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German Pages 323 Year 2012
Hamburger Studien zum Europäischen und Internationalen Recht Band 57
Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren Von
Philipp Ludewig
Duncker & Humblot · Berlin
PHILIPP LUDEWIG
Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren
Hamburger Studien zum Europäischen und Internationalen Recht Herausgegeben von Thomas Bruha, Armin Hatje, Meinhard Hilf, Hans Peter Ipsen †, Rainer Lagoni, Gert Nicolaysen, Stefan Oeter
Band 57
Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren
Von
Philipp Ludewig
Duncker & Humblot · Berlin
Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Hamburg hat diese Arbeit im Jahre 2011 als Dissertation angenommen.
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Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde bei der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg im Februar 2010 als Dissertation eingereicht. Das Prüfungsverfahren wurde durch die mündliche Prüfung am 5. Dezember 2011 abgeschlossen. Die Arbeit befindet sich in ihrer Grundkonzeption auf dem Stand von Februar 2010; für die Drucklegung konnten wesentliche Literatur und Rechtsprechung bis Mai 2012 berücksichtigt werden. Der Grundstein für meine Dissertation wurde während meiner Verwaltungsstation beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie gelegt. In dieser Zeit konnte ich mich gewissermaßen „an vorderster Front“ von den praktischen Auswirkungen der EuGH-Rechtsprechung zur zeitlichen Beschränkung der Wirkung von Vorabentscheidungsurteilen überzeugen. Mein Dank gilt an erster Stelle meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Thomas Bruha, der meine Arbeit von Anfang an mit Wohlwollen begleitet hat. Besonderer Dank gilt außerdem Herrn Prof. Dr. Armin Hatje für die schnelle Erstellung des Zweitgutachtens. Herrn Prof. Dr. Thomas Eger vom Institute of Law and Economics der Universität Hamburg danke ich für seine hilfreichen Anmerkungen und Anregungen zum rechtsökonomischen Teil der Arbeit. Gedankt sei auch den Herausgebern der Hamburger Studien zum Europäischen und Internationalen Recht für die Aufnahme meiner Arbeit in diese Schriftenreihe. Ganz herzlich danke ich außerdem Frau Charlotte Uhlmann sowie meinem Vater, Joachim Ludewig, für ihre konstruktiven kritischen Anregungen in Bezug auf Inhalt, Sprache und Form. Frau Katayun Zierke danke ich für ihre Unterstützung bei der Durchsicht der Druckfahnen. Dank gebührt auch vielen meiner Freunde, die mir über den einen oder anderen Tiefpunkt während der Erstellung dieser Arbeit hinweggeholfen haben. Besonders dankbar bin ich schließlich meiner Familie. Vor allem meinen Eltern, Barbara und Joachim Ludewig, kann ich gar nicht genug danken. Ohne den Rückhalt, den sie mir zuerst während des Jurastudiums und später während der Zeit der Promotion gegeben haben, würde es die vorliegende Dissertation nicht geben. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Hamburg, August 2012
Philipp Ludewig
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Die zeitliche Begrenzung von Urteilsfolgen in anderen Rechtsordnungen . . I. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Normenkontrolle und Beschränkung der Urteilswirkungen in einzelnen Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Regelfall: Nichtigerklärung mit Wirkung ex tunc . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausnahme: Unvereinbarerklärung mit Wirkung ex tunc oder ex nunc . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Abgrenzung: Appellentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Normenkontrolle durch den Conseil constitutionnel . . . . . . . . . . . . . b) Normenkontrolle durch den Conseil d’Etat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsatz: Außerkrafttreten verfassungswidriger Normen ex nunc b) Variante: Aufhebungsurteile mit weitergehender Rückwirkung . . . c) Variante: Aufhebungsurteile mit Wirkung ab einem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt (pro futuro) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Tschechische Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Vereinigtes Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsatz der parliamentary supremacy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ansätze zu einer Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Exkurs: Vereinigte Staaten von Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsatz: Rückwirkung von Nichtigerklärungen . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausnahme: Prospectivity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtsvergleichende Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundmodelle der Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zeitliche Wirkung repressiver Normenkontrollentscheidungen . . . . . . .
20 20 22 22 23 23 25 25 26 26 27 29 29 29 30 31 32 32 34 35 37 37 37 39 39 40 40 42 42 42
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Inhaltsverzeichnis
IV.
3. Ausnahmemöglichkeiten bezüglich der zeitlichen Wirkung . . . . . . . . . 4. Voraussetzungen für eine Ausnahme von der üblichen zeitlichen Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Behandlung von Anlassfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Folgen für die Ausgestaltung einer zeitlichen Beschränkung von Urteilswirkungen im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Rechtsgrundsätze im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Allgemeine Rechtsgrundsätze zur zeitlichen Beschränkung von Urteilswirkungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
C. Die zeitliche Begrenzung von Urteilsfolgen in der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vergleich der einzelnen Urteilsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhalt und Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ex-nunc-Wirkung gemäß Art. 264 Abs. 2 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 ff. AEUV . . . . . . . . . . . 3. Untätigkeitsklage gemäß Art. 265 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV . . . . . . . . . . . . . . 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundlagen der zeitlichen Beschränkung der Urteile in Vorabentscheidungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wichtige Urteile des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II . . . . . . . . . . . . . . . b) Urteile vom 19. Oktober 1977, verb. Rs. 117/76 und 16/77, Ruckdeschel, sowie verb. Rs. 124/76 und 20/77, Moulins & Huileries de Pont-à-Mousson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Urteil vom 27. März 1980, Rs. 61/79, Denkavit Italiana . . . . . . . . . d) Urteil vom 27. März 1980, verb. Rs. 66, 127 und 128/79, Salumi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Urteile vom 15. Oktober 1980, Rs. 4/79, Providence Agricole de la Champagne, Rs. 109/79, Maïseries de Beauce, und Rs. 145/79, Roquette Frères . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 309/85, Barra . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 24/86, Blaizot . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Urteil vom 17. Mai 1990, Rs. C-262/88, Barber . . . . . . . . . . . . . . . . i) Urteil vom 16. Juli 1992, Rs. C-163/90, Legros . . . . . . . . . . . . . . . . j) Urteil vom 4. Mai 1999, Rs. C-262/96, Sürül . . . . . . . . . . . . . . . . . . k) Urteil vom 9. März 2000, Rs. C-437/97, Evangelischer Krankenhausverein Wien (EKW) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l) Urteil vom 3. Oktober 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . m) Urteil vom 6. März 2007, Rs. C-292/04, Meilicke . . . . . . . . . . . . . .
43 45 46 47 47 51 54 55 55 55 57 59 62 63 64 65 65 65
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Inhaltsverzeichnis
III.
2. Auswertung und erste Bewertung der dargestellten Urteile . . . . . . . . . . a) Die aktuelle Dogmatik des EuGH zur zeitlichen Beschränkung der Wirkungen von Vorabentscheidungsurteilen . . . . . . . . . . . . . . . . b) Besonderheiten des Vorlageverfahrens, die eine zeitliche Begrenzung nötig und möglich machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Urteile in Auslegungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Urteile in Ungültigkeitsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Dogmatische Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zeitliche Beschränkung der Wirkung von Auslegungsurteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zeitliche Beschränkung der Wirkung von Ungültigkeitsurteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Grundlegende Kritik an der zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anmaßung legislativer Kompetenzen durch den EuGH . . . . . . bb) Dammbruch-Gefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Effet utile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Vertikale Zuständigkeitsverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Beschneidung des effektiven Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . ff) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verhältnis Bürger–Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Unionsrechtswidrige Zahlungsverpflichtung des Bürgers . (2) Unionsrechtswidrige Nichtzahlung des Staates . . . . . . . . . . (3) Unionsrechtswidrige Leistungen des Staates . . . . . . . . . . . . (4) Unionsrechtswidriges Vorenthalten einer staatlichen Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verhältnis Private–Private . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Unionsrechtswidrige Nichtzahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Unionsrechtswidrige vertragliche Sekundäransprüche . . . . (3) Unionsrechtswidrige Schadensersatzansprüche . . . . . . . . . . (4) Schadensersatzansprüche wegen Verstoßes gegen Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
D. Die Voraussetzungen der Begrenzung der zeitlichen Wirkung im Auslegungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auswirkungen bzw. Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wirtschaftliche Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis 3. Die Störungen sind schwerwiegend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fehlende Konturierung durch bisherige Rechtsprechung . . . . . . . . . b) Bisherige Einzelfallentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Möglichkeit, die wirtschaftlichen Folgen zu quantifizieren . . . . . . . d) Wertende Entscheidung durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der relevante faktische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Kritik am Tatbestandsmerkmal „Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Störungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Guter Glaube bzw. objektive und bedeutende Unsicherheit der Rechtslage 1. Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unsicherheit aufgrund unionsrechtlicher Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . 3. Bedeutende Unsicherheit: Verhalten der EU-Institutionen oder anderer Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhalten der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verhalten des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verhalten anderer EU-Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Verhalten anderer Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Verhalten anderer Privater (Rechtssache Bosman) . . . . . . . . . . . . . . g) Bedeutende Unsicherheit aufgrund dynamischer Rechtsentwicklung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Objektive Unsicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Maßgeblicher Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Kritik am Tatbestandsmerkmal „Guter Glaube“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zum Verhältnis der beiden Tatbestandsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . IV. Abweichende Auffassungen zu den Tatbestandsvoraussetzungen . . . . . . . V. Darlegungs- und Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beibringungsgrundsatz und Darlegungslast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Antrag auf Begrenzung der Urteilsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Antragstellung durch Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Antragstellung durch sonstige Verfahrensbeteiligte . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vorlagefrage des nationalen Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Begrenzung der Urteilsfolgen ohne Antrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Antragsfrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Zusammenfassung: Zum Wesen des „Antrags“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Zeitliche Begrenzung im Urteil selbst enthalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entscheidungshoheit des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Erstmalige Auslegung der einschlägigen Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bewertung im konkreten Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Folgen einer früheren Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Kritik an der Präklusion aufgrund früherer Urteile . . . . . . . . . . . . . . VIII. Einhaltung des Regel-Ausnahmeverhältnisses – eine selbständige Tatbestandsvoraussetzung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Behandlung von Sonderkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zeitliche Beschränkung zur Vermeidung ungerechtfertigter Bereicherungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Berücksichtigung von Regressansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . X. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
164 164 166 169 170
E. Die Rechtsfolgen der Begrenzung der zeitlichen Wirkung im Auslegungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundsatz: ex-tunc-Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Herleitung und Umfang der ex-tunc-Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Weitergehende Folge: Erstattungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Abweichend bestimmter Zeitpunkt der Wirkungen des Urteils . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zeitliche Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Datum der Verkündung des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zeitpunkt in der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zeitpunkt eines den guten Glauben erschütternden Ereignisses . . . d) Datum der Verlesung der Schlussanträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Datum des Urteils in einem vorangegangenen Verfahren . . . . . . . . . f) Datum der Veröffentlichung des Vorlagebeschlusses im Amtsblatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Zeitpunkt für den Beginn der zeitlichen Beschränkung . . . . . . . . . III. Räumlicher Geltungsbereich der Beschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ansatz für eine räumlich beschränkte Wirkung der Urteilsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Begünstigte einer räumlich begrenzten Urteilsbeschränkung . . . . . . . . 3. Unionsweite Wirkung der Beschränkung in der bisherigen Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Territorial begrenzte Beschränkung de lege ferenda? . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rückausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ratio der Rückausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Prüfungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
174 174 174 176 177 179 179 179 182 183 183 185 185 186 192 193 194 196 196 196 197 197 198 199 202 205 205 205 206 207
14
Inhaltsverzeichnis
V.
VI.
4. Voraussetzungen der Rückausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Klage erhoben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Entsprechender Rechtsbehelf eingelegt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtzeitige Einlegung des Rechtsbehelfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Maßgeblicher Anknüpfungspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Datum der Verkündung des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Datum der Verlesung der Schlussanträge . . . . . . . . . . . . . . . (3) Datum der Verkündung des Urteils in einem früheren Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Datum der Veröffentlichung des Vorlagebeschlusses im Amtsblatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) In der Zukunft liegender Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Nicht erforderlich: Berufung auf das Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ermessen des EuGH? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Faktische Rückausnahme durch nationale Verfassungsgrundsätze? . . . 7. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen nationaler Vorschriften zur Bestandskraft oder Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zulässigkeit und Erforderlichkeit nationaler Verfahrensvorschriften . . 2. Grenzen der Zulässigkeit nationaler Verfahrensvorschriften . . . . . . . . . a) Äquivalenzgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Effektivitätsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gezielter Ausschluss der Wirkungen einzelner EuGH-Urteile? . . . 3. Durchbrechung des Anwendungsvorrangs durch mitgliedstaatliche Gerichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenergebnis: Möglichkeiten der Schadensbegrenzung für die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Exkurs: Maßnahmen auf unionsrechtlicher Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
F. Die Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Begrenzung der zeitlichen Wirkung im Ungültigkeitsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundsatz: Rückwirkung der Ungültigkeitsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . III. Besonderheiten bei den Tatbestandsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Folgen des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Guter Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausnahmecharakter der zeitlichen Beschränkung? . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zeitliche Begrenzung im Urteil selbst enthalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Befugnis zur zeitlichen Beschränkung von Amts wegen . . . . . . . . . . . .
208 208 209 210 210 211 211 213 217 218 220 221 221 222 225 226 227 228 229 230 231 234 238 242 243 245 247 247 249 250 251 253 256 257 258
Inhaltsverzeichnis IV.
15
Besonderheiten bei der Rechtsfolgenbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zeitpunkt für den Eintritt der Urteilswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rückausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
259 259 261 263
G. Rechtsökonomische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ökonomische Analyse des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsfolgenanalyse durch Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ökonomische Betrachtung der ex-tunc-Wirkung von Vorabentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ökonomische Folgen des Erstattungsanspruchs und sonstiger Zahlungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wohlfahrtssteigerung als immanentes Ziel der Europäischen Union . . III. Ökonomische Betrachtung der zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ex-post-Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ex-ante-Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verhaltenssteuernde Aspekte in Bezug auf die Mitgliedstaaten . . . b) Verhaltenssteuernde Aspekte in Bezug auf die Individuen in der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
265 265 265 267
V.
H. Alternativen: Die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Stärkere Rücksichtnahme auf die finanziellen Belange der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Unvereinbarerklärung nach dem Vorbild des deutschen Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die „Berliner Erklärung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zweistufiges Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorschlag für ein zweistufiges Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vorteile des zweistufigen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vereinbarkeit mit dem EU-Prozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
268 268 270 271 271 272 272 275 276 277 277 278 279 282 282 283 285 286 288
J. Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 I. Ergebnisse der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 II. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
A. Einleitung Das Vorabentscheidungsverfahren, um das es in der vorliegenden Arbeit geht, ist die wohl wichtigste Verfahrensart vor dem Gerichtshof der Europäischen Union. Jahr für Jahr machen Vorabentscheidungsersuchen etwa die Hälfte der neu beim Gerichtshof (EuGH) eingehenden Rechtssachen aus.1 Meist ersuchen die vorlegenden Gerichte um eine verbindliche Auslegung des Unionsrechts, hin und wieder haben sie auch Zweifel an der Gültigkeit von entscheidungsrelevanten Vorschriften des Sekundärrechts. Die Beantwortung der Vorlagefragen hat eine mehrfache Funktion: Sie klärt zum einen eine Frage für die Zukunft. Behörden und Gerichte sollten im Idealfall bei zukünftigen Anwendungsfällen wissen, wie eine unionsrechtliche Vorschrift auszulegen ist oder ob Sekundärrecht (zumindest unter ausgewählten Gesichtspunkten) wirksam ist oder nicht. Vorabentscheidungsverfahren sind aber keine abstrakten Rechtsgutachten, sondern sie sind eingebettet in ein streitiges Verfahren vor einem nationalen Gericht. In diesem Rahmen klärt die Vorabentscheidung ein in der Vergangenheit liegendes Rechtsverhältnis. Und sie klärt, wie im Einzelnen noch zu zeigen sein wird, aufgrund der faktischen erga-omnesWirkung, die den Vorabentscheidungsurteilen des Gerichtshofs nach ganz herrschender Auffassung zugeschrieben wird, gleich noch en passant alle in der Vergangenheit liegenden parallel gelagerten Fälle mit. An dieser Stelle kann es für die Mitgliedstaaten unangenehm werden. Denn da beim Gerichtshof selten Einzelakte, sondern häufig abstrakte Rechtsvorschriften auf dem Prüfstand stehen, gibt es in der Regel eine große Menge an Parallelfällen, die durch das Vorabentscheidungsurteil mit beeinflusst werden. Sicher geglaubte, bereits verplante oder sogar schon ausgegebene Steuergelder müssen auf einmal wieder zurückgezahlt werden. Sozialansprüche, die man vermeintlich berechtigt zurückgewiesen hatte, bestehen plötzlich aufgrund eines Urteils des EuGH doch, ohne dass Mittel hierfür zurückgestellt worden wären. Konformität mit dem Unionsrecht kann unter diesen Umständen für die Mitgliedstaaten nicht nur lästig, sondern auch sehr teuer sein. Ein paar Zahlenbeispiele aus den letzten Jahren mögen die wirtschaftlichen Dimensionen verdeutlichen: In der Rechtssache Meilicke2 fürchtete die deutsche Bundesregierung, durch das drohende Urteil des Gerichtshofs Rückzahlungen in Höhe von 13 Milliarden Euro (später, nach 1 Siehe Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Hrsg.), Jahresbericht 2008, S. 88. 2 EuGH, Urteil vom 6. März 2007, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835.
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A. Einleitung
Korrektur dieser Zahlen im Verfahren, immerhin noch fünf Milliarden Euro) tätigen zu müssen. Die italienische Regierung ging im parallel verlaufenden Verfahren Banca Popolare di Cremona3 sogar davon aus, bei einem ungünstigen Verfahrensausgang Abgaben in Höhe von 120 Milliarden Euro zurückgewähren zu müssen. Plötzlich auftauchende Forderungen dieser Größenordnung können auch die Staatsfinanzen wirtschaftlich stabiler Mitgliedstaaten der Europäischen Union heftig ins Schlingern bringen. In vereinzelten Fällen, in denen sich unmittelbar anwendbares Unionsrecht auch auf private Rechtsverhältnisse auswirkt, kann ein Urteil des Gerichtshofs eine ähnlich verheerende Auswirkung auf private Unternehmen und ganze Wirtschaftszweige haben, wenn eine weithin und über lange Zeit hinweg angewandte Praxis sich plötzlich als unionsrechtswidrig erweist. Zum Beispiel, wenn ein Unternehmen längere Zeit im Vertrauen auf die Zulässigkeit dieser Praxis männliche und weibliche Arbeitnehmer ungleich entlohnt hat, oder wenn eine Vorschrift des nationalen Zivilrechts, die bisher die potentiellen Schuldner4 von Haftungsansprüchen privilegiert hat, nicht mit dem Unionsrecht zu vereinbaren ist. Diese weitreichenden Auswirkungen sind eine unausweichliche Folge der Rechtsauffassung des Gerichtshofs, dass seine Vorabentscheidungsurteile die Funktion hätten, „zu erläutern und zu verdeutlichen, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite [eine] Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre.“ 5
Und bei strikter Anwendung dieses Grundsatzes hätte es damit auch sein Bewenden. Die im Einzelfall auftretenden schwerwiegenden Folgen für die Mitgliedstaaten wären als „Kollateralschäden“ bei der einheitlichen Durchsetzung des Unionsrechts hinzunehmen. Der EuGH hat jedoch einen anderen Weg eingeschlagen und lässt seit Mitte der siebziger Jahre in Einzelfällen eine Ausnahme von der grundsätzlichen ex-tunc-Wirkung seiner Vorabentscheidungsurteile zu. Diesen Ausnahmefällen widmet sich die vorliegende Arbeit. Dabei soll die Thematik anfangs von verschiedenen Seiten beleuchtet und in den rechtlichen Kontext eingeordnet werden (Abschnitte B. und C.). Handelt es sich um ein Problem, mit dem sich nur der EuGH zu beschäftigen hat, oder ken3 EuGH, Urteil vom 3. Oktober 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373. 4 Sofern im Folgenden im Rahmen von Personenbezeichnungen nur die männliche Form verwandt wird, sollen damit, solange nicht ausdrücklich differenziert wird, sowohl männliche als auch weibliche Mitglieder der entsprechenden Personengruppe bezeichnet werden. Die Beschränkung auf die männliche Form soll ausschließlich der besseren Lesbarkeit dieser Arbeit dienen. 5 So die Formulierung des EuGH, u. a. Urteil vom 15. März 2005, Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119, Rn. 66; Urteil vom 13. Januar 2004, Rs. C-453/00, Kühne & Heitz, Slg. 2004, I-837, Rn. 21.
A. Einleitung
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nen einzelstaatliche Rechtsordnungen vergleichbare Problemlagen? Und wie ist die Problematik in die Tätigkeit des Gerichtshofs einzuordnen? Warum stellt sich gerade im Vorabentscheidungsverfahren die Frage nach der Begrenzung der Urteilswirkungen mit einer solchen Vehemenz? In einem zweiten Schritt (Abschnitte D., E. und F.) steht dann die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Ausgestaltung der zeitlichen Beschränkung seiner Urteilswirkungen auf dem Prüfstand: Welche Voraussetzungen sind nach seiner Auffassung zu erfüllen, und können diese überzeugen? Wie ist die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen auf der Rechtsfolgenseite ausgestaltet, wenn die Hürde der Tatbestandsvoraussetzungen erst einmal genommen ist? In einem dritten und letzten Schritt (Abschnitte G. und H.) soll die hier untersuchte Praxis des Gerichtshofs noch einmal unter besonderen Gesichtspunkten hinterfragt werden. Hierbei werden zum einen rechtsökonomische Aspekte zu untersuchen sein, zum anderen soll der Frage nachgegangen werden, in welche Richtung sich die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkung de lege ferenda entwickeln könnte oder sollte.
B. Die zeitliche Begrenzung von Urteilsfolgen in anderen Rechtsordnungen Die Frage nach den zeitlichen Wirkungen eines Urteils stellt sich nicht nur beim EuGH, sondern grundsätzlich in jeder Rechtsordnung. Immer geht es um einen gerechten Ausgleich zwischen den Erfordernissen der Rechtmäßigkeit auf der einen und der Rechtssicherheit auf der anderen Seite.1 Bevor die Rechtsprechung des EuGH zur zeitlichen Wirkung seiner Urteile – insbesondere seiner Vorabentscheidungsurteile – näher untersucht wird, soll zuvor ein Überblick über die Lage in anderen Rechtsordnungen verschafft werden. Den Schwerpunkt werden dabei die Mitgliedstaaten der Europäischen Union bilden, allerdings soll in einem Exkurs auch ein Blick auf die Rechtsprechung des U.S. Supreme Court zum so genannten „prospective overruling“ geworfen werden, die gerade in den Anfangsjahren der EuGH-Rechtsprechung zur zeitlichen Beschränkung häufig von der Literatur als Vergleichsmaßstab herangezogen wurde.2 Dieser rechtsvergleichende Überblick verfolgt mehrere Zwecke: Zum einen soll gezeigt werden, dass die Frage der zeitlichen Wirkung eines Urteils, durch das die Inkompatibilität einer Norm mit einer höherrangigen Norm festgestellt wird, keineswegs nur den EuGH beschäftigt. Zum anderen sollen die unterschiedlichen Lösungskonzepte für Kollisionen dieser Art dargestellt werden.
I. Vorüberlegungen Am Anfang dieser rechtsvergleichenden Betrachtung muss die Frage stehen, welche Prozessarten zu untersuchen sind. Dabei wird auf Prozessarten mit einer vergleichbaren Funktionalität und Zielsetzung abzustellen sein.3 In seiner konkreten Ausgestaltung dürfte das Vorabentscheidungsverfahren wohl einzigartig sein, in vielen zentralen Punkten kennen die staatlichen Gerichtsverfassungen jedoch ähnliche Verfahren mit einer vergleichbaren Funktion. So wird in der deutschsprachigen Literatur oft auf das Verfahren der konkreten Normenkon-
1 Commissaire du Gouvernement Genevois, Schlussanträge vom 26. Juli 1985 vor dem frz. Conseil d’Etat, ONIC/Société Maïseries de Beauce, Rev. Dr. Trim. Eur. 1986, 145 (157); Simon, in: FS Pescatore, S. 655. 2 Z. B. Waelbroek, Y.E.L. 1 (1981), 115 (118); Wyatt, E.L.Rev. 1 (1976), 399 (401); Alexander, Y.E.L. 8 (1988), 11 (25); Everling, in: FS Börner, S. 71. 3 Zum Kriterium der Funktionalität als Ausgangspunkt der Rechtsvergleichung siehe Zweigert/Kötz, S. 33 ff.
I. Vorüberlegungen
21
trolle vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nach Art. 100 Abs. 1 GG, § 13 Nr. 11 BVerfGG hingewiesen.4 Viele andere Rechtsordnungen kennen ebenfalls Verfahren, in denen Gerichte niedrigeren Ranges im Wege einer Vorlage eine verbindliche Rechtsmeinung eines übergeordneten Gerichts einholen können.5 Für die vorliegende Untersuchung ist allerdings der Charakter einer Vorlage innerhalb einer Gerichtshierarchie gar nicht so entscheidend – viel entscheidender ist die Normhierarchie: Eine Rechtsnorm wird auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigen Vorschriften hin untersucht; im Fall der Unvereinbarkeit stellt sich zwangsläufig die Frage, wie mit dieser Unvereinbarkeit für den bereits verstrichenen Zeitraum der Kollisionslage umgegangen werden soll. Den Gegenstand der folgenden rechtsvergleichenden Untersuchung sollen daher Normenkontrollbzw. -verwerfungsverfahren bilden. Grundlegende Voraussetzung für die hier interessierende zeitliche Wirkung von Normverwerfungsurteilen ist daher, dass die untersuchte Rechtsordnung überhaupt ein Normenkontrollverfahren kennt. Üblicherweise handelt es sich hierbei um Verfahren, mit denen die Vereinbarkeit von Gesetzen und sonstigen Rechtsvorschriften mit der Verfassung und gegebenenfalls völkerrechtlichen Grundsätzen überprüft wird.6 Sofern nach der Verfassung eine Überprüfung von Rechtsvorschriften am Maßstab höherrangiger Normen nicht vorgesehen ist, stellt sich die Frage nach den zeitlichen Wirkungen eines Urteils, durch das eine Norm verworfen wird, gar nicht erst. Ebenso können sich Fragen der zeitlichen Wirkung nur stellen, wenn das nationale Recht eine Überprüfung von Rechtsnormen nach deren Inkrafttreten vorsieht, so dass eine Entscheidung darüber getroffen werden muss, wie mit den Sachverhalten umgegangen werden soll, die in den Zeitraum zwischen Inkrafttreten und Verwerfung einer Norm fallen. Sieht die Rechtsordnung hingegen nur eine dem Inkrafttreten vorgeschaltete Überprüfung vor, während einmal in Kraft getretene Gesetze unüberprüfbar sind (wie das bis vor kurzem noch in Frankreich der Fall war7), erübrigt sich die Frage nach der zeitlichen Wirkung. Es versteht sich von selbst, dass im Rahmen dieser Arbeit nicht die Rechtsordnungen sämtlicher EU-Mitgliedstaaten untersucht werden können.8 Im Übrigen 4 Tomuschat, S. 25; Reichelt, in: Reichelt (Hrsg.), S. 7; Fehling, in: Erbguth/Masing (Hrsg.), S. 97. Auch die Ähnlichkeiten zu dem eher weniger bekannten Normenkontrollverfahren nach Art. 100 Abs. 3 GG, § 13 Nr. 13 BVerfGG, bei dem ein Landesverfassungsgericht dem BVerfG vorlegen muss, wenn es von dessen Auslegung des Grundgesetzes abweichen will, sollten nicht übersehen werden, Tomuschat, S. 25. 5 Vgl. Reichelt, in: Reichelt (Hrsg.), S. 7. 6 Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 1, S. 58. 7 Capitant, in: Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 25. 8 Dieser Aufgabe widmet sich ein umfassendes, knapp 200-seitiges Rechtsgutachten, das vom Bundesministerium der Finanzen in Auftrag gegeben worden ist: Hufen/Nörr
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B. Begrenzung von Urteilsfolgen in anderen Rechtsordnungen
würde eine solche Darstellung wohl auch ausschließlich den Effekt haben, den Leser zu ermüden und zu verschrecken, noch bevor die Rechtsprechung des EuGH, die der eigentliche Gegenstand dieser Arbeit ist, überhaupt untersucht werden konnte. Denn so sehr unterscheiden sich die verfassungsgerichtlichen Systeme der einzelnen Mitgliedstaaten gar nicht, vielmehr wiederholen sich einzelne Muster sehr schnell. In Anbetracht der Tatsache, dass die heutigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ihre jeweiligen Verfassungsgerichte nicht in völliger Isolation aufgestellt, sondern viel voneinander gelernt und übernommen haben,9 kann das nicht verwundern. Daher soll im Folgenden nur eine überschaubare Zahl von Rechtsordnungen dargestellt werden, die exemplarisch die verschiedenen Modelle von Normverwerfungsverfahren mit ihren zeitlichen Wirkungen vor Augen führen, die sich im europäischen Rechtsraum herauskristallisiert haben. (Ein kurzer Exkurs wird sich der US-amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit widmen, die nicht zuletzt aufgrund ihrer langen Rechtsprechungstradition weltweit das Verfassungsrecht in Theorie und Praxis beeinflusst hat und auch immer noch beeinflusst.10) Abschließend ist auf die Frage einzugehen, inwieweit sich aus den Regelungen der EU-Mitgliedstaaten zur zeitlichen Beschränkung von Normverwerfungsurteilen allgemeine Rechtsgrundsätze ergeben, die die Ausgestaltung eines solchen Instituts für die europäische Ebene vorzeichnen.
II. Normenkontrolle und Beschränkung der Urteilswirkungen in einzelnen Rechtsordnungen 1. Deutschland Man muss den Blick nicht weit in die Ferne schweifen lassen, um Beispiele für eine ex tunc wirkende Normverwerfung mit der Möglichkeit der zeitlichen Beschränkung zu finden: Die Rechtsprechung des deutschen BVerfG bietet ein Paradebeispiel hierfür. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass sich das BVerfG einen internationalen Ruf dafür erarbeitet hat, gerne und häufig die zeitlichen Wirkungen seiner Urteile zu beschränken.11 Dieser Ruf hat eine solche Tragkraft, dass sich der angesehene Generalanwalt Jacobs durch ihn sogar dazu inspirieren ließ, entsprechende Reformvorschläge an die Adresse des EuGH zu richten.12 Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), Beschränkung der Urteilswirkungen im Falle der Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Rechtsnormen, Mainz/Berlin 2008. 9 Vgl. Schlaich/Korioth, Rn. 3. 10 Siehe die rechtsvergleichenden Verweise auf den U.S. Supreme Court in BVerfGE 30, 173 (225 f., abw. Meinung der Richterin Rupp-v. Brünneck) (Mephisto); BVerfGE 39, 1 (73 f., abw. Meinung der Richterin Rupp-v. Brünneck und des Richters Simon) (Schwangerschaftsabbruch); BVerfGE 95, 335 (364) (Überhangmandate). 11 Crisham, CMLR 14 (1977), 108 (114); Simon, in: FS Pescatore, S. 655.
II. Normenkontrolle und Beschränkung der Urteilswirkungen
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a) Regelfall: Nichtigerklärung mit Wirkung ex tunc Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz sieht vor, dass das BVerfG ein Gesetz, das nach seiner Überzeugung gegen die Verfassung verstößt, für nichtig erklärt (§§ 78 S. 1, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG). Dies ist die einzige Tenorierungsmöglichkeit mit gesetzlicher Rechtsgrundlage (wobei eine andere Tenorierungsmöglichkeit, die Unvereinbarerklärung, in §§ 31 Abs. 2, 79 Abs. 1 BVerfGG, als vorhanden vorausgesetzt wird;13 dazu sogleich). Die Nichtigkeit wirkt nach herrschender Meinung ex tunc und ipso iure.14 Allerdings hat das BVerfG auch ohne eine besondere gesetzliche Ermächtigung eine Entscheidungsvariante zur Nichtigerklärung entwickelt: die so genannte Unvereinbarerklärung.15 Diese wird jedoch vom BVerfG nur ausnahmsweise verwendet; die Nichtigerklärung stellt somit nach wie vor den Regelfall dar.16 b) Ausnahme: Unvereinbarerklärung mit Wirkung ex tunc oder ex nunc Durch die Unvereinbarerklärung wird die Norm nicht ex tunc nichtig, sondern bleibt zunächst bestehen.17 Allerdings darf sie bis zu ihrer Neuregelung durch den Gesetzgeber (zumindest im Anlassfall und in bereits rechtshängigen Parallelfällen18) nicht mehr angewandt werden; gerichtliche und behördliche Verfahren sind so lange auszusetzen.19 Die Neuregelung hat nach der Rechtsprechung des BVerfG in der Regel so zu erfolgen, dass der verfassungswidrige Zustand auch für in der Vergangenheit liegende Zeiträume beseitigt wird.20 In Zusammenwirkung mit der Anwendungssperre führt das dazu, dass in allen Verfahren, die noch nicht bestands- oder rechtskräftig abgeschlossen worden sind, nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes regelmäßig auch für in der Vergangenheit liegende Fälle die neue (rückwirkende) Rechtslage zugrunde zu legen sein wird. Faktisch haben daher auch Unvereinbarkeitserklärungen eine ex-tunc-Wirkung.21 Allerdings ergibt sich diese nicht wie bei der Nichtigerklärung per se aus dem Urteil des BVerfG, sondern bedarf einer vom BVerfG veranlassten Handlung des Gesetzgebers.
12 Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge vom 17. März 2005, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 86. 13 Schlaich/Korioth, Rn. 397. 14 Zum Streit zwischen der Nichtigkeitslehre und der Vernichtbarkeitslehre siehe Schlaich/Korioth, Rn. 381; Blüggel, S. 137 ff. 15 Zur Nomenklatur siehe Kreutzberger, S. 103; Schlaich/Korioth, Rn. 399 f. 16 Blüggel, S. 30, 88; Yang, S. 21. 17 Blüggel, S. 91 f.; Kreutzberger, S. 155; Schlaich/Korioth, Rn. 424. 18 Schlaich/Korioth, Rn. 413. 19 Blüggel, S. 93. 20 BVerfGE 61, 319 (356 f.); 87, 153 (178). 21 Seer, NJW 1996, 285 (289).
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B. Begrenzung von Urteilsfolgen in anderen Rechtsordnungen
Das BVerfG macht nur in bestimmten Fällen von der Unvereinbarerklärung Gebrauch. Die wichtigste Fallgruppe ist der gleichheitswidrige Ausschluss von einer Begünstigung. Hier bietet sich die vom BVerfG entwickelte Tenorierung an, weil sich der verfassungsgemäße Zustand sowohl durch die Begünstigung der verfassungswidrig ausgeschlossenen Gruppe als auch durch die Streichung der Begünstigung für die andere Gruppe herstellen ließe. Verfassungswidrig sind also weder die Begünstigung noch die Nichtbegünstigung per se, sondern vielmehr das ungleiche Verhältnis zwischen diesen beiden Zuständen.22 Dem Gesetzgeber bleibt überlassen zu entscheiden, wie er den Verstoß beseitigen will.23 Neben den Fällen der willkürlichen Ungleichbehandlung hat das BVerfG später auch bei Freiheitsrechten die Variante der Unvereinbarerklärung gewählt, wenn die Nichtigkeit nicht die einzige Möglichkeit war, einen verfassungsgemäßen Zustand wiederherzustellen.24 Einen weiteren Anwendungsbereich bieten Fälle, in denen nach Ansicht des BVerfG durch die Nichtigerklärung ausnahmsweise nicht der verfassungsgemäße Zustand hergestellt würde,25 sondern vielmehr ein Zustand, der die Verfassungswidrigkeit noch vertiefen würde, anstatt sie zu beseitigen.26 Abweichend von der grundsätzlichen Wirkung der Unvereinbarerklärung, dass das verfassungswidrige Gesetz rückwirkend zu beseitigen ist, nimmt sich das BVerfG in Einzelfällen die Befugnis heraus, die vorübergehende Weiteranwendung des Gesetzes anzuordnen. Hier gibt es wiederum zwei Varianten: Zum einen kann der Gesetzgeber trotz der vorläufigen Weiteranwendung des Gesetzes verpflichtet sein, den verfassungswidrigen Zustand mit Wirkung für die Vergangenheit zu beseitigen.27 Dann wird nur ein Rechtsvakuum für die Zeit zwischen dem Urteil des BVerfG und der Neuregelung verhindert,28 es bleibt aber bei der grundsätzlichen ex-tunc-Wirkung. Zum anderen kann die weitere Anwendung des Gesetzes endgültigen Charakter haben; dem Gesetzgeber wird also nur die verfassungskonforme Änderung der Rechtslage für die Zukunft auferlegt. Diese Variante wählt das BVerfG insbesondere im Bereich des Steuerrechts (einem Rechtsgebiet, das – wie wir noch sehen werden – gerade in jüngerer Zeit beim EuGH für die aufsehenerregendsten Fälle mit Rückwirkungsproblematik gesorgt hat29), da hier die Gesichtspunkte einer verlässlichen Finanz- und Haushaltspla22
Schlaich/Korioth, Rn. 402. BVerfGE 93, 121 (147 f.). 24 Blüggel, S. 60 ff. 25 Blüggel, S. 62 ff.: Dies sei dann der Fall, wenn für Rechtsgüterschutz, den Freiheitsgebrauch oder die Rechtsgüterwahrung ein Mindestbestand an gesetzlichen Normen verfassungsrechtlich erforderlich sei. Ebenso Kreutzberger, S. 109. 26 BVerfGE 33, 303 (347), siehe auch Blüggel, S. 62 ff.; Wernsmann, S. 80. 27 BVerfGE 61, 319 (356 f.); 73, 40 (102); 81, 363 (384); vgl. BVerfGE 48, 327 (340); 87, 114 (137); siehe auch Wernsmann, S. 219. 28 BVerfGE 61, 319 (356). 29 Siehe unten, C. II. 1. k) bis C. II. 1. m). 23
II. Normenkontrolle und Beschränkung der Urteilswirkungen
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nung, insbesondere die Erfordernisse einer periodischen Haushaltsplanung gemäß Art. 110 Abs. 2 GG, einer rückwirkenden Neuregelung entgegenstünden.30 Diese Entwicklung des BVerfG weg von der ex-tunc-Nichtigkeit hin zu einer ex-nunc-Unvereinbarkeit sieht sich durchaus der Kritik der Literatur ausgesetzt. Bereits die Legitimation für die Unvereinbarerklärung wird bestritten.31 Des Weiteren führe der Hinweis auf die haushaltsrechtlichen Konsequenzen dazu, dass gerade das gesetzgeberische Unrecht mit der größten Breitenwirkung ohne Ausgleich bleibe, während der Gesetzgeber bei weniger folgenreichen Verstößen zu einer Korrektur ex tunc verpflichtet werde.32 c) Abgrenzung: Appellentscheidung Zu unterscheiden ist die Unvereinbarerklärung von der so genannten „Appellentscheidung“. Bei ersterer stellt das BVerfG die Verfassungswidrigkeit der untersuchten Norm fest und trifft damit das gleiche Unwerturteil über sie wie bei einer Nichtigerklärung; lediglich die Rechtsfolgen werden abweichend festgelegt. Bei der „Appellentscheidung“ stellt das BVerfG fest, dass eine Norm noch verfassungsgemäß ist; gleichzeitig ist aber der Gesetzgeber aufgerufen, zur Abwendung drohender Verfassungsverstöße einen voll verfassungsmäßigen Zustand herzustellen.33 Hier fehlt also das Unwerturteil, während die Rechtsfolge – Verpflichtung des Gesetzgebers zum Tätigwerden – derjenigen der Unvereinbarerklärung ähnelt. Für die vorliegende Untersuchung ist die Appellentscheidung daher nicht von Interesse: Im Vorabentscheidungsverfahren befasst sich der EuGH nicht mit konkreten nationalen Rechtsnormen, sondern zieht nur abstrakt die Trennlinie zwischen unionsrechtskonformem und unionsrechtswidrigem nationalen Recht; einen „Schuss vor den Bug“ bei gerade noch unionsrechtskonformen nationalen Gesetzen mit einer konkreten Handlungsverpflichtung für die nationalen Gesetzgeber gibt es nicht. d) Zusammenfassung Festzuhalten bleibt, dass Normenkontrollverfahren in Deutschland grundsätzlich mit der Beseitigung der verfassungswidrigen Vorschrift ex tunc enden – sei 30 BVerfGE 87, 153 (178 f.); 91, 186 (187, 207); 93, 121 (122, 148 f.); 93, 165 (166, 178 f.); siehe auch Wernsmann, S. 222; Seer, NJW 1996, 285 (288 f.). 31 Dazu Blüggel, S. 130 mwN. 32 Seer, NJW 1996, 285 (289); Balke, BB 1995, 762 (762). 33 Schlaich/Korioth, Rn. 431; Yang, S. 125; vgl. auch Seer, NJW 1996, 285 (288), der davon ausgeht, dass ein Unterschied zur Unvereinbarerklärung nur der Form nach bestehe, während eigentlich das BVerfG nur aufgrund der Folgen davor zurückschrecke, seine Überzeugung von dem bereits gegenwärtigen Verfassungsverstoß publik zu machen.
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B. Begrenzung von Urteilsfolgen in anderen Rechtsordnungen
es automatisch über die Nichtigerklärung oder durch ein Handeln des Gesetzgebers bei einer Unvereinbarerklärung. Lediglich in Ausnahmefällen, wenn das BVerfG eine Unvereinbarerklärung vorgenommen und in deren Rahmen deutlich gemacht hat, dass der Gesetzgeber nur zu einer Rechtsänderung für die Zukunft verpflichtet ist, hat eine Normverwerfung vor dem BVerfG eine ex-nunc-Wirkung. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine Rechtsänderung ex tunc mit steuerlichen Grundsätzen, die ihrerseits Verfassungsrang haben, in Konflikt geraten würde, eine rückwirkende Änderung also den einen Verfassungsverstoß beseitigen, zugleich aber einen neuen Verstoß kreieren würde. 2. Frankreich In Frankreich ist die Normenkontrolle sowohl durch den Conseil constitutionnel („Verfassungsrat“) als auch durch den Conseil d’Etat (oberstes Verwaltungsgericht) möglich. a) Normenkontrolle durch den Conseil constitutionnel Parlamentsgesetze können nur durch den Conseil constitutionnel auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung hin überprüft werden.34 Dabei sah die Verfassung bis vor kurzem nur eine abstrakt-präventive Kontrolle vor: Der Conseil constitutionnel konnte Gesetze nur vor ihrem Inkrafttreten untersuchen, und zwar je nach Art des Gesetzes automatisch (insbesondere so genannte „lois organiques“, d.h. Gesetze, die die Verfassung näher ausgestalten, Art. 61 Abs. 1 der Verf.) oder nach Anrufung durch ein dazu berufenes Verfassungsorgan.35 Eine Kontrolle einmal in Kraft getretener Gesetze war nicht vorgesehen.36 Dadurch konnte natürlich auch keine Rückwirkungsproblematik entstehen, weil ein Gesetz überhaupt nur dann erstmals angewendet werden konnte, wenn es bereits vom Conseil constitutionnel seinen (endgültigen) Segen erhalten hatte.37 In einigen Fällen, in denen dem Conseil die Verhinderung des Zustandekommens eines Gesetzes nicht opportun erschien, hat er auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit verzichtet und stattdessen dem Gesetzgeber unter Fristsetzung aufgetragen, das Gesetz schnellstmöglich nachzubessern.38 Auf diese Weise verschiebt sich die eigentlich 34
Autexier, Der Staat 15 (1976), 89 (99). Vgl. auch Hübner/Constantinesco, S. 50; Fromont, in: Starck/Weber (Hrsg.), Teilband I, S. 236. 36 Guimezanes, S. 37, 69; Fromont, La Revue Administrative, Numéro spécial 7 – 1999, 36 (39); ders., in: Starck/Weber (Hrsg.), Teilband I, S. 234; Spies, NVwZ 1990, 1040 (1041); Vollmer, S. 63. 37 Vgl. Fromont, in: Starck/Weber (Hrsg.), Teilband I, S. 237. 38 Siehe zum Beispiel Entscheidung Nr. 2003-468 vom 3. April 2003, Loi relative à l’élection des conseillers régionaux et des représentants au Parlement européen ainsi qu’à l’aide publique aux partis politiques, Journal officiel vom 12. April 2003, 6493; 35
II. Normenkontrolle und Beschränkung der Urteilswirkungen
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von der Verfassung vorgesehene sofortige ex-nunc-Unwirksamkeit des Gesetzes noch weiter in die Zukunft. Das französische System der Normenkontrolle hat sich mit der Verfassungsreform vom 23. Juli 200839 grundlegend geändert. Gemäß dem neu eingefügten Art. 61-1 frz. Verf. gibt es nunmehr ein Verfahren der konkreten Normenkontrolle: Die beiden obersten Gerichte (Conseil d’Etat in der Verwaltungsgerichtsbarkeit und Cour de cassation in der ordentlichen Gerichtsbarkeit) können dem Conseil constitutionnel ein Gesetz zur Überprüfung vorlegen, wenn sie Zweifel bezüglich dessen Vereinbarkeit mit der Verfassung haben.40 Kommt der Conseil constitutionnel in einem solchen Verfahren zu dem Schluss, dass das Gesetz verfassungswidrig ist, so wird es durch die Verkündung des Urteils ex nunc abgeschafft; der Conseil kann allerdings hinsichtlich der Frage, ob die bereits eingetretenen Folgen der Bestimmung noch anfechtbar sind, auch einen abweichenden früheren oder späteren Zeitpunkt festlegen (Art. 62 Abs. 2 frz. Verf.). Somit ist grundsätzlich auch eine Rückwirkung der Normverwerfung bis hin zur ex-tuncWirkung möglich.41 Welcher Zeitpunkt hierbei der Regelfall und welcher die Ausnahme sein wird, wird sich erst in den kommenden Jahren durch die Rechtsprechungspraxis des Conseil constitutionnel zeigen können.42 b) Normenkontrolle durch den Conseil d’Etat Eine weitere wichtige Normenkontrollfunktion kommt in Frankreich dem Conseil d’Etat, dem obersten Verwaltungsgericht, zu. Dieser kann die Vereinbarkeit von Rechtsverordnungen und Satzungen mit der Verfassung überprüfen.43 Diese Kompetenz darf in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden, da in Frankreich siehe Capitant, in: Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 28. 39 Loi constitutionnelle n ë 2008-724 du 23 juillet 2008 de modernisation des institutions de la Ve République, Journal Officiel vom 24. Juli 2008, 11890. 40 Siehe hierzu die ausführliche Darstellung von Mbongo, Recueil Dalloz 2008, 2089 ff. Siehe auch Capitant, in: Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 25. 41 Mbongo, Recueil Dalloz 2008, 2089 (2095); Capitant, in: Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 27. 42 Capitant, in: Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 27. 43 Vollmer, S. 7; Hübner/Constantinesco, S. 9; Franzke, Jura 1998, 346 (347); Autexier, Der Staat 15 (1976), 89 (99); Puissochet, Die Verwaltung 15 (1982), 323 (328). Das Verfahren ähnelt insoweit der Inzidentkontrolle untergesetzlicher Rechtsvorschriften vor den deutschen Verwaltungsgerichten, vgl. zu diesem Verfahren Würtenberger, Rn. 438. Bei Parlamentsgesetzen hingegen fühlen sich die französischen Gerichte nach der Doktrin des „loi-écran“ (dt. etwa: „Gesetzestrennwand“) nicht zur Normenkontrolle berufen, ebenso wenig wie zur Kontrolle von Verwaltungsakten oder Gerichtsurteilen, die lediglich auf der Anwendung eines potentiell verfassungswidrigen Gesetzes beruhen, vgl. zum Ganzen Fromont, La Revue Administrative, Numéro spécial 7 – 1999, 36 (42 ff.).
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anders als in Deutschland das Parlament keine umfassende Rechtsetzungskompetenz besitzt. Vielmehr dürfen nur ausgewählte Rechtsmaterien durch Parlamentsgesetze geregelt werden (Art. 34 frz. Verf.44), während alle übrigen Materien von der Exekutive in Rechtsverordnungen („règlements“) geregelt werden (Art. 37 Abs. 1 frz. Verf.).45 Die Prüfungskompetenz des Conseil d’Etat umfasst daher einen Großteil der französischen Gesetzgebung im materiellen Sinne.46 Stellt der Conseil d’Etat in einem solchen Verfahren die Verfassungswidrigkeit einer Verordnung oder Satzung fest, so führt dies zur Nichtigkeit ex tunc.47 In jüngerer Zeit ist der Conseil d’Etat jedoch dazu übergegangen, die Unwirksamkeit der Verordnung oder Satzung erst ex nunc anzuordnen oder gar auf einen in der Zukunft liegenden Zeitpunkt zu verlegen, wenn die Rückwirkung zu „offensichtlich übermäßigen Folgen in Bezug auf die Rechtsfolgen des beanstandeten Aktes“ (frz. „des conséquences manifestement excessives en raison tant des effets que cet acte a produits“) führen würde.48 Hierbei sieht der Conseil d’Etat allerdings eine Ausnahme für zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung bereits vor Gericht anhängige Streitigkeiten vor, die den entsprechenden Rechtsakt zum Gegenstand haben,49 und spricht hierbei zum Teil wörtlich davon, dass er „die Wirkungen der Nichtigkeit zeitlich beschränke“ (frz.: „le Conseil d’Etat limite dans le temps les effets de l’annulation“).50 Eine zeitliche Beschränkung setzt voraus, dass das Gericht zwischen den Konsequenzen der rückwirkenden Nichtigkeit einerseits und den nachteiligen Folgen einer zeitlichen Beschränkung für den Grundsatz der Gesetzlichkeit sowie für die Rechte der Betroffenen andererseits abwägt.51 Eine zeitliche Beschränkung kann darüber hinaus laut Conseil d’Etat nur ausnahmsweise (frz.: „à titre exceptionnel“) ausgesprochen werden.52 44 Wobei der Conseil constitutionnel diese Vorschrift weit auslegt und noch weitere ungeschriebene Regelungsbereiche anerkannt hat, siehe hierzu Fromont, ZfP 1979, 151 (155). 45 Siehe ausführlich Franzke, Jura 1998, 346 (347 f.); Hübner/Constantinesco, S. 8. 46 Insoweit unterscheidet sich die Bedeutung der französischen verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle von der deutschen Inzidentkontrolle. Relativierend zum quantitativen Verhältnis zwischen Gesetz und Verordnung Fromont, ZfP 1979, 151 (155). 47 Capitant, in: Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 28; vgl. auch Conseil d’Etat, Entscheidung vom 11. Mai 2004, Association AC !, N ë 255886. 48 Grundlegend Conseil d’Etat, Entscheidung vom 11. Mai 2004, Association AC !, N ë 255886, insb. Art. 3 des Tenors; siehe auch Capitant, in: Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 28. 49 Siehe zum Beispiel Conseil d’Etat, Entscheidung vom 11. Mai 2004, Association AC !, N ë 255886, insb. Art. 3 des Tenors; Entscheidung vom 25. Februar 2005, France Télécom, N ë 247866, insb. Art. 5 des Tenors. 50 Conseil d’Etat, Entscheidung vom 25. Februar 2005, France Télécom, N ë 247866, insb. Art. 5 des Tenors. 51 Conseil d’Etat, Entscheidung vom 21. Dezember 2006, Union syndicale solidaires fonctions publiques et assimilés, N ë 287812. 52 Conseil d’Etat, Entscheidung vom 21. Dezember 2006, Union syndicale solidaires fonctions publiques et assimilés, N ë 287812.
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c) Zusammenfassung Die französische Rechtsordnung kennt zwei Arten nachträglicher Normenkontrolle: Die neu eingeführte repressive Kontrolle durch den Conseil constitutionnel, die ohnehin nur zur einer Vernichtung des Gesetzes ex nunc führt, sowie die Normenkontrolle durch den Conseil d’Etat und die Verwaltungsgerichte, durch die der angegriffene Rechtsakt (Verordnung, Satzung oder Verwaltungsakt) zwar grundsätzlich ex tunc vernichtet wird, bei der in Ausnahmefällen aber eine Wirkung ex nunc oder sogar ab einem Zeitpunkt in der Zukunft angeordnet werden kann, wenn dies die „übermäßigen Folgen“ gebieten. 3. Österreich In Österreich findet die Normenkontrolle zentral durch den Verfassungsgerichtshof statt; sie umfasst sowohl Parlamentsgesetze als auch Verordnungen, und zwar auf Bundes- wie auf Landesebene. In Gang gesetzt werden kann eine Normenkontrolle zum einen als abstrakte Normenkontrolle auf Antrag bestimmter Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes hin, zum anderen als konkrete Normenkontrolle durch die Vorlage eines Gerichts, aufgrund einer Individualbeschwerde oder im Rahmen einer Inzidentprüfung. a) Grundsatz: Außerkrafttreten verfassungswidriger Normen ex nunc Wenn der Verfassungsgerichtshof eine überprüfte Norm für verfassungswidrig erachtet, hebt er diese im Urteilsspruch auf. Dadurch wird die jeweilige Bundesoder Landesregierung verpflichtet, die Aufhebung kundzugeben. Gemäß Art. 140 Abs. 5 S. 3 Bundesverfassungsgesetz (B-VG) tritt das Gesetz am Tag nach der Kundmachung im Bundes- oder Landesgesetzblatt außer Kraft.53 Österreichische Normenkontrollverfahren führen daher nur zu einer Nichtigkeit ex nunc.54 Bei Normen, die bereits vor der Urteilsverkündung aus anderem Grund außer Kraft getreten sind, stellt der Verfassungsgerichtshof lediglich ihre Verfassungswidrigkeit fest; hier bedarf es keines zusätzlichen Tätigwerdens der Regierung (Art. 140 Abs. 4 B-VG).55 Durch die Verkündung des Außerkrafttretens wird eine verfassungswidrige Norm logischerweise erga omnes unwirksam. Von der Kehrseite der Medaille, 53 Korinek/Martin, in: Starck/Weber (Hrsg.), Teilband I, S. 80; laut Schroeder hebt bereits das Urteil, unabhängig von der späteren Veröffentlichung des actus contrarius, die Rechtsnorm de facto auf; siehe Schroeder, in: Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 62. 54 Berchtold-Ostermann/Schober-Oswald, EuGRZ 2006, 525 (528); Schroeder, in: Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 62. 55 Berchtold-Ostermann/Schober-Oswald, EuGRZ 2006, 525 (528).
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dass bis zu diesem Zeitpunkt die Vorschrift erga omnes wirksam war und bleibt (Art. 140 Abs. 7 S. 2 B-VG), gibt es allerdings eine bedeutende Ausnahme: Auf den „Anlassfall“ ist das verfassungswidrige Gesetz nicht anzuwenden. „Anlassfall“ ist diejenige Rechtssache, die den Verfassungsgerichtshof dazu bewogen hat, ein Normprüfungsverfahren einzuleiten.56 Anlassfall im eigentlichen Sinne kann daher immer nur eine Rechtssache (oder gegebenenfalls mehrere verbundene Rechtssachen) sein. Der Antragsteller des Anlassfalls erhält durch diese Privilegierung eine so genannte „Ergreiferprämie“.57 Um jedoch diejenigen nicht zu benachteiligen, deren Prozesse ebenfalls geeignet gewesen wären, Anlass für die Prüfung durch den Verfassungsgerichtshof zu sein, gilt die Rückwirkung nach ständiger Rechtsprechung auch für diejenigen Verfahren, die vor Beginn der mündlichen Verhandlung oder (im Fall deren Ausbleibens) vor Beginn der nichtöffentlichen mündlichen Beratung bereits beim Verfassungsgerichtshof anhängig waren (sog. Quasi-Anlassfälle).58 Zufällige Umstände im gerichtlichen Geschäftsgang sollen nicht den Betroffenen zur Last fallen.59 Nach der jüngeren Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs muss allerdings der Antrag, der das zugrundeliegende Verwaltungsverfahren eingeleitet hat, bereits gestellt worden sein, bevor der Beschluss über die Normprüfung vom Verfassungsgerichtshof veröffentlicht worden ist.60 Denn ansonsten bestünde – insbesondere wenn zwischen Veröffentlichung des Prüfungsbeschlusses und mündlicher Verhandlung ein längerer Zeitraum verstreicht – die Gefahr, dass selbst solche Verfahren als Anlassfall gewertet würden, die erst aufgrund der Veröffentlichung eingeleitet worden sind und somit in keiner Weise zur Rechtsbereinigung beitragen konnten.61 Mit anderen Worten: Trittbrettfahrer, die aus einer staatlichen Bekanntmachung oder gar aus den Massenmedien entnehmen, dass eine Norm verfassungsrechtlich zweifelhaft ist, und die sich erst dann zur Verfolgung ihrer Rechte entschließen, sollen nicht privilegiert werden. b) Variante: Aufhebungsurteile mit weitergehender Rückwirkung Die Regelung in Art. 140 Abs. 7 S. 2 B-VG (bzw. Art. 139 Abs. 6 S. 2 B-VG für Verordnungen), dass der Anlassfall von der ex-nunc-Wirkung auszunehmen ist, „sofern der Verfassungsgerichtshof nichts [. . .] anderes ausspricht“, wird von 56
Siehe VwGH, Erkenntnis vom 4. Dezember 2003, Gz. 2003/16/0148. Berchtold-Ostermann/Schober-Oswald, EuGRZ 2006, 525 (528); Haller, S. 279; Korinek/Martin, in: Starck/Weber (Hrsg.), Teilband I, S. 78, Fn. 68. 58 Berchtold-Ostermann/Schober-Oswald, EuGRZ 2006, 525 (528); siehe auch VwGH, Erkenntnis vom 4. Dezember 2003, Gz. 2003/16/0148. 59 Grundlegend: VfGH, Erkenntnis vom 22. Juni 1984, Gz. B181/80, VfSlg. 10067/ 1984. 60 VfGH, Erkenntnis vom 15. Oktober 2005, Gz. B844/05, VfSlg. 17687/2005; siehe auch Berchtold-Ostermann/Schober-Oswald, EuGRZ 2006, 525 (528 f.). 61 VfGH, Erkenntnis vom 15. Oktober 2005, Gz. B844/05, VfSlg. 17687/2005. 57
II. Normenkontrolle und Beschränkung der Urteilswirkungen
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der Rechtsprechung nicht nur so verstanden, dass auf die Privilegierung auch verzichtet werden kann, sondern dass auch eine weitergehende Rückwirkung möglich ist. In diesem Fall kann die Anwendung der verfassungswidrigen Norm auch bei solchen in der Vergangenheit liegenden Sachverhalten unterbleiben, die nicht (Quasi-)Anlassfall gewesen sind.62 Dabei kann die Verfassungswidrigkeit nur bei bestimmten Sachverhaltskonstellationen63 oder in allen Fällen zu beachten sein, sie kann nur bei zukünftigen Entscheidungen zu berücksichtigen sein oder auch in der Vergangenheit liegende, sogar rechtskräftig entschiedene Verwaltungssachen in Frage stellen.64 Hinsichtlich des „Ob“ und „Wie“ einer solchen weitergehenden Beschränkung kommt dem Verfassungsgerichtshof ein freies Ermessen zu.65 c) Variante: Aufhebungsurteile mit Wirkung ab einem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt (pro futuro) Das österreichische B-VG sieht des Weiteren die Möglichkeit vor, dass der Verfassungsgerichtshof nach seinem Ermessen66 einen in der Zukunft liegenden Zeitpunkt (sog. pro-futuro-Wirkung67) bestimmen kann, zu dem eine verfassungswidrige Rechtsnorm außer Kraft tritt (Art. 140 Abs. 5 S. 3, 4 B-VG; für Verordnungen Art. 139 Abs. 5 S. 3 B-VG). Die entsprechende Frist kann bis zu 18 Monate (bei Verordnungen grundsätzlich bis zu sechs Monate) betragen; der Regelfall dürften allerdings zwölf Monate sein.68 Bis zum Ablauf der Frist ist das Gesetz weiter anwendbar, wenn es der Gesetzgeber nicht vorher abgeschafft hat.69 Eine Ausnahme ist auch hier wieder für die Anlassfälle zu machen. Zielsetzung einer solchen Frist ist, dass der Gesetzgeber die Zeit haben soll, unter Zugrundelegung der durch das Urteil geschaffenen verfassungsrechtlichen Rah62
Berchtold-Ostermann/Schober-Oswald, EuGRZ 2006, 525 (528 f.); Haller, S. 264. Z. B. VfGH, Erkenntnis vom 10. Dezember 1986, Gz. G167/86, G173/86, G186/ 86 u. a., VfSlg. 11190/1986. 64 Z. B. VfGH, Erkenntnis vom 24. Januar 1997, Gz. G388/96, G389/96, G390/96 u. G391/96, VfSlg. 14723/97. 65 Korinek/Martin, in: Starck/Weber (Hrsg.), Teilband I, S. 78, 80. 66 Korinek/Martin, in: Starck/Weber (Hrsg.), Teilband I, S. 78, 80. 67 Der Terminus pro futuro ist leider missverständlich: „Pro futuro“ bedeutet wörtlich übersetzt „für die Zukunft“, und genau das trifft auch auf die normale exnunc-Wirkung ohne Umsetzungsfrist zu. Passender wäre daher eher „a futuro“, also „von der Zukunft an“. Nichtsdestotrotz hat sich der Gebrauch der Formulierung „pro futuro“ für einen in der Zukunft liegenden Stichtag des Eintritts der Urteilswirkungen durchgesetzt, siehe nur Wiedmann, EuZW 2007, 692 (694); Waldhoff, S. 25; Seer, NJW 1996, 285 (288); ders., in: Lüdicke (Hrsg.), S. 24; Dauses, in: FS Everling, S. 239; Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 1, S. 73. Im Folgenden soll daher auch hier die gebräuchliche Terminologie verwendet werden. 68 Berchtold-Ostermann/Schober-Oswald, EuGRZ 2006, 525 (529). 69 Berchtold-Ostermann/Schober-Oswald, EuGRZ 2006, 525 (529). 63
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B. Begrenzung von Urteilsfolgen in anderen Rechtsordnungen
menbedingungen in Ruhe eine Ersatzregelung schaffen zu können, die auch den politischen Wunschvorstellungen entspricht.70 Ebenfalls anerkannt hat der Verfassungsgerichtshof das Interesse des Staates, keinen Einnahmenausfall durch den plötzlichen Wegfall einer Steuervorschrift zu erleiden.71 Allerdings berücksichtigt der Verfassungsgerichtshof zu Lasten des Gesetzgebers auch, inwieweit dieser zuvor Anlass hatte, die Verfassungswidrigkeit und damit die Notwendigkeit einer Ersatzregelung zu erkennen; wenn ein solcher Anlass gegeben war, wird nur eine – zum Teil deutlich – verkürzte Frist zugestanden.72 d) Zusammenfassung Die österreichische Verfassung führt deutlich vor Augen, dass auch bei einer nachträglichen Normenkontrolle die ex-tunc-Wirkung der Verwerfungsentscheidung keineswegs gottgegeben ist. Insofern kann das B-VG nicht seine bei Hans Kelsen liegenden Wurzeln verleugnen, der bereits aus dogmatischen Gründen nur von der Vernichtbarkeit verfassungswidriger Rechtsnormen ausging.73 Die weitgehende Unantastbarkeit in der Vergangenheit liegender Rechtsverhältnisse zeigt, dass hier die Rechtssicherheit im Vordergrund steht. Dies wird durch die Möglichkeit, den Zeitpunkt der Wirkungen zur Absicherung der Funktionsfähigkeit des Staates in die Zukunft zu verlegen, noch verstärkt. 4. Italien Der italienische Verfassungsgerichtshof, die Corte costituzionale, kann staatliche und regionale Gesetze sowie Vorschriften mit Gesetzeskraft (insbesondere verschiedene Formen von Verordnungen) im Wege eines abstrakten und eines konkreten Normenkontrollverfahrens auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung hin überprüfen.74 In beiden Fällen ist eine Kontrolle nur von bereits in Kraft getretenen Gesetzen möglich.75 Wenn die Corte costituzionale die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes feststellt, führt dies nicht zur Nichtigkeit der entsprechenden Norm, sondern das Gesetz darf lediglich ab dem Tag der Urteilsverkündung nicht mehr angewandt wer70 VfGH, Erkenntnis vom 15. Oktober 1985, Gz. G102/85, G140/85, G141/85 u. a., VfSlg. 10623/1985; vgl. auch Schneider, S. 29; Haller, S. 252. 71 VfGH, Erkenntnis vom 14. März 1991, Gz. G148/90, G149/90, G150/90 u. a., VfSlg. 12689/1991. 72 VfGH, Erkenntnis vom 14. Dezember 1992, Gz. G209/92 u. G210/92, VfSlg. 13305/1992; Erkenntnis vom 14. Oktober 1992, Gz. G8/92, VfSlg. 13227/1992. 73 Schneider, S. 28; Schlaich/Korioth, Rn. 379. 74 Art. 134 Abs. 1 ital. Verf.; siehe auch Kindler, § 4, Rn. 75. 75 Castorina, in: Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 42; Stoy-Schnell, S. 177.
II. Normenkontrolle und Beschränkung der Urteilswirkungen
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den.76 Dies klingt auf den ersten Blick nach einer ex-nunc-Unwirksamkeit, ist es aber nicht. Denn entscheidend ist hierbei nicht der Zeitpunkt des betroffenen Sachverhalts, sondern der Entscheidung.77 Daher ist das verfassungswidrige Gesetz auch in solchen noch schwebenden Verfahren nicht mehr anzuwenden, deren zugrunde liegende Sachverhalte zeitlich noch vor der Normverwerfung durch die Corte costituzionale liegen.78 Abgewickelte Verträge, bestandskräftige Verwaltungsakte und rechtskräftige Urteile werden hingegen nicht mehr in Frage gestellt, verjährte Ansprüche leben nicht neu auf.79 Insofern ist die Urteilswirkung weder als eine echte ex-tunc- noch als eine ex nunc-Wirkung einzuordnen; den Urteilen kommt aber durchaus Rückwirkung zu.80 Dabei wird die Bedeutung dieser Rückwirkung durch die tendenziell lange Dauer italienischer Gerichtsverfahren verstärkt, aufgrund derer oft auch lange zurückliegende Sachverhalte noch nicht rechtskräftig geklärt worden sind.81 Die Corte costituzionale hat in ihrer Rechtsprechung Ausnahmen von dieser weitgehenden Rückwirkung entwickelt. Zum einen hat der Verfassungsgerichtshof den Zeitraum der Rückwirkung beschränkt, indem er feststellte, dass die Unvereinbarkeit einer Norm nicht bereits von ihrem Inkrafttreten an bestanden habe, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt entstanden sei. Diese so genannte „incostituzionalità sopravvenuta“ („überholende Verfassungswidrigkeit“) kann auf unterschiedliche Stichtage abstellen, zu denen die bislang verfassungskonforme Rechtslage verfassungswidrig wurde. Ein möglicher Stichtag ist das Datum der Verkündung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung selbst – in diesem Fall wird die Rückwirkung komplett ausgeschlossen.82 Allerdings ist der Stichtag für den Eintritt der Urteilswirkungen nicht immer identisch mit dem Eintritt der Kollisionslage. Denn teilweise stellt die Corte costituzionale auch auf einen separaten Zeitpunkt ab – der Umfang der Rückwirkung wird hier unabhängig von der verfassungsrechtlichen Kollisionslage im Wege der Abwägung bestimmt.83
76 Art. 30 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 87 vom 11. März 1953, G.U. 14. März 1953, Nr. 62. 77 Stuth/Siclari, EuGRZ 1989, 389 (391); missverständlich Castorina, in: Hufen/ Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 42. 78 Luther, in: Starck/Weber (Hrsg.), Teilband I, S. 157; Stoy-Schnell, S. 159; Castorina, in: Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 43; Blasberg, S. 18. 79 Stoy-Schnell, S. 159; Blasberg, S. 19. 80 Stuth/Siclari, EuGRZ 1989, 389 (391 f.); vgl. auch Luther, in: Starck/Weber (Hrsg.), Teilband I, S. 157. Die genaue Einordnung der Urteilswirkungen ist umstritten; dieser Streit soll hier nicht näher vertieft werden. Weitere Nachweise finden sich bei Stoy-Schnell, S. 158, Fn. 495. 81 Stuth/Siclari, EuGRZ 1989, 389 (392). 82 Stuth/Siclari, EuGRZ 1989, 389 (393). 83 Blasberg, S. 204.
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B. Begrenzung von Urteilsfolgen in anderen Rechtsordnungen
Daneben gibt es Urteile des italienischen Verfassungsgerichtshofs, in denen er die Weitergeltung verfassungswidriger Gesetze anordnete, um dem Gesetzgeber die verfassungskonforme Reparatur zu ermöglichen.84 Auf diese Weise verfährt die Corte costituzionale insbesondere in Fällen, in denen dem Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten zur Behebung des Verfassungsverstoßes offenstehen.85 Ein ähnliches Vorgehen wählte sie, wenn anderenfalls durch den Wegfall der Norm bis zu einer Neuregelung eine nicht hinnehmbare Gesetzeslücke entstanden wäre.86 Schließlich sind noch die Mahnungsentscheidungen („sentenze monito“) zu erwähnen, bei denen die Corte costituzionale eine Gesetzeslage für vorübergehend noch verfassungsgemäß erklärt und den Gesetzgeber zu einer rundum verfassungskonformen Neuregelung auffordert.87 Auffallend bei diesen drei Fallgruppen ist die Ähnlichkeit zu den Unvereinbarerklärungen und Appellentscheidungen des deutschen BVerfG.88 5. Spanien Die Rechtslage in Spanien weist ebenfalls deutliche Parallelen zu der in Deutschland auf:89 Der spanische Tribunal Constitucional (Verfassungsgericht) kann die Vereinbarkeit von Gesetzen sowie von Rechtsnormen mit Gesetzesrang (also Gesetze im materiellen Sinne90) mit der Verfassung im Wege eines abstrakten („recurso de inconstitucionalidad“) oder eines konkreten („cuestión de inconstitutionalidad“) Normenkontrollverfahrens überprüfen (Art. 161 Abs. 1 lit. a, 163 span. Verf.). Andere Akte der öffentlichen Gewalt können auch im Rahmen einer Individualverfassungsbeschwerde auf den Prüfstand kommen (Art. 161 Abs. 1 lit. b span. Verf.). Dabei werden oft inzident auch die zugrundeliegenden Normen überprüft; kommt der erkennende Senat im Rahmen der Verfassungsbeschwerde zu dem Ergebnis, dass die angewandte Norm verfassungswidrig sei, legt er diese Vorschrift dem Plenum zur Normenkontrolle vor (Art. 55 Abs. 2 Ley orgánica del Tribunal Constitucional, im Folgenden: LOTC, so genannte „autocuestión de inconstitutionalidad“).91 84
Blasberg, S. 205. Castorina, in: Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 48. 86 Castorina, in: Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 49. 87 Castorina, in: Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 48 f.; Stoy-Schnell, S. 172 f.; Blasberg, S. 71 f. 88 Siehe dazu die obige Darstellung unter B. II. 1. b); vgl. auch Stuth/Siclari, EuGRZ 1989, 389 (394); Kindler, § 4, Rn. 76. 89 Die Lehre geht davon aus, dass die spanische Verfassung in vielerlei Punkten an das deutsche Grundgesetz angelehnt ist, siehe hierzu Knaak, S. 30 ff. 90 Gonzàles-Varas Ibañez, in: Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 84. 85
II. Normenkontrolle und Beschränkung der Urteilswirkungen
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Urteile des Tribunal Constitucional in Normenkontrollverfahren haben eine Wirkung erga omnes (Art. 164 Abs. 1 S. 3 span. Verf.: „plenos efectos frente a todos“, dt. „allgemeine Bindungswirkung“ 92). Gemäß Art. 39 Abs. 1 LOTC werden verfassungswidrige Normen für nichtig erklärt. Wie sich im Umkehrschluss aus Art. 40 Abs. 1 LOTC ergibt, der die Folgen für rechtskräftig abgeschlossene Verfahren regelt, versteht die spanische Rechtsordnung hierunter die Nichtigkeit ex tunc.93 Rechtskräftig abgeschlossene Verfahren werden allerdings nicht mehr in Frage gestellt, lediglich Straf- und Ordnungswidrigkeitsverfahren sind wieder aufzunehmen, wenn der Wegfall der Norm zu einer verbesserten Rechtslage des Verurteilten führt. Wie das deutsche BVerfG hat auch der Tribunal Constitucional die Urteilsvariante der Unvereinbarerklärung entwickelt, um im Einzelfall die Folgen einer strikten ex-tunc-Wirkung vermeiden zu können.94 Hiervon macht er insbesondere dann Gebrauch, wenn dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Behebung der verfassungswidrigen Rechtslage offenstehen (weil sich die Verfassungswidrigkeit nicht aus der Existenz, sondern aus dem Fehlen einer Regelung ergibt) oder wenn eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes vorliegt.95 Auch drohende besondere Rechtsfolgen im Einzelfall, insbesondere erhebliche finanzielle Folgen für die Staatskasse, werden berücksichtigt.96 In seltenen Einzelfällen hat der Tribunal Constitucional darüber hinaus den Eintritt der Urteilswirkungen in die Zukunft verschoben, ohne allerdings dem Gesetzgeber eine ausdrückliche Frist für die Bereinigung der Rechtslage zu setzen.97 6. Tschechische Republik Die Tschechische Verfassung verfügt über ein System der konzentrierten Normenkontrolle beim Verfassungsgericht, dem „Ústavní soud“. Dieses entscheidet 91 Ausführlich Brückner, S. 25 ff.; A. Weber, JÖR 34 (1985), 245 (265); siehe auch ders., in: Horn/Weber (Hrsg.), S. 75; Llorente, in: Starck/Weber (Hrsg.), Teilband I, S. 188 f. 92 Siehe die Übersetzung in Starck/Weber (Hrsg.), Teilband II, S. 301. 93 Grau, S. 107; Merino-Blanco, S. 100; Llorente, in: Starck/Weber (Hrsg.), Teilband I, S. 177; Knaak, S. 152; A. Weber, in: Horn/Weber (Hrsg.), S. 73; ders., JÖR 34 (1985), 245 (266); Gonzàles-Varas Ibañez, in: Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 86; a. A. Sommermann, S. 327. 94 Grundlegend: Tribunal Constitucional, STC 45/1989, abgedruckt in: EuGRZ 1989, 438 (440); siehe auch Grau, S. 109 ff.; Knaak, S. 161 ff.; Merino-Blanco, S. 100; Brückner, S. 130. 95 Gonzàles-Varas Ibañez, in: Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 87 ff. 96 Grau, S. 112 ff.; Gonzàles-Varas Ibañez, in: Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 89. 97 Gonzàles-Varas Ibañez, in: Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 87, 89; siehe auch Knaak, S. 161 f.
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B. Begrenzung von Urteilsfolgen in anderen Rechtsordnungen
im Rahmen abstrakter und konkreter Normenkontrollen sowie Verfassungsbeschwerden. Die Verwerfung einer Norm ist laut Art. 82 Abs. 2 der tschechischen Verfassung98 allgemeinverbindlich, hat also erga omnes Wirkung. Interessant ist nun die zeitliche Wirkung des Normverwerfungsurteils: Nach § 70 des tschechischen Verfassungsgerichtsgesetzes (tschech. VerfGG) entscheidet das Verfassungsgericht im Fall der Unvereinbarkeit mit der Verfassung „durch Urteil, dass ein solches Gesetz (. . .) an einem Tag außer Kraft tritt, den es im Urteil bestimmt.“ 99
Das Urteil enthält damit keinen reinen Feststellungs-, sondern einen das verfassungswidrige Gesetz vernichtenden Gestaltungsausspruch.100 Was den Zeitpunkt angeht, zu dem das Gesetz vernichtet wird, scheint das Verfassungsgericht nach dem oben angeführten Wortlaut nach freiem Ermessen zwischen einer Aufhebung ex tunc, ex nunc oder pro futuro entscheiden zu können.101 Freilich sieht § 58 Abs. 1 tschech. VerfGG vor, dass regelmäßiger Stichtag der Tag nach der Veröffentlichung des Urteils sein soll.102 Im Übrigen hat sich das Verfassungsgericht bei der Bestimmung des Stichtags selbst eingeschränkt: Eine Rückwirkung der Entscheidung sieht es als Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip an,103 so dass es als frühesten Zeitpunkt des Außerkrafttretens eines verfassungswidrigen Gesetzes den Tag der Verkündung des Urteils (anstelle des Tages nach der Veröffentlichung) bestimmen kann.104 Eine Verlegung des Zeitpunkts in die Zukunft kommt hingegen durchaus vor, wobei das Verfassungsgericht von einer Grenze für die Verschiebung dieses Zeitpunkts von 18 Monaten ausgeht105 (und damit wohl dem österreichischen Modell folgt106). Als Grund für eine solche pro-futuro-Wirkung hat das Verfassungsgericht insbesondere anerkannt, dass dem Gesetzgeber ein ausreichender Zeitraum für die Neuregelung verbleiben soll; Gesetzeslücken, die dadurch entstehen, dass die alte Regelung außer Kraft tritt, bevor die neue Regelung fertig ist, sollen vermieden werden.107 In diesem Bestreben geht das Verfassungsgericht so weit, dass es bei der Bemessung der Frist sogar 98
Deutsche Übersetzung in: Kimmel/Kimmel (Hrsg.), S. 831 ff. Deutsche Übersetzung in: Luchterhandt/Starck/Weber (Hrsg.), Teilband II, S. 298. 100 Cremer, in: Frowein/Marauhn (Hrsg.), S. 323; Brunner, in: Brunner/Hofmann/ Holländer (Hrsg.), S. 74; Kovarˇík, S. 77. 101 Brunner, in: Brunner/Hofmann/Holländer (Hrsg.), S. 74. 102 Vgl. Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 92. 103 Kovar ˇ ík, S. 76. 104 Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 92. 105 Holländer, in: Brunner/Hofmann/Holländer (Hrsg.), S. 21; Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 92. 106 Brunner, in: Brunner/Hofmann/Holländer (Hrsg.), S. 74; zum sog. Österreichischen Modell siehe oben B. II. 3. c). 107 Holländer, in: Brunner/Hofmann/Holländer (Hrsg.), S. 21; Kovar ˇ ík, S. 77. 99
II. Normenkontrolle und Beschränkung der Urteilswirkungen
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die aktuelle Auslastung des Parlaments in seine Erwägungen mit einbezieht.108 Auch eine Bedrohung der Staatsfinanzen hat das Verfassungsgericht als hinreichenden Grund für die Anordnung einer pro-futuro-Wirkung anerkannt.109 7. Vereinigtes Königreich Die Situation im Vereinigten Königreich unterscheidet sich in mehreren Punkten deutlich von jener in den bisher analysierten Rechtsordnungen. So fehlt es bereits an einer geschriebenen Verfassung. Es gibt auch kein Verfassungsgericht;110 eine Normenkontrolle könnte daher – wenn überhaupt – nur dezentral bei den ordentlichen Gerichten, Verwaltungsgerichten oder gar den Behörden stattfinden. a) Grundsatz der parliamentary supremacy Gewissermaßen der zentrale Bestandteil der ungeschriebenen britischen Verfassung ist der Grundsatz der „parliamentary supremacy“.111 Dieser Grundsatz besagt, dass das Parlament nach der britischen Verfassung das Recht hat, jedwedes Gesetz zu erlassen oder aufzuheben, und dass keine andere Person oder Körperschaft berechtigt ist, vom Parlament erlassene Gesetze aufzuheben oder außer Acht zu lassen.112 Dementsprechend kennt die englische Verfassung grundsätzlich auch keine Normenhierarchie – ein jedes vom Parlament verabschiedete Gesetz könnte jedes beliebige frühere Recht, auch Verfassungsrecht, verdrängen113 – und keine Kontrolle von Gesetzen an höherrangigen Normen durch die Gerichte.114 b) Ansätze zu einer Normenkontrolle Von dieser historisch entwickelten Abneigung der britischen Juristen gegen eine „anmaßende“ Kontrolle von Parlamentsgesetzen sind in den letzten Jahren Abweichungen zu beobachten. So wird in der Literatur eine gerichtliche Gesetzeskontrolle in Bezug auf Formfragen („as to manner and form“) zunehmend bejaht.115 Die Gerichte sollten in der Lage sein zu überprüfen, ob ein Parlaments108 Kovar ˇ ík, S. 77; Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 92 f. 109 Holländer, in: Brunner/Hofmann/Holländer (Hrsg.), S. 21. 110 H. Weber, S. 6; Dicey, S. 161. 111 Verbeet, S. 42 f.; H. Weber, S. 2; Prakke, in: Prakke/Kortmann (Hrsg.), S. 870; Lyall, S. 67; Barnett, S. 151. 112 Grundlegend: Dicey, S. 161; siehe auch Barnett, S. 164; Verbeet, S. 43. 113 H. Weber, S. 6; ders., in: Kastendiek/Sturm (Hrsg.), S. 167. 114 H. Weber, S. 6. 115 Vgl. Vollmer, S. 47 ff.; einige Gerichte des Commonwealth haben diese Auffassung ebenfalls vertreten, die Anwendung im Vereinigten Königreich ist allerdings nach
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B. Begrenzung von Urteilsfolgen in anderen Rechtsordnungen
gesetz überhaupt wirksam zustande gekommen sei. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass es zwar keine höherrangige Verfassung gibt, dass aber die wesentlichen Vorschriften für das Gesetzgebungsverfahren dem Gesetz denklogisch vorgehen.116 Anderenfalls sei das Gesetz von Anfang an als niemals zustande gekommen zu betrachten. Insofern kommt dieser Form der Normverwerfung eine ex-tunc-Wirkung zu. Eine Abweichung von dieser Rückwirkung haben die britischen Gerichte bisher nicht vorgenommen.117 Auch einen Vorrang des EU-Rechts hat das britische Recht inzwischen anerkannt. Für die britische Rechtstradition war das eine große Herausforderung: Zwar konnte der britische Gesetzgeber auch vor dem Hintergrund der „parliamentary supremacy“ ohne weiteres durch den „European Communities Act 1972“ festlegen, dass der mit dem Beitritt zur Gemeinschaft übernommene gemeinschaftsrechtliche „acquis communautaire“ Anwendungsvorrang vor älteren britischen Gesetzen genoss.118 Mit Vorschriften, die nach dem Beitritt am 1. Januar 1973 erlassen wurden, müsste sich der britische Gesetzgeber nach einem klassischen Verständnis der „supremacy“ des Parlaments allerdings problemlos über ältere EU-Normen hinwegsetzen können.119 Dennoch haben die britischen Gerichte inzwischen anerkannt, dass auch vom britischen Parlament erlassene Gesetze vollumfänglich dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts unterliegen und daher, wenn die Unionsrechtswidrigkeit feststeht oder vom EuGH im Wege der Vorabentscheidung festgestellt worden ist, nicht angewandt werden dürfen. Insoweit kommt den Gerichten also in diesem Bereich eine – eng begrenzte – Form der Normenkontrolle zu.120 Die zeitlichen Wirkungen folgen hierbei zwangsläufig den Feststellungen des EuGH: Grundsatz ist daher die Unanwendbarkeit seit Beginn der Kollisionslage, sofern nicht der EuGH die Wirkungen seines Urteils zeitlich beschränkt hat. Eine weitere wichtige Entwicklung hat der „Human Rights Act“ von 1998 mit sich gebracht: Gemäß Section 4 HRA können höhere Gerichte (nach ihrem Ermessen121) feststellen, dass ein Gesetz gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Eine Verwerfungskompetenz hat das Gericht bezüglich parlamentarischer Gesetze allerdings nicht, vielmehr eröffnet seine Feststellung nur ein beschleunigtes Verfahren zur Gesetzesänderung.122 Die gerichtlichen Prüwie vor umstritten, Pollard/Parpworth/Hughes, S. 43; Parpworth, S. 67; Strotmann, S. 73. 116 Vollmer, S. 47. 117 Arnold, in: Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 2, S. 100. 118 Verbeet, S. 45. 119 H. Weber, S. 10. 120 Verbeet, S. 46; Strotmann, S. 116; mit Einschränkungen: Pollard/Parpworth/ Hughes, S. 46; H. Weber, in: Kastendiek/Sturm (Hrsg.), S. 168. 121 Lyall, S. 82. 122 Verbeet, S. 54 f.; Strotmann, S. 128 ff.
II. Normenkontrolle und Beschränkung der Urteilswirkungen
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fungskompetenzen dienen also in erster Linie der Aufdeckung von Kollisionen.123 Für untergesetzliche Normen wird allerdings eine Verwerfungskompetenz angenommen, da hier der Grundsatz der „parliamentary supremacy“ nicht gilt (vgl. Section 3 Subsection 2 HRA).124 Da das Gesetz nicht vom Gericht selbst verworfen, sondern nur von der Regierung und dem Parlament im Wege des erwähnten beschleunigten Verfahrens aufgehoben werden kann, kommt eine zeitliche Modifikation der Urteilswirkungen nicht in Betracht. c) Zusammenfassung Die Rechtslage im Vereinigten Königreich zeigt, dass die Existenz einer gerichtlichen Normenkontrolle auch in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist, und dass ein solches Institut sogar von den juristischen Fachkreisen in höchstem Maße misstrauisch beäugt werden kann.125 Die britische Rechtsordnung sieht eine gerichtliche Normenkontrolle nur in ganz eng umgrenzten Ausnahmefällen vor. Den Gerichten darüber hinaus auch noch die Kompetenz zuzuweisen, selbst über den zeitlichen Rahmen einer Normverwerfung zu entscheiden, kommt daher gar nicht erst in Frage. 8. Exkurs: Vereinigte Staaten von Amerika In den Vereinigten Staaten von Amerika hat die gerichtliche Normenkontrolle eine sehr lange Tradition: Bereits im Jahre 1789 ermächtigte der „Judiciary Act“ den U.S. Supreme Court dazu, Gesetze der Bundesstaaten auf ihre Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung hin zu überprüfen.126 Daneben hat der U.S. Supreme Court in der grundlegenden Entscheidung Marbury v. Madison die eigene Befugnis zur verfassungsrechtlichen Überprüfung von Bundesgesetzen entwickelt,127 allerdings nur in Form einer Inzidentkontrolle. Eine abstrakte Normenkontrolle gibt es nicht.128 Das Recht zur Indizentkontrolle steht grundsätzlich nicht nur dem U.S. Supreme Court, sondern auch allen anderen Gerichten zu, wobei der U.S. Supreme Court nichtsdestotrotz die höchste und letztentscheidende Autorität in Verfassungsfragen darstellt.129 Systeme mit dezentraler Normenkontrolle ordnet man deshalb auch dem „amerikanischen System“ zu, dem das so genannte
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Strotmann, S. 129; Lyall, S. 67, 82. Verbeet, S. 59; Grote, ZaöRV 1998, 309 (341). 125 Vgl. Verbeet, S. 40 ff. 126 Hay, S. 24; vgl. Section 25 des Judiciary Act von 1789. 127 U.S. Supreme Court, Marbury v. Madison, 5 U.S. 137 (178); Brugger, JuS 2003, 320 (322 ff.). 128 Kau, S. 264. 129 Kauper, in: Mosler (Hrsg.), S. 574, 582 f.; Kau, S. 267. 124
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B. Begrenzung von Urteilsfolgen in anderen Rechtsordnungen
„österreichische System“ mit einem zentralen Verfassungsgerichtshof, bei dem die Normenkontrolle monopolisiert ist, entgegengestellt ist. a) Grundsatz: Rückwirkung von Nichtigerklärungen Die Wirkung von Normverwerfungsurteilen des U.S. Supreme Court (und der anderen Bundesgerichte) ist in den Vereinigten Staaten traditionell umstritten. Ein Teil von Rechtsprechung und Literatur geht von der Nichtigkeit verfassungswidriger Normen aus, der andere Teil nimmt nur deren Unanwendbarkeit im vorliegenden Fall an.130 Selbst im zuletzt genannten Fall sind die Wirkungen jedoch weitreichend, da die unteren Gerichte die Entscheidungen der oberen Gerichte und insbesondere des U.S. Supreme Court gemäß dem Grundsatz „stare decisis“ (lat. „bei früheren Entscheidungen bleiben“) zu beachten haben, jedenfalls soweit die rechtlichen Feststellungen des Präzedenzfalles auf ihren jeweils zu entscheidenden Fall übertragbar sind. Somit hat das ursprüngliche Urteil über die Verfassungswidrigkeit trotz seiner grundsätzlichen Beschränkung auf den vorliegenden Fall durchaus Auswirkungen auf zahlreiche parallel gelagerte Fälle. In dieser Konstellation stellt sich die Frage nach der zeitlichen Wirkung des Normverwerfungsurteils. Dabei geht die amerikanische Rechtsprechung grundsätzlich von der vollen Rückwirkung, der „full retroactivity“, aus.131 In der Vergangenheit liegende, noch nicht rechtskräftig entschiedene Fälle müssen demnach genauso unter Missachtung des für verfassungswidrig erkannten Gesetzes entschieden werden wie in der Zukunft liegende Fälle.132 Dieses Prinzip wird auch heute noch weitgehend als ein zentraler Grundsatz der „rule of law“ des „common law“ angesehen.133 b) Ausnahme: Prospectivity Für einzelne Fallgruppen hat die amerikanische Rechtsprechung, allen voran der U.S. Supreme Court, in jüngerer Zeit jedoch Ausnahmen vorgesehen. Dabei wurde anerkannt, dass der traditionelle Ansatz der „full retroactivity“ in Einzel130
Vgl. Tribe, S. 213 ff. Brugger, S. 27. 132 Siehe zum Beispiel U.S. Supreme Court, Robinson v. Neil, 409 U.S. 505 (507); Harper v. Virginia Dept. of Taxation, 509 U.S. 86 (94); siehe auch ausführlich die concurring opinion von Justice Scalia in: U.S. Supreme Court, Harper v. Virginia Dept. of Taxation, 509 U.S. 86 (106 ff.). 133 Berühmtheit erlangte die Äußerung von Justice Holmes, „Judicial decisions have had retrospective operation for near a thousand years.“, siehe U.S. Supreme Court, Kuhn v. Fairmont Coal Co., 215 U.S. 349 (372) (dissenting opinion); siehe auch Fisch, 110 Harv. L. Rev. (1996/97), 1055 (1059); Shannon, Harvard JLPP 26 (2003), 811 (812); Justice Scalia in: U.S. Supreme Court, Harper v. Virginia Dept. of Taxation, 509 U.S. 86 (106 ff.) (concurring opinion). 131
II. Normenkontrolle und Beschränkung der Urteilswirkungen
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fällen zu unerwünschten Härten führen kann. Dies ist einerseits im Strafrecht der Fall, wo Verurteilungen, die noch auf einem früheren Verfassungsverständnis basieren (das kann insbesondere Verfahrensfehler betreffen), nicht mehr weiter vollstreckt werden.134 Für den Bereich des Zivilrechts hat der U.S. Supreme Court ebenfalls einen Ansatz zur ex-nunc-Wirkung („prospectivity“ oder „prospective overruling“) im Einzelfall ausgearbeitet: Nach dem so genannten „Chevron-OilTest“ durfte vom Grundsatz der Rückwirkung dann abgewichen werden, wenn durch das Urteil ein neuer Rechtssatz aufgestellt wurde (entweder durch Abweichen von früherer Rechtspraxis oder durch erstmalige Beantwortung einer Rechtsfrage) und wenn eine Abwägung mit den Zielen der in Frage stehenden Rechtsregel und den Folgen der Rückwirkung, insbesondere durch sie verursachte Ungerechtigkeiten und Härten, für eine bloß in die Zukunft gerichtete Anwendung sprach.135 Als solche Härten hat der U.S. Supreme Court zum Beispiel auch eine unbillige Belastung der Finanzen eines Bundesstaats anerkannt, durch die die gegenwärtigen Aktivitäten und zukünftigen Pläne in Frage gestellt worden wären, die dieser Staat im Vertrauen auf eine Steuerregelung gemacht hatte.136 Allerdings ist festzustellen, dass sich die Rechtsprechung des U.S. Supreme Court zur zeitlichen Wirkung seiner Urteile nach wie vor im Fluss befindet. Die Blütezeit, in der dieses Gericht überhaupt seine Fähigkeit zu Urteilen mit „prospectivity“ entdeckte, lag in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.137 Dabei wurde auch die Möglichkeit einer „pure prospectivity“ in Erwägung gezogen und in Einzelfällen angewandt. „Pure prospectivity“ bedeutet, dass die neue Rechtsregel nur in zukünftigen Fällen angewandt werden darf, also selbst die Parteien im aktuellen Fall nicht von dem Urteil profitieren können.138 In jüngerer Zeit scheint der U.S. Supreme Court jedoch mehr und mehr Abstand von ex nunc wirkenden Urteilen zu nehmen. Im Bereich des Strafrechts bekennt er sich inzwischen deutlich zu einer strikten Rückwirkung,139 in zivilrechtlichen Fällen scheint der U.S. Supreme Court sich diese Möglichkeit allerdings noch offen zu halten. Der derzeitige Stand der amerikanischen Rechtsprechung zur „non-retroactivity“ lässt sich nicht genau bestimmen, solange der U.S. Supreme Court die Lage nicht endgültig geklärt hat.140
134
U.S. Supreme Court, Linkletter v. Walker, 381 U.S. 618 (628). U.S. Supreme Court, Chevron Oil Co. v. Huson, 404 U.S. 97 (106 f.). 136 U.S. Supreme Court, American Trucking Associations, Inc. v. Smith, 496 U.S. 167 (182 f.). 137 Shannon, Harvard JLPP 26 (2003), 811 (833). 138 So in U.S. Supreme Court, Chevron Oil Co. v. Huson, 404 U.S. 97 (106 f.); vgl. Alexander, Y.E.L. 8 (1988), 11 (16); vgl. auch Ciochon, Hastings L.J. 43 (1992), 419 (425). 139 U.S. Supreme Court, Griffith v. Kentucky, 479 U.S. 314 (322); siehe auch Shannon, Harvard JLPP 26 (2003), 811 (820 f.). 140 Fisch, Harv. L. Rev. 110 (1996/97), 1055 (1060). 135
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B. Begrenzung von Urteilsfolgen in anderen Rechtsordnungen
III. Rechtsvergleichende Auswertung Ein umfassender Vergleich der Rechtslage in allen EU-Mitgliedstaaten kann aus den genannten Gründen nicht erfolgen. Die dargestellte Auswahl sollte aber geeignet sein, einige allgemeine Probleme und ihre verschiedenen Lösungsansätze in einzelstaatlichen Rechtsordnungen aufzuzeigen. 1. Grundmodelle der Normenkontrolle Der Rechtsvergleich zeigt, dass es insgesamt drei Grundmodelle der Normenkontrolle gibt: Weit verbreitet sind Spielarten der beiden ersten Modelle, der abstrakten und der konkreten repressiven Normenkontrolle, also der Normenkontrolle nach Inkrafttreten der Vorschrift.141 Das dritte Grundmodell, die präventive Kontrolle noch nicht in Kraft getretener Vorschriften, stellt eher die Ausnahme dar. (Sie ist per definitionem abstrakt, da eine Rechtsnorm vor ihrem Inkrafttreten noch keine konkreten Streitfälle hervorrufen kann.) Eine weitere Möglichkeit der Kategorisierung bestünde darin, eine Unterscheidung vorzunehmen nach konzentrierter Normenkontrolle, bei der nur ein zentrales Verfassungsgericht zur Normverwerfung befugt ist, und nach diffuser Normenkontrolle, bei der alle Gerichte im Rahmen der bei ihnen anhängigen Verfahren befugt sind, die anzuwendenden Normen nicht nur auf ihre Verfassungskonformität hin zu überprüfen, sondern sie im Ernstfall auch unangewendet zu lassen.142 Dieser subjektive Aspekt,143 welchen Gerichten die Kontrollkompetenz zukommt, hat jedoch keine unmittelbare Auswirkung auf die zeitlichen Wirkungen der Urteile. Für die vorliegende Untersuchung kann diese Differenzierung daher vernachlässigt werden. 2. Zeitliche Wirkung repressiver Normenkontrollentscheidungen In den hier untersuchten Rechtsordnungen lassen sich drei verschiedene Modelle zeitlicher Wirkung ausmachen: Urteile mit ex-tunc-Wirkung (Deutschland, Spanien und mit Einschränkungen Italien sowie außerhalb Europas in den Vereinigten Staaten), mit ex-nunc-Wirkung (Österreich und seit neuestem Frankreich) und mit Wirkung pro futuro (möglich in Österreich und der Tschechischen Republik). Die ex-tunc-Nichtigkeit, die von der Mehrheit der deutschen Verfassungslehre aufgrund der Nichtigkeitslehre als logisch zwangsnotwendig betrachtet wird, erscheint daher bei rechtsvergleichender Betrachtung gar nicht mehr so selbstverständlich. Rein quantitativ sind die Staaten mit grundsätzlicher ex-tunc141
Vgl. Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 1, S. 58. Cappelletti/Ritterspach, JöR 20 (1971), 65 (82); Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 1, S. 58 ff. 143 Cappelletti/Ritterspach, JöR 20 (1971), 65 (81 ff.). 142
III. Rechtsvergleichende Auswertung
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Wirkung von Normverwerfungen in der europäischen Union sogar in der Minderheit: Neben den hier untersuchten Staaten Deutschland, Italien (wo bereits keine reine ex-tunc-Wirkung gilt) und Spanien gehen nur noch das belgische, estnische, irische und portugiesische Verfassungsprozessrecht von einer ex-tunc-Wirkung aus.144 Hingegen haben sich Bulgarien, Frankreich, Griechenland, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Österreich, Polen, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern für eine Vernichtung verfassungswidriger Normen ex nunc entschieden.145 Auffällig ist hierbei, dass die Verfassungen der jungen Demokratien in Osteuropa fast ausnahmslos die ex-nunc-Nichtigkeit verfassungswidriger Normen gewählt haben, so dass der Trend eher weg von der rückwirkenden Vernichtbarkeit zu gehen scheint.146 3. Ausnahmemöglichkeiten bezüglich der zeitlichen Wirkung Bei der Entscheidung zwischen ex-tunc- und ex-nunc-Wirkung von Normverwerfungsurteilen handelt es sich in der Regel nicht um eine absolute, sondern lediglich um eine „Grundsatzentscheidung“ im besten juristischen Sinne des Wortes: Die meisten Gerichte können nämlich sowohl Urteile mit ex-tunc- als auch mit ex-nunc-Wirkung fällen; der Hauptunterschied besteht darin, welches der Regelfall und welches die Ausnahme ist.147 So ist zum Beispiel in Deutschland, Italien, Spanien und den USA eine Verlegung der Wirkungen des Urteils auf den Urteilszeitpunkt oder gar in die Zukunft möglich. Auch die französischen Verwaltungsgerichte können, wenn sie untergesetzliche Normen auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung hin überprüfen, den Zeitpunkt der Urteilswirkungen in die Gegenwart oder gar in die Zukunft (pro-futuro-Wirkung) verlegen. In Österreich wiederum, wo eine Normverwerfung grundsätzlich nur zur Nichtigkeit ex nunc führt, ist sowohl die Anordnung weiterreichender Rückwirkung möglich, wodurch sich die Urteilswirkungen sehr der ex-tunc-Variante annähern, als auch die Verlegung in die Zukunft durch Fristsetzung an den Gesetzgeber. In der tschechischen Republik wiederum ist das Verfassungsgericht bereits von Verfassungs wegen relativ frei in der Bestimmung des Zeitpunkts, zu dem die Nichtigkeit eintritt. Bei alledem ist zu unterscheiden: Zum einen gibt es die Möglichkeiten einer echten, d.h. ausdrücklichen Verschiebung des Wirkungszeitpunkts der Nichtigerklärung (so zum Beispiel die Nichtigkeit ab einem in der Zukunft 144
Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 1, S. 70. Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 1, S. 71. 146 Brunner, in: Brunner/Hofmann/Holländer (Hrsg.), S. 74; Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 1, S. 81. 147 Kokott/Henze, NJW 2006, 177 (180); Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 1, S. 72; anders hingegen in Tschechien, wo die Verfassung dem Gericht gleich freie Hand bei der Ausgestaltung der zeitlichen Wirkungen des Urteils lässt, siehe oben B. II. 6. 145
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B. Begrenzung von Urteilsfolgen in anderen Rechtsordnungen
liegenden Zeitpunkt nach dem österreichischen B-VG), zum anderen gibt es aber auch die eher versteckte, mittelbare Verschiebung des Eintritts der Urteilswirkungen durch einen abweichenden Tenor. In die zweite Fallgruppe fällt zum Beispiel die Unvereinbarerklärung durch das deutsche BVerfG, da hier die Folge der ex-tunc-Nichtigkeit vermieden wird, indem auf die Nichtigerklärung gänzlich verzichtet wird.148 Derartige Umgehungsmaßnahmen finden sich nur in solchen Rechtsordnungen, in denen sich die Gerichte zu einer Abmilderung der eigentlich rückwirkenden Urteilswirkungen durch Richterrecht gezwungen sahen (Deutschland, Spanien und Italien). Offensichtlich wird es als ein weniger starker Eingriff in die von der Legislative geschaffene schriftliche Rechtsordnung gesehen, eine neue Tenorierungsart zu entwickeln, zu deren Rechtsfolgen der Gesetzgeber sich zwangsläufig nicht äußern konnte, als sich über bereits bestehende Rechtsfolgenanordnungen (wie zum Beispiel die in § 78 BVerfGG, dessen Rechtsfolge jedenfalls die Anhänger der Nichtigkeitslehre als zwingend ansehen) hinwegzusetzen. Diese Ausnahmemöglichkeiten sind teilweise direkt von der Verfassung oder den jeweiligen Gesetzen über die Verfassungsgerichtsbarkeit vorgesehen (zum Beispiel in Frankreich und Österreich). Wo dies nicht der Fall ist, haben die jeweiligen Verfassungsgerichte sich selbst die Kompetenz zu einer abweichenden Rechtsfolgenentscheidung zugesprochen (so etwa in Deutschland, Italien und Spanien).149 Trotz dieser unterschiedlichen Ausgestaltungen im Einzelnen lässt sich eines verallgemeinernd feststellen: Jegliche repressive Normenkontrolle löst ein Dilemma bezüglich der zeitlichen Wirkungen ihrer Normenentscheidungen aus. Die Lösung über die ex-tunc-Nichtigkeit gibt der materiellen Gerechtigkeit den Vorzug, indem auch in der Vergangenheit liegende Rechtsverhältnisse nach der nun für richtig erkannten Rechtslage beurteilt werden. Die ex-nunc-Lösung hingegen betont die Rechtssicherheit, da niemand befürchten muss, dass die bis dato zugrundegelegte Rechtslage durch zukünftige Urteile massiv umgestaltet wird. Eine „richtige“ Lösung kann es in diesem Dilemma nicht geben. Dies zeigen die mannigfaltigen Ausnahmemöglichkeiten in den hier untersuchten Rechtsordnungen (wie auch in allen übrigen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union150). Denn für welche der beiden Lösungen auch immer eine Rechtsordnung sich entschieden hat, die Rechtsanwender werden zwangsläufig mit einzelnen Fällen konfrontiert sein, in denen die gewählte Lösung unbillig erscheint. Der Drang, auch für diese Fälle eine angemessene Lösung zu finden, ist immerhin groß genug, dass auch die Verfassungsgerichte in Ländern mit einem traditionell umfassend kodifizierten Recht (Deutschland, Italien, Spanien) 148 149 150
Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 1, S. 78. Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 1, S. 82. Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 1, S. 72 ff.
III. Rechtsvergleichende Auswertung
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zum dort untypischen Mittel der richterlichen Rechtsfortbildung greifen, um die empfundenen Unbilligkeiten zu bereinigen. 4. Voraussetzungen für eine Ausnahme von der üblichen zeitlichen Wirkung Wo Rechtsordnungen ein Regel-/Ausnahmeverhältnis vorsehen, müssen typischerweise gute Gründe vorliegen, damit die Ausnahme zur Anwendung kommen kann. Daher haben auch die hier dargestellten Verfassungsrechtsordnungen besondere Voraussetzungen entwickelt, die erfüllt sein müssen, damit eine Abweichung von der eigentlich „normalen“ zeitlichen Wirkung möglich wird. Die Voraussetzungen bieten dabei immer auch zugleich den Grund, das Motiv für die Ausnahme. Ein weit verbreitetes Motiv für eine Abweichung von der üblichen zeitlichen Wirkung ist der Respekt vor dem Gesetzgeber bzw. die Wahrung der Gewaltenteilung (so zum Beispiel in Deutschland, Österreich, Italien und Spanien151). Da dem Gesetzgeber hier immer ein gewisser Zeitraum zur Anpassung der Rechtsvorschriften gewährt werden muss, ist eine mehr oder weniger deutliche Verlagerung der Wirkung in die Zukunft notwendig. Insofern findet sich dieser Gesichtspunkt zum Beispiel auch in der Rechtsprechung des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs, wenn er von der üblichen und für vergangene Rechtsverhältnisse ohnehin schon sehr „schonenden“ ex-nunc-Wirkung zur pro-futuroWirkung übergehen will. Seine stärkste Berücksichtigung findet dieser Respekt vor der Gewaltenteilung im Vereinigten Königreich: Hier wird der Grundsatz der „parliamentary sovereignty“ so hoch gehalten, dass es (fast) überhaupt keine gerichtliche Normenkontrolle gibt.152 Eng mit der Rücksichtnahme auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers verbunden ist der Aspekt, dass die Entstehung von Regelungslücken vermieden werden soll (so zum Beispiel in Deutschland, Österreich, Italien und Spanien). Dies ist insbesondere ein wichtiges Argument, um den Zeitpunkt der Nichtigkeit vom Zeitpunkt des Urteils, der für den Schutz der in der Vergangenheit liegenden Rechtsverhältnisse ausreichen würde, in die Zukunft zu verlegen. Ein weiterer verbreiteter Grund für die Verschiebung der zeitlichen Wirkung ist die Wahrung wichtiger staatlicher, vor allem finanzieller Interessen. So versuchen zum Beispiel die Gerichte in Deutschland, Frankreich, Österreich, Spanien, Tschechien und den Vereinigten Staaten, eine Rückwirkung zu vermeiden, wenn dies die Funktionsfähigkeit der staatlichen Verwaltung, insbesondere unter dem 151 Das BMF-Gutachten geht davon aus, dass sich dieser Aspekt in den Verfassungsordnungen von 18 der 27 Mitgliedstaaten wiederfinden lässt, Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 1, S. 88. 152 Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 1, S. 89.
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B. Begrenzung von Urteilsfolgen in anderen Rechtsordnungen
Aspekt ihrer finanziellen Planungssicherheit, beeinträchtigen würde. Anders als bei den bisher genannten Voraussetzungen kommen hier allerdings auch Fragen der Schutzwürdigkeit ins Spiel. So berücksichtigt der österreichische Verfassungsgerichtshof bei der Bemessung der von ihm gesetzten Umsetzungsfrist, inwieweit der Staat vor Erlass des Urteils Grund dazu hatte, sich auf den Erlass einer Ersatzregelung einzustellen. Auch der U.S. Supreme Court schützt die finanziellen Interessen des Staates nur insoweit, als dieser auf den Bestand einer Steuervorschrift vertrauen durfte. Hier finden sich Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes wieder, bei denen ebenfalls die Schutzwürdigkeit zu berücksichtigen ist. 5. Behandlung von Anlassfällen Es gibt eine letzte Gemeinsamkeit der hier untersuchten Regelungen zur zeitlichen Wirkung von Normverwerfungsurteilen: Viele der hier behandelten Rechtsordnungen berücksichtigen, dass nicht alle in der Vergangenheit liegenden Fälle über einen Kamm geschoren werden dürfen. So sind grundsätzlich bereits rechtsoder bestandskräftig abgeschlossene Verfahren von der ex-tunc-Wirkung von Normverwerfungsurteilen ausgenommen. Umgekehrt wirkt sich eine Beschränkung der Urteilswirkungen durch den Conseil d’Etat in Frankreich nicht auf bereits schwebende Verfahren, denen die fragliche Regelung zugrundeliegt, aus. Ebenso sind der so genannte Anlassfall und die Quasi-Anlassfälle in Österreich von der ex-nunc-Wirkung des Urteils ausgenommen, d.h. hier entfaltet die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs ausnahmsweise Rückwirkung. Auch in Deutschland wird die Leistung derjenigen, die sich bereits um die Verfolgung ihrer Rechte gekümmert haben, honoriert, indem im Rahmen der Unvereinbarerklärung festgelegt wird, dass die Verfahren im Anlassfall und in Parallelfällen auszusetzen sind, bis der Gesetzgeber eine Neuregelung getroffen hat. In Italien werden Anlassfälle gewissermaßen beiläufig begünstigt, weil nach der dort geltenden Regelung in allen noch anhängigen Verfahren ohnehin die neue, von der Corte costituzionale festgestellte Rechtslage zugrundezulegen ist. Es sollte allerdings nicht übersehen werden, dass auch die Begünstigung der Betroffenen in den Anlassfällen kein unumstößlicher Rechtsgrundsatz ist. So kennt zum Beispiel die US-amerikanische Rechtsprechung auch eine Anordnung der „pure prospectivity“, bei der nicht einmal diejenigen, die sich rechtzeitig um die Verfolgung ihrer Rechte gekümmert haben, davon profitieren können, dass der U.S. Supreme Court ihnen Recht gibt. Trotz dieser Abweichungen lässt sich sagen, dass es insgesamt eine Tendenz gibt, in den Fällen, in denen – sei es als Normalfall oder im Wege einer Ausnahme – keine ex-tunc-Wirkung eintritt, diejenigen von der neuen Rechtsprechung profitieren zu lassen, die in der Vergangenheit bereits die Rechtsverfolgung aufgenommen haben.
IV. Folgen für Ausgestaltung von Urteilswirkungen im Unionsrecht
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IV. Folgen für die Ausgestaltung einer zeitlichen Beschränkung von Urteilswirkungen im Unionsrecht Der vorangegangene Rechtsvergleich ist keineswegs bloß eine juristische Fingerübung zur Einrahmung des Themas dieser Arbeit in einen internationalen, rechtsvergleichenden Kontext. Denn eng verknüpft mit der Existenz und Ausgestaltung der zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkung in den Mitgliedstaaten ist die Frage, inwieweit dadurch die Existenz und möglicherweise sogar die konkrete Ausgestaltung dieses Instituts im Unionsrecht vorgegeben werden. Das Recht der Europäischen Union und die nationalen Rechtsordnungen stehen nicht einfach nebeneinander, sondern sind Bestandteile eines Mehrebenensystems, dessen einzelne Ebenen eng miteinander verzahnt sind. Das Unionsrecht wirkt auf die nationalen Rechtsordnungen ein, und umgekehrt wirken auch die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten auf das Unionsrecht ein. Die Einwirkung des nationalen Rechts auf das Unionsrecht geschieht insbesondere in Form der sogenannten allgemeinen Rechtsgrundsätze, ungeschriebenen Quellen des Unionsrechts, die sich aus einem Vergleich des nationalen Rechts in den einzelnen Mitgliedstaaten ergeben.153 1. Allgemeine Rechtsgrundsätze im Unionsrecht Die europäischen Gerichte erkennen in ständiger Rechtsprechung sogenannte „allgemeine Rechtsgrundsätze“ als ungeschriebene Rechtsquelle des Gemeinschaftsrechts bzw. nunmehr des Unionsrechts an.154 Der Gerichtshof geht von seiner Pflicht zur Entwicklung und Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze aus, weil er sich sonst dem Vorwurf der Rechtsverweigerung aussetze;155 darüber hinaus finden sich keine näheren Angaben zum Geltungsgrund der Grundsätze in der Rechtsprechung.156 In der Literatur wird vor dem Hintergrund dieser eher schwachen Argumentation auch Art. 220 Abs. 1 EG als normativer Anknüpfungspunkt herangezogen, der zwischen „Recht“ und „Vertrag“ unterscheide, also ungeschriebene Rechtsquellen voraussetze.157 Eine entsprechende Regelung 153 Bleckmann, NVwZ 1993, 824 (825); Steyns, S. 55 f.; Brenner, Die Verwaltung 1998, 1 (11). 154 Grundlegend: EuGH, Urteil vom 12. Juli 1957, verb. Rs. 7/56 und 3/57 bis 7/57, Algera u. a., Slg. 1957, 85 (118); Urteil vom 17. Dezember 1970, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125, Rn. 4; siehe auch Zieger, J.ö.R. N.F. 22 (1973), 299 (352). 155 EuGH, Urteil vom 12. Juli 1957, verb. Rs. 7/56 und 3/57 bis 7/57, Algera u. a., Slg. 1957, 85 (118). 156 Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 19 EUV, Fn. 146. 157 Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU/EG, Art. 220 EG, Rn. 18; Krück, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), EUV/EGV, 5. Auflage, Art. 164 EGV, Rn. 25 f.; kritisch: Huep, S. 223.
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B. Begrenzung von Urteilsfolgen in anderen Rechtsordnungen
findet sich in Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV in der Fassung des Vertrags von Lissabon, so dass nach dieser Ansicht nunmehr diese Vorschrift maßgeblich sein dürfte. Letztlich soll die Frage des Geltungsgrundes hier jedoch nicht weiter vertieft werden, da das Institut der allgemeinen Rechtsgrundsätze allgemein anerkannt ist und seit langem der Praxis des Gerichtshofs der Europäischen Union entspricht. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze werden im Wege „wertender Rechtsvergleichung“ aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, insbesondere aus ihren Verfassungstraditionen, hergeleitet.158 Im Wege der wertenden Rechtsvergleichung hat der EuGH bisher vor allem Grundrechte, grundlegende Verfassungsprinzipien wie das Rechtsstaatsprinzip und einige Grundsätze des Verwaltungsverfahrens aus den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen abgeleitet. 159 Aber auch Prinzipien unterhalb der Ebene des Verfassungsrechts können einen allgemeinen Rechtsgrundsatz begründen.160 Für die vorliegende Arbeit von Interesse ist, dass der Gerichtshof auch sein eigenes Prozessrecht mit Hilfe allgemeiner Rechtsgrundsätze fortentwickelt, zum Beispiel im Hinblick auf Fragen der Verjährung oder der Betroffenenheit durch eine objektive Rechtsverletzung.161 Insoweit erscheint es auch denkbar, dass nationale Regelungen zur zeitlichen Wirkung von Normverwerfungsurteilen als allgemeine Rechtsgrundsätze in das Prozessrecht zum Vorabentscheidungsverfahren Eingang finden. Das eigentliche Verfahren der „wertenden Rechtsvergleichung“ ist allerdings von der Rechtsprechung bisher so gut wie nicht konkretisiert worden.162 Letztendlich geht es dabei um die Suche nach der für das Unionsrecht besten Lösung.163 Dies setzt voraus, dass zur Lösung eines Rechtsproblems überhaupt ein Rückgriff auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen notwendig ist, das Unionsrecht also in dieser Hinsicht eine regelungsbedürftige Lücke aufweist.164 Ist die Existenz einer solchen Lücke zu bejahen, kann im Wege der Rechtsvergleichung ermittelt werden, wie die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen das 158 Generalanwalt Roemer, Schlussanträge vom 13. Juli 1971, Rs. 5/71, Zuckerfabrik Schöppenstedt/Rat, Slg. 1971, 975 (996); ders., Schlussanträge vom 31. Oktober 1972, Rs. 18/70, X/Rat, Slg. 1972, 1205 (1215 ff.); siehe auch Generalanwalt Gand, Schlussanträge vom 19. April 1967, verb. Rs. 5, 7, 13 bis 24/66, Kampffmeyer u. a./Kommission, Slg. 1967, 331 (367); Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 19 EUV, Rn. 36; Lindemann, S. 34. 159 Für eine Übersicht der Fallgruppen allgemeiner Rechtsgrundsätze siehe Bleckmann, § 8, Rn. 595 ff. 160 Vgl. Rengeling, VVDStRL 53 (1993), 202 (217); Herdegen, § 8, Rn. 15. 161 Bleckmann, § 8, Rn. 599. 162 Bleckmann, NVwZ 1993, 824 (827). 163 Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), EU-Recht, nach Art. 6 EUV, Rn. 20; Zieger, J.ö.R. N.F. 22 (1973), 299 (347); Zweigert, RabelsZ 28 (1964), 601 (611). 164 Steyns, S. 56; auf die zweite wichtige Funktion der allgemeinen Rechtsgrundsätze als Auslegungshilfe für geschriebenes Recht soll hier nicht weiter eingegangen werden, siehe hierzu Lecheler, ZEuS 2003, 337 (347 f.).
IV. Folgen für Ausgestaltung von Urteilswirkungen im Unionsrecht
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vorliegende Problem lösen. Dabei werden in der Regel – und mit fortschreitender Vergrößerung der Europäischen Union in zunehmendem Maße165 – die einzelnen Rechtssysteme unterschiedliche Lösungswege aufzeigen. An dieser Stelle kommt die „Wertung“ im Rahmen der wertenden Rechtsvergleichung ins Spiel, die es ermöglicht, auch aus widersprüchlichen Lösungen einen allgemeinen Rechtsgrundsatz zu entwickeln.166 Vorzugswürdig ist dann diejenige Lösung aus den Mitgliedstaaten, die sich am besten mit den Vertragszielen der Europäischen Union und ihren rechtlichen Eigenarten vereinbaren lässt. Soweit eine Entwicklungstendenz in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen auszumachen ist, bietet es sich an, auf die fortschrittlichste Lösung abzustellen, die gewissermaßen die Speerspitze dieser Entwicklung darstellt.167 Nicht erforderlich ist, dass ein Rechtsgrundsatz von allen Mitgliedstaaten anerkannt wird.168 In einigen Fällen hat es der Gerichtshof sogar ausreichen lassen, wenn ein Prinzip in einigen wenigen (allerdings großen) Mitgliedstaaten anerkannt war und in den meisten Mitgliedstaaten nicht.169 Selbst wenn ein Rechtsgrundsatz in seinen groben Zügen in den meisten oder gar allen Mitgliedstaaten anerkannt ist, werden sich Unterschiede im Detail kaum vermeiden lassen. Hier kommt dem Gerichtshof ein gehöriger Ermessensspielraum dahingehend zu, auf welche einzelstaatliche Lösung er zur Ausfüllung dieser Details abstellt.170 Letztlich sind die Grenzen zwischen Rechtsfindung und richterlicher Rechtsfortbildung im Rahmen der allgemeinen Rechtsgrundsätze fließend. Grundlegende Ansätze lassen sich zwar tatsächlich aus den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ableiten; um zu einer handhabbaren Lösung für den Einzelfall zu gelangen, kann der Gerichtshof allerdings nicht umhinkommen, selbst kreativ tätig zu werden und aus der Vielzahl unterschiedlicher und teilweise sogar widerstreitender Lösungen eine Auswahl zu treffen, die er gegebenenfalls unter Berücksichtigung der Besonderheiten des EU-Rechts noch einmal abwandeln muss.171
165 Insofern ist die Mitte der Achtziger Jahre von Lindemann geäußerte Auffassung, dass im Gemeinschaftsrecht anders als im Völkerrecht aufgrund der limitierten Anzahl von Mitgliedstaaten aufgrund derer gemeinsamen Rechtstradition durchaus mit Übereinstimmungen selbst in Detailfragen zu rechnen sei, in der heutigen Union mit 27 Mitgliedstaaten deutlich skeptischer zu sehen; vgl. Lindemann, S. 35; siehe auch bereits Akehurst, BYIL 52 (1981), 29 (35). 166 Bleckmann, in: GS Constantinesco, S. 71. 167 Steyns, S. 56. 168 Generalanwalt Roemer, Schlussanträge vom 13. Juli 1971, Rs. 5/71, Zuckerfabrik Schöppenstedt/Rat, Slg. 1971, 975 (996); Zieger, J.ö.R. N.F. 22 (1973), 299 (352); Steyns, S. 58. 169 Bleckmann, § 8, Rn. 605. 170 Akehurst, BYIL 52 (1981), 29 (39); Zieger, J.ö.R. N. F. 22, 299 (349). 171 Akehurst, BYIL 52 (1981), 29 (39); vgl. auch Bleckmann, in: GS Constantinesco, S. 71.
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B. Begrenzung von Urteilsfolgen in anderen Rechtsordnungen
Wenn sich mithilfe der wertenden Rechtsvergleichung eine Lücke im geschriebenen Unionsrecht füllen lässt, dann stellt sich die Frage, inwieweit die Unionsgerichte an diese Lösung gebunden sind. Müssen sie dann zwingendermaßen einen entsprechenden allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts feststellen und anwenden? Oder kommt ihnen ein Ermessensspielraum zu, inwieweit dieser mitgliedstaatliche Grundsatz auf die Unionsrechtsordnung übertragen werden kann oder sollte? In der Literatur wird teilweise vertreten, dass eine in allen Mitgliedstaaten übereinstimmende Regelung die Gerichte zur Übernahme dieses Rechtssatzes in einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts verpflichte.172 Andere Stimmen gehen sogar davon aus, dass bereits eine in der Mehrheit der Mitgliedstaaten vorgesehene Regelung eine Pflicht zur Rezeption als allgemeiner Rechtsgrundsatz begründe.173 Die Gerichte selbst haben sich hingegen bisher nicht dazu geäußert, ob sie die Rechtsgrundsätze der nationalen Rechtsordnungen als bindend oder eher als eine Quelle unverbindlicher Gestaltungsvorschläge ansehen. Letztlich kann es jedoch nicht im völligen Belieben des Gerichtshofs stehen, ob er eine Lösung eines Rechtsproblems, die in allen oder vielen Mitgliedstaaten als maßgeblich angesehen wird und zu der es im geschriebenen Unionsrecht keine ausdrücklichen Regelungen gibt, als ungeschriebenen Rechtsgrundsatz übernimmt oder nicht. Das ist die Kehrseite dessen, dass der Gerichtshof diese Grundsätze als ungeschriebene Rechtsquelle des Unionsrechts ansieht. Zumindest in der Theorie bestehen daher die allgemeinen Rechtsgrundsätze – jedenfalls in ihrem Kerngehalt – ohne Zutun des Richters, sie werden von ihm nicht geschaffen, sondern entdeckt und angewandt.174 Und da sie als Rechtsquellen genauso Bestandteil der objektiven Rechtsordnung sind wie das geschriebene Primär- und Sekundärrecht, kommt dem Richter auch kein Ermessen zu, ob er einen allgemeinen Rechtsgrundsatz anwendet oder nicht. In der Praxis wird sich jedoch die Verpflichtung des Gerichtshofs, bestimmte Rechtsinstitute ins ungeschriebene Unionsrecht zu übernehmen, in engen Grenzen halten. Denn der Fall, dass ein Rechtsgrundsatz sich so offensichtlich aus den nationalen Rechtsordnungen ergibt, dass seine Nichtanerkennung durch die europäischen Gerichte der Rechtsverweigerung gleichkäme, dürfte sehr selten vorkommen. In der Regel wird also zu dem rechtsvergleichenden ein gewisses rechtsfortbildendes Element hinzukommen.175 Nach wie vor gilt, dass eine Regelung nur dann in die Unionsrechtsordnung zu übernehmen ist, wenn sie sich in Ziele und Struktur der Union einfügt, also überhaupt auf die europäische Ebene 172 Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 19 EUV, Rn. 36; Pescatore, RIDC 1980, 337 (355). 173 Emmert, § 12, Rn. 45. 174 Kritisch Oppermann/Classen/Nettesheim, § 9, Rn. 33. 175 Oppermann/Classen/Nettesheim, § 9, Rn. 33.
IV. Folgen für Ausgestaltung von Urteilswirkungen im Unionsrecht
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übertragbar ist.176 Es ist daher zu unterscheiden: Bei Grundsätzen, die sich in allen oder den meisten Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten wiederfinden, besteht eine starke Vermutung, dass es sich um allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts handelt. Es bedürfte hier eines erheblichen Begründungsaufwands des Gerichtshofs darzulegen, weshalb eine solche Regelung nicht als unionsrechtlicher allgemeiner Rechtsgrundsatz angesehen werden kann – zum Beispiel, weil er sich mit den Besonderheiten des Unionsrechts als supranationaler Rechtsordnung nicht verträgt, oder weil eine in einer Minderheit der Mitgliedstaaten vertretene Lösung fortschrittlicher und besser ist. Sofern sich hingegen im Wege der Rechtsvergleichung kein deutliches Bild ergibt, bleibt es bei der oben dargelegten Wahl- bzw. Gestaltungsfreiheit der Unionsgerichte auf der Basis der verschiedenen einzelstaatlichen Lösungen. Hier macht sich dann das wertende Element der Rechtsvergleichung besonders bemerkbar. Häufig dürften auch beide Erscheinungsformen zusammenfallen:177 Wenn die rechtsvergleichende Betrachtung ergibt, dass (nahezu) alle Mitgliedstaaten ein bestimmtes Institut zur Lösung eines Problems vorsehen, das im Detail aber deutlich unterschiedlich ausgestaltet ist, so wird der Gerichtshof seine Augen nicht davor verschließen können, dass dieses Rechtsinstitut per se einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt. Im Hinblick darauf, wie dieses im Unionsrecht dann ausgestaltet ist, kommt ihm hingegen im Rahmen der wertenden Rechtsvergleichung ein Ermessen zu. Hier ist er nicht zwangsläufig an diejenige Ausgestaltung gebunden, wie er sie in der Mehrheit derjenigen Mitgliedstaaten, die dieses Institut überhaupt vorsehen, vorfindet, sondern wird sich auch von anderen Gesichtspunkten wie zum Beispiel der Praktikabilität leiten lassen können. 2. Allgemeine Rechtsgrundsätze zur zeitlichen Beschränkung von Urteilswirkungen? Die Frage der zeitlichen Wirkung von Vorabentscheidungsurteilen ist weder in den Verträgen noch im Sekundärrecht geregelt.178 Es liegt daher eine Lücke vor, die ausfüllungsbedürftig ist – jedenfalls wenn man davon ausgeht, dass die strikte ex-tunc-Wirkung in Einzelfällen nicht den berechtigten Interessen der Beteiligten gerecht wird. Eine Möglichkeit, diese Lücke zu füllen, ist der Rückgriff auf die sich aus den nationalen Rechtsordnungen ergebenden allgemeinen Rechtsgrundsätze (eine andere Möglichkeit, von der der Gerichtshof ebenfalls Gebrauch macht, wäre die 176
Steyns, S. 56; Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 435; Lecheler, ZEuS 2003, 337
(345). 177 Vgl. zu diesem Vorgehen in zwei rechtsvergleichenden Stufen Oppermann/Classen/Nettesheim, § 9, Rn. 34 f.; Bleckmann, § 8, Rn. 585. 178 Näheres dazu siehe unten C. II. 2. c).
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B. Begrenzung von Urteilsfolgen in anderen Rechtsordnungen
Analogie179). Die Herleitung und Beurteilung der allgemeinen Rechtsgrundsätze hat hierbei aufgrund der unterschiedlichen Regelungen in den Mitgliedstaaten auf zwei Stufen zu erfolgen: Die erste Stufe ist die Stufe des „Ob“ einer zeitlichen Beschränkung. Bereits hier ergibt sich ein sehr gemischtes Bild aufgrund der Tatsache, dass die meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union in ihren repressiven Normenkontrollverfahren standardmäßig nur eine ex-nunc-Wirkung vorsehen, so dass sich die Frage einer zeitlichen Beschränkung gar nicht mehr stellt. Die Mitgliedstaaten, die sich für eine ex-tunc-Wirkung der Normverwerfungsurteile entschieden haben und in denen daher die rechtliche Problemlage vergleichbar ist mit der auf der europäischen Ebene, sehen durchweg eine Ausnahmemöglichkeit vor, durch die die Gerichte von der Rückwirkung absehen können.180 Wenn man im Rahmen der wertenden Rechtsvergleichung nur auf diese Rechtsordnungen mit vergleichbaren Konfliktlagen abstellt, dann ist durchaus von einem allgemeinen Rechtsgrundsatz auszugehen, dass zur Berücksichtigung besonderer Härtefälle im Einzelfall eine Abweichung von der eigentlich zwingenden ex-tunc-Wirkung des Urteils möglich sein muss. Dies erscheint umso mehr angebracht, wenn man zusätzlich berücksichtigt, dass es in den Mitgliedstaaten ohnehin eine Tendenz hin zu einer ex-nunc-Wirkung als Regelfall bei Normverwerfungen gibt.181 Dann stellt sich allerdings die Frage, ob die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen mit dem Wesen des Unionsrechts zu vereinbaren ist. Hieran könnten im Rahmen des Auslegungsvorabentscheidungsverfahrens Zweifel bestehen, da eine Beschränkung der zeitlichen Wirkungen hier zwangsläufig dazu führt, dass nationales Recht – in begrenztem Umfang – trotz entgegenstehenden Unionsrechts Anwendung findet. Allerdings unterscheidet sich diese Problematik nur unwesentlich von der Situation, in der sich nationale Verfassungsgerichte befinden, wenn sie die zeitliche Wirkung eines Normverwerfungsurteils beschränken und damit der Vorrang der Verfassung in einem gewissen Maße zurücktreten muss. Somit unterscheidet sich die Unionsordnung in Bezug auf die hier wesentlichen Punkte nicht wesentlich von den nationalen Rechtsordnungen, so dass eine Übernahme eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes zur zeitlichen Beschränkung von Urteilswirkungen möglich erscheint.182 Hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung erscheint das Gesamtbild zwischen den Mitgliedstaaten jedoch zu vielfältig, als dass sich daraus ein konkreter Gestaltungsauftrag für die Unionsgerichte ergeben könnte. Sowohl im Hinblick auf die Tatbestandsvoraussetzungen als auch auf die Rechtsfolgen haben die Mit179 180 181 182
Siehe unten C. II. 2. c) cc). Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 1, S. 11. Vgl. Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 1, S. 10. Schmitz/Krasniqi, EuR 2010, 189 (204).
IV. Folgen für Ausgestaltung von Urteilswirkungen im Unionsrecht
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gliedstaaten eine Vielzahl unterschiedlicher, gleichermaßen gangbarer Lösungen entwickelt. Zwar ist auf der Tatbestandsseite durchaus eine Tendenz festzustellen, insbesondere schwerwiegende finanzielle Folgen für den Staat in der einen oder anderen Form zu berücksichtigen,183 doch sind auch hier die Voraussetzungen vielfältig ausgestaltet. Nach der hier dargelegten Methodik zur Erfassung allgemeiner Rechtsgrundsätze des Unionsrechts kommt damit den Unionsgerichten ein erheblicher Ermessensspielraum hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung des Rechtsinstituts der zeitlichen Beschränkung der Wirkungen seiner Urteile zu. Wie die nachfolgende Untersuchung näher aufzeigen wird, hat der EuGH im Rahmen seiner Vorabentscheidungsurteile ein Instrument der zeitlichen Beschränkung von Urteilswirkungen entwickelt, das im Hinblick auf Tatbestand und Rechtsfolgen mit den Lösungen in den Mitgliedstaaten vergleichbar ist und viele der hier aufgezeigten Elemente aus einzelnen Mitgliedstaaten miteinander kombiniert. Die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkung in den Vorabentscheidungen des EuGH, die im Folgenden dargestellt werden wird, ist daher durchaus als eine Fortentwicklung aus den mitgliedstaatlichen Grundsätzen anzusehen.
183 Siehe hierzu Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 1, S. 91, sowie S. 83 ff. mit weiteren Fallgruppen; siehe auch Schmitz/Krasniqi, EuR 2010, 189 (201 f.).
C. Die zeitliche Begrenzung von Urteilsfolgen in der Rechtsprechung des EuGH Diese Untersuchung wird sich – der Titel lässt es bereits erkennen – hauptsächlich mit der Begrenzung der Rechtsfolgen von Urteilen in Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH beschäftigen. Der vorangegangene rechtsvergleichende Teil hat gezeigt, dass eine Möglichkeit zur zeitlichen Beschränkung in vielen einzelstaatlichen Normenkontrollverfahren existiert. Doch auch im Rahmen des Unionsrechts ist die Frage, welche zeitliche Wirkung einem Urteil zukommt und ob der Gerichtshof hiervon möglicherweise abweichen kann und sollte, kein Spezifikum des Vorabentscheidungsverfahrens. Sie stellt sich auch in den anderen Verfahrensarten. Daher sollen in diesem Abschnitt die Urteile der einzelnen Verfahrensarten mit ihren Wirkungen und gegebenenfalls Gestaltungsmöglichkeiten in einem kurzen Überblick nebeneinandergestellt werden. Anschließend wird die Rechtsprechung des EuGH zur zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkung in Vorabentscheidungsverfahren näher beleuchtet: Einige wesentliche und besonders instruktive Entscheidungen (so viele gibt es hierzu ohnehin nicht1) werden in chronologischer Reihenfolge dargestellt, gewissermaßen als „kleine Geschichte der zeitlichen Beschränkung“. Anschließend werden die dogmatischen Grundlagen und Fallgruppen näher beleuchtet. Die intensive Untersuchung der Tatbestandsvoraussetzungen und der Rechtsfolgen soll hingegen den nachfolgenden Abschnitten der Arbeit vorbehalten sein. Durch den am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon haben sich im Hinblick auf das Vorabentscheidungsverfahren keine Änderungen hinsichtlich der hier relevanten Fragestellungen der zeitlichen Wirkungen der Urteile sowie ihrer Beschränkung ergeben. Dementsprechend knüpft der EuGH nahtlos an seine bisherige Praxis an und verweist in seinen jüngsten Urteilen zur zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen auch im Rahmen des neuen Art. 267 AEUV auf seine „ständige Rechtsprechung“ zu diesem Thema.2 1 Der Gerichtshof hatte sich bisher in knapp 70 Entscheidungen mit der Frage der zeitlichen Wirkung des Vorabentscheidungsurteils zu befassen. Dabei sind allerdings nicht die Urteile eingerechnet, die der Klärung einer in einer früheren Entscheidung angeordneten zeitlichen Beschränkung dienen. 2 EuGH, Urteil vom 13. April 2010, Rs. C-73/08, Bressol, Slg. 2010, I-2735, Rn. 90, 92; Urteil vom 3. Juni 2010, Rs. C-2/09, Direktor na Agentisia „Mitnitsi“, Slg. 2010, I-4939, Rn. 52; Urteil vom 29. Juli 2010, Rs. C-577/08, Rijksdienst voor Pensioenen, Slg. 2010, I-7485, Rn. 34; Urteil vom 21. Oktober 2010, Rs. C-242/09, Albron Catering, Rn. 35 (noch nicht in Slg.).
I. Vergleich der einzelnen Urteilsarten
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I. Vergleich der einzelnen Urteilsarten 1. Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV a) Inhalt und Wirkung Mit der Nichtigkeitsklage können die in Art. 263 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 230 Abs. 2 EG) aufgezählten so genannten privilegierten Klagebefugten (Rat, Kommission, Parlament und die Mitgliedstaaten) sowie die in Art. 263 Abs. 3 und 4 AEUV (ex-Art. 230 Abs. 3 und 4 EG) aufgeführten nicht privilegierten Klagebefugten (Rechnungshof, Europäische Zentralbank sowie natürliche und juristische Personen) die Nichtigkeit eines Unionsrechtsakts oder eines sonstigen Handelns der Unionsorgane geltend machen, soweit dieses Rechtswirkungen entfaltet. Gegenstand einer Nichtigkeitsklage können damit insbesondere Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse, also Rechtsakte gemäß Art. 288 Abs. 2 bis 4 AEUV (ex-Art. 249 Abs. 2 bis 4 EG, wobei die Entscheidungen durch Beschlüsse abgelöst worden sind), sein.3 Ist die Klage zulässig und begründet, so erklärt der Gerichtshof gemäß Art. 264 Abs. 1 AEUV (ex-Art. 231 Abs. 1 EG) die angefochtene Handlung für nichtig. Ein anderer Tenor ist in Art. 264 Abs. 1 AEUV nicht vorgesehen.4 Bei der Nichtigerklärung handelt es sich um ein Gestaltungsurteil;5 bis zum Erlass eines solchen Urteils wird die Rechtmäßigkeit und damit die Gültigkeit des Rechtsaktes vermutet.6 Erklärt der EuGH jedoch dem Klageantrag entsprechend den angegriffenen Unionsrechtsakt für nichtig, so wirkt dieses Urteil erga omnes und ex tunc, also vom Zeitpunkt des Erlasses des Rechtsakts an.7 Es ist möglich und auch durchaus wahrscheinlich, dass der für nichtig erklärte Rechtsakt bis zum Erlass des Urteils zur Rechtsgrundlage von Verwaltungshandeln (zum Beispiel durch die Kommission, aber auch durch nationale Behörden) gemacht wurde. Erklärt der Gerichtshof eine Verordnung für nichtig, so werden allerdings nach ganz herrschender Auffassung die bereits ergangenen Durchführungsmaßnahmen durch die Nichtigerklärung der zugrundeliegenden Verordnung 3
Streinz, Europarecht, Rn. 635 f. Booß, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU-Recht, 40. Erg.-Lfg., Art. 231 EG, Rn. 1. 5 Booß, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU-Recht, 40. Erg.-Lfg., Art. 231 EG, Rn. 1; Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 264 AEUV, Rn. 1; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU/EG, Art. 231 EG, Rn. 3; Pechstein, Rn. 563; Borchardt, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, Art. 264 AEUV, Rn. 2; missverständlich ders., in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, Art. 266 AEUV, Rn. 1. 6 EuGH, Urteil vom 13. Februar 1979, Rs. 101/78, Granaria/Hoofdproduktschap voor Akkerbouwprodukten, Slg. 1979, 623; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU/EG, Art. 231 EG, Rn. 2. 7 Booß, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU-Recht, 40. Erg.-Lfg., Art. 231 EG, Rn. 4, 6; Streinz, Europarecht, Rn. 657. 4
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C. Begrenzung von Urteilsfolgen in der Rechtsprechung des EuGH
in ihrer Wirksamkeit nicht berührt.8 Sie sind jedoch ohne Rechtsgrundlage ergangen und daher rechtswidrig.9 Während also die Verordnung rechtswidrig und aufgrund des Urteils nichtig ist, sind alle weiteren Durchführungsakte nur rechtswidrig, bleiben aber bis zu ihrer Aufhebung weiter in der Welt. Sofern die entsprechenden Fristen noch nicht verstrichen sind, kann und muss der Kläger diese Maßnahmen gesondert anfechten. Ansonsten muss er darauf hinwirken, dass die betroffenen Unionsorgane oder mitgliedstaatlichen Behörden die Durchführungsakte aufheben. Die Unionsorgane sind bereits aus Art. 266 Abs. 1 AEUV (exArt. 233 Abs. 1 EG) in Verbindung mit dem jeweiligen Nichtigkeitstenor zur Aufhebung der rechtswidrigen Maßnahmen verpflichtet.10 Diese Pflicht wird von der Literatur als eine allgemeine Folgenbeseitigungspflicht verstanden, aufgrund derer auch die Aufhebung oder Abänderung aller auf dem nichtigen Akt beruhenden Rechtshandlungen geschuldet ist, soweit diese nicht bestandskräftig geworden sind.11 Ein typischer Fall wäre die Rückzahlung einer rechtsgrundlos gezahlten Geldbuße.12 Die Mitgliedstaaten trifft eine entsprechende Verpflichtung aus Art. 4 Abs. 3 EUV (ex-Art. 10 EG).13 In Deutschland wird die Aufhebung eines Verwaltungakts, der auf einer nichtigen Verordnung beruht, durch ein unionsrechtlich modifiziertes Verfahren nach den §§ 48–51 VwVfG erreicht.14 Handelt es sich bei der angegriffenen Maßnahme um eine Richtlinie, so stellt sich die Lage etwas anders dar: Denn die Richtlinie hat zwar die Mitgliedstaaten zur Umsetzung verpflichtet und die Gestaltungsgrenzen für die Rechtsetzung aufgezeigt, war aber keine echte „Rechtsgrundlage“ für den nationalen Rechtsetzungsakt. Die Mitgliedstaaten hätten zum Beispiel ein entsprechendes Gesetz auch ohne die Veranlassung aus Brüssel und Straßburg erlassen können. Aus dem Unionsrecht ergibt sich daher die Rechtswidrigkeit des Umsetzungsaktes nur insoweit, als dieser per se gegen Unionsrecht verstößt – etwa, weil das Umsetzungsgesetz eine aus der Richtlinie übernommene materielle Regelung enthält, die bereits zur Rechtswidrigkeit und Nichtigkeit der Richtlinie geführt hat, oder weil eine ausschließliche Kompetenz der Union bestand und die Mitgliedstaaten 8 Waldhoff, S. 31; Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 264 AEUV, Rn. 2; vgl. auch Booß, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU-Recht, 40. Erg.-Lfg., Art. 231 EG, Rn. 6 („Die auf einem nichtigen Rechtsakt beruhenden weiteren Handlungen sind [. . .] ebenfalls rechtswidrig.“ Hervorhebung d. Verf.); Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/ AEUV, Art. 264 AEUV, Rn. 4; a. A. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), § 7, Rn. 107. 9 Booß, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU-Recht, 40. Erg.-Lfg., Art. 231 EG, Rn. 6. 10 Pechstein, Rn. 563; Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 266 AEUV, Rn. 4. 11 Borchardt, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, Art. 266 AEUV, Rn. 5; vgl. auch Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 266 AEUV, Rn. 4. 12 Streinz, Europarecht, Rn. 657. 13 Booß, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU-Recht, 40. Erg.-Lfg., Art. 233 EG, Rn. 15. 14 Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 264 AEUV, Rn. 2.
I. Vergleich der einzelnen Urteilsarten
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daher keine selbständigen eigenen Vorschriften in diesem Bereich hätten erlassen dürfen.15 Auch in diesen Fällen dürften die Mitgliedstaaten zur Folgenbeseitigung nach Art. 4 Abs. 3 EUV (ex-Art. 10 EG) verpflichtet sein. Ansonsten richtet es sich nach dem nationalen Recht, ob der Umsetzungsrechtsakt auch ohne die Richtlinie Bestand haben kann oder nicht.16 b) Ex-nunc-Wirkung gemäß Art. 264 Abs. 2 AEUV Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union sieht allerdings in Art. 264 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 231 Abs. 2 EG) eine faktische Ausnahme von der ex-tunc-Wirkung der Nichtigerklärung vor: Gemäß dieser Vorschrift kann der Gerichtshof, sofern er dies für notwendig erachtet, im Rahmen der Nichtigerklärung diejenigen Wirkungen einer Handlung bezeichnen, die als fortgeltend zu betrachten sind.17 Trifft der Gerichtshof eine solche Entscheidung, so ist die Handlung also ungeachtet dessen ex tunc nichtig; als fortgeltend zu betrachten sind lediglich einzelne Wirkungen des Rechtsaktes, nicht der Rechtsakt selbst.18 Durch die Fortgeltung der Wirkungen der nichtigen Maßnahme bleiben die auf ihr beruhenden Durchführungsakte rechtmäßig und sind daher einer Anfechtung oder Aufhebung, sei es nach Unionsrecht oder nach nationalem Recht, entzogen. Zur Begründung, warum er eine solche Fortgeltung für „notwendig“ im Sinne von Art. 264 Abs. 2 AEUV hält, hat der Gerichtshof zum Beispiel die Rechtssicherheit zum Schutz der Betroffenen19 oder die Aufrechterhaltung eines fehlerhaft bestimmten Anti-Dumping-Zolls bis zum Erlass einer strengeren Bestimmung an seiner Stelle20 angeführt.21 Bemerkenswert ist in Fällen wie dem zuletzt genannten, dass EuGH und Gericht (EuG, ehemals Gericht erster Instanz) nicht nur die Fortgeltung bis zur 15
Booß, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU-Recht, 40. Erg.-Lfg., Art. 233 EG, Rn. 15. Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 264 AEUV, Rn. 4; siehe auch Röttinger, EuZW 1993, 117 (120). 17 Die Wortwahl „Wirkungen“ verbietet bereits die von Usher und Brown vorgeschlagene Interpretation, Art. 264 Abs. 2 AEUV gebe dem Gerichtshof lediglich die Kompetenz, die ungültigen von den gültigen Vorschriften des Rechtsakts zu trennen. Wäre dies die Absicht der Vertragsparteien gewesen, dann hätte die Wortwahl „welche ihrer Regelungen“ (oder in der englischen Fassung: „provisions“ statt „effects“) näher gelegen. Siehe Usher, E. L. Rev. 6 (1981), 116 (118); Brown, CMLR 18 (1981), 509 (517). 18 Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 264 AEUV, Rn. 9. 19 EuGH, Urteil vom 10. März 1992, verb. Rs. C-38/90 u. C-151/90, Lomas, Slg. 1992, I-1781, Rn. 28; anzumerken ist, dass hier der EuGH die betreffende Verordnung nicht im Rahmen einer Nichtigkeitsklage für nichtig erklärte, sondern vielmehr ihre Ungültigkeit in einem Vorabentscheidungsverfahren feststellte. 20 EuGH, Urteil vom 20. März 1985, Rs. 264/82, Timex, Slg. 1985, 861, Rn. 32; siehe zum Ganzen auch Booß, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU-Recht, 40. Erg.-Lfg., Art. 231 EG, Rn. 11. 21 Siehe zum Ganzen Müller, S. 17 ff. 16
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C. Begrenzung von Urteilsfolgen in der Rechtsprechung des EuGH
Urteilsverkündung, sondern auch darüber hinaus bis zum in der Zukunft liegenden Erlass einer Ersatzvorschrift anordnen, um eine Diskontinuität in der Zwischenzeit zu vermeiden22 – dies erinnert an die Option der pro-futuro-Wirkung in österreichischen oder tschechischen Normenkontrollverfahren. Der weite Gestaltungsspielraum, den der Gerichtshof hier für sich in Anspruch nimmt, ist durch den Wortlaut von Art. 264 Abs. 2 AEUV gedeckt: Die Formulierung „die als fortgeltend zu betrachten sind“ setzt nur insoweit eine zeitliche Grenze, als die Wirkungen selbstverständlich auch durch ein Gerichtsurteil nicht vor Erlass des nichtigen Rechtsaktes eintreten konnten; im Hinblick darauf, wie weit die Fortgeltung in die Zukunft reicht, setzt der Wortlaut keine zeitlichen Grenzen. Durch den Vertrag von Lissabon wurde eine zentrale Frage im Zusammenhang mit dieser Vorschrift endgültig geklärt: Art. 231 Abs. 2 EG in der Fassung von Nizza sowie sämtliche Vorgängerbestimmungen enthielten noch die Formulierung „Erklärt der Gerichtshof eine Verordnung für nichtig, [. . .]“. Eine Wirkungsbegrenzung der Nichtigerklärung von anderen Rechtsakten oder Handlungen war daher vom Vertrag nicht vorgesehen. Die Gerichte behalfen sich damit, Art. 231 Abs. 2 EG auf die Nichtigerklärung anderer Gemeinschaftsrechtsakte, wie Richtlinien23 und Entscheidungen,24 analog anzuwenden. Diese Analogie rechtfertigte der Gerichtshof vorrangig mit „gewichtigen Gründen der Rechtssicherheit“, die denjenigen vergleichbar seien, die bei der Nichtigerklärung bestimmter Verordnungen zum Tragen kämen.25 Auch die Notwendigkeit, eine Diskontinuität im Harmonisierungsprogramm der Gemeinschaft zu verhindern, führte der Gerichtshof ergänzend als Grund für die Erweiterung des Anwendungsbereichs an.26 In der Literatur wurde diese Analogie insbesondere mit Hinweis darauf unterstützt, dass die Interessenlage vergleichbar sei, da sich nicht nur bei Verordnungen, sondern auch bei anderen Rechtsakten Fragen der Rechtssicherheit stellten, wenn diese Akte mit ex-tunc-Wirkung aufgehoben würden.27 Gerade die Richtlinie sei durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs im Hinblick auf ihre Wirkungen im-
22 Borchardt, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, Art. 264 AEUV, Rn. 7; Booß, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU-Recht, 40. Erg.-Lfg., Art. 231 EG, Rn. 11. 23 EuGH, Urteil vom 7. Juli 1992, Rs. C-295/90, Parlament/Rat, Slg. 1992, I-4193, Rn. 22 ff.; Urteil vom 5. Juli 1995, Rs. C-21/94, Parlament/Rat, Slg. 1995, I-1827, Rn. 29 ff.; siehe auch Generalanwalt Léger, Schlussanträge vom 28. März 1995, Rs. C21/94, Parlament/Rat, Slg. 1992, I-1827, Rn. 62 ff. 24 Vgl. Booß, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU-Recht, 40. Erg.-Lfg., Art. 231 EG, Rn. 9 mwN. 25 EuGH, Urteil vom 7. Juli 1992, Rs. C-295/90, Parlament/Rat, Slg. 1992, I-4193, Rn. 26; Urteil vom 5. Juli 1995, Rs. C-21/94, Parlament/Rat, Slg. 1995, I-1827, Rn. 31. 26 EuGH, Urteil vom 5. Juli 1995, Rs. C-21/94, Parlament/Rat, Slg. 1995, I-1827, Rn. 31. 27 Waldhoff, S. 33.
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mer mehr der Verordnung angenähert worden, was Art. 231 Abs. 2 EG nicht berücksichtigt habe.28 Mit der Neufassung durch den Vertrag von Lissabon haben die Mitgliedstaaten diesen Bedenken Rechnung getragen und die entsprechende EuGH-Rechtsprechung kodifiziert.29 2. Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 ff. AEUV Im Vertragsverletzungsverfahren kann die Kommission (Art. 258 AEUV, exArt. 226 EG) oder ein Mitgliedstaat (Art. 259 AEUV, ex-Art. 227 EG) den Gerichtshof anrufen, wenn sie oder er der Meinung ist, dass ein (anderer) Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen aus den Verträgen verstoßen hat. Ein Urteil des EuGH im Vertragsverletzungsverfahren hat, wie sich aus Art. 260 Abs. 1 AEUV (ex-Art. 228 Abs. 1 EG) ergibt („Stellt der Gerichtshof fest, dass ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat [. . .]“), lediglich Feststellungswirkung. Die Pflicht des betroffenen Mitgliedstaats, die entsprechenden Maßnahmen zur Abstellung der Vertragsverletzung zu ergreifen, ergibt sich aus den Verträgen (Art. 4 Abs. 3 EUV sowie Art. 260 Abs. 1 AEUV), nicht aus dem Urteil. Dem Urteil kommt vielmehr ein reiner Appellcharakter zu, den Mitgliedstaat an seine Pflichten zu erinnern.30 Im Hinblick auf die hier interessierende zeitliche Wirkung der Urteile des EuGH sind zwei Besonderheiten im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens zu erwähnen: zum einen die Frage nach dem entscheidungserheblichen Zeitpunkt, zum anderen die Frage, ob die Mitgliedstaaten die Vertragsverletzung nur ex nunc oder auch ex tunc beseitigen müssen. Der entscheidungserhebliche Zeitpunkt im Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 oder Art. 259 AEUV ist der Ablauf der Frist, die die Kommission mit ihrer Stellungnahme verbunden hat.31 Stellt der Mitgliedstaat nach Ablauf dieser Frist die Vertragsverletzung noch ab, kann er seine Verurteilung nicht mehr verhindern. In der Systematik des deutschen Verwaltungsprozessrechts gesprochen hat das Urteil in diesen Fällen „Fortsetzungsfeststellungscharakter“. Ob die Mitgliedstaaten auf die Feststellung der Vertragsverletzung durch sie dahingehend reagieren müssen, dass sie den Verstoß ex tunc abstellen (sog. rückwirkende Regularisierung32), ist umstritten. Für eine solche Pflicht spräche, dass ein wirklich vertragsgemäßer Zustand nur dann hergestellt würde, wenn auch alle 28
Röttinger, EuZW 1993, 117 (120); Müller, S. 32. Schwarze, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 231 EG, Rn. 10. 30 Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 260 AEUV, Rn. 1; Waldhoff, S. 29. 31 EuGH, Urteil vom 13. Dezember 1988, Rs. C-347/88, Kommission/Griechenland, Slg. 1990, I-4747, Rn. 40; Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 258 AEUV, Rn. 34; Waldhoff, S. 29. 32 P. Karpenstein, DVBl. 1977, 61 (passim). 29
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in der Vergangenheit liegenden Folgen der Vertragsverletzung wieder beseitigt würden.33 Des Weiteren könnte eine solche Verpflichtung verhindern, dass die Mitgliedstaaten auf Zeit spielen, um bis zu einem Urteil des Gerichtshofs die Vorzüge der vertragswidrigen Situation mitnehmen zu können.34 Gegen eine Verpflichtung zur Folgenbeseitigung lässt sich hingegen anführen, dass sich eine solche Pflicht weder aus Art. 260 AEUV noch aus dem Statut des EuGH entnehmen lässt. Aufgrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung verbiete sich ein derart weites Verständnis der mitgliedstaatlichen Urteilsbefolgungspflichten, zumal die Wiedergutmachung schwerwiegende finanzielle Folgen für die Mitgliedstaaten haben könne.35 Gegen das Argument, die ex-tunc-Wirkung sei im Wesen des Vertragsverletzungsverfahrens angelegt, da nur so der Verstoß wirklich beseitigt werde, wird des Weiteren angeführt, es gehöre auch zum Wesen dieser Verfahrensart, dass sie nur der Durchsetzung des Unionsrechts durch die Kommission diene und der Bürger nicht an dem Verfahren beteiligt sei. Das Verfahren habe daher objektiven Charakter und diene nicht der Verwirklichung subjektiver Ansprüche Einzelner, die in der Vergangenheit durch die unionsrechtswidrige Situation benachteiligt worden sind. Auch aus diesem Grund sei eine Verpflichtung zur Folgenbeseitigung ex tunc ausgeschlossen.36 Der EuGH hat sich zu dieser Frage bisher noch nicht ausdrücklich geäußert.37 Allerdings hat er im Francovich-Urteil den Schadensersatzanspruch der Klägerin nicht auf Art. 171 EWG-Vertrag (jetzt Art. 260 AEUV) gestützt, obwohl Ursache des Schadens die Nichtumsetzung einer EG-Richtlinie durch die Republik Italien war und er selbst etwa zwei Jahre zuvor die Vertragsverletzung in einem von der Kommission eingeleiteten Verfahren nach Art. 169 EWG-Vertrag (jetzt Art. 258 AEUV) festgestellt hatte.38 Dass der Gerichtshof diese naheliegende Möglichkeit außer Acht gelassen hat, wird in der Literatur teilweise dahingehend interpretiert, dass er der ex-tunc-Verpflichtung aus Feststellungsurteilen im Vertragsverletzungsverfahren ablehnend gegenüberstehe.39
33 Schwarze, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 228 EG, Rn. 6; Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 260 AEUV, Rn. 8; Ortlepp, S. 117; Pechstein, Rn. 311; Schlussanträge des Generalanwalts Roemer vom 22. Juni 1972, Rs. 48/71, Kommission/Italien („2. Kunstschätzeurteil“), Slg. 1972, 529 (538), Ziff. 1 Buchst. b). 34 Schwarze, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 228 EG, Rn. 6; Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 260 AEUV, Rn. 8. 35 Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 260 AEUV, Rn. 8; Pechstein, Rn. 311. 36 Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU/EG, Art. 228 EG, Rn. 10; siehe zum objektiven Charakter auch Schlussanträge des Generalanwalts Roemer vom 28. Oktober 1970, Rs. 8/70, Kommission/Italien, Slg. 1970, 961 (971); P. Karpenstein, DVBl. 1977, 61 (64). 37 Waldhoff, S. 29; Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 260 AEUV, Rn. 8. 38 EuGH, Urteil vom 19. November 1991, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Francovich, Slg. 1991, I-5357, Rn. 4, 28 ff.
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Zumindest das Argument, eine Verpflichtung zum Abstellen des Vertragsverstoßes ex tunc scheide wegen der schwerwiegenden finanziellen bzw. wirtschaftlichen Folgen aus, ist so nicht haltbar. Denn gerade diese Folgen werden in Vorabentscheidungsverfahren regelmäßig in Kauf genommen und nur in extremen Ausnahmefällen durch die zeitliche Beschränkung, die Gegenstand dieser Arbeit ist, vom Gerichtshof vermieden. Es kann wertungsmäßig keinen Unterschied machen, ob ein und dieselbe Vertragsverletzung durch die Kommission in einem Vertragsverletzungsverfahren oder durch ein nationales Gericht in einem Vorabentscheidungsverfahren geltend gemacht wird. Auch der objektive Charakter steht einer ex-tunc-Beseitigung der Vertragsverletzung nicht entgegen – es ist durchaus denkbar, dass die Kommission gerade wegen der vom betreffenden Mitgliedstaat mitgenommenen Vorteile des Verstoßes zu dem Schluss kommt, eine Abstellung der Verletzung ex nunc sei nicht befriedigend.40 Andererseits sollte es, dem objektiven Charakter des Verfahrens und der besonderen Stellung der Kommission in diesem Verfahren entsprechend, im Ermessen der Kommission liegen, ob der Verstoß durch eine Regularisierung ex tunc oder ex nunc zu beseitigen ist. Unter Berücksichtigung der Indizien aus der Rechtsprechung ist daher davon auszugehen, dass ein Urteil im Vertragsverletzungsverfahren grundsätzlich nur zur Beseitigung des Verstoßes für die Zukunft verpflichtet. Eine ex-tunc-Wirkung ist jedoch nicht ausgeschlossen und kann, wenn die Kommission einen entsprechenden Antrag stellt, vom Gerichtshof auch tenoriert werden.41 Wie die folgenden Untersuchungen noch verdeutlichen werden, stellt sich die Rechtslage damit als Spiegelbild zum Vorabentscheidungsverfahren dar, bei dem nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die ex-tunc-Wirkung der Urteile die Regel und eine Beschränkung auf eine ex-nunc-Wirkung, unter anderem auch auf einen Antrag der Kommission hin, die Ausnahme ist. Im Übrigen ändert auch der grundsätzliche ex-nunc-Charakter der Urteile in Vertragsverletzungsverfahren nichts daran, dass die nationalen Gerichte verpflichtet sind, aus diesem Urteil die entsprechenden Schlüsse über die Wirksamkeit eines unionsrechtswidrigen Gesetzes auch vor seiner formellen Aufhebung durch den Gesetzgeber zu ziehen.42 Die Folgen ergeben sich hierbei nicht aus dem Urteil, sondern aus den unmittelbar anwendbaren Vorschriften des Unionsrechts.43 Insofern kann auch ein Vertragsverletzungsverfahren Wirkungen für die Vergangenheit entfalten, wenn dies das nationale Recht so vorsieht, zum Beispiel 39 Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 260 AEUV, Rn. 8; ihm folgend Waldhoff, S. 29; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU/EG, Art. 228 EG, Rn. 10. 40 Ortlepp, S. 118. 41 P. Karpenstein, DVBl. 1977, 61 ( 65); Ortlepp, S. 131. 42 Ortlepp, S. 115 f. 43 EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1982, verb. Rs. 314/81–316/81, 83/82, Procureur de la République/Waterkeyn, Slg. 1982, 4337, Rn. 13 ff.
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C. Begrenzung von Urteilsfolgen in der Rechtsprechung des EuGH
durch Folgenbeseitigungs- oder Schadensersatzansprüche. In derartigen Situationen haben Mitgliedstaaten – in Anlehnung an die EuGH-Praxis im Vorabentscheidungsverfahren – einen Antrag auf zeitliche Beschränkung der Urteilswirkung im Vertragsverletzungsverfahren gestellt.44 Der EuGH scheint einer solchen Möglichkeit nicht abgeneigt zu sein, sofern der Vertragsverletzung eine Fehlinterpretation von EU-Recht zugrunde liegt. Jedenfalls lehnte er in diesen Fällen die Beschränkung immer unter Hinweis darauf ab, dass die Voraussetzungen, die er in den Vorabentscheidungsverfahren aufgestellt hatte, nicht erfüllt seien.45 Eine echte Praxis hat der Gerichtshof jedoch bisher nicht herausbilden können. Die bisher vorhandenen Urteile deuten aber darauf hin, dass der Gerichtshof seine Rechtsprechung zu den Auslegungs-Vorabentscheidungsurteilen (die den Kern dieser Arbeit bildet und somit noch ausführlich dargestellt werden wird) auf diese Verfahrensart übertragen könnte. 3. Untätigkeitsklage gemäß Art. 265 AEUV Die Untätigkeitsklage ergänzt den durch die Nichtigkeitsklage gewährten Rechtsschutz dahingehend, dass auch ein Untätigbleiben der Unionsorgane sanktioniert werden kann.46 Insofern sind Untätigkeitsklage und Nichtigkeitsklage zwei Seiten ein und derselben Medaille: In beiden Verfahren steht das Verhalten der Unionsorgane auf dem Prüfstand des primären Unionsrechts, nur eben mit dem Unterschied, dass auf der einen Seite ihr Handeln als Fehlverhalten geltend gemacht wird und auf der anderen Seite gerade das Unterbleiben eines Handelns.47 Der Gerichtshof betrachtet dementsprechend auch Nichtigkeitsklage und Untätigkeitsklage als ein und denselben Rechtsbehelf.48 Dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich beide Rechtsbehelfe auf der Rechtsfolgenseite erheblich voneinander unterscheiden: Während der Gerichtshof im Rahmen einer Nichtigkeitsklage ein Gestaltungsurteil ausspricht, hat ein stattgebendes Urteil im Rahmen einer Untätigkeitsklage einen rein feststellenden Charakter (vgl. den insoweit eindeutigen Wortlaut von Art. 265 Abs. 1 AEUV). Art und Umfang der zu 44 EuGH, Urteil vom 24. September 1998, Rs. C-35/97, Kommission/Frankreich, Slg. 1998, I-5325; Urteil vom 19. März 2002, Rs. C-426/98, Kommission/Griechenland, Slg. 2002, I-2793. 45 EuGH, Urteil vom 24. September 1998, Rs. C-35/97, Kommission/Frankreich, Slg. 1998, I-5325, Rn. 42 f.; Urteil vom 19. März 2002, Rs. C-426/98, Kommission/ Griechenland, Slg. 2002, I-2793, Rn. 50 ff. 46 Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU/EG, Art. 232 EG, Rn. 1. 47 Vgl. Stotz, in: Rengeling (Hrsg.), Hdb Umweltrecht, Bd. I, § 45, Rn. 132. 48 EuGH, Urteil vom 18. November 1970, Rs. 15/70, Chevalley, Slg. 1970, 975, Rn. 5/7; Urteil vom 26. November 1996, Rs. C-68/95, T. Port/Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, Slg. 1996, I-6065, Rn. 59; siehe auch Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU/EG, Art. 232 EG, Rn. 1; Schwarze, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 232 EG, Rn. 1.
I. Vergleich der einzelnen Urteilsarten
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ergreifenden Maßnahmen ergeben sich dabei allerdings in der Regel aus den Urteilsgründen.49 In dieser Hinsicht ähnelt die Untätigkeitsklage eher dem Vertragsverletzungsverfahren.50 Trotz dieser Ähnlichkeit mit dem Vertragsverletzungsverfahren wird aber, soweit ersichtlich, auch in der Literatur nicht vertreten (anders als beim Vertragsverletzungsverfahren), dass die unterlassene Handlung mit ex-tunc-Wirkung nachzuholen sei, zum Beispiel durch einen rückwirkenden Rechtsakt. Vielleicht erscheint es als eine zu große Bürde für die übrigen Organe, die sich keine Untätigkeit haben zuschulden kommen lassen, beim Erlass eines rückwirkenden Rechtsaktes mitwirken zu müssen. Zumindest bei solchen Maßnahmen, die das verurteilte Organ selbständig erlassen kann (insbesondere die Kommission), kann dieses Argument allerdings nicht gelten. Letztendlich ausschlaggebend dürfte allerdings auch hier wieder der objektive Charakter des Verfahrens sein: Ziel ist die Rückführung des beklagten Organs zu einem vertragsgemäßen Verhalten, nicht die Beseitigung der aus der Untätigkeit resultierenden Folgen zum Schutz individueller Rechte. Dennoch erscheint es durchaus denkbar, dass der Gerichtshof auch auf Antrag des Klägers in den Urteilsgründen (gewissermaßen als Hinweis) deutlich machen könnte, dass die Untätigkeit durch Erlass einer rückwirkenden Maßnahme zu beseitigen sei. 4. Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV Das Vorabentscheidungsverfahren, auch Vorlageverfahren genannt, wird den Kern dieser Untersuchung bilden. Daher sollen an dieser Stelle nur kurz die zentralen Charakteristika der Urteilswirkungen im Vorlageverfahren dargestellt werden. Auf die einzelnen Voraussetzungen und Rechtsfolgen der zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen durch den Gerichtshof in dieser Verfahrensart wird im Folgenden unter II. und insbesondere in den nachfolgenden Abschnitten ausführlich eingegangen werden. Im Vorabentscheidungsverfahren legen die mitgliedstaatlichen Gerichte dem Gerichtshof einzelne Rechtsfragen vor, wenn diese entscheidungserheblich für den Rechtsstreit vor diesem nationalen Gericht sind. Wie sich aus Art. 267 Abs. 1 AEUV ergibt, ist zwischen zwei Arten von Vorlagefragen zu unterscheiden: Zum einen können die Gerichte den Gerichtshof ersuchen, über die Gültigkeit von Handlungen der Organe, also insbesondere von Sekundärrechtsakten, zu urteilen (Art. 267 Abs. 1 lit. b) Var. 1 AEUV). Zum anderen haben die Gerichte die Möglichkeit (letztinstanzliche Gerichte sogar die Pflicht, Art. 267 Abs. 3 AEUV), vom Gerichtshof eine verbindliche Auslegung des Unionsrechts zu erbitten (Art. 267 Abs. 1 lit. a) und lit. b) Var. 2 AEUV). 49
Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), § 8, Rn. 53. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), § 8, Rn. 3; Borchardt, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, Art. 265 AEUV, Rn. 2. 50
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C. Begrenzung von Urteilsfolgen in der Rechtsprechung des EuGH
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs haben die Urteile in beiden Arten von Vorabentscheidungsverfahren ex-tunc-Wirkung: Im Auslegungsverfahren stellt der Gerichtshof fest, wie eine Rechtsvorschrift seit ihrem Inkrafttreten richtigerweise zu verstehen gewesen wäre,51 im Gültigkeitsverfahren stellt er die Ungültigkeit seit dem erstmaligen Auftreten eines Widerspruchs zum höherrangigen Recht (in der Regel das vermeintliche Inkrafttreten des Sekundärrechtsaktes) fest.52 Aufgrund dieser ex-tunc-Wirkung kann, je nachdem, wie intensiv der ungültige Unionsrechtsakt oder das nach der Auslegung des EuGH unionsrechtswidrige nationale Recht angewandt worden sind, eine große Anzahl von in der Vergangenheit liegenden Rechtsverhältnissen in Frage gestellt werden. Zur Vermeidung schwerwiegender Folgen hat der Gerichtshof in der Rechtssache Defrenne II 53 erstmals für Auslegungsurteile und in den so genannten Maisfällen54 für Ungültigkeitsvorlagen die zeitliche Wirkung seines Urteils eingeschränkt und statt der ex-tunc- eine ex-nunc-Wirkung ab dem Zeitpunkt der Verkündung des Urteils angenommen. Diese Beschränkung der Urteilswirkungen im Vorabentscheidungsverfahren ist Gegenstand dieser Arbeit und soll daher im Folgenden eingehend untersucht und kritisch hinterfragt werden. 5. Zwischenergebnis Die zeitliche Wirkung der Urteile des Gerichtshofs ist in allen Verfahrensarten ein Thema (mit Ausnahme der Untätigkeitsklage; allerdings könnte dies auch durchaus mit der verschwindend geringen praktischen Bedeutung dieser Verfahrensart55 zusammenhängen). Besonders auffallend sind die Ähnlichkeiten zwischen Nichtigkeitsklagen und Vorabentscheidungsverfahren: Hier ist von einer grundsätzlichen ex-tunc-Wirkung auszugehen, von der in Einzelfällen abgewichen werden kann. Spiegelbildlich dazu steht nach der hier vertretenen Auffassung das Vertragsverletzungsverfahren, in dessen Rahmen grundsätzlich Feststel51 EuGH, Urteil vom 27. März 1980, Rs. 61/79, Denkavit Italiana, Slg. 1980, 1205, Rn. 16. 52 EuGH, Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 145/79, Roquette Frères, Slg. 1980, 2917, Rn. 51 f.; Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 109/79, Maïseries de Beauce, Slg. 1980, 2883, Rn. 44 ff.; Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 4/79, Société Coopérative „Providence Agricole de la Champagne“, Slg. 1980, 2823, Rn. 44 ff.; Urteil vom 26. April 1994, Rs. C-228/92, Roquette Frères/Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445, Rn. 17. 53 EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455. 54 EuGH, Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 145/79, Roquette Frères, Slg. 1980, 2917; Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 109/79, Maïseries de Beauce, Slg. 1980, 2883; Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 4/79, Société Coopérative „Providence Agricole de la Champagne“, Slg. 1980, 2823. 55 Booß, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU-Recht, 40. Erg.-Lfg., Art. 232 EG, Rn. 54; vgl. auch Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Hrsg.), Jahresbericht 2008, S. 89.
II. Grundlagen der zeitlichen Beschränkung
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lungsurteile ergehen, aus denen sich eine Verpflichtung zur Folgenbeseitigung ex nunc ergibt, wobei in besonderen Konstellationen aber auch eine Verpflichtung ex tunc denkbar ist, die dann gesondert ausgesprochen werden müsste.
II. Grundlagen der zeitlichen Beschränkung der Urteile in Vorabentscheidungsverfahren 1. Wichtige Urteile des Gerichtshofs a) Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II Das Urteil in der Rechtssache Defrenne II 56 markiert den Ausgangspunkt der Rechtsprechung des EuGH zur zeitlichen Beschränkung der Wirkung im Vorabentscheidungsverfahren. Der Vorlage lag ein Rechtsstreit vor der Brüsseler Cour du Travail zugrunde. Die Klägerin, Gabrielle Defrenne, machte einen Entschädigungsanspruch gegen ihre ehemalige Arbeitgeberin, die belgische Fluggesellschaft Sabena, geltend, weil sie in den Jahren 1963 bis 1966 Opfer einer Lohndiskriminierung geworden sei (Ansprüche vor 1963 waren nach belgischem Recht bereits verjährt, und ab dem 1. Februar 1966 vergütete die Sabena männliche und weibliche Flugbegleiter gleich). In diesem Zeitraum hatte Frau Defrenne als Bordstewardess weniger Gehalt erhalten als ihre männlichen Kollegen, die zwar die abweichende Berufsbezeichnung „Purser“ trugen, aber unstreitig die gleiche Arbeit leisteten wie die Stewardessen. Das Brüsseler Arbeitsgericht legte dem EuGH nunmehr die Frage vor, ob Art. 119 EWGV (inzwischen Art. 157 AEUV) den Grundsatz der Gleichheit des Entgelts weiblicher und männlicher Arbeitnehmer unmittelbar in das Recht der Mitgliedstaaten einführe und ob er daher den Arbeitnehmern unabhängig von allen innerstaatlichen Rechtsvorschriften das Recht verleihe, vor innerstaatlichen Gerichten auf Gleichbehandlung zu klagen. Der EuGH bejahte diese Frage und führte aus, dass die nationalen Gerichte verpflichtet seien, die daraus erwachsenden Rechte der Bürger zu schützen, insbesondere im Falle von Diskriminierungen, die ihren Ursprung unmittelbar in Rechtsvorschriften oder Kollektivverträgen hätten.57 Bereits während des Verfahrens hatten die Regierungen Irlands und des Vereinigten Königreichs den Gerichtshof auf die wirtschaftlichen Folgen einer unmittelbaren Geltung hingewiesen, da sie Ansprüche in zahlreichen Wirtschaftszweigen auslösen könnte, die rückwirkend auf den Tag des Eintritts der unmittelbaren Geltung erhoben werden könnten. Derartige Ansprüche, die für die betroffenen Unternehmen nicht vorhersehbar gewesen seien, könnten ernsthafte Auswirkun56 57
EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455. EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 40.
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C. Begrenzung von Urteilsfolgen in der Rechtsprechung des EuGH
gen auf die finanzielle Lage dieser Unternehmen haben und einige von ihnen sogar in den Konkurs treiben. (Interessanterweise standen gerade Irland und das Vereinigte Königreich – zumindest theoretisch – noch am besten da, da für sie als neue Mitglieder die Rückwirkung nur etwas mehr als drei Jahre, bis zum 1. Januar 1973, zurückreichen konnte, während für die Gründungsmitglieder die volle ex-tunc-Wirkung des Urteils bereits am 1. Januar 1962 eingesetzt hätte.58) Der EuGH folgte dieser Argumentation – anders als Generalanwalt Trabucchi, der in seinen Schlussanträgen „Argumente dieser Art“ recht schroff als „rechtlich unerheblich“ abgekanzelt hatte.59 Zunächst wies der Gerichtshof einschränkend darauf hin, dass zwar bei allen gerichtlichen Entscheidungen ihre praktischen Auswirkungen sorgfältig erwogen werden müssten. Dies dürfe aber letztlich nicht dazu führen, dass die Objektivität des Rechts gebeugt und seine zukünftige Anwendung verhindert werde, nur weil eine gerichtliche Entscheidung gewisse Wirkungen für die Vergangenheit haben könne. Ausnahmsweise sei dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Betroffenen dazu veranlasst wurden, lange Zeit gemeinschaftsrechtswidrige, aber mit dem nationalen Recht vereinbare Praktiken beizubehalten. Insbesondere die Untätigkeit der Kommission, die gegen diejenigen Mitgliedstaaten, die Art. 119 EWGV nicht angemessen umgesetzt hatten, zwar Warnungen ausgesprochen, aber keine Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hatte, sei geeignet gewesen, einen falschen Eindruck von der Wirkungsweise dieser Vorschrift zu erwecken. Angesichts der Ungewissheit, wie hoch der Gesamtbetrag der in Betracht kommenden Entgelte sei, führten daher zwingende Erwägungen der Rechtssicherheit dazu, dass die Entgelte für in der Vergangenheit liegende Zeiträume nicht mehr in Frage stehen dürften. Entgeltklagen könnten daher nicht auf vor dem Zeitpunkt des vom EuGH ausgesprochenen Urteils liegende Zeiträume gestützt werden, soweit nicht die Arbeitnehmer bereits Klage erhoben oder einen Rechtsbehelf eingelegt hätten.60 Bereits in diesem Urteil, in dem der EuGH die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen gewissermaßen kreiert, finden sich viele der Zutaten wieder, die er in den Folgeurteilen zu seiner Beschränkungsrechtsprechung verarbeiten sollte: Wirtschaftliche Folgen von einem gewissen Gewicht (in diesem Fall für nicht näher bekannte Wirtschaftszweige), eine Veranlassung zu gemeinschaftswidrigem Verhalten durch ein widersprüchliches Vorgehen der Kommission und keine Beschränkung der Rückwirkung für die Personenkreise, die bereits Rechtsschutz gesucht haben. Lediglich zu den geradezu formelhaften Formulierungen für Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen, die sich in der späteren Be58
Siehe auch Crisham, CMLR 14 (1977), 108 (117). Generalanwalt Trabucchi, Schlussanträge vom 10. März 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Ziff. 10. 60 EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 71/ 73 f. 59
II. Grundlagen der zeitlichen Beschränkung
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schränkungsrechtsprechung ständig wiederholen werden, hat der EuGH zu diesem Zeitpunkt noch nicht gefunden. Das Urteil Defrenne II fand durchaus auch wegen seiner Bedeutung für die Fortentwicklung der gemeinschaftsrechtlichen Sozialpolitik Beachtung.61 Dieser eigentliche inhaltliche Schwerpunkt wurde jedoch erheblich an den Rand gedrängt durch die prozessuale Neuerung, die der EuGH mit der zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkung hier ins Gemeinschaftsrecht eingeführt hat. So äußerte Louis in einer sehr schnellen Reaktion auf das Urteil, „dieser letzte Abschnitt des Urteils“ (über die zeitliche Beschränkung) werde „die größte Beachtung finden“. Der Gerichtshof zeige sich darin „als ein wahres Verfassungsgericht, das die Tragweite seines Urteils einschränkt und zwar unabhängig von den Fragen des vorlegenden Gerichts.“ 62 Von der sozialrechtlichen Entscheidung zeigte er sich hingegen eher enttäuscht.63 Auch Schwarze stellte fest, dass derjenige Teil des Urteils, der sich mit den Urteilswirkungen befasse, besondere Aufmerksamkeit verdiene.64 Der EuGH habe durch die Inanspruchnahme gesetzlich nicht ausdrücklich geregelter Kompetenzen „Neuland betreten“.65 Durch die Rücksichtnahme auf die Interessen der Mitgliedstaaten habe der Gerichtshof seine Funktion als „Integrationsfaktor erster Ordnung“ gewahrt und den Zusammenhalt der Mitgliedstaaten gestärkt.66 Gerade diese Kombination aus Neuerung und Rücksichtnahme wurde jedoch von anderen Autoren kritisiert: Es sei ein seltsames Ergebnis, wenn der Gerichtshof erst eine neuartige Auslegung vornehme und dann, um Chaos aufgrund dieser Auslegung zu vermeiden, in demselben Urteil die ihm nicht zustehende Befugnis in Anspruch nehme, für einen bestimmten Zeitraum von der Befolgung des Vertrages zu dispensieren.67 Nichtsdestotrotz stellt das zweite Defrenne-Urteil den Anfang einer langen Rechtsprechungskette dar. Bereits 1977 stellte Schwarze die Vermutung an, dass sich der Gerichtshof in politisch und ökonomisch schwierigen Zeiten (die Gemeinschaft hatte gerade erst eine schwere Ölkrise überstanden) mehr als in vergangenen Zeiten dieses Instruments bedienen werde.68 Zu einer Flut an Vorabentscheidungsurteilen mit zeitlicher Beschränkung ist es dann allerdings nicht gekommen. Urteile, in denen der Gerichtshof die zeitliche Wirkung beschränkt, 61
Crisham, CMLR 14 (1977), 108 (117 f.); Schwarze, EuR 1977, 44 (44). Louis, EuGRZ 1976, 178 (179). 63 Louis, EuGRZ 1976, 178 (178). 64 Schwarze, EuR 1977, 44 (44). 65 Schwarze, EuR 1977, 44 (48). 66 Schwarze, EuR 1977, 44 (50). 67 Hamson, in: Begegnung Justiz und Hochschule, S. II-17; ähnlich Dumon, in: Begegnung Justiz und Hochschule, S. III-148 ff. 68 Schwarze, EuR 1977, 44 (50). 62
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C. Begrenzung von Urteilsfolgen in der Rechtsprechung des EuGH
sind vielmehr die seltene Ausnahme geblieben, in guten wie in schlechten Zeiten. So sollten vier Jahre vergehen, bevor der Gerichtshof überhaupt wieder eine derartige Folgenbegrenzung aussprach. b) Urteile vom 19. Oktober 1977, verb. Rs. 117/76 und 16/77, Ruckdeschel, sowie verb. Rs. 124/76 und 20/77, Moulins & Huileries de Pont-à-Mousson Gut ein Jahr nach dem bahnbrechenden Urteil in der Rechtssache Defrenne II kam der EuGH in zwei weiteren Verfahren zu einer Modifikation seiner Urteilswirkungen, die zwar ein wenig aus dem Rahmen der hier dargestellten Urteilsbeschränkungen fällt, aber gerade deshalb in dieser Darstellung nicht fehlen soll. Die Klägerinnen der Ausgangsverfahren, zwei deutsche Hersteller von Quellmehl und zwei französische Hersteller von Maisgritz, begehrten bei den zuständigen nationalen Behörden die Zahlung von Erstattungsbeträgen für die Produktion ihrer jeweiligen Erzeugnisse. Diese Erstattungen waren seit den sechziger Jahren von der gemeinsamen Marktordnung vorgesehen, wurden jedoch durch neue EWG-Verordnungen Mitte der siebziger Jahre abgeschafft. Gleichzeitig wurden in beiden Fällen Erstattungen für andere, ähnliche Erzeugnisse (Stärke und Maisstärke) beibehalten.69 Der EuGH stellte nun fest, dass nach dem gemeinschaftsrechtlichen allgemeinen Diskriminierungsverbot (das in Art. 40 Abs. 3 EWG-Vertrag, heute Art. 40 Abs. 2 AEUV, ausgesprochene spezielle Diskriminierungsverbot für die gemeinsame Marktordnung betraf nur identische Produkte) vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden dürften. Bis zum Erlass der neuen Verordnungen seien die einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Regelungen von der wechselseitigen Austauschbarkeit von Quellmell und Stärke einerseits und Maisgritz und Maisstärke andererseits ausgegangen. Rat und Kommission hätten eine objektive Änderung der Umstände nicht nachweisen können, so dass weiterhin von der Substituierbarkeit dieser Produkte auszugehen sei. Dass die Erstattung nur für einige der austauschbaren Produkte abgeschafft, für die übrigen aber beibehalten worden sei, verletze den Gleichheitsgrundsatz.70 Abschließend kam der Gerichtshof jedoch zu dem Ergebnis, dass aufgrund der besonderen Umstände in diesen beiden Fällen die Feststellung der Rechtswidrigkeit nicht zwangsläufig zur Ungültigerklärung der entscheidenden Verordnungen führe. Es sei zu beachten, dass die Änderung der Rechtslage nicht durch eine 69 EuGH, Urteil vom 19. Oktober 1977, verb. Rs. 117/76 u. 16/77, Ruckdeschel, Slg. 1977, 1753, Rn. 4 ff.; Urteil vom 19. Oktober 1977, verb. Rs. 124/76 und 20/77, Moulins & Huileries de Pont-à-Mousson, Slg. 1977, 1795, Rn. 3 ff. 70 EuGH, Urteil vom 19. Oktober 1977, verb. Rs. 117/76 u. 16/77, Ruckdeschel, Slg. 1977, 1753, Rn. 7 ff.; Urteil vom 19. Oktober 1977, verb. Rs. 124/76 und 20/77, Moulins & Huileries de Pont-à-Mousson, Slg. 1977, 1795, Rn. 8 ff.
II. Grundlagen der zeitlichen Beschränkung
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Streichung der Quellmehl und Maisgritz betreffenden Passagen geschehen sei, sondern dass der alte Wortlaut durch einen komplett neuen ersetzt worden sei, der Quellmehl und Maisgritz nicht mehr erwähnte. Die Rechtswidrigkeit der Vorschrift liege also nicht in dem, was sie vorsehe, sondern in dem, was sie gerade nicht erwähne. Eine solche Rechtswidrigkeit könne nicht einfach durch eine Ungültigerklärung seitens des Gerichtshofs beseitigt werden. Hier müsse der Gemeinschaftsgesetzgeber tätig werden, zumal es mehrere Möglichkeiten gebe, die Gleichbehandlung zwischen den Erzeugnissen wieder herzustellen.71 Diese Ausführungen dürften dem Leser bekannt vorkommen. Letztlich hat sich der EuGH hier für eine Unvereinbarerklärung entschieden, wie sie auch vom deutschen BVerfG bekannt ist. Anders als im deutschen Verfassungsrecht ist diese Lösung jedoch im Unionsrecht die absolute Ausnahme geblieben. Soweit ersichtlich, hat der Gerichtshof nur noch in einem einzigen Fall gut zehn Jahre später eine vergleichbare Tenorierung gewählt.72 c) Urteil vom 27. März 1980, Rs. 61/79, Denkavit Italiana Das Urteil Denkavit Italiana stellt den ersten potentiellen Anwendungsfall für eine zeitliche Beschränkung der Urteilsfolgen in einem Auslegungsverfahren seit der Rechtssache Defrenne II vier Jahre zuvor dar. In der Rechtssache 61/79 wandte sich die italienische Finanzverwaltung gegen eine einstweilige Verfügung des Tribunale Civile e Penale Mailand, in der ihr aufgegeben wurde, der Firma Denkavit Italiana Srl rund 2,8 Mio. Lire zurückzuerstatten, welche diese als gesundheitspolizeiliche Gebühren auf die Einfuhr von Milch und Milcherzeugnissen entrichtet hatte. Hierbei handelte es sich um Beträge, die in den Jahren 1971 bis 1974 erhoben worden waren, noch bevor derartige Gebühren von den Gemeinschaftsorganen als Abgaben gleicher Wirkung wie Zölle qualifiziert worden waren; bis zu jenem Zeitpunkt war die herrschende Meinung von der gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit dieser Gebühren ausgegangen. Das Tribunale legte nun dem Gerichtshof die Frage vor, ob eine Erstattung solcher Beträge gemeinschaftsrechtlich geboten sei. In dem Verfahren vor dem EuGH verwies die italienische Regierung auf die Begründung in der Rechtssache Defrenne II; die dort angewandten Kriterien seien auch für Fälle der vorliegenden Art maßgeblich. 71 EuGH, Urteil vom 19. Oktober 1977, verb. Rs. 117/76 u. 16/77, Ruckdeschel, Slg. 1977, 1753, Rn. 11 ff.; Urteil vom 19. Oktober 1977, verb. Rs. 124/76 und 20/77, Moulins & Huileries de Pont-à-Mousson, Slg. 1977, 1795, Rn. 24 ff. 72 EuGH, Urteil vom 29. Juni 1988, Rs. 300/86, van Landschoot, Slg. 1988, 3443; vgl. auch EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2008, Rs. C-333/07, Régie Networks, Slg. 2008, I-10807, Rn. 129, wo der EuGH zwar die streitgegenständliche Kommissionsentscheidung für ungültig erklärte, aber dennoch die Wirkung dieser Feststellung bis zum Erlass einer neuen Entscheidung aussetzte.
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C. Begrenzung von Urteilsfolgen in der Rechtsprechung des EuGH
Der Gerichtshof hob, deutlicher als noch in Defrenne II, die ex-tunc-Wirkung seiner Auslegungsurteile hervor: „Durch die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Artikel 177 EWG-Vertrag vornimmt, wird erläutert und erforderlichenfalls verdeutlicht, in welchem Sinn und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre.“ 73
Hiervon könne er, führte der Gerichtshof weiter aus, nur ausnahmsweise aus Gründen der Rechtssicherheit abweichen. Die Rechtssicherheit sei, und hierin zeigt sich eine Fortentwicklung zu Defrenne II, „ein der Gemeinschaftsrechtsordnung innewohnender allgemeiner Grundsatz.“ Eine solche Einschränkung müsse allerdings in dem Urteil selbst enthalten sein, durch das über das Auslegungsersuchen entschieden werde; dies folge aus dem grundlegenden Erfordernis der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts.74 Im Hinblick auf den konkreten Fall wies der EuGH die Behauptung Italiens zurück, es sei bislang allgemein von der Zulässigkeit der Gebühren auszugehen gewesen, und lehnte eine zeitliche Beschränkung ab. Im Hinblick auf die hieraus resultierenden Erstattungsansprüche führte er aus, dass sich diese nach nationalem Recht richteten und nicht unbedingt in allen Mitgliedstaaten gleich sein müssten; immerhin unterschieden sich auch innerhalb einzelner Staaten die Erstattungsmöglichkeiten je nach Art der Steuern oder Abgaben erheblich.75 Unter Verweis auf seine Entscheidungen in den Rechtssachen Rewe76 und Comet77 wies der Gerichtshof schließlich noch darauf hin, dass nationale Ausschlussfristen für die Geltendmachung derartiger Ansprüche mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar seien.78 d) Urteil vom 27. März 1980, verb. Rs. 66, 127 und 128/79, Salumi Am selben Tag wie das Urteil in der Rechtssache Denkavit Italiana erging ein weiteres Urteil des EuGH, das für die vorliegende Untersuchung interessant ist. Inhaltlich ähneln sich die beiden Urteile sehr. Wiederum ging es um Einfuhrabgaben in Italien, in diesem Fall so genannte „Abschöpfungen auf landwirtschaft73 EuGH, Urteil vom 27. März 1980, Rs. 61/79, Denkavit Italiana, Slg. 1980, 1205, Rn. 16. 74 EuGH, Urteil vom 27. März 1980, Rs. 61/79, Denkavit Italiana, Slg. 1980, 1205, Rn. 17 f. 75 EuGH, Urteil vom 27. März 1980, Rs. 61/79, Denkavit Italiana, Slg. 1980, 1205, Rn. 21 ff. 76 EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. 33/76, Rewe, Slg. 1976, 1989, Rn. 5. 77 EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. 45/76, Comet, Slg. 1976, 2043, Rn. 11/18. 78 EuGH, Urteil vom 27. März 1980, Rs. 61/79, Denkavit Italiana, Slg. 1980, 1205, Rn. 23.
II. Grundlagen der zeitlichen Beschränkung
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liche Erzeugnisse“. Hier hatte die italienische Zollverwaltung auf der Grundlage eines präsidialen Dekrets auf Antrag des Importeurs einen Abgabentarif angewandt, der niedriger war als der für den Tag der Einfuhr gültige Abgabentarif. Dies entsprach der von der Kommission empfohlenen Vorgehensweise für Zölle, die von den Mitgliedstaaten entsprechend auf andere Abgaben angewandt wurde. Diese „Analogie“ war jedoch, wie sich später durch ein Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Frecassetti79 herausstellte, nicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar. Zum Rechtsstreit kam es, als die italienische Finanzverwaltung die Unternehmen Salumi, Vasanelli und Ultrocchi zu Nachzahlungen aufgrund des angewandten niedrigeren Abgabensatzes aufforderte. Die mit der Sache befasste Corte Suprema di Cassazione in Rom legte dem Gerichtshof die Frage vor, ob, wenn sich nach der Auslegung des Gerichtshofs erweist, dass die nationalen Behörden eine Gemeinschaftsvorschrift bisher falsch angewendet haben, diese Auslegung des Gerichtshofs auch auf die vor dem entsprechenden Auslegungsurteil des EuGH enstandenen Rechtsverhältnisse anwendbar ist. Die Antwort des EuGH zu dieser Frage entsprach fast wortwörtlich derjenigen in Denkavit Italiana. Von Interesse ist dieses Urteil insoweit, als die betroffenen Unternehmen einen interessanten Lösungsansatz zur Rückwirkungsproblematik vortrugen. Demnach sei eine Differenzierung dahingehend vorzunehmen, ob es sich um ein „echtes“ Auslegungsurteil handele oder nicht. Bei „echten“ Auslegungsurteilen, also solchen, in denen sich die Vorlagefrage durch Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte, die Begründung, die verschiedenen Sprachfassungen oder aber den natürlichen Wortlaut der Vorschrift beantworten ließe, stelle der EuGH nur den ursprünglichen Willen des Gemeinschaftsgesetzgebers fest. Daher sei eine ex-tuncWirkung angemessen. Wende der Gerichtshof aber andere Auslegungsmethoden wie Analogie, Billigkeit oder allgemeine Rechtsgrundsätze an, so handele es sich eigentlich um eine Fortentwicklung des Rechts durch das Urteil; daher sei hier eine ex-nunc-Wirkung angemessen.80 Der EuGH ist auf diesen Vorschlag allerdings mit keinem Wort eingegangen. e) Urteile vom 15. Oktober 1980, Rs. 4/79, Providence Agricole de la Champagne, Rs. 109/79, Maïseries de Beauce, und Rs. 145/79, Roquette Frères In drei Urteilen vom 15. Oktober 198081 nahm der Gerichtshof zum ersten Mal zur Frage der zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen im Rahmen einer 79
EuGH, Urteil vom 15. Juni 1976, Rs. 113/75, Frecassetti, Slg. 1976, 983. EuGH, Urteil vom 27. März 1980, verb. Rs. 66, 127, 128/79, Salumi, Slg. 1980, 1237 (1244 – Tatbestand). 81 EuGH, Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 4/79, Société Coopérative „Providence Agricole de la Champagne“, Slg. 1980, 2823; Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 109/ 80
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C. Begrenzung von Urteilsfolgen in der Rechtsprechung des EuGH
Vorabentscheidung über die Gültigkeit von Gemeinschaftsrecht Stellung (die bisherigen Verfahren hatten alle entweder Auslegungsfragen zum Gegenstand oder enthielten statt einer zeitlichen Beschränkung eine Unvereinbarerklärung). Die drei parallel entschiedenen Verfahren ähneln sich sehr stark: In jedem der Ausgangsverfahren wandte sich ein französisches Agrarunternehmen gegen die französische Verwaltung, die Währungsausgleichsbeträge für die Ausfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse, insbesondere Maisprodukte wie Maisgries und Maisstärke, erhoben hatte. Diese Ausgleichsbeträge hatten die Zielsetzung, Störungen des Systems der einheitlichen Preise in den Agrarmarktorganisationen entgegenzuwirken, die durch schwankende Wechselkurse verursacht wurden. Die Ausgleichsbeträge wurden von der Kommission aufgrund einer Ermächtigung durch den Rat berechnet, in Verordnungen festgelegt und sodann von den mitgliedstaatlichen Verwaltungen erhoben. Auf die Fragen der vorlegenden Gerichte hin stellte der Gerichtshof fest, dass die Kommission zahlreiche Ausgleichsbeträge falsch berechnet hatte. Die entsprechenden Kommissionsverordnungen waren daher insoweit ungültig.82 Allerdings legte der Gerichtshof zugleich fest, dass diese Ungültigkeit niemanden dazu berechtige, die aufgrund dieser Verordnung von den nationalen Behörden durchgeführte Erhebung oder Zahlung von Währungsausgleichsbeträgen für die Zeit vor dem Erlass des Urteils in Frage zu stellen.83 Zur Begründung dieser zeitlichen Begrenzung zog der Gerichtshof, anders als in den bisher besprochenen Urteilen, Art. 174 Abs. 2 EWGV (heute Art. 264 Abs. 2 AEUV) analog heran. Die analoge Anwendung sei, so der EuGH, aus denselben Rechtssicherheitserwägungen geboten, die auch dieser Bestimmung zugrunde lägen.84 Diese Analogie des EuGH wurde in der Literatur teilweise anerkennend als „mutig“ und „kühn“ bezeichnet,85 teilweise aber auch heftig kritisiert.86 Bemerkenswert ist jedenfalls, dass der EuGH – und auch hier unterscheiden sich die drei Mais-Urteile von den bisher dargestellten Entscheidungen – eine Berufung auf die Unwirksamkeit der Verordnung für die Vergangenheit für jedermann aus79, Maïseries de Beauce, Slg. 1980, 2883; Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 145/79, Roquette Frères, Slg. 1980, 2917. 82 Siehe EuGH, Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 145/79, Roquette Frères, Slg. 1980, 2917, Rn. 48. 83 EuGH, Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 145/79, Roquette Frères, Slg. 1980, 2917, Rn. 53; EuGH, Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 4/79, Société Coopérative „Providence Agricole de la Champagne“, Slg. 1980, 2823, Rn. 46; Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 109/79, Maïseries de Beauce, Slg. 1980, 2883, Rn. 46. 84 Siehe statt aller EuGH, Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 4/79, Société Coopérative „Providence Agricole de la Champagne“, Slg. 1980, 2823, Rn. 44. 85 Brown, C.M.L.R. 18 (1981), 509 (519); Usher, Eur. L. Rev 6 (1981), 116 (118); zustimmend auch Glaesner, in: Schermers/Timmermans/Kellermann/Watson (Hrsg.), S. 312. 86 Labayle, Rev. Trim. Dr. Eur. 1982, 484 (488 ff.).
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schloss. Er machte also nicht einmal für die Kläger der drei Ausgangsverfahren, die überhaupt erst die Klärung dieser Frage herbeigeführt hatten, eine Ausnahme. Der Erfolg im Vorabentscheidungsverfahren erscheint daher für die Kläger auf den ersten Blick nutzlos, weil sie vor dem nationalen Gericht zwangsläufig leer ausgingen.87 Dies dürfte allerdings bei genauerem Hinsehen für die Kläger zu verschmerzen gewesen sein, da ihre im Ausgangsverfahren eingeklagten Beträge sich ohnehin eher bescheiden ausnahmen, sie aber für die Zukunft ihre wirtschaftliche Position bedeutend verbessert hatten.88 f) Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 309/85, Barra Zum Verständnis der Rechtssache Barra ist es notwendig, sich zuvor mit dem Urteil des Gerichtshofs vom 13. Februar 1985 in der Rechtssache 293/83 (Gravier)89 zu befassen. Hier stand zwar nicht die Frage der zeitlichen Wirkung zur Debatte, allerdings erlangte die hier zu beantwortende Fragestellung in späteren Urteilen, bei denen es dann tatsächlich um die zeitlichen Wirkungen ging, erneut Bedeutung. Die Antragstellerin des Hauptverfahrens, Françoise Gravier, eine französische Studentin, studierte im belgischen Lüttich an der Académie Royale des BeauxArts die Fachrichtung Comic Strips. Die Stadt Lüttich verlangte von der Antragstellerin die Zahlung einer Studiengebühr, das so genannte „minerval“, das nur von ausländischen, nicht aber von belgischen Studierenden erhoben wurde. Gegen die Erhebung dieser Gebühr wollte sich Frau Gravier im Wege einer einstweiligen Verfügung wehren. Der Präsident des Tribunal de première instance legte dem EuGH die Frage vor, inwieweit sich Studierende, die zu Studienzwecken in einen anderen Mitgliedstaat ziehen, auf das Diskriminierungsverbot des damaligen Art. 7 EWGV (jetzt Art. 18 AEUV) berufen können. Hierzu stellte der EuGH fest, dass der Zugang zur Berufsausbildung geeignet sei, die Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft zu fördern. Die Voraussetzungen für den Zugang zur Berufsausbildung fielen daher in den Anwendungsbereich des EWG-Vertrages, und die beschriebene Studiengebührenpraxis Belgiens stelle wiederum eine verbotene Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit dar.90 Des Weiteren stellte der EuGH fest, dass der Studiengang „Comic Strips“ grundsätzlich, bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen, als Berufsausbildung im Sinne des EWG-Vertrags anzusehen sei.91 87 88 89 90 91
Labayle, Rev. Trim. Dr. Eur. 1982, 484 (488). Brown, C.M.L.R. 18 (1981), 509 (512). EuGH, Urteil vom 13. Februar 1985, Rs. 293/83, Gravier, Slg. 1985, 593. EuGH, Urteil vom 13. Februar 1985, Rs. 293/83, Gravier, Slg. 1985, 593, Rn. 25. EuGH, Urteil vom 13. Februar 1985, Rs. 293/83, Gravier, Slg. 1985, 593, Rn. 31.
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C. Begrenzung von Urteilsfolgen in der Rechtsprechung des EuGH
Dieses Urteil erlangte drei Jahre später in der Rechtssache Barra erneut Bedeutung. Diesem Vorabentscheidungsverfahren lag wiederum ein Rechtsstreit um das belgische „Minerval“, die zusätzliche Studiengebühr für Ausländer, zugrunde. Auch hier waren die Antragsteller französische Studenten, die in Belgien eine Schule besuchen wollten, in diesem Fall eine städtische Berufsschule in Lüttich, an der die Fachausbildung „Waffenschmiedekunst“ angeboten wurde. Mit der ersten Vorlagefrage wollte sich das belgische Gericht (vor dem Hintergrund des üblichen Wortlauts der bisherigen Urteile eigentlich unnötigerweise) versichern, ob das Urteil in der Sache Gravier auch auf den Zeitraum vor der Urteilsverkündung anwendbar sei. Dies bejahte der Gerichtshof.92 Die in der Vorlagefrage mitschwingende Frage nach einer Begrenzung der zeitlichen Wirkungen beantwortete der EuGH gleich mit: Eine solche müsse nach ständiger Rechtsprechung in dem Urteil enthalten sein, durch das über das Auslegungsersuchen entschieden worden sei. Da die zentrale Vorlagefrage, ob der Zugang zu einer Berufsausbildung dem Diskriminierungsverbot (Art. 7 EWGV bzw. Art. 18 AEUV) unterfalle, bereits im Urteil Gravier geklärt worden sei, die streitgegenständliche Ausbildung zum Waffenschmied unstreitig eine Berufsausbildung sei und des Weiteren eine zeitliche Beschränkung in jenem Urteil nicht erfolgt sei, sei eine Beschränkung nun auch in der vorliegenden Sache nicht mehr möglich.93 Im Übrigen stellte der Gerichtshof fest, dass ein nationales Gesetz, demzufolge vor dem Urteil Gravier gezahlte Studiengebühren trotz des fehlenden Rechtsgrunds nicht zurückzuzahlen seien (ein solches Gesetz hatte Belgien zur Schadensbegrenzung erlassen), nicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei.94 g) Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 24/86, Blaizot Das Urteil in der Rechtssache Blaizot ist nicht zufällig am selben Tage wie das in der Rechtsache Barra ergangen: Der EuGH neigt dazu, bei ähnlich gelagerten Sachverhalten, die eine Grundsatzentscheidung erforderlich machen, die Entscheidungen am selben Tag zu verkünden, auch wenn die Verfahren nicht miteinander verbunden sind.95 Und tatsächlich ähnelt der Sachverhalt der Rechtssache Blaizot sehr dem in der Rechtssache Barra. Die Antragsteller des Ausgangsverfahrens, Vincent Blaizot und 16 weitere französische Studenten, studierten in Belgien Tiermedizin und wehrten sich gegen das „minerval“. Im Gegensatz zu den Fällen Gravier und Barra handelt es sich hierbei nicht um eine Ausbildung an einer Berufsschule oder Fachhochschule, sondern um ein Universitätsstudium. Der EuGH stellte jedoch fest, dass auch ein Universitätsstudium in der Regel 92 93 94 95
EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 309/85, Barra, Slg. 1988, 355, Rn. 11. EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 309/85, Barra, Slg. 1988, 355, Rn. 14. EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 309/85, Barra, Slg. 1988, 355, Rn. 19 ff. Vgl. Schima, S. 151.
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unter den Begriff der Berufsausbildung gemäß Art. 128 EWGV (heute Art. 166 AEUV) falle.96 Somit unterfielen auch universitäre Studiengänge dem Anwendungsbereich des Vertrages. Das belgische „minerval“ verstieß somit auch in Bezug auf diese Studiengänge gegen das Gemeinschaftsrecht. Anders als in der Parallelentscheidung Barra ordnete der Gerichtshof hier aber eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen an. Gravier stand dem nach Auffassung des Gerichtshofs nicht entgegen, weil im vorliegenden Urteil erstmals über die Frage entschieden worden sei, ob auch eine Universitätsausbildung als Berufsausbildung im Sinne des EWG-Vertrags anzusehen sei.97 Diese Differenzierung erscheint ein wenig verwunderlich, da es sich letztlich doch nur um eine Fortentwicklung der in Gravier gelegten Grundlagen handelt.98 Auf der anderen Seite ist wohl zuzugeben, dass ein Universitätsstudium gerade in akademischen Kreisen von einigen eher als Bildung denn als eine vermeintliche „profane“ Berufsausbildung angesehen wird. Auch die Kommission schien sich ihrer Sache lange nicht sicher zu sein und erklärte noch Monate nach dem Urteil in der Rechtssache Gravier in einer Sitzung des Ausschusses für Bildungsfragen beim Rat, dass sie sich in dieser Hinsicht noch keine genaue Meinung über die Folgen des betreffenden Urteils gebildet habe.99 h) Urteil vom 17. Mai 1990, Rs. C-262/88, Barber Gegenstand der Rechtssache Barber war eine sozialrechtliche Fragestellung. Der Kläger des Ausgangsverfahrens, Douglas Harvey Barber, arbeitete bei einer Versicherung und war bei dieser an eine Pensionskasse anstelle der gesetzlichen Rentenversicherung angeschlossen. Im Alter von 52 Jahren wurde ihm betriebsbedingt gekündigt. Nach den Bedingungen des Arbeitsvertrages hätte Herr Barber, wenn er bereits 55 Jahre alt gewesen wäre, einen sofortigen Anspruch auf Zahlung einer Rente gehabt. Eine weibliche Arbeitnehmerin hätte wiederum auch in der Lage von Herrn Barber sofort einen Anspruch gehabt, da hier die Altersgrenze bereits bei 50 Jahren lag. So hingegen musste sich Herr Barber mit diversen im Arbeitsvertrag festgelegten Geldzahlungen und einer Anwartschaft auf eine spätere Rente begnügen. Diese Ungleichbehandlung war keineswegs ungewöhnlich, sondern orientierte sich an den Bedingungen der gesetzlichen Rentenversicherung, die ebenfalls zwischen männlichen und weiblichen Arbeitnehmern differenzierte. Herr Barber erhob Klage vor dem zuständigen Arbeitsgericht, weil er sich wegen seines Geschlechts diskriminiert fühlte. Nachdem die ersten beiden Instanzen 96 97 98 99
EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 24/86, Blaizot, Slg. 1988, 379, Rn. 20 ff. EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 24/86, Blaizot, Slg. 1988, 379, Rn. 29. Arnull, E.L.Rev. 13 (1988), 260 (266). EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 24/86, Blaizot, Slg. 1988, 379, Rn. 32.
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C. Begrenzung von Urteilsfolgen in der Rechtsprechung des EuGH
seine Klage abgewiesen hatten, legte der Court of Appeal dem EuGH mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor. Im Kern ging es darum, ob Art. 119 EWGV (jetzt Art. 157 AEUV) auf Fälle wie den vorliegenden anwendbar war und ob die geschilderte unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen gegen diese Vorschrift verstieß.100 Der Gerichtshof bejahte beide Fragen. Auf Anregung der Kommission beschränkte er die zeitliche Wirkung des Urteils. Die Regierung des Vereinigten Königreichs hatte zuvor darauf hingewiesen, dass die Zahl der Arbeitnehmer, die solchen privaten Rentenversicherungen angeschlossen seien, im Vereinigten Königreich sehr hoch sei und dass viele dieser Versicherungen, offenbar dem Vorbild der gesetzlichen Rentenversicherung folgend, vom Grundsatz der Gleichbehandlung von Mann und Frau abwichen.101 Leider geriet dem Gerichtshof seine Formulierung ein wenig zu knapp. So blieb unklar, worauf sich die zeitliche Begrenzung nun genau beziehen sollte: War eine Gleichbehandlung nur für Neuzugänge in die Betriebsrentensysteme ab dem Zeitpunkt des Urteils notwendig? Waren alle nach dem Urteil erbrachten Beiträge gleich zu behandeln? War auf die nach dem Urteil erstmals erbrachten Versorgungsleistungen (für frühere Beiträge) abzustellen? Oder waren alle nach dem Urteil erbrachten Versorgungsleistungen zu berücksichtigen, also auch die von bereits laufenden Renten?102 Als Reaktion auf diese Unklarheiten nahmen sämtliche Mitgliedstaaten mit dem Vertrag von Maastricht zugleich das Protokoll Nr. 2 zu Artikel 119 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (heute Protokoll Nr. 33 zu Art. 157 AEUV) an. Der Wortlaut dieses Protokolls, das gewissermaßen die „authentische Auslegung“ des Urteils festlegt,103 ähnelt sehr dem Ausspruch des Gerichtshofs mit einer entscheidenden Präzisierung: Leistungen eines betrieblichen Systems der sozialen Sicherheit gelten demnach nicht als Entgelt im Sinne des Art. 119 EWGV, sofern sie sich auf Beschäftigungszeiten vor dem 17. Mai 1990 (dem Tag des Barber-Urteils) zurückführen lassen, außer im Fall von Arbeitnehmern, die vor diesem Zeitpunkt eine Klage bei Gericht oder ein vergleichbares Verfahren anhängig gemacht haben. Diese bislang einmalige Reaktion der Gesamtheit der Mitgliedstaaten auf einen Urteilsausspruch des Gerichtshofs ist als Verletzung des Grundsatzes der Gewaltenteilung kritisiert worden.104 Auch das Protokoll hat jedoch bei weitem 100 EuGH, Urteil vom 17. Mai 1990, Rs. C-262/88, Barber, Slg. 1990, I-1889, Rn. 1 ff. 101 EuGH, Urteil vom 17. Mai 1990, Rs. C-262/88, Barber, Slg. 1990, I-1889, Rn. 40 ff. 102 Borchardt, Versicherungswirtschaft 1992, 929 (935); Honeyball/Shaw, E.L.Rev. 16 (1991), 47 (56); Huep, S. 91. 103 Coen, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, Art. 157 AEUV, Rn. 64; Borchardt, Versicherungswirtschaft 1992, 929 (935). 104 Borchardt, Versicherungswirtschaft 1992, 929 (935).
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nicht alle Unklarheiten beseitigen können;105 vielmehr hatte sich der Gerichtshof in den Folgejahren mit einer ganzen Serie von Barber-Folgeverfahren zu befassen.106 i) Urteil vom 16. Juli 1992, Rs. C-163/90, Legros Der Rechtssache Legros aus dem Jahre 1992 lag wiederum eine staatliche Abgabe zugrunde. Der so genannte „octroi de mer“ wurde auf alle Waren erhoben, die auf die Insel Réunion, ein französisches überseeisches Département, eingeführt wurden, während einheimische Waren nicht betroffen waren. Herr Léopold Legros und die drei anderen Berufungsbeklagten des Ausgangsverfahrens forderten die Erstattung des auf ihre in Frankreich gekauften deutschen und schwedischen Autos erhobenen octroi. Der EuGH stellte hierzu fest, dass es sich bei dem „octroi de mer“ um eine gemeinschaftswidrige Abgabe mit zollgleicher Wirkung handelte.107 In ihren schriftlichen Ausführungen hatten Frankreich und die Region Réunion bereits die Möglichkeit angesprochen, die zeitlichen Wirkungen des Urteils zu begrenzen, sollte der Gerichtshof zu einer Unvereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht kommen. Zur Begründung wiesen sie zum einen darauf hin, dass die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts auf die überseeischen Départements lange Zeit unsicher gewesen sei, zum anderen verwiesen sie auf die katastrophalen Folgen einer Rückerstattungspflicht. Der EuGH erkannte an, dass die örtlichen Körperschaften der Region eine solche Pflicht nicht verkraften würden, zumal die dreißigjährige Verjährungsfrist des französischen Code Civil Anwendung finde.108 Zudem hatte die Kommission erst ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich wegen des „octroi de mer“ eingeleitet und dann nicht fortgesetzt. Überdies hatte sie dem Rat den Erlass einer Entscheidung vorgeschlagen, die unter anderem darauf zielte, den octroi beizubehalten. Diese Ratsentscheidung wiederum hatte in ihren Begründungserwägungen zahlreiche Rechtfertigungsgründe für diese regionale Abgabe enthalten. Vor diesem Hintergrund konnten – so der EuGH – die französische Republik und die örtlichen Körperschaften zu dem Schluss verleitet werden, dass der „octroi de mer“ mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei.109 Da die beiden (inzwischen gefestigten) Tatbestandsvorausset-
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Preis/Mallossek, in: Oetker/Preis (Hrsg.), B 4000, Rn. 51. Siehe zum Beispiel EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1993, Rs. C-109/91, Ten Oever, Slg. 1993, I-4939; Urteil vom 28. September 1994, Rs. C-57/93, Vroege, Slg. 1994, I-4541; Urteil vom 28. September 1994, Rs. C-128/93, Fisscher, Slg. 1994, I-4583; Urteil vom 17. April 1997, Rs. C-147/95, Evrenopoulos, Slg. 1997, I-2057; vgl. Rebhorn, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 141 EG, Rn. 34 mwN. 107 EuGH, Urteil vom 16. Juli 1992, Rs. 193/90, Legros, Slg. 1992, I-4625, Rn. 18. 108 EuGH, Urteil vom 16. Juli 1992, Rs. 193/90, Legros, Slg. 1992, I-4625, Rn. 18. 109 EuGH, Urteil vom 16. Juli 1992, Rs. 193/90, Legros, Slg. 1992, I-4625, Rn. 31. 106
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zungen „schwerwiegende wirtschaftliche Folgen“ und „guter Glaube“ somit erfüllt waren, begrenzte der Gerichtshof die zeitliche Wirkung des Urteils. j) Urteil vom 4. Mai 1999, Rs. C-262/96, Sürül Das Urteil Sürül stellt neben der Rechtssache Barber ein weiteres Beispiel dafür dar, wie in sozialrechtlichen Fragestellungen eine zeitliche Begrenzung der Urteilswirkungen notwendig werden kann. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, Frau Sema Sürül, und ihr Ehemann waren beide türkische Staatsangehörige und hielten sich aufgrund einer Aufenthaltsbewilligung rechtmäßig in Deutschland auf. Herr Sürül studierte in Deutschland und erhielt außerdem die Erlaubnis, neben dem Studium in einem gewissen Umfang als Aushilfskraft tätig zu sein; die Klägerin durfte keine Erwerbstätigkeit ausüben. Als die Eheleute Sürül ein Kind bekamen, zahlte die Bundesanstalt für Arbeit erst ein Kindergeld aus, stellte diese Zahlungen aber später mit der Begründung ein, dass eine Aufenthaltsbewilligung – im Gegensatz zur Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung – nicht zum Erhalt von Kindergeld berechtige. Auf die Vorlage des Sozialgerichts Aachen hin stellte der EuGH fest, dass es aufgrund eines Beschlusses des Assoziationsrates EWG–Türkei unzulässig sei, den Kindergeldanspruch eines türkischen Staatsangehörigen von einer bestimmten Art des Aufenthaltstitels abhängig zu machen, während Inländer insoweit nur ihren Wohnsitz in dem betreffenden Mitgliedstaat haben müssen.110 In dem Verfahren ersuchten nicht nur die deutsche, sondern auch die französische und die britische Regierung den Gerichtshof, die zeitlichen Wirkungen des Urteils zu beschränken. Diesen Anträgen hätte unter Umständen das frühere Urteil in der Rechtssache Taflan-Met111 entgegenstehen können, in dem sich der EuGH bereits mit der unmittelbaren Wirkung des auch im Fall Sürül einschlägigen Beschlusses des Assoziationsrates befasst hatte. Der Gerichtshof stellte jedoch fest, dass er im Fall Sürül erstmals zur Auslegung des hier einschlägigen Artikels des Beschlusses Stellung nehme und somit eine Begrenzung der zeitlichen Wirkung nicht präkludiert sei.112 Ohne noch groß darauf einzugehen, wieso ihn das Argument der betreffenden Mitgliedstaaten überzeugte, dass eine Rückwirkung des Urteils die Sozialsysteme erschüttern würde, beschränkte daher der Gerichtshof die Wirkung seines Urteils.113
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EuGH, Urteil vom 4. Mai 1999, Rs. C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685, Rn. 105. EuGH, Urteil vom 10. September 1996, Rs. C-277/94, Taflan-Met, Slg. 1996, I-4085. 112 EuGH, Urteil vom 4. Mai 1999, Rs. C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685, Rn. 109. 113 EuGH, Urteil vom 4. Mai 1999, Rs. C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685, Rn. 111 ff. 111
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k) Urteil vom 9. März 2000, Rs. C-437/97, Evangelischer Krankenhausverein Wien (EKW) Das folgende Urteil markiert insofern einen Wendepunkt, als mit ihm ein neuer, sehr wichtiger Anwendungsbereich für eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen auf der Bildfläche erscheint: die nationalen Steuersysteme. Auslöser des Verfahrens war eine österreichische Getränkesteuer. Diese sah vor, dass die Gemeinden Abgaben von 10 % auf Speiseeis und alkoholhaltige Getränke sowie von 5 % auf alkoholfreie Getränke erheben konnten. Die Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens, der Betreiber einer Cafeteria in einem Wiener Krankenhaus und eine österreichische Weinhandelsgesellschaft, wehrten sich gegen ihre Steuerbescheide. Der Verwaltungsgerichtshof legte die Sache dem EuGH vor, da er Zweifel an der Vereinbarkeit der Getränkesteuer mit der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie114 hegte. Der EuGH kam zur Unvereinbarkeit der Getränkesteuer mit der Richtlinie, da die auf alkoholische Getränke erhobene Steuer „keine besondere Zielrichtung“ verfolgte, wie dies die Richtlinie vorsah. Auch entspreche die Steuer weder den Grundsätzen der Verbrauchsteuern noch denen der Mehrwertsteuern, obgleich dies die Richtlinie erforderte.115 Auf Antrag der österreichischen Regierung hin ordnete der Gerichtshof die Beschränkung der zeitlichen Wirkung an. Zur Begründung verwies er auf den guten Glauben Österreichs, das sich im Verfahren unwidersprochen darauf berufen hatte, Vertreter der Kommission hätten im Rahmen der Verhandlungen über den Beitritt Österreichs zur Gemeinschaft versichert, dass die österreichische Getränkesteuer mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei. Unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Folgen stellte der EuGH darauf ab, dass eine Infragestellung der alten Rechtsverhältnisse das Finanzierungssystem der österreichischen Gemeinden rückwirkend in seinen Grundlagen erschüttern würde.116 Die von Österreich vorgebrachten Argumente, dass die betroffenen Gastwirte die Steuer auf ihre Gäste abgewälzt hätten, dass es sich um zahlreiche kleine Beträge handele, deren Rückzahlung nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand zu bewältigen sei, und dass aufgrund der geringen Beträge vielfach gar keine Belege existierten, hielt der Gerichtshof daher für nicht mehr entscheidungserheblich.117
114 Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern, ABl. 1977, Nr. L 145 vom 13. Juni 1977, S. 1. 115 EuGH, Urteil vom 9. März 2000, Rs. C-437/97, Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, I-1157, Rn. 26 ff. 116 EuGH, Urteil vom 9. März 2000, Rs. C-437/97, Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, I-1157, Rn. 55 ff. 117 EuGH, Urteil vom 9. März 2000, Rs. C-437/97, Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, I-1157, Rn. 55.
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C. Begrenzung von Urteilsfolgen in der Rechtsprechung des EuGH
l) Urteil vom 3. Oktober 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona An der Rechtssache Banca Popolare di Cremona sind in erster Linie das Verfahren, insbesondere die Schlussanträge, und die dadurch entfachte Diskussion über die zeitliche Begrenzung der Urteilswirkungen und den Einfluss des EuGH auf das nationale Steuerrecht interessant. Daher soll dieses Verfahren an dieser Stelle ausführlich dargestellt werden, auch wenn das Urteil selbst für die vorliegende Untersuchung weniger bedeutend ist, da der EuGH zur zeitlichen Beschränkung letztlich gar keine Stellung nehmen musste. Dem Verfahren lag wiederum, wie in der zuvor dargestellten Rechtssache Evangelischer Krankenhausverein Wien, die Frage der Vereinbarkeit einer regionalen Steuer mit der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie118 zugrunde. Die italienische Republik hatte im Jahre 1997 die „imposta regionale sulle attività produttive“, kurz „IRAP“, eingeführt. Gegenstand dieser Produktionssteuer war die gewohnheitsmäßige Ausübung einer selbständigen Tätigkeit, die auf die Herstellung von Gegenständen oder die Erbringung von Dienstleistungen gerichtet ist. Die IRAP bildete für die regionalen Behörden die wichtigste Einkommensquelle für die Finanzierung der Ausübung ihrer hoheitlichen Befugnisse.119 Die Banca Popolare di Cremona verlangte von der zuständigen Steuerbehörde unter Berufung auf die Unvereinbarkeit mit der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie die Erstattung der IRAP. Nachdem die Steuerbehörden dieses Ansinnen zurückgewiesen hatten und die Banca Popolare die Steuer im Klagewege zurückverlangte, legte das mit der Zahlungsklage befasste Provinzialfinanzgericht Cremona dem EuGH vor. In seinen Schlussanträgen vom 17. März 2005 kam Generalanwalt Jacobs zu dem Ergebnis, dass eine nationale Steuer nach Art der IRAP die wesentlichen Merkmale der Mehrwertsteuer aufweise und daher nicht mit der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar sei. Zum Hintergrundverständnis: Nach der besagten Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie wurde die Umsatzsteuer in den EU-Mitgliedstaaten in Form einer Mehrwertsteuer (genauer gesagt: einer AllphasenNetto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug) harmonisiert, insbesondere mit der Zielrichtung, Wettbewerbsverfälschungen durch verschiedene Umsatzsteuersysteme auf der nationalen Ebene zu beseitigen. Neben der Mehrwertsteuer durften die Mitgliedstaaten andere Steuern nur insoweit beibehalten oder neu einführen, als diese nicht den Charakter einer Umsatzsteuer aufwiesen.120 Anderenfalls hät118 Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern, ABl. 1977, Nr. L 145 vom 13. Juni 1977, S. 1. 119 Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge vom 17. März 2005, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 12, 79. 120 Art. 33 Abs. 1 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie (siehe oben, Fn. 118); vgl. Kokott, S. 36.
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ten die Mitgliedstaaten die Harmonisierung durch eine Aufspaltung in eine „offizielle“, harmonisierte Mehrwertsteuer und eine lediglich anders deklarierte zweite Steuer umgehen können. Im Folgenden befasste sich Generalanwalt Jacobs mit dem Antrag der italienischen Regierung, die Urteilswirkungen zu beschränken.121 Die Vertreter der Republik Italien hatten nämlich geltend gemacht, dass nach italienischem Verfahrensrecht ein rückwirkender Erstattungsanspruch die letzten 48 Monate erfassen und die Regionen (selbst für diesen relativ kurzen Zeitraum) mehr als 120 Milliarden Euro kosten würde. Außerdem hatte der für Zölle und indirekte Steuern zuständige Generaldirektor der Kommission auf eine Anfrage Italiens hin die Unbedenklichkeit der IRAP bescheinigt, wenn auch unter dem Vorbehalt einer möglichen erneuten Überprüfung. Bei dieser Prüfung der Kriterien, die der EuGH üblicherweise für die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen anwendet, ließ es der Generalanwalt jedoch nicht bewenden. Vielmehr warf er im Folgenden die bis dato in dieser Form noch nicht diskutierte Frage auf, welcher Zeitpunkt als Schranke für die zeitlichen Wirkungen des Urteils zu wählen sei.122 Da der italienischen Presse zu entnehmen sei, dass eine große Zahl Gewerbetreibender in Vorahnung des Urteils bereits die Erstattung beantragt hatte oder von Fachleuten ermutigt wurde, dies zu tun, liefe eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen nach dem bisherigen Schema „keine Berufung auf das Urteil für Sachverhalte vor Urteilsverkündung mit Ausnahme derjenigen, die bereits Rechtsmittel eingelegt haben“ leer. Daher könne es, so Generalanwalt Jacobs, hier angebracht sein, einmal anders vorzugehen und nach dem Vorbild des deutschen BVerfG die Unvereinbarerklärung einem späteren Zeitpunkt vorzubehalten und den Mitgliedstaaten ausreichend Zeit zu geben, um abweichende Rechtsvorschriften zu erlassen.123 Da dies eine beträchtliche Neuerung für den Gerichtshof gewesen wäre, legte der Generalanwalt eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nahe. Obgleich mündliche Verhandlungen vor dem Gerichtshof nur selten erneut eröffnet werden,124 geschah dies im vorliegenden Fall. Mit der Wiedereröffnung erhielt das Verfahren eine deutlich größere Aufmerksamkeit als zuvor. Hatten sich an der ursprünglichen Verhandlung nur die Banca Popolare di Cremona, die Republik Italien und die Kommission beteiligt, so brachten sich nun plötzlich vierzehn weitere Mitgliedstaaten mit schriftlichen und mündlichen Stellungnah121 Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge vom 17. März 2005, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 72 ff. 122 Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge vom 17. März 2005, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 81 ff. 123 Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge vom 17. März 2005, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 86. 124 Siehe hierzu Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 156.
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men in das Verfahren ein. Hierzu dürfte in erster Linie die Erkenntnis beigetragen haben, dass unliebsame Urteile des Gerichtshofs, gerade in Steuerfragen, für die Mitgliedstaaten nicht nur lästig sind, sondern schlimmstenfalls zu Haushaltslücken in astronomischer Höhe führen können, die auch für die Großen nicht ohne weiteres zu verkraften sind. Die erneute mündliche Verhandlung schloss ab mit Schlussanträgen der Generalanwältin Stix-Hackl. Auch sie hielt eine Steuer wie die IRAP für mit der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie unvereinbar.125 Ihre anschließenden Überlegungen zur zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen nehmen fast so viel Raum ein wie die vorangehenden Überlegungen zur eigentlichen Vorlagefrage – ein Anzeichen dafür, welche Bedeutung diesem Punkt inzwischen beigemessen wurde. Inhaltlich finden sich zahlreiche Neuerungen in ihren Anträgen, die teilweise auf Gedanken ihres Kollegen Tizzano in der parallel laufenden Rechtssache Meilicke (siehe dazu sogleich) aufbauen. Zum einen schlug die Generalanwältin vor, die Wirkungen des Urteils nicht nur für die Vergangenheit zu begrenzen, sondern überhaupt erst ab einem Zeitpunkt in der Zukunft einsetzen zu lassen – in diesem Fall dem Ende des italienischen Fiskaljahres (hierin konkretisiert sich der Vorschlag von Generalanwalt Jacobs).126 Somit sollte Italien genügend Zeit bekommen, sein System der Regionalfinanzierung zu reformieren. Eine Ausnahme sollte für diejenigen gelten, die sich bis zur Verlesung der Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs um ihre Rechtsverfolgung gekümmert hatten. Alle späteren Kläger, so die Argumentation der Generalanwältin, hätten es sich zu leicht gemacht und ohne große Mühen und Kosten geradezu „spekulativ“ Klage zu einem Zeitpunkt erhoben, als das Risiko eines abweichenden Urteils vor dem EuGH nur noch gering erschien.127 Ironischerweise führte der EuGH in seinem Urteil allen Beteiligten vor Augen, dass auch geringe Risiken die Eigenart haben, sich hin und wieder zu verwirklichen, und dass der Gerichtshof zwar in vielen, aber eben nicht in allen Fällen mit der Rechtsauffassung des Generalanwalts übereinstimmt: Zur großen Überraschung aller stellte der EuGH nämlich in einem äußert knappen Urteil fest, dass die Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie nicht der Beibehaltung einer Steuer wie der IRAP entgegenstehe.128 Zur zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen, über die bei Gericht und in der Fachpresse in den vorangegangenen Monaten so intensiv diskutiert worden war, verlor er konsequenterweise kein Wort. 125 Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 128. 126 Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 157 ff. 127 Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 165 ff. 128 EuGH, Urteil vom 3. Oktober 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 39.
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Über die Gründe für diese überraschende Wendung kann nur spekuliert werden. Es ist schon verwunderlich, dass der EuGH zuerst der Anregung von Generalanwalt Jacobs folgte, „in Anbetracht der Schwierigkeiten bei der Wahl der angemessenen Beschränkung“ die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen (und damit das Verfahren um ein weiteres Jahr zu verlängern), und diesen Punkt dann durch seinen Urteilsspruch obsolet machte. Zumindest zu jenem Zeitpunkt scheint der Gerichtshof also deutlich geneigt gewesen zu sein, die IRAP für gemeinschaftswidrig zu erklären. Es erscheint zweifelhaft, ob in der erneuten mündlichen Verhandlung überraschende neue Argumente zugunsten der IRAP vorgebracht worden sind, die geeignet gewesen sein können, den EuGH umzustimmen.129 Plausibler erscheint, dass der EuGH auf der einen Seite nicht vorschnell von seiner Rechtsprechungslinie abweichen, andererseits aber auch nicht das Risiko eingehen wollte, dass die Begrenzung der Rückwirkung nach altem Muster (keine Beschränkung für alle diejenigen, die vor Urteilsverkündung Rechtsmittel eingelegt haben, was die Trittbrettfahrer mit eingeschlossen hätte) faktisch wegen der hohen Zahl an Rückforderungen leergelaufen wäre und sich Italien einem Rekordrückforderungsanspruch gegenübergesehen hätte.130 m) Urteil vom 6. März 2007, Rs. C-292/04, Meilicke Von seiner fiskalischen Bedeutung her war die Rechtssache Meilicke für die Bundesrepublik Deutschland in etwa das, was Banca Popolare di Cremona für Italien war. Zwar nahmen sich die in Rede stehenden potentiellen Erstattungsansprüche mit etwa fünf Milliarden Euro vergleichsweise gering aus, doch nichtsdestotrotz hätte dies immerhin dem Jahresinvestitionsvolumen des Bundes entsprochen131 und daher eine erhebliche Haushaltseinbuße bedeutet, die das Bundesministerium der Finanzen nicht hinzunehmen gewillt war. Ausgangspunkt war wiederum eine steuerrechtliche Streitigkeit: Bis 2001 enthielt das deutsche Einkommensteuergesetz eine Anrechnungsvorschrift, derzufolge Steuerpflichtige gegenüber dem Fiskus 3/7 der Dividenden abziehen konnten, die sie von inländischen Gesellschaften bezogen. Hintergrund dieser Regelung war, dass Dividenden bereits der Körperschaftsteuer unterliegen. Durch das „körperschaftsteuerliche Anrechnungsverfahren“ wurde somit eine doppelte wirtschaftliche Belastung der Dividenden durch Körperschaftsteuer und Einkommensteuer verhindert.132 129 Im Wiederöffnungsbeschluss stellte der Gerichtshof allerdings darauf ab, dass auch Details zur Ausgestaltung der IRAP noch zu klären seien; EuGH, Beschluss vom 21. Oktober 2005, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona. 130 Ähnlich Wiedmann, EuZW 2007, 692 (696). 131 Müller-Gatermann, Steuerberater-Jahrbuch 2007/2008, S. 163. 132 Siehe hierzu im Einzelnen Balmes/Ribbrock, BB 2006, 17 (17); Mössner, in: FS Rengeling, S. 341 ff.
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Allerdings fand dieses Anrechnungsverfahren nur bei Dividenden inländischer Gesellschaften Anwendung. Dividenden ausländischer Gesellschaften wurden komplett doppelt belastet: Einmal wurde die Gesellschaft in ihrem Sitzstaat mit Körperschaftsteuer belastet, und dann wurde die Dividende beim deutschen Anteilseigner erneut als Einkommen besteuert. Für in Deutschland Einkommensteuerpflichtige war damit eine Anlage in eine ausländische Gesellschaft steuerlich weniger interessant als in eine deutsche Gesellschaft.133 Umgekehrt kamen auch ausländische Anteilseigner, die nicht in Deutschland einkommensteuerpflichtig waren, nicht in den Genuss der Anrechnung.134 Im Jahre 2000 (mit Wirkung für das Steuerjahr 2001) wurde das Anrechnungsverfahren durch das so genannte Halbeinkünfte-Verfahren ersetzt:135 Im Rahmen der Körperschaftsteuer galt nun ein Steuersatz von 25 % auf alle Gewinne von Unternehmen, der in etwa der Hälfte des Spitzensteuersatzes im Rahmen der Einkommensteuer entsprach. Soweit diese ausgeschüttet wurden, wurden sie zur Hälfte in die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer miteinbezogen.136 Somit wurden die Unternehmensgewinne zwar durch zwei verschiedene Steuern belastet, für den Anteilseigner war aber die endgültige Belastung vergleichbar mit der anderer Einkommensarten. Als Gründe für den Systemwechsel wurden die Stärkung des Standorts Deutschland und der Wunsch nach einem einfachen und transparenten Körperschaftsteuerrecht, aber auch die Anpassung an EG-rechtliche Anforderungen genannt. Insbesondere die Vereinbarkeit des Anrechnungsverfahrens mit der Kapitalverkehrs- und der Niederlassungsfreiheit erschien fraglich und war von der Kommission gegenüber der Bundesregierung bereits im Jahre 1995 schriftlich angemahnt worden.137 Trotz der Gesetzesänderung war die Sache damit für die Bundesrepublik noch nicht ausgestanden – es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis einer der Altfälle zu einer Vorlage beim Gerichtshof führen würde. Schließlich legte das Finanzgericht Köln dem EuGH eine entsprechende Frage vor: Die Erben von Heinz Meilicke, darunter ein renommierter Bonner Steuerrechtler, hatten beim Bonner Finanzamt eine Steuergutschrift nach dem Anrechnungsverfahren für Dividenden, die der Verstorbene in den Jahren 1995 bis 1997 aus niederländischen und dänischen Gesellschaften bezogen hatte, beantragt. In gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung dürfe das Anrechnungsverfahren nicht nur auf Dividenden inländischer Gesellschaften beschränkt sein, sondern müsse auch Dividenden von 133 EuGH, Urteil vom 6. März 2007, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 22; Balmes/Ribbrock, BB 2006, 17 (17). 134 Brühler Empfehlungen, S. 47; siehe auch Mössner, in: FS Rengeling, S. 342. 135 Gesetz zur Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung (Steuersenkungsgesetz – StSenkG) vom 23. Oktober 2000, BGBl. I 2000, S. 1433. 136 BT-Drucksache 14/2683, S. 120. 137 BT-Drucksache 14/2683, S. 93.
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Gesellschaften in anderen Mitgliedstaaten erfassen. Nach der Ablehnung durch das Finanzamt hatten die Erben Klage vor dem Finanzgericht Köln erhoben. Dieses legte nun dem EuGH die Frage vor, ob das deutsche Anrechnungsverfahren mit der Kapitalverkehrsfreiheit vereinbar sei. Diese Frage verneinte Generalanwalt Tizzano in seinen Schlussanträgen.138 Dabei verwies er auf das im Jahr zuvor ergangene Urteil des EuGH in der Rechtssache Manninen,139 in dem der Gerichtshof eine fast identische Frage beantwortet habe. Sodann beschäftigte sich der Generalanwalt mit den zeitlichen Wirkungen des Urteils. Grundsätzlich hielt er die Voraussetzungen einer Beschränkung für gegeben. Die von der Bundesregierung unwidersprochen vorgebrachten Steuerausfälle in Höhe von fünf Milliarden Euro legten schwere wirtschaftliche Folgen nahe, und das widersprüchliche Verhalten der Kommission, auf das besagte Schreiben keine weiteren Taten in Form eines Vertragsverletzungsverfahrens folgen zu lassen, sei Ausdruck der unsicheren Rechtslage gewesen.140 Problematisch erschien dem Generalanwalt jedoch die Festlegung eines Zeitpunkts, ab dem die Urteilswirkungen eintreten sollten. Nachdem er verschiedene Anknüpfungspunkte durchgespielt hatte, plädierte er letztlich für eine Anknüpfung an die Urteilsverkündung in der Rechtssache Verkooijen,141 da in diesem Urteil die wesentlichen Fragen bereits beantwortet worden seien. Eine Ausnahme sollte für alle diejenigen gelten, die bis zur Veröffentlichung des Vorlagebeschlusses in der vorliegenden Rechtssache Meilicke einen Rechtsbehelf eingelegt bzw. einen Antrag auf Anrechnung der Steuer gestellt hatten.142 Wie bereits im Verfahren Banca Popolare di Cremona wurde auch hier die mündliche Verhandlung erneut eröffnet; im Vordergrund stand hierbei die Frage, welche Auswirkungen es auf die zeitliche Beschränkung habe, dass der Gerichtshof die in Frage stehenden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts bereits in früheren Urteilen ausgelegt und dabei die zeitliche Wirkung nicht begrenzt habe. Letztlich drehte sich also alles um die Frage der Präklusion des deutschen Antrags auf Begrenzung der Urteilswirkungen. Eine Frage, die auch die anderen Mitgliedstaaten nicht unbeteiligt ließ: Ähnlich wie bereits in der Rechtssache Banca Popolare traten zahlreiche Mitgliedstaaten dem wiedereröffneten Verfah138 Generalanwalt Tizzano, Schlussanträge vom 10. November 2005, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 30. 139 EuGH, Urteil vom 7. September 2004, Rs. C-319/02, Manninen, Slg. 2004, I-2000. 140 Generalanwalt Tizzano, Schlussanträge vom 10. November 2005, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 35 ff. 141 EuGH, Urteil vom 6. Juni 2000, Rs. C-35/98, Verkooijen, Slg. 2000, I-4071. 142 Generalanwalt Tizzano, Schlussanträge vom 10. November 2005, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 63.
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ren mit eigenen Stellungnahmen bei. So sahen sich schließlich die Kläger des Ausgangsverfahrens, die für eine Präklusion plädierten,143 den Regierungen von elf Mitgliedstaaten und sogar der Kommission gegenüber, die unisono eine Präklusion ablehnten.144 Auch Generalanwältin Stix-Hackl kam in ihren Schlussanträgen zu dem Ergebnis, dass der Antrag der Bundesregierung auf Beschränkung der zeitlichen Wirkung nicht präkludiert sei.145 Allerdings war sie der Auffassung, dass nach dem deutschen Vortrag das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen nicht hinreichend dargelegt worden sei; eine zeitliche Beschränkung sei daher abzulehnen.146 Der deutsche Finanzminister Peer Steinbrück reagierte ungewohnt heftig auf die juristischen Ausführungen der Generalanwältin: Die Schlussanträge seien „grotesk“, „haltlos“, verstießen „gegen allen Sachverstand“ und verletzten „fundamentale Interessen“ eines Mitgliedstaates und seiner Bürger.147 Dass der Gerichtshof in seinem Urteil im März 2007 Anrechnungsregelungen wie die deutsche für gemeinschaftsrechtswidrig erklärte,148 konnte nach den Urteilen in den Rechtssachen Manninen und Verkooijen sowie den Schlussanträgen von Generalanwalt Tizzano und Generalanwältin Stix-Hackl auch in der Bundesregierung niemanden mehr überraschen.149 Dass allerdings der EuGH zudem den deutschen Antrag auf eine Beschränkung der Urteilswirkungen mit einem knappen Hinweis auf die fehlende Beschränkung im Urteil Verkooijen, also aufgrund einer Präklusion, ablehnte,150 wurde von der deutschen Politik mit Konsternation zur Kenntnis genommen. Während das Bundesministerium der Finanzen die Ablehnung der Beschränkung in einer noch am Tag des Urteils veröffentlichten 143 Wobei diese Frage den Klägern des Ausgangsverfahrens eigentlich hätte egal sein können, weil der EuGH für ihren Fall in jedem Fall eine Ausnahme von der zeitlichen Beschränkung gemacht hätte. Die Vermutung liegt nahe, dass der Fall für die Erben nicht nur persönlich relevant war, sondern vor allem für zahlreiche Mandanten der Steuerrechtspraxis eines der Kläger, der den Fall sowohl auf seiner Kanzleihomepage als auch in diversen Fachpublikationen begleitete, von hoher wirtschaftlicher Bedeutung war. 144 Meilicke, BB 2007, 650 (650). 145 Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 5. Oktober 2006, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 28. 146 Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 5. Oktober 2006, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 37 ff. 147 Zitiert nach Jahn, FAZ.NET vom 6. März 2007; siehe auch Zeit Online, Tiefer Schnitt in den Haushalt, Zeit Online vom 6. März 2007, http://www.zeit.de/online/ 2007/10/eugh-urteil-steuern-rueckzahlung. 148 EuGH, Urteil vom 6. März 2007, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 31. 149 Siehe Bundesministerium der Finanzen, Pressemitteilung Nr. 22 vom 6. März 2007, http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_86/DE/Presse/Pressemitteilungen/ Pressemitteilungen_28alt_29/2007/03/20070603__PM022.html. 150 EuGH, Urteil vom 6. März 2007, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 39 ff.
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Presseerklärung vergleichsweise sachlich als „überraschend“ bezeichnete, tadelte die parlamentarische Staatssekretärin im Bundesfinanzministerium, Barbara Hendricks, das Urteil bereits am folgenden Tag in einer Sitzung des Finanzausschusses des Bundestags als „anmaßend“.151 Auch der Finanzminister rügte den Gerichtshof: Die Luxemburger Richter zeigten eine erstaunliche Rücksichtslosigkeit gegenüber den Konsolidierungsanstrengungen der Mitgliedstaaten. Glücklicherweise sei die Zahl von fünf Milliarden, die „herumgeistere“ (und die wohlgemerkt die Bundesregierung vor dem Gerichtshof selbst eingebracht und zu untermauern versucht hatte), nur das „worst, worst case-Szenario“.152 In der Presse fand das Urteil ein ungewöhnlich starkes Echo. So war auf der Titelseite des Handelsblatts zu lesen: „Steinbrück bangt um Milliarden“.153 Die Reaktionen in der juristischen Fachpresse waren gemischt. Kritischen Stimmen zufolge ließ das Urteil „mehr Fragen offen als es beantwortet“,154 es vermöge „nicht zu überzeugen“ 155 und für die Rechtsanwender sei „aufgrund der wenigen Hinweise [. . .] kaum vorhersehbar, welchen Maßstab der EuGH in künftigen Fällen anlegen [werde]“.156 Das Urteil fand aber auch Lob: Die Ablehnung der Beschränkung sei „weise“, da eine Ungleichbehandlung „nicht akzeptabel“ gewesen wäre; dass die Mitgliedstaaten nun gezwungen seien, alle Verfahren vor dem EuGH genau zu verfolgen, könne auch „nur richtig“ sein.157 Die wirtschaftlichen Folgen des Meilicke-Urteils sind bislang unklar. Die ersten Erstattungsansprüche sind nach Angaben des Bundesfinanzministeriums erst 2008 fällig geworden.158 Deshalb wird es wohl noch einige Jahre dauern, bis der Fiskus die tatsächlich durch das EuGH-Urteil verursachten Schäden beziffern kann und endgültig feststeht, ob der „worst, worst case“ in dieser Sache eingetreten ist oder nicht.159
151 Bundestag, hib (heute im Bundestag)-Mitteilung Nr. 059/2007, 7. März 2007, http://www.bundestag.de/aktuell/hib/2007/2007_059/01. 152 Interview mit dem Bonner General-Anzeiger, 9. März 2007, S. 3; siehe zu den Bezifferungsschwierigkeiten auch Zimmermann, KommJur 2007, 1180 (184). Bereits einige Tage zuvor hatte die Deutsche Vereinigung für Wertpapierbesitz verlautbaren lassen, man gehe davon aus, dass die Zahl absichtlich zu hoch angesiedelt worden sei, um den Gerichtshof unter Druck zu setzen, Zeit Online, Zeit Online vom 6. März 2007, http://www.zeit.de/online/2007/10/eugh-urteil-steuern-rueckzahlung. 153 Riedel/Schrinner, Handelsblatt vom 7. März 2007, S. 1. 154 Billig, FR 2007, 785 (785). 155 Steinberg/Bark, EuZW 2007, 243 (246), wobei die Autoren freilich Referenten im Bundesministerium der Finanzen waren. 156 Lang, IStR 2007, 235 (244). 157 Delbrück/Hamacher, IStR 2007, 627 (628); zustimmend auch Meilicke, in: GS Gruson, S. 301 f. 158 Bundesministerium der Finanzen, Monatsbericht des BMF November 2007, S. 53; siehe auch Schrinner, Handelsblatt vom 2. April 2007, S. 4. 159 Schrinner, Handelsblatt vom 2. April 2007, S. 4.
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2. Auswertung und erste Bewertung der dargestellten Urteile Nach diesem Streifzug durch die Geschichte der zeitlichen Beschränkung sollen im Folgenden, losgelöst von den sehr praktischen Fragen der Tatbestandsvoraussetzungen, ein paar grundlegende dogmatische Überlegungen angestellt werden: Wie kommt es, dass die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen gerade im Vorabentscheidungsverfahren so ein großes Thema ist? Wie lässt sich eine solche Maßnahme, die der Vertrag für diese Verfahrensart nicht vorsieht, dogmatisch rechtfertigen? Und welches sind die Fallkonstellationen, in denen Fragen der zeitlichen Beschränkung üblicherweise auftreten? a) Die aktuelle Dogmatik des EuGH zur zeitlichen Beschränkung der Wirkungen von Vorabentscheidungsurteilen Die Rechtsprechung des EuGH zur zeitlichen Beschränkung der Wirkungen von Vorabentscheidungsurteilen, die soeben chronologisch anhand der wichtigsten Entscheidungen dargestellt wurde, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Rechtsprechung unterscheidet sich im Hinblick auf solche Urteile, die die Auslegung des Unionsrechts betreffen, und solche Urteile, die die Gültigkeit von sekundärem Unionsrecht zum Gegenstand haben. Auslegungsurteile des Gerichtshofs erläutern und verdeutlichen, mit welchem Sinn eine unionsrechtliche Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder richtigerweise gewesen wäre.160 Sie haben also ex-tuncWirkung. Eine Abweichung von diesem Grundsatz, also eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen, ist von zwei Voraussetzungen abhängig: Erstens muss die Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Folgen bestehen.161 Dabei stellt der Gerichtshof tendenziell auf den spezifischen Kontext ab, der betroffen ist, also zum Beispiel die Sozialversicherungssysteme.162 Zweitens müssen diejenigen, die von diesen Folgen betroffen wären (in der Regel die Mitgliedstaaten) aufgrund einer objektiven Rechtsunsicherheit gutgläubig auf ihre Rechtsauffassung vertraut haben. Zur Beantwortung dieser Frage zieht der Gerichtshof insbesondere das Verhalten der Kommission oder anderer Mitgliedstaaten heran.163 Schließlich darf der Gerichtshof die entscheidende Vorlagefrage nicht bereits in einem früheren Verfahren beantwortet haben; eine zeitliche Begrenzung ist dem160 Grundlegend EuGH, Urteil vom 27. März 1980, Rs. 61/79, Denkavit Italiana, Slg. 1980, 1205, Rn. 16. 161 Z. B. EuGH, Urteil vom 17. Mai 1990, Rs. C-262/88, Barber, Slg. 1990, I-1889, Rn. 41. 162 Z. B. EuGH, Urteil vom 4. Mai 1999, Rs. C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685, Rn. 111. 163 Z. B. EuGH, Urteil vom 9. März 2000, Rs. C-437/97, Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, I-1157, Rn. 58.
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nach nur in dem Urteil möglich, in dem eine Vorlagefrage erstmals beantwortet wird.164 Sind diese Voraussetzungen erfüllt, dann nimmt der Gerichtshof eine zeitliche Beschränkung dahingehend vor, dass er abweichend von der ex-tunc-Regel das Datum der Verkündung des Urteils als denjenigen Zeitpunkt bestimmt, zu dem die Urteilswirkungen eintreten. Hiervon sieht er aber eine Ausnahme vor für alle diejenigen, die bereits vor Urteilsverkündung Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt haben; diese können sich trotz der Beschränkung auf die im Urteil gefundene Auslegung berufen.165 Die zeitliche Beschränkung in den Ungültigkeitsentscheidungen ist dem sehr ähnlich: Auch hier setzt eine Abweichung von der grundsätzlichen ex-tunc-Wirkung der Urteile voraus, dass Rechtssicherheitserwägungen dies erforderlich machen. Auf der Rechtsfolgenseite gilt wie bei den Auslegungsurteilen, dass die Urteilswirkungen im Falle einer Beschränkung mit der Verkündung des Urteils einsetzen.166 Nachdem der Gerichtshof anfänglich, in Abweichung von seiner Praxis bei der Beschränkung der Wirkung von Auslegungsurteilen, keinerlei Rückausnahme vorsah, ist er inzwischen auch bei Ungültigkeitsentscheidungen dazu übergegangen, denjenigen, die bereits einen Rechtsbehelf eingelegt haben, die Berufung auf das Urteil weiterhin zu ermöglichen.167 b) Besonderheiten des Vorlageverfahrens, die eine zeitliche Begrenzung nötig und möglich machen aa) Urteile in Auslegungsverfahren Urteile in Vorabentscheidungsverfahren, bei denen der Gerichtshof das Unionsrecht auslegt, entwickeln laut EuGH eine ex-tunc-Wirkung. Seit dem Urteil in der Sache Denkavit Italiana leitet der Gerichtshof seine Überlegungen zur zeitlichen Wirkung regelmäßig mit der Feststellung ein, dass er erläutere und verdeutliche, wie eine Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen sei.168 Dies erscheint logisch: Es entspricht dem Wesen der Auslegung, dass die Auslegung einer Vorschrift grundsätzlich an der gesamten zeitlichen Geltungsdauer dieser 164 Z. B. EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 309/85, Barra, Slg. 1988, 355, Rn. 14. 165 Grundlegend EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 74/75. 166 EuGH, Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 145/79, Roquette Frères, Slg. 1980, 2917, Rn. 53; EuGH, Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 4/79, Société Coopérative „Providence Agricole de la Champagne“, Slg. 1980, 2823, Rn. 46; Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 109/79, Maïseries de Beauce, Slg. 1980, 2883, Rn. 46. 167 Siehe dazu ausführlich unten F. IV. 2. 168 Siehe oben C. II. 1. c).
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Vorschrift „teilnimmt“ 169 – etwas anderes kann sich nur ausnahmsweise dann ergeben, wenn gewandelte soziale Anschauungen im Laufe der Zeit eine Änderung der Auslegung erforderlich machen. Wenn also die Auslegung für den gesamten Geltungszeitraum seit Inkrafttreten Gültigkeit hat, dann sind zeitlich frühere nationale Rechtsvorschriften, die mit dieser Auslegung nicht vereinbar sind, mit dem Tag des Inkrafttretens einer EURechtsnorm unionsrechtswidrig geworden; später erlassenes nationales Recht kann auch vom Tag seines Inkrafttretens an, vom mitgliedstaatlichen Gesetzgeber versehentlich unbemerkt oder schlicht willentlich ignoriert, mit dem Unionsrecht unvereinbar sein. Letztlich spielt die zeitliche Abfolge jedoch keine große Rolle: Solange eine unionsrechtliche Vorschrift und die mit ihr nicht vereinbare nationale Vorschrift nebeneinander stehen, muss letztere aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts zurücktreten.170 (Es ist auch durchaus denkbar, dass eine mitgliedstaatliche Rechtsvorschrift nach einiger Zeit durch Wegfall der konfligierenden unionsrechtlichen Vorschrift wieder anwendbar wird.) Ob eine zeitliche Beschränkung notwendig wird oder nicht, hängt dann davon ab, auf wie viele andere Fälle außer dem Ausgangsverfahren die im Urteil gegebene Auslegung anwendbar ist. Maßgeblich ist zum einen, ob das Urteil sich überhaupt auf andere Sachverhalte auswirken kann, ob ihm also eine erga-omnes- oder nur eine inter-partes-Wirkung zukommt.171 Nach weit verbreiteter Auffassung kommt den Auslegungsurteilen des EuGH zumindest eine faktische erga-omnesWirkung zu, vergleichbar mit den Entscheidungen höchstinstanzlicher Gerichte.172 Zum anderen hängt die praktische Relevanz der Rückwirkung davon ab, in welchem Umfang die nationale Vorschrift trotz ihrer Unvereinbarkeit weiter angewandt worden ist, sei es von nationalen Behörden oder von Privaten (zum Beispiel durch gleichheitswidrige Gestaltung von Arbeitsverträgen wie in den Rechtssachen Defrenne II und Barber). Handelt es sich um eine eher randseitige Abgabenvorschrift, werden es die Mitgliedstaaten verschmerzen können, die in einer Handvoll von Fällen erhobenen Beträge wieder zurückzuerstatten. Anders in Rechtsgebieten mit Massenverfahren:173 Reformiert ein Mitgliedstaat sein Steuerrecht und stützt einen Großteil seines Haushalts (sei es der unmittelbar eigene Staatshaushalt oder die Haushalte einzelner Regionen oder Kommunen) auf unionsrechtswidrige Vorschriften, dann trifft ihn die Pflicht zur Rückzahlung hart. 169
Weiß, EuR 1995, 377 (378). Streinz, Europarecht, Rn. 259; Herdegen, § 10, Rn. 1. 171 Waldhoff, S. 14. 172 Schwarze, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 234 EG, Rn. 66; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU/EG, Art. 234 EG, Rn. 92 f.; Borchardt, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, Art. 267 AEUV, Rn. 60; Pechstein, Rn. 868; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), § 10, Rn. 89; Kohl, R.C.J.B. 1977, 231 (234). 173 Waldhoff, S. 16. 170
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Was das Vorabentscheidungsverfahren von den anderen dargestellten Verfahrensarten unterscheidet und daher für Fälle der letztgenannten Art so anfällig macht, ist der Umstand, dass die Unionsrechtswidrigkeit jederzeit festgestellt werden kann. Während Nichtigkeitsklagen nach Art. 263 AEUV binnen einer Frist von zwei Monaten zu erheben sind (Art. 263 Abs. 6 AEUV), kann eine Vorlagefrage auch noch viele Jahre nach Inkrafttreten der auszulegenden Norm ihren Weg nach Luxemburg finden – die Sentenz „Wo kein Kläger, da kein Richter“ bekommt hier eine ganz neue Bedeutung.174 Hierin kommt der (auch) individualschützende Charakter des Vorabentscheidungsverfahrens175 zum Ausdruck: Von den Unionsinstitutionen, aber auch von den Adressaten einer Entscheidung kann erwartet werden, dass sie sich bei Inkrafttreten der Rechtshandlung Gedanken über deren Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht machen und Bedenken rechtzeitig (binnen der genannten Zweimonatsfrist) äußern; das Unionshandeln soll nicht wieder und wieder in Frage gestellt werden können.176 Demgegenüber muss sich der Bürger ansonsten keine Gedanken darüber machen, inwieweit die Rechtsordnung seines Mitgliedstaates mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Dies ist ihm erst dann zuzumuten, wenn eine nationale Rechtsvorschrift ihm gegenüber erstmals unmittelbar relevant wird, unter Umständen also viele Jahre nach Entstehen des Konflikts zwischen nationalem Recht und Unionsrecht. Er hat sich daher nur um Rechtsmittelfristen nach nationalem Recht zu sorgen, die somit gewissermaßen die einzigen – mittelbaren – Fristen für eine Vorlage nach Art. 267 AEUV sind.177 bb) Urteile in Ungültigkeitsverfahren Die im Rahmen des Auslegungsverfahrens angestellten Überlegungen zur fehlenden Frist im Vorabentscheidungsverfahren gelten erst recht für das Ungültigkeitsverfahren: Denn hier ist, anders als im Auslegungsverfahren, der Verfahrensgegenstand letztlich derselbe wie bei Nichtigkeitsklagen:178 Der Gerichtshof entscheidet über die Gültigkeit oder Ungültigkeit einer Vorschrift des sekundären Unionsrechts. Insofern stehen Nichtigkeitsklage und Vorabentscheidungsverfahren in einem engen Verhältnis zueinander. Dies lässt sich auch daraus ablesen, dass der Gerichtshof eine durch Ablauf der Klagefrist nach Art. 263 Abs. 6 174
Vgl. Kutscher, in: Begegnung Justiz und Hochschule, S. I-47. U. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), EU-Recht, Art. 267 AEUV, Rn. 3; Pechstein, Rn. 751; von Danwitz, NJW 1993, 1108 (1110 f.); Jann, in: Holoubek/Lang (Hrsg.), S. 17. 176 Booß, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU-Recht, 40. Erg.-Lfg., Art. 230 EG, Rn. 80. 177 Abgesehen von der zweimonatigen Frist für eine Stellungnahme, Art. 23 Abs. 2 EuGH-Satzung, die aber nichts an der grundsätzlichen Zulässigkeit der Vorlage selbst ändern kann, vgl. auch die Übersichten bei Pechstein, Rn. 186, und Glaesner/Wegen/ Metzlaff, Rn. 216. 178 Weiß, EuR 1977, 377 (379). 175
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AEUV eingetretene Bestandskraft auch als Hinderungsgrund in einem späteren Vorabentscheidungsverfahren ansieht: Der Adressat einer Entscheidung, der die Klagefrist hat verstreichen lassen, soll sich später nicht inzident auf die Unwirksamkeit dieser Entscheidung berufen können.179 Diese Einschränkung betrifft jedoch nicht die übrigen Rechtsakte, insbesondere Verordnungen. Die Rechtssicherheit, die von Rechtsprechung180 und Literatur181 als Grund für die Klagefrist in Art. 263 Abs. 6 AEUV angeführt wird, ist eine trügerische: Wenn den Unionsorganen entgeht, dass eine Verordnung gegen höherrangiges Unionsrecht verstößt (zum Beispiel die Kommissionsverordnungen in den Maisfällen), so wird der Rechtsakt mit Ablauf der Zweimonatsfrist zwar unanfechtbar, aber nicht unüberprüfbar. Denn die Frage der Vereinbarkeit mit Unionsrecht kann vor jedem beliebigen nationalen Gericht wieder entscheidungserheblich werden, und zwar jederzeit. Ein Rechtsakt, der die „Feuerprobe“ der Klagefrist nach Art. 263 Abs. 6 AEUV eigentlich schon vor vielen Jahren bestanden hat, steht dann plötzlich wieder zur Disposition.182 Das Vorabentscheidungsverfahren wird damit zu einem Einfallstor für böse Überraschungen. Auch hier ist es wieder der zwischen Inkrafttreten und Überprüfung potentiell verstreichende Zeitraum, der die Überprüfungsmöglichkeit im Rahmen der Vorabentscheidung wirtschaftlich so brisant macht. Ficht ein Organ einen Rechtsakt innerhalb der Klagefrist an, so vergehen vom Inkrafttreten des Rechtsakts bis zu dem aufhebenden Urteil nur wenige Jahre; die währenddessen unter Anwendung des Rechtsakts vorgenommenen Transaktionen dürften sich regelmäßig in einem überschaubaren Rahmen handeln. Ungleich länger dauert es in der Regel, wenn ein Unionsrechtsakt über den Umweg eines Vorabentscheidungsverfahrens zum Gerichtshof gelangt: Hier muss überhaupt erst einmal der Sachverhalt entstehen, der den zugrundeliegenden Rechtsstreit auslöst. Dann muss sich eventuell noch eine nationale Verwaltungsbehörde, jedenfalls aber eines oder mehrere nationale Gerichte mit dem Fall befassen, bevor irgendwann einmal ein Vorlagebeschluss ergeht, mit dem sich dann auch noch der Gerichtshof ausführlich auseinandersetzen muss. Dass in diesem langen Zeitraum ungleich mehr Rechtshandlungen vorgenommen werden können, deren vollständige Rückabwicklung der Kommission, den Mitgliedstaaten oder den betroffenen Privaten wirtschaftliche Probleme bereitet, liegt auf der Hand.
179 EuGH, Urteil vom 9. März 1994, Rs. C-188/92, TWD, Slg. 1994, I-833, Rn. 17 f.; Urteil vom 30. Januar 1997, Rs. C-178/95, Wiljo, Slg. 1997, I-585, Rn. 19 ff.; vgl. Classen, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), § 4, Rn. 71. 180 EuGH, Urteil vom 12. Oktober 1979, Rs. 156/77, Kommission/Belgien, Slg. 1978, 1881, Rn. 21/24. 181 Siehe zum Beispiel Booß, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU-Recht, 40. Erg.-Lfg., Art. 230 Rn. 80; Bebr, C.M.L.R. 18 (1981), 475 (499). 182 Bebr, C.M.L.R. 18 (1981), 475 (499 f.).
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cc) Zwischenergebnis Dem Vorabentscheidungsverfahren, sowohl in seiner Ausgestaltung als Auslegungsverfahren als auch als Ungültigkeitsverfahren, ist aufgrund der fehlenden Fristbindung eine zeitliche Verzögerung zwischen Inkrafttreten einer Vorschrift und Urteil immanent, die regelmäßig eine Vielzahl rückabzuwickelnder Rechtsverhältnisse auflaufen lässt. Anders als bei fristgebundenen Klagen begrenzen sich die wirtschaftlichen Folgen eines Urteils hier nicht faktisch von selbst. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Gerichtshof einen Ausweg gesucht hat, um selbst eine Begrenzung der wirtschaftlichen Folgen herbeiführen zu können. c) Dogmatische Herleitung aa) Allgemeines Art. 267 AEUV, in dem das Vorabentscheidungsverfahren geregelt ist, sieht eine Möglichkeit des EuGH, die Wirkung seiner Vorabentscheidungsurteile zeitlich zu beschränken, nicht vor. Insofern hat sich durch den Vertrag von Lissabon gegenüber den entsprechenden Vorgängervorschriften im EG-Vertrag nichts geändert. Die Befugnis zu einer solchen Beschränkung hat sich der Gerichtshof im Wege der Rechtsfortbildung gewissermaßen selbst verliehen, man könnte auch sagen: angemaßt. Bei Durchsicht der Urteile, die der Gerichtshof in den letzten drei Jahrzehnten zur zeitlichen Beschränkung gefällt hat, wird deutlich, dass in nahezu allen Urteilen der Gedanke der Rechtssicherheit eine Rolle spielt, dass der Gerichtshof aber in einigen Entscheidungen ergänzend eine vergleichende Betrachtung zum Nichtigkeitsverfahren heranzieht und gar die jeweils gültigen Vorgängervorschriften des jetzigen Art. 264 Abs. 2 AEUV analog anwendet. Diese Unterschiede in der dogmatischen Herleitung sind keineswegs zufällig, vielmehr differenziert der Gerichtshof zwischen Vorabentscheidungen zur Auslegung von Unionsrecht und Vorabentscheidungen über die Gültigkeit von sekundärem Unionsrecht.183 Sofern in der Literatur teilweise pauschal dargelegt wird, der Gerichtshof stütze seine Rechtsprechung zur zeitlichen Beschränkung im Vorabentscheidungsverfahren auf eine Analogie zu Art. 264 Abs. 2 AEUV (und zum Teil unter Berufung auf Urteile, in denen diese Vorschrift überhaupt nicht erwähnt wird),184 kann dem nur entschieden widersprochen werden.
183 Weiß, EuR 1995, 377 (382); siehe auch Düsterhaus, EuZW 2006, 393 (395); Kokott/Henze, NJW 2006, 177 (177); Keppert, ÖStZ 1997, 165 (168). 184 So bei Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 267 AEUV, Rn. 75; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU/EG, Art. 234 EG, Rn. 94; Schwarze, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 234 EG, Rn. 67; Classen, in: Schulze/Zuleeg/ Kadelbach (Hrsg.), § 4, Rn. 79, Fn. 139.
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bb) Zeitliche Beschränkung der Wirkung von Auslegungsurteilen Im Rahmen seiner Auslegungsurteile stützt der EuGH die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen seit seinem Urteil in der Rechtssache Denkavit Italiana auf den „der Gemeinschaftsrechtsordnung innewohnenden allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit“.185 In Defrenne II hatte der Gerichtshof zwar auch schon „zwingende Erwägungen der Rechtssicherheit“ zur Begründung angeführt, diese aber noch nicht ausdrücklich als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts dargestellt.186 Die Begründung der zeitlichen Beschränkung mit einem allgemeinen Rechtsgrundsatz erscheint zunächst logisch: Wie bereits dargelegt worden ist, sind die allgemeinen Rechtsgrundsätze ein geeignetes Instrument, um Lücken im geschriebenen Unionsrecht zu schließen.187 Da alle mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, die aufgrund der grundsätzlichen ex-tunc-Nichtigkeit ihrer Normverwerfungsurteile mit vergleichbaren Problemlagen konfrontiert sind, eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen in der einen oder anderen Form vorsehen, erscheint es grundsätzlich nicht zu beanstanden, hieraus einen allgemeinen Rechtsgrundsatz für das Verfahren vor dem EuGH herzuleiten. Zu kritisieren ist daher nicht das Ergebnis, zu dem der Gerichtshof kommt, sondern vielmehr die lückenhafte Argumentationskette, die er dazu verwendet.188. Denn der Gerichtshof geht in seiner Rechtsprechung mit keinem Wort auf vergleichbare Instrumente der zeitlichen Beschränkung in den Mitgliedstaaten ein, sondern rekurriert nur ganz allgemein auf den Grundsatz der Rechtssicherheit. Dieser Schluss, dass gerade der Grundsatz der Rechtssicherheit eine Beschränkung der Urteilswirkungen erfordere, ist zumindest in seiner Knappheit zweifelhaft. Auf den ersten Blick klingt das Argument überzeugend, und tatsächlich spielt der Grundsatz der Rechtssicherheit auch eine wichtige Rolle in der Begründung, doch es lohnt sich, diesen Begriff einmal genauer aufzuschlüsseln. Denn die Rechtssicherheit hat verschiedene Komponenten: die Beständigkeit, Unverbrüchlichkeit und Kontinuität des Rechts als objektive Komponente189 einerseits sowie den Grundsatz des Vertrauensschutzes als subjektive Komponente190 andererseits.191 Der Verzicht des Gerichtshofs auf die volle ex-tunc-Wir185 Grundlegend: EuGH, Urteil vom 27. März 1980, Rs. 61/79, Denkavit Italiana, Slg. 1980, 1205, Rn. 17; siehe in jüngerer Zeit Urteil vom 6. März 2007, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 35. 186 EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 74/75. 187 Siehe dazu oben B. IV. 1. 188 Kritisch auch Huep, S. 232. 189 Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR II, § 26, Rn. 81. 190 EuGH, Urteil vom 19. September 2000, verb. Rs. C-177/99 u. C-181/99, Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013, Rn. 67; siehe auch Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20 GG (Rechtsstaat), Rn. 146 f.; Waldhoff, S. 32.
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kung seiner Urteile lässt sich zumindest auf die objektive Kontinuität stützen – sofern man seinen Blick auf das nationale Recht beschränkt, das dadurch bis zum Datum des Urteils gelten darf. Das Unionsrecht wird durch die zeitliche Beschränkung gerade nicht kontinuierlich angewandt, sondern der Gerichtshof nimmt eine Unterbrechung oder jedenfalls einen Aufschub bis zu seiner vollen Wirksamkeit in Kauf.192 Wenn der EuGH also seine Beschränkungsrechtsprechung auf den Grundsatz der Rechtssicherheit stützt, so bedeutet dies im Ergebnis, dass er die objektive Kontinuität des nationalen Rechts über diejenige des Unionsrechts stellt. Während man dem EuGH als Hüter des Unionsrechts einen solchen Verzicht auf die Geltung der objektiven Unionsrechtsordnung noch zugestehen mag, fällt dies im Hinblick auf die subjektive Ausprägung der Rechtssicherheit, den Vertrauensschutz für den Bürger,193 schon weniger leicht. Denn klassischerweise bedeutet Vertrauensschutz Schutz des Bürgers vor dem Staat.194 In einem zweipoligen Verhältnis allein zwischen der Europäischen Union und dem einzelnen Mitgliedstaat ließe sich die Rechtssicherheit vielleicht noch zu Gunsten des Staates anwenden. Der Mitgliedstaat übernähme dann die Rolle des „Bürgers“, dessen Vertrauen in seine – falsche – Auslegung des Unionsrechts geschützt wird. Das Vorlageverfahren zeichnet sich jedoch gerade durch seinen dreipoligen Charakter aus: Hier sind nicht nur die Europäische Union und der Staat beteiligt, sondern in der Regel auch einzelne Bürger auf einer oder gar beiden Seiten des Ausgangsverfahrens – ganz zu schweigen von denjenigen, die nicht unmittelbar am Ausgangsverfahren beteiligt, deren Interessen aber aufgrund einer vergleichbaren Sachlage betroffen sind. In dem Maße, wie der Gerichtshof aufgrund der „Rechtssicherheit“ den Mitgliedstaaten gegenüber Milde walten lässt, zeigt er gegenüber denjenigen Betroffenen Härte, die ihre objektiv vorhandenen Rechtspositionen verlieren. Diejenige Person, die ihre an sich berechtigte Steuerrückforderung aufgrund einer Begrenzung der Urteilswirkungen nun nicht mehr geltend machen kann, hätte sicherlich insoweit auch gerne auf die so genannte „Rechtssicherheit“, die nur eine Kontinuität des nationalen Rechts ist, verzichtet.195 Damit ist noch nicht gesagt, dass sich eine Begrenzung der Urteilswirkungen, wie sie der EuGH vornimmt, keinesfalls mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit begründen ließe. Denn zumindest dem deutschen Konzept der Rechtssicher191 Vgl. auch Huep, S. 226, der allerdings mit abweichender Terminologie davon ausgeht, der Grundsatz des „Vertrauensschutzes“ habe eine institutionell-objektive und eine individuell-subjektive Seite. 192 Koenig/Schreiber, DÖV 2008, 450 (453). 193 Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR II, § 26, Rn. 81. 194 Dies gesteht auch der EuGH in dem Ungültigkeitsverfahren Ampafrance und Sanofi ein, EuGH, Urteil vom 19. September 2000, verb. Rs. C-177/99 u. C-181/99, Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013, Rn. 67; siehe auch Riechelmann, S. 174. 195 Vgl. Simon, in: FS Pescatore, S. 663.
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heit196 ist der Gedanke nicht fremd, dass der Teilaspekt des Vertrauensschutzes bei einer unklaren Rechtslage in den Hintergrund treten kann. Mit diesem Argument lässt sich laut dem deutschen BVerfG in Ausnahmefällen eine echte Rückwirkung von Gesetzen rechtfertigen,197 die in ihren Auswirkungen der Beschränkung der Urteilswirkungen nicht unähnlich ist.198 Denn hier wie dort wird elementar in bereits in der Vergangenheit abgeschlossene Rechtsverhältnisse eingegriffen. Insbesondere wenn ein rückwirkendes Gesetz notwendig wird, um verfassungswidrige Gesetze mit Wirkung für die Vergangenheit zu ersetzen, soll der Gedanke des Vertrauensschutzes zurücktreten müssen.199 Allerdings unterscheidet sich die letztgenannte Fallgruppe von der Beschränkung der Wirkung eines Vorabentscheidungsurteils dadurch, dass sich auch weiterhin das Gesetz der Verfassung unterordnet und nicht, wie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, das höherrangige Unionsrecht hinter dem eigentlich untergeordneten nationalen Recht zurücktritt. So oder so greift hier aber der knappe Rückgriff auf „die Rechtssicherheit“ zu kurz – ein paar Ausführungen dazu, warum hier die subjektive Rechtssicherheit im Sinne des Vertrauensschutzes hinter der objektiven Kontinuität des nationalen Rechts zurückzutreten hat, wären wünschenswert gewesen. Gleiches gilt für die Fälle, in denen sich im Ausgangsverfahren zwei private Interessengruppen gegenüberstehen. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Fall Defrenne II: Ohne zeitliche Beschränkung hätten die Arbeitgeber unter dem Urteil zu leiden gehabt, mit der zeitlichen Beschränkung ging das Urteil zu Lasten zahlreicher Arbeitnehmer. Wenn der EuGH nun zugunsten der Arbeitgeber die Beschränkung angeordnet hat, so hat er damit ihr Vertrauen in das nationale Recht geschützt. Darin kommt die subjektive Komponente der Rechtssicherheit zum Ausdruck. Man mag darüber streiten, inwieweit das Vertrauen der Arbeitnehmer in die Geltung des Unionsrechts schützenswert war, denn offenbar haben sie ein solches Vertrauen gar nicht gebildet. Jedenfalls tritt aber wieder die objektive Kontinuität des Unionsrechts zurück. Auch hier wäre dem Gerichtshof sicherlich zuzumuten gewesen, deutlicher herauszuarbeiten, wieso er die Unverbrüchlichkeit des Unionsrechts hintan stehen lässt. 196
An dem sich der EuGH wohl stark anlehnt, siehe Schlockermann, S. 25. BVerfGE 45, 142 (173 f.). 198 Schlockermann, S. 156, stellt hingegen darauf ab, dass die Rückwirkung der Vorabentscheidungsurteile (und nicht die Begrenzung der Rückwirkung) der Wirkung von rückwirkenden Gesetzen ähnele. Dies ist eine Frage der Betrachtungsweise: Dadurch, dass ein Vorabentscheidungsurteil die Rechtslage für die Vergangenheit aufklärt, hat es scheinbar eine Rückwirkung. Dogmatisch waren aber die Rechtswirkungen der ausgelegten Vorschrift immer schon da, sie wurden nur nicht richtig erkannt. Von diesem dogmatischen Standpunkt aus hat daher die Beschränkung der Urteilswirkungen eine Rückwirkung, da die eigentlich vorhandenen, versteckten Wirkungen des Unionsrechts im Zeitpunkt ihrer Aufklärung auch gleich wieder (teilweise) vernichtet werden. 199 BVerfGE 13, 261 (272); BVerwGE 75, 262 (267 f.); Sobota, S. 166. 197
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Letztlich wird man vor dem Hintergrund des soeben Gesagten wie folgt argumentieren müssen: Grundsätzlich darf der einzelne auf seine nationale Rechtsordnung vertrauen; hier kommt die subjektive Rechtssicherheit im Hinblick auf die nationale Ebene zum Ausdruck. Zugleich soll aber auch derjenige, der ein wenig über den Tellerrand geschaut, auf die Geltung des Unionsrechts vertraut und deshalb einen Rechtsbehelf eingelegt hat, in seinem Vertrauen nicht enttäuscht werden. Für ihn setzt sich aufgrund der vom EuGH typischerweise ausgesprochenen Ausnahme von der Beschränkung das Unionsrecht seinem höheren Rang entsprechend durch. Schließlich gibt es noch die Gruppe derjenigen, die durch das nationale Recht (zum Beispiel einen Steuertatbestand) belastet worden sind, aber nichts gegen diese Belastung unternommen haben. Diese Personen haben auf nichts vertraut. Die belastende nationale Vorschrift wurde lediglich erduldet. Der Betroffene hat aber kein zu schützendes Vertrauen gebildet, dass es bei dieser Belastung bleiben wird. Offenbar hat er auch nicht auf die Geltung einer ihm günstigen Vorschrift des Unionsrechts vertraut, denn sonst hätte er wohl einen Rechtsbehelf eingelegt. Diesen Personen mutet der EuGH zu, weiter die unionsrechtswidrige nationale Rechtsvorschrift zu erdulden. In mehrpoligen Verhältnissen kommt hierin die subjektive Rechtssicherheit der privaten Gegenpartei zum Ausdruck, im zweipoligen Verhältnis dem Staat gegenüber die objektive Rechtssicherheit bzw. Kontinuität als Wert an sich. An dieser Stelle soll noch einmal betont werden, dass der Gerichtshof die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Auslegungsurteilen nicht auf eine analoge Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV stützt.200 Eine solche Analogie verbietet sich hier auch, da die Interessenlage gerade nicht vergleichbar ist: Während Nichtigkeitsklage und Vorabentscheidung über die Ungültigkeit letztlich das gleiche Ergebnis haben, dass ein Unionsrechtsakt nicht mehr von Behörden und Gerichten angewandt werden darf, findet das Ergebnis der Auslegungsvorabentscheidung keine Entsprechung im Verfahren der Nichtigkeitsklage.201 cc) Zeitliche Beschränkung der Wirkung von Ungültigkeitsurteilen Die dogmatische Begründung des Gerichtshofs für die zeitliche Beschränkung von Ungültigkeitsurteilen variiert im Laufe der Zeit.202 In den ersten Mais-Urteilen von 1980 berief sich der EuGH noch explizit auf eine Analogie zu Art. 174 Abs. 2 EWGV (jetzt Art. 264 Abs. 2 AEUV): Die Fol200 Dauses, S. 150; Isaac, C.D.E. 1987, 444 (452); Müller, S. 78; dies verkennt Beckmann, S. 114 f. 201 Weiß, EuR 1995, 377 (381); a. A. Bydlinski, JBl. 2001, 2 (24 f.), der argumentiert, die wesentliche Gemeinsamkeit beider Arten von Vorabentscheidung mit der Nichtigkeitsklage liege im Normenkonflikt zwischen gesatzten (sic!) generell-abstrakten Regelungen, so dass die für eine Analogie erforderliche Vergleichbarkeit gegeben sei. 202 Siehe hierzu auch Schima, S. 106 ff.; Düsterhaus, EuZW 2006, 393 (395).
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gen der Ungültigerklärung seien nicht ausdrücklich im Vertrag geregelt, doch die Art. 174 EWGV und Art. 176 EWGV (jetzt Art. 266 AEUV) enthielten klare Vorschriften über die Folgen einer Nichtigerklärung. Die Analogie sei letztlich aus denselben Erwägungen der Rechtssicherheit geboten, die auch Art. 174 Abs. 2 EWGV zugrundelägen.203 Die Begründung ähnelt damit derjenigen in Defrenne II: Der Gedanke der Rechtssicherheit spielt wiederum eine wichtige Rolle. Doch geht der EuGH noch einen Schritt weiter und versucht sich an einer normativen Anknüpfung im EWG-Vertrag im Wege einer Analogie. Dieser Analogieschluss ist insbesondere in der französischen Literatur deutlich kritisiert worden. So sei die Vorschrift aufgrund ihres Ausnahmecharakters nicht analogiefähig,204 die Artt. 173, 174 und 176 EWGV (jetzt Artt. 263, 264 und 266 AEUV) stellten eindeutig einen abgeschlossenen Regelungskreis dar und Art. 177 EWGV (jetzt Art. 267 AEUV) für sich einen anderen,205 die Rechtssicherheit sei im Rahmen einer Vorabentscheidung keineswegs in der gleichen Weise betroffen wie im Rahmen einer Nichtigkeitsklage und daher nur ein vorgeschobenes Alibi des Gerichtshofs.206 Schließlich hätten die Generalanwälte in vorangegangen Verfahren nicht ganz ohne Grund einer analogen Anwendung von Art. 174 Abs. 2 EWGV skeptisch gegenüber gestanden.207 In späteren Urteilen nahm der Gerichtshof Abstand von der Begründung im Wege der Analogie208 und rechtfertigte die zeitliche Begrenzung mit der notwendigen Kohärenz zwischen der Vorlage zur Vorabentscheidung und der Nichtigkeitsklage – zwei vom Vertrag vorgesehenen Arten der Rechtmäßigkeitskontrolle.209 Damit sieht der EuGH das Vorabentscheidungsverfahren mit dem Ziel der Ungültigerklärung und die Nichtigkeitsklage als zwei miteinander verwandte 203 EuGH, Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 4/79, Société Coopérative „Providence Agricole de la Champagne“, Slg. 1980, 2823, Rn. 44 f.; Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 109/79, Maïseries de Beauce, Slg. 1980, 2883, Rn. 44 f.; Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 145/79, Roquette Frères, Slg. 1980, 2917, Rn. 51 f. 204 Errera, in: Schermers/Timmermans/Kellermann/Watson (Hrsg.), S. 101; Lauwaars, in: Schermers/Timmermans/Kellermann/Watson (Hrsg.), S. 316; Simon, in: FS Pescatore, S. 661. 205 Boulouis, Recueil Dalloz Sirey 1982, 9 (11); Labayle, Rev. Trim. Dr. Eur. 1982, 484 (489); Simon, in: FS Pescatore, S. 660. 206 Boulouis, Recueil Dalloz Sirey 1982, 9 (11). 207 Simon, in: FS Pescatore, S. 661, unter Verweis auf Generalanwalt Capotorti, Schlussanträge vom 23. Januar 1979, Rs. 101/78, Granaria/Hoofdproduktschap voor Akkerbouwprodukten, Slg. 1979, 623 (646) sowie Schlussanträge vom 6. Mai 1980, Rs. 130/79, Express Dairy Foods, Slg. 1980, 1887 (1911); Generalanwalt Mayras, Schlussanträge vom 17. Juni 1980, Rs. 4/79, Société Coopérative „Providence Agricole de la Champagne“, Slg. 1980, 2823 (2862, 2882). 208 Isaac, C.D.E. 1987, 444 (457), nimmt an, dass die anhaltende Kritik an der „Analogie“ beim EuGH einen wunden Punkt getroffen habe („[. . .] la critique du raisonnement analogique a ,fait mouche‘ [. . .]“). 209 EuGH, Urteil vom 27. Februar 1985, Rs. 112/83, Société des Produits de Maïs, Slg. 1985, 719, Rn. 17; Urteil vom 22. Mai 1985, Rs. 33/84, Fragd, Slg. 1985, 1605,
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Klagearten an, gewissermaßen als zwei Seiten einer Medaille. Während die Nichtigkeitsklage einen Weg der direkten Anfechtung eines Unionsrechtsakts darstellt, ist das Vorabentscheidungsverfahren eine indirekte Anfechtungsmöglichkeit. Damit bleibt der Gerichtshof bei einer Analogie, auch wenn er diese Wortwahl nun vermeidet. Denn letztlich ist es die inhaltliche Nähe der beiden Klagearten, die darauf schließen lässt, dass im Rahmen der Vorentscheidungsverfahren planwidrig keine Regelung für die Fortgeltung der Wirkungen getroffen wurde, und sie bietet zugleich auch einen ersten Anhaltspunkt dafür, dass die Interessenlagen vergleichbar sind. Denn warum sollte bei einer direkten Anfechtung eine Fortgeltung der Wirkung möglich sein, bei einer indirekten Anfechtung nicht?210 Das Bedürfnis nach Rechtssicherheit211 ist beim Vorabentscheidungsverfahren nicht geringer als bei der Nichtigkeitsklage, im Gegenteil: Wie bereits dargelegt wurde, findet ein Vorabentscheidungsersuchen zwangsläufig deutlich später seinen Weg zum Gerichtshof als die fristgebundene Nichtigkeitsklage – das Bedürfnis auf Beschränkung der Urteilswirkungen dürfte also bei Vorabentscheidungen häufig deutlich dringender sein als bei Nichtigkeitsklagen.212 Mit diesem Verweis auf die notwendige Kohärenz tritt der Gerichtshof noch einmal den Kritikern entgegen, die Art. 174 Abs. 2 EWGV für nicht analogiefähig gehalten hatten. Die klare Botschaft lautet, dass sich der EuGH die Analogie nicht einfach aus den Fingern gesaugt habe, vielmehr ist es die Struktur des Vertrags selbst, die nicht nur dazu ermächtigt, sondern geradezu dazu zwingt, für Vorabentscheidungen ein ähnliches Instrument wie das von dieser Vorschrift vorgesehene zu entwickeln.213 Im Übrigen ist anzumerken, dass der römisch-rechtliche Grundsatz, Ausnahmevorschriften seien nicht analogiefähig („singularia non sunt extendenda“), zwar noch in einigen romanischen Rechtsordnungen Geltung beansprucht und sogar kodifiziert ist, insbesondere von der deutschsprachigen Rechtswissenschaft aber zunehmend für überholt gehalten wird.214 Denn wenn die Grundproblematik, die einer Ausnahmevorschrift zugrundeliegt, auch bei einem anderen Sachkomplex auftritt, und wenn die Ausnahmevorschrift auch für diese parallele Problemlage eine passende Lösung bietet, warum sollte man dann die Ausnahme nicht analog anwenden können?215 Abschließend ist festzustellen: Der Analogieschluss des Gerichtshofs, ob er nun explizit oder eher verdeckt stattfindet, erscheint durchaus vertretbar.216 Zu Rn. 17; Urteil vom 26. April 1994, Rs. C-228/92, Roquette Frères, Slg. 1994, I-1445, Rn. 19; Urteil vom 8. Februar 1996, Rs. C-212/94, FMC, Slg. 1996, I-389, Rn. 56. 210 Weiß, EuR 1995, 377 (379); Müller, S. 49. 211 Zu den mit diesem Begriff verbundenen Problemen siehe oben C. II. 2. c) bb). 212 Müller, S. 49. 213 Isaac, C.D.E. 1987, 444 (459). 214 Kramer, S. 185 ff.; Würdinger, JuS 2008, 949 (949). 215 Würdinger, JuS 2008, 949 (950). 216 Weiß, EuR 1995, 377 (381); Waldhoff, S. 37; Müller, S. 49.
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dieser Einsicht scheint inzwischen auch der EuGH gekommen zu sein. Der nachhaltige Eindruck, den die heftige Kritik aus der Rechtswissenschaft in den achtziger Jahren mutmaßlich auf ihn gemacht hat, lässt nach gut zwei Jahrzehnten offenbar nach: In jüngeren Gültigkeitsurteilen stellte der EuGH jedenfalls wieder fest, dass Art. 264 Abs. 2 AEUV bzw „im Rahmen von Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 267 AEUV zur Beurteilung der Gültigkeit von Handlungen der Organe der Union entsprechend anwendbar“ sei.217 d) Grundlegende Kritik an der zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen durch den EuGH Seitdem der EuGH in der Rechtssache Defrenne II erstmals die zeitlichen Wirkungen eines Vorabentscheidungsurteils beschränkt hat, sah sich diese Rechtsprechung teilweise heftiger Kritik ausgesetzt. Dabei wurde nicht nur die Ausgestaltung im Einzelnen kritisiert, sondern auch durchaus die grundsätzliche Befugnis des Gerichtshofs in Frage gestellt, eine solche zeitliche Beschränkung vorzunehmen. Auf diese Kritikpunkte soll im Folgenden eingegangen werden. aa) Anmaßung legislativer Kompetenzen durch den EuGH Ein typisches Argument, das gerade in den ersten Jahren nach der DefrenneEntscheidung gegen die Beschränkung der Urteilswirkung vorgebracht wurde, ist der an den Gerichtshof gerichtete Vorwurf, sich legislative Kompetenzen anzumaßen. Der Gerichtshof setze die Unions- (damals: Gemeinschafts-)Rechtsordnung mit Wirkung für die Vergangenheit außer Kraft, was nach dem klassischen kontinentaleuropäischen Verständnis von den Aufgaben der Judikative keinem Gericht zustehen könne.218 In eine ähnliche Richtung geht die etwas schwächere Auffassung, dass ein Gericht jedenfalls nicht legislative oder legislativ-ähnliche Funktionen ausüben sollte, weil es sonst seine Glaubwürdigkeit als Rechtsprechungsorgan verspiele. Gerade weil Gerichte nicht vom Bürger gewählt würden, beruhe ihre Autorität darauf, dass sie sich darauf beschränkten, das Recht so anzuwenden, wie sie es vorfinden.219 Derartige Kritik geht von einer sehr strengen Trennung zwischen Rechtsetzung und Rechtsprechung aus. Eine solche Dichotomie entspricht dem Verständnis der meisten kontinentalen Rechtsordnungen, während ein englischer Jurist wohl durchaus weniger Probleme damit hätte, sich grundlegende Rechtsprinzipien 217 EuGH, Urteil vom 9. November 2010, verb. Rs. C-92/09 und C-93/09, Schecke, R. 93 (noch nicht in Slg.); Urteil vom 22. Dezember 2008, Rs. C-333/07, Régie Networks, Slg. 2008, I-10807, Rn. 121; siehe auch Müller, S. 48. 218 Hamson, in: Begegnung Justiz und Hochschule, S. II-17; Beckmann, S. 114. 219 Koopmans, C.L.J. 39 (1980), 287 (297).
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nicht vom Gesetzgeber, sondern von Richtern vorschreiben zu lassen.220 Aber selbst in Rechtsordnungen mit einem weitgehend kodifizierten Recht bleibt den Richtern oft noch ein weiter Spielraum für Kreativität, der die Grenzen zwischen Rechtsprechung und Rechtsetzung verschwimmen lässt, ohne dass darin eine Anmaßung des Gerichts zu sehen wäre. Während in eher randseitigen Rechtsgebieten mit Vorliebe jedes noch so kleine Detail in ausführlichen Legaldefinitionen festgelegt ist,221 sind es gerade die großen und wichtigen Rechtssätze, wie zum Beispiel Verfassungsprinzipien, Grundrechte oder auch Straftatbestände mit erheblicher Strafandrohung, die der Verfassungs- oder Gesetzgeber nur in wenigen spärlichen Worten niedergelegt hat.222 Sollen diese mehr sein als Worte auf Papier, bedürfen sie nicht nur der Auslegung, sondern bereits der Ausgestaltung durch die dazu bestimmten Gerichte. Wenn das BVerfG aus Art. 2 Abs. 1 GG ein ausgeklügeltes Konzept zur allgemeinen Handlungsfreiheit oder (in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht entwickelt, dann kann man genauso gut die Frage stellen, inwieweit diese Institute bereits in den Worten „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ angelegt waren.223 Es ist die typische Aufgabe eines Verfassungsgerichts, die „lapidaren Aussagen“ 224 der Verfassung mit Leben zu füllen: Wie bereits Smend mit Blick auf das BVerfG im Jahr 1962 zu dessen zehnjährigem Bestehen anmerkte: „Das Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt.“ 225
Und auch der US-amerikanischen Staatsrechtslehre ist dieser Gedanke nicht fremd, wie das bekannte Zitat eines Richters am U.S. Supreme Court zeigt: „The constitution is what the judges say it is.“ 226
Daraus lassen sich zwei Dinge ableiten: Erstens ist der EuGH, wenn ihm die Überschreitung seiner funktionellen Grenzen in Richtung der Legislative vorgeworfen wird, als „Verfassungsgericht“ der Union in bester Gesellschaft. Ein Ver-
220 Stein, in: FS Jur. Fakultät Heidelberg, S. 621. Auch hier gibt es jedoch Grenzen, die insbesondere unter das Stichwort „Judicial self restraint“ fallen; siehe hierzu Frowein, in: FS Jur. Fakultät Heidelberg, S. 555. 221 Siehe zum Beispiel im deutschen Recht § 2 WeinG sowie §§ 29 ff. WeinVO; im Unionsrecht VO (EG) Nr. 753/2002 der Kommission mit Durchführungsbestimmungen zur VO (EG) Nr. 1493/1999 des Rates hinsichtlich der Beschreibung, der Bezeichnung, der Aufmachung und des Schutzes bestimmter Weinbauerzeugnisse. 222 Vgl. Brohm, NJW 2001, 1 (3). 223 Und in der Tat sieht sich auch das Bundesverfassungsgericht immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, seine funktionellen Grenzen in Richtung Gesetzgebung zu überschreiten; siehe z. B. Hesse, in: FS Huber, S. 270 mwN. 224 Kirchhof, NJW 1996, 1497 (1504); siehe auch Hesse, in: FS Huber, S. 270 („oft nur punktuelle, weite und unbestimmte Normtexte des Grundgesetzes“). 225 Smend, in: BVerfG 1951–1971, S. 16. 226 Hughes, S. 139.
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C. Begrenzung von Urteilsfolgen in der Rechtsprechung des EuGH
fassungsgericht, das seine Aufgabe ernst nimmt, scheint sich zwangsläufig einer derartigen Kritik ausgesetzt zu sehen. Zweitens muss man dem Gerichtshof der Europäischen Union, wollte man seine Funktion nicht gänzlich aushöhlen, zugestehen, dass er die Gründungsverträge mit Leben ausfüllt. Dem EuGH wird also Kreativität nicht nur erlaubt, sondern geradezu abverlangt. Die eher lapidaren Angaben des AEUV zur Tätigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union sind für die Ausgestaltung einer funktionsfähigen EU-Gerichtsbarkeit bei weitem nicht ausreichend.227 Gerade das Primärrecht, das überdies im Gegensatz zu vielen staatlichen Verfassungen ohnehin auf Dynamik statt auf Bewahrung ausgerichtet ist,228 ist somit nicht nur ausfüllungsfähig, sondern auch ausfüllungsbedürftig.229 Allein dadurch, dass der Gerichtshof bei dieser Ausfüllung die politischen Aspekte seiner Entscheidung nicht aus dem Blick verliert, schwingt er sich noch nicht selbst zum politischen Akteur auf.230 bb) Dammbruch-Gefahr Des Weiteren wird ein typisches „Slippery-Slope“- bzw. „Dammbruch“-Argument gegen eine zeitliche Beschränkung vorgebracht: Ein Richter, der wisse, dass er die Auswirkungen eines Urteils jederzeit wieder eindämmen kann, könne eher versucht sein, althergebrachte Konzepte über den Haufen zu werfen.231 Diese Gefahr mag durchaus bestehen – allerdings könnte man dieses Argument genauso gut umkehren: Ein Richter, der keinerlei Möglichkeiten hat, die Folgen eines Urteils abzumildern, könnte in Fällen krasser Konsequenzen von der eigentlich für richtig gehaltenen Entscheidung zurückschrecken und sich wider besseren Wissens einer anderen Rechtsauffassung anschließen.232 Dieses Problem sieht auch der EuGH: In Defrenne II heißt es, nur weil eine Gerichtsentscheidung für die Vergangenheit gewisse Auswirkungen haben könne, dürfe deshalb noch lange nicht „die Objektivität des Rechts gebeugt und seine zukünftige Anwendung unterbunden“ werden.233 In dieser Formulierung spiegelt sich die 227 Siehe eine entsprechende Argumentation zur mangelhaften Ausgestaltung des deutschen Verfassungsprozessrechts bei Waldhoff, S. 28. 228 Stein, in: FS Jur. Fakultät Heidelberg, S. 620. 229 So im Ergebnis auch Waelbroeck, Y.E.L. 1 (1981), 115 (117); Schwarze, EuR 1977, 44 (49); Kutscher, in: Begegnung Justiz und Hochschule, S. I-47. 230 Kohl, R.C.J.B. 1977, 231 (242). 231 Im Ergebnis ablehnend Koopmans, C.L.J. 39 (1980), 287 (299); zum US-Recht Mishkin, Harv. L. Rev. 79 (1965), 56 (70). 232 Kutscher, in: Begegnung Justiz und Hochschule, S. I-47; siehe auch Posner, S. 562. 233 EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 71/ 73; siehe auch EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 24/86, Blaizot, Slg. 1988, 379, Rn. 30; Urteil vom 16. Juli 1992, Rs. C-163/90, Legros, Slg. 1992, I-4625, Rn. 30; Urteil vom 15. Dezember 1995, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rn. 77.
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Befürchtung wider, ein Gericht könne sich aufgrund der praktischen Konsequenzen des Urteils vom dogmatisch richtigen Weg abbringen lassen und bereits eine abweichende Rechtsgrundentscheidung treffen.234 Nur bei dieser Interpretation ergibt auch die Verwendung des Wortes „zukünftige“ einen Sinn: Durch die zeitliche Beschränkung wird die Wirksamkeit des Urteils schließlich nur für die Vergangenheit eingeschränkt; für die Zukunft hingegen bleibt die volle Wirksamkeit erhalten. Lediglich eine abweichende Entscheidung der materiellen Fragen hätte die Folge, dass aufgrund der Auswirkungen einzelner, in der Vergangenheit liegender Fälle die richtige Auslegung des Unionsrechts auch für die Zukunft durch das abweichende Präjudiz des Gerichtshofs versperrt wäre. Das Gewicht der in der Vergangenheit liegenden Altfälle würde dann die erstrebenswerte Veränderung für zukünftige Fälle verhindern. Dass diese Befürchtung gar nicht so abwegig ist, hat der Fall Banca Popolare di Cremona gezeigt: Hier drängte sich der Eindruck nahezu auf, dass der EuGH keine Möglichkeit sah, die zeitliche Wirkung im Rahmen seiner bisherigen Dogmatik zu beschränken, vor den schwerwiegenden Konsequenzen zurückschreckte und das Problem deshalb bereits im Rahmen der Auslegungsfrage „löste“.235 Ein Instrument, mit dem das Gericht die wirtschaftlichen Folgen seiner Urteile abschwächen kann, ist daher nicht zwangsläufig eine Herausforderung zu leichtsinniger Rechtsprechung – es kann auch ein Garant für eine konsequente, nur der richtigen Auslegung verpflichtete Rechtsprechung sein.236 cc) Effet utile Eines der zentralen Institute des Unionsrechts ist der vom EuGH entwickelte so genannte „effet utile“, in den deutschen Fassungen der Urteile häufig „praktische Wirksamkeit“ genannt. Nach herrschender Auffassung handelt es sich hierbei um eine besondere Auslegungsmethode des EuGH237 bzw. einen Unterfall der teleologischen Auslegung,238 derzufolge derjenigen Auslegung des Unions-
234 Besonders deutlich wird dies im Urteil Bosman: Hier verwendet der EuGH den oben zitierten Textbaustein im Rahmen der Prüfung, ob der Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit möglicherweise wegen der schwerwiegenden Folgen gar nicht eröffnet sei, und weist dann darauf hin, dass derartige Folgen nur im Rahmen einer etwaigen zeitlichen Beschränkung der Urteilsfolgen berücksichtigt werden könnten, EuGH, Urteil vom 15. Dezember 1995, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rn. 77. Siehe auch Kutscher, in: Begegnung Justiz und Hochschule, S. I-47. 235 Siehe oben C. II. 1. l). 236 Siehe auch Schwarze, EuR 1977, 44 (49). 237 Seyr, S. 275 ff.; Schwarze, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 220 EG, Rn. 29; siehe auch Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), EU-Recht, Art. 19 EUV, Rn. 57 („Der teleologischen Auslegung verwandt“). 238 Schroeder, JuS 2004, 180 (186); Hobe, § 10, Rn. 49; wohl auch Streinz, in: FS Everling, S. 1496; vgl. auch Seyr, S. 103, Fn. 73 mwN.
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rechts der Vorzug gegeben werden soll, die die Verwirklichung der Vertragsziele und die Funktionsfähigkeit der Union sicherstellt.239 Daher ließe sich argumentieren, dass die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen den effet utile unterwandere, indem die Verwirklichung der Vertragsziele insoweit vernachlässigt werde, als die Anwendung des Unionsrechts für die Vergangenheit ausgesetzt wird. Im Grunde genommen handelt es sich hierbei um die Fragestellung, die oben im Rahmen der Ausführungen zur wertenden Rechtsvergleichung schon einmal angesprochen wurde, ob sich eine zeitliche Beschränkung überhaupt mit dem Wesen des Unionsrechts vereinbaren lässt.240 Wenn die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts auf größtmögliche Effektivität zur Erreichung des Unionsziels ausgerichtet ist,241 wie soll man es dann rechtfertigen, auch nur für einen begrenzten Zeitraum das Unionsrecht hinter unionsrechtswidrigem nationalen Recht zurücktreten zu lassen? Soll durch die praktische Wirksamkeit nicht gerade das Unionsrecht vor nachlässiger Verwirklichung in den Mitgliedstaaten geschützt werden?242 Dieser scheinbare Widerspruch ist letztlich gar keiner. Denn der EuGH verfolgt die Auslegung nach dem effet utile auch sonst keineswegs kompromisslos, wie seine Zurückhaltung bei der Zuerkennung horizontaler Wirkung von Richtlinien oder im Rahmen der Klagebefugnis von Individuen nach Art. 230 Abs. 4 EG (jetzt Art. 263 Abs. 4 AEUV)243 zeigt.244 Auch im Rahmen eines effet utile ist Platz für einen Ausgleich der Interessen von Union, Individuen und Staat.245 Wenn der EuGH ausnahmsweise in einzelnen Urteilen die zeitliche Wirkung beschränkt, so ändert dies nichts daran, dass er sich im Großen und Ganzen bei seiner Rechtsprechung der Effektivität des Unionsrechts verschreibt. Und selbst in den Fällen, in denen das Urteil keine Wirkungen für die Vergangenheit mehr zeitigt, kann für die Zukunft – ab Verkündung des Urteils – das Unionsrecht ohne Einschränkung in derjenigen Auslegung gelten, die der Verwirklichung der Unionsziele am ehesten entspricht.
239 Grundlegend EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1970, Rs. 9/70, Leberpfennig, Slg. 1970, 825, Rn. 5; Urteil vom 19. November 1991, verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90, Francovich, Slg. 1991, I-5357, Rn. 32; siehe auch Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), EU-Recht, Art. 19 EUV, Rn. 57; Seyr, S. 367. 240 Siehe oben B. IV. 2. 241 Hobe, § 10, Rn. 49. 242 Streinz, in: FS Everling, S. 1506. 243 Art. 267 Abs. 4 AEUV sieht gegenüber Art. 230 Abs. 4 EG erhebliche Erleichterungen für die Klagebefugnis von Individuen vor. Es wird sich daher noch zeigen müssen, wie sich die Rechtsprechung des Gerichtshofs unter diesem neuen Regime entwickelt und ob sie auch im Rahmen der Neuregelung eher strenge Anforderungen stellen wird, um Popularklagen zu verhindern. 244 Seyr, S. 301 ff. 245 Seyr, S. 368.
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dd) Vertikale Zuständigkeitsverteilung Schließlich könnte man noch einwenden, dass es gegen die „vertikale Zuständigkeitsverteilung“ zwischen Union und Mitgliedstaaten verstoße, wenn der Gerichtshof die Grenzen der Folgen seiner Urteile selbst festlege. Demnach liege die Verantwortung für die Festlegung der Folgen eines EuGH-Urteils im Rahmen von Erstattungsfragen bei den Mitgliedstaaten.246 In der Tat sind Erstattungsanprüche vorrangig dem nationalen Recht zu entnehmen. Die Mitgliedstaaten sind hier weitgehend frei in ihren Regelungen. Dies betont der EuGH selbst in ständiger Rechtsprechung.247 Daran ändert jedoch auch eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen nichts. Indem der Gerichtshof die zeitliche Wirkung seiner Auslegungsurteile bestimmt, legt er den Rahmen fest, innerhalb dessen nationale Erstattungsansprüche anknüpfen können. Dies ist geboten, um ein Minimum der Einheitlichkeit bei der Anwendung des Erstattungsanspruchs zu erreichen. Innerhalb des so abgesteckten Rahmens bleiben den Mitgliedstaaten aber noch ausreichende Freiheiten bei der materiellen und prozessualen Ausgestaltung. Eine Verletzung der vertikalen Kompetenzordnung liegt daher nicht vor.248 ee) Beschneidung des effektiven Rechtsschutzes Müller kritisiert, dass durch die zeitliche Beschränkung von Auslegungsurteilen der effektive Rechtsschutz derjenigen Kläger, die nicht unter die Rückausnahme fallen, beschnitten werde.249 Dies sei vor allem deshalb bedenklich, weil der effektive Rechtsschutz ein grundrechtsgleiches Recht gemäß Art. 6 EUV i.V. m. Art. 47 Abs. 1 Grundrechtecharta sei.250 Dass der Rechtsschutz der Rechteinhaber im nationalen Gerichtsverfahren durch die zeitliche Beschränkung verkürzt wird, ist nicht von der Hand zu weisen. Diese Verkürzung ist jedoch das erklärte Ziel der Beschränkung der Urteilswirkungen: Der Gerichtshof will gerade in besonders gelagerten Fällen zur Vermeidung schwerwiegender Folgen ausnahmsweise die materielle Gerechtigkeit, und damit den effektiven Rechtsschutz für diejenigen, die sich eigentlich auf eine bestimmte Auslegung des Unionsrechts berufen könnten, in den Hintergrund treten lassen. Er muss daher eine Lösung finden, den effektiven Rechtsschutz auf der einen Seite und die berechtigten Interessen derer, die von den schwerwiegenden Folgen des Urteils 246
Bernhardt, S. 259. Siehe EuGH, Urteil vom 9. November 1983, Rs. 199/82, San Giorgio, Slg. 1983, 3595, Rn. 12; Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 309/85, Barra, Slg. 1988, 355, Rn. 17 f.; Urteil vom 29. Juni 1988, Rs. 240/87, Deville, Slg. 1988, 3513, Rn. 12. 248 So auch Bernhardt, S. 259. 249 Müller, S. 86 ff. 250 Müller, S. 86. 247
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betroffen sind, auf der anderen Seite miteinander in Einklang zu bringen. Dieser Interessenkonflikt spiegelt sich, wie sich noch zeigen wird, in nahezu jedem Tatbestandsmerkmal und jedem Rechtsfolgenelement der zeitlichen Beschränkung wider.251 Es muss die Aufgabe der Beschränkungsrechtsprechung des Gerichtshofs sein, alle widerstreitenden Interessen in einer Art „praktischer Konkordanz“ so weit wie möglich zur Geltung zu bringen. Das wichtigste Element zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes ist die Rückausnahme für alle diejenigen, die bereits einen Rechtsbehelf eingelegt haben.252 Das wird in der Tat nicht in jedem Einzelfall zu sachgerechten Ergebnissen führen. Zum Beispiel könnten die Kläger eines rechtskräftig beschiedenen abweisenden Urteils leer ausgehen, obwohl sie sich redlich bemüht haben, das nationale Gericht zu einem Vorlagebeschluss zu bewegen.253 Entscheidend ist aber, dass der Gerichtshof insgesamt einen angemessenen Interessenausgleich findet. Solange dies aufgrund der konkreten Ausgestaltung der zeitlichen Wirkung gewährleistet ist, steht das grundrechtsgleiche Recht auf effektiven Rechtsschutz dem nicht entgegen.254 ff) Zusammenfassung Vorweg sei gesagt, dass eine Abwägung des Für und Wider der zeitlichen Begrenzung nichts daran ändern wird, dass der Gerichtshof seit nunmehr über drei Jahrzehnten selten, aber beständig die Wirkung seiner Urteile in Vorabentscheidungsverfahren beschränkt. Die Auseinandersetzung mit den in der Literatur vorgebrachten Argumenten kann daher nur einen rein akademischen Charakter haben. Wie die vorangegangene Darstellung gezeigt hat, lassen sich zwar auf den ersten Blick gewichtige Argumente gegen eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen anführen, auf den zweiten Blick lassen sich diese Argumente jedoch durchweg entkräften. Einer Befugnis des Gerichtshofs zur zeitlichen Beschränkung seiner Urteile stehen daher keine grundlegenden Bedenken entgegen, sofern diese die Ausnahme bleibt. Denn grundsätzlich gilt nach wie vor, dass es gemäß Art. 19 EUV Aufgabe des EuGH ist, das Recht zu wahren. Zu diesem Zweck sollte der Gerichtshof das Unionsrecht nach streng juristischen Kriterien auslegen und anwenden. Allerdings ist die europäische Integration immer noch ein Gemeinschaftsprojekt, das ein erhebliches Maß an gegenseitiger Rücksichtnahme erfordert. Das Unionsrecht in jedem Fall ohne Rücksicht auf die Interes251 Und entgegen Müller, S. 86 ff., keineswegs nur im Rahmen des maßgeblichen Zeitpunkts für die Rückausnahme. 252 Vgl. Generalanwalt Darmon, Schlussanträge vom 27. Oktober 1993, Rs. C-228/ 92, Roquette Frères/Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445, Rn. 51 ff., insb. Rn. 61 f.; Tonne, S. 265. 253 Siehe Müller, S. 89 ff. 254 Gundel, in: Ehlers (Hrsg.), § 20, Rn. 59 f.
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sen der Mitgliedstaaten durchzusetzen, könnte der Akzeptanz des Integrationsprozesses schaden. Daher ist es wichtig, den Richtern ein Instrument an die Hand zu geben, das ihnen die Möglichkeit gibt, in Einzelfällen das juristisch Richtige mit dem pragmatisch Wünschenswerten in Einklang zu bringen. Nur so kann der Gerichtshof seine Aufgabe der Wahrung des Rechts auch dann erfüllen, wenn die Richter hin- und hergerissen sind zwischen ihrer Rechtsüberzeugung auf der einen Seite und den gravierenden Folgen eines entsprechenden Urteils auf der anderen Seite. Eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen ermöglicht es in solchen Fällen, dem Dilemma zu entgehen. Sie ist daher zu befürworten, wenn auch nur unter zwei Bedingungen: Erstens erfordert der Auftrag zur Wahrung des Rechts, dass zeitliche Beschränkungen die Ausnahme bleiben. Zweitens müssen die Betroffenen sich die Rücksichtnahme des Gerichtshofs auf ihre prekäre Situation verdienen. Denn Rücksichtnahme in der Union bedeutet immer gegenseitige Rücksichtnahme.255 Mitgliedstaaten oder auch Private, die durch fahrlässige Missachtung des Unionsrechts ihre missliche Lage selbst herbeigeführt haben, können daher nicht auf Rücksicht durch den EuGH hoffen. Ein Konzept zur Beschränkung der zeitlichen Wirkungen wird diese beiden Punkte im Rahmen der Tatbestandsvoraussetzungen zu berücksichtigen haben. e) Fallgruppen Ganz allgemein lässt sich festhalten, dass die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkung immer dort eine Rolle spielt, wo aufgrund einer Regelung unterhalb des EU-Primärrechts – sei es aufgrund einer EU-Verordnung, sei es aufgrund nationaler Gesetze oder Verordnungen – Geldbeträge über einen längeren Zeitraum fließen. Häufig fließt der Strom dabei in der Richtung Bürger–Staat, nämlich in Form von Steuern, Grenzabgaben oder Gebühren. Aber auch in anderen Konstellationen kann eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen aus Sicht der Beteiligten notwendig werden. Die nachfolgende, nicht abschließende Aufzählung soll die wichtigsten Fallgruppen aufzeigen. aa) Verhältnis Bürger–Staat (1) Unionsrechtswidrige Zahlungsverpflichtung des Bürgers Unionsrechtswidrige Zahlungsverpflichtungen des Bürgers sind die mit Abstand wichtigste Fallgruppe für die zeitliche Beschränkung. In diese Gruppe fallen alle unionsrechtswidrig erhobenen Steuern, Gebühren und Abgaben. Die Mais-Fälle sowie die Rechtssachen Denkavit Italiana, Barra, Blaizot, Legros, EKW, Banca Popolare di Cremona und Meilicke sind daher alle dieser Gruppe zuzurechnen. 255
Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 10 EG, Rn. 13.
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Da die in Rede stehenden Zahlungsansprüche des Staates auf gesetzlichen Vorschriften beruhen, entweder aus dem nationalen Recht oder aufgrund einer EU-Verordnung, betreffen sie zwangsläufig eine Vielzahl von Einzelfällen. Der Haushalt der Körperschaften, die eine solche Leistung eingezogen und verwertet haben, würde daher durch eine Verpflichtung zur Rückzahlung regelmäßig stark belastet. Zwar geht der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung bisher davon aus, dass bestandskräftige Verwaltungsakte nicht mehr angetastet werden müssen.256 Allerdings tendiert gerade das Steuerrecht dazu, den Steuerzahlern eine Möglichkeit einzuräumen, ihre Steuerbescheide über Jahre hinweg offenzuhalten, so dass sie nicht bestandskräftig werden.257 Eine faktische Begrenzung der Rückwirkung über die Bestandskraft der Zahlungsbescheide scheidet damit weitgehend aus. In anderen Mitgliedstaaten wiederum sind Steuerrückforderungsansprüche vor den ordentlichen Gerichten als Kondiktionsansprüche geltend zu machen und unterliegen damit ohnehin nur den langen allgemeinen Verjährungsfristen. Das Interesse der Mitgliedstaaten, in diesen Fällen die zeitliche Wirkung zu beschränken, ist somit nicht überraschend. (2) Unionsrechtswidrige Nichtzahlung des Staates Fälle der unionsrechtlichen Nichtzahlung von Geldbeträgen durch den Staat an Private sind gewissermaßen das Spiegelbild zu den Mais-Fällen. Die dort in Rede stehenden Ausgleichsbeträge waren nämlich je nach Stärke einer Währung entweder an den Staat zu zahlen (um Produkte aus Mitgliedstaaten mit schwachen Währungen, die sonst einen Wettbewerbsvorteil gehabt hätten, zusätzlich zu belasten), oder vom Staat an die exportierenden Unternehmen zu zahlen (um in Mitgliedstaaten mit überdurchschnittlich starken Währungen die Produzenten zu entlasten). Wenn nun ein Mitgliedstaat mit starker Währung aufgrund der Fehlberechnungen der Kommission einen zu niedrigen Geldbetrag auszahlt, so würde sich ebenfalls ein Anwendungsbereich für eine zeitliche Beschränkung ergeben, wenn der EuGH später in einem Vorabentscheidungsverfahren feststellte, dass eine unionsrechtliche Pflicht zu einer höheren Auszahlung bestand. Ein weiterer Anwendungsfall ist die diskriminierende Nichtzahlung von unionsrechtlichen Fördermitteln wie zum Beispiel Agrarsubventionen. Ein solcher Sachverhalt lag der Rechtssache Ruckdeschel zugrunde.258 Hier wehrten sich Hersteller von Quellmehl dagegen, dass die Erstattung für dieses Produkt durch eine EWG-Verordnung abgeschafft wurde, während für die Erzeugung von Stärke weiterhin ein 256
Siehe dazu im Einzelnen unten E. V. Eingehend Hahn, IStR 2005, 145 (147); siehe auch Kokott/Henze, NJW 2006, 177 (179); Steinberg/Bark, EuZW 2007, 243 (247); Generalanwalt Tizzano, Schlussanträge vom 10. November 2005, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 57. 258 EuGH, Urteil vom 19. Oktober 1977, verb. Rs. 117/76 u. 16/77, Ruckdeschel, Slg. 1977, 1753. 257
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Erstattungsbetrag gezahlt wurde. Letztlich handelt es sich hier um einen Fall des gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses, wie er der Rechtsprechung des deutschen BVerfG zur Unvereinbarerklärung zugrundeliegt.259 (3) Unionsrechtswidrige Leistungen des Staates Ein weiterer Anwendungsbereich für eine zeitliche Beschränkung ist der Fall, dass sich eine staatliche Leistung nachträglich als unionsrechtswidrig erweist und daher zurückgefordert werden muss. Dabei dürfte es weniger um große Beihilfezahlungen gehen, die schnell die Aufmerksamkeit der Kommission erregen dürften und dann im Wege eines Vertragsverletzungsverfahrens vor dem EuGH landen würden, sondern eher um kleinere Unterstützungsbeträge, die aber zum Beispiel eine Ansiedlung von Unternehmern aus anderen Mitgliedstaaten erschweren und daher gegen die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV verstoßen.260 Denkbar wäre zum Beispiel eine staatliche Prämie für neugegründete Unternehmen, die nur an deutsche Staatsbürger ausgezahlt wird. Allerdings befindet man sich in derartigen Sachverhalten sehr schnell in einer anderen Fallgruppe, nämlich dem unionsrechtswidrigen Vorenthalten einer staatlichen Leistung (dazu sogleich). (4) Unionsrechtswidriges Vorenthalten einer staatlichen Leistung Zumindest vereinzelt im Zusammenhang mit einer zeitlichen Begrenzung entschieden wurde das unionsrechtswidrige Vorenthalten einer staatlichen Leistung, das gegen Art. 18 AEUV verstößt. Beispiele hierfür sind die bereits erwähnte Rechtssache Sürül 261 oder auch die Rechtssache Grzelczyk,262 in dem einem französischen Studenten in Belgien die Gewährung des Existenzminimums aufgrund von Anforderungen verweigert wurde, die belgische Staatsbürger nicht erfüllen mussten. Da hier der unionsrechtliche Gleichheitssatz im Mittelpunkt steht, hat diese Fallgruppe Ähnlichkeit mit jenen Fällen des „gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses“, die das deutsche BVerfG einst zur Entwicklung der Unvereinbarerklärung bewogen haben.263 Auch hier ist das Interesse der Mitgliedstaaten an einer zeitlichen Beschränkung verständlich. Im Bereich der Sozialleistungen haben die Staaten ohnehin nichts zu verschenken und müssen knapp kalkulieren. Führt ein Urteil des EuGH dazu, dass rückwirkend ganze Be259
Waldhoff, S. 34; siehe auch oben B. II. 1. b). Vgl. z. B. die Fallkonstellation in EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2008, Rs. C333/07, Régie Networks, Slg. 2008, I-10807. 261 EuGH, Urteil vom 4. Mai 1999, Rs. C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685. 262 EuGH, Urteil vom 20. September 2001, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193. 263 Siehe zur Unvereinbarerklärung Schlaich/Korioth, Rn. 401. 260
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völkerungsgruppen mit begünstigt werden müssen, die bei der ursprünglichen Berechnung nicht mitberücksichtigt worden waren, kann dies die Sozialsysteme gehörig aus dem Gleichgewicht bringen. bb) Verhältnis Private–Private Wie der Überblick über die Rechtsprechung bereits gezeigt hat, kann eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen auch in Vorabentscheidungsverfahren relevant werden, denen ein Rechtsstreit zwischen zwei Privaten zugrundeliegt. Typischerweise wird in derartigen Verfahren eine unmittelbar anwendbare Vorschrift des Unionsrechts im Mittelpunkt stehen, wie zum Beispiel Art. 157 AEUV264, Art. 45 AEUV265 oder EU-Verordnungen, die unmittelbar Rechte und Pflichten für Private begründen. Ein Bedürfnis nach Beschränkung der Urteilswirkungen entsteht dann, wenn Verträge in großer Zahl nach demselben unionsrechtswidrigen Schema abgeschlossen werden, also insbesondere, wenn dem eine kollektivrechtliche Regelung zugrundeliegt oder sich die privaten Verträge an einer ebenfalls unionsrechtswidrigen nationalen Rechtslage orientieren.266 Schwerwiegende Folgen aufgrund der Vielzahl abzuwickelnder Fälle können aber auch eintreten, wenn das nationale Privatrecht gegen Harmonisierungsrichtlinien verstößt, zum Beispiel im Bereich von Gewährleistungsrechten oder Schadensersatzansprüchen.267 Hier ist allerdings zu berücksichtigen, dass nach ständiger Rechtsprechung des EuGH Richtlinien auch nach Ablauf der Umsetzungsfrist keine unmittelbaren Verpflichtungen für Private mit sich bringen können (keine horizontale Drittwirkung).268 Hier kann die Richtlinie keinesfalls als Anspruchsgrundlage, sondern nur im Wege richtlinienkonformer Auslegung oder durch Unanwendbarkeit entgegenstehender nationaler Vorschriften269 zu einer rückwir264 So in den Rechtssachen Defrenne II und Barber, EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455; Urteil vom 17. Mai 1990, Rs. C-262/88, Barber, Slg. 1990, I-1889. 265 So in der Rechtssache Bosman: EuGH, Urteil vom 15.12.1990, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921; inzwischen betrachtet der EuGH Art. 45 AEUV (vormals Art. 39 EG) nicht nur in Bezug auf kollektive Regelungen als unmittelbar anwendbar (so noch in Bosman), sondern generell gegenüber Privatpersonen, EuGH, Urteil vom 6. Juni 2000, Rs. C-281/98, Angonese, Slg. 2000, I-4139, Rn. 34 ff. 266 EuGH, Urteil vom 17. Mai 1990, Rs. C-262/88, Barber, Slg. 1990, I-1889, Rn. 31 ff. 267 Letzteres war die Problematik in EuGH, Urteil vom 10. Januar 2006, Rs. C-402/ 03, Skov, Slg. 2006, I-199. 268 EuGH, Urteil vom 26. Februar 1986, Rs. 152/84, Marshall, Slg. 1986, 723, Rn. 47 f.; Urteil vom 13. November 1990, Rs. C-106/89, Marleasing, Slg. 1990, I-4135, Rn. 6; Urteil vom 14. Juli 1994, Rs. C-91/92, Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325, Rn. 24 ff. 269 Vgl. EuGH, Urteil vom 26. September 2000, Rs. C-443/98, Unilever Italia, Slg. 2000, I-7535, Rn. 50. Siehe auch Haratsch/Koenig/Pechstein, Rn. 392 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 492; Herdegen, § 8, Rn. 50, Craig/de Búrca, S. 207 ff.
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kenden Veränderung der rechtlichen Verhältnisse im Mitgliedstaat führen oder anderenfalls einen Schadensersatzanspruch gegen den Staat wegen verfehlter Richtlinienumsetzung begründen.270 Zu bedenken ist auch, dass im Verhältnis zwischen zwei Privaten keine Bestandskraft eintreten kann, um die Auswirkungen einer Auslegung des EuGH abzumildern. Dies kann lediglich durch die Verjährung nach allgemeinem bürgerlichen Recht geschehen, was regelmäßig dazu führen dürfte, dass deutlich längere Zeiträume verstreichen müssen, damit Rechtsfrieden eintritt. Folgende Fallgruppen sind im Verhältnis zwischen Privaten zu bedenken: (1) Unionsrechtswidrige Nichtzahlung Eine typische Fallgruppe im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts besteht darin, dass eine Leistung nur in diskriminierender Weise gewährt, also einzelnen Teilnehmern des Rechtsverkehrs vorenthalten wird. Stellt der Gerichtshof, wie in den Rechtssachen Defrenne II und Barber, fest, dass eine solche unterschiedliche Behandlung nicht mit dem unmittelbar anwendbaren Unionsrecht vereinbar ist, kann dies zu einer Flut von Nachzahlungsansprüchen der bislang benachteiligten Arbeitnehmer führen. Die Häufung der Fälle wird im Arbeitsrecht durch die Existenz von Tarifverträgen erleichtert, die genauso gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht verstoßen können wie Individualverträge. Im Sozialrecht zeigt der Fall Barber, dass sich schnell große Beträge ansammeln können, wenn versucht wird, staatliche Leistungssysteme im privaten Bereich nachzuahmen, und dabei die unionsrechtswidrigen Komponenten gleich mit kopiert werden. (2) Unionsrechtswidrige vertragliche Sekundäransprüche Die europäische Integration macht auch vor dem nationalen Vertragsrecht nicht halt. Die nationalen Vorschriften des bürgerlichen Rechts werden inzwischen zunehmend harmonisiert. Das beste und bedeutendste Beispiel hierfür ist die Harmonisierung des Kaufrechts durch die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie. Die wirtschaftliche Bedeutung liegt auf der Hand: Tag für Tag verlassen sich Millionen von Menschen in der EU darauf, dass die Richtlinie korrekt in ihr nationales Recht transformiert worden ist. Dass dieses Vertrauen nicht immer berechtigt ist, hat erst kürzlich das so genannte „Herd-Set-Urteil“ des EuGH gezeigt, aus dem sich ergibt, dass die vom deutschen BGB vorgesehene Nutzungsentschädigung 270 Vgl. Fischinger, EuZW 2008, 310 (313); Faust, JuS 2008, 652 (653); beide übersehen die vom EuGH seit Unilever Italia begründete Möglichkeit, einzelne Vorschriften des nationalen Rechts wegen entgegenstehenden Richtlinienrechts unangewendet zu lassen, vgl. EuGH, Urteil vom 26. September 2000, Rs. C-443/98, Unilever Italia, Slg. 2000, I-7535, Rn. 50.
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C. Begrenzung von Urteilsfolgen in der Rechtsprechung des EuGH
bei der Ersatzlieferung für eine mangelhafte Kaufsache nicht mit der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie vereinbar ist.271 Hier werden sich in naher Zukunft entweder die Verkäufer einer großen Zahl von Rückforderungsansprüchen gegenübersehen, oder aber der Staat wird wegen fehlerhafter Umsetzung der Richtlinie in beträchtlichem Umfang haften.272 Derartige Fälle bieten sich für einen Antrag auf Beschränkung der zeitlichen Wirkung geradezu an, da aufgrund der Alltäglichkeit der Geschäfte, bei denen eine fehlerhafte Umsetzung der Richtlinie zum Tragen kommen kann, schnell unüberschaubar hohe Summen zusammenkommen können, die entweder von Privaten zu zahlen oder vom Staat zu ersetzen sind. Dabei kommen nicht nur Fälle in Betracht, in denen das nationale Recht im Widerspruch zur Richtlinie Ansprüche gewährt, sondern auch solche, in denen das nationale Recht unionsrechtswidrig Ansprüche vorenthält. Gerade in der letzten Fallgruppe ist allerdings besonders auf das Verbot der horizontalen Drittwirkung zu achten. (3) Unionsrechtswidrige Schadensersatzansprüche Die Regelung von Schadensersatzansprüchen trägt ebenfalls ein großes Potential zur Störung der Wirtschaft in sich, wenn sie unionsrechtswidrig geschieht. Wichtige Bereiche des Schadensersatzes wie das Produkthaftungsrecht sind inzwischen harmonisiert, das nationale Recht ist daher unionsrechtskonform auszulegen oder schlimmstenfalls unanwendbar. Die Situation ist ähnlich wie in der vorangegangen Gruppe unionsrechtswidriger Sekundärrechte: Auch hier kann die nachträgliche Feststellung, dass eine Richtlinie unionsrechtswidrig umgesetzt worden ist, entweder zu hohen Rückforderungen oder neuen Schadensersatzansprüchen führen. (4) Schadensersatzansprüche wegen Verstoßes gegen Unionsrecht Eine weitere Gruppe betrifft arbeitsrechtliche Fälle, in denen aufgrund unionsrechtswidriger Diskriminierung ein Arbeitsverhältnis gar nicht erst zustande gekommen ist. In diese Gruppe ist der bekannte Fall Bosman273 einzuordnen. Auch hier können die resultierenden Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüche ein großes Ausmaß annehmen, wenn die unionswidrige Ablehnung des Arbeitssuchenden einer allgemeinen Übung in einem Mitgliedstaat entspricht.
271 EuGH, Urteil vom 17. April 2008, Rs. C-404/06, Quelle/Bundesverband der Verbraucherzentralen, Slg. 2008, I-2685. 272 Vgl. Fischinger, EuZW 2008, 310 (313). 273 EuGH, Urteil vom 15. Dezember 1995, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921.
III. Zusammenfassung
113
III. Zusammenfassung Dieser Abschnitt hat gezeigt, dass die Eigenart des Vorabentscheidungsverfahrens, unionsrechtlich beeinflusste Rechtsverhältnisse auch noch nach sehr langer Zeit in Frage zu stellen, eine Möglichkeit zur zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen gerade bei dieser Verfahrensart besonders dringlich erscheinen lässt. Auch wenn Argumente wie das Bestehen einer Dammbruch-Gefahr und die Anmaßung legislativer Kompetenz gegen eine solche Möglichkeit ins Feld geführt werden können, überwiegt doch das Bedürfnis nach einem Instrument, das es dem Gerichtshof ermöglicht, im Einzelfall auf die Betroffenen in den Mitgliedstaaten Rücksicht nehmen zu können und die Wirkungen für abgeschlossene Rechtsverhältnisse abzuschwächen, um ohne den Ballast dieser Altlasten für die Zukunft eine juristisch richtige und konsequente Entscheidung treffen zu können. Nur so kann der Gerichtshof seiner in Art. 19 EUV verankerten Aufgabe, das Recht der Union zu wahren, gerecht werden. Ein Bedürfnis für eine Beschränkung der Rechtsprechung kann in unterschiedlichen Fallkonstellationen entstehen. Grob zu unterscheiden ist zwischen einer Gruppe von Fällen, in denen sich im Ausgangsverfahren Staat und Bürger gegenüberstehen, und solchen, in denen sich einzelne Private gegenüberstehen. Da auch die zeitliche Beschränkung der Wahrung des Rechts dient, muss ihre Anwendung die absolute Ausnahme bleiben. Im Übrigen werden tatbestandlich besondere Anforderungen an das vorangegangene Verhalten der Mitgliedstaaten zu stellen sein, anderenfalls haben sie sich die Rücksichtnahme des Gerichtshofs auf ihre besonders kritische Lage nicht verdient. Grundsätzlich ist also die Praxis des Gerichtshofs, in Ausnahmefällen die zeitlichen Wirkungen seiner Vorabentscheidungsurteile in Auslegungs- wie in Ungültigkeitsverfahren zu beschränken, zu begrüßen.274 Im Folgenden wird jedoch zu untersuchen sein, inwieweit die Ausgestaltung dieser Rechtsprechung im Hinblick auf Tatbestand und Rechtsfolgen als gelungen zu bezeichnen ist.
274
So auch Müller, S. 174.
D. Die Voraussetzungen der Begrenzung der zeitlichen Wirkung im Auslegungsverfahren Im Folgenden sollen die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen genauer untersucht werden, die der EuGH seit 1976 für die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen herausgearbeitet hat. Dabei hat der Gerichtshof selbst lange Zeit kein festes Prüfungsschema aufgestellt, sondern unter Verweis auf bisher ergangene Urteile einige wenige Topoi immer wieder behandelt. Die hier angesprochenen Tatbestandsmerkmale haben daher die juristische Lehre und auch die Generalanwälte beim Gerichtshof aus der Rechtsprechung extrahiert. Erst in den letzten Jahren spricht der Gerichtshof ausdrücklich aus, welche Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen müssen, damit er eine zeitliche Beschränkung vornehmen kann: „[. . .] der Gerichtshof [hat] die Vornahme einer solchen Beschränkung von der Prüfung des Vorliegens zweier grundlegender Kriterien abhängig gemacht, nämlich des guten Glaubens der Betroffenen und der Gefahr schwerwiegender Störungen.“ 1
Diese Kriterien sollen im Folgenden näher untersucht werden. Dabei werden in einem ersten Schritt ausschließlich die Auslegungsurteile des EuGH untersucht; auf die Unterschiede in den deutlich selteneren Gültigkeitsentscheidungen wird in einem separaten Abschnitt (Abschnitt F.) eingegangen.
I. Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Störungen Das erste Tatbestandsmerkmal ist die „Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen“ bzw. „Störungen“.2 Diese Gefahr ist zugleich das Motiv, aus dem heraus die Mitgliedstaaten eine zeitliche Begrenzung beantragen: Erst die schweren wirtschaftlichen Folgen eines sich abzeichnenden EuGH-Urteils können die Mitgliedstaaten dazu herausfordern, sich in ein laufendes Vorabentscheidungsverfahren einzuschalten (insbesondere wenn primär die Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaates betroffen ist) und Zeit und Geld zu investieren, um den Gerichtshof davon zu überzeugen, dass er die Wirkung seines Urteils begrenzen sollte.
1 2
EuGH, Urteil vom 28. April 1994, Rs. C-57/93, Vroege, Slg. 1994, I-4541, Rn. 21. Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1842).
I. Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Störungen
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1. Auswirkungen bzw. Störungen Nach der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofs muss sein Auslegungsurteil geeignet sein, ohne eine zeitliche Beschränkung seiner Wirkungen Störungen in dem betroffenen Mitgliedstaat hervorzurufen.3 In der Literatur ist auch von „Nachteilen“ 4 oder – allgemeiner – von „Auswirkungen“ die Rede.5 Auch der Gerichtshof verwendet gelegentlich die Formulierung „Auswirkungen“.6 Inhaltliche Unterschiede lassen sich jedoch nicht feststellen; gerade der EuGH wechselt durchaus in ein und demselben Urteil zwischen den verschiedenen Begrifflichkeiten hin und her.7 Rein sprachlich erscheint das Merkmal „Nachteile“ insofern problematisch, als es sich nur schwer auf die mehrpoligen Verfahren anwenden lässt, in denen zwar eine private Interessengruppe durch die volle Rückwirkung „Nachteile“ erleiden würde, dem aber Vorteile bei der gegnerischen Interessengruppe gegenüberstehen. Offensichtlich hatten die Verwender hierbei die Fallgruppe im Hinterkopf, in welcher der Mitgliedstaat, der den Antrag auf zeitliche Beschränkung stellt, gegen ihn gerichtete Erstattungsansprüche in großem Umfang befürchten muss. Der Begriff „Auswirkungen“ vermeidet diese einseitige Betrachtungsweise, bleibt aber auch ein wenig konturlos. Denn Auswirkungen auf die Mitgliedstaaten oder deren Bürger hat zwangsläufig jedes Auslegungsurteil des Gerichtshofs. Zugegebenermaßen gewinnt der Begriff durch das Attribut „schwerwiegend“ (dazu sogleich) ein wenig an Kontur, bleibt aber gerade im Vergleich zu dem Begriff „Störungen“ blass. Die „Störungen“ sind als Tatbestandsmerkmal am treffendsten. Durch diese Formulierung wird betont, dass ein Urteil ungewöhnliche Wirkungen mit Ausnahmecharakter zeitigt, dass es den wirtschaftlichen Alltag in einem Mitgliedstaat erheblich durcheinander bringt. Zum anderen bleibt der Begriff aber neutral und lässt sich auch auf Mehrpersonenverhältnisse anwenden. Denn wenn eine Interessengruppe einen unerwarteten Vorteil erhält, dies aber auf Kosten einer anderen Gruppe geschieht, die dadurch unerwartete Einbußen hat, dann liegt eine Störung des Gleichgewichts zwischen diesen Gruppen vor. 3 EuGH, Urteil vom 28. April 1994, Rs. C-57/93, Vroege, Slg. 1994, I-4541, Rn. 21; Urteil vom 12. Oktober 2000, Rs. C-372/98, Cooke, Slg. 2000, I-8683, Rn. 42; Urteil vom 10. Januar 2006, Rs. C-402/03, Skov, Slg. 2006, I-199, Rn. 51; Urteil vom 30. März 2006, Rs. C-184/04, Uudenkaupungin kaupunki, Slg. 2006, I-3039, Rn. 55; Urteil vom 18. Januar 2007, Rs. C-313/05, Maciej Brzezin´ski, Slg. 2007, I-513, Rn. 56. 4 Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1842). 5 Siehe zum Beispiel Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU/EG, Art. 234 EG, Rn. 96; Weiß, EuR 1995, 377 (389); Düsterhaus, EuZW 2006, 393 (394); Lang, Intertax 2007, 230 (233): „repercussions“. 6 EuGH, Urteil vom 18. Januar 2007, Rs. C-313/05, Maciej Brzezin ´ski, Slg. 2007, I-513, Rn. 57; Urteil vom 15. März 2005, Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119, Rn. 69. 7 EuGH, Urteil vom 30. März 2006, Rs. C-184/04, Uudenkaupungin kaupunki, Slg. 2006, I-3039, Rn. 55, 57.
116
D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
2. Wirtschaftliche Störungen In der Literatur8 und in den Schlussanträgen einiger Generalanwälte9 wird die erste Tatbestandsvoraussetzung regelmäßig dahingehend eingeschränkt, dass die von einem Urteil mit uneingeschränkter Rückwirkung befürchteten Folgen wirtschaftlicher Art sein müssen. Tatsächlich haben in fast allen bisherigen Verfahren, in denen die zeitliche Beschränkung eine Rolle spielte, die Beteiligten finanzielle bzw. wirtschaftliche Konsequenzen geltend gemacht. Auch der EuGH hat sich bisher nur auf solche Konsequenzen berufen. Dennoch stellt sich die Frage, ob nicht theoretisch auch innerstaatliche Schwierigkeiten, die bei einem Urteil mit uneingeschränkter extunc-Wirkung drohen, wie zum Beispiel gesellschaftlicher Unfriede oder eine die Verwaltung lähmende zusätzliche Arbeitsbelastung, Berücksichtigung finden könnten.10 Der Gerichtshof hat diese Bedingung lange eher offen formuliert, indem er darauf hinwies, dass er bei allen gerichtlichen Entscheidungen ihre praktischen Auswirkungen sorgfältig erwägen müsse11 oder dass er eine zeitliche Beschränkung im Hinblick auf drohende schwerwiegende Störungen12 oder auf die Gefahr schwerwiegender Störungen13 vornehmen könne. Eine explizite Einschränkung gerade auf wirtschaftliche Folgen enthalten diese Formulierungen nicht. Freilich hat der Gerichtshof im Folgenden das Vorliegen dieser Voraussetzungen immer unter Hinweis auf die schweren finanziellen Folgen für den betroffenen Mitgliedstaat bejaht. In jüngerer Zeit lässt sich jedoch eine Verengung der Rechtsprechung feststellen: So hat der EuGH erstmals im Jahre 1996 in seinem Urteil in der Rechtssache 8 Amler, S. 73; Kokott, S. 35; Wiedmann, EuZW 2007, 692 (692); Düsterhaus, EuZW 2006, 393 (394); Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1841); Finke, IStR 2006, 212 (216); Borchardt, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, Art. 267 AEUV, Rn. 63; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU/EG, Art. 234 EG, Rn. 96. 9 Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 5. Oktober 2006, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 38; dies., Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 138; Generalanwalt Tizzano, Schlussanträge vom 10. November 2005, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 34; Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge vom 13. Juli 2006, Rs. C290/05, Ákos Nádasdi, Slg. 2006, I-10115, Rn. 77; ohne diese Einschränkung aber zum Beispiel Generalanwalt Léger, Schlussanträge vom 6. Juni 2002, Rs. C-347/00, Ángel Barreira Pérez, Slg. 2002, I-8191, Rn. 76. 10 Bejahend Weiß, EuR 1995, 377 (389). 11 EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 71/73. 12 EuGH, Urteil vom 17. Mai 1990, Rs. C-262/88, Barber, Slg. 1990, I-1889, Rn. 41. 13 EuGH, Urteil vom 28. April 1994, Rs. C-57/93, Vroege, Slg. 1994, I-4541, Rn. 21; Urteil vom 12. Oktober 2000, Rs. C-372/98, Cooke, Slg. 2000, I-8683, Rn. 42; Urteil vom 10. Januar 2006, Rs. C-402/03, Skov, Slg. 2006, I-199, Rn. 51; Urteil vom 30. März 2006, Rs. C-184/04, Uudenkaupungin kaupunki, Slg. 2006, I-3039, Rn. 55.
I. Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Störungen
117
Société Bautiaa und dann ab 2001 in seinen Urteilen in den Rechtssachen Grzelczyk, Bidar und Maciej Brzezin´ski festgestellt: „Der Gerichtshof hat diese Lösung in der Tat nur unter ganz bestimmten Umständen angewandt, wenn die Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen bestand, die insbesondere mit der großen Zahl von Rechtsverhältnissen zusammenhingen, die gutgläubig auf der Grundlage der als gültig betrachteten Regelung eingegangen worden waren, [. . .].“ 14
In Anbetracht der für den EuGH typischen Technik der Verweisung auf eigene Urteile15 dürfte diese Aussage wohl dahingehend zu verstehen sein, dass es sich hierbei nicht um eine bloße Tatsachenfeststellung handelt, sondern dass der Gerichtshof den wirtschaftlichen Charakter der schwerwiegenden Folgen tatsächlich als Tatbestandsvoraussetzung ansieht und auch in den erwähnten früheren Urteilen stillschweigend als solche ansah.16 Dies legt insbesondere das Urteil in der Rechtssache Maciej Brzezin´ski nahe: Hier spricht der Gerichtshof zuerst allgemein von der „Gefahr schwerwiegender Störungen“, bevor er sogleich im nächsten Absatz mit der oben zitierten Formulierung das Tatbestandsmerkmal weiter einschränkt. Zwingend ist dies aber nicht. Denkbar ist auch, dass der Gerichtshof sich hier noch ein Hintertürchen offenhalten will, um notfalls in zukünftigen Entscheidungen den Katalog der in Frage kommen schwerwiegenden Folgen auf solche nicht wirtschaftlicher Art erweitern zu können, ohne sich in Widerspruch zu seiner bisherigen Rechtsprechung zu setzen oder seine Auffassung ausdrücklich ändern zu müssen. Durch die streng genommen rein temporale Verknüpfung „hat [. . .] angewandt, wenn“ vermeidet er jedenfalls, dem Vorliegen wirtschaftlicher Folgen einen zu imperativen Charakter zu geben. Letztlich fällt es jedoch schwer, sich Situationen vorzustellen, in denen eine Entscheidung in einem Vorabentscheidungsverfahren schwerwiegende rein nichtwirtschaftliche Folgen zeitigen könnte. Ohne Zweifel hätte es schwerwiegende politische und gesellschaftliche Folgen gehabt, wenn ein uneingeschränktes Urteil in der Rechtssache Defrenne II zu einer Welle von Insolvenzen in Großbritannien und Irland und damit zu einem rapiden Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt hätte. Aber auch hier hätten an erster Stelle die wirtschaftlichen Folgen gestan14 EuGH, Urteil vom 20. September 2001, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rn. 53; fast wortgleich EuGH, Urteil vom 15. März 2005, Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119, Rn. 69, sowie Urteil vom 18. Januar 2007, Rs. C-313/05, Maciej Brzezin´ski, Slg. 2007, I-513, Rn. 57; inhaltlich gleichbedeutend bereits Urteil vom 13. Februar 1996, verb. Rs. C-197/94 u. C-252/94, Société Bautiaa, Slg. 1996, I-505, Rn. 48; siehe nunmehr auch EuGH, Urteil vom 13. April 2010, Rs. C-73/08, Bressol, Slg. 2010, I-2735, Rn. 93; Urteil vom 3. Juni 2010, Rs. C-2/09, Direktor na Agentisia „Mitnitsi“, Slg. 2010, I-4939, Rn. 51; Urteil vom 21. Oktober 2010, Rs. C-242/09, Albron Catering, Rn. 37 (noch nicht in Slg.). 15 Siehe dazu eingehend Everling, EuR 1994, 127 (138). 16 So wohl Wiedmann, EuZW 2007, 692 (692).
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D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
den, die dann lediglich mittelbar gesellschaftliche und politische Folgen nach sich gezogen hätten. Ähnlich sieht es in den Fällen aus, in denen die Mitgliedstaaten vor hohe administrative Hürden gestellt werden: Man nehme einen Fall, in dem ein Urteil des Gerichtshofs dazu führt, dass in zahlreichen Einzelfällen jeweils nur geringe Beträge von wenigen Euro zurückzuerstatten sind, hierdurch aber ein hoher Verwaltungsaufwand entsteht, weil die Rechtsverhältnisse zum Beispiel nur schlecht dokumentiert sind.17 Dieser hohe Verwaltungsaufwand dürfte sich in den meisten Fällen durch Überstunden des vorhandenen oder Einstellung neuen Personals bewältigen lassen. Wenn der Gerichtshof solche administrativen Hürden für eine zeitliche Beschränkung gelten lässt, dann steht dahinter der Gedanke, dass dem betroffenen Mitgliedstaat derartige zusätzliche Ausgaben nicht zugemutet werden sollen – auch hier liegen letztlich nur finanzielle Schwierigkeiten vor. Da also die Literatur, die Generalanwälte und offenbar auch der Gerichtshof davon ausgehen, dass die schwerwiegenden Folgen wirtschaftlicher Art sein müssen, soll davon auch in den folgenden Ausführungen ausgegangen werden. Anzumerken ist noch, dass derartige „wirtschaftliche Folgen“ unterschiedliche Formen annehmen können: Wie bereits gezeigt worden ist, kann sich die Frage der zeitlichen Beschränkung sowohl bei Ausgangsverfahren stellen, an denen der Staat beteiligt gewesen ist, als auch bei solchen Verfahren, an denen nur Private beteiligt gewesen sind. Dementsprechend kann „wirtschaftlich“ zum einen die Privatwirtschaft, zum anderen die wirtschaftlichen Verhältnisse der öffentlichen Hand bezeichnen. 3. Die Störungen sind schwerwiegend Nachdem geklärt ist, was „wirtschaftliche Störungen“ sind, ist nun zu untersuchen, wann eine Störung der Wirtschaft „schwerwiegend“ ist. Dieses Merkmal ist noch weitgehend unkonturiert und umstritten. Für die Antragsteller ist dies allerdings die entscheidende Fragestellung: Ist das Ausmaß der befürchteten wirtschaftlichen Störungen in den Augen des Gerichtshofs ausreichend, um eine zeitliche Beschränkung zu rechtfertigen? a) Fehlende Konturierung durch bisherige Rechtsprechung Der Gerichtshof selbst hat sich bisher gehütet, auch nur ansatzweise durchscheinen zu lassen, wo er die Grenze ziehen will.18 Daher hat er die Vorausset17 Ähnlich gelagert war der Fall EKW, wobei hier allerdings zusätzlich die Gesamtsumme der Rückforderungen von der Bundesrepublik Österreich ins Feld geführt wurde, EuGH, Urteil vom 9. März 2000, Rs. C-437/97, Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, I-1157, Rn. 56 ff. 18 Wiedmann, EuZW 2007, 692 (692 f.); dies kritisiert Müller, S. 113 ff.
I. Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Störungen
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zung „schwerwiegende wirtschaftliche Störung“ von Fall zu Fall beantwortet, ohne dass dabei ein Muster erkennbar wäre. Oft tauchen die jeweiligen von den Mitgliedstaaten vorgebrachten Zahlen gar nicht im Urteil des Gerichtshofs auf: Bei den älteren Urteilen des Gerichtshofs ergeben sich die bezifferten Vorträge der Parteien wenigstens aus dem ausführlichen Tatbestand des Berichterstatters, in jüngeren Urteilen bleibt hingegen oft nur der Rückgriff auf die Schlussanträge des Generalanwalts. In den Fällen, in denen die Entscheidungsgründe ausnahmsweise Ausführungen zu den von den Betroffenen vorgetragenen Zahlen enthalten (zum Beispiel im Urteil Dansk Denkavit), scheitert die zeitliche Beschränkung in der Regel bereits am fehlenden guten Glauben, so dass die Frage, ob der genannte Betrag die Folgen „schwerwiegend“ gemacht hätte, offen bleiben kann.19 b) Bisherige Einzelfallentscheidungen Mit folgenden Beträgen hatte der Gerichtshof sich bisher unter anderem zu befassen: In Defrenne II trug die Regierung des Vereinigten Königreichs vor, dass im Falle einer rückwirkenden unmittelbaren Anwendung von Art. 119 EWGV (jetzt Art. 157 AEUV) eine durchschnittliche Erhöhung der Lohnsumme um 3,5 %, verteilt auf einen 1975 endenden Fünfjahreszeitraum, zu veranschlagen sei.20 Die Regierung von Irland sah sich außerstande, die Kosten der Rückwirkung zu beziffern, rechnete aber für die Zukunft mit einer durchschnittlichen Lohnsteigerung von 5 %, wobei einige besonders betroffene Industriezweige deutlich höhere Steigerungen zu erwarten hätten.21 Diese Beträge reichten bekanntermaßen aus, um den Gerichtshof von der schwerwiegenden Situation zu überzeugen – der Grundstein für das Institut der Beschränkung der zeitlichen Wirkung eines Urteils war gelegt. Im Fall EKW konnte offensichtlich Österreich unter Verweis auf ein Rückzahlungsvolumen von 22 Milliarden Österreichischen Schillingen (ca. 1,6 Milliarden Euro) und dem Hinweis darauf, dass dies 0,9 % des Bruttoinlandsproduktes entspreche,22 eine Beschränkung der Urteilswirkung erwirken. Freilich hat der Gerichtshof in seinem Urteil betont, dass die Gesamthöhe der in Rede stehenden Beträge ihn bei seiner Urteilsfindung nicht beeinflusst habe. Hingegen lehnte der Gerichtshof eine zeitliche Beschränkung im Fall Worrigham ab, da ihm die Anzahl der Sachverhalte, die im vorliegenden Fall durch 19 EuGH, Urteil vom 31. März 1992, Rs. C-200/90, Dansk Denkavit, Slg. 1992, I-2217, Rn. 20 f. 20 EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Tatbestand, S. 465. 21 EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Tatbestand, S. 466. 22 Schlussanträge des Generalanwalts Saggio vom 1. Juli 1999, Rs. 437/97, Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, I-1157, Rn. 62.
120
D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
seine Auslegung von Art. 119 EWGV (jetzt Art. 157 AEUV) erfasst worden wären, als zu gering erschien.23 Die im Ausgangsverfahren beklagte Lloyds Bank hatte zuvor ihre Befürchtung geäußert, dass das Urteil zu einer Berichtigung der Lohntabellen für einen Zeitraum von mehreren Jahren und damit zu Nachzahlungen von mehreren Millionen britischen Pfund führen würde.24 Die Regierung des Vereinigten Königreichs wiederum versäumte es, die konkreten Folgen des betreffenden Verfahrens für die gesamte britische Wirtschaft, jenseits der betroffenen Lloyds Bank, darzulegen.25 Somit blieb es nur bei den betroffenen Arbeitsverhältnissen der Lloyds Bank und damit den „Millionen von Pfund“, einem auch inflationsbereinigt eher geringen Betrag, den der Gerichtshof folgerichtig als nicht ausreichend einstufte. In der Rechtssache Cooke sah es der Gerichtshof nicht als schwerwiegende Störung an, dass die britischen Behörden bis zu 10.000 Verwaltungsvorgänge neu hätten aufrollen müssen.26 Auch die im Fall Test Claimants in the FII Group Litigation von den Klägerinnen des Ausgangsverfahrens eingestandenen finanziellen Auswirkungen in Höhe von 100 Millionen bis zwei Milliarden Pfund sah der Gerichtshof offenbar als nicht ausreichend an; der vom Vereinigten Königreich geltend gemachte Betrag von 4,7 Milliarden Pfund wurde bereits nicht akzeptiert, weil es sich hierbei nur um das Worst-Case-Szenario gehandelt hatte.27 Ebenfalls nicht akzeptiert wurden der von Ungarn in der Rechtssache Ákos Nádasdi eingebrachte, nicht näher spezifizierte „Teilbetrag“ von 116 Millionen Euro28 oder die von Polen im Fall Maciej Brzezin´ski befürchtete (ebenfalls nur teilweise) Rückzahlung einer Akzise (einer Art Verbrauchsteuer, in diesem Fall auf Pkw), die 1,16 % der polnischen Haushaltseinnahmen ausmachte.29 In einigen anderen Fällen scheiterten Regierungen mit ihren Anträgen auf eine Beschränkung der Urteilswirkung daran, dass der Gerichtshof bereits andere Tatbestandsvoraussetzungen als nicht erfüllt ansah und daher auf die Frage, ob eine Gefahr schwerwiegender Störungen vorlag, gar nicht mehr eingehen musste: So 23
EuGH, Urteil vom 11. März 1981, Rs. 69/80, Worrigham, Slg. 1981, 767, Rn. 33. EuGH, Urteil vom 11. März 1981, Rs. 69/80, Worrigham, Slg. 1981, 767, Tatbestand, S. 780 f. 25 Sie verwies stattdessen auf die schwerwiegenden Folgen, die die Rechtsprechung des EuGH in anderen, eher hypothetischen Fällen haben könnte. Dies ermöglichte ihr zwar, Mehrkosten für die Rentenfonds von beeindruckenden 1,2 Milliarden Pfund pro Jahr aufzeigen zu können, konnte den Gerichtshof aber nicht dazu bewegen, die Wirkungen des Urteils in dem tatsächlich vorliegenden Fall zu begrenzen. 26 EuGH, Urteil vom 12. Oktober 2000, Rs. C-372/98, Cooke, Slg. 2000, I-8683. 27 EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2006, Rs. C-446/04, Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753, Rn. 222 ff. 28 EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2006, verb. Rs. C-290/05 u. C-333/05, Ákos Nádasdi, Slg. 2006, I-10115, Rn. 64. 29 EuGH, Urteil vom 18. Januar 2007, Rs. C-313/05, Maciej Brzezin ´ski, Slg. 2007, I-513, Rn. 59 f. 24
I. Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Störungen
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scheiterte Dänemark mit veranschlagten sieben Milliarden ECU Rückzahlungsverbindlichkeiten, was 4 % der staatlichen Einnahmen in dem betreffenden Zeitraum ausmachte, am fehlenden guten Glauben.30 Die Bundesrepublik Deutschland machte im bereits dargestellten Fall Meilicke befürchtete Steuerrückzahlungen von fünf Milliarden Euro geltend, jedoch ging auch hier der EuGH auf die Höhe nicht ein, da er den Antrag als präkludiert ansah.31 Zumindest Generalanwalt Tizzano hatte diesen Betrag in seinen Schlussanträgen noch für ausreichend erachtet.32 c) Möglichkeit, die wirtschaftlichen Folgen zu quantifizieren Diese Abneigung des Gerichtshofs, zu konkreten Zahlen Stellung zu nehmen, wird gerne dahingehend interpretiert, dass der Gerichtshof eine Schwellenwertdiskussion vermeiden wolle.33 Ein solches Bestreben wäre insoweit verständlich, als ein absoluter Schwellenwert, wie viele Millionen oder Milliarden Euro in Rede stehen müssten, in Anbetracht der unterschiedlichen Wirtschaftskraft der Mitgliedstaaten keinen Sinn ergeben würde. Die Bundesrepublik Deutschland kann ein Haushaltsloch von einigen Milliarden Euro im Zweifel besser verkraften als zum Beispiel Griechenland oder, um den Vergleich auf die Spitze zu treiben, Malta. Dieses Problem lässt sich aber einfach umgehen, indem man anstelle einer abstrakten Kennzahl die Summe der befürchteten Verbindlichkeiten in Relation setzt zur allgemeinen Leistungsfähigkeit des betroffenen Mitgliedstaates oder Wirtschaftszweiges. Dies wird von den Mitgliedstaaten in ihren Stellungnahmen auch bereits praktiziert, wenn sie ihre Steuerausfälle ins Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt34 oder Haushaltsbudget setzen.35 Auch Generalanwältin Sharpston hat bereits derartige Berechnungen zur besseren Verdeutlichung der
30 EuGH, Urteil vom 31. März 1992, Rs. C-200/90, Dansk Denkavit, Slg. 1992, I-2217, Rn. 20 f. 31 EuGH, Urteil vom 6. März 2007, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 36 ff. 32 Schlussanträge des Generalanwalts Tizzano vom 10. November 2005, Rs. C-292/ 04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 35. 33 Schlussanträge der Generalanwältin Stix-Hackl vom 5. Oktober 2006, Rs. C-292/ 04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 60. 34 So Österreich in Evangelischer Krankenhausverein Wien, siehe Generalanwalt Saggio, Schlussanträge vom 1. Juli 1999, Rs. C-437/97, Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, I-1157, Rn. 62: „Rückzahlung von etwa 22 Milliarden ATS [. . .]; dies entspreche einem Betrag in Höhe von rund 0,9 % des österreichischen Bruttoinlandsprodukts“. 35 So Dänemark in Dansk Denkavit, siehe EuGH, Urteil vom 31. März 1992, Rs. C200/90, Dansk Denkavit, Slg. 1992, I-2217, Rn. 20; Polen in Maciej Brzezin´ski, siehe EuGH, Urteil vom 18. Januar 2007, Rs. C-313/04, Maciej Brzezin´ski, Slg. 2007, I-513, Rn. 59.
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D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
Auswirkungen angestellt.36 Hierbei handelt es sich keineswegs nur um effekthaschende Zahlenspiele, sondern um einen sinnvollen Versuch, die wirtschaftlichen Kennzahlen auf eine gemeinsame Vergleichsbasis zu stellen. Und selbst wenn man dann immer noch der Meinung sein sollte, derartige Prozentzahlen könnten keine sinnvolle Vergleichsbasis darstellen, weil sich auch ein Ausfall von x % auf größere und wirtschaftlich stärkere Mitgliedstaaten anders auswirke als auf kleinere Mitgliedstaaten, dann ließe sich dies sicherlich durch einen entsprechenden korrigierenden Faktor lösen. Alle diese Fragen stellen letztlich mathematische Probleme dar, keine juristischen. Natürlich stünde dem immer noch die gefestigte Aussage des Gerichtshofs entgegen, dass allein die finanziellen Auswirkungen eines Urteils nicht die Beschränkung seiner Wirkungen rechtfertigen könnten. Allerdings dürften sich, wie bereits dargelegt wurde, die meisten vom Gerichtshof bisher anerkannten vermeintlichen „nicht-finanziellen“ Auswirkungen, beispielsweise Überlastung der Gerichte oder Verwaltungsbehörden, leicht in finanzielle Auswirkungen umrechnen lassen. Die Mitgliedstaaten könnten darlegen, wie viele Richter ihnen zur Bearbeitung der befürchteten Prozesswelle fehlen, wie hoch die Kosten der Einstellung neuer Richter und Justizbediensteter ausfallen würden, etc. Selbst der Umstand, dass das nationale Recht für die neueinzustellenden Personen einen Beamtenstatus vorsieht und daher nach Bewältigung der Prozesswelle möglicherweise überflüssiges Personal vorhanden ist, ließe sich gewiss zahlenmäßig darstellen. Insofern wäre es treffender, nicht zwischen finanziellen und nicht-finanziellen wirtschaftlichen Auswirkungen zu unterscheiden, sondern eine Trennlinie zwischen den primären und sekundären wirtschaftlichen Folgen eines Urteils zu ziehen. Die primären Folgen sind hierbei diejenigen, die sich unmittelbar aus der Befolgung des Urteils durch Erstattungen, Nachzahlungen oder sonstige Zahlungspflichten ergeben. Die sekundären Folgen sind diejenigen Kosten, die sich praktisch aus der Abwicklung der entstandenen Ansprüche ergeben. Hierunter könnten auch die weiteren Kosten zu zählen sein, die sich zum Beispiel aus einem Anstieg der Arbeitslosigkeit oder der Insolvenz zahlreicher Unternehmen, wie dies im Fall Defrenne II befürchtet wurde, ergeben. d) Wertende Entscheidung durch den EuGH Um es ganz klar zu sagen: Hier soll keineswegs einer Art Schwellenwert-Automatismus das Wort geredet werden. Dem Gerichtshof soll nicht die Befugnis abgesprochen werden, die endgültige Entscheidung darüber, ob er die Wirkungen seines Urteils beschränkt, im Rahmen einer wertenden Entscheidung treffen zu 36 Siehe Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge vom 22. Juni 2006, Rs. C-228/ 05, Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391, Rn. 95.
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dürfen.37 Offen mit Zahlen umzugehen heißt nicht, dass der Gerichtshof automatisch einen zwingenden Schwellenwert festlegen müsste, unterhalb dessen der Antrag aussichtslos ist und oberhalb dessen er zwangsläufig Erfolg hat. Vielmehr könnte der Gerichtshof einzelne Stufen herausbilden, bei Vorliegen welcher Haushaltsausfälle zum Beispiel in der Regel oder nur ausnahmsweise die schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen zu bejahen sind. Mit derartigen Richtwerten judizieren Gerichtshof und Gericht seit Jahrzehnten erfolgreich im Bereich des Kartellrechts anhand der Marktanteile von Unternehmen.38 Den Beteiligten würde ein deutlich besserer Anhaltspunkt für die Erfolgsaussichten ihrer Beschränkungsanträge an die Hand gegeben, und gleichzeitig würde sich der Gerichtshof noch hinreichende Freiräume für die „Handsteuerung“ belassen. Element einer solchen Handsteuerung könnte zum Beispiel die Unverhältnismäßigkeit des administrativen Aufwands zur Rückzahlung von Bagatellbeträgen sein, die erst in ihrer Summe einen großen Betrag bilden, oder auch besondere Marktoder Wirtschaftssituationen, die eine zusätzliche Belastung des mitgliedstaatlichen Haushalts nicht wünschenswert erscheinen lassen. e) Zwischenergebnis Der EuGH sollte zu einem einheitlichen Maßstab finden, anhand dessen er bewertet, ob die Folgen eines Urteils schwerwiegend sind oder nicht. Diesen Maßstab könnte er durch konkrete Hinweise oder Nachfragen an die Beteiligten durchsetzen. Damit würde die Rechtsprechung des EuGH ein gutes Stück berechenbarer. Nichtsdestotrotz soll der EuGH keineswegs sklavisch an Wertetabellen gebunden sein; es soll ihm unbenommen bleiben, durch wertende Betrachtungen im Einzelfall in begründeten Fällen von dem rein zahlenmäßig gefundenen Ergebnis abweichen zu können. 4. Gefahr Nach der Rechtsprechung des EuGH müssen die schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen keineswegs mit Sicherheit eintreten oder gar schon eingetreten 37 Siehe hierzu Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 5. Oktober 2006, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 60. 38 Siehe zum Beispiel EuG, Urteil vom 12. Dezember 1991, Rs. T-30/89, Hilti, Slg. 1991, II-1439, Rn. 91, Marktanteile von 70 % bis 80 % „für sich genommen“ als „klares Indiz für eine beherrschende Stellung“; etwas anderes gelte nur bei „außergewöhnlichen Umständen“; EuGH, Urteil vom 14. Februar 1978, Rs. 27/76, United Brands, Slg. 1978, 207, Rn. 108/110: bei Marktanteil zwischen 40 % und 45 % ist die marktbeherrschende Stellung „unter Berücksichtigung der Stärke und der Zahl der Wettbewerber zu berurteilen“; EuGH, Urteil vom 25.10.1977, Rs. 26/76, Metro/SABA, Slg. 1977, 1875, Rz. 17: Marktanteil von 6 % bis 7 % schließt, „wenn nicht besondere Umstände vorliegen, das Vorliegen einer beherrschenden Stellung aus [. . .]“; umfassend zu den verschiedenen Marktanteilsstufen siehe Wessely, in: FK Kartellrecht, Art. 82 EG Normadressaten, Rn. 109 ff.; Bunte, S. 168.
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D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
sein. Es reicht aus, wenn die „Gefahr“ derartiger Folgen besteht.39 Erforderlich, aber auch hinreichend ist somit eine Gefährdungslage.40 Mit dem Begriff der Gefahr setzt sich der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zur zeitlichen Beschränkung fast gar nicht auseinander. Dabei ist dieser Begriff keineswegs nebensächlich, sondern sogar charakteristisch für die gesamte Problematik der zeitlichen Beschränkung von Urteilswirkungen. Denn letztlich handelt es sich hierbei um nichts anderes als um Gefahrenabwehr mit den Mitteln des Prozessrechts: Durch die zeitliche Beschränkung soll der Eintritt schwerwiegender Störungen in den Mitgliedstaaten abgewendet werden. Diese Störungen liegen zwangsläufig in der Zukunft, denn zu dem Zeitpunkt, da die Beteiligten sie geltend machen, liegt das Urteil noch gar nicht vor, das die Störungen verursachen könnte. Auch die Frage, ob die Störungen tatsächlich eintreten werden, lässt sich verständlicherweise nicht abschließend beantworten, da sie nicht unmittelbar durch das Urteil eintreten. Vielmehr ist ein aktives Dazwischentreten Dritter erforderlich: Die Bürger müssen Rückforderungsansprüche gegen den Staat – notfalls gerichtlich – geltend machen, oder Private müssen ihnen zustehende Forderungen gegen andere Private einklagen. Vor dem Hintergrund dieser Eckdaten – in der Zukunft liegende Störungen, deren Eintritt ungewiss ist – drängt es sich nahezu auf, den Begriff der Gefahr in diesem Kontext ebenso zu definieren, wie man es als deutscher Jurist aus dem nationalen Gefahrenabwehrrecht gewohnt ist: als eine Sachlage, bei der bei ungehindertem Geschehensablauf (einem EuGH-Urteil mit voller zeitlicher Wirkung) mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit ein Schaden an dem zu schützenden Rechtsgut (hier: der Wirtschaft in einem oder mehreren Mitgliedstaaten) eintritt. Das Unionsrecht hingegen bietet wenig Anhaltspunkte dafür, wie der Begriff der „Gefahr“ auf unionsrechtlicher Ebene zu verstehen sein könnte. Dies ist wenig verwunderlich, da polizeiliche Aufgaben nicht unter die Regelungskompetenz der Union fallen und nur im Wege zwischenstaatlicher Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der Union wahrgenommen werden. Ein europäisches Polizeirecht gibt es nicht.41 An den wenigen Stellen im Sekundärrecht, an denen eine Gefährdungslage eine Rolle spielt, erinnert der Gefahrenbegriff entfernt an denjenigen des deutschen Polizeirechts. So definiert die Verordnung Nr. 3285/94 des Rates über die gemeinsame Einfuhrregelung den Begriff „Gefahr einer ernsthaften Schädigung“ als „bedeutende Schädigung, die eindeutig unmittelbar bevor39 Siehe zum Beispiel in EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2001, Rs. C-294/99, Athinaïki Zythopoiia, Slg. 2001, I-6797, Rn. 36; Urteil vom 20. September 2001, Rs. C-184/ 99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193. 40 Lindemann/Hackemann, IStR 2005, 786 (788). 41 Knemeyer geht allerdings davon aus, dass sich langsam „Ansätze eines europäischen Polizeirechts“ herausbildeten, siehe Knemeyer, vor Rn. 21.
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steht“.42 Auch die Leitlinien zur Definition einer potenziellen schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Gesundheit im Sinne von Art. 29 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2001/83/EG43 sowie die Leitlinien zur Definition einer potenziellen schwerwiegenden Gefahr für die Gesundheit von Mensch und Tier oder die Umwelt im Sinne von Art. 33 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2001/82/EG44 verwenden eine dem deutschen Gefahrenbegriff ähnliche Definition, wenn sie (allerdings sehr zirkulär) feststellen: „Eine ,potenzielle schwerwiegende Gefahr für die [. . .] Gesundheit [. . .]‘ ist eine Situation, in der es sehr wahrscheinlich ist, dass im Zusammenhang mit der [. . .] Verwendung eines [. . .A]rzneimittels eine schwerwiegende Gefahr entsteht, die sich auf die [. . .] Gesundheit [. . .] auswirkt.“
Der Begriff der „Wahrscheinlichkeit“ scheint hier eine zentrale Rolle zu spielen. Demnach ist eine Gefahr im sekundären Unionsrecht der wahrscheinliche oder unmittelbar bevorstehende Schadenseintritt. Ein dermaßen verstandener unionsrechtlicher Gefahrenbegriff lässt sich auch im Rahmen der zeitlichen Beschränkung von Urteilswirkungen fruchtbar machen. Das Schlüsselwort ist hier „wahrscheinlich“: Die Beteiligten müssen keine wasserdichte und zweifelsfreie Kalkulation der wirtschaftlichen Folgen abliefern, ausreichend ist ein hinreichend wahrscheinliches Szenario. Dabei kann notfalls auch auf fundierte Schätzungen und Erfahrungswerte, zum Beispiel hinsichtlich der Frage, wie viel Prozent der Betroffenen üblicherweise eine Rückforderung tatsächlich geltend machen, zurückgegriffen werden. Auch die Übertragung der „je-desto“-Formel auf den unionsrechtlichen Gefahrenbegriff wäre denkbar – je höher der befürchtete wirtschaftliche Schaden ist, desto geringer wären die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit, dass sich dieser Schaden auch tatsächlich realisiert.45 Anders ausgedrückt: Die „Gefahr“ stellt sich dar als Produkt von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe.46 Da nicht nur ein bestimmtes Ergebnis zu befürchten ist, sondern eine ganze Bandbreite von Schadenseintritten (z. B. wenige/viele/alle Berechtigten machen Erstattungsansprüche geltend), bietet es sich an, mehrere Szenarien durchzuspielen und aus den so ermittelten, gewichteten Schadenshöhen das arithmetische Mittel zu bilden, gewissermaßen den „wahrscheinlichsten“ Schaden. Bei der Bestimmung der Wahrscheinlichkeitsstu42 Art. 5 Abs. 3 lit. B der Verordnung (EG) Nr. 3285/94 des Rates vom 22. Dezember 1994 über die gemeinsame Einfuhrregelung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 518/94, ABl. Nr. L 349 vom 31. Dezember 1994, S. 53. 43 Leitlinien zur Definition einer potenziellen schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Gesundheit im Sinne von Artikel 29 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 2001/83/ EG März 2006, ABl. Nr. C 133 vom 8. Juni 2006, S. 5. 44 Leitlinien zur Definition einer potenziellen schwerwiegenden Gefahr für die Gesundheit von Mensch und Tier oder die Umwelt im Sinne von Artikel 33 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 2001/82/EG März 2006, ABl. Nr. C 132 vom 7. Juni 2006, S. 32. 45 Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 77; Leisner, DÖV 2002, 326 (327). 46 Leisner, DÖV 2002, 326 (326).
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fen lassen sich neben den bestehenden Erfahrungswerten auch die konkreten Umstände des Einzelfalls berücksichtigen: Lässt ein großes Medienecho des Falls eine Vielzahl von Rückforderungen befürchten? Welche Bestandskraft- oder Verjährungsvorschriften finden Anwendung? Notfalls sollten sich die Erkenntnisse der Versicherungsmathematik zu den üblichen Normalverteilungen nutzbar machen lassen, oder der auf andere Weise berechnete „wahrscheinlichste Schaden“ wird um einen Sicherheitsaufschlag erhöht, um das „worst case“-Szenario mit zu berücksichtigen.47 Sicherlich werden einer solchen Berechnung in der Praxis zahlreiche Hindernisse, insbesondere im Bereich der Datenerhebung (wie eigentlich generell im Gefahrenabwehrrecht), gegenüberstehen. Aber dies sollte das Ziel sein, das die Beteiligten nach allen Kräften und mit den bestmöglichen Schätzungen zu erreichen versuchen sollten. Keinesfalls angehen kann es jedenfalls, zur Begründung des Antrags einfach nur das „worst, worst case“-Szenario zu präsentieren, denn dessen Eintritt ist bereits der Definition nach sehr unwahrscheinlich.48 Andererseits verdient auch das „worst-case“-Szenario Beachtung, wenn auch nur in dem bescheidenen Umfang, der ihm aufgrund seiner geringen Eintrittswahrscheinlichkeit gebührt. Vor diesem Hintergrund ist es bedauerlich, dass sich der EuGH bisher nicht näher mit dem Begriff der „Gefahr“ auseinandergesetzt hat. Hier böte sich die Möglichkeit, durch klare Vorgaben an die Mitgliedstaaten besser geeignetes und leichter vergleichbares Zahlenmaterial über die befürchteten wirtschaftlichen Auswirkungen eines Urteils zu erlangen. Natürlich darf man sich keinen Illusionen hingeben: Auch wenn der EuGH explizit nach dem mittleren erwarteten Haushaltsdefizit fragt, werden die Mitgliedstaaten eher eine zu hohe als eine zu niedrige Kennziffer angeben. Doch der Spielraum der Mitgliedstaaten, übertriebenes Zahlenmaterial zu liefern, würde jedenfalls erheblich eingeschränkt werden. 5. Der relevante faktische Kontext Hinter dem von Lang geprägten Begriff „relevanter faktischer Kontext“ 49 verbirgt sich die Fragestellung, auf welchen Vergleichsmaßstab bei der Bestimmung der schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen abzustellen ist. Wie bereits gezeigt worden ist, lässt sich das Gewicht der wirtschaftlichen Folgen nicht anhand der absoluten Zahlen bestimmen, sondern erfordert immer einen Vergleich mit der Leistungsfähigkeit des betroffenen Systems.50 Dabei ist in erster Linie auf den betroffenen Mitgliedstaat abzustellen. Aber auch innerhalb des Mitgliedstaates 47
Vgl. Leisner, DÖV 2002, 326 (328 ff.). EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2006, Rs. C-446/04, Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753, Rn. 222 ff.; siehe auch Leisner, DÖV 2002, 326 (331). 49 Lang, Intertax 2007, 230 (238 f.): „relevant factual context“; vgl. auch Lang, IStR 2007, 235 (238). 50 Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1842). 48
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ist möglicherweise zu differenzieren. Das wird besonders deutlich in den Fällen, in denen beide Parteien des Ausgangsverfahrens Private waren. Hier kann nicht auf die Leistungsfähigkeit der gesamten Privatwirtschaft abgestellt werden; vielmehr ist auf die durchschnittliche Leistungsfähigkeit der einzelnen betroffenen Unternehmen abzustellen, wenn man Masseninsolvenzen verhindern will. Doch selbst wenn die finanziellen Auswirkungen den Staat treffen, ist „Staat“ nicht unbedingt gleich „Staat“. Je nach Ausgestaltung der Abgabenregelung, die durch das EuGH-Urteil unanwendbar wird, trifft die Rückzahlungsverpflichtung den nationalen Haushalt, vielleicht aber auch nur regionale oder gar gemeindliche Haushalte. In manchen Fällen mögen die staatlichen Unterebenen gar keine Rolle spielen, weil selbständige Einrichtungen mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betroffen sind. Hier stellt sich die Frage, inwieweit derartige Differenzierungen zu berücksichtigen sind. Der EuGH ist in der Vergangenheit durchaus empfänglich für solche Unterscheidungen gewesen:51 In der EKW-Entscheidung beschränkte er die zeitliche Wirkung, weil ansonsten „das Finanzierungssystem der Gemeinden rückwirkend in seinen Grundlagen erschütter[t] würde.“ 52 Zu den Auswirkungen der IRAP musste sich der EuGH in Banca Popolare di Cremona letztlich nicht äußern; Generalanwalt Jacobs stellte allerdings in seinen Schlussanträgen unter Rückgriff auf die EKW-Entscheidung fest, dass „eine unbegrenzte zeitliche Wirkung ,das Finanzierungssystem der [italienischen Regionen]53 rückwirkend in seinen Grundlagen erschüttern‘ [könnte].“ 54 Auf die finanzielle Leistungsfähigkeit öffentlichrechtlicher Einrichtungen stellte der Gerichtshof zum einen in Blaizot ab, als er die Auswirkungen „auf das System der Finanzierung des Hochschulunterrichts“ untersuchte,55 und zum anderen in Sürül, wo er die „Finanzierung der Systeme der sozialen Sicherheit“ in Gefahr sah.56 Dass der Gerichtshof eine solche Differenzierung zulässt, ist verwunderlich. Denn die Mitgliedstaaten haben eigentlich die uneingeschränkte Verpflichtung, das Unionsrecht zu achten; dieser Verpflichtung können sie sich nicht einfach durch Verweis auf innerstaatliche Besonderheiten entziehen.57 Dies gilt insbesondere im Bereich der Haftung für Schäden durch unionsrechtswidriges Verhalten. 51
Siehe zum Ganzen auch Lang, Intertax 2007, 230 (238 f.). EuGH, Urteil vom 9. März 2000, Rs. C-437/97, Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, I-1157, Rn. 59 (Hervorhebung durch Verfasser). 53 Die Einfügung in eckigen Klammern findet sich so in den Schlussanträgen von Generalanwalt Jacobs und wird hier nur wiedergegeben. 54 Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge vom 17. März 2005, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 80. 55 EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 24/86, Blaizot, Slg. 1988, 379, Rn. 34. 56 EuGH, Urteil vom 4. Mai 1999, Rs. C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685, Rn. 111. 57 EuGH, Urteil vom 3. Oktober 1984, Rs. 279/83, Kommission/Italien, Slg. 1984, 3395, Rn. 4; Kahl, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 4 EUV, Rn. 54; Lang, Intertax 2007, 230 (238). 52
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Hier muss der Mitgliedstaat sicherstellen, dass dem einzelnen der entstandene Schaden ersetzt wird, gleichgültig welche staatliche Stelle den Verstoß begangen hat und welche Stelle nach dem Recht des Mitgliedstaates grundsätzlich ersatzpflichtig wäre.58 Da der unionsrechtliche Erstattungsanspruch in seinen Auswirkungen jenem Schadensersatzanspruch durchaus ähnelt, ist nicht ganz einzusehen, warum sich hier der Mitgliedstaat unter Berufung auf die fehlende Leistungsfähigkeit der untergeordneten Ebenen seiner Zahlungspflicht entziehen können soll. Lang weist zutreffend darauf hin, dass dies zu Ungleichbehandlungen führen kann: Würden zwei Mitgliedstaaten mit vergleichbarem Staatshaushalt identische unionswidrige Steuergesetze erlassen, die zu einer gleichen Rückzahlungspflicht führen, so könnte der eine Staat, bei dem die Ausfälle vom Staat selbst zu tragen sind, möglicherweise keine zeitliche Beschränkung erwirken, während der andere Staat, bei dem die Ausfälle nach seiner Hierarchieordnung von den deutlich weniger leistungsfähigen Regionen oder gar den Gemeinden zu tragen sind, gute Chancen auf eine Beschränkung hätte.59 In solchen Fällen erscheint es daher ungerecht, wenn der Gerichtshof für die Bewertung der wirtschaftlichen Folgen ausschließlich diejenige Ebene betrachtet, die nach der nationalen Rechtsordnung gerade zufällig von seiner Entscheidung betroffen ist. Als Ausgangspunkt ist dies durchaus die richtige Betrachtungsebene: Wenn zum Beispiel die Gemeinden bereits aus eigener Kraft in der Lage sind, die finanziellen Folgen eines Urteils zu schultern, ist für eine zeitliche Beschränkung ohnehin kein Raum. Stellt sich aber heraus, dass die nach nationalem Recht verantwortliche Einheit durch die wirtschaftlichen Folgen überfordert wird, dann ist es dem Staat durchaus zuzumuten, dass andere Ebenen eingreifen, also der Bund die Länder oder Gemeinden finanziell unterstützt, oder die einzelnen Länder bzw. Gemeinden einen gemeinsamen Fonds zum Lastenausgleich eröffnen.60 Erst wenn alle diese Mittel versagen und sich herausstellt, dass der Mitgliedstaat als Gesamtstaat auf allen seinen Ebenen durch die Ausgleichszahlungen überfordert wird, dann ist Raum für eine Beschränkung der zeitlichen Wirkung. Anderenfalls würde man die Mitgliedstaaten geradezu einladen, Projekte von zweifelhafter Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht immer auf der wirtschaftlich schwächsten Ebene durchzuführen. 6. Kritik am Tatbestandsmerkmal „Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Störungen“ Die Schwierigkeiten mit der Feststellung, ob eine Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Störungen tatsächlich vorliegt oder nicht, haben in der Literatur 58 EuGH, Urteil vom 1. Juni 1999, Rs. C-302/97, Konle, Slg. 1999, I-3099, Rn. 62; Urteil vom 4. Juli 2000, Rs. C-424/97, Haim, Slg. 2000, I-5123, Rn. 28. 59 Lang, Intertax 2007, 230 (238); siehe auch Schaer, S. 74. 60 Vgl. Lang, IStR 2007, 235 (239).
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vereinzelt zu der Forderung geführt, dieses Tatbestandsmerkmal nicht mehr separat zu prüfen, sondern nur als Indiz für eine unsichere Rechtslage zu behandeln.61 Dieser Meinung zufolge sei die Existenzberichtigung des ersten Tatbestandsmerkmals ingesamt zweifelhaft: Es sei nicht einzusehen, weshalb eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen aus Rechtssicherheitsgründen nicht auch dann geboten sein soll, wenn keine Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen bestehe.62 Doch ganz so überflüssig ist das betreffende Tatbestandsmerkmal nicht. Die schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen bieten nicht nur das Motiv für die Mitgliedstaaten, eine zeitliche Beschränkung zu beantragen,63 sie sind vor allem der entscheidende Faktor, der es sachgerecht erscheinen lässt, den effektiven Rechtsschutz und die materielle Gerechtigkeit zugunsten der Rechtssicherheit einzuschränken. Es liegt im Wesen des Integrationsprozesses, dass es hin und wieder zu – unverschuldeten – Missverständnissen über Reichweite und Bedeutung des Unionsrechts kommen kann. Solche Irrtümer sind gewissermaßen der Preis, der für die Vorteile der Integration gezahlt werden muss. Als solcher sind sie insbesondere den Mitgliedstaaten, aber auch den sonstigen Betroffenen in einem gewissen Maße zuzumuten. Erst wenn die wirtschaftlichen Folgen ein so großes Ausmaß annehmen, dass sie nicht mehr ohne weiteres als unerwünschte, aber einkalkulierte Nebenwirkung des Integrationsprozesses angesehen werden können, erscheint es angebracht, die Interessengewichtung zwischen Rechtsschutz und Rechtssicherheit umschlagen zu lassen. Das zweite Tatbestandsmerkmal, die objektive und bedeutende Unsicherheit der Rechtslage, kann diese Aufgabe allein nicht ausfüllen. Es dient eher als Korrektiv, um die Fälle auszufiltern, in denen es trotz der schwerwiegenden Folgen an der Schutzbedürftigkeit der Betroffenen fehlt. Das Merkmal „Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Störungen“ ist ohne Zweifel sehr unbestimmt und schwer zu handzuhaben, doch gleichzeitig ist es auch unverzichtbar. Die Lösung kann daher nur sein, die Bewertungskriterien genauer aufzuschlüsseln – nicht aber, das Tatbestandsmerkmal aufzugeben.
II. Guter Glaube bzw. objektive und bedeutende Unsicherheit der Rechtslage 1. Ausgangspunkt Hinsichtlich des zweiten für eine Beschränkung der zeitlichen Wirkung erforderlichen Tatbestandsmerkmals ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs unein61 62 63
Müller, S. 176 f. Müller, S. 177; ähnlich Schaer, S. 73 ff. Müller, S. 177.
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heitlich: In einer Vielzahl der Urteile ist gefordert, dass der die Beschränkung beantragende Beteiligte Rechtsverhältnisse „in gutem Glauben eingegangen [. . .]“ ist.64 In späteren Urteilen ist teilweise auch vom Erfordernis einer „objektiven und bedeutenden Unsicherheit der Rechtslage“ die Rede.65 Letztlich meinen beide Begriffe jedoch dasselbe.66 Dabei ist der Ausdruck „objektive und bedeutende Unsicherheit“ äußerst unglücklich gewählt.67 Dies betrifft keineswegs nur die deutsche Fassung, sondern zum Beispiel auch die entsprechende englische Formulierung „objective, significant uncertainty“ und die französische Ausdrucksweise „incertitude objective et importante“. Denn der kritische Leser dürfte sich zu Recht fragen, warum die Beteiligten ausgerechnet dann schützenswert sein sollen, wenn eine immerhin „bedeutende“ Ungewissheit bzw. Unsicherheit im Hinblick auf die Rechtslage besteht. Sollte eine so unsichere Rechtslage nicht gerade Grund zur Vorsicht sein und die Beteiligten veranlassen, lieber denjenigen Weg zu gehen, der ganz sicher unionsrechtskonform ist?68 Das kann der Gerichtshof ganz offensichtlich nicht gemeint haben. Die Unsicherheit soll schließlich nach dem Willen des Gerichtshofs Ausdruck des guten Glaubens sein. Gemeint ist daher also eine Situation, die die Beteiligten zu Unrecht in Sicherheit wiegt, ja geradezu in die Irre führt.69 Treffender wäre daher der Ausdruck „objektive und bedeutende vermeintliche Sicherheit“. 2. Unsicherheit aufgrund unionsrechtlicher Vorschriften Eine Grundvoraussetzung ist, dass das Unionsrecht (nicht nationales Recht oder eine sonstige Rechtsquelle)70 die Möglichkeit mehrerer verschiedener Interpretationen bietet. Wo der Wortlaut einer Norm des primären oder sekundären Unionsrechts nur eine vernünftige Interpretation zulässt, ist kein Raum für den guten Glauben an eine abweichende Interpretation.71 Insoweit ist der vom Ge64 EuGH, Urteil vom 27. März 1980, Rs. 61/79, Denkavit Italiana, Slg. 1980, 1205, Rn. 17; Urteil vom 10. Juli 1980, Rs. 811/79, Ariete, Slg. 1980, 2545, Rn. 7; Urteil vom 10. Juli 1980, Rs. 826/79, Mireco, Slg. 1980, 2559, Rn. 8; Urteil vom 16. Juli 1992, Rs. C-163/90, Legros, Slg. 1992, I-4625, Rn. 30. 65 EuGH, Urteil vom 11. August 1995, Rs. C-377/93, Roders, Slg. 1995, I-2229, Rn. 43; Urteil vom 13. Februar 1996, verb. Rs. C-197/94 u. C-252/94, Société Bautiaa, Slg. 1996, I-505, Rn. 48; Urteil vom 20. September 2001, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rn. 53. 66 Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1841). 67 Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge vom 22. Juni 2006, Rs. C-228/05, Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391, Rn. 87. 68 Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge vom 22. Juni 2006, Rs. C-228/05, Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391, Rn. 87. 69 Auf den Aspekt des „In-die-Irre-Führens“ stellt auch Lang wiederholt ab: Lang, Intertax 2007, 230 (231); ähnlich auch Schmitz/Stammler, AöR 136 (2011), 479 (497). 70 Müller, S. 121 f.
II. Guter Glaube bzw. objektive Unsicherheit der Rechtslage
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richtshof gewählte Ausdruck „Unsicherheit“ durchaus zutreffend. Ausgangspunkt des guten Glaubens ist daher eine gewisse „Grundunsicherheit“. Fraglich ist, ob allein eine solche Mehrdeutigkeit ausreichen kann, um den guten Glauben der Betroffenen zu begründen. Bislang hat der Gerichtshof den guten Glauben nur in Fällen bejaht, in denen noch verschärfende Faktoren hinzukamen. Es ist auch nicht zu erwarten, dass der EuGH sich in Zukunft mit Weniger zufriedengeben würde. Denn mehrdeutig dürfte der überwiegende Teil des primären und sekundären Unionsrechts sein – wie auch nationales Recht so gut wie nie eindeutig ist, sondern verschiedene Auslegungen zulässt. Ließe man allein die Mehrdeutigkeit einer unionsrechtlichen Vorschrift ausreichen, würde die Tatbestandsvoraussetzung „guter Glaube“ zu einer leeren Worthülse verkommen und könnte nicht mehr gewährleisten, dass der Gerichtshof nur in Ausnahmefällen eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen vornimmt. Insofern kann Lang nicht zugestimmt werden, der davon ausgeht, dass bereits dann eine für den guten Glauben hinreichende rechtliche Ungewissheit vorliege, wenn der Gerichtshof erstmalig eine Rechtsfrage beantworte.72 Denn dies gilt für die Mehrzahl der Vorabentscheidungen beim EuGH, sofern sie nicht der näheren Klärung früherer Urteile dienen. Damit blieben die wirtschaftlichen Folgen als einziges ernst zu nehmendes Tatbestandsmerkmal übrig, was nicht zum Credo des Gerichtshofs passte, dass allein die finanziellen Auswirkungen eines Urteils nicht ausreichen können, um eine zeitliche Beschränkung zu begründen. Zwar findet sich die Wendung, der Gerichtshof stelle fest, dass das vorliegende Urteil eine bestimmte Frage zum ersten Mal entscheide, in mehreren Urteilen des EuGH.73 Allerdings handelt es sich hierbei um eine Formulierung, die der Gerichtshof typischerweise verwendet, um auszudrücken, dass keine Präklusion des Antrags auf Beschränkung der Urteilswirkungen durch ein früheres Urteil zur gleichen Sachfrage vorliegt.74 Außerdem führt der Gerichtshof in allen diesen Fällen zusätzliche Aspekte zum Verhalten der Kommission oder zur Rechtsprechung des Gerichtshofs an, um zu begründen, warum der betroffene Mitgliedstaat von einer bestimmten Auslegung ausgehen durfte. Festzuhalten bleibt damit, dass das Vorliegen einer mehrdeutigen Unionsrechtsnorm, zu der es noch keine klärende Rechtsprechung des EuGH gibt, eine 71 EuGH, Urteil vom 30. März 2006, Rs. C-184/04, Uudenkaupungin kaupunki, Slg. 2006, I-3039, Rn. 57 f.; siehe auch Müller, S. 122 f. 72 Lang, Intertax 2007, 230 (233). 73 EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 23/86, Blaizot, Slg. 1988, 379, Rn. 29; Urteil vom 4. Mai 1999, Rs. C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685, Rn. 108; Urteil vom 9. März 2000, Rs. C-437/97, Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, I-1157; diese Urteile zitiert auch Lang, Intertax 2007, 230 (233, Fn. 18). 74 Besonders deutlich wird dies im Urteil Blaizot, EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 23/86, Blaizot, Slg. 1988, 379, wo diese Wendung (Rn. 29) durch weitere allgemeine Ausführungen (Rn. 30) deutlich von der restlichen Subsumtion zur Frage des guten Glaubens (Rn. 32) abgesetzt ist.
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notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für die Bejahung des guten Glaubens ist. 3. Bedeutende Unsicherheit: Verhalten der EU-Institutionen oder anderer Mitgliedstaaten a) Allgemeines Sofern eine „Grund“-Unsicherheit im vorgenannten Sinne besteht, kann diese durch das Verhalten anderer Mitgliedstaaten, der Kommission oder sonstiger EUInstitutionen verstärkt werden und damit eine „bedeutende Unsicherheit“ werden.75 „Bedeutende Unsicherheit“ muss nach dem bisher Gesagten heißen, dass nicht etwa eine Rechtsfrage besonders umstritten war, sondern vielmehr, dass andere Akteure ein Verhalten an den Tag gelegt haben, das geeignet war, über die bestehende Unsicherheit der Reichweite des Unionsrechts hinwegzutäuschen und den unzutreffenden Eindruck zu vermitteln, der betroffene Staat oder das betroffene Individuum lege das Unionsrecht richtig aus. Umgekehrt kann das Verhalten insbesondere der EU-Institutionen aber auch geeignet sein, die Gutgläubigkeit zu verhindern. b) Verhalten der Kommission Das mit Abstand häufigste Argument, mit dem die Beteiligten ihren guten Glauben belegen wollen, ist der Hinweis, die Kommission habe durch ihr Verhalten Anlass dazu gegeben, das Unionsrecht anders auszulegen, als es der Gerichtshof nun in seinem Vorabentscheidungsurteil tut. Tatsächlich ist der Gerichtshof in vielen Fällen auch geneigt, aus einem widersprüchlichen Verhalten der Kommission eine objektive und bedeutende Rechtsunsicherheit und damit den guten Glauben herzuleiten. Bereits im Defrenne II-Urteil sah der Gerichtshof den Umstand, dass die Kommission einige Mitgliedstaaten zwar mehrfach gewarnt, das ausdrücklich angekündigte Vertragsverletzungsverfahren dann aber doch nicht eingeleitet hatte, als geeignet an, eine Unsicherheit über die Wirkung von Art. 119 EWGV hervorzurufen.76 Dahinter steckt wohl der Gedanke, ein Mitgliedstaat könne hier den Eindruck bekommen, die Kommission habe ihre Meinung geändert oder der Verstoß sei jedenfalls nicht allzu gravierend. Ebenfalls widersprüchlich ist das Verhalten der Kommission laut EuGH, wenn sie zwar erst 75 Grundlegend EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 71/73; siehe auch Urteil vom 11. August 1995, verb. Rs. C-367/93 bis C-377/ 93, Roders, Slg. 1995, I-2229, Rn. 43; Urteil vom 13. Februar 1996, verb. Rs. C-197/94 u. C-252/94, Société Bautiaa, Slg. 1996, I-505, Rn. 48; generell ablehnend Müller, S. 138. 76 EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 71/ 73; a. A. Klein, IStR 2006, 209 (210); Wiedmann, EuZW 2007, 692 (693).
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ein Vertragsverletzungsverfahren einleitet, dieses dann aber nicht fortführt und obendrein dem Rat vorschlägt, eine Entscheidung zu treffen, derzufolge ein Mitgliedstaat eine unionsrechtlich umstrittene Regelung (zumindest unter bestimmten Umständen) beibehalten darf.77 Dennoch ist Vorsicht geboten: Die Einstellung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen einen Mitgliedstaat kann nicht automatisch zum guten Glauben dieses Staates führen.78 Ist der Grund für die Einstellung des Verfahrens, dass der betroffene Mitgliedstaat die Verletzung des Unionsrechts abgestellt hat, ist es Ausdruck des der Kommission zukommenden Entschließungsermessens, wenn sie es hiermit bewenden lässt und keine Feststellung der Vertragsverletzung in der Vergangenheit begehrt.79 Da der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung davon ausgeht, dass der Kommission insgesamt ein Ermessen zukommt, ob sie ein Vertragsverletzungsverfahren einleitet, 80 kann die Nichteinleitung, die Nichtfortführung oder die Einstellung eines solchen Verfahrens generell nur Indizcharakter haben. Sofern sich aus den Umständen des Einzelfalls und für die Beteiligten erkennbar ergibt, dass die entsprechende Entschließung der Kommission andere Gründe gehabt haben könnte als ihre Überzeugung von der Unionsrechtskonformität des fraglichen Handelns, kann dieses Ausbleiben eines Vertragsverletzungsverfahrens allein keinen guten Glauben begründen.81 Anders formuliert müssen die Mitgliedstaaten Grund zu der Annahme haben, die Kommission sei nach Prüfung der Situation von der unionsrechtlichen Unbedenklichkeit überzeugt – was unter anderem voraussetzt, dass die entscheidende Fragestellung überhaupt einmal zwischen Mitgliedstaaten und Kommission zur Sprache gekommen ist. Anderenfalls könnte die Kommission den Konflikt auch schlicht übersehen haben. In den Fällen, in denen sich die Kommission bereits kritisch geäußert hat, scheint es den Mitgliedstaaten zumutbar zu sein, sich nach Ablauf einer bestimmten Zeitspanne, während derer die Kommission keine weiteren Aktivitäten gezeigt hat, bei der Kommission zu erkundigen, ob diese ihre Meinung 77 EuGH, Urteil vom 16. Juli 1992, Rs. C-163/90, Legros, Slg. 1992, I-4625, Rn. 32; hier stimmt auch Klein, IStR 2006, 209 (210), zu. 78 Klein, IStR 2006, 209 (210); Balmes/Ribbrock, BB 2006, 17 (19); Sedemund, IStR 2005, 810 (815); Schaer, S. 54 ff. 79 Dieser Gedanke liegt wohl der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Roders zugrunde, EuGH, Urteil vom 11. August 1995, verb. Rs. C-367/93 bis C-377/93, Roders, Slg. 1995, I-2229, Rn. 45; siehe auch Balmes/Ribbrock, BB 2006, 17 (19); Sedemund, IStR 2005, 810 (815). 80 Grundlegend EuGH, Urteil vom 14. Februar 1989, Rs. 247/87, Star Fruit/Kommission, Slg. 1989, 291, Rn. 11; ebenso EuGH, Urteil vom 17. Mai 1990, Rs. C-87/89, Sonito/Kommission, Slg. 1990, I-1981, Rn. 7; Beschluss vom 23. Mai 1990, Rs. C-72/ 90, Asia Motor France/Kommission, Slg. 1990, I-2181, Rn. 13; Schima, S. 105; Crisham, CMLR 14 (1977), 109 (116); Müller, S. 128. 81 EuGH, Urteil vom 14. September 2006, Rs. C-228/05, Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391, Rn. 73; a. A. wohl Generalanwalt Tizzano, Schlussanträge vom 10. November 2005, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 37 ff.
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zwischenzeitlich geändert habe – eine reine Stillhaltetaktik erscheint nur schwer mit der Pflicht zur Unionstreue aus Art. 4 Abs. 3 AEUV vereinbar.82 Kurz formuliert: Nur ein „beredtes Schweigen“ der Kommission kann die Mitgliedstaaten gutgläubig machen, bloße Untätigkeit hingegen hat diese Wirkung nicht.83 Nachdem schon ein bloßes Untätigbleiben der Kommission im Rahmen des förmlichen Vertragsverletzungsverfahrens keinen guten Glauben begründen kann, muss dies erst recht außerhalb dieses förmlichen Verfahrens gelten, zum Beispiel wenn die Kommission auf eine Mitteilung eines Mitgliedstaats nicht reagiert, sofern das Unionsrecht nicht ausdrücklich eine Pflicht der Kommission zur Beantwortung derartiger Mitteilungen vorsieht.84 Dies gilt umso mehr, wenn den Beteiligten aus anderen Quellen (zum Beispiel aus mündlichen Äußerungen der zuständigen Kommissionsbeamten) bekannt ist, dass die Kommission Zweifel an der Richtigkeit der ihr vorgetragenen Rechtsauffassung hegt.85 Auf der anderen Seite besteht kein Zweifel daran, dass ein Mitgliedstaat gutgläubig von der Vereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift mit dem Unionsrecht ausgehen durfte, wenn die Kommission ihm gegenüber ausdrücklich die Konformität versichert hat.86 Die Kommission ist schließlich nach dem Konzept der Verträge die „Hüterin des Unionsrechts“,87 und von keinem Beteiligten kann verlangt werden, schlauer zu sein als die Kommission. Zugegebenermaßen sind viele Äußerungen der Kommission eher informeller Art, denen keine vollständige Rechtsprüfung bis ins letzte Detail vorausgegangen ist.88 Aber mehr an Informationen haben die Mitgliedstaaten oft nicht an der Hand. Natürlich entbinden auch Äußerungen der Kommission die Mitgliedstaaten nicht von ihrer Pflicht, selbst die Konformität ihres nationalen Rechts mit dem Unionsrecht zu überprüfen.89 Dennoch müssen die Mitgliedstaaten sich auch zu einem gewissen Grad auf Äußerungen der Kommission, die nicht erkennbar aus der Luft gegriffen sind, verlassen können.90 Aber auch bei ausdrücklichen Zugeständnissen der Kommission sind sorgsam die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen: Zeigt sich die 82
Klein, IStR 2006, 209 (210); Kokott/Henze, NJW 2006, 177 (180). Klein, IStR 2006, 209 (210); Schima, S. 105; vgl. auch EuGH, Urteil vom 29. Juli 2010, Rs. C-577/08, Rijksdienst voor Pensioenen, Slg. 2010, I-7485, Rn. 39. 84 EuGH, Urteil vom 19. Oktober 1995, Rs. C-137/94, Richardson, Slg. 1995, I-3407, Rn. 35; hierzu auch Schima, S. 105. 85 EuGH, Urteil vom 12. Oktober 2000, Rs. C-372/98, Cooke, Slg. 2000, I-8683, Rn. 44. 86 EuGH, Urteil vom 9. März 2000, Rs. C-437/97, Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, I-1157, Rn. 56. 87 Art. 17 Abs. 1 S. 2 EUV; siehe auch Streinz, Europarecht, Rn. 396. 88 Dies kritisiert Müller, S. 136 ff. 89 Müller, S. 136. 90 A.A. Müller, S. 137. 83
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Kommission, nachdem jahrzehntelange Beanstandungen vorausgegangen waren, in einzelnen Sitzungen versöhnlich, weil der betroffene Mitgliedstaat signalisiert hat, den Verstoß abstellen zu wollen, so kommt darin natürlich in keiner Weise zum Ausdruck, dass die Kommission ihre grundsätzliche Rechtsauffassung geändert hätte.91 Das hält die Mitgliedstaaten allerdings nicht davon ab, es mit solchen Argumenten durchaus vor dem Gerichtshof zu versuchen. Nur nebenbei sei bemerkt, dass es durchaus auch im Interesse der Mitgliedstaaten wäre, nicht jedes Entgegenkommen der Kommission vor dem Gerichtshof gleich gegen sie verwenden zu wollen – der Bereitschaft der Kommission, hin und wieder Nachsicht zu zeigen, dürfte ein solches Verhalten nicht gerade zuträglich sein. Soweit nach dem bisher Gesagten das Kommissionsverhalten geeignet ist, die Gutgläubigkeit der Beteiligten zu begründen, ist einschränkend hinzuzufügen, dass die Kommission sich nicht nur mit irgendeinem Problem, sondern tatsächlich mit der in Rede stehenden Frage befasst haben muss. Dies versteht sich eigentlich von selbst: Wenn der EuGH eine Vorlagefrage zur Besteuerungsgrundlage von Glücksspielautomaten beantwortet, hat er damit nicht automatisch die gesamte deutsche Umsatzsteuerregelung zur Besteuerung von Glücksspielen jeglicher Art für unionsrechtkonform erklärt.92 Ebenso wenig wie dieses Urteil die Mitgliedstaaten bezüglich anderer Fragen der Besteuerung von Glücksspielen gutgläubig machen kann, kann das auf ein derartiges Urteil folgende Verhalten der Kommission dies tun.93 c) Verhalten des Gerichtshofs Urteile des EuGH haben in der Regel die Wirkung, eine möglicherweise noch unklare Rechtslage zu klären. Sobald ein Urteil des Gerichtshofs zu einer Vorlagefrage vorliegt, dürfen weder die Mitgliedstaaten noch Individuen vernünftigerweise von einer abweichenden Auslegung ausgehen. Für guten Glauben und somit – bei Vorliegen der übrigen Tatbestandsvoraussetzungen – eine Beschränkung der zeitlichen Wirkung ist damit kein Raum mehr.94 91 EuGH, Urteil vom 14. September 2006, Rs. C-228/05, Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391, Rn. 73; Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge vom 22. Juni 2006, Rs. C228/05, Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391, Rn. 93. 92 Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 8. Juli 2004, verb. Rs. C-453/02 u. C-462/02, Linneweber und Akritidis, Slg. 2005, I-1131, Rn. 60. 93 Vor allem, wenn es sich bei diesem „Verhalten“ um die Nichteinleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens handelt: EuGH, Urteil vom 17. Februar 2005, verb. Rs. C453/02 u. C-462/02, Linneweber und Akritidis, Slg. 2005, I-1131, Rn. 43. 94 So bereits EuGH, Urteil vom 27. März 1980, Rs. 61/79, Denkavit Italiana, Slg. 1980, 1205, Rn. 19 f.; ebenso EuGH, Urteil vom 27. Mai 1981, verb. Rs. 142/80 und 143/80, Essevi und Salengo, Slg. 1981, 1413, Rn. 33; Urteil vom 31. März 1992, Rs. C200/90, Dansk Denkavit, Slg. 1992, I-2217, Rn. 21; Urteil vom 11. August 1995, verb. Rs. C-367/93 bis C-377/93, Roders, Slg. 1995, I-2229, Rn. 45; Urteil vom 23. Mai 2000, Rs. C-104/98, Buchner, Slg. 2000, I-3625, Rn. 40; Urteil vom 3. Oktober 2002,
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Nur ausnahmsweise wird der Gerichtshof in die Verlegenheit kommen, zugeben zu müssen, dass seine eigene Rechtsprechung derart missverständlich war, dass der Antragsteller daraus ein falsches Verständnis der Rechtslage gewinnen durfte. Doch auch das ist nicht ausgeschlossen, wie die Rechtssache Sürül zeigt: Hier musste der Gerichtshof, der in diesem Urteil die unmittelbare Anwendbarkeit einer Regelung des Beschlusses Nr. 3/80 des Assoziationsrates EWG–Türkei feststellte, einräumen, dass er in einem früheren Urteil zu anderen Regelungen des Beschlusses Nr. 3/80 den Eindruck erweckt hatte, die Regelungen dieses Beschlusses könnten sämtlich (also auch über die eigentlich in Rede stehende Vorschrift hinaus) keine unmittelbare Wirkung entfalten.95 Unter diesen Umständen war daher der gute Glaube der betroffenen deutschen Bundesanstalt für Arbeit zu bejahen. Erst recht zu bejahen ist der gute Glaube der Mitgliedstaaten, wenn der EuGH in einem späteren Urteil nicht nur die Missverständlichkeit eines früheren Urteils eingestehen muss, sondern wenn er seine Rechtsprechung tatsächlich ändert. In dieser seltenen Situation befand sich der EuGH in der Rechtssache Cabanis-Issarte.96 Bis zu jenem Urteil hatte der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass Familienangehörige von Wanderarbeitnehmern sich nur bezüglich vom Arbeitnehmer abgeleiteter Rechte auf die EWG-Verordnung Nr. 1408/ 71 zur Angleichung der Sozialversicherungssysteme97 berufen können, nicht aber bezüglich selbst erworbener Rechte aufgrund freiwilliger Beiträge.98 Im Fall Cabanis-Issarte hatte der EuGH nun ein Einsehen, dass diese Differenzierung sich fatal auf hinterbliebene Ehepartner der Arbeitnehmer (insbesondere Hausfrauen99) auswirken könne. Die Aussicht der Arbeitnehmer, dass die Aufnahme einer Beschäftigung im Ausland später ihre hinterbliebenen Ehepartner in eine wirtschaftlich prekäre Lage bringen könnte, schrecke davon ab, von der Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch zu machen. Um das zu verhindern, sollten sich Familienangehörige nunmehr auch bezüglich eigener Rechte auf die Verordnung Rs. C-347/00, Barreira Pérez, Slg. 2002, I-8191, Rn. 46; wohl auch als Nebengedanke neben der Präklusion: EuGH, Urteil vom 6. März 2007, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 37 ff.; siehe auch Kokott/Henze, NJW 2006, 177 (178). 95 EuGH, Urteil vom 4. Mai 1999, Rs. C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685, Rn. 110; siehe auch Generalanwalt La Pergola, Schlussanträge vom 12. Februar 1998, Rs. C262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685, Rn. 67. 96 EuGH, Urteil vom 30. April 1996, Rs. C-308/93, Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097; zur Einordnung dieses Urteils als „echte“ Abkehr von der bisherigen Rechtsprechungslinie siehe Peers, E.L.Rev. 22 (1997), 342 (348); Moore, C.M.L.R. 34 (1997), 727 (735). 97 Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABl. Nr. L 149 vom 5. Juli 1971, S. 2. 98 Grundlegend: EuGH, Urteil vom 23. November 1976, Rs. 40/76, Kermaschek, Slg. 1976, 1669, Rn. 9. 99 Vgl. Peers, E.L.Rev. 22 (1997), 342 (350).
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berufen können.100 Gleichzeitig beschränkte der EuGH die Urteilswirkungen unter Hinweis auf seine Abkehr von der „früheren ständigen Rechtsprechung“.101 Bydlinski vertritt allerdings die Auffassung, dass in diesen Fällen eine zeitliche Beschränkung nach dem hier beschriebenen Schema (zumindest de lege lata) nicht möglich sei. Etwas anderes soll nur gelten, wo der EuGH autonome, nicht eindeutig in den vorgegebenen Rechtsquellen angelegte Entscheidungen trifft (wo auch immer da die Grenze zu ziehen ist102). Denn die Beschränkung der Urteilswirkungen eigne sich nur für die Bereinigung von Problemen mit nicht konsistenten „abstrakt-generellen Normenkomplexen“ (nationales Recht gegenüber Unionsrecht, Sekundärrecht gegenüber Primärrecht), nicht aber, um die Schwierigkeiten einer Rechtsprechungsänderung zu lösen. Art. 174 Abs. 2 EWGV (jetzt Art. 264 Abs. 2 AEUV), auf dessen analoger Anwendung die zeitliche Beschränkung letztlich in Gültigkeits- wie auch Auslegungsurteilen beruhe, lasse sich auf einen derart anderen Regelungsbereich nicht übertragen.103 Diese Argumentation kann allerdings nicht überzeugen. Auch wenn der Gerichtshof seine Rechtsprechung im Laufe mehrerer Vorabentscheidungsverfahren ändert, so trifft er keine Einzelfallentscheidungen wie ein normales Gericht, sondern bleibt im Bereich kollidierender abstrakt-genereller Normenkomplexe: Zuerst hielt er die Normenkomplexe für miteinander vereinbar, in dem späteren Urteil dann nicht mehr.104 Vor allem aber würde eine solche Differenzierung zwischen einerseits erstmaliger und andererseits wiederholter, zuletzt geänderter Prüfung zu einem eklatanten Wertungswiderspruch führen: Wenn ein Mitgliedstaat (oder die entsprechend betroffenen privaten Rechtskreise) bereits bei nur missverständlichen früheren Urteilen schutzwürdig genug ist für eine zeitliche Beschränkung, warum sollte er dann in dem Fall, in dem der EuGH in einem früheren Urteil ausdrücklich seine Rechtsauffassung geteilt hat, weniger Schutz verdienen? Richtigerweise sollte gerade in solchen Fällen, in denen der gute Glaube ganz unzweifelhaft vorliegt, eine Beschränkung der Urteilswirkungen möglich sein. d) Verhalten anderer EU-Institutionen Auch das Verhalten anderer EU-Institutionen kann sich auf die Gutgläubigkeit von Mitgliedstaaten und Individuen auswirken. Hier ist insbesondere daran zu denken, dass Rat und Parlament Sekundärrecht erlassen, das eine falsche Aus100 EuGH, Urteil vom 30. April 1996, Rs. C-308/93, Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097, Rn. 30 ff. 101 EuGH, Urteil vom 30. April 1996, Rs. C-308/93, Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097, Rn. 47; zustimmend Müller, S. 140. 102 Kritisch auch Klappstein, S. 214. 103 Bydlinski, JBl. 2001, 2 (28); kritisch demgegenüber Klappstein, S. 214. 104 Diese Argumentation führt Bydlinski selbst an und hält sie zumindest für „gut vertretbar“, siehe Bydlinski, JBl. 2001, 2 (28).
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legung des Primärrechts nahelegt.105 Auch eine Entscheidung des Rates, in der dieser Verständnis für die besonderen Verhältnisse der französischen départements d’outre-mer und die zur Förderung dieser Regionen gedachte Abgabe „octroi de mer“ aufbringt und diese Abgabe vorläufig beibehält,106 ist geeignet, den Mitgliedstaaten ein falsches Bild von der Reichweite des Unionsrechts zu vermitteln.107 e) Verhalten anderer Mitgliedstaaten Der Gerichtshof hat bereits im Urteil Defrenne II ausgeführt und danach in ständiger Rechtsprechung betont, dass auch das Verhalten der anderen Mitgliedstaaten einen einzelnen Mitgliedstaat oder die betroffenen Individuen in diesen gutgläubig machen könne.108 Tatsächlich bejaht hat der EuGH diesen guten Glauben aufgrund eines „kollektiven Irrtums“ allerdings nur im Fall Defrenne II. Hier waren die Mitgliedstaaten mit dem Grundsatz des gleichen Entgelts während der entsprechenden Übergangszeit sehr uneinheitlich umgegangen; einige hatten den Grundsatz in ihrer nationalen Rechtsordnung umgesetzt, andere nicht. Schließlich hatten die Mitgliedstaaten am Tag vor Ablauf der Frist versucht, die Übergangszeit durch eine gemeinsame Erklärung zu verlängern. Dieser Erklärung versagte der Gerichtshof jedoch die Wirksamkeit, da eine Verlängerung der Übergangsfrist nur im Wege der Vertragsänderung nach dem dafür bestimmten Verfahren möglich gewesen wäre.109 Nichtsdestotrotz waren diese Versuche der Mitgliedstaaten, den Verpflichtungen aus Art. 119 EWGV (Art. 157 AEUV) bis auf weiteres zu entgehen, geeignet, den interessierten Kreisen einen falschen Eindruck von der Wirkung dieser Vorschrift zu vermitteln, sie also gutgläubig zu machen.
105 EuGH, Urteil vom 17. Mai 1990, Rs. C-262/88, Barber, Slg. 1990, I-1889, Rn. 42. 106 Entscheidung 89/688/EWG des Rates vom 22. Dezember 1989 betreffend die Sondersteuer „octroi de mer“ in den französischen überseeischen Departements, ABl. Nr. L 399 vom 30. Dezember 1989, S. 46. 107 EuGH, Urteil vom 16. Juli 1992, Rs. C-163/90, Legros, Slg. 1992, I-4625, Rn. 31 f.; Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge vom 21. November 1991, Rs. C-163/ 90, Legros, Slg. 1992, I-4625, Rn. 41. 108 EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 71/ 73; Urteil vom 11. März 1981, Rs. 69/80, Worrigham, Slg. 1981, 767, Rn. 32; Urteil vom 11. August 1995, Rs. C-377/93, Roders, Slg. 1995, I-2229, Rn. 43; Urteil vom 13. Februar 1996, verb. Rs. 197 und 252/94, Société Bautiaa, Slg. 1996, I-505, Rn. 48; Urteil vom 20. September 2001, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rn. 53; Urteil vom 15. März 2005, Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119, Rn. 69; Urteil vom 30. März 2006, Rs. C-184/04, Uudenkaupungin kaupunki, Slg. 2006, I-3039, Rn. 85; Urteil vom 18. Januar 2007, Rs. C-313/05, Maciej Brzezin´ski, Slg. 2007, I-513, Rn. 57. 109 EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 44/ 46 ff.
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In Defrenne II waren es private Unternehmen, bei denen das Verhalten einiger Mitgliedstaaten den falschen Eindruck erweckte, Art. 119 EWGV sei nicht unmittelbar anwendbar und verpflichte nur die Mitgliedstaaten zur Umsetzung des Grundsatzes gleichen Entgelts. Es erscheint fragwürdig, ob der Gerichtshof auch anerkennen würde, dass der gute Glaube einzelner Mitgliedstaaten durch das Verhalten anderer Mitgliedstaaten begründet wurde. Der Wortlaut der zitierten Entscheidungen,110 denen zufolge „eine objektive bedeutende Unsicherheit“ vorliegen müsse, „zu der eventuell auch das Verhalten anderer Mitgliedstaaten [. . .] beigetragen hatte“,111 deutet darauf hin. Es dürfte aber zweifelhaft sein, ob der Gerichtshof im Ernstfall auch wirklich einzelnen Mitgliedstaaten die Exkulpation allein unter Hinweis darauf erlauben würde, dass sich ein paar andere Mitgliedstaaten ebenfalls geirrt hätten. Es kann nicht im Interesse der Union sein, dass die Mitgliedstaaten sich gegenseitig den Schwarzen Peter zuschieben können, bis niemand mehr Verantwortung trägt; schließlich ist nach Art. 4 Abs. 3 EUV nicht nur die Gesamtheit der Mitgliedstaaten, sondern jeder Mitgliedstaat für sich dafür verantwortlich, die Verpflichtungen aus den Verträgen zu erfüllen. Auch können die anderen Mitgliedstaaten, verglichen mit der Kommission, die immerhin die „Hüterin der Verträge“ ist (Art. 17 Abs. 1 S. 1 EUV),112 keinerlei besondere Kompetenz für die Auslegung des Unionsrechts in Anspruch nehmen. Die Mitgliedstaaten sitzen hier alle im selben Boot, und die Interpretation des einen Staates ist im Zweifel genauso vertrauenswürdig wie die eines jeden anderen.113 Gutgläubig kann ein Mitgliedstaat höchstens dann werden, wenn sich nicht nur einige andere, sondern nahezu alle anderen Mitgliedstaaten über eine bestimmte Auslegung des Unionsrechts einig sind. Denn lassen nur einige andere Mitgliedstaaten durch ihr Verhalten darauf schließen, dass sie derselben Auffassung sind wie der betroffene Mitgliedstaat, so bleiben in der EU der 27 noch genügend Mitgliedstaaten übrig, die offenbar abweichender Auffassung sind. Der EuGH musste eine solche Differenzierung in Defrenne II noch nicht vornehmen, weil die Gemeinschaft in dem entscheidenden Zeitraum Anfang der sechziger Jahre bekanntermaßen gerade einmal sechs Mitgliedstaaten umfasste, so dass einige andere auch automatisch nahezu alle anderen Mitgliedstaaten waren. Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass der Gerichtshof in künftigen Anwendungsfällen sehr restriktiv mit der Begründung guten Glaubens durch das Verhalten anderer Mitgliedstaaten umgehen wird, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen dürften sich wohl eher Private als Mitgliedstaaten darauf berufen können, zum anderen müsste schon eine große Anzahl von Mitgliedstaaten der glei110
Siehe oben, Fn. 108. Urteil vom 18. Januar 2007, Rs. C-313/05, Maciej Brzezin´ski, Slg. 2007, I-513, Rn. 57; Hervorhebung durch Verfasser. 112 Streinz, Europarecht, Rn. 396. 113 So im Ergebnis auch Müller, S. 141 f. 111
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chen falschen Auffassung sein, damit bei dem Einzelnen oder gar einem Mitgliedstaat vernünftigerweise der Eindruck entstehen könnte, ein bestimmtes Verständnis des Unionsrechts sei zutreffend. f) Verhalten anderer Privater (Rechtssache Bosman) Einen Sonderfall stellt das Urteil im Fall Bosman dar. Hier erkannte der Gerichtshof an, dass ein Zustand der Unsicherheit geschaffen worden sei durch „die Besonderheiten der von den Sportverbänden aufgestellten Regeln für die Transfers von Spielern zwischen den Vereinen verschiedener Mitgliedstaaten“ sowie durch den Umstand, dass dieselben oder sehr ähnliche Regeln auch bei Transfers innerhalb eines Mitgliedstaates galten.114 Letztlich stellte er also für die Herstellung guten Glaubens auf das Verhalten privat-rechtlicher Institutionen ab. Dies ist ungefähr so, als hätte er in Defrenne II nicht auf das Verhalten der Kommission und der Mitgliedstaaten abgestellt, sondern darauf, dass auch alle anderen Fluggesellschaften Stewardessen schlechter als Stewards bezahlt hätten. Wenn schon die Entschuldigung durch Verweis auf die Fehler anderer Mitgliedstaaten erheblichen Zweifeln ausgesetzt ist, muss dies erst recht für die Entschuldigung unter Berufung auf andere private Verbände gelten. Freilich dürfte diese Begründung in der Rechtssache Bosman, deren Knappheit115 in keinem Verhältnis zu den in ihr enthaltenen Neuerungen gegenüber der bisherigen Rechtsprechung steht, welche nur das Verhalten der Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsinstitutionen im Blick hatte, kaum verallgemeinerungsfähig sein. Der EuGH wird hier wohl die erhebliche, gewissermaßen „quasi-staatliche“ Autorität der nationalen und internationalen Verbände gegenüber den FußballVereinen116 im Blick gehabt haben, als er deren Verhalten zur Grundlage guten Glaubens erklärte. Auch insoweit ist jedoch, in Entsprechung zu den oben genannten Voraussetzungen in Bezug auf Mitgliedstaaten, ein nahezu einmütiges Parallelverhalten aller in Frage kommenden Verbände zu fordern. Wo den Privaten keine derartige besondere Autorität zukommt, und das ist der absolute Regelfall, ist guter Glaube allein aufgrund der Tatsache, dass (fast) alle anderen Privaten, zum Beispiel die Wettbewerber, das Unionsrecht ebenso verstanden haben wie der Antragsteller, abzulehnen.117 Anderenfalls würde man die Bildung von „Auslegungs-Kartellen“, in denen sich die Wettbewerber einigen, das Unionsrecht in der für ihre Geschäftstätigkeit günstigsten Lesart auszulegen, geradezu heraufbeschwören.
114 EuGH, Urteil vom 15. Dezember 1995, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rn. 143; siehe auch Hilf/Pache, NJW 1996, 1169 (1174). 115 Lang, Intertax 2007, 230 (233). 116 Siehe hierzu Weatherill, CMLR 33 (1996), 991 (991 f.). 117 So im Ergebnis auch Müller, S. 121.
II. Guter Glaube bzw. objektive Unsicherheit der Rechtslage
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g) Bedeutende Unsicherheit aufgrund dynamischer Rechtsentwicklung? In den bisher genannten Fallgruppen drückte sich die bedeutende Unsicherheit immer in dem konkreten Verhalten anderer Akteure aus. Es stellt sich die Frage, ob daneben eine bedeutende Unsicherheit auch ohne einen solchen konkreten Anhaltspunkt zu bejahen ist – zum Beispiel, wenn sich das Unionsrecht in einem Bereich besonders dynamisch entwickelt. Einen solchen Fall spricht der EuGH in der Rechtssache Blaizot an: Hier stellt er ausdrücklich fest, dass sich die Politik im Bereich der Berufsausbildung schrittweise entwickele und sich damit auch die Rechtsauffassung dazu, was zum Bereich der Berufsausbildung zu zählen ist, nach und nach wandele.118 In derartigen Fällen, in denen der Gerichtshof implizit eingesteht, dass er selbst die Vorlagefrage vor einigen Jahren noch anders beantwortet hätte, mögen weitere Indizien zur Bejahung des guten Glaubens möglicherweise nicht nötig sein.119 Der EuGH musste sich im konkreten Fall nicht näher festlegen, da diese allmähliche Entwicklung „im übrigen ihren Niederschlag im Verhalten der Kommission gefunden“ hatte.120 Grundsätzlich ist der gute Glaube aber in solchen Fällen zu bejahen: Es kann den Mitgliedstaaten nicht abverlangt werden, überraschende Rechtsentwicklungen vorherzusehen, mit deren Feststellung der EuGH auch in Fachkreisen für Furore gesorgt hätte. Freilich dürfte eine solche Rechtsentwicklung in der Praxis regelmäßig an irgendeinem Verhalten der EU-Organe festzumachen sein, so dass die abstrakte Feststellung einer dynamischen Rechtslage nicht notwendig sein dürfte. 4. Objektive Unsicherheit Auch das weitere Erfordernis, dass die Unsicherheit nicht nur bedeutend, sondern auch objektiv sein muss, ist von der Wortwahl nicht sonderlich geglückt. Denn wenn der Gerichtshof bei der Bestimmung des guten Glaubens gerade auf das Verhalten der Kommission abstellt, dann handelt es sich in vielen Fällen um Handlungen im bilateralen Verhältnis zwischen der Kommission und einem der Mitgliedstaaten. Die anderen Mitgliedstaaten werden hiervon oft gar nichts mitbekommen. Die möglicherweise aus dem Verhalten der Kommission resultierende Unsicherheit ist also eine rein subjektive, der gute Glaube ist für jeden Mitgliedstaat einzeln zu bewerten und kann nicht einheitlich für das Gros der Mitgliedstaaten beantwortet werden.121
118 119 120 121
EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 24/86, Blaizot, Slg. 1988, 379, Rn. 31. Vgl. Schaer, S. 109. EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 24/86, Blaizot, Slg. 1988, 379, Rn. 32. Lang, IStR 2007, 235 (238).
142
D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
Der Ausdruck „objektiv“ lässt sich vor dem Hintergrund erklären, dass der Gerichtshof lange Zeit von der Tatbestandsvoraussetzung des „guten Glaubens“ sprach, bevor er – offenbar zur Konkretisierung – den Begriff der „objektiven und bedeutenden Unsicherheit“ einführte.122 In der englischen Sprachfassung benutzt der Gerichtshof für „guten Glauben“ die Formulierung „good faith“, in der französischen Fassung „bonne foi“. Beides sind rechtliche Konzepte, die eher unserem deutschen „Treu und Glauben“ entsprechen als dem deutschen sachenrechtlichen Verständnis von Gutgläubigkeit, und die sich gerade durch die starke objektive Komponente auszeichnen.123 Gemeint ist also weniger das subjektive Wissen, sondern vielmehr die objektive Schutzwürdigkeit der Beteiligten, wobei freilich Kenntnis und Sorgfalt bei der Kenntniserlangung eine entscheidende Rolle bei der Beurteilung spielen. Es geht also nicht um eine objektive, sondern eine objektivierte Sichtweise. Entscheidend ist nicht, ob allein der betroffene Mitgliedstaat die Umstände in einer bestimmten Weise gedeutet hat (dies wäre eine rein subjektive Sichtweise) oder ob alle Mitgliedstaaten die Umstände so gedeutet haben (dies wäre eine rein objektive Sichtweise), sondern ob dies andere Mitgliedstaaten in derselben Situation genauso gemacht hätten. Diese objektivierte Sichtweise wird in der Rechtsprechung des Gerichtshofs bemerkbar, wenn er die Gutgläubigkeit durch die Frage umschreibt, ob ein Beteiligter „vernünftigerweise“ von einer bestimmten Auslegung des Unionsrechts ausgehen durfte.124 Damit wird zum einen auf die subjektive Lage des Betroffenen abgestellt, zum anderen aber auch als Korrektiv seine Rechtsauffassung einer Plausibilitätskontrolle unterworfen. 5. Maßgeblicher Zeitpunkt Der maßgebliche Zeitpunkt für das Vorliegen der Gutgläubigkeit wird in der Rechtsprechung des EuGH nicht explizit problematisiert.125 Und doch handelt es sich hierbei um einen wichtigen Punkt, da in den Fällen, in denen eine zeitliche Beschränkung beantragt wird, ein Konflikt mit dem Unionsrecht oft für einen langen Zeitraum Bestand hatte. Da sich die Rechtsauffassungen und -erkenntnisse aller Beteiligten in diesem Zeitraum durchaus wandeln können, kann die Frage, zu welchem Zeitpunkt der gute Glaube vorgelegen haben muss, von entscheidender Bedeutung sein.
122
Siehe dazu oben D. II. 1. Whittaker/Zimmermann, in: Whittaker/Zimmermann (Hrsg.), S. 30; Roth/Schubert, in: Münchener Kommentar BGB, § 242 BGB, Rn. 10. 124 EuGH, Urteil vom 17. Mai 1990, Rs. C-262/88, Barber, Slg. 1990, I-1889, Rn. 43; Urteil vom 15. Dezember 1995, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rn. 146; Urteil vom 19. Oktober 1995, Rs. C-137/94, Richardson, Slg. 1995, I-3407, Rn. 35; vgl. Huep, S. 234. 125 Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1842). 123
II. Guter Glaube bzw. objektive Unsicherheit der Rechtslage
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Wenn auch ausdrückliche Stellungnahmen des Gerichthofs zu dieser Fragestellung fehlen, so lassen sich seiner Rechtsprechung durchaus Hinweise darauf entnehmen, welchen Maßstab er intern anlegt.126 In vielen Urteilen zur zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen findet sich die Formulierung „in gutem Glauben begründete Rechtsverhältnisse“.127 Offenbar stellt der Gerichtshof also auf den Zeitpunkt ab, zu dem die einzelnen Rechtsverhältnisse, die durch sein Auslegungsurteil rückwirkend in Frage gestellt werden, begründet worden sind. „Rechtsverhältnis“ meint hier das einzelne Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten, also den Abschluss des Vertrages, den Erlass eines Steuerbescheids oder sonstigen Verwaltungsakts etc. Dafür, dass dies der entscheidende Zeitpunkt ist, spricht auch das Urteil in der Rechtssache Cadi Surgelés: In diesem Urteil, in dem es wie in der Rechtssache Legros128 um den „octroi de mer“ sowie um damit verbundene Zusatzabgaben ging, beschränkte der Gerichtshof die Möglichkeit der Betroffenen, Abgaben zurückzuverlangen, die bis zum Urteil Legros erhoben worden waren.129 Für den Zeitraum nach Legros hingegen nahm er keine Urteilsbeschränkung vor, da hier die französische Regierung nicht mehr davon ausgehen durfte, dass die in Rede stehenden Abgaben mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar seien.130 Auf den Zeitpunkt der jeweiligen Begründung der Rechtsverhältnisse abzustellen, erscheint auch einzig sachgerecht.131 Denn was wären die Alternativen? Man stelle sich einen Zeitstrahl vor, bei dem irgendwann in der Vergangenheit ein nationales Gesetz oder eine nationale (staatliche oder private) Rechtspraxis erstmals mit dem Unionsrecht kollidiert. Diese Kollision setzt sich auf dem Zeitstrahl fort, bis sie spätestens durch das Vorabentscheidungsurteil, vielleicht aber auch früher durch Einsicht der nationalen Beteiligten, abgestellt wird. Irgendwo auf diesem Zeitstrahl zwischen erstmaliger Kollision und Urteil des Gerichtshofs muss der maßgebliche Zeitpunkt für die Feststellung des guten Glaubens liegen.
126
Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1842). EuGH, Urteil vom 27. März 1980, verb. Rs. 66/79, 127/79 u. 128/79, Salumi, Slg. 1980, 1237, Rn. 10; Urteil vom 27. März 1980, Rs. 61/79, Denkavit Italiana, Slg. 1980, S. 1205, Rn. 17; Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 24/86, Blaizot, Slg. 1988, 379, Rn. 28; Urteil vom 4. Mai 1999, Rs. C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685, Rn. 108; Urteil vom 14. September 2006, Rs. C-228/05, Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391, Rn. 72. 128 EuGH, Urteil vom 16. Juli 1992, Rs. C-163/90, Legros, Slg. 1992, I-4625, siehe Darstellung oben C. II. 1. i). 129 EuGH, Urteil vom 7. November 1996, Rs. C-126/94, Cadi Surgelés, Slg. 1996, I-5647, Rn. 33. 130 EuGH, Urteil vom 7. November 1996, Rs. C-126/94, Cadi Surgelés, Slg. 1996, I-5647, Rn. 34; ebenfalls EuGH, Urteil vom 9. August 1994, verb. Rs. C-363/93, C-408/93 bis C-411/93, Lancry, Slg. 1994, I-3957, Rn. 45; Urteil vom 15. September 1995, verb. Rs. C-485/93 und C-486/93, Simitzi, Slg. 1995, I-2655. 131 Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1842). 127
144
D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
Das eine Extrem wäre, auf den Zeitpunkt der erstmaligen Kollision, typischerweise das Inkrafttreten eines nationalen oder unionsrechtlichen Rechtsaktes, abzustellen. Die Ergebnisse wären absurd: Anfänglicher guter Glaube wäre dann die „Carte Blanche“ für alle darauf folgenden Zeiträume. Denn selbst wenn ein Mitgliedstaat zu dem Zeitpunkt, zu dem die Kollision einsetzte, noch nichts von der Unvereinbarkeit gemerkt haben sollte, so hätten seine Gerichte und Behörden doch nichtsdestotrotz die Pflicht, bei später einsetzender Bösgläubigkeit, zum Beispiel aufgrund eines Schreibens der Kommission an die Regierung, das unionswidrige nationale Recht fortan nicht mehr anzuwenden.132 Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb diese Wertung nicht auch im Rahmen der Frage Gültigkeit beanspruchen sollte, ob die zeitlichen Wirkungen des Urteils zu beschränken sind. Aus ähnlichen Gründen wäre es widersinnig, für die Gutgläubigkeit auf den Zeitpunkt des Urteils abzustellen. Zum einen dürfte der Gang der Verhandlung vor dem Gerichtshof, insbesondere die Schlussanträge des Generalanwalts, dem Mitgliedstaat bereits vor Augen geführt haben, dass durchaus unionsrechtliche Bedenken bestehen, und ihn damit seiner Gutgläubigkeit beraubt haben. Somit könnte strenggenommen ein Beteiligter zum Zeitpunkt des Urteils ohnehin gar nicht mehr gutgläubig sein. Zum anderen würde dies die Mitgliedstaaten unangemessen benachteiligen – in spiegelbildlicher Entsprechung zu den soeben genannten Problemen, wenn man auf den Zeitpunkt der Schaffung eines Rechtsaktes abstellt: Sollte ein anfänglich gutgläubiger Mitgliedstaat später auf den Rechtskonflikt aufmerksam geworden sein, vielleicht sogar reagiert haben und die Anwendung ausgesetzt oder womöglich das unionsrechtswidrige Gesetz abgeschafft haben, so würde ihm dies auch für den gesamten Zeitraum schaden, während dessen er gutgläubig gewesen ist, da er zum einzig und allein entscheidenden Zeitpunkt des Urteils nicht mehr gutgläubig war.133 Auch das erscheint nicht sachgerecht. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Frage, ob ein Beteiligter hinsichtlich der Vereinbarkeit seines Handelns mit dem Unionsrecht gutgläubig war, nicht zwangsläufig mit einem klaren „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden kann oder muss. Die Antwort kann auch durchaus ein „teils – teils“ sein, weil Gutgläubigkeit anfangs vorlag, später aber wegfiel. In diesen Fällen von gutgläubigen und bösgläubigen Zeiträumen stellt sich automatisch die Frage, für welchen Zeitraum eine Beschränkung der Urteilswirkungen überhaupt vorzunehmen ist. Sinnvollerweise kann eine solche Beschränkung nur den Zeitraum vor Eintritt der Bösgläubigkeit erfassen. Auf diese Frage soll im folgenden Abschnitt bei der Betrachtung der Rechtsfolgen noch näher eingegangen werden. 132 EuGH, Urteil vom 22. Juni 1989, Rs. 103/88, Fratelli Constanzo, Slg. 1989, 1839, Rn. 33. 133 Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1842).
II. Guter Glaube bzw. objektive Unsicherheit der Rechtslage
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6. Kritik am Tatbestandsmerkmal „Guter Glaube“ Das Erfordernis des guten Glaubens ist in der Literatur teilweise heftig kritisiert worden. Der Gerichtshof berücksichtige nicht hinreichend die finanziellen Interessen der Mitgliedstaaten, indem er selbst bei der Gefahr katastrophaler finanzieller Auswirkungen auf der Erfüllung der zweiten Tatbestandsvoraussetzung beharre.134 In derartigen Fällen sei zumindest eine weite Auslegung des Vertrauenstatbestandes angemessen.135 Gerne wird hier auf die Praxis nationaler Verfassungsgerichte, insbesondere des deutschen BVerfG, verwiesen, die die fiskalen Nöte ihrer Regierungen besser zu würdigen wüssten.136 Eine zeitliche Beschränkung allein aufgrund der finanziellen Folgen hätte jedoch zur Wirkung, dass tendenziell die schwersten Verstöße gegen das Unionsrecht die besten Aussichten hätten, ohne Konsequenzen für die Migliedstaaten zu bleiben. Schon aus diesem Grunde ist die zweite Tatbestandsvoraussetzung ein unverzichtbares Korrektiv.137 Die Mitgliedstaaten sind im Übrigen keineswegs so ohnmächtig gegenüber der Auslegungsgewalt des Gerichtshofs, wie es die Kritik am Erfordernis des guten Glaubens gerne darstellt. Zum einen hat derjenige Mitgliedstaat, der wirklich keinerlei Anlass zu Zweifeln an der Vereinbarkeit seiner Rechtsordnung mit dem Unionsrecht hatte, nichts zu befürchten: Ihm sollte das Merkmal „guter Glaube“ nicht im Weg stehen. Bestanden aber Zweifel, dann darf von den Mitgliedstaaten erwartet werden, dass sie sich mit der Kommission in Verbindung setzen.138 Wenn diese dann die Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht bestätigt, schützt das zwar auch nicht hundertprozentig vor Unionsrechtsverstößen, denn auch die Kommission irrt zuweilen, wie einige der bereits dargelegten Fälle gezeigt haben.139 Zumindest sollte aber die Äußerung der Kommission den Gerichtshof dazu bewegen, die Gutgläubigkeit zu bejahen – das Verhalten der Kommission scheint schließlich nach wie vor das wichtigste Indiz im Rahmen dieser Tatbestandsvoraussetzung zu sein. Sollte hingegen die Kommission bei ihrer Prüfung zu dem Ergebnis kommen, dass das nationale Recht mit dem Unionsrecht unvereinbar ist, dann täte der Mitgliedstaat besser, diesem Votum zu folgen. Beharrt er weiter auf seiner Überzeugung von der Vereinbarkeit, so geschieht das auf eigenes Risiko.
134 Schwarze, NJW 2005, 3459 (3464 f.); ders., Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn. 739 ff. (freilich mit der Einschränkung, dass dies kein Freibrief für die Mitgliedstaaten sein solle); Tiedtke/Mohr, EuZW 2008, 424 (427). 135 Albath/Wunderlich, EWS 2006, 205 (210). 136 Tiedtke/Mohr, EuZW 2008, 424 (426 f.); Steinberg/Bark, EuZW 2007, 243 (246); Schwarze, NJW 2005, 3459 (3464 f.). 137 Kokott/Henze, NJW 2006, 177 (180). 138 Kokott/Henze, NJW 2006, 177 (180); siehe bereits oben D. II. 3. b). 139 Vgl. EuGH, Urteil vom 9. März 2000, Rs. C-437/97, Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, I-1157, Rn. 56.
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D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
III. Zum Verhältnis der beiden Tatbestandsvoraussetzungen Der EuGH betont in seinen Urteilen geradezu mantraartig, dass allein die finanziellen Auswirkungen einer Entscheidung eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen nicht begründen könnten.140 Das leuchtet ein, weil ansonsten die Mitgliedstaaten gerade bei besonders gravierenden Verstößen gegen das Unionsrecht eine gute Aussicht auf eine zeitliche Beschränkung hätten.141 Auf der anderen Seite reicht es allerdings auch nicht aus, dass ein Mitgliedstaat gutgläubig auf eine falsche Auslegung des Unionsrechts vertraut hat. Mit anderen Worten: Die beiden Tatbestandsvoraussetzungen müssen zwingend kumulativ vorliegen.142 Dies hat der EuGH anfangs noch nicht in dieser Deutlichkeit ausgesprochen, in seiner jüngeren Rechtsprechung nun aber auch ausdrücklich festgestellt.143 Wenn der Gerichtshof ausgerechnet die Bedeutung der finanziellen Auswirkungen so demonstrativ herunterspielt, obwohl er das genauso gut mit der zweiten Tatbestandsvoraussetzung tun könnte, dann ist dies wohl dem Umstand geschuldet, dass die Mitgliedstaaten die finanziellen Auswirkungen gerne als Druckmittel einsetzen, auch wenn die Rechtslage eigentlich klar war, während der umgekehrte Fall, dass die Mitgliedstaaten bei wirtschaftlich unbedeutenden Fällen ihre Gutgläubigkeit als „moralisches Druckmittel“ einsetzen, wohl bisher nicht vorgekommen ist. Im Hinblick auf die wirtschaftlichen Folgen haben die Verfahren vor dem Gerichtshof in der Vergangenheit hingegen gezeigt, dass die Aufregung bei den Mitgliedstaaten groß ist, wenn sie sich mit einer unionsrechtlich riskanten Rechtsnorm verkalkuliert haben. Insofern ist es nur zu verständlich, wenn der Gerichtshof in seinen Urteilen noch einmal eine ausdrückliche Warnung an die Mitgliedstaaten schickt, auch wenn dieser dogmatisch keine gesonderte Funktion zukommt.
140 Siehe zum Beispiel EuGH, Urteil vom 29. Juli 2010, Rs. C-577/08, Rijksdienst voor Pensioenen, Slg. 2010, I-7485, Rn. 34; Urteil vom 15. März 2005, Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119, Rn. 68; Urteil vom 20. September 2001, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rn. 52; Urteil vom 23. Mai 2000, Rs. C-104/98, Buchner, Slg. 2000, I-3625, Rn. 41; Urteil vom 13. Februar 1996, verb. Rs. C-197/94 und C-252/ 94, Société Bautiaa, Slg. 1996, I-505, Rn. 55, um nur einige wenige zu nennen. 141 Waldhoff, S. 43; Klappstein, S. 203, S. 206; vgl. auch Dörr, Der Konzern 2006, 59 (64). 142 Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1841); Weiß, EuR 1995, 377 (389); siehe auch van der Stok/Thomson, Intertax 2006, 552 (558). 143 EuGH, Urteil vom 11. August 1995, verb. Rs. C-367/93 bis C-377/99, Roders, Slg. 1995, I-2229, Rn. 43; Urteil vom 5. Oktober 2006, verb. Rs. C-290/05 u. C-333/ 05, Ákos Nádasdi, Slg. 2006, I-10115, Rn. 63; Urteil vom 18. Januar 2007, Rs. C-313/ 05, Maciej Brzezin´ski, Slg. 2007, I-513, Rn. 56; Urteil vom 12. Februar 2009, Rs. C138/07, Cobelfret, Slg. 2009, I-731, Rn. 68; besonders deutlich: Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge vom 22. Mai 2008, Rs. C-427/06, Bartsch, Slg. 2008, I-7245, Rn. 127.
IV. Abweichende Auffassungen zu den Tatbestandsvoraussetzungen
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IV. Abweichende Auffassungen zu den Tatbestandsvoraussetzungen Zum Teil wird die erste Tatbestandsvoraussetzung des Gerichtshofs in der Literatur dahingehend wiedergegeben, dass „zwingende Gründe der Rechtssicherheit“ betroffen sein müssten.144 Diese Formulierung findet sich in der Tat in zahlreichen Urteilen des Gerichtshofs.145 Obwohl man sie durchaus als unbestimmten Rechtsbegriff einordnen könnte, verwendet der EuGH sie nicht als Tatbestandsvoraussetzung. Vielmehr prüft der Gerichtshof die einzelnen Voraussetzungen und stellt dann, wenn sie alle vorliegen, fest, dass „unter diesen Umständen [. . .] zwingende Gründe der Rechtssicherheit aus[schließen]“,146 dass vergangene Rechtsverhältnisse in Frage gestellt werden. Die hier verwendeten Tatbestandsmerkmale sind also Konkretisierungen des abstrakteren unbestimmten Rechtsbegriffs „zwingende Gründe der Rechtssicherheit“;147 sofern sich diese Konkretisierungen bejahen lassen, ist eine zusätzliche Befassung mit dem übergeordneten Begriff nicht mehr erforderlich. Ebenfalls keine vom Gerichtshof zu prüfende Tatbestandsvoraussetzung ist, ob sich das von dem Urteil betroffene Rechtsverhältnis erschöpft hat.148 Auch hier ist zuzugeben, dass sich dieser Begriff im Zusammenhang mit der Beschränkung der zeitlichen Wirkungen in der Rechtsprechung des EuGH findet.149 Damit wird allerdings nur der Rechtsgrund der zeitlichen Beschränkung sowie zugleich ihr maximaler Anwendungsbereich abgesteckt: Ein schutzwürdiges Vertrauen darauf, dass ein Rechtsverhältnis nicht rückwirkend in Frage gestellt wird, können die Beteiligten nur bei bereits abgeschlossenen, erschöpften Rechtsverhältnissen bilden; nur in diesen Fällen ist die Rechtssicherheit beeinträchtigt. Bei Rechtsverhältnissen, die zwar in der Vergangenheit begonnen haben, aber in der Gegenwart noch andauern, besteht ein solches schutzwürdiges Vertrauen nicht – hier zeigt sich deutlich die Ähnlichkeit der Fragestellung zur Rückwirkung von Gesetzen.150 Auf letztere Rechtsverhältnisse wirkt sich das Vorabentscheidungsur144
Lindemann/Hackemann, IStR 2005, 786 (788). Siehe zum Beispiel EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 74/75; Urteil vom 17. Mai 1990, Rs. C-262/88, Barber, Slg. 1990, I-1889, Rn. 44; Urteil vom 30. April 1996, Rs. C-308/93, Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097, Rn. 47. 146 EuGH, Urteil vom 17. Mai 1990, Rs. C-262/88, Barber, Slg. 1990, I-1889, Rn. 44. 147 Ähnlich Huep, S. 72. 148 So aber Lindemann/Hackemann, IStR 2005, 768 (788). 149 So bereits im zitierten Urteil des EuGH vom 17. Mai 1990, Rs. C-262/88, Barber, Slg. 1990, I-1889, Rn. 44; außerdem EuGH, Urteil vom15. Dezember 1995, Rs. C415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rn. 144; Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. C-24/86, Blaizot, Slg. 1988, 379, Rn. 34. 150 Siehe dazu Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR II, § 26, Rn. 86. 145
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D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
teil daher in jedem Fall aus. Daher muss in der Tat bei jedem konkreten Rechtsverhältnis geprüft werden, ob es sich bereits erschöpft hat oder nicht – allerdings nicht vom EuGH, sondern von dem nationalen Gericht, vor dem dieses Rechtsverhältnis in Frage gestellt wird (ebenso, wie auch das nationale Gericht prüfen muss, ob die Voraussetzungen einer Rückausnahme vorliegen oder nicht). Das „erschöpfte Rechtsverhältnis“ ist daher nicht Voraussetzung der Anordnung einer zeitlichen Beschränkung, sondern Voraussetzung dafür, dass ein konkreter Einzelfall – zu Lasten des an und für sich Anspruchsberechtigten – der vom Gerichtshof angeordneten Beschränkung unterfällt.
V. Darlegungs- und Beweislast 1. Beibringungsgrundsatz und Darlegungslast Das Verfahren vor dem EuGH ist durch ein Nebeneinander von Beibringungsund Untersuchungsgrundsatz gekennzeichnet.151 Welcher Grundsatz Anwendung findet, steht im Ermessen des Gerichtshofs.152 Nur sofern der Gerichtshof nach dem Beibringungsgrundsatz vorgeht, trifft die Parteien eine Darlegungslast für die ihnen günstigen Tatsachen.153 In Vorabentscheidungsverfahren stellen sich Fragen der Beweislast ohnehin nur ausnahmsweise, da hier die Klärung der vom nationalen Gericht vorgelegten Rechtsfragen im Vordergrund steht.154 Ein solcher Ausnahmefall liegt allerdings vor, wenn der Gerichtshof zur zeitlichen Beschränkung der Wirkungen des Urteils Stellung nehmen soll. Dann sind Tatsachenangaben und gegebenenfalls Beweisangebote notwendig. Die Tatbestandsvoraussetzungen für die Beschränkungen erfordern nämlich tatsächliche Feststellungen, da die relevanten Sachverhaltsumstände im Ausgangsverfahren noch gar nicht zur Debatte standen und daher erstmals geklärt werden müssen. Sobald also eine Beschränkung der zeitlichen Wirkung im Raum steht, stellt sich auch in einem Vorabentscheidungsverfahren die Frage, ob nach Beibringungs- oder Amtsermittlungsgrundsatz vorzugehen ist. Diese Grundsätze stehen zwar nebeneinander, es gibt jedoch ein Regel-Ausnahmeverhältnis: Regelmäßig geht der Gerichtshof vom Beibringungsgrundsatz aus und stellt nur ergänzend eigene Nachforschungen an.155 Auch bei den Urteilen zur zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen geht der Gerichtshof offensichtlich vom Beibringungsgrundsatz aus. Dafür spricht der 151 Hackspiel, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), § 24, Rn. 1; Berger, in: FS Schumann, S. 31. 152 Baumhof, S. 26 mwN. 153 Baumhof, S. 29. 154 Berger, in: FS Schumann, S. 28. 155 Berger, in: FS Schumann, S. 31.
V. Darlegungs- und Beweislast
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Umstand, dass Gerichtshof und Generalanwälte in einigen Verfahren darauf abgestellt haben, dass das Vorbringen eines Mitgliedstaats zum Nachweis der Tatbestandsvoraussetzungen unwidersprochen geblieben sei.156 Gerade diese Praxis ist allerdings sehr kritisch zu sehen.157 Denn das Schweigen der anderen Beteiligten hat in den betreffenden Fällen nur wenig Aussagekraft. Erstens wäre es den übrigen Beteiligten in der Regel schon gar nicht möglich, etwas auf die Behauptungen einer mitgliedstaatlichen Regierung zu den schweren wirtschaftlichen Folgen zu erwidern. Wie soll ein einfacher Steuerzahler, dessen Steuerrückforderung gegen das Finanzamt Pinneberg vor dem EuGH in Luxemburg gelandet ist, eine Aussage dazu treffen können, wie vielen anderen Steuerrückforderungen in welcher Gesamthöhe sich der Staat ausgesetzt sieht?158 Wie soll ein Arbeitnehmer die Gesamtkosten einer rückwirkenden Gleichbehandlung für seinen und alle vergleichbaren Arbeitgeber abschätzen können? Zweitens haben die übrigen Beteiligten kein besonders ausgeprägtes Interesse, einem Antrag auf zeitliche Beschränkung zu widersprechen. Denn der Gerichtshof nimmt die Klägerinnen und Kläger des Ausgangsverfahrens (und alle, die sich sonst bereits um die Verfolgung ihrer Rechte gekümmert haben) ohnehin traditionell von der zeitlichen Beschränkung aus.159 Ein Widerspruch gegen das Vorbringen der Antragsteller würde nur denjenigen helfen, die sich bisher nicht um die Verfolgung ihrer Rechte gekümmert haben. Die Solidarität der Kläger des Ausgangsverfahrens mit diesen Betroffenen dürfte sich jedoch in Grenzen halten.160 Diese letztendlich als einzige von dem Urteil aufgrund der zeitlichen Beschränkung nachteilig Betroffenen haben vor dem Gerichtshof daher überhaupt keine Lobby – ihre Interessen werden von niemandem, in Einzelfällen vielleicht höchstens von der Kommission, vertreten.161 Ausgehend vom Beibringungsgrundsatz nimmt der Gerichtshof konsequenterweise eine Darlegungslast der Antragsteller hinsichtlich des Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen an.162 Dies findet insbesondere darin seinen Ausdruck, 156 Z. B. EuGH, Urteil vom 9. März 2000, Rs. C-437/97, Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, I-1157, Rn. 56; Generalanwalt Tizzano, Schlussanträge vom 10. November 2005, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835; Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 156. 157 Thömmes, IWB 2005, Fach IIa, 927 (930); Lang, IStR 2007, 235 (237); ders., Intertax 2007, 230 (241); siehe auch van der Stok/Thomson, Intertax 2006, 552 (558). 158 Lang, IStR 2007, 235 (242); Schaer, S. 79. 159 Lang, IStR 2007, 235 (241). Siehe dazu ausführlich unten E. IV. 160 Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die klagende Banca Popolare di Cremona „keine grundsätzlichen Einwände gegen die Festsetzung einer zeitlichen Beschränkung“ hatte, wie Generalanwältin Stix-Hackl bemerkt, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 154. 161 Van der Stok/Thomson, Intertax 2006, 552 (558). 162 Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 5. Oktober 2006, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 36; Steinberg/Bark, EuZW 2007, 245 (246); Wied-
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D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
dass der Gerichtshof in mehreren Entscheidungen die zeitliche Beschränkung unter Hinweis auf mangelndes Vorbringen eines antragstellenden Mitgliedstaates abgelehnt hat. Dabei legt der Gerichtshof allerdings sehr unterschiedliche Maßstäbe an, was die Schlüssigkeit des Vortrags angeht. Gegenüber Mitgliedstaaten tendiert der Gerichtshof zu strengen Anforderungen.163 So lehnte er im Fall Bidar die zeitliche Beschränkung ab, da es genüge festzustellen, dass die Angaben der antragstellenden Regierungen nicht geeignet seien, ihre Argumentation zu unterstützen, denn die von ihnen gelieferten Zahlen beträfen auch Fälle, die nicht mit dem Ausgangsfall vergleichbar seien.164 In einer weiteren Entscheidung wies der Gerichtshof darauf hin, es sei Aufgabe des Antragstellers zu erläutern, auf welcher Grundlage er zu der angegebenen Höhe der wirtschaftlichen Folgen komme, anderenfalls könne er den Antrag aufgrund unzureichender Angaben überhaupt nicht überprüfen.165 In anderen Fällen zeigte sich der Gerichtshof den Mitgliedstaaten gegenüber wiederum eher milde: So beschränkte er die zeitliche Wirkung im Urteil Sürül mit dem pauschalen Hinweis darauf, dass die Infragestellung alter Rechtsverhältnisse die „Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten rückwirkend erschüttern“ würde,166 obwohl ihm, wie der Generalanwalt in seinen ersten Schlussanträgen feststellte, gar keine konkreten Angaben hierzu vorlagen.167 Auch in einem weiteren Verfahren beschränkte der Gerichtshof die Urteilsfolgen, obwohl die Regierungen der Mitgliedstaaten, die Erklärungen eingereicht hatten, nicht in der Lage gewesen waren, die finanziellen Folgen des Urteils „auch nur annähernd abzuschätzen“.168 In Vorabentscheidungsverfahren, in denen der Beschränkungsantrag von (oder zugunsten von) Privaten gestellt wird, scheint der Gerichtshof generell keine hohen Anforderungen an den Tatsachenvortrag zu stellen.169 Der eher vage Hinweis der Fußballverbände UEFA und URBSFA auf die „schwerwiegenden Folgen für die Organisation des Fußballs insgesamt“ wurde in der Bosman-Entscheidung jedenfalls nicht vom Gerichtshof beanstandet. Und in Defrenne II reichte der Hinweis auf die „Unbekanntheit des Gesamtbetrags der in Betracht kommenden Entgelte“ aus.170 mann, EuZW 2007, 692 (693); siehe auch Lang, Intertax 2007, 230 (239); Kokott/ Henze, NJW 2006, 177 (182). 163 Lang, IStR 2007, 235 (242). 164 EuGH, Urteil vom 14. März 2005, Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119, Rn. 70. 165 EuGH, Urteil vom 13. März 2007, Rs. C-524/04, Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107, Rn. 130, 132. 166 EuGH, Urteil vom 4. Mai 1999, Rs. C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685, Rn. 111. 167 Generalanwalt La Pergola, Schlussanträge vom 12. Februar 1998, Rs. C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685, Rn. 67. 168 EuGH, Urteil vom 30. April 1996, Rs. C-308/93, Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097, Rn. 47. 169 Lang, IStR 2007, 235 (242); vgl. auch ders., Intertax 2007, 230 (233).
V. Darlegungs- und Beweislast
151
Dem Gerichtshof ist darin beizupflichten, dass Beteiligte, insbesondere Regierungen der Mitgliedstaaten, detailliert zu Voraussetzungen für eine zeitliche Beschränkung vortragen müssen, wenn sie eine solche vorschlagen.171 Daher müssen die Antragsteller die Umstände darlegen, aus denen sich der gute Glaube ergeben soll, und sie müssen die Zahlen liefern, aus denen die Gefahr schwerwiegender Folgen deutlich wird. Sie tragen auch die Verantwortung dafür, dass ihre Zahlen nicht durch zu pessimistische Annahmen oder die nachlässige Einbeziehung von Fällen, die durch das Urteil überhaupt nicht betroffen werden, übertrieben hoch sind. Es erscheint auch angemessen, wenn der Gerichtshof unterschiedlich strenge Maßstäbe für Mitgliedstaaten und private Antragsteller aufstellt. Denn die Mitgliedstaaten haben in der Regel einen leichteren Zugang zu den einschlägigen Daten.172 Auf der anderen Seite sollte man auch den Privaten gegenüber nicht gänzlich auf das Darlegungserfordernis verzichten. Große Unternehmen und Verbände sollten durchaus in der Lage sein, belastbares Zahlenmaterial beizusteuern. Wichtig ist jedenfalls, dass der Gerichtshof sich auf einen oder, wenn er Staaten und Private weiterhin unterschiedlich behandeln will, zwei verschiedene Maßstäbe festlegt und diese dann konsequent anwendet.173 Dies erfordern die Rechtssicherheit, der Grundsatz der Waffengleichheit vor Gericht174 und der Grundsatz rechtlichen Gehörs.175 Die Beteiligten müssen wissen, was von ihnen erwartet wird, sie dürfen nicht durch unvorhersehbar hohe Anforderungen an ihre Beweisführung überrascht werden. Wieso sollte ein Mitgliedstaat, der sieht, dass andere Staaten mit vergleichsweise pauschalen Behauptungen beim Gerichtshof durchdringen, sich die Mühe machen und das Geld aufwenden, um penibel die zu befürchtenden wirtschaftlichen Folgen einer Entscheidung nachzuweisen? Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass die Anforderungen an die Mitgliedstaaten, auch wenn diese in der Regel leichteren Zugang zu Datenmaterial haben, nicht überzogen hoch sein dürfen.176 Zu weit ging der Gerichtshof daher in der Entscheidung Test Claimants in the FII Group Litigation.177 Hier wurde der Antrag unter Verweis darauf abgelehnt, dass die Regierung des Vereinigten 170 EuGH, Urteil vom 15. Dezember 1995, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rn. 139; Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 74/75, siehe auch Lang, IStR 2007, 235 (242). 171 Siehe auch Generalanwalt Geelhoed, Schlussanträge vom 6. April 2006, Rs. C446/04, Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753, Rn. 143. 172 Kokott/Henze, NJW 2006, 177 (182). 173 Vgl. zur ähnlichen Frage des Abstraktionsniveaus Lang, IStR 2007, 235 (239). 174 Vgl. Hackspiel, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), § 21, Rn. 20. 175 Vgl. Hackspiel, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), § 21, Rn. 21. 176 Lang, IStR 2007, 235 (237); ders., Intertax 2007, 230 (241). 177 EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2006, Rs. C-446/04, Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753.
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D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
Königreichs ihrer Berechnung der wirtschaftlichen Folgen die Annahme zugrundegelegt habe, alle Vorlagefragen (derer gab es neun mit zahlreichen Unterfragen) würden im Sinne der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens beantwortet werden. Da sich diese Annahme nicht bewahrheitet habe, seien die Zahlen gewissermaßen nutzlos für den Gerichtshof und der Vortrag daher unerheblich.178 Hier befindet sich der Mitgliedstaat in einem unlösbaren Dilemma: Auf der einen Seite muss er rechtzeitig die Tatsachen zur Gefahr der schwerwiegenden Folgen des Urteils vortragen, auf der anderen Seite weiß er noch gar nicht, wie dieses Urteil im Einzelnen aussehen wird. Natürlich kann der Mitgliedstaat versuchen, die Folgen für jede Frage einzeln zu berechnen, damit der Gerichtshof am Ende selbst die Gesamtsumme der Folgen anhand seiner Antworten berechnen kann. Dies geht jedoch nicht mehr, wenn die Fragen inhaltlich miteinander verwoben und in ihren Folgen voneinander abhängig sind, oder wenn die genauen Folgen des EuGH-Urteils noch von innerstaatlichen Gerichten geklärt werden müssen.179 Den Mitgliedstaaten ist kaum zuzumuten, die ohnehin schon schwierige Folgenerforschung und -berechnung für jede denkbare Antwortenkombination einzeln durchzuführen.180 Dieses Dilemma, dass die Folgenberechnung vor dem Erlass des Urteils vorliegen muss, lässt sich im Rahmen der derzeitigen Prozesspraxis nicht vollständig lösen. Jedenfalls kann von den Mitgliedstaaten nicht mehr verlangt werden, als dass sie eine detaillierte und nachvollziehbare Rechnung abliefern. Aus dieser muss sich der Gerichtshof dann selbst die zu seinen Antworten passenden Zahlen herausfiltern; notfalls bleibt ihm immer noch die Möglichkeit, die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen, um zu einzelnen Fragen der Berechnung nähere Informationen einzuholen. Vollständig befriedigen kann diese Vorgehensweise allerdings nicht. Hier wäre eine komplett neue prozessuale Herangehensweise zu empfehlen.181 2. Beweislast Die Darlegungs- und die Beweislast, so wie sie das deutsche Zivilprozessrecht kennt, lassen sich bei der vorliegenden Fragestellung nur schwer voneinander trennen. Das zeigt sich in besonderem Maße an der Tatbestandsvoraussetzung „schwere wirtschaftliche Folgen“: Die „Beweise“, die die Beteiligten zur Stützung der These vorlegen, dass schwere wirtschaftliche Folgen zu befürchten seien, sind in der Regel Berechnungen der mitgliedstaatlichen Regierungen, die sie eigens für das Vorabentscheidungsverfahren mit seiner spezifischen Fragestellung erstellt haben. Sachvortrag und Beweis desselben verschmelzen also mit178 EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2006, Rs. C-446/04, Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753, Rn. 224. 179 Lang, IStR 2007, 235 (236). 180 Lang, IStR 2007, 235 (237). 181 Siehe dazu unten H. IV.
VI. Antrag auf Begrenzung der Urteilsfolgen
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einander; letztlich kommt es darauf an, dass die von den Mitgliedstaaten behauptete Höhe der Kosten im Folgenden plausibel dargelegt werden kann, möglicherweise unterstützt durch das eine oder andere amtliche Dokument. Nur in Einzelfällen scheint der Gerichtshof zwischen den beiden Ebenen zu unterscheiden, wenn er zum Beispiel im Fall Stradasfalti bemerkt, dass es der italienischen Regierung nicht gelungen sei, die Verlässlichkeit ihrer Berechnung „nachzuweisen“.182 Ansonsten scheint sich der Gerichtshof weniger um Beweise im engeren Sinne (z. B. durch umfangreiche amtliche Statistiken, Akten der nationalen Behörden zu Beispielsfällen oder auch Zeugenvernehmungen von Regierungsbeamten) zu kümmern und die Beweisaufnahme durch eine Plausibilitätsprüfung der ihm vorgelegten Berechnungen zu ersetzen.
VI. Antrag auf Begrenzung der Urteilsfolgen In den bisher entschiedenen Fällen wurde der Gerichtshof durch einen der Beteiligten, typischerweise einen Mitgliedstaat, in irgendeiner Form ersucht, die zeitlichen Wirkungen des Urteils zu beschränken. Eine Ausnahme bildet logischerweise das Verfahren in der Rechtssache Defrenne II: Hier konnte ein solcher Antrag noch gar nicht vorliegen, da der Gerichtshof das Institut der zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen erst noch erfinden musste. Nichtsdestotrotz haben die Regierungen des Vereinigten Königreichs und Irlands in diesem Verfahren auf die befürchteten Folgen des Urteils hingewiesen, wohl aber eher in der Hoffnung, dadurch die Sachentscheidung des Gerichtshofs zu den eigentlichen Vorlagefragen zu beeinflussen, also gewissermaßen einen Schritt früher anzusetzen. Inwiefern eine zeitliche Begrenzung der Urteilsfolgen einen entsprechenden Antrag zumindest eines der Beteiligten auch tatsächlich voraussetzt, und welche Form ein derartiger Antrag haben muss, ist noch weitgehend ungeklärt. Dieser Frage soll im Folgenden weiter nachgegangen werden. 1. Allgemeines Welche Aktivität von den Beteiligten verlangt wird, um eine Befassung des Gerichtshofs mit der Frage herbeizuführen, ob die Voraussetzungen für eine zeitliche Beschränkung vorliegen, lässt sich der Rechtsprechung des EuGH nur vage entnehmen. In einigen Urteilen ist nur von einem „Hinweis“ der Beteiligten auf die Möglichkeit der zeitlichen Beschränkung die Rede,183 während der Gerichts182 EuGH, Urteil vom 14. September 2006, Rs. C-228/05, Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391, Rn. 76. 183 EuGH, Urteil vom 16. Juli 1992, Rs. C-163/90, Legros, Slg. 1992, I-4625, Rn. 28; Urteil vom 15. Dezember 1995, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921,
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D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
hof in den meisten Urteilen in seinen Entscheidungsgründen von einem „Antrag“ 184 oder einem „Ersuchen“ 185 an den Gerichtshof spricht. Einen inhaltlichen Unterschied macht der Gerichtshof hier jedoch nicht – vielmehr spricht er auch in den Urteilen, in denen ein Mitgliedstaat auf die Möglichkeit der Beschränkung „hingewiesen“ habe, im Folgenden von der „Begründung des Antrags“. (Die Wortwahl entbehrt allerdings nicht einer gewissen Komik, wenn der Gerichtshof ausgerechnet im Fall Meilicke, in dem die Bundesregierung monatelang energisch um eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen gekämpft hatte, in seinem Urteil ausführt, die Regierung habe in ihren Erklärungen diese Möglichkeit „angesprochen“.186 Ganz so beiläufig wurde dieses Ersuchen sicher nicht in den Prozess eingebracht.) Der Grund für diese unterschiedliche Wortwahl wird erst deutlich, wenn man sich die Behandlung der Anträge der unterschiedlichen Beteiligten näher ansieht. 2. Antragstellung durch Mitgliedstaaten Typischerweise wird ein Antrag auf zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen von der Regierung eines oder den Regierungen mehrerer Mitgliedstaaten gestellt.187 Dies liegt insbesondere in den Fällen auf der Hand, in denen massive Steuerrückzahlungen und dementsprechende Haushaltslöcher zu befürchten sind.188 Aber bereits der Fall Defrenne II zeigt, dass mitgliedstaatliche Regierungen auch als Vertreter der Interessen heimischer Unternehmen auftreten können. Das ist insofern von Bedeutung, als neben den EU-Institutionen nur die Regierungen der Mitgliedstaaten und die Parteien des Ausgangsverfahrens schriftliche Rn. 140; Urteil vom 9. März 2000, Rs. C-437/97, Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, I-1157, Rn. 55; Urteil vom 23. Mai 2000, Rs. C-104/98, Buchner, Slg. 2000, I-3625, Rn. 37; Urteil vom 14. September 2006, Rs. C-228/05, Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391, Rn. 70; ähnlich: EuGH, Urteil vom 6. März 2007, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 32: „Möglichkeit angesprochen“. 184 EuGH, Urteil vom 13. Februar 1996, verb. Rs. C-197/94 und C-252/94, Société Bautiaa, Slg. 1996, I-505, Rn. 45; Urteil vom 12. Oktober 2000, Rs. C-372/98, Cooke, Slg. 2000, I-8683, Rn. 39; Urteil vom 20. September 2001, Rs. C-194/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rn. 48; Urteil vom 15. März 2005, Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119, Rn. 65; Urteil vom 10. Januar 2006, Rs. C-402/03, Skov, Slg. 2006, I-199, Rn. 49; Urteil vom 30. März 2006, Rs. C-184/04, Uudenkaupungin kaupunki, Slg. 2006, I-3039, Rn. 52; Urteil vom 5. Oktober 2006, verb. Rs. C-290/05 u. 333/05, Ákos Nádasdi, Slg. 2006, I-10115, Rn. 61; Urteil vom 12. Dezember 2006, Rs. C-446/04, Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753, Rn. 221; Urteil vom 18. Januar 2007, Rs. C-313/05, Maciej Brzezin´ski, Slg. 2007, I-513, Rn. 54. 185 EuGH, Urteil vom 31. März 1992, Rs. C-200/90, Dansk Denkavit, Slg. 1992, I-2217, Rn. 20; Urteil vom 4. Mai 1999, Rs. C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685, Rn. 106. 186 EuGH, Urteil vom 6. März 2007, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 32. 187 Lang, IStR 2007, 235 (242); Lang, Intertax 2007, 230 (241). 188 Müller, S. 80.
VI. Antrag auf Begrenzung der Urteilsfolgen
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Erklärungen abgeben können.189 In den Fällen, in denen schwerwiegende Auswirkungen auf die Privatwirtschaft zu befürchten sind, können diejenigen Unternehmen, die zwar von einem Urteil betroffen zu werden drohen, aber selbst nicht am Ausgangsverfahren beteiligt sind, sich daher nur darauf verlassen, dass die am Verfahren beteiligte(n) Partei(en) in gleicher Lage (im Zweifelsfall Konkurrenten) ihre Sache vor dem Gerichtshof gut machen. Alternativ können sie ihr Anliegen bei ihrer Regierung vorbringen, damit diese die vorgebrachten Bedenken in ihrer Stellungnahme berücksichtigen kann. Letztlich wird es mittelbar auch im Interesse des jeweiligen Mitgliedstaates liegen, sich schützend vor seine Wirtschaft zu stellen, wenn diese Gefahr läuft, durch ein Urteil des Gerichtshofs schwerwiegend beeinträchtigt zu werden. 3. Antragstellung durch sonstige Verfahrensbeteiligte Andere Verfahrensbeteiligte, die einen entsprechenden Antrag auf zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen stellen können, sind die Kommission und die Beteiligten des Ausgangsverfahrens. Beides ist bereits vorgekommen. So stellt es für die Kommission keinen Widerspruch zu ihrer Rolle als Hüterin der Verträge dar, in Situationen, in denen die Rechtslage unklar war, eine Ausnahme von der grundsätzlichen Rückwirkung der Vorabentscheidung zu befürworten und damit letztlich die Wirkung des Unionsrechts für einen bestimmten Zeitraum zu beschneiden.190 Auch Private haben, in ihrer Rolle als Kläger191 oder Beklagte192 des Ausgangsverfahrens, entsprechende Anträge gestellt bzw. Anregungen gegeben. Das leuchtet nicht unmittelbar ein: Der Kläger will sich ja gerade für einen in der Vergangenheit liegenden Fall auf das Unionsrecht berufen können; eine komplette Beschränkung der Rückwirkung würde ihm daher sein Rechtsschutzziel verwehren. Allein der Umstand, dass der Gerichtshof in seinen Auslegungsurteilen verlässlich eine Rückausnahme für diejenigen vorsieht, die bereits Rechtsschutz gesucht haben, insbesondere die klagende Partei des Ausgangsverfahrens, macht den Antrag für ihn unschädlich. Somit verbaut der Antrag zwar Personen in einer ähnlichen Situation, die bisher noch keinen Rechtsschutz gesucht haben,
189 Art. 23 Abs. 2 EuGH-Satzung; siehe auch EuGH, Urteil vom 19. Dezember 1968, Rs. 19/68, Cicco/LVA Schwaben, Slg. 1968, 707 (716); Hackspiel, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU/EG, Art. 23 EuGH-Satzung, Rn. 20. 190 EuGH, Urteil vom 17. Mai 1990, Rs. C-262/88, Barber, Slg. 1990, I-1889, Rn. 40. 191 EuGH, Urteil vom 15. Dezember 1995, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rn. 140. 192 EuGH, Urteil vom 11. März 1981, Rs. 69/80, Worrigham, Slg. 1981, 767, Rn. 29; Urteil vom 13. Dezember 2001, Rs. C-481/99, Heininger, Slg. 2001, I-9945, Rn. 49.
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D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
endgültig die Berufung auf das Unionsrecht für in der Vergangenheit liegende Fälle – einen direkten Nutzen für die klagende Partei hat er jedoch nicht.193 Dennoch haben die Anwälte von Herrn Bosman in der gleichnamigen Rechtssache einen solchen Antrag (wenn auch halbherzig) gestellt:194 Dahinter verbirgt sich offenbar der Gedanke, die Aussicht auf eine zeitliche Beschränkung könne es dem Gerichtshof leichter machen, eine schwerwiegende Entscheidung in der Hauptsache zugunsten des Mandanten Bosman zu fällen. Ähnlich sieht es auf der Seite der Beklagten des Ausgangsverfahrens aus: Auch hier bringt der Antrag dem Beklagten keinen Vorteil mehr für das Ausgangsverfahren, weil sich die zeitliche Beschränkung aufgrund der Rückausnahme keinesfalls auf dieses Verfahren auswirkt. Aus Rücksichtnahme auf andere Private in einer ähnlichen Situation wird ein Beklagter einen solchen Antrag wohl kaum stellen – warum sollten die anderen, die möglicherweise sogar seine Konkurrenten sind, besser wegkommen als er? Sinnvoll ist die Antragstellung daher nur, wenn die Konstellation, die dem Ausgangsverfahren zugrunde lag, für den Beklagten keinen Einzelfall darstellt, sondern er weitere Klagen einer Vielzahl von Personen befürchten muss, die sich in einer ähnlichen Lage befinden wie der Kläger (zum Beispiel weitere Arbeitnehmer oder Kunden des beklagten Unternehmens).195 In diesem Fall kann der Beklagte durch einen Antrag auf Beschränkung der zeitlichen Wirkungen eine echte Schadensbegrenzung erreichen. 4. Vorlagefrage des nationalen Gerichts Es kommt auch durchaus vor, dass die vorlegenden Gerichte zusätzlich zu ihren materiellen Auslegungsfragen die weitere Frage vorlegen, ob im Falle einer bestimmten Sachentscheidung die zeitliche Wirkung des Urteils beschränkt werden müsste.196 Die Frage kann dabei ganz direkt auf eine „zeitliche Beschränkung“ gerichtet sein,197 sie kann aber zum Beispiel auch etwas versteckter dahingehend formuliert sein, ob sich Betroffene, die bisher noch keinen Rechtsbehelf 193
Vgl. van der Stok/Thomson, Intertax 2006, 552 (558). EuGH, Urteil vom 15. Dezember 1995, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rn. 140. 195 So wohl in EuGH, Urteil vom 11. März 1981, Rs. 69/80, Worrigham, Slg. 1981, 767; Urteil vom 13. Dezember 2001, Rs. C-481/99, Heininger, Slg. 2001, I-9945. 196 EuGH, Urteil vom 28. September 1994, Rs. C-57/93, Vroege, Slg. 1994, I-4541, Rn. 10; Urteil vom 11. August 1995, verb. Rs. C-367/93 bis 377/93, Roders, Slg. 1995, I-2229, Rn. 11; Urteil vom 19. Oktober 1995, Rs. C-137/94, Richardson, Slg. 1995, I-3407, Rn. 5; Urteil vom 15. März 2005, Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119, Rn. 27; siehe auch EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 24/86, Blaizot, Slg. 1988, 379, Rn. 7 ff. 197 EuGH, Urteil vom 28. September 1994, Rs. C-57/93, Vroege, Slg. 1994, I-4541, Rn. 10; Urteil vom 11. August 1995, verb. Rs. C-367/93 bis 377/93, Roders, Slg. 1995, I-2229, Rn. 11. 194
VI. Antrag auf Begrenzung der Urteilsfolgen
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eingelegt haben, auch für den Zeitraum vor Erlass des Urteils auf das Unionsrecht berufen können.198 Der Gerichtshof hat bisher derartige Vorlagefragen kritiklos angenommen und beantwortet.199 Dabei gibt es gute Gründe, die Berechtigung nationaler Gerichte zu einer solchen Vorlagefrage kritisch zu hinterfragen: Zulässiger Gegenstand einer Vorlagefrage kann gemäß Art. 267 AEUV die Auslegung oder Gültigkeit einer unionsrechtlichen Norm sein. Die Frage nach den zeitlichen Wirkungen ist aber gerade keine solche Frage nach der Auslegung oder Gültigkeit, sondern eine daran anknüpfende Folgefrage. Dies macht bereits der Aufbau der Urteile deutlich, in denen dieser Aspekt regelmäßig unter der Überschrift „Zur zeitlichen Wirkung des vorliegenden Urteils“ am Ende des Urteils separat behandelt wird, gewissermaßen als Annex zum eigentlichen Vorabentscheidungsurteil.200 In der Beschränkung des Art. 267 AEUV auf Fragen zur Auslegung und Gültigkeit kommt die Arbeitsteilung zwischen europäischen und nationalen Gerichten zum Ausdruck: Die Aufgabe der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts kommt bekanntlich jedem nationalen Gericht zu, das somit ein „Unionsgericht im funktionellen Sinn“ ist.201 Das Vorabentscheidungsverfahren sichert die Einheitlichkeit und Effektivität der Anwendung durch die nationalen Gerichte.202 Nationale Gerichte legen dem EuGH also Fragen vor, die sie von der Aufgabenteilung her grundsätzlich selbst beantworten dürften, die sie aber im konkreten Fall deshalb nicht beantworten können, weil die Rechtslage noch unklar ist und zum Zwecke der Einheitlichkeit vom EuGH geklärt werden muss.203 Sobald der EuGH die Frage aber einmal geklärt hat, dürfen die Gerichte die entsprechende Auslegung in weiteren Fällen selbst vornehmen und müssen nicht jedesmal die gleiche Frage wieder vorlegen.204 Die Entscheidung über die zeitlichen Wirkungen des Urteils steht aber nach ständiger EuGH-Rechtsprechung nur dem Gerichtshof selbst zu.205 Sie passt daher nicht in das dargestellte Schema der Arbeitsteilung von nationalen Gerichten und EuGH. Insofern scheidet auch eine weite Auslegung der tauglichen Gegenstände von Vorlagefragen in Art. 267 AEUV aus.206 198 EuGH, Urteil vom 19. Oktober 1995, Rs. C-137/94, Richardson, Slg. 1995, I-3407, Rn. 5. 199 Lang, IStR 2007, 235 (242); Lang, Intertax 2007, 230 (242). 200 Siehe z. B. EuGH, Urteil vom 17. Februar 2005, verb. Rs. C-453/02 u. C-462/02, Linneweber und Akritidis, Slg. 2005, I-1131, vor Rn. 39. 201 Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 267 AEUV, Rn. 1. 202 EuGH, Urteil vom 16. Januar 1974, Rs. 166/73, Rheinmühlen, Slg. 1974, 33, Rn. 2; Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 267 AEUV, Rn. 1. 203 Lang, IStR 2007, 235 (241); Lang, ÖStZ 2006, 517 (518). 204 EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1981, Rs. 283/81, CILFIT, Slg. 1982, 3415, Rn. 14. 205 EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 309/85, Barra, Slg. 1988, 355, Rn. 13; Urteil vom 17. Mai 1990, Rs. C-262/88, Barber, Slg. 1990, I-1889, Rn. 41; Urteil vom 15. Dezember 1995, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rn. 142. 206 Siehe zum Ganzen Lang, IStR 2007, 235 (241).
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D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
Des Weiteren können nach Art. 267 Abs. 2 AEUV die Gerichte der Mitgliedstaaten dem EuGH nur solche Fragen vorlegen, deren Beantwortung sie „zum Erlass des Urteils für erforderlich“ halten. Die Entscheidungserheblichkeit (aus der Sicht des vorlegenden Gerichts) ist daher Voraussetzung für die Vorlageberechtigung.207 Und gerade hinsichtlich der Frage, ob die Rechtsfolgen eines Urteils zeitlich zu begrenzen sind, ist die Entscheidungserheblichkeit durchaus fraglich. Denn aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist für das vorlegende Gericht klar ersichtlich, dass die Auslegung grundsätzlich für den gesamten Zeitraum seit Inkrafttreten einer unionsrechtlichen Vorschrift gilt.208 Mit diesem Wissen und der Antwort auf die eigentlichen Sachfragen stehen dem nationalen Gericht also alle Informationen zur Verfügung, die es zur Entscheidung des Falles braucht. Eine Unklarheit entsteht überhaupt erst dadurch, dass das nationale Gericht den Grundsatz der Rückwirkung von Vorabentscheidungen durch seine Vorlagefrage zur Disposition stellt. Außerdem nimmt der Gerichtshof das Ausgangsverfahren regelmäßig von der Beschränkung der zeitlichen Wirkung aus. Das vorlegende Gericht muss daher zwangsläufig die ex-tunc-Wirkung der Vorabentscheidungsurteile beachten. Ob dies in etwaigen Parallelverfahren anders ist, weil dort die Rückausnahme nicht greift, hat das vorlegende Gericht nicht zu interessieren. Auch insofern ist die Entscheidungserheblichkeit zu verneinen. Aufgrund der fehlenden Entscheidungserheblichkeit und des Umstands, dass weder Auslegung noch Gültigkeit des Unionsrechts im Sinne von Art. 267 AEUV betroffen sind, können die zeitlichen Wirkungen daher nicht tauglicher Gegenstand einer Vorlagefrage an den EuGH im Sinne von Art. 267 AEUV sein. 5. Begrenzung der Urteilsfolgen ohne Antrag Soweit ersichtlich, hat sich der Gerichtshof bisher immer dann mit der Frage der zeitlichen Beschränkung der Urteilsfolgen befasst, wenn sie durch Beteiligte oder das vorlegende Gericht an ihn herangetragen worden war. Fraglich ist, ob der Gerichtshof auch von sich aus eine Beschränkung der Urteilswirkungen aussprechen könnte. In der Literatur ist dies vereinzelt bejaht worden.209 Und in der Tat spricht einiges dafür, dass auch der Gerichtshof dies so sieht: Die offenbar beliebige Wortwahl zwischen „Antrag“ und „Hinweis“ deutet darauf hin, dass der 207 Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU/EG, Art. 234 EG, Rn. 52; Schwarze, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 234 EG, Rn. 35. 208 Grundlegend EuGH, Urteil vom 27. März 1980, Rs. 61/79, Denkavit Italiana, Slg. 1980, 1205, Rn. 16. 209 Lang, IStR 2007, 235 (242); Sachs, S. 100 f.; Müller, S. 80; Dauses, S. 153; ders., in: FS Everling, S. 239, der diese Möglichkeit allerdings als „problematisch“ ansieht. Generalanwalt Tizzano geht offensichtlich ebenfalls von dieser Möglichkeit aus: Generalanwalt Tizzano, Schlussanträge vom 10. November 2005, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 47; ablehnend hingegen Winter, jurisPR ArbR 8/2011, Anm. 6, Abschnitt C.
VI. Antrag auf Begrenzung der Urteilsfolgen
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Gerichtshof davon ausgeht, dass die Prüfung der Voraussetzungen in seinem Ermessen steht. Im Fall Meilicke begründete der EuGH die Präklusion nicht etwa damit, dass ein entsprechender Antrag im früheren Verfahren Verkooijen nicht gestellt worden sei, sondern dass er (der Gerichtshof) in diesem Fall keine Beschränkung ausgesprochen habe.210 Und in einem jüngst ergangenen Urteil lehnte der Gerichtshof eine zeitliche Beschränkung mit der Begründung ab, dass ein entsprechender Antrag nicht gestellt worden sei und dass „dem Gerichtshof [. . .] nichts unterbreitet [wurde], was eine solche Beschränkung verlangen würde.“ 211
Dem Antrag scheint daher prozessual eine untergeordnete Rolle zuzukommen. Ein solcher Antrag oder Hinweis der Beteiligten ist hilfreich, um eine Beschränkungsprüfung auszulösen (und daher in jedem Fall ratsam),212 bei ihrem Fehlen kann der Gerichtshof aber auch von sich aus tätig werden, wenn er den Eindruck gewinnt, dass sein Urteil schwerwiegende Folgen haben könnte. 6. Antragsfrist Da der Gerichtshof sämtliche Fragen rund um die Antragstellung nur sehr knapp am Rande behandelt, lässt sich auch auf die Frage, bis zu welchem Zeitpunkt im Verfahren ein solcher Antrag gestellt werden kann, keine eindeutige Antwort in der Rechtsprechung finden. In seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Test Claimants in the FII Group Litigation rügt Generalanwalt Geelhoed, dass die Regierung des Vereinigten Königreichs ihren Antrag auf zeitliche Beschränkung erst in der mündlichen Verhandlung gestellt habe. Zur Begründung dieser Rüge weist er darauf hin, dass die schriftlichen Erklärungen der Beteiligten grundsätzlich alle Angriffs- und Verteidigungsmittel enthalten müssten. Dahinter verberge sich keine bloße Förmelei, sondern der prozessuale Grundsatz, dass die übrigen Beteiligten genügend Zeit zur Erwiderung erhalten. Außerdem werde nur so dem Gerichtshof ermöglicht, erste prozessuale Maßnahmen und Anordnungen zu treffen.213 Der Gerichtshof hat sich allerdings weder in diesem Fall noch in anderen Fällen sichtlich an der späten Antragstellung und dem späten Vorbringen der entsprechenden Tatsachenbehauptungen gestört: In mehreren Verfahren, in denen der entsprechende Vortrag erst in der mündlichen Verhandlung eingebracht
210 EuGH, Urteil vom 6. März 2007, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 39; Lang, IStR 2007, 235 (242). 211 EuGH, Urteil vom 10. Mai 2011, Rs. C-147/08, Römer, Rn. 66 (noch nicht in Slg.). 212 Dauses, S. 153. 213 Generalanwalt Geelhoed, Schlussanträge vom 6. April 2006, Rs. C-446/04, Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753, Rn. 143.
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D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
wurde, hat der Gerichtshof sich dennoch mit ihm befasst.214 In einem Fall hat er sogar eine zeitliche Beschränkung angeordnet, obwohl der darauf gerichtete Antrag erst in der mündlichen Verhandlung gestellt worden war.215 Demnach sieht der Gerichtshof die Erwiderungsrechte der übrigen Parteien offenbar dadurch als gewahrt an, dass er notfalls die mündliche Verhandlung wiedereröffnen kann, wenn noch offensichtlicher Klärungsbedarf besteht. Im Übrigen ist den Parteien auch durchaus zuzugestehen, dass sich möglicherweise erst im Verlauf eines Prozesses herausstellt, welche wirtschaftlichen Folgen ein Auslegungsurteil haben könnte. In diesen Fällen erschiene es unbillig, sie mit der Begründung abzuweisen, dass sie ihre Bedenken bereits in den schriftlichen Erklärungen hätten zum Ausdruck bringen müssen. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass der Gerichtshof offenbar auch ohne Antragstellung in eine Prüfung der Voraussetzung der zeitlichen Beschränkung einsteigen würde, und dies sicherlich notfalls auch in einem späten Verfahrensstadium. Warum sollten also die Parteien ihm nicht auch in einem solchen späten Stadium noch Hinweise auf die Möglichkeit einer zeitlichen Begrenzung geben können? 7. Zusammenfassung: Zum Wesen des „Antrags“ Die Gesamtschau der vorgenannten Probleme lässt nur einen logischen Schluss zu: Einen Antrag auf Begrenzung der Urteilsfolgen im engeren Wortsinne gibt es gar nicht, ganz zu schweigen von einem Antragserfordernis. Der EuGH sieht die Begrenzung der Urteilsfolgen als seine ureigene Aufgabe an, die er sich selbst durch Rechtsfortbildung geschaffen hat, die er nicht mit den nationalen Gerichten – trotz ihrer Eigenschaft als funktionelle Unionsgerichte – teilt und die er im eigenen Ermessen ausübt. Das hindert die übrigen Akteure – seien es nun Regierungen, Unionsorgane, die Parteien des Ausgangsverfahrens oder das vorlegende Gericht – nicht daran, dem Gerichtshof einen Hinweis zu erteilen, wenn die Voraussetzungen für eine zeitliche Beschränkung vorliegen könnten. Versteht man das Vorbringen der Beteiligten zu den zeitlichen Wirkungen des Urteils als reinen Hinweis und nicht als einen echten, prozessrechtlich verankerten Antrag, dann ergibt es auch einen Sinn, dass der EuGH dieses Vorbringen unterschiedslos von allen Beteiligten einschließlich der vorlegenden Gerichte akzeptiert, dass er dieses Vorbringen nicht als innerprozessual präkludiert ansieht, wenn es erst in der mündlichen Verhandlung vorgetragen wird, und dass er dem Antrag generell 214 EuGH, Urteil vom 13. Februar 1996, verb. Rs. C-197/94 u. C-252/94, Société Bautiaa, Slg. 1996, I-505, Rn. 44 ff.; Urteil vom 4. Mai 1999, Rs. C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685, Rn. 106 ff.; Urteil vom 5. Oktober 2006, verb. Rs. C-290/05 u. C333/05, Ákos Nádasdi, Slg. 2006, I-10115, Rn. 61 ff.; Urteil vom 12. Dezember 2006, Rs. C-446/04, Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753, Rn. 221 ff. 215 EuGH, Urteil vom 4. Mai 1999, Rs. C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685, Rn. 106 ff.
VII. Zeitliche Begrenzung im Urteil selbst enthalten
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so wenig Bedeutung beizumessen scheint. Vorlegende Gerichte sollten, um dem rechtlichen Charakter als Hinweis gerecht zu werden, die Ausführungen zur zeitlichen Beschränkung deutlich von den eigentlichen Vorlagefragen abgrenzen. Eine denkbare Formulierung wäre daher: „Im Übrigen weist das Gericht darauf hin, dass die zeitlichen Wirkungen des Vorabentscheidungsurteils zu beschränken sein könnten, da [. . .].“
Durch eine derartige Formulierung macht das vorlegende Gericht zwei Dinge deutlich: Einerseits ist ihm der innere Zusammenhang der zeitlichen Beschränkung mit dem eigenen Vorlagebeschluss bewusst. Andererseits weiß es aber auch, dass diese Frage nicht entscheidungserheblich und somit auch keine Vorlagefrage im Sinne des Art. 267 Abs. 2 AEUV ist. Letztlich ist freilich eine Formulierung als Vorlagefrage unschädlich, da der EuGH – so wie er auch sonst unzulässige Vorabentscheidungsfragen umdeutet216 – die eigentlich unzulässige Frage in einen zulässigen Hinweis umdeuten kann. Auch wenn den Beteiligten somit nur das scheinbar schwache Instrument eines Hinweises zur Verfügung steht, bedeutet dies nicht, dass sie völlig ohne Rechte dastünden: Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs, der als elementarer Grundsatz des Unionsrechts auch für den EuGH gilt,217 gebietet es, dass sich der Gerichtshof mit hinreichend plausibel gemachten Ersuchen um eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkung inhaltlich auseinandersetzt. Bisher hat der Gerichtshof einen derartigen Antrag, auch wenn er ihm nur in wenigen Fällen entsprochen hat, noch in keinem Fall vollständig ignoriert. Dies wäre auch gar nicht im Interesse des Gerichtshofs, denn er ist auf derartige Hinweise angewiesen. Die Alternative wäre eine Prüfung von Amts wegen bei jeder Vorabentscheidung. In Anbetracht der Tatsache, wie schwer es den Beteiligten oft fällt, das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen plausibel dazulegen, obwohl sie deutlich näher am Sachverhalt und den entsprechenden Beweismitteln sind, wäre der Gerichtshof mit einer Pflicht zur Prüfung von Amts wegen in jedem Vorabentscheidungsverfahren komplett überfordert.
VII. Zeitliche Begrenzung im Urteil selbst enthalten Zu den beiden hier untersuchten materiellen Voraussetzungen für eine zeitliche Beschränkung, der Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Folgen und dem guten Glauben der Betroffenen, treten noch einige prozessuale Voraussetzungen:218 Der EuGH wird nämlich nicht müde zu betonen, dass nur er die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkung aussprechen könne, und zwar nur in dem Urteil, 216
Streinz, Europarecht, Rn. 683; Dauses, in: FS Everling, S. 239. Hackspiel, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), § 21, Rn. 21. 218 Zum prozessrechtlichen Charakter dieser Voraussetzungen siehe Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1842). 217
162
D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
in dem eine Auslegungsfrage erstmals beantwortet wird.219 Diese zwei Punkte sind gedanklich voneinander zu trennen, auch wenn der eine auf dem anderen aufbaut: Erstens hat der EuGH das Monopol auf die zeitliche Begrenzung der Urteilswirkungen; nationale Gerichte haben ihm hier zu folgen und können diese Entscheidung vor allen Dingen nicht einfach selbst treffen. Und zweitens legt der EuGH sich selbst bei der Ausübung dieses Monopols eine strenge Beschränkung auf: Eine zeitliche Beschränkung kann auch er nur in dem ersten Urteil, das eine Auslegungsfrage beantwortet, vornehmen. An diese Entscheidung – und insbesondere auch an das Ausbleiben einer Entscheidung zu dieser Frage mangels entsprechenden Vorbringens – sind sowohl er als auch alle übrigen Beteiligten in etwaigen späteren Verfahren, die sich mit derselben Frage beschäftigen, gebunden. Im Folgenden soll näher untersucht werden, wie der Gerichtshof zu diesen beiden Beschränkungen kommt. Dabei wird von besonderem Interesse sein, wie ähnlich eine Rechtsfrage einer früher entschiedenen Frage sein muss, damit der Gerichtshof sich als präkludiert ansieht. 1. Entscheidungshoheit des EuGH Die Ratio hinter dem Beschränkungs-Monopol des EuGH ist schnell gefunden: Die einheitliche Anwendung des Unionsrechts220 wäre in Gefahr, wenn jedes nationale Gericht selbständig entscheiden könnte, ob die Wirkungen eines EuGHUrteils zu beschränken sind. Selbst wenn die nationalen Gerichte sich hierbei an die vom Gerichtshof vorgegebenen Tatbestandsvoraussetzungen hielten, dürfte sich schnell zeigen, dass die Meinungen auseinandergehen, wann guter Glaube vorliegt und wann schwerwiegende wirtschaftliche Folgen zu befürchten sind. Ein unionsweiter Flickenteppich von Gerichtsbezirken, in denen ein Auslegungsurteil volle Rückwirkung entfaltet, und Bezirken, in denen die zeitlichen Wirkungen des Urteils beschränkt werden, wäre die Folge. Dieser Gefahr lässt sich nur dadurch begegnen, dass die Befugnis für eine solche Beschränkung ebenso wie die Befugnis zur Klärung unionsrechtlicher Zweifelsfragen ausschließlich dem EuGH zugestanden wird.221 Es wäre aber auch aus praktischen Gründen nicht im Interesse der Beteiligten, wenn die nationalen Gerichte die Entscheidung über die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkung selbst treffen würden. Denn dann müssten diese Gerichte in 219 Z. B. EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 309/85, Barra, Slg. 1988, 355; Urteil vom 15. Dezember 1995, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rn. 142; Urteil vom 16. Juli 1992, Rs. C-163/90, Legros, Slg. 1990, I-4625, Rn. 30; Urteil vom 4. Mai 1999, Rs. C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685, Rn. 108; Urteil vom 6. März 2007, Rs. C292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 36. 220 Siehe hierzu Streinz, Europarecht, Rn. 175; Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 19 EUV, Rn. 33. 221 Alexander, Y.E.L. 8 (1988), 11 (25).
VII. Zeitliche Begrenzung im Urteil selbst enthalten
163
jedem einzelnen Verfahren nicht nur die Tatbestandsvoraussetzungen selbständig prüfen, sondern im Streitfall auch Beweis hierzu erheben. Der Mehraufwand wäre immens. Man stelle sich nur vor, wie es wäre, wenn die deutsche Finanzverwaltung eine kleine Armada speziell geschulter Finanzbeamter aufstellte, die jahrelang mit nichts anderem beschäftigt wären, als immer und immer wieder vor einzelnen Finanzgerichten die wirtschaftlichen Folgen für den Haushalt der Bundesrepublik darzulegen und zu erläutern, warum ein bestimmtes Schreiben der Kommission den guten Glauben der Bundesregierung begründet habe. Vor diesem Hintergrund erscheint es deutlich vorzugswürdig, die Frage ein einziges Mal mit einem hierfür angemessenen Aufwand vor dem EuGH klären zu lassen. Das Beschränkungsmonopol des EuGH wird von Huep mit dem Argument angegriffen, dass die Kompetenzabgrenzung zwischen Gerichtshof und nationalen Gerichten unter Beachtung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Subsidiarität vorzunehmen sei. Der EuGH könne dementsprechend nur den Rahmen für eine mögliche zeitliche Beschränkung setzen. Ob eine Partei sich auf das Vorabentscheidungsurteil berufen dürfe, könne nur das nationale Gericht im Einzelfall entscheiden, denn nur dieses könne klären, ob die einzelne Partei gutgläubig gewesen sei. Das nationale Gericht sei in dieser Hinsicht sachnäher, also müsse ihm nach den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit die alleinige Zuständigkeit für diese Fragen zukommen. Letztlich sei also die Kompetenz der Entscheidung über eine zeitliche Beschränkung zwischen EuGH und nationalen Gerichten geteilt.222 Dieser Ansatz verdeutlicht ein Problem bei Vorabentscheidungsverfahren mit Dreieckskonstellationen, bei denen sich nicht die Regierungen von Mitgliedstaaten, sondern Private auf ihren guten Glauben an das Unionsrecht berufen: Während ein Unternehmen davon ausging, dass es im Einklang mit dem Unionsrecht handelte, kann ein anderes Unternehmen durchaus von einem Verstoß ausgegangen sein. Diesem Ansatz ist jedoch entgegenzuhalten, dass es gar nicht das Ziel ist, den guten Glauben in jedem Fall positiv festzustellen. Der EuGH untersucht nur auf der „Makro-Ebene“, ob eine Situation vorlag, in der die Beteiligten bei objektivierter Betrachtungsweise davon ausgehen durften, dass ihr Handeln mit dem Unionsrecht vereinbar sei.223 Liegt eine solche Konstellation vor, zum Beispiel aufgrund irreführender Äußerungen der Unionsorgane, dann können sich zwangsläufig auch diejenigen auf diese objektive unsichere Lage berufen, die sich von ihr gar nicht haben beeindrucken lassen. Diesen Kompromiss geht der EuGH ein, um die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu gewährleisten. Eine geteilte Zuständigkeit würde zu einer uneinheitlichen Anwendung führen.224 Da sich der EuGH für den tatsächlichen guten Glauben im Rahmen seiner Makro-Betrachtung gar nicht interessiert, kann 222 223 224
Huep, S. 209 ff., insb. S. 219 f. Siehe oben D. II. Dies sieht auch Huep, S. 219.
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D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
für eine geteilte Zuständigkeit auch nicht der Gedanke der Subsidiarität angeführt werden. Denn eine solche unionsweite Beurteilung kann ohnehin nur vom EuGH und nicht von den nationalen Gerichten geleistet werden. Huep ist zuzugeben, dass bei allem Bemühen um eine einheitliche Unionsrechtsordnung der Individualrechtsschutz nicht aus den Augen verloren werden darf.225 Diesen Ausgleich erreicht der Gerichtshof jedoch bereits durch die Gewährung einer Rückausnahme für alle diejenigen, die sich bereits um die Wahrung ihrer Rechte bemüht haben. In der Literatur ist vereinzelt die Möglichkeit angedacht worden, dass das Monopol des Gerichtshofs ein nationales Gericht auch dann zu einer erstmaligen Vorlagefrage veranlassen könnte, wenn die Auslegung des Unionsrechts zwar klar erscheint, aber gleichzeitig denkbar wäre, dass der Gerichtshof die zeitliche Wirkung dieser Auslegung beschränken würde.226 In der Praxis dürften aber derartige „Scheinvorlagen“, bei denen eigentlich nur die Beantwortung der Rechtsfolgenfrage gewollt ist, regelmäßig scheitern: Wenn die Auslegung des Unionsrechts wirklich klar ist, dürfte es den Betroffenen sehr schwer fallen darzulegen, dass sie trotzdem gutgläubig von einer anderen Auslegung ausgehen durften. Insofern wird sich die Frage nach der zeitlichen Beschränkung in der Praxis immer als Annex zu einer umstrittenen materiell-rechtlichen Frage darstellen. 2. Erstmalige Auslegung der einschlägigen Rechtsfrage a) Allgemeines Somit bleibt die zweite Frage: Warum schließt der Gerichtshof für sich selbst aus, auch in späteren Urteilen noch eine zeitliche Beschränkung auszusprechen, wenn er erst in dem nachfolgenden Verfahren die Notwendigkeit hierfür erkennt – insbesondere, weil er nun zum ersten Mal von den Beteiligten auf diese hingewiesen wird? Auch hier spielt wieder der Gedanke der einheitlichen Rechtsanwendung eine Rolle. Darauf hat die Kommission ausweislich des Sitzungsberichts erstmals im Verfahren in der Rechtssache Barra hingewiesen: „Eine erstmals in der vorliegenden Vorabentscheidungssache vorgenommene zeitliche Begrenzung der im Urteil Gravier gegebenen Auslegung führte offenkundig zu Ergebnissen, die mit dem grundlegenden Erfordernis einer einheitlichen, allgemeinen Anwendung des Gemeinschaftsrechts kaum in Einklang ständen. [. . .] Würde man eine solche Begrenzung in einem späteren Vorabentscheidungsurteil zulassen, das möglicherweise mehrere Jahre nach dem ersten Auslegungsurteil ergehen könnte, bestände die große Gefahr, dass der Weg für Divergenzen bereitet würde, die zwischen den Entscheidungen der nationalen Gerichte untragbar seien.“ 227 225 226 227
Huep, S. 213. Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1842, Fn. 26). EuGH, Sitzungsbericht in der Rs. 309/85, Barra, Slg. 1988, 355 (364).
VII. Zeitliche Begrenzung im Urteil selbst enthalten
165
Die Ausführungen der Kommission lassen allerdings nicht genau erkennen, welche Uneinheitlichkeit hier befürchtet wird. Der letzte Halbsatz lässt vermuten, dass die Kommission ein Auseinanderfallen der Entscheidungspraxis der Gerichte verschiedener Mitgliedstaaten befürchtet. Diese Befürchtung wäre allerdings nicht begründet, da die Auslegungsentscheidungen zwar aus Anlass eines bestimmten nationalen Sachverhalts und gegebenenfalls einer nationalen Rechtsvorschrift getroffen werden, aber nach herrschender Meinung228 von allen Gerichten unionsweit zu beachten sind. Daher wäre auch zu erwarten, dass die in einem solchen Urteil ausgesprochene oder fehlende zeitliche Beschränkung sich auf alle Mitgliedstaaten gleichermaßen auswirkt (wenngleich dies teilweise bestritten wird229). Tatsächlich besteht aber die Gefahr einer zeitlich uneinheitlichen Rechtsanwendung. Denn möglicherweise ergehen in dem Zeitraum zwischen dem ersten Urteil (ohne zeitliche Beschränkung) und dem zweiten Urteil (mit Beschränkung) bereits nationale Gerichtsentscheidungen, die in Rechtskraft erwachsen. Diese Gefahr wird, wie die Kommission zu Recht anmerkt, umso größer, je länger der Zeitraum zwischen den beiden Urteilen ist. Würde der EuGH in der späteren Entscheidung noch eine zeitliche Begrenzung der Urteilsfolgen vornehmen und damit die im ersten Urteil inzident enthaltene Aussage zur uneingeschränkten Rückwirkung revidieren, könnten die bereits rechtskräftigen Urteile nicht mehr korrigiert werden. Es bestünde die Gefahr eines nicht örtlichen, sondern zeitlichen Flickenteppichs, bei dem die Gerichte (im Extremfall sogar ein und dasselbe Gericht) aus einer Auslegung des Gerichtshofs je nach dem Zeitpunkt ihres Urteils ganz unterschiedliche Schlüsse ziehen (müssen), und das alles im Einklang zu der jeweils aktuellen Rechtsprechung des EuGH. Daneben ist auch der Gedanke der Rechtssicherheit betroffen, die immerhin, wie wir gesehen haben, der Rechtsgrund für die zeitliche Beschränkung ist: Nehmen wir an, der Gerichtshof erklärte eine bestimmte Art von Steuerregelungen für nicht mit dem Unionsrecht vereinbar. Dann würde dies jedenfalls in dem Mitgliedstaat, dessen Gericht die Vorlagefrage an den EuGH verwiesen hat, ohne eine zeitliche Beschränkung zur rückwirkenden Unanwendbarkeit der Steuervorschrift und zu Erstattungsansprüchen aller betroffenen Steuerzahler führen, unabhängig davon, ob diese sich bereits um die Verfolgung ihrer Rechte bemüht haben oder dies erst nach dem EuGH-Urteil tun. Würde ein anderes Gericht die gleiche Auslegungsfrage erneut vorlegen und nun entweder das Gericht selbst oder der betroffene Mitgliedstaat erstmals eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkung beantragen und auch bekommen, dann würde die Rückwirkung für einen Teil der Betroffenen entfallen, nämlich diejenigen, die sich bis zum Urteil nicht um die Rechtsverfolgung gekümmert haben und daher nicht von der übli228 EuGH, Urteil vom 27. März 1980, verb. Rs. 66/79, 127/79 u. 128/79, Salumi, Slg. 1980, 1237, Rn. 8 f.; Schwarze, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 234 EG, Rn. 66; Herdegen, § 9, Rn. 35. 229 Siehe dazu unten E. III.
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D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
chen Rückausnahme des EuGH profitieren können.230 Dies hätte zur Folge, dass sie ihre Steuern (nun doch) nicht rechtsgrundlos gezahlt hätten. (Für die anderen, die ohnehin bereits ihre Rechte verfolgt haben, ändert sich aufgrund der Rückausnahme nichts.) Dementsprechend bestand auch kein Erstattungsanspruch;231 vom Staat in der Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Auslegungsurteil veranlasste Rückzahlungen waren daher ihrerseits rechtsgrundlos, so dass dem Mitgliedstaat nunmehr nach nationalem Recht ein Erstattungsanspruch232 zustehen könnte, sofern dem nicht ein bereits rechtskräftiges Urteil entgegensteht. Derartige Hin-und-Her-Zahlungen sind ganz ohne Zweifel nicht im Sinne der Rechtssicherheit. Zu beachten ist, dass die hier diskutierte Frage nach entgegenstehenden, sozusagen „präkludierenden“ früheren Vorabentscheidungsurteilen zur selben Auslegungsfrage eng mit der materiellen Voraussetzung der Gutgläubigkeit verknüpft ist.233 Alle hier geschilderten Probleme können logischerweise nur solche Sachverhalte betreffen, die vor dem Erlass des zeitlich ersten Urteils zu einer Auslegungsfrage liegen. Denn mit Erlass des ersten Urteils würde die Gutgläubigkeit der Beteiligten ohnehin zerstört. Würde der EuGH eine nachträgliche Beschränkung in späteren Urteilen zulassen, so könnte sich diese ohnehin nur auf den vor dem zeitlich ersten Urteil liegenden Zeitraum beziehen. Dementsprechend stellen sich die hier geschilderten Probleme der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts und der Rechtssicherheit nur bei solchen Sachverhalten, die vor dem ersten Auslegungsurteil liegen und bei denen die Betroffenen dementsprechend noch gutgläubig gewesen sein könnten. b) Bewertung im konkreten Einzelfall Für den Ausgang des einzelnen Verfahrens – und damit für die Beteiligten – viel interessanter als die vorangegangenen allgemeinen Erwägungen ist die Frage, welches konkrete Urteil maßgeblich die Auslegung einer bestimmten Unionsrechtsnorm vorgibt, in welchem Urteil also eine bestimmte Auslegungsfrage erstmals beantwortet wurde. Für diejenigen, die eine zeitliche Beschränkung begehren, stellt sich hier eine entscheidende Weiche: Denn wenn der EuGH der Auffassung ist, die vorliegende Frage schon früher einmal beantwortet zu haben, dann ist jegliche Beschränkung der Urteilswirkungen ausgeschlossen, ohne dass es überhaupt auf das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen ankäme.234 230
Siehe dazu im Einzelnen unten E. IV. Kokott/Henze, BB 2007, 913 (917). 232 Für die deutschen Behörden wäre dies der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch, vgl. Maurer, § 29, Rn. 20 ff. 233 Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1842); siehe auch näher Schaer, S. 81 f. 234 Ein solcher Fall lag vor in EuGH, Urteil vom 6. März 2007, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 32 ff. 231
VII. Zeitliche Begrenzung im Urteil selbst enthalten
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Wie die Entscheidung des EuGH ausfällt, hängt vom gewählten Abstraktionsniveau ab – sowohl in den vorangegangenen als auch im gegenwärtigen Verfahren.235 Dies lässt sich an den drei Urteilen Gravier, Barra und Blaizot verdeutlichen: In der chronologisch ersten Entscheidung Gravier stellte der Gerichtshof fest, dass ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot vorlag, da (a) der Anwendungsbereich dieses Verbots auch die Berufsausbildung erfasse und (b) unter den Begriff der Berufsausbildung auch die Ausbildung an einer Kunsthochschule in der Fachrichtung „Comic Strips“ falle, soweit damit Qualifikationen für einen bestimmten Beruf vermittelt würden.236 (Die nachgeschobene Bedingung war vom nationalen Gericht anhand der Ausrichtung des Studiengangs im konkreten Einzelfall zu beantworten, dürfte aber auch zu bejahen gewesen sein.) Im Fall Blaizot war die Frage zu beantworten, ob die Ausbildung an einer Universität im Fach „Tiermedizin“ eine Berufsausbildung sei und daher in den Anwendungsbereich von Art. 18 AEUV falle. Diese Frage war nach Auffassung des EuGH bis dato noch nicht beantwortet worden, da die Entscheidung zum Studiengang „Comic Strips“ an der Kunsthochschule noch nicht die Verallgemeinerung auf alle Hochschulstudiengänge erlaubte. Eine zeitliche Beschränkung war daher möglich. Im Fall Barra hingegen war die Zugehörigkeit des Ausbildungsganges „Waffenschmiedekunst“ zur Berufsausbildung unstreitig.237 Da der Gerichtshof bereits mit dem Urteil Gravier allgemein festgestellt hatte, dass Modalitäten der Berufsausbildung am Diskriminierungsverbot zu messen sind, war die Anwendbarkeit dieses Verbots auf den in Rede stehenden Ausbildungsgang schon geklärt; eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen kam insoweit nicht mehr in Betracht.238 Die Urteile zeigen, dass die Antwort auf die Frage, ob der Gerichtshof den Antrag auf zeitliche Beschränkung wegen eines früheren Urteils zur selben Frage ablehnt, wesentlich durch die Argumentationslinie in diesem früheren Urteil bestimmt wird. Hätte der Gerichtshof in seinem Urteil Gravier nicht in zwei getrennten Schritten zuerst festgestellt, dass Fragen der Berufsausbildung in den Anwendungsbereich des Vertrages und damit des Diskriminierungsverbots fallen, und in einem zweiten Schritt, dass der Studiengang „Comic Strips“ eine solche Berufsausbildung ist, sondern wäre er in einem einzigen Schritt zu dem Ergebnis gekommen, dass die Zulassungsvoraussetzungen zum Studiengang „Comic Strips“ dem Diskriminierungsverbot unterworfen sind, wäre auch im Urteil Barra eine zeitliche Beschränkung noch möglich gewesen. Hätte er andererseits bereits in Gravier ausgesprochen, dass Hochschulstudiengänge im Allgemeinen und der in Frage stehende Studiengang an einer Kunsthochschule im Besonderen eine Berufsausbildung darstellen, wäre nicht nur in Barra, sondern auch in Blaizot der 235 236 237 238
Schaer, S. 96. EuGH, Urteil vom 13. Februar 1985, Rs. 293/83, Gravier, Slg. 1985, 593, Rn. 31. EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 309/85, Barra, Slg. 1988, 355, Rn. 4. EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 309/85, Barra, Slg. 1988, 355, Rn. 13 ff.
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D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
Rückgriff auf die zeitliche Beschränkung verwehrt gewesen. Durch die abstrakte Feststellung im Urteil Blaizot wiederum, dass Hochschulstudiengänge in der Regel der Berufsausbildung zufallen,239 holte der EuGH diese allgemeine Feststellung nach. Damit dürfte diese Frage für alle Studiengänge geklärt worden sein, so dass sich anschließend Vorlagefragen nur noch bezüglich der Ausnahmen von dieser Regel ergeben konnten. Durch diesen Schritt ersparte sich der Gerichtshof, in nachfolgenden Vorabentscheidungen im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot und Studiengebühren für Ausländer einen Studiengang nach dem anderen an den unterschiedlichen Hochschulformen (Universität, Technische Hochschule, Kunsthochschule, Fachhochschule etc.) regelrecht „abarbeiten“ zu müssen. Auf der anderen Seite hat es der EuGH nach der Beantwortung einer Frage natürlich auch in den nachfolgenden Urteilen in der Hand, wie streng er den Punkt, ob eine Frage bereits beantwortet ist, handhabt. Im Fall Blaizot hätte der EuGH auch feststellen können, dass die Übertragung auf Universitätsstudien nur eine unwesentliche Fortentwicklung des Gedankens aus Gravier sei, und dass damit alle wesentlichen Punkte bereits in Gravier entschieden worden seien.240 Dann hätte er weder in Blaizot noch in Barra eine zeitliche Beschränkung gewähren dürfen. Einen derartigen Ansatzpunkt wählte der Gerichtshof in der Rechtssache Meilicke: Hier sah er es als Hinderungsgrund an, dass eine (lediglich) ähnliche241 Vorlagefrage bereits in der Rechtssache Verkooijen242 beantwortet worden war.243 In beiden Verfahren befasste sich der Gerichtshof mit der Besteuerung von Dividenden, die von Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten als dem besteuernden Staat ausgezahlt worden waren. In Verkooijen war allerdings die Anwendung eines Freibetrags auf ausländische Dividenden streitig, während dem Rechtsstreit in Meilicke das Verfahren der körperschaftsteuerlichen Anrechnung zugrundelag.244 Somit blieb dem Gerichtshof in dem zeitlich späteren Urteil Meilicke durchaus noch ein Spielraum, um zu befinden, dass er sich zwar bereits mit ähnlichen Fragestellungen befasst habe, die Feststellung zur Vereinbarkeit des Anrechnungsverfahrens mit dem Gemeinschaftsrecht aber neu sei. Ob nun die Fragen in Meilicke und Verkooijen wirklich identisch waren, wurde dementsprechend in der Literatur unterschiedlich beurteilt.245 Damit bleibt festzuhalten: Je abstrakter der Gerichtshof die Rechtsfrage in einem früheren Verfahren beantwortet, umso schwieriger wird in späteren Verfah239
EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 24/86, Blaizot, Slg. 1988, 379, Rn. 20, 29. Arnull, E.L.Rev. 13 (1988), 260 (266). 241 Kokott/Henze, BB 2007, 913 (917). 242 EuGH, Urteil vom 6. Juni 2000, Rs. C-35/98, Verkooijen, Slg. 2000, I-4071. 243 EuGH, Urteil vom 6. März 2007, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 38. 244 Thömmes, IWB, Fach 11A, 1131 (1133). 245 Vgl. Kokott/Henze, BB 2007, 913 (917). 240
VII. Zeitliche Begrenzung im Urteil selbst enthalten
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ren eine Beschränkung der zeitlichen Wirkungen. Aus der Sicht des späteren Verfahrens wiederum führt eine abstraktere, weitere Formulierung der neuen Vorlagefrage eher dazu, dass sich ältere Urteile finden lassen, die ebenfalls unter diese Fragestellung fallen und die neue Entscheidung nur als eine leichte Abwandlung erscheinen lassen. Beides stellt die Beteiligten vor Herausforderungen: Die Gefahr einer weit ausholenden Urteilsbegründung zwingt die Mitgliedstaaten, bereits bei nur ähnlichen Sachverhalten aus anderen Mitgliedstaaten einen Antrag auf Begrenzung der Urteilswirkungen zu stellen. Es kann sich rächen, darauf zu hoffen, dass der Gerichtshof ein eng gefasstes Urteil verkünden werde, das so spezifisch auf die Besonderheiten der zugrundeliegenden Sachlage zugeschnitten ist, dass die ähnlichen Fälle im eigenen Land nicht von ihm erfasst werden. Ist das Urteil nämlich erst einmal in der Welt, ist es für eine zeitliche Beschränkung zu spät. Andererseits können sich die Antragsteller in nachfolgenden Urteilen, selbst wenn es bisher nur einzelne eher eng formulierte Entscheidungen zu lediglich ähnlichen Fragestellungen gibt, nie sicher sein, ob der Gerichtshof nicht eine von diesen Entscheidungen als Präklusionsgrund heranziehen wird. Einen festen Maßstab für den Grad der Abstraktion gibt es hier nicht,246 und ein solcher wäre auch schwer vorstellbar. Wie bereits gesagt wurde, wird der Abstraktionsgrad in seinen wesentlichen Zügen durch das zum Vergleich herangezogene frühere Urteil bestimmt. Die endgültige Entscheidung über die Präklusion kann nur durch einen wertenden Vergleich getroffenen werden.247 Gleichheit ist nicht absolute Identität der Vorlagefragen; abzustellen ist darauf, ob sich die wesentlichen Kerngedanken der aktuellen Entscheidung bereits aus der früheren Entscheidung ablesen lassen.248 Dann lässt sich bei einem Vergleich der Fälle Meilicke und Verkooijen auch plausibel argumentieren, dass die technische Ausgestaltung der Ungleichbehandlung (ob durch Ablehnung eines Freibetrags oder einer Anrechnungsmöglichkeit) bei wertender Betrachtung keinen großen Unterschied macht, während die wesentliche Identität darin besteht, dass natürliche Personen bei der steuerlichen Behandlung ihrer Dividenden schlechter behandelt werden, weil diese aus dem Ausland stammen. c) Folgen einer früheren Auslegung Hat der Gerichtshof in einem früheren Urteil, das nach wertender Betrachtungsweise eine im Wesentlichen gleiche Frage beantwortet hat, eine Beschrän246 Dies fordern aber Lang, IStR 2007, 235 (239), sowie ihm folgend Schaer, S. 96; ebenfalls kritisch Schmitz/Stammler, AöR 136 (2011), 479 (494). 247 Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1842). 248 Dies ist vielleicht am ehesten vergleichbar mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG), wo ebenfalls nicht vollständige Identität der Sachlagen verlangt ist, sondern nur die Gleichheit in den wesentlichen Bezugspunkten, vgl. Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 3 GG, Rn. 18.
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D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
kung der zeitlichen Wirkung nicht vorgenommen, so führt dies in allen späteren Verfahren zu einer Präklusion. Eine zeitliche Beschränkung ist dann nicht mehr möglich. Ebenfalls denkbar ist allerdings die Konstellation, dass der Gerichtshof in dem früheren Urteil zur selben Frage eine zeitliche Beschränkung bereits vorgenommen hat. Auch in diesem Fall ist dies nicht ohne Auswirkung für die späteren Verfahren: Eine erneute zeitliche Beschränkung ist auch in dieser Konstellation nicht möglich, der Gerichtshof kann nur auf die bereits vorgenommene zeitliche Beschränkung verweisen. Für das neuere Urteil ist daher die zeitliche Wirkung nur für solche Sachverhalte beschränkt, die vor dem Zeitpunkt des Erlasses des früheren Urteils liegen.249 Der zeitliche Anknüpfungspunkt der Beschränkung wird im folgenden Abschnitt im Zusammenhang mit den Rechtsfolgen noch ausführlicher dargestellt werden. d) Kritik an der Präklusion aufgrund früherer Urteile Die Rechtsprechung des EuGH zur Präklusion der Wirkungsbeschränkung wird in der Literatur vereinzelt kritisiert. So wird zum Beispiel moniert, dass durch die Präklusion die Mitgliedstaaten gezwungen wären, alle Vorabentscheidungsverfahren zu verfolgen. Sie müssten sich durch einen prophylaktischen Antrag auf zeitliche Beschränkung selbst anzuzeigen, wenn in der eigenen Rechtsordnung eine ähnliche Vorschrift existiert, die möglicherweise unionswidrig ist.250 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass sich aus Art. 4 Abs. 3 EUV durchaus eine Pflicht herleiten lässt, die eigene Rechtsordnung beständig auf unionsrechtswidrige Vorschriften hin zu durchsuchen und diese gegebenenfalls zu beseitigen.251 Zweifelsfälle sollten jedenfalls mit der Kommission erörtert werden. Da erscheint es durchaus angebracht, bei solchen Zweifelsfällen in einem einschlägigen Verfahren vor dem EuGH nicht still zu halten, sondern vorsichtshalber einen Antrag auf Beschränkung der Urteilswirkungen zu stellen. Das Vorabentscheidungsverfahren ist schließlich kein Strafprozess, in dem ein Selbstbelastungsverbot gelten könnte. Was die praktischen Folgen einer solchen Pflicht zur prophylaktischen Antragstellung betrifft, so ist anzumerken, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten die vor dem EuGH anhängigen Verfahren ohnehin schon aufmerksam in ihren Ministerien verfolgen lassen. Wenn Rechtsnormen in anderen Mitgliedstaaten eigenen Regeln ähneln, machen die Regierungen oft von ih249 EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1993, Rs. C-109/91, Ten Oever, Slg. 1993, I-4879, Rn. 15 ff.; Urteil vom 14. Dezember 1993, Rs. C-110/91, Moroni, Slg. 1993, I-6591, Rn. 28 ff.; Kokott/Henze, NJW 2006, 177 (181). 250 Lang, IStR 2007, 235 (244); Schmitz/Stammler, AöR 136 (2011), 479 (498); vgl. auch Amler, S. 75. Schaer, S. 96 f., fordert mit diesem Argument sogar einen gänzlichen Verzicht auf die Präklusion. 251 Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 10 EG, Rn. 24.
VII. Zeitliche Begrenzung im Urteil selbst enthalten
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rem Recht auf Stellungnahme Gebrauch, um bereits die materielle Entscheidung zu beeinflussen. Schließlich wollen die Mitgliedstaaten nicht riskieren, dass der EuGH in seiner Rechtsprechung eine Richtung einschlägt, von der er später nur schwer wieder abzubringen sein wird. Auch hier droht eine Art „faktischer Präklusion“, wenn die Mitgliedstaaten versäumen, sich rechtzeitig an einem Auslegungsverfahren zu beteiligen. Der zusätzliche Aufwand durch die Gefahr einer Präklusion des Beschränkungsantrags dürfte sich daher in Grenzen halten und erscheint jedenfalls vertretbar.252 Bedenkenswert ist die Forderung, der Gerichtshof müsse auch dann die zeitliche Beschränkung in einem späteren Verfahren gewähren, wenn diese zwar nicht in dem (ursprünglichen) Auslegungsurteil ausgesprochen worden sei, die spätere Beschränkung aber den Verkündungstermin des früheren Auslegungsurteils als zeitlichen Bezugspunkt nehme.253 Die Vertreter dieser Auffassung haben hierbei vornehmlich im Blick, dass es für die nicht unmittelbar betroffenen Mitgliedstaaten oft schwierig ist, die Auswirkungen auf die eigene Rechtsordnung zu beurteilen; prophylaktische Anträge hingegen seien nicht im Sinne der Prozessökonomie.254 Diesem Ansatz ist zuzugeben, dass durch den Rückgriff auf den früheren Zeitpunkt zumindest verhindert würde, dass ein Mitgliedstaat durch reines Stillhalten in einem früheren Verfahren einen Vorteil erlangen könnte. Dennoch ist der nach diesem Konzept erzielte Effekt nicht derselbe, wie wenn die Beschränkung gleich im ersten Urteil ausgesprochen worden wäre. Es bleibt das Problem der Rechtsunsicherheit: Wenn man davon ausgeht (wofür so einiges spricht255), dass die zeitliche Beschränkung ebenso wie die getroffene Auslegung für alle Mitgliedstaaten gilt, dann hat man wieder eine Situation, in der nachträglich einzelne Fälle aus dem Anwendungsbereich des ersten Auslegungsurteils herausfallen, ursprünglich begründete Erstattungsansprüche vernichtet werden und zahlreiche unnötige Hin-und-Her-Zahlungen stattfinden. Im Interesse der Rechtssicherheit erscheint es daher vorzugswürdig, wenn die zeitliche Beschränkung tatsächlich nur im ersten Auslegungsurteil stattfinden kann. Der Gefahr sinnloser prophylaktischer Beschränkungsanträge kann man auf andere Weise wirkungsvoll begegnen.256 Teile der Literatur lehnen die Präklusion unter Hinweis darauf ab, dass die Vorabentscheidungen des Gerichtshofs nur inter partes wirkten und daher Beteiligte in späteren Verfahren nicht binden könnten.257 Dieser Hinweis ist allerdings
252 253
Amler, S. 75. Billig, FR 2007, 785 (787); ähnlich wohl auch Kokott/Henze, NJW 2006, 177
(182). 254 255 256 257
Billig, FR 2007, 785 (787). Näheres siehe unten, E. III. Siehe dazu den hier entwickelten „zweistufigen Ansatz“ in Abschnitt H. IV. Steinberg/Bark, EuZW 2007, 243 (246).
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D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
nicht unproblematisch. Denn ob den Auslegungsurteilen des Gerichtshofs nur inter-partes- oder doch erga-omnes-Wirkung zukommt, ist sehr umstritten.258 Der EuGH selbst geht offenbar von einer Bindung über den Einzelfall hinaus aus – warum sonst sollte er die zeitlichen Wirkungen seiner Urteile beschränken? Der Ausgangsfall ist ohnehin regelmäßig von der zeitlichen Beschränkung ausgenommen, diese kann daher nur andere Verfahren erfassen.259 Und würde sich die Wirkung des Urteils nur auf das Ausgangsverfahren beschränken, dann wäre auch kein Anlass gegeben, die schwerwiegenden wirtschaftlichen Wirkungen zu befürchten, die sich daraus ergeben, dass eine Vielzahl gutgläubig eingegangener Rechtsverhältnisse rückwirkend in Frage gestellt wird.260 Auch die herrschende Meinung in der Literatur geht davon aus, dass Auslegungsurteile jedenfalls für letztinstanzliche Gerichte eine echte und für alle übrigen Gerichte sowie für die Behörden eine faktische erga-omnes-Wirkung haben.261 Die nicht-letztinstanzlichen Gerichte und die Behörden sind daher nicht gezwungen, der Auslegung des Gerichtshofs zu folgen – sie können auch eine abweichende Entscheidung treffen und es darauf ankommen lassen, dass entweder das letztinstanzliche Gericht ihre Entscheidung unter Befolgung der EuGH-Rechtsprechung verwirft oder dem Gerichtshof erneut vorlegt, weil es abweichen möchte. Nichtsdestotrotz haben sie alle die Möglichkeit, der Rechtsprechung des EuGH zu folgen, und in der Regel werden sie dies auch tun. Es ist schließlich nicht zu erwarten, dass der EuGH die gleiche Auslegungsfrage bei erneuter Befassung anders beantworten würde. Für diese „folgewilligen“ Gerichte und Behörden stellt die einschlägige EuGH-Entscheidung ein entscheidendes Präjudiz dar, vergleichbar mit einer höchstrichterlichen Entscheidung im nationalen Recht.262 Wenn nun aber nationale Gerichte und Behörden sich dem Präjudiz des EuGH anschließen, dann führt eine erst in einem späteren Urteil eingeführte zeitliche Beschränkung zwangsläufig zu den bereits dargestellten Unstimmigkeiten und letztlich zu der unerwünschten Ungleichbehandlung, die der EuGH als Rechtfertigungsgrund für die Präklusion anführt. Da der Gerichtshof seine Präklusion also eher auf pragmatische als auf dogmatische Gesichtspunkte stützt, kann die Frage, ob Ausle-
258 Borchardt, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, Art. 267 AEUV, Rn. 60; zum Streitstand in der frz.-spr. Literatur siehe Kohl, R.C.J.B. 1977, 231 (233 f.). 259 Schima, S. 100; vgl. Generalanwalt Reischl, Schlussanträge vom 21. Januar 1981, Rs. 66/80, International Chemical Corporation, Slg. 1981, 1191 (1229). 260 Labayle, Rev. Trim. Dr. Eur. 1982, 484 (503). 261 Schwarze, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 234 EG, Rn. 66; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU/EG, Art. 234 EG, Rn. 92 f.; Borchardt, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, Art. 267 AEUV, Rn. 60; Pechstein, Rn. 868; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), § 10, Rn. 89; Kohl, R.C.J.B. 1977, 231 (234); Glaesner, in: Schermers/Timmermans/Kellermann/Watson (Hrsg.), S. 310. 262 Borchardt, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, Art. 267 AEUV, Rn. 60; Dauses, S. 155; Everling, S. 66; Kadelbach, in: Holoubek/Lang (Hrsg.), S. 124.
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gungsentscheidungen über die faktische hinaus eine echte erga-omnes-Wirkung entfalten, offenbleiben. Jedenfalls haben sie keine reine inter-partes-Wirkung. Ebenfalls kritisiert wird, dass die Präklusion deshalb unbillig erscheine, weil ein Gerichtsurteil nicht in dem gleichen Maße öffentlich entstehe wie ein Akt der Gesetzgebung. Außerdem dauere es oft einige Zeit, bis die tatsächlichen Auswirkungen einer Präzedenz-Entscheidung sich wirklich abschätzen ließen.263 Dem ersten Argument ist entgegenzuhalten, dass zumindest jedes Vorabentscheidungsverfahren, das auch nur einigermaßen bedeutsam für die Rechtswirklichkeit in den Mitgliedstaaten werden könnte, intensiv verfolgt wird. Die Mitgliedstaaten werden ohnehin notifiziert und haben die Möglichkeit zu prüfen, ob ein Einschreiten gefordert ist. Aber auch die interessierten Kreise können sich frühzeitig über die einschlägige Fachliteratur informieren; viele Verbände informieren außerdem ihre Klientel regelmäßig über hoffnungs- wie unheilvolle Entwicklungen aus Brüssel und Luxemburg. Ein Informationsgefälle im Vergleich zu nationalen Gesetzgebungsverfahren besteht daher nicht. Das zweite genannte Problem, dass sich erst lange Zeit nach dem Urteil herausstellen könnte, welche gravierenden Folgen es hat, ist allerdings durchaus real. Doch was wäre die Alternative? Den Mitgliedstaaten auch später noch die Möglichkeit zu geben, eine zeitliche Beschränkung zu beantragen, würde die einheitliche Geltung des Unionsrechts aushebeln und zu dem bereits genannten Flickenteppich unterschiedlicher Urteilswirkungen führen. Es liegt daher an den Mitgliedstaaten, die potentiellen Folgen eines Gerichtsurteils abzuschätzen. Das Risiko einer Fehleinschätzung wird sich hier nicht gänzlich vermeiden lassen. Schließlich wird in der Literatur argumentiert, dass die Präklusion dann misslich sei, wenn der Gerichtshof in seinem ersten Auslegungsurteil die Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen falsch beurteilt habe. Habe der Gerichtshof im zeitlich ersten Urteil die Gefahr fälschlicherweise verneint, bestehe keine Möglichkeit einer nachträglichen Anordnung. Umgekehrt stehe die zeitliche Beschränkung unumrückbar fest, wenn sich zu einem späteren Zeitpunkt herausstelle, dass die Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Folgen zu Unrecht bejaht worden sei.264 Das hier aufgeworfene Problem dürfte in erster Linie theoretischer Natur sein.265 In Anbetracht des unbestimmten Charakters der Tatbestandsvoraussetzungen erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass sich eine Fehlentscheidung überhaupt jemals nachweisen ließe, geschweige denn vom Gerichtshof eingestanden werden würde. Sollte es jedoch tatsächlich einmal zu der beschriebenen Situation kommen, so wäre die beste Lösung, wenn der Gerichtshof ausnahmsweise keine Präklusion annähme und die zeitliche Beschränkung je nach Fallgestaltung nachträglich anordnete oder aber wieder aufhöbe. 263 264 265
Alexander, Y.E.L. 8 (1988), 11 (25). Müller, S. 119 f. Dies gesteht auch Müller, S. 120, ein.
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D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
Dies würde zwar zu den genannten unerwünschten Ungleichbehandlungen führen; diese stellen jedoch das kleinere Übel dar, wenn ansonsten nur die Option bliebe, sehenden Auges auf dem falschen rechtlichen Standpunkt zu beharren.266
VIII. Einhaltung des Regel-Ausnahmeverhältnisses – eine selbständige Tatbestandsvoraussetzung? Der Gerichtshof betont seit seiner Grundsatzentscheidung in der Sache Defrenne II, dass die ex-tunc-Wirkung seiner Auslegungsurteile weiterhin die Regel sei und die zeitliche Beschränkung nur die Ausnahme sein könne.267 Allerdings versteht der Gerichtshof diese Aussage – soweit ersichtlich – nicht als ein eigenständiges Tatbestandsmerkmal. Der Ausnahmecharakter lässt sich eher als eine Art Auslegungsmaxime verstehen, die bei der Auslegung der eigentlichen Tatbestandselemente „guter Glaube“ und insbesondere „schwerwiegende wirtschaftliche Folgen“ zu befolgen ist. Im Zweifelsfall ist das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen daher zu verneinen. Vor diesem Hintergrund sollte die stetige Betonung des Ausnahmecharakters der zeitlichen Beschränkung den Beteiligten eigentlich auch die Notwendigkeit vor Augen führen, das Vorliegen der Voraussetzungen hinreichend darzulegen und zu beweisen – was in der Realität leider allzu oft missachtet wird.
IX. Behandlung von Sonderkonstellationen 1. Zeitliche Beschränkung zur Vermeidung ungerechtfertigter Bereicherungen? Vereinzelt stellt sich die Frage, inwieweit es eine Rolle für die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen spielt, wenn die Folgen, die die falsche Auslegung des Unionsrechts in der Vergangenheit verursacht hat, nicht bei den unmittelbar Betroffenen bleiben, sondern weitergereicht werden. In der Rechtssache EKW wehrte sich Österreich gegen eine Rückabwicklung der Gemeindegetränkesteuer mit dem Argument, dass dies zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der zu Unrecht belasteten Getränkehändler führe. Diese hätten die finanzielle Belastung längst durch höhere Preise auf ihre Kunden übergewälzt. Eigentlich belastet seien also die Kunden, denen könne man aber nichts zurückzahlen, da der durchschnittliche Verbraucher für von ihm verzehrte Ge266
Müller, S. 119 f. EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 71/ 73; zuletzt EuGH, Urteil vom 10. Januar 2006, Rs. C-402/03, Skov, Slg. 2006, I-199, Rn. 51; Urteil vom 18. Januar 2007, Rs. C-313/05, Maciej Brzezin´ski, Slg. 2007, I-513, Rn. 56: „nur ganz ausnahmsweise“; Urteil vom 6. März 2007, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 35; kritisch hierzu Alexander, Y.E.L. 8 (1988), 11 (24). 267
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tränke oder Speiseeis keine Belege aufbewahre.268 In diesem Fall soll die Möglichkeit einer Umverteilung also für eine Beschränkung der zeitlichen Wirkung sprechen: Da nach der Auffassung Österreichs die ursprünglich Belasteten gar nicht mehr belastet sind, könne die Beibehaltung des Status Quo niemandem schaden. Offenbar soll dadurch die Schwelle für die Bejahung schwerwiegender finanzieller Folgen gesenkt werden. Dieses Argument, auf das sich der Gerichtshof bei der Anordnung der Beschränkung letztlich nicht gestützt hat, kann nicht überzeugen: Wie schon Generalanwalt Saggio in seinen Schlussanträgen ausführte, ist keineswegs gesagt, dass eine solche Umwälzung tatsächlich stattgefunden hat. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, könnten die höheren Preise zu einem geringeren Absatz und damit zu Umsatzeinbußen geführt haben.269 Und selbst wenn einige Verkäufer die Preise erfolgreich abwälzen konnten und der Mitgliedstaat dies hinreichend belegen kann, muss das nicht allen gelungen sein. Der EuGH kann jedoch nur pauschal über Beschränkung oder Nicht-Beschränkung entscheiden. Das Vorabentscheidungsurteil ist daher nicht der geeignete Rahmen, um solche Erwägungen möglicher Schadensabwälzungen anzustellen. Dies ist eine Frage, die sich im Rahmen des unionsrechtlichen Erstattungsanspruches stellt, der aber nicht vom EuGH, sondern von den nationalen Gerichten zu prüfen ist. In diesem Rahmen kann das nationale Gericht auch prüfen, ob im Einzelfall ein Erstattungsanspruch ausgeschlossen ist, weil er zu einer ungerechtfertigten Bereicherung führen würde.270 Aus der Sicht der Mitgliedstaaten sollten derartige Umverteilungs-Argumente auch lieber gar nicht erst vorgebracht werden – denn wenn sie zu etwas geeignet sind, dann dazu, eine zeitliche Beschränkung noch unwahrscheinlicher zu machen. Den Gerichtshof darauf hinzuweisen, dass eine Rückzahlung zu einer ungerechtfertigten Bereicherung führen würde, wirft unweigerlich die Frage auf, ob dann nicht die Rückzahlungsansprüche eben mit dem Einwand der ungerechtfertigten Bereicherung abgewendet werden können, sei es nun durch die mitgliedstaatliche Behörde oder ein Gericht. Einer zeitlichen Beschränkung bedürfte es dann gar nicht mehr; jedenfalls wären die wirtschaftlichen Folgen für den Mitgliedstaat erheblich vermindert. Insofern besteht also vielmehr eine Pflicht der Mitgliedstaaten, bei der Quantifizierung der schwerwiegenden Folgen zu berücksichtigen, in welchem Umfang etwaige Rückforderungsansprüche bereits durch 268 EuGH, Urteil vom 9. März 2000, Rs. C-437/97, Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, I-1157, Rn. 56. 269 Generalanwalt Saggio, Schlussanträge vom 1. Juli 1999, Rs. C-437/97, Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, I-1157, Rn. 66 ff. 270 Vgl. EuGH, Urteil vom 2. Oktober 2003, Rs. C-147/01, Weber’s Wine World, Slg. 2003, I-11365, Rn. 93 ff.; Gegenstand der Vorlagefrage war eine österreichische Regelung, die in Erwartung des EKW-Urteils erlassen worden war, um alle Erstattungsansprüche wegen Abwälzung der Steuer abzulehnen. Siehe auch EuGH, Urteil vom 14. Januar 1997, verb. Rs. C-192/95 bis C-218/95, Comateb u. a., Slg. 1997, I-165, Rn. 23.
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den Einwand einer ungerechtfertigten Bereicherung nach nationalem Schuldrecht (also gewissermaßen mit den „Bordmitteln“ der Mitgliedstaaten) abgewehrt werden können. 2. Berücksichtigung von Regressansprüchen Im Rahmen der Frage, ob die Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Folgen zu befürchten ist, tauchte im Fall Skov271 die folgende Sonderproblematik auf: Dänemark hatte unter Verstoß gegen die Produkthaftungsrichtlinie272 sein nationales Produkthaftungsgesetz so konzipiert, dass der Lieferant vollumfänglich und verschuldensunabhängig in die Haftung der in der Lieferkette vor ihm tätig gewordenen Wirtschaftsteilnehmer (also insbesondere des Herstellers) eintrat. Unionsrechtskonform wäre allerdings gewesen, wenn nur der Hersteller verschuldensunabhängig gehaftet hätte. Auf der Basis der dänischen Regelung hatten nun viele Geschädigte bereits Schadensersatz gegen die Verkäufer statt gegen die Hersteller fehlerhafter Produkte erstritten. Die Geschädigten und die dänische Regierung befürchteten daher, dass diese Erfolge durch das Vorabentscheidungsurteil zunichte gemacht würden und die Geschädigten sich erneut um die Durchsetzung ihrer Rechte, nunmehr gegenüber dem Hersteller, bemühen müssten.273 In diesem Fall stellte sich somit die Frage, ob zu berücksichtigen war, dass den Geschädigten zwar ein Anspruch genommen würde, sie aber immer noch die Möglichkeit hätten, gegen den unionsrechtlich gesehen richtigen Schädiger, den Hersteller, vorzugehen. Grundsätzlich ist bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Folgen nur auf das wirtschaftliche Endergebnis abzustellen. Ebenso, wie die wirtschaftlichen Folgen für den Staat gemindert werden, wenn er zahlreiche Ansprüche aufgrund des Einwands der ungerechtfertigten Bereicherung abwehren kann, sind die Folgen für Private weniger einschneidend, wenn sie zwar einen Anspruch verlieren, dafür aber einen anderen gleichwertigen Anspruch haben, den sie geltend machen können. Der prozessuale Mehraufwand darf allerdings nicht unter den Tisch fallen. Immerhin müssen diejenigen, die schon einmal ein für sie günstiges (allerdings noch nicht rechtskräftiges und damit dem Einfluss des EuGH noch nicht gänzlich entzogenes) Schadensersatzurteil erstritten haben, nun einen komplett neuen Prozess gegen einen anderen Beklagten anstrengen, mit allen Beweisschwierigkeiten und sonstigen Prozessrisiken. Selbst wenn sie auch in diesem Prozess am Ende erfolgreich sein sollten, besteht die Möglichkeit, dass sie je nach Prozesskostenordnung des betroffenen Mitgliedstaates auf den Kosten des überflüssigen ersten 271
EuGH, Urteil vom 10. Januar 2006, Rs. C-402/03, Skov, Slg. 2006, I-199. Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. Nr. L 210, S. 10. 273 EuGH, Urteil vom 10. Januar 2006, Rs. C-402/03, Skov, Slg. 2006, I-199, Rn. 49. 272
X. Zusammenfassung
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Rechtsstreits sitzenbleiben. Zumindest diese Kosten sind in die Berechnung der wirtschaftlichen Folgen einzubeziehen. Zugleich ist in Konstellationen wie im Fall Skov, in denen Ansprüche zwischen mehreren Privaten eine Rolle spielen, sorgfältig darauf zu achten, dass die Tatbestandsvoraussetzungen für alle Personengruppen, jedenfalls aber für die Antragsteller geprüft werden. Diese Regel haben Generalanwalt274 und Gerichtshof im Fall Skov leider nicht beachtet: Beide führten nämlich aus, dass der Lieferant, der einen Geschädigten entschädigt habe, nach dänischem Recht in die Rechte des Herstellers eintrete und daher jedenfalls Regress nehmen könne. Auf die Frage, ob der Lieferant auch einen Rückzahlungsanspruch gegen einen zuvor entschädigten Geschädigten habe, komme es daher gar nicht an; die Urteilswirkungen seien nicht zu beschränken.275 Diese Ausführungen sind zwar an sich betrachtet richtig – sowohl dem Generalanwalt als auch dem Gerichtshof hätte aber eigentlich klar sein sollen, dass die Geschädigten ihren Antrag auf Begrenzung der Urteilswirkungen sicherlich nicht aus Sorge um die Lieferanten gestellt hatten. Viel näher liegt doch, dass die Geschädigten befürchteten, ihre eigenen im Vertrauen auf das dänische Recht gegen die Lieferanten erstrittenen Rechtspositionen wieder zu verlieren. Sinnvoller- und korrekterweise hätte der Gerichtshof daher (zumindest auch) prüfen müssen, inwieweit das Urteil zu schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen bei den Geschädigten führen würde und inwieweit diese gutgläubig bezüglich der Rechtslage waren. Diese Betrachtung bot sich im Fall Skov nicht zuletzt auch deshalb an, weil die Produkthaftungsrichtlinie, an der sich das dänische Recht messen lassen musste, gerade dem Schutz der Verbraucher, das heißt der durch Produktfehler Geschädigten, dienen soll (die Erwägungsgründe nehmen immerhin gut ein Dutzend Mal Bezug auf den Verbraucherschutz276). Es erscheint daher geradezu grotesk, bei einer solchen Fallkonstellation zur Beantwortung der Frage, ob eine Beschränkung der Rückwirkung indiziert ist, ausschließlich darauf abzustellen, ob die Rechtssicherheit der Lieferanten gewahrt ist oder nicht.
X. Zusammenfassung Die zwei vom EuGH gewählten Tatbestandsvoraussetzungen, die Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Folgen und der gute Glaube der eine zeitliche Beschränkung wünschenden Mitgliedstaaten oder Privaten, sind grundsätzlich zu befürworten. Bei restriktiver Handhabung ermöglichen sie eine sinnvolle Interes274 Generalanwalt Geelhoed, Schlussanträge vom 20. Januar 2005, Rs. C-402/03, Skov, Slg. 2006, I-199, Rn. 81. 275 EuGH, Urteil vom 10. Januar 2006, Rs. C-402/03, Skov, Slg. 2006, I-199, Rn. 52. 276 Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. Nr. L 210, S. 10, Erwägungsgründe.
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D. Voraussetzungen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
senabwägung zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit und wahren den Ausnahmecharakter der zeitlichen Beschränkung. Im Detail besteht allerdings noch Präzisierungsbedarf: Der EuGH muss sich auf besser vorhersehbare Kriterien für die Bewertung der Schwere der Folgen besinnen, und auch der Gefahrenbegriff sollte nicht länger ein Schattendasein fristen, sondern zu einer sinnvollen, an den Eintrittswahrscheinlichkeiten der möglichen Schäden orientierten Bezifferung der Urteilsfolgen führen. Im Rahmen der zweiten Tatbestandsvoraussetzung, der „objektiven und bedeutenden Unsicherheit der Rechtslage“ bzw. des guten Glaubens, ist ein objektivierter Sorgfaltsmaßstab anzuwenden. Entscheidend ist, ob die betroffenen Mitgliedstaaten oder privaten Rechtskreise aufgrund der Umstände, die sich ihnen präsentierten, von der Richtigkeit ihrer Rechtsauffassung ausgehen durften. Dafür ist als Ausgangspunkt eine mehrdeutige Rechtslage erforderlich, zu der weitere Indizien, wie zum Beispiel ein Handeln der Kommission, kommen müssen, durch welche die Betroffenen gewissermaßen „in die Irre geführt“ werden. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Gutgläubigkeit ist der jeweilige Zeitpunkt, zu dem einzelne Rechtsverhältnisse im Vertrauen auf die Rechtslage begründet wurden. Das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen ist von denjenigen, die eine zeitliche Beschränkung wünschen, darzulegen und zu beweisen. Die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen ist grundsätzlich nicht antragsgebunden; der Gerichtshof kann sie auch von Amts wegen vornehmen. Dennoch bietet es sich an, dem EuGH einen Hinweis zu erteilen, wenn eine solche Beschränkung gewünscht ist. Ein solcher Hinweis kann auch von dem vorlegenden Gericht kommen; allerdings sollte er dann deutlich von den eigentlichen Vorlagefragen getrennt werden. Eine wichtige prozessuale Einschränkung liegt darin, dass eine zeitliche Beschränkung nur vom EuGH und nur in demjenigen Urteil angeordnet werden kann, in dem eine Rechtsfrage erstmals beantwortet wird. Für die betroffenen Rechtskreise, insbesondere für die Mitgliedstaaten, folgt daraus die Obliegenheit, alle vor dem EuGH anhängigen Verfahren sorgfältig zu verfolgen und gegebenenfalls einen Antrag auf Beschränkung der Urteilswirkungen zu stellen, wenn schwerwiegende Folgen auch für die eigene Rechtsordnung zu befürchten sind. Trotz der zum Teil berechtigten Kritik an dieser Präklusionsregelung sollte weiter an ihr festgehalten werden, da ohne sie eine stark uneinheitliche Anwendung des Unionsrechts zwischen den Mitgliedstaaten und sogar innerhalb einzelner Mitgliedstaaten zu befürchten wäre.
E. Die Rechtsfolgen der Begrenzung der zeitlichen Wirkung im Auslegungsverfahren I. Grundsatz: ex-tunc-Wirkung 1. Herleitung und Umfang der ex-tunc-Wirkung Der EuGH geht, wie in dieser Untersuchung bereits vielfach aufgezeigt worden ist, von der ex-tunc-Wirkung seiner Vorabentscheidungsurteile aus. Da dies der alles entscheidende Punkt ist, der eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen in Einzelfällen überhaupt erst erforderlich macht, soll die entsprechende Formulierung des Gerichtshofs an dieser Stelle noch einmal in Erinnerung gerufen werden: „Durch die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Artikel 177 EWG-Vertrag vornimmt, wird erläutert und erforderlichenfalls verdeutlicht, in welchem Sinn und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre.“ 1
In der Literatur herrscht Uneinigkeit darüber, inwieweit dieser Schluss des EuGH auf die ex-tunc-Wirkung zwingend ist. Nach der wohl herrschenden Ansicht ergibt sich die ex-tunc-Wirkung automatisch aus dem Umstand, dass die Urteile in Vorabentscheidungsverfahren Feststellungsurteile sind.2 Da der Gerichtshof kein neues Recht schafft, sondern nur das vom Gesetzgeber ins Leben gerufene juristisch bewertet (sei es durch Auslegung oder durch eine Aussage zur Gültigkeit bzw. Ungültigkeit), wird nach diesem Verständnis die zeitliche Wirkung des Urteils nicht durch das Gericht, sondern durch den Gesetzgeber bestimmt: Der Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Regelung ist automatisch der Zeitpunkt, zu dem ihre richtige Auslegung einsetzt. Die Auslegung des Rechts „hat [. . .] an seiner zeitlichen Geltungsdauer teil.“ 3 Letztlich muss man sich jedoch im Klaren darüber sein, dass die ex-tunc-Wirkung der Vorabentscheidungsurteile keineswegs zwingend ist. Denn die Urteilswirkung ist von der Auslegung bzw. der Entscheidung über die Gültigkeit streng 1 EuGH, Urteil vom 27. März 1980, Rs. 61/79, Denkavit Italiana, Slg. 1980, S. 1205, Rn. 16. 2 Kohl, R.C.J.B. 1977, 231 (235); Weiß, EuR 1995, 377 (378); siehe jüngst auch EuGH, Urteil vom 12. Februar 2008, Rs. C-2/06, Kempter, Slg. 2008, I-411, Rn. 35. 3 Weiß, EuR 1995, 377 (378); siehe auch Vogel, StuW 2005, 373 (375); Beckmann, S. 113; Huep, S. 69, S. 207.
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
zu trennen. Gedanklich handelt es sich um einen separaten zweiten Schritt4 – das verdeutlicht bereits der Aufbau der EuGH-Entscheidungen, in denen diese Frage deutlich abgesetzt ist. Ein Vorabentscheidungsurteil entfaltet Wirkungen, soweit sich der Einzelne darauf berufen kann. Wenn der EuGH in einem Auslegungsurteil die zeitliche Wirkung beschränkt, dann bedeutet dies lediglich, dass für einen bestimmten Zeitraum die Berufung auf das Urteil nur eingeschränkt oder gar nicht möglich ist. Die richtige Auslegung der Vorschrift nimmt davon unabhängig an ihrer gesamten Geltungsdauer teil.5 Das macht auch die vom EuGH üblicherweise vorgenommene Tenorierung in den Urteilen mit beschränkter Wirkung deutlich: „Niemand kann sich auf [die einschlägige Vorschrift des Gemeinschaftsrechts] berufen, um Ansprüche betreffend Abgaben [. . .], die vor Erlaß dieses Urteils entrichtet wurden oder fällig geworden sind, geltend zu machen [. . .].“ 6
Wenn man sich dies vergegenwärtigt, dann erscheint auch eine grundsätzliche ex-nunc-Wirkung von Vorabentscheidungsurteilen denkbar, d.h. eine Berufung auf die im Urteil vorgenommene Auslegung oder festgestelle Ungültigkeit von Sekundärrecht wäre immer nur für die Zukunft möglich. Der Wortlaut von Art. 267 AEUV würde dies durchaus tragen. Der EuGH hat allerdings seine Entscheidung für eine ex-tunc-Wirkung getroffen und steht, wie der Rechtsvergleich gezeigt hat, mit seiner Wahl keineswegs allein in Europa da. Insofern ist die Rechtsprechung des EuGH zur Rückwirkung seiner Vorabentscheidungsurteile jedenfalls als gut vertretbar anzusehen. Allerdings erscheint die vom EuGH implizierte Prämisse, dass Auslegungsdauer und Geltungsdauer einer Vorschrift immer parallel laufen, in ihrer Absolutheit zweifelhaft. Sie geht davon aus, dass die Auslegung einer Vorschrift sich zwischen ihrem Inkrafttreten und dem Erlass des Urteils nicht mehr ändert.7 Das dürfte in den allermeisten Fällen auch richtig sein. Steinberg/Bark weisen aber zu Recht darauf hin, dass sich gerade in den Urteilen des EuGH hin und wieder zeigt, dass sich das unionsrechtliche Verständnis zu einzelnen Fragen im Zuge der fortschreitenden Integration wandeln kann.8 So kann beispielsweise der Erlass von Sekundärrechtsakten betreffend das Hochschulstudium dazu führen, dass der Gerichtshof – anders als vor Erlass dieser Rechtsakte – nunmehr davon ausgeht, dass Studenten durch das Diskriminierungsverbot in Art. 18 AEUV geschützt werden.9 In solchen Fällen erschiene es durchaus angemessen, wenn das 4
Vgl. dazu Huep, S. 207 f. Vogel, StuW 2005, 373 (375); Huep, S. 208 f. 6 Vgl. EuGH, Urteil vom 9. März 2000, Rs. C-437/97, Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, I-1157, Ziff. 3 des Tenors; Hervorh. d. Verf. 7 Vgl. Vogel, StuW 2005, 373 (375). 8 Steinberg/Bark, EuZW 2007, 243 (246). 9 EuGH, Urteil vom 20. Januar 2001, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rn. 35. 5
I. Grundsatz: ex-tunc-Wirkung
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Auslegungsurteil nicht bis zum Inkrafttreten einer unionsrechtlichen Vorschrift zurückwirkte, sondern nur bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sich die neue Auslegung des Unionsrechts manifestiert hat (z. B. dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des letzten Sekundärrechtsaktes, der notwendig war, um eine neue Auslegung des Diskriminierungsverbots herbeizuführen). Damit entfaltete das Urteil immer noch eine ex-tunc-Wirkung, die ganz natürliche Rückwirkung eines Vorabentscheidungsurteils, die streng von der hier untersuchten zeitlichen Beschränkung zu unterscheiden ist. Nur würde die gefundene Auslegung nicht mehr an der gesamten zeitlichen Geltungsdauer teilnehmen, sondern ab einem bestimmten Zeitpunkt eine frühere, überholte Auslegung ablösen. Da es sich bei dieser begrenzten Rückwirkung um die normale ex-tunc-Wirkung der Vorabentscheidung handelt, wäre folgerichtig weder eine gesonderte Anordnung einer zeitlichen Beschränkung noch die Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen erforderlich, sondern der Gerichtshof würde lediglich die zeitliche Reichweite seines Urteils feststellen. Ein entsprechender Urteilstenor könnte dann wie folgt aussehen: „Seit dem [Datum], dem Tag, an dem der Gemeinschaftsgesetzgeber durch Erlass der Verordnung [. . .] deutlich gemacht hat, dass [. . .], ist Art. [. . .] des Vertrages so auszulegen, dass er einer nationalen Rechtsvorschrift entgegensteht, die [. . .].“
In eine ähnliche Richtung ging bereits der Vorschlag der italienischen Importeure in der Rechtssache Salumi, die zeitliche Wirkung des Urteils von den angewandten Auslegungsmethoden oder den Ergebnissen der Auslegung selbst abhängig zu machen. Eine auf die Entstehungsgeschichte gestützte Auslegung führe zu einer ex-tunc-Wirkung, wohingegen eine auf die Entwicklung des normativen und sozio-ökonomischen Hintergrunds gestützte Auslegung eine ex-nunc-Wirkung bedinge. Dementsprechend müsse man bei rein deklaratorischen Auslegungsurteilen von einer ex-tunc-Wirkung ausgehen, während bei solchen Urteilen, durch die ungeschriebene Grundsätze bestätigt oder dem Rechtssystem neue Bestimmungen eingefügt würden, eine ex-nunc-Wirkung angemessener erscheine.10 Einen sehr ähnlichen Ansatz, wenn auch noch stärker an die Unvereinbarerklärung des deutschen BVerfG angelehnt, haben Steinberg/Bark zur Lösung des von ihnen aufgeworfenen Problems vorgeschlagen. Im Ergebnis kommen sie ebenfalls zu einer ex-nunc-Wirkung bei sich wandelnder Auslegung.11 Den hier von der juristischen Praxis und Literatur vorgebrachten grundsätzlichen Bedenken gegen die pauschale Rückwirkung eines Auslegungsurteils bis zum Inkrafttreten der Vorschrift ist grundsätzlich zuzustimmen. Die ebenso pauschale Alternative „ex-nunc-Wirkung“ erscheint jedoch dogmatisch inkonsequent und ist wohl eher von dem Wunsch geleitet, die Rückwirkung einfach komplett 10 EuGH, Urteil vom 27. März 1980, verb. Rs. 66/79, 127/79 u. 128/79, Salumi, Slg. 1980, 1237 (1247, Tatbestand). 11 Steinberg/Bark, EuZW 2007, 243 (246).
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
auszuschließen. Wenn eine bestimmte Auslegung nicht bei Inkrafttreten einer Vorschrift, sondern erst später einsetzt, dann erscheint es nur konsequent, wenn auch die Urteilswirkungen zu diesem späteren Zeitpunkt einsetzen. Das kann ausnahmsweise das Urteil sein, wenn dieses tatsächlich erst den letzten Baustein darstellt, durch den eine unionsrechtliche Vorschrift im Zuge der Fortentwicklung des Rechts eine neue Bedeutung erhält. Häufig dürfte aber auch ein zwischen Inkrafttreten der fraglichen Vorschrift und Urteilserlass liegender Zeitpunkt den Stichtag für das „Umschlagen“ der richtigen Auslegung darstellen, zum Beispiel der Erlass eines weiteren Sekundärrechtsaktes. Richtigerweise wirkt daher ein Auslegungsurteil immer zurück bis zu dem Zeitpunkt, ab dem eine bestimmte Auslegung richtig war – dies wird in den meisten Fällen bereits das Inkrafttreten der Vorschrift sein, es kann aber auch ein späterer Zeitpunkt sein. Im Extremfall wird eine neue Auslegung erst mit Erlass des Urteils maßgeblich – dann hat das Auslegungsurteil ausnahmsweise eine ex-nunc-Wirkung. 2. Weitergehende Folge: Erstattungsanspruch Die Rückwirkung des Vorabentscheidungsurteils hat zur Folge, dass die nationalen Rechtsvorschriften, die laut EuGH nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sind, auch für in der Vergangenheit liegende Zeiträume aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unanwendbar werden, genauer gesagt: schon immer unanwendbar waren. Abgaben, die vor Erlass des Urteils aufgrund dieser Vorschriften erhoben worden sind, sind daher rechtsgrundlos eingezogen worden. Wegen des fehlenden Rechtsgrundes hat der Einzelne somit einen unionsrechtlichen Erstattungsanspruch auf Rückgewähr dieser Abgaben, der eine Folge und Ergänzung der Rechte ist, die ihm aus den unionsrechtlichen Vorschriften zustehen, die gewisse Abgaben verbieten.12 Rechtsgrundlage dieses Erstattungsanspruchs ist die unmittelbare Wirkung des Unionsrechts.13 Viel weiter als bis zu dieser Feststellung, dass die Mitgliedstaaten zu Unrecht erhobene Abgaben zu ersetzen haben, reicht das Unionsrecht aber nicht. Die materiellen und formellen Voraussetzungen des Erstattungsanspruchs sowie die dazugehörigen gerichtlichen und außergerichtlichen Zuständigkeiten ergeben sich aus dem nationalen Recht.14 Im deutschen Recht wären also je nach Rechtsmaterie die Grundsätze einer ungerechtfertigten Bereicherung oder des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs 12 EuGH, Urteil vom 27. Februar 1980, Rs. 68/79, Just, Slg. 1980, 501, Rn. 25; Urteil vom 27. März 1980, Rs. 61/79, Denkavit Italiana, Slg. 1980, 1205, Rn. 25; Urteil vom 9. November 1983, Rs. 199/82, San Giorgio, Slg. 1983, 3595, Rn. 12; Urteil vom 14. Januar 1997, verb. Rs. C-192/95 bis C-218/95, Comateb u. a., Slg. 1997, I-165, Rn. 20; siehe auch Schima, S. 102; Hahn, IStR 2002, 105 (105 f.); ders., IStR 2005, 145 (146). 13 Hahn, IStR 2002, 105 (106); Lange, S. 46, siehe auch Tanzer, in: Holoubek/Lang (Hrsg.), S. 210. 14 Berg, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 288 EG, Rn. 72.
II. Abweichend bestimmter Zeitpunkt der Wirkungen des Urteils
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anzuwenden.15 Allerdings sind die Mitgliedstaaten nicht völlig frei in der Bestimmung der Voraussetzungen des Anspruchs, denn dieser darf nicht gegen unionsrechtliche Grundsätze wie das Effizienzprinzip und das Äquivalenzprinzip verstoßen.16 Zulässig ist allerdings laut EuGH, wenn ein Mitgliedstaat die Erstattung verweigert, weil der Betroffene die Abgabenlast nachweislich auf andere übergewälzt hat; in diesem Fall stehe es den nationalen Gerichten frei, eine ungerechtfertigte Bereicherung zu berücksichtigen.17 Der Erstattungsanspruch ist akzessorisch zur zeitlichen Reichweite des Vorabentscheidungsurteils: Wer sich aufgrund einer zeitlichen Beschränkung nicht auf ein Urteil des Gerichtshofs berufen kann, der kann dieses Urteil zwangsläufig auch nicht zur Begründung eines Erstattungsanspruchs heranziehen. Die zeitliche Wirkung des Urteils gibt also den Rahmen vor, innerhalb dessen die Erstattungsansprüche entstehen.
II. Abweichend bestimmter Zeitpunkt der Wirkungen des Urteils 1. Allgemeines Wenn sich der Gerichtshof zu einer zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen entschließt, also die Tatbestandsvoraussetzungen als erfüllt ansieht, dann stellt sich nach dieser Entscheidung für das „Ob“ zwangläufig die Folgefrage, wie die zeitlichen Wirkungen beschränkt werden sollen. Der Gerichtshof muss sich für einen Zeitpunkt entscheiden, zu dem die Urteilswirkungen einsetzen sollen. Dabei ist er theoretisch relativ frei in seiner Wahl. Wie schon Generalanwältin Stix-Hackl in ihren Schlussanträgen in Banca Popolare di Cremona feststellte: „Wenn die zeitliche Wirkung des Urteils zu beschränken ist, so muss der Stichtag entweder der Tag der Urteilsverkündung selbst oder ein bestimmter anderer Zeitpunkt vor oder nach der Verkündung sein.“ 18 15 Tiedje/Troberg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU/EG, Art. 43 EG, Rn. 131. 16 EuGH, Urteil vom 9. November 1983, Rs. 199/82, San Giorgio, Slg. 1983, 3595, Rn. 12; siehe dazu näher Tanzer, in: Holoubek/Lang (Hrsg.), S. 212 ff., sowie unten E. V. 2. 17 EuGH, Urteil vom 27. Februar 1980, Rs. 68/79, Just, Slg. 1980, 501, Rn. 26; Urteil vom 27. März 1980, Rs. 61/79, Denkavit Italiana, Slg. 1980, 1205, Rn. 26; Urteil vom 9. November 1983, Rs. 199/82, San Giorgio, Slg. 1983, 3595, Rn. 13; Urteil vom 14. Januar 1997, verb. Rs. C-192/95 bis C-218/95, Comateb u. a., Slg. 1997, I-165, Rn. 21; siehe auch Schilling, EuZW 1997, 116 (119); Tanzer, in: Holoubek/Lang (Hrsg.), S. 216 f.; ausführlich Lange, S. 156 ff. Inwieweit es den Mitgliedstaaten überhaupt gelingen kann, den Nachweis einer solchen Überwälzung zu führen, sei dahingestellt. Siehe hierzu Hubeau, der allgemein dem Konzept der Überwälzung in der Rechtsprechung des EuGH kritisch gegenübersteht: Hubeau, C.M.L.R. 22 (1985), 87 (100). 18 Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 158.
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
Dieses Zitat verdeutlicht mehrere Dinge: Erstens: Es muss einen Stichtag geben. Zweitens: Der gewählte Stichtag kann aus der Sicht des verkündeten Urteils in der Vergangenheit, in der Zukunft oder aber in der Gegenwart (das heißt genau auf dem Tag der Urteilsverkündung) liegen. Drittens: Der gewählte Zeitpunkt, wo auch immer er liegt, muss bestimmt sein.19 Schließlich sollen die nationalen Gerichte, die darüber zu befinden haben, ob sie dem Kläger in ihrem Verfahren einen Anspruch gewähren oder aufgrund der zeitlichen Beschränkung verweigern müssen, eine klare Vorgabe erhalten. Nur so lässt sich die einheitliche Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten gewährleisten. Die Aussage der Generalanwältin zur vermeintlich freien Wahl des Stichtags ist allerdings unvollständig, denn sie lässt die zeitlichen Grenzen für die Festlegung dieses Stichtags außer acht. In der Vergangenheit ist nämlich der Wahl des Zeitpunkts eine zwingende Grenze gesetzt durch das Datum, zu dem der Unionsrechtsakt, um dessen Auslegung oder Gültigkeit es geht, in Kraft getreten ist. Da es sich um ein Feststellungsurteil handelt, ist die zeitliche Wirkung des Urteils akzessorisch, sie hat an der „zeitlichen Geltungsdauer [des Rechtsakts] teil“.20 Die Wirkung des Urteils kann sich daher logischerweise niemals auf den Zeitraum vor Inkrafttreten des Rechtsakts erstrecken, selbst wenn eine nationale Rechtsvorschrift bereits vor der einschlägigen unionsrechtlichen Vorschrift existiert hat und erst später mit Inkrafttreten der letzteren unionsrechtswidrig wurde. Anwendungsfälle der nationalen Rechtsvorschrift vor Inkrafttreten des entgegenstehenden Unionsrechts werden von einem Vorabentscheidungsurteil des Gerichtshofs nicht beeinflusst, folglich bestünde auch gar keine Notwendigkeit, die zeitliche Beschränkung auf diese Fälle zu erstrecken. In entsprechender Weise kann sich die Wirkung auch nur soweit in die Zukunft erstrecken, als die EU-Organe den Rechtsakt nicht wieder aufheben. Doch auch unabhängig davon wird eine Verlegung der Urteilswirkung in die Zukunft nicht unbegrenzt möglich sein: Die zeitliche Begrenzung ist Ergebnis einer Abwägung zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit, die zu Gunsten der Rechtssicherheit ausgefallen ist. Von dem Tag an, an dem die problematische Rechtsfrage durch das Urteil geklärt worden ist, muss jedoch das Gewicht der Rechtssicherheit zwangsläufig und kontinuierlich abnehmen. Es darf von allen Betroffenen erwartet werden, dass sie das Urteil des Gerichtshofs zur Kenntnis nehmen und spätestens nach einer kurzen Umstellungsphase ihre Handlungen entsprechend angepasst haben. Im Übrigen sei noch einmal klargestellt, dass der von der Generalanwältin im obigen Zitat erwähnte und hier diskutierte Stichtag derjenige Tag ist, an dem die zeitliche Beschränkung endet und die Urteilswirkungen einsetzen. Beginn der Phase, in der die Sachverhalte liegen, für die sich niemand auf das Urteil berufen 19 20
Vgl. Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1841). Weiß, EuR 1995, 377 (378).
II. Abweichend bestimmter Zeitpunkt der Wirkungen des Urteils
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kann, ist automatisch der Tag, an dem der Rechtskonflikt erstmals auftritt, an dem also entweder eine nationale Rechtsvorschrift in Kraft tritt, die mit bereits existierendem Unionsrecht unvereinbar ist, oder an dem eine unionsrechtliche Vorschrift in Kraft tritt, die bereits bestehende Vorschriften des nationalen Rechts unionsrechtswidrig macht. Wenn der Gerichtshof die Tatbestandsvoraussetzungen bejaht hat, also von der Gutgläubigkeit der Betroffenen ausgeht, dann ist dies der Zeitpunkt, zu dem die ungewisse bzw. trügerische Rechtslage einsetzt, die erst durch ein späteres Ereignis, in der Regel das Vorabentscheidungsurteil des Gerichtshofs, wieder aufgelöst wird. 2. Zeitliche Anknüpfungspunkte Im Folgenden sollen die einzelnen Zeitpunkte untersucht werden, die sich innerhalb des soeben abgesteckten Zeitrahmens als Stichtag für das Eintreten der Urteilswirkungen anbieten. Selbstverständlich gibt es in der Theorie unendlich viele Zeitpunkte ab Inkrafttreten des Unionsrechtsakts, auf die der Gerichtshof in seinem Urteil abstellen könnte. Doch ebenso selbstverständlich kann die Wahl des Zeitpunkts nicht völliger Willkür unterliegen. Auch hier ist wieder zu berücksichtigen, dass die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen ihre gesamte Existenzberechtigung aus dem Konflikt zwischen Rechtssicherheit auf der einen und effektiver Durchsetzung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten auf der anderen Seite bezieht. Der Stichtag, zu dem die zeitliche Beschränkung des Urteils endet und die Urteilswirkung einsetzt, sollte daher ein Tag sein, auf den ein Ereignis fällt, das das Verhältnis zwischen Rechtssicherheit und Durchsetzungsanspruch des Rechts merklich verschiebt. a) Datum der Verkündung des Urteils Bisher hat der Gerichtshof als Stichtag für den Eintritt der Urteilswirkungen immer den Tag der Verkündung des Vorabentscheidungsurteils gewählt.21 Dies ist nicht überraschend: In vielen Fällen wird es zwischen dem Inkrafttreten der umstrittenen unionsrechtlichen Vorschrift und der Verkündung des Urteils keinen einzelnen Zeitpunkt geben, zu dem sich die allgemeine Rechtserkenntnis derart verändert und zu dem sich daher die Gewichtung zwischen Rechtssicherheit und Rechtsdurchsetzung derart verschiebt, dass diese Veränderung es angemessen erscheinen lässt, die Urteilswirkungen zu jenem Zeitpunkt einsetzen zu lassen.22 21 Kokott/Henze, NJW 2006, 177 (181); Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 157; siehe auch Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge vom 17. März 2005, Rs. C475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 82 ff. 22 Siehe zur Rechtssache Banca Popolare di Cremona, Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 159.
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
Im Regelfall wird die Rechtslage bis zum Urteil des Gerichtshofs gleichbleibend unklar sein, werden die Beteiligten mit zumindest nicht gänzlich abwegigen Argumenten auf ihren gegensätzlichen Rechtsstandpunkten beharren. Dann bringt erst das Urteil des Gerichtshofs Klarheit darüber, ob der in Rede stehende Unionsrechtsakt gültig oder wie er auszulegen ist (was freilich die unterlegene Partei nicht immer davon abhält, auch nach Urteilsverkündung auf ihrem erfolglosen Standpunkt zu beharren und dem Gerichtshof ein Fehlurteil vorzuwerfen). Somit ist es auch erst die Klarstellung durch das Urteil, welche von diesem Zeitpunkt an die Schutzwürdigkeit derer entfallen lässt, die anderer Auffassung als der Gerichtshof waren und – aufgrund ihrer im Tatbestand abgeprüften Gutgläubigkeit – sein durften. Letztlich handelt es sich hier um nichts anderes als um einen Gleichlauf der Rechtsfolgen mit den Tatbestandsvoraussetzungen: Eine zeitliche Beschränkung kommt nur und auch nur solange in Betracht, wie die Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen. Eine Klärung der Rechtslage, wie sie spätestens das Urteil herbeiführt, lässt aber den guten Glauben der Beteiligten entfallen. Mit dem Wegfall einer der beiden Tatbestandsvoraussetzungen ist jedoch auch kein Grund mehr ersichtlich, die Urteilswirkungen noch länger zu beschränken. b) Zeitpunkt in der Zukunft Der Tag der Verkündung des Urteils ist also in der Regel der Tag, mit dem der gute Glaube der Betroffenen zerstört wird. Dafür bedarf es nur einiger weniger Minuten, die nötig sind, um den Tenor des Urteils zu verlesen.23 Ab dann (oder spätestens ab der Veröffentlichung des Urteils) wissen alle Betroffenen Bescheid – oder haben zumindest die Möglichkeit, sich entsprechend zu informieren. Es erscheint jedoch fraglich, ob die Schutzwürdigkeit genauso schlagartig erlischt wie der gute Glaube. Denn eines berücksichtigt der Ansatz des Gerichtshofs nicht: Die angemessene Reaktion auf das Urteil des EuGH wird möglicherweise einige Zeit in Anspruch nehmen. Der Gerichtshof fällt seine Urteile schließlich auch nicht von jetzt auf gleich, daher kann man wohl kaum von den Mitgliedstaaten verlangen, ihr nationales Recht über Nacht anzupassen.24 Vor diesem Hintergrund wäre es zumindest bedenkenswert, die zeitlichen Wirkungen des Urteils erst ab einem Zeitpunkt in der Zukunft eintreten zu lassen, der den Betroffenen hinreichend Zeit gibt, die notwendigen Schritte einzuleiten. Derartige Vorschläge sind in der Vergangenheit vereinzelt gemacht worden;25 be23
Vgl. Schima, S. 160. Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 162. 25 Wunderlich/Albath, DStZ 2005, 547 (552); Schwarze, Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn. 740; ders., NJW 2005, 3459 (3465); ablehnend hingegen Schaer, S. 98 ff. 24
II. Abweichend bestimmter Zeitpunkt der Wirkungen des Urteils
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sonders prominent waren die Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs in der Rechtssache Banca Popolare di Cremona.26 Der Gerichtshof hat bisher nur in einigen wenigen Fällen, in Vorabentscheidungsverfahren über die Gültigkeit von Sekundärrecht im Bereich der gemeinsamen Marktordnung im Agrarsektor, die Wirkungen der für ungültig erklärten Verordnung auch für einen gewissen Übergangszeitraum nach dem Urteil aufrechterhalten.27 Dies lässt sich jedoch nur schwer verallgemeinern. Denn im Rahmen der Gültigkeitsvorlagen wendet der Gerichtshof, wie gesagt, Art. 231 Abs. 2 EG bzw. nunmehr Art. 264 Abs. 2 AEUV analog an, kann sich also – wenn auch nur über den Umweg der Analogie – auf eine Rechtsgrundlage aus dem Vertrag berufen. Der Begründungsaufwand für eine solche Fortgeltung ist daher also erheblich geringer. Zu berücksichtigen ist des Weiteren, dass in derartigen Vorabentscheidungen durch die Aufschiebung der Urteilswirkungen nicht unionsrechtswidriges nationales Recht, sondern primärrechtswidriges Unionssekundärrecht aufrechterhalten wird, der Rangkonflikt also ausschließlich auf der Ebene des Unionsrechts ausgetragen wird.28 Das Unionsrecht weicht nicht nationalem Recht, seine effektive Wirkung in den Mitgliedstaaten wird nicht in Frage gestellt. Auch das senkt den Begründungsaufwand für eine solche Fortgeltung. Bei den Auslegungsfragen hingegen besteht keine Möglichkeit eines Rückgriffs auf Art. 264 Abs. 2 AEUV. Daher ist hier gesondert zu fragen: Inwiefern würde eine Umsetzungsfrist den Bedürfnissen der Rechtssicherheit besser gerecht werden als die bisherige Praxis des Gerichtshofs? Für den Zeitraum bis zum Urteil bestünde kein Unterschied zur „herkömmlichen“ zeitlichen Beschränkung. Durch die Verlagerung des Stichtags in die Zukunft erhalten die Mitgliedstaaten jedoch zusätzlich einen Übergangszeitraum, während dessen sie die eigentlich unionsrechtswidrige Vorschrift (idealerweise bis zu einer unionsrechtskonformen Neuregelung) weiter anwenden dürfen. Die Mitgliedstaaten können also während dieses Zeitraums zum Beispiel Steuerbescheide auf der Grundlage einer an sich unionsrechtswidrigen Steuervorschrift erheben und vollstrecken. Die Unionsrechtswidrigkeit lebt auch nicht etwa nach Ablauf der Übergangsfrist wieder auf, so dass während dieser Phase eingezogene Abgaben zurückgezahlt werden müssten. Im Gegenteil, die Effekte der vorübergehenden Aussetzung des Unionsrechts wären dauerhaft. Eine Übergangsfrist führte allerdings zu einem Problem: Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH können sich trotz der Beschränkung diejenigen auch 26 Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge vom 17. März 2005, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 86. 27 EuGH, Urteil vom 29. Juni 1988, Rs. 300/86, van Landschoot, Slg. 1988, 3443, Rn. 24 und Tenor; Urteil vom 22. Dezember 2008, Rs. C-333/07, Régie Networks, Slg. 2008, I-10807, Rn. 123 ff. Siehe hierzu auch die Ausführungen in Abschnitt F. IV. 1. 28 Koenig/Schreiber, DÖV 2008, 450 (452 f.).
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
für vergangene Sachverhalte auf das Urteil berufen, die bereits Rechtsbehelfe eingelegt haben. Diese so genannte Rückausnahme, auf die im Einzelnen noch einzugehen sein wird, kann für den Übergangszeitraum nach Urteilserlass nicht funktionieren. Denn bisher hat der Gerichtshof immer darauf abgestellt, dass der Rechtsbehelf bis zum Erlass des Urteils eingelegt worden sein muss. Aber für Sachverhalte, die sich erst innerhalb einer Übergangsfrist nach Urteilserlass ereignen, kann logischerweise niemand vor diesem Urteil einen Rechtsbehelf eingelegt haben. Die resultierende Rechtsschutzlücke erscheint ungerecht: Warum soll jemand, der nach Urteilserlass einen klar unionsrechtswidrigen (wenn auch vom EuGH geduldeten) Bescheid erhält, weniger Aussicht auf Rechtsschutz haben als jemand, der vor Urteilserlass einen bis zur endgültigen Klärung durch den EuGH nur potentiell unionsrechtswidrigen Bescheid erhalten hat?29 Bliebe also nur noch, den Gleichlauf zwischen zeitlicher Beschränkung und Rückausnahme wiederherzustellen und für beide den gleichen zukünftigen Stichtag festzulegen. Damit würde aber die Rückausnahme zum Regelfall werden: Da die Ungültigkeit bzw. die richtige Auslegung des Unionsrechts bereits rechtskräftig30 festgestellt worden ist, würde natürlich jeder Betroffene sogleich einen Rechtsbehelf gegen den Bescheid einlegen. Die Übergangsfrist würde dem betroffenen Staat überhaupt nicht helfen, stattdessen würde er sehenden Auges Bescheide erlassen, die ohnehin wieder aufgehoben werden müssten. Wenn die Übergangsfrist dem betroffenen Mitgliedstaat also einen Vorteil bringen soll, dann bleibt nur die Lösung, den Stichtag für die Rückausnahme weiter auf dem Tag der Verkündung des Urteils zu belassen und die Schlechterstellung der während dieses Zeitraums von der unionsrechtswidrigen Regelung Betroffenen in Kauf zu nehmen.31 Ferner ist zu überlegen, inwieweit eine Übergangsfrist bis zu einem Zeitpunkt in der Zukunft mit der Pflicht zur Vertragstreue aus Art. 4 Abs. 3 EUV vereinbar ist. In der Literatur ist kritisiert worden, dass der Gerichtshof hierdurch den betroffenen Mitgliedstaaten einen Dispens von der Pflicht erteile, die unionsrechtswidrige Norm nicht weiter anzuwenden und durch eine unionsrechtskonforme Bestimmung zu ersetzen. Dazu sei er nicht befugt.32 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass der Gerichtshof keineswegs die Pflicht der Mitgliedstaaten zu unionsrechtskonformem Handeln aufhebt. Bereits nach der derzeitigen Dogmatik gilt die Auslegung des Unionsrechts und damit das mittelbare Urteil über die Unions-
29 Dies wäre allerdings die Konsequenz des von Generalanwältin Stix-Hackl in der Rechtssache Banca Popolare di Cremona vorgeschlagenen Tenors; siehe Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 187, Ziff. 2. 30 Art. 65 EuGH-VerfO. 31 Für diese Lösung entscheidet sich auch Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 162. 32 Müller, S. 97; vgl. auch Schaer, S. 100.
II. Abweichend bestimmter Zeitpunkt der Wirkungen des Urteils
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rechtswidrigkeit entgegenstehenden nationalen Rechts in jedem Fall für die Vergangenheit, nur kann sich bei einer zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen nicht jeder darauf berufen. Das Gleiche gälte bei einer Verschiebung des zeitlichen Anknüpfungspunktes in die Zukunft. Wenn die Mitgliedstaaten das betreffende nationale Recht auch nach der Urteilsverkündung weiter anwenden, handeln sie unionsrechtswidrig – sie können lediglich davon ausgehen, dass dieser Verstoß keine finanziellen Konsequenzen mit sich bringen wird. Trotz dieser Probleme kann eine Übergangsfrist nach dem Urteil durchaus sinnvoll sein, allerdings nur in sehr seltenen Ausnahmefällen. Ein solcher läge dann vor, wenn die wirtschaftlichen Folgen, die aufgrund der durch das Urteil entstandenen Regelungslücke allein für den Übergangszeitraum zu erwarten sind, so gravierend wären, dass sie dem Mitgliedstaat oder den betroffenen privaten Kreisen in Anbetracht ihrer bis zum Erlass des Urteils noch vorhandenen Gutgläubigkeit nicht zugemutet werden können (eine Gesetzesänderung vor Urteilsverkündung, gewissermaßen „auf Verdacht“, wäre wohl zuviel verlangt33). Die Schutzwürdigkeit unter dem Aspekt der Rechtssicherheit setzt sich hierbei über den Tag der Urteilsverkündung hinaus in die Zukunft fort, und zwar um den Zeitraum, der für die Gesetzesänderung nötig ist.34 Dem steht auch nicht entgegen, dass laut Gerichtshof die zukünftige Anwendung nicht unterbunden werden soll.35 Denn ebenso wie die Beschränkung der Rückwirkung verfolgt die Einräumung einer Übergangsfrist den Zweck, dass der Gerichtshof trotz der schwerwiegenden Folgen die materiell richtige Entscheidung treffen und die Folgen für einen begrenzten Zeitraum eindämmen kann. Auch hier kann die richtige Auslegung in der Zukunft ihre volle Wirkung entfalten; die Zukunft fängt nur ein wenig später an. Den hier aufgeführten Bedenken gegen die Einräumung einer Übergangsfrist ist jedoch Rechnung zu tragen: Sie muss die absolute Ausnahme bleiben. Da dies bereits für die Beschränkung der Urteilswirkung an sich gilt, müssen zusätzliche Anforderungen gestellt werden, welche die Übergangsfrist gewissermaßen zur Ausnahme im Rahmen der Ausnahme machen.36 Die Mitgliedstaaten müssen daher alles in ihrer Macht Stehende tun, um die bis zur Neuregelung entstehenden Folgen zu minimieren und damit die Notwendigkeit einer Übergangsfrist zu vermeiden: Erstens darf von den Mitgliedstaaten erwartet werden, dass sie die Schritte zur Umsetzung so schnell wie möglich einleiten. Dabei wäre es auch zumutbar, dass ein Mitgliedstaat spätestens nach den Schlussanträgen des General33 Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 162. 34 Diesen Aspekt übersehen Koenig/Schreiber, DÖV 2008, 450 (454), denen zufolge eine Einschränkung der praktischen Wirksamkeit ausschließlich für in der Vergangenheit liegende Fälle möglich sein soll. 35 A.A. Koenig/Schreiber, DÖV 2008, 450 (454). 36 Janssen, EuZW 2005, 257 (257).
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
anwalts oder der Generalanwältin, wenn diese für ihn ungünstig ausfallen, zwar das betroffene Gesetz noch nicht ändert, aber zumindest erste Schritte für den Notfall einleitet und einen entsprechenden Gesetzesentwurf in seinen Ministerien ausarbeiten lässt.37 Gleiches gilt natürlich für die Unionsorgane im Falle der drohenden Ungültigerklärung eines Sekundärrechtsaktes. Wenn das Urteil des Gerichtshofs dann verkündet ist, kann dieser Entwurf gleich ohne weitere Verzögerungen den zuständigen Gremien zur Abstimmung zugeleitet werden. Wenn Private betroffen sind, also kein von der nationalen Verfassung diktiertes Verfahren eingehalten werden muss, sollte in der Regel sogar eine Umstellung über Nacht möglich sein – dann muss eben ab dem Tag der Urteilsverkündung das richtige Vertragsformular verwendet oder die Auszahlungspraxis der privaten Rentenversicherung entsprechend umgestellt werden. Zweitens kann von den Mitgliedstaaten verlangt werden, dass sie alle Möglichkeiten der Verfassung ausschöpfen, um den unionsrechtskonformen Zustand möglichst schnell nach Verkündung des Urteils eintreten zu lassen. Dafür spricht bereits die Pflicht zu unionskonformem Verhalten aus Art. 4 Abs. 3 AEUV. So kann erwartet werden, dass die betroffenen Mitgliedstaaten das Gesetzgebungsverfahren so weit wie möglich beschleunigen und ihm eine hohe Priorität einräumen. Eine Rücksichtnahme auf die sonstige Auslastung der Legislative, wie dies das tschechische Verfassungsgericht praktiziert,38 erscheint nicht angebracht. Auch der Erlass rückwirkender Gesetze wäre zu erwägen, soweit dies die Verfassung erlaubt und soweit dies nicht dem Zweck der Übergangsfrist, die wirtschaftlichen Folgen für den betroffenen Staat abzufedern, völlig zuwiderliefe. Hier geht es nur um die Rückwirkung bis zur Verkündung des Urteils, also um einige wenige Monate. In solchen Fällen sollte zum Beispiel auch nach deutschem Verfassungsrecht eine echte Rückwirkung möglich sein, da ab der Urteilsverkündung mit dieser gerechnet werden musste.39 Drittens kann von den mitgliedstaatlichen Behörden erwartet werden, dass Gesetze, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshof unionsrechtswidrig sind, bis zum Erlass des neuen Rechts nur noch zurückhaltend angewandt werden und entsprechende Verfahren, soweit dies ohne größere Schäden möglich ist, vorerst ausgesetzt werden. Viertens und letztens sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass die Aussicht eines Mitgliedstaates oder betroffener Privater, weitere Verluste zu erleiden, wenn nicht schnellstens ein unionsrechtskonformer Zustand hergestellt wird, ein weitaus effektiverer Anreiz zum schnellen Handeln sein könnte als eine vom Gerichtshof festgelegte Umsetzungsfrist. 37 Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 163. 38 Siehe oben B. II. 6. 39 Siehe Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR II, § 26, Rn. 86.
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Nur wenn zu befürchten ist, dass trotz all dieser Maßnahmen durch die in dem Übergangszeitraum auflaufenden Ansprüche oder wegfallenden Einnahmen schwerwiegende wirtschaftliche Folgen verursacht werden, wäre eine Verlegung des Stichtags für die Wirkungen des Urteils auf einen in der Zukunft liegenden Zeitpunkt ausnahmsweise zu befürworten. Die Frist sollte allerdings so kurz bemessen sein, dass sie gerade eben die Durchführung eines zügigen Gesetzgebungsverfahrens, das bereits vor Urteilsverkündung vorbereitet worden ist, zulässt.40 Dabei sollte nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden: Die Möglichkeit der Rückausnahme für die Vergangenheit sollte dadurch keineswegs gänzlich ausgeschlossen sein, wie dies Generalanwalt Jacobs vorzuschweben scheint. Auch das BVerfG macht bei seiner Unvereinbarerklärung eine Rückausnahme für den Anlassfall und entsprechende Parallelfälle, indem es erklärt, dass das für (nur) unvereinbar (und nicht nichtig) erklärte Gesetz auf jene Fälle nicht anzuwenden ist.41 Es wird an späterer Stelle noch zu untersuchen sein, wie die Rückausnahme in derartigen Fällen sinnvollerweise ausgestaltet werden sollte. Kein Grund für eine Verlegung des Stichtags der zeitlichen Beschränkung in die Zukunft kann allerdings sein, wenn aufgrund der intensiven Medienberichterstattung bereits zahlreiche Betroffene Rechtsbehelfe eingelegt haben und die zeitliche Beschränkung Gefahr läuft, wirkungslos zu sein. Gerade dies war aber die Argumentation von Generalanwalt Jacobs in der Rechtssache Banca Popolare di Cremona. Jacobs schlug vor, der Praxis des deutschen BVerfG folgend den Eintritt der Urteilswirkungen einem späteren Zeitpunkt vorzubehalten, „wobei der fragliche Zeitpunkt so gewählt wird, dass genug Zeit besteht, um neue Rechtsvorschriften zu erlassen.“ 42 Dieser Vorschlag ist in der Literatur sehr kritisch aufgenommen worden.43 Und in der Tat muss man Jacobs wohl vorwerfen, hier einiges durcheinandergebracht zu haben. Dies mag ihm vielleicht deshalb nicht aufgefallen sein, weil er hinsichtlich dieser Frage die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung vorschlug und sich daher mit einem unvollständigen und nicht umsetzungsfähigen Beschränkungstenor begnügte.44 Das drohende Leerlaufen der zeitlichen Beschränkung in publikumswirksamen Fällen, in denen die Mehrzahl der Betroffenen bereits prophylaktisch einen Rechtsbehelf eingelegt hat, ist in der Tat ein Problem. Allerdings kein Problem des Stichtags für die Urteilswirkungen, sondern ein Problem der Rückausnahme. Das verdeutlicht folgende Überle40 Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 163. 41 Schlaich/Korioth, Rn. 413; Düsterhaus, EuZW 2006, 393 (397). 42 Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge vom 17. März 2005, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 86. 43 Düsterhaus EuZW 2006, 393 (397); Kokott/Henze, NJW 2006, 177 (183); Wiedmann, EuZW 2007, 692 (695). 44 Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge vom 17. März 2005, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 90.
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
gung: Würde der Stichtag statt auf den Tag der Verkündung des Urteils ein paar Monate in die Zukunft verlegt, die Rückausnahmeregelung aber beibehalten, dann könnten immer noch fast alle Steuerpflichtigen für die in der Vergangenheit liegenden Fälle die Rückerstattung verlangen. Dieser Gefahr ließe sich nur durch eine Erhöhung der Voraussetzungen begegnen, die erfüllt sein müssen, um in den Genuss der Rückausnahme zu kommen. Einen Übergangszeitraum zu schaffen, wäre zwar möglicherweise geeignet, die finanziellen Nöte des betroffenen Staates ein wenig zu mindern. Denn während dieses Zeitraums kann es nach dem bisher Gesagten zwangsläufig keine Rückausnahmeregelung geben, so dass die in ihm erlassenen Bescheide unionsrechtlich unanfechtbar sind. Er würde aber definitiv die Falschen treffen. Beide Problembereiche, der Stichtag für das Ende der zeitlichen Beschränkung und der Stichtag für die Rückausnahme, sind daher streng getrennt voneinander zu betrachten. c) Zeitpunkt eines den guten Glauben erschütternden Ereignisses Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass eine zeitliche Beschränkung nur solange in Betracht kommen kann, wie ihre Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen. Da der gute Glaube eines Mitgliedstaats an die Richtigkeit seiner Auslegung nicht zwangsläufig erst durch das Vorabentscheidungsurteil, sondern durchaus auch schon früher vernichtet werden kann, müsste eine zeitliche Beschränkung in diesem Fall notwendigerweise schon vor Erlass des Urteils, am Tag des den guten Glauben vernichtetenden Ereignisses, enden. Zu denken wäre beispielsweise an Fälle, in denen anfangs die Mitgliedstaaten noch von einer ihnen günstigen Auslegung des Unionsrechts ausgehen und durch ihr kollektives Verhalten den guten Glauben begründen,45 dieser aber später durch eine Stellungnahme der Kommission vernichtet wird, oder an Fälle, in denen die Kommission anfangs noch die Rechtsauffassung eines Mitgliedstaats teilt, später aber ihre Meinung ändert und nunmehr davon ausgeht, dass das in Rede stehende nationale Recht gegen die Unionsrechtsordnung verstößt. Nicht notwendig wäre hingegen, dass das als Stichtag in Betracht kommende Ereignis, zum Beispiel also eine Stellungnahme der Kommission, jegliche Zweifel am Vorliegen eines Unionsrechtsverstoßes ausräumt. Denn da nach der hier vertretenen Auffassung Mitgliedstaaten und Private bereits ernsthafte Zweifel an der Vereinbarkeit ihres Handelns mit EURecht zum Anlass nehmen müssen, nach einer klar unionsrechtskonformen Alternative zu suchen, reicht es bereits aus, wenn der gute Glaube nicht endgültig vernichtet, sondern nur ernsthaft erschüttert wird. Zumindest in Fällen wie dem oben gebildeten, in denen die Kommission ihre ursprüngliche Meinung ändert, dürften allerdings schlagende Argumente für den Sinneswandel zu verlangen sein, die erkennen lassen, warum die neue Auffassung der „Hüterin der Verträge“ nunmehr die einzig maßgebliche sein kann. 45
Siehe dazu oben D. II. 3. e).
II. Abweichend bestimmter Zeitpunkt der Wirkungen des Urteils
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d) Datum der Verlesung der Schlussanträge Ein weiteres Datum, das man als Stichtag für die zeitliche Begrenzung wählen könnte, wäre das Datum der Schlussanträge des Generalanwalts oder der Generalanwältin. Denn, so könnte man argumentieren, da die Auffassung der Generalanwälte in wohl 90 % der Fälle auf einer Linie mit der der Richter liegt,46 wird die Rechtsunsicherheit durch die Schlussanträge um ein erhebliches Maß reduziert, der gute Glaube also eliminiert. Somit würde zumindest in denjenigen Fällen, in denen sich die nationale Rechtslage aus der Sicht des Generalanwalts als unionsrechtswidrig darstellt und dies auch später vom Gerichtshof bestätigt wird, durch die Schlussanträge eine der Tatbestandsvoraussetzungen wegfallen, so dass eine Beschränkung für den Zeitraum zwischen Schlussanträgen und Urteil nicht mehr gerechtfertigt wäre. Insofern handelte es sich hierbei um einen Sonderfall der zuvor dargestellten Fallgruppe, in denen der gute Glaube noch vor Urteilserlass durch ein besonderes Ereignis ernsthaft erschüttert wird. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die endgültige Klärung der Rechtslage nur durch die Richter beim EuGH und nicht durch die Generalanwälte herbeigeführt wird. Die Rechtsmeinung der Generalanwälte hat zwar eine wichtige Indizfunktion, sie ist aber nur eine unter vielen Rechtsmeinungen, die bis zum Zeitpunkt ihrer Verlesung bereits von anderen qualifizierten Juristen aus dem juristischen Dienst der Kommission, den Prozessführungsabteilungen der Regierungen der Mitgliedstaaten und den Prozessbevollmächtigten der Parteien geäußert worden sind. Das zeigt sehr eindrucksvoll das Verfahren Banca Popolare di Cremona, in dem der Gerichtshof eine völlig andere Richtung einschlug als immerhin zwei seiner Generalanwälte.47 Machte man das Datum der mit dem Urteil korrespondierenden Schlussanträge zum Stichtag für die Folgenbegrenzung, dann würde man dem Mitgliedstaat inzident die Pflicht auferlegen, bereits aus den Schlussanträgen die notwendigen Konsequenzen zu ziehen und die nationale Rechtsordnung auf Verdacht anzupassen – auf die Gefahr hin, später vom Gerichtshof bestätigt zu bekommen, dass die Änderungen völlig unnötig waren und dass bereits die alte Rechtslage mit dem Unionsrecht vereinbar gewesen wäre. Es erscheint unverhältnismäßig, die Mitgliedstaaten so kurz vor der endgültigen und verbindlichen Klärung durch den EuGH zu einer Rechtsänderung ins Blaue hinein zu verpflichten. Diese Unverhältnismäßigkeit macht auch den Unterschied zu der zuvor beschriebenen Fallgruppe aus, in der der gute Glaube der Mitgliedstaaten bereits vor einem möglichen Gerichtsverfahren erschüttert wird. 46 Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), § 3, Rn. 11; Generalanwältin Kokott geht zumindest von einer Quote von 80 % aus, siehe Kokott, S. 6. 47 Siehe einerseits EuGH, Urteil vom 3. Oktober 2006, Rs. C-475/03, Banca popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 39, und andererseits Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge vom 17. März 2005, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 70, sowie Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 128.
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
Die Schlussanträge sind daher als Stichtag für die Beschränkung der Urteilswirkungen nicht geeignet. e) Datum des Urteils in einem vorangegangenen Verfahren Anders als die Schlussanträge der Generalanwälte in demselben Verfahren sind Urteile des Gerichtshofs in anderen – genauer gesagt: früheren – Verfahren durchaus geeignet, die Rechtslage endgültig zu klären. Allerdings führt dies nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, derzufolge die Urteilswirkungen nur in dem Urteil beschränkt werden können, in dem der Gerichtshof eine bestimmte Frage erstmals beantwortet, zur Präklusion des Antrags auf Beschränkung. Zwei Fälle sind daher zu unterscheiden: Hat der Gerichtshof in dem früheren Urteil die zeitlichen Wirkungen beschränkt, so ist der Tag der Verkündung jenes Urteils der Stichtag für die Beschränkung auch im neueren Verfahren.48 Denn dass die Rechtslage bis zu jenem ersten Urteil unklar war, gilt für nachfolgende Urteile genauso wie für das zeitlich erste Urteil zu einer Vorabentscheidungsfrage. Da aber ab der Verkündung die Rechtsfrage geklärt ist, ist für weitere zeitliche Beschränkungen mit späteren Stichtagen kein Raum mehr.49 Wurde hingegen in dem früheren Verfahren die zeitliche Wirkung nicht beschränkt, greift nach der Rechtsprechung des EuGH die Präklusion voll durch.50 Eine zeitliche Beschränkung soll dann überhaupt nicht möglich sein, nicht einmal mit dem Datum der früheren Entscheidung als Stichtag. In den ersten Schlussanträgen in der Rechtssache Meilicke hatte Generalanwalt Tizzano vorgeschlagen, einem „höchst vorsorglich“ gestellten Antrag der Bundesregierung zu entsprechen und das Datum eines früheren Urteils als Schlusspunkt für die Beschränkung der Urteilswirkung zu wählen.51 Der in dem Urteil Verkooijen52 unterbliebene Ausspruch solle daher rückwirkend getroffen werden; trotzdem werde der Grundsatz, dass die zeitliche Beschränkung nur in dem ersten Auslegungsurteil getroffen werden könne, nicht „in der Substanz verletz[t], da die Auswirkungen immer noch auf das ,Auslegungsurteil selbst‘ zurückgingen.“ 53 Dem
48 Siehe zum Beispiel EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1993, Rs. C-109/91, Ten Oever, Slg. 1993, I-4879, Rn. 15 ff.; Urteil vom 14. Dezember 1993, Rs. C-110/91, Moroni, Slg. 1993, I-6591, Rn. 27 ff.; Kokott/Henze, NJW 2006, 177 (181). 49 EuGH, Urteil vom 14. September 1995, verb. Rs. C-485/93 u. C-486/93, Simitzi, Slg. 1995, I-2655, Rn. 33; Urteil vom 9. September 2004, Rs. C-72/03, Carbonati Apuani, Slg. 2004, I-8027, Rn. 41. 50 Kokott/Henze, NJW 2006, 177 (181). 51 Generalanwalt Tizzano, Schlussanträge vom 10. November 2005, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 47 ff. 52 EuGH, Urteil vom 6. Juni 2000, Rs. C-35/98, Verkooijen, Slg. 2000, I-4071.
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Problem, dass dadurch Ansprüche, die nach dem Urteil Verkooijen realisiert wurden, nachträglich wieder vernichtet werden könnten, begegnet Tizzano dadurch, dass die Rückausnahme sich über den Zeitpunkt des ersten Urteils hinaus erstreckt, so dass diejenigen, die aufgrund des Urteils Verkooijen Rechtsbehelfe eingelegt haben, die Früchte ihrer Arbeit nicht rückwirkend verlieren. Diese Lösung hat den Vorzug, dass sie einerseits die Gutgläubigkeit der Mitgliedstaaten bis zum ersten Auslegungsurteil würdigt, zum anderen aber verhindert, dass die Mitgliedstaaten davon profitieren, jahrelang nicht angemessen auf dieses Urteil reagiert zu haben. Die „rückwirkende Beschränkung“ ist aufgrund der weiterreichenden Rückausnahme weniger effektiv als bei einer rechtzeitigen Antragstellung im ersten Verfahren, so dass weiterhin ein Anreiz besteht, sich rechtzeitig zu Wort zu melden. Andererseits ist Präklusion immer auch eine Sanktion für ein Versäumnis oder Fehlverhalten, und hier musste sich die Bundesregierung zu Recht fragen lassen, warum sie nicht bereits im Verfahren Verkooijen die Folgen des drohenden Urteils erkannt und einen entsprechenden Antrag gestellt hatte. Der leise Verdacht, dass man gehofft hat, der Fehler werde schon unentdeckt bleiben, so lange man sich nur nicht rühre, schwingt hier mit. Letzteres scheint das ausschlaggebende Argument für den EuGH gewesen zu sein, den Vorschlag Tizzanos vollständig zu ignorieren. Offensichtlich will der Gerichtshof die Mitgliedstaaten dazu anhalten, Gründe für eine zeitliche Beschränkung sofort anzumelden, wenn eine Rechtsfrage erstmals erörtert wird. Das entscheidende Argument ist aber auch hier wieder die Gefahr einer uneinheitlichen Anwendung des Unionsrechts: Wenn der EuGH in einem früheren Verfahren die Wirkungen des Urteils nicht beschränkt hat und das nun in einem späteren Verfahren nachholte, würde das zwangsläufig zu einer unterschiedlichen Anwendung des Unionsrechts vor und nach dem zweiten Urteil führen. Nicht ohne Grund versagt der Gerichtshof mit dem Argument der Präklusion eine solche nachträgliche Beschränkung der Urteilsfolgen.54 Demnach kommt das Datum eines früheren Vorabentscheidungsurteil nur dann als Stichtag für die zeitliche Beschränkung in Betracht, wenn der Gerichtshof bereits in diesem früheren Urteil die zeitlichen Wirkungen beschränkt hat. Inwieweit es sich dann in der späteren Entscheidung um eine neue zeitliche Beschränkung oder um eine rein deklaratorische Wiederholung der bereits vorgenommenen Beschränkung handelt, wird noch gesondert zu untersuchen sein. Diese Frage ist eng mit der Thematik der räumlichen Wirkung der Beschränkung verbunden.55
53 Generalanwalt Tizzano, Schlussanträge vom 10. November 2005, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 49. 54 Siehe dazu ausführlich oben D. VII. 2. a). 55 Siehe dazu unten E. III.
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
f) Datum der Veröffentlichung des Vorlagebeschlusses im Amtsblatt Auch das Datum, zu dem ein Vorlagebeschluss im Amtsblatt veröffentlicht wird, ist als Stichtag für die zeitliche Beschränkung ungeeignet. Denn durch die Veröffentlichung wird die Rechtslage in keiner Weise klarer. Im Gegenteil: Sie verdeutlicht nur, dass die Rechtslage noch unklar ist und der Klärung durch den Gerichtshof bedarf. Allerdings steigt mit der Veröffentlichung des Vorlagebeschlusses die Gefahr deutlich an, dass Trittbrettfahrer, die sich bisher nicht um die Rechtsverfolgung gekümmert haben, Rechtsmittel einlegen, um bei vergleichsweise geringem Risiko einen Rückforderungsanspruch zu ergattern. Daher wird diesem Zeitpunkt im Rahmen der Frage, welche Betroffenen schutzwürdig genug sind, um von der Rückausnahme erfasst zu werden, einige Aufmerksamkeit zu schenken sein. g) Zwischenergebnis Als Stichtag, mit dem die Wirkungen eines Urteils einsetzen können, gibt es grundsätzlich keine ernstzunehmende Alternative zum Tag der Verkündung des Urteils. Zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen heißt daher typischerweise Wirkung ex nunc. Nur dann, wenn die besonderen Umstände des Einzelfalls es unzumutbar erscheinen lassen, einen Mitgliedstaat zur Anpassung seiner Rechtsordnung gewissermaßen „über Nacht“ zu verpflichten, kann an die Einräumung einer Übergangsfrist gedacht werden. In einem Auslegungsverfahren wäre dies für den Gerichtshof allerdings ein absolutes Novum. Von der Wahl des Stichtags zu unterscheiden sind die Fälle, in denen der Gerichtshof bereits in einem früheren Verfahren zur gleichen Frage die zeitlichen Wirkungen seines Urteils beschränkt hat und in dem späteren Urteil lediglich auf diese bereits existierende Beschränkung verweist. Auch hier handelt es sich um eine ex-nunc-Wirkung, nur eben aus Sicht des vorangegangenen Urteils. 3. Der Zeitpunkt für den Beginn der zeitlichen Beschränkung Ebenso, wie nach dem bisher Gesagten über verschiedene zeitliche Anknüpfungspunkte für das Ende der Urteilsbeschränkung und das Einsetzen der Urteilswirkungen nachgedacht werden kann, wäre theoretisch auch ein abweichender Zeitpunkt für den Beginn der zeitlichen Beschränkung denkbar. Der Gerichtshof hat diese Möglichkeit bislang nicht angesprochen, sondern sich im Tenor nur mit dem Einsetzen der zeitlichen Wirkungen befasst.56 Die Phase, die von der zeitlichen Beschränkung betroffen ist, kann jedoch nicht beliebig festgesetzt werden, 56 Vgl. statt vieler EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Ziff. 5 des Tenors.
III. Räumlicher Geltungsbereich der Beschränkung
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sondern sollte den Bedürfnissen der Rechtssicherheit und hierbei insbesondere des guten Glaubens der Betroffenen Rechnung tragen. Daher käme eine erst später einsetzende zeitliche Beschränkung nur dann in Betracht, wenn die Auslegung des Unionsrechts zu Beginn des Konflikts für alle klar war (dann besteht kein Bedürfnis, auf Erfordernisse der Rechtssicherheit Rücksicht zu nehmen), und erst später unklar wurde (womit die Schutzbedürftigkeit der Betroffenen einsetzen würde). Es fällt schwer, sich einen solchen Fall vorzustellen. Ein einmal entdeckter und allseits zur Kenntnis genommener Rangkonflikt kann wohl kaum wieder in Vergessenheit geraten. Auch missverständliche Äußerungen der Kommission oder gar des Gerichtshofs sind eher ein Indiz für eine von Anfang an unklare Rechtslage und nicht für eine anfangs klare und erst später unklar gewordene Rechtslage. Letztlich handelt es sich hierbei um juristische Glasperlenspiele, denen nicht weiter nachgegangen werden soll.
III. Räumlicher Geltungsbereich der Beschränkung 1. Ansatz für eine räumlich beschränkte Wirkung der Urteilsbeschränkung Generalanwältin Stix-Hackl hat in ihren Schlussanträgen in den Rechtssachen Banca Popolare di Cremona und Meilicke eine Diskussion darüber angestoßen, ob die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen nicht ihrerseits örtlich beschränkt sein müsse.57 In den Schlussanträgen zur Rechtssache Banca Popolare di Cremona führt die Generalanwältin aus: „181. Jede vom Gerichtshof ausgesprochene zeitliche Beschränkung und jede Ausnahme davon wird jedoch auf einer Beurteilung der Lage in Italien – Gutgläubigkeit des Staates, Gefahr schwerwiegender Störungen für den Staat und Notwendigkeit wirksamen Rechtsschutzes für sorgfältige Anspruchsteller – beruhen, und diese Beurteilung kann für einen anderen Mitgliedstaat, der ebenfalls eine Steuer mit den gleichen Merkmalen erhoben hat, ganz anders ausfallen. 182. Dies bedeutet, dass eine Beschränkung nicht nur zeitlich, sondern eigentlich auch räumlich gelten sollte – was im vorliegenden Fall von gewisser Bedeutung ist, weil aus einigen der zahlreichen bereits in Rechts- und Steuerzeitschriften erschienenen Beiträge zu dieser Rechtssache hervorgeht, dass neben Italien möglicherweise auch ein oder mehrere andere Mitgliedstaaten Steuern erheben, die, zumindest nach Ansicht mancher Verfasser, bestimmte Merkmale mit der IRAP teilen. 183. Natürlich kann der Gerichtshof im vorliegenden Fall nicht entscheiden, ob eine Beschränkung der zeitlichen Wirkung in Bezug auf derartige sonstige Steuern angebracht wäre oder, wenn dem so wäre, welcher Zeitpunkt gelten sollte und welche 57 Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 178 ff.; dies., Schlussanträge vom 5. Oktober 2006, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 14. Reaktionen aus der Literatur: Lang, Intertax 2007, 230 (236 ff.); ders., IStR 2007, 235 (237 ff.); Billig, FR 2007, 785 (786 f.); Wiedmann, EuZW 2007, 692 (693); Müller, S. 81 f.
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Ausnahmen, wenn überhaupt, gemacht werden sollten. Doch er hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass eine Beschränkung der zeitlichen Wirkung in dem Auslegungsurteil selbst enthalten sein muss, und die Entscheidung erfolgt fallbezogen im tatsächlichen Kontext des Vorabentscheidungsersuchens. 184. Gemäß dem für die Wirkungen sämtlicher Auslegungsvorabentscheidungen des Gerichtshofes geltenden Grundprinzip wird das Urteil folglich in Bezug auf jede andere Steuer in einem anderen Mitgliedstaat, die die einschlägigen Merkmale aufweist, ex tunc gelten.“ 58
Die Generalanwältin stellt also darauf ab, dass zwar die Auslegungsentscheidung allgemeine Wirkung habe, dass jedoch die zeitliche Beschränkung immer nur fallbezogen im tatsächlichen Kontext des Vorabentscheidungsersuchens, also anhand der Lage im konkret betroffenen Mitgliedstaat, vorgenommen werde. Ob eine zeitliche Beschränkung in Bezug auf andere Mitgliedstaaten angebracht sei, welcher Stichtag für diese gelten sollte und welche Ausnahmen gemacht werden sollten, könne der Gerichtshof daher gar nicht beantworten.59 Somit könne sich die zeitliche Beschränkung nur auf den unmittelbar betroffenen Mitgliedstaat auswirken, während für die anderen Mitgliedstaaten die gewöhnliche ex-tuncWirkung gelte.60 Diesen Ausführungen zufolge geht die Generalanwältin davon aus, dass die territoriale Begrenzung sich automatisch aus den Eigenarten des Vorabentscheidungsverfahrens ergebe und keines besonderen Ausspruchs im Tenor mehr bedürfe. Der Generalanwältin folgend wird auch in der Literatur vereinzelt befürwortet, dass sich die zeitliche Beschränkung nur auf diejenigen Mitgliedstaaten beziehe, für die sie bejaht worden sei.61 2. Begünstigte einer räumlich begrenzten Urteilsbeschränkung Nicht ganz deutlich wird bei Stix-Hackl, wer nun in den Genuss dieser territorial begrenzten zeitlichen Beschränkung kommen soll: Der Mitgliedstaat, dessen Gericht das Vorabentscheidungsverfahren eingeleitet hat und dessen nationales Recht damit indirekt zur Disposition steht? Oder diejenigen Mitgliedstaaten, die einen Hinweis auf die Möglichkeit der Beschränkung der Urteilswirkungen erteilt haben und das Vorliegen der Voraussetzungen nachgewiesen haben? Die erste Variante, die territoriale Beschränkung nur auf den Mitgliedstaat, dessen Gericht die zugrundeliegenden Sachfragen vorgelegt hat, scheint in der 58 Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 182 ff. 59 Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 183. 60 Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 184. 61 Billig, FR 2007, 785 (786 f.); Wiedmann, EuZW 2007, 692 (693); zurückhaltender Lang, Intertax 2007, 230 (237); ablehnend Müller, S. 82; Schaer, S. 106 ff.
III. Räumlicher Geltungsbereich der Beschränkung
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Formulierung von Generalanwältin Stix-Hackl angelegt, dass die Entscheidung über die zeitliche Wirkung „im tatsächlichen Kontext des Vorabentscheidungsersuchens“ erfolge.62 Diese Auffassung findet jedoch keinerlei Stütze in der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Bereits in der Rechtssache Defrenne II, die auf einem belgischen Vorabentscheidungsersuchen beruhte, wurde die zeitliche Beschränkung nicht aufgrund der Auswirkungen auf die belgische Wirtschaft, sondern aufgrund der befürchteten Konsequenzen für die britische und irische Wirtschaft beschränkt.63 Die Fokussierung auf den „tatsächlichen Kontext des Vorabentscheidungsersuchens“ erscheint auch nicht sinnvoll, da der Gerichtshof nur das Unionsrecht auslegt und keinerlei Aussagen über die nationale Rechtsordnung trifft.64 Somit bleibt die zweite Variante. Hier hängt die Entscheidung nicht vom tatsächlichen Kontext des Vorabentscheidungsersuchens, sondern des Beschränkungsantrags ab. Eine solche Differenzierung erscheint schon sinnvoller: Denn ein und dieselbe Auslegung des Unionsrechts kann in dem einen Mitgliedstaat verheerende und in einem anderen Mitgliedstaat nur geringe oder gar keine Auswirkungen haben.65 Im Einzelnen hieße das, dass der EuGH in einem ersten Schritt das Unionsrecht aufgrund der Vorlage aus einem Mitgliedstaat auslegt und sodann für alle in Frage kommenden oder dies beantragenden Mitgliedstaaten prüft, ob gerade für sie die Voraussetzungen einer zeitlichen Beschränkung vorliegen. In Fällen, in denen mehrere Mitgliedstaaten eine zeitliche Beschränkung beantragen, könnte die Antwort darauf durchaus unterschiedlich ausfallen. 3. Unionsweite Wirkung der Beschränkung in der bisherigen Rechtsprechung Allerdings findet sich für eine solche territoriale Beschränkung kein Hinweis in der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Bereits aus Gründen der Klarheit sollte man doch erwarten, dass sich eine solche örtliche Eingrenzung deutlich aus dem Urteilstenor ergibt. Gerade weil hier die territoriale Reichweite der Auslegung (unionsweit) und der Beschränkung (nur für die Mitgliedstaaten, bei denen erwiesenermaßen die Voraussetzungen dafür vorliegen) auseinanderfielen, sollte diese Unterscheidung wohl aus der Urteilsformel hervorgehen. Dies ist jedoch nicht der Fall. So lautet der Tenor in der Rechtssache Defrenne II:
62 Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 183 a. E. 63 EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 69/70. 64 So in aller Kürze und Deutlichkeit EuGH, Urteil vom 17. Dezember 1975, Rs. 93/ 75, Adlerblum, Slg. 1975, 2147, Rn. 4; siehe auch Schima, S. 19. 65 Lang, IStR 2007, 235 (238).
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
„Soweit nicht Arbeitnehmer bereits Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt haben, können auf die unmittelbare Geltung von Artikel 119 keine Ansprüche gestützt werden, die vor dem Tag der Verkündung dieses Urteils liegende Lohn- oder Gehaltsperioden betreffen.“ 66
Hätte der Gerichtshof gewollt, dass nur Irland und das Vereinigte Königreich von der zeitlichen Beschränkung profitieren, dann hätte er wohl doch viel eher tenorieren müssen: „In Irland und im Vereinigten Königreich können auf die unmittelbare Geltung von Artikel 119 keine Ansprüche gestützt werden, die vor dem Tag der Verkündung dieses Urteils liegend Lohn- oder Gehaltsperioden betreffen, soweit nicht Arbeitnehmer bereits Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt haben.“
Dem ließe sich nun entgegenhalten, dass der Tenor immer vor dem Hintergrund der Urteilserwägungen zu lesen sei und dass sich somit die territoriale Beschränkung aus den Ausführungen zu den schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen für Irland und Großbritannien ergebe. Dann muss man sich jedoch die Frage stellen, wie plausibel es ist, dass der Gerichtshof den nationalen Gerichten gleich in seinem ersten Urteil zur zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkung eine derart missverständliche Arbeitsanweisung an die Hand gibt. Aus den verschiedenen Urteilen, die der Gerichtshof zur Klärung der Auswirkungen des Urteils in der Rechtssache Barber (einer Vorlage aus dem Vereinigten Königreich) erlassen hat, lässt sich ebenfalls nichts für eine örtliche Beschränkung der Urteilswirkungen herleiten. So führte der Gerichtshof in den Rechtssachen Ten Oever (einer Vorlage aus den Niederlanden) und Moroni (einer Vorlage aus Deutschland) aus: „Auf die [jeweilige Vorlagefrage] ist daher zu antworten, daß gemäß dem Urteil vom 17. Mai 1990 in der Rechtssache C-262/88 (Barber) die unmittelbare Wirkung von Artikel 119 EWG-Vertrag zur Stützung der Forderung nach Gleichbehandlung auf dem Gebiet der betrieblichen Renten nur für Leistungen geltend gemacht werden kann, die für Beschäftigungszeiten nach dem 17. Mai 1990 geschuldet werden, vorbehaltlich der Ausnahme, die für Arbeitnehmer oder deren anspruchsberechtigte Angehörige vorgesehen ist, die vor diesem Zeitpunkt nach dem anwendbaren innerstaatlichen Recht Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt haben.“ 67
Auch hier ist keine Differenzierung zwischen der territorialen Wirkung der Auslegung selbst und der zeitlichen Beschränkung erkennbar, vielmehr gibt der Gerichtshof dem niederländischen und dem deutschen Gericht ausdrücklich die im Urteil Barber ausgesprochene Beschränkung der Urteilswirkung samt Rück66 EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Ziff. 5 des Tenors. 67 EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1993, Rs. C-109/91, Ten Oever, Slg. 1993, I-4879, Rn. 20; Urteil vom 14. Dezember 1993, Rs. C-110/91, Moroni, Slg. 1993, I-6591, Rn. 33.
III. Räumlicher Geltungsbereich der Beschränkung
201
ausnahme an die Hand.68 Ginge der Gerichtshof auch von einer örtlichen Beschränkung aus, hätte er konsequenterweise feststellen müssen, dass die im Urteil Barber ausgesprochene zeitliche Beschränkung in den späteren Fällen irrelevant war. Etwas verwirrend sind allerdings die Ausführungen des EuGH in den Rechtssachen Simitzi69 und Carbonati Apuani.70 Hier führte der Gerichtshof aus, dass die in den griechischen bzw. italienischen Ausgangsverfahren streitigen Abgaben von gleicher Art seien wie der „octroi de mer“ in der Rechtssache Legros.71 Daher sei „[. . .] aus den gleichen Gründen der Rechtssicherheit zu entscheiden, dass die im Urteil Legros u. a. ausgesprochene zeitliche Beschränkung auch für Anträge auf Erstattung der streitigen Abgaben gilt.“ 72
Dies erweckt auf den ersten Blick den Eindruck, der EuGH ordnete hier mit gestaltender Wirkung für einen anderen Mitgliedstaat die gleiche zeitliche Wirkung an, die er zuvor für Frankreich in der Rechtssache Legros angeordnet hatte. Dann würde er wohl tatsächlich davon ausgehen, dass die zeitliche Beschränkung nur für einzelne Territorien gilt.73 Allerdings geht der EuGH mit keinem Wort darauf ein, ob die Tatbestandsvoraussetzungen für Griechenland und Italien, insbesondere die Gefahr schwerwiegender Folgen, auch erfüllt sind. Auch würde eine neue Anordnung einer zeitlichen Beschränkung nicht zur Präklusionsrechtsprechung des EuGH passen, zumal er ausdrücklich feststellt, dass die streitigen Abgaben genau dem „octroi de mer“ entsprächen. Wie in den früheren Urteilen sind daher die zitierten Passagen aus Simitzi und Carbonati Apuani ebenfalls als reine Feststellungen zu verstehen, dass die zeitliche Beschränkung auch für andere Mitgliedstaaten mit einer gleichartigen Abgabenvorschrift wie in Legros gilt. Der territorialen Begrenzung der zeitlichen Beschränkung steht im Übrigen auch die Präklusionsrechtsprechung des Gerichtshofs entgegen. Generalanwältin Stix-Hackl will die territoriale Begrenzung so verstanden wissen, dass Gerichte von Mitgliedstaaten, deren Recht demjenigen Recht eines anderen Mitgliedstaats ähnelt, das bereits Gegenstand einer Vorlage mit räumlich begrenzter Wirkungsbeschränkung war, ihrerseits eine Frage zur Vorentscheidung vorlegen könnten. 68
Lang, Intertax 2007, 230 (237). EuGH, Urteil vom 14. September 1995, verb. Rs. C-485/93 u. C-486/93, Simitzi, Slg. 1995, I-2655. 70 EuGH, Urteil vom 9. September 2004, Rs. C-72/03, Carbonati Apuani, Slg. 2004, I-8027. 71 Siehe hierzu oben C. II. 1. i). 72 EuGH, Urteil vom 14. September 1995, verb. Rs. C-485/93 u. C-486/93, Simitzi, Slg. 1995, I-2655, Rn. 32; sehr ähnlich in EuGH, Urteil vom 9. September 2004, Rs. C72/03, Carbonati Apuani, Slg. 2004, I-8027, Rn. 40. 73 Lang, Intertax 2007, 230 (237). 69
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
Im Rahmen dieses neuerlichen Verfahrens könnte dann für den nun betroffenen Mitgliedstaat über eine Beschränkung der zeitlichen Wirkung, allerdings nur bis zum Tag der Verkündung des Urteils in der früheren Rechtssache, entschieden werden.74 Dies steht in einem deutlichen Widerspruch zu der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, derzufolge eine zeitliche Beschränkung immer nur in dem Urteil vorgenommen werden könne, in dem eine Auslegungsfrage erstmals beantwortet wird.75 Der Stichtag der zeitlichen Beschränkung, ob Verkündungsdatum des früheren oder späteren Urteils, steht hier überhaupt nicht mehr zur Debatte. Dabei macht der EuGH keinen Unterschied, anhand welcher mitgliedstaatlichen Rechtsordnung eine Frage ursprünglich beantwortet wurde. Das hat der EuGH in der Rechtssache Meilicke noch einmal verdeutlicht, indem er den deutschen Antrag auf Beschränkung der Urteilswirkungen unter Hinweis auf die Präklusion brüsk ablehnte. Damit erteilte er auch dem ganz vorsorglich gestellten Hilfsantrag der Bundesregierung eine Absage, die Wirkungen zumindest bis zu dem Urteil Verkooijen zu beschränken, in dem die Auslegungsfrage nach Ansicht des Gerichtshofs erstmals beantwortet worden war.76 Im Ergebnis ist daher davon auszugehen, dass sich eine Beschränkung der Urteilswirkungen nach der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs gleichermaßen auf alle Mitgliedstaaten auswirkt.77 Somit profitieren unter Umständen alle übrigen Mitgliedstaaten, in denen die Voraussetzungen einer Beschränkung gar nicht vorgelegen hätten, vom Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen in einem einzigen Mitgliedstaat. 4. Territorial begrenzte Beschränkung de lege ferenda? An diese Feststellung schließt sich unweigerlich die Frage an, ob die von Generalanwältin Stix-Hackl angesprochene territoriale Begrenzung de lege (bzw. iudicatione) ferenda erstrebenswert wäre. Auch wenn eine solche Begrenzung sich nicht automatisch aus den Vorabentscheidungsurteilen des Gerichtshofs ergibt, ließe sie sich durchaus durch eine entsprechende Tenorierung, wie oben aufgezeigt, erreichen. Für eine territoriale Beschränkung spricht vor allem, dass dadurch die negativen Folgen der zeitlichen Beschränkung minimiert würden. Es darf nicht vergessen werden, dass durch die zeitliche Beschränkung (dies gilt zumindest für die Auslegungsurteile) der Anwendungsvorrang des Unionsrechts aus praktischen 74 Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 186. 75 Schaer, S. 206. 76 EuGH, Urteil vom 6. März 2007, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 36 ff. 77 Lang, IStR 2007, 235 (237 f.); Müller, S. 82.
III. Räumlicher Geltungsbereich der Beschränkung
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Erwägungen heraus für einen gewissen Zeitraum suspendiert wird, einwandfreies Unionsrecht also unionsrechtswidrigem nationalem Recht weicht.78 Warum sollte eine solche Privilegierung mehr Mitgliedstaaten zugute kommen als unbedingt nötig? Außerdem böte die territoriale Beschränkung, verbunden mit der Möglichkeit für die übrigen Mitgliedsstaaten, ihr eigenes Recht in späteren Vorabentscheidungen prüfen zu lassen und dann eine „eigene“ zeitliche Beschränkung zu beantragen, einen Ausweg aus dem Präklusionsdilemma: Die Mitgliedstaaten könnten dann eine sichere Antwort bekommen, ob auch ihre Rechtsordnung unionsrechtswidrig ist, und müssten nicht bloße Vermutungen über die Ähnlichkeit des eigenen Rechts mit dem im Vorlageverfahren mittelbar überprüften fremden Recht zur Grundlage ihres Handelns machen.79 Es gibt jedoch auch gewichtige Gegenargumente. An erster Stelle wäre der Grundsatz der einheitlichen Wirkung des Unionsrechts zu nennen.80 Durch die zeitliche Beschränkung wird zwar das höherrangige Unionsrecht mit Rücksicht auf das nationale Recht – gewissermaßen systemwidrig – suspendiert, aber dies gilt wenigstens gleichermaßen für alle Mitgliedstaaten. Es findet keine Ungleichbehandlung statt. Die Mitgliedstaaten erweisen sich dadurch nicht nur als Integrations-, sondern auch als Schicksalsgemeinschaft. Auch der bereits im Rahmen der Präklusion81 herangezogene Gedanke der Rechtssicherheit muss hier wieder berücksichtigt werden: Wie bereits Generalanwältin Stix-Hackl betont, bezieht sich die territoriale Begrenzung nur auf die Beschränkung, nicht aber auf die Auslegung; diese gilt unionsweit.82 Daher könnten Betroffene in allen Mitgliedstaaten, für die die zeitliche Beschränkung nicht gilt, unter Berufung auf das Auslegungsurteil Rückforderungsansprüche geltend machen. Würde dann später ein anderer Mitgliedstaat eine eigene zeitliche Beschränkung erwirken, entfiele der Rechtsgrund, und die Zahlungen müssten gegebenenfalls rückabgewickelt werden. Dieser Unvereinbarkeit mit der Präklusion ließe sich allerdings begegnen, wenn man das von Generalanwältin Stix-Hackl entworfene Modell leicht abwandelte und eine räumliche Beschränkung nur isoliert im zeitlich ersten Urteil zuließe, also ohne eine Möglichkeit für die übrigen Mitgliedstaaten, später noch eine zeitliche Beschränkung für sich selbst zu beantragen. Damit würde sich das Problem etwaiger Hin- und Herzahlungen nicht mehr stellen. Allerdings stünden die Mitgliedstaaten weiterhin vor der Herausforderung, gegebenenfalls auf Ver78
Koenig/Schreiber, DÖV 2008, 450 (453). Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 186. 80 Vgl. Schaer, S. 107. 81 Siehe dazu oben D. VII. 2. 82 Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 180; siehe auch Billig, FR 2007, 785 (786). 79
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
dacht einen Antrag auf zeitliche Beschränkung stellen zu müssen, um der Präklusion zu entgehen. Eine solche isolierte räumliche Beschränkung ohne die Möglichkeit späterer Anträge für andere Mitgliedstaaten hätte zur Folge, dass das Unionsrecht für den gesamten Zeitraum dieser Beschränkung uneinheitlich innerhalb der Union anzuwenden wäre: In einigen Mitgliedstaaten wäre der Anwendungsvorrang des Unionsrechts suspendiert, in den übrigen bliebe es beim Vorrang. Es stellt sich daher zwangsläufig die Frage, ob ein solches Institut mit dem Grundsatz der einheitlichen Wirkung des Unionsrechts vereinbar ist. Dieses Prinzip findet sich zwar nicht ausdrücklich in den Verträgen wieder, wird aber vom Gerichtshof als eine bedeutende Zielrichtung des Unionsrechts anerkannt.83 Es ist die zentrale objektiv-rechtliche Aufgabe des Vorabentscheidungsverfahrens, die einheitliche Anwendung und Wirkung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten zu wahren.84 Die einheitliche Anwendung des Unionsrechts hat dabei nicht nur objektiv die Funktion, die Rechtseinheit zu wahren und damit die europäische Integration zu fördern, sondern dient zugleich dem Schutz des Einzelnen, dessen unionsrechtliche subjektive Rechte nicht unterlaufen werden sollen. Wenn die Gleichheit vor dem Gesetz in der Union nicht gewahrt wird, liegt ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz vor, der auch dem Unionsrecht als ungeschriebenes Grundprinzip innewohnt.85 Da viele der hier besprochenen Fälle eine starke wirtschaftliche Komponente haben, würde eine Ungleichbehandlung aufgrund einer räumlich begrenzten Urteilsbeschränkung zwangsläufig Wettbewerbsverzerrungen nach sich ziehen.86 Hätte der Gerichtshof beispielsweise im Fall Defrenne II die Beschränkung der Urteilswirkungen explizit nur auf Irland und das Vereinigte Königreich begrenzt, dann wären irische und britische Unternehmen gewiss im Vorteil gegenüber solchen Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten gewesen, die mangels zeitlicher Beschränkung allen betroffenen Arbeitnehmerinnen rückwirkend Lohnausgleich hätten zahlen müssen. Eine solche Ungleichbehandlung wäre nicht nur ungerecht für die einzelnen Unternehmen, sondern vor allem äußerst schädlich für die Akzeptanz des Integrationsprozesses in den Mitgliedstaaten. Wenn sich der Gerichtshof also zu einer zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen entschließt, dann sollte er dies weiterhin konsequent für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen tun. Es hieße, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben, würde man zum Schutze der Rechtssicherheit einzelner Mitgliedstaaten oder der in ihnen lebenden Individuen einen Gleichheitsverstoß begehen.
83
Nettesheim, in: GS Grabitz, S. 447. Schwarze, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 234 EG, Rn. 2; Borchardt, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, Art. 267 AEUV, Rn. 1; Pechstein, Rn. 741. 85 Holoubek, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 12 EG, Rn. 7. 86 Zu dieser wettbewerblichen Komponente der Einheit der Rechtsordnung siehe auch Zuleeg, in: Schulze/Zuleeg (Hrsg.), 1. Auflage, § 8, Rn. 36; Borchardt, in: Lenz/ Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, Art. 267 AEUV, Rn. 1. 84
IV. Rückausnahme
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5. Zusammenfassung Abschließend ist daher festzustellen, dass die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen nach dem derzeitigen Stand der Rechtsprechung universal in allen Mitgliedstaaten gilt und dass ein Abweichen von dieser Praxis auch nicht befürwortet werden kann. Eine ausdrückliche Klarstellung über den Geltungsbereich der zeitlichen Beschränkung, wie sie in der Literatur vereinzelt gefordert wird,87 wäre unbestreitbar hilfreich, aber nicht wirklich notwendig in Anbetracht dessen, dass die unionsweite Wirkung von Auslegungsurteilen des EuGH ohnehin die Regel ist.
IV. Rückausnahme 1. Einleitung Die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen ist mit einem großen Problem verbunden: Zwar ermöglicht dieses Institut, auf die Belange der Rechtssicherheit der Mitgliedstaaten oder Privater einzugehen, die gutgläubig von einer unzutreffenden Rechtslage ausgingen, allerdings geschieht dies zu Lasten der materiellen Gerechtigkeit, weil Einzelne, denen nach der Entscheidung des Gerichtshofs eigentlich ein Anspruch zustünde, diesen durch die zeitliche Beschränkung verlieren. Die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen stellt daher eine ständige Gratwanderung des Gerichtshofs zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit dar. Um diese beiden Aspekte besser auszubalancieren und die Gerechtigkeit nicht völlig in den Hintergrund treten zu lassen, bedient sich der Gerichtshof bereits seit seiner Entscheidung in der Rechtssache Defrenne II eines weiteren Hilfsmittels: der so genannten „Rückausnahme“. Der Gerichtshof macht in seinen Urteilen in der Regel nicht viel Aufhebens um die Rückausnahme, scheint sie als geradezu selbstverständlich vorauszusetzen. In seinen Urteilen taucht sie oft erstmals in der die Prüfung der zeitlichen Wirkungen zusammenfassenden Randziffer oder im Tenor auf, ohne dass sich der EuGH zuvor mit ihrer genauen Ausgestaltung oder rechtlichen Begründung auseinandergesetzt hätte. Den Begriff „Rückausnahme“, der in der Literatur sehr gebräuchlich ist,88 sucht man in den Entscheidungen des Gerichtshofs allerdings vergeblich. Hier ist lediglich von einer „Ausnahme“ die Rede. Inhaltlich handelt es sich in der Tat um eine Ausnahmeregelung für diejenigen Betroffenen, die sich bereits um die Durchsetzung ihrer Rechte vor nationalen Behörden oder Gerichten gekümmert haben; für diese soll die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen nicht gelten. Da jedoch die aufgrund der zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen eingetretene ex-nunc-Wirkung ihrerseits eine Ausnahme zu der 87
Müller, S. 82. Kokott/Henze, NJW 2006, 177 (182); Wiedmann, EuZW 2007, 692 (693); Müller, S. 46, S. 72; ähnlich Lindemann/Hackemann, IStR 2005, 786 (789): „Gegenausnahme“. 88
206
E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
ex-tunc-Wirkung darstellt, die Vorabentscheidungen üblicherweise haben, wird hierdurch für diejenigen, die bereits Rechtsbehelfe eingelegt haben, nur der „Normalzustand“ wiederhergestellt. Es handelt sich also um eine Ausnahme von der Ausnahme, eben eine „Rückausnahme“. Gerade in den letzten Jahren ist die Rückausnahme zunehmend ins Bewusstsein der Fachöffentlichkeit gerückt: In den Verfahren Banca Popolare di Cremona und Meilicke tauchte das Problem auf, dass die Verfahren durch Berichterstattung in der Fachpresse oder gar den normalen Massenmedien so in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt waren, dass in Erwartung des Urteils bereits vor der Verkündung ein sehr großer Teil der Betroffenen einen Rechtsbehelf eingelegt hatte. Die zeitliche Beschränkung drohte daher nahezu wirkungslos zu werden. Insbesondere wurde die Begünstigung von Trittbrettfahrern befürchtet, die sich bei minimalem eigenen Prozessrisiko „windfall profits“ sichern wollten89 – eine Problematik, die sich zur Zeit der Entscheidung Defrenne II, als nur eine kleine Gruppe Eingeweihter und Interessierter die Verfahren vor dem EuGH verfolgte, noch gar nicht stellte.90 Um dieser neuen Herausforderung zu begegnen, müssen die Voraussetzungen der Rückausnahme einer gründlicheren Untersuchung unterzogen werden. Eine zentrale Rolle wird dabei die Wahl des Zeitpunkts spielen, bis zu dem der Betroffene sein Rechtsmittel eingelegt haben muss, um in den Genuss der zeitlichen Beschränkung zu kommen. 2. Ratio der Rückausnahme Im Hinblick auf den Ausgangskläger, dessen Verfahren zu der Vorlage beim EuGH geführt hat, entspricht die Begünstigung im Wege der Rückausnahme dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes.91 Wie bereits an anderer Stelle dargelegt wurde,92 hat das Vorabentscheidungsverfahren auch individualschützenden Charakter.93 Der Ausgangskläger ist also nicht nur Mittel zum Zweck, um Unklarheiten im Unionsrecht zu beseitigen, sondern die Vorabentscheidung soll auch gerade ihm in seinem ganz konkreten Rechtsstreit unter die Arme greifen. Es würde daher den Rechtsschutz des Ausgangsklägers konterkarieren, wenn die Vorlage beim Gerichtshof die Durchsetzbarkeit des Anspruchs vernichtete, anstatt die erwünschte Klärung zu bringen.94 Im Übrigen ist die Gewährung der 89 Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge vom 17. März 2005, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 84; Generalanwalt Tizzano, Schlussanträge vom 10. November 2005, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 61. 90 Düsterhaus, EuZW 2006, 393 (394); Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1843). 91 Düsterhaus, EuZW 2006, 393 (395); Müller, S. 88; Gundel, in: Ehlers (Hrsg.), § 20, Rn. 60. 92 Siehe oben C. II. 2. b) aa). 93 Schwarze, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 234 EG, Rn. 1, 4; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), § 10, Rn. 8. 94 Müller, S. 88.
IV. Rückausnahme
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Rückausnahme für das Ausgangsverfahren bereits eine dogmatische Notwendigkeit: Wenn sich der Kläger des Ausgangsverfahrens wegen einer zeitlichen Beschränkung nicht auf das Vorabentscheidungsurteil berufen könnte, entfiele ganz offensichtlich die von Art. 267 AEUV geforderte Entscheidungserheblichkeit.95 Der EuGH müsste dem vorlegenden Gericht eine Antwort geben, die dieses dann sogleich zu ignorieren hätte. Im Hinblick auf alle bereits aktiv gewordenen Rechtsbehelfsführer (einschließlich des Ausgangsklägers) erfüllt die Rückausnahme die Funktion einer Prämie:96 Der EuGH ist zur Durchsetzung des Unionsrechts auf die Mithilfe der Bürger in der Union angewiesen, die sich gegen unionsrechtswidriges nationales Recht wehren und dadurch dezentral die Einhaltung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten überwachen.97 Es ist aus der Sicht des EuGH daher enorm wichtig, dass es für den Einzelnen attraktiv bleibt, sich gegen nationale Verstöße gegen das Unionsrecht zu wehren. Insofern dient die Rückausnahme also auch der objektiven Komponente des Vorabentscheidungsverfahrens. Dass nicht nur derjenige Kläger, dessen Klage unmittelbar zu der behandelten Vorlage geführt hat, privilegiert wird, ist der Zufälligkeit der Vorlage geschuldet: Ob bereits das erstinstanzliche Gericht freiwillig (Art. 267 Abs. 2 AEUV) dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorlegt oder erst das letztinstanzliche Gericht seiner Vorlagepflicht (Art. 267 Abs. 3 AEUV) nachkommt, wie lange es innerhalb der einzelnen Instanz dauert, bis ein Vorlagebeschluss gefasst worden ist, all dies ist dem Einflussbereich des Klägers weitgehend entzogen (auch wenn natürlich die Möglichkeit besteht, das jeweilige Gericht von der Notwendigkeit einer Vorlage zu überzeugen).98 Abgesehen von diesem Anreizeffekt entspricht es auch der Billigkeit und dem Grundsatz effektiven Rechtsschutzes, diejenigen, die bereits erhebliche Kosten und Mühen in die Rechtsverfolgung gesteckt haben, nicht um die Früchte ihrer Bemühungen zu bringen.99 3. Prüfungskompetenz Vorneweg ist klarzustellen, dass die Prüfungskompetenz für das Vorliegen der Voraussetzungen einer Rückausnahme bei den nationalen Gerichten liegt. Hierin unterscheiden sich die im Folgenden dargestellten Kriterien von den im vorange95
Schima, S. 107. Düsterhaus, EuZW 2006, 393 (395); siehe auch Koopmans, C.L.J. 39 (1980), 287 (299 f.). 97 Grundlegend: EuGH, Urteil vom 5. Februar 1963, Rs. 26/62, van Gend & Loos, Slg. 1963, 3 (26). Siehe auch Schima, S. 5; Düsterhaus, EuZW 2006, 393 (395); Schaer, S. 101. 98 Kokott/Henze, NJW 2006, 177 (182). 99 Wiedmann, EuZW 2007, 692 (693); Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1843); Schaer, S. 101; siehe auch EuGH, Urteil vom 26. April 1994, Rs. C-228/92, Roquette Frères/ Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445, Rn. 27, zum Ungültigkeitsverfahren. 96
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
gangenen Abschnitt dargestellten Voraussetzungen für eine zeitliche Beschränkung. Bei den bisher angesprochenen Tatbestandsvoraussetzungen prüft der EuGH einmal zentralisiert deren Vorliegen und entscheidet dann darüber, ob er eine zeitliche Beschränkung ausspricht oder nicht. Die im Tenor ausgesprochenen Voraussetzungen hingegen muss jedes nationale Gericht im konkreten Einzelfall prüfen. Dies lässt sich sehr anschaulich am Tenor der Entscheidung Defrenne II verdeutlichen: „5. Soweit nicht Arbeitnehmer bereits Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt haben, können auf die unmittelbare Geltung von Artikel 119 keine Ansprüche gestützt werden, die vor dem Tag der Verkündung dieses Urteils liegende Lohn- oder Gehaltsperioden betreffen.“ 100
Hier ist es Aufgabe des nationalen Gerichtes, zusätzlich zu den sonstigen zivilrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen und Verjährungsregeln festzustellen, ob die geltend gemachten Ansprüche Lohn- oder Gehaltsperioden vor dem 8. April 1976 (dem Tag der Verkündung des Urteils in der Rechtssache Defrenne II) betreffen, und ob, wenn dies zu bejahen ist, die Ansprüche trotzdem geltend gemacht werden können, weil die Klage ebenfalls vor dem 8. April 1976 eingelegt worden ist. 4. Voraussetzungen der Rückausnahme a) Klage erhoben Eine Klage ist nach dem allgemeinen Wortverständnis ein Rechtsbehelf vor einem Gericht; welche Institutionen als „Gericht“ anzusehen sind, dürfte sich im Sinne der Einheitlichkeit der Rechtsordnung nach dem für Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV vertretenen Gerichtsbegriff101 richten. Anders als in den genannten Vorschriften ist die genaue Definition hier allerdings weniger bedeutsam, da auch sonstige Rechtsbehelfe grundsätzlich zur Inanspruchnahme der Rückausnahme berechtigen. Wann eine Klage vor einem nationalen Gericht „erhoben“ ist, lässt sich nicht aus der Rechtsprechung des EuGH entnehmen. Dies kann im Einzelfall relevant werden, wenn die nationale Rechtsordnung zwischen der Einreichung bei Gericht und der Zustellung an die beklagte Partei differenziert, wie dies im deutschen Zivilprozessrecht mit der Unterscheidung zwischen „Anhängigkeit“ und „Rechtshängigkeit“ angelegt ist.102 Um eine möglichst einheitliche Anwendung in allen 100 EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Ziff. 5 des Tenors. 101 Siehe hierzu U. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), EU-Recht, Art. 267 AEUV, Rn. 16. 102 Erst mit der Zustellung der Klageschrift, die die Rechtshängigkeit auslöst, ist die Klage nach deutschem Zivilprozessrecht „erhoben“; Reichold, in: Thomas/Putzo, ZPO, § 253 ZPO, Rn. 3; Greger, in: Zöller, ZPO, § 253 ZPO, Rn. 4.
IV. Rückausnahme
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Mitgliedstaaten zu erreichen, erscheint es angemessen, auf den Zeitpunkt der Einreichung der Klageschrift bei Gericht abzustellen. Hiermit hat der Kläger seine „prämierungswürdige“ eigene Leistung erbracht, die weiteren Schritte liegen vorerst in den Händen des Gerichts. Dies entspricht im Übrigen auch dem Prozessrecht vor dem EuGH, bei dem Rechtshängigkeit – wie im deutschen Verwaltungsprozess – bereits mit der Einreichung der Klage beim Gerichtshof eintritt.103 Ebenso dürfte der zivilprozessrechtliche Mahnantrag eine Klage im Sinne der EuGH-Rechtsprechung sein, da auch das Mahnverfahren vom unionsrechtlichen Gerichtsbegriff erfasst wird.104 Auch hier wird nicht auf den Zeitpunkt der Zustellung des Mahnbescheids abzustellen sein, sondern auf den Zeitpunkt des Eingangs des Mahnantrags beim Mahngericht, mit dem sozusagen die Anhängigkeit des Mahnverfahrens und gemäß § 167 ZPO die Verjährungshemmung eintritt. Im Übrigen ist zu beachten, dass nach der Tenorierung des EuGH nur entscheidend ist, dass die Klage bis zum maßgeblichen Stichtag „erhoben“ worden ist.105 Aus unionsrechtlicher Sicht ist es daher unschädlich, wenn in der betreffenden Rechtssache schon ein Urteil ergangen ist. Ist das Verfahren allerdings rechtskräftig abgeschlossen, respektiert das Unionsrecht diese nationale Rechtskraft.106 Es ist hier Aufgabe der nationalen Prozessordnungen, eine Entscheidung zu treffen, ob ein nachfolgendes Urteil des EuGH den Kläger zu einer Wiederaufnahme seines Verfahrens berechtigt.107 b) Entsprechender Rechtsbehelf eingelegt Nicht nur die Klage vor einem mitgliedstaatlichen Gericht, auch die rechtzeitige Einlegung eines „entsprechenden Rechtsbehelfs“ führt dazu, dass der Rechtsbehelfsführer in den Genuss der Ausnahme von der zeitlichen Beschränkung kommt. Doch darüber, was ein „entsprechender Rechtsbehelf“ ist, schweigt sich der Gerichtshof aus. Dies haben die nationalen Gerichte und Behörden zu klären, entweder unter Rückgriff auf entsprechende Regelungen des nationalen Rechts108
103
Hackspiel, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), § 2, Rn. 31. EuGH, Urteil vom 17. Mai 1994, Rs. C-18/93, Corsica Ferries, Slg. 1994, I-1783, Rn. 12; Fredriksen, S. 24. 105 Siehe grundlegend EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Ziff. 5 des Tenors. Ein entsprechender Wortlaut findet sich auch in der englischen („workers who have already brought legal proceedings“) und in der französischen („travailleurs qui ont introduit antérieurement un recours en justice“) Fassung. 106 Siehe dazu unten E. V. 1. 107 Der Umstand, dass eine solche Wiederaufnahme in Deutschland nicht möglich ist, wird in der Literatur teilweise als Argument gegen die Rückausnahme-Praxis des EuGH betrachtet, siehe Müller, S. 90 f. 108 Schima, S. 105 104
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
oder unter unmittelbarer Auslegung des vom EuGH gewählten Urteilstenors. In beiden Fällen sind der Äquivalenzgrundsatz und das Effektivitätsgebot zu beachten.109 Der Äquivalenzgrundsatz (früher: Diskriminierungsverbot) besagt, dass das angewandte nationale Recht im Vergleich zu Verfahren, die rein nationale Sachverhalte betreffen, nicht ungünstiger sein darf.110 Für die Anwendung der Rückausnahme bedeutet dies, dass Verfahrenshandlungen, die im rein nationalen Verfahrensrecht eine der Klageerhebung vergleichbare Veränderung der Rechtslage herbeiführen, als „entsprechende Rechtsbehelfe“ anzusehen sind. Im deutschen Recht werden daher insbesondere Widersprüche gegen Verwaltungsakte und Einsprüche gegen Steuerbescheide erfasst, die in gleicher Weise wie die entsprechende Klageart einen (im Finanzrechtsweg eingeschränkten) Suspensiveffekt entfalten.111 Das Effektivitätsgebot, demzufolge die im nationalen Recht vorgesehenen Modalitäten die Verwirklichung des Unionsrechts nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen, bedeutet im vorliegenden Kontext, dass das nationale Recht oder die nationalen Gerichte und Behörden keine übermäßigen Anforderungen an die Entsprechung zwischen Klage und sonstigen Rechtsbehelfen stellen und keinesfalls die Rückwirkung für sonstige Rechtshelfe gänzlich ausschließen dürfen. Daher kann der Rückausnahme nicht entgegenstehen, wenn ein außergerichtlicher Rechtsbehelf nicht sämtliche Rechtswirkungen entfaltet, die eine gerichtliche Klage mit sich bringt, solange die für die Funktion des Rechtsbehelfes wesentlichen Wirkungen übereinstimmen. c) Rechtzeitige Einlegung des Rechtsbehelfs aa) Problemstellung Der entscheidende Ansatzpunkt für die Ausbalancierung von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit ist die Wahl des Zeitpunktes, bis zu dem eine Klage erhoben oder ein Rechtsbehelf eingelegt werden muss. Dieser Zeitpunkt darf nicht mit dem Stichtag für die Beschränkung der zeitlichen Wirkungen verwechselt werden; beide stehen grundsätzlich selbständig nebeneinander.112 Laut EuGH ist für 109
Schima, S. 105. Streinz, Europarecht, Rn. 593. 111 Besonders deutlich wird der Gleichlauf von außergerichtlichem und gerichtlichem Rechtsbehelf in § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO: „Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung.“; siehe auch Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 938. Im Steuerrecht ergibt sich der eingeschränkte Suspensiveffekt für Einspruch und Klage aus § 361 Abs. 1 AO und § 69 FGO; siehe zur Bestandskraft auch Seer, in: Tipke/Lang, § 21, Rn. 80. 112 Schaer, S. 99. 110
IV. Rückausnahme
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diejenigen Anspruchsinhaber eine Ausnahme vorzusehen, „die rechtzeitig Schritte zur Wahrung ihrer Rechte unternommen haben“.113 Bisher hat der Gerichtshof freilich immer so tenoriert, dass sowohl der Stichtag für die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen als auch der späteste Zeitpunkt für die Rückausnahme das Datum der Verkündung des Urteils – genauer gesagt: der Tag vor Verkündung des Urteils – war. Wichtigstes Kriterium für die Wahl des Zeitpunkts ist der Grad der Schutzwürdigkeit des betroffenen Rechtsbehelfsführers.114 Allein die materielle Berechtigung reicht ebensowenig aus wie der Umstand, dass dem Rechteinhaber ein nach nationalem Recht zulässiger Rechtsbehelf zusteht,115 da der EuGH durch die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen bereits eine gesteigerte Schutzwürdigkeit auf der Seite der Antragsteller festgestellt hat. Diesen Anspruch auf Rechtssicherheit muss der Rechtsbehelfsführer durch seine eigene Schutzwürdigkeit gleichsam übertrumpfen. Entscheidend für die Wahl des Stichtags ist daher, inwieweit dieser Zeitpunkt verallgemeinernd den Schluss darauf zulässt, dass die von der Rückausnahme noch erfassten Kläger und Rechtsbehelfsführer sich in prämierungswürdiger Weise, unter Eingehung eines gewissen Risikos, um die effektive Durchsetzung des Unionsrechts verdient gemacht haben und sich nicht vorwerfen lassen müssen, sie hätten nur noch im letzten Moment gefahrlos die Gewinne aus einer sich bereits deutlich abzeichnenden Entscheidung mitgenommen. bb) Maßgeblicher Anknüpfungspunkt (1) Datum der Verkündung des Urteils Typischerweise fasst der EuGH seinen Tenor zur Rückausnahme so, dass diejenigen sich trotz der Beschränkung der Rückwirkung auf sein Urteil berufen können, die vor dem Tag der Verkündung des Urteils Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt haben.116 Somit ist mit Ablauf des Tages vor der Urteilsverkündung (24:00 Uhr) die letzte Gelegenheit verstrichen, das Urteil des Gerichtshofs für die eigene Situation nutzbar zu machen. 113 EuGH, Urteil vom 17. Mai 1990, Rs. C-262/88, Barber, Slg. 1990, I-1889, Rn. 44. 114 Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1843). 115 Dies kritisiert Müller, S. 93. 116 Grundlegend EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Ziff. 5 des Tenors; siehe z. B. auch EuGH, Urteil vom 17. Mai 1990, Rs. C-262/88, Barber, Slg. 1990, I-1889, Ziff. 5 des Tenors; Urteil vom 16. Juli 1992, Rs. C-193/90, Legros, Slg. 1992, I-4625, Ziff. 3 des Tenors; Urteil vom 15. Dezember 1995, Rs. C415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Ziff. 3 des Tenors; Urteil vom 4. Mai 1999, Rs. C262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685, Ziff. 2 des Tenors; Urteil vom 9. März 2000, Rs. C437/97, Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, I-1157, Ziff. 3 des Tenors.
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
Dieser Stichtag für die Rückausnahme wird dem Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes in den meisten Fällen am besten gerecht: Jeder, der irgendwann einmal vor der Verkündung des Urteils einen Rechtsbehelf eingelegt und somit Zeit und Geld in seine Rechtsverfolgung investiert hat, kann sich auf das Urteil des Gerichtshofs berufen.117 Dabei ist es völlig gleich, ob er dies bereits lange vor Urteilsverkündung gemacht hat, als der Ausgang des Verfahrens noch völlig offen war, oder erst kurz davor, als bereits zahlreiche Indizien vorlagen, die ihn auf einen erfolgreichen Verfahrensausgang hoffen lassen konnten. Die Eingehung eines auch noch so geringen Prozessrisikos wird honoriert. Dadurch wird den Rechtsschutzsuchenden gezeigt, dass es sich auch in Zukunft lohnt, gegen Unionsrechtsverstöße vorzugehen. Der Gerichtshof ist darauf angewiesen, dass die Individuen in der Union durch ihre Rechtsmittel den Weg zu einem Vorabentscheidungsverfahren ebnen. Es wäre taktisch unklug, wenn der Eindruck entstünde, dass der EuGH diese Mithilfe nicht hinreichend zu würdigen weiß und vielen Klägern und Widerspruchsführern die Berufung auf das Unionsrecht verwehrt, nur weil sie angeblich zu spät tätig geworden sind.118 Wer hingegen bis zur Urteilsverkündung noch kein Rechtsmittel eingelegt hat, ist deutlich weniger schutzwürdig. Zum einen wird hier durch die zeitliche Beschränkung die Effektivität des Rechtsschutzes nicht gefährdet, weil noch gar keine Schritte zur Wahrung der eigenen Rechte unternommen worden sind.119 Zum anderen hat derjenige in keiner Weise, nicht einmal potentiell, zur Klärung des Unionsrechts beigetragen. In dieser Situation überwiegen die Interessen des betroffenen Mitgliedstaates, der gutgläubig von der Unionsrechtskonformität seiner Rechtsordnung ausging. Wie Gosch treffend feststellt: Es gibt keine europarechtliche Grundfreiheit zur Teilhabe an den EuGH-Erkenntnissen ohne das Risiko des verfahrensrechtlichen Unterliegens.120 Ein weiterer Vorzug des Abstellens auf das Datum der Verkündung des Urteils ist, dass die Waffengleichheit zwischen denjenigen, die von der zeitlichen Beschränkung profitieren, und denjenigen, die bereits Rechtsbehelfe eingelegt haben, gewahrt bleibt. Es gibt keine Zeitabschnitte, während derer die zeitliche Beschränkung uneingeschränkt gilt und Rechtsbehelfe gänzlich wirkungslos bleiben. Die Gleichheit vor dem Gesetz bleibt gewahrt, weil nur danach differenziert wird, wer aktiv geworden ist und wer nicht; werden hingegen bestimmte Zeiträume festgelegt, während derer sich niemand auf das Urteil berufen darf, besteht die Gefahr, dass damit auch einzelne schutzwürdige Personen ausgeschlos-
117 Wiedmann, EuZW 2007, 692 (693); Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1843); siehe auch Müller, S. 98. 118 Kokott/Henze, NJW 2006, 177 (182). 119 Kritisch Müller, S. 91. 120 Gosch, DStR 2004, 1988 (1989).
IV. Rückausnahme
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sen werden, deren Klageerhebung aufgrund zufälliger Umstände in den ungünstigen Zeitraum fällt. Abschließend lässt sich daher feststellen, dass die Praxis des EuGH Zustimmung verdient, jeden von der Rückausnahme profitieren zu lassen, der bis zur Urteilsverkündung Klage erhoben oder einen vergleichbaren Rechtsbehelf eingelegt hat. Für den „Normalfall“ der zeitlichen Beschränkung bedeutet dies einen angemessenen Ausgleich der widerstreitenden Interessen. (2) Datum der Verlesung der Schlussanträge Die bisher vom Gerichtshof angeordnete Rückausnahme für alle, die bis zur Urteilsverkündung Rechtsmittel eingelegt haben, erscheint aber hin und wieder problematisch: In Verfahren mit großer Publikumswirksamkeit legen oft so viele der Betroffenen einen Rechtsbehelf ein, dass die zeitliche Beschränkung wirkungslos zu bleiben droht.121 Vor diesem Hintergrund hat Generalanwältin Stix-Hackl in der Rechtssache Banca Popolare di Cremona einen neuen zeitlichen Anknüpfungspunkt ins Spiel gebracht: Von der Rückausnahme sollten nur diejenigen profitieren, die vor den (ersten) Schlussanträgen des Generalanwalts Jacobs aktiv geworden seien, in welchen dem Gerichtshof vorgeschlagen wurde, auf die Unvereinbarkeit der italienischen IRAP mit dem Gemeinschaftsrecht anzuerkennen. Ab diesem Zeitpunkt habe eine echte Wahrscheinlichkeit bestanden, dass auch der Gerichtshof so erkennen würde; wäre der Generalanwalt hingegen anderer Auffassung gewesen, wäre die Wahrscheinlichkeit deutlich geringer gewesen.122 Dieser Vorschlag hat einiges für sich: Die Schlussanträge sind das einzige Element des Vorabentscheidungsverfahrens, das die Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Prozessergebnisses für alle erkennbar beeinflusst.123 Denn immerhin folgt der Gerichtshof den Vorschlägen des Generalanwalts oder der Generalanwältin in schätzungsweise 90 % aller Fälle.124 Wenn auch diese hohe Wahrscheinlichkeit nicht ausreichte, um die Mitgliedstaaten zu einer Änderung ihrer Gesetzgebung ins Blaue hinein zu verpflichten,125 so dürfte hiermit für die einzelnen Kläger eine psychologische Schallmauer durchbrochen sein. Wer auf einmal eine 90 %ige Erfolgschance sieht, der geht siegessicherer in einen Prozess als derjenige, für den der Ausgang des Verfahrens noch völlig offen ist. Natürlich 121
Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1843). Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 172. 123 Düsterhaus, EuZW 2007, 393 (397); a. A. Wiedmann, EuZW 2007, 692 (695). 124 Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), § 3, Rn. 11; vgl. Kokott, S. 6, die zumindest von einer Quote von 80 % ausgeht. 125 Siehe oben E. II. 2. d). 122
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
binden die Schlussanträge den EuGH nicht.126 Für die Kläger, die erst jetzt ihre Rechte verfolgen, dürfte jedoch maßgeblich sein, dass eine wichtige Institution bei den europäischen Gerichten mit einem hohen Überzeugungspotenzial in ihrem Sinne plädiert hat und daher nur noch ein geringes Restrisiko verbleibt. Ein solcher Kläger erscheint deutlich weniger prämierungs- und schutzwürdig als diejenigen, die schon früher ein Prozessrisiko eingegangen sind.127 Anders bei einem Kläger, der nach Verlesung der Schlussanträge noch Klage eingereicht hat, obwohl diese zu seinen Ungunsten ausgefallen sind: Ein solches Verhalten ist ganz klar prämierungswürdig. Zieht man die Verlesung der Schlussanträge als Stichtag für die Rückausnahme in Betracht, drängt sich der Vorwurf auf, Mitgliedstaaten und Individuen würden hinsichtlich ihrer Sorgfaltspflichten mit zweierlei Maß gemessen. Auf der einen Seite sollen die Mitgliedstaaten nach der hier vertretenen Auffassung auf für sie ungünstige Schlussanträge noch nicht gesetzgeberisch agieren, sondern allenfalls Vorbereitungen für eine Gesetzesänderung treffen müssen. Auf der anderen Seite soll von den Anspruchsberechtigten verlangt werden, ihre Rechte bereits vor Verlesung der Schlussanträge geltend zu machen. Dieser Widerspruch ist jedoch nur ein scheinbarer. Das wird deutlich, wenn man die unterschiedlichen Funktionen von Urteilsbeschränkung und Rückausnahme betrachtet und dabei auch den Charakter dieses Rechtsinstituts als prozessuales Gefahrenabwehrrecht im Auge behält. Die Beschränkung ist ein Zugeständnis an einen Mitgliedstaat (manchmal auch an eine Gruppe von Privaten), der in gutem Glauben einer falschen Auslegung des Unionsrechts gefolgt und dadurch unverschuldet in eine ökonomisch brisante Lage geraten ist. Dieses Element ist untrennbar mit dem Erfordernis des guten Glaubens verknüpft. Die Anspruchsinhaber hingegen sind unabhängig von ihrem guten Glauben grundsätzlich immer schutzwürdig, denn materiell steht ihnen ihr Recht unstreitig zu. Der bloße Ausspruch einer zeitlichen Beschränkung bedeutet daher, diese Schutzbedürftigkeit aus reinen Zweckmäßigkeitserwägungen zurücktreten zu lassen128 – so wie das im nationalen Recht zum Beispiel eine Verjährungsregel tut. Wo man den Schnitt macht, ist dann zu einem gewissen Grad willkürlich. Der Grundsatz effektiven Rechtsschutzes legt jedoch nahe, danach zu differenzieren, wer mehr oder weniger schutzwürdig ist.129 Dabei nimmt die Schutzwürdigkeit typischerweise ab, je näher das Urteil des Gerichtshofs rückt. Wer sehr früh Widerspruch einlegt oder Klage erhebt, kann sich oft nur auf sein eigenes Judiz bzw. auf das seines Anwalts verlassen. Mit fortschreitendem Zeitablauf werden aber oft weitere Indizien hinzukom126 Düsterhaus, EuZW 2007, 393 (397), äußert Bedenken, dass der hier dargestellte zeitliche Anknüpfungspunkt eine Bindung des EuGH an die Schlussanträge vortäuschen könnte; ähnlich Müller, S. 93, Fn. 380; Schaer, S. 104 f. 127 Kritisch Müller, S. 93. 128 Vgl. Kokott/Henze, NJW 2006, 177 (182). 129 Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1843).
IV. Rückausnahme
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men, die Aufschluss darüber geben, ob man auf dem richtigen Weg ist: Aufsätze in Fachzeitschriften, der Vorlagebeschluss eines Gerichts, die Stellungnahme der Kommission und schließlich die Schlussanträge des Generalanwalts. Natürlich verbleibt auch nach den Schlussanträgen noch ein Restrisiko. Dieses ist jedoch deutlich geringer als das Risiko, das andere mit ihren sehr frühen Rechtsmitteln eingegangen sind. Bisher hat der Gerichtshof auch die Inkaufnahme dieses Restrisikos honoriert und nur denjenigen die Berufung auf das Unionsrecht verweigert, die ganz sicher gehen wollten und das Urteil selbst abgewartet haben. In der großen Mehrzahl der Fälle erscheint das auch angemessen. Wenn jedoch aufgrund der Berichterstattung in den Medien so viele der gutgläubigen Rechtshandlungen angefochten werden, dass von der Erleichterung durch die Rückausnahme nichts mehr bleibt, dann kann dem Mitgliedstaat nur noch durch weitere Einschnitte zu Lasten derjenigen geholfen werden, die ihre Rechte bereits vor dem Urteil verfolgt haben.130 Und in dieser Gruppe erscheinen nun einmal diejenigen, die bereits vor Verlesung der Schlussanträge einen Rechtsbehelf eingelegt haben, schutzwürdiger als die, die erst nach der ermutigenden Stellungnahme des Generalanwalts aktiv geworden sind. Es handelt sich dabei um eine rein zweckorientierte Abwägung, die weder die Interessen des gutgläubigen Mitgliedstaats noch die Erwartungen der materiell berechtigten Anspruchsinhaber ganz aus den Augen verlieren will. Es liegt auf der Hand, dass eine solche beschränkte Rückausnahme nicht zur Regel im Rahmen der Wirkungsbeschränkung werden darf. Der betroffene Mitgliedstaat, der eine solche weitergehende Begünstigung wünscht, wird genau darlegen müssen, warum eine zeitliche Beschränkung mit herkömmlicher Rückausnahme für den Schutz seiner Belange nicht ausreichend ist. Nur dann erscheint es sachgerecht, denjenigen Anspruchsinhabern eine Privilegierung zu verweigern, die es sich mit der Verfolgung ihrer Rechte etwas leichter gemacht und die Verlesung der Schlussanträge noch abgewartet haben. Es muss jedoch noch ein Problem angesprochen werden, das nicht allein mit der Anknüpfung an die Schlussanträge verbunden ist, sondern das sich bei jedem Stichtag vor Urteilsverkündung stellt: Die fehlende Klageerhebung kann dem Bürger nur dann zum Vorwurf gemacht werden, wenn sie überhaupt schon möglich war. Gerade im Verhältnis Bürger-Staat muss jedoch erst ein belastender Verwaltungsakt ergehen, damit der Einzelne sich gegen ihn wehren kann. Auch ein privates Rechtsverhältnis muss erst entstehen und streitig werden, damit der Einzelne Klage erheben kann. Konsequent umgesetzt würde der von Generalanwältin Stix-Hackl in Banca Popolare di Cremona vorgeschlagene Tenor bedeuten, dass sich kein Unternehmer, der zwischen den ersten Schlussanträgen und der Verkündung des Urteils einen Steuerbescheid über die IRAP erhalten hat, auf 130
Vgl. Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1843).
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit dieser Abgabe hätte berufen können, wenn der EuGH sie denn festgestellt hätte. Und das, obwohl die Unternehmer in diesen Fällen niemals die Chance hatten, vor dem maßgeblichen Stichtag Rechtsbehelfe zu ergreifen. Sie werden gewissermaßen durch den zeitlichen Ablauf der Dinge dazu gezwungen, „Trittbrettfahrer“ zu sein. Das kann man ihnen allerdings kaum zum Vorwurf machen. Es bleiben daher nur zwei Möglichkeiten. Zunächst könnte man diese Konsequenz bewusst in Kauf nehmen, um die Wirksamkeit der zeitlichen Beschränkung nicht zu gefährden. Dies erscheint allerdings nur schwer vertretbar. Denn die Schlussanträge werden nicht nur den einzelnen Klägern, sondern vor allem den Regierungen zugänglich. Wenn man auch von den Mitgliedstaaten nicht erwarten kann, dass sie auf die Schlussanträge gleich mit einer Gesetzesänderung reagieren, so kann doch zumindest erwartet werden, dass sie auf die nunmehr extrem wackelige Rechtsgrundlage nur noch so wenige Rechtsakte wie möglich stützen, also Steuerbescheide erst einmal zurückhalten oder Rückstellungen bilden, um den drohenden finanziellen Verlust abzufedern. Der Zeitraum bis zur Verkündung des Urteils, während derer die Mitgliedstaaten mit einer solchen Schwebelage leben müssten, ist immerhin überschaubar. Daher kann nur eine zweite Möglichkeit in Betracht kommen: Die Tenorierung der Rückausnahme muss den hier geäußerten Bedenken Rechnung tragen und zwischen Sachverhalten vor und nach der Verlesung der Schlussanträge unterscheiden. Das hätte im Fall Banca Popolare di Cremona wie folgt aussehen können: „Auf das in Artikel 33 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie ausgesprochene Verbot können keine Forderungen auf Erstattung von IRAP gestützt werden, die in Bezug auf vor dem Urteil des Gerichtshofes liegende Besteuerungszeiträume oder in Bezug auf den Besteuerungszeitraum, in den dieses Urteil fällt, erhoben wurden, mit Ausnahme der Forderungen von Personen, die vor dem 17. März 2005, dem Tag der Verlesung der Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs in der vorliegenden Rechtssache, Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt haben131 gegen vor dem 17. März 2005 zugestellte Steuerbescheide, sowie mit Ausnahme von Personen, die vor dem Tag der Verkündung des vorliegenden Urteils Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt haben gegen ab dem 17. März 2005 zugestellte Steuerbescheide.“
Doch selbst diese besser austarierte Lösung hat den Nachteil, dass sie für diejenigen, die unmittelbar vor dem Urteil des EuGH einen unionsrechtswidrigen Bescheid erhalten, eine extrem kurze Reaktionsfrist setzt. Dies ist allerdings kein spezifisches Problem dieses Ansatzes, sondern stellt sich in gleicher Weise bei allen bisher vom Gerichtshof ausgesprochenen zeitlichen Beschränkungen. Letzt131 An dieser Stelle endet der Tenorierungsvorschlag von Generalanwältin StixHackl, siehe Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 14. März 2006, Rs. C475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 187 Ziff. 2.
IV. Rückausnahme
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lich wird man jedoch im Rahmen des Vorabentscheidungstenors, der einerseits eine Vielzahl von Einzelfällen erfassen und andererseits praktikabel bleiben muss, nicht jeder Sonderkonstellation gerecht werden können. Hier liegt es an den nationalen Rechtsordnungen, prozessrechtliche Vorschriften bereitzuhalten (z. B. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand), die dem Kläger in Härtefällen zu seinem Recht verhelfen. (3) Datum der Verkündung des Urteils in einem früheren Verfahren In den Fällen, in denen der Gerichtshof auf die Beschränkung der Urteilswirkungen in einem früheren Urteil verweist, in dem die entscheidenden Rechtsfragen erstmalig geklärt wurden, gilt konsequenterweise auch die Rückausnahme im Umfang des früheren Urteils.132 Stichtag bleibt damit der Tag, an dem das vorangegangene Urteil verkündet wurde. Es handelt sich hierbei also strenggenommen gar nicht um einen abweichenden Endpunkt für die Rückausnahme, sondern um die logische Konsequenz daraus, dass der EuGH nach der hier vertretenen Auffassung keine neuerliche Beschränkung anordnet, sondern lediglich auf die ohnehin bereits in allen Mitgliedstaaten geltende Beschränkung mit all ihren Modifikationen hinweist.133 Problematisch erscheint die zeitliche Anknüpfung der Rückausnahme an frühere Urteile, wenn damals keine Beschränkung der Rückwirkung angeordnet wurde.134 Dies hatte die deutsche Bundesregierung in der Rechtssache Meilicke „höchst vorsorglich“ so beantragt,135 wohl in der Hoffnung, mit einem solchen Kompromiss den Gerichtshof von der Feststellung einer Präklusion abbringen zu können. Einen Vorwurf, bis zu dem früheren Urteil noch keinen Rechtsbehelf eingelegt zu haben, kann man den Rechteinhabern jedoch nur dann machen, wenn das frühere Urteil die gleiche Rechtsfrage zum Gegenstand hatte. In genau dieser Konstellation verweigert der Gerichtshof aber mit guten Gründen eine zeitliche Beschränkung wegen Präklusion. Die Frage der Rückausnahme kann sich dann konsequenterweise nicht stellen. Betrifft das frühere Verfahren hingegen nicht dieselbe, sondern nur eine entfernt ähnliche Rechtsfrage, dann erscheint dieser Zeitpunkt reichlich früh, um eine Abschichtung zwischen den mehr und den weniger schutzwürdigen Rechteinhabern zu treffen. Die Frage, inwieweit die Argumentation des Gerichtshofs 132 Siehe zum Beispiel: EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1993, Rs. C-109/91, Ten Oever, Slg. 1993, I-4878, Rn. 20, Ziff. 2 des Tenors; Urteil vom 14. Dezember 1993, Rs. C-110/91, Moroni, Slg. 1993, I-6591, Ziff. 3 des Tenors. 133 Siehe oben E. II. 2. e). 134 Wiedmann, EuZW 2007, 692 (694). 135 Generalanwalt Tizzano, Schlussanträge vom 10. November 2005, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 44.
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
auf das noch schwebende Verfahren übertragen werden kann, ist immer noch mit zahlreichen Ungewissheiten verbunden.136 Wer das frühere Urteil in dieser Konstellation zum Anlass nimmt, ein Rechtsmittel einzulegen, ist noch weit davon entfernt, ein „Trittbrettfahrer“ zu sein.137 Insofern überwiegen zu diesem frühen Zeitpunkt die Erfordernisse eines effektiven Rechtsschutzes bei weitem die wirtschaftlichen Interessen des betroffenen Mitgliedstaats, selbst wenn dieser noch so gutgläubig war. Das Datum eines früheren Urteils kann somit nur dann Stichtag für die Rückausnahme sein, wenn die entsprechende Urteilsbegrenzung bereits in dem früheren Urteil ausgesprochen wurde. Insofern handelt es sich im Rahmen des nachfolgenden Urteils allerdings nur um einen rein deklaratorischen Verweis auf die frühere, und nicht um die Anordnung einer neuen, selbständigen Rückausnahme. (4) Datum der Veröffentlichung des Vorlagebeschlusses im Amtsblatt Einen weiteren zeitlichen Anknüpfungspunkt schlägt Generalanwalt Tizzano in der Rechtssache Meilicke vor: Da die entscheidenden rechtlichen Fragen bereits durch das Urteil Verkooijen geklärt worden seien, müsse die Grenze für erfolgreiche Erstattungsanträge nach Maßgabe der Sorgfalt gezogen werden, die die Betroffenen nach jenem Urteil an den Tag gelegt hätten. Als Bezugszeitpunkt sollte daher der Tag dienen, an dem der Vorlagebeschluss in der dem Generalanwalt vorliegenden Rechtssache Meilicke im Amtsblatt der Europäischen Union138 verkündet worden sei. Ab diesem Zeitpunkt sei die Möglichkeit einer Wiedererlangung der zuviel gezahlten Beträge angemessen ins öffentliche Bewusstsein gerückt, so dass auch weniger sorgfältige Steuerpflichtige darauf aufmerksam geworden seien.139 Diesem Ansatz Tizzanos ist zugute zu halten, dass er sich zumindest bemüht, Rechtsbehelfe gegen Unionsrechtsverstöße weiterhin einigermaßen attraktiv erscheinen zu lassen, andererseits aber Trittbrettfahrer auszusieben.140 Mit seinem frühen Bezugszeitpunkt für die Geltendmachung von Erstattungsansprüchen stellt er allerdings überhöhte Anforderungen an die betroffenen Steuerpflichtigen:141 Die Frage, inwieweit das Urteil Verkooijen sich auf das deutsche Halbeinkünfteverfahren übertragen lässt, wurde auch von Fachleuten keineswegs als absolut 136
Wiedmann, EuZW 2007, 692 (694). So aber Düsterhaus, EuZW 2006, 393 (395). 138 ABl. 2004, Nr. C-228 vom 11. September 2004, S. 27. 139 Generalanwalt Tizzano, Schlussanträge vom 10. November 2005, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 60 ff. 140 Kokott, S. 41; Wiedmann, EuZW 2007, 692 (695); Müller, S. 95; Schmitz/Stammler, AöR 136 (2011), 479 (496). 141 Müller, S. 95; A.A. Wiedmann, EuZW 2007, 692 (695); Schaer, S. 104 f. 137
IV. Rückausnahme
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eindeutig bewertet.142 Und zumindest Generalanwalt Tizzano selbst war es einigen Begründungsaufwand wert, in seinen Schlussanträgen die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit von Steuervorschriften nach Art des alten deutschen Anrechnungsverfahrens nachzuweisen.143 Somit waren auch nach Verkooijen die Erfolgsaussichten eines deutschen Rechtsbehelfs keineswegs klar. Dies sieht auch Tizzano, wenn er die Urteilsverkündung in Verkooijen als Bezugspunkt ablehnt, weil ansonsten die Steuerpflichtigen bestraft würden, indem man ihnen eine höhere Sorgfaltspflicht als der Kommission aufbürdete.144 Die Sorgfaltspflicht wird allerdings keinesfalls geringer, wenn man den Stichtag auf den Zeitpunkt der Veröffentlichung des Vorlagebeschlusses verschiebt.145 Denn was besagt eine solche Mitteilung schon, außer dass zwischenzeitlich auch ein deutsches Gericht auf die umstrittene Frage gestoßen ist (zumal der Bezug zu Verkooijen aus dem veröffentlichten Vorlagebeschluss in keiner Weise zu entnehmen war und sich nur aus profundem Hintergrundwissen ergeben konnte)? Die Unsicherheiten bleiben die gleichen. Insofern unterscheidet sich der von Tizzano gewählte Zeitpunkt deutlich von der Verlesung der Schlussanträge, bei denen tatsächlich eine Verschiebung der Wahrscheinlichkeiten zu erkennen ist. Anzumerken ist außerdem, dass sich der Ansatz Tizzanos nur schwer verallgemeinern lässt. Er bietet sich nur in Fällen an, in denen bereits vorher eine Entscheidung zu einem vergleichbaren Sachverhalt ergangen ist. Bei Fragen, mit denen sich der Gerichtshof im laufenden Verfahren zum ersten Mal beschäftigt, hat allein die Existenz eines Vorlagebeschlusses keine Aussagekraft. Diese erforderliche Verbindung des von Tizzano gewählten Konzepts mit einer vorangegangenen EuGH-Entscheidung bringt noch ein weiteres Problem mit sich: Wenn es bereits ein früheres Urteil gibt, das die Vorlagefrage im Wesentlichen beantwortet, dann steht einer erneuten zeitlichen Beschränkung regelmäßig die Präklusion entgegen, wie es im Fall Meilicke geschehen ist. Die Frage, in welchem Umfang eine Rückausnahme zu gewähren ist, stellt sich dann gar nicht mehr. Schließlich ergibt sich auch bei diesem frühen Stichtag das Problem, dass in ungerechtfertigter Weise Ansprüche ausgeschlossen werden, die erst in dem Zeitraum zwischen der Veröffentlichung des Vorlagebeschlusses und der Urteilsverkündung entstanden sind. Dass diese Erwägungen in den Schlussanträgen von
142 Kokott/Henze, NJW 2006, 177 (182): „Angesichts der feinen Differenzierung, die der Gerichtshof in den Urteilen Blaizot und Gravier vorgenommen hat, ist nicht ganz sicher, wie er das Verhältnis der Fälle Verkooijen und Meilicke einordnen wird.“; siehe auch Waldhoff, S. 42. 143 Generalanwalt Tizzano, Schlussanträge vom 10. November 2005, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 13 bis 30. 144 Generalanwalt Tizzano, Schlussanträge vom 10. November 2005, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 54; siehe auch Thömmes, IWB 2005, Fach Nr. 11a, 927 (932). 145 Vgl. Thömmes, IWB 2005, Fach Nr. 11a, 927 (931); Kokott, S. 41.
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
Generalanwalt Tizzano nicht auftauchen, lässt sich insofern erklären, als das deutsche Steuerrecht lange vor dem gewählten Stichtag geändert worden war und neue Bescheide in dem fraglichen Zeitraum nicht mehr zu erwarten waren. Wenn überhaupt, dann ließe sich also auch die Veröffentlichung des Vorlagebeschlusses nur dann als Stichtag vertreten, wenn die Tenorierung eine Sonderregelung für die Empfänger nachfolgender Bescheide enthielte. Aufgrund der dargelegten Unstimmigkeiten ist der von Generalanwalt Tizzano gewählte Ansatz jedoch ohnehin abzulehnen. (5) In der Zukunft liegender Zeitpunkt Hier sind zwei Fälle zu unterscheiden: Zum einen erscheint es grundsätzlich denkbar, den Stichtag für die Rückausnahme auch dann auf einen Zeitpunkt in der Zukunft (also nach der Urteilsverkündung) zu legen, wenn die Urteilswirkungen bereits mit Erlass des Urteils eintreten (ex-nunc-Wirkung). Der Stichtag für die Rückausnahme läge dann später als die zeitliche Grenze für die Beschränkung. Den Anspruchsinhabern würde gewissermaßen eine Übergangsfrist nach Urteilserlass gewährt, während derer sie ihre Rechte noch verfolgen können, ohne einen Nachteil zu erleiden. Damit würde allerdings die zeitliche Beschränkung weitgehend ihrer Funktion beraubt, da nach der Urteilsverkündung alle Betroffenen, die im Zweifel nur auf das Urteil gewartet haben und gewissermaßen schon in den Startlöchern stehen, ohne nennenswertes Prozessrisiko ihre Ansprüche geltend machen können. Dies widerspricht auch der hier herausgearbeiteten Ratio der Rückausnahme, denjenigen Personen eine Prämie zu gewähren, die sich unter Eingehung eines erheblichen Prozessrisikos tatsächlich oder potentiell um das Unionsrecht verdient gemacht haben. Eine derart ausgestaltete Rückausnahme, dass auch nach der Urteilsverkündung geltend gemachte Ersatzansprüche nicht von der zeitlichen Beschränkung erfasst werden, ist daher abzulehnen. Der zweite denkbare Fall wäre, dass der EuGH schon die Urteilswirkungen erst ab einem Zeitpunkt in der Zukunft eintreten lässt, den Mitgliedstaaten also aufgrund der besonderen Umstände des Falles eine Übergangsfrist zur Umsetzung des Urteils gewährt, und den Stichtag für die Rückausnahme lediglich gleichlaufen lässt. Doch auch hier stellt sich das Problem, dass diejenigen, die bis zur Urteilsverkündung noch nicht aktiv geworden sind, die Übergangsfrist nutzen können, um ihre sicheren Gewinne geltend zu machen. Im Hinblick auf diejenigen, die nach Verkündung des Urteils Opfer der unionsrechtswidrigen Regelung werden, würde eine Rückausnahme, die lediglich Klageerhebung bis zu einem zukünftigen Stichtag erfordert, die Übergangsfrist ad absurdum führen, weil dann jeder die Übergangsfrist ausnutzende Rechtsakt sofort erfolgreich angefochten werden würde.146 146
Siehe oben E. II. 2. b).
IV. Rückausnahme
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Eine Verlegung des Stichtags für die Rückausnahme auf einen in der Zukunft liegenden Zeitpunkt erscheint vor diesem Hintergrund unter keinen Umständen sinnvoll. (6) Zwischenergebnis Als Stichtag für die Rückausnahme von der zeitlichen Beschränkung kommen nur zwei Zeitpunkte ernsthaft in Frage. Zum einen der Tag der Urteilsverkündung, den der EuGH in seiner bisherigen Rechtsprechung immer als Anknüpfungspunkt gewählt hat. Dadurch bleibt jedem die Urteilswirkung erhalten, der sich irgendwann in der Vergangenheit um die Durchsetzung seiner Rechte gekümmert hat. Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes kommt so am besten zur Geltung. Die Argumente gegen diese Praxis, dass in der heutigen Rechtswirklichkeit Verfahren vor dem EuGH immer intensiver verfolgt werden und daher umso mehr Betroffene Rechtsmittel einlegen und sich „windfall profits“ sichern werden, je deutlicher sich ein Erfolg vor dem EuGH abzeichnet, wiegen jedoch schwer. Insbesondere die Schlussanträge der Generalanwälte sind geeignet, eine Welle opportunistischer Klagen loszutreten. Daher erscheint es in besonderen Fällen, in denen eine zeitliche Beschränkung nach bisherigem Muster leerzulaufen droht, vorzugswürdig, eine abgestufte Rückausnahme vorzusehen: Gehen die Schlussanträge von der Unionsrechtskonformität der in Rede stehenden nationalen Vorschrift (oder Sekundärrechtsnorm) aus, bleibt es ohnehin beim Tag der Verkündung des Urteils als Stichtag für die Rückausnahme. Hier sind alle Rechtsbehelfsführer gleichermaßen prämierungswürdig. Plädiert der Generalanwalt hingegen im Sinne der Rechtsbehelfsführer, müssen alle diejenigen, deren angefochtene Sachverhalte zeitlich vor den Schlussanträgen liegen, auch bis zu den Schlussanträgen ihren Rechtsbehelf eingelegt haben, um in den Genuss der Rückausnahme zu kommen. Für spätere Sachverhalte bleibt Stichtag der Tag der Urteilsverkündung. Auf diese Weise ließe sich verhindern, dass die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen völlig leerläuft, und zugleich würden die Erfordernisse der Rechtssicherheit auf der einen Seite und der materiellen Gerechtigkeit auf der anderen Seite in einen sinnvollen Ausgleich gebracht. d) Nicht erforderlich: Berufung auf das Unionsrecht Nicht erforderlich ist offenbar nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass der Kläger sich im Rahmen seiner Klage gerade auf den Verstoß gegen das Unionsrecht beruft. Somit kann auch derjenige, der aus gänzlich anderen Gründen vor Verkündung des EuGH-Urteils seinen Rechtsbehelf eingelegt hat, nachträglich von den sich ihm neu eröffnenden zusätzlichen Klagegründen profitieren. Das erscheint insofern ein wenig fragwürdig, als der Kläger jedenfalls nicht
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
aktiv die Klärung der unionsrechtlichen Auslegungs- oder Gültigkeitsfrage vor dem Gerichtshof betrieben hat. Allerdings besteht auch ohne aktives Vorbringen des Klägers die Verpflichtung nationaler Gerichte, sich von Amts wegen mit den unionsrechtlichen Implikationen eines Falls zu befassen; das Vorabentscheidungsverfahren ist in erster Linie ein Dialog der Gerichte.147 Es ist unerheblich, von wem die unionsrechtliche Fragestellung im Ausgangsfall erstmals aufgeworfen wurde und ob die Initiative zur Vorlage vom Kläger, dem Gericht oder vielleicht gar den Beklagten, die ihren Standpunkt bestätigt sehen wollten, ausgegangen ist. Entscheidend sind daher für den Gerichtshof offensichtlich zwei Punkte: Erstens schafft jeder Kläger, ob er seine Klageanträge nun auf unionsrechtliche Argumente stützt oder nicht, eine potentielle Vorlagemöglichkeit. Jede Klage mit einem objektiv vorhandenen unionsrechtlichen Hintergrund dient daher mittelbar der Wahrung des Unionsrechts, ob diese Zusammenhänge von den Klägern bedacht wurden oder nicht. Zweitens ist jede Klage mit einem grundsätzlichen Prozessrisiko verbunden. Wer dieses Risiko eingeht und die entsprechenden Kosten und Mühen aufwendet, der verdient einen erhöhten Schutz, unabhängig von seinem tatsächlichen Beitrag zur Wahrung des Unionsrechts. Ihm seinen Anspruch zu nehmen, nur weil er vielleicht ein ihm nützliches unionsrechtliches Argument übersehen hat, erschiene daher extrem unbillig. Denn es muss noch einmal betont werden: Die „Prämie“ in Form der Rückausnahme gibt den Betroffenen nicht mehr, als ihnen ohnehin zustünde; sie verhindert lediglich, dass sie weniger bekommen, als ihnen nach der materiellen Rechtslage zusteht. 5. Ermessen des EuGH? Seit seinem grundlegenden Urteil zur zeitlichen Beschränkung in der Rechtssache Defrenne II hat der Gerichtshof in Auslegungsurteilen ausnahmslos eine Rückausnahme für diejenigen Betroffenen vorgesehen, die sich bereits um die Verfolgung ihrer Rechte gekümmert haben.148 Anders in einigen früheren Vorabentscheidungen zur Gültigkeit von Sekundärrecht: Hier verzichtete der Gerichtshof auf eine Rückausnahme. Dies geschah anfangs noch gänzlich kommentarlos,149 obwohl der Gerichtshof zuvor in drei Auslegungsurteilen eine zeitliche
147 EuGH, Urteil vom 12. Februar 2008, Rs. C-2/06, Kempter, Slg. 2008, I-411, Rn. 40 ff.; Generalanwalt Bot, Schlussanträge vom 24. April 2007, Rs. C-2/06, Kempter, Slg. 2008, I-411, Rn. 100 ff.; Weiß, DÖV 2008, 477 (483). 148 Kokott/Henze, NJW 2006, 177 (182); Lindemann/Hackemann, IStR 2005, 786 (789). 149 EuGH, Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 145/79, Roquette Frères, Slg. 1980, 2917, Rn. 53 u. Ziff. 3 des Tenors; Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 109/79, Maïseries de Beauce, Slg. 1980, 2883, Rn. 46 u. Ziff. 2 des Tenors; Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 4/79, Société Coopérative „Providence Agricole de la Champagne“, Slg. 1980, 2823, Rn. 46 u. Ziff. 2 des Tenors.
IV. Rückausnahme
223
Beschränkung vorgenommen und immer mit einer Rückausnahme verbunden hatte. In späteren Urteilen rückte der Gerichtshof von dieser strikten Haltung wieder ab, wies aber ausdrücklich darauf hin, dass es in seinem Ermessen stehe zu entscheiden, „[. . .] ob eine Ausnahme von dieser Begrenzung der zeitlichen Wirkung seines Urteils zugunsten der Partei, die die Klage vor dem nationalen Gericht erhoben hat, oder zugunsten anderer Marktteilnehmer, die vor der Feststellung der Ungültigkeit entsprechend gehandelt haben, vorgesehen werden kann oder ob im Gegenteil auch für die Marktteilnehmer, die rechtzeitig etwas zur Wahrung ihrer Rechte getan haben, eine nur in die Zukunft wirkende Ungültigerklärung in angemessener Weise Hilfe schafft.“ 150
Schließlich ging der Gerichtshof noch einen Schritt weiter und stellte fest, dass eine zeitliche Beschränkung ohne Ausnahme bei einem „Verstoß der Organe gegen die Rechtmäßigkeit des Gemeinschaftshandelns“ den Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz sowie die praktische Wirksamkeit von Art. 177 EWGV (Art. 267 AEUV) beeinträchtigte. 151 Gleichwohl ging der Gerichtshof weiterhin von seinem Wahlrecht aus,152 hat also der ausnahmslosen zeitlichen Beschränkung noch nicht endgültig den Rücken gekehrt.153 In Anbetracht der gewichtigen Argumente, die der Gerichtshof selbst gegen den Verzicht auf die Rückausnahme vorgebracht hat, ist seine Rechtsprechungspraxis wohl so zu verstehen, dass er die Tenorierung mit Rückausnahme nunmehr auch für Gültigkeitsverfahren als den Regelfall ansieht, sich aber für Ausnahmefälle vorbehält, im überwiegenden Interesse der Rechtssicherheit auf sie zu verzichten. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob der Gerichtshof auch in seinen Auslegungsurteilen stillschweigend von einem Beurteilungsspielraum im Hinblick auf die Rückausnahme ausgeht, von dem er bisher lediglich keinen Gebrauch gemacht hat. Für einen solchen Spielraum spricht die große Ähnlichkeit der beiden Verfahrensarten. Auch wenn der Gerichtshof seinen Beurteilungsspielraum bisher an Art. 264 Abs. 2 AEUV festgemacht hat, der in Auslegungsverfahren nicht analog anwendbar ist, sollte sich das gleiche Ergebnis unter Rückgriff auf den allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit erzielen lassen. Auch die Generalanwälte und die Literatur setzen einen gewissen Spielraum des EuGH stillschweigend voraus, wenn sie Vorschläge dazu machen, in welcher Weise der
150 EuGH, Urteil vom 27. Februar 1985, Rs. 112/83, Société des Produits de Maïs, Slg. 1985, 719, Rn. 18; siehe auch EuGH, Urteil vom 22. Mai 1985, Rs. 33/84, Fragd, Slg. 1985, 1605, Rn. 18; Urteil vom 10. März 1992, verb. Rs. C-38/90 u. C-151/90, Lomas, Slg. 1992, I-1781, Rn. 25. 151 EuGH, Urteil vom 26. April 1994, Rs. C-228/92, Roquette Frères/Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445, Rn. 27. 152 EuGH, Urteil vom 26. April 1994, Rs. C-228/92, Roquette Frères/Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445, Rn. 25. 153 A.A. Düsterhaus, EuZW 2006, 393 (395).
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
Stichtag für die Rückausnahme unter Abweichung von der bisherigen Praxis bestimmt werden sollte.154 Somit stellt sich nur die Frage, ob der Gerichtshof auch gänzlich auf die Rückausnahme verzichten könnte. Dies erscheint nur in absoluten Ausnahmefällen ein gangbarer Weg. Die zeitliche Beschränkung stellt bereits eine Privilegierung für die Mitgliedstaaten gegenüber der vollumfänglichen extunc-Wirkung dar. Daher müssen sie es ertragen, wenn diese Privilegierung weniger weit geht als erhofft, weil einige Betroffene bereits Rechtsbehelfe eingelegt und die schützenswerte Hoffnung gebildet haben, über diese zu ihrem Recht zu kommen. Es bedarf besonders guter Gründe, um denjenigen, die sich bereits um die Wahrung ihrer Rechte gekümmert haben