtausübung des Hochschullehrers (etwa durch ständige Anwendung von physischem Zwang), sondern weil es eine institutionell verankerte soziale Orientierung der Studenten gibt, die vorsieht, dass die machtausübende Position des Hochschullehrers eine notwendige Vorraussetzung für den Erwerb gewisser Qualifikationen ist. Sofern man also als Student die Entscheidung trifft, durch den Abschluss einer bestimmten Ausbildung die eigenen beruflichen Chancen zu erhöhen, akzeptiert man damit eine institutionell vorgeprägte soziale Orientierung, in der die Anerkennung der machtausübenden Position des Hochschullehrers nicht ständig erneuert werden muss, weil sie bereits durch die Ausrichtung der eigenen Präferenzen (der subordinierten Agenten) motivational vorbestimmt ist. In der modernen Sozialwissenschaft ist der Feld-Begriff vorrangig durch die Arbeiten von Bourdieu publik gemacht worden. Und obwohl die Frage nach dem ontologischen Status des Feldes bei Bourdieu eher eine untergeordnete Rolle spielt – er geht davon aus, dass sich im sozialen Raum mehrere, teilweise ganz unterschiedliche Felder gleichzeitig überlagern – gibt es in Bezug auf den von WARTENBERG vorgeschlagenen Begriff eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Vgl. P. BOURDIEU, Sozialer Raum und ‚Klassen’ – Zwei Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1985, S. 71; DERS. / L. J. D. WACQUANT, Die Logik der Felder, in: DIES., Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M. 1996, S. 124-147; WARTENBERG, The Forms (wie Anm. 19), S. 72ff.
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führenden ontologischen Untersuchung, worin die Wahrmacher jener Aussagen bestehen, mit denen wir uns auf die vermeintlich institutionellen Phänomene der Macht beziehen. Ontologische Verpflichtungen ergeben sich aber nicht nur auf der Ebene der Basisbeschreibung. Wie viele Dinge dieser Welt unterliegt auch der Machtbesitz z e i t l i c h e n V e r ä n d e r u n g e n . Auch die soziale Orientierung, die mit der jeweiligen Position im Rahmen institutioneller Machtbeziehungen ontologisch fundiert ist, stellt kein Phänomen dar, das, sofern es einmal existiert, von ewiger Dauer sein muss. Eine Theorie der Macht sollte daher erklären können, warum der W e c h s e l von Machtverhältnissen etwas ist, das selbst dem Einfluss von Machthandlungen unterliegt. Eine solche Erklärung scheint freilich nur dann möglich zu sein, wenn mit Machtbesitz eine Entität gemeint ist, die über eine gewisse zeitliche Erstreckung verfügt.27 Würde man hingegen Macht als ein einfaches Universal begreifen – so etwa, wenn man von platonischen Eigenschaften oder abstrakten Relationen redet, die sich nicht in Raum und Zeit befinden – ließe sich kaum erklären, warum es in vielen Fällen möglich ist, dass ein bestimmter Machtbesitz trotz zahlreicher Veränderungen über die Zeit hinweg erhalten bleibt. Ein derart statischer Begriff von Macht würde nicht der Tatsache gerecht, dass angesichts des fortwährenden Wandels sozialer Strukturen eine der wesentlichsten Funktionen des Machtbesitzes darin liegt, die zukünftige R e p r o d u k t i o n der damit verbundenen Mechanismen zu sichern. Doch gerade unter der Perspektive zeitlicher Veränderungen offenbart der Reproduktionsgedanke zwei weitere wichtige Aspekte von institutionellen Machtrelationen: (i) Zum einen werden die Entscheidungen der Machtinhaber zumeist vor dem Horizont dessen getroffen, was es für eine zukünftige Phase des Machtbesitzes bedeutet, eine bislang zuträgliche soziale Orientierung zu bewahren. (ii) Zum anderen gilt: Wenn institutioneller Machtbesitz k e i n s t a t i s c h e s Phänomen ist, darf der Wunsch nach Veränderung bestehender Verhältnisse nicht als Versuch verstanden werden, auf die jeweils konkreten Machtausübungen direkt zu reagieren, sondern als Kampf um die Wahl derjenigen sozialen Orientierung, die einer zukünftigen institutionellen Machtordnung zugrunde liegt. Mit anderen Worten, ernsthafter Widerstand gegen bestehende institutionelle Machtverhältnisse wird sich nicht in einzelnen Zuwiderhandlungen zeigen, sondern nur dort, wo zugleich ein Angebot unterbreitet wird, wie unter einer alternativen Anordnung der Positionen des sozialen Handlungsraums der betreffende Machtbesitz ontologisch fundiert ist. Soviel zu einigen sehr knappen Überlegungen, warum es sich als lohnenswert erweisen wird, über die ontologischen Implikationen des Machtbegriffs weiter nachzudenken. Ich will an dieser Stelle gar nicht verleugnen, dass eine Vielzahl der 27
Aus diesem Grund scheint es unerlässlich zu sein, die ontologische Untersuchung des Machtbesitzes mit der Frage zu verknüpfen, wie etwas über die Zeit hinweg auch dann als ein und dieselbe Entität weiter bestehen kann, wenn dabei zahlreiche Veränderungen auftreten. Die ontologischen Implikationen der Zeitlichkeit von Macht berühren allerdings ein Thema, dass bislang – so weit ich sehen kann – weitestgehend ausgeblendet wurde.
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hier anstehenden Probleme noch nicht einmal erwähnt, geschweige denn in irgendeiner Form angemessen behandelt wurden. Aber das scheint im vorliegenden Fall nicht ganz so problematisch zu sein, denn die Aufgabe einer Einführung besteht bekanntlich nicht darin, vorgefertigte Lösungsansätze anzugeben, sondern den Leser für ein bestimmtes Thema zu sensibilisieren. Ohnehin wird beim Lesen der folgenden Beiträge e i n Gedanke ganz gewiss deutlich werden: Die ontologische Untersuchung des Machtbegriffs eröffnet eine große Fülle von zum Teil sehr komplexen Fragestellungen, die allesamt noch darauf warten, endlich genauer unter die Lupe genommen zu werden.
ZWISCHEN ALLMACHT UND OHNMACHT. Thematisierungen der Macht im christlichen Deutungshorizont KLAUS TANNER Im jüdischen und christlichen Interpretationsrepertoire für menschliche Lebenserfahrungen spielt die Thematisierung von Machtverhältnissen eine Schlüsselrolle. An den unterschiedlichsten sozialen Orten, in der Kommunikation in Zweierbeziehungen, über das Kloster, bis in die Gestaltung politischer Ordnungen und die künstlerischen Ausdrucksformen hinein ist dieses Repertoire durch ein breites Spektrum institutioneller Mechanismen immer wieder neu in Geltung gesetzt1 worden und ist deshalb ein wichtiger Schlüssel zu einem breiten kulturellen Feld. Die in der Bibel überlieferten Mythen und Erzählungen stellen eine frühe Form der Reflexion auf Machtphänomene dar; mit Gottesbegriffen wurde später in Theologien versucht, die Quelle aller Macht zu fassen. Religiöse Semantiken und Praktiken sind Artikulationsmedien für Fragen der Machtgenerierung, Machtausübung und Machtkritik.2 In jüngster Zeit richtete sich die medial gesteuerte Aufmerksamkeit verstärkt auf die destruktiven Potentiale des Zusammenhangs von ‚Religion’ und Macht. Gewaltbereite fundamentalistische Gruppen, die sich ‚religiös’ legitimieren, haben der Religionsthematik eine neue Konjunktur beschert.3 Und auch dem Christentum wird die Bilanz seiner Verflechtungen in eine Geschichte der Gewalt wieder einmal vorgerechnet.4 Das stimuliert seinerseits apologetische Gegenrechnungen.5 Einseitig reduzieren lassen sich die historischen Wirkungszusammenhänge nicht. 1
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Zur institutionellen Analyse als Forschungsprogramm des Dresdner SFB 537 vgl. G. MELVILLE (Hg.), Ein Sonderforschungsbereich stellt sich vor, Dresden 1997; K.-S. REHBERG, Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien – eine Einführung in systematischer Absicht, in: G. MELVILLE (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2001; A. BRODOCZ / C. O. MAYER / R. PFEILSCHIFTER / B. WEBER (Hgg.), Institutionelle Macht. Genese – Verstetigung – Verlust, Köln/Weimar/Wien 2005. In religionswissenschaftlicher Perspektive B. GLADIGOW, Kraft, Macht, Herrschaft. Zur Religionsgeschichte politischer Begriffe, in: DERS. (Hg.), Staat und Religion, Düsseldorf 1981, S. 7-22; H. VON STIETENCRON (Hg.), Angst und Gewalt. Ihre Präsenz und ihre Bewältigung in den Religionen, Düsseldorf 1979. Zum Verständnis von „Religion“ als symbolischer Kommunikation vgl. die Beiträge in K. TANNER (Hg.), Religion und symbolische Kommunikation, Leipzig 2004. F. W. GRAF, Die Wiederkehr der Götter, München ²2007. Die Stichworte lauten: Zwangsbekehrungen, Kreuzzüge, Judenpogrome, Folter, Hexen- und Ketzerverbrennung, Kolonisation, religiös aufgeladene Nationalismen. Vgl. etwa die ‚kulturelle Bilanz’ des Philosophen Herbert SCHNÄDELBACH unter der Überschrift „Der Fluch des Christentums“ und die dadurch ausgelöste Diskussion in R. LEICHT (Hg.), Geburtsfehler? Vom Segen und Fluch des Christentums. Streitbare Beiträge, Berlin 2001. A. ANGENENDT, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Münster 42008.
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Das lässt sich etwa bei Jan ASSMANN studieren, wenn er einerseits die Intoleranz und Freund-Feind-Unterscheidungen fördernden Gewaltpotentiale monotheistischer Gottesvorstellungen betont, anderseits aber auch feststellt: Viele Gewaltformen seien „von den monotheistischen Religionen im Zuge ihrer transformatorischen Machtentfaltung gebändigt, zivilisiert oder geradezu ausgemerzt worden“.6 Die Verflechtung von Macht- und Religionsdiskursen hat jenseits aller zeitgeistbedingten Konjunkturen einen Fußpunkt in der als ‚religiös’ qualifizierten Erfahrung und Selbstwahrnehmung. Der Ausgangspunkt ‚religiöser’ Deutungsprozesse ist eng an eine doppelte Grunderfahrung geknüpft: Einerseits erlebt sich der Mensch in seiner Lebensführung als vielfältig abhängig und bedroht, andererseits als in gewissen Grenzen frei, nicht nur die außermenschliche Wirklichkeit, sondern auch sich selbst zu gestalten. Der Vollzug des Handelns aus Freiheit steigert seinerseits die Konflikthaftigkeit und das Bewusstsein von Abhängigkeiten. Wer sich für das eine entscheidet, weiß, dass er anderes ausgeschlossen hat. Im Freiheitsvollzug wird Freiheit als beschränkte erlebt. Solches Wählen erfordert meistens nicht nur den Umgang mit widerstrebenden Neigungen im Handelnden selbst. Wir stoßen in uns selbst auf unsere Grenzen. Weil keiner sein Leben allein leben kann, führt der eigene Freiheitsvollzug im Zusammenleben mit anderen zur Notwendigkeit der Handlungskoordination bzw. ‚Ordnung’ etwa durch Unterordnung oder durch Kooperation auf gleicher Augenhöhe. Auch durch die Notwendigkeit der Handlungskoordination wird das Bewusstsein der Abhängigkeit und Endlichkeit unserer Freiheit gesteigert. Als reflektierendes Wesen kann der Mensch den Fragen danach nicht ausweichen, was seine Lebensführung beeinflusst. Seine Augenblickstranszendenz, das menschliche Vermögen, sich über das im Jetzt Erlebte erheben zu können, das Wissen um die Zukunft, die doch notorisch ungewiss bleibt, ermöglicht einerseits eine Planung und Gestaltung der Zukunft und zugleich bleibt der Mensch gebunden an das Hier und Jetzt, und die nur in Grenzen gestaltbare Zukunft bleibt eine permanente Quelle von Unsicherheit. Vieles trifft den Menschen: Krankheit, Tod, Katastrophen, Neid und Missgunst der Mitmenschen, aber auch unverhofftes Glück und erarbeitetes Gelingen. Jeder Mensch erfährt dabei die Kontingenz des sich Ereignenden und damit immer auch die Ohnmacht, das voll und ganz steuern zu können, was ihn permanent – ob er will oder nicht – beeinflusst. Der Reichtum an neuen, positiven Möglichkeiten in der menschlichen Kultur, dem Ensemble der gewollten und ungewollten Folgen menschlicher Freiheitsvollzüge, wie die Kehrseite, die ungeheueren Zerstörungspotentiale, die nur Menschen in einer Kultur erzeugen können, liegt in dieser Verfasstheit menschlichen Lebens begründet. Im Handlungsvollzug zwischen den Polen Freiheit und Abhängigkeit sind immer eine Innendimension, eine nur partiell reflexiv aufhellbare Selbstwahrneh6
J. ASSMANN, Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München u.a. 2003, S. 28. Eine differenzierte Darstellung der Diskussion um „Religion und Gewalt“ hat Rolf Schieder vorgelegt. DERS., Sind Religionen gefährlich? Berlin 2008.
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mung, und eine Außendimension, die ‚Welt’ der Folgen, in der wir gemeinsam leben, eng verschränkt. In den Analysen des menschlichen ‚Willens’7 ist diese Verschränkung schon immer Thema der Reflexion gewesen, insofern nach den Wegen, Mitteln und Kräften gefragt wurde, auf denen und mit denen es möglich wird, uns innerlich zu bewegen, zu motivieren, etwas Bestimmtes zu tun oder zu lassen. Die Tugend- und die Bildungsdiskurse sind ein klassisches Beispiel solchen Suchens nach Prägungs- und Beeinflussungsmöglichkeiten, die ansetzen an dieser Verschränkung von Innen- und Außendimension in der menschlichen Lebensführung. Diese Verschränkung ist auch das zentrale Thema der Analysen von Phänomenen der Macht. Max WEBER hat sie ins Zentrum seiner Definition von Macht gestellt, insofern er auf den Aspekt der Beeinflussung, der Durchsetzung in sozialen Beziehungen fokussiert.8 Ob nun das bereitwillige „Gehorchenwollen“, wie bei der Definition von „Herrschaft“, oder das Brechen des Widerstrebens ins Zentrum gerückt wird, in beiden Fällen geht es um die Einflussnahme, die Steuerung des Willens eines alter ego, das aufgrund seiner Freiheit sich widersetzen oder gehorchen kann und deshalb Repräsentant einer schwer kalkulierbaren Kontingenz ist und bleibt. Jedes Durchsetzenkönnen und Einflussnehmen ist dabei, egal auf welchem Weg, an Kommunikation und Prozesse des Verstehens gebunden9 und damit an die kulturell zur Verfügung stehenden Ausdrucksmöglichkeiten, Kommunikationsmedien, Institutionen und Symbolsysteme.10 Unser kulturelles Repertoire an Artikulations- und Kommunikationsmöglichkeiten im Hinblick auf ‚Macht’ ist entscheidend durch die jüdischen und christlichen Überlieferungen geprägt. Der Widerhall dieser Prägung reicht bis in die Klassiker der Religionskritik hinein. Pars pro toto ein kurzer Blick auf einen Text von Karl Marx, in dem der Zusammenhang von Machtverhältnissen und ‚Religion’ anschaulich dargestellt wird. Marx bezeichnet in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843) Religion metaphorisch als die „trostlose Kette“, mit der sich der Mensch selbst unfrei gemacht habe. Es sei an der Zeit, die „Kette abzu7
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Immer noch grundlegend E. BENZ, Marius Victorinus und die Entwicklung der abendländischen Willensmetaphysik, Stuttgart 1932 und A. AUER, Die menschliche Willensfreiheit im Lehrsystem des Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus, München 1938. M. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, hg. von J. WINCKELMANN, Tübingen 51972, § 16, S. 28: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ Die Bedeutung der bei WEBER mehr implizit vorhandenen Voraussetzung, dass die „Koordination verschiedener Willen“ immer an „wechselseitiges Verstehen“ geknüpft ist und die Steuerungsmöglichkeiten von den Kommunikationsmöglichkeiten abhängen, hat Alois HAHN unterstrichen in: DERS., Herrschaft und Religion, in: J. FISCHER / H. JOAS (Hgg.), Kunst, Macht und Institution. Studien zur Philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne. Festschrift für Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a.M./New York 2003, S. 331-346. Zu einem zentralen institutionellen Mechanismus der Kommunikation über Macht, das Wechselverhältnis zwischen Sichtbarmachung und Verbergung, vgl. die Studien in G. MELVILLE (Hg.), Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2005.
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werfen“, die „menschliche Selbstentfremdung“ zu überwinden. Der Mensch soll keine Macht mehr über sich dulden: „Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der M e n s c h d a s h ö c h s t e W e s e n f ü r d e n M e n s c h e n sei, also mit dem k a t e g o r i s c h e n I m p e r a t i v , a l l e V e r h ä l t n i s s e u m z u w e r f e n , in denen ein Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.11 Die revolutionäre Veränderung von Machtverhältnissen durch die Anstrengung der Theorie hat nach Marx durchaus ihre christliche, genauer protestantische Vorgeschichte. Die Reformation war in Deutschland die „Revolutionäre Vergangenheit“: „Wie damals der M ö n c h , so ist es jetzt der P h i l o s o p h , in dessen Hirn die Revolution beginnt.“ Prägnant stellt Marx die Metamorphosen von Macht dar, die durch den Mönch Luther initiiert worden seien. Treffsicher hebt er die Verschiebung von Bindungskräften hin zum innen geleiteten Überzeugungstäter heraus: L u t h e r hat allerdings die Knechtschaft aus D e v o t i o n besiegt, weil er die Knechtschaft aus Ü b e r z e u g u n g an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von äußerer Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum inneren Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil der das Herz in Ketten gelegt hat.12
Zu den Schlüsselaussagen des jüdischen und christlichen Glaubens gehört eine weitreichende Behauptung: Die ‚Machtfrage’ ist entschieden. Der Untergrund, auf dem wir leben, ist nicht ein alles verschlingendes Chaos, sondern ein tragfähiger Boden, auf dem es sich leben lässt. Göttliche Macht gilt als die Kraft zur Etablierung und Sicherung einer Ordnung, die einen Lebensraum für den Menschen aufrecht erhält. Auch in den im frühen Christentum rezipierten Logos-Spekulationen der griechischen Philosophie wird diese These entfaltet: Der Kosmos ist ein wohlgeordneter Zusammenhang, strukturiert durch ewig gültige Gesetze, die ein Abbild der göttlichen Vernunft und Ideen sind, an denen sich der Mensch in seiner Lebensführung qua seiner Vernunft orientieren kann und soll. Das Fundament für die Naturrechtslehren als der Versuche der denkenden Ordnung und Normierung von Machtverhältnissen wurde damit gelegt.13 Solche weit ausgreifenden Thematisierungsformen haben ein Zug ins ‚Ontologische’. Er ist differenziert ausgearbeitet worden, als die Mythen durch Metaphysiken abgelöst wurden. Nach Aristoteles geht es in der Metaphysik um das
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K. MARX, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (Aus dem Deutsch-Französischen Jahrbuch 1/2 [1844]), in: Ders., Die Frühschriften. hg. von S. LANDSHUT, 7. Auflage, neu eingerichtet von O. HEINS / O. NEGT (Kröners Taschenausgaben 209), Stuttgart 2004, S. 283 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 284 (Hervorhebung im Original). Zur Geschichte der Naturrechtslehren ist immer noch grundlegend E. TROELTSCH, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912.
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„Sein als solches“14, um die Erfassung der Grundprinzipien der Wirklichkeit. In der Aufklärung wird diese Grundlagenreflexion nicht verabschiedet, sondern neu akzentuiert, intensiviert. Der Hallenser Philosoph Christian Wolff veröffentlichte 1730 seine „Philosophia prima sive Ontologica“.15 Mit dieser Schrift wird der Begriff ‚Ontologie’ zu einem Schlüsselbegriff in der neueren Philosophiegeschichte. Nach Wolff bezeichnet er eine Grundlagendisziplin, genauer den ersten Teil der Metaphysik, auf die dann die „Cosmologie“, die Seelenlehre bzw. Psychologie und die „natürliche Gottestgelahrtheit“ folgen. In der „Ontologia“ geht es um eine Verständigung über die basalen, allgemein gültigen Elemente der Wirklichkeit, deren Bestimmung und ihre wechselseitigen Beziehungen aufeinander. ‚Ontologie’ kann in der Folgezeit enger, als Unterbegriff von Metaphysik, oder weiter, als Synonym für Metaphysik, verwendet werden. Mit der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants verliert die griechische Substanzmetaphysik zwar ihre Plausibilität. Der Schwerpunkt der Wahrnehmung rückt auf die konstruierende Vernunft bzw. das Selbstbewusstsein. „Wahrheit“ ist nach Kant nicht im „Gegenstand“, sondern im erkennenden Subjekt.16 Ein neues Paradigma bildet sich aus, in dem aber die Fragestellungen der alten Metaphysik/Ontologie nicht einfach verabschiedet werden.17 Die Rolle der prima philosophia übernimmt die Subjektivitätstheorie. Im weiteren Verlauf der Geschichte wechseln die Paradigmen. Die Neuzeit bringt eine Beschleunigung und Pluralisierung solcher Angebote an grundlegenden Deutungsmustern. ‚Linguistic turn’, ‚symbolic turn’, ‚iconic turn’ bis hin zum ‚spatial turn’ lauten die Schlagworte in den kulturwissenschaftlichen Diskussionen über Rahmentheorien. Allen gemeinsam ist der Wechsel von Substanz- zu Funktionsbegriffen.18 Die Grundsignatur dieser modernen Ontologien im Gefolge der „Wende zum Subjekt“ ist relational und prozesshaft. Der Schwerpunkt rückt von isolierten Substanzen bzw. deren Eigenschaften auf die Beziehungen, in denen sich Aussagen bilden: Der Reflexionsprozess des Denkens, der Artikulationsprozess der Sprache, die Struktur des Geschichtsverlaufs, der Zeichenprozess der Semiose, der Identitätsbildungsprozess der Sozialisation, der Prozess von Prägnanzbildung und Ausdruck 14 15 16 17
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Aristoteles, Metaphysik E 1 p 1062. Chr. WOLFF, Philosophia prima sive Ontologia methodo scientifica pertractata, Halle 1730. Vgl. I. KANT, KdrV, B 350. „Der stolze Name einer Ontologie, welche sich anmaßt, von den Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse a priori in einer systematischen Doktrin zu geben, muß dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes, Platz machen“ (I. KANT, KdrV, B 304). Im Rahmen des Programmes der Selbstbescheidung vernünftiger Erkenntnis hält Kant dann allerdings mit Nachdruck fest: „Metaphysik also, sowohl der Natur, als der Sitten, vornehmlich die Kritik der sich auf eigenen Flügeln wagenden Vernunft, […] machen eigentlich allein dasjenige aus, was wir im echten Verstande Philosophie nennen können.“ Metaphysik sei „die Vollendung aller Kultur der menschlichen Vernunft, die unentbehrlich ist“ (I. KANT, KdrV, B 879). E. CASSIRER, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin 1910.
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in der symbolischen Kommunikation. Semiotik und Medientheorien sind die jüngsten Kandidaten, die Anspruch erheben auf das Erbe der prima philosophia. Die Aufgabe der alten Metaphysik bzw. Ontologie bleibt bei allen ‚turns’ bestehen: Klärung der Bedingungen von Erkenntnis, Offenlegung der allgemeinen Strukturen unserer Begriffssysteme. Diese Aufgabe lässt sich auch semiotisch reformulieren: Erkenntnis wird dann zu einem Prozess, der an Bezeichnungsvorgänge bzw. Interpretationsvorgänge gebunden ist. Der Anspruch der alten Metaphysik bzw. Ontologie kehrt in anderem Gewande wieder: Auch die Semiotik soll als Fundamentaltheorie, als Grundlagentheorie für alles kulturelle Handeln, als Metatheorie für andere Wissenschaften dienen. PEIRCE: „All thought is in signs“.19 Der Kontext allerdings, in dem solche Geltungsansprüche erhoben werden, hat sich gravierend verändert. Auch der Anspruch für das Interpretationsinstrument ‚Semiotik’ kann nur noch in einem Konzert sehr unterschiedlicher philosophischer Theorieangebote erklingen, ja die Semiotik selbst ist zu einer positionell ausdifferenzierten Landschaft geworden.20 So wird etwa bei Charles MORRIS, dem Schüler G. H. MEADs, die pragmatische Dimension des Zeichenhandelns sehr viel stärker gewichtet als bei Charles Sanders PEIRCE und damit eine reine Zeichenlehre wieder überschritten. Pragmatik beschäftigt sich nach MORRIS „mit den lebensbezogenen Aspekten der Semiose […] d.h. mit allen psychologischen, biologischen und soziologischen Phänomenen, die im Zeichenprozess auftauchen“.21 Die Deutung von Phänomenen der Macht stimuliert immer wieder diesen Ausgriff ins Universale, Ontologische. Die Geschichte christlicher Deutungen von ‚Macht’ ist voller Beispiele für diese Verknüpfung. Die griechische Substanzmetaphysik, ihre Grundbegriffe wie Sein und Nichtsein, Wesen und Erscheinung, Substanz und Akzidenz, Natur, Telos sind schon früh intensiv von christlichen Theologen zur Explikation christlicher Anschauungen herangezogen worden. Die metaphysische Begrifflichkeit hat dabei durch die christliche Rezeption teilweise auch einen massiven Bedeutungswandel erfahren. An der Lehrbildung des 2. und 3. Jahrhunderts lässt sich diese christliche Rezeption deutlich ablesen. Exemplarisch verwiesen sei auf das nizänische Glaubensbekenntnis, das auf dem Konzil von Konstantinopel 381 in griechischer Sprache formuliert worden war. Im Text finden sich drei Aussagelinien, in denen Macht zum Thema gemacht wird: Gott sei pantokrator (griechisch) bzw. patrem omnipotentem (lateinisch) und Schöpfer. Zweitens wird bei der Auslegung der Bedeutung Jesu die Aufgabe aller Macht (Erniedrigung) zum Umschlagpunkt für neue Macht (Erhöhung): Es ist der Ohnmächtige, Gekreuzigte, der wieder zur Rechten Gottes sitzt, Sinnbild der erneuten umfassenden Macht. Drittens schließlich wird der „Geist“ als „herrschend“ beschrieben. An der systematischen Schlüsselstelle, an der es um 19 20 21
C. S. PEIRCE, Collected Papers, hg. von C. HARTSHORNE / P. WEISS, Cambridge 1931, Bd. 5, S. 253. Vgl. den Überblick bei G. SCHÖNRICH, Semiotik, Hamburg 1999. C. W. MORRIS, Grundlagen der Zeichentheorie (engl. 1938), Frankfurt a.M. 1988, S. 52.
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das Verhältnis von Gott und Jesus Christus geht, wird mit der philosophischen Begrifflichkeit hypostasis (griechisch) bzw. consubstantialem (lateinisch) die Relation zwischen Gott und dem Menschen Jesus beschrieben.22 Die metaphysische, ontologische Begrifflichkeit, die in der Explikation des christlichen Glaubens zur Darstellung von Macht und Herrschaftsverhältnissen verwendet wird, war alles andere als weltfremde Spekulation. Sie hatte eine instrumentelle Funktion und einen konkreten Sitz im Leben. Sie stand erstens im Dienst der Kommunikation eines praktischen, soteriologischen Interesses. Die Ontologie zielt auf die Lebensführung. Die Grundfrage lautet: Wie ist Orientierung über einen Weg zu einem gelingenden Leben möglich? Sie hatte zweitens eine Integrationsfunktion nach Innen. Unterschiede im Verständnis bzw. Bekenntnis in den christlichen Gemeinden selbst bzw. zwischen verschiedenen Gruppen sollten mit der Terminologie präzise gefasst und letztlich umfasst werden. Der Text wird bis heute in der rituellen Kommunikation verwendet und bringt im gemeinsamen Sprechen das Gemeinsame zum Ausdruck. Die Begrifflichkeit hatte drittens eine Kommunikationsfunktion nach außen, im Hinblick auf die Umwelt der Gemeinden. Sie war ein Mittel, für die christlichen Anschauungen eine allgemeine Plausibilität im Denkhorizont der damaligen Kultur auszuweisen. Sie hatte viertens eine ethische Funktion. Die Prägekraft und Plausibilität für die Lebensführung sollten dadurch erhöht werden. Schließlich hatte diese Ontologie fünftens auch eine politische Funktion. Das sieht man schon allein daran, dass die christlichen Kaiser sich selbst am Streit um die richtige Fassung des Bekenntnisses beteiligten. Der Universalitätsanspruch, der mittels der ontologischen Begrifflichkeit dargestellt werden sollte, zielte darauf, den Sinn der einen, das Römische Reich integrierenden Religion als Staatsreligion auszuweisen. In diesem Prozess der Rezeption erfolgt Aufnahme wie Umformung. Ein zentraler Punkt sei kurz hervorgehoben: Das jüdische und auch das christliche Gottesverständnis haben von Anbeginn an eine stark voluntaristische Komponente und führt zur Ausbildung eines Wirklichkeitsverständnisses, in dem die Dynamik und Veränderung im Zentrum steht und nicht die immerseienden, unveränderlichen Strukturen. Nicht auf die Stilllegung der Zeit – „es ist immer so“ –, sondern auf die geschichtliche Veränderung richtet sich die Wahrnehmung. Jahwe ist Kriegsgott, Geschichtsgott, der unerwartete Wendungen herbeiführen kann: „Ich werde sein der ich sein werde“, übersetzt Luther die Selbstvorstellungsformel in Ex 3, 14. Das Einzelne, geschichtlich Kontingente, nicht Notwendige bekommt in diesem Wahrnehmungshorizont eine hohe Bedeutung. Das zeigt sich bis ins hebräische Wahrheitsverständnis hinein: Wahrheit ist nicht eine immerseiende, unveränderli22
R. FELDMEIER, Nicht Übermacht noch Impotenz. Zum biblischen Ursprung des Allmachtsbekenntnisses, in: W. H. RITTER / R. FELDMEIER (Hgg.), Der Allmächtige. Annäherungen an ein umstrittenes Gottesprädikat (Biblisch-theologische Schwerpunkte 13), Göttingen ²1997, S. 13-42; J. N. D. KELLY, Altchristliche Glaubensbekenntnisse, Göttingen ³1972; R. STAATS, Das Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel. Historische und theologische Grundlagen, Darmstadt 1996.
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che Qualität, sondern die Stabilität einer Beziehungsstruktur, die selbst voller Bewegung und Veränderung ist.23 Vermittlungsfiguren werden damit vielstellige Relationen, denen eine teleologische Ausgerichtetheit eingezeichnet wird: Die einzelne Begebenheit hat ihren Ort in einem Prozess, der von der Schöpfung bis zur nur ausstehenden eschatologischen Realisierung reicht. Diese Grundanschauung von Gott als dem Schöpfer und Inbegriff eines immer wieder neuen freien Beginnens ließ sich nicht reibungslos synthetisieren mit der griechischen Substanzmetaphysik. Gott wird dann zwar als „Grund des Seins“ auslegbar, aber zugleich muss dem Element des Neuen, des Schöpferischen ein höherer Stellenwert gegeben werden als in solcher Seinsmetaphysik. Den Gegenimpuls, der von Anfang an im jüdischen und christlichen Denken gegeben war, hat Ernst TROELTSCH so umschrieben: Es gibt keinen ruhenden, als Formgesetz alles Wirklichen vom Denken ergreifbaren Allgemeinbegriff, der durch seine allgemeine Notwendigkeit letzte Wahrheit und letzter Wert wäre […]. Nicht die Notwendigkeit des Seins und seiner allgemeinen Gesetze entscheidet, sondern die Souveränität des rein faktischen Willens […]. Die Freiheit als reine Setzung des Wirklichen und die Bejahung dieses Wirklichen eben um deswillen als gut: das ist der letzte Kern dieser Denkweise.24
Auch nach der kopernikanischen Wende in der Erkenntnistheorie bleibt in der Theologie die Verknüpfung der Thematisierung von Machtphänomenen mit ins Ontologische ausgreifenden Reflexionen bestehen. Bei Paul TILLICH, von 1925 bis 1929 Ordinarius für Religionswissenschaft an der Sächsischen Technischen Hochschule Dresden, lässt sich das beobachten. Die ontologische Dimension kann nach TILLICH nicht umgangen werden. Auch unter postkantischen Bedingungen gelte, „daß jede Erkenntnistheorie Ontologie enthält“.25 Unter Ontologie ist nach TILLICH „kein spekulativer oder phantastischer Versuch, eine Welt hinter der Welt aufzubauen“26 zu verstehen, sondern eine Form der Deskription. Sie sei darauf gerichtet, „jene Strukturen, Kategorien und Begriffe [zu] erforschen, die beim erkennenden Begegnen mit jedem Bereich der Wirklichkeit vorausgesetzt sind“. Es gehe um die „Frage nach dem Charakter der allgemeinen Strukturen, die Erfahrung erst möglich machen“.27 Die ontologische Fragerichtung verbindet nach TILLICH die Theologen und die Philosophen, wie die jahrhundertelange gemeinsame Geschichte von Theologie und Philosophie in der christlichen Kultur zeige.28 23 24 25 26 27 28
W. PANNENBERG, Was ist Wahrheit?, in: DERS., Grundfragen Systematischer Theologie, Göttingen ²1971, S. 202-222. E. TROELTSCH, Die alte Kirche, in: DERS., Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie (Gesammelte Schriften 4), hg. von H. BARON, Tübingen ²1925, S. 65-121, S. 77/78. P. TILLICH, Systematische Theologie, Bd. 1 (engl. 1951), Stuttgart 1955, S. 27. Ebd., S. 28. Ebd., S. 26. TILLICH behauptet: „Kein Philosoph innerhalb der abendländisch christlichen Kultur kann seine Abhängigkeit vom Christentum leugnen.“ (DERS., Systematische Theologie [wie Anm. 24], S. 36). Allerdings hätten Theologen und Philosophen dann unterschiedliche Zugänge zu den ontologischen Problemen.
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Macht ist für TILLICH eine Fundamentalkategorie in der menschlichen Lebensdeutung. Er spricht von einer „ontologischen Würde“29 des Begriffs. Wirklichkeit ist für TILLICH eine Bewegung, in der permanent Begegnung und Austausch stattfinden. „Leben“ und „Geist“ sind die Stichworte für diese Prozessstruktur. In diesem dynamischen Geschehen verändern sich ständig Konstellationen, verschieben sich die Gewichte und vor allem: Jede neue Relation ist verbunden mit einer „Drohung“, wie TILLICH das nennt, der Drohung des Nichtseins. Macht, genauer Seinsmächtigkeit, bezeichnet nach TILLICH das Potential, das sich Etwas als Etwas in den Veränderungen erhält. Macht und Sein werden so zu austauschbaren Begriffen. Das „Begegnen in wechselseitiger Spannung von Mächtigkeit und Ohnmächtigkeit“ macht „unsere ganze Wahrnehmungswelt“ aus und sie ist das „ursprüngliche Sein der Dinge“.30 TILLICH differenziert Stufen solcher Mächtigkeit. Durchgängig insistiert er dabei auf der „Zweideutigkeit“ jeder Macht. Sie kann zum Guten oder zum Bösen verwendet werden. Für TILLICH haben diese abstrakt ontologisch klingenden Überlegungen einen konkreten Sitz im Leben und eine praktisch-orientierende Funktion. Die Macht der Zerstörung hat er selbst als Feldgeistlicher in Vernichtungsschlachten des Ersten Weltkriegs erlebt. Er engagiert sich für den religiösen Sozialismus, analysiert schon früh das Aufkommen der ‚politischen Romantik’ und des Nationalsozialismus. Die politischen Ideologien sind für ihn eine Form „geistiger Macht“, an der sich besonders gut zwei Grundzüge aller Machtverhältnisse studieren lassen: zum einen die Tatsache, dass sie an „Anerkennung“ gebunden bleibt, zum anderen, dass solche Anerkennung davon abhängt, ob in einer Ideologie bzw. ihrer sozialen Trägergruppe eine „Ausdruckskraft“ vorhanden ist, die es vermag, Zeittendenzen, das dominante Lebensgefühl, zu bündeln und sie „symbolkräftig“ darzustellen.31 Und TILLICH hat als Theologe immer die Form des Machtverzichts vor Augen, wie sie in der Gestalt des ohnmächtigen leidenden Gottes im Christentum symbolisiert wurde und vielfältige kulturgeschichtlich wirkungsmächtige Formen der Askese stimuliert hat. Im Zentrum des Christentums stehe ein „paradoxe[s] und doch höchst wirksame[s] Gebilde der Macht aus Verzicht auf Macht“.32 An TILLICHs Analysen anknüpfend hat der Chicagoer Theologe William SCHWEIKER von einer „moral ontology“ gesprochen, die in Gestalt kulturspezifischer Deutungsmuster formuliert wird, mit denen die Wahrnehmung und die Handlungsorientierung gesteuert wird: „a moral ontology presents a picture of the moral space of life, that is, it provides a general description of how a community or
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Vgl. DERS., Liebe, Macht, Gerechtigkeit (engl. 1954), in: DERS., Gesammelte Werke, Bd. 11: Sein und Sinn. Zwei Schriften zur Ontologie, Stuttgart 1969, S. 143-225. DERS., Das Problem der Macht. Versuch einer philosophischen Grundlegung (1931), in: DERS., Gesammelte Werke, Bd. 2: Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum religiösen Sozialismus, Stuttgart 1962, S. 193-208, S. 195-196. Ebd., S. 201. Ebd., S. 205.
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society understands the domain of human life and how to orient life within it“.33 In religiösen Weltbildern wird solch eine „moral ontology“ artikuliert. Auf einige wenige wichtige Züge der Thematisierung von Macht im Horizont dieser jüdischen und christlichen „moral ontology“, dem biblischen Reservoir, aus dem sich dann die weitere Geschichte der Deutung von Phänomenen der Macht immer wieder speist, soll abschließend die Aufmerksamkeit gelenkt werden. Gott gilt im religiösen Vorstellungszusammenhang als die Quelle aller Macht. „Die Signatur des Göttlichen ist die Macht“, formulierte der Religionswissenschaftler Nathan SÖDERBLOM.34 Da Gott zugleich der Geber des Gesetzes ist, wie es etwa im Dekalog (Dtn 5, 1-22, Ex 20, 1-17) formuliert ist, ist durch diese Theologisierung jede Reflexion über ‚Macht’ in einen ethischen Rahmen eingebunden. Macht wird nicht als ein neutrales Potential gesehen, sondern als eine Kraft, die immer im Spektrum zwischen Gutem und Bösem, Lebensdienlichem und Lebenszerstörendem wirkt. Menschliche Herrschaft wird in den jüdischen und christlichen Traditionen rückgebunden an die göttliche Ermächtigung. Der Mensch als Geschöpf hat einen Herrschaftsauftrag, der sein Vorbild und seine Grenze an der Macht des Schöpfers findet. „Laßet und Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über […]“ (Gen 1, 26ff). Indem diese Macht zur Herrschaft als eine verliehene, nicht aus sich selbst begründete dargestellt wird, wird in dieses Legitimationsmuster eine gegenläufige Tendenz eingezeichnet: Die menschliche Herrschaft ist Dienst ‚im Auftrag von’. Herrschaft wird damit zugleich legitimiert und begrenzt. Dieser Schöpfungsmythos35 hat einen besonderen Akzent: Macht und göttliches Wort werden eng verknüpft. Die schöpferische verändernde Kraft des Wortes spielt in Israel eine Schlüsselrolle. Worte haben nicht nur eine Bezeichnungsfunktion, sie können etwas Neues hervorbringen. Auf die schöpferische Kraft dieses ‚Wortes’ wird dann auch die Existenz einer Grundordnung der Wirklichkeit, des ordo,36 zurückgeführt. Das Destruktionspotential menschlicher Macht ist ebenfalls ein Schlüsselthema der alttestamentlichen Darstellungen. Kain erschlägt seinen Bruder Abel (Gen 4, 1ff). Der Mythos vom Sündenfall (Gen 3, 1ff) ist der Versuch, zurückzufragen nach den Gründen für den permanenten destruktiven Gebrauch von Macht. Von der aktuellen Machtausübung wird zurückgefragt nach dem Beziehungsgefüge, in dem sie ausgeübt wird. In diesem Beziehungsgefüge werden die Gründe festgemacht. Die Sündenlehren sind Versuche einer Deutung des Freiheits- und Machtmissbrauchs mit dem Ziel der Sensibilisierung für die destruktiven Potentiale 33
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W. SCHWEIKER, Power and the Agency of God. On the Transvaluation of Power from a Theological-Ethical Perspective, in: C. RIGBY (Hg.), Power, Powerlessness, and the Divine. New Inquiries in Bible and Theology, Atlanta 1998, S. 103-124, S. 105. N. SÖDERBLOM, Das Werden des Gottesglaubens, Leipzig ²1926, S. 90. G. VON RAD, Das erste Buch Mose. Genesis, Berlin 41974. H. KRINGS, Ordo. Philosophisch-historische Grundlegung einer abendländischen Idee, Hamburg ²1982. „Das verbum sapientiae ist der Urgrund der Ordnung.“ Ebd., S. 39.
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des Menschen. Die Polarität, ja Widersprüchlichkeit, zwischen der Macht zur Realisierung des Guten und der Macht zur Zerstörung bildet das Grundmotiv der ganzen weiteren Erzählungen, in denen menschliches Dasein in seinen Chancen und seinen Risiken ausgelotet und dargestellt wird. Die alttestamentlichen Erzählungen sind Geschichten, in denen es durchgängig um Gewalt und ihre Bändigung geht. Die Zähmung von Destruktionspotentialen bildet ein wichtiges Element der Opferthematik, die im alttestamentlichen Kultus eine zentrale Rolle spielt.37 In der Erzählung der Opferung Isaaks durch Abraham spiegelt sich die Überwindung des Menschenopfers wider. Aber auch die Erfahrung des Ausgeliefertseins, der Ohnmacht spielt in den biblischen Texten eine zentrale Rolle. Die Zerstörung Jerusalems, die Vertreibung und Deportation des Volkes, der Untergang des Königtums müssen verarbeitet werden.38 Die Gestalt des Hiob wird zum Sinnbild des ohnmächtigen Menschen, der keinen Sinn mehr erkennen kann in dem, was ihm widerfährt. Das Grundmodell politischer Machtausübung war über Jahrhunderte in unserem Kulturkreis die Monarchie. Die biblischen Texte zum israelitischen Königtum prägten das Verständnis dieser Herrschaftsform entscheidend. Saul, David, Salomo – die großen Könige Israels werden zu den Vorbildern eines guten und weisen Herrschers. In den alttestamentlichen Texten bleibt das Urteil über die Institution Königtum zwiespältig. Königliche Machtausübung wird z.B. immer wieder kritisiert durch die Propheten. In der Jothamfabel im Richterbuch (Ri 9, 8ff.) wird in Gleichnisform diese königskritische Tendenz artikuliert. Die Bäume wollen einen König salben. Der Reihe nach wird durchgefragt, der Ölbaum, der Feigenbaum, der Weinstock werden gefragt. Alle, die wertvoll sind, lehnen dankend ab. Nur der nutzlose Dornbusch bleibt übrig und akzeptiert bereitwillig. In der Königstradition finden sich die Anfänge der Legitimationsformel „Sohn Gottes“, die dann im Neuen Testament zu einem Schlüsseltopos der Auslegung der Bedeutung Jesu wird. Die Königsideologie ist eng verknüpft mit der Vorstellung eines Herrschaftsbereiches, eines „Reiches“, in dem der König herrscht. In Israel bleibt Gott derjenige, der der eigentliche Herrscher ist. Damit ist ins Zentrum der Königstradition durch ihre Theologisierung ein machtrelativierendes Element eingebaut. Die Vorstellung des Reiches wird ein wirkungsmächtiges Bild im Neuen Testament. Das „Reich Gottes“ wird zu einer Schlüsselmetapher einer erhofften Herrschaft, die durch Frieden und Gerechtigkeit gekennzeichnet ist. Auf dieser Vorstellung baut eine breite Wirkungsgeschichte auf, die bis in die säkulari37
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Vgl. B. JANOWSKI / M. WELKER (Hgg.), Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte, Frankfurt a.M. 2000. René GIRARD hat in „Das Heilige und die Gewalt“ eine ganze Kulturtheorie entwickelt, in der vor allem Opferriten als Mittel dargestellt werden, die aus dem menschlichen Begehren entstehende Gewalt einzudämmen (DERS.; Das Heilige und die Gewalt [frz. 1972], Frankfurt a.M. ³1994). A. H. J. GUNNEWEG, Geschichte Israels. Von den Anfängen bis Bar Kochba und von Theodor Herzl bis zur Gegenwart, Stuttgart 1989.
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sierten Formen modernen Fortschrittsglaubens39 und politischer Ideologien reicht. Die Königssalbung40 nach alttestamentlichem Vorbild wird zum wichtigen Installationsritual und das „von Gottes Gnaden“ über Jahrhunderte zur zentralen Legitimationsformel für politische Herrscher.41 Noch die politische Theorie des Thomas Hobbes zehrt von der jüdisch-christlichen Vorstellungs- und Symbolwelt. Die „Erzeugung“ des Staates, des „großen Leviathan“, ist für Hobbes die „Erzeugung jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und Schutz verdanken“.42 Und die Regeln und Normen für die Ausübung politischer Macht werden auch noch am Beginn der Neuzeit in einen Verweisungszusammenhang mit der christlichen Tradition gebracht. Samuel Pufendorf schreibt in seinem 1672 veröffentlichen Naturrechtssystem: „Denn das Licht der Vernunft zeigt, daß niemand anders der Urheber des Naturrechts ist als der Schöpfer des Universums“.43 Im Rahmen der alttestamentlichen Vorstellung der Macht des Schöpfers ist das Diktum von der Allmacht entstanden, das dann ins christliche Glaubensbekenntnis Eingang gefunden hat. Sein ursprünglicher Aussagesinn lautet: „Gott, dem Gott aller Götter, ist nichts unmöglich“44 und zwar immer bezogen auf ein konkretes Handeln, das als Errettung erfahren wird. Im hebräischen Text steht ein Verb, das etwas bezeichnet, was für den Menschen „zu schwer“ ist. Die Überlegenheit und Macht Jahwes über andere Götter und Herrscher wird damit zum Ausdruck gebracht. Es ist ein Konkurrenz- und Kontrastbegriff. Es ist nicht von einer abstrakten Möglichkeit, einer potentia absoluta, die Rede. Diese Konnotation kommt erst durch die griechischen und lateinischen Übersetzungen. Das griechische adynaton wird zum impossibile bzw. zur Verneinung non impossibile. Die doppelte Verneinung wird dann umgewandelt in 39 40
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R. KOSELLECK, Art. Fortschritt, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1994, S. 351423. B. SCHNEIDMÜLLER, Art. Salbung, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, Berlin 1990, Sp. 1268-1273. Die symbolischen Darstellungsformen königlicher Macht umfassend bei P. E. SCHRAMM (Hg.), Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Beiträge zu ihrer Geschichte vom dritten bis zum sechzehnten Jahrhundert, 3 Bde., Stuttgart 1956. L. KÖRNTGEN, Königsherrschaft und Gottes Gnade. Zu Kontext und Funktion sakraler Vorstellungen in Historiographie und Bildzeugnissen der ottonisch-frühsalischen Zeit, Berlin 2001. Für die protestantischen Monarchien nach der Reformation H. LIERMANN, Untersuchungen zum Sakralrecht des protestantischen Herrschers, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 61 (1941), S. 311-383. Für die preußische Monarchie J. KUNISCH (Hg.), Dreihundert Jahre Preußische Königskrönung. Eine Tagungsdokumentation, Berlin 2002. H. BOLDT, Art. Monarchie, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1993, S. 133-214, insbesondere S. 158ff; vgl. G. MELVILLE, Ein Exkurs über die Präsenz der Gewalt im Mittelalter, in: M. KINTZINGER / J. ROGGE (Hgg.), Königliche Gewalt – Gewalt gegen Könige. Macht und Mord im spätmittelalterlichen Europa, Berlin 2004, S. 119-134. T. Hobbes, Leviathan, Kap. 17, S. 134, zitiert nach der Ausgabe von I. FETCHER und W. EUCHNER, Frankurt a.M 71996. S. von Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, hg. und übers. von K. LUIG, Frankfurt a.M./Leipzig 1994, S. 40. Jer 32, 17, Ps 33, 8-11.
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omnia possibilia, die im nächsten Schritt als abstraktes Prädikat omnipotens formuliert werden kann. Im hellenistisch beeinflussten Frühjudentum wird die Bezeichnung Gottes als Pantokrator geprägt. Greifbar wird das in der Septuaginta. Die hebräischen Gottesnamen werden damit wiedergegeben. Pantokrator ist ein Gegenbegriff gegen den Schicksalsglauben (moira). Der Titel Pantokrator hat auch eine gezielte politische Konnotation. Mit ihm wird eine Abgrenzung gegen den kaiserlichen Herrscherkult formuliert.45 In der Theologie, die die griechische und lateinische Ontologie rezipiert und damit neue abstrakte Aussagemöglichkeiten gewinnt, wird dann die einst konkret geschichtsbezogene Aussageweise zum Index eines abstrakten Problems von Gottes Nicht-Können.46 Dieses Problem wird zu einem beliebten Beispiel logischer Diskussionen, in denen die Unsinnigkeit von eklatant widerspruchsvollen Aussagen erwiesen werden soll: Kann Gott einen Stein schaffen, der so schwer ist, dass er ihn nicht mehr aufzuheben vermag? Im Mittelalter, etwa bei Anselm von Canterbury, wird versucht, das Paradox mittels der Unterscheidung von potentia Dei absoluta und potentia Dei ordinata aufzulösen. Alles in allem bleibt es ein Begriff, der mit vielen Fehldeutungen behaftet ist. Die eigentliche Herausforderung liegt auch nicht in einem abstrakten logischen Problem, sondern in der Erfahrung sinnlosen Leidens und grenzenloser Zerstörungsmacht, der offensichtlich auch keine Gottesmacht Einhalt gebietet. Als „Theodizeefrage“ hat dieses Problem seine abstrakte Fassung gefunden. Hans JONAS stellt in seinem Vortrag „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“ die Machtfrage in den Mittelpunkt: „Es folgt aus dem bloßen Begriff der Macht, daß Allmacht ein sich selbst widersprechender, selbst-aufhebender, ja sinnloser Begriff ist“.47 JONAS plädiert dafür, den Begriff zu verabschieden und den Gedanken eines leidenden Gottes zu denken. Er schließt seinen Vortrag: „Meine Damen und Herren! All dies ist Gestammel […] jede Antwort auf die Hiobfrage kann nicht mehr als das sein“.48 Mit den neutestamentlichen Texten ändert sich die Gesamtperspektive für die Wahrnehmung von Macht deutlich. Zwar wird an die alttestamentlichen Aussagen angeknüpft, die Königsvorstellung, den Opfergedanken, die Reichsvorstellung, aber alle diese Aussagen werden in einer ins Paradoxe gehenden Weise gebrochen und transformiert. Die christlichen Reflexions- und Darstellungsformen rücken die Lebensführung des Einzelnen im Kontext der christlichen Gemeinde in den Blick und arbeiten 45 46
47 48
Vgl. RITTER / FELDMEIER, Der Allmächtige (wie Anm. 22). Vgl. den Überblick bei H. FISCHER, Potentia Dei sub cruce abscondita. Die Erfahrung der Macht Gottes in den Widersprüchen der Zeit, in: J. MEHLHAUSEN (Hg.), Recht, Macht, Gerechtigkeit (Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 14), Gütersloh 1998, S. 542-563. H. JONAS, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, in: DERS. / F. STERN, Reflexionen finsterer Zeiten, Tübingen 1982, S. 61-86, hier S. 77. Ebd., S. 85.
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sich ab an der Frage, welche ‚Mächte und Gewalten’ die Lebensführung der Christen beeinflussen. Das Spannungsfeld der Chancen der Willensbestimmung zwischen den Polen Vernunft und Affekte wird ausgelotet und nach Wegen gesucht, das Innere des Menschen zu prägen. Die Formen der asketischen Lebensführung sowie die Institutionalisierung der Buß- und Beichtpraxis zielen auf die Beherrschung des Ich und lassen sich beschreiben als „Technologien der Herrschaft und des Selbst“.49 „Pastoralmacht“ nannte FOUCAULT die spezifische Machtform, die durch das Christentum verbreitet worden sei und auf die „Seele“, die innere Selbstwahrnehmung des Menschen zielt. Unter dem Stichwort „Gewissen“ verdichtet sich diese Praxis der Selbstreflexion bzw. Form der Machtausübung, die auf eine Steigerung der Steuerungsmöglichkeiten der individuellen Lebensführung zielt.50 Im Zentrum der neutestamentlichen Deutungsmuster steht die Transformation gängiger Bilder der Macht. Verkehrt wird das Verhältnis von Schwäche und Macht: Aus dem Gegensatz wird die Behauptung, gerade die Schwachen hätten Macht. Dies ist sicher auch ein Reflex der sozialen Situation, in der sich die Christen am Anfang vorfinden. Das erklärt offensichtlich aber nicht, warum diese Form der Verarbeitung und Darstellung so zentral wird. Nicht hierarchische Unterordnung, sondern gegenseitige Hilfe soll die Sozialbeziehungen strukturieren. Im Markusevangelium heißt es: „Ihr wißt, daß die weltlichen Fürsten ihre Völker niederhalten, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so soll es nicht sein unter euch, sondern wer groß sein will unter euch, der sei euer Diener […]. Denn auch des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele“ (Mk 10, 42-45). In der sog. Bergpredigt wird den Leidtragenden, den Verfolgten, denen die friedfertig sind, der Segen zugesprochen (Mt 5, 1).51 Verdichtet zum Ausdruck kommt dieser Perspektivenwechsel in den Deutungen des Todes Jesu. Der wahrhaft Mächtige ist ein Gefolterter und gewaltsam Getöteter, ein nach normalem menschlichen Verständnis Ohnmächtiger und Machtloser (vgl. Phil 2, 5-11). Durch diese Interpretation wird das Machtverständnis umcodiert.52 Gerd THEISSEN hat die Grundfigur als „Positionswechselaxiom“ 49 50
51
52
M. FOUCAULT, Technologien des Selbst, in: DERS. / M. H. LUTHER (Hgg.), Technologien des Selbst, Frankfurt a.M. 1993, S. 24-62, S. 27. A. HAHN, Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozeß, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34 (1982), S. 407-434. An der Scharnierstelle zwischen jüdischer und christlicher Tradierung hat Oda WISCHMEYER an Texten des 4. Makkabäerbuches gezeigt, wie sich Ansatzpunkte für diese „Umkehr der herkömmlichen Machtverhältnisse und einer Neudefinition von politischer Herrschergewalt und Macht“ in der Deutung des Todes von Märtyrern entwickeln. DIES., Macht, Herrschaft und Gewalt in den frühjüdischen Schriften, in: MEHLHAUSEN, Recht, Macht, Gerechtigkeit (wie Anm. 46), S. 355-369, S. 364. W. LIPP, Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten, Berlin 1985; M. N. EBERTZ, Das Charisma des Gekreuzigten, Tübingen 1987; G. THEISSEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000.
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bezeichnet, in dem ein Statusverzicht zur Quelle neuer Wirkungsmacht wird. Dieser Positionswechsel ist verknüpft mit Selbststigmatisierungen: Wem auf die linke Backe geschlagen wird, der soll auch die rechte Backe hinhalten (Mt 5, 39). Paulus behauptet, die „wahre Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2 Kor 12, 9). Das Paradoxe dieser Verkehrung wird im Neuen Testament selbst benannt. Paulus schreibt an die Gemeinde in Korinth: „Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist’s eine Gotteskraft“ (dynamis) (1 Kor 1, 18). Die „göttliche Torheit“ sei die eigentliche Kraft. Deshalb „predigen wir Christus als göttliche Kraft und göttliche Weisheit. Denn die göttliche Torheit ist weiser als die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker als die Menschen sind.“ (1 Kor 1, 24) Adolf VON HARNACK hat die zentrale Funktion dieser paradoxen Transformation so beschrieben: Das Christentum als Religion des Geistes und der Kraft barg ein Element in sich, das von höchster Bedeutung geworden ist […] das ist die Ehrfurcht vor Niedrigkeit, Schmerz, Leiden und Tod und die heldenhafte Umbiegung dieser Hemmnisse in Sieg und Triumph. Das Leben des Erlösers und sein Kreuz waren die großen Kräfte und Paradigmen für die Entstehung und Einübung jener Ehrfurcht.53
Konkret wird dieses Verständnis von wahrer Macht in einer neuen Form der Lebensführung. Die diese Lebensführung kennzeichnende Haltung lautet „Nächstenliebe“ bzw. „Demut“ als „Modus der Liebe“.54 „Liebe“ bezeichnet eine Struktur wechselseitiger Anerkennung und Annahme, die nur aus freier Hingabe entstehen kann und in der die Struktur des Habens verändert wird, die Eberhard JÜNGEL mit den Worten beschrieben hat: Liebe ist gegenseitige Hingabe […]. Der Wechsel gegenseitiger Hingabe bedeutet nur aber für das Moment des Habens in der Liebe, daß das liebende Ich sich selbst nur in der Weise des Gehabtwerdens haben will. Und es bedeutet zugleich, daß es das geliebte Du nur haben will als ein Ich, das seinerseits gehabt werden will.55
Liebe wird zu einer Vollzugsform von Freiheit: Wahre Freiheit ist Dienstbarkeit. Im Liebesgedanken ist genau dieses Selbstverhältnis codiert, das seinen Freiheitssinn in der Hingabe an den anderen realisiert.56 Aus diesem christlichen Liebesverständnis hat G. W. F. Hegel in seinen theologischen Jugendschriften, etwa im „Geist des Christentums und sein Schicksal“, 53 54
55 56
A. VON HARNACK, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Leipzig 41924, S. 237. M. SCHELER, Die Demut, in: DERS., Vom Umsturz der Werte, Bern 41955, S. 17-26, S. 21. Vgl. auch K. THIEME, Die christliche Demut. Eine historische Untersuchung zur theologischen Ethik, Gießen 1906. Vgl. dazu die Studie von E. MÜHLENBERG, Altchristliche Lebensführung zwischen Bibel und Tugendlehre. Ethik bei den griechischen Philosophen und den frühen Christen (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, philologisch-historische Klasse, Dritte Folge 272), Göttingen 2006. E. JÜNGEL, Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 21977. Vgl. J. PIEPER, Die Liebe, München ³1972; JÜNGEL, Gott als Geheimnis (wie Anm. 55), S. 437.
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wichtige Grundstrukturen jener dynamisch relationalen Strukturen herausgearbeitet, die er später unter dem Stichwort „Geist“ entfaltet. In der Liebe sind die einfachen Alternativen zwischen getrennt und vereint „aufgehoben“, sie stellt eine spezifische Form des Umgangs mit Differenz dar, die diese nicht einfach in unterschiedslose Einheit auflöst, sondern auf eine andere Form der Integration des Verschiedenen, der Koordination der Willen Verschiedener aus ist, in der der andere als anderer anerkannt bleibt. „Der Liebende will im anderen seiner selbst bei sich selbst sein“, formuliert Hegel. Sie ist eine Beziehung zwischen Verschiedenen, aber eine Beziehung mit einem bestimmten Richtungssinn: Durch die Liebe seien „alle Einseitigkeiten, alle Ausschließungen, alle Schranken […] aufgehoben […] in ihr sind alle Trennungen, alle beschränkten Verhältnisse überwunden“.57 Liebe ist aber nicht die Lebensform einer neutralen Freiheit. Die liebende Zuwendung zielt auf die Förderung des Anderen, sie will das Gute und nicht das Schlechte für ihn. „Liebe“ ist nicht ein Begriff für ‚irrationale’ Emotionen, sondern für ein Protoplasma sozialer Beziehungsstrukturen.58 Diese Wendung zur Verfeinerung der Macht, wie sie sich im Liebesbegriff kristallisiert, lässt sich auch ablesen an dem anderen Schlüsselbegriff, mit dem dann im Neuen Testament die Wirkungsmacht solcher Demut und Liebe umschrieben wird, dem „Geist“.59 Die Macht der Liebe wird als „Wirken des Geistes“ umschrieben. Bei Paulus60 wird mit dem Geistbegriff die Leben spendende und dem Menschen in Liebe zugewandte Macht des Schöpfers ausgelegt und ein dynamisches Wirklichkeitsverständnis begründet. Diese Vorstellung vom „Geist“ hat eine „erkenntnistheoretische“ Dimension, insofern Wahrheitserkenntnis nur durch den Geist möglich ist. Der Geist hat eine praktische, auf die Lebensführung bezogene Dimension, insofern er die Kraft eines „neuen Lebens“ ist, das Gott schenkt. Der Geist soll seine Wirkung im Zusammenleben entfalten und findet ihr Kriterium darin, ob sie dieses gemeinsame Leben in Richtung auf das Gute fördert. Die Macht des Geistes wird konkret in der menschlichen Interaktion in Gestalt der Liebe, einer Nächstenliebe, die sich versteht als begründet in der Gottesliebe. Das Handeln aus Liebe bzw. die Haltung der Demut61 wird zum unspektakulären Ausdruck des Lebens „im Geist“. Diese transformierende Kraft ist für Paulus mit der Person Jesu verbunden, in dem er die Hoffnungen Israels auf den Messias, den endzeitlichen König und 57 58
59 60 61
G. W. F. HEGEL, Der Geist des Christentums und sein Schicksal, in: Werke in zwanzig Bänden, hgg. von E. MOLDENHAUER und K. M. MICHEL, Bd. 1, Frankfurt am Main 1969, S. 370ff. Vgl. die im Rahmen des SFB 537 entstandenen Beiträge in K. TANNER (Hg.), Liebe im Wandel der Zeiten. Kulturwissenschaftliche Perspektiven (Theologie – Kultur – Hermeneutik 3), Leipzig 2005. Vgl. H. LEISEGANG, Pneuma Hagion. Der Ursprung des Geistbegriffs der synoptischen Evangelien aus der griechischen Mystik, Leipzig 1922. U. SCHNELLE, Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 2003. Gerd THEISSEN hat ‚Demut’ als ein „Positionswechselaxiom“ bezeichnet. Am ‚Demutsethos’ werde stärker als am Doppelgebot der Liebe das eigentlich Neue im Christentum sichtbar (THEISSEN, Die Religion der ersten Christen [wie Anm. 52], S. 112ff).
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Herrscher erfüllt sieht. Diese endzeitliche Ausrichtung auf ein Jenseits der Geschichte führt praktisch zur Distanznahme von der Welt. In dieser „Überweltlichkeit“ liegt selbst ein Freiheitspotential. Dabei geht es um die Freiheit von den lebenszerstörenden Mächten Sünde und Tod.62 Zugleich ermöglicht diese Distanznahme Konzentration, Anspannung aller Kräfte der Erwartung auf dieses Jenseits. Ernst TROELTSCH beschrieb die Dynamik dieser an der Zukunft, der Hoffnung auf das Anbrechen des Reiches Gottes ausgerichteten Orientierung mit dem Diktum: „Das Jenseits ist die Kraft des Diesseits“.63
62 63
„Denn der Herr ist der Geist, wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2 Kor 3, 17). TROELTSCH, Die Soziallehren (wie Anm. 13), S. 979; vgl. R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 71977: „So läßt sich pneuma als die Macht der Zukünftigkeit bezeichnen […] Die Freiheit ist ja nichts anderes als das Offenstehen für die echte Zukunft, das Sichbestimmen-lassen durch die Zukunft“. Ebd., S. 336.
DIE ONTOLOGISCHE DIMENSION VON INSTITUTIONELLER MACHT, NORMATIVITÄTS- UND RATIONALITÄTSMUSTERN* GERHARD SCHÖNRICH Dass der Begriff der Macht eng mit dem Institutionenbegriff verwoben ist, steht außer Zweifel. Um Macht geht es im Binnenverhältnis der Institutionsangehörigen ebenso wie im Außenverhältnis der Institutionen, nämlich im Verhältnis von Institutionen zu anderen Institutionen, aber auch im Verhältnis der Institutionen zu den institutionsunterworfenen Praxen handelnder Individuen. In welcher Hinsicht auch immer, stets bedeutet Institutionsunterworfenheit auch Machtunterworfenheit. Nun sind Machtstrukturen im sozialen Raum omnipräsent. Wenn überhaupt, dann gibt es machtfreie Praxen nur in wenigen kleinen außerinstitutionellen Räumen. Aber sind beispielsweise Interessengemeinschaften, Freundschaften oder Liebesbeziehungen wirklich machtfrei? Diese Frage wird in den folgenden Überlegungen unbeantwortet bleiben, da hier nur die Ontologie von institutionellen Machtausübungen thematisiert werden kann, nicht die Ontologie von Macht als solcher. Wer nach der Ontologie von Institutionen und speziell nach der Ontologie von institutioneller Macht fragt, hat sich zunächst einmal an einem soziologischen Befund zu orientieren. Es sind soziale Größen, die hier philosophisch auf ihre ontologische Dimension befragt werden. Soziologisch werden Institutionen als „Sozialregulationen“1 betrachtet, d.h. als Regulationen von Handlungen, wie sie von Akteuren in Gemeinschaften oder gar als gemeinschaftliche Handlungen vollzogen werden. Im Lichte dieser Beschreibung erscheinen Institutionen dann als normativ verstandene Ordnungsmuster, die sich in der Gestalt von Regeln und Regelsystemen in den jeweiligen Befolgungspraxen von Akteuren dauerhaft etabliert haben. Nicht alle Sozialregulationen sind freilich schon Institutionen. Eine Fahrgemeinschaft von Pendlern oder ein turnusmäßig wiederkehrender Stammtisch weisen sicher ein normatives Ordnungsmuster auf, dennoch wird man solche Gemeinschaften wohl kaum als Institutionen bezeichnen wollen. Was sie von Institutionen unterscheidet, ist nicht das Vorhandensein von Regeln, sondern deren Durchsetzbarkeit, die an geeignete Formen der Machtausübung geknüpft ist. Erst Macht garantiert auch die Dauerhaftigkeit von normativen Ordnungsmustern; sie ist neben der symbolischen Selbstrepräsentation der entscheidende Faktor, der erklären hilft, wie aus lockeren Regelbefolgungsgemeinschaften Institutionen entstehen können. * 1
Der Beitrag ist erschienen in: G. ALBERT/R. GRESHOFF/ R. SCHÜTZEICHEL (Hgg.), Dimensionen und Konzeptionen von Sozialität, Wiesbaden 2010, S. 113-136. So z.B. H. ESSER, Soziologie, Bd. 5: Institutionen, Frankfurt a.M. 2000, S. 2: „Eine Institution [ist] eine Erwartung über die Einhaltung bestimmter Regeln, die verbindliche Geltung beanspruchen.“
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Noch aus einem anderen Grund lassen sich Normativität und Macht nicht voneinander trennen. Das landläufige Bild von Macht zeigt uns zwei Akteure, die in einem bestimmten Kräfteverhältnis zueinander stehen. Dem stärkeren Akteur wächst die Rolle eines Machthabers, dem schwächeren die des Machtunterworfenen zu. Der Machthaber kann dem Machtunterworfenen befehlen, etwas zu tun bzw. zu unterlassen, wobei der Machthaber eben dadurch ausgezeichnet ist, dass er seinen Willen gegen den Willen des Machtunterworfenen durchsetzen kann. Entsprechend definiert Max WEBER: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstrebungen durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“2 Die Frage, wer sich durchsetzt, ist diesem Konzept zufolge eine Frage nach der größeren Kraft im Verhältnis der aufeinander wirkenden Kräfte zweier individueller antagonistischer Akteure. Dieses verbreitete Bild ist schief und einseitig, da es die Rolle der Kooperation ignoriert. Macht basiert (nicht nur in Institutionen) auf einer in Gemeinschaftshandlungen ständig erneuerten Form der Kooperation der beteiligten Akteure; sie ist im Kern deontisch verfasst. Der machtunterworfene Akteur soll so handeln, wie er dann (fast immer) handelt. Machtausübungen finden ihre Grenze dann in der unaufhebbaren Freiheit des Machtunterworfenen. Dessen prinzipielle Gegenmacht hat freilich einen Preis (vom Geldbetrag bis zum Einsatz des Lebens), dessen Höhe zum Gradmesser der ausgeübten Macht wird. Im Folgenden3 wird zuerst nach der Praxis von Handlungen und Gemeinschaftshandlungen gefragt. Sie bilden die ontologische Grundgröße, auf der auch Institutionen aufbauen. Hier zeigt sich schnell, dass sich herkömmliche Ereignisontologien für eine praxeologische Rekonstruktion von Regelbefolgungsgemeinschaften als inadäquat erweisen. Sie sind durch eine prozessontologische Konzeption zu ersetzen, die Handlungen, insbesondere Gemeinschaftshandlungen als Geschichtsverläufe modellieren kann. An diese Rekonstruktion schließt sich eine Untersuchung der Verstetigungsmechanismen an, die Regelbefolgungspraxen so verdichten, dass sich durchsetzbare Ordnungsmuster ausbilden können. Die Analyse wird eine überraschend deutliche Korrespondenz zwischen bestimmten Normativitäts- und Machttypen und einer darauf abgestellten Logik des Verstetigungsmechanismus aufzeigen, durch den sich diese Typen dauerhaft etablieren.
2 3
M. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 28. Sind diese sozialen Beziehungen durch eine legitimierte Ordnung geregelt, wird nach WEBER aus Macht Herrschaft. Diese Abhandlung greift auf den in meinem Aufsatz „Der Garten der Pfade, sie sich verzweigen“. Zur Ontologie von institutionellen Prozessen, in: G. SCHÖNRICH (Hg.), Institutionen und ihre Ontologie, Frankfurt a.M. 2005, S. 265-306, erreichten Diskussionsstand zurück und entwickelt die Ergebnisse mit Blick auf die Normativitäts- und Machttypen weiter. Einige Textpassagen zur Handlungstheorie wurden aus meinem Beitrag G. SCHÖNRICH, Institutionentheorie und Normativität, in: Berliner Debatte Intitial 5/6 (2004), S. 89-100, übernommen.
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1. Handlungen in Gemeinschaften Nach der zur Zeit vorherrschenden Meinung4 sind Handlungen identisch mit Ereignissen unter einer bestimmten Beschreibung. Ereignisse werden dabei als unabhängige partikulare Entitäten verstanden, über die quantifiziert werden kann; erst durch Beschreibungen werden sie zu Handlungen. Solche Beschreibungen sind Berichte über die Absichtlichkeit des jeweiligen als Individuum agierenden Akteurs. Individualistische Ansätze dieser Art türmen für eine Institutionentheorie allerdings unüberwindliche Hürden auf. Wie kann aus lauter individualistischen Zutaten der Kuchen der Gemeinschaft gebacken werden? Auf welche Weise entspringen den nichtsozialen Eigenschaften eines Individuums (Absichten, Motivationen, Erwartungen etc.) plötzlich soziale Gebilde wie Gemeinschaften oder gar Institutionen? Und wie sind dann überhaupt soziale Aktivitäten wie Kooperationen oder gar institutionelles Handeln zu erklären? Die von dem individualistischen Ansatz zugelassenen Entitäten erklären dies nicht aus sich heraus. Der Versuch, eine solche Erklärung durch irgendeine Komposition mehrerer dieser Eigenschaften zustande zu bringen, darf als gescheitert angesehen werden.5 Ein Ansatz zu einer strikt nicht-individualistischen Handlungstheorie liegt mit Ulrich BALTZERS Konzept eines „Gemeinschaftshandelns“ vor;6 es soll im Folgenden in seinen normativen Implikationen ergänzt und auf seine ontologischen Grundlagen befragt werden. Die zentrale These dieses Ansatzes lautet: E i n e r a l l e i n k a n n n i c h t h a n d e l n. An einer Handlung sind mindestens zwei Akteure beteiligt; sie besteht aus mindestens zwei Teilhandlungen. Ob eine Körperbewegung wie das Heben eines Arms durch den Akteur x eine Wortmeldung in einer Diskussion oder nur eine Lockerungsübung ist, entscheidet sich im Verlauf einer Handlungssequenz, die mit der Körperbewegung des Akteurs x beginnt und mit einer auffordernden Geste des Akteurs y fortgesetzt wird. An diese Geste schließt sich dann der Redebeitrag von Akteur x an (und ggf. weitere Beiträge anderer Akteure) oder aber sein Protest, er habe sich gar nicht zu Wort gemeldet, sondern nur seine Frisur richten wollen. Die Bezeichnung „Anschlusshandlung“ für die auffordernde Geste von Akteur y ist ebenso leicht irreführend wie die Bezeichnung „Ausgangshandlung“ für die Körperbewegung von Akteur x. Streng genommen sind es zwei Teilhandlungen e i n e r Handlung, nämlich einer Wortmeldung. Nur der Bequemlichkeit halber werden diese Bezeichnungen beibehalten. Wortmeldungen gibt es nur, weil Teilhandlungen wie vertikale Armbewegungen durch auffordernde Gesten bzw. entsprechende Sprechakte eines anderen Akteurs als Wortmeldungen individuiert werden.
4 5
6
Locus classicus ist immer noch D. DAVIDSON, Handlung und Ereignis, Frankfurt a.M. 1985. Vgl. die Auseinandersetzung von U. BALTZER mit den einschlägigen Erklärungsansätzen von M. GILBERT, J. R. SEARLE, R. TUOMELA in: U. BALTZER, Gemeinschaftshandeln. Ontologische Grundlagen einer Ethik sozialen Handelns, Freiburg i.Br./München 1999. Vgl. BALTZER, ebd.
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Für konventionelle Handlungen, wie z.B. Wortmeldungen oder Grüßen, und für institutionelle Handlungen, wie z.B. Heiraten oder Promovieren, kann festgehalten werden: Jede Handlung dieser Sorte ist ein Gelten-als. Etwas H (wie die Armbewegung) gilt als Instanziierung eines Handlungstyps H* (z.B. einer Wortmeldung), weil es durch ein anderes Etwas G (die auffordernde Geste) so bestimmt wird. Die so beschriebene triadische Relation von H, H* und G ist einer semiotischen Analyse zugänglich; sie entspricht der Zeichendefinition von PEIRCE.7 Ein Erstes, das Zeichenmittel, steht in einer genuin triadischen Beziehung zu einem Zweiten, sein Objekt, derart dass es ein Drittes, seinen Interpretanten, dahingehend bestimmt, in derselben triadischen Relation auf das Objekt zu stehen, in der es selbst steht. Der Interpretant kann in der im Prinzip unendlich fortsetzbaren Reihe zum Mittel eines weiteren Interpretanten werden. Im Rahmen unseres Beispiels heißt das: Kraft der auffordernden Geste des Akteurs y als einem Interpretanten, wird die Armbewegung des Akteurs y – das Mittel – im Objekt als eine Instanz des Handlungstyps Wortmeldung dargestellt: H gilt als Instanz von H*, weil es durch G so interpretiert wird. Werden mit dieser Rekonstruktion alle Handlungen erfasst oder nur die Teilmenge der konventionellen und institutionellen Handlungen? Es scheint, als würde nur den letzteren kraft einer Konvention (oder institutionalisierten Interpretation) zusätzlich zu ihrer ursprünglichen Gestalt, etwa als Armheben, in bestimmten Kontexten (wie Diskussionen) noch eine weitere Bedeutung zuwachsen, hier eben die, eine Wortmeldung zu sein. Das Schema besagt dann: „x vollzieht eine Handlung, die als Handlung vom Typ H* gilt, weil sie von einer anderen Handlung G so interpretiert wird“. Diese Sorte von Handlungen ist – so könnte man einwenden – parasitär insofern als sie von der (einzig genuinen) Art von Handlungen lebt, die nach dem Schema: „x vollzieht eine Handlung H vom Typ H*“ zu konzipieren wären. Wer so argumentiert, insistiert darauf, dass es nicht von einer anderen Handlung abhängen könne, ob eine Körperbewegung das Heben eines Armes ist, sondern allein von der objektiven Eigenschaft eines bestimmten Ereignisses. Auf dieser grundlegenden Ebene gäbe es – so der Einwand – kein Gelten-als. Der Einwand zehrt von der Annahme, dass Ereignisse wie Körperbewegungen per se schon individuierte Partikularien sind, deren objektive Eigenschaften den Typ der entsprechenden Handlung festlegen. Ein Armheben bleibt demnach ein Armheben, ob es nun zusätzlich a l s Wortmeldung oder a l s anderes Zeichen, z.B. als Gruß gilt. Für den Kontext dieser Abhandlung, in dem nur konventionelle und institutionelle Handlungen thematisch sind, kann man diese Frage unentschieden lassen. Deshalb sei hier nur en passant gezeigt, dass sich die These, alle Handlungen – und nicht nur eine Teilmenge – seien ihrer Struktur nach ein Gelten-als, gut verteidigen lässt. Scheinbare Einzelhandlungen, wie z.B. eine Rechenaufgabe lösen, eine Sauce hollandaise herstellen, oder einen Baum fällen, erweisen sich bei genauerem Hin7
Vgl. stellvertretend für die vielen Definitionen, die PEIRCE gegeben hat C. S. PEIRCE, Phänomen und Logik der Zeichen, hg. von H. PAPE, Frankfurt a.M. 1983, S. 64.
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sehen als gemeinschaftsbezogen. Worin besteht hier das vermeintliche Ereignis, das allein schon kraft seiner objektiven Eigenschaften mit der Instanz eines Handlungstyps identisch sein soll und deshalb keiner individuierenden Gelten-als Relation mehr bedarf? Von dem Fällen eines Baumes durch einen Holzfäller reden wir nur dann, wenn dessen Handlungen nach bestimmten als korrekt anerkannten Verfahren erfolgen (Kerbe an der richtigen Stelle, bestimmte Tiefe der Kerbe, richtiger Winkel, Sägen von der Gegenseite, Berücksichtigung von Wind, Geländeneigung, Ungleichheiten im Wuchs des Baumes etc.) Zumindest die Mehrzahl dieser Korrektheitsbedingungen muss erfüllt sein, um die Rede vom Fällen des Baumes zu rechtfertigen. Irgendein heftiges Herummanipulieren an dem Baum, das zufällig zum Umfallen führt, ist kein Baumfällen, so wenig wie ein zufälliges Zusammenrühren bestimmter Ingredienzien eine Zubereitung einer Sauce hollandaise darstellt oder das zufällige Erraten des Ergebnisses einer Additionsaufgabe schon Rechnen ist. Unbestritten bleibt, dass wir es hier mit einem Ereignis zu tun haben, das dem Ereignis ähnlich ist, das dann eintritt, wenn das richtige Verfahren angewendet wird. Das Ereignis jedoch, mit dem Handlungen identifiziert werden, ist nicht einfach nur der Handlungserfolg, der Erfolg muss auch auf die richtige Weise zustande kommen.8 Der Bezug auf Korrektheitsbedingungen ruft die Gemeinschaft der Regelbefolger auf den Plan. Die Wahrmacher für Sätze wie „Fritz fällt einen Baum“ oder „John rührt eine Sauce hollandaise an“ sind nicht einfach nur partikulare Ereignisse wie Armbewegungen, die von den jeweiligen Akteuren verursacht werden; sie müssen nach dem richtigen Verfahren herbeigeführt werden. Um zu wissen, welches Ereignis mit welcher Handlung identisch ist, muss man die Korrektheitsbedingungen der entsprechenden Handlung kennen, mit denen sie dann identisch gesetzt werden. Korrektheitsbedingungen aber sind keine Eigenschaften von Ereignissen oder der Verursachung von Ereignissen, sondern die Sache einer Regelbefolgungsgemeinschaft, die den Standard dafür festlegt, was als richtige Verursachung gelten kann und was nicht. Die Frage der Korrektheit ist – im Kontext von Handlungen – immer eine Frage von korrekter oder inkorrekter Regelbefolgung. Als Konsequenz der vorangegangenen Überlegungen können wir also festhalten: Handlungen ohne Regelbezug kann es nicht geben. Wenn es keine Handlungen ohne Regelbezug geben kann,9 dann kann es auch keine einsamen, von einem singulären Akteur ausgeführten Handlungen geben. Damit ist nicht gesagt, dass der Gemeinschaftsbezug stets aktualisiert sein muss. Zwischen der „Ausgangshandlung“ genannten, an der Mittel-Position stehenden Teilhandlung und der an Interpretantenstelle positionierten „Anschlusshandlung“ kann viel Zeit verstreichen. Für Robinson auf seiner Insel sind es 28 Jahre, die vergehen, bis die ersten englischen Besucher ihm tatsächlich bestätigen, dass alle 8 9
Vgl. dazu G. LÖHRER, Praktisches Wissen. Grundlagen einer konstruktiven Theorie menschlichen Handelns, Paderborn 2003, S. 402. Diese These ist nicht neu. Schon KANT hat sie – allerdings unter einem anderen Titel – vertreten, wenn er von der Maximenstruktur unseres Handelns spricht.
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seine Festungsbau-Aktivitäten, seine Maßnahmen auf dem Gebiet des Ackerbaus, der Viehzucht, der Schneiderei und des Bootsbaus gemessen am Standard der Handwerkszünfte seiner Zeit korrekte Realisierungen der entsprechenden Handlungstypen sind. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Interpretanten für seine Realisierungsmittel lediglich mögliche Anschlusshandlungen. Kontrafaktisch gesprochen: Wäre Robinson in die englische Regelbefolgungsgemeinschaft seiner Zeit integriert gewesen, so wären seine Aktivitäten als entsprechende Handlungen individuiert worden. Ersatzweise musste seine Erinnerung an die jeweiligen Praktiken die Individuierung übernehmen – mit allen Risiken der Selbsttäuschung. Letztlich ist es nicht e i n anderer Akteur, sondern die gemeinsame Praxis der beteiligten Akteure insgesamt, die festlegt, welcher Handlungstyp instanziiert worden ist. Wenn wir im Rahmen des Wortmelde-Beispiels sagen, der zweite Akteur entscheide mit seiner auffordernden Geste darüber, ob die Armbewegung eine Wortmeldung ist oder nicht, so ist das freilich eine verkürzende Redeweise. Denn die auffordernde Geste ist ja wiederum in einen größeren Zusammenhang eingebettet. Auch sie wird zum Mittel für weitere interpretierende Zuordnungen durch andere Akteure. Indem die herausgegriffene Phase im weiteren Verlauf immer wieder durch bruchloses Anschließen bestätigt wird, verstetigt sich ein bestimmtes Muster, das wir „Diskussion“ nennen.
2. Zur Ontologie von Handlungen Der aussichtsreichste Kandidat für eine Ontologie, die Ereignisse – und damit Handlungen – nicht als fertig vorgegebene Größen konzipiert, sondern ihre Individuierung durch eine weitere Entität einbezieht, ist eine Prozessontologie.10 Ihr Grundbegriff ist ein Massenterm wie „Wasser“ oder ein Term für eine Aktivität wie „Laufen“. Wasser und Laufen sind dadurch charakterisierbar, dass ihre raumzeitlichen Vorkommnisse im Gegensatz etwa zu Exemplaren von Arten (wie Katzen, Bäumen oder Fixsternen) keine singulären Vorkommnisse sind. Katzenindividuen können nicht mehrfach vorkommen, Massen bzw. Aktivitäten wie Wasser und Laufen schon. Die Teile von Katzen sind nicht wieder Katzen, die Teile von Wasser oder von Laufen schon. Und die Summe vieler Katzen ergibt keine große Katze, die Summe von Wasservorkommnissen hingegen ergibt ein größeres Wasservorkommnis und von Laufen ein längeres Laufen. Diese Eigenschaften von Kumulativität und Dissektivität prägen auch die Handlungssequenzen unserer verschiedenen Praxen. So sind die Teile eines Diskussionsprozesses wieder Diskussionen und die Summe von Diskussionen ergibt eine längere Diskussion. Denn vor der Wortmeldung von Anton gab es andere Wortmeldungen und vor diesen eine Eröffnung der Diskussion und vor dieser Diskussionsrunde andere Diskussionsrunden. Nach der Wortmeldung von Anton gab es weitere Wortmeldungen 10
Die bisher am gründlichsten ausgearbeitete Fassung stammt von J. Seibt. Vgl. im Folgenden J. SEIBT, Dinge als Prozesse, in: R. HÜNTELMANN / E. TEGTMEIER (Hgg.), Neue Ontologie und Metaphysik, St. Augustin 2000, S. 11-41.
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und nach der Beendigung eine Fortsetzung der Diskussion auf dem Nachhauseweg etc. Die maximale Größe des Diskussionsprozesses ist unbestimmt; er kann ad infinitum fortgesetzt werden (mit anderen Diskussionsteilnehmern) und hat vor unbestimmter Zeit begonnen (wenn es ein philosophischer Diskussionsprozess ist, vielleicht mit den Vorsokratikern). Der Wahrmacher für Sätze wie „Anton meldet sich zu Wort“ ist eine bestimmte Phase eines Prozesses, der andere Phasen vorausgehen und der weitere Phasen folgen. Wie im Fall von Wasser oder Laufen gilt auch für Diskussionen eine Mindestgröße. Wenn die Schwelle bestehend aus zwei aufeinander bezogenen Teilhandlungen wie Armbewegung und auffordernde Geste unterschritten wird, handelt es sich nicht mehr um eine Diskussion, so wenig wie ein Molekül aus Wasser- und Sauerstoff schon Wasser ist. Die semiotische Analyse einer Handlung als einer genuinen triadischen Relation von H, H* und G beschreibt, da sie unterhalb der Mindestgröße bleibt, noch keinen Prozess, sondern nur die Keimzelle zu einem solchen. Der entscheidende Vorteil einer Prozessontologie besteht darin, dass sie es erlaubt, Praxen, d.h. ganze Sequenzen von aufeinander bezogenen Teilhandlungen, als Eigenschaftsindividuen zu konzipieren, d.h. als Entitäten, die weder generell noch partikular sind. Vielleicht sollten wir besser sagen: Entitäten, die je nach Akzentuierung sowohl als generell als auch als partikular aufgefasst werden können. Heben wir an diesem Prozess den Handlungstyp H* hervor, dann betonen wir den generellen Aspekt. Insistieren wir darauf, dass Handlungstypen wie H* nur so lange existieren, wie es Instanziierungen in Teilhandlungen H und G gibt, dann betonen wir den partikularen Aspekt. Was sind nun die Wahrmacher für Handlungen, die als Phasen eines Prozesses rekonstruiert werden? Und was sind dann Gemeinschaftshandlungen in diesem Rahmen? Zunächst erscheinen hier Handlungen nicht als partikulare Ereignisse, sondern als Ereignis- oder besser Geschichtsverläufe. Eine Geschichte h besteht aus einer maximalen Menge linear geordneter zeitlicher Momente m, die sich in einem nach oben in Richtung des Zeitpfeils verzweigenden Baumdiagramm repräsentieren lassen. Abb. 1: h2
h1
h3
m3
h4
m2 m1
Eine Handlung ist ontologisch also eine Menge von Paaren m/h. Wenn der Akteur im Moment m1 eine Wahl trifft, d.h. sich für eine Alternative entscheidet, wird
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durch seine Wahl aus der Menge der durch m1 laufenden möglichen Geschichten eine Geschichte h selegiert. Es ist also die Wahl des jeweiligen Akteurs, die bestimmt, welche der möglichen Geschichten zur aktualen Geschichte wird. Betrachten wir in Anlehnung an die Diagramme von HORTY11 solche Wahlen etwas genauer: Abb. 2
h1 A
h2 A
B
h3
h4 A
B
A B
B
-------------------------------------------------------------------------- i
m3
m2 [y: G]
m1 [y: H]
Die Proposition A, wie sie in einem beschreibenden Handlungssatz: „Der Akteur y gibt im Dekanat der Fakultät eine größere wissenschaftliche Arbeit ab“ ausgedrückt wird, wird nicht für alle Geschichten h1, h2, h3 und h4, sondern nur für die Geschichten h3 und h4 wahr. (Propositionen werden hier im Sinne FREGES als abstrakte Gegenstände verstanden, sie beschreiben den Handlungserfolg, und nicht bloß die Handlungsabsicht, d.h. einen Sachverhalt, wie er durch den tatsächlichen Vollzug der Handlung herbeigeführt wird.) Im gegebenen Beispiel wird A dadurch wahrgemacht, dass sich der Akteur y im Moment m1 für die Handlung H entscheidet, d.h. eine größere wissenschaftliche Arbeit abgibt. Hätte der Akteur y in m1 nicht H, sondern irgendeine andere Handlung vollzogen (z.B. die Arbeit nicht abgegeben), so hätte die Geschichte den Verlauf genommen, der durch die linke Seite des Baumdiagramms wiedergegeben wird. Die Proposition B gibt in unserem Beispiel den Inhalt eines Handlungssatzes wie „Der Akteur y tritt in das Rigorosum ein“ wieder. Nur die Geschichte h4 nimmt den Verlauf, in dem beide Propositionen A und B wahr werden, nämlich dann, wenn sich Akteur y in m2 für die Handlung G entscheidet, d.h. tatsächlich in das Rigorosum eintritt und nicht vom Rigo11
Vgl. J. F. HORTY, Agency and Deontic Logic, New York 2001, S. 13ff.
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Die ontologische Dimension von institutioneller Macht
rosum zurücktritt. In diesem Fall hätte die Geschichte den Verlauf genommen, der durch h3 wiedergegeben wird. Die gestrichelte Linie i gibt den für alle möglichen Geschichten simultanen Moment an, in dem eine Bewertung der Wahrheit der Propositionen A und B vorgenommen wird. Ob freilich solch ein externer Standpunkt, von dem aus mögliche Geschichten als selbständige Entitäten betrachtet werden können, überhaupt beziehbar ist, ist jedenfalls aus epistemologischer Sicht mehr als zweifelhaft. Ein solche Annahme verträgt sich zudem nicht mit dem praxeologischen Konzept von Gemeinschaftshandlungen, demzufolge die Bewertung nicht durch einen absoluten Beobachter von außen vorgenommen wird, sondern selbst eine Handlung bildet, die Teil einer Geschichte ist. Die Einbeziehung der Bewertung in den Geschichtsverlauf entspricht der Leistung, die in dem praxeologischen Handlungskonzept von der Komponente der Anschlusshandlung erbracht wird, mit der ein anderer Akteur die Ausgangshandlung als Instanziierung eines Handlungstyps individuiert. Den Handlungstypen der semiotischen Rekonstruktion (wie H* oder G*) entsprechen ontologisch Propositionen (wie A oder B). Die individuierende Leistung der Anschlusshandlung des zweiten Akteurs lässt sich in unserem ontologischen Modell leicht darstellen:12 Abb. 3:
h1
h2
h3
A
A
A
h4 A
h5 A
[y: G] Akteur y
m1 [y: K] [x: H]
[x: F] Akteur x
12
Ich übernehme HORTYs Darstellungsweise und mengentheoretische Interpretation, vgl. ebd., S. 83.
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Die bisher erzählte Geschichte vom Einreichen einer Promotionsarbeit ist ja auch nur die halbe Geschichte. Denn die Abgabe einer schriftlichen Arbeit durch den Akteur y wird zum Einreichen einer Promotionsarbeit erst dann, wenn sie von einem zweiten Akteur x der Promotionskommission (bzw. stellvertretend dem Vorsitzenden) auch angenommen wird. Wenn die Proposition A den Sachverhalt so beschreibt, wie er vollständigerweise beschrieben werden muss, nämlich als Einreichen einer Promotionsarbeit – ein Sachverhalt, der nicht dadurch schon herbeigeführt wird, dass unser Akteur y ein schriftliche Arbeit im Dekanat hinterlässt, sondern der erst dadurch zustande kommt, dass diese Arbeit als Promotionsleistung in einer Anschlusshandlung auch angenommen wird – dann wird A nur durch eine Gemeinschaftshandlung wahr, in der beide Akteure zusammenwirken. Im Diagramm sind die Wahlzellen von Akteur y horizontal, die von Akteur x vertikal zu lesen; jedem Akteur stehen im Moment m als echte Alternative zwei verschiedene mögliche Handlungen zur Verfügung. Wie auch immer sich die Akteure entscheiden, ihre Wahl ergibt stets eine Schnittmenge (G/H, G/F, K/H, K/F), die jeweils eine der möglichen Geschichten festlegt. Als Akteur y kann ein Promovend nun mit [y: K] eine Arbeit abliefern, die den Bedingungen der Promotionsordnung nicht genügt, z.B. weil sie nicht selbständig verfasst wurde. Er kann mit [y: G] aber auch eine diesen Bedingungen genügende Arbeit abliefern. Als Akteur x kann die Promotionskommission die eingereichte Arbeit dann entweder annehmen [x: H] oder ablehnen [x: F]. Annehmen darf sie die Arbeit nur dann, wenn diese den formalen Bedingungen genügt, also nur wenn der Akteur y die Arbeit tatsächlich ohne fremde Hilfe anfertigt. Fertigt Akteur y die Arbeit mit fremder Hilfe an, muss die Promotionskommission die Arbeit ablehnen [x: F]. Die Proposition A wird nur dann wahr, wenn x H und y gleichzeitig G tut, d.h. A wird nur wahr in der Geschichte h2. Viele Promotionsordnungen lassen den ontologisch interessanten Fall zu, dass eine Arbeit aufgrund des G-tuns von y zwar den formalen Bedingungen genügt, aber zurückgegeben wird, um dem Promovenden Gelegenheit zur Überarbeitung zu geben, sobald sich z.B. negative Gutachten abzeichnen. Sie gilt dann weder als Promotionsleistung, noch ist sie förmlich abgelehnt; die Geschichten h3 und h4, die zu einer Ablehnung (¬A) bzw. Annahme (A) führen würden, bleiben in dieser Gemeinschaftshandlung, wie in der Darstellung klar wird, ungeschieden.
3. Drei Normativitätstypen: präskriptive, direktive und konstitutive Regeln Wenn es erst die Anschlusshandlung ist, die eine Ausgangshandlung als Fall eines bestimmten Handlungstyps individuiert, dann steht mit jeder Fortsetzung der Praxis auch deren Identität auf dem Spiel. Was stabilisiert unsere permanent von Änderungen und Zusammenbruch bedrohten Praxen? Denn wenn nicht einmal Praxen ihre Identität bewahren könnten, wie sollten sich dann stabile höherstufige Identitäten wie Institutionen überhaupt bilden und halten können? Es liegt nahe, die Stabilisierungsmechanismen zunächst in der Normativität unseres Handelns zu suchen. Sie kristallisiert sich an den Anschlussstellen. Teilhand-
Die ontologische Dimension von institutioneller Macht
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lungen können gleichgültig aneinander schließen, sie können aber auch akzeptierend (in der Steigerung: positiv sanktionierend) und korrigierend (in der Steigerung: negativ sanktionierend) anschließen. Es ist der Regelbegriff, der die immanente Normativität sichtbar macht. Korrigiert oder gar sanktioniert werden wir nur dann, wenn unsere Teilhandlung als Ausganghandlung eine Regelverletzung darstellt; wird akzeptierend oder positiv sanktionierend angeschlossen, so haben wir die entsprechende Regel erfüllt. Wenn der praxeologische Ansatz richtig ist, dann gilt diese Beobachtung für alle Handlungen, also auch für scheinbar einsame Handlungen wie Kuchenbacken, und nicht nur für die offensichtlich gemeinschaftsbezogenen konventionellen Handlungen wie Wortmeldungen oder Grüßen bzw. die institutionellen Handlungen wie Heiraten oder Promovieren. In den beiden letzten Handlungstypen ist der Regelbezug nur offensichtlicher: Bewegt der Akteur x im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung seinen Arm in vertikaler Richtung, ist der Diskussionsleiter y nicht mehr frei, diese Körperbewegung zu ignorieren oder als Lockerungsübung zu individuieren. Der Akteur x hat die Korrektheitsbedingungen für eine Wortmeldung erfüllt, die in der Regelbefolgungsgemeinschaft, der er angehört, in Geltung sind. Als Diskussionsleiter ist der Akteur y dann geradezu verpflichtet, entsprechend anzuschließen und die Körperbewegung als Wortmeldung zu individuieren. Und der Vorsitzende der Promotionskommission kann nicht anders, als die abgegebene Arbeit als Einreichung einer Promotionsarbeit zu individuieren, vorausgesetzt die in der Promotionsordnung definierten Standards sind erfüllt. Die befolgten oder verletzten Regeln müssen nicht explizit sein, nicht jede Praxis kennt sprachlich ausdifferenzierte Regelformulierungen, wie sie z.B. in einem überlieferten Kanon oder in gesatztem Recht fixiert sind. Im Unterschied zu solchen regelexpliziten Praxen sind auch regelimplizite Praxen vorstellbar, die ohne jede explizite Regelformulierung auskommen. Hier genügt der Vollzug der korrigierenden und sanktionierenden Handlungen, um Normativität zu erzeugen. Ein Merkmal dieser Normativität ist auf jeden Fall schon geklärt. Der praxeologische Ansatz lässt nämlich keine Konzeption von Regeln zu, die der Praxis, in der sie zur Anwendung kommen, extern sind. Was die Regel ist, zeigt sich nur in der Befolgungspraxis. Nicht eine praxis-externe Regel produziert die Handlungspraxis, sondern unsere Handlungspraxis produziert die Regel. Ändert sich die Praxis, so ändert sich auch die Regel. Die These der Praxis-Immanenz von Regeln vermeidet so die bekannten Schwierigkeiten, in die das traditionelle Verständnis des Regelfolgens führt. Die Kluft, die es zwischen den Regeln (der Kenntnis und Fähigkeit, sie anzuwenden) und den Praktiken, in denen sie angewendet werden, zulässt, ist nur durch eine regresserzeugende Deutung zu überbrücken.13 Für den theoretischen Vorzug des praxeologischen Ansatzes ist freilich auch ein Preis zu entrichten: er kämpft mit der Schwierigkeit, wie eine rückbezügliche Praxis zu modellieren ist, in der die gemeinsame Befolgung darüber entscheidet, welche Regel 13
Seit KRIPKES Wittgenstein-Interpretation ist diese Einsicht zum philosophischen Gemeingut geworden. Vgl. S. A. KRIPKE, Wittgenstein über Regeln und Privatsprache, Frankfurt a.M. 1987.
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gilt. Doch bevor diese Schwierigkeit in Angriff genommen werden kann, ist zunächst der Begriff der Normativität zu klären. Normativität gibt es nur da, wo es auch Normverletzungen gibt. Die vielen Spielarten von Normativität lassen sich typologisch in die Hauptklassen: präskriptive, direktive und konstitutive Normen einteilen.14 Unproblematisch sind in dieser Klassifikation nur die p r ä s k r i p t i v e n N o r m e n . Sie geben in Regelform Gebote, Verbote und Erlaubnisse wieder: „Es ist geboten, (verboten, erlaubt), x zu tun“. Wie die damit verbundenen Sanktionen erkennen lassen, erfüllen allein präskriptive Normen uneingeschränkt das Kriterium der Verletzbarkeit; sie sind normativ in einem starken Sinn. Im Unterschied zu den präskriptiven Normen folgen k o n s t i t u t i v e N o r m e n dem Schema: „X gilt als Y“ bzw. „X-tun gilt als Y-tun (im Kontext K)“. Solche Regeln legen fest, was innerhalb eines Diskussionskontextes als Wortmeldung oder innerhalb der Forstwirtschaft als Baumfällen oder innerhalb der Bundesrepublik Deutschland als Ehe gilt. Solche Regeln definieren einen mehr oder weniger vagen Standard. Armbewegungen, Aktivitäten mit Axt und Säge oder Partnerschaften, die die entsprechenden Standards nicht erfüllen, werden gar nicht erst berücksichtigt, als erfolgreich akzeptiert oder als Lebensgemeinschaft mit Unterhaltspflichten und Steuervorteilen anerkannt. Doch der Status als Norm wird fraglich, wenn mit einer „Regelverletzung“ das Geregelte schlicht aufhört zu existieren. Wer gegen eine konstitutive Regel „verstößt“ wird folgerichtig auch nicht sanktioniert, sondern aus der jeweiligen Regelbefolgungsgemeinschaft exkommuniziert. Zum Problem wird das Kriterium der Verletzbarkeit auch im Falle d i r e k t i v e r N o r m e n . Diese legen die Handlungsweisen fest, die auszuführen sind, um ein bestimmtes Ziel oder einen bestimmten Zweck zu erreichen; sie beschreiben eine bestimmte Zweck-Mittel-Relation: „Wenn du X erreichen willst, musst du Y tun“. Das „muss“ bedeutet hier keine Verpflichtung, die verletzt werden könnte. Zwischen dem Beabsichtigen und der die Absicht realisierenden Handlung besteht ein analytisches Verhältnis. Allenfalls kann der Akteur unter verschiedenen Realisierungsmitteln wählen, sofern überhaupt gleichwertige Mittel verfügbar sind. Hat er aber einmal eine bestimmte Absicht gebildet, ist er nicht mehr frei, das geeignete Mittel abzulehnen. Direktive Normen sind allerdings eng mit einem Standard verbunden: „Wenn du dein Haus bewohnbar machen willst, musst du es heizen“. Der zugrunde liegende Standard besagt hier, dass in bestimmten Breitengraden erst das Beheizen Häuser bewohnbar macht. Für sich genommen ist ein Standard eine konstitutive Norm: „X gilt als Y“ bzw. X-tun gilt als Y-tun“. Standards wie der angeführte sind empirisch, andere sind konventionell, wie z.B. der Standard, der zu erfüllen ist, damit eine bestimmte Körperbewegung als Wortmeldung gilt. Wieder 14
Vgl. dazu den in Auseinandersetzung mit Searles und Schnädelbachs Typologie gemachten Vorschlag in G. SCHÖNRICH, Ein normatives Dilemma in Kants Erkenntnistheorie, in: DERS., Normativität und Faktizität. Skeptische und transzendentalphilosophische Positionen im Anschluss an Kant, Dresden 2004, S. 67-86.
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andere sind institutionell wie die Standards, die für eine Promotion oder Eheschließung zu erfüllen sind. Wird gegen eine direktive Norm „verstoßen“, reagieren wir nicht wie im Fall von präskriptiven Normen mit negativen Sanktionen oder wie im Fall von konstitutiven Normen mit Exkommunikation, sondern rufen nach einem Arzt.
4. Konstitutive Normativität und deontische Macht In den bisher diskutierten Beispielen und ihrer ontologischen Modellierung ist von präskriptiven Regeln nicht die Rede, ein Sollen ist nicht im Spiel. Niemand muss sich in Diskussionen zu Wort melden; wer sich nicht zu Wort meldet, begeht keinen Regelverstoß, der korrigiert oder gar sanktioniert wird. Natürlich ist auch eine Situation denkbar, in der sich bestimmte Akteure zu Wort melden sollen, d.h. präskriptiven Normen unterworfen sind. Der Einladende würde bei einem Gastvortrag wohl gegen ein Gebot der Höflichkeit verstoßen, würde er sich in der anschließenden Diskussionsrunde nicht zu Wort melden. Eine solche präskriptive Regelbefolgungspraxis mit ihren Gebots-, Verbots- und Erlaubnisregeln ist dann wiederum in direktiven Normen fundiert, wie z.B. „Wenn du dich zu Wort melden willst, musst du den Arm heben“. Sie geben die Mittel an, wie präskriptive Normen zu erfüllen sind. Direktive Normativität ihrerseits setzt die Geltung von Standards voraus, wie sie in konstitutiven Regeln nach dem Schema „Armheben gilt als Wortmeldung“ ausformuliert werden. Die Frage, wie sich Praxen so verstetigen, dass sie normative Ordnungsmuster ausbilden, hat sich deshalb zuerst an die Funktionsweise konstitutiver Normativität zu richten, um dann schrittweise die beiden anderen Normativitätstypen einzubeziehen. Also: Durch welche Mechanismen etablieren sich konstitutive Regeln? Wenn es nicht eine als praxis-extern verstandene Regel ist, welche die Praxis produziert, sondern wenn es vielmehr unsere Praxis ist, welche die Regel produziert, an der doch die Korrektheit der Regelbefolgung, in der gelingende Praxis besteht, gemessen wird, dann haben wir es mit einer kreisförmigen Konstitution zu tun. K. PUHL spricht hier von einer „retroaktiven Konstitution“15, weil in Umkehrung des üblichen Abhängigkeitsverhältnisses nicht die Regel das erreichte Resultat der Regelbefolgung als korrekte Anwendung bestimmt, sondern das erreichte Resultat die Korrektheit der Regel erklärt. Auf unser Modell übertragen bedeutet das: Die Anschlusshandeln genannte Teilhandlung des Akteurs y – z.B. die auffordernde Geste G - fungiert als Kriterium dafür, dass die vertikale Armbewegung H des Akteurs x als korrekte Anwendung der konstitutiven Regel „Eine vertikale Armbewegung vollziehen, ist sich zu Wort melden“ individuiert wird. Noch prägnanter formuliert: Nur dadurch, dass Teilhandlungen wie G auf Teilhandlungen wie H bezogen werden, kommt so etwas wie die genannte Regel überhaupt in die Welt.
15
K. PUHL, Die „List der Regel“. Zur retroaktiven Konstitution sozialer Praxis, in: U. BALTZER / G. SCHÖNRICH (Hgg.), Institutionen und Regelfolgen, Paderborn 2002, S. 81-99, hier S. 91f.
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Im Kontext der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie erweist sich diese rückwärts gerichtete Konstitutionsfigur formal betrachtet als eine besondere Art der Hypothesenbildung, von PEIRCE „Abduktion“ genannt. Dabei handelt es sich um ein Schlussverfahren, das von einem überraschenden und unerklärten Sachverhalt ausgeht, um dann probeweise eine Regel auszubilden, die nun „rückwärts“ den Sachverhalt als ihren Anwendungsfall erklären würde, falls sie gälte. Das berühmte Bohnenbeispiel16 veranschaulicht recht plastisch die Logik dieses Schlussverfahrens. Angenommen wir finden einen Haufen weißer Bohnen und daneben einen Sack. Im Ausgang von dem mehr oder weniger überraschenden Faktum „Diese Bohnen sind weiß“ wird nun hypothetisch die Regel angesetzt: „Alle Bohnen aus diesem Beutel sind weiß“, um „rückwärts“ das Faktum als Fall der Regel: „Diese Bohnen sind aus diesem Beutel“ zu erklären. PEIRCE stellt dieses abduktive Regel(er)findungs-Verfahren als erste Stufe des selbstkontrollierten Denkens den beiden weiteren Verfahren Deduktion und Induktion noch voran. Die Deduktion geht von der als gültig betrachteten Regel „Alle Bohnen aus diesem Beutel sind weiß“ als Prämisse aus, um dann über die weitere Prämisse „Diese Bohnen sind aus diesem Beutel“ (Fall) zu schließen: „Diese Bohnen sind weiß“ (Resultat). Die Induktion dagegen schließt nach dem folgenden Schema: „Diese Bohnen sind aus diesem Beutel“ (Fall); „diese Bohnen sind weiß“ (Resultat); „alle Bohnen aus diesem Beutel sind weiß“ (Regel). Der Deduktion fällt die Aufgabe zu, die Konsequenzen aus einer Regel-Hypothese wie „Alle Bohnen aus diesem Beutel sind weiß“ zu ziehen, die dann induktiv getestet werden können, um die Allgemeingültigkeit der Regel sicherzustellen. Will man die konstitutive Normativität, welche die unterste Ebene der gemeinschaftlichen Praxis kennzeichnet, ihrer Logik nach beschreiben, wird man sie dem abduktiven Verfahren zuordnen. Eine Regelbefolgungsgemeinschaft, die Normativität in Anschlusshandlungen ausbildet, die in der beschriebenen Weise auf Ausgangshandlungen bezogen sind, verhält sich aus der Sicht eines Beobachters, als zöge sie unaufhörlich abduktive Schlüsse. Solche Regelbefolgungsgemeinschaften müssen nicht über den Begriff der Abduktion verfügen, ja nicht einmal über den Begriff des Schlusses. Akteure können sich rational verhalten, ohne den Begriff der Rationalität bzw. den diese Rationalität auszeichnenden Begriff des Schließens zu kennen. Es genügt, dass sich in der Praxis das beschriebene Normativitätsmuster ausbildet und immer wieder neu in Anschlusshandlungen bestätigt wird. Solche Akteure dokumentieren Rationalität immanent in ihrer Praxis. (Natürlich bedeutet es einen Fortschritt für die Rationalität dieser Praxis, wenn solches implizites Regelfolgen sich zu einem expliziten Regelfolgen weiterentwickelt, in dem die Regeln selbst thematisiert und damit auch kontrolliert werden können.) Der außen stehende Beobachter kann diese immanente Rationalität sichtbar machen. Für ihn kommt das Armheben von Akteur x neben der auffordernden Geste von Akteur y vor. Dieses für den Beobachter überraschende Faktum wird 16
C. S. PEIRCE, Collected Papers 2.623.
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„rückwärts“ dadurch verständlich, dass nun die Regel „Armheben gilt als Wortmeldung“ explizit ausformuliert und hypothetisch angenommen wird. Gilt die angenommene Regel wirklich, so wird klar, warum die auffordernde Geste des Diskussionsleiters dazu führt, dass der erste Akteur schließlich das Wort ergreift, d.h. es wird nun klar, dass das Armheben den Handlungstyp Wortmeldung instanziiert. Abduktive Schlussverfahren haben freilich nicht die Sicherheit der deduktiven und induktiven Verfahrensweisen. Die erschlossene Regel gilt zunächst probeweise; sie bedarf weiterer Stützung. Entscheidend für die Etablierung einer solchen Hypothese als Regel – und damit entscheidend für die normative Dimension der Praxis – ist der kontrafaktische Sachverhalt, dass der durch die Regel definierte Standard nicht erfüllt wäre, würde die vertikale Armbewegung nicht als Wortmeldung behandelt werden. Dazu ist sie aber in einer nicht-zirkulären Weise als erst einmal Wortmeldung zu kennzeichnen. Deshalb hilft es hier nicht weiter, festzustellen, dass Wortmeldungen eben an vertikalen Armbewegungen zu erkennen sind. Nun ist die Vertikalität der Armbewegung nur ein Mittel (Zeichen) unter anderen. Das abduktive Schlussverfahren beruht nach PEIRCE auf der erstmaligen Herstellung einer Ähnlichkeitsbeziehung (hier zwischen dem aktuellen Armheben und dem vermuteten Fall einer Wortmeldung), die aber immer weiter auszubauen ist, und zwar sowohl auf der Seite der Ausgangshandlungen als auch auf Seite der Anschlusshandlungen. Wieder in der Beobachterperspektive gesprochen: Die vertikale Armbewegung des Akteurs x ist vermutlich eine Wortmeldung, weil die auffordernde Geste des Akteurs y ein Interpretant für Aufmerksamkeit erheischende Aktivitäten (darunter auch Wortmeldungen) ist. Weitere Zeichenmittel vermindern die Vagheit der Ähnlichkeitsbeziehung: Auf der Seite der Ausgangshandlung des Akteurs x: der Blickkontakt, der konzentrierte Gesichtsausdruck etc.; auf der Seite der Anschlusshandlung von Akteur y: die Registrierung weiterer Armbewegungen anderer Akteure etc. In der Teilnehmerperspektive gilt: die Praxis der abduktiven Rückkoppelung bräche schnell in sich zusammen, würde sie nicht durch weitere Zeichenmittel gestützt, die den Diskutanten-Status und den Diskussionsleiter-Status „codieren“. Codierungen sind begleitende Zeichen (Mittel und Interpretanten), die den Erfolg der abduktiven Rückkoppelung wahrscheinlicher machen. Selbstredend sind auch solche Codierungen als Zeichen abduktiv einzuführen, was wiederum codierte Zusammenhänge voraussetzt. Was zählt, ist die Einbettung in einen bewährten, durch immer weitere Ähnlichkeitsrelationen zunehmend kohärenter werdenden Zusammenhang. Die abduktive Begründungsfigur ist also holistisch. Unter Benutzung der Terminologie von ECO17 lassen sich drei Fälle unterscheiden: - die Abduktion ist übercodiert: die Rückkoppelung dieses Falles auf diese Regel ist durch zahlreiche weitere Zeichen so stark gesichert, dass entsprechende Verhaltensroutinen als diese Zeichenmittel interpretierende Anschlusshandlungen ausgelöst werden. 17
Vgl. U. ECO, Semiotik und Philosophie der Sprache, München 1985, S. 69ff. Vgl. dazu auch G. SCHÖNRICH, Zeichenhandeln, Frankfurt a.M. 1991, S. 397ff.
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- die Abduktion ist untercodiert: die Rückkoppelung lässt eine Reihe mehr oder weniger gleich wahrscheinlicher Alternativen zu, d.h. die Vagheit wird nicht hinreichend reduziert. - die Abduktion ist kreativ: die Regel ist ex novo in einem selbstschöpferischen Prozess auszubilden, indem dieses Resultat hier und jetzt als Korrektheitskriterium für den gegebenen Fall gesetzt wird. Genetisch betrachtet ist der selbstschöpferische Prozess eine Konstruktion zu Erklärungszwecken. Die Rolle der kreativen Abduktion wird allerdings besser verständlich, wenn sie unter einem negatorischen Aspekt betrachtet wird. Indem sie Übercodierungen erodiert und somit Regelfolgen wieder „verdünnt“, schafft sie Platz für neue Codierungen und damit für die Weiterentwicklung der Regelbefolgungspraxis. Welche Rolle spielt Macht in diesem Verdichtungsprozess sozialer Praktiken zu normativen Ordnungsmustern? Die Antwort lässt sich am besten finden, wenn man eine Situation untersucht, in der sich noch keine festen Machtstrukturen gebildet haben, in der eine Machtausübung erst angebahnt werden muss. Als Beispiel mag Robinsons Versklavung von Freitag dienen. Die Schilderung von Defoe, wie sich Robinson nach 25 Jahren Einsamkeit einen Diener verschafft, ist ein Musterbeispiel für einen Fall solcher „Anbahnungsmacht“. Zur Vorgeschichte: In unregelmäßigen Abständen frönt auf der Insel Robinsons eine Horde Wilder dem Kannibalismus. Bei einer dieser rituellen Veranstaltungen gelingt es einem der Opfer – ebenfalls ein Wilder – zu fliehen. Er wird nur von zwei der Kannibalen verfolgt, die Robinson, der schon lange auf eine solche Gelegenheit gewartet hatte, durch seine Schusswaffen tötet: Der arme Flüchtling war, obgleich er seine beiden Feinde niedergestreckt sah, doch so durch Feuer und Knall meines Gewehres entsetzt, dass er wie eine Bildsäule stand und sich nicht vom Fleck rührte. Dabei schien er aber eher geneigt zu fliehen, als zu mir zu kommen. Ich rief ihn nochmals an und winkte ihm herbeizukommen. Er machte einige Schritte vorwärts, blieb dann stehen, ging wieder einige Schritte und hielt hierauf abermals inne. Ich sah, wie er zitterte, als ob er ebenso sterben zu müssen glaubte wie seine beiden Feinde. Auf mein Winken und meine Zeichen zur Ermutigung kam er näher und kniete alle 10 bis 12 Schritte nieder, um seine Dankbarkeit dafür anzudeuten, dass ich ihm das Leben gerettet. Ich sah ihn lächelnd und freundlich an und forderte ihn mit Winken auf, doch näher zu kommen. Endlich befand er sich dicht bei mir, kniete abermals nieder, küsste die Erde, legte den Kopf auf den Boden, ergriff meinen Fuß und stellte diesen auf seinen Kopf. Er wollte damit, wie es schien, andeuten, dass er für alle Zeit mein Sklave sein werde.18
Eine Armbewegung wie die von Robinson wird dadurch als Herbeiwinken individuiert, dass der Akteur y, an den die Geste adressiert ist, tatsächlich herbeikommt. Der Akteur y könnte hier aber auch zu verstehen geben, dass er sich weigert, herbeizukommen – auch so hätte er die Armbewegung des Akteurs x immer noch als ein Herbeiwinken individuiert, genauer als eine korrekte Realisierung des 18
D. DEFOE, Robinson Crusoe, Dortmund 1984, S. 182.
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Handlungstyps Herbeiwinken. In machtfreien Praxen kann der Akteur y die Armbewegung auch als etwas ganz anderes individuieren, z.B. als Gruß oder als Hilfeersuchen. Während der Akteur x auf eine Realisierung H des Handlungstyps H* abstellt, individuiert Akteur y mit seiner Anschlusshandlung G die Ausgangshandlung nicht als H, sondern z.B. als F. Findet diese Individuation nun keine Bestätigung in einem entsprechenden, neu ansetzenden Anschlusshandeln des Akteurs x oder eines anderen Akteurs z, ist die Handlungssemiose zusammengebrochen, es kommt zu keiner gemeinsamen Praxis. Das Szenario der Machtunterwerfung macht die semiotischen Strategien deutlich, die einen solchen Zusammenbruch ausschließen. Dem Akteur Robinson wächst nur in dem Maße Macht zu, wie es ihm gelingt, den Akteur Freitag tatsächlich auf die Individuation seiner Armbewegung als Herbeiwinken festzulegen. Freitag soll die Handlung H als Vorkommnis von H* und nicht als Vorkommnis von F* – etwa einem Gruß – individuieren. Robinsons Geste hat so einen deontischen Status. Seine Armbewegung soll so individuiert werden, wie sie durch Freitag tatsächlich individuiert wird. Macht ist von Anfang an deontische Macht,19 genauer noch d e o n t i s c h e D e u t u n g s m a c h t , insofern die Individuation von Handlungen eine zwischen den Akteuren abgestimmte Repräsentation-als im Sinne von SEARLEs konstitutivem Regeltyp: H gilt als H* ist. Wie kommt es zu dieser normativen Aufladung? Indem Freitag Robinsons Armbewegung als Herbeikommen individuiert, stellt er nicht einfach eine Handlung als korrekte Realisierung eines Handlungstyps dar, sondern erfüllt damit auch eine Forderung, nämlich die, genau diese Individuierung zu leisten und keine andere. In der Erfüllung dieser Forderung, oder wie wir auch sagen können, in der Anerkennung des deontischen Status der Geste Robinsons, besteht seine Machtunterwerfung, die er dann mithilfe ikonisch-indexikalischer Zeichen – der Fuß des Herrn auf dem Kopf des Sklaven – als Unterwerfungsgeste nur noch explizit macht. Erneut stellt sich die Frage: Wie kommt es zu dieser Machtunterwerfung? Welche Kräfte sind hier im Spiel? Sie haben ihre Wurzel in der Phase der Machtanbahnung. Das Auftreten von Robinson selbst, so wie der Kontext dieses Auftretens, lassen sich als ein Arrangement von Zeichenmitteln verstehen, die regelmäßig mit unmittelbaren Interpretanten wie Unterlegenheitsgefühl, Respekt, Furcht etc. verbunden sind, wenn eine solche Praxis besteht. Besteht eine solche eingespielte Praxis, so existiert auch ein Machtcode. Er wird durch nichts anderes als eine regelmäßige Verknüpfung bestimmter Mittel mit einem bestimmten Interpretanten gebildet, d.h. er besteht aus symbolischen Zeichen im Sinne von PEIRCE, deren Interpretanten nicht logischer Natur, sondern emotionaler Art sind. Robinson und Freitag beziehen sich über alle kulturellen Unterschiede hinweg auf einen solchen 19
Vgl. zu diesem Sprachgebrauch J. R. SEARLE, Social Ontology and Political Power, in: F. F. SCHMITT (Hg.), Socializing Metaphysics. The Nature of social Reality, Lanham/Boulder/ New York/Oxford 2003, S. 9. Searle verzichtet allerdings darauf, den Begriff „deontische Macht“ zu analysieren.
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rudimentären Code. Da ist einmal das martialische Aussehen von Robinson, der Säbel, den er trägt und den in ähnlicher Form, nämlich in einer Holzversion, auch die Wilden gebrauchen. Und da ist die dem Wilden unbekannte Waffe, das Gewehr, dessen für ihn unerklärliche Fernwirkung erst recht geeignet ist, Furcht und Schrecken einzujagen. Sie verstärkt hier ad hoc den bestehenden Machtcode. Ein solcher Machtcode und der Besitz von Machtressourcen erhöht die Wahrscheinlichkeit des Gelingens der Machtanbahnung. Oft genug scheitern solche Versuche – jedenfalls in freier Wildbahn. Sie scheitern immer noch mit größerer Wahrscheinlichkeit in dem Bereich nicht-konventioneller und außerinstitutioneller Handlungsräume (der Autofahrer, der es ablehnt, einen Anhalter mitzunehmen), gelegentlich auch im konventionellen Bereich (der Gruß, der nicht erwidert wird), doch fast nie im institutionellen Bereich. Die Promotionskommission kann nicht anders als die Arbeit anzunehmen, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind; der Finanzbeamte kann nicht anders, als die Eintragung in die günstigere Steuerklasse vorzunehmen, wenn es sich um Eheleute handelt. Die anschlusshandelnden Akteure sind hier bestimmten Regeln unterworfen, deren Verletzung zu empfindlichen Sanktionen führt. Durch seine Mitgliedschaft in der Institution ist der Akteur auf eine bestimmte Handlungsweise festgelegt. Er soll so handeln, wie er handelt. Doch was bedeutet „Sollen“ ontologisch? In dem bisher entwickelten Rahmen bedeutet es die Festlegung der Akteure auf bestimmte Geschichten, nämlich auf genau die Geschichten, die eine bestimmte Proposition wahr machen. Ontologisch betrachtet sind Institutionen also Akteure, die für institutionsunterworfene Akteure deontische Geschichten festlegen. Institutionsunterworfener zu sein heißt, auf eine bestimmte Geschichte festgelegt zu sein. Wie ist das zu verstehen, ohne die Erwartungen zu enttäuschen, die wir mit den Annahmen einer freien Wahl und einer indeterminierten Zukunft in Bezug auf Handlungen als wahr unterstellen? Kein Akteur kann so auf einen anderen Akteur einwirken, dass er gleichsam in dessen Haut schlüpft, um dessen Handlungen auszuführen. Gleichwohl kann er in dessen kausalen und normativen Verantwortungsbereich eingreifen:20 Kausal, indem er ihm Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stellt, die ihn zu Handlungen befähigen, die er vorher nicht ausführen konnte. Ohne die Einrichtung der entsprechenden Ressourcen durch die Universitäten kann kein Akteur promovieren. Und – weitaus folgenreicher – normativ, indem er in den Verantwortungsbereich des anderen eingreift, diesen modifiziert oder gar neu gestaltet. Damit übernimmt dieser Akteur zwar nicht die normative Verantwortung für die Handlungen des anderen, wohl aber die normative Verantwortung für dessen normative Verantwortung. Institutionelle Akteure wie der Sächsische Landtag mit dem Hochschulgesetz und die TU Dresden mit den Ba20
Vgl. dazu S. GANTER / H. WANSING, Normative Verantwortung für Handlungen anderer, in: G. SCHÖNRICH / H. WANSING, Dresdner Berichte in Theoretischer Philosophie und Philosophischer Logik 11 und G. SCHÖNRICH, Machtausübung und die Sicht der Akteure. Ein Beitrag zur Theorie der Macht, in: G. MELVILLE (Hg.), Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 383-409.
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chelor-Studienordnungen gestalten den normativen Verantwortungsbereich der Studierenden. Die TU Dresden ist zwar nicht dafür verantwortlich, dass ein Student der Philosophie z.B. rechtzeitig den Grundkurs Logik besucht; verantwortlich für diese Handlung ist und bleibt allein der Student durch die Wahl, die er trifft. Die TU Dresden ist aber dafür verantwortlich, dass diese Lehrveranstaltung als Teil eines Moduls definiert und angeboten wird, d.h. sie ist verantwortlich für die Gestaltung des Verantwortungsbereichs des Studenten. In Institutionen ist nun die Übernahme des Tun-Sollen-Operators von x auf y garantiert. In freier Wildbahn muss durch den Einsatz von Machtressourcen und aufwändigen semiotischen Strategien eine solche normative Ordnung erst errichtet werden – mit allen Risiken des Scheiterns. Freitag muss sich der Anbahnungsmacht von Robinson nicht unterwerfen, wenn er sich der Nötigung die Geste Robinsons überhaupt zu individuieren, entzieht. Sein Verhalten mag einen Preis haben, aber solange es zu keinem Gemeinschaftshandeln kommt, ist die Menge der möglichen Geschichten für ihn durch die Geste Robinsons deontisch nicht restringiert. Unser Student hingegen kann gar nicht anders als die Studienordnung mit ihren Vorgaben als eine Verpflichtung hinzunehmen, in die er schon eingetreten ist. Durch seine Mitgliedschaft in der Institution TU Dresden ist für ihn die Menge der möglichen Geschichten auf die mit dem Resultat A klassifizierten Geschichten restringiert. Dieser Festlegung kann sich der Institutionsunterworfene nicht entziehen, es sei denn durch die Exit-Option, die Aufkündigung der Mitgliedschaft (hier im Beispielsfall die Exmatrikulation). Totale Institutionen sind daran erkennbar, dass sie diese Option ausdrücklich nicht zulassen. Mit welchem Recht dürfen konstitutive Regeln überhaupt unter dem Titel „Normativität“ geführt werden? Die Rolle konstitutiver Regeln darf nicht unterschätzt werden, sie sind zu Recht das Lieblingskind der Institutionentheorie.21 Anders als präskriptive Regeln können sie zwar institutionelle Tatsachen wie Ehen, Geld, Straftatbestände etc. schaffen, leiden jedoch an einem gravierenden Normativitätsdefizit. Was aber hindert daran, konstitutive Regeln als Grenzfall der in ihrem normativen Status unbezweifelbaren präskriptiven Regeln aufzufassen, nämlich als stark übercodierte präskriptive Regeln? Nach M. BLACK ist die Differenz zwischen konstitutiven und präskriptiven Regeln nicht absolut. Jede präskriptive Regel lässt sich in eine konstitutive umwandeln, indem die von der präskriptiven Regel bestimmte Handlungsweise als Handlungstypus eigenen Rechts bestimmt wird.22 (In umgekehrter Richtung funktioniert der Transformationsprozess natürlich genauso.) Betrachten wir die Sache mit einem semiotischen Blick. Auch präskriptive Regeln werden in einem Zeichenraum angewandt, allerdings in einem nur dünn codierten Zeichenraum, der Verletzungen und Abweichungen ermöglicht, wenn nicht sogar begünstigt. Mit jeder Codierung gewinnt der Zeichenraum nun an 21 22
Vgl. die herausgehobene Rolle dieses Regeltypus bei J. R. SEARLE, The Construction of Social Reality, London 1995. Vgl. M. BLACK, Models and Metaphors, Ithaca/N.Y. 1962, S. 123f.
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„Dichte“.23 Unter dem Grenzfall eines durchgängig dichten Zeichenraums wäre dann ein Zeichenraum zu verstehen, der zwischen zwei Codierungen stets eine weitere Codierung bereithält. Hier gibt es keine Lücke für bewusste oder irrtümliche Regelverletzungen mehr. Eine Regelbefolgungsgemeinschaft, die Regelverletzungen absolut ausschließen möchte, wird also präskriptive Regeln durch starke Übercodierungen in konstitutive Regeln umformen. Jetzt gelten bestimmte Handlungen als etwas, das als unzulässig ausgeschlossen wird. Aus dem Nicht-SeinSollenden wird ein Nicht-Seiendes, aus einer inkorrekten Praxis eine Nicht-Praxis. So kommt z.B. in den meisten westlichen Regelbefolgungsgemeinschaften eine Ehe nur mit einem einzigen und verschieden-geschlechtlichen Partner zustande, andere Kombinationen sind nicht etwa misslungene Regelanwendungen oder bewusste Regelverletzungen; sie gelten einfach nicht als Ehe. Die Verdichtung durch codierende Zeichen ist hier so weit fortgetrieben, dass kein Spielraum für Abweichungen der Regelbefolgungspraxis bleibt. Jeder mögliche Zug in der Partnerwahl stößt wieder auf eine Codierung. Es darf nur ein einziger Partner sein, er muss verschieden-geschlechtlich sein, er muss ein bestimmtes Mindestalter haben, bestimmte Verwandtschaftsgrade sind ausgeschlossen etc. In dieser genetischen Perspektive erscheinen konstitutive Regeln als erstarrte präskriptive Regeln – sie sind gleichsam sedimentierte präskriptive Normativität. Der Erosionsprozess konstitutiver Regeln und damit die Rückgewinnung ausgedünnter Zeichenräume, die inkorrektes Regelfolgen ermöglichen, beginnt entsprechend mit einer De-Codierung, im Ehe-Beispiel indem etwa schrittweise die Bedingung der Verschiedengeschlechtlichkeit aufgeweicht wird.
5. Direktive Normativität und Durchsetzungsmacht Je stärker eine Praxis ihre Handlungsräume mit konstitutiven Regeln durchsetzt, desto dichter wird Regelfolgen. Verdichtetes Regelfolgen ist als eine Vorstufe von Institutionen anzusehen. Gewiss sind Institutionen nicht mono-prozessual zu erklären. Aus einem Diskussionsprozess wird noch keine Institution, bloß weil sich der Handlungsraum der beteiligten Akteure verdichtet hat. Dass man in einem bestimmten Kontext z.B. nicht einfach bestimmte Armbewegungen vollführen kann, ohne aufgerufen zu werden, dass man, hat man einmal das Wort, nicht beliebige Äußerungen beliebig lange tun darf, rechtfertigt noch nicht die Rede von einer Institution. Institutionen bilden sich auch nicht allein dadurch, dass mehrere verschiedene Prozesse miteinander gekoppelt und ineinander fundiert werden. Sicher sind in einer Institution, wie z.B. der TU Dresden, Diskussionsprozesse in Forschungsprozessen fundiert, was aus Diskussionen dann wissenschaftliche Diskussionen macht. Und Forschungsprozesse wiederum sind in Verteilungs- und Entscheidungsprozessen fundiert etc. Zu Institutionen gehört jedoch mehr als die Verkoppelung von Handlungsprozessen; sie geben sich eine quasi-personenhafte
23
Vgl. zu diesem Begriff N. GOODMAN, Sprachen der Kunst, Frankfurt a.M. 1995, S. 133ff.
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Identität (worauf der Term „juristische Person“ verweist) und gelten als Entitäten, die selbst die Fähigkeit haben, zu handeln. Aus dem Stabilisierungsmechanismus, den wir Regelbefolgungsgemeinschaften bisher zugeschrieben haben, sind diese Leistungen nicht alleine zu erklären. Die Logik des abduktiven Schlussverfahrens ließ sich so charakterisieren: Wenn die angenommene Regel R (die einen Handlungstyp H* hinsichtlich seiner Korrektheitsbedingungen beschreibt) gilt, dann ist (vorbehaltlich weiterer Bestätigungen) die (Ausgangs-)Handlung H im Blick auf die resultierende (Anschluss-)Handlung) G ein Fall des Handlungstyps H*. Nun gilt die Anwendung von Schlussverfahren gemeinhin als sicherer Ausdruck von Rationalität. Interaktionen, die sich nicht nach dem inferenziellen Muster der Abduktion organisieren, nehmen gar nicht erst die Qualität eines Handlungsprozesses an. Die als Abduktion charakterisierte Rationalitätsstufe ist deshalb conditio sine qua non für Regelbefolgungspraxen und ihre Regelbefolgungsgemeinschaften. Regelbefolgungsgemeinschaften, die wir als personenhafte und handlungsfähige Entitäten ansehen, müssen stärkeren Rationalitätsanforderungen genügen. In der direktiven Normativität unserer Praxen ist eine solche höhere Rationalitätsstufe auch manifest. Direktive Normativität ließ sich nach dem Schema: „Wenn du X erreichen willst, musst du Y tun“ rekonstruieren. Man kann nicht ernsthaft X wollen und nicht Y tun (vorausgesetzt es gibt keine anderen gleichwertigen Mittel). So wie die konstitutive Normativität von Regelbefolgungsgemeinschaften im inferenziellen Verfahren der Abduktion ihr Rationalitätsmuster findet, so wird die darauf aufbauende direktive Normativität im inferenziellen Verfahren der Deduktion manifest. Deduktionen setzen etablierte Regeln und geprüfte Fälle als Prämissen voraus und ziehen daraus die Konsequenzen. Ein solches Verfahren könnte auch von einer logischen Maschine angewendet werden; es verwirklicht eine strenge Konsistenzforderung, den modus ponens: „Wenn X, dann Y. Nun X. Also Y.“ (Und entsprechend im modus tollens: „Wenn nicht Y, dann nicht X. Nun nicht Y. Also nicht X.“). P. PETTIT hat diese Konsistenzanforderung anhand von Entscheidungsprozessen innerhalb von Gruppen genauer untersucht.24 Als Modell-Beispiel dient ihm eine Betriebs-Belegschaft, die auf folgende Weise in ein Dilemma gerät. Sie stimmt über die Frage einer Arbeitsschutzeinrichtung unter den Rubriken: „Ernsthafte Gefahr“, „Effektive Maßnahme“ und „Finanzierbarer Verlust“ überwiegend mit „Ja“ ab, unter der Rubrik, welche die Zustimmung zu dem zu entrichtenden eigenen Geldbeitrag enthält, jedoch überwiegend mit „Nein“. Ein solches Handeln ist nicht konsistent, da es gegen den modus ponens verstößt. Man kann bei Strafe des Rationalitätsverlustes nicht den Prämissen zustimmen, die daraus gezogene Konsequenz jedoch negieren. Für PETTIT ist die Erfüllung der Konsistenzforderung schon hinreichend, um Regelbefolgungsgemeinschaften (in der Terminologie von PETTIT heißen sie: „Gruppen“) durch Kollektivierung dieser Rationalitätsform zu 24
Vgl. P. PETTIT, Groups with Minds of Their Own, in: SCHMITT, Socializing Metaphysics (wie Anm. 19), S. 167-193.
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„intentionalen Subjekten“ und damit zu personenhaften Identitäten zu transformieren.25 Institutionen wären demnach aus dem Geiste direktiver Normativität geboren bzw. nimmt man unsere Überlegungen zu dem abduktiven Verfahren hinzu, aus dem Geiste direktiver und konstitutiver Normativität. Gegen diese schnelle Lösung spricht nicht nur, dass einige Merkmale wie z.B. Grade des Fürwahrhaltens von natürlichen Personen nicht auf Institutionen übertragbar sind (was PETTIT durchaus sieht26), dagegen sprechen die von PETTIT völlig unterschätzten ontologischen Schwierigkeiten. Ist das angenommene intentionale Subjekt ein Mitglied der Regelbefolgungsgemeinschaft neben den anderen? Ist es identisch mit einigen oder mit allen Mitgliedern? Oder ist es eine Art supervenierende Entität auf den Mitgliedern? Vor allem aber bleibt ungeklärt, wie sich Regelbefolgungsgemeinschaften auf sich selbst (z.B. durch den indexikalischen Gebrauch von Ausdrücken wie „wir“) beziehen und damit als „Selbst“ darstellen können. Auch wenn sich diese auf eine höherstufige Identität gerichteten weiterreichenden Erwartungen theoretisch (noch nicht) erfüllen lassen, wird mit der Zuordnung des Rationalitätstyps „Deduktion“ zu dem direktiven Normativitätstyp auch ein Machttyp identifizierbar. Der Monotonie des logischen Musters entspricht der Zwangscharakter einer bestimmten Art von Regeln, nämlich Regeln des Rechts. Eine ebenso einfache wie unmittelbar einleuchtende Konstruktion des normativen Ordnungsmusters, das wir als Rechtszustand beschreiben, unterwirft den Handlungsraum dem Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung. Die Deutungsmacht konstitutiver Normativität wandelt sich zur Durchsetzungsmacht: X gilt nicht nur als Y, sondern zieht Y notwendig nach sich. Der logischen Notwendigkeit dieses Rationalitätstyps entspricht auf der sozialen Ebene die zwangsbewehrte Durchsetzungsmacht der rechtlich verfassten Regelbefolgungsgemeinschaft. Demjenigen, der das Recht verletzt, wird diese Verletzung in strenger Konsequenz auch vergolten. „Wenn X, dann Y. Nun X. Also Y.“ Mit dem Eintritt in eine Praxis, die als Rechtszustand charakterisiert ist, hat jeder Akteur dieses Prinzip als Rationalitätsbedingung dieser Art von Regelbefolgungsgemeinschaft faktisch anerkannt. Dabei geht es nicht um die Beschreibung und Bewertung der Inhalte der befolgten Regeln (sie mögen sein, welche sie wollen), sondern um eine formale Qualität dieser Praxis. Am klarsten hat dieses Modell wohl KANT formuliert: „Das Gesetz eines mit jedermanns Freiheit notwendig zusammenstimmenden wechselseitigen Zwanges, unter dem Prinzip der allgemeinen Freiheit, ist gleichsam die Konstruktion jenes Begriffs, d.i. Darstellung desselben in einer reinen Anschauung a priori, nach der Analogie der Möglichkeit freier Bewegungen der Körper unter dem Gesetze der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung.“27 Für KANT ist 25 26 27
Vgl. ebd., S. 180ff. Vgl. ebd., S. 182. I. KANT, Die Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, hg. von W. WEISCHEDEL, Wiesbaden 1956, Bd. 4, S. 340 (A 37).
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dieser Zusammenhang analytisch: Die Befugnis zu zwingen, d.h. die Durchsetzungsmacht gegen den Rechtsverletzer zu wenden, leitet KANT daraus ab, dass die Hindernisse der äußeren Freiheit selbst zu verhindern sind. Die Verhinderung der Hindernisse ist im Rechtsbegriff schon enthalten: „Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten also einerlei“.28 Diese Art von Normativität ist also begrifflich mit Macht verbunden. Hier geht es nicht mehr um die Selektion deontisch relevanter Geschichtsverläufe durch Deutungsmacht, sondern um eine von dem persönlichen Einsatz der Akteure losgekoppelte und insofern entpersonalisierte Machtunterworfenheit. Ein der Durchsetzungsmacht unterworfener Akteur kann nicht nur nicht mehr wählen, ob er in einer bestimmten Situation in eine Gemeinschaftshandlung eintritt oder nicht; er kann sich bei der stets möglichen Normverletzung den Konsequenzen nicht durch Gebrauch von Gegenmacht entziehen. Er hat mit seiner Mitgliedschaft auch die Konsequenzen der Normverletzung auf sich genommen.
6. Präskriptive Normativität und machtgestützte institutionelle Gemeinschaftshandlungen Nun sind mit der Beschreibung von Abduktion und Deduktion die verfügbaren Rationalitätsmuster noch nicht ausgeschöpft. Folgt man der PEIRCEschen Analyse, gilt die Induktion als die höchste Stufe von Rationalität, weil nur dieses Verfahren Selbstkontrolle durch Selbstkorrekturen erlaubt.29 Regeln (Gesetze) werden induktiv erschlossen. Ausgehend von methodisch ausgewählten Proben (z.B. aus dem Sack von Bohnen) wird durch Generalisierung eine Prognose für alle weiteren Proben gewonnen. Das induktive Verfahren ist zukunftsbezogen; es beeinflusst zukünftige Handlungen, indem sie diese der erschlossenen Regel unterstellt. Dieser epistemischen Leistung entspricht im sozialen Bereich die Leistung präskriptiver Normativität, in der zukünftiges Handeln unter die Kontrolle von GebotsVerbots- und Erlaubnisregeln gestellt wird. Solche Regeln können im Unterschied zu deduktiv und abduktiv verfassten Regeln verletzt werden (so wie die epistemische Prognose falsifiziert werden kann). Die korrespondierenden Sanktionen haben jedoch weder den Machtcharakter der Exkommunikation noch den der zwangsbewehrten Durchsetzung; sie dienen der Korrektur des Handelns. In dem Maße wie Regelbefolgungsgemeinschaften in ihren Praxen Handeln nicht nur im Blick auf eine etablierte Regel korrigieren, sondern auch die etablierte Regel selbst ändern und durch andere Regeln ablösen können, dürfen sie als selbstkorrigierend verstanden werden. Regelbefolgungspraxen verhalten sich, was ihre Regeln angeht, 28 29
Ebd. Vgl. C. S. PEIRCE, Collected Papers 5.579. Ausführungen zu den drei Schlussformen finden sich bei Peirce im gesamten Oeuvre verstreut. Sie repräsentieren wegen der sich über eine lange Zeit erstreckenden Entwicklung seines Denkprozesses natürlich kein völlig einheitliches Bild. Für eine Rekonstruktion vgl. zuletzt R. MÜLLER, Die dynamische Logik des Erkennens von Ch. S. Peirce, Würzburg 1999, bes. S. 69ff.
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nicht nur selbstschöpferisch, sondern auch selbstkorrigierend und damit insgesamt selbstkontrollierend. Dass sich dieser Prozess, wie in diesen wenigen Bemerkungen freilich nur angedeutet, tatsächlich als induktiv-inferenziell modellieren lässt, ist ein starker Hinweis auf eine dritte Rationalitätsstufe, die erfüllt sein muss, wenn wir soziale Entitäten als Institutionen charakterisieren. Welcher Machttyp entspricht diesem Rationalitätsmuster und der daran gekoppelten präskriptiven Normativität? Stellen wir uns einen reichen Sponsor mit Sitz im Kuratorium eines von Zustiftungen abhängigen Forschungsinstituts vor. Er könnte, wenn er wollte, einen erheblichen Teil der Mittelzuflüsse stoppen, sollte die Forschungsarbeit nicht in die von ihm gewünschte Richtung gehen. Im Unterschied zu den bisher diskutierten Typen von Machtausübung wird hier im strengen Sinne gar keine Macht ausgeübt. Der Sponsor bemüht keine Deutungsmacht und erst recht keine Durchsetzungsmacht. Er verfügt über Machtbesitz. Machtbesitz besteht freilich in möglichen Machtausübungen. Mögliche Machtausübungen sind keine wirklichen und damit beobachtbaren Handlungen. Tatsächlich gäbe die Zuschreibung von Machtbesitz ein Rätsel auf, könnten wir den Machtbesitz nicht in sog. „kontrafaktischen Konditionalen“ beschreiben, wie z.B. „Wenn die Ehefrau y das Dior-Kleid kaufen würde, dann würde der Ehemann x die Kreditkarte sperren“ Oder: „Wenn der Institutsdirektor y das Forschungsprogramm ändern würde, dann würde der Sponsor x die Mittel stoppen“. Obwohl es zu keiner einzigen Machtausübung kommt, weil die Leitung des Instituts stets im Sinne des Sponsors entscheidet, hat der Sponsor doch Macht über das Institut. Auch hier lässt sich die Ontologie solcher machtstrukturierten HandlungsAbhängigkeiten mit Hilfe eines „branching-time“-Diagramms veranschaulichen:
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Die ontologische Dimension von institutioneller Macht
Abb. 4:
…
h2
h3
h4
A
A
A
B
B
B m3
[x: S]
[x: K]
m2 [y: F] [y: G] m1 .....
[x: H]
In m1 führt der Akteur x die Handlung H aus, um das G-tun von y in m2 zu erreichen. Nehmen wir dafür an, der Sponsor x artikuliere mit der Handlung H seinen Wunsch, ein bestimmtes Forschungsprogramm verwirklicht zu sehen – das ist der von ihm präferierte, in Proposition A beschriebene Sachverhalt, der durch das Gtun des Institutsdirektors y herbeigeführt wird. Der Akteur y hat sich der Macht unterworfen, indem er den Tun-Sollen Anspruch des Akteurs x akzeptiert hat. Freilich möchte Akteur y statt G lieber F tun, nämlich ein anderes Forschungsprogramm verfolgen – das ist der von y präferierte Sachverhalt A. Dennoch – so wollen wir annehmen – vollzieht der Akteur y in m2 die Handlung G, weil er erreichen will, dass der Sponsor x S tut, nämlich als positive Sanktion (Belohnung) Mittel fließen und damit den Sachverhalt wahr werden lässt, der in der Proposition B beschrieben ist. Mithin beruht die Machtausübung von x auf y in der Herstellung einer Abhängigkeit zwischen dem G-tun von y in m2 und dem S-tun von x in m3. Im Unterschied zu den Annahmen, die ein absoluter Beobachter von einem externen Standpunkt macht, werden die Überlegungen, die zu der Entscheidung von y führen, zwischen den Momenten m1 und m2 angestellt; sie sind aus der Perspektive des Akteurs y auf die möglichen Zukünfte gerichtet, die sich in Abhängigkeit von seiner Wahl in m2 ergeben können. Im Moment m2 muss sich dieser Akteur y zwischen dem G-tun und dem F-tun entscheiden. Unter der Annahme einer indeterminierten Zukunft sind die Geschichten h3 und h4 keine Verläufe, deren Zustande-
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Gerhard Schönrich
kommen der Akteur y durch seine Wahl garantieren kann. Ob die Zukunft den Verlauf h3 oder h4 nimmt, darüber entscheidet der Akteur x. Er könnte mit [x: K] die Belohnung ja trotz der Vorleistung von y auch nicht auszahlen, denn der Akteur x ist erst nach der Wahl von y in m3 am Zuge. In der Perspektive von Akteur y ist diese Wahl also mit Unsicherheiten behaftet, nicht dagegen für den Akteur x; dieser hätte bekommen, was er wollte, denn beide Geschichten h3 und h4 führen den von Akteur x präferierten Sachverhalt A herbei. Selbst wenn sich der Akteur y sicher sein könnte, dass Akteur x die Belohnung auszahlen würde, falls er G tun würde, bliebe die Schwierigkeit bestehen: Da die Herstellung von Abhängigkeiten unter den geschichtlichen Verläufen perspektivisch erfolgen muss, stellt sich die Wahl für y als kontrafaktisches Konditional dar: „Wenn y G in m2 tun würde, würde x in m3 die Belohnung S auszahlen“. Das bisherige Verhalten von Akteur x gibt keinen Anlass anzunehmen, dass er sich in diesem gegebenen Fall anders verhalten würde. Der Sponsor hat die Belohnung bisher immer ausgezahlt. Die Vorleistung des Institutsdirektors hat für den Sponsor Gebotscharakter: er soll die Belohnung auszahlen. Natürlich kann die Erwartung des Institutsdirektors auch enttäuscht werden, was sofort zur Selbstkorrektur des bisherigen Verhaltensmusters führen würde. Solange aber das Verhaltsmuster induktiv als bestätigt gilt, ist das G-tun von y die Komponente einer Gemeinschaftshandlung, deren andere Komponente das S-tun von x bildet. Nur wenn Akteur y G tut und Akteur x S tut, kommt in h3 das erwartete Ergebnis zustande. Abb. 5:
….
…
h3
h4
A
A
B
B
[x: S]
…
m3
Akteur x
[y: I] … [x: K] m2 [y: F]
[y: G] Akteur y
Indes bleiben auch in einer Gemeinschaftshandlung die Akteure in ihrer Wahl frei. Sollte der Sponsor x unerwarteter Weise K tun (also die Auszahlung unterlassen),
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obwohl der Institutsdirektor y G wählt, treten institutionelle Sicherungen in Kraft, z.B. die, dass der Institutsdirektor den Sponsor in m3 auf Erfüllung seiner Zusage verklagen könnte (y: I), und damit seinerseits Macht auf x ausüben könnte. Und er könnte im Falle des gerichtlichen Obsiegens für die Erfüllung seiner Erwartung auch die Durchsetzungsmacht in Anspruch nehmen. Der Akteur x wird die Gemeinschaftshandlung vorziehen und die erwartete Belohnung auszahlen, wenn er nicht bereit ist, die Kosten für seine Weigerung zu übernehmen. Solche machtgestützten Gemeinschaftshandlungen sind typisch für Institutionen. Sie zeigen, wie eng konstitutive, direktive und präskriptive Normativität und die ihr entsprechenden Machttypen miteinander verwoben sind. Einmal mehr wächst Institutionen eine entlastende Funktion zu: Sie entlasten im Fall von Belohnungsversprechen den machtunterworfenen Akteur von dem Risiko, trotz Vorleistung seine Belohnung nicht zu bekommen. Und natürlich auch umgekehrt: Im Falle negativer Sanktionen entlasten sie den machtausübenden Akteur von dem Risiko, dass der machtunterworfene Akteur die gewünschte Handlung nur deshalb nicht ausführt, weil er hofft, ohne negative Sanktion davonzukommen. Institutionen machen aus der Kontrafaktizität der Macht eine Quasi-Faktizität. Die mögliche Geschichte h4 zeitigt zwar dasselbe Resultat wie die aus der Gemeinschaftshandlung resultierende Geschichte h3. Gleichwohl wäre in diesem Fall jedoch der Machtmechanismus zwischen den Akteuren empfindlich gestört. Beide Akteure werden, wenn sie ihre Beziehung nicht abbrechen, induktiv eine neue Machtbalance finden müssen. Der machtunterworfene Akteur darf die Einhaltung der Regeln auch ohne Inanspruchnahme institutioneller Durchsetzungsmacht erwarten. Damit ist die eingangs erwähnte soziologische Definition von Institutionen als Erwartung über die Einhaltung bestimmter Regeln handlungs- und institutionenontologisch unterlegt.
VON DER „CENTRALE DER SOZIALISTISCHEN WELT“ STELLVERTRETERORT DER SOZIALISTISCHEN KONSUMGESELLSCHAFT.
1
ZUM
Architektonische Machtrepräsentationen und Geltungsbehauptungen am „Zentralen Ort“ in Ostberlin TINO HEIM „Architektur ist eine Art Macht-Beredsamkeit in Formen.“2 Friedrich NIETZSCHE „Jede Stadt […] ist ein getreues Abbild der ökonomischen Basis, der sie ihre Entstehung verdankt. Es wäre […] an der Zeit auch die Vorteile des Sozialismus am Beispiel der sozialistischen Stadt […] zu verdeutlichen. Viele Menschen wären mit einer Darstellung des neuen Verhältnisses von Umwelt, Stadt, Architektur und Gesellschaft leichter […] für die Sache des Sozialismus zu gewinnen, als mit dem Studium eines dicken Lehrbuchs der politischen Ökonomie.“3 Gerhard KOSEL
1. Macht, Orte, Räume, Architektur – Systematische Vorüberlegungen Soziale Ordnungen sind immer auch mit der Strukturierung von Räumen verbunden, die oft auf Konkretisierung von Sinn in spezifischen, dem Raum eingeschriebenen Verortungen beruht.4 Topographie und Vegetation, vor allem aber architektonische Gestaltungen können Medien solcher Einschreibungen werden. Die symbolische Besetzung ist dabei gesellschaftlichen und historischen Wandlungen unterworfen, in deren Verlauf sich auch projektierte oder realisierte Bebauungen und deren Sinngehalte und Potentiale als Räume sozialen Handelns verändern. Kirchen können Pferdeställe, Moscheen und Museen; Industriebrachen Kulturdenkmäler 1
2
3 4
Bezeichnung für das „Zentrale Gebäude“ in einem Entwurf von Hans Hopp vom 8.12.1957, in: P. MÜLLER, Symbolsuche. Die Ostberliner Zentrumsplanung zwischen Repräsentation und Agitation, Berlin 2005, Abb. 70a. F. NIETZSCHE, Götzendämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophiert, in: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bd.en, hgg. von G. COLLI / M. MONTINARI, München/New York 1980, Bd. 6, S. 118. G. KOSEL, Unternehmen Wissenschaft. Die Wiederentdeckung einer Idee. Erinnerungen, Berlin 1989, S. 158. Vgl. hierzu besonders M. LÖW, Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001, v.a. S. 152-230 sowie M. SCHROER, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt a.M. 2006.
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werden. Orte und Räume sind damit offenbar Produkte sozialer Konstruktionsarbeit, sie sind aber gleichzeitig prädestiniert, die Bedeutungen, mit denen sie im Handeln und Sprechen besetzt werden, als ihre intrinsische Eigenschaft erscheinen zu lassen. Sie wirken insofern als „Präsenzsymbole“, die nicht nur auf etwas verweisen, sondern es real verkörpern.5 Deutlich wird dies an „heiligen Orten“, aber auch noch in jeder Rede vom Genius loci.6 Konkretisierung durch Verortung und Strukturierung von Räumen ist daher von jeher ein zentraler Mechanismus der Repräsentation und Verstetigung von sozialen Praktiken und Geltungsbehauptungen. Durch ihre „Funktionalität“ und „nonverbale Suggestivität“ kann Architektur dabei als ein herausgehobenes „Medium des Sozialen“ verstanden werden, da sie durch Präfiguration des Raums und Markierung von Orten „je bestimmte Bewegungen und Wahrnehmungsleistungen nahe legt und soziale Interaktionen v o r s p r a c h l i c h und damit vor jeder Distanzierung strukturiert“.7 Dadurch werden gesellschaftliche Realitätskonstruktionen mit einer besonderen U n m i t t e l b a r k e i t s s u g g e s t i o n ausgestattet. Vor diesem Hintergrund ist die Besetzung von Orten und die Strukturierung von Räumen in einem doppelten Sinne mit Macht verknüpft, so dass Architektur über lange Zeit als „die politischste aller Künste“8 galt. Einerseits hängt es von historisch gegebenen gesellschaftlichen Machtkonstellationen und Konfliktlinien ab, was wo und wie gestaltet wird und welche Interessen, Vorstellungen und Leitbilder – funktionaler wie ästhetischer Art – sich im Wortsinne verkörpern.9 Architektur erscheint in diesem Sinne a u c h als Produkt von Macht im klassischen Sinne einer „Durchsetzungsmacht“,10 die sich in diesem Medium, ob intendiert oder nicht, repräsentiert. Andererseits sind solche baulichen Manifestationen nicht nur offensive oder verschlüsselte Zeichen für Machtverhältnisse und -ansprüche, sie bilden vielmehr auch Medien „symbolischer Macht“ im Sinne Pierre BOUR5
6 7
8 9
10
Vgl. K.-S. REHBERG, Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien, in: G. MELVILLE (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 3-49. Vgl. zu dieser Suggestivität symbolisch besetzter Orte auch LÖW, Raumsoziologie (wie Anm. 4), S. 198-202. H. DELITZ, Ville Contemporaine und BMW-Zentralgebäude. Architektursoziologische Studien der ‚Klassengesellschaftlichkeit’, in: G. GEBHARD / T. HEIM / K.-S. REHBERG (Hgg.), „Realität“ der Klassengesellschaft – „Klassengesellschaft“ als Realität?, Münster 2007, S. 221-255, hier S. 223. Vgl. ausführlich DIES., Architektur als Medium des Sozialen. Ein Vorschlag zur Neubegründung der Architektursoziologie, in: Sociologia Internationalis 43/1-2 (2005), S. 1-23. K. v. BEYME, Die Kunst der Macht und die Gegenmacht der Kunst, Frankfurt a.M. 1998, S. 311. Augenfällig ist das in der traditionellen Konkurrenz weltlicher und sakraler Bauten um Höhendominanz und Blickbeziehungen oder in der modernen Konkurrenz der Unternehmenshochhäuser; in bescheidenerem Maßstab auch in den baulichen Stellvertreterkämpfen zwischen proletarischen „Volkshäusern“ und bürgerlichen Kulturinstitutionen um kulturelle Vertretungs-, Hegemonie- und Autonomieansprüche. Vgl. die klassische Macht-Definition von M. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972, S. 28, als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“.
Von der „Centrale der sozialistischen Welt“
333
DIEUs. Dies meint nicht nur die Macht, Symbole zu setzen, sondern vor allem eine Macht, die ihren Machtcharakter vergessen macht, um als „Macht zur Durchsetzung der Anerkennung der Macht“11 zu wirken. Dies beruht für BOURDIEU primär auf der Herstellung einer Selbstverständlichkeit und Quasi-Natürlichkeit gesellschaftlicher Machtverhältnisse durch ihre Sedimentierung in H a b i t u s f o r m e n ,12 die in den sinnbesetzten H a b i t a t e n gebauter Räume eine Grundlage und Stütze finden können.13 Die Euphemisierung von Macht und die Fundierung ihrer gesellschaftlichen Anerkennung durch architektonische Gestaltung kann erstens darauf beruhen, dass Legitimitätsbehauptungen in Baukörper und räumliche Beziehungen quasi explizit eingeschrieben werden, etwa durch Sinnbilder oder Stilzitate mit genealogischem Gehalt, wie im Klassizismus oder im „nationalen Baustil“ der frühen DDR. Auch ein offensiver Verzicht auf überkommene Repräsentationsformen kann symbolisch aufgeladen sein. So verkörperte die schmucklos-funktionale „Kreissparkassenästhetik“ der Bonner Regierungsbauten den Bruch mit der totalitären Herrschaftsrepräsentation im NS- und SED-Staat und den demokratischen Charakter der Regierung – als untergeordnete Dienstleistungseinrichtung zur Ausführung des in der Höhendominante des Abgeordnetenhochhauses repräsentierten Volkswillens.14 Solche offenkundigen Geltungsb e h a u p t u n g e n sind leicht diskursivierbar, wobei die explizite symbolische Überhöhung sich auch in hohem Maße durch explizite Argumente angreifbar macht, die den dargestelltem Anspruch hinterfragen. Demgegenüber erweist sich eine zweite, subtilere Form architektonischer Anerkennungsfundamente als wirksamer: Aufbauend auf den vorsprachlichen Funktionen und Suggestionen gebauter Räume kann Sinn jenseits expliziter Deutungs- und Interpretationsarbeit im Medium alltäglicher Umgangspraxis unterschwellig übertragen werden. Durch Architektur eröffnete (und verschlossene) Handlungs- und Wahrnehmungsräume werden dabei kollektiv und subjektiv angeeignet und tragen zum Aufbau gesellschaftlicher Selbstverständnisse und Selbstverständlichkeiten bei, die eine weitgehend präreflexive und damit in hohem Maße „einwandsimmune“15 Basis praktischer Anerkennung konstituieren. In diesem Sinne kann Architektur als Mittel der Transsubstitution von Durchsetzungsmacht, 11 12 13
14
15
P. BOURDIEU, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M 1987, S. 240. Vgl. v.a. DERS., Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1999. Vgl. die Analysen zum kabylischen Haus bei BOURDIEU, Sinn (wie Anm. 10) sowie DERS., Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: M. WENTZ (Hg.), Stadt-Räume. Die Zukunft des Städtischen (Frankfurter Beiträge 2), Frankfurt a.M./New York 1991, S. 25-34. Ein Beleg für den Bedeutungsverlust des Symbolischen kann so in der „glanzlosen symbolischen Selbstdarstellung“ der BRD nicht ausgemacht werden. Dass J. HABERMAS, Symbolischer Ausdruck und rituelles Verhalten. Ein Rückblick auf Cassirer und Gehlen, in: MELVILLE, Institutionalität (wie Anm. 5), S. 53-68, den Suggestionen dieses symbolischen „Symbolverzichts“ rückhaltlos aufsitzt, zeigt eher deren Wirksamkeit. Vgl. zum Begriff der Einwandsimmunität etwa A. GEHLEN, Urmensch und Spätkultur, Frankfurt a.M. 2004.
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die der Politologe Gerhard GÖHLER „transitive Macht“ nennt, in eine „intransitive Macht“ geteilter Überzeugungen, Einstellungen und Handlungen wirken, wie sie im Machtkonzept Hannah ARENDTs im Mittelpunkt steht.16 Die Interdependenzen von architektonischen Macht-Einschreibungen und von Anerkennungspotentialen, die mit der Deutung oder der praktischen Aneignung baulicher Verhaltens- und Kommunikationsangebote verbunden sind, werden gesteigert sichtbar an Versuchen, neue Ordnungsmuster und Geltungsbehauptungen durchzusetzen – wobei im Grenzfall dem im Wortsinne Utopischen (also Ortlosen) ein Ort gegeben werden soll. Das gut dokumentierte „sozialistische Großexperiment“ in der DDR bietet hierfür reichhaltiges Material. Besonders die mehrfach veränderten Bauvorhaben sowie die realisierte Bebauung und Nutzung des so genannten „Zentralen Orts“ in Ostberlin bilden ein symbolisches Kondensat von Versuchen architektonischer Sinnsetzung, an dem die Umbrüche in Leitideen und Geltungsbehauptungen des SED-Staates wie unter einem Brennglas sichtbar werden. Deutlich ist dabei das Scheitern der Entwürfe offensiver und expliziter Macht- und Legitimitätsbehauptung im städtischen Raum in der Ulbricht-Ära, aber auch der partielle Erfolg der Bebauung in der Ära Honecker, die auf eine sinnlich-konsumtiv erfahrbare Integration und Befriedung der Bevölkerung zielte. Diese Transformation, von der „Apotheose der staatlichen Bürokratie“17 zum Stellvertreterort einer sozialistischen Konsumgesellschaft, soll im Folgenden dargestellt werden.
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Vgl. zu dieser Unterscheidung G. GÖHLER, Macht, in: DERS. / M. ISER / I. KERNER (Hgg.), Politische Theorie. 22 umkämpfte Begriffe, Wiesbaden 2004 S. 244-261, v.a. S. 255ff. Dort ist diese analytisch tragfähige Begriffsdifferenzierung allerdings normativ aufgeladen. Die Rückführung „intransitiver Macht“ auf „transitive“ Macht, wie bei BOURDIEU, wird entsprechend problematisiert, da so keine Bestimmung „reiner“ intransitiver Macht als legitime Grundlage politischer Macht möglich sei. Vgl. DERS. / R. SPETH, Symbolische Macht, in: R. BLÄNKNER / B. JUSSEN (Hgg.), Institution und Ereignis, Göttingen 1998, S. 17-48. Demgegenüber wird hier davon ausgegangen, dass nicht nur in totalitären Systemen „transitive“ Machtverhältnisse eine Quelle „intransitiver Macht“ bilden. Vgl. auch T. HEIM, Pisa-Schock und Klassenbildung, in: GEBHARD / HEIM / REHBERG, Realität (wie Anm. 7), S. 125-177. ARENDTs Machtkonzept ist dabei anschlussfähig, da die Macht geteilter Überzeugungen und Handlungen und die organisatorische und strategisch-kommunikative Dominanz einer Minderheit über eine Mehrheit sich bei ihr keineswegs ausschließen. Vgl. H. ARENDT, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich 2001, S. 253. Auch totalitäre Systeme gründen nicht nur auf Gewalt, sondern auf Macht, und beruhe diese nur auf Ideologie, „Geheimpolizei und einem Netz von Spitzeln“ (DIES., Macht und Gewalt, München/Zürich 1970, S. 51). Die Deutung, für ARENDT läge „Macht in der faktischen Anerkennung diskursiv einlösbarer […] Geltungsansprüche“, ist eine normative Verkürzung von J. HABERMAS, Philosophisch politische Profile, Frankfurt a.M. 1987, S. 228-249, hier S. 248, und durch Ausblendung strategisch-repressiver Momente analytisch unbrauchbar. S. HAIN, Das Volkshaus der DDR, in: T. BEUTELSCHMIDT / J. M. NOVAK, Ein Palast und seine Republik. Ort – Architektur – Programm, Berlin 2001, S. 76-89, hier S. 76.
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2. (K)eine Stunde Null Bereits kurz nach der Gründung der DDR forderte Walter ULBRICHT auf dem III. Parteitag im Juli 1950 den Abriss des Berliner Stadtschlosses, um Raum für die Neubesetzung dieses „zentralen Punkts“ zu schaffen. Hier, in der historischen Mitte Berlins, wenngleich eher am Rande der zur Hauptstadt der DDR gewordenen Teilstadt, sollte in einer neuen stadträumlichen Inszenierung, „die der Bedeutung der Hauptstadt gerecht wird“, in „monumentalen Bauten die Kraft und die Stärke des Aufbauwillens und der großen Zukunft“18 demonstriert und dem Herrschaftsprinzip des „demokratischen Zentralismus“ Ausdruck verliehen werden. Dessen Zentralitätsdogmen bildeten die Grundlage der im selben Jahr beschlossenen „sechzehn Grundsätze des Städtebaus“ und den Kern des „Aufbaugesetzes“. „Bestimmung und Bestätigung der städtebildenden Faktoren“ wurden zur „ausschließlich[en] Angelegenheit der Regierung“, die Stadtzentren zum „politische[n] Mittelpunkt“ erklärt: „Das Zentrum der Stadt wird mit den […] monumentalsten Gebäuden bebaut, beherrscht die architektonische Komposition des Stadtplans und bestimmt die architektonische Silhouette“, wobei in „der Hauptstadt die Idee der Hauptstadt gestaltet werden“ müsse.19 Kennzeichnend für die damit eingeleitete Aufbau-Politik wurde eine architektonische wie bildkünstlerische Fixierung auf die Zentren der Alt- und Neubaustädte, bei paralleler Herabsetzung dezentraler und informeller Gestaltungsaufgaben. Sichtbar war das etwa im aufwendigen Aufbau des Dresdener „Altmarkts“, der dann über Jahre eine bebaute Insel im enttrümmerten Leerraum der Innenstadt blieb. Entgegen aller Fiktionen einer „Stunde Null“ des radikalen gesellschaftlichen Neuanfangs, die beide deutsche Teilstaaten in je eigener Weise kultivierten,20 wurde der Neuaufbau durch diese Fixierung auf die überkommenen Stadtzentren auch durch die materialisierte Geschichte früherer, Stein gewordener Verortungen bestimmt. Gerade am „Zentralen Ort“ Ostberlins konnte die SED nicht umhin, ihre „neuen“ Symbolsysteme auf den (hier sprichwörtlichen) Ruinen alter Symbolsysteme zu errichten, deren Material sie recycelte.21 Der in die Projekte einbezogene Teil der Spreeinsel lag an einer zum eigentlichen „Gründungsort“ Berlins stilisierten Spreefurt und war ein bevorzugter Ort der Machtrepräsentation im städtischen Raum, seitdem Markgraf Friedrich II. („Eisenzahn“) (1413-1471) die Teilstadt 18 19
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W. ULBRICHT, Die Großbauten im Fünfjahrplan. Rede auf dem III. Parteitag der SED, in: Neues Deutschland (im Folgenden = ND), 23.7.1950. Die sechzehn Grundsätze des Städtebaus vom 27.7.1950 mit Anmerkungen von Lothar Bolz, in: W. DURTH / J. DÜWEL / N. GUTSCHOW (Hgg.), Aufbau. Städte, Themen, Dokumente. Architektur und Städtebau der DDR, Bd. 2, Frankfurt a.M./New York 1999, S. 84-87. Vgl. K.-S. REHBERG, Der doppelte Ausstieg aus der Geschichte, in: G. MELVILLE / H. VORLÄNDER (Hgg.), Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 319-347. Vgl. zum Einfluss der „Ruinen“ überkommener Symbolsysteme auf neue Symbolisierungen C. CASTORIADIS, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt a.M. 1984, S. 207.
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Cölln genötigt hatte, Baugrund für die Errichtung einer Zwingburg zur optimalen Kontrolle der Doppelstadt Berlin/Cölln abzutreten. Die ausgebombte Schlossanlage, die durch den Schlüterschen Barock geprägt blieb, aber durch Umbauten bis in die Zeit des Kaiserreichs immer wieder überformt worden war, und umliegende Repräsentationsbauten – der 1905 vollendete Wilhelminische Dom, das Monumental-Denkmal für Wilhelm I., für das Wilhelm II. die Bürgerhäuser auf der ‚Schlossfreiheit’ abreißen ließ, sowie die Schinkelbauten des Alten Museums und der Bauakademie – waren so nur die letzte Gestalt einer langen Reihe von Einschreibungen gesellschaftlicher Machtverhältnisse in diesen Ort.22 An diese Tradition knüpfte die SED nun an, indem sie zunächst ab September 1950 mit der Schlossruine auch ein Symbol überkommener Herrschaftsformen entsorgte.23 Nur das Portal IV, von dessen Balkon Karl Liebknecht am 9. November 1918 die sozialistische Republik ausgerufen hatte, wurde später rekonstruiert und als Spolie in das 1964 vollendete Staatsratsgebäude integriert. So verschwand zwar ein wichtiger Haltepunkt des kollektiven Gedächtnisses,24 aber nicht nur „die günstige Lage“, als „der beste Platz für fließende und stehende Demonstrationen“, sondern auch die „besondere politische Tradition“25 prädestinierte den geschaffenen Freiraum zur Neubesetzung. An einer ‚Zentralen Achse’, von der Straße unter den Linden über den Alexanderplatz zur Stalinallee, sollten nun ein neuer ‚Zentraler Platz’ und ein ‚Zentrales Gebäude’ nebst Denkmalsanlage entstehen.26 Während aber der Zentrale Platz bereits am 1. Mai 1951 die Weihe als Demonstrationsraum und den Namen „Marx-Engels Platz“ erhielt, verging ein Vierteljahrhundert, bis mit dem „Pa-
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Vgl. zur Geschichte des Schlossareals G. PESCHKEN / J. ALTHOFF, Das Berliner Schloß, Berlin 2000. Diese „Hinrichtung eines Kulturdenkmals“ (ebd., S. 63) wird heute oft als gesteigerter Ausdruck der „Barbarei Walter Ulbrichts“ interpretiert. In Westberlin und den Stadtzentren der BRD war der Umgang mit kriegszerstörter Bausubstanz zugunsten der Neugestaltung damals jedoch kaum behutsamer. Vgl. zu dieser Funktion von Orten etwa M. HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1985. Konzeptvorlage des Ministeriums für Aufbau, 22.8.1950 (von Collein, Menzel, Henning, Berg, Junghans, Geiler und Paulick), BArch, Außenstelle Coswig, DH 1-44476. Vgl. zur Aufladung des Ortes G. KOSEL / H. HOPP / H. MERTENS, Erläuterung zum Entwurf für das MarxEngelsforum (am 7. Oktober 1959 mit Abbildungen an Walter Ulbricht überreicht), in: DURTH, Aufbau (wie Anm. 19), S. 265-267. Die Komposition enthielt neben dem expliziten Bezug auf Boris Jofans Gestaltungskonzept für Moskau auch eine unfreiwillige Reminiszenz an die Trinität von „großer Straße“, „großem Platz“ und „großer Halle“, die Berlin nach dem „Endsieg“ bestimmen sollte. Vgl. A. SPEER, Architektur. Arbeiten 1933-1942, Frankfurt a.M. 1995. Vgl. zum ungebrochenen Verhältnis zu Versatzstücken der NS-Symbolik in der DDR auch T. HEIM, „Wir ehren euch unsere Toten, die Bannerträger namenloser Kameraden.“ DDR-Antifaschismus im Spannungsfeld von transitiver und intransitiver Macht, in: A. BRODOCZ / C. O. MAYER / R. PFEILSCHIFTER / B. WEBER (Hgg.), Institutionelle Macht. Genese – Verstetigung – Verlust, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 421-438, hier S. 436f.
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last der Republik“ auch ein Zentrales Gebäude realisiert wurde, das in Gestalt, Symbolik und Funktion erheblich von früheren Projekten abwich.
3. „Apotheose staatlicher Bürokratie“ und sozialistische „Walhalla“. Bauprojekte und Realitäten 1950-1969 als Geschichte eines Scheiterns Die Pläne der 1950er Jahre zielten auf die Visualisierung des uneingeschränkten Herrschaftsanspruchs und der Geltungsbehauptungen der SED-Regierung in einer monumentalen Synthese von repräsentativem Funktionsgebäude und Denkmalskomplex. Die auch die Architektur erfassende „Formalismusdebatte“ und die behauptete Unvereinbarkeit sozialistischer und kapitalistischer Baukunst verbaute dabei zunächst den Anschluss an die (nun „westliche“) Moderne. Hinsichtlich der „nationalen Tradition“, an die es anzuknüpfen galt, erschien der „Klassizismus“ als „letzte wirkliche Architekturepoche“ in Deutschland.27 Verbindlich wurde so die Orientierung am sowjetischen Eklektizismus der Stalinzeit, der den überkommenen Formenkatalog der Herrschaftsarchitektur verwertete und zugleich eine Überbietung moderner westlicher Hochhausbauten beanspruchte. Der Moskauer Stadtarchitekt Tschetschulin, der dieser Architektur ihren vollendeten Ausdruck gab (Abb. 1), sollte anfangs sogar als Berater für die Zentrumsgestaltung hinzugezogen werden.28 Dies prägte die frühen Entwürfe Hans Hopps (1951) oder Richard Paulicks (1950/51) (Abb. 2) – letzterer eine personale Verkörperung des Wandels eines Architekten vom formalistischen Saulus zum sozialistischen Paulus, da ihm nach Einsicht in die Kritik der Partei an seinem „Eierkistenmodell“ für ein Gebäude der Stalinallee binnen 24 Stunden eine neue Skizze gelang, die „eindeutig auf der neuen gesunden Linie“29 lag. Beide sahen am Schnittpunkt einer zentralen Magistrale mit der Spreeinsel einen zentralen Demonstrationsplatz und ein symmetrisch gestaffeltes Regierungshochhaus, als alle übrigen Gebäude Berlins und Deutschlands überragende vertikale Dominante, vor.30 Doch obwohl damit entscheidende Gestaltungsprinzipien früh feststanden und auch der weitere Pläne prägende 27
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Kurt Liebknecht auf der Arbeitstagung freier Architekten, 19.6.1950, in: BArch Außenstelle Coswig, DH 1-44475. Vgl. auch DERS., Im Kampf um eine neue deutsche Architektur, in: ND, 13.2.1951. Entsprechend betonte die „Entschließung des ZK der SED gegen den Formalismus in der Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur“, in: ND, 18.4.1951: „In der Architektur […] hindert uns vor allem der sogenannte Bauhausstil und die konstruktivistische, funktionalistische Grundeinstellung […] an der Entwicklung einer Architektur, die die neuen Verhältnisse in der DDR zum Ausdruck bringt.“ Vgl. hierzu auch Grundsätze (wie Anm. 19). Aktennotiz von L. Bolz nach einer Besprechung mit Otto Grotewohl über den Wiederaufbau Berlins, 18.11.1949; BArch, Abt. Potsdam, DH 1/44519, in: DURTH, Aufbau (wie Anm. 19), S. 211f. Vgl. zur Vorbildfunktion Tschetschulins K. LIEBKNECHT, Die Sowjetarchitektur – künstlerischer Ausdruck des Aufstiegs zum Kommunismus, in: ND, 26.1.1951. R. HERNSTADT, in: ND, 31.7.1951, zitiert in J. PALUTZKI, Architektur in der DDR, Berlin 2000, S. 62. Vgl. auch die von Paulick miterarbeitete Konzeptvorlage von 1950 (wie Anm. 25).
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Standort eines zum zentralen Platz ausgerichteten Marx-Engels Denkmals im Entwurf Hopps gefunden war, stagnierte die Planung. Der Wettbewerb für ein Marx-Engels Denkmal wurde im Juli 1951 ausgesetzt31 und 1953 kam die Zentrumsplanung ganz zum Erliegen. Primär hatte das ökonomische Gründe, aber nach dem 17. Juni galt es wohl auch, eine neue Provokation der unter Wohnungsund Versorgungsengpässen leidenden Bevölkerung durch aufwendige Herrschaftszeichen zu vermeiden.32 Neuen Auftrieb erhielt die Zentrumsgestaltung, als Bundesregierung und Westberliner Senat am 30. März 1957 einen internationalen Wettbewerb zur „Hauptstadt Berlin“ ausschrieben, der – gemäß des Alleinvertretungsanspruchs der BRD – auch das ostberliner Zentrum einschloss, ostdeutsche Architekten hingegen von der Teilnahme ausschloss.33 Angesichts der auch im Städtebau ausgetragenen „Systemkonkurrenz“ war die SED zu einer Antwort gezwungen und lobte 1958 einen Ideenwettbewerb aus, der im Gegenzug nur Beiträge sozialistischer Länder zuließ, und sich als „reale Grundlage für die Verwirklichung in absehbarer Zeit […] von dem provokatorischen und utopischen Bonner Wettbewerb unterscheiden“ sollte.34 Als besonders repräsentativ für diese Zeit können Entwürfe unter Leitung Gerhard Kosels gelten, der das Ideal des Architekten als „Staatsmann“35 durch seine Funktion als Staatssekretär und erster stellvertretender Minister für Aufbau im
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Ein Auftragswerk Walter Howards endete 1956 im Schillerpark in Karl-Marx-Stadt, da angesichts der unabgeschlossenen Planung über seine Positionierung keine Einigung erreichbar war. Vgl. B. FLIERL, Der Zentrale Ort in Berlin. Zur räumlichen Inszenierung sozialistischer Zentralität, in: G. FEIST / E. GILLEN / B. VIERNEISEL (Hgg.), Kunstdokumentation SBZ/DDR 1945-1990, S. 320-357, hier S. 329-333. Vorzeigeobjekte wie die Berliner „Stalinallee“ oder der Dresdener Altmarkt zeigten, dass ideologisch motivierte klassizistische oder neobarocke Zitate nationaler und regionaler Tradition die finanziellen Möglichkeiten überstiegen. Die Grenzen der bewährten Methode von Kostensenkung durch Normerhöhung ohne Lohnausgleich zeigte der Juni 1953, als ein Streik der Arbeiter der Stalinallee im Volksaufstand mündete. Mit dem Politbürobeschluss über die „neuen Aufgaben des Bauwesens“ vom 26.10.1954 erhielten ökonomische Fragen Vorrang vor den ideologischen, indem das industrielle Bauen zur Lösung des Wohnungsproblems forciert wurde. Vgl. Chronik Bauwesen DDR, hg. von Bauakademie der DDR, Bd. 1: 1949-1971, Berlin 1974, S. 90-98. Vgl. C. HEIN, Planung für Haupt- und Weltstadt Berlin – ein Wettbewerb von 1957/58, in: H. ENGEL / W. RIBBE (Hgg.), Hauptstadt Berlin – Wohin mit der Mitte, Berlin 1993, S. 169-200 sowie Hauptstadt Berlin. Internationaler städtebaulicher Wettbewerb 1957/58, hg. von Berlinische Galerie, Berlin 1990. Gegenbericht der Abteilung Bauwesen ZK/SED, 23.1.1957; SAPMO-BArch, DY 30 IV/2/606/9. D. TSCHECHNER, Der „Ideenwettbewerb zur sozialistischen Umgestaltung des Zentrums der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin“, in: ENGEL / RIBBE, Mitte (wie Anm. 33), S. 201-221, hier S. 201, sah in diesem Stellvertreterkampf „bereits die Mauerfundamente zur Teilung der Frontstadt des kalten Krieges“ gelegt. „Sein Bauherr ist das Volk. Sein Auftraggeber […] die Regierung. […] So wird der Städtebauer […] zu einem Staatsmann“ – sogar „im höchsten Sinne des Wortes“. Grundsätze (wie Anm. 19), § 3 und § 2.
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Wortsinn erfüllte und als Schützling des „architekturinteressierten Absolutist[en]“36 Ulbricht galt. Kosel hatte seit 1955 Skizzen zur Zentrumsplanung entworfen und legte noch vor Beginn des Wettbewerbs dem V. Parteitag im Juli 1958 einen exakt ausgearbeiteten Entwurf (einschließlich der Choreographie künftiger Großdemonstrationen) vor, der zeitgleich publiziert wurde (Abb. 3).37 Den Kern des Ensembles, das der Idee des „demokratischen Zentralismus entsprechend“ alle wichtigen staatlichen Institutionen, aber als „Schaufenster der Republik“ auch Freizeitstätten und Kaufhäuser „mit dem Spitzenangebot aller Versorgungsbranchen“ umfasste,38 bildete ein 150m hohes „Zentrales Staatsgebäude“, das durch „zentrische Anordnung des Gebäudekomplexes […] und eine symmetrische Gestaltung“ als „sinnfälliger Ausdruck des sozialistischen Ordnungsprinzips“39 galt. Dass sich das Regierungshochhaus über den flachen Saalbau der Volkskammer erhob – eine Inversion des späteren Verhältnisses von Abgeordnetenhochhaus und Regierungsbauten in Bonn – symbolisierte (intendiert oder nicht) auch die Dominanz der Exekutive über die (formale) Legislative. Als Höhendominante von Stadt und Staat sollte der Bau „alle Werktätigen mit Zuversicht“ erfüllen, „den Wankelmütigen aufrichten“ und die „Überlegenheit gegenüber den vergangenen Epochen“ ausdrücken.40 Indem die „Stadtkrone“ durch Positionierung „im Blickpunkt der wichtigsten Magistralen […] auch vom Westen her die eindeutige Wirkung der Stadtdominante“41 erhielt, sollte sie zugleich den dortigen „Feinden des Fortschritts ein Dorn im Auge“42 sein. Über die bloße Manifestation der Macht des sozialistischen Staates unter Führung der SED hinaus verkörperte das Ensemble auch eine Rechtfertigung der Herrschaft durch Konkretisierung der weltgeschichtlichen Stellung der DDR. Die 36 37 38
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MÜLLER, Symbolsuche (wie Anm. 1), S. 199. G. KOSEL, Aufbau des Zentrums der Hauptstadt des demokratischen Deutschlands Berlin, in: Deutsche Architektur 4 (1958), S. 177-183. Neben dem Hochhaus mit Ministerrat, Amtssitz des Ministerpräsidenten, Nationalrat der Nationalen Front, einer Ehrenhalle der Arbeiterbewegung und der Volkskammer im angegliederten Saalbau, sollten das Marx-Engels Institut, das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, die staatliche Plankommission, die zentrale Verwaltung der volkseigenen Industrie, der Magistrat, der FDGB, die Neue Akademie der Wissenschaften und die Neue deutsche Bauakademie um das Zentralgebäude gruppiert werden. Hinzu kamen Hotels, eine Großveranstaltungshalle, ein Ausstellungspavillon, fünf Kaufhäuser, Gebäude des Großhandels und Bürogebäude. Vgl. KOSEL / HOPP / MERTENS, Erläuterung (wie Anm. 25). Ebd., S. 267. KOSEL, Aufbau (wie Anm. 37), S. 183 und S. 178. KOSEL / HOPP / MERTENS, Erläuterung (wie Anm. 25), S. 267. „Von der Siegessäule mit der sie bekrönenden Nike, dem Brandenburger Tor der Quadriga, dem Marx-Engels-Haus mit der roten – in der Nacht angestrahlten – Fahne wird eine sich zum Forum steigernde Folge gestalterischer Akzente geschaffen“ (ebd.). So hielt sich die DDR, im Gegensatz zum BRD-Wettbewerb, zwar „exakt an ihr Territorium“ (B. FLIERL, Rund um Marx und Engels. Berlins sozialistische Mitte, in: ENGEL / RIBBE, Mitte [wie Anm. 33], S. 125-139, hier S. 132), ohne aber auf deutliche darüber hinaus wirkende Zeichen zu verzichten. KOSEL, Aufbau (wie Anm. 37), S. 178.
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Lokalität selbst, an der Liebknecht 1918 die sozialistische Republik ausgerufen hatte und „die revolutionärsten Matrosen um den Marstall“ kämpften, gewährleistete die Anbindung an die Tradition der deutschen Arbeiterbewegung und „geistig und räumlich eine Verbindung zu Ideen und Bauten des deutschen Humanismus“ (Abb. 4). Historische Kontinuität und Überlegenheit der DDR sollten dadurch sichtbar werden, dass das Forum „die hervorragendsten Baudenkmäler“ des Berliner Zentrums „zu einem großem Ensemble zusammenfassen“43 und gleichzeitig überragen würde. Den welthistorischen Bezug stellte eine in den Baukörper integrierte Denkmalsanlage her (Abb. 3). Die dem Zentralen Platz zugewandte Seite markierte als Zitat des Pergamonaltars,44 aus dem das Hochhaus emporstrebte, die Fortsetzung und Vollendung der großen Kulturleistungen seit der Antike in der DDR. Hier sollten in einer „Ehrenhalle“ auch die „Kleinodien der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung, wie die Manuskripte vom ‚Manifest der kommunistischen Partei’ und Erstdrucke des ‚Kapitals’, aufbewahrt“45 und der DDR gleichsam als ideelles Fundament einverleibt werden. Später überlegte Kosel gar, die Gebeine von Marx als Primärreliquie vom Londoner Highgate Friedhof ins Marx-Engels Forum zu überführen, das damit endgültig den Charakter einer Art Staatskirche erlangt hätte.46 Im Anspruch, so nicht nur ein Stadtzentrum, sondern d a s „Zentrum der internationalen Arbeiterklasse“ zu schaffen, klang noch die Vision der „Centrale der sozialistischen Welt“47 in einem früheren Entwurf Hans Hopps nach. Ein auf 25 Meter Höhe veranschlagtes Marx-Engels-Monument überschaute vor diesem „Altar“ den zentralen Platz. Die nach Beräumung des Heiligengeist- und des Nikolaiviertels in zwei Becken gestaute Spree, als Zitat „der märkischen Landschaft mit ihren Gewässern“, hätte dem Gebäude zusätzlichen 43 44
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KOSEL / HOPP / MERTENS, Erläuterung (wie Anm. 25). Das Zitat war v.a. in frühen Entwürfen Kosels deutlich und im Portal des Entwurfs von 1958 noch kenntlich. Vgl. DURTH, Aufbau (wie Anm. 19), S. 237 und MÜLLER, Symbolsuche (wie Anm. 1), S. 114-124. Hier zeigt sich ein Muster der Geschichtskonstruktion durch Zitate historischer Versatzstücke, wie sie in anderer Form etwa an Anton von Werner deutlich wird. Vgl. den Beitrag von Manuela VERGOSSEN in diesem Bande. KOSEL / HOPP / MERTENS, Erläuterung (wie Anm. 25), S. 265f. Mitunter sprach KOSEL auch von „Reliquien“. Nach KOSELs eigener Erinnerung schwebte ihm dabei „etwas Ähnliches wie das LeninMausoleum“ vor. „Wäre es zu erwägen gewesen, die sterblichen Reste von Karl Marx, dem größten Sohn der deutschen Nation, […] nach Berlin zu überführen? Bei einem Besuch an der Grabstätte von Karl Marx in London im Jahr 1986 ist mir der Gedanke erneut in den Sinn gekommen.“ KOSEL, Unternehmen (wie Anm. 3), S. 251f. Derartige religiöse Anleihen gab es nicht nur in der „stalinistischen Frühzeit“ der DDR, sondern bis zu deren Ende. H. KAMMITZER, Die Toten mahnen, in: ND, 28.1.1988 etwa bezeichnete die „Störung“ der alljährlichen „Totenfeier für die Märtyrer der Kommunistischen Partei“, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, durch mit Luxemburg-Zitaten protestierende Oppositionelle als „verwerflich wie eine Gotteslästerung. Keine Kirche könnte hinnehmen, wenn man eine Prozession […] entwürdigt. Ebensowenig kann man uns zumuten, sich damit abzufinden[…]“. Vgl. zur quasi-religiösen Symbolik in der DDR auch HEIM, Bannerträger (wie Anm. 26), S. 434. Entwurf von Hopp (wie Anm. 1).
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Effekt verliehen.48 Die Angst, die Becken würden zur Sammlung von Fäkalschlamm führen, entkräftete Kosel mit der stetigen Verbesserung der Wasserqualität im Sozialismus.49 Eine andere, symbolisch anrüchige Dimension wurde damals nur an anderen Entwürfen verhalten kritisiert: Das Zitat einer „feudalen Wasserburg“ markierte die Abgeschlossenheit der Herrschenden und die Ausgeschlossenheit der Beherrschten, denen sich so zwar optimale Anblicke aber keine Einblicke in die Zentrale der Macht geboten hätten.50 Obgleich die Konzeption als selbstständige, von direkter staatlicher Einflussnahme unabhängige Leistung der Architektengruppe um Kosel angesehen werden kann, zeigt die hohe staatliche Anerkennung, dass diese vollendete „ideologische Macht-Kult-Konfiguration“51 den damaligen Herrschaftsprinzipien und -ansprüchen als weit in den Stadtraum wirkende Verkörperung angemessen war. Ulbricht hob das Projekt als „gute Grundlage“ der weiteren Gestaltung hervor.52 Die Ausschreibung zum öffentlichen Ideenwettbewerb beruhte wesentlich auf diesem (bereits vorliegenden) Entwurf und auch die Entscheidungen des Preisgerichts, dem mit Hans Hopp der wichtigste Koautor angehörte, orientierten sich deutlich an der außer Konkurrenz laufenden Kosel-Vorgabe,53 die so impliziter Maßstab und heimlicher Sieger des Wettbewerbs war. Da inzwischen die (einst geforderte) Eigenständigkeit der sozialistischen Baukunst als Irrweg erschien und die Überbietung der westlichen Architektur mit ihren eigenen Mitteln ins Auge gefasst wurde, schien Ulbricht nun zwar auch dieses Projekt zu viel „altes Sche-
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KOSEL / HOPP / MERTENS, Erläuterung (wie Anm. 25), S. 265. Eine Version Hopps wollte lediglich die Nikolaikirche als „romantisches Inselmotiv“ erhalten. Vgl. MÜLLER, Symbolsuche (wie Anm. 1), Abb. 70b. Vgl. J. ROCHLITZER, Zur Erweiterung der Spree im Zentrum Berlins, in: Deutsche Architektur 11 (1960), S. 636 sowie MÜLLER, Symbolsuche (wie Anm. 1), S. 148f. Vgl. Magistrat von Groß-Berlin – Stadtbauamt, Ideenwettbewerb zur sozialistischen Umgestaltung des Zentrums der Hauptstadt der Deutschen demokratischen Republik – Berlin, Bd. 2: Protokoll des Preisgerichts, Berlin 1959, S. 5f, wo an einem anonymen Entwurf der „Festungscharakter“ kritisiert wird. FLIERL, Mitte (wie Anm. 41), S. 128. Vgl. MÜLLER, Symbolsuche (wie Anm. 1), S. 184. Vgl. Ideenwettbewerb (wie Anm. 50). Der Verzicht auf „eine notwendige, beherrschende Dominante“ durch einen singulären Hochhauskomplex war ausreichender Grund der Ablehnung, da so „kein Raumerlebnis, das der Bedeutung des zentralen Platzes der Hauptstadt entspricht“ erreicht würde und „der Dom seine beherrschende Stellung behält“ (ebd., S. 5f). Auch die von Kosels Entwurf abweichende Positionierung des Hochhauses, die keine zentrale Dominanzwirkung gewährleiste, oder die Raum beherrschende Funktion „ausschließlich nach Osten berechnet[e]“ (ebd., S. 9f, S. 11, S. 14f.), führte zur Ablehnung. Auch hinsichtlich der Position des MarxEngels-Denkmals und der Gestaltung des zentralen Demonstrationsplatzes schien Kosels Entwurf maßgeblich (ebd., S. 4-12). Übereinstimmungen mit dem Kosel-Entwurf schienen oft Grundlage der Zustimmung. So war die Position des Zentralen Gebäudes dann „richtig gewählt“, wenn sie mit Kosels Entwurf übereinstimmte. Ebenso wurde die Übernahme von Gestaltungselementen wie den Wasserbecken positiv vermerkt. (ebd., S. 18-31).
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ma“54 zu enthalten, was einige vor allem auf Hopp zurückgehende Änderungen motivierte – etwa eine geringerer Gliederung des Baukörpers und eine durchgehende Glas-Aluminium-Fassade –, an der Gesamtkomposition aber wenig änderte (Abb. 5). B r e i t e Zustimmung fand der Entwurf allerdings nur bei der inszenierten „Bevölkerung“ der Presse, neben einer großformatigen Abbildung des Konzepts.55 In einer unveröffentlichten Besucherumfrage zur Wettbewerbsausstellung war er hingegen keineswegs der Favorit und zudem Gegenstand explizit negativer Anmerkungen zur pathetischen Symbolik, deren Legitimitätssuggestion offenbar wenig erfolgreich war: „Monumentalplanschbecken gehören in die Wuhlheide“ oder ins Zentrum solle „weder eine fliegende Untertasse noch eine Walhalla“ gesetzt werden.56 In der Ablehnung der „fliegenden Untertasse“– eine in zwei sich überschneidende Bögen schräg eingehängte elliptische Kundgebungshalle, neben einem raketenförmigen Fernsehturm als Höhendominante, im ebenfalls außer Konkurrenz laufenden futuristischen Entwurf Hermann Henselmanns – schienen sich Volksmund und SED zu dieser Zeit einig,57 die „Walhalla“ Kosels jedoch beeinflusste auch die weitere Planung nachhaltig. Nach Diskussionen über die Notwendigkeit eines Hochhausbaus, gegen den sich etwa Henselmann zunächst aussprach, forderte Ulbricht diesen 1960 nochmals nachdrücklich.58 Auch Henselmann, der zwischenzeitlich mit der scharfen 54 55 56
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Aktenvermerk, Bauminister Scholz vom 22.9.1959. Betr.: Wettbewerb „Zentrum Berlin“ in BArch, DH 1, 8096, zitiert in MÜLLER, Symbolsuche (wie Anm. 1), S. 199. Vgl. die ausschließliche Zustimmung in: „Berlin, wie wirste Dir verändern“, in: Freie Welt, H. 51, 17.12.1959. Auswertung von Besuchermeinungen zu den ausgestellten Entwürfen aus dem Wettbewerb zur sozialistischen Umgestaltung des Stadtzentrums von Berlin durch Helmut Henning, Dezember 1959. Landesarchiv Berlin, Rep. 110, Nr. 1484. Von ca. 420 ausgefüllten Fragebögen votierten 131 für den, auf offizieller Seite weit weniger beliebten, da als Höhenakzent nur eine 220m hohe Stahlnadel setzenden, Entwurf des Kollektives Naumow (Leningrad), nur 44 für den Kosels (dicht gefolgt vom Entwurf Henselmanns mit 41 Stimmen). K. LIEBKNECHT, Hauptreferat der ersten theoretischen Konferenz des DBA, Oktober 1960, in: Sonderbeilage zu Deutsche Architektur 11 (1960), S. 58 betonte, dass Henselmanns Pläne „unsere volksdemokratische Ordnung nicht widerspiegeln und somit der Bedeutung des Zentralen Ensembles nicht gerecht“ seien. Vgl. auch Ideenwettbewerb (wie Anm. 50), S. 33. Auf diese Anwürfe reagierte Henselmann mit „Selbstkritik“ (Vgl. Diskussionsbeitrag von Henselmann auf der ersten theoretischen Konferenz des DBA, Oktober 1960, in: Sonderbeilage zu Deutsche Architektur 12 [1960], S. 2), was eine zeitweilige Schwächung seiner Position nicht abwenden konnte. Vgl. zur Ablehnung eines Hochhauses Brief Hermann Henselmanns an Gerhard Kosel vom März 1958 (mit Kopie an Ulbricht), SAPMO-BArch, ZPA, NL 182/1031, in: DURTH, Aufbau (wie Anm. 19), S. 243-247. Ulbricht forderte demgegenüber die „Schaffung politisch ideologischer Klarheit unter den Architekten. […] Sie verstehen nicht, […], daß es keine Unterordnung gegenüber Westdeutschland geben darf. Allein die Tatsache, daß westdeutsche Konzerne in Westberlin Hochhäuser errichten zeigt, wie falsch die Auffassung ist, die repräsentativen Bauten unserer Arbeiter-und-Bauern-Macht nicht in der Stadtkrone weithin sichtbar zu machen.“ Aktenvermerk zu einer Beratung der Kommission zum Aufbau des Berliner Stadtzentrums vom 30.5.1960, SAPMO-BArch, ZPA, NY 4182 Nr. 1031, in: ebd., S. 277.
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Ablehnung seines Zentrums-Entwurfs und dem Verlust der Position des hauptstädtischen „Chefarchitekten“ allerdings sein persönliches Waterloo erlebt hatte, orientierte sich nun an wesentlichen Topoi der Kosel-Vorgabe. Henselmanns finale Fassung, die 1962 als einzige bis zur Bauplanung getrieben wurde, lässt das noch erkennen: Ein zum zentralen Platz gerichtetes, nun auf 175m gestrecktes Hochhaus erhob sich über dem Flachbau für die Volkskammer mit einem kupferglänzendem kugelförmigen Plenarsaal im Ehrenhof als originärem Akzent (Abb. 6). Dass die obersten Stockwerke sinnigerweise die „Zentrale Kommission für staatliche Kontrolle“ beherbergen sollten, mag wie ein auf die Spitze getriebener Panoptismus anmuten.59 Jenseits solcher städtebaulicher Überwachungsmetaphern suchte der Entwurf mit der vorgehängten Aluminium-Glasfassade und der Kugel des Plenarsaals deutlich Anschluss an die internationale Entwicklung, entsprach damit aber auch den neuen Wünschen Ulbrichts, nach einem Gebäude das – statt quasisakrale Monumentalität auszustrahlen – durch Farbe, buntes Gestein, Aluminium und Glas „von früh bis abends lacht“.60 Dass das Vorhaben, für das bereits der Baugrund erkundet war, nicht realisiert wurde, lag in der Einsicht der SED begründet, dass die DDR in einer ökonomischen Krise steckte und das im Prosperitätsjahr 1959 gesteckte Ziel, bis 1965 Produktivität und Lebenstandard der USA zu überbieten, nicht erreichen würde.61 Am 3. Oktober 1963 beschloss das Politbüro die „Projektierung für das zentrale Gebäude […] bis auf weiteres einzustellen“.62 Da Ulbricht daran festhielt, dass Berlin „doch ein Gesicht, eine Sensation“ bekommen müsse, rückte das (1959 als gänzlich ungeeignet abgelehnte) „Projekt erleuchteter Fernsehturm“63 als preiswerte Ersatzdominante in die Innenstadt, ironischerweise nun unter Leitung Kosels. Dringend benötigt wurde der Funktionsbau ohnehin, da in einigen Orten der DDR bislang nur westliche Programme zu empfangen waren, ein radikaler Nachteil im medialen Krieg der Systeme. Fern59
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Vgl. M. FOUCAULT, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1994, v.a. S. 251-291; vgl. zur entsprechenden Skizze Henselmanns MÜLLER, Symbolsuche (wie Anm. 1), Abb. 133a. Aktenvermerk, Bauminister Scholz vom 22. September 1959. Betr.: Wettbewerb „Zentrum Berlin“. BArch, DH 1, 8096, zitiert in MÜLLER, Symbolsuche (wie Anm. 1), S. 199. Zumindest diesem Wunsch entsprach der spätere Bau: „Trugen frühere Paläste […] eine verschlossene, kalte, distanzierte Mine, so blickt uns der Palast der Republik freundlich entgegen“ und „lacht […] übers ganze Gesicht.“ Wenn es beim Treiben der Jugend „quirlig und ausgelassen“ zuging, durfte er gar ein „lausbübisches Gesicht“ zeigen. Palast der Republik. Haus des Volkes, hg. von Palast der Republik, Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, Berlin 1986, S. 19, S. 30 und S. 26. Vgl. u.a. A. STEINER, Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz und Machtkalkül, Berlin 1999. Beschluss über den weiteren Aufbau der Stadtzentren Berlin und Dresden, Anlage 4 zu Protokoll 34/63 der Sitzung des Politbüros vom 3.10.1963, zitiert in MÜLLER, Symbolsuche (wie Anm. 1), S. 287. Wortprotokoll, Betr. Vorlage komplexer Aufbau des Alexanderplatzes der Hauptstadt Berlin bis 1970. SAPMO-BArch, ZPA, DY 30/ J IV 2/ 2A, 1038: Arbeitsprotokolle Nr. 23/64 der Sitzung des Politbüros vom 14.7.1964, zitiert in P. MÜLLER, Symbol mit Aussicht. Der Berliner Fernsehturm, Berlin 1999, S. 71f.
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sehtürme galten damals auch im Westen als Synonym „klassenfreier Baukunst“64 und waren so in den Symbolhaushalt der sich auf dem Weg zur „klassenlosen Gesellschaft“ wähnenden DDR gut integrierbar. Henselmanns Sputnik- und Weltraummetaphorik bot ein Symbol des Fortschritts und der wissenschaftlichtechnischen Überlegenheit des Sozialismus65 und mit der im Vergleich zum Hochhaus noch größeren Fernsichtwirkung konnte auch der Turm den ersehnten Akzent der Machdemonstration gen Westen ausstrahlen, was wohl ein Hauptgrund für Ulbrichts und Kosels radikale Kehrtwendung in dieser Frage war.66 Der wegen optimaler Sichtbeziehung vom Marx-Engels-Forum an den Bahnhof Alexanderplatz verschobene Fernsehturm wurde ab 1964 zügig realisiert. Nach der Eröffnung zum 20. Jahrestag der DDR bildete er zusammen mit dem ein Jahr später übergebenen 122m-Hochhaus des Hotels „Stadt Berlin“ einen prägnanten und trotz spöttischer Beinamen67 beliebten Innenstadt-Akzent. An der Peripherie des „Zentralen Orts“ entstanden mit dem Staatsratsgebäude (1962-64) und dem Außenministerium (1963-66) erste Regierungsbauten, dieser selbst blieb hingegen bis zum Ende der Ära Ulbricht ein „öder Platz, der immer mehr zum Alptraum wurde, baulich wie funktionell zu einem Loch in der Stadt, metaphorisch zu einem Loch im gesellschaftlichen System der DDR.“68 Die Erfolglosigkeit der Projekte war eine materielle, aber auch eine der Symbolpolitik, deren Scheitern die Realisierung eher noch verdeutlicht hätte. Statt Glauben, Zustimmung und Taten für den Sozialismus zu motivieren, wäre die architektonische Apotheose der staatlichen Herrschaft wohl ebenso Gegenstand desavouierender Spottworte geworden, wie es deren verbale Selbstüberhöhungen stets waren.69 Weit weniger als in den folgenden Dekaden vermochte die SED der 1950er und 60er Jahre bei der Bevölkerung, gegen die sie regierte, Anerkennung oder wenigstens Duldung zu finden und war weit öfter gezwungen, die „Instru64 65
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R. LINNENKAMP, Vom Fürstenschloß zum Fernsehturm. Wege zur klassenfreien Baukunst, München 1972. Vgl. zur Weltraummetaphorik in der DDR-Architektur U. GIERSCH / M. HARTEN, Beton unter den Füßen und den Kosmos im Kopf, in: Bauwelt 82/1-2 (1991), S. 22f sowie H. DELITZ, „Rundkino“ und „Kristallpalast“ in Dresdens Prager Straße. Architektursoziologie zweier extraterrestrischer Architekturen, in: T. BOHN (Hg.), Von der „sozialistischen Stadt“ zur „europäischen Stadt“ und zurück? : urbane Transformation im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts. Vorträge der gemeinsamen Tagung des Collegium Carolinum und des Johann Gottfreid Herder Forschungsrates in Bad Wiessee vom 23. Bis 26. November 2006 (Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum 29), München 2009. FLIERL, Ort (wie Anm. 31), S. 342 sieht hier den Beleg, dass es „primär immer um die i d e e l l e Funktion einer alles überragenden Höhendominante […] ging, nicht um deren praktische Funktion“. Bezüglich der Form „Ulbrichts Zeigefinger“, wegen eines kreuzförmigen Reflexes in der Kugel „Sankt Walter“. FLIERL, Mitte (wie Anm. 41), S. 134. Im Bezug auf die SED-Superlative sprach der Volksmund etwa von der „größten DDR der Welt“ oder machte aus dem siegenden Sozialismus, in Anspielung auf Ulbrichts sächsisch, den „siechenden Sozialismus“.
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mente zu zeigen“ und auch anzuwenden. Der häufige Rückgriff auf Gewaltmittel – symbolischer Art gegen die „Dekadenz“ in der Kunst, physischer Art gegen die „Dekadenz“ von langen Haaren, Jeans und Beat-Musik – zeigte die Machtschwäche des Systems und die Grenzen der disziplinarischen Formung der Individuen.70 Erst in den 1970er Jahren sollte es gelingen, das Loch des „zentralen Orts“ und teilweise auch die Leerstelle der symbolischen Macht zu füllen.
4. Der Stellvertreterort der sozialistischen Konsumgesellschaft Nach der Machtübernahme Honeckers wurde die Zentrums-Planung 1972 wieder aufgenommen, um dann zügig den „Palast der Republik“ zu realisieren.71 Das Gebäude, das bei seiner Eröffnung 1976 internationale Beachtung fand und noch heute – nicht nur von „Ostalgikern“ – als „Schlüsselbauwerk […] für die Moderne in der deutschen Architektur“72 angesehen wird, enthielt von den Visionen der Ulbricht-Ära freilich fast nur noch die Vorgabe, auf diesem „Sonderraum“ eine Versorgung auf überdurchschnittlichem, schon den „Prinzipien des SozialismusKommunismus“ gehorchendem Niveau zu gewährleisten,73 nun für die gesamte Bevölkerung. Gleichwohl drückt der radikale Bruch mit der vorangegangenen Planung nicht notwendig „das Scheitern der DDR an sich selbst, an der großen historischen Aufgabe der sie sich verschrieben hatte“74 aus. Die von Chruschtschow eingeleitete „Entstalinisierung“ hatte im gesamten Ostblock auch zur Abkehr von monumentaler Repräsentationsarchitektur geführt. In der DDR markierte spätestens der Beginn der Ära Honecker eine Umstellung der Techniken der Herrschaftsausübung, die vom Ziel der totalen politisch-ideologischen Formung der Einzelnen zu „neuen Menschen“ teilweise abrückten und (sub-)kulturelle Heterogenität und individuelle Abweichungen zwar immer perfekter kontrollierten, aber in geringerem Maße sanktionierten. Verstärkt prägte nun die sozioökonomische Regulierung des aggregierten Verhaltens der Massen den Umgang der SED mit der Bevölkerung, wobei neben sozialstaatlichen Sicherheitsgarantien eine staatlich gelenkte und subventionierte Konsumpolitik zum zentralen Mechanismus der subtilen Beeinflussung von Dispositionen der statistischen Mehrheit wurde. Insofern wandelte sich die DDR von einer hypertrophierenden „Disziplinargesellschaft“ zu 70 71
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Vgl. zur Gewalt als Ausdruck von Machtschwäche ARENDT, Macht (wie Anm. 16). Die zügige Realisierung – September 1972 Auftrag zu einer Grundsatzstudie durch das Politbüro; März 1973 Fertigstellung der Entwürfe; November 1973 Grundsteinlegung; November 1974 Richtfest; 23. April 1976 Eröffnung – sollte ein markantes Symbol für Machtwechsel und Erfolg der neuen Regierung setzten, einen Gegenpol zum für Westberlin geplanten ICC schaffe und sicherstellen, dass der zur Rekonstruktion vorgesehene Dom nicht die alleinige Dominanz am „Zentralen Ort“ gewinnt. Vgl. auch FLIERL, Ort (wie Anm. 31), S. 348. PALUTZKI, Architektur (wie Anm. 29), S. 381. Raumprogramm für das Zentrale Staatsgebäude am Marx-Engels-Platz, in: Arbeitsprotokolle Nr. 14/62 der Sitzung des Politbüros, 27.3.1962, SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/2A, 889 (Bd. 2), zitiert in MÜLLER, Symbolsuche (wie Anm. 1), S. 267. FLIERL, Mitte, (wie Anm. 41), S. 126, vgl. zur Interpretation als Scheitern ebd., S. 135-138.
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einer sozialistischen „Normalisierungsgesellschaft“, in der die disziplinarische Indoktrination (etwa in Schule und Jugendorganisationen) nachlässiger gehandhabt wurde, während die auf Befriedung zielende Kontrolle und Lenkung der sozialen Lage der Bevölkerung einen Bedeutungszuwachs erfuhr.75 Auch die offiziellen Geltungsbehauptungen der „Führsorgediktatur“ brachten dies zum Ausdruck, indem mit der programmatischen „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ die Versprechen von Wohlstand, Glück und Sicherheit in der Gegenwart einen immer höheren Rang einnahmen.76 Dem entsprach seit Mitte der 1960er Jahre eine Transformation architektonischer Repräsentationsformen, in deren Folge Großkaufhäuser (die Centrum-Warenhäuser) und multifunktionale Kulturhäuser als soziokulturelle Kommunikationsorte die Gestaltung der Stadtzentren bestimmten.77 Diese Transformationen brachte der „Palast“ konsequent und erfolgreich zum Ausdruck (Abb. 7). Selbstverständlich war allein die Errichtung des Großbaus in nur 1000 Tagen und die Innenausstattung mit einem einzigartigen polyvalenten Mehrzwecksaal auch ein politisches Zeichen. In einer von ökonomischer Konsolidierung, zaghafter kulturpolitischer Liberalisierung und einer Welle der vormals versagten internationalen Anerkennung gekennzeichneten Phase, symbolisierte der „Palast“ das gerne beanspruchte „Weltniveau“ und die Gewissheit, dass „bei uns alles geht“.78 Die vorgehängte Glasfassade demonstrierte den Anschluss an die internationale Moderne und die endgültige Versöhnung mit deren Grundlagen im „Bauhaus“ als Teil der eigenen „nationalen Tradition“.79 Auf explizite Zeichen der Staatsmacht im 75
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Vgl. zur Disziplinargesellschaft FOUCAULT, Überwachen (wie Anm. 59), S. 173-291 sowie zur Normalisierungsgesellschaft DERS., In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1999, v.a. S. 286-294. Zur Abschwächung der Indoktrinationsambitionen vgl. H. E. TENORTH / S. KUDELLA / A. PAETZ, Politisierung im Schulalltag der DDR. Durchsetzung und Scheitern einer Erziehungsambition, Weinheim 1996. Vgl. C. BOYER, Zur spezifischen Symbolizität spättotalitärer Herrschaft, in: MELVILLE, Institutionalität (wie Anm. 5), S. 639-658; DERS. / K. D. HENKE / P. SKYBA, Geltungsbehauptungen im Staatsozialismus. Traditionskonstruktion und die Sozial- und Konsumpolitik in der DDR, in: MELVILLE / VORLÄNDER (Hgg.), Geltungsgeschichten (wie Anm. 20), S. 351-373. Vgl. v.a. B. FLIERL, Das Kulturhaus in der DDR, in: G. DOLF-BONEKÄMPER / H. KIER (Hgg.), Städtebau und Staatsbau im 20. Jahrhundert, München 1996. Vgl. zu einem städtebaulichen Ensemble, das diese Transformation besonders deutlich einfängt J. FISCHER, Prager Straße in Dresden. Zur Architektursoziologie eines utopischen Stadtensembles, in: Ausdruck und Gebrauch 5 (2005), S. 4-14. E. GIESSKE, Bauen – mein Leben, Berlin 1988, S. 37. Vgl. zu den innen- und außenpolitischen Erfolgen dieser Zeit H. WEBER, DDR Grundriß der Geschichte 1945-1990, Hannover 1991, S. 143-150. P r a k t i s c h e Verwendung fanden Elemente der einst abgelehnten Moderne im „industriellen Bauen“ seit den 1950er Jahren, doch erst in den 1970er Jahren erfolgte die theoretisch Rehabilitierung und Nobilitierung zur eigene Tradition, die (z.B. mit der Rekonstruktion des Dessauer Bauhausgebäudes) auch gepflegt wurde. Vgl. v.a. K.-H. HÜTTER, Das Bauhaus in Weimar. Studie zur gesellschaftspolitischen Geschichte einer Kunstschule, Berlin 1976. Zeitgenössische Inspirationsquellen des „Palasts“ lagen nicht nur im Moskauer Kongresspalast, sondern auch im kapitalistischen Ausland. Den Architekten wurden Studienreisen ins NSW genehmigt, etwa zum Ham-
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Baukörper verzichtete man jedoch. Anstelle des einst projektierten unzugänglichen Herrschaftszeichens, dass sich über eine Bevölkerung erhoben hätte, die als bloße Dispositionsmasse stadträumlicher Machtinszenierung v o r dem Gebäude Staatsund Parteiverbundenheit ausdrücken sollte, entstand ein Bauwerk, dass sich im Höhenmaß (25m für die Glasfront, 32m für die Saalbauten) in die Stadtsilhouette einfügte, und mit der 180m langen Glasfront sowie den gläsernen Türen zum Hauptfoyer ein sichtbares Zeichen der Zugänglichkeit setzte. Die Gestaltung des Baukörpers war nun auf eine Simulation von Herrschaft durch das Volk und für das Volk angelegt. Vom weißen Marmor und der kupferfarbenen Thermoglasfläche der Fassade zu den zahllosen Kugelstablampen (1001 allein im Foyer), den transparenten Türen oder der gläsernen Blume im Innenraum, dominierten Glas und Licht das Erscheinungsbild. Mit diesem „hellen, optimistisch stimmenden Grundton“ sollte die „Vision […] der Selbstdarstellung der Werktätigen in lichtdurchfluteten Volkshäusern […] verwirklicht“80 erscheinen. Das visuell erlebbare „Maximum an Durchschaubarkeit“ verwies auf die behauptete „Transparenz der sozialistischen Idee“ und ihre Kontinuität mit „republikanischen“ Öffentlichkeitstraditionen.81 „Die Träume und Ideale der Vergangenheit von der Herrschaft des Volkes“ sollten so „einen unserer sozialistischen Gesellschaft gemäßen sinnfälligen Ausdruck“82 finden und zum „Symbol der Politik des ersten deutschen Staates der Arbeiter und Bauern“83 werden. Die klimatechnisch notwendige Verspiegelung der Fassade tat der Transparenzsuggestion allerdings Abbruch und die diskrete Überwachung durch beim „Klassenfeind“ erworbene Videotechnik machte sie mehrdeutig: der Palast war „gut ausgeleuchtet, damit das Wachpersonal jeden Winkel durch die Kontrollkameras einsehen konnte“.84 Die explizite Anknüpfung an die Tradition des „Volkshauses“ symbolisierte, wenn nicht die Machtpartizipation, so doch die Hoffnung auf kultur- und konsuminduzierte Integration und Pazifizierung der vermeintlich herrschenden Arbeiter und Bauern, die als Bauherren, Produzenten, Eigentümer und Nutznießer des Gebäudes in Personalunion auftraten.85 Anders als die „Arbeiter und Bauerntem-
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burger Kongresszentrum. Vgl. hierzu auch A. KUHRMANN, Zwischen Bauhaus und DDRModerne. Der Palast und seine Ideengeschichte, in: BEUTELSCHMIDT / NOVAK, Palast (wie Anm. 17), S. 92-107. H. GRAFFUNDER / M. BEERBAUM, Der Palast der Republik, Leipzig 1977, S. 19 und S. 15. Auch Erich Honecker betonte zum Richtfest 1974: „Der Palast der Republik wird ein Haus des Volkes sein“ (in ebd., S. 7). Vgl. zur Tradition und Neubestimmung des „Volkshauses“ in der DDR: HAIN, Volkshaus (wie Anm. 17). Anlage zu Arbeits- und Beschlußprotokoll der Politbürositzung vom 11.12.1973. SAPMOBArch, DY 30 J IV 2/2A-1735/1735, zitiert in PALUTZKI, Architektur (wie Anm. 29), S. 370f. M. SCHRÖTER / W. GRÖSEL, Berlin, Palast der Republik, Leipzig 1977, S. 4f. Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, Palast (wie Anm. 60), S. 19. S. WOLLE, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989, Bonn 1999, S. 46. Vgl. Der Palast der Republik und seine Erbauer 1973-1976, hg. von Aufbauleitung Sondervorhaben Berlin, Berlin 1976, wo Arbeiter entsprechend ins Bild und zu Wort kommen. Etwa wenn
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pel“86 der 1950er Jahre, die in erhabener und weihevoller Gestalt die „Volksmassen“ als passives Objekt politischer und (hoch-)kultureller Erziehung adressierten, waren die Kulturhäuser seit den 1960er Jahren (z.B. der Dresdner Kulturpalast oder die Stadthallen in Chemnitz und Suhl) durch „Verflechtung des Kulturbereichs mit anderen gesellschaftlichen Einrichtungen zu komplexen Kultur-, Freizeit-, und Gesellschafts-Zentren“87 gekennzeichnet. Der vollendete Ausdruck dieses Prinzips im „Palast“ erlaubte eine aktive Aneignung mit dominant populärund alltagskultureller Ausrichtung.88 Die hexagonale Anlage des großen Saals knüpfte dabei in ihren technischen Möglichkeiten und im Versuch, „eine räumliche Trennung zwischen Bühne (aktive Zone) und Zuschauerraum (passive Zone) zu vermeiden“, an die Tradition der Piscator-Bühnen und an das „Zentraltheater“ von Gropius an. Das „Heineinwachsen der Aktionsfläche in den Zuschauerraum“ sollte eine „optimale Kommunikation“ gewähren und „den Zuschauer zum aktiven Teilnehmer“ machen.89 Als Inszenierung eines kulturellen Kommunikationsangebots konnte auch die bildkünstlerische Gestaltung verstanden werden. Auf die anfangs geplante appellative Außenwandbildgestaltung wurde zugunsten der ungebrochen Wirkung der Spiegelglas-Marmor-Fassade, mit dem Staatsemblem als einzigem Akzent, verzichtet. Geschichtsphilosophische Legitimationskonstruktionen waren dem Baukörper nicht eingeschrieben und nur mehr in den Erläuterungen präsent.90 Auch das erst 1986 aufgestellte Marx-Engels-Denkmal war weit entfernt vom einst geplanten Monument und fügte sich eher defensiv-besinnlich in eine Parkanlage ein. An die Stelle der einheitlichen Präsentation von „großer Utopie“ und Herrschaftsanspruch im städtischen Raum trat eine diffus-kleinteiligen Auftragsvergabe für die Innengestaltung. Von den „weit über 300 Werke[n], […] geschaffen von mehr als 100 Künstlern“91 waren die großformatigen Werke von 16 herausragenden Künstlern in der Galerie des weitläufigen Foyers besonders exponiert. Trotz der Interpretation, dass dieses vielgestaltige Kaleidoskop von Arbeiten zur äußerst offenen
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der Brigadier Heinz Stelzig seine Frau über Sonderschichten hinwegtröstet: „Tröste dich, Mutter, später gehen wir ganz groß im Palast der Republik aus“ (S. 72). U. HARTUNG, Arbeiter- und Bauerntempel. DDR-Kulturhäuser der fünfziger Jahre – ein architekturhistorisches Kompendium, Berlin 1997. FLIERL, Kulturhaus (wie Anm. 70), S. 164. Die Dominanz der „Populärkultur“ zeigte sich in der Nutzung des „Großen Saals“. Vgl. V. BÜTTNER, Die Veranstaltungen. Zwischen Professionalismus und Provinzialismus, in: BEUTELSCHMIDT / NOVAK, Palast (wie Anm. 17) sowie „Veranstaltungen im Großen Saal und im Theater im Palast.“ Beilage zu: ebd. GRAFFUNDER / BEERBAUM, Palast (wie Anm. 80), S. 35. Vgl. Ebd., S. 9-16; Aufbauleitung, Palast (wie Anm. 85), S. 10ff. GRAFFUNDER / BEERBAUM, Palast (wie Anm. 80), S. 42. Dabei handelte es sich u.a. um die „Vielfalt der Republik“ einfangende Landschaftsmalerei für Konferenzsäle der Volkskammer, 17 Gobelins für das Palastrestaurant, eine Schmuckwand mit Porzellan- und Goldflächen, Keramikwandbilder in Espresso- und Milchbar etc.
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Leitfrage „Dürfen Kommunisten träumen?“92 ganz „ohne Schönfärberei voll Zuversicht in […] die Zukunftsperspektive des Sozialismus/Kommunismus“93 sei, waren in der stilistischen Vielfalt und Motivvarianz auch resignative oder ironische Akzente hinsichtlich der staatlichen Geschichtsteleologie gesetzt (Abb. 8).94 Wie das „Theater im Palast“, welches – trotz oder wegen enger Verstrickung der Leiterin Vera Oelschlegel mit der Herrschaftselite – im Gewand anspruchsvoller Kleinkunst auch „ein Ventil für systemkonforme Systemkritik“95 bot, war dies ein Sinnbild der Tendenz, sonst unterdrückte politische und gesellschaftliche Diskussionen in die Innerlichkeit einer (beschränkten) „Weite und Vielfalt“ der Kunst zu verlagern, in der alternierende Perspektiven auf den „Realexistierenden Sozialismus“ und sonst öffentlich nicht kommunizierbare Erfahrungen ihren stellvertretenden Ausdruck fanden.96 Der denkbar große Abstand der Demokratiesuggestionen in Baukörper und Bildprogramm zu den politischen Realitäten zeigte sich in der Nachrangigkeit der dezidiert politischen Funktionen des „Palasts“, die auf seltene Nutzungen des gro-
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Der offene Vorschlag Fritz Cremers’, der die künstlerische Gesamtkonzeption leitete, setzte sich gegen das Motto „Kampf und Sieg des Sozialismus“ durch. Vgl. P. KAISER, Das künstlerische Bildprogramm als spätes Dokument einer Veralltäglichung, in: BEUTELSCHMIDT / NOVAK, Palast (wie Anm. 17), S. 132-144, hier S. 137. P.-H. FEIST, Die Galerie im Palast der Republik, in: Bildende Kunst 7 (1976), S. 314-318, hier S. 318. Vgl. zur retrospektiven Betonung des kritischen Gehalts DERS., Geschichtsräume. Störbilder. Die Wandbilder im Berliner Palast der Republik, in: DOLFF-BONEKÄMPER / KIER, Städtebau (wie Anm. 77), S. 173-192. Besonders deutlich in Bernhard Heisigs „Ikarus“, dessen Geschichtsbild einer ewigen Abfolge von „Progreß und Regreß, von Aufstieg und Rückschlag“ auch mit dem Zauberwort „Dialektik“ kaum auf die offizielle teleologische Linie zu bringen war und Heisig nicht zum ersten Mal den Vorwurf einbrachte, dass „das Tragische zur zentralen Aussage avanciere, die Geschichte objektiv jedoch anders“ auszusehen habe. H. PETERS, Kommunikationskraft des Gegenständlichen. Zum Bild von Bernhard Heisig, in: Bildende Kumst 7 (1976), S. 333. Vgl. zu kulturpolitischen Konfliktlinien in Heisigs Biographie E. GILLEN / T. HEIM / P. KAISER, „Wir glaubten alle, da muß noch was kommen...“. Stichworte zu einer Biographie, in: E. GILLEN (Hg.), Bernhard Heisig, Die Wut der Bilder, Köln 2005, S. 307-329. Auch Wolfgang Mattheuers „Guten Tag“ enthielt nicht nur die kleinbürgerliche Idylle von „Geborgenheit, […] Sicherheit und […] Glück unseres sozialistischen Lebens“ (GRAFFUNDER / BEERBAUM, Palast [wie Anm. 80], S. 49). Mit der den Hintergrund ausfüllenden Stadt in einer zerstörten Natur fanden sich auch Anspielungen auf die ökologischen Konsequenzen sozialistischer Technikutopien. S. FLAMM, Der Palast der Republik, in: E. FRANCOIS / H. SCHULZE (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bonn 2005, S. 402-417 hier S. 403. Für bildende Künstler schuf dies reale Freiräume. Das zeigt auch die geringe staatliche Einmischung in die Palast-Bilder (vgl. KAISER, Alltag [wie Anm. 92]) oder die Bedingung der Freiheit von Termindruck und Einmischung in die künstlerische Gestaltung, die das Künstlerkollektiv um Ludwig Engelhardt für die Übernahme des Auftrags für das Marx-Engels-Denkmal stellte (vgl. FLIERL, Ort [wie Anm. 31], S. 351ff.). Deutlich wurden im „Palast“ aber auch die weit engeren Grenzen für das gesprochene Wort, etwa bei der Absetzung des Kabarettprogramm „Kritik muss man üben“. Vgl. BÜTTNER, Veranstaltungen (wie Anm. 88), S. 167.
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ßen Saals für Veranstaltungen der „Parteien und Massenorganisationen“97 und die Unterbringung der Volkskammer in einem abgegrenzten Teilbereich des Mehrzweckgebäudes beschränkt blieben. Letzteres mochte Volksnähe markieren, war aber auch unfreiwilliger Ausdruck der faktischen politischen Bedeutungslosigkeit dieser Vertretungskörperschaft der „Abgeohrfeigten der Volkswange“,98 die in ihrer Machtlosigkeit gegenüber dem Politbüro nur die Machtlosigkeit des Volkes vertrat. Außerhalb des seltenen (3-4-mal jährlichen) Zusammentretens des Scheinparlaments wurde der Volkskammersaal anderweitig genutzt. Auch die vordergründige politische Funktion des „Zentralen Platzes“ im städtischen Raum ging verloren, da das neue Ensemble für Großdemonstrationen so ungeeignet war,99 dass diese nach einmaligem Versuch überwiegend in der Karl-Marx-Alle stattfanden, während vor dem „Palast“ nur ein zentraler Großparkplatz blieb. Die – im Verlust der realpolitischen Funktion und der Transformation zum Kulturhaus offenkundige – Fiktionalität der ideellen Aufladungen tat dem Integrationsanspruch der Honecker-Ära aber kaum Abbruch. Für diesen war die elementare, sinnlich-konsumtiv erfahrbare Dimension des „Palastes“ weit bedeutender. Mit vielfältigen gastronomischen und kulturellen Einrichtungen und dem zum Flanieren und Verweilen einladenden Foyer fand in der finalen Besetzung des „Zentralen Orts“ die pragmatische und bei der Bevölkerung durchaus konsensfähige „kleine“ Utopie einer sozialistischen Konsumentengemeinschaft nicht nur ihre Repräsentation, sondern ihren stellvertretenden Ort. Unter der Voraussetzung politischer Passivität konnte sich die überwachte Bevölkerung dem Konsum attraktiver Veranstaltungen hingeben, die nur selten politisch aufgeladen waren oder unter konsensfähigem Motto standen (z.B. „Rock für den Frieden“). Sogar mit funktionierenden Telefonen, frischen Schnittblumen und Sonderkontingenten kaum erhältlicher Druckerzeugnisse wurde den Bedürfnissen der „umfassend entwickelten sozialistischen Persönlichkeit“ Rechnung getragen, die sich in Spreebowling, Espresso-, Mokka- und Milchbar, Spree- und Lindenrestaurant, Jugendtreff oder Wein- und Bierstube auch überreiche gastronomische Angebote zu niedrigen Preisen aneignen durfte – ganz privat oder in semioffizieller Vergemeinschaftung, etwa bei Brigadefesten.100 Die primäre Nutzung dieses auf Repräsentation politischer Geltungsansprüche und Partizipationsfiktionen ausgerichteten Ortes als Raum zum Ausleben weitge97 98
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Der Anteil politischer Veranstaltungen an der Nutzung des großen Saal betrug (einschließlich der Immatrikulationsfeiern der Humboldtuniversität) nur 5,6%. Vgl. ebd., S. 158-173. Diesen Namen gaben D. BECKERT und J. B. WOLF der Institution in: Das Hanebuch von 1984. Die Brachialromantische Urfaust oder Das Ende der Lebertranen-Dynastie. Nach den Manuskripten des „Autors“ hg. von D. BECKERT / J. B. WOLF, Leipzig 1995. Die dem „Palast“ vorgelagerte Tribüne wurde vom Staub vorbeiratternder Panzer verdeckt (vgl. FLIERL, Ort [wie Anm. 31], S. 356) und die „Politbürokratie – Opfer ihrer eigenen Optik – verzwergte vor den Ausmaßen der Fassadenfläche“ (C. DIEKMANN, Wege durch Mitte. Berliner Stadterfahrungen, Berlin 1995, S. 107). Vgl. etwa S. WOLLE, Der Palast als Gesamtkunstwerk. Oder: das Gleichnis vom Pfennig, in: BEUTELSCHMIDT / NOVAK, Palast (wie Anm. 17), S. 174-185.
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hend apolitischer Praktiken kann durchaus als Ausdruck einer „atomisierten Gesellschaft“ verstanden werden, insofern jedes öffentlich-politische Leben durch erlebte Einflusslosigkeit und Repressionsdrohungen erstickt war und ritualisierte politische Formen nur mehr passiv mit vollzogen wurden, um in Pioniergruppe, Kollektiv oder SED-Grundorganisation Privatheit genießen zu können.101 Das hatte aber durchaus auch integrative und stabilisierende Effekte. Die Einrichtung in die gesellschaftlichen Gegebenheiten, als selbstverständlicher Hintergrund des Alltags, reproduzierte die zugrunde liegenden Herrschaftsverhältnisse inzwischen jenseits von staatlichem Terror und Dominanz der Ideologie, wie sie für Nationalsozialismus und Stalinismus bestimmend waren. Die DDR dieser Zeit kann insofern als „posttotalitäre“ Diktatur verstanden werden, als mit der fortgesetzten Zusicherung und partiellen Erfüllung der „weitere[n] Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes“,102 bei gleichzeitiger kultureller und ideologischer Liberalisierung, ein Zwitterwesen entstand, in dem totalitäre Restbestände mit einer zunehmend dominanten, sozial-diktatorisch abgesicherten Variante der modernen Konsumgesellschaft amalgamiert waren.103 Wenn die SED ihren Herrschaftsanspruch nicht nur auf Gewalt, sondern auch auf eine „intransitive Macht“ geteilter Dispositionen und Handlungen stützen konnte, so beruhte das kaum mehr auf den historischen und teleologischen Legitimitätssuggestionen des offiziellen Geschichtskonstrukts. Dessen zielrationale Dynamik war im „Erfahrungsraum“ des „Realexistierenden Sozialismus“ still gestellt und seine Verheißung aus dem „Erwartungshorizont“ hinauskomplimentiert worden, wäh101
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Vgl. zur atomisierten Gesellschaft H. ARENDT, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, München/Zürich 1986, v.a. S. 499-528; zur sekundären Nutzung offizieller politischer Formen zum Ausleben von Privatheit TENORTH / KUDELLA / PAETZ, Politisierung (wie Anm. 76), v.a. S. 254ff. So das 1976 sinnigerweise im „Palast“ beschlossene neue Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: Dokumente zur Geschichte der SED, Bd. 3: 1971-1986, Berlin 1988, S. 151. Zwar gab es in der DDR keinen freien Markt und ohne Absatz-Konkurrenz fehlte auch die gezielte Einflussnahme auf die Bedürfnisse der Konsumenten durch Werbung und Produktdesign (ein zentrales Merkmal kapitalistischer Konsumgesellschaften), dennoch lässt das – angestrebte und partiell erreichte – Erscheinungsbild der DDR seit den 1970er Jahre die Charakterisierung als Variante der Konsumgesellschaft zu: Im Selbstverständnis der Bevölkerung wie in den staatlichen Geltungsbehauptung nahmen Freizeit und Konsum eine zunehmend dominante Position gegenüber Arbeit und Produktion ein. Konsum diente nicht nur der Erfüllung von Primärbedürfnissen zur Reproduktion der Arbeitskraft, vielmehr der aktiven Gestaltung des individuellen Lebens. Ehemalige Luxusgüter wie Fernseher, Kleinwagen, Urlaub im (sozialistischen) Ausland, ein breit gefächertes Kulturangebot und hochwertige Angebote für Feinkost und Kleidung auf dem Sonderraum der 550 Delikatessläden und der ca. 300 Exquisit-Modegeschäfte gestatteten der Mehrheit der Bevölkerung gelegentliche herausgehobene Konsumerlebnisse und einer Minderheit den alltäglichen Distinktionskonsum. Zeitweilige Versorgungsengpässe vor allem aber der Kontrast zur westdeutschen Konsumwelt mochten die DDR als Mangelgesellschaft erscheinen lassen, im Vergleich zu anderen staatsozialistischen Ländern blieb sie dennoch eine Wohlstandsgesellschaft, in der dem Konsum eine entscheidende gesellschaftsintegrative Funktion zukam.
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rend der seine Legitimationskraft vom anderen Ende der Zeitskala beziehende „antifaschistische Konsens“ zunehmend zur Beschwörungsformel in alltagsfernen Ritualen verblasste.104 Was blieb, war die Bindekraft der Versprechen von Wohlstand und Frohsinn, zwar auf im Durchschnitt niedrigerem Niveau, dafür aber mit größerer Sicherheit, Geborgenheit und Gleichheit als in der kapitalistischen Variante der Konsumgesellschaft. Die Erfüllung dieser Versprechen verlegte die „Führsorgediktatur“ nicht mehr ins kollektive „Morgen“ sondern in die individuelle Gegenwart des „1. Ich leiste was! 2. Ich leiste m i r was!“.105 Der „Palast der Republik“ zeigt diesen Anspruch ebenso wie seine Grenzen: Die (für die Hauptstadt ohnehin nur eingeschränkt geltenden) Gesetze sozialistischer Mangelwirtschaft waren lokal außer Kraft gesetzt. Auftritte internationaler Stars ermöglichten auch für die Populärkultur einen gelegentlichen Blick über den Rand des realsozialistischen Kulturreservats, wie er sich an anderen Orten für die Bildenden Künste etablierte.106 Selbst die wachsende Distanz von Führung und Volk wurde hier als bedingt aufhebbar inszeniert und erlebt.107 Doch diese „Insel der Glückseeligkeit“, diese „inszenierte Klein-DDR als Gesamtkunstwerk“108 auf begrenztem Raum, konnte nur durch hohe Subventionen über 14 Jahre existieren.109 Das machte den „Palast“ auch zum Symbol einer Wirtschafts- und Sozialpolitik, die soziale Befriedung mit mangelnder Investition in die veraltende Industrie und wachsender Auslandsverschuldung beim „ideologischen Gegner“ erkaufte. Temporär nahm die Bevölkerung dieses Integrationsangebot trotz spöttischer Beinamen – „Ballast der Republik“, „Pallazo Prozo“, „Erichs Lampenladen“ oder 104
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Vgl. zu den Begriffen „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ R. KOSELLECK, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989, S. 349-375; zum Verlust der zielrationalen Legitimation W. THAA / I. HÄUSER / M. SCHENKEL / G. MEYER, Gesellschaftliche Differenzierung und Legitimitätsverfall des DDR Sozialismus, Tübingen 1992, S. 303-389; zum Antifaschismus HEIM, Bannerträger (wie Anm. 26). Plakat zum X. Parteitag der SED 1981, in WOLLE, Palast (wie Anm. 100), Abb. 22. Gegenüber den Slogans der 1960er Jahre („Wie wir heute arbeiten werden wir morgen leben“) fällt die Ersetzung der teleologischen Verheißung und der Verlust des „Kollektivsubjekts“ auf. Anstelle des „wir“ tritt das „ich“ und das betonte „m i r “. Nicht mehr das Proletariat als Produzent seiner eigenen Geschichte im kommunistischen Großentwurf wird adressiert, sondern der einzelne Arbeiter als lohnabhängiger Konsument. Vgl. T. HEIM / P. KAISER, Effekte(n)kammer. Die Galerie der HGB als Vermittlerin von „Westkunst“ und Klassischer Moderne, in: B. V. BISMARCK / C. RINK (Hgg.), Galeriegeschichte der HGB, Frankfurt a.M. 2006. Etwa wenn auf den Fotos zur Palasteröffnung 1976 Erich und Margot Honecker zwischen 3500 Bauschaffenden das Tanzbein schwangen. Vgl. WOLLE, Palast (wie Anm. 101), S. 182. WOLLE, Heile Welt (wie Anm. 84), S. 46. Abgesehen von den Baukosten (offiziell 485 Mio. Mark der DDR + 61,5 Mio. Valutamark) standen jährlich ca. 84 Mio. Mark Betriebskosten nur ca. 33 Mio. Mark Einnahmen gegenüber. Nicht nur das Kulturprogramm, auch die Gastronomie war subventioniert, da sie, obwohl weit über dem normalen DDR-Niveau liegend, den unteren der landesweiten „Preisstufen“ zugeordnet wurde, um allgemeine Erschwinglichkeit zu sichern. Vgl. K. BEETZ, Die wirtschaftliche Seite, in: BEUTELSCHMIDT / NOVAK, Palast (wie Anm. 17), S. 148-157.
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„Renommiervitrine“ – praktisch an und machte den „Palast“ zwischen 1976 und 1990 zum meistbesuchten Ort Berlins. Dass die bloß stellvertretende Erfüllung von Konsumversprechen, denen keine „ökonomische Basis“ entsprach, das Volk auf Dauer nicht befriedete, die inszenierte umfassende Bedürfnisbefriedigung die Unzufriedenheit mit dem sonstigen Lebensstandard vielleicht sogar ebenso verschärfte wie die westlichen Konsumverheißungen, zeigte sich am Ende der DDR. Nachdem eine heterogene Minderheit aus protestantischer Kirche, Bürgerbewegungen, Reformsozialisten und Subkultur mit dem Einklagen von Autonomie, Öffentlichkeit und politischer Partizipation erstmals in der deutschen Geschichte eine demokratische Transformation ohne äußeren Einfluss in Gang gesetzt hatte, entschied sich die demokratische Mehrheit bei den ersten freien Wahlen im März 1990 für das „ja zur sofortigen Einführung der D-Mark“ der „Allianz für Deutschland“,110 also für den zügigen Beitritt zum Konsumparadies und gegen weitere Experimente im und mit dem zweiten deutschen Teilstaat.
5. Das Ende der DDR-Bebauung und die Zukunft der „neuen Mitte“ Mit dem Ende der DDR wurden der Palast und sein Standort erneut Gegenstand symbolischer Einschreibungen und Kämpfe. Bereits die Schließung fand in der Asbestbelastung des Gebäudes zwar einen plausiblen Anlass,111 ihr Zeitpunkt, wenige Tage vor dem Beitritt zur BRD am 3.10.1990, war allerdings auch ein politisches Symbol: Die inszenierte Klein-DDR sollte die DDR nicht überleben. Auch die Neubenennung des „Marx-Engelsplatzes“ durch den nun Gesamtberliner Senat als „Schlossplatz“ – ein Name den dieser Ort nie zuvor getragen hatte – setzte ein deutliches Zeichen. Versuche, das Gesamtensemble von Staatsrat, Außenministerium und Palast 1992 unter Denkmalschutz zu stellen, erwiesen sich als aussichtslos, zumal die Kompetenzen der Denkmalschutzbehörde gegenüber dem Bund als neuem Eigentümer, der sich zunächst eine Verwendung des Areals für Regierungsbauten offen halten wollte, stark eingeschränkt waren.112 Am 23.3.1993 fiel der erste Bundestagsbeschluss, den Palast nach der Asbestsanierung abzurei110
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Die „Allianz“ der ehemaligen Blockpartei CDU, des Demokratischen Aufbruch (DA) und der Deutschen Sozialen Union (DSU) verdankte diesem Slogan ihren großen Erfolg mit 48% der Stimmen. Die auf einen langfristigen Wiedervereinigungsprozess setzende SPD erreichte 21,9%, während das „Bündnis 90“ einstiger Bürgerrechtler nur 2,9% erhielt. Vgl. WEBER, DDR (wie Anm. 78), S. 229ff. Dass das ähnlich belastete Westberliner Kongresszentrum später bei laufendem Betrieb saniert wurde, veranlasste allerdings, in Anspielung auf alte DDR-Rhetorik, zu Sticheleien, der „Asbestgehalt“ sei „keine Materialfrage, sondern eine Frage der politischen Überzeugung“. P. ENSIKAT, Mein Palast der Republik, in: K. HEIDLER (Hg.), Von Erichs Lampenladen zur Asbestruine, Berlin 1998, S. 59-65, hier S. 64. Vgl. A.-I. HENNET, Die Berliner Schloßplatzdebatte im Spiegel der Presse, Berlin 2005, S. 44-49. Die Erwägung des Denkmalswerts durch Helmut Engel (Leiter des Landesdenkmalsamts) führte zu Rücktrittsforderungen.
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ßen, um Platz für eine Neubebauung zu schaffen. Zunehmend kristallisierte sich dabei, auch durch die öffentlichkeitswirksamen Aktionen der Initiative um Wilhelm von Boddien, die Rekonstruktion der Schlossfassade als Favorit, nicht unbedingt der Einwohner Berlins, die einem Schlossneubau keineswegs mehrheitlich zustimmten,113 wohl aber der politischen Repräsentanten, heraus, was der Bundestagsbeschluss vom 4.7.2002 für ein Gebäude mit Kubatur und Fassade des Schlosses endgültig bestätigte.114 Hinter den oft vorgebrachten „ästhetischen“ und städtebaulichen Gründen – über die sich Einigung nie erzielen lässt und die eben darum kaum hinreichende Grundlage eines Abrisses sind115 – stand auch hier politische Symbolik. War der Abriss des Schlosses „zum Symbol der kommunistischen Diktatur geworden“, sollte nun der Abriss des Palastes und der Neubau des Schlosses „Symbol für die wiedergewonnene Deutsche Einheit und die Fähigkeit der Demokratie, kulturhistorisch wertvolle Gebäude für die Nachwelt wieder herzustellen und zu überliefern“ werden.116 Auch die neue Hauptstadtfunktion Berlins diente als Argument: „Das sozialistische Staatssymbol muss verschwunden sein, bevor der Bundestag in die Hauptstadt kommt.“117 Solche Äußerungen reihten sich in die Tradition des damnatio memoriae, des seit der Antike bekannten „rituellen Aktes der Bestrafung von Architektur nach politischen Umbrüchen“,118 ein und konnten als Ausdruck eines „politischen Revan-
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Selbst nach der suggestiven Schlosssimulation auf Leinwand stimmten in einer Forsa-Umfrage vom September 1993 nur 35% der Berliner einem Schlossneubau zu, während 47% ihn explizit ablehnten. Vgl. T. BEUTELSCHMIDT / M. NOVAK, Im Lauf der Zeit, in: DIES., Palast (wie Anm. 17), S. 220-245, hier S. 238. Der Bundestag entschied so für die Variante A, gegen die Variante B (offener Gestaltungswettbewerb). Vgl. zu den Grundlagen: Internationale Expertenkommission Historische Mitte Berlins, Abschlussbericht, Berlin 2002. Dass der Anblick des „Palast“ „bei jeder durchschnittlich empfindlichen Seele einen Schock aus[lösen]“ müsse und umgekehrt, „jeder […] spüren“ muss, dass an diesem Ort der „Schlosskörper richtig ist“ (R. HAUBRICH, Kein Lehrstück in politischer Kultur, in: BEUTELSCHMIDT / NOVAK, Palast [wie Anm. 17], S. 200-211, hier S. 203) wirft Fragen nach den Grundlagen dieser ästhetische Normierung auf, die offenbar nicht „jeder“ teilt. Auch die heute verbreitete Ablehnung der (internationalen) städtebaulichen Moderne, die den „Palast“ trifft, führt anderenorts allenfalls zu satirischen Abrissforderungen. Vgl. B. ERENZ, Sofort abreißen! Der Palast der Republik muss weg – nur weil er hässlich ist und das Stadtbild schändet? Da hätten wir aber noch ein paar weitere Vorschläge, in: Die Zeit, 23.02.2006 (mit Vorschlägen für Hannover, München, Paderborn, Essen, Bonn, Hamburg etc.). Satzung des Fördervereins Berliner Stadtschloss. 1992, S. 1, § 2. Vgl. ähnlich auch J. FEST, Denkmal der Baugeschichte und verlorene Mitte Berlins, in: F.A.Z., 30.9.1990. So Andreas Apelt (Bundes und Europapolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus). Vgl. D. REITEMEIER, CDU fordert Beschluß zum Stadtschloßneubau, in: Berliner Morgenpost, 30.07.1998. A. KUHRMANN, Der Palast der Republik. Geschichte und Bedeutung des Ostberliner Parlamentsund Kulturhauses, Petersberg 2006, S. 189.
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chismus“119 verstanden werden. In den Visionen des Schlossneubaus, dessen Protagonisten der Palast wohl oft gleichgültig gewesen wäre, wenn er nicht eben jenen Ort besetzt hätte, drückten sich allerdings andere Sehnsüchte aus. Schien die originäre Symbolik des preußischen und wilhelminischen Staatsgebäudes für die Repräsentation der „dritten deutschen Republik“ auch manchem Befürworter ungeeignet,120 herrschte weitgehende Einigkeit in der Metaphorik einer „Heilung“ des geschundenen Berlins durch Restitution der historischen Fassade an dieser Stelle.121 Dass dies im Hinblick auf ausländische Besucher nötig sei, mochte nie recht überzeugen. Diese kennen Berlin kaum als Stätte verflossener Hohenzollernherrlichkeit und eher als „the defining city of the 20th century“,122 also als eine Stadt, die für die Brüche der Moderne und nicht für heile Geschichtskontinuität steht. Naheliegender scheint es, hier einen Versuch zu sehen, für das eigene, mühsam wieder gewonnene „Nationalbewusstsein“ die „Zwischenfälle“ deutscher Geschichte in DDR und NS-Staat an zentralen Stellen der Stadtbilder unsichtbar zu machen. Ähnliche Bemühungen um eine „Heilung“ der Städte – durch operative Entfernung der „Geschwüre“ baulicher Zeugnisse der jüngsten Vergangenheit und Transplantation historischer Versatzstücke – gab es seit 1990 auch an anderen Orten, etwa in Dresden.123 Auf Seiten der sich ab 1993 formierenden Palastbefürworter bildete zunächst die (n)ostalgische Verklärung einer goldenen Zeit, als der Gegenstand der Abrisspläne mit „Vielfalt, Charme und Wärme Menschen aus der ganzen Welt beglückt“124 habe, eine entscheidende Motivation, sich an den Palast zu „klammer[n] wie eine Nachbarschaft an ihre Eckkneipe“.125 Wünsche einer Wiederherstellung 119
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So der (Westberliner) Stadtplaner Max Welch Guerra. Vgl. B. KAMMER, Initiative Spreeinsel gegründet – Widerstand gegen den Palastabriss. Kein Platz für Schlossgespenster, in: ND, 8.4.1993. So hatte J. Nida-Rümelin vor „Mystifizierung des Ortes zur ‚nationalen Mitte’“ gewarnt, „in keinem Fall kann ein Schloss Symbol der dritten deutschen Republik sein.“ H. RAUTENBERG, „Keine Kulisse bitte!“ Interview mit Kulturstaatsminister Nida Rümelin, in: Die Zeit, 8.3.2001. Vgl. zur Heilungsmetapher etwa K. HARTUNG, Eine Stadt hofft auf Heilung, in: Die Zeit, 19.7.2001. Berlin gilt hier vor allem als d e r Stellvertreterort der „Systemkonfrontation“. Der deutsche Umgang mit d i e s e r Geschichte („Real history is falling so that fake history can take its place“) trifft daher auf Verwunderung. N. KULISH, An Insecure City Demolishes Its Own Charm, in: The New York Times, 26.2.2006. Sichtbar wird das in Dresden weniger im Wiederaufbau der Frauenkirche, der durch Integration erhaltener, sich schwarz gegen den neuen Sandstein absetzender, Ruinenteile historische Brüche verdeutlicht, weit stärker im Neubau des umliegenden Kares mit Fassadenrepliken von Standartbarockhäusern als „historische Leitbauten“. Mit dem Anbau des Polizeipräsidiums musste auch hier ein Zeugnis der DDR-Moderne weichen. Flugblatt der Initiative „Macht den Palast auf“, Sommer 1997. Demgegenüber dürften rationalisierte Argumenten für die Erhaltung – z.B. als Symbol der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung, da hier die ersten freien Wahlen beschlossen und der Einigungsvertrag ausgearbeitet wurde – nachrangig gewesen sein. K. M. MICHEL, Liebknechts Balkon, in: Kursbuch 112, S. 153-173, hier S. 161.
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des Baus in der alten Funktion mögen unrealistisch gewesen sein, da deren besonderer Reiz in einer Stadt, in der jede Einkaufs- und Bahnhofspassage ähnliches bietet, verloren gegangen wäre. Gerade die n e u e Funktion, als Fixpunkt des Massenphänomens einer marktwirtschaftlich erschlossen „Ostalgie“, hätte das Gebäude aber zu einem Ort kritischer Aufarbeitung der „Bindekräfte“ der Diktatur im umfassenden Kontext machen können.126 Möglichkeiten anderer kultureller Nutzungsformen bewies der nach der Asbestsanierung „skelettierte Palast“ ab 2003 in einer überaus erfolgreichen Phase der Zwischennutzung, die ihn „vorübergehend […] zum größten Kommunikator der Hauptstadt“127 machte. Neben dem zunehmend betonten architektur- und zeitgeschichtlichen Denkmalswert128 motivierte das eine wachsende Zustimmung zum zumindest temporären Erhalt, die sich nicht an einstige Ost-Westgrenzen hielt und bei den Jüngeren nicht aus Erinnerungen an die DDR gespeist war, sondern aus dem aktuellen Erleben eines modernen Eventorts. Trotz des kulturellen Nutzwerts, zahlloser gegenteiliger Bürgerpetitionen und Expertenvoten sowie ungeklärter Perspektiven der Finanzierung, Gestaltung und Nutzung des Schlosses bekräftigte der Bundestag 2005 den Entschluss zum umgehenden Abriss, der ab 2006 ausgeführt wurde. Die symbolische Zerstörung singulärer, aber ideologisch vorbelasteter Bausubstanz, zur Schaffung eines Freiraums für die Neubesetzung, erscheint so keineswegs nur als Signum totalitärer Systeme.129
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Eine solche Auseinandersetzung im Aufarbeitungsschwerpunkt „Herrschaft – Gesellschaft – Widerstand“ forderte die „Empfehlung der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ‚Aufarbeitung der SED-Diktatur’“, in: M. SABROW u.a. (Hgg.), Wohin treibt die DDR Erinnerung?, Bonn 2007, S. 17-45, hier S. 33ff. Damit war keine „staatlich geförderte Ostalgie“ (H. KNABE, Das Aufarbeitungskombinat, in: Die Welt, 8.5.2006) gemeint, vielmehr der Versuch, kritisch zu erfassen, wie die Verklärung zu „Honis heitere[m] Absurdistan, dessen selig erinnernde Ex-Insassen […] Arkadiens gedenken“ (C. DIECKMANN, Honis heitere Welt, in: Die Zeit, 28.8.2003) angesichts einer Diktatur mit Selbstschussanlagen und Staatssicherheit überhaupt zustande kommt. E. SIEPMANN, Hauch des Todes, in: Spiegel-Online vom 2.11.2005. Vgl. zum Denkmalswert ausführlich KUHRMANN, Palast (wie Anm. 118), S. 184-188. Vgl. zur denkmalspflegerischen Realität C. OEHMING, Der Ausgelagerte Palast. Wie viel kann oder konnte die Denkmalpflege praktisch leisten?, in: BEUTELSCHMIDT / NOVAK, Palast (wie Anm. 17), S. 3440. Der Symbolgehalt des Abriss wurde am Ende nochmals bekräftigt. Fallen sollte „ein Symbol für Mauer, Stacheldraht, Schießbefehl“ (K. SCHULER, Der Palast ist tot, in: Die Zeit, 19.01.2006) und „jede weitere Verschiebung“ des Abriss galt der CDU als Versuch, „ein Symbol der SEDDiktatur zu erhalten“ (S. GUNDLACH / K. SCHOELKOPF, Bauexperten fordern neue PalastDebatte, in: Die Welt, 10.11.2005). Manche offiziellen Verlautbarungen zum Abriss und zum Schloss-Neubau erinnerten in Inhalt und Gestus an die Rhetorik des untergegangenen Staates. So wenn Gerhard Schröder mit dem Gebaren eines neofeudalen Potentaten zum Wiederaufbau verkündete: „Wenn man in so einer historischen Situation ist, kann es äußerst befriedend und befriedigend sein, wenn man dem Volk etwas für die Seele gibt.“ Zitiert in FLAMM, Palast (wie Anm. 95), S. 413. Die Deutung der Entscheidungsfindung als „schönes Stück gelebter Demokra-
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Vielleicht wird das auf unabsehbare Zeit neu geschaffene „Berliner Loch“ durch „Erhöhung des Leidensdrucks“ den Schlossneubau beschleunigen, wie Angela Merkel meinte.130 Auf die weiteren Debatten um die Gestaltung des geschaffenen Leeraums in der „neuen Mitte“ Berlins darf man zumindest ebenso gespannt sein, wie auf die schließliche Besetzung und ihre späteren Deutungen. Dass das einst geplante „Humboldtforum“ in die – vom Bundestagsbeschluss 2002 bis zur „Machbarkeitsstudie“ 2005 von 100.000qm auf 50.200qm Nutzfläche geschrumpfte – Schlossattrappe nicht passen wird, schafft Raum für neue Visionen. Durch eine praktikable und rentable Mischnutzung, mit Konferenzräumen, Nobelhotel, Restaurants und Boutiquen hinter feudaler Fassade in den Obergeschossen, C&A, Karstadt und H&M hinter gläsernen Türen im Parterre, einem Multiplexkino im Seitenflügel und Aldi, Lidl, Videothek und 1-Euro-Shop im Keller, könnte ein kraftvolles und angemessenes Bausymbol für fortgesetzte Inklusionskraft bei wachsender sozialer Ungleichheit im Deutschland des 21. Jahrhunderts entstehen, das sich – anders als der „Palast der Republik“ – sogar amortisieren dürfte.
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tie“ (W. V. BODDIEN, Epilog, in: HENNET, Schloßplatzdebatte [wie Anm. 112], S. 153-157) dürfte jedenfalls janusköpfigen Charakter haben. J. HEISER, Das Berliner Loch, in: Süddeutsche Zeitung, 19.11.2005.
EKLEKTIZISMUS ALS PRINZIP INSTITIONALISIERENDER EIGENZEIT. Die bildliche Aneignung von Lebensmustern im Dienst großbürgerlicher Deutungsmacht MANUELA VERGOOSSEN Die akademische Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts rekurrierte auf eine Geschichtsauffassung, die sich – ausgehend von der Identitätsfindung des Bürgertums zu Beginn des Jahrhunderts – als stilbildendes Merkmal eines öffentlichen Repräsentationsbedürfnisses durchgesetzt hatte. Zu deren Erfolg hatte die vom Bürgertum protegierte Kunst in Kunst- und Museumsvereinen beigetragen.1 Das heißt, die Art der symbolischen Zur-Schaustellung des noch jungen Status und der damit verbundenen Habitusformen geschah in speziellen, vor allem in Bildern, aber auch in Denkmälern und Festinszenierungen zum Ausdruck gebrachten Lebens- und Geschichtsmustern, die einem sozusagen bürgerlichen k o l l e k t i v e n G e d ä c h t n i s 2 als selbstverständliche Erinnerungen entsprungen schienen und als neuer Mythos kursierten, um eine fehlende Tradition oder Genealogie zu kompensieren. Ihr stilistisches Medium war ein eklektizistischer Historismus.3 Einer der Protagonisten dieser Art von Symbolisierung war Anton von Werner. Wie kein anderer Zeitgenosse seines Metiers besaß er ein Spektrum von kunstpolitischen Möglichkeiten, um seine Vorstellungen durchzusetzen. Er hatte Wilhelm II. als jungen Kronprinzen im Zeichnen ausgebildet, avancierte zu dessen Hofmaler, wurde geadelt, verkehrte quasi mit dem Kaiserhaus auf familiärer Ebene und nahm schließlich als Direktor der Berliner Akademie den Kampf gegen alle Arten von sezessionistischer Kunst auf.4 Innovationen widerstrebten ihm; nicht zuletzt offenbar deshalb, weil er ein soziales Terrain erst erobern mußte, dessen Zugang ihm seine Herkunft eigentlich verwehrt hätte. Anton von Werner kam aus 1
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M. VERGOOSSEN, Kunstvereinskunst. Ökonomie und Ästhetik bürgerlicher Bilder im 19. Jahrhundert, Weimar 2011. DIES., Museumsvereine im 19. Jahrhundert. Ein typologischer Vergleich charakteristischer Beispiele, Neuried 2004. Der Begriff geht bekanntlich zurück auf J. ASSMANN (Hg.), Kultur und Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität, München 1992. H. FILLITZ, Der Traum vom Glück. Das Phänomen des europäischen Historismus, in: DERS. (Hg.), Der Traum vom Glück. (Künstlerhaus Wien/Akademie der Bildenden Künste in Wien, 13.9.1996-6.1.1997), 2 Bde., Wien/München 1996, Bd. 1, S. 15-25. P. PARET, Die Berliner Secession. Moderne Kunst und ihre Feinde im Kaiserlichen Deutschland, Berlin 1981. Siehe auch M. VERGOOSSEN, Die Etablierung der künstlerischen Moderne als Konflikt. Wie die Berliner Sezession in Opposition zur Kunstgenossenschaft Profil gewann, in: A. BRODOCZ / C. O. MAYER / R. PFEILSCHIFTER / B. WEBER (Hgg.), Institutionelle Macht. Genese – Verstetigung – Verlust, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 401-420.
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kleinbürgerlichen, wenig intellektuellen, eher pragmatischen Verhältnissen und hatte seine Karriere als Stubenmaler in Karlsruhe begonnen, bevor Illustrationen zu den Liedern Joseph Victor von Scheffels seinen Ruf als Zeichner überregional begründeten und ihm die Ehre einer Einladung zur Reichsproklamation in Versailles durch den Kronprinzen einbrachten. Der Auftrag zur Dekoration der Straße unter den Linden anläßlich des Siegeseinzuges der deutschen Truppen nach dem Krieg von 1871 führte ihn schließlich nach Berlin, was einen bemerkenswerten Karrieresprung bedeutete. Sein sozialer Gerechtigkeitssinn war – möglicherweise wegen seiner Herkunft – außerordentlich ausgeprägt, wie sein Einsatz gegen antisemitische Tendenzen an der Berliner Akademie zeigte;5 wenn er selbst auch nicht gerade die Produktion von Mißverständnissen verhinderte, deren Fortführung im Dritten Reich schließlich in einer Hetzkampagne gegen eine so genannte ‚entartete’ Kunst ihre absurde Steigerung fand und sich ausdrücklich gegen semitische Bildwerke richtete. Diese Mißverständnisse wurzelten in einer Kunst, die von Werner als Direktor der Berliner Akademie und als Vorsitzender des Vereins Berliner Künstler (der Dependance der Allgemeinen Deutschen Kunstgenossenschaft) institutionell manifestierte.6 Unterstützt vom künstlerisch dilettierenden Kaiser, dem er als ausschlaggebende Autorität in Kunstfragen zur Seite stand, bewies von Werner im Streit mit avantgardistischen Kunstrichtungen das unerbittliche Dogma eines kaum zu überbietenden konservativen Naturalismus. Dessen Ideal war der Anschein von Abbildtreue beziehungsweise der idealen Übersetzung von realen Anschauungsmustern. Aber um Muster handelte es sich gleichwohl, um quasi in Farbe umgesetzte, auf Beständigkeit insistierende Gesellschafts- und Verhaltensnormen. Von Werners Art zu malen sollte dabei keinesfalls mit photographischen Abbildern verwechselt werden. Sie entsprang vielmehr der Suche nach einer ideellen Ordnung des Visuellen, dem Wunsch, soziale Konventionen mit Hilfe von Bildern zu unterstützen und herzustellen. Insofern ist von Werner ein getreuer Dokumentar ideologischer Elemente der wilhelminischen Zeit. Seine Bilder sind statische Arrangements außerhalb zeitlicher Bewegung, die alles Andersartige in den Schatten der Abwertung stellen. Sie trugen bei zu einem Imperialismus im Reich der Malerei, der alles, was sich ihm widersetzte, entweder erobern oder vernichten wollte. Begriffe wie g e s u n d und k r a n k bezeichnen – in Analogie zum kaiserlichen Begriff der als R i n n s t e i n k u n s t entwerteten sozialkritischen oder avantgardistischen Kunst7 – die von ihm definierten Befindlichkeiten des richtigen Malens.
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PARET, Secession (wie Anm. 4), S. 29. VERGOOSSEN, Konflikt (wie Anm. 4), S. 404f. Der Begriff „Rinnstein“ in Bezug auf die Kunst wird von Wilhelm II. in seiner Rede zu den Künstlern anläßlich der Einweihung der Siegesallee in Berlin am 18. Dezember 1901 verwendet. Vgl. Kaiser Wilhelm II. als Mäzen im Vergleich mit König Wilhelm II. von Württemberg als Mäzen in: B. JANZEN, König Wilhelm II. als Mäzen. Kulturförderung in Württemberg um 1900 (Europäische Hochschulschriften), Frankfurt a.M. 1995, S. 228-238, hier S. 231.
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Selbst Personifikation einer Karriere, die steil aus dem sozialen N i c h t s hervorgestiegen war, war es sein Ziel, die Präsenz einer großbürgerlichen, auf der ideologischen Grundlage von Tradition, Nationalismus und Religion idealisierten Lebenswelt absolut zu setzen; so 1871 mit den heute wiederentdeckten und rekonstruierten Fresken in seiner eigenen Villa in der Potsdamer Straße,8 mit denen er seinen persönlichen Mythos als M a l e r f ü r s t in einem Gesamtkunstwerk nahezu p o m p e j a n i s c h e r F a r b g e b u n g 9 in Szene setzte. Dort gab er zum Beispiel im Speisezimmer – in der Art eines alter deus – Lebensmuster vor, mit denen er die zeitliche Rhythmik von Arbeit und Freizeit auf Wandbildern mit RenaissanceFiguren (die Gesichter aus seinem Bekanntenkreis zeigten) im Zusammenhang mit Spruchbändern als haushälterische Motti für seine eheliche Gemeinschaft mit Malvina Schroedter, der Tochter des badischen Künstlers Adolf Schroedter (neben Carl Friedrich Lessing ein wichtiges Vorbild für ihn aus der Düsseldorfer Malerschule), programmatisch thematisierte (Abb. 1). Dort heißt es: „Tages Arbeit, abends Gäste, saure Wochen, frohe Feste!“, womit er die quasi ordentliche Zeiteinteilung bürgerlicher Existenzform im Sinne von tätiger, besser noch, unternehmerischer Statusveredelung und geselliger Ideengemeinschaft festschrieb, man könnte auch sagen: auf der Grundlage der ökonomischen Antriebskräfte A r b e i t und P r o t e s t a n t i s m u s empfahl.10 Passend zu diesen ideellen Facetten entschlüsselte ein Kalendarium des Deutsch-Französischen Krieges auf einem Wandfries in seinem Arbeitszimmer – im Einklang mit Bildnissen auf den Wänden von Kaiser Wilhelm, dem Kronprinzen, dem Prinzen Friedrich Karl, von Moltke sowie anderen Persönlichkeiten – eine weitere Komponente dieser offenbar familiär gedachten Gemeinschaft: den Patriotismus, der in historischen Ruhmes-Aufzeichnungen seinen Gradmesser fand. Ein Reichsadler auf der Zimmerdecke krönte als nationalistischer Akzent das Arrangement aus Idolen, Geschichte und Heldentaten.11 Dem Patriotismus und dem Traditionalismus huldigte von Werner ebenfalls in den Gesellschaftsräumen des sogenannten Roten Salons und des Musikzimmers, die als Treffpunkte der Berliner Society bei Hauskonzerten und Familienereignissen dienten, beispielsweise anläßlich der Taufe des ältesten Familiensprößlings, Fritz von Werner, am 10. Februar 1879, wie ein Ölbild des Künstlers von 1880 mit den anwesenden Taufpaten Kronprinzessin Victoria und dem Generalpostmeister Heinrich von Stephan sowie den im Arbeitszimmer bereits bildlich verewigten Persönlichkeiten als höfisch-bürgerliche Eintracht dokumentiert (Abb. 2). 8
9 10 11
A. BEKIERS, Die ‚Villa VI’ – das Wohn- und Atelierhaus Anton von Werners. Geschichte und Wiederentdeckung, in: D. BARTMANN (Hg.), Anton von Werner. Geschichte in Bildern, München 1993, S. 139-153. Heute ist die ehemalige Villa von Werners das Bürogebäude des Verlages „Der Tagesspiegel“. Ebd., S. 145. M. WEBER, Die protestantische Ethik und der ‚Geist’ des Kapitalismus, Tübingen 1905. BEKIERS, ‚Villa VI’ (wie Anm. 8), S. 140 mit der Umschrift: Stîc uf zem lichte vrî und klar / Du Tinschen Riches adelâr, ein bruodervolk, ein bruoderland / so wît sich dein gevîdere spant.
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Im Roten Salon wurden die gesellschaftlichen Ereignisse von den sechs symmetrisch angeordneten Brustbildern der Malerfürsten Dürer, Holbein, Rubens, Rembrandt, Velasquez und Murillo und den Sitzfiguren Raffaels und Tizians begleitet, in deren Verein sich von Werner – mittels seines Konterfeis in Bronze unter dem Tizian-Bildnis – als geschichtsdefinierendes, beziehungsweise den Kanon der Kunstgeschichte definierendes Mitglied einreihte. Eine derartige Vermischung verschiedener Realitätsebenen sollte die Vergegenwärtigung der adaptierten Ideale, Motive und personalen Auren verstärken und im Sinn einer auf die Gegenwart konzentrierten Eigengeschichte zusammenbinden. Dazu diente nicht nur die Bronzebüste von Werners im Roten Salon; auch die Vergegenwärtigung der Freundschaft zwischen von Scheffel und dem Künstler auf einem Wandgemälde im Musikzimmer der Villa sollte helfen, die zeitlichen Sprünge über die Jahre und Jahrhunderte als Adaption der Vergangenheit in die Gegenwart zu bewältigen und die Fiktion der Realität anzunähern. Die Bezugnahme der illusionistisch gemalten Triumphbögen über Tizian und Raffael im Roten Salon auf die aktuellen Lichtverhältnisse hatte gleiches im Sinn; ebenso die Gestalt der Erzählerin in den Märchenfresken im Kinderzimmer, die in der Doppelrolle der historischen Amme und vergegenwärtigenden Überlieferin auftrat. Während das Musikzimmer des auch musikalisch, an Cello, Geige und Stimme ausgebildeten Künstlers eine Hommage an den Freund Victor von Scheffel ist, dessen Lied-Illustrationen, insbesondere zur „Frau Aventiure“, zur „Maulbrunner Fuge“, zum „Exodus cantorum“, zum „Herbstreigen“ und zum „Vogt von Tenneberg“ von Werner seine Bekanntheit verdankte, widmet sich das Kinderzimmer den künstlerischen Wurzeln des Künstlers: also der von Moritz von Schwind geprägten spätromantischen Auffassung, die sich, wie die Fresken zu „Dornröschen“, „Aschenputtel“ und „Schneewittchen“ dort zeigen, nach dem kompositionellen und stilistischen Vorbild der Wartburgfresken zum „Märchen von den sieben Raben“ ausgebildet hatte. In diesen beiden Zimmern war es von Werner gelungen, den Reiz der mittelalterlich erscheinenden Illustrationen – ursprünglich Sepia-Tuschzeichnungen – in Grisaillen zu übersetzen und damit ihren textorientierten Beiwerks-Charakter auf die Realität zu beziehen (Abb. 3). Von Werners historistische Konstruktionen machten Schule. Seine Künstlerresidenz wurde für andere zum Vorbild. Großbürgerliche Aufsteigerfamilien wollten in ihren Villen ähnlichen Bildprogrammen begegnen. So wurden die Märchenmotive wenig später für die Villa Sußmann in Berlin übernommen.12 Aufträge kamen auch von der Familie Pringsheim, die eine opulente Villa in der Berliner Wilhelmstraße Nr. 67 bewohnte – einer Straße, in der auch Otto von Bismarck (in der Nr. 70), der Eisenbahnkönig Bethel Henry Strousberg (in der Nr. 63) und Bismarcks Bankier Gerson Bleichröder, gen. Berliner Rothschild, residierten. Am Wilhelmplatz hatte Bleichröders Teilhaber Paul Schwabach im Palais des Grafen Hatzfeld sein Domizil. An der Ecke zur Voßstraße baute der Industrielle Borsig. 12
A. ROSENBERG, A. von Werner, Bielefeld/Leipzig 1900, S. 51.
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Zwischen Leipziger Platz und Voßstraße besaß der jüdische Verleger Rudolf Mosse ein weitläufiges Palais, und einige Häuser weiter wohnte der millionenschwere Graf von Pleß. Adel, Politik und Geld lebten so in trauter Nachbarschaft miteinander. Sich hier niederzulassen bedeutete den Gipfel des sozialen Aufstiegs für Nicht-Adelige und Politiker und erst recht für die zu Reichtum gelangten Exponenten der jüdischen Minderheit. Hier zu wohnen war sichtbarer Ausdruck dazuzugehören. In dieser Umgebung wird das Verlangen der, in doppelter Hinsicht, Neuhinzugekommenen nach demonstrativer Respektabilität verständlich.13
Das für Rudolf Pringsheim 1874 zum phantastischen Preis von 750.000 Mark fertiggestellte Haus (Abb. 4) zeigte dementsprechend die symbolische Umsetzung einer bürgerlich geprägten, neureichen Eigengeschichte, die den Ersatz für Tradition und Herkunft leisten sollte,14 schon allein durch die für D a u e r und D i g n i t ä t stehende Fassade des Gebäudes: mit einem Fries, der Darstellungen in mittelalterlich, beziehungsweise antik erscheinender und damit wiederum in traditionsaneignender Manier vor Augen führte; und zwar mit Hilfe einer alten Technik, die bislang Kirchen und königlichen Höfen vorbehalten war, mit Glasmosaiksteinen auf prunkvollem Goldgrund, die im Zeitalter der Eisenbahn durch ein ‚umgekehrtes Setzverfahren’ von der venezianischen Firma Salviati so modernisiert worden war, daß sie eine Versendung als Halbfertigprodukt nach Deutschland erlaubte. Inhaltlich wurden die Motive des Frieses wiederum von zeitlichen Strukturelementen bestimmt. Sie stellten sechs Lebensalter zwischen einem Anfang und einem Ende dar, die von zwei Sphinxen markiert wurden: der kindersäugenden Sphinx des Beginns (Initium) und der trauernden des Endes (Finis), letztere mit lorbeerbekränztem Totenkopf, zerbrochenem Kronreif und weihegebendem Palmenzweig. Dazwischen zeigten sich die Kindheit (Juventus), das Jünglingsalter (Amicitia), das Liebesglück (Amor), das Eheglück (Felicitas), das Alter (Ars) und der Tod (Exitium), die sich – das Liebesglück ausgenommen, das eher wie eine Märchenszene wirkt – in ihrer motivischen Prägung auch als Symbolisierungen der historischen beziehungsweise stilistischen Epochen Archaik, Antike, Mittelalter, Renaissance und Neoklassik vorstellen lassen. Während K i n d h e i t und J u g e n d sich eher dionysisch, als bukolische Idyllen mit tanzenden Hirtenkindern einerseits und weinseligen, in einem den Musen gewidmeten Gelage junger Männer andererseits entfalten (Abb. 5/6), bändigt die L i e b e die ungezügelten, rauschhaften Kräfte. Ein Jäger mit den Gesichtszügen Anton von Werners ist von ihr entwaffnet worden und liegt im Schoß einer jungen, Malvina ähnlichen Frau, während sich Amor auf einem zutraulichen Rehbock nähert (Abb. 7). 13 14
P. SPRINGER, Geschichte als Dekor. Anton von Werner als Dekorationsmaler und Zeitzeuge, in: BARTMANN, Anton von Werner (wie Anm. 8), S. 121. A. ROSENBERG, Die Bauthätigkeit Berlins, in: Zeitschrift für Bildende Kunst 10 (1875), S. 346352, hier S. 346ff.
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Die darauf folgende Szene der „Felicitas“ schildert den Höhepunkt des Lebens: hier einen Künstler, der sich im Kreis seiner Familie, wie Adolf Rosenberg als zeitgenössischer Beobachter es formuliert, „[…] Kraft und Lust zu neuem tüchtigem[sic] Schaffen holt […]“. 15 Das Dyonisische hat sich dem Apollinischen unterworfen,16 beziehungsweise geht eine fruchtbare Verbindung damit ein. Im Hintergrund vor eingerüstetem Turm – höchstwahrscheinlich dem über Jahrhunderte ähnlich eingerüsteten Turm des Kölner Doms17 – schaut ein Baupläne studierender Mönch voller Mißgunst auf das ihm selbst verwehrte Eheglück (Abb. 8). Das A l t e r führt – Gewändern und Requisiten entsprechend – ein Renaissance-Szenario vor Augen. Ein herrschaftlich gekleideter Patrizier empfängt von einem Werkstattgehilfen, der noch die staubigen Spuren der Bildhauerarbeit vorweist, den Perseus von Benvenuto Cellini, während der Schöpfer des Werks dem Mäzen seine Arbeit erläutert (Abb. 9). Im Hintergrund befindet sich ein antiker Sarkophag sowie der Kopf des Apoll von Belvedere; links ein Torso, darunter Zeichnungen und Pläne sowie im Vordergrund das spätere Wunderkammerinventar eines Edelsteinpokals, eines Humpens mit herausgetriebenen Ornamenten, einer Reiterstatuette mit springendem Pferd und eines bronzierten Silbertellers. Dieser Beschreibung nach könnte es sich bei dem Fürsten um Cosimo I., den Förderer der Künste, handeln, der hier die Züge Rudolf Pringsheims trägt. Auch das letzte Lebensalter-Mosaik assoziiert herrschaftliche Verhältnisse durch königliche Embleme am Saum einer Bettdecke. In diesem Fall soll es sich, der Gesichtszüge wegen, um Friedrich den Großen handeln, der allerdings nicht in einem Bett, sondern in dem berühmten, im Potsdamer Schloß ausgestellten Sessel verstarb (Abb. 10). Testament und Schreibfeder sind dem von einem Diener in Livree zurechtgebetteten Greis aus den Händen gefallen. Die Fama sitzt dem Sterbenden zu Füßen und reicht ihm den Lorbeerkranz, während sie seinen Namen auf einer von einem Genius gehaltenen Tafel verzeichnet. Der repräsentativen Fassade der Pringsheim-Villa folgte das Innere des Hauses. Vor allem im Hinblick auf die Existenzformen der Muße und des Festes. Von Werner war auf diesem Gebiet ein Spezialist. Er inszenierte 1886 das große Pergamonfest in Berlin, bei dem selbst Mitglieder des Hofes – inmitten von unzähligen Statisten – in Verkleidung auftraten. Das Fest bietet gewissermaßen Muster für kondensiertes Leben, deren Stillstellungen besonders gut zu dem neuen, aus historistischen Geschichts-Versatzstücken konstruierten bürgerlichen Mythos einer 15 16 17
R. DOHME, Die Werner-Ausstellung in Berlin, in: Zeitschrift für Bildende Kunst 2 (1874), S. 346354, hier S. 351. Vgl. zum Begriff des „Dionysischen“ und „Apollinischen“ siehe F. NIETZSCHE, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Stuttgart 1993, S. 21ff. Vgl. zur Funktion des Kölner Doms als Sinnbild einer Nationalkirche, die Geschichte, Religion und Tradition in projektiver Weise vereint M. VERGOOSSEN, Authentizität und Historismus. Moritz von Schwinds „Sängerstreit auf der Wartburg“ als Repräsentation bürgerlicher Geltungsansprüche, in: B. KELLNER / P. STROHSCHNEIDER (Hgg.), Geltung von Kunst. Studien zur höfischen Literatur des Mittelalters, Frankfurt a.M. 2005, S. 111-125 sowie A. WOLFF, Die Baugeschichte der Vollendung des Kölner Doms, in: FILLITZ, Glück (wie Anm. 3), S. 113-123.
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zugleich vergangenheits- und zukunftsorientierten, Tradition und Utopie synthetisierenden Lebenswelt paßten. Dabei vermischt das Fest das Leben mit der Kunst auf eine Weise, die der Bühne und dem Theater nahesteht, also Kunstformen inszenierten Lebens vorführt, deren Handlungen als Rituale und Formeln auch in der ‚Wirklichkeit’ begegnen. Im Bild „La Festa“ für die Villa des Großunternehmers Eduard I. Behrens in Hamburg von cirka 1876 hatte von Werner zeitliche, rituell umgesetzten Handlungsabläufe, wie die Begrüßung zu einem Fest, in kompositioneller Anlehnung an Paolo Veroneses „Hochzeit zu Kana“, in diesem Sinn auch interpretiert (Abb. 11). Der offensichtlich an venezianischem Ufer, in der Renaissance sich ereignende, hier ins Treppenhaus der Behrens-Villa (also dem passenden Ort für groß angelegte Begegnungen) transferierte Empfang ist dabei in mehrerlei Hinsicht vom Leben ‚unterlegt’. Nicht nur, daß in den Akteuren Familienmitglieder zu erkennen sind, in seinen biographischen Aufzeichnungen berichtet der Künstler von Situationen, die auch für sein Motiv ‚Modell’ gestanden haben könnten, so die Impressionen am venezianischen Bahnhof, die sich bei mehreren Reisen zur Firma Salviati einstellten: dem Empfang am 11. Mai 1875 durch die Mitarbeiter und den Chef am Bahnsteig zum Beispiel, die ihn mit einer wahren Flotte von Gondeln zum Grand Hotel geleiteten;18 so der Abschied des Kronprinzenpaares, kurze Zeit darauf, am gleichen Bahnhof. Von Werner hatte den Hoheiten, auf freundliche Einladung hin, in Venedig Gesellschaft geleistet. Nach der Verabschiedung auf dem venezianischen Bahnsteig schreibt er: Es war ein unbeschreiblich zauberhaftes Bild! Unter dem brausenden Evviva und Jauchzen der Menge entstieg das Kronprinzliche Paar der Gondel und schritt, freundlich grüßend und dankend, die Stufen zum Bahnhof hinauf, wo noch einige offizielle Vorstellungen und Verabschiedungen auszuhalten waren, ehe der Zug abfuhr.19
Im „Gastmahl der Familie Mosse“ (Abb. 12) wird das Zwischenreich zwischen Leben und Bühne, Vergangenheit und Gegenwart, Erlebtem und Gewünschtem ganz ähnlich heraufbeschworen. In barockem Ambiente und in festlicher Kleidung des 17. Jahrhunderts hat sich die Familie im Kreis ihrer Freunde an einer frontal gezeigten Tafel wie auf einer Bühne zu „Wallensteins Gastmahl“ (Abb. 13), dem von Julius Scholtz für die „Verbindung für Historische Kunst“ gemalten Bild, niedergelassen.20 Allerdings hat von Werner lediglich kompositionelle Elemente 18 19 20
SPRINGER, Dekor (wie Anm. 13), S. 127. A. VON WERNER, Erlebnisse und Eindrücke 1870-1890, Berlin 1913, S. 138. Julius Scholtz hatte das Bild „Wallensteins Gastmahl“ 1859/62 für die „Verbindung für Historische Kunst“ gemalt. Wie alle Bilder des Dachverbands der deutschen Kunstvereine ging das Bild auf Tournee durch Deutschlands Mitgliedsvereine, bevor es auf der Pariser Weltausstellung 1867 gezeigt wurde und es der Badische Kunstverein in Karlsruhe bei der Verlosung der Verbindung schließlich gewann. Von Werner kannte das Bild sicherlich, zumal er seine Jugendjahre in Karlsruhe verbracht hatte und sich auch 1867 als Beauftragter der süddeutschen Staaten für die Weltausstellung in Paris befand. Vgl. BARTMANN, Anton von Werner (wie Anm. 8), Chronik,
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übernommen. Der Ort des Geschehens ist ein Park und kein geschlossener Raum. Im Hintergrund sind niederländische Architekturen zu erkennen. Gerahmt wird das Fest von zwei Säulenarchitekturen, die typisch für von Werners zugleich innen und außen angesiedelte Gebäudestaffagen sind, die eine öffentliche mit einer privaten Sphäre zu vereinen scheinen, wie es für das gesellschaftliche Auftreten des Gründerzeit-Bürgertums kennzeichnend ist. Identifiziert wurden in der Forschung zum Bild: der Hausherr Rudolf Mosse, der sich zu seinem kompositionellen Pendant, dem Trinkspruch ausholenden und einen Pokal erhebenden Abgeordneten der „Freisinger Vereinigung“, Albert Traeger, wohlwollend umwendet. Links hinter Mosse sitzt, mit weißer Halskrause, der Jurist und Abgeordnete der Fortschrittspartei, Albert Haenel, rechts hinter dem Hausherrn wurde Haenels Fraktionskollege, der Mediziner Rudolf Virchow, erkannt. Links, seitlich vor dem Hausherrn, sitzt mit weißem Seidenkleid, Frau Geheimrat Loewenstein. An ihrer Seite steht der Philosoph Heinrich Rickert, der Sohn des gleichnamigen Redakteurs und Politikers. Rechts bilden wiederum Personengruppen proportionale Gegengewichte, so die Hausherrin mit dunklem Seidenkleid und die etwa neun- oder zehnjährige Tochter Felicia Mosse. Die Gesellschaft bekommt im Zusammenhang mit Mosses Verlagshaus, in dem seit 1871 das liberale „Berliner Tageblatt“ erschien, einen ganz besonderen Akzent, wie ihn Springer erkennt, der die Personen identifiziert hat: „Unter Berufung auf die republikanischen Niederlanden des 17. Jahrhunderts scheint Werners Gemälde einen stärkeren Einfluß des Bürgertums auf die Staatsführung im Deutschen Kaiserreich zu reklamieren.“21 Diese Vermutung würde einem Gedanken nahekommen, den auch der „Wallenstein“, wenn auch in weitaus drastischerer Form, andeutet: die Herrschaftsrelativierung.22 Indifferenz und Austauschbarkeit der Versatzstücke in den Bildern Anton von Werners sind für die Konstruiertheit der Motive bezeichnend. Für die Villa Pringsheim hatte von Werner 1870 ein Wandbild mit Aussicht auf eine mediterrane Landschaft entworfen, die, wiederum mit zwittriger Architektur zwischen innen und außen, als Kulisse für die bühnenmäßig auf Balustrade und Parkett arrangierten Akteure diente (Abb. 14). Courtoise Begegnung, höfisches Ambiente, burleske Komik werden in deren proportionaler Bezugnahme miteinander verschmolzen und zu Wahrzeichen einer Beliebigkeit, die sich in Andeutungen und Zitaten erschöpft, als wolle von Werner den Titel des Entwurfs nach Shakespeares „Was ihr wollt“ zum Signum für seinen Eklektizismus machen. Denn um austauschbare Vorstellungsnormen eines gewissermaßen kollektiven Spieltriebs handelt es sich durchaus; über diesen dafür typischen Entwurf hinaus erkennbar an Versatzstücken aus ägyptischer Kunst, römischer und griechischer Antike, Spätgotik, Renaissance und Barock, die von Werner in einer jeder ikonographischen Chronologie und jedem historischen Kontext widersprechenden Weise kombinierte. Dabei
21 22
S. 470 und J. DRESCH/ W. RÖSSLING (Hgg.), Bilder im Zirkel. 175 Jahre Badischer Kunstverein Karlsruhe (Badischer Kunstverein, 2.10.-21.11.1993), Karlsruhe 1993, S. 244-245. SPRINGER, Dekor (wie Anm. 13), S. 129. Vgl. DRESCH / RÖSSLING, Zirkel (wie Anm. 21), S. 244-245.
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kaschierte er die zeithistorische Brüchigkeit dieser Montagen mit einem modellhaften, statischen Bewegungsverständnis, – also das geschichtliche Pasticcio23 mit den quasi ewigen Rhythmen der Gegenwart, so daß schon auf der Ebene des Stilistischen nicht nur von Anachronie, sondern auch von einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen oder Diachronie gesprochen werden könnte, deren disparate Stilelemente ein perfekter, Gegenwart suggerierender Naturalismus homogenisierte, als hätte von Werner sich seine Lebensformeln von der Natur abgeschaut. Tatsächlich korrespondieren seine Vorgaben für normiertes ‚Leben’ mit den ‚erstarrten’ Formeln der zeitgenössischen Denkmalkunst; sogar geradezu als deren malerisches Pendant, als hätte er den Körpern beziehungsweise Statuen die Farbe der Haut abgezogen und auf die Wände der großbürgerlichen Häuser oder auf die Leinwände seiner Bilder gebannt. Sein Naturalismus hat etwas Starres, Totes, aber auch Groteskes, das ihm zugleich das Potential zum Dekorativen anbot (Abb. 15). Konsequenterweise setzte er das auch in technischer Hinsicht um. Nicht von ungefähr hatte er die denkmalhaften Posen des 19. Jahrhunderts (zum bewundernden Erstaunen seiner Zeitgenossen und wegen des hohen finanziellen Aufwands ausdrücklich protegiert von der Kronprinzessin sowie der Großherzogin von Baden) in jene traditionsreichen Glasmosaiken der Firma Salviati gebannt, die an der Berliner Siegessäule (Abb. 16) – dem Pendant zu späteren säulenartigen Gebäuden, wie zum Beispiel dem von der DDR gebauten Fernsehturm –, einen ganz neuen Symbolwert in einem System von Blickachsen gewannen, das auch die Nationalsozialisten im Dienst von Herrschaftssymbolik zu akzentuieren wußten. Politisch interessant ist jedenfalls, daß der normierende, akademisch fundamentierte Naturalismus, den von Werner forcierte, einer Entindividualisierung entgegenkam, die sich bis zum sogenannten ‚Tausendjährigen Reich’ generierte; daß dieser Stil gewissermaßen eine verläßliche, außerhalb der Geschichte stehende und diese nach Belieben nutzende Beihilfe zu einer Herrschafts-Ideologie leisten konnte, die von Werner auch mit seiner absoluten Ergebenheit in die Wünsche des Kaisers bezeugte, der sich gerade bei den Siegessäulenmosaiken und dem Siegesallee-Velarium, nahezu Regie führend, einmischte und einzelne Kompositionsteile und Personendarstellungen, die nicht seinen Vorstellungen entsprachen, reklamierte. Als auf dem Velarium die deprimierte Gestalt Napoleons unter dem Triumphwagen der Siegermacht bis zum Einweihungstag erhalten geblieben war, verlangte der Kaiser die Schonung der diplomatischen Beziehungen zu Frankreich und ließ den französischen Imperator anläßlich der Feierlichkeiten mit einem Leinwandstückchen bedecken, woraufhin der Berliner Volksmund sogleich vom ‚Verhängnis 23
Der Begriff „Pasticcio“ wird im Zusammenhang mit den historistischen Arrangements Wilhelm von Bodes im Berliner Kaiser-Friedrich Museum genannt bei P.-K. SCHUSTER, Bode als Problem, in: Wilhelm von Bode als Zeitgenosse der Kunst. Zum 150. Geburtstag (Berlin, 9.12.199525.2.1996), Berlin 1995, S. 10. Siehe auch M. VERGOOSSEN, Wilhelm von Bode und der KaiserFriedrich-Museums-Verein, in: B. MARX / K.-S. REHBERG (Hgg.), Sammeln als Institution. Von der fürstlichen Wunderkammer zum Mäzenatentum des Staates, München/Berlin 2006, S. 223-229, hier S. 224.
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Napoleons’ sprach (Abb. 17),24 was in diesem Fall als mehrfache, wenn auch begrifflich eigentlich anders gemeinte M a c h t v e r d e c k u n g verstanden werden könnte.25 An drei Beispielen können nun mögliche Schnittstellen des historistischen Eklektizismus vorgeführt werden, die sich als Montageprinzipien einer strukturellen Kausalität in die zeitliche Kombinatorik realer Prozeßabläufe zurückübersetzen lassen, also Zeitausschnitte im Sinn einer Zeitkonstruktion synthetisieren, die Mechanismen historistischer Deutungsmacht offenlegen. Terminologisch beziehe ich mich bei diesen Beispielen auf drei Begriffe Henri BERGSONs, die in dessen Abhandlung über das Lachen als Auslöser von Komik und als Entgleisungen einer quasi erstarrten Kausalität konventioneller, beziehungsweise mechanistischer Verhaltensformen entlarvt werden. Während BERGSON diese Mechanismen an Beispielen aus dem Theater, beziehungsweise den Komödien Molières demonstriert, ergeben sich vergleichbare Effekte auch aus den historistischen Kollisionen der Kunst mit dem Leben in den Bildern Anton von Werners; den Zusammenkünften von Vorstellungsverfestigungen mit dem Fluß lebendigen Geschehens, den CrashMomenten zwischen Institutionalisierung und Tatsächlichem. BERGSON bezeichnet diese Effekte als Folgen einer I n t e r f e r e n z z w e i e r S e r i e n , die im Extremfall eine logische R e p e t i t i o n oder eine I n v e r s i o n ergeben.26 Besonders interessant sind unter diesem Blickwinkel die Interferenzen zwischen Erinnerungsmodi und Zeitkonstruktion, da sie über den Grad der eklektizistischen Beliebigkeit und damit über die Eigendynamik der symbolisch konstruierten Eigenzeit eines sich institutionalisierenden Interesses Aufschluß geben, also deutlich machen können, ob eine symbolische Projektion von der Gegenwart auf die Vergangenheit paßt oder ob sie unpassend ist, ob ein sogenanntes k o l l e k t i v e s G e d ä c h t n i s sie assimilieren könnte oder nicht. Geht man also dementsprechend von der Prämisse aus, daß die strukturellen Mechanismen des eklektizistischen Montageprinzips Muster generieren, die zwischen den Extrempunkten der vollständigen Analogie mit kollektiven Erinnerungen und der vollständigen Differenz dazu angesiedelt sind (tatsächlich ist deren Spektrum wesentlich differenzierter), dann handelt es sich bei den symbolischen Umsetzungen mit nachlassendem Analogiegehalt vermutlich um kollektiv und damit öffentlichkeitswirksam weniger erfolgreiche Vergangenheitsaneignungen. Dabei wird der Einfachheit halber vorausgesetzt, daß die Aufmerksamkeit auch eines k o l l e k t i v e n G e d ä c h t n i s s e s wie ein Facettenauge rasterartig operiert, wenn es auf die selektierten historischen Situationen beziehungsweise deren symbolischer Überlieferung nachträglich seine Vergleichsmuster projiziert. 24 25
26
ROSENBERG, A. von Werner (wie Anm. 12), S. 35. Zum Begriff der Machtverdeckung K.-S. REHBERG, Sichtbarkeit und Invisibilisierung der Macht durch die Künste. Die DDR-„Konsensdiktatur“ als Exemplum, in: G. MELVILLE (Hg.), Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 355-382, hier S. 356f. H. BERGSON, Das Lachen, Zürich 1972, S. 52f., S. 57ff., S. 65ff., S. 67f., S. 69ff.
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Die Interferenz als Austausch von Erinnerungsmodi und Geschichtskonstruktion Die Interferenz zweier Serien ist die Grundlage historistischer Zeitkonstruktion, bei der Erinnerungsmodi sich als Geschichte gewissermaßen symbolisch kristallisieren sollen und auf die Gegenwart bezogen werden. Eine Möglichkeit, eine Interferenz zweier Serien herzustellen, ist die Vermischung von Theater und Leben, die sich dann (zum Beispiel als Bild in einem Wohnraum) wiederum mit der tatsächlichen Präsenz beziehungsweise Lebenszeit der Akteure vermischt. In diesem Sinn malte Anton von Werner 1879 die Familie Pringsheim als ‚Tableaux Vivant’ mit Kostümen der italienischen Renaissance für das Herrenzimmer im Haus in der Wilhelmstraße (Abb. 18). Der Bildraum nimmt auf dem Tableau perspektivisch – allerdings bühnenartig transformiert – Bezug auf tatsächliche Lichtverhältnisse sowie auf diejenigen der anliegenden Räume und deren architektonische Gegebenheiten und Gebrauchsweisen. Das Herrenzimmer war integriert in eine Zimmerflucht mit Bibliothek und Tanzsaal. Das Bild spiegelt also einen Teil des familiären Lebensraumes und zugleich die Physiognomien und Gesichter der Familie bei verändertem historischen und situativen Kontext als sogenanntes ‚Lebendes Bild’. Von Werner selbst nannte ein derartiges Konglomerat aus Leben und Kunst eine S z e n e , unterstützte sie durch einen eingängigen kulturhistorischen Konsens oder ganz einsichtig durch Trompe-l’oeil-Effekte. Dadurch wird das alltägliche Leben phantastisch überhöht und in eine mythische Dimension transzendiert, die der individuellen Familie nicht nur eine symbolische Aura, sondern ihr auch einen an der bürgerlichen Geschichtskonstruktion antizipierenden Status verleiht; sie einweiht und einweist in ihren sozialen Stellenwert als neue Medici. Wie die gesellschaftlich, bis zum Herrschaftsanspruch aufsteigende Familie der Renaissance hatte auch die Familie Pringsheim ihren Einfluß wirtschaftlichem Erfolg zu verdanken, beziehungsweise dem Reichtum, den sie durch Kohlebergwerke in Schlesien und die Pacht der schlesischen Schmalspureisenbahn akkumulieren konnte. Bekannt wurde die Familie insbesondere durch die Enkelin Katja Pringsheim, die Frau des bürgerlichen Prototyps schlechthin: des Schriftstellers und Nobelpreisträgers Thomas Mann.
a) Die Analogie als versuchte Deckungsgleichheit von gegenwärtiger Situation und Vergangenheitsprojektion Im Café Bauer, einem renommierten Berliner Treffpunkt der Gesellschaft Unter den Linden, wird der Zugriff auf eine alle Stimmungen und Lebenslagen bedienende Geschichte durch verschiedene Impressionen eines vermeintlichen römischen Lebens und durch einen Zyklus mit antik aufgefaßten Tageszeiten demonstriert. Von den ursprünglichen Wandbildern zum Tageszeitenzyklus sind nurmehr die Skizzen mit den Titeln „Morgen“ (Abb. 19) und „Bekränzung“ (Abb. 20) erhalten. Ursprünglich lauteten die Szenen: „Morgen“, „Bekränzung“, „Bewillkommnung“, „Mittagsstelldichein“, „An der Statue des Augustus“ und „Abend“. Der Zyklus suggeriert die sukzessiv veränderten Szenarien römischer Vergangenheit
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durch die repetierende Gleichartigkeit der Rahmenbedingungen eines vermeintlich gegenwärtigen, 1877 angesiedelten Betrachterstandpunkts. Er operiert also mit der Suggestion von augenblicklichen Wahrnehmungskonditionen. Das heißt, dem Blick bieten sich eine Bildnisstele, die von hinten gesehen erscheint, eine Meeresbucht beziehungsweise ein mediterraner Hain mit Tempel an. Der Sicht wird mit jeder Sequenz zwar ein Perspektivwechsel unterlegt, die Versatzstücke der Rahmung beziehungsweise die Stabilitätsfaktoren der Aussicht bleiben jedoch die gleichen: eine unten zu ahnende Balustrade, flankierende Säulen und ein Gebälk mit Weinlaub. Mit Hilfe der Wiederholung wird der Betrachterblick als zeitenthoben, beziehungsweise absolut definiert und kann in die angebotenen Impressionen wahlweise eintauchen, deren Regie seiner Phantasie nach Belieben unterliegt – als handle es sich um eine Unterweisung in die Prinzipien des Eklektizismus, die hier in hohem Maß durch eine Ähnlichkeit, also Analogie von gegenwärtigem Betrachterstandpunkt und symbolisch umgesetzter Vergangenheitsprojektion motiviert erscheinen.
b) Die Differenz als Verkehrung der Variablen situativer Angemessenheit Im gleichen mondänen Berliner Café Bauer versuchte Anton von Werner, die Bürger noch auf andere Weise zu stimulieren, in dem er die Wände mit antiken Intermezzi illustrierte. Mit ihrer Hilfe erprobte er die Angleichung der Gegenwart an die fiktionalen Muster einer Vergangenheitsprojektion in einem ausdrücklich für die Öffentlichkeit bestimmten Raum; und zwar in Form einer sogenannten ‚Pantomima’ und eines ‚Symposiums’ (Abb. 21). Das wollte aber wegen des Kontrast von alltäglichen Handlungen, wie Zeitung lesen und Kaffee trinken, mit der programmatischen Erhabenheit der Antike nicht ohne Befremdlichkeit gelingen. Denn wird bei einer Interferenz zwischen den als antik definierten Erinnerungsmodi mit dem Gegenwartsstandpunkt davon ausgegangen, daß die Stabilität der Variablen in einem Angemessenheitsspektrum liegt, dann gehen Projektion und Alltag nicht ohne weiteres zusammen und stehen in Hinsicht auf ihr Bedeutungspotential disproportional zueinander. Es kann also von einer Verkehrung beziehungsweise Differenz der historischen Bezugspunkte gesprochen werden, als würde die Kluft zwischen dem ‚modernen Leben’ v o r und dem ‚römischen Leben’ i n den Bildern Friedrich NIETZSCHEs 1874 erschienene „Unzeitgemäße Betrachtungen“ über den „Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“ illustrieren.27 27
SPRINGER, Dekor (wie Anm. 13), S. 131 und F. NIETZSCHE, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: DERS., Unzeitgemäße Betrachtungen, Frankfurt a.M. 1982, S. 95-184, hier S. 95 und S. 99: „[…] wir brauchen sie [die Historie, M.V.] zum Leben und zur Tat, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der Tat, oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen Lebens […]. Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist, und noch schlimmer, er wird nie etwas tun, was andre glücklich macht.“
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Die Botschaft des zwischen dem ‚Symposium’ und der ‚Pantomima’ thronenden Horaz (Abb. 22) – Beatus ille quid procul negotiis (Dem Manne Heil, der fern von der geschäftigen Welt) – wirkt dann auch auf dem Hintergrund bürgerlicher Geltungsansprüche wie die paradoxe Ironisierung einer unter Erinnerungszwang stehenden neureichen Gesellschaftsgruppe, die – weder selbstvergessen, noch zum Glück begabt – keineswegs den Geschäften fernbleiben durfte. Denn so lauten die Verse des Horaz – nach der Übersetzung von BurgerSchöne „Wucherers Wunschtraum“ benannt – weiter:28 Beatus ille qui procul negotiis, ut prisca gens mortalium, paterna rura bobus exercet suis solutus omni faenore […] haec ubi locutus faenerator Alfius, iam iam futurus rusticus, omnem redegit idibus pecuniam, quaerit kalendis ponere.
Dem Manne Heil, der fern von der geschäftgen Welt Dem Urgeschlecht der Menschheit gleich, Das väterliche Feld mit eignen Stieren baut Und nichts von Zinsgeschäften weiß […] Als so gesprochen Alfius, der Wucherer, Im Geist ein halber Bauer schon, da trieb er all sein Geld um Monatsmitte ein, Um es – am ersten auszuleihn.29
Schein und Wirklichkeit widersprechen sich also in einer Weise, deren Verkehrung beziehungsweise Inversion grotesk anmutet und genau der Definition von ideologischer Suggestion entspricht, die mit Falschaussagen über das ‚Wahre’, das ‚Wahre’ im Sinn eines Interesses verkleidet, beziehungsweise, wie Marx und Engels es formulierten, einem notwendig falschen Bewußtsein entsprechen muß.30 Als das Großbürgertum gegen Ende des 19. Jahrhunderts seine Wirtschaftsprinzipien, die eine allumfassende Vermarktung und Verdinglichung mit sich brachten, notwendigerweise mit den arkadischen Phantasien der Antike, den romantisch anmutenden Bildern einer ständischen Gesellschaft oder den Herrschaftssymbolen des Ancien Régime kostümierte, war klar, daß diese Travestien und Requisitenstücke nicht nur alte Träume bedienten und eigengeschichtlichen Nutzen hatten. Zwar benötigte das Bürgertum eine Eigengeschichte, aber auch die wirklichen ‚Bühnen’ der Gründerzeit hatten Legitimationsbedarf. Ihre wirtschaftliche Potenz benötigte eine Deutungsmacht, die der prosaischen Reduktion auf Geld und Profit kaschierend entgegenwirkte. Zu diesem Zweck erwies sich der Historismus als geeignete Methode, die – durchaus den Witz mit dem Wunsch vereinend – die Funktionalität einer Marktwirtschaft durch Macht- beziehungsweise Interessensverdeckung symbolisch tarnen konnte;31 einer Macht, die heute, im 28 29 30
31
Den Hinweis auf die weiteren Folgen dieses in der ersten Zeile angedeuteten Gedankens verdanke ich F.-H. MUTSCHLER vom Teilprojekt A1 aus dem SFB 537 in Dresden. HORAZ, Buch der Epoden 2, in: DERS., Sämtliche Werke, München 1993, S. 219ff. Vgl. auch Meyers Hand-Lexikon des allgemeinen Wissens, Leipzig 1872, S. 814. Dort wird Ideologie (bedenkt man den Hintergrund des zeitgenössischen Historismus) mit unfreiwilliger Ironie als „[…] unfruchtbares systematisches Denken und Grübeln namentl. über polit. und sociale Verhältnisse“ definiert. Vgl. zur Unsichtbarkeit von Macht die ganz verschiedenartigen Beiträge in MELVILLE, Macht (wie Anm. 27).
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Manuela Vergoossen
Zeitalter globaler Mobilität bei einer eher gleichförmig erscheinenden FließbandÄsthetik zwar vergleichsweise lapidar, aber auch nicht unverblümt ‚daherkommt’ und die Indienstnahme von Bildern medialer und verkehrstechnischer Öffentlichkeiten für ihre Mythen und Statussicherungen mindestens ebenso deutungsmächtig in Anspruch nimmt.
FEUERWERKS-KÖRPER ODER DIE BAROCKE ERFINDUNG DES VIRTUELLEN RAUMS BARBARA MARX
Schein und Erscheinung Von allen Festvorführungen des Barock sind die großen Feuerwerksspektakel zugleich die flüchtigsten und unfassbarsten Ereignisse. Anders als ephemere Festarchitekturen und provisorische Bühnenräume, welche die ihnen eigene Illusionsstiftung bei Tageslicht immer noch als real gemachte und konstruierte vorweisen, verschwindet mit dem Feuerwerk zugleich der zugrunde liegende architektonische Support in der Nacht. Das Feuerwerk behauptet sich damit als eine Raumschöpfung, die gewissermaßen das verborgene Negativ der täglichen Routinen und Gegenständen der Erfahrung aufruft. In der Lichtarchitektur des Feuerwerks wird somit etwas zur Erscheinung gebracht, dem eine Prägnanz von überirdischem Feuerzeichen, jenseitigem Mahnmal und Monument innewohnt, die nur um den Preis ihrer sofortigen Auslöschung so deutlich sichtbar werden kann. Die in solchen Momentaugenblicken explizierte Botschaft entäußert sich in zeichenhafter Einprägsamkeit, eben weil der beschleunigte Rhythmus der ‚Handlungssegmente’ von Feuerwerksvorführungen den zeitlichen Modus von Erinnerung um ein Vielfaches überbordet: Feuerwerke arbeiten offenbar auf ihre eigene medienspezifische Weise gegen das Speicherverfahren verstetigender Memoria an. Dennoch handelt es sich um ein Medium, dessen spezifisches Verfahren der Präsenzstiftung die Verstärkung eines Memorialakts durch Unmittelbarkeit des Sinneneindrucks bewirken soll. Die ritualisierte Einbindung von Feuerwerken in repräsentativen Festsequenzen und ihre Platzierung als Schlusspunkt und Höhepunkt zugleich wären andernfalls kaum verständlich. Vielmehr lässt gerade diese Platzierung vermuten, dass in solchen elaborierten Feuerwerksdarbietungen eine summa aller im Festverlauf kommunizierten Botschaften gezogen wird, die sich medienspezifisch als Epiphanie in einem virtuell erzeugten ‚überirdischen’ Raum manifestiert und dadurch Sinnzuschreibung auszulösen imstande ist. Der Cheftheoretiker des barocken Festwesens in Frankreich, Claude-François MENESTRIER (1631-1705), hat die besondere Wirkungsweise der in die Nacht projizierten Licht- und Feuerreflexe als éblouissement gekennzeichnet, als eine Form sinnlicher Überblendungseffekte, die geradezu ‚blind’ macht für die Koordinaten des realen Raums.
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Barbara Marx
Elle [la joie] est neansmoins plus heureuse à se servir du Feu que du reste des Elemens; et c’est la cause pourquoy elle a coustume de l’employer dans toutes les Festes publiques. Elle l’allume au milieu des tenebres de la nuit pour en rendre l’éclat plus sensible. Les yeux qui ne sont divertis par aucun autre objet que celuy-ci, s’y arrestent sans peine; et les diverses formes des Artifices qui le composent, font une agréable confusion de lumieres diversement distribuées, qui ne plaisent pas moins qu’elles n’éblouissent.1
Die Koordinaten des so geschaffenen Raums bestimmen sich nicht von der Wahrscheinlichkeit oder der Unwahrscheinlichkeit einer materiellen Verortung der Erscheinungen her. Vielmehr bewirkt die sichtbare virtuelle Raumdimension, die auf dem im Dunkel verbleibenden realen Raum aufsitzt, die Verfestigung einer Art double bind zwischen beiden räumlichen Konfigurationen. Aus der Latenz des nun verdunkelten und unfassbar gewordenen Realraums werden die dort immer schon unsichtbar wirkenden Direktiven zeichenhaft im virtuellen Raum des Feuerwerks zur Präsenz gebracht und in einer plötzlich aufscheinenden, aber um so eindrücklicheren Lichtgestalt als allegorische Ereignisfigur materialisiert. Diese sich unter Kanonendonner und Raketenfeuer vollziehende gewaltsame Emergenz und Selbstmanifestation eines im Verborgenen gehaltenen Machtpotentials entsteht in einem eigens medial konstruierten Ausnahmeraum und verrät damit zugleich die Einsicht in die Notwendigkeit, dieses Potential aus dem Alltagsgeschäft des Realraums auszublenden. Der Einbruch der Signatur der Macht in den Wahrnehmungsraum der Zuschauer kann sich deshalb nur in einer räumlichen ‚Verschiebung’ vollziehen, deren Schwelle durch die audiovisuelle Überwältigung der Sinne im Gesamtkunstwerk des Feuerwerks indiziert ist. Diesem Präsenzeffekt der Überwältigung im Übergang in den virtuellen Ausnahmeraum sind die Zuschauer im nächtlichen Dunkel der Vormoderne so bedingungslos ausgeliefert, wie dies heute im Zeitalter der flächendeckenden Beleuchtung kaum nachvollziehbar ist.2 Es ist also anzunehmen, dass die Flüchtigkeit der Erscheinung der Macht im Feuerwerk geradezu die medienspezifische Voraussetzung dafür bildet, dass latente Herrschaftsmonopole in deutlich sichtbare figurale Monita überführt werden können und dadurch ihre Botschaften: der Warnung und der Gewaltdrohung, des Zwangs und der Vernichtung wie auch der Souveränität und des Schutzgestus um so wirkungsvoller entfalten können.
1
2
C.-F. MENESTRIER, Advis Nécessaires pour la Conduite des Feux d’Artifice, in: DERS., Les Rejouissances de la Paix, avec un recueil de diverses pièces sur ce sujet, Lyon 1660, S. 5-6 zitiert nach M.-C. CANOVA-GREEN, Fireworks and Bonfires in Paris and La Rochelle, in: J. R. MULRYNE / H. WATANABE-O’ KELLY / M. SHEWRING (Hgg.), Europa Triumphans. Court and Civic Festivals in Early Modern Europe, Aldershot 2004, S. 145-153, hier S. 145. G. DORN-VAN ROSSUM, Die Nacht im Mittelalter. Historische Erfahrungen mit der Dunkelheit, in: Die Nacht. Ausstellungskatalog Haus der Kunst München 1998-1999, Wabern/Bern 1998, S. 169-176; B. ROECK, Die Wahrnehmung von Symbolen in der Frühen Neuzeit. Sensibilität und Alltag in der Vormoderne, in: G. MELVILLE (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln/Weimar/ Wien 2001, S. 525-542.
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Deshalb bilden Feuerwerke stets den krönenden Abschluss einer Sequenz von kommunikativen ‚Aussagen’, die sich am Ende als magische Zeichenfolge dauerhaft in der Bildvorstellung und der Imagination der Anwesenden verewigen sollen. Unter diesem Gesichtspunkt stellt der enorme finanzielle und technische Aufwand der barocken Feuerwerke keine verlorene Investition dar, wenngleich damit die Frage nach ihrer spezifischen symbolischen Ökonomie noch nicht beantwortet ist. Es geht also im Folgenden darum, den medialen Aussagemodus des Feuerwerks mit den darin sichtbar gemachten ‚Aussagen’ historisch zu verknüpfen.
Feuerwerk und Kriegskunst Dass Feuerwerke in keiner großen Festsequenz fehlen durften, spricht dafür, dass ihnen innerhalb der Herrschaftsrepräsentation des Festgeschehens eine spezifische Aufgabe zukam, die sich von den anderen Typen der Festinszenierung und der Machtdemonstration: Turnier, Pferdeballett, Schauspiel, Tanz und musikalischen Einlagen, Schaukampf, Maskerade und Naumachia unterscheidet. Das Feuerwerk nimmt die visuelle Argumentation dieser Aufführungen auf und steigert sie zum Präsenzeffekt einer „splendid confusion“. Dieses Oxymoron, das Edmund Burke in seiner Abhandlung über The Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful 1757 zur Kennzeichnung der Magnifizenz als Motor des Erhabenen anwendet, meint vor allem die charakteristische Desorientierung, die auf den Verlust von Raum- und Maßkoordinaten in der Konfrontation mit dem Sublimen antwortet. Große Feuerwerke stellen nach Burke eine solche „appearance of infinity […] by disorder“ dar.3 Diese Reflexionen des 18. Jahrhunderts festigen mithin die Beobachtung, dass die dynamisch gesteigerte und abnorm beschleunigte Zeitdramaturgie von son et lumière im Feuerwerk eine plötzliche Entgrenzung und einen Ordnungsverlust der Zuschauer zeitigt, der die Erfahrungsschwelle sublimer grandeur erst ermöglicht. Der scheinbare Schwund fester Grenzen und Sicherheiten wird aufgefangen durch die übergreifende Ordnungsinstanz, die ihrerseits die Repräsentationsleistung des Spektakels bestimmt und zeichenhaft darin aufscheint: „un bruit épouvantable“ ist so zugleich „un bruit agréable“, weil er sich unter der Regie der leitenden und schützenden Hand des Herrschers entfaltet. Das Feuerwerk ist auch und vor allem die mimische und pantomimische Verwirklichung eines Geschehens, das, realistisch oder mythologisch gestaltet, die Kehrseite des friedlichen Festes bedeutet: nämlich den Krieg, und es bildet deshalb symbolisch den Fürsten als Kriegs- und Feldherrn ab. Das Feuerwerk simuliert das ‚Feld’ des Krieges, in dem sich die geballte Militärmacht des Auftraggebers mit Knall und Fall zu erkennen gibt. Die im Feuerwerk nachgestellte Eroberung eines Schlosses oder einer befestigten Burg, gewöhnlich zu Wasser auf einem Fluss durchgeführt, bleibt über Jahrhunderte hinweg die Standardformel der nächtlichen
3
Zitiert in K. SALATINO, Incendiary Art. The Representation of Fireworks in Early Modern Europe, Los Angeles/CA 1997, S. 48.
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Aufführung.4 Die Dramaturgie der Handlung und ihre Bildgebung, die in der tosenden und blitzenden Zerstörung einer Festung oder eines Wehrbaus endet, beruht auf der engen Verbindung zwischen Artillerie, Geschütztechnik und Feuerwerkskunst.5 Die im Feuerwerk abgespielten Belagerungsszenarien auf der Grundlage der ephemer errichteten und vernichteten Festungsarchitektur verweisen auf den Zusammenhang von Baukunst und militärischen Angriffs- und Abwehrstrategien.6 Das Feuerwerk wird damit vor allem als ein ‚Wissensraum’ entworfen: als Demonstrationsschauplatz militärischer Techniken wie auch als Laboratorium ballistischer Künste, die vor allem das militärische Potential des Fürsten ins wahre Licht rücken. Je aufwändiger sich Feuerwerke präsentieren, umso mehr sollen sie gleichermaßen die kriegerische virtus wie die kriegstechnische Leistungsfähigkeit des Auftraggebers in Szene setzen.7 Dass diese Inszenierungsqualitäten ihren Rückhalt letztlich in einem technischen Wissenskomplex haben, an dessen Entwicklung die Konstruktionsleistung der neuen Vermessungstechniken des Raums und die geometrische Bestimmung der im Raum möglichen geometrisch bestimmbaren Bewegungen und ballistischen Flugbahnen wesentlich Anteil hat, weist das Feuerwerk als eine besonders geballte Form der Behauptung von Herrschaftswissen zum Schutz und zur Sicherheit der Untertanen, wie zur Bedrohung und Vernichtung von Gegnern aus. Der „bruit épouvantable“ des Feuerwerksspektakels erscheint als eine notwendige Reminiszenz der immer möglichen Gefährdung des befestigten Raums von Stadt und Land, kraft derer der Herrscher seine Rolle als Garant wirkungsvoller Abwehrtechniken und sein eigenes Drohpotential beschwören kann. Herrschaftliche Legitimität und herrschaftliches Gewaltmonopol in der Verwendung von Kriegsinstrumenten und Artilleriegeschossen sind die dem Feuerwerk vorrangig eingeschriebenen Geltungsbehauptungen gegenüber Frieden störender Usurpation von Kriegswissen und Kriegskunst. Der militärische Vernichtungswille, der sich in der Geräusch- und Lichtkulisse des Feuerwerks entäußert, wird institutionell eingefangen, indem er sich in die Maximen der Regierungskunst als Abbild göttlicher Ordnung einschreibt. Daher vergessen die militärtechnischen Traktate der frühen Neuzeit, die Feuerwerk und Kriegskunst zusammenbinden, auch niemals, die Veröffentlichung 4
5
6 7
A. STEINS, Gespielte Ernstfälle. Wehrbauten als Feuerwerksarchitekturen im 16.-18. Jahrhundert, in: G. GERS (Hg.), Italienische Renaissancebaukunst an Schelde, Maas und Niederrhein. Stadtanlagen – Zivilbauten – Wehranlagen, Jülich 1999, S. 249-269. A. STEINS, Es ergetzet und verletzet. Feuerwerksdarstellungen zwischen Mittelalter und dem Ende des Ancien Régime, in: H. HOLLÄNDER (Hg.), Erkenntnis – Erfindung – Konstruktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaft und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 689-704. N. MEYER, Darstellungen des Festungsbaues vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: HOLLÄNDER, Erkenntnis – Erfindung – Konstruktion (wie Anm. 5), S. 705-724. H. SCHRAMM, Feuerwerk und Raketentechnik um 1700: zur Theatralität pyrotechnischer Experimente, in: DERS. (Hg.), Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, Berlin 2003, S. 183-213.
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dieser Wissensbestände zugleich an das Privileg legitimer Umsetzung in Krieg und Frieden zu binden, damit dem Gemeinwesen das gottgewollte friedliche Zusammenleben seiner Mitglieder ermöglicht werden kann. Die Autoren dieser Traktate stehen selbst unter dem Rechtfertigungszwang, für die Offenlegung einer gefährlichen und todbringenden Kunst militärischer Vernichtung eine zusätzliche epistemologische Legitimationsfigur zu finden, die implizit natürlich auch allen festlichen Simulakren des Krieges in Form von Feuerwerken zugrunde liegt. Diese Figur resümiert sich in der ‚Natur’ des Menschen, genauer gesagt, den Sinnesorganen des Auges und Ohrs, welche ihrerseits das Konstruktionsmaß aller Erkenntnis und aller Konstruktion von militärischer Raumvermessung und Raumerkundung darstellen. Auge und Ohr werden damit zu Signaturen und ‚Instrumenten’ einer Ordnung stiftenden Beherrschung des Raums, die den Fürsten in die Rolle vorausschauender und planender providentia einrücken und ihm als Aufgabe auferlegen, durch Kunst und Wissensstrategien langfristig dem stets drohenden „Nothfall“ zu steuern. Das militärische und ballistische Wissen wird so zur eigentlichen „Rüstkammer“ des Herrschers, welche die Ausstattung und Bestückung der gebauten Rüstkammer mit Artilleriegeschossen, Instrumenten und Pulvervorräten anleitet. Die gewaltsame ‚Besetzung’ von Auge und Ohr der Zuschauer durch das Feuerwerksspektakel verhält sich spiegelbildlich zur semantischen Extrapolation des das Feuerwerk regierenden Fürsten als wachsames ‚Auge’ und ‚Ohr’ seiner zivilen community. Ein solcher Begründungsnexus lässt sich ohne weiteres an einer Publikation wie Modelles, artifices de feu et divers instrumens de guerre, avec les moyens de s'en prévaloir pour assiéger, battre, surprendre et deffendre toutes places […], Chaumont 1598 des Architekturschriftstellers und Bürgers von Langres, Joseph Boillot, ablesen, der sich auch auf ephemere Festarchitekturen verstand. 1603 wurde dieses noch unter dem Eindruck der französischen Religionskriege verfasste Werk, das die Legitimität des Bourbonen Henri IV. von der Legitimationsleistung seiner Kriegskunst ableitete, durch den Straßburger Johannes Brantz ins Deutsche übersetzt und in einer zweisprachigen Ausgabe in Straßburg veröffentlicht. Das dem reformierten Johann II. Pfalzgraf von Pfalz-Zweibrücken (1584-1635), dem späteren Vormund des Heidelberger „Winterkönigs“ gewidmete Vorwort stellt das eigene militärtechnische Traktat ausdrücklich in den Konkurrenzkampf um die Ergebnisse einer beschleunigten technisch-militärischen Entwicklung, die zugleich implizit die (calvinistisch verstandene) Auseinandersetzung zwischen Recht und Unrecht antreibt. Technische Leistungen und militärtechnischer Fortschritt werden so zu institutionellen Begründungsinstanzen für den Sieg der eigenen religiösen Partei in der konfessionellen Auseinandersetzung erhoben. Die Einholung und Bemächtigung von technischem Vorsprung und Wissen wird entsprechend als göttlich vorgeschriebene Aufgabenstellung an den Fürsten delegiert, ihre Bewältigung verbürgt die Bestätigung einer überlegenen Glaubensposition gegenüber den gegnerischen Konfessionen. Im Vorwort an den Pfalzgrafen wird die Paarung von Militärwissen und Vernichtungswillen auf diese Weise theologisch im Sinn der Prädestinationslehre entschärft. Das im Fest simulierte Kriegsfeuerwerk praefigurirt analog zum gedruckten
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Buch, nur in anderer medialer Zurichtung, die hier aufstellten Geltungsbehauptungen. Wie ungleich aber der Alten Munitiones und Machinae jetziger Art benötigens uff dem erschrecklichen gewalt deß Geschützs und Pulvers seyen, ist E F G auß täglicher Erfahrung mehr dann bewusst, dann vil geschwinder und listiger Anschläg durch dasselbige practicirt und ins werck gerichtet werden, dass auch heutiges tags nit wol etwas so vöst zu erdencken (will machens geschweigen), welches die Vernunfft und Scharpfsinnigkeit der Menschen durch gewalt und list mit hilf des Geschützes und Pulvers zu bewältigen nit understehn dörffe. Gleichwol aber hat Humana malitia, mit aller ihrer list und geschwindigkeit, so vil nit erdencken, understehn, noch vornemmen könnten, dass nit Gott der Allmächtige, der die seinen auch in höchster gefahr zu schützen weiß, denselben vast allezeit solche Mittel an die hand geben hette, durch welche sie solchen boshafftigen Anschlägen und vorhaben abwehren und contrariis malis begegnen, oder wie man proverbialiter sagt: artem arte deludirn können. Denn was in Niderland, Franckreich und anderßwo, wenig Jar hero, durch wunderliche Practicken, Minen, Petard und dergleichen verrichtet worden, ist kundbar und am Tag. Sonderlich werden uns auch in disem tractato, so kurtz verruckter Zeit an jetzo regierende Königl. May. in Franckreich Henricum IIII zugeschriben, von dero auch sehr werth gehalten, treffliche, schöne, newe Fewerwerck und Kriegs Instrumenta, neben vilen andern Subtiliteten und Künsten, in allerhand Nothfällen tam in defensionibus, quam offensionibus et expugnationibus munitissimorum quantumvis locorum fruchtbarlich zu gebrauchen, praefigurirt und vorgestelt.8
Unter diesem Aspekt verbirgt sich in dem schlichten Handlungsschema des festlichen Feuerwerks eine weit gefächerte Semantik, die das Gewaltpotential und die notwendige Zerstörungsmacht des guten und gottesfürchtigen Herrschers auf der Linie eines erbitterten Kampfes um militärtechnischen Vorsprung auslotet. Dass dem französischen König Henri IV. selbst die Autorschaft des Traktats zugeschrieben wird, verweist auf den Nexus zwischen technischer und religiöser Überlegenheit, wie er gerade im protestantischen und besonders im reformierten Lager ausformuliert wurde. Der Fürst wird kraft seines göttlich verliehenen Amtes darauf verpflichtet, den Kampf um die instrumentelle Vorteilswahrung militärtechnischer Kenntnisse, der zugleich ein Deutungskampf um den rechten und gerechten Nutzen dieses Wissens ist, öffentlich zu führen und zu behaupten: Die zahlreichen Feuerwerksdarbietungen, die eben solches militärisches Knowhow zur Anschauung bringen, geraten zur kunstreichen Demonstration dieser doppelten Legitimationsbehauptung (Abb. 1). Der tödliche und vernichtende Einsatz der neueren Massenvernichtungswaffen rechtfertigt sich durch Verweis auf eine höhere Glaubensinstanz, die wiederum durch den Erfolg planvoller Anwendung solcher Mittel untermauert wird. Die göttliche Voraussicht, so wie sie in der reformierten Diktion verstanden wird, vollzieht und manifestiert sich in den mathematisch kalkulierten und technisch implementierten militärischen Planspielen der Herrscher.
8
J. BOILLOT, Artifices Defeu, et divers Instruments de guerre, Das ist Künstlich Feurwerck und Kriegs Instrumenta allerhand vöste Orth zu defendirn […] Auß dem Französischen transferirt Durch Ioannem Brantzium […], Straßburg 1603, Vorrede.
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Auge und Ohr Auge und Ohr, die Sinnesorgane, die das Feuerwerk in besonderer Ausschließlichkeit anspricht und okkupiert, sind zugleich die sinnlichen Instrumente und ‚Waffen’, mittels derer die im Feuerwerk simulierten kriegerischen Ereignisräume in der Wirklichkeit strategisch vermessen, gegliedert, gestaltet und in Besitz genommen werden. Die Kriegskunst und die Schlachtordnung, wie auch die kalkulierte Konzeption von Angriff und Verteidigung als Raumtaktiken, verdanken sich einer Bündelung von raumgreifenden Maßnahmen, in der Optik, Akustik und Geometrie zusammenwirken. Der Fürst selbst ist somit das strategisch vermessende Auge und Ohr seines Landes, welche diese Operationen lenken und überwachen. Damit ist er zugleich das eigentliche Organ jeder Raumordnung (Abb. 2). Wann wir das Ampt menschlichen Auges und dass dasselbige das vornembste unnd gleichsam ein Hoffmeisterin ist, welchem nach alle andere glidmassen des Leibs, sonderlich aber im Kriegswesen, sich regulirn und richten müssen, mit Fleiß erwegen: werden wir demselben den oberstensitz und Stelle, als erstem und würdigsten instrumento Artis nostrae militaris, ohne Zweiffel und nicht unbillich zuschreiben. Dann gleich wie uns das Aug zu Erforschung unnd Lernung der Weißheit unnd guter Künste, welche ohn das Gesichte zu ergründen und lernen unmüglich weyzet und Anleytung gibt, also seynndt unhd werden im Kriege auch alle Defensiones, Belägerungen, Schlachten, Scharmützel, Insidiae, Anschläge, und was dergleichen, nach dem Aug gerichtet. Alle mensurae danach genommen, Stätt, Schlösser, und alle Gebäw auß und nach dem Gesicht erbawet. Inn summa, es ist eine Richtschnur aller Geschoß, Kriegsinstrument unnd Waffen, durch welche einem Feind Abbruch geschehen mag. Daher die Aegyptii ire Götter und ihrer Könige Haupt-Tugendt, nämlich Providentiam, mit einem Aug auff einem Königlichen Sceptro ruhent, haben praesentiren und vorbilden wollen. Also werden auch wir, verhoff ich, dem Aug, als principali instrumento , et maxime necessario, durch welche man alle conditiones und proprietates belli erkennen und begreiffen muß, nicht unbillich die erste Stelle zuerkennen.9
Die Botschaft, die sich im Feuerwerk verkörpert, erhält ihre Sinngebung nach Maßgabe dieser Ähnlichkeitsrelationen zwischen dem sehenden und dem voraus sehenden Auge (das gleiche gilt für das Ohr) und diese Sinnstiftung erfüllt sich wesentlich im Akt der gleichzeitigen Raumschöpfung und der Raumvernichtung mittels technisch gesteuerter Machtdemonstration. Ballistisches Wissen, mathematische Kurvenberechnung, Gusstechnik und technische Justierung der Geschütze wirken zusammen, um eine scheinbar aus dem Nichts auftauchende Raumvision entstehen und wieder vergehen zu lassen. Ohrenbetäubender Kanonenlärm, dröhnendes Geschützfeuer, das Krachen der Mörser, das Zischen der Raketen, die dichten Explosionsblitze und Feuerspuren, sie alle skandieren und steigern die künstliche Simulation eines kriegerischen Ablaufschemas, das die Zuschauer in einem extrem komprimierten Zeitbogen erfassen und überwältigen soll. In der sinnlich erfahrbaren De- und Exterritorialisierung wird einer präzisen Botschaft Raum gegeben: nämlich der Einsicht, dass sich in der festlichen Schau das Prärogativ einer planenden Vorausschau entäußert, welches allein dem unsichtbaren Regis9
BOILLOT, Artifices Defeu (wie Anm. 8), S. 1.
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seur und Herrscher des Schauspiels zukommt. Die eigentümliche Entgrenzung des nachtdunklen Raums, in dem sich die Teilnehmer und Zuschauer des Spektakels aufhalten, durch den virtuellen Raum einer apokalyptisch betonten Lichtregie und bombastischen Geräuschkulisse ist damit als ein Schwellenphänomen gekennzeichnet, welches die symbolische Erscheinung einer Machtdemonstration sui generis überhaupt erst in den unmittelbaren Erlebnisraum der Zuschauer zu versetzen vermag. Die simultane Erfahrung von Bedrohung und Furcht, von Erschrecken und gebannter Faszination, von Schmerzempfinden und Bewunderung wird in all ihrer Ambivalenz letztlich auf die persona des im Dunkel bleibenden Veranstalters gelenkt. Das Feuerwerk ist also vorrangig als Resonanzraum des Herrschers und als visuell und akustisch aufgeladenes Doppelbild des Souveräns und seiner Gewaltandrohung konzipiert. Es ist daher als räumliches Medium anzusehen, dessen latente ‚Botschaften’ sich in der Sinneswahrnehmung der Teilnehmer diffundieren und als Ansichten und Einsichten in die Logiken der Machtentfaltung reproduziert werden. Auch für das Feuerwerk, das nur einen virtuellen Raum eröffnet, gelten die Prämissen des sozialen Raums: „spatial structure is now seen not merely as an arena in which social life unfolds, but rather as a medium through which social relations are produced and reproduced“.10
Dresden 1709 Diese grundlegende semantische Konfiguration des Feuerwerks überdauert die konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. und des 17. Jahrhunderts, woran sich ermessen lässt, dass die virtuelle Raumschöpfung, in der die latente Gewaltdrohung und der Vollzug des herrschaftlichen Vernichtungswillens sichtbar gemacht werden können, eine unverzichtbare Komponente der fürstlichabsolutistischen Selbstdarstellung bleibt, wenngleich nun andere Wahrnehmungseffekte der Darbietung ins Visier genommen werden. Die Planung und Ausführung eines „noch niemahls allhier so groß und kostbar vorgestellten FeuerWercks“, das am 6. Juni 1709 beim Besuch des Königs Friedrich IV. von Dänemark und Norwegen (1671-1730) in Dresden auf der Elbe, in Höhe des Lusthauses auf der östlichen Jungfernbastei und dem gegenüberliegenden Jägerhaus in Altendresden aufgeführt wurde, hatte der sächsische Kurfürst Friedrich August I. genannt „der Starke“ selbst konzipiert und überwacht. „Männigliches Admiration und Vergnügen“ hielt das Spektakel laut Ankündigung der Druckfassung für seine Besucher bereit.11 Wie die militärische Lärmentfaltung als ‚männlich’ kodierte Erregungskulisse und kriegerische ‚Anfeuerung’ im Wortsinn gemeint war, lässt sich
10 11
D. GREGORY / J. URRY (Hgg.), Social Relations and Spatial Structures, Basingstoke 1985, S. 3. Eigentlicher Abriß und Beschreibung Des noch niehmals allhier so groß und kostbar vorgestellten FeuerWercks, Welches dem Aller=Durchlauchtigsten Großmächtigsten König in Dennemarck und Norwegen Herrn Friedrich dem Vierdten […] alhier in Dreßden zu Ehren […], Alt-Dreßden 1709.
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an den eher schlichten, von der Figur des Neptun im Refrain wiederholten Versen der musikalischen entrée zum Feuerwerk ablesen. Wann Paucken schallen, Wann Stuecke knallen So wächst der Muth: Und ich verlache Ohn alle Rache Der Feinde Muth.12
Dass hier noch einmal eine Rhetorik in Funktion der einfachen Dramaturgie von Angriff und Verteidigung eines Kastells gewählt wurde, hatte seine aktualpolitische Begründung im Umschwung, welchen der auf dem Gebiet der polnischen Krone ausgetragene Nordische Krieg gegen Schweden in diesem Jahr 1709 zu Gunsten des sächsischen Kurfürsten und seiner Verbündeten genommen hatte. Die dramatische Beschießung der schwimmenden Festungsarchitektur auf der Elbe von beiden Elbufern und ihre triumphale Selbstverteidigung war ein Prognosticon auf den erfolgreichen Widerstand der Alliierten bis zum endgültigen Sieg gegen den schwedischen Gegner König Karl XII. Die Brisanz der politischen Optionen in diesem Moment wird deutlich vom Sujet der einleitenden Serenade mit dem Titel La Pace e Marte supplicanti avanti al Trono della Gloria benannt, für die kein Geringerer als der venezianische Komponist Carlo Agostino Badia, kaiserlicher Hofkomponist in Wien, verpflichtet wurde, der 1699 die zweiteilige Serenata zur Hochzeit Kaiser Josephs I. mit Amalia Wilhelmine von Braunschweig-Lüneburg komponiert hatte.13 Der musikalische Wettstreit zwischen dem Kriegsgott Mars und der Friedensgöttin spiegelt das Dilemma der ehemaligen Kriegsteilnehmer Kursachsen und Dänemark nach dem von Friedrich August I. am 19. Dezember 1706 ratifizierten Frieden mit den Schweden und den Chancen eines neuerlichen Kriegseintritts beider Mächte nach den schweren schwedischen Niederlagen gegen die russischen Truppen 1708-1709 wider. Nach der Schlacht 12 13
Intrade Bey dem Dreßdnischen Sr. Koenigl. Majestät zu Dennemarck und Norwegen zu Ehren Auff der Elbe abgebrandten Feuer=Wercke […], Dreßden 1709. H. SEIFERT, Der Sig-prangende Hochzeit-Gott. Hochzeitsfeste am Wiener Kaiserhof 1622-1699, Wien 1988, S. 68-69; M. FÜRSTENAU, Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Hofe zu Dresden, Dresden 1861/62, Bd. 2, S. 70-71. Badia komponierte auch die Hauptoper für die Dresdner Festsequenz von 1709, „Gl’Amori di Circe con Ulisse“; der Librettist der Serenade, Giovanni Battista Ancioni, stand ebenfalls in Diensten des Wiener Hofs. Vgl. zur Dresdner Festsequenz von 1709 und ihren Abbildungen J. L. SPONSEL, Der Zwinger, die Hoffeste und die Schlossbaupläne zu Dresden, Dresden 1924, S. 86-93; C. SCHNITZER / P. HÖLSCHER (Hgg.), Eine gute Figur machen. Kostüm und Fest am Dresdner Hof. Ausstellungskatalog Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett, Dresden 2000, S. 156-168 Kat. Nr. 63a-77; B. MARX, Disziplinierte Räume. Die visuelle Formierung Dresden unter König August dem Starken, in: G. MELVILLE (Hg.), Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 177-206, hier S. 196f. sowie M. M. WADE, Politics and Performance: Saxon-Danish Court Festivals (1548-1709), in: Aurifex 1 (2000), http://www.goldsmiths.ac.uk/aurifex/issue1.
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von Poltawa am 8. Juli 1709 kündigte August der Starke den Friedensvertrag auf. Sächsische Truppen marschierten im August 1709 erneut in Polen ein. Der Besuch des dänischen Königs am kursächsischen Hof vom 26. Mai bis zum 29. Juni 1709 diente der Erneuerung der Allianz zwischen den beiden Mächten und wurde von einer Serie aufwändiger Festivitäten begleitet. Das Feuerwerk zeigte unverhohlen die Bedeutung und Konsequenzen dieser militärischen Verbindung im Handlungsentwurf eines fiktionalisierten Kriegsgeschehens. Weil in der Flüchtigkeit des Ereignisses zugleich die Stabilität des räumlichen Dispositivs glaubhaft verankert werden musste, ist die Szenerie des Feuerwerks einerseits von den vorhandenen authentischen Gebäuden eingerahmt, andererseits mit täuschend echten Gebäudeattrappen bestückt. Auch die zur triumphalen Verteidigung bestimmte Architektur des Feuerwerks ist also nach allen Regeln der Kunst gebaut, wie das planende Auge des Herrschers es verlangte und wie der Planungsentwurf für das Feuerwerk vom 6. Juni 1709 eindrucksvoll belegt. Der kursächsische Oberlandbaumeister Matthäus Daniel Pöppelmann konstruierte ein schwimmendes Kastell mit einem Turm auf der Attrappe eines Felsmassivs (Abb. 3). Pöppelmanns Entwurf, der auf zeitgenössische Prototypen wie den im Kupferstich verbreiteten, 1708 in Mailand errichtete Feuerwerksaufbau zu Ehren der spanischen Königsbraut Elisabeth Christine von BraunschweigWolfenbüttel rekurriert,14 bildet das Gebäude ab, als sei sein Aufbau nicht zu Wasser, sondern zu Lande auf einem festen Platz vorgesehen. Die enorme Überhöhung des Baus im Vergleich zu den flankierenden Geschützreihen an den seitlichen Uferstrecken trägt bereits in nuce die Signatur der königlichen Suprematie, nicht nur in Bezug auf einen potentiellen unsichtbaren Gegner, sondern mehr noch im Verhältnis zum umgebenden städtischen Raum und den dort aufgestellten Geschützmannschaften. Die Triumpharchitektur als Ausdruck siegreicher königlicher Wehrhaftigkeit und Stärke ist dem Kastell mit seiner hoch über der Turmkuppel postierten riesigen Krone schon im Entwurf unterlegt und enthält den semantischen Kern der Aufführung jenseits aller situationsgebundenen politischen Anspielungen. Das Kastell war mit dem in grünem Feuer leuchtenden Namensemblem des Königs F.4.R.D. geschmückt und trug in den Fenstern den Königlich-dänischen Orden und das Augurium VIVAT in blauem Feuer, während die Krone auf der Turmkuppel in vielen Farben schimmerte. Angriff und erfolgreiche Verteidigung des Wehrbaus verliefen in drei Schüben oder drei ‚Akten’. Der Abschuss der Raketen und das Geschützfeuer aus Kanonen und Feuermörsern wurden jeweils in diesen Intervallen verdoppelt und verdreifacht. Am Ende des Spektakels wurde ohne Unterbrechung aus allen Rohren gefeuert, „also dass durch das vielfältige und stets durcheinander lauffendes, item an die Wolken steigendes Feuer den gäntzlichen umliegenden Terrain und Tractum erleuchtet. Endlich wurde noch mit vielen tausendem aus dem ganzen Castell und Felsen herab werffendem Feuer und vollends mit Losbrennung an halben und 14
A. SOMMER-MATHIS, Tu felix Austria nube. Hochzeitsfeste der Habsburger im 18. Jahrhundert, Wien 1994, S. 18, Abb. 2.
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ganzen Cartaunen von Vestungs-Wall beschlossen“.15 Die dem schwedischen Gegner prophezeite triumphale Verteidigungsaktion wird in einer himmelhoch lodernden und sich allgegenwärtig ausbreitenden Feuersbrunst entfaltet, die in einem eigens auf der Elbe errichteten, vom Festungswall und vom Neustädter Elbufer begrenzten Kriegsraum entfacht wird. Innerhalb der bewegten Feuerkaskaden und Girandolen der Feuerwerksraketen bleibt der bewehrte Körper des Königs, sichtbar in der festen Architektur, unversehrt. Die männliche admiratio angesichts solcher Fortifikationsleistungen wird, streng nach Descartes, zum Vehikel einer folgerichtigen semantischen Reproduktion des Ereignisses.
Die Errichtung des virtuellen Raums im Bild Eine solche produktive Verarbeitung durch die Beobachter des Feuerwerks konnte nicht nur der sinnlichen Erfahrung des ‚Augenblicks’ anheim gestellt werden. Ihre Verankerung als eine dauerhafte Lektion der auf Gewaltandrohung bauenden Souveränität erfordert den Übergang vom räumlichen Medium zum Medium des dargestellten Raums im Bild. Die Illustration des Feuerwerks als ‚Bild des Wissens’ ermöglicht erst den erkennenden Vollzug der technischen Voraussetzungen von Raumbeherrschung.16 Der sinnliche flüchtige Eindruck des Spektakels wird dem Betrachter des Bildes zur visuellen Gewissheit. Der Dresdner Kupferstecher Moritz Bodenehr hat dem Text Eigentlicher Abriß und Beschreibung des Feuerwerks von 1709, den er selbst vertrieb, einen schwarzweißen Schabedruck beigegeben, der die Architektur des Kastells in eine räumlich forcierte und so nicht gegebene Engführung zwischen dem Lusthaus auf der Jungfernbastei mit seinen Loggien und dem überwölbenden Belvedere, und der sich östlich erstreckenden Pirnaischen Vorstadt auf der Altstädter Seite und dem gegenüberliegenden Neustädter Elbufer einpasst (Abb. 4). Bodenehr hat für seine Bebilderung des Kastells zweifellos Pöppelmanns originale Konstruktionszeichnung verwendet, um die architektonischen Details so realistisch wie möglich an die Bildbeschreibung im Text anzugleichen. Die Beigabe des Schabedrucks in einer für ein größeres Publikum bestimmten Veröffentlichung des Festereignisses unterstellt allerdings bereits die Notwendigkeit, im Bild eine Präsenz der Ereignishaftigkeit des Feuerwerks festzuhalten, die durch keine Textbeschreibung eingeholt werden konnte. Die nahe liegende Überlegung der Auftraggeber, die Flüchtigkeit des Feuerwerksereignisses durch eine Fixierung im Bild auf Dauer zu stellen, bildet für den mit der Abbildung beauftragten Zeichner/Maler eine Herausforderung, welche über die bloße Aufgabenstellung der berüchtigten ‚Nachtstücke’ hinausgeht, die sich nach antiken Vorgaben (Plin. N.H. XXXIV, 5-7) eben dadurch auszeichneten, dass sie etwas darstellten, was nicht wirklich materiell greifbar ist wie Feuer, Licht, Dunkel und Schatten. De facto muss der Künstler die beiden Dimensionen der 15 16
Eigentlicher Abriß und Beschreibung (wie Anm. 11). Vgl. O. BREIDBACH, Bilder des Wissens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung, München 2005, S. 56-59.
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Wahrnehmung des Feuerwerks: Eintritt und Austritt aus dem Normalraum in den entgrenzten Ausnahmeraum, in einem einzigen homogenen Bildraum zusammenfügen. Die aus Licht und Feuer heraustretende Erscheinung, als symbolische Verkörperung des den Raum beherrschenden Auges des Souveräns, wird im Bildmedium als Raum stiftende Instanz der Bildkomposition selbst ins Licht gerückt. Die Besetzung und semantische Aufladung des Raums durch einen alles beherrschenden, Realität und Virtualität gleichermaßen durchdringenden und nivellierenden Blick lässt sich auf eben die perspektivische Konstruktion umlegen, die das Bild von einem zentralen Blickpunkt aus entwirft. In der ins Bild verlegten Fixierung von Standort und Blickpunkt bestätigt sich die mediale Umsetzung einer Wahrheitsbehauptung, die das Feuerwerk als Emanation des Herrscherauges benennt.
Das Auge des Königs Die im und durch das Feuerwerk eröffnete virtuelle Raumdimension und deren Interferenz und Besetzung des realen Raums ist exemplarisch in dem großformatigen Deckfarbenblatt von C. H. Fritzsche verwirklicht (Abb. 5), das ein Blatt in der Serie der aufwändigen Festdarstellungen von 1709 bildete.17 Pöppelmanns isolierte Konstruktionszeichnung des beschossenen und erfolgreich verteidigten Kastells ist hier in den Mittelpunkt eines spezifischen Raumarrangements gerückt. Es präsentiert sich von einem Blickpunkt aus entworfen, den keiner der beim Festakt anwesenden Zuschauer einnehmen konnte, nämlich aus einer über den Horizont erhöhten Perspektive des alles überschauenden Blicks, der nur dem über allem thronenden Standort des königlichen ‚Regisseurs’ dieses Spektakels entsprechen kann. Von diesem Blickpunkt aus präsentiert sich die spätere Augustusbrücke als architektonische Referenz des realen urbanen Stadtraums von Dresden und zugleich als Legitimation stiftender Rahmen der Apotheose der Macht in der Bildmitte. Die Brücke ist nicht, wie zu erwarten, dicht gedrängt mit Zuschauern besetzt, aber sie ist auch nicht leer: Sie trägt vielmehr die kurfürstlichen und königlichen Zeichen des Glaubens, der Gerechtigkeit und der Stärke, die Dresden seit dem Beginn der Herrschaft der Albertiner als Residenz markierten. Von rechts nach links auf der Brückenachse sichtbar sind das große, unter Johann Georg II. errichtete protestantische Brückenkreuz, das August der Starke beim Ausbau der Augustusbrücke durch Pöppelmann 1727-1731 auf einen neuen Sockel platzieren ließ,18 das hölzerne Gerüst in der Mitte der Brücke für die Exekution der zum Tod durch Ertränken Verurteilten, und am linken Bildrand das alte Blockhaus, der Vorgängerbau des 17301732 von Zacharias Longuelune neu projektierten pyramidalen Brückenabschlus17
18
Vgl. G. STENKE, Festarchitektur, in: K. MILDE (Hg.), Matthäus Daniel Pöppelmann 1662-1736 und die Architektur zur Zeit Augusts des Starken, Dresden 1990, S. 323-343, hier S. 337-338 sowie Abb. 106, Abb. 107. B. MARX, From Protestant Fortress to Baroque Apotheosis. Dresden from the Sixteenth to the Eighteenth Century, in: G. COHEN (Hg.), Embodiments of Power, New York 2008, S. 120-163, hier S. 141.
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ses zur Dresdner Neustadt.19 Diese authentischen Aufbauten auf der Brücke, die zur Identifizierung des gezeigten Orts dienen, stellen innerhalb des Bildes die symbolischen Zeichen bereit, die eine ‚korrekte’ Interpretation des im virtuellen Raum gezeigten Ereignisses garantieren. In einer leuchtenden Aura himmelwärts strebender Lichtkaskaden enthüllt sich der auf einem scheinbar soliden Felssockel errichtete und gleichsam durch sich selbst erleuchtete Kuppelbau eines Ehrentempels. Jede weitere Staffage, sieht man von der verschwindend kleinen Batterie feuernder Kanonen und Mörser auf den linksseitigen Elbwiesen ab, ist aus dem Bild verschwunden; die Blickwinkel aller potentiellen Zuschauer resümieren sich hier in einem einzigen achsenzentrierten Blick. Die Bildkomposition rückt von diesem privilegierten Standort aus gesehen vor allem die intime Korrespondenz zwischen den im Alltag stets sichtbaren Herrschaftszeichen auf der Brücke im Vordergrund und der ephemeren Triumpharchitektur im Hintergrund in den Raum, eine Korrespondenz, die erst durch die nächtliche Szenerie im Ausnahmeraum des Feuerwerks aus der Latenz in die Sichtbarkeit des Bilds gehoben werden kann. Der zwischen beiden Stadtteilen Dresdens auf dem Fluss zur Erscheinung gebrachte ‚gebaute Raum’ und die in diesen virtuellen Raum eingelagerten Sinn- und Wahrheitsproduktionen verbinden sich zu einem zeichenhaften Nenner von Herrschaft, der das gesamte ins Dunkel gerückte Gebiet der Residenzstadt Dresden überwölbt. Unter diesem Gesichtspunkt trifft der königliche Blick, der die Bildachse bestimmt und den der Bildbetrachter nachvollziehen soll, stets nur auf sein eigenes ‚wahres’ und durch die nächtliche Erscheinung aus der Latenz der Macht ans Licht gebrachtes Spiegelbild. Erst im Bild werden also der erkennende Vollzug des sinnlich überwältigenden Ereignisses durch eine hermeneutisch zwingende Blickausrichtung und seine ‚richtige’ Dekodierung auf den Punkt gebracht. Das Bild also liefert den expliziten Wahrheitsdiskurs nach, welcher der Bühnenregie des Festfeuerwerks unterliegt und doch im punktuellen Ereignis verloren zu gehen droht. Um eine solche Interpretation qua Bild zu produzieren und in den Augen des Bildbetrachters plausibel zu machen, müssen beide Komponenten, die gebaute wie die ephemere Struktur, der reale wie der virtuelle Raum, den gleichen Status visueller Authentizität im Gemälde vorweisen. Pöppelmanns perspektivisch präzis dargestellte Scheinarchitektur verfügt über alle Merkmale eines festen Bauwerks, während die Elbbrücke durch die Lichtreflexe im Wasser den Anschein einer Bühnenarchitektur erhält. Diese beidseitige Verwischung der Grenzen ist das Resultat einer Bildkonstruktion, die es ermöglicht, eine eigene, durch die bildinterne Eindeutigkeit des überhöhten Betrachterstandorts gesicherte Raumordnung zu entwerfen. Diese Raumordnung steigert, in der Urteilsfindung über Realität und Virtualität, welche beide in der Überzeugungsrhetorik der Bildkomposition nivelliert werden, die Ko-Präsenz von Überraschung und Wiedererkennen. Niklas LUHMANN hat Wahrnehmung generell als die Wechselwirkung von Überraschung und Wiedererkennen definiert. Deren gegenseitige Steigerung ist 19
MARX, From Protestant Fortress (wie Anm. 18), S. 142.
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nicht nur im Erlebnis des nächtlichen Feuerwerksspektakels selbst eingefangen, sondern bestimmt auch in einer weiteren Übertragung das ‚Nachtstück’ der Feuerwerksabbildung und die zweite Beobachterebene der Bildbetrachtung. Diese Wechselwirkung wird in der Gouache von Fritzsche (Abb. 5) zum autoreferentiellen Angelpunkt der Bildkonstruktion. Die perspektivisch gestaffelte Szenerie des Feuerwerksspektakels bezieht ihre Autoritätsbehauptung und ihren Wahrheitsdiskurs nicht aus den bereits genannten, im ‚Bildrahmen’ der Brücke eingeschriebenen Herrschaftszeichen, wenngleich dadurch der ganze Bildraum von vornherein als Herrschaftsraum gekennzeichnet wird. Vielmehr ist es die objektive Gültigkeit und ‚Wahrheit’ der méthode der akademischen Architekturzeichnung, welche die Persuasionsmacht ihrer perspektivischen Simulationstechniken im Bild demonstriert. Die Konventionen der maßstabgerechten Bauzeichnung und die mathematischgeometrische Fundierung der Architekturdarstellung en perspective untermauern das Postulat der räumlichen ‚Einheit’ und visuellen Authentizität der im Bild gezeigten Szene. Die Frage nach der Einschreibung der Dimensionen der Macht in die Narrativität des Bildes beantwortet sich also nicht durch die ikonologische Wertigkeit der szenischen Elemente. Das ‚Auge’ des Herrschers ist vielmehr in die Rationalität der Bildkonstruktion selbst eingelassen und bestimmt deren strategische Reichweite in der Vorgabe der ästhetischen Parameter der visuellen Raumkonstruktion.20 Die technischen Prozeduren der Architekturzeichnung entfalten selbsttätig das Potential der ihnen eigenen methodisch abgesicherten ‚Wahrheitsaussagen’, um etwas darzustellen und ins Bild zu bringen, was so nicht unmittelbar ausgesagt werden kann. Die implizite dem Maler gestellte Aufgabe besteht darin, nach den Regeln von Kunst und Wissenschaft einen ‚absoluten’, hoch über dem Bildhorizont angesiedelten Blickpunkt zu entwerfen, der den dargestellten Ort in eine Herrschaftstopographie verwandelt und ihn als eine ‚absolutistische’ bühnengerechte Raumvision entfaltet. Der Vergleich mit den Bühnenbildern von Hauptund Staatsaktionen der großen Festopern ist nicht nur metaphorisch. Auch diese konstruieren virtuelle Herrschaftsräume. Die methodische Anwendung der Perspektive simuliert also das Auge des Königs dadurch, dass sie den absolutistischen regard als Instanz des planenden und Ordnung schaffenden Blicks überhaupt erst konstruiert.21 Die Macht definiert sich auf diese Weise als taktische Verfügungsmacht über die Wissensressourcen, die derartige Konstruktionsleistungen begründen, und als Deutungsmacht über die so angelegten Archive der Bilder des Wissens. Diese Verfügungsmacht zeigt sich im Bild des Feuerwerks als absolute Konstruktionshoheit über einen Raum, in welchem Realität und Vision zu einer absolutistischen und gleichsam utopischen Ordnung verschmelzen, oder anders gesagt: als ‚sichtbare Unterwerfung’ des räumli20 21
Vgl. C. SAADE, Zur Flexibilität räumlichen Wissens in Abhängigkeit von Blickpunkt, Perspektive und Referenzsystem, München 2000. MARX, Disziplinierte Räume (wie Anm. 13), S. 180-184, S. 196-200 und passim.
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chen Territoriums durch dessen bildliche Umbesetzung.22 Das Blickprivileg des Herrschers ist im planvollen Einsatz von wissenschaftlicher und technischer Kompetenz zur Errichtung architektonisch-räumlicher Ensembles im Bildfeld selbst implementiert. Solche Kompetenzen werden innerhalb institutionell abgesicherter Regelwerke entwickelt und kontrolliert. Das Königliche Oberbauamt in Dresden unter seinem Generalinspektor, dem Grafen und Feldmarschall Christoph August von Wackerbarth (1662-1734), bündelt die Ressourcen der Baupläne und Architekturzeichnungen in ähnlich normativer Weise wie die 1671 von Colbert gegründete Académie royale d’architecture in Paris. Die immer neuen Pläne, Entwürfe, Architekturwettbewerbe für die realen wie die ephemeren königlichen Bauten und ihre Archivierung dienen einer institutionellen Zirkulation, in der über die Norm der architektonisch gestalteten Raumordnung als optimale Ausfächerung des herrschaftlichen Blickprivilegs im Raum verhandelt wird. Aus diesem Grunde geben die nie realisierten ‚utopischen’ Planspiele der beauftragten Architekten und Ingenieure am besten Auskunft über die der real gebauten Architektur zugrunde liegende Formierung herrschaftlicher Raumvisionen. Dies gilt etwa für den Erbauer des Dresdner Zwingers, Matthäus Daniel Pöppelmann (1662-1736), in dessen 1729 erschienenem Kupferstichwerk Vorstellung und Beschreibung des von Sr. Königl. Majestät […] erbauten so genannten Zwinger-Gartens Gebäuden gerade die nicht realisierten, doch gleichwohl abgebildeten Entwürfe der als Triumphbogen konzipierten Turmportale und Kaskadentürme des Zwingers die authentische Leitvision der königlichen Architektur verkörperten.23
Die Planetenfeste 1719 und die virtuelle Formierung des königlichen Raums Dass im Bild jene Parameter der visuellen Beherrschung und sichtbaren Unterwerfung des Raums in Erscheinung treten müssen, die in der realen Dispersion der Bauten in der Stadtarchitektur selbst unsichtbar bleiben, lässt sich besonders eindrucksvoll am geplanten, aber nie realisierten Kupferstichwerk der Planetenfeste von 1719 nachweisen, die August der Starke anlässlich der Hochzeitsfeierlichkeiten seines Sohnes Friedrich August II. mit der Tochter des Kaisers Joseph I. im September 1719 organisierte.24 Die Form der Festsequenz in der Ordnung der Plane22
23 24
W. NEUBER, Sichtbare Unterwerfung. Zu den herrschaftsstrategischen Raumvorstellungen in frühneuzeitlichen Idealstadtentwürfen und Utopien, in: C. JÖCHNER (Hg.), Politische Räume. Stadt und Land in der Frühneuzeit, Berlin 2003, S. 1-22. MARX, From Protestant Fortress (wie Anm. 18), S. 148-150. M. SCHLECHTE, „Recueil des dessins et gravures representent les solennites du mariages“. Das Dresdner Fest von 1719 im Bild, in: P. BEHAR (Hg.), Image et spectacle. Actes du XXXIIe Colloque International d’Etudes Humanistes, Amsterdam/Atlanta 1993, S. 117-169; SOMMERMATHIS, Tu felix Austria nube (wie Anm. 14), S. 31-53; SCHNITZER / HÖLSCHER, Eine gute Figur machen (wie Anm. 13), S. 168-174, Kat. Nr. 78a-81d, S. 236-246, Kat. Nr. 133-143, S. 267275, Kat. Nr. 165-170b und passim; MARX, Disziplinierte Räume (wie Anm. 13), passim.
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ten besaß eine lange Tradition in Dresden; eine Reihe von traditionellen kurfürstlichen Festelementen wurde in die Aufführungen integriert.25 Die Serie der Festaufführungen wurde 1719 von zwei großen nächtlichen Feuerwerks- und Lichtinszenierungen: einem dramatischen Feuerwerk und einer nächtlichen illumination ‚eingerahmt’.
Hochzeit als Eroberungsakt Das Feuerwerk, das den ersten, dem Sonnengott Apoll gewidmeten Festtag 10. September 1719 in der siebentägigen Sequenz abschloss, hatte die Argonautensage zum Gegenstand und fand auf der Elbe vor dem Holländischen Palais statt, dessen Gartenanlage sich zum Fluss hin öffnete.26 Die mythologische Fabel von der Eroberung des Goldenen Vlieses, das Aiethes, der König von Kolchis, in seiner Obhut hatte, durch den verbannten Fürstensohn Jason und seine Argonauten mit Hilfe der Königstochter Medea, die ihm im Tempel der Diana die Treue geschworen hatte und ihm half, die von Aiethes auferlegten Aufgaben zu bestehen, bot sich als ideales Sujet für ein Hochzeitsfest an. Die militärtechnische Dimension des Feuerwerks verband sich mit dem Happy End einer durch Prüfung und Bewährung erlangten ehelichen Verbindung. Die Ursprungslegende des Habsburger Hausordens kann daher als Grundbestand der Festsujets gelten, die vom Kaiserhaus selbst in Szene gesetzt wurden27 oder die eine Verbindung mit dem Haus der Habsburger programmatisch ausstellen wollten. Bei der Hochzeit des Prinzen Cosimo II. de’ Medici mit der Kaisertochter Erzherzogin Maria Magdalena von Österreich im Jahr 1608, über ein Jahrhundert vor der Dresdner Hochzeit, zog bereits eine aufwändig ausgestattete Schiffsprozession der „Flotte der Argonauten“ für eine Naumachia auf dem Arno auf. Die achtzehn phantasievollen mythologisch ausgeschmückten Schiffsaufbauten waren von Giulio Parigi entworfen und als Stichfolge von Remigio Cantagallina gestochen und 25
26
27
Vgl. SPONSEL, Der Zwinger (wie Anm. 13), S. 20 und passim; H. WATANABE-O’KELLY, Court Culture in Dresden. From Renaissance to Baroque, Houndmills/Basingstoke 2002, S. 229-237; C. JÖCHNER, 1719: Planetenfeste, kulturelles Gedächtnis und die Öffnung der Stadt, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 24 (1997), S. 249-270. Außer der in Anm. 24 genannten Literatur siehe besonders auch M. WENZEL, Eine Kunstform des Fernen Ostens? Das Feuerwerk in der europäischen Festkultur der Frühen Neuzeit, in: Frühneuzeit-Info 11/1 (2000), S. 16-26; C. JÖCHNER, Die ‚schöne Ordnung’ und der Hof. Geometrische Gartenkunst in Dresden und anderen deutschen Residenzen, Weimar 2001, S. 138-140. Wenig ergiebig hingegen G. KOHLER, Die Rituale der fürstlichen Potestas. Dresden und die deutsche Feuerwerkstradition, in: G. KOHLER / A. VILLON-LECHNER (Hgg.), Die schöne Kunst der Verschwendung. Fest und Feuerwerk in der europäischen Geschichte, Zürich/München 1988, S. 57-68. SOMMER-MATHIS, Tu felix Austria nube (wie Anm. 14), S. 45; DIES., Una fiesta teatral en la corte de Viena (1633). La representación de „El vellocino de oro“. El contéxto histórico-cultural, in: M. G. PROFETI (Hg.), „[…] otro Lope non ha de haber“. Atti del Convegno internazionale (Lope de Vega, 10-13 Febbraio 1999), Florenz 1999, S. 207-220 sowie SEIFERT, Der Sig-prangende Hochzeit-Gott (wie Anm. 13), S. 30-31.
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verbreitet worden.28 Sie sorgten für eine wirkungsvolle Veröffentlichung der prestigereichen Verbindung der Medici zum österreichischen Kaiserhaus. Auch in Dresden wurde der Schiffskampf zwischen Argonauten und Kolchern als dramatischkriegerisches Element mit den Prüfungen des Jason und seinem Kampf gegen die mythischen Ungeheuer des Königs Aiethes in der Feuerwerksvorführung auf der Elbe verbunden.29 Allerdings war keine Abfolge der Einzelansichten des Festes im Bild vorgesehen. Vielmehr sollte eine einzige Abbildung im Kupferstich und als Münzprägung den Sinn des Festes einfangen und komprimieren. In der Serie der histoire faite par les médailles der Dresdner Hochzeitsfeste30 wurde eine Medaille verfertigt, deren Revers die komplexe Handlung abzubilden vorgab, die gleichzeitig in einer gedruckten Beschreibung ausgeliefert wurde. Dieses kostbar und magnifique Feuer-Werck, welches auf der Wiese, jenseit der Elbe, gegen den Königl. Palais über, der Menge so vieler tausend Zuschauer exhibiret worden, ist auf dem Revers, oder der Medaille andern Seite zu ersehen, und zwar praesentiret die Figur erstlöich gantz vollkommen, ein auf dem Lande künstlich aufgerichtetes, und mit unzehlichen Lampen illuminirtes Palais, auf dem Wasser aber, des Königs AEetes, und des Griechischen Helden Jasons Flotten, in schönster Ordnung, von der rechten zur lincken, mit ihren aus Mörsern auswerffenden Bomben und LustKugeln, ferner einen, unter der Illumination, aus seiner Höhle continuirlich Feuer ausspeyenden Drachen, zu beyden Seiten der Illumination aber dergleichen Delphinen; Hiernechst auch den streitenden Jason gegen die wilden Stiere, welcher er, als sie von ihn (ungeachtet ihres starck auswerffenden Feuers, bezwungen worden, in den Pflug spannet, und mit ihnen des Martis Feld bepflüget, auf solches hernach Schlangen-Zähne säet, woraus gewaffnete Soldaten wachsen, welche mit ihren brennenden Waffen, den Jason zwar anfallen, aber von ihme samt dem Drachen überwunden werden, der hierauff das güldene Vließ von dem Postament der Statue des Phryxus nimmt, als er solches erlanget,. Praesentiret sich aus den Felsen, zwischen denen Postamententen der Egyptischen Pyramidal Säulen, der Name MARIA JOSEPHA, und im Abschnitt die Jahr-Zahl MDCCXIX.31
Die detailreiche Beschreibung lässt darauf schließen, dass es sich um eine dreiaktige narrative Sequenz handelte, in der nacheinander Jasons siegreicher Kampf gegen die eisernen Stiere, sodann gegen die aus den Drachenzähnen entsprossenen Soldaten und den Drachen selbst, und schließlich die Eroberung des Goldenen Vlieses vorgeführt wurde. Ein solches mehrteiliges Feuerwerksschauspiel war bei den Hochzeitsfeierlichkeiten des Wiener Hofs eine Standardvorführung und daher 28
29 30 31
A. R. BLUMENTHAL, Theatre Art of the Medici, Hanover/London 1980, S. 56-86, Kat. Nr. 26-43, vgl. A. M. NAGLER, Theater Festivals of the Medici 1539-1637, New Haven/London 1964. Die gedruckte Beschreibung des Hochzeitsfestes: Descrizione delle feste fatte nelle Reali nozzi de’ Principi di Toscana Cosimo de’ Medici e Maria Maddalena Arciduchessa d’Austria, Florenz 1608, befand sich in der Kurfürstlichen Bibliothek, jetzt 3.A.6557. SHStA, OHMA, B 20 B, fol. 410r-423v: Feuerwerck so Sonntags den 10.ten Septembris 1719 […]; fol. 424r-427v: Sujet des Feuerwerckes; fol. 428r-431v: Die Exekution dieses Sujets. MARX, Disziplinierte Räume (wie Anm. 13), S. 180. Beschreibung der Ersten von denen Sieben Planeten-Medaillen welche auf die hohe EinzugsSolennitäten und Festivitäten…gemacht worden, Druck o.A. eingelegt in SHStA, OHMA, B 20 B, vgl. Anm. 29.
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auch in Dresden 1719 obligatorisch.32 Jedoch zeigt der Kupferstich des Feuerwerks von Johann August Corvinus (1683-1738) (Abb. 6), vielleicht nach einer Vorlage von Pöppelmann, dass die mythologische Fabel nicht die Ingredienz, sondern nur den Auslöser bildete für eine virtuelle Raumschöpfung sui generis. Diese erst löst das Motto ein, das Apoll als Gott der Feuer- und Lichtstrahlen auf der Gedenkmedaille verkörperte: Der bloß aus Feur und Brand, zusammen ist gesetzt, Bewegt das Kunst-Feur hier, so unser Aug ergötzt.
Die Herrschergestalt des Sonnengottes Apoll entfacht im nächtlich unbegrenzten Dunkel das ‚Kunst-Feuer’ seiner eigenen Raumvision.
Einblenden und Ausblenden Die von Pöppelmann entworfene, hell erleuchtete Palastattrappe von Kolchis zeigt eine überkuppelte barocke Fassade, die architektonisch gegliedert ist. Der visionären Lichtarchitektur des Scheinpalastes ist ein virtueller Vorhof vorgelagert, der von den symmetrisch angeordneten Schiffsreihen zu der von vier Obelisken flankierten Exedra des Palisadengitters aufschließt, welches den Palast halbkreisförmig umfasst. Diese hat ihr Pendant in der Exedra des Holländischen Palais, in der die Serenade La gara degli Dei als Eröffnungsveranstaltung zur Aufführung kam.33 Der illuminierte Vorhof des Feuerwerkspalastes ist im Stich als eine eingegrenzte rechteckige Fläche aus bewegtem Wasser gestaltet, die jedoch deutlich vom ‚Fluss’ rechts und links unterschieden ist. Die Apotheose des aus dem Dunkeln hervortretenden, von Leuchtraketen und Rauchwolken umgebenen, hell strahlenden Palastes ist das Pendant zur dunklen, jedoch von innen erleuchteten Architektur des von Matthäus Daniel Pöppelmann ursprünglich für den Generalfeldmarschall Graf von Flemming erbauten Holländischen Palais auf der Altendresdner Elbseite, das von August dem Starken 1717 erworben worden war. Pöppelmann hat die Stadtansicht des Holländischen Palais in sein Kupferstichwerk von 1729 aufgenommen und hier die Bestimmung des Gebäudes benannt „dont touts les appartements sont meublés de Porcellaines, et autres choses precieuses que les Indes et le Japon Fournissent on y trouve aussy des Chambres remplies de toutte sorte de raretés“.34 32
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A. SOMMER-MATHIS, Feste am Wiener Hof unter der Regierung von Kaiser Leopold I. und seiner ersten Frau Margarita Teresa (1666-1673), in: F. CHECA CREMADES (Hg.), Arte barrocco e ideal classico. Aspectos del arte cortesano de la segunda mitad del siglo XVII, Madrid 2004, S. 231256, hier S. 233-238. Der in SOMMER-MATHIS, Tu felix Austria nube (wie Anm. 14), S. 43, Abb. 10 abgebildete Stich der Aufführung zeigt deutlich die Abhängigkeit der Vorzeichnung Anna Maria Werners von den Versailler Vorbildern, hierzu weiter unten. Eine detaillierte Beschreibung der Interieurs gibt E. SCHWARM-TOMISCH, „[…] wo hohe Potentaten ihr Plaisirs finden können […]“. Das Königlich Holländische Palais zu Altendresden bis zu seinem Umbau im Jahr 1727, in: Dresdner Kunstblätter 46/2 (2002), S. 56-66.
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Die Innenausstattung des Schlösschens mit Lackkabinetten, Wandbehängen à la chinoise35 und dicht gefüllten Etageren in allen Räumen, die ostasiatisches Porzellan und Meissner Manufakturprodukte präsentierten, nährte selbst einen orientalischen ‚absolutistischen’ Potentatentraum im Simulakrum der Kunst. Die in der (im Kupferstich unsichtbaren) Innenausstattung des Holländischen Palais eingefangenen Macht-Träume, verkörpert im kaiserlichen Thronsessel,36 und die Entäußerung in dem durch das Feuerwerk erleuchteten Macht-Raum stehen in einer signifikanten Austauschbeziehung. Im Kupferstich von Corvinus richtet sich das nachtdunkle, nur im Innern beleuchtete Palais mit seiner ganzen Gartenanlage achsensymmetrisch auf den Fluchtpunkt der außen angestrahlten Scheinarchitektur hin aus: was im Innern verborgen ist, wird als virtuelle Projektion eines Bühnenprospekts nach außen gekehrt. Die akkurat ausgerichteten Stickereibeete, Bosketten, Baumalleen und Grotten schließen in diesem in die Tiefe gestaffelten Bühnenraum des Gartens bruchlos an die Reihe der ‚in schönster Ordnung’ ankernden Schiffe an. Die methodische Präzision der Zeichenperspektive erfasst die zur Elbe gelagerte Gartenansicht des Holländischen Palais, das von den Booten als Spalier gerahmte Rechteck des Wassers mit der sich am Fluchtpunkt aufrichtenden Scheinfassade in einem einzigen Raumentwurf. Der real bepflanzte und bebaute Ort und der durch das Feuerwerk erschaffene ephemere Ort gehen im Bild ineinander über, sie bilden einen einzigen homogenen Raum kraft einer Vorgabe, die sich nicht nach der topographischen Beschaffenheit, sondern nach der Logik einer bildinternen Ordnung richtet. Diese Ordnung bezieht ihre ästhetische Persuasionskraft aus einer strikt achsensymmetrisch konzipierten Raumaufteilung, die sich durch einen hoch über dem Straßeneingang zum Holländischen Palais platzierten Blickpunkt ergibt. Der raumgreifende regard macht erst die methodische Parzellierung des gesamten, Garten und Fluss umfassenden Areals in eine Vielzahl von linear angeordneten Planquadraten erkenntlich, und er hält diese Vielfalt zugleich als planende Instanz einer sichtbaren Unterwerfung zusammen. Der Herr des Holländischen Palais entwirft von dort aus nicht nur die geometrische Ordnung der barocken Gartenanlage bis zur Elbe, sondern zugleich den idealen, die Elbe übergreifenden Prospekt eines Ausnahmeortes, dem die eigenen Machtdirektiven der planenden Souveränität als Zeichen u n d als Struktur eingeschrieben sind. Die im Bildkonstrukt implementierte Raumhoheit bestimmt den Grad der Realität einer Verfügungsmacht, die sich nicht narrativ über das Bild legt, sondern vielmehr im rationalen Verfahren der perspektivischen Bildgebung expliziert wird. Der im Kupferstich entworfene Raum ist ein geographisch situierbarer Ort, dessen grundlegende Neuformierung durch die geometrisierte Planzeichnung im nächtlichen Feuerwerk die Ordnungsidee 35
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E. SCHWARM, Tapestries in the Indian Style: remarks on the ‚chinoiserie’ interior of the Holländisches Palais at Dresden, in: A. JOLLY (Hg.), A Taste For the Exotic. Foreign influences on early eighteenth-century silk designs, Riggisberg 2007, S. 91-104. W. HOLZHAUSEN, Ein Thronsessel Augusts des Starken im Lackmuseum Herbig-Haarhaus in Köln, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 26 (1964), S. 239-242.
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souveräner Raumplanungsverfahren zur Anschauung bringt. Claudia JÖCHNER hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass diese im Bild des Feuerwerks implementierte Raumachse die reale urbane Planung der vom Holländischen Palais ausgehenden Königsstraße antizipierte.37 Die solchermaßen ins Bild gesetzte herrschaftliche Raumordnung erlaubte keine Anbindung an den Baukörper der Stadt, der nicht einmal im Dunkeln zu erahnen ist. Weitaus rigoroser als in den Darstellungen des Feuerwerks von 1709 wird in der Stichserie der Hochzeitsfeste von 1719 das vom Feuerwerk erleuchtete und ‚besetzte’ Terrain getrennt von der organischen Ordnung der Stadt. Der Bildausschnitt zeigt die Ansicht des stadtseitigen Elbufers und des Ostra-Geheges, in dem sich der leuchtende Palast des Aiethes erhebt, so, als befinde sich dieser in einer einsamen bewaldeten Landschaft. Die täuschende und auf den Fluchtpunkt der Scheinarchitektur verengte Perspektive tilgt bewusst jede Reminiszenz an die gegenüber liegende bewohnte Stadt, so wie auch die ‚viele tausend Zuschauer’ unsichtbar bleiben, die vom Garten des Holländischen und vom Altendresdner Elbufer dem Schauspiel beiwohnten. Sie sollten sich nachträglich eben den eingeengten Blickwinkel des Kupferstichs zu eigen machen, denn nur auf diese Weise enthüllt sich das Resultat der planvoll ordnenden Blickregie des Herrschers als sinnstiftende Memorialgeste: Die Virtualität des ephemeren Feuerwerks wandelt sich zur dauerhaften Herrschaftsvision. Der in dieser Vision sichtbar gemachte Ausnahmeraum ist nach Maßgabe einer dynastischen Topologie entworfen und deshalb ohnehin jeder Normalität enthoben: Der räumliche Austausch zwischen dem königlich-sächsischen Palais de Hollande und der mit dem Habsburger Kaiseradler geschmückten leuchtenden Sakralarchitektur zeigt eben den Machttransfer an, der sich in der Hochzeitsallianz zwischen den beiden Herrscherhäusern vollzieht und der die Aufführung des Hochzeitsfeuerwerks im Bild lenkt. Dynastisch bedeutsame Eheverbindungen werden daher in besonders eindrucksvoller Weise im Feuerwerk symbolisiert und mit Herrschaftszeichen ausgestattet.38 Das von der Statue des Phrixos abgenommene und eroberte Goldene Vlies wurde auf diese Weise symbolisch in die königliche Schatzkammer des Holländischen Palais überführt, die August der Starke sich am gegenüberliegenden Elbufer errichtet hatte. Die königliche Raumschöpfung, wie sie idealtypisch im Kupferstich des Feuerwerks Gestalt annimmt, weist die historisch gewachsene Raumordnung der kurfürstlichen Residenzstadt dezidiert ab. In welchem Maße gerade die im Feuerwerk simulierte ‚Besetzung’ des Raums der Elbe für einen solchen refus als symptomatisch gelten kann, erweist sich im Vergleich zu Matthäus Merians Prospekt der Stadt Dresden von Altendresden aus gesehen aus dem Jahr 1650 (Abb. 7). Merians Ansicht zeigt einen kompakten ur37 38
JÖCHNER, Die ‚schöne Ordnung’ (wie Anm. 26), S. 140. Vgl. Das grosse Dessein Des Auf das Überaus prächtige Beylager Sr. Königl. Maj. In Preussen […] Feuerwercks Berlin im Jahr 1708, SLUB Hist. Boruss. 55, eine Publikation, die in den Abbildungen alle gängigen Herrschaftsarchitekturen und Mythologeme vorführt, bis hin zur „Akklamation der Untertanen Wasser und Feuer“, S. 17.
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banen Korpus, in dem kommunale und kurfürstliche Herrschaftszeichen eine unterschiedlich gestaffelte Front bilden und von einer gemeinsamen Festungsmauer umgeben sind, welche die Grenze zum Fluss darstellt. Die unregelmäßige Massierung solcher Herrschaftszeichen in Front- und Abwehrstellung, wie sie Merians Stich von einem unter dem Horizont liegenden Blickpunkt aus entwirft, wird durch eine Blickregie abgelöst, welche die zentral kontrollierte Verteilung der Elemente im Raum ins Bild rückt.39 Aus diesem Grund sparen die Darstellungen der Hochzeitsfeierlichkeiten von 1719 im Recueil des dessins et gravures die Ansicht der Stadt Dresden einfach aus. Nicht allein ‚öffnet’ sich die Stadt auf die neu geschaffenen Festorte außerhalb ihrer Mauern hin.40 Sie wird vielmehr überblendet durch eine virtuelle, gleichwohl im Medium der Architekturzeichnung als real gekennzeichnete Topographie, welche die ästhetischen Planvorgaben der königlichen Raumordnung von Symmetrie, Regelmäßigkeit, Homogenität, Überschaubarkeit umsetzte. Damit erhalten das ephemere Bauwerk der Feuerwerksarchitektur und der dem Holländischen Palais gegenüber liegende virtuelle Raum im Bild die Funktion eines Supplements. Das Auge des Königs entleert den Stadtraum, um in diesen die Strukturen planender Rationalität einzulagern, die durch die visuelle Implementierung in der strikt geometrischen Zentralperspektive des Kupferstichs zur richtigen und ‚wahren’ Sicht des königlichen Machtraums leiten. Der strahlend leuchtende Palast von Kolchis am Elbufer besetzt stellvertretend die Leerstelle des immer wieder projektierten und nie gebauten Schlosses an der Elbe auf der Stadtseite (Abb. 8, 9). Dieser Schlossbau hätte die Stadtfront in eben der Weise dominiert und überblendet, wie dies im Feuerwerk bereits vorweg genommen war. Es ist sicher kein Zufall, dass Zacharias Longuelune, der noch in der Regierungszeit Augusts des Starken mit diesen Plänen beauftragt wurde,41 mit Pöppelmann und anderen Architekten des Oberbauamts die Erweiterung des Holländischen Palais in ein sich nach Norden erstreckendes Königliches Schloss projektierte, bevor die Pläne des Umbaus zum Japanischen Palais ab 1722 an dieser Stelle die bauliche Neuordnung der Neuen Königsstadt festlegten. In Bernardo Bellottos Vedute Dresden vom linken Elbufer unterhalb der Festungswerke 1748 (Staatliche Kunstsammlungen, Galerie Alte Meister, Gal.-Nr. 607) (Abb. 10) ist das sich links ins Bild schiebende Japanische Palais das Pendant zur gegenüberliegenden Katholischen Hofkirche. Die Seitenansicht der zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollendeten Hofkirche mit ihrem nur als Zeichnung vorliegenden prominenten Glockenturm, die das ungeliebte Renaissanceschloss verdeckt, fungiert als Substitut der auch von ihrem Architekten Gaetano Chiaveri (1689-1770) mehrfach eingereichten, jedoch nie verwirklichten
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MARX, Disziplinierte Räume (wie Anm. 13). JÖCHNER, 1719: Planetenfeste (wie Anm. 25). H. G. FRANZ, Zacharias Longuelune und die Baukunst des 18. Jahrhunderts in Dresden, Berlin 1953, S. 18f.
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Schlossbaupläne an der Elbe.42 Die Konstruktivität der veduta basierend auf der realistischen Wiedergabe der architektonischen Einzelelemente43 arbeitet der Markierung des Raums mit Herrschaftszeichen durch die gezielte Platzierung der neuen königlichen Triumphalarchitektur zu.
Illumination Die Verbindung von dramatisiertem Feuerwerk auf der Elbe und illuminiertem Palais verbindet eine traditionelle militärisch geführte Kriegsoperation mit einer Zelebrationsform, die nicht im ephemeren Bauwerk, sondern in der gebauten erleuchteten Architektur ihre repräsentative Szenerie entwirft. Bauten und Paläste werden selbst zu einem symbolischen ‚Körper des Königs’, indem sie dessen Wappen, Namenssignaturen, Embleme und mythologischen Referenzen als Dekor ausstellen. Der Palastfassade werden klassische Triumpharchitekturen und aufwändigen Figurendarstellungen vorgeblendet; die von innen erleuchteten Fenster sind mit großflächigen programmatischen Darstellungen, Tugendbildern und Sinnsprüchen verhängt, die erst in der Nacht ihre Leuchtkraft entfalten. In Paris wurde der Louvre selbst anlässlich der Geburt des Duc de Bourgogne 1682 zu einem solchen durch leuchtende Herrschaftszeichen markierte Baukörper verwandelt.44 Hohe Würdenträger und Adlige des Hofs stellen auf diese Weise sich und ihre Residenz als hommage in den sublimen Lichtschein ihres Souveräns. Die begleitenden Kupferstiche, die gewöhnlich nur die Fassade des von innen beleuchteten Bauwerks zeigen, nicht anders als Corvinus das nächtliche Holländische Palais abbildet, werden von ausführlichen Beschreibungen der komplexen Bildprogramme des Portals und der Fenster begleitet. Die Kurtze Beschreibung der Solennität und Illumination, die der Kaiserliche Gesandte am Hof von Berlin, Damian Hugo, 1716 zur Geburt Erzherzog Leopold Johanns im Rahmen eines dreitägigen Festes abhalten ließ, ließ sich ausführlich über diese Illumination aus. Das Fassadenprogramm am Eingangsportal war überwölbt von der Inschrift Huc oculos, huc mentem Stelligeri facies aperitur Olympi Et radiantibus facibus Lucet sublimior Caesaris aula.45
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C. CARAFFA, Gaetano Chiaveri (1689-1770) architetto romano della Hofkirche di Dresda, Cinisello Balsamo, Mailand 2006, S. 69-71; S. 124-126. Hierzu stellvertretend für zahlreiche Untersuchungen D. R. MARSHALL, Canaletto & Carlevarijs, Panini & Piranesi: The Paradoxes of the Serial Veduta, in: DERS. (Hg.), „The Italians“ in Australia. Studies in Renaissance and Baroque Art, Florenz 2004, S. 49-66. J.-C. DAUFRESNE, Le Louvre et les Tuileries. Architectures de fêtes et d’apparat. Architectures éphémères, Liege/Brüssel 1987, S. 51-52 und Abb. Kurtze Beschreibung der Solennität und Illumination Welche Seine Hoch-Gräfliche Excellentz, Der Kayserliche Abgesandte Am Königlich Preußischen Hof, Herr Damian Hugo… zu Ehren den 13. Aprilis dieses Jahres zu Wien neu geborenen…Ertz-Hertzogen von Österreich…Leopold
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Das nachtdunkle sternengeschmückte Firmament wird zum Raum der Macht, in dem sich die sublime Leuchterscheinung des kaiserlichen Herrschaftssitzes für die Augen wie für den Geist enthüllt. Dass solche Huldigungen an das österreichische Kaiserhaus in Form von stehenden, festlich erleuchteten Architekturen und Gärten auf die Dresdner Festregie des Feuerwerks am Holländischen Einfluss nahmen, hat bereits Michael WENZEL eruiert.46 WENZEL belegt dies anhand des Kupferstichs des erleuchteten Palais Liechtenstein mit der umgebenden Gartenanlage, dem Ort des Festinszenierung, die 1718 von dem am Wiener Hof weilenden Prinzen Friedrich August II., dem späteren August III. und zukünftigen Bräutigam der Kaisertochter als Festarchitektur angeblich zum Geburtstag eines Erzherzogs, in Wahrheit zum Geburtstag des zukünftigen Schwiegervaters Kaiser Karl VI. (reg. 1711-1740) in Auftrag gegeben wurde. Das am Haus und im Garten entfaltete, apologetisch gelehrte Programm mit zahlreichen römisch-antiken Reminiszenzen, das die Union des Hauses Habsburg und der sächsisch-polnischen Krone bereits vorwegnahm, war vom Kaiserlichen Rat und ‚Antiquitäten- und MedaglienInspector’ Carl Gustav Heraeus (1671-1725) konzipiert worden. Seine ausführliche gedruckte Beschreibung der Beleuchtungen So in dem Fuerstlichen Lichtensteinischen Pallast und Garten Vor der Stadt von Sr.Königlichen Hoheit Dem Königlich-Polnischen und Chursaechsischen Erbprinzen Anno 1718 zur Geburts-Feyer eines verhoften Erz-Herzogs gewidmet47 in deutscher Sprache hatte er dem Kurprinzen übergeben und weitere Beschreibungen der von ihm ersonnenen Wiener Illuminationen hinzugefügt, für deren Ausführung der ihm befreundete ‚Oberbau-Inspector’ Johann Bernhard Fischer von Erlach48 und die in Wien tätigen Bühnenbildner und Architekten der Familie Galli da Bibiena verantwortlich zeichneten. Nach der ‚maniera’ von Giuseppe Galli Bibiena war der Triumphbogen am Eingangsbereich des Palais Liechtenstein zu der Illumination 1718 entworfen, der sich auf den in Form eines römischen Circus gestalteten Hof des Palais öffnete49 (Abb. 11, 12). Vom Triumphportal aus verlief der Blick durch den Vorhof und die vordere Palastfassade durch ein „durch und durch offenen Vestibulum“ des Palastes auf den hinteren Garten und ein ephemeres Lustgebäude am Ende Gartens zu, „und zwar solcher Gestalt, daß der lezte Gesichts-Punct mit dem Anfang eine ungehinderte offene Zusammenfü-
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In der Königl. Preußischen Residentz-Stadt Berlin aufgeführet, Berlin 1716, SLUB, Hist. Germ. D 36, 44. WENZEL, Eine Kunstform des fernen Ostens? (wie Anm. 26), S. 24-25. C. G. HERAEUS, Beschreibung der Beleuchtungen So in dem Fuerstlichen Lichtensteinischen Pallast und Garten Vor der Stadt von Sr.Königlichen Hoheit Dem Königlich-Polnischen und Chursaechsischen Erbprinzen Anno 1718 zur Geburts-Feyer eines verhoften Erz-Herzogs gewidmet, SLUB, Hist. Germ. D 48, s.d.s.a. Der floreale vergoldete Einband lässt auf ein Geschenkexemplar schließen. H. LORENZ, Überlegungen zu einer unbekannten Festarchitektur Johann Bernhard Fischers von Erlach, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 57 (1994), S. 430-439. Nach der späteren lateinischen Version war Giuseppes Vater Ferdinando Galli Bibiena der Konstrukteur des Triumphbogens, Carli Gustavi Heraei Inscriptiones et symbola varii argumenti, Lipsiae 1734, S. 109-122 Schema Horti illuminati natalis Caroli VI.
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gung gehabt.“50 Sie entsprach dem auch in die Bühnenarchitektur eingebrachten Prinzip der durchlässigen Öffnung des Bühnenprospekts auf eine in die Tiefe gestaffelten architektonischen Hintergrund, der neue perspektivische Diagonalen eröffnete. Diese erste Begegnung des Kurprinzen Friedrich Augusts II. mit den bühnenillusionistisch in die Tiefe gestaffelten Raumentwürfen der Galli Bibiena in Wien dürfte den Anstoß für das erste Dresdner Engagement von Giuseppe Galli Bibiena (1695-1757), dem Sohn Ferdinandos, 1737/38 für den Umbau des Theaters am Zwinger unter August II. gegeben haben. Die Beschreibung des gebildeten Antiquars Heraeus unterscheidet sich von anderen zeitgenössischen Feuerwerks- und Illuminationsdrucken grundsätzlich dadurch, dass er die architektonische Lichtinszenierung als eine bühnengerechte Konstruktion bewertet und diese an ihren szenischen Effekten misst. Die an den theatralischen Bühnenentwürfen und mehrperspektivischen Architekturvisionen des Ferdinando Galli Bibiena, dessen Traktat L’Architettura civile preparata sulla geometria e ridotta la prospettiva 1711 sich auch in der Königlichen Bibliothek in Dresden befand,51 geschulte Kennerschaft erlaubt es dem Autor, die Festarchitektur nicht allein von ihrer repräsentativen Intention her deskriptiv zu werten, sondern analytisch nach optischen Gesetzmäßigkeiten zu untersuchen. Die Wirkung der architektonischen Raumvision hängt unter diesem Aspekt weniger von den figürlichen Details und allegorischen Inventionen selbst ab als von einer gezielten, den gesamten Festraum perspektivisch strukturierenden und durchkreuzenden Lenkung des Blicks unter der Regie zahlreicher Lichtquellen und möglichen Blickpunkte. Die Scenographia ist also das adäquate Bildmedium, in dem Auge und visuelle Erkenntnis herrschaftlicher Raumbemächtigung zusammenfallen. Diese [in der Mitten stehende Spina ] hätte wohl billig einen Obeliscus in der Mitten haben sollen, wan man nicht mit Recht mehr zu sehen gehabt hätte auf die gute Würkung, so durch das offene Vestibulum des Pallastes biß an das Ende des Gartens gehende und mit so mancherley Absaetzen überall beleuchtete Mittel-Punkt dem Auge machet.52 Das Vestibulum, deme das Aussehen sein eigener, allenthalben offener und die Durchsicht des Gartens freymachender Bau giebet, so dass denen Gesichts-Linien nur mit dazu verfertigten 42. Girandolen und Heng-Leuchtern, auch versetzten Orangen-Bäumen geholfen worden.53
In diesem analytischen Diktat entpuppt sich die sublime ‚olympische’ Illumination der Festarchitektur als ein rationaler Raumentwurf, der alle architektonischen Details einem perfekt symmetrisch ausgelegten und idealtypisch zentrierten Blickregime unterordnet. Konsequent betont Heraeus, dass eigentlich nur der Kupferstich diese vom Festarchitekten zu Grunde gelegte geometrisch-perspektivische Struktur 50 51 52 53
HERAEUS, Beschreibung der Beleuchtungen So in dem Fuerstlichen Lichtensteinischen Pallast und Garten (wie Anm. 47), fol. A2r. SLUB Rara Optica 9. HERAEUS, Beschreibung der Beleuchtungen So in dem Fuerstlichen Lichtensteinischen Pallast und Garten (wie Anm. 47), fol. B2r. Ebd., fol. D1r.
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mit ihren kalkulierten Licht- und Spiegeleffekten sichtbar machen und sie als einen homogenen idealen Raum präsentieren kann, in dem die Herrschaftszeichen und die Sinnbilder der Macht ihren genuinen Ort finden. Der grosse Garten, worinn alle Statuen beleuchtet sind, alle Vasen Flammen tragen, alle grünen Striche von Lampen als mit brennenden Blumen in einen angenehmen Widerschein leuchten und die mit Lampen besetzte Einfassungen der Spring-Brunnen ihr Licht im Wasser verdopplen, lässt sich nicht so sehr durch eine Beschreibung als einen großen Riß erkennen. Die beste Würkung machet die von dem ersten Gesichts-Punct an biß auf das äusserste Portal gerichtete Zusammenfügung.54
Vier Kupferstiche, die die Inszenierung des Palais Liechtenstein von 1718 illustrierten, fügte er der lateinischen Version seiner Beschreibung der Beleuchtungen in den erst 1734 erschienenen Inscriptiones et symbola varii argumenti hinzu, die zusätzlich die histoire faite par les medailles Kaiser Karls VI. enthalten, die Heraeus konzipiert hatte. Am Ende seiner Ausführungen in der deutschen Fassung beruft sich der Gelehrte explizit auf die Vorherrschaft der geometrisch fundierten méthode. Heraeus wirft das Postulat auf, dass solche illuminierten Raumvisionen eben die Regelhaftigkeit der Künste entäußern, in denen sich „die erleuchteste Wissenschaft“ des Kaisers selbst und die dadurch beförderte „Kunsterhaltung“ als Ordnungsvorstellung manifestieren. Nur dieses erinnere noch kürzlich, dass nichts leichter sey als Bilder aussinnen, dan mit diesen gehet die Fantasey allein um. Daß aber Regelmässige Bilder zu erfinden eben so schwer sey als eine unordentliche Fantasey nach der Richtschnur der Vernunft einzurichten.[…] Wenigstens betriegen sich diejenige, die da meynen, Es erfordere diese Vorstellungen in den Augen unserer heutigen scharff sehenden Zeit weniger Regeln von einer ungestohlenen, der Würdigkeit der Sache gemäßen Erfindung, von wohlbedachter Veränderung, so oft eine Bedeutung oder Figur (wie in der Bau-Kunst die bekannten Ordnungen, in der Music gleiche Noten, und in der Rede einerley Worte) zu wiederholen sind; von genauen Zusammenhang der Stücke, so zum Ganzen gehören; […] von Stellungen, die kein Kunstverständiges Gesicht beleidigen; von guter Symmetrie; alten Architectur, etc. Daß sage ich, ohne Irrung nicht zu glauben, dass die redende Bau-Gerüste an obgemelten Stücken weniger Regeln erforderen als Kunstmässige Theatralische Vorstellungen, gute Gebäude, Schildereyen, etc.55
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HERAEUS, Beschreibung der Beleuchtungen So in dem Fuerstlichen Lichtensteinischen Pallast und Garten (wie Anm. 47), fol. D1r. Ebd.
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Enchantement Die spezifische Repräsentationsleistung des Feuerwerks besteht also darin, dass die Epiphanie der Macht, gewaltsam und ‚schrecklich’, unter Einsatz aller pyrotechnischen Effekte, oder als ‚außerirdische’ magische Lichtarchitektur im Raum erscheint und die alltäglichen Verdeckungsmechanismen ausblendet und zum Verschwinden bringt. Unter den Bedingungen der ephemeren nächtlichen Erscheinung kann sich das flüchtig zu erkennen geben, was bei Tage in der gesellschaftlichen Latenz verbleibt: der kontrollierende, planende, raumgreifende und unterwerfende Blick des Königs im Raum. Der strategische Vorteil des Feuerwerks lässt sich in der Weise resümieren, dass ein eigengesetzlicher Kommunikationsraum errichtet wird, in dem Herrschaftszeichen jenseits aller sozialen Vermittlung als absolut gesetzt sind. Im Medium des Kupferstichs wird diese Eigengesetzlichkeit in den Illusion stiftenden Bühnenprospekt der perspektivischen Architekturzeichnung und Vedute transferiert. Die virtuellen Raumschöpfungen erweisen sich in der Kohärenz ihrer objektivierenden Unterwerfungsmechanismen als inszenierte Alterität gegenüber der heterogenen Verteilung sozialer Machtpositionen im städtischen Alltagsraum und sie sind deshalb auch topographisch strikt von diesem getrennt. Bekanntlich hat Ludwig XIV. nach seinem königlichen Einzug in die Stadt Paris nie mehr ein Fest dort abgehalten. Das Medium des Feuerwerks und der illumination lieferte die prominentesten Inszenierungsformen der nächtlichen Festfolge in Versailles aus dem Jahr 1674: Von den an sechs Tagen stattfindenden Veranstaltungen waren drei mit Feuerwerks- und Illuminationsarchitekturen ausgestattet. Die Festfolge von 1674 feierte die Eroberung der Franche-Comté und zugleich die Komplettierung und Fertigstellung des Parks von Versailles und seiner Bauten als repräsentativer espace du Roi. Die ausführliche Beschreibung des Festes war André Félibien übertragen worden, der als historien des bâtiments du Roi im gleichen Jahr 1674 einen Führer von Schloss und Garten von Versailles veröffentlicht hatte.56 Zwei Jahre später, 1676, wurden für die Publikation sechs großformatige Kupferstiche von Jean Le Pautre geschaffen, die ebenso wenig wie die ebenfalls zum großen Teil nachträglich erstellten Vorlagen für das Dresdner Recueil des dessins et gravures eine wirklichkeitsgetreue Dokumentation des Festablaufs beabsichtigten, sondern vielmehr eine im Medium des Kupferstichs geführte Propaganda initiierten. Dass die Versailler Illusionsmagie von Parkanlage, gebauter und ephemerer Architektur als planvolles Werk des Königs selbst ins Bild rückt, wird nicht nur durch seine zentrale Zuschauerposition in der Bildmitte, sondern vor allem in der axialen Korrespondenz von Herrscher und den im Feuerwerk implementierten 56
S. GERMER, Kunst – Macht – Diskurs. Die intellektuelle Karriere des André Félibien im Frankreich von Louis XIV., München 1997, S. 240ff.
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Herrschaftszeichen deutlich. Stefan GERMER benennt denn auch präzis eben diese Funktion des Cabinet du Roy: On pourrait interpréter ce projet comme une tentative de visualisation du pouvoir absolu: gravures et explications donnaient au roi une vision panoramique sur la totalité des terres, institutions et curiosités en sa possession. Ainsi les volumes illustrés transformaient-ils des concepts plutôt abstraits, comme empire ou domination, en représentations palpables. En visualisant le pouvoir absolu, les volumes du Cabinet du Roy transposaient sa représentation de l’ordre du texte dans celui de l’image.57
Am Vierten Tag der Feste von 1674 fand am Ende des Grand Canal im Park von Versailles ein Feuerwerk in der Tradition des militärisch-kriegerischen Spektakels statt. Die Zerstörung des corps d’architecture auf dem Wasser hatte jedoch eine triumphale Entsprechung in der in der Cour de marbre errichteten Illuminationsarchitektur, die dem kriegerischen Spektakel martialischer Gewalt eine Inszenierung der friedensstiftenden Dauer gegenüber stellte. Auf einem monumentalen Sockel erhob sich eine mit 600 Kerzen als „feston de fleurs d’or“ besetzte und mit einer Krone geschmückte colonne torse als Sieges- und Friedenszeichen in Reminiszenz an die Colonna Trajana (Abb. 13). Dieses sich magisch im Dunkel als colonne de feu enthüllende königliche Siegesmal hatte der Ausstatter und Bühnenbildner im Dienst des Königs, Carlo Vigarani entworfen, der auch die Oper Alceste des Ersten Tags ausgestattet hatte.58 Am Fünften Tag errichtete der Hofmaler Charles Lebrun in der Mitte des Grand Canal auf einem künstlichen Felsen einen überdimensionalen Obelisken, der auf seiner Spitze ein Sonnensymbol trug (Abb. 14). Der im Bild selbst implementierte Blick des von hinten dargestellten sitzenden Königs fällt auf sein Double, die in der Apotheose des Lichts aufscheinende und zeichenhaft aufsteigende Ikonologie absoluter Macht, und spiegelt sich darin. Der Bildbetrachter ‚erkennt’ in der Tat im beleuchteten Monument des dem König axial gegenüber thronenden Obelisken den wahren verborgenen Referenten der Macht. Il semblait que tous les feux qui venaient de paraître en l’air, au-dessus du canal, fussent venus se ranger dans la petite cour de marbre où mille lumières qui paraissaient autant d’étoiles étincelantes formaient une colonne de feu. […] Le sieur Vigarani qui avait disposé cette machine avait encore mis sur le haut de la colonne un grand vase avec une couronne au-dessus, le tout à jour et formé de semblables lumières que le chapiteau auquel ce vase servait d’amortissement. De sorte que cette colonne, toute percée à jour depuis le bas jusqu’en haut, paraissait une colonne de lumière se soutenant d’elle-même en l’air au-dessus de la fontaine d’où l’eau jaillissait au travers du plafond à une hauteur extraordinaire.59
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DERS., Pouvoir du texte, force de l’image: Félibien et les représentations gravées des fêtes royales de 1668 et de 1674, in: M. T. CARACCIOLO (Hg.), L’illustration. Essais d’iconographie, Paris 1999, S. 147-161, hier S. 153. J. DE LA GORCE, Carlo Vigarani intendant des plaisirs de Louis XIV, Paris 2005, S. 154-157. A. FELIBIEN, Les Divertissements de Versailles donnés par le roi à toute sa cour […], in: Fêtes de Versailles. Chroniques de 1668 & 1674, Paris 1994, S. 134, S. 137.
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Die im Stich von Le Pautre kaum erkennbare symbolische Dekoration der illuminierten Festaufbauten des Vierten und Fünften Tages wird ausführlich von Félibien referiert. Jedoch geht es nicht um die programmatischen Details von Inschrift und mythologischer Figuration, die auf dem Sockel des Monuments erscheinen, sondern um die illuminierte Form der Architektur selbst. Die Machtsymbolik der über allem scheinbar frei schwebenden colonne torse, die sich mit der Exegese der byzantinischen Theodosius-Säule in einem komplexen Programm verband, ist primär in der Ästhetik der alles überwölbenden Lichterscheinung gebannt (Abb. 13). Nicht anders verhielt es sich mit dem Feu d’artifice sur le canal de Versailles des Fünften Tages, welches „d’une manière qui surprit tout le monde“ einen gigantischen, mit einer strahlenden Sonne bekrönten Obelisken präsentierte, der auf die Symbolik ägyptischen Gott-Königtum anzuspielen schien (Abb. 14). Tout ce magnifique ouvrage était illuminé et parassait de marbre transparent et de différents couleurs, ou plutôt de lumières colorées, hormis les ornements d’or et les avant-corps qui étoient de vrai or et de matières solides.[…] Toutes ces différentes parties étoient éclairées d’une lumière si bien disposée qu’elles formoient un beau tout, dont l’esprit n’estoit pas moins charmé que les yeux.60
In ähnlichen Worten resümiert der historien des bâtiments du Roi für die von Vigarani am Sechsten Tag entworfene nächtliche Lichtphantasmagorie entlang des Grand Canal : „Le Roy voulant faire voir des beautés que l’on n’avoit point encore vues, sembla pour cette fois avoir esté servi par la magie même, tant les yeux et l’esprit se trouvèrent surpris par les différentes merveilles dont ils furent charmés“.61 Zauber, Verzauberung sind die mots-clé von Félibien, um die maximale Spannung zwischen Überraschung und Wiedererkennen zu charakterisieren, welche die Lichtarchitektur von Feuerwerk und Illumination erzeugt, und die wesentlich als ein Überwältigungseffekt der Macht selbst erscheint. Und dennoch beruht die scheinbar magische Wirkung der Inszenierung, so Félibien, letztlich auf der Wissenskompetenz und den technischen Ingenieursleistungen der vom König beauftragten Künstler wie Carlo Vigarani62 und der geometrisch fundierten Bühnenkunst der Parkanlage von Versailles durch André Le Nôtre.63 Da die Machtgeste des Königs in der institutionellen Zentralisierung dieser Wissensressourcen gründet, betrachtet er im Bild zugleich die von ihm selbst planvoll eingesetzte Leistungsfähigkeit der Umwandlung von Technik und Kunst in eine ästhetisierte Raumvision des Absolutismus. Pablo SCHNEIDER hat die Kehrseite dieses Rekurses auf eine cartesianisch geprägte, mechanistische Naturauffassung benannt, die den Herr-
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Ebd., S. 146, S. 149. Ebd., S. 155-156. Vgl. DE LA GORCE, Carlo Vigarani (wie Anm. 58), S. 155-162 und Abb. Vgl. die konzise Zusammenfassung von G. MEZZALEMMA, Il giardino di Versailles nel contesto politico e culturale della Francia del XVII secolo, in: L. PELISSETTI / L. SCAZZOSI (Hgg.), Giardini, contesto, paesaggio. Sistemi di giardini e architetture vegetali nel paesaggio. Metodi di studio, valutazione, tutela, Florenz 2005, Bd. 2, S. 767-774.
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scher als einen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Schöpfungsmythos einsetzt und dadurch zugleich seine ‚absolute’ Macht relativiert.64
Formation des sozialen Raums Die Versailler Feuerwerksabbildungen haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Das letzte der Dresdner Planetenfeste von 1719, das Saturn-Fest, steht deutlich im Zeichen der Feuerwerkserfindungen des Vierten Tags der Versailler Festivitäten von 1674 und ihrer Verbreitung im Kupferstich. Der nach dem antikisierenden Vorbild des Wiener Hofs als Saturnalia bezeichnete Festakt war nicht nur der Höhepunkt des gesamten Zyklus der Hochzeitsfeierlichkeiten, sondern blieb auch das einzige Festereignis, dessen Darstellung nach dem Muster des Stichwerks von Jean Le Pautre mit Kupferstichen im Großformat von Carl Heinrich Jacob Fehling vollständig bestückt werden konnte.65 Die Wahl des Orts der Festaufführung in einer hauptsächlich als Jagdrevier genutzten waldigen Hügellandschaft weit außerhalb der südlichen Stadtmauern bestätigt den Zusammenhang zwischen königlichem Raumentwurf und städtischer Exklusion. Die Implementierung leuchtender Herrschaftszeichen im nächtlichen Dunkel vollzieht sich in einem Frei-Raum, der semantisch leer ist und deshalb neu entworfen werden kann (Abb. 15). Die Disposition einer Licht umfluteten Wasserkaskade mit der Signatur des Königs inmitten der Planetengötter, flankiert von zwei Wappen tragenden Obelisken und überwölbt von der Planetenkonstellation und der Inschrift CONSTELLATIO FELIX, bildet wie in den Versailler Stichen eine leuchtende Phantasmagorie ab: Cette Illumination montre au milieu Le Nom du Roy en cifre entouré des sept Planetes, dont chaqun luy offre le metal, qu’on luy attribue. Au dessus il y a les mots: Constellatio Felix. Les signes de ces Planetes sont encore une belle Illumination a l’en tour, et les deux Pyramides avec les Armes de la Pologne et de la Saxe aussi bien que les trois grandes Cascades y sont remarquables.66
Eine besondere visuelle Pointe ergab sich dadurch, dass sich in dem gegenüberliegenden Saturn-Tempel mit einer künstlichen illuminierten, als Esstafel hergerichteten Berggrotte ein Spiegel befand, in dem sich die geschilderte Lichtinszenierung nochmals spiegelte. Gemäß der Präsentation des Königs als Herrn der Metalle und 64
65
66
P. SCHNEIDER, Die komposite Welt des Parterre d’Eau der Gartenanlage von Versailles 16721683. Charles Le Brun im Spannungsfeld von Kunst und Wissenschaft, in: Die Gartenkunst. N.F. 12 (2000), S. 257-274, hier S. 272. Das Saturnus-Fest im plauischen Grunde 1719. Eigentliche Vorstellung des vortrefflichen und prächtigen Bergwerks- oder Saturnus-Festes, wie solches auf allergnädigsten Befehl Sr. Königl. Majt. […] aufgeführt und celebriret worden am 20. Sept. 1719, SLUB, Hist. Sax. C 237m. Das Werk hat mehrfach Beachtung in der Forschung gefunden: WATANABE-O’ KELLY, Court Culture in Dresden (wie Anm. 25), S. 225-232; JÖCHNER, 1719: Planetenfeste (wie Anm. 25); DIES., Die ‚schöne Ordnung’ (wie Anm. 26), S. 148-149; sowie vor allem M. SCHLECHTE, Saturnalia Saxoniae – Das Saturnfest 1719. Eine ikonographische Untersuchung, in: Dresdner Hefte 8/21 (1990), S. 39-52. Description de la maison et de l’Illumination pour la Fête des Mineurs, s.d.s.a. SLUB, Hist. Sax. C 1056.
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Barbara Marx
der unterirdischen Schätze wurde im Innern der Berggrotte eine Kredenz mit Gefäßen aus terre minerale ausgestellt, worunter womöglich Böttger-Steinarbeiten, eher aber Meissner Porzellan zu verstehen war, so wie auch das Gedeck für die Zuckerskulpturen von Bergwerken und confitures aus der Meißner Manufaktur stammte.67 August der Starke als Regisseur eben dieser virtuellen Raumschöpfung ist nicht selbst im Bild. Der Monarch gibt vielmehr das Bild frei zur Betrachtung, da seine Präsenz im Geschehen wie auch im Bild gebenden Verfahren selbst eingelagert ist. Damit ist nicht nur die Signatur Augustus Rex als Ausweis und Bekräftigung der Gestaltungsmacht über den Illusionsraum bezeichnet. Sondern die in Abbildung 15 noch wirksame Bildkonvention der Versailler Kupferstiche mit einer unmittelbar frontal auf die Mittelachse ausgerichteten Nahsicht, die das zentrale Geschehen vom sichtbaren Platz Ludwigs XIV. aus einfängt, ergänzt Fehling in der Serie der Abbildungen des Saturn-Festes durch eine weit in die Landschaft hinein gestaffelten Vogelschau-Perspektive, die mit dem regard des im Bild abwesenden polnischen Königs und sächsischen Kurfürsten zusammenfällt (Abb. 16). Der Prospekt des Plauenschen Grunds en perspective zeigt die in der künstlichen Arkadenstruktur der Bergwerksgrotte tafelnde Festgesellschaft und zugleich die vor ihren und mehr noch vor den Augen des Bildbetrachters aufmarschierende Parade der 1600 Bergleute als eine zum Rechteck militärisch geordnete Formation. Die Machtprojektion, die sich wiederum nur im erhöhten Blickpunkt der Bildkomposition enthüllt, ist die Formierung des sozialen Körpers in einer idealen geometrisierten Figur. Im Medium der Vogelschauperspektive des Stichs enthüllt das Auge des Königs die Instanzen seiner Herrschaft als eine durch die Untertanen selbst gebildete ästhetisierte Anordnung und Bewegung im Raum, die sich um ein produktives Zentrum: ein fiktives Bergwerk, herum entfaltet. In Fehlings Darstellung erfährt das virtuelle Bergwerk und die exakt marschierenden und exerzierenden Bergleute eine autoritative Beglaubigung nicht durch die Platzierung in einer namentlich bekannten Topographie, sondern weil der Kupferstich standardisierte Verfahren der architektonischen Raumdarstellung anwendet, die den Raum des Königs als solchen erst entstehen lassen und angefüllt werden können mit der Formation der Statisten. Ein gemeinsames Dispositiv der Raumordnung leitet also die ins Bild gesetzte ästhetisierte und geometrisierte Unterwerfung des sozialen Körpers durch den König wie auch deren bildräumliche Umsetzung durch die Architektur- und Bauzeichner des Königlichen Oberbauamts. Daher kann selbst der Grundriss noch zum Ausdruck bringen, was im Feuerwerk zeichenhaft vermittelt wird (Abb. 17). Die Konfiguration des Buchstabens A bildet genau genommen nur die Form der zentralen Festtafel in der illuminierten Festarchitektur der Bergwerkshöhle ab. Ihre Spitze richtet sich nach der gegenüberliegenden Illumination des Augustus Rex aus: Die vertikale triumphale Lichtarchitektur und die horizontal flächige Konfiguration des königlichen Namens verweisen auf ein und dasselbe Signifikat. Was im Medi67
Ebd., sowie JÖCHNER, Die ;schöne Ordnung’ (wie Anm. 26), S. 252, Abb. 152.
Feuerwerks-Körper oder die barocke Erfindung des virtuellen Raums
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um der Grundrisszeichnung erkennbar wird, ist die ikonische Markierung des gesamten Terrains durch den König mit seinem Namenszeichen, und enthüllt die nur in dieser Planzeichnung deutlich sichtbare Signatur und Begründung aller Ordnungsinstanzen selbst. Die ikonische Selbstfeier bleibt im ephemeren Schauspiel des Feuerwerks als flüchtige Spur der latenten Macht eingefangen; ihre Ausfächerung in den verschiedenen Bildverfahren sichert ihr jedoch eine Verankerung im sozialen Gedächtnis, welche die Konnotation gewaltsamer Unterwerfung kulturell überblendet.
DIE MACHT DER MODERNE. Mediale Vermittlungsstrategien des Neuen Bauens ANDREAS SCHWARTING Im Jahr 2001 erschien unter dem Titel „Der gläserne Schrecken“ eine Publikation des spanischen Architekturhistorikers Josep QUETGLAS zu einem Hauptwerk der Architektur der Moderne, dem deutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Barcelona 1929 von Ludwig Mies van der Rohe.1 QUETGLAS entwirft in dieser Untersuchung buchstäblich ein neues Bild des Pavillons, indem er alle Informationen zu dessen baulichem Umfeld berücksichtigt, das er als integralen Bestandteil des architektonischen Konzepts verstanden wissen will. Die rekonstruierte Ansicht zeigt folgerichtig den Pavillon hinter einer Reihe ionischer Säulen, die 1929 vor dem Pavillon standen und das Erscheinungsbild zur Erbauungszeit nachhaltig prägten (Abb. 1). Die Gegenüberstellung mit einer wesentlich bekannteren Ansicht (Abb. 2) macht deutlich, wie sehr das allgemeine Verständnis der architektonischen Moderne an bestimmte Bilder gekoppelt ist, die in den meisten Publikationen zur neueren Architekturgeschichte immer wieder zur Anwendung kommen und eine Architektur repräsentieren, die zwar – wie in diesem Fall – gegen Ende der 1920er Jahre durchaus der nationalen Selbstdarstellung angemessen schien, aber dennoch im alltäglichen Baugeschehen dieser Zeit nur eine marginale Rolle spielte. Die Sprengkraft der Untersuchung von QUETGLAS wird insbesondere anhand einer Äußerung von Nikolaus PEVSNER deutlich, der als einer der maßgeblichen Historiografen der modernen Architektur am Barcelona-Pavillon gerade das „gänzliche Fehlen jeglicher hochtrabender Säulenkulissen“ als Beleg für ein modernes Verständnis von Monumentalität ausmachen zu können glaubte.2 Für die Besucher der Weltausstellung waren die Säulen, deren Schattenwurf im Bild deutlich erkennbar ist, ein bestimmendes Element der Gesamtwirkung, welches Mies van der Rohe sehr bewusst in seine Konzeption mit einbezogen haben muss – war er es doch, der sich nach längerem hin und her für genau diesen Bauplatz entschieden hatte. Der Pavillon als Collage, als antiker Tempel gar, dessen Säulenfront ins Monumentale vergrößert und als Fragment von Stylobat und Podium abgetrennt ist, passt so gar nicht ins Bild einer Moderne, die gerade in diesem Gebäude ihre baulichen Prinzipien in idealer Weise realisiert sah: eine aufs Äußerste reduzierte Formensprache ohne jede Ornamentik, die strenge Vorherrschaft des rechten Winkels und des flachen Daches, die Entfaltung des freien Grundrisses durch die Verwendung eines modularen Stahlskelett-Tragwerkes, die industrielle 1
2
J. QUETGLAS, Der gläserne Schrecken, Basel 2001. Zum Entstehungskontext des Gebäudes siehe D. NEUMANN, Der Barcelona Pavillon, in: A. BAUMHOFF /M. DROSTE (Hgg.), Mythos Bauhaus. Zwischen Selbsterfindung und Enthistorisierung, Berlin 2009, S. 227-244. N. PEVSNER, Europäische Architektur, München 1989, S. 472.
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Präzision in der Verarbeitung und die Sichtbarkeit des verwendeten Baumaterials, also gewissermaßen die konstruktive Wahrhaftigkeit der Architektur. Der in seinen Ausmaßen bescheidene, in seiner Materialität jedoch überaus kostbare Bau ist perfekt auf den protokollarischen Rahmen zugeschnitten, den die Eröffnungszeremonie durch den spanischen König Alfons XIII. erforderte und erfüllt damit auch die Forderung nach Funktionalität im Neuen Bauen. Dies ist – sehr verkürzt – jenes Deutungsmuster, das sich schon unmittelbar nach der Weltausstellung etablierte und seither als rhetorische Konvention zu einem konstituierenden Teil der Eigengeschichte der Moderne geworden ist. Zur Illustration dient dabei immer wieder kaum eine Handvoll Fotografien und Pläne, die von Mies van der Rohe zur Veröffentlichung freigegeben worden waren und als gleichsam „offizielle Sicht“ wesentlich zu der standardisierten Wahrnehmungspraxis der letzten Jahrzehnte beigetragen haben. Weniger die gebaute Architektur als materielle Substanz, sondern vielmehr deren mediale Vermittlung ist es, die von Beginn an das Bild der architektonischen Moderne geformt hat. Diese mediale Vermittlung war umso wichtiger, als sich die Vertreter des Neuen Bauens in den 1920er Jahren in klarer Opposition zu einer Mehrheit befanden, die den modernen Ideen skeptisch, wenn nicht gar ablehnend gegenüberstand. Da die Moderne daher im Weichbild der europäischen Städte kaum in Erscheinung trat, galt es, unter Nutzung aller erdenklichen Medien – von der Architekturpostkarte über Publikationen in Magazinen und Zeitungen bis hin zu Architekturfilmen – eine Geschichtskonstruktion durchzusetzen, die mit Hilfe einer in sich stimmigen Erzählstruktur und Terminologie auf die Etablierung formaler Konventionen zielte. Die martialische Sprache dieser Auseinandersetzungen lässt sich bis hin zu Buchtiteln wie beispielsweise „Der Sieg des neuen Baustils“ nachweisen,3 sie ist aber insbesondere in zahlreichen Standardwerken zur neueren Architekturgeschichte präsent. So heißt es bei Nikolaus PEVSNER: Als nach dem ersten Weltkriege, das heißt nach sechs oder sieben Jahren einer fast völligen Stagnation, das Bauwesen sich aufs neue zu beleben begann, war die Situation folgende: die Architektur verfügte über einen neuen Stil. Eine Reihe entschlossener und wagemutiger Architekten hatte ihn geschaffen, Männer von ungewöhnlicher Phantasie und Erfindungsgabe. Seit fünfhundert Jahren zuvor die Schöpfer der Renaissance sich von der Gotik abwandten und etwas gänzlich anderes an ihre Stelle setzten, hat es in der europäischen Architektur keine Revolution von ähnlicher Tragweite gegeben, ja, das Unternehmen dieser Wegbereiter der modernen Baukunst erscheint fast noch kühner als das der Brunelleschi und Alberti. Denn während die Meister des Quattrocento die Rückkehr zur Kunst des alten Rom predigten, haben sie, die Pioniere des zwanzigsten Jahrhunderts, den Vorstoß in noch völlig unerforschte Bereiche auf ihre Fahnen geschrieben […] Was sie getan haben, das hat notwendig getan werden müssen. Es war die Lösung einer Aufgabe, die die Zeit selbst gestellt hat, und der Stil,
3
W. C. BEHRENDT, Der Sieg des neuen Baustils, Stuttgart 1927.
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den sie geschaffen haben, entspricht den sozialen und technischen Gegebenheiten des heraufkommenden Jahrhunderts.4
Hier sind auf engstem Raum all die Stereotypen und Termini einer geradezu hagiographischen Geschichtsschreibung der klassischen Moderne versammelt: die Stagnation um 1918, der kühne Aufbruch willenstarker Männer ins Ungewisse und die Legitimation des neuen Stils durch die Geschichte selbst, vor der sich eventuelle Kritiker der modernen Bewegung zu verantworten hätten. Doch auch in der Kritik an der Moderne haben sich standardisierte Erzählungen und Deutungsmuster herausgebildet, so äußerte sich Heinrich KLOTZ als Direktor des Deutschen Architekturmuseums: Die Moderne nach dem Muster eines Gropius, der in Harvard alle Literatur über historische Architektur aus der Bibliothek ausräumen ließ, und nach dem Muster eines Mies van der Rohe, dessen gläserne Hochhäuser schon von ihrem Material her nicht dazu geschaffen waren, irgend etwas neben sich zu dulden, diese Moderne war radikal auf Ausschließlichkeit bedacht. Sie war Feind der bestehenden Stadt. Ein modernes Bauwerk war exemplarisch „unabhängig“. Diese Unabhängigkeit hat zur größten Umweltzerstörung in der Menschheitsgeschichte geführt, von Frankfurt bis Bangkok.5
Die Legende der ausgeräumten Baugeschichtsbibliothek – die im Übrigen völlig frei erfunden ist – wird hier zum Sündenfall einer geschichtsvergessenen Moderne stilisiert. Damit wird der notwendige Bruch mit der Vergangenheit, von dem PEVSNER spricht, ins Negative gewendet und die Argumentation wiederholt gleichsam spiegelverkehrt die Axiome und Geschichtsbilder der Moderne. Was bei PEVSNER „notwendig hat getan werden müssen“ und als neuer Stil „den sozialen und technischen Gegebenheiten des heraufkommenden Jahrhunderts entspricht“, führt nun bei KLOTZ genauso unerbittlich zur „größten Umweltzerstörung der Menschheitsgeschichte“. All dies sind Zeugnisse einer erbitterten Auseinandersetzung um die Deutungsmacht über die jüngste Architekturgeschichte. Während die Kritiker der Moderne versuchen, sie als einen Irrweg darzustellen und für die negativen Folgen der gesellschaftlichen und technologischen Modernisierung in Haftung zu nehmen, entwickelt sich auf Seiten der Moderne der Bruch mit der Vergangenheit zum Hauptbestandteil eines Gründungsmythos, der mit der Konstruktion einer neuen Genealogie einhergeht. Diese Genealogie ist insofern von Interesse, als sie gerade wegen des behaupteten Bruchs erst gemeinsam mit der architektonischen Moderne beginnen kann und damit ihre legitimatorische Kraft im Blick nach vorne entwickelt. Denn „die schöpferische Aktivität dieser Welt, in der wir leben und arbeiten und die wir meistern wollen, eine Welt der Wissenschaft und Technik, der Eile und Gefahr – das ist es was Gropius’ Baukunst verherrlicht. Und solange dies unsere Welt ist und dies ihre Ziele und Probleme bleiben, wird der Stil
4 5
PEVSNER, Europäische Architektur (wie Anm. 2), S. 457. H. KLOTZ, Ästhetischer Eigensinn, in: Arch+ 64/65 (1982), S. 92f.
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von Gropius und den anderen Wegbereitern Gültigkeit behalten.“6 So mag es kaum verwundern, dass als „Urväter des Neuen Stils“ Henry van de Velde und Frank Lloyd Wright genannt werden, deren Schaffenszeit kaum weiter zurückreicht als die Jahrhundertwende.7 Das Gebäude, welches für PEVSNER den Beginn der Moderne markiert, ist das 1911 begonnene Fagus-Werk von Walter Gropius und Adolf Meyer in Alfeld an der Leine. Dieses Gebäude hat seither einen prominenten Platz in der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts eingenommen, der ihm bis heute nicht streitig gemacht wird, der aber zumindest in Teilen auf die mediale Vermittlung einer retrospektiven Geschichtskonstruktion zurückzuführen ist. Zur Illustration dienen dabei zumeist die Aufnahmen des Fotografen Albert Renger-Patzsch, die 1928, also rund fünfzehn Jahre nach der Fertigstellung des Gebäudes entstanden (Abb. 3). Auf diesem Foto, an dem immer wieder der fortschrittliche Charakter des Gebäudes hervorgehoben wurde, gründen sich gleich mehrere Missverständnisse. Die perspektivische Verkürzung der Fensterelemente ruft den Eindruck einer Vorhangfassade hervor, die an einem Tragskelett mit Betondecken befestigt ist. Es handelt sich jedoch tatsächlich um einen vergleichsweise konventionellen Massivbau mit einer Balkendecke, deren konstruktive Detailausbildung über der berühmten gläsernen Ecke nur unter größten Schwierigkeiten zu bewerkstelligen war. Die scheinbar rein dokumentarische Aufnahme von Renger-Patzsch, einem der maßgeblichen Vertreter der neusachlichen Fotografie, erweist sich bei genauerer Betrachtung als durchdachte Analyse und Interpretation des Gebäudes. Das konstruktive Gerüst des Baus mit seinen tragenden Pfeilern aus Ziegelmauerwerk weicht hinter der filigranen Struktur der Stahl-Glas-Fassade zurück, die mit ihren offenen und geschlossenen Elementen, dem Licht-Schattenspiel und den ausgefahrenen Markisen als Sinnbild einer auf maschineller Präzision beruhender Architektur zelebriert wird. Die großen Glasoberflächen vermitteln den Eindruck von Leichtigkeit und Transparenz und werden damit gleichsam zum Werbeträger, zur Schnittstelle zwischen Betrachter und Gebäude. Die Aufnahme ist etwa zwei Jahre nach der Fertigstellung des Bauhausgebäudes in Dessau entstanden und verweist in ihrer Bildkomposition auf das wohl bekannteste Gebäude von Gropius, als dessen direkter Vorläufer sich das Fagus-Werk damit empfiehlt. Die Bedeutung des fotografischen Abbildes geht beim FagusWerk also noch über den Barcelona-Pavillon hinaus, denn das Bild ist nicht nur Ausschnitt und Abstraktion im Sinne einer Standardisierung der Wahrnehmung, sondern eine retrospektive Inszenierung zum Zwecke der Herstellung einer baulichen Genealogie.8 Gropius, der genau dieses Bild immer wieder auf Vorträgen 6
7 8
N. PEVSNER, Wegbereiter moderner Formgebung. Von Morris bis Gropius, Köln 1983, S. 214 (Aktualisierte und veränderte deutsche Ausgabe von: Pioneers of the Modern Movement. From William Morris to Walter Gropius, London 1936). BEHRENDT, Sieg des neuen Baustils (wie Anm. 3), S. 55-56. Siehe dazu A. JAEGGI, Fagus. Industriekultur zwischen Werkbund und Bauhaus, Berlin 1998, S. 120.
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zeigte, erweist sich aber auch in einem weiteren Aspekt als Vorreiter der modernen Architekturvermittlung. 1930 veröffentlichte er nach seinem Weggang vom Bauhaus eine Zusammenstellung der zwischen 1926 und 1929 entstandenen Bauprojekte in Dessau.9 Obwohl die Veröffentlichung eigener Bauten auch zu dieser Zeit eine vielfach geübte Praxis darstellt, vollzieht sich im Buch „bauhausbauten dessau“ die Darstellung von Architektur anhand von Fotografien in einer neuartigen Weise, nämlich nicht mehr nur durch detailgenaue, großformatige Totalansichten im Stil der Jahrhundertwende, sondern vielmehr in Form eines imaginären Rundgangs durch die Gebäude mit einer Zusammenstellung zuweilen fast schnappschussartiger Fotografien. Damit wird versucht, den Faktor der Bewegung durch den Raum sowie der Bewegung in der Zeit – eine für Gropius elementare Voraussetzung für die Wahrnehmung moderner Architektur – in die Konzeption eines Architekturbuches aufzunehmen. Für eine solche Auseinandersetzung mit den Faktoren Raum und Zeit ist naturgemäß das Medium des Films sehr viel besser geeignet als die Fotografie. Der Verweis auf dieses 1930 noch junge Medium – grafisch in Form eines perforierten Filmstreifens dargestellt – verdeutlicht die Bandbreite der Präsentationstechniken, die um 1930 zur Verfügung standen (Abb. 4). Die Doppelseite mit einer Abbildung des Windfanges im Haus Gropius sowie einigen Bildern aus einer Filmsequenz stellt gewissermaßen die Szene einer Einladung ins Direktorenhaus nach: Das Hausmädchen versorgt nach der Begrüßung des Besuchs den Mantel im Garderobenschrank. Es ist nicht nur die Modernität der medialen Form, die in der neuartigen Form der Architekturvermittlung zum Ausdruck kommt, sondern auch die inhaltliche Ambivalenz zwischen dem avantgardistischen Anspruch und der bürgerlichen Wohnpraxis, die auch im Haus des Bauhausdirektors nicht negiert werden konnte. So bedient das Haus Gropius von der Handschuhablage über das Mädchenzimmer bis hin zur Hausmeisterwohnung im Untergeschoss alle Repräsentationsbedürfnisse bürgerlichen Wohnens in der Weimarer Republik.10 Die Filmszenen stammen aus dem Lehrfilm „Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich?“ der Berliner Humboldt-Film GmbH. Die Struktur und das Argumentationsschema des Films entsprechen dem bekannten Muster. Im ersten Teil „Wohnungsnot“ werden die übervölkerten Wohnquartiere der Gründerzeit in drastischer Weise als Stätten des Elends beschrieben, in denen sich durch die ungesunden Lebensverhältnisse Krankheiten, Laster und Verbrechen ausbreiten. „Wo die Sonne nicht hinkommt, kommt der Arzt hin“ heißt es dazu knapp in einem der Zwischentitel. Die Lösung dieser Problematik wird in den drei darauf folgenden Teilen „Das neue Haus“, „Das Bauhaus Dessau und seine Bauweise“
9 10
W. GROPIUS, bauhausbauten dessau (Bauhausbücher 12), München 1930. A. SCHWARTING, Aura und Reproduktion. Zur Debatte um die Rekonstruktion des Hauses Gropius in Dessau, in: B. KLEIN / P. SIGEL (Hgg.), Konstruktionen urbaner Identität. ImitatioTechniken in Architektur und Städtebau nach der Postmoderne, Berlin 2006, S. 49-63.
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und „Neues Wohnen“ dargestellt.11 Die jüngere Architekturgeschichte wird insbesondere in ihren negativen Auswüchsen zur Legitimationsbasis für das Neue Bauen dargestellt, welches damit den Weg aus der sozialen und auch ästhetischen Krise des 19. Jahrhunderts weist. Dieser Topos findet sich in fast allen Darstellungen zur modernen Architektur. Ob der um Objektivität bemühte Gustav Adolf PLATZ mit seiner umfassenden „Baukunst der neuesten Zeit“,12 oder der stark für die moderne Architektur Partei ergreifende Nikolaus PEVSNER in seinen „Pioneers of the Modern Movement“13 – immer ist es das Elend in den Mietskasernen des 19. Jahrhunderts, welches durch die als „Formenkarneval“ oder „Stilmaskerade“ bezeichneten Fassaden kaum verhüllt werden kann, und zum Ausgangspunkt für eine radikale Neuorientierung wird. Angesichts einer solch menschenfeindlichen Bautradition des Profits kann nur der Bruch und Neubeginn die legitime und notwendige Antwort sein. Dieser Bruch wird jedoch aus der Geschichte heraus begründet und bleibt so als historisches Kontinuum eingebunden. 1941 wurde mit „Space, Time and Architecture“ von Siegfried GIEDION ein neuer historiografischer Ansatz erkennbar.14 Das Buch trägt den bezeichnenden Untertitel „The growth of a New Tradition“. Hier sind es nicht mehr historische Entwicklungen und Kontinuitäten, aus denen heraus die Moderne begründet wird. Stattdessen entwickelt GIEDION die Idee einer „Neuen Tradition“, die gewissermaßen auf den Nullpunkt als Ursprung eines neuen Koordinatensystems zurückzuführen ist. In diesem Punkt schneiden sich die unterschiedlichsten Verbindungslinien zwischen historischer Architektur und Gegenwart. Mit dem Aufbrechen des Zeitkontinuums löst GIEDION die Architektur aus dem historischen Kontext und stellt stattdessen Beziehungen quer durch alle historischen und kulturellen Zusammenhänge her. So vergleicht er Tatlins Denkmalentwurf für die III. Internationale mit der 280 Jahre zuvor entstandenen Laterne der Kirche Sant’ Ivo della sapienza von Borromini und bescheinigt beiden Projekten den klaren Ausdruck des „gleichen Gefühls“ und die Entwicklung aus dem „gleichen Geist“ heraus (Abb. 5).15 Es wäre zu diskutieren, ob GIEDION mit der suggestiven Technik des Gegenüberstellens von Bildern den verhassten Eklektizismus der Ecole des Beaux Arts nicht durch einen neuen „strukturellen Eklektizismus“ ersetzt, der nicht primär an der Imitation von Formen interessiert ist, sondern an der Übertragung scheinbar zeitlos gültiger Gestaltungsansätze. Auf jeden Fall aber bedeutet der 11
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Kulturfilmserie der Humboldt-Film GmbH Berlin: „Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich?“ Berlin 1927. Bauhaus-Archiv Berlin, Inv. 7658/7656/7659 u. 7662. Vgl. auch die Broschüre zu dem Film: R. PAULICK, Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich, Berlin 1927. G. A. PLATZ, Baukunst der neuesten Zeit, Berlin 1927 (2. stark erweiterte Auflage 1930). PEVSNER, Wegbereiter (wie Anm. 6). S. GIEDION, Space, Time and Architecture. The Growth of a New Tradition, Cambridge/Mass. 1941. DERS., Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition, Zürich/München 1989, S. 97.
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behauptete Bruch des Zeitkontinuums die freie Verfügbarkeit über historische Vorbilder und damit eine neue und ungemein wirkungsmächtige Legitimationsstrategie der Moderne. Geschichte wird nicht mehr als Abfolge von Ereignissen wahrgenommen, sondern als synchronische Fülle von Inhalten, Beziehungen und Konzepten. In der Abkehr vom „Gänsemarsch der Stile“ kann GIEDION nun auch Gebäude aus zurückliegenden Epochen mit dem Prädikat eines modernen Gestaltungsansatzes adeln und retrospektiv zu Bezugspunkten im Koordinatensystem der „Neuen Tradition“ erklären. Mit der „Entstehung einer neuen Tradition“ ist also nicht ein neuer Stil gemeint, sondern ein neues Verhältnis zur Architekturgeschichte. Indem GIEDION die Architektur der Moderne in den Zusammenhang mit neuen Tendenzen der Wissenschaft, Technik und Kunst stellt, erscheint sie als zwangsläufiger Bestandteil der Geschichte und entzieht sich damit wirkungsvoll jeglicher Kritik. Die Kraft dieser Eigengeschichte zeigt sich beispielsweise in der zweiten Jahrhunderthälfte, als sich die Moderne in Deutschland nach den Zerstörungen des zweiten Weltkriegs als idealer Anknüpfungspunkt für den architektonischen Wiederaufbau empfahl, war sie doch in den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur als kulturbolschewistisch und undeutsch verunglimpft worden und bildete nun den unschuldigen und unkompromittierten Widerpart zu den monumentalen steinernen Zeugnissen des Nationalsozialismus. Spätestens nach dieser Zäsur ist das Anknüpfen an den künstlerischen Zenit der 1920er Jahre nicht mehr nur das bloße Fortführen des modernen Gestaltungsansatzes sondern eine Auseinandersetzung mit der inzwischen deutlich wahrgenommenen Historizität der Moderne, eine Erkenntnis, die den Historiografen Nikolaus PEVSNER bezeichnenderweise mit Unruhe erfüllt.16 Etwa gegen Ende der 1970er Jahre bürgert sich in den Diskussionen um eine architektonische Postmoderne der Begriff der „Klassischen Moderne“ ein. Die Avantgarde der 1920er Jahre wird damit zum vorbildhaften Bezugspunkt erklärt, zu „unserer Antike“, an der sich die aktuelle Architekturszene abzuarbeiten hat.17 Mit der Rückbesinnung auf das ästhetische Material der 1920er Jahre gerät auch die Architektur des Neuen Bauens wieder ins Blickfeld, und es ist kein Zufall, dass etwa zeitgleich mit der Begriffsbildung der „Klassischen Moderne“ an wichtigen Bauten denkmalpflegerische Maßnahmen in Angriff genommen werden. In den 1970er Jahren werden die großen Sanierungsmaßnahmen am Bauhausgebäude in Dessau sowie in der Weißenhofsiedlung in Stuttgart durchgeführt und 1983 schließlich der Barcelona-Pavillon rekonstruiert. Bemerkenswert an all diesen Maßnahmen ist, dass stets die vermeintliche architektonische Idee das Ziel der baulichen Maßnahme ist, ganz im Gegensatz zur üblichen Praxis einer zeitgemäßen 16 17
PEVSNER, Europäische Architektur (wie Anm. 2), S. 476. „Die Moderne, unsere Antike“ ist auch das Motto der documenta 2007. Vgl. Die Moderne, die aus der Zukunft kommt. Roger M. Buergel, der nächste Documenta-Leiter über die Aufgabe der Kunst, neue Werte für die Gesellschaft zu erarbeiten, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 117 vom 24.5.2005, S. 15.
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Denkmalpflege, den Status Quo als authentisches historisches Dokument zum Ausgangspunkt aller konservatorischen Maßnahmen zu machen.18 Noch 1996 wurde als Titelbild für den Tagungsbericht des deutschen Nationalkomitees der ICOMOS zum Thema „Konservierung der Moderne“ eine Zeichnung Mies van der Rohes gewählt, die den nicht realisierten Entwurf zu einem Hochhaus an der Friedrichstraße in Berlin zeigt (Abb. 6).19 Der Einfluss dieser 1921 entstandenen Vision eines transparenten gläsernen Hochhauses auf die Architektur des 20. Jahrhunderts kann kaum überschätzt werden, als Leitbild eines denkmalgerechten Umgangs mit der Architektur der Moderne wirft sie jedoch die Frage auf, welche Moderne konserviert und gegebenenfalls sogar rekonstruiert werden soll – die visionär erdachte oder die tatsächlich gebaute. Beim Barcelona-Pavillon wurde beispielsweise gemäß der ursprünglichen Planung die Verkleidung der Wände mit Travertin und Marmor auch an den Stellen ausgeführt, wo 1929 die finanziellen Mittel nicht ausgereicht hatten.20 In diesem Umgang mit Bauten und Entwürfen zeigt sich die Wirkungsmächtigkeit der medialen Geschichtsvermittlung, indem nämlich Zustände rekonstruiert werden, die so nie bestanden haben, die aber der bildlich dokumentierten Entwurfsidee zu entsprechen scheinen. Das Ergebnis solcher Maßnahmen ist immer die Materialisierung eines absichtsvoll geschaffenen Bildes und damit ein ahistorischer Zustand. Diese Tendenz zur Entzeitlichung verweist allerdings auf eine noch grundlegendere Fragestellung. Als Epochenbezeichnung stellt der Begriff der Moderne ein Paradoxon dar, ist er doch für eine in sich abgeschlossene, in der Vergangenheit liegende Epoche nicht zu gebrauchen. Hans Ulrich GUMBRECHT unterscheidet zwischen unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes „modern“.21 Zunächst im Sinne der Abgrenzung gegenüber einem vorhergehenden Zustand oder einer vorhergehenden Epoche verwendet, tritt zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine komplexere Bedeutungsebene hinzu. Modern wird nun in einem transitorischen, vorübergehenden Sinne gebraucht, um die Erfahrung der Gegenwart nicht mehr gegen eine vorangegangene Epoche abzugrenzen, sondern in einem Verständnis der Gegenwart als Vergangenheit der zukünftigen Gegenwart. Die Erfahrung einer historischen Beschleunigung, die komplette Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse in kürzester Zeit, aber auch die parallele Entwicklung der Kunst und Architektur ließen es unangemessen erscheinen, das Moderne gegen eine frühere Epoche abzu18
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Erst in jüngster Zeit wird diese Praxis verstärkt in Frage gestellt. Vgl. dazu S. OELKER / M. MARKGRAF / A. SCHWARTING, Denkmalpflege der Moderne. Konzepte für ein junges Architekturerbe, Stuttgart 2011. Konservierung der Moderne? Über den Umgang mit Zeugnissen der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Tagungsbericht, hg. von ICOMOS. Nationalkomitee der Bundesrepublik Deutschland (Hefte des Deutschen Nationalkomitees 24), München 1996. I. DE SOLÀ-MORALES RUBIÓ, The Construction of the Barcelona Pavilion, in: ICOMOS (wie Anm. 19), S. 45-50. H. U. GUMBRECHT, Modern. Modernität, Moderne, in: O. BRUNNER / W. CONZE / R. KOSELLECK, Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1993, Bd. 4, S. 93-131.
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setzen. Der Gegenbegriff für dieses neue Modernitätsverständnis ist daher nicht mehr eine vergangene Zeit, sondern die Abwesenheit von Zeit, also die Ewigkeit. Charles Baudelaire hat 1859 dieses neue Zeitempfinden in seiner Schrift „Le peintre de la vie moderne“ in eine ästhetische Theorie umgesetzt, die auch für das historische Verständnis der Avantgarden im 20. Jahrhundert von Interesse ist.22 Baudelaire folgt der Einsicht, dass jede Vergangenheit sich selbst als Gegenwart und ihre Kunst als moderne erlebt haben muss. Der transitorische, fliehende Charakter des Modernen widerspricht aber nun dem Selbstverständnis vieler Künstler, die sich selbst am Beginn einer Epoche wähnten, deren Ende sie für zu fern hielten, als dass sie ihre Programme und ihre Werke als etwas Vorübergehendes ansahen. Fast scheint es so, als ob dem Adjektiv „modern“ in seiner transitorischen Bedeutung die Erfahrung einer neuen Gegenwart, einer neuen Epoche der Moderne gegenübersteht, deren allumfassende Gültigkeitsbehauptung nun gerade in einer unbegrenzten Zeitdauer besteht, ein Anspruch, der nicht zuletzt in dem verkaufsfördernden Ausdruck „zeitlos modern“ banalisiert ist.23 Kehren wir nochmals zum Barcelona-Pavillon zurück. Geradezu beispielhaft lässt sich hier dieses Paradoxon zwischen Ewigkeitsanspruch und Beschleunigungserfahrung beobachten, durchaus nicht nur deshalb, weil der Pavillon in seinen wenigen fotografischen Zeugnissen im eigentlichen Wortsinne „verewigt“ ist, während die bauliche Substanz unmittelbar nach der Weltausstellung wieder abgetragen wurde. Bereits Walter RIEZLER beschrieb 1930 in seinem Aufsatz „Das neue Raumgefühl in bildender Kunst und Musik“ die Architektur von Le Corbusier und Mies van der Rohe, deren Wirkung nur im Durchschreiten erfasst werden könne.24 Doch auch unabhängig vom Betrachter beruhe ihr inneres Wesen in der gegenseitigen Durchdringung, in dem Ineinanderfließen, also in einem zeitlichen Vorgang.25 Der von Mies sehr geschätzte Siegfried EBELING spricht in seiner Broschüre „Der Raum als Membran“ von der notwendigen Reinigung des modernen Raumes von aller Symbolik, um dann gleichsam osmotisch mit seiner Umwelt in Beziehung treten zu können (Abb. 7).26 Auch bei Walter BENJAMIN findet sich die Idee von Architektur als „Durchgangsraum aller erdenklichen Kräf-
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C. BAUDELAIRE, Le peintre de la vie moderne, in: DERS., Oeuvres Complètes. Texte établi et annoté par Yves-Gérard le Dantec, Paris 1954, S. 881-920. Dieser Aspekt wurde unter einem anderem Schwerpunkt bereits in folgendem Artikel untersucht: A. SCHWARTING, „Der Sieg des neuen Baustils“. Geschichtskonstruktionen und Geltungsansprüche in der Architektur der Moderne, in: A. BRODOCZ / C. O. MAYER / R. PFEILSCHIFTER / B. WEBER (Hgg.), Institutionelle Macht. Genese – Verstetigung – Verlust, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 197-212. W. RIEZLER, Das neue Raumgefühl in bildender Kunst und Musik, in: Vierter Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft (Hamburg, 7.-9.10.1930). Beilageheft zur Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 25 (1931), S. 179-206. U. MÜLLER, Raum, Bewegung und Zeit im Werk von Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, Berlin 2004, S. 95. S. EBELING, Der Raum als Membran, Leipzig 1926.
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Andreas Schwarting
te und Wellen von Licht und Luft“.27 Doch es ist nicht nur der fließende Raum, der als Idee des Bauwerks wichtiger wird als dessen materielle Substanz. Die Tendenz zur Entmaterialisierung zeigt sich auch in dem allgegenwärtigen Thema der Spiegelungen am Pavillon.28 Es sind ausschließlich stark reflektierende oder durchsichtige Materialien, die Mies verwendet – polierter Marmor, Glas, Chrom und nicht zuletzt die großen Wasserflächen. Die Marmorplatten sind so geschnitten und versetzt, dass die Maserung nebeneinander liegender Platten gespiegelt wird. Die oft verwirrenden Durchblicke, die Mehrdeutigkeit der optischen Signale scheinen die materielle Existenz des Gesehenen in Frage zu stellen und den Pavillon zu einer virtuellen Erscheinung, gewissermaßen zum Kinematographen seiner selbst werden zu lassen – Projektor und Projektion gleichermaßen (Abb. 8). Genau diese Qualitäten des Gebäudes sind auch Gegenstand eines TV-Werbespots, der von der Energieversorgungsfirma „e.on“ im Jahr 2001 ausgestrahlt wurde. Der Pavillon als Modegeschäft wird zum Ort eines imaginären Verkaufsgesprächs. Veronica Ferres sucht – wie sie sagt – etwas Passendes zu ihrem neuen „e.on“. Woraus denn ihr „e.on“ bestehe, wird sie gefragt: „Natürlich – aus Wasser!“ Der Pavillon ist in diesem Spot nicht nur Kulisse. Er wird zum Träger einer abstrakten Produktidee, der Entscheidung für Strom aus Wasserkraft. Das allgegenwärtige Fließen von Wasser im Spot verstärkt die Raumirritationen der Architektur und symbolisiert Kraftströme und ihre Umwandlung in elektrische Energie (Abb. 9). Selbst der Slogan reflektiert das Zeitempfinden der Avantgarde der 1920er Jahre: „Freuen Sie sich auf die Zukunft!“ Mit dem Wiederaufbau des Pavillons ab 1983 ist eine neue Situation entstanden, denn der ephemere Charakter des Bauwerks wird nun konterkariert durch die auf Dauer gestellte Rekonstruktion bzw. materialisierte Imitation seines Bildes. Vom Makel der Unvollständigkeit und der Eile, in der das Original 1929 errichtet werden musste, ist das neue Gebäude befreit und stellt damit ein vom Entstehungskontext abgelöstes, zeitfreies und damit klassisches Ideal der Architektur der Moderne dar. Thomas Ruff kehrt mit seiner Fotografie vom Barcelona-Pavillon deshalb gewissermaßen den Zustand von 1929 um. Während damals der Pavillon als Gebäude kurz nach seiner Errichtung wieder verschwand und nur die Fotografien das dauerhafte Bild konservierten, ist 1986 der Pavillon als dreidimensionales Abbild an seinen Bauplatz zurückgekehrt. Nun ist es die Fotografie, die das Prinzip der fliehenden Bewegung und der immateriellen Substanz auf neue Weise thematisiert (Abb. 10). Die Architektur und die mediale Vermittlung der Moderne sind nicht voneinander zu trennen. So wie die ausgeführten Gebäude als historische Zeugnisse die transitorischen Aspekte der Moderne konkretisieren, so drückt sich in der medialen Vermittlung der Wunsch nach Kontinuität aus. Die mediale Vermittlung des Neuen Bauens bedeutet also weitaus mehr als eine geschickte Strategie zur Ver27 28
W. BENJAMIN, Kritiken und Rezensionen. Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1991, S. 196-197. Vgl. dazu Y. DZIEWOR, Mies van der Rohe. Blick durch den Spiegel, Köln 2005, S. 69-71.
Die Macht der Moderne
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marktung eines formalen Regelkanons. Die zahllosen Publikationen, Fotografien und Filme sind neben den realisierten Bauten ein notwendiger Bestandteil der modernen Architektur, als Konstruktion und Durchsetzung einer Eigengeschichte, die auf Dauerhaftigkeit und Stabilität zielt, gerade weil sie um die Dynamik des baulichen Geschehens weiß.
INSTITUTIONELLE ANALYSE UND HISTORISCHE KOMPARATISTIK Zusammenfassung der theoretischen und methodischen Grundlagen und Hauptergebnisse des Sonderforschungsbereiches 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ KARL-SIEGBERT REHBERG Die hier vorgelegte, letzte Publikation des Dresdner Sonderforschungsbereiches „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ (SFB 537)1, die dem Schlüsselproblem institutioneller Macht gewidmet ist, eröffnet die Möglichkeit, zusammenfassend den systematischen und methodologischen Zusammenhang der Forschungen aus zwölf Jahren sowie den Ertrag der historisch vergleichenden institutionellen Analyse resümierend zu skizzieren.
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Das Resümee der Forschungen des SFB 537 bezieht sich selbstverständlich auf die Beiträge aller an ihm Beteiligten, wäre jedoch nicht möglich gewesen ohne die kritische und produktive Mitarbeit von T. Deubel und M. Blank. Des weiteren wurde seine Fertigstellung auch durch L. Respondek und D. Möwitz befördert. Dank sei auch dem Mitherausgeber des Bandes und Sprecher des SFB, G. Melville, gesagt. Als gemeinsame Publikationen des SFB 537 seien genannt: G. MELVILLE (Hg.), Institutionalität und Geschichtlichkeit. Ein Sonderforschungsbereich stellt sich vor, Dresden 1997 (darin besonders das von G. MELVILLE, K.-S. REHBERG und P. STROHSCHNEIDER verfasste Forschungsprogramm, S. 11-33); die folgenden Bände erschienen sämtlich in Köln/Weimar/Wien im BöhlauVerlag: DERS. (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, 2001; DERS. / H. VORLÄNDER (Hgg.), Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, 2002; S. MÜLLER / G. S. SCHAAL / C. TIERSCH (Hgg.), Dauer durch Wandel. Institutionelle Ordnungen zwischen Verstetigung und Transformation, 2002; G. MELVILLE / K.-S. REHBERG (Hgg.), Gründungsmythen – Genealogien – Memorialzeichen. Beiträge zur institutionellen Konstruktion von Kontinuität, 2004; G. MELVILLE (Hg.), Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, 2005; A. BRODOCZ / C. O. MAYER / R. PFEILSCHIFTER / B. WEBER (Hgg.), Institutionelle Macht. Genese – Verstetigung – Verlust, 2005. Vgl. als Programmtexte auch: K.-S. REHBERG, Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen (TAIM), in: G. GÖHLER (Hg.), Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie, Baden-Baden: Nomos 1994, S. 47-84; DERS., Die stabilisierende „Fiktionalität“ von Präsenz und Dauer. Institutionelle Analyse und historische Forschung, in: B. JUSSEN / R. BLÄNKNER (Hgg.), Ereignis und Institutionen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, S. 381-407 sowie G. MELVILLE, Institutionen als geschichtswissenschaftliches Thema, in: DERS. (Hg.), Institutionen und Geschichte. Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1992, S. 1-24.
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I. „Institution“ als theoretische Kategorie 1. Interdisziplinäre Perspektiven Eine übergreifende theoretische Perspektive, welche vor allem die Fragestellungen begründen und einen gemeinsamen Lernprozess ermöglichen soll, wurde nicht in einer verbindlichen Supertheorie gesucht, welche alle fachwissenschaftlichen Forschungsprozesse begrifflich und methodisch dominieren würde, obwohl ein solcher Eindruck bei geglückter Konsistenz durchaus entstehen kann. Eine derartrige (selbst wieder fiktive) „Einheit“ würde die theoretischen Perspektivierungen leicht als Zwangsrahmen gegenüber den Beobachtungs- und Bennenungsgewohnheiten unterschiedlicher Disziplinen erscheinen lassen, was jedoch einer fruchtbaren Kooperation zwischen diesen (die ‚Fächerkulturen’ eingeschlossen) kaum nützlich wäre. Es lässt sich dies an der unterschiedlichen Verwendung des InstitutionenBegriffs und der mit ihm verbundenen Semantik illustrieren: Viele Historikerinnen und Historiker sprechen von „Institution“ überhaupt erst mit Bezug auf Frühe Neuzeit und Moderne und meinen dann (wie auch die Alltagssprache) zumeist rechtlich kodifizierte und formell organisierte Einrichtungen. Dann könnte es so erscheinen, dass erst der moderne, aus der Überwindung der religiösen Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts seine Vorrangstellung ableitende und nach 1789 konsequent zur großen Verwaltungsmaschine ausgebaute Staat als „Institution“ zu bezeichnen wäre, nicht hingegen die komplizierten Patrimonialstrukturen seit der nachkarolingischen Zeit, zwar die heutige Römische Kirche, nicht jedoch die frühchristliche Konzilien- und Bischofskirche oder das mittelalterliche Papsttum. Demgegenüber verbinden Soziologen den Begriff umgekehrt eher mit einem (nicht nur von Émile DURKHEIM und Arnold GEHLEN vertretenen2) ‚Archaismus’, nach welchem institutionelle Geltungen erstmalig aus dem Totemismus, aus der Tier- und Pflanzenhege, den Ritualtänzen und magischen Praktiken in schriftlosen Kulturen und – wie vor allem Claude LÉVI-STRAUSS zeigte3 – aus frühesten Verwandtschaftsregulierungen hervorgegangen seien. Dabei wird die Genese von Geltungszusammenhängen in der Menschheitsgeschichte zum Ausgangspunkt der Untersuchung konkreter institutioneller Formen. Interdisziplinarität setzt voraus, dass die disziplinären Begriffe und Sichtweisen in eine gemeinsame Perspektivierung übersetzt werden, was in dem Dresdner Institu2
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Vgl. É. DURKHEIM: Die elementaren Formen des religiösen Lebens [franz. zuerst 1912]. Frankfurt a.M.: Insel/Verlag der Weltreligionen 2007 und A. GEHLEN: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen [zuerst 1956], hg. v. K.-S. REHBERG, Frankfurt a.M.: Klostermann 52004. Vgl. C. LÉVI-STRAUSS, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft [franz. zuerst 1947], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981. Vgl. dazu auch die erste Rezeption dieses Textes in Deutschland durch A. GEHLEN, Die Sozialstruktur primitiver Gesellschaft, in: DERS. / H. SCHELSKY (Hgg.), Soziologie. Ein Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde, Düsseldorf/Köln: Diederichs 1966, S. 13-45 sowie M. KAUPPERT / D. FUNCKE (Hgg.), Wirkungen des wilden Denkens. Zur strukturalen Anthropologie von Claude Lévi-Strauss, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008.
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tionen-SFB dadurch gelang, dass die unterschiedlichen Fachansätze institutionenanalytisch miteinander verbunden und dadurch zugleich auf ihre Bedingungen, Stärken und Schwächen hin reflektiert werden konnten. Statt eines verbindlichen Theorierahmens brauchte man also, was Robert K. Merton eine „Theorie mittlerer Reichweite“ genannt hat, und zugleich die Fähigkeit, ohne einen kriterienlosen Eklektizismus die Anregungen anderer geschichts- und sozialwissenschaftlicher „Theorien“ – etwa der historischen Prozesstheorie, der Diskursanalyse, verschiedener Handlungs-, Interaktions- und Habitustheorien, der Netzwerkanalyse, evolutionärer Begriffsstrategien oder geschichtswissenschaftlicher Paradigmata – aufzunehmen und immer neu mit dem gemeinsamen Ansatz in Beziehung zu setzten.
2. Die Wiederentdeckung des Institutionellen In welcher Weise der Dresdner Forschungsverbund seine, Mitte der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts begonnenen Arbeiten in den Zusammenhang einer „(Wieder-)Entdeckung des Institutionellen“ gestellt sah, belegen die zunehmend sogar von modelltheoretisch arbeitende Ökonomen akzeptierte Relativierung des abstrakten „Homo Oeconomicus“-Modells durch den neueren, volkswirtschaftlichen Neo-Institutionalismus4 ebenso wie Ansätze einer Organisationssoziologie, welche, die Annahmen der Standardökonomie überschreitend, die Bedeutung kultureller Faktoren und symbolischer Vergegenständlichungen der organisatorischen Beziehungen betont.5 Parallel dazu kam es auch in den deutschen Sozialwissenschaften zu einem wiedererstandenen Interesse an Institutionen. Dafür stand etwa das DFG-Schwerpunktprogramm „Theorie politischer Institutionen“, das in den Jahren 1989 bis 1995 von Gerhard GÖHLER koordiniert, wichtige Voraussetzungen auch für die hier resümierten Forschungen geschaffen hat.6 Während man oft geneigt ist, das Interesse an Institutionen mit konservativen Standpunkten in Verbindung zu bringen, kam es doch gerade auf Seiten der „Linken“ nach Studentenrevolte und „Deutschem Herbst“ zu vielfältigen Wiederannäherungen an institutionelle Ordnungen. „1968“ hatte es zuerst folgenreiche Symbolkämpfe in dem als politischem Mikrokosmos aufgefassten Universitätssystem gegeben, samt der damit verbundenen, gewitzten Treffgenauigkeit gegenüber einer verängstigten und beleidigten ‚Institutionalität’ mit hohem Irritationspotential nach 4
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Vgl. N. REUTER, Der Institutionalismus. Geschichte und Theorie der evolutionären Ökonomie, Marburg: Metropolis 1994 sowie R. HASSE / G. KRÜCKEN, Neo-Institutionalismus, Bielefeld: transcript 22005. Vgl. W. W. POWELL / P. J. DIMAGGIO (Hgg.), The New Institiutionalism in Organizational Analyses, Chicago University Press 1991 und D. C. NORTH, Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen: Mohr 1992. Vgl. G. GÖHLER: Abschlußbericht des DFG-Schwerpunktprogrammes 322 177 „Theorie politischer Institutionen“ (mit Beiträgen von K.-S. REHBERG, K. GRIMMER und T. KNEISSLER), Ms. Bonn o.J. [1995].
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den ihr entgegengehaltenen spezifischen „1000 Jahren“.7 Das war verbunden mit der Ankündigung der jungen ‚Revolutionäre’, einen „Marsch durch die Institutionen“ beginnen zu wollen, der merkwürdigerweise ein Verblassen gerade dieser Kategorie in der gesellschaftskritischen Theorieproduktion folgte. Aber das änderte sich als Reaktion auf das Scheitern der politischen Ungeduld, jedoch auch aus dem daran sich anschließenden Bedürfnis einer Selbstinstitutionalisierung sozialer Bewegungen – etwa der feministischen oder der Grünen. Eine andere Folge war die öffentliche Begriffskonjunktur der Betonung von „Werten“, die politisch zuerst in konservativen Restabilisierungsansätzen sichtbar wurde. 1978 gab es gegen die antiautoritäre Pädagogik der ‚Achtundsechziger’ die Kampagne „Mut zur Erziehung“ und zwei Jahre darnach das umfassendere Versprechen einer „geistig-moralische ‚Wende’“ durch die von Helmut Kohl geführte CDU, der eine welthistorische im Jahre 1989 dann wirklich folgen sollte.8 Und auch die Liberalen entdeckten Ordnungsmuster neu, die Ralf DAHRENDORF 1979 „Ligaturen“ nannte,9 womit er den von ihm früher vertretenen „Homo Sociologicus“-Dualismus von authentischem Individuum und der „ärgerlichen Tatsache“ der Gesellschaft einsichtsvoll korrigierte.10 Danach mochte es schon als trotzig-angestrengte Implausibilität gelten, wenn Margret Thatcher – später wie DAHRENDORF ein Mitglied des britischen Oberhauses – 1987 postulierte: „There is no such thing as society. There are individual men and women, and there are families.”11 Bei Barack Obama hörte man in seinem Presidency Acceptance Speech am 4. November 2008 das Gegenteil: „We have never been [only] a collection of individuals“. Bei allem Unbehagen an einem, scheinbar notwendig auf Bestandserhaltung zielenden Bedeutungsfeld – zumal in Deutschland die prägnanteste Institutionenlehre von dem erklärt konservativen Arnold GEHLEN stammte –, näherten sich auch Autoren der „Kritischen Theorie“ zunehmend unbefangener den institutionellen Fragestellungen, in gewisser Weise sogar Jürgen HABERMAS. In seinem Hauptwerk „Theorie des kommunikativen Handelns“ umkreist er das Institutionenthema ohne die ambivalenten Spannungen diesem gegenüber aufhe-
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Gemeint ist die durch das provokative, bei der Semestereröffnung der Hamburger Universität im November 1967 präsentierte Transparent mit der Aufschrift „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“ hervorgerufene Erinnerung an das „Tausendjährige Reich“ Hitlers und die Karrierekontinuität vieler Professoren aus jener Zeit. „Wende“ wurde die ‚Friedliche Revolution’ zuerst von Egon Krenz in seiner Antrittsrede als letzter Generalsekretär der SED vor dem ZK am 18. Oktober 1989 genannt. Vgl. z.B. R. DAHRENDORF, Die offene Gesellschaft und ihre Ängste, in: W. ZAPF (Hg.), Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt am Main 1990, Frankfurt a.M./New York: Campus 1991, S. 140-150, hier: 148. B., Homo sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, Köln/Opladen: Westdeutscher Verlag 91970. Prime minister Margaret Thatcher, talking to Women's Own magazine, October 31 1987.
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ben zu können.12 Das belegte auch sein Dresdner Vortrag bei der ersten ‚großen’ Tagung des SFB 537 im Jahre 1998: Einerseits gab er die Bedeutung einer über die funktionalen Organisationsstrukturen hinausgehenden „symbolischen Ausdrucksform“ und zeremonieller Praktiken zu und unterschied die „starken“, in gewisser Weise „naturwüchsigen“ Institutionen von deren „schwachen“, verblassenden Restformen. Andererseits sah er den auch heute nicht nur residualen Symbolisierungsbedarf doch nicht mehr begründbar durch die Geschlossenheit der Hegelschen „Sittlichkeit“ oder durch GEHLENs „einwandsimmune“ Institutionen.13 Sein Schüler Axel HONNETH stellte gegen HABERMAS’ Dualismus von „System“ und „Lebenswelt“ die Bedeutung institutioneller Formen der öffentlichen Kommunikation deutlicher heraus.14 Und im Zuge des Entstehens der „Ruinen von Staatlichkeit“ in der Balkanregion nach dem Zusammenbruch des von Tito geschaffenen Jugoslawien war es dann Claus OFFE als ein anderer Adorno-Schüler, der angesichts neuer „Naturzustände im Kleinformat“ den Zusammenhang von institutioneller Garantie und dem rechtlichen Schutz der Menschen betonte, eine Sichtweise, die durch Hans Magnus ENZENSBERGERs Warnungen vor dem Bürgerkrieg in den scheinbar pazifizierten Wohlstandsareas der Welt eine literarische Begleitung erfuhr.15 Nur Niklas LUHMANN versuchte, sich unbeirrt von der sozusagen hochgestimmten Normativität traditioneller Begriffe zu befreien, zu denen für ihn auch jener der „Institution“ zählte, von dem er zur Abschreckung formulierte, es werde der Eindruck erweckt, „dass etwas Höheres, Sinnreicheres, vielleicht Geheimnisvolleres im Spiel sei“.16
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Vgl. J. HABERMAS, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 7-170, wo HABERMAS MEADS Begründung sozialer Geltungen ergänzt durch die religionssoziologische Verankerung sozialer Ordnungen in der ‚Ur-Institution’ des Totemismus. Der Rückgriff auf magische Rituale entspricht der hier allerdings nicht erwähnten Herleitung der Institutionen in: GEHLEN, Urmensch [wie Anm. 2]. Vgl. DERS., Symbolischer Ausdruck und rituelles Verhalten. Ein Rückblick auf Cassirer und Gehlen, in: MELVILLE, Institutionalität [wie Anm. 1], S. 53-67. Vgl. A. HONNETH, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, bes. S. 307-334. Vgl. C. OFFE: Moderne „Barbarei“. Der Naturzustand im Kleinformat?, in: M. MILLER / H.-G. SOEFFNER (Hgg.), Modernität und Barbarei. Soziologische Zeitdiagnose am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 258-289 sowie K.-S. REHBERG, Ambivalente „Filter“, in: ebd., S. 290-305. Vgl. auch H. M. ENZENSBERGER, Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. N. LUHMANN, Universität als Milieu, hg. v. A. KIESERLING, Bielefeld: Haux 1992, S. 92.
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II. Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen (TAIM)17 als Forschungsrahmen 1. Grundprinzipien der Institutionenanalyse a) Konstruktivismus versus Ontologie Um zu zeigen, was sich im Rahmen der institutionellen Analyse besonders bewährt hat, ist zuerst der – sprachlich nicht immer leicht nachvollziehbare – Verzicht darauf zu nennen, den landläufigen Begriff „Institution“ ins Zentrum zu stellen, obwohl das Wort in einem deskriptiven Sinn doch auch verwendet wird: Statt darnach zu fragen, was Institutionen „sind“, ging es um die Untersuchung institutioneller Mechanismen der Stabilisierung sozialer Beziehungen (von Liebespaaren und peer-groups über künstlerische, religiöse und politische Assoziationen, von Öffentlichkeitsräumen bis hin zu Herrschaftssystemen und transnationalen Organisationsgefügen). Bereits Helmut SCHELSKY hatte – wie nach ihm Niklas LUHMANN –, den älteren Terminus „Institution“ durch den dynamisierten der „Institutionalisierung“ ersetzt18, damit Prozesse der Verfestigung bezeichnend, wie sie auch für die Dresdner Rekonstruktionen der Genese sozialer Beziehungsgeflechte wichtig waren. Dann sind beispielsweise Gründungen, Krisenverläufe, Restabilisierungen einer Ordnung zu analysieren, aber auch Entinstitutionalisierungen oder Zusammenbrüche institutioneller Gefüge. Was gewöhnlich als „Institution“ bezeichnet wird, sind bei näherem Hinsehen zumeist herausgehobene Organisationen, wie z.B. Kirche und Staat, Familien- und Verwandtschaftsverbände, Bildungs- und Kultureinrichtungen, zuweilen auch Großbetriebe. Jedoch sind „Institution“ und „Organisation“ nicht gleichzusetzen: Nicht jede Institution ist formal organisiert, aber es ist keine durch formale Mitgliedschaft und Regulierungssysteme bestimmte Organisation denkbar, die ohne eine symbolische Repräsentanz ihrer Zielsetzungen und die Sichtbarkeit der Ordnung als der eigentlich institutionellen Leistung funktionieren würde. Für den gesamten Forschungsverbund war dabei ein methodischer Konstruktivismus leitend, weil die Umformung kontingenter Gegebenheiten in ein „Reich der Notwendigkeit“ (Hegel) als Schlüsselvorgang institutioneller Ordnungsherstellung und -garantie aufgefasst wurde. Dabei sollte vermieden werden, was Theodor W. 17
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Vgl. die erste Grundlegung in: K.-S. REHBERG, Ansätze zu einer perspektivischen Soziologie der Institutionen, Aachen 1973 und DERS., Institutionen [wie Anm. 1] für das Programm des SFB: MELVILLE, Sonderforschungsbereich [wie Anm. 1]. Vgl. H. SCHELSKY, Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen. Kulturanthropologische Gedanken zu einem rechtssoziologischen Thema [zuerst 1949], in: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf/Köln: Diederichs 1965, S. 33-55 und DERS., Zur soziologischen Theorie der Institution. in: DERS. (Hg.), Zur Theorie der Institution, Düsseldorf: Bertelsmann 1970, S. 9-26 sowie N. LUHMANN, Funktion und Folgen formaler Organisationen, Berlin: Duncker & Humblot 1964.
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Adorno als begriffliche „Verdoppelung“ oder „Reifikation“ verworfen hat. Deshalb wird Institutionen keine – allen Kontingenzen der Geschichtlichkeit, der Interessendurchsetzung und eines Geltungsglaubens der ihnen unterworfenen Menschen enthobene – „Eigenlogik“ zugeschrieben, die sich in jeder Beschreibung nur wieder selbst bestätigen könnte. Aus einer Skepsis allen wesensmäßigen Seinserfassungen gegenüber hat sich folgende Abgrenzungsformel als geglückte forschungsleitende Kodifikation der Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen erwiesen: Nicht geht diese von fixen Ordnungen aus, sondern von Ordnungsbehauptungen (im Doppelsinne eines Anspruches und seiner Durchsetzung), nicht von unbefragten Geltungen, sondern von Geltungssuggestionen, nicht von institutionellen Normenerfüllungen, sondern von Handlungsund Rollenstilisierungen. Durchaus im Kontrast zu einer derartigen Vermeidung jeder institutionellen Ontologie, die in einer Epoche der Dekonstruktion naheliegend erscheinen mag, wurde in Gerhard SCHÖNRICHs Teilprojekt „Philosophische Theorie der Institutionen“19 der Zusammenhang von „Regelbefolgungsgemeinschaften“ und der Konstitution von Regeln und Normen zum Ausgangspunkt für eine kategorial begründete Sozialontologie von Institutionen gewählt.20
b) Handlungsorientierung Jenseits solcher philosophischer Fragen nach Letztgeltungen zeichnet sich die institutionelle Analyse, etwa systemtheoretischen Ansätzen gegenüber, durch eine Handlungsorientierung aus, welche explizit nach den Wechselwirkungen von sozia19
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Als zusammenfassende Publikationen dieses Teilprojektes seien genannt: G. SCHÖNRICH, „Der Garten der Pfade, die sich verzweigen“. Zur Ontologie von institutionellen Prozessen, in: DERS. (Hg.), Institutionen und ihre Ontologie, Frankfurt a.M.: Ontos 2005, S. 265-306 sowie DERS., Der Wert kognitiver Leistungen und die Rolle von Wissensinstitutionen, in: DERS. (Hg.), Wissen und Werte, Paderborn: mentis 2009, S. 293-334. In diesem Teilprojekt wurde die ontologische Dimension institutioneller Macht durch deren Normativitäts- und Rationalitätsmuster erfasst. Mit Wittgenstein sollte zuerst gezeigt werden, wie „Befolgungspraxen“ die Geltung von Normen und Regeln überhaupt erst schaffen. Das führte zu der Frage, in welcher Weise „Machtbesitz und Machtausübung“ Anschlusshandlungen und somit ‚dauerhafte’ Ordnungsmuster wahrscheinlicher machten. In sozialontologischer Hinsicht folgte dem eine auf Erklärung zielende Untersuchung, nach welchen Zeit-Modellen die diachrone Identität von Institutionen verständlich wird. Eine Zeitontologie sollte nachvollziehbar machen, wie institutionelle Gruppen in indexikalisch gesteuerten Handlungen eine zeitliche Gegenwart erzeugen können, auf die sich alle beteiligten Akteure trotz unterschiedlicher Zeitperspektiven gemeinsam beziehen können. In der abschließenden Perspektive einer Konstitutionsanalyse wurde schließlich vorgeschlagen, „Institutionalität“ zu definieren erstens durch Eigenschaften, die Institutionen nicht verlieren können, ohne aufzuhören, eine Institution zu sein (Prozesshaftigkeit/Geschichtlichkeit; Ordnung/Geltungsanspruch, spezifische Machtformen und symbolische Selbstdarstellung), zweitens durch weiche prototypische Merkmale wie institutionelle GruppenMitgliedschaft, Artefakte, Handlungen, Tatsachen und letztlich durch Werte (ein bisher in der Forschung vernachlässigter Aspekt).
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len Strukturierungen und Akteuren fragt, wie also soziale Gegebenheiten in typische Handlungsmotive und Habitusbildungen übersetzt werden und wie diese umgekehrt institutionelle Beziehungen variieren und verändern.21 Jeder Persönlichkeitsentwurf und die mit ihm verbundenen Rollenerwartungen verweisen auch auf eine Darstellungsseite, ebenso jedoch auf die entscheidende Voraussetzung institutionell erzeugter Formen der Verinnerlichung oder Inkorporierung jeweiliger Orientierungszusammenhänge in Bewusstsein und Handlungsroutinen von Akteuren (Habitus). Es war dies auch eines der zentralen Themen der Untersuchungen mittelalterlichen Religiosentums in Gert MELVILLEs Teilprojekt „Institutionelle Strukturen religiöser Orden im Mittelalter“22, wie also die Regelgeleitetheit des mönchischen Lebens mit einer Individuierung in Gemeinschaft verknüpfbar sei. Insgesamt wurden Orden und Klöster (vor allem Grandmontenser, Prämonstratenser, Cluniazenser und Cisterzienser in Abgrenzung von drei Bettelorden, den Franziskanern, Dominikanern und Augustiner-Eremiten) vergleichend unter drei Gesichtspunkten erforscht, nämlich den institutionellen Leitideen und mit ihnen verbundenen Werte- und Normensystemen, den Organisationsformen sowie den gesellschaftlichen Funktionen und dem sozialen Umfeld. So konnten unterschiedliche institutionelle Ausformungen des Religiosentums vom 11. bis zum 13. Jahrhundert in einen Zusammenhang gestellt werden.
c) Symbolizität Entscheidend für den theoretisch-methodischen Zusammenhang der Untersuchungen im Rahmen des SFB 537 war die Herausarbeitung der Bedeutung symbolischer Ordnungen. „Symbolizität“ verweist auf deren anthropologische Vorrausetzung: Die auf der Basis gehirnlicher Kodierungsleistungen und sprachanaloger Verknüpfungen aller menschlichen Eindrücke und Erfahrungen beruhende Mittelbarkeit und Künstlichkeit des menschlichen Weltbezuges (HERDER hatte das „Sprachmäßigkeit“ genannt23) macht den Menschen „von Natur aus“ zu einem „Kulturwe21
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Eine Überwindung der Mikro-Makro-Diskrepanz gehört zum Programm von Anthony Giddens, Pierre Bourdieu und heute sogar zunehmend von Vertretern des Rational-choice-Ansatzes wie Hartmut Esser oder James S. Coleman. Als zusammenfassende Publikationen dieses Teilprojektes seien genannt: G. MELVILLE / J. OBERSTE (Hgg.), Die Bettelorden im Aufbau. Beiträge zu Institutionalisierungsprozessen im mittelalterlichen Religiosentum, Münster: LIT 1999; G. MELVILLE / M. SCHÜRER (Hgg.), Das Eigene und das Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum (Vita regularis, 16), Münster: LIT 2002; G. ANDENNA / M. BREITENSTEIN / G. MELVILLE (Hgg.), Charisma und religiöse Gemeinschaften im Mittelalter [Vita Regularis 26], Münster/Hamburg/London: LIT 2005; G. ANDENNA / S. BARRET / G. MELVILLE (Hgg.), Oboedientia. Zu Formen und Grenzen von Macht und Unterordnung im mittelalterlichen Religiosentum, Münster: LIT 2005. Vgl. J. G. HERDER, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, welche den von der Königl. Academie der Wissenschaften für das Jahr 1770 gesetzten Preis erhalten hat, in: J.G. v. Herder's Sämtliche Werke, Bd. 5 [zuerst 1891], hgg. v. R. STEIG / B. SUPHAN [reprogr. Nachdruck Hildes-
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sen“24, und somit alle Gegebenheiten immer auch zu gedeuteten. Deshalb sind alle Erscheinungsweisen des Menschen, auch seine Handlungsvollzüge – genereller gesagt: ist die Welt – grundsätzlich symbolisch vermittelt. Das begründet jede Methodik des Verstehens. Für die gemeinsamen Forschungen erwies sich die These von der Funktion unterschiedlicher institutioneller „Präsenzsymbole“ als ertragreich, durch welche Hintergrundsordnungen in situative Zusammenhänge übersetzt werden: Das gilt ebenso für Leibsymbole (etwa in der Form ritueller Körperinszenierungen und -markierungen oder Stigmatisierungen, etwa auch Charismatisierungen), wie für Raum-, Zeit- oder Text- und Bildsymbole. Immer werden dabei Ordnungsprinzipien zur Darstellung gebracht und verkörpert.25
d) Geschichtlichkeit Die institutionelle Analyse schafft nicht nur eine Verbindung zwischen den Mikround Makro-Dimensionen des menschlichen Daseins, sondern auch eine forschungsorientierte Vermittlung zwischen den Geschichtswissenschaften und den Historischen Sozialwissenschaften, wie sie besonders in soziologischen Denktraditionen fortgesetzt und reflektiert worden sind. So werden, ausgehend von der prinzipiellen „Geschichtlichkeit“ aller sozialen Beziehungen, interdisziplinäre Vergleichsperspektiven für die Bearbeitung historisch-systematischer Problemfelder eröffnet. Jede historische Vergleichsheuristik beruht dabei ebenso auf weltbildhaften wie auf im engeren Sinne wissenschaftlichen Deutungen der Geschichte. Auf diese Weise ergibt sich auch eine vertiefte Überprüfung der die Moderne prägenden (immer auch geschichtsphilosophisch legierten) Modellannahme eines seit der Renaissance sich vorbereitenden prinzipiellen Bruchs mit den Ordnungsgrundlagen traditionaler Gesellschaften. Das drückt sich im Pathos der Aufklärung des 18. und des einheitswissenschaftlichen Szientismus des 19. Jahrhunderts aus, war Grundlage der Marxschen Kapitalismuskritik und klingt sogar noch in der Weberschen These von der Rationalisierung des Okzidents nach. Als radikale, krisenhaft empfundene Neuartigkeit erschien auch ein prinzipieller Pluralismus, der die Moderne geradezu definieren sollte, etwa in WEBERs Zitierung der Formel John Stuart Mills vom „Polytheismus der Werte“. Das ganze Projekt einer Wissenssoziologie wurde von Max SCHELER und Karl MANNHEIM darauf gegründet, verbunden mit der Annahme, globaler Verbindungs- und Angleichungstenden-
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heim: Olms 1967/68], S. 1-156, hier: 28 sowie A. GEHLEN, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt [zuerst 1940], in: DERS., Gesamtausgabe, Bd. 3, hg. v. K.-S. REHBERG, Frankfurt a.M.: Klostermann 1993, S. 303 u.ö. Ebd., S. 88 u.ö. Vgl. K.-S. REHBERG: Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien. Eine Einführung in systematischer Absicht, in: MELVILLE, Institutionalität [wie Anm. 1], S. 3-49, bes. S. 35-46.
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zen.26 Konzeptuell bestimmte das auch die begriffsgeschichtlichen Transformationen in der von Reinhart KOSELLECK merkwürdig, jedoch prägnant benannten „Sattelzeit“, in welcher in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die politischen und gesellschaftlichen Revolutionen vorbereitet, begleitet und gefolgt worden seien von einem tiefgreifenden Bedeutungswandel aller klassischen Topoi des öffentlichen Lebens. Neu daran erschienen „Demokratisierung“, „Verzeitlichung“, „Ideologisierbarkeit“ und „Politisierung“ der entscheidenden Wissensgehalte.27 Jedenfalls dominiert in der Moderne das Selbstbewusstsein einer geschichtsphilosophisch fundierten Exklusivität, samt den miteinander im Streit liegenden Phantasmen eines finalen Zustandes – man denke an die Perfektionierung wissenschaftlicher Welterfassung in Aufklärungsphilosophie und Positivismus oder an die höchste Stufe der Selbstreflexivität bei Hegel, massenwirksamer dann an die utopischen Endzeiten aus einem chiliastisch-kommunistischen „Geist der Utopie“.28 Auch für die soziologischen Modernisierungstheorien schien der Wechsel von der „Gemeinschaft“ zur „Gesellschaft“, von Regionalität zu einer seit dem 15. Jahrhundert sich erweiternden Globalität29, von den „natürlichen“ zu den kontraktuellen Beziehungen, von der sinnlichen Konkretheit zur intellektuellen Abstraktheit als derart radikal, dass es ganz neuer analytischer Begriffe – wie dem des sozialen Systems – bedürfe, um den Wandel wirklich verstehbar zu machen. Besonders war es Niklas LUHMANN als Theoretiker autonomisierter, fluider und selbstbezüglicher Systemwelten, der in jeder seiner Beobachtungsentscheidungen und Begriffswahlen den Epochenbruch gegenüber den „stratifizierten Gesellschaften“ eines vormodernen „Alteuropa“ kenntlich zu machen suchte.30 Tatsächlich sind in Entstehungsprozessen der Moderne Zäsuren unübersehbar. Allerdings entstanden multiple modernities31, weshalb grundlegende Wandlungen von Ordnungsprinzipien mit Blick auf ihre institutionellen Konkretisierungen hin zu untersuchen sind: „Segmentäre Gesellschaften“ sind anders strukturiert als die von hierarchisch-zentralen Herrschaftsüberformungen geprägten Hochkulturen. Und gewiss sind die politisch seit 1789 entstandenen nachlegitimistischen Ordnungen 26
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30 31
Vgl. M. SCHELER, Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs [zuerst 1927], in: DERS., Gesammelte Werke, Bd. 9, Späte Schriften, hg. v. M. S. FRINGS, Bern/München: Francke 1976, S. 145-170 sowie K. MANNHEIM, Wissenssoziologie, in: A. VIERKANDT (Hg.), Handwörterbuch der Soziologie [zuerst 1931], Stuttgart: Enke 1959, S. 659-680, bes. S. 659ff. Vgl. R. KOSELLECK: Einleitung, in: O. BRUNNER / W. CONZE / R. KOSELLECK (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart: Klett-Cotta 1972, S. XIII-XXVII. Vgl. E. BLOCH, Geist der Utopie [Faksimile der Erstausgabe von 1918], in: DERS., Gesamtausgabe, Bd. 16, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971. Vgl. zur Unterscheidung von „Globalität“, „Globalisierung“, „Globalismus“: U. BECK, Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, bes. S. 26-32. Vgl. N. LUHMANN, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, bes. S. 893-958. Vgl. S. N. EISENSTADT, Multiple modernities, New Brunswick, N.J.: Transaction 2002.
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und die weltweiten Interdependenzen des kapitalistischen Industrialismus und Finanzsystems in vielem von früheren Gesellschaftsformationen zu unterscheiden. Aber vor dem unbezweifelbaren Hintergrund der „absoluten Kulturschwelle“ des Industriezeitalters (Arnold GEHLEN) hat die historisch-vergleichende institutionelle Analyse die Gedankenfigur einer „Erstmaligkeit“ doch durch Untersuchungen zu Formwandlungen von der Antike bis in unsere Zeit relativiert, also vor allem institutionelle Transformationen herausgearbeitet. Beispielsweise gibt es Partizipationsforderungen und -regulierungen in vielen traditionalen Herrschaftszusammenhängen, die Unabweisbarkeit ihrer Ausweitung auf prinzipiell „alle“ jedoch erst durch die nachrevolutionären Demokratisierungsprozesse. Eine andere methodologische Spannung lässt sich nicht vergleichsweise eindeutig entscheiden. Seit dem 18. Jahrhundert war die Vorstellung einer Entwicklung der ökonomischen und politischen Vergesellschaftungsprozesse aufs Engste mit den großen Gesellschaftstheorien verbunden – für die Staatstheorien seit Thomas Hobbes durch eine Herausarbeitung der Logik ordnungsschaffender ‚politischer’ Vertragsverhältnisse und einer darauf beruhenden funktionalen Legitimierung des Staates. In der Ökonomie wurde früh ein aus der Medizin übernommenes Systemdenken führend: das gilt schon für die Kreislaufvorstellungen des Tableau economique François Quesnays, deutlicher dann für die Theorie der Marktprozesse und ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen bei Adam Smith. Dessen Vorstellung von der Entwicklung der Handelsgesellschaft gründet durchaus in einem evolutionären Modell, dessen weltbestimmende Schubkraft allerdings erst aus dem biologischen Evolutionismus, besonders den Darwinschen Entdeckungen und den ihnen folgenden Weltbildentwürfen folgte. Was seither aus allen Stufen- und Prozesstheorien zu lernen war, sind die „Pfadabhängigkeiten“ sozialer Entwicklungen. Zwar gab es die Rekonstruktion Jahrhunderte umspannender Folgeverkettungen einer longue durée bereits im Rahmen der historischen Annales-Schule und ganz ohne evolutionistische Erklärungsansprüche. Aber es lassen sich – wie es der an Richard Dawkins anknüpfende „Evolutorische Institutionalismus“ von Werner PATZELT und seiner Forschungsgruppe beansprucht32 – selbst die an Handlungs- und Wirkungsrekonstruktion interessierten Untersuchungen institutioneller Mechanismen durchaus auch evolutionstheoretisch re-formulieren. Zur Begründung einer historisch-vergleichenden Perspektive ist neben Theorien des gesellschaftlichen Fortschritts, samt den Gegenvorstellungen einer unaufhebbaren Dekadenzentwicklung, oder den Gewissheiten einer sich in ewigen Kreislaufbewegungen wiederholenden Geschichte ein drittes Modell der Geschichtsinterpretation einzubeziehen: Für lange Zeit war Herders Denkfigur einer „Individualität“ einzelner Kulturen und Epochen einflussreich, welche zur Grundlage des Historismus wurde. Das daraus entwickelte Weltbild legte es nahe, Vergleiche auszuschließen, weil jede kulturelle Form eine unableitbare innere Logik 32
Vgl. W. J. PATZELT (Hg.), Evolutorischer Institutionalismus. Theorie und exemplarische Studien zu Evolution, Institutionalität und Geschichtlichkeit, Würzburg: Ergon 2007.
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besitze, gleichsam „unmittelbar zu Gott“ stehe, wie Leopold von RANKE das formuliert hat.33 Solche Positionen bestimmten auch die im 19. Jahrhundert entstandene akademische Geschichtswissenschaft. Bis heute sind aus diesem Geiste einer Versenkung in die kulturelle Einzigartigkeit geschichtlicher Situationen und Epochen vielen Historikerinnen und Historikern alle Vergleichsansätze – auch die einer wohlinformierten historischen Soziologie – prinzipiell verdächtig. Umstritten blieb die Frage, ob man für schriftlose Gesellschaften von „Herrschaft“, ob man auf der anderen Seite für industrielle Gesellschaften von „Ritualen“ sprechen könne. Zweifelhaft erschien, ob die Phänomene durch solche Begriffsübertragungen erhellt würden. Kann man präzise beispielsweise die Fürsten- und Königssysteme des Mittelalters bereits mit dem Begriff „Staat“ umschreiben oder setze dieser nicht eine rechtliche und politische Ausdifferenzierung und Zentralisierung voraus, wie sie erst mit dem später so genannten „Absolutismus“ oder dem modernen Nationalstaat verbunden wird? Auch wird die ähnliche Frage aufgeworfen, ab wann es eigentlich „Höfe“ gegeben habe, aber nicht weniger, ob man von einer mittelalterlichen „Gesellschaft“ überhaupt sprechen könne oder – um ein anderes Beispiel heranzuziehen – von „Mäzenen“ im gleichen Maße für das antike Rom wie für die bürgerliche Künstlerförderung, ganz zu schweigen, vom staatlichen ‚Mäzenatentum’ im Kulturfeudalismus der DDR.34 Und doch eröffnet Wilhelm Diltheys historistischer Entwurf einer „geisteswissenschaftlichen“ Methode der Rekonstruktion „kultureller Systeme“ durchaus den Zugang zu einer vergleichenden Differenzheuristik, wie Max WEBER sie (Dilthey dabei stets ungerecht behandelnd) entwickelt hat, indem er etwa den Paulusbriefen einen Charismabegriff entlehnte, den er typologisch dann auf alle möglichen außeralltäglichen Figuren bis hin zum modernen Cäsarismus übertrug.35 Sein klassifikatorisches Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“ zeigt durchgängig eine definitorische Verfahrensweise, die auf einem durch Vergleiche gewonnenen Wissen beruht.
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Vgl. L. von RANKE, Weltgeschichte. Neunter Theil, zweite Abtheilung. Über die Epochen der neueren Geschichte. Vorträge dem Könige Maximilian von Bayern gehalten, hg. v. A. DOVE, Leipzig: Duncker und Humblot 1888, S. 4ff. Vgl. K.-S. REHBERG, Mäzene und Zwingherrn: Kunstsoziologische Beobachtungen zu Auftragsbildern und „Organisationskunst“, in: P. KAISER / K.-S. REHBERG, Enge und Vielfalt. Auftragskunst und Kunstförderung in der DDR – Analysen und Meinungen. Hamburg/Berlin/Dresden: Junius 1999, S. 17-56. Vgl. DERS., Rationalisierungsschicksal und Charisma-Sehnsucht. Anmerkungen zur „Außeralltäglichkeit“ im Rahmen der institutionellen Analyse, in: G. ANDENNA / M. BREITENSTEIN / G. MELVILLE (Hgg.), Charisma und religiöse Gemeinschaften im Mittelalter. Akten des 3. Internationalen Kongresses des „Italienisch-deutschen Zentrums für vergleichende Ordensgeschichte“ in Dresden, Münster: Lit 2005, S. 3-23 sowie K. TANNER, Die Macht der Unverfügbaren. Charisma als Gnadengabe in der Thematisierung von Institutionalisierungsprozessen im Christentum, in: ebd., S. 25-44.
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Um die komparatistische Dimension der Institutionenanalyse zu kennzeichnen, bedarf es jedoch einer zusätzlichen Unterscheidung von Begriffsdimensionen: Zum einen arbeitet jede historisch verfahrende Wissenschaft mit Bedeutungsfeldern, die eng gebunden sind an eine bestimmte Situation, Region, vielleicht Epoche. Die Historiker haben recht darin, die Rekonstruktion dieser speziellen Sinngehalte als notwendige Bedingung ihrer Quellenarbeit und ihrer konkreten Beschreibungen aufzufassen, weil anders ein einordnendes Verstehen nicht möglich wäre. Die Entschlüsselung „objektiven Sinns“ setzt voraus, möglichst genau bestimmen zu können, was zum Beispiel in der Römischen Republik auctoritas bedeutet haben mag, was der Personenbegriff in einer (in den verschiedenen Orden und Zeiten wiederum unterschiedlichen) monastischen Kultur für eine Rolle spielte oder was Begriffe wie „Eigentum“ oder „Freiheit“ jeweils bedeutet haben könnten. Die sozialwissenschaftliche Perspektive darf dies gerade nicht einebnen. In diesem Sinne hatte übrigens schon Karl MANNHEIM in seiner Wissenssoziologie die unterschiedlichen Freiheitsbegriffe des Landadels, der Liberalen und der Sozialisten als substantiell ganz verschiedenartige Auffassungen von der Unabhängigkeit menschlicher Existenz nachgewiesen. Geschichtlich-zeitbedingte Selbstdeutungsbegriffe stellen also in jedem Fall den Ausgangspunkt jedes historisch orientierten Forschens dar – ganz gleich ob man über die Antike arbeitet oder über geschichtliche Phasen, die bis an unsere Gegenwart heranreichen. Dann gibt es aber ebenso Begriffskonzepte, die – in einer bestimmten Epoche entstanden – gleichwohl zeitübergreifende Ansprüche erheben. Das kann wissenschaftlich begründet sein, wenngleich derartige Vergleichsbegrifflichkeiten oft auch aus außerwissenschaftlichen Deutungsinteressen gespeist werden oder aus einer Übersetzung analytisch gemeinter Konzepte ins Weltbildhafte. „Renaissance“ ist auch ein solcher Begriff, hoch aufgeladen bei Jacob BURCKHARDT36, nüchterner in der französischen Tradition der Wort- und schließlich Begriffsverwendung.37 Ablösbar vom italienischen Fall des Quattrocento (in dem der Selbstdeutungsbegriff ohnehin ein anderer war, nämlich rinascimento), konnte er auf alle möglichen Erneuerungen durch Rückgriff bezogen werden, etwa wenn Erwin PANOFSKY von der „karolingischen“ Renaissance38 sprach. Weitere Beispiele wären Begriffe wie „Verfassung“ oder „Bürger“. Und gerade an letzterem lässt sich gut demonstrieren, wie Herausbildung und Funktion des Bürgertums ganz ebenso auf die okzidentale Stadtentwicklung des Mittelalters, als auch auf die neuen Selbstbestimmungsformen einer nachfeudalen städtischen Kultur, schließlich auf Kapitalismus und Industrialismus gestützt werden können. Bis heute ist umstritten, ob wir – trotz
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Vgl. J. BURCKHARDT, Die Kultur der Renaissance in Italien [zuerst 1860], Hamburg: Kröner 2009. Vgl. J. MICHELET, Renaissance et Réforme: Histoire de France au XVIe siècle [zuerst 1855], Paris: Laffont 1998. Vgl. E. PANOFSKY, Die Renaissancen der europäischen Kunst [zuerst 1979], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001.
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Zentralstaat und kapitalistischer Wirtschaft – in einer „bürgerlichen Gesellschaft“ leben oder in Formen einer „nachbürgerlichen“ Epoche.39 Von einem derartigen, in die Alltagsdeutungen der Geschichte und der jeweiligen gesellschaftlichen Gegenwart verflochtenen Wortsinn, unterscheiden sich wissenschaftlich konstruierte Typusbegriffe, am deutlichsten der von WEBER so genannte „Idealtypus“. Sie bringen Homologien oder zumindest Ähnlichkeiten zum Ausdruck, beispielsweise durch Kategorien wie „Volk“, „Hierarchie“, „Macht“ und „Herrschaft“, „Prophetie“, „Ideologie“ etc. Es sind solche Begriffskonstruktionen, die am ehesten den Vorwurf eines „Anachronismus“ auf sich ziehen. In einer methodisch kontrollierten Weise wird in der vergleichenden Institutionenanalyse aber gerade mit typologischen Begriffen gearbeitet, wobei es nicht überflüssig sein dürfte, darauf zu verweisen, dass im „Vergleich“ gerade keine Gleichsetzung stattfindet. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mit der Industrialisierung und dem politischen Umschlagpunkt der Französischen Revolution, samt ihren Vor- und Nachbeben, zwar von einer ‚großen Zäsur’ auszugehen ist und dass deshalb Formen eines „Prinzipienwandels“ des Institutionellen in dem SFB durchaus herausgearbeitet wurden. Jedoch interessierten aus institutioneller Perspektive auch die Verbindungslinien und nicht nur als Restposten existierende Regulierungsformen, wird das Begriffsrepertoire nicht als eines entwickelt, das sich entweder nur auf die „Vormoderne“ oder die „Moderne“ adäquat anwenden ließe.
III. Institutionelle Mechanismen 1. Leitideen als Leitdifferenzen Institutionell wird ein in sozialen Beziehungen jeweils umkämpfter Komplex von Leitideen und deren Auslegbarkeit synthetisiert. Die Vorstellung, dass gesellschaftliche und besonders rechtliche Ordnungen durch die Hervorbringung einer je spezifischen ideé directrice bestimmt seien, hat zuerst der französische Rechtstheoretiker Maurice HAURIOU vertreten.40 Darin spiegelt sich eine gesellschaftliche Problemlage, welche auch die Thematik des Soziologen Émile DURKHEIM und anderer französischer Denker des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts41 bestimmt hat. Alle 39
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41
Vgl. das Diskussionsheft zur Bürgertumsdebatte von: Westend. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 6 (2009) H.1, mit Beiträgen zu diesem Thema von W. PLUMPE, C. RAU, M. HETTLING, K.-S. REHBERG und J. FISCHER. M. HAURIOU, Die Theorie der Institution (Essay über den sozialen Vitalismus) [frz. zuerst 1925], in: DERS.: Die Theorie der Institution und zwei andere Aufsätze, hg. v. R. SCHNUR, Berlin 1965, S. 27-66. Für den Zusammenhang von kollektiver Emphase und der legitimierenden Stabilität von gesellschaftlichen Ordnungen gibt es im nachrevolutionären Frankreich, zumeist beeinflusst von JeanJacques Rousseau viele Beispiele, so etwa zur Rolle der „Soziabilität“ und „Sympathie“ der Gesellschaftsmitglieder J.-M. GUYAU, Die Kunst als soziologisches Phänomen [frz. zuerst 1889], Leipzig: Klinkhardt 1911.
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diese suchten eine Antwort auf die zentrale Frage, ob und wie die nachrevolutionäre und laizistische Gesellschaft des industriellen Zeitalters zustimmungsfähig und dadurch stabilisiert werden könne. Das ist vor dem Hintergrund der französischen Geschichte seit 1789 mit ihren ständigen Herrschaftsumbrüchen bis in die Dritte Republik hinein ein verstehbares Motiv. Aus einem solchen normativen Stabilisierungsbedürfnis heraus entstand ein analytischer Begriff der „Leitidee“, der damals nicht ontologisch fixierte Ideengehalte meinte, sondern von der produktiven Praxis der Herstellung einer kollektiven Einheit ausging. HAURIOUS Begriff ist in Deutschland von Carl SCHMITT aufgegriffen worden, der ihn allerdings als „konkretes Ordnungsdenken“ dem juristischen Normativismus wie dem Dezisionismus entgegenstellte.42 Allgemeiner wurde daraus in der Nachfolge Schmitts, die auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes beeinflussende Vorstellung einer „Institutsgarantie“ entwickelt, welche jenseits der Einzelbestimmungen der ausdrücklichen Verfassungs- und Gesetzesformulierungen bestimmte Einrichtungen auf der Basis der ihnen zugeschriebenen Aufgaben und Erfüllungsnotwendigkeiten, etwa Wettbewerbsregeln für Presseunternehmer, unter Schutz stellt. Arnold GEHLEN hat das Leitideen-Konzept zwar auf diesem Umweg kennengelernt, es jedoch in einem ganz anderen Sinne zu einem Schlüsselbegriff seiner Institutionenlehre gemacht. Da er bei seiner kategorialen Erfassung institutioneller Leistungen einerseits von der ‚Dialektik’ des Werkzeughandelns und der Sachbewältigung durch den Menschen ausging und – für die Schaffung von UrInstitutionen und somit frühester Geltungskonstruktionen in der Menschheitsgeschichte – andererseits von der Wirkung emotionaler Identifikationsprozesse mit dem Kollektiv, ergeben sich aus diesen dynamischen Praktiken leitende Gesichtspunkte für ihre eigene Verfestigung. Aus Werkzeughandeln etwa entsteht Technik oder aus magisch-spirituellem Handeln Religion. Solche Prozesse der ideativen Überhöhung nahm GEHLEN schon für die frühen, d.h. schriftlosen und ohne dauerhafte Herrschaftsinstanzen funktionierenden (von DURKHEIM „segmentär“ genannten) Gesellschaften an, wodurch er sich entgegen der Schmittschen Bedeutungsverschiebung den ursprünglichen Funktionsbestimmungen von „Leitideen“ bei Hauriou wieder annäherte.43 Für die institutionelle Analyse ist es nun entscheidend, Leitideen vor allem als Leitdifferenzen zu verstehen. Dieser Aspekt lässt sich gut etwa am Prozess der Durchsetzung von politischen Verfassungen in den modernen Staaten demonstrieren, deren weit herausgehobene Rechtsautorität in Hans VORLÄNDERs Teilprojekt „Verfassung als institutionelle Ordnung des Politischen“44 vergleichend untersucht worden 42
43 44
Das hat der Verfassungsrechtler R. Schnur in seiner Einführung zu HAURIOU, Theorie [wie Anm. 40], S. 11-24, hier 23, verdeutlicht; vgl. zur weiteren Rezeption auch C. SCHMITT, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1934, bes. S. 54-58. Vgl. GEHLEN, Urmensch [wie Anm. 2], S. 7, 178, 295, 299 u. 302. Als zusammenfassende Publikationen dieses Teilprojektes seien genannt: H. VORLÄNDER (Hg.), Integration durch Verfassung. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002; DERS. (Hg.), Die Deu-
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ist. Das Verhältnis der symbolischen und der instrumentellen Dimension jeder politischen Ordnung, genauer gesagt: die Symbolisierungskraft auch noch des „Instrumentellen“, wurde sowohl aus der Perspektive politisch-philosophischer Diskurse über Staats-Verfassungen als auch von deren sozialmoralischen Voraussetzungen her rekonstruiert. Auch mit Blick auf historische Konkretionen und Vergleichsaspekte erweist sich die „Verfassung“ als aufschlussreicher Forschungsgegenstand. Deren Symbolkraft ist mit der amerikanischen Revolution von 1776 verbunden und wurde durch die französische Verfassung von 1791 realhistorisch kanonisiert. In der Geschichte gibt es selbstverständlich einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Verfassungsbegehren von unten und den Verfassungsverweigerungen bzw. zugeständnissen von oben – bis hin zum modernen Verfassungsstaat. Damit wäre eine genetische Begriffsgeltung skizziert, die ohne Vergleichsgrößen bliebe, wenn nicht auch andere institutionelle Grundlagen der Herrschaftslegitimität mit ihr in Beziehung gesetzt werden könnten. Zugegeben, die Grade der Verschriftlichung und Verrechtlichung solcher „Grundgesetze“ mögen in verschiedenen Jahrhunderten höchst unterschiedlich gewesen sein. Jedoch hat Gert MELVILLE in Kooperation mit Hans VORLÄNDER aufgewiesen, dass die monastischen constitutiones seit der Mitte des 12. Jahrhunderts einen Bezugsfall für die modernen Verfassungen darstellen, der in vielen Details Übereinstimmungen zeigt und Wirkungsgeschichten eröffnet. Und zugleich wird doch auch hier wieder eine entscheidende Differenz sichtbar: Im Kontext eines zusammenhängenden Ordo der Welt konnten bei den Zisterziensern die Verhaltensfestlegungen mit Verfassungscharakter partikular sein, während es in der pluralistischen Moderne einer Universalisierung grundlegender Normgehalte bedarf. Institutionelle Sozialbeziehungen bilden zugleich unterschiedliche Formen der Selbstbeschreibung und -beobachtung aus, beispielsweise durch die Kanonisierung von Wissensbeständen, die Dogmatisierung von Überzeugungsfundamenten oder die Etablierung von Kritik als rückgekoppelter Selbstbeobachtung und Korrekturinstanz. In den Großkirchen ist das eine Aufgabe der Theologie, in der Jurisprudenz der Rechtstheorien, in den Künsten der Ästhetikdiskurse etc. Das Teilprojekt „Sozialstaatliche Leitideen und Institutionalisierungskonzepte im deutschen Protestantismus des 19. Jahrhunderts“45 von Klaus TANNER hat für ein Christentum unter den Bedin-
45
tungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit. Wiesbaden: VS 2006; DERS., Die Verfassung als symbolische Ordnung. Perspektiven einer kulturwissenschaftlich-institutionalistischen Verfassungstheorie, in: M. BECKER / R. ZIMMERLING (Hgg.), Recht und Politik. PVS Sonderheft, Wiesbaden: VS 2005; BRODOCZ u.a., Institutionelle Macht [wie Anm. 1]; DERS., Die symbolische Dimension der Verfassung. Ein Beitrag zur Institutionentheorie, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag: 2003. Als zusammenfassende Publikationen dieses Teilprojektes seien genannt: T. MOOS, Staatszweck und Staatsaufgaben in den protestantischen Ethiken des 19. Jahrhunderts, Münster 2005 (Bochumer Forum zur Geschichte des sozialen Protestantismus Bd. 5) sowie S. KRANICH, Die Sächsische Evangelisch-Soziale Vereinigung. Von der Gründung 1903 bis zum Beginn des Ersten
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gungen von Konfessionalisierung und sozialer Differenzierung bzw. Klassenspaltung sowie der Verfestigung konfessioneller Milieus unter einem durchgehenden Säkularisierungsdruck die sozialpolitischen Projekte des Protestantismus im 19. Jahrhundert analysiert. Am Beispiel von Elementen der christlichen Tradition wurde die Transformation und praktische Funktion symbolisch verdichteten Orientierungswissens in der politischen Kultur zum Gegenstand gemacht.
2. Eigenzeiten Institutionelle Zeitordnungen (wie sie bis in die Mikrostrukturen der Tageseinteilung, sei es in Gebetsstunden, sei es in gleitenden Arbeitszeiten, wirksam sind) wurden in fast allen Teilprojekten parallel zu einer anderen Dimension institutioneller Zeitkonstruktion untersucht. Vor allem ging es um die in allen thematischen Kontexten beobachtbare Selbsthistorisierung, um den Entwurf institutioneller ‚Lebensläufe’ durch die Konstruktion einer je spezifischen „Eigengeschichte“ und deren Tradierung. Eine zentrale Rolle spielen dabei Gründungsmythen, wie sie in Verbindung mit einer internationalen Forschergruppe in dem Teilprojekt „Mythische Fundierungen institutioneller Ordnungen und sozialer Normen im antiken Rom“ von Maurizio BETTINI etwa für den trojanischen Ursprung des Zentrums des späteren Römischen Reiches untersucht wurden. Indem sich Vergil auf Vertragsschlüsse (foedus), die es sowohl im Olymp als zwischen Völkern (etwa zwischen Römern und Albanern) gab, beruft, suggeriert er eine ebensolche Übereinkunft zwischen Trojanern und Latinern. Diese mythische Genealogie wurde mit historischen Darstellungen früher Vertragsschließungen (besonders bei Titus Livius) verglichen, um daraus die Bedeutung solcher Bestätigungsformen für die Beglaubigung von Herkunftslinien (etwa bei der Prüfung von Neugeborenen durch „Blutsprobe“) zu demonstrieren. Verbunden war dies mit einer kulturellen Bearbeitung des für viele Verwandtschaftssysteme fundamentalen Problems der beglaubigten Vaterschaft – nicht so sehr der individuellen Zurechnung, sondern der „Identität“ des gesamten Geschlechtes wegen. Die legitimierende Bedeutung von Herkunftserzählungen wurde des weiteren in Beate KELLNERs Teilprojekt „Genealogie im ausgehenden Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit. Institutionelle Mechanismen der Legitimierung und Verstetigung von Macht“46 mit dem Ziel untersucht, eine „Grammatik des Genealogischen“ zu entwickeln. Als Musterbeispiel einer Prozessualität institutioneller Ordnungen, welche sich „in
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Weltkrieges 1914, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2006 (Religiöse Kulturen der Moderne Bd. 13). Als zusammenfassende Publikationen dieses Teilprojektes seine genannt: B. KELLNER / J.-D. MÜLLER / P. STROHSCHNEIDER (Hgg.), Erzählen und Episteme. Literatur im 16. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer 2010 sowie B. KELLNER / L. WEBERS, Genealogische Entwürfe am Hof Maximilians I. (am Beispiel von Jakob Mennels Fürstlicher Chronik, in: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (2007), S. 122-149.
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ihren Inszenierungen als naturgegeben und stabil“ ausgeben, sind die historiographischen und biographischen Konstruktionen am Hof Kaiser Maximilian I. untersucht und komplementär an Prosaromanen überprüft worden. Über die prachtvoll auftrumpfende und sich sogar der wissenschaftlichen Vergewisserung bedienende dynastische Herkunftssicherung des „römischen“ Kaisers wird gezeigt, dass diese in allen früheren Gesellschaften beobachtbare Strategie einer zeitübergreifenden Einheit noch einmal besonders wichtig wird im geschichtlichen Wandel vom Mittelalter zur Neuzeit, weil dadurch (wie im Falle der gezielten Traditionalisierung der römischen Kaiserherrschaft) die tiefgreifenden institutionellen Wandlungen durch Traditionsrückgriffe annehmbar gemacht werden sollten. Weitere kollektive Kontinuitätsproduktionen wurden in Winfried MÜLLERs Teilprojekt „Das historische Jubiläum. Genese, Inszenierungsgeschichte und Ordnungsleistung eines institutionellen Mechanismus“47 herausgearbeitet, indem eine Kultur des Jubiläums rekonstruiert wurde, die ursprünglich von dem 1300 von Bonifaz VIII. eingeführten Heiligen Jahr beeinflusst war, sich jedoch paradoxerweise erst breit entfalten konnte, als es im 16. Jahrhundert um die Memoria der kaum ein Lebensalter zurückliegenden Reformation ging. Deren Jubelfeiern führten dann auf katholischer Seite ihrerseits zu einer Flut von demonstrativen Gedenkanlässen. Das wirkt noch in einem „jubiläumszyklischen Gedenken“ nach, wie es von der Frühen Neuzeit bis zur politischen Aufarbeitung der (vor allem mit der NS-Herrschaft verbundenen) „Geschichtskatastrophen“ des 20. Jahrhunderts zu finden ist und wie es sich auch in den oft kommerzialisierten und massenmedial vermittelten Jahrestagen und Gedächtnisjahren unserer Zeit noch zeigt. Die Gemeinsamkeit solcher Zurechnungen beruht auf der Rechtfertigung aus einer historischen Herleitung. Und doch zeigt sich zugleich ein Moment der Differenz, welches erst im Vergleichen und Parallelisieren solcher Rückgriffe in die Tiefen der Vergangenheit sichtbar wird. Im Falle der Genealogien nämlich handelt es sich um die körperlich-substantiell gedachte Weitergabe des „Blutes“ und der dynastischen Qualitäten – sozusagen um eine bio-ontologische Fundierung „sozialen Kapitals“. Demgegenüber sind die Rückgriffe und Verbindungsbehauptungen im Jubiläum allein auf äußerliche Merkmale, das Numerische und Quantitative gestützt, wenngleich in beiden Formen der tradierenden Erinnerung Gründungssituationen und Kontinuitätsunterstellungen wichtig sind. Kulturelle Erinnerungen können auch juristisch produziert und verarbeitet werden, wie das in Pier Paolo PORTINAROs Teilprojekt „Institutionalisierung von Schuld und Sühne. Politische Justiz im Spannungsfeld der Vergangenheitsbewältigung“48 gezeigt 47
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Als zusammenfassende Publikationen dieses Teilprojektes seien genannt: W. MÜLLER (Hg.), Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster: LIT 2004 sowie U. ROSSEAUX / W. FLÜGEL / V. DAMM (Hgg.), Zeitrhythmen und performative Akte in der städtischen Erinnerungs- und Repräsentationskultur zwischen Früher Neuzeit und Gegenwart, Dresden: Thelem 2005. Als zusammenfassende Publikationen dieses Teilprojektes seien genannt: P. PORTINARO, „Transitional justice. I conti con il passato”, in: Teoria politica XXV (2009), Heft 1, S. 5-26;
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wurde. Dabei wird „Politische Justiz“ nach verschiedenen Herrschaftsformen unterschieden, nämlich für Systeme ohne Gewaltenteilung und -trennung, Rechtsstaaten, totalitäre Regimes mit ihren Schauprozessen und neueren Formen prozeduraler Wahrheitsfindung. Im Falle einer rechtlich regulierten Verarbeitung von Ungerechtigkeit und Unterdrückung gibt es unterschiedliche Verfahren, etwa die Bearbeitung von Konflikten und historischen Konstellationen durch Strafprozesse, aber auch durch rechtlich regulierte Wahrheitskommissionen oder andere Varianten einer juristisch verfassten Vergangenheitsbearbeitung. Das kann verbunden sein mit Formen eines institutionellen ‚Vergessenwollens’, etwa durch generelle Amnestien oder Verjährungsvorschriften. Historisch geprägte Gerechtigkeitskategorien können auch zu einer moralischen Aufladung führen, wenn etwa die nach Staatsterrorismus und erlittenem Unrecht geforderten Entschädigungszahlungen zu einer neuartigen restitutiven Rechtspraxis führen: Die gesellschaftlich oftmals verdrängte Schuld kann gleichwohl eine Unvergänglichkeit von juristischen Ansprüchen oder auch eine Transponierung von Verantwortlichkeit auf die nachfolgenden Generationen begründen. Der Horror der Vergangenheit und die rechtliche „Wiedergutmachung“ stiften (wie im Falle der Nazi-Verbrechen und ihrer nachträglichen Bearbeitung) auf der Folie der Verhängnisgeschichte eine neue Verbindung von Recht und Moralität. Aber es gibt nicht nur die Traditionalisierung oder imitative Wiederholung vergangener Epochen, sondern sozusagen auch eine Suspendierung jeder Chronologie, eine imaginäre Gleichzeitigkeit wie sie in Hans-Georg LIPPERTs Teilprojekt „Architektur als Behauptung von Institutionalität und Geschichtlichkeit“49 am Beispiel der Washington National Cathedral Saint Peter and Saint Paul demonstriert worden ist. Denn nicht handelt es sich bei diesem von 1907 bis 1990 errichteten Gotteshaus um eine „neugotische“, vielmehr durch die verwendeten alten Techniken und Materialien um eine Kirche, die „gotischer“ sein sollte als viele der Originale in der Alten Welt. Auch ist, was als „Dauer“ verstanden oder ausgegeben wird – etwa die „ewige“ Sukzession des charismatischen päpstlichen Amtes – kein bloßes Faktum. Vielmehr ist die „fiktionale“, gleichwohl wirksame und insofern „reale“ Herstellung einer Geltung begründenden Zeittranszendierung selbst ein zu erklärendes Phänomen. Das kann auf magischen Zeitverschränkungen beruhen, wie im Mysterium der Transsubstantiation oder der allerdings anti-institutionell gemeinten Imitatio Christi Franz von Assisis.
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DERS., La spade sulla bilancia. Funzioni e paradossi della giustizia politica, in: Quaderni fiorentini per la storia del pensiero giuridico modern XXXVIII (2009), S. 75-106 sowie DERS., Dike e le Eumenidi. Rese dei conti e giustizia di transizione, Milano: Feltrinelli [im Druck]. Als zusammenfassende Publikationen dieses Teilprojektes seien genannt: A. KÖTH / K. KRAUSKOPF / A. MINTA /A. SCHWARTING (Hgg.) [in Zusammenarbeit mit H.-G. LIPPERT], Building America, Bd. 1: Die Erschaffung einer neuen Welt, Dresden: Thelem 2005; Bd. 2: Migration der Bilder, Dresden: Thelem 2007; Bd. 3: Eine große Erzählung, Dresden: Thelem 2008 sowie A. KÖTH, Wolkenkratzerkirchen. Ein amerikanischer Bautyp der 1920er Jahre, Dresden: Thelem 2009.
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Alle hinter solchen Umdeutungen und Instrumentalisierungen liegenden Sinnverschiebungen und Geschichts(re)konstruktionen waren interpretatorisch nur zu überbieten, indem man – wie Peter STROHSCHNEIDER, einer der Gründungsprogrammatiker dieses SFB, es in seinem Teilprojekt über die höfische Literatur des deutschen Mittelalters unternahm – institutionelle Leitideen vor jeder Gründung und deren Mythisierbarkeit ansiedelt: Es wurde gezeigt, wie höfische Erzähl- und Liedkunst zu Quellen des ideativen Entwurfs einer Höfischkeit werden konnten, die es noch gar nicht gab50 – ein Gedanke, der GEHLENs Vorstellung von einer Geburt der Institutionen aus darstellendem Verhalten und rituellen Praktiken nahe kommt.
3. Kanonisierung Ein weiterer Mechanismus institutioneller Ordnungsherstellung ist die Kanonisierung von Wissens- und Handlungspraktiken, welcher auch die Institutionalität sprachlicher Bedeutungskonstitutionen und der je aktuellen Sprachpraxis begründet. Wie die in Ursula SCHAEFERs Teilprojekt „Institutionalisierungen der Volkssprache. Verschriftlichung und Standardisierung des mittelalterlichen Englisch“51 durchgeführten Studien belegen, ist die Entstehung des Englischen nach der Herrschaftsüberlagerung der Angelsachsen durch die Normannen von der Spaltung in eine germanische Volkssprache und eine adelig-französische Schriftsprache bestimmt. Die Schriftlichkeit und Grammatikalisierung der „englischen“ Volkssprache vollzog sich erst seit dem 14. Jahrhundert und wurde wesentlich durch die vorbildhafte Schriftlichkeit des Latein und des Französischen geprägt. Literarische Genres (wie die mittelenglische Romanze) boten dabei Muster für formale und inhaltliche Adaptionen, welche die Institutionalisierung des Englischen stark beeinflussten. Die Stiftung einer legitimierenden Wissensordnung kann durch Bildsymbole befördert werden, wie das in dem bereits erwähnten Teilprojekt Hans-Georg LIPPERTs aufgezeigt wurde. Hier ging es auch um die Analyse einer Verschmelzung der „großen Erzählung“ einer teleologisch auf die Moderne zulaufenden Architekturgeschichte mit der ebenso konstruierten Rechtfertigung des Neuen 50
51
Als zusammenfassende Publikationen dieses Teilprojektes seien genannt: B. KELLNER / L. LIEB / P. STROHSCHNEIDER (Hgg.), Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur, Frankfurt a.M.: Lang 2001; L. LIEB / S. MÜLLER (Hgg.), Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter, Berlin/New York: de Gruyter 2002; B. Kellner, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München: Fink 2004 sowie DIES. / P. STROHSCHNEIDER / F. WENZEL (Hgg.), Geltung der Kunst. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter, Berlin: Schmidt 2005. Als zusammenfassende Publikationen dieses Teilprojektes seien genannt: U. SCHAEFER, The Beginnings of Standardization: The Communicative Space in Fourteenth-Century England, in: DIES. (Hg.), The Beginnings of Standardization, Frankfurt a. M.: Lang 2006, S. 3-24 sowie B. WEBER, Sprachlicher Ausbau. Konzeptionelle Studien zur spätmittelenglischen Schriftsprache, Frankfurt a. M.: Lang 2009.
Institutionelle Analyse
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Bauens. Spezifische Bildinszenierungen schufen in diesem Zusammenhang eine „unhinterfragbare Ikonizität“ der Bauhausästhetik und rechtfertigten diese durch eigene Zeit- und Entwicklungskonstruktionen.
4. Eigenräume Dass dies nicht nur für die „hohen“ Institutionen gilt, sondern für alltägliche Einrichtungen mit all ihrer Widersprüchlichkeit und Multifunktionalität hat Gerd SCHWERHOFFs Teilprojekt „Institutionelle Ordnungsarrangements öffentlicher Räume in der Frühen Neuzeit“52 für public places wie die Wirts- und Weinhäuser oder Zunft- und Trinkstuben entwickelt. Konfrontiert mit Kirchen, Marktplätzen oder Rathäusern erschlossen sich in vergleichenden Fallstudien über Lyon, Köln, Dresden und Görlitz äquivalente und konkurrierende Entwürfe öffentlicher Raumnutzungen „auf der Mikroebene von Kommunikation und Interaktion“. In den genannten kommunikativen Eigenräumen und Kommunikationsfeldern wurden Meinungen und Nachrichten ausgetauscht, politische oder religiöse Machtkämpfe ausgetragen und über soziale Exklusion und Inklusion verhandelt.
5. Macht Der vorliegende Band hat die institutionenanalytische Deutung von Machtprozessen und deren Grundlagen zum Gegenstand gemacht, wie das im einführenden Aufsatz systematisch entfaltet wird. Gleichwohl ist auf die unterschiedlichen institutionellen Mechanismen der Machtsteigerung und -stabilisierung, aber auch ihrer Bestreitung und der Entwicklung von Gegenmächten im Rahmen dieser zusammenfassenden Überlegung nochmals einzugehen.
a) Machtsteigerung durch legitimierende Sichtbarkeit Macht bedarf in vielen Gesellschaften und Situationen der gesteigerten Sichtbarkeit, wie das durch die Darstellung der Ritualpraxis aristokratischer Begräbnisse in dem bereits erwähnten Teilprojekt von Mauricio BETTINI über die mythischen Grundlagen römischer Herrschaftsgeltung durch die Untersuchung der Funktion von imagines deutlich gemacht wurde. Bilder fungierten in diesem Zusammenhang als „Doppelgänger“, durch welche in „institutions of the ancestors“ die Anwesenheit der Ahnen und die greifbare Realität der Macht der jeweiligen gens garantiert wurde. Aber die Verdoppelung und schließlich immer weiter sich steigernde bildli52
Als zusammenfassende Publikationen dieses Teilprojektes seien genannt: S. RAU / G. SCHWERHOFF (Hgg.), Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln: Böhlau 2004; C. HOCHMUTH / S. RAU (Hgg.), Machträume der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz: UVK 2006 sowie DIES. / G. SCHWERHOFF (Hgg.), Topographien des Sakralen. Räumliche Dimensionen religiöser Kultur in der Vormoderne, Hamburg: DUG 2008.
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che Repräsentation berühmter Toter lässt auch ein Grundprinzip sichtbar werden, nämlich die symbolische Präsenz der Abgeschiedenen in effigies. Am Ende der Republik und in der Kaiserzeit kam es zunehmend zu einer weiteren, bildhaft erzeugten Duplizität, in der sogar das Komische zum Signum der menschlichen Doppelnatur werden konnte. Das lässt sich als Form einer magisch aufgeladenen Präsenz auch an anderen Beispielen demonstrieren: Die Bücher des Thomas Hobbes etwa wurden in Oxford seitens der empörten Geistlichkeit in effigie verbrannt, weil man ihres Autors nicht habhaft werden konnte. Hier hat man es – wie mit der Bannung von Bildern – mit Leibsymbolen zu tun, welche die Präsenz einer Person oder einer Macht institutionell erzeugen, um sie stellvertretend zu vernichten. Eine Institutionalisierung symbolischer Formen zeigt sich in demonstrativer Form in jedem Herrschaftszusammenhang, gesteigert etwa in der höfischen Repräsentation und den in sie einbezogenen Künsten, deren Autonomieansprüche sich an europäischen Fürstenhöfen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert ausbilden konnte. In Barbara MARX’ Teilprojekt „Schriftkanon und sozialer Kanon in Renaissance und Barock“53 wurde dieses Zusammenspiel von ästhetischer Produktion und der doppelten Erhöhung der Herrschaft einerseits und der Künste andererseits am Beispiel der höfischen Sammlungen in Florenz, Ferrara und Dresden gezeigt. Das vollzog sich in Zusammenspiel mit speziellen ästhetischen Diskursen und durch künstlerisch gestaltete Räume der Herrschaft, die zugleich in „Eigenräume“ künstlerischer Ausstrahlung umgewandelt werden konnten. Unter diesen Bedingungen kam es auch zur institutionellen Geltungserhöhung durch eine prestigevermittelnden Verbindung der bildenden Künste mit Literatur und Wissenschaft. Formen der Repräsentation wie auch der mit ihr verbundenen Karriere der Geltungserhöhung und Eigenautonomie ästhetischer Produktion waren Gegenstand auch in Karl-Siegbert REHBERGs Teilprojekt „Kulturelle Institutionalisierungsprozesse in der europäischen Moderne“54. Ausgangspunkt war hier die, im Zuge der tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse seit dem 18. Jahrhundert entstandene Doppelrolle der Künste und somit der Künstler. Das wurde für das 19. und 20. Jahrhundert zuerst an Kunst- und Museumsvereinen, später dann an der Spannung zwischen auftragsorientierten Künstlergenossenschaften und oft gegen 53
54
Als zusammenfassende Publikationen dieses Teilprojektes seien genannt: B. MARX (Hg.), Elbflorenz – Italienische Präsenz in Dresden 16.-19. Jahrhundert, Dresden: Verlag der Kunst 2000; DIES. (Hg.), Kunst und Repräsentation am Dresdner Hof, München/Berlin: Deutscher Kunstverlag 2005; DIES. / K.-S. REHBERG (Hgg.), Sammeln als Institution, München/Berlin: Deutscher Kunstverlag 2008; B. MARX / C. O. MAYER (Hgg.), Akademie und/oder Autonomie. Akademische Diskurse vom 16. bis 18. Jahrhundert, Berlin: Lang 2009. Als zusammenfassende Publikationen dieses Teilprojektes seien genannt: Mitgliederverzeichnisse und tabellarisch erfasstes Profil einzelner Kunstvereine in: M. VERGOSSEN, Kunstvereinskunst. Kunstvereine im 19. Jahrhundert und ihre Bilder [noch nicht publizierte Habilitationsschrift], Dresden 2010; K.-S. REHBERG / H.-W. SCHMIDT (Hgg.), 60/40/20. Leipziger Kunst seit 1949 [Ausst.kat. Museum der Bildenden Künste Leipzig 2009/2010], Leipzig: Seemann 2009 sowie B. MARX / K.-S. REHBERG (Hgg.), Sammeln als Institution. Von der fürstlichen Wunderkammer zum Mäzenatentum des Staates, München/Berlin: Deutscher Kunstverlag 2006.
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kulturellen Sezessionen sowie an der Rolle der Künste im Staatssozialismus untersucht. Die im Vergleich der Kunstpolitik und -institutionalisierung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, andererseits im „Kulturfeudalismus“ der DDR ausgebildeten Leitdifferenzen (Auftragskunst vs. Produktion für den freien Kunstmarkt; Repräsentation von Geltungsbehauptungen vs. Eigengeltung der Kunst; Realismus vs. Abstraktion; Akademismus vs. subjektive Kreativität; bürgerliche Habitusformen vs. Bohème etc.) und die entsprechend heterogenen institutionellen Formen künstlerischer Produktion existierten in verschiedenen modernen Gesellschaften, wenn auch nie spannungslos, nebeneinander. Jedoch kam es nur unter den besonderen Voraussetzungen des Kalten Krieges und den verschärften Bedingungen der deutschen Teilung zu einer Form ästhetischer Feindsetzung, die zu einem sich gegenseitig steigernden und institutionell verfestigten Dualismus differenter künstlerischer Produktions- und Aneignungsformen führten. Mit einer geschichtsphilosophisch legierten sozialistisch-realistischen Kunst auf der einen und der nicht weniger propagandistisch protegierten „Weltsprache der Abstraktion“ auf der anderen Seite, verband sich eine ebenso gegensätzliche Ausgestaltung der Finanzierung, Distribution und Präsentation der Kunst und der Ausbildung, Rollenzuschreibung und Organisation der Künstler. Das hat Folgen auch noch für die Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung.
b) Machtsteigerung durch Machtverdeckung In jedem Macht- und Herrschaftsprozess zeigt sich gleichermaßen der Zusammenhang von Darstellung und Verbergen (vgl. dazu ausführlicher den Einführungsaufsatz im vorliegenden Band). Eine These, die in vielen Teilprojekten verifiziert wurde, zielt auf die Paradoxie, dass die Stabilisierung von Institutionen vor allem dadurch gelingt, dass die in ihnen inkorporierte Macht durch eine Fülle von Zurschaustellungen gesteigert und dass sie zugleich verdeckt, genauer gesagt: institutionell umgedeutet wird. Institutionelle Machtspeicherung erweist sich somit als ebenso machgestützt wie auf eine Tabuisierung von Machtkämpfen angewiesen. Schlagend wurde das in zwei Teilprojekten unter dem gemeinsamen Titel „Der römische mos maiorum von den Anfängen bis in die augusteische Zeit“ behandelt, in denen es um die fiktionale Fortführung der republikanischen Einrichtungen, etwa der Bedeutung des Senats, im antiken Rom ging. Dabei stand in Fritz-Heiner MUTSCHLERs latinistischen Untersuchungen „Literarische Kommunikation und Werteordnung“55 die Funktion literarischer Texte für den Übergang der Herrschaftsformen und der Konsolidierung des Augusteischen Principats im Mittelpunkt, also – anders als in Rekonstruktionen der Semantik römischer Werte – vor allem die „Pragmatik der Texte“, d.h. ihre Verwendungsweisen, ihr historischer Gestus und 55
Als zusammenfassende Publikationen dieses Teilprojektes seien genannt: A. HALTENHOFF / A. HEIL / F.-H. MUTSCHLER (Hgg.), O tempora, o mores! Römische Werte und römische Literatur in den letzten Jahrzehnten der Republik, München/Leipzig: Saur 2003 sowie DIES. (Hgg.), Römische Werte als Gegenstand altertumswissenschaftlicher Forschung, München/Leipzig: Saur 2005.
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ihre zu vermutenden Wirkungsabsichten. Traditionelle Themen der Klassischen Philologie wurden durch den institutionenanalytischen Blick, nämlich die Suche nach Stabilisierungsleistungen von Werten, Normen und sie begleitenden Texten im Rahmen eines umfassenderen kulturellen Symbolsystems erweitert. Auch in Martin JEHNEs althistorischem Teilprojekt „Öffentliche Rituale und soziopolitische Stabilität“56 ging es um ein Verständnis der erfolgreichen Suggestion eines Fortbestehens der Römischen Republik, welche im Spiegel der Machtokkupation seit Cäsar und besonders im Principat des Augustus überdeutlich wurde. Dass bis in die Kaiserzeit hinein eine scheinbare Weitergeltung des mos maiorum erfolgreich behauptet werden konnte, um die zentralistische Herrschaft zu kaschieren und rituell abzumildern, wurde an der Transformation öffentlicher republikanischer Rituale in nur noch ritualistische Restformen verdeutlicht. So erwies sich die akklamierende Volksversammlung zunehmend als durch „Zustimmungsgehorsam“ beherrschte Instanz. Auch konnte gezeigt werden, wie Kulthandlungen der Magistrate ohne einen nennenswerten Erzwingungsstab zur Krisenbewältigung oder auch zur Integration der außerhalb Roms, schließlich sogar der in den eroberten Gebieten lebenden Bevölkerung wirksam eingesetzt werden konnte. Solche Verdeckungsleistungen lassen sich unter verschiedensten historischen Bedingungen beobachten und zeigen sich seit jeher auch in Formen einer „Politischer Justiz“, in der es eine Camouflage der Macht, ja sogar des Terrors geben kann, die zur Legitimation repressiver Herrschaftsverhältnisse beiträgt und sich dazu eines institutionellen Scheins von Rechtlichkeit bedient. In dem bereits erwähnten Teilprojekt von Pier Paolo PORTINARO werden solche, bis in die Diktaturen des 20. Jahrhunderts praktizierte Bindungen der Unterdrückung zumindest an eine Schein-Legalität aufgezeigt, durch welche die Hypothesen der Institutionenanalyse in eindeutiger Weise bestätigt werden. Interessant ist dabei, dass politische Prozesse in allen herrschaftsüberformten Hochkulturen existierten – einmal als Maßnahmenjustiz, zum anderen als juristische Bearbeitung von Unrecht. Beide Formen finden unter modernen Bedingungen in paradoxer Weise in den Inquisitionsprozessen einen Vorläufer, nämlich im ersten Fall in den Logiken der Verdächtigung und im zweiten in der Entwicklung prozeduraler Verfahrenssicherheiten.
56
Als zusammenfassende Publikationen dieses Teilprojektes seien genannt: B. LINKE / M. STEMM(Hgg.), Mos maiorum. Untersuchungen zu den Formen der Identitätsstiftung und Stabilisierung in der römischen Republik, Stuttgart: Steiner 2000; M. JEHNE, Integrationsrituale in der römischen Republik. Zur einbindenden Wirkung der Volksversammlungen, in: G. URSO (Hg.), Integrazione, mescolanza, rifiuto. Incontri di popoli, lingue e culture in Europa dall'Antichità all'Umanesimo. Atti del convegno internazionale, Cividale del Friuli, 21-23 settembre 2000, Roma: L'Erma 2001, S. 89-113 [wieder in: K.-J. HÖLKESKAMP / J. RÜSEN / E. STEIN-HÖLKESKAMP / H. T. GRÜTTER (Hgg.), Sinn (in) der Antike. Orientierungssysteme, Leitbilder und Wertkonzepte im Altertum, Mainz: Zabern 2003, S. 279-297] sowie DERS. / R. PFEILSCHIFTER (Hgg.), Herrschaft ohne Integration? Rom und Italien in republikanischer Zeit, Frankfurt a.M.: Verlag Antike 2006. LER
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Die programmatische Selbstsymbolisierung und Funktionserfüllung politischer Repräsentation in Parlamenten der Neuzeit wurde dagegen in Werner PATZELTs Teilprojekt „Instrumentelle und symbolische Funktionen von Repräsentationsinstitutionen“57 sowohl am Beispiel der französischen Assemblée nationale („unitarisch-liberaldemokratisch“), des kanadischen Senats („föderalliberaldemokratisch“) als auch an zwei „Volksvertretungen“ sozialistischer Länder, nämlich der Nationenkammer der Tschechoslowakei („föderal-sozialistisch“) und der Volkskammer der DDR („unitarisch-sozialistisch“) untersucht. Auch hier gibt es die symbolische Verschiebung und in einigen Fällen sogar Invisibilisierung von Machtkonstellationen durch rituelle Prozeduren, wie sie insbesondere für den ‚Scheinparlamentarismus’ der beiden letztgenannten Bruderstaaten beobachtbar ist.
IV. Resümee Im Rahmen des SFB 537 hat die Institutionenanalyse auch einen Beitrag zur Präzisierung einer Methodologie historischen Vergleichens geleistet. Von Anfang an war es nicht nur ein Ziel des Sonderforschungsbereiches, historische Vergleiche als synthetisierendes Resultat der langjährigen Forschungen fruchtbar zu machen. Immer ging es auch um die Frage, ob Institutionen nur Überlebsel vergangener Gesellschaftsstrukturen seien, jedoch kaum mehr bindungsfähige Ordnungszumutungen in einer konsumistisch verfassten Gesellschaft erzeugen könnten. Oder ob die symbolische Repräsentation von Ordnungsprinzipien auch in „nachlegitimistischen“ Zeiten noch von zentraler Bedeutung sei. Letzteres darf man für die Politik wohl am ehesten annehmen. Aber viele sehen in ihr inzwischen auch nur noch ein Bühnengeschehen, das die tatsächlichen Entscheidungsprozesse eher verdeckt als bewirkt, indem rituell lediglich verlautbart wird, was in anderen Zusammenhängen längst beschlossen wurde. Und auch jenseits einer solchen, die Politikverdrossenheit nährenden Übertreibung, könnte es so sein, dass in diesem Bereich ein traditioneller Gestus der Selbstdarstellung und der Erwartungshaltungen eindeutiger noch existiert als in vielen anderen Bereichen funktional ausdifferenzierter Gesellschaften. Die Institutionenanalyse geht allerdings davon aus, dass dem nicht so sei und die Forschungen des Dresdner SFB haben dafür manchen Beleg geliefert. Dieses Problem lässt sich auch auf Klaus TANNERs Überlegungen beziehen, ob nämlich die moderne Dauerreflexion religiöse Institutionen zerstöre oder – wie zuerst Helmut Schelsky betonte – zu einer neuen Basis konstruktiver Religiosität beitragen kann (und dies nicht nur in kirchlichen Akademien und Studentengemeinden). Was von konservativer Seite als Banalisierung und Trivialisierung aufgefaßt wird, eröffnet eben doch auch neue Handlungs- und Denkmöglichkeiten. Und 57
Als zusammenfassende Publikationen dieses Teilprojektes seien genannt: PATZELT, Evolutorischer Institutionalismus [wie Anm. 32]; DERS. / S. DREISCHER (Hgg.), Parlamente und ihre Zeit. Zeitstrukturen als Machtpotentiale, Baden-Baden: Nomos 2009.
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wenn mit Institutionen vorschnell immer nur „die Ordnung“ identifiziert wird, geht es doch auch um die Hintergrundabsicherung von Kreativitätspotentialen. Gerade deshalb sind Institutionen immer Spannungsgefüge. Das nimmt wiederum eine Kategorie Arnold GEHLENs auf, der von „stabilisierter Spannung“ gesprochen hatte58, ohne die prinzipielle Bedeutung dieses Aspektes systematisch ausgewertet zu haben. Eine derartige Einsicht öffnet den Blick dafür, dass Einheitsfiktionen als institutionelle Leistungen immer aus Deutungskämpfen hervorgehen und gleichwohl deren latente Fortwirkung wenigstens zeitweise (wenn auch mit dem Anspruch ‚ewiger Dauer’) zu überdecken vermögen. Das birgt latente Konfliktrisiken, trägt durch eine gewisse Vagheit der Sinnkonstruktionen aber auch zu einer Anreicherung von Handlungsmöglichkeiten bei, die sozusagen unter ‚einem Dach’ und oft aus Gegensatzspannungen heraus realisierbar werden. Auch dafür lässt sich aus den Forschungen des SFB 537 ein Beispiel anführen: Kompliziert ineinander verwobene Konkurrenzen und Spannungsstabilisierungen werden für die norditalienischen Städte im 14. Jahrhundert in Giancarlo ANDENNAs Teilprojekt „Stadtkultur und Klosterkultur in der mittelalterlichen Lombardei. Institutionelle Wechselwirkung zweier politischer und sozialer Felder“59 untersucht, etwa zwischen der laikalen Bürgerschaft und den Klöstern und beider wiederum im Verhältnis zum örtlichen Bischof. Das war eingelassen in die päpstlichen und kaiserlichen Konflikte des 13. und 14. Jahrhunderts und die aus ihnen folgenden, oft unerbittlichen Streitpositionen zwischen Geschlechtern und anderen Gruppen in fast allen städtischen Vergesellschaftungen Italiens. Die Unversöhnlichkeit im Grenzfall tödlicher Machtkämpfe (wie wir sie heute z.B. bei Mafia oder Cosa Nostra sehen) konnte bis zum 15. Jahrhundert zu einer institutionellen Neutralisierung nicht durch den Staat (wie seit den religiösen Bürgerkriegen des 16. und 17. Jahrhunderts im Europa nördlich der Alpen), sondern in norditalienischen Kommunen durch die Externalisierung weltlicher und geistlicher Gewalten führen (eine Tendenz, die wir heute durch die weit verbreitete Sehnsucht nach Evaluation, Hochschulräten oder Unternehmensberatungen vielleicht nachvollziehen können). Tief verfeindete Geschlechter begrenzten einander einerseits durch den podestà annuali, andererseits durch die exterritorialen Mönchs-, Eremiten- und Mendikantenorden, wobei die gesamte Konfliktlage – verkörpert auch in den städtischen Raumord58 59
A. GEHLEN, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen [zuerst 1956]. 6., erw. Aufl. hg. v. K.-S. REHBERG. Frankfurt a.M.: Klostermann 2004, bes. S. 88-96. Als zusammenfassende Publikationen dieses Teilprojektes seien genannt: G. ANDENNA, État de la recherche sur l’histoire des ordres monastiques et religieux en Italie, in: La Médiévistique au XXe siècle. Bilan et perspectives, „Cahiers de Civilisation Médiévale“, 49 (2006), S. 317-335, DERS., Die Ambiguität eines Symbols. Die „piazza“ einer italienischen Stadt zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert: ein freier Raum für die Eigendarstellung von Macht oder abgeschlossenes „centro commerciale“?, in: Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, hg. v. G. MELVILLE, Köln/Weimar/Wien, 2005, S. 131-158 sowie DERS. (Hg.), Religiosità e civiltà. Le comunicazioni simboliche (secoli IX-XIII), Atti del Convegno internazionale, Domodossola 2007 [Le Settimane internazionali della Mendola. Nuova Serie 2007-2011, 1], Milano: Vita e Pensiero 2009, bes. S. 3-21.
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nungen zwischen bischöflichem oder kommunalem Machtanspruch, zwischen Klöstern und Bürgerhäusern – zu einer Visibilisierung der Relativierung von Macht führte. Man verschob Verantwortung nach außen, ohne den eigenen Einfluss verlieren zu wollen. Abschließend könnte man fragen, ob alle diese Forschungsanstrengungen und -erträge geeignet sind, die „historische Erfahrung“ zu vertiefen und für die eigene Gegenwart lebendig zu machen. Soweit dies eine eingeübte Situationsbeobachtung und Menschenkenntnis meint, könnte man vermuten, ein „historia docet“ wäre in einer Kultur der Innovationen, der schnellen Wechsel und Traditionsunterhöhlungen kaum noch von Wert. Schon Friedrich NIETZSCHE hatte die Frage aufgeworfen, ob die Aneignung der Spuren und Hinterlassenschaften der Vergangenheit lebensfördernd sei und dies für die „antiquarische“ Historie verneint60, zumal in philologischen und historiographischen Rekonstruktionen notwendig die Perspektive der eigenen Zeit eingenommen und jede Durchmusterung von Ereignissen, Verlaufsformen und Strukturveränderungen aus den jeweils aktuellen Relevanzkategorien heraus vollzogen wird. Und doch sind ein vergleichendes Wissen und eine Kenntnis von unterschiedlichsten Bedingungskonstellationen sowie ein Bewusstsein von Ähnlichkeiten und Unvergleichbarkeiten der geschichtlichen Wirklichkeit nicht nur von inner-wissenschaftlicher Bedeutung, sondern auch von einigem Wert im praktischen Leben. Für die Soziologie wenigstens scheint mir allzu oft übersehen worden zu sein, dass ihre wirklichkeitswissenschaftliche Basis notwendig auch eine historische Empirie braucht. Auch das konnte man in zwölfjähriger Zusammenarbeit lernen und für die unterschiedlichsten Disziplinen bestätigt sehen und als ein Resultat des Sonderforschungsbereiches „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ festhalten.
60
Vgl. F. NIETZSCHE, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben [zuerst 1874], in: DERS., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hgg. v. G. COLLI / M. MONTINARI, Bd. 1, München/Berlin/New York: dtv/de Gruyter 1980, S. 243-334.
PERSONENREGISTER A Aeneas (mythischer Stammvater Roms) 74 Adenauer, Konrad (Politiker, erster Bundeskanzler [1949-1963], 1876-1967) 198f, 255 Adolf von Nassau (dt. König, 12921298) 91 Adorno, Theodor W. ([eigtl. Theodor Ludwig Wiesengrund], Philosoph, Soziologe, 1903-1969) 421, 423 Ägidius Albertinus (Jesuit, 15601620) 180 Agrippa, M. Vipsanius (röm. Feldherr, Staatsmann, Schwiegersohn und Freund des Augustus, 64/63-12 v.Chr.) 68 Aicardo di Camodeia (designierter Bischof von Mailand, 14. Jhd.) 98f Albrecht I. (Herzog von Österreich, 1282-1308, Kaiser ab 1298) 33f Alfons XIII. (span. König, 1902-1931) 406 Amalia Wilhelmine von Braunschweig-Lüneburg (Gemahlin von Joseph I., 1673-1742) 381 Ambrosius, Hl. (Kirchenvater, Bischof von Mailand, 374-397) 8, 57, 94, 97f, 100-102 André Le Nôtre (Gartenarchitekt, 1613-1700) 400 Anselm von Canterbury (Theologe, 1033-1109) 295
Antonius, Marcus (röm. Staatsmann, 82-30 v.Chr.) 59f Arendt, Hannah (Philosophin, 1906-1975) 1, 62, 334 Ariberto di Intimiano, auch Heribert von Mailand (Erzbischof, 1018-1045) 87, 89 Aristoteles (Philosoph, 384-322 v.Chr.) 270f, 286 Asinius Pollio, Gaius (röm. Senator, Schriftsteller, 76 v.Chr.-5 n.Chr.) 82 Assmann, Jan (Ägyptologe, Religions- und Kulturwissenschaftler, * 1938) 284, 359 Augustin (siehe Augustinus) Augustinus, Aurelius, Hl. (Theologe, 354-430) 27, 53 Augustus (röm. Kaiser, 63 v.Chr.-14 n.Chr.) 7, 54-56, 58-61, 63, 65-82, 106, 126f, 369, 440 Ayurbarwada (chin. Kaiser, 1312-1320) 109
B Badia, Carlo Agostino (Komponist, 1671-1737) 381 Baltzer, Ulrich (Philosoph, * 1962) 303 Barlösius, Eva (Soziologin, * 1959) 186 Bartolus von Sassoferrato (Jurist, 1313/14-1357) 41, 103
446
Baudelaire, Charles-Pierre (Schriftsteller, 1821-1867) 413 Behrens, Eduard I. (Industrieller in Hamburg) 365 Bellotto, Bernardo, genannt Canaletto (Maler, 1722-1780) 393 Benda, Ernst (ehem. Präsident des Bundesverfassungsgerichts, 1925-2009) 199 Benedikt XII. (Papst, 1334-1342) 37, 98 Bergson, Henri Louis (Philosoph, 1859-1941) 368 Bibiena, Ferdinando Galli (Architekt, Dekorationsmaler, 1656-1743) 395f Bibiena, Giuseppe Galli (Bühnenbildner, Architekt, 1696-1757) 395f Bismarck, Otto von (Staatsmann, 1815-1898) 362 Black, Max (Philosoph, 1909-1988) 319 Bleichröder, Gerson (Bankier, 1822-1893) 362 Boddien, Wilhelm von (Geschäftsführer des Fördervereins für den Wiederaufbau des Berliner Schlosses, * 1942) 354 Bode, Wilhelm von (Kunsthistoriker, 1845-1929) 367 Bodenehr, Moritz (Kupferstecher, 1665-1749) 383 Bodin, Jean (Staatstheoretiker, 1529/30-1596) 42 Boillot, Joseph (Architekt, Architekurschriftsteller, 1550-1605) 377
Personenregister
Bonifaz VIII. (Papst, 1294-1303) 27, 29, 33f, 434 Borsig, Ernst (Unternehmer, 1869-1933) 362 Botero, Giovanni (Schriftsteller, Diplomat, 1544-1617) 171 Bourdieu, Pierre (Philosoph, Soziologe, 1930-2002) 4, 12, 279, 333f, 424 Brackerfelder, Johann (Kölner Gewaltrichter) 187 Brantz, Johannes (Übersetzer, Ende 16./ Anfang 17. Jhd.) 377 Brunner, Otto (Historiker, 1898-1982) 2 Burckhardt, Jacob Christoph (Kulturhistoriker, 1818-1897) 429 Burke, Edmund (Politiker, Philosoph, 1729-1797) 375
C Caesar, C. Iulius (röm. Feldherr, Staatsmann, 100-44 v.Chr.) 58f, 72-74, 79f Camargo, Diego Muñoz (Geschichtsschreiber, 1529-1595) 170 Camargo, Martin (Mediävist) 138 Canaletto (siehe Bellotto, Bernardo) Cantagallina, Remigio (Kupferstecher, 1582-1656) 388 Cassius Dio Cocceianus (griech.-röm. Geschichtsschreiber, 155-um 235) 60 Cassius Severus, T. (röm. Redner, 40/44 v.Chr.-32 n.Chr.) 80 Castro, Pedro Fernández de, Conde de Lemos (Indienratspräsident, 1560-1634) 167
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Personenregister
Cellini, Benvenuto (Bildhauer, 15001571) 364 Chang Yuchun (Beamter, Mitglied der sogh. „Anhui-Clique“, 14. Jhd.) 119 Chen Youliang (Rivale Kaiser Zhu Yuanzhangs, † 1363) 111 Chiaveri, Gaetano (Baumeister, 1689-1770) 393 Christoph August von Wackerbarth (sächs. Generalfeldmarschall, Reichsgraf, 1662-1734) 387 Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch (sowjet. Politiker, 1894-1971) 345 Cicero, M. Tullius (röm. Schriftsteller, Senator, 106-43 v.Chr.) 53, 65f, 72 Colbert, Jean-Baptiste (frz. Politiker, 1619-1683) 387 Contreras y Valverdes, Vasco de (Geschichtsschreiber) 169, 171 Cornelius Gallus, C. (röm. Senator, Dichter, 69/68-27/26 v.Chr.) 82 Corvinus, Johann August (Kupferstecher, 1683-1738) 390f, 394 Crassus, M. Licinius (röm. Staatsmann [cos. 70, 50 v.Chr.], 115/114-53 v.Chr.) 73, 77 Crassus, M. Licinius (röm. Senator [cos. 30 v.Chr.], Enkel des Crassus siehe oben) Cremer, Fritz (Maler, 1906-1993) 349
Dante Alighieri (ital. Dichter, Philosoph, 1265-1321) 42 Dardess, John W. (Sinologe, * 1937) 111, 113, 115, 124, 126 Dávila, Gil González (Chronist im Indienrat, 1570-1658) 169 Davis, Norman (Philologe, Historiker, * 1939) 145 Dawkins, Clipton Richard (brit. Zoologe, Biologe, Evolutionsbiologe, * 1941) 427 Day, Angel (engl. Briefstellerautor, 16. Jhd.) 142 Defoe, Daniel (Schriftsteller, 1660(?)-1731) 316 Dehler, Thomas (Politiker, ehem. Bundesjustizminister, 1897-1967) 15, 204, 252 della Torre, Napoleone (Reichsvikar, 1265-1277) 88 Dilthey, Wilhelm (Philosoph, 1833-1911) 428 Dinges, Martin (Historiker, * 1953) 190 Döblin, Alfred (Arzt, Schriftsteller, 1878-1957) 106 Docampo, Diego Rodríguez (Sekretär des Domkapitels von Quito) 169 Dürer, Albrecht (Maler, 1471-1528) 362 Durkheim, Émile (Soziologe, 1858-1917) 3, 418, 430f
D
E
Dahrendorf, Ralf Gustav (Soziologe, Politiker, Publizist, 1929-2009) 420 Damian Hugo von Virmont (General, Diplomat, 1666-1722) 394
Egnatius Rufus, M. (röm. Senator, † 19 v.Chr.) 76 Elias, Norbert (Soziologe, 1897-1990) 3, 13
448
Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel (Gemahlin Karls VI., 1691-1750) 382 Engels, Friedrich (Politiker, Philosoph, Historiker, Unternehmer, 1820-1895) 371 Ennius (röm. Dichter, 239-169 v.Chr.) 53 Enzensberger, Hans Magnus (Dicher, Schriftsteller, Herausgeber, * 1929) 421 Ershihuangdi (auch Qin Er Shi, chin. Kaiser, 209-207 v.Chr.) 52 Esser, Hartmut (Soziologe, * 1943) 424
F Faba, Guido (Vertreter der ars dictaminis in Italien, ca. 1190-1245) 142 Fan Guozhen (Rivale Zhu Yuanzhangs, später Gouverneur, 1319-1374) 109 Fang Xiaoru (konfuzianischer Gelehrter und unabhängiger politischer Denker; einer der „Märtyrer“ in den Wirren um die Thronfolge 1399-1402, 1357-1402) 106, 114, 124-126 Fannius Caepio (röm. Senator, 23/22 v.Chr. Verschwörer gegen Augustus) 77 Fehling, Carl Heinrich Jacob (Maler, Zeichner, 1683-1753) 401f Félibien, André (Architekt, Kunsttheoretiker, 1619-1695) 398, 400 Fenn, John (engl. Antiquar, 18. Jhd.) 144 Ferrary, Jean-Louis (Althistoriker, * 1948) 70
Personenregister
Fiamma, Galvano (Chronist, 12831344) 92, 94, 98-100 Fischer von Erlach, Johann Bernhard (Architekt, 1656-1723) 395 Fleming, Abraham (engl. Briefstellerautor, 1552-1607) 142 Foucault, Michel (Philosoph, Soziologe, 1926-1984) 4, 10, 14, 179, 296 Fraenkel, Ernst (Politikwissenschaftler, 1898-1975) 232, 240 Franz von Assisi, Hl. (Ordensgründer, 1181/82-1226) 435 Freyer, Hans (Soziologe, Historiker, Philosoph, 1887-1969) 6 Friedrich Karl von Preußen (1828-1885, Prinz und General) 361 Friedrich I. von Österreich, genannt der Schöne (als Friedrich III. dt. Gegenkönig ab 1314) 34 Friedrich I., genannt Barbarossa (dt. König, 1152-1190, Kaiser ab 1155) 88 Friedrich II. (dt. König, 1212-1250, Kaiser ab 1220) 15, 88 Friedrich II. (Kurfürst und Markgraf von Brandenburg, 1413-1471) 335 Friedrich II. ([Friedrich der Große oder der Alte Fritz] Kurfürst von Brandenburg, ab 1740 Kg. vom Preußen, 1740-1786) 364 Friedrich IV. (König von Dänemark und Norwegen, 1699-1730) 380 Friedrich August I., genannt „der Starke“ (Kurfürst von Sachsen, 1670-1733, als August II. König von Polen, 1697-1733) 380, 382, 384, 387, 392, 402
449
Personenregister
Friedrich August II. (Kurfürst von Sachsen, 1733-1763, als August III. König von Polen, 1734-1763) 382, 387, 392, 395, 402 Fritzsche, C.H. (Theatermaler, 18. Jhd.) 384, 386 Fullwood, Willliam (engl. Briefstellerautor, 16. Jhd.) 142
G Gaodi (siehe Han Gaozu) Gehlen, Arnold (Philosoph, Soziologe, 1904-1976) 6, 418, 420f, 427, 431, 436, 442 Geoffrey de Vinsauf (Vertreter der ars dictaminis, 12. Jhd.) 142 Giedion, Siegfried (Architekturhistoriker, 1888-1968) 410f Giovanni di Balduccio (Bildhauer, ca. 1290-nach 1339) 101 Göckel [Gockel], Rudolf [auch Rudolf Goclenius der Ältere] (Professor für Philosophie, Logik, Metaphysik und Ethik, Hexentheoretiker, 1547-1628) 270 Goffman, Erving (Soziologe, 1922-1982) 186 Göhler, Gerhard (Politikwissenschaftler, * 1941) 1, 61f, 334, 419 Gregor der Große (Papst, 590-604) 139 Gregor VII. (Papst, 1073-1085) 28f Gropius, Walter (Architekt, 1883-1969) 11, 348, 407-409 Gumbrecht, Hans Ulrich (Literaturwissenschaftler, * 1948) 412 Gumplowicz, Ludwig (Jurist, 1838-1909) 9
Guo Zixiang (Rebellenführer, † 1355) 114f
H Habermas, Jürgen (Philosoph, Soziologe, * 1929) 6, 420f Haenel, Albert (Jurist, Politiker, 1833-1928) 366 Haller, Johannes (Historiker, 1865-1947) 30 Hamilton, Alexander (Politiker, 1755-1804) 197 Han Gaozu (chin. Kaiser, 202-195 v.Chr.) 117 Han Lin’er (von 1355-1366 erster und einziger Kaiser der von den Roten Turbanen ausgerufenen Song-Dynastie, † 1367) 111 Han Shantong (Rebellenführer, Vater von Han Lin’er, † 1351) 111 Han Wudi (chin. Kaiser, 141-87 v.Chr.) 112 Hans Holbein der Jüngere (Maler, 1497-1543) 362 Harnack, Adolf von (Theologe, 1851-1930) 297 Hatzfeld, Graf von (Besitzer des opulenten Hatzfeld-Palais am Wilhelmplatz in Berlin) 362 Hauriou, Maurice Jean Claude Eugène (Rechswissenschaftler, 1856-1929) 430f Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (Philosoph, 1770-1831) 5, 285, 297f, 421f, 426 Heinrich IV. (dt. König, 1056-1105, Kaiser 1084-1105) 28 Heinrich V. (engl. König, 1413-1422) 139
450
Heinrich VII. (dt. König, 1308-1313, Kaiser ab 1312) 33, 91 Heisig, Bernhard (Maler, * 1925) 349 Henri IV. (frz. König, 1589-1610) 377f Henry de Bracton (engl. Rechtsgelehrter, † 1268) 19-21, 27 Henselmann, Hermann (Architekt, 1905-1995) 342-344 Heraeus, Carl Gustav (Hofantiquar, Gelehrter, Schriftsteller, 1671-1725) 395-397 Herder, Johann Gottfried (ev. Theologe, Philosoph, Kunst- und Literaturtheoretiker, Dichter, 1744-1803) 424, 427 Heribert von Mailand (siehe Ariberto di Intimiano) Herrera, Antonio de (Geschichtsschreiber, 1549-1625) 171 Herzog von Zhou (chin. Staatsmann, 12./11. Jhd.v.Chr) 125 Hibbing, John R. (Politikwissenschaftler, 20. Jhd.) 233 Hobbes, Thomas (Staatsphilosoph, 1588-1679) 14, 294, 427, 438 Holenstein, André (Historiker) 179 Honecker, Erich (ostdt. Politiker, 1912-1994) 12, 334, 345, 347, 350, 352 Honneth, Axel (Philosoph, * 1949) 421 Hopp, Hans (Architekt, 1890-1971) 331, 337-339, 340, 341f Hostiensis [eigentl. Enrico Bartolomei] (Erzbischof von Embrun, Kardinal, Kirchenrechtsgelehrter, 1194-1271) 39
Personenregister
Horaz ([Quintus Horatius Flaccus] römischer Dichter, 65 v.Chr.-8 v.Chr.) 371 Hornsby, Jennifer (brit. Philosophin, * 1951) 273 Horty, John F. (Philosoph, * 1954) 308f Hradil, Stefan (Soziologe, * 1946) 278 Hu Weiyong (Kanzler unter Zhu Yuanzhang, 14. Jhd.) 123
I Innozenz III. (Papst, 1198-1216) 27, 32, 40 Innozenz IV. (Papst, 1243-1254) 15, 29, 32, 42
J Jacob Heinrich von Flemming (sächs. Generalfeldmarschall, Reichsgraf, 1667-1728) 390 Jason (Heldengestalt der griechischen Sage) 389 Jay, John (Politiker, 1745-1829) 197 Jean de Blanot (Jurist, † 1287) 41 Jean Le Pautre (Kupferstecher, Radierer, 1618-1682) 398, 400f Jesus von Nazareth (4 v.Chr.-30/31/33 n.Chr.) 150, 289 Jiang Ziwen (chin. Kriegergottheit) 124 Jianwen-Kaiser (chin. Kaiser, 1398/99-1402) 106, 124, 127 Johann II. von Pfalz-ZweibrückenVeldenz (Pfalzgraf und Herzog, 1604-1635) 377
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Personenregister
Johann Georg II. (sächs. Kurfürst, 1656-1680) 384 Johannes Andreae (Dekretalist, 1270-1348) 39 Johannes von Salisbury (Bischof von Chartres, Theologe, 1115/20-1180) 23 Johannes XXII. (Papst, 1316-1334) 34-36 Jonas, Hans (Philosoph, 1903-1993) 295 Joseph I. (Kaiser von Österreich, 1705-1711) 387 Justinian I., Flavius Petrus Sabbatius (röm. Kaiser, 527-565) 39 Jüngel, Eberhard (Theologe, * 1934) 297
K Kant, Immanuel (Philosoph, Begründer der kritischen Philosophie, 1724-1804) 7, 269, 287, 290, 305, 322f Kantorowicz, Ernst (Historiker, Mediävist, 1895-1963) 30 Karl der Große (fränk. König, 768-814, Kaiser ab 800) 42 Karl IV. (dt. und böhmischer König, 1346-1378, Kaiser ab 1355) 31, 33 Karl V. (Kaiser, 1530-1556) 10, 45, 158f Karl VI. (Kaiser, 1711-1740) 395, 397 Karl XII. (schwedischer König, 1697-1718) 381 Keller, Hagen (Historiker, 1937) 86
Khubilai Khan (Großkhan der Mongolen, 1260-1294, chin. Kaiser, 1271-1294) 109, 118 Kleopatra (VII.) (ägyp. Königin, 69-30 v.Chr.) 59f Kloepfer, Michael (Rechtswissenschaftler, Staatsrechtslehrer, * 1943) 265 Klotz, Heinrich (Kunsthistoriker, Architekturtheoretiker, Publizist, 1935-1999) 407 Koch, Peter (Sprachwissenschaftler, * 1951) 138 Kohl, Helmut (Politiker, *1930) 420 Konfuzius (chin. Philosoph, vermutlich 551-479 v.Chr.) 54, 125 Kosel, Gerhard (Architekt, Baufunktionär, 1909-2003) 12, 331, 338-344 Koselleck, Reinhart (Historiker, 1923-2006) 426 Kripke, Saul Aaron (Philosoph, Logiker, * 1940) 311
L Landwehr, Achim (Historiker, * 1968) 179 Le Corbusier ([Charles-Édouard Jeanneret-Gris], Architekt, 1887-1965) 413 Lebrun, Charles (Maler, 1619-1690) 399 Leibholz, Gerhard (Jurist, Verfassungsrichter, 1901-1982) 15, 198 Leopold Johann (Erzherzog von Österreich, * /† 1716) 394 Lessing, Carl Friedrich (Maler, 18081880) 361
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Lévi-Strauss, Claude (Ethnologe, Anthropologe, 1908-2009) 418 Li Shanchang (chin. Beamter, 14. Jhd.) 118f Li Si (Kanzler der ersten chin. Kaiser, 280-208 v.Chr.) 9, 51, 107 Lian Zining („Oppositioneller“, einer der „Märtyrer“ in den Wirren um die Thronfolge 1399-1402) 125 Licinius Murena (Redner, zwischen 65 und 55 – 23/22 v.Chr.) 79 Liebknecht, Karl (Politiker, Sozialist, Mitbegründer der KPD, 1871-1919) 336, 340 Limbach, Jutta (ehem. Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, * 1934) 201 Liu Bang (siehe Han Gaozu) Liu Futong (Rebellenführer, † 1363) 111 Locke, John (Philosoph, Aufklärer, 1632-1704) 2, 14, Longuelune, Zacharias (Architekt, 1669-1748) 384, 393 Lorhard, Jacob [Jacobus Lorhardus] (Philosoph, Pädagoge, 1561-1609) 270 Louis Duc de Bourgogne (Dauphin von Frankreich, 1682-1712) 394 Ludwig (IV.) der Bayer (Herzog von Oberbayern und Pfalzgraf bei Rhein, 1294-1347, dt. König ab 1314, Kaiser ab 1328) 33-37, 44, 91, 96 Ludwig XIV. (frz. König, 1643-1715) 398, 402 Luhmann, Niklas (Philosoph, Soziologe, 1927-1998) 3, 5, 191, 385, 421f, 426
Personenregister
Lupold von Bebenburg (Bischof von Bamberg, Rechtsgelehrter, um 1297-1363) V, 19, 21, 37, 44, 46 Luther, Martin (Theologe, 14831546) 23, 25, 286, 289
M Madison, James (Politiker, 1751-1836) 197 Ma Huan (chin.-muslim. Reisender, Dolmetscher, Reiseberichterstatter, 14./15. Jhd.) 121 Mann, Katia, geb. Pringsheim (Ehefrau von Thomas Mann, 1883-1980) 369 Mann, Thomas (Schriftsteller, 18751955) 369 Mannheim, Karl (Soziologe, Philosoph, 1893-1947) 425, 429 Mao Zedong (chin. Politiker, Revolutionsführer, 1893-1976) 109, 217 Marcellus, M. Claudius (Neffe und Schwiegersohn des Augustus, 42-23 v.Chr.) 77-79 Maria Magdalena von Österreich (toskan. Großherzogin, 1608-1631) 388 Marsilius von Padua (Staatstheoretiker, 1290-1343) 37, 43, Marx, Karl (Philosoph, politischer Journalist, 1818-1883) 3, 12, 285f, 340, 371, 425 Mattheuer, Wolfgang (Maler, 1927-2004) 349 Maximilian I. (1459-1519, dt. König ab 1486, Kaiser ab 1509) 434 Mead, George Herbert (Philosoph, Sozialpsychologe, 1863-1931) 288, 421
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Personenregister
Medici, Cosimo I. de’ (toskan. Großherzog, 1537-1574) 364 Medici, Cosimo II. de’ (toskan. Großherzog, 1608-1621) 388 Menestrier, Claude-François (Theologe, Philosoph, 1631-1705) 373 Merian, Matthäus, genannt der Ältere (Kupferstecher, Verleger, 1593-1650) 270, 392f Merton, Robert K. (Soziologe, 1910-2003) 419 Meyer, Adolf (Architekt, 1881-1929) 408 Micraelius, Johannes [eigentl. Johannes Lütkeschwager] (Dichter, Philosoph, Historiker, 1597-1658) 270 Mies van der Rohe, Ludwig (Architekt, 1886-1969) 405-407, 412-413 Mignolo, Walter D. (arg. Semiotiker, 20. Jhd.) 170 Ming Taizu (siehe Zhu Yuanzhang) Molière (siehe Poquelin, JeanBaptiste) Moltke, Helmuth Karl Bernhard von (preuß. Generalfeldmarschall, 1800-1891) 361 Montesquieu ([Charles–Louis de Secondat, Baron de Montesqieu] Philosoph, Staatsrechtler, Historiker, 1689-1755) 197 Morris, Charles (Philosoph, Semiotiker, 1903-1979) 288 Moser, Johann Jacob (dt. Staatsrechtslehrer, 1701-1785) 177 Mosse, Rudolf (Unternehmer, 1843-1920) 363, 366
Mota, Alonso de la (Bischof von Guadalajara, 1598-1605) 169 Mote, Frederik W. (Sinologe, 1922-2005) 109f, 112f, 119 Müller, Gebhard (Politiker, Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, 1900-1990) 199 Murillo, Bartolomé Esteban (Maler, 1618-1682) 362 Mussolini, Benito Amilcare Andrea (Politiker, Diktator, 1883-1945) 9
N Napoleon Bonaparte (frz. General, Staatsmann, Kaiser, 1769-1821) 46, 367f Nietzsche, Friedrich (Philosoph, Dichter, Philologe, 1844-1900) 3, 332, 370, 443 Nonius Asprenas, C. (röm. Senator, des Giftmordes angeklagter Vertrauter des Augustus) 80
O Obama, Barack Hussein (USamerikanischer Politiker, * 1961) 420 Octavian ([Gaius Iulius Caesar Octavianus], siehe Augustus) Oesterreicher, Wulf (Sprachwissenschaftler, * 1942) 138 Oestreich, Gerhard (Historiker, 1910-1978) 178 Ottaviano degli Ubaldini (Kardinal, 1214-1273) 89 Ovando, Juan de (Inquisitionsrat, Mitglied des span. Indienrates, 1514-1575) 158f, 172
454
Oviedo, Gonzalo Fernández de (Geschichtsschreiber, Staatsmann, 1478-1557) 169
P Parigi, Guilio (Architekt, 1571-1635) 388 Parsons, Talcott (soziologischer Theoretiker, 1902-1979) 3 Paulick, Richard (Architekt, 1903-1979) 336f Paulus, Hl. (Apostel) 23, 297f, 337, 428 Peirce, Charles Sanders (amerikan. Mathematiker, Philosoph, Logiker, 1839-1914) 288, 304, 314f, 317, 323 Peng Yingyu (auch „Mönch Peng“, Rebellenführer, 14. Jhd.) 111 Peter von Blois (Theologe, 1135-1203) 142 Petrarca, Francesco (Dichter, 1304-1374) 103 Petrus, Hl. (Apostel) 15, 25 Petrus Martyr, Hl. (Prediger, Inquisitor, Ende 12. Jhd.-1252) 99 Pettit, Philip (Philosoph, Politikwissenschaftler, * 1945) 321f Pevsner, Nikolaus (Kunsthistoriker, 1902-1983) 405-408, 410f Philipp I. (frz. König, 1059/60-1108) 29 Philipp II. (span. König, 1556-1598) 10, 158f, 170, 172 Philipp III. (span. König, 1598-1621, [als Filipe II. König von Portugal, als Filippo II. König von Sardinien]) 157
Personenregister
Philippe de Beaumanoir (frz. Jurist 1252/1254-1296) 39 Philipp von Leyden (Jurist, 1326/27-1382) 39 Pines, Yuri (Sinologe, * 1964) 105 Piscator, Erwin (Regisseur, Theaterintendant, 1893-1966) 348 Pius VII. (Papst, 1800-1823) 46 Platz, Gustav Adolf (Architekt, 1881-1947) 410 Pleß, Graf von (Bewohner des elitären Viertels an der Berliner Wilhelmstraße) 363 Pompeius Magnus, Cn. (röm. Staatsmann, 106-48 v.Chr.) 65, 72f Pöppelmann, Matthäus Daniel (Baumeister, 1662-1736) 382385, 387, 390, 393 Primus, M. (25/24 v.Chr.? Statthalter von Makedonien) 8, 77-79 Pringsheim, Rudolf (Unternehmer, 1821-1901) 363f, Pufendorf, Samuel (Philosoph, Historiker, 1632-1684) 46, 294 Puhl, Klaus (Philosoph, * 1954) 313
Q Q. Lutatius (röm. Senator [cos. 78 v.Chr.], † zw. 62 und 60 v.Chr.) 65 Quesnay, François (Arzt, Philosoph, 1694-1774) 427 Quetglas, Josep (span. Architekturhistoriker, * 1946) 405 Quin Shihuangdi (erster chin. Kaiser, 221-259 v.Chr.) 9, 51f, 55, 58, 107, 109
Personenregister
Quine, Willard Van Orman (Philosoph, Logiker, 1908-2000) 275 Quirós, Francisco de (Kosmograph, 17. Jhd.) 163
R Raffael da Urbino (Maler, 1483-1520) 362 Ranke, Franz Leopold von (Historiker, Historiograph, 1795-1886) 428 Rembrandt (siehe van Rijn, Rembrandt Harmenszoon) Renger-Patzsch, Albert (Fotograf, 1897-1966) 408 Rickert, Heinrich (Philosoph, 18631936) 366 Renzong (siehe Ayurbarwada) Rodriguez-Pereyra, Gonzalo (Philosoph, * 1969) 273 Romulus (mythischer Stammvater Roms) 74 Rosenberg, Adolf (Kunsthistoriker, 1850-1906) 364 Rosenkrantz, Gary Sol (Philosoph) 271 Rottmann, Joachim (ehem. Richter am Bundesverfassungsgericht, * 1925) 263 Rubens, Peter Paul (Maler, 1577-1640) 362 Ruff, Thomas (Fotokünstler, * 1958) 414
S Sampson, Thomas (Lehrer der Ars dictaminis in Oxford, 15. Jhd.) 142, 146f, 149, 152 Sánchez, Luis (Kleriker) 10, 163f
455
Schaefer, Ursula (Sprachwissenschaftlerin, * 1947) 134, 140, 463 Scheffel, Joseph Victor von (Schriftsteller, Dichter, 1826-1886) 360, 362 Scheler, Max (Philosoph, Soziologe, 1874-1928) 425 Schelsky, Helmut (Soziologe, 1912-1984) 6, 422, 441 Schmitt, Carl (Staatsrechtler, Philosoph, 1888-1985) 431 Scholtz, Julius (Maler, 1825-1893) 365 Schröder, Gerhard (Politiker, * 1944) 356 Schroedter, Adolf (Maler, Grafiker, 1805-1875) 361 Schroedter, Malvina (Ehefrau von Anton von Werner, Tochter von Adolf Schroedter) 361 Schwabach, Paul (Historiker, Bankier, 1867-1938) 362 Schweiker, William (Theologe, * 1953) 291 Schwind, Moritz von (Maler, 1804-1871) 362 Searle, John Rogers (Philosoph, * 1932) 312, 317 Seibt, Johanna (Philosophin) 306 Sentius Saturninus, Cn. (röm. Feldherr, Senator [cos. 19 v.Chr.]) 76 Simmel, Georg (Philosoph, Soziologe, 1858-1918) 3 Smith, Adam (Moralphilosoph, Aufklärer, 1723-1790) 2, 427 Söderblom, Nathan (Theologe, Friedensnobelpreisträger, 1866-1931) 292
456
Song Lian (chin. Gelehrter, Geschichtsschreiber, 1310-1381) 117-120 Springer, Peter (Kunsthistoriker, * 1944) 366 Stalin, Josef W. ([eigtl. Iossif Wissarianowitsch Dschugaschwili], russ. Politiker und Diktator, 1878-1953) 9 Stefanardo da Vimercate (Theologe, Geschichtsschreiber, † 1297) 92, 94 Stephan, Heinrich (von) (Generalpostdirektor, 1831-1897 361 Strohschneider, Peter (Mediävist, * 1955) 436 Strousberg, Bethel Henry (Unternehmer, 1823-1893) 362 Sueton ([Gaius Suetonius Tranquillus], röm. Schriftsteller, Verwaltungsbeamter, um 70-ca. 130/140) 74 Sußmann (jüdische Industriellenfamilie) 362 Swoyer, Chris (Philosoph, 20. Jhd.) 272
T Tacitus ([Publius [?] Cornelius Tacitus], röm. Historiker, 55-115) 55 Tao Kai (Ritenminister unter Zhu Yuanzhang, 14. Jhd.) 120 Thatcher, Margret Hilda (brit. Politikerin, * 1928) 420 Theissen, Gerd (Theologe, * 1943) 296, 298 Theiss-Morse, Elizabeth (Politikwissenschaftlerin) 233
Personenregister
Thomasius, Christian (Jurist, Philosoph, 1655-1728) 179 Thomas von Aquin, Hl. (Theologe, 1224/25-1274) 19, 24-26 Tillich, Paul (Theologe, Religionsund Kulturphilosoph, 1886-1965) 290f Timagenes von Alexandria (grch. Geschichtsschreiber des 1. Jhd. v.Chr.) 82 Tizian (siehe Vecellio, Tiziano) Toghon Temür (Großkhan der Mongolen, 1333-1370, chin. Kaiser, 1333-1368) 114 Traeger, Albert (Politiker, Schriftsteller, 1830-1912) 366 Trauzettel, Rolf (Sinologe, * 1930) 105 Troeltsch, Ernst (Theologe, Kulturphisosoph, 1865-1923) 290, 299 Tschetschulin, Dmitri Nikolajewitsch (Stadtarchitekt, 1901-1981) 337
U Ulbricht, Walter (ostdt. Politiker, 1893-1973) 12, 335f, 339, 341344
V van de Velde, Henry (Architekt, Designer, 1863-1957) 408 van Rijn, Rembrandt Harmenszoon (Maler, 1606-1669) 362 Vecellio, Tiziano (Maler, 1488/90-1576) 362 Velázquez, Diego Rodríguez de Silva y (Maler, 1599-1660) 362
457
Personenregister
Vergil ([Publius Vergilius Maro] röm. Dichter, 70-19 v.Chr.) 56, 74, 433 Veronese, Paolo (Maler, 1528-1588) 365 Victoria von Sachsen-Coburg und Gotha (Kronprinzessin, 18401901) 361 Vigarani, Carlo (Architekt, Bühnenbildner, 1637-1713) 399f Virchow, Rudolf (Mediziner, Politiker, 1821-1902) 366 Visconti, Azzone (kaiserlicher Vikar in Mailand, 1302-1339) 91, 96, 100-102 Visconti, Bernabò (Stadtherr von Mailand, 1323-1385) 102 Visconti, Galeazzo I. (Stadtherr von Mailand, 1277-1328) 95, 101 Visconti, Galeazzo II. (Stadtherr von Pavia, 1320-1378) 102 Visconti, Giovanni (Erzbischof von Mailand, Bischof Novaras und Stadtherr Mailands, 1290-1354) 58, 89f, 95f, 98-102 Visconti, Lucchino (Stadtherr von Mailand, 1339-1349) 96 Visconti, Matteo (Stadtherr von Mailand, 1255-1322) 57, 91, 93, 95, 101 Visconti, Ottone (Erzbischof und Stadtherr von Mailand, 12071294) 8, 55, 57, 89-95, 98, 101, 103
W Waldstein, Albrecht Wenzel Eusebius von, genannt Wallenstein (Heerführer, 1583-1634) 365f
Walther, Helmut G. (Historiker, * 1944) 19, 38 Walz, Rainer (Historiker) 191 Wang Wei (chin. Gelehrter, Geschichtsschreiber, 1323-1374) 119 Wartenberg, Thomas E. (Philosoph) 278f Weber, Max (Soziologe, Nationalökonom, Kultur-, Sozialhistoriker, Jurist, 1864-1920) 1, 3, 6, 9, 13f, 61f, 276f, 285, 302, 425, 428, 430 Wei Su (chin. Gelehrter, 14. Jhd.) 119 Werferth von Worcester ([Wærferth, Werfrith, or Waerfrith] Bischof von Worcester, 873-915) 139 Werner, Anton von (Historienmaler, 1843-1915) 340, 359370 Wilhelm I. (Kaiser, 1871-1888) 336 Wilhelm II. (Kaiser, 1888-1918) 336, 359f Wilhelm von Ockham (Philosoph, Theologe, Kirchenschriftsteller, um 1285-1347/49) 37, 39, 43, 275 Wittgenstein, Ludwig (Josef Johann) (Philosoph, 1889-1951) 311, 423 Wolff, Christian (Philosoph, Mathematiker, 1679-1754) 287 Wright, Frank Lloyd (Architekt, Schriftsteller, 1867-1959) 408
X Xian Nong (chin. Gottheit, auch bekannt als Shen Nong, „Göttlicher Landmann“) 119
458
Xu Da (chin. General, 1332-1385) 119, 126
Y Yongle-Herrscher (chin. Kaiser, 1402-1424) 116, 119, 121, 123, 126f
Z Zhang Shicheng (mächtigster Rivale Zhu Yuanzhangs um die Herrschaft, 1321-1367) 109, 111 Zheng He (chin. Flottenadmiral, Entdeckungsreisender, 1371-1433/35) 121 Zhu Biao (Kronprinz Zhu Yuanzhangs, 1355-1392) 116, 118 Zhu Di (Prinz von Yan, regierte als Yongle-Herrscher – siehe oben) 125 Zhu Xi (chin. Gelehrter, Neokonfuzianer, Lehrer und Berater chin. Kaiser, 1130-1200) 109 Zhu Yuanzhang (chin. Kaiser, Begründer der Ming-Dynastie, 1368-1398) 8, 55-57, 105f, 108f, 111-114, 116-120, 123-126 Zhu Yunwen (siehe Jianwen-Kaiser) Zushan (buddhistischer Mönch, um 1360-1373) 121
Personenregister
Bernd Oberdorfer / Peter Waldmann (Hg.)
Machtfaktor Religion Formen religiöser Einflussnahme auf Politik und Gesellschaft
Wie definieren Religionen ihre Stellung in Staat und Gesellschaft? Wie üben religiöse Institutionen und Funktionsträger weltlichen Einfluss aus? Und wie wirkt dies auf das geistliche Selbstverständnis von Religionsgemeinschaften zurück? In Fallstudien aus Geschichte und Gegenwart untersuchen die Autor/innen dieses Bandes den Einfluss der Religionen auf das politisch-gesellschaftliche Leben. Der Schwerpunkt liegt auf dem Christentum, vergleichend werden jedoch Studien zu Islam und Judentum hinzugezogen. Die interdisziplinär angelegten Beiträge verbinden dabei religions-, sozial- und geschichtswissenschaftliche »Außensichten« mit einer theologischen »Innensicht«. Das thematische Spektrum reicht vom Christentum in der Spätantike bis zu den Kirchen in der modernen deutschen Gesellschaft. Betrachtet werden unter anderem die Rolle von Einzelgestalten wie Billy Graham und Ian Paisley, die Einwirkung der Kirchen auf gesellschaftliche Transformationsprozesse in Südamerika und Südafrika oder die Macht jüdisch-orthodoxer Parteien in Israel und schiitischer Geistlicher im Iran. 2012. VIII, 264 S. Gb. 155 x 230 mm. ISBN 978-3-412-20826-4
böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
Fr anz J. Felten / Annette Kehnel / Stefan Weinfurter (Hg.)
Institution und Charisma Festschrift für Gert Melville
»Obgleich sich Charisma und Institution auszuschließen scheinen, ist die ›vita religiosa‹ in ihrer Geschichte trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer Tendenz zur hoch verdichteten Institutionalität immer wieder mit An trieben durch Einzelpersönlichkeiten von hohem Eigenwillen und starker Führungsqualität konfrontiert worden.« So charakterisiert Gert Melville das Verhältnis zwischen institutioneller Ordnung und religiösem Charisma. Anlässlich seines 65. Geburtstags fragen die hier versammelten Beiträge namhafter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach der Ausge staltung dieser s pannungsreichen Beziehungen. 2009. VIII, 627 S. Mit 12 s/w-Ab. Gb. 155 x 230 mm. ISBN 978-3-412-20404-4
böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau.de | köln weimar wien
Gert Melville, Winfried Müller, K arl-Siegbert Rehberg (hg.)
Gründungsmythen – Genea logien – Memorialzeichen Beitr äge zur institutionellen Konstruk tion von Kontinuität 2004. X, 300 S. 5 s/w-Abb. Gb. 155 x 230 mm. ISBN 978-3-412-10204-3
Gert Melville (Hg.)
Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht Institutionelle Prozesse in Antike, Mittel alter und Neuzeit 2005. VIII, 422 S. 70 s/w-Abb. auf 40 Taf. Gb. 155 x 230 mm. ISBN 978-3-412-24305-0
Gert Melville, K arl-Siegbert Rehberg (hg.)
Dimensionen institutioneller Macht Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart 2012. X, 458 S. 76 s/w-Abb. auf 32 Taf. Gb. 155 x 230 mm. ISBN 978-3-412-20232-3
böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau.de | köln weimar wien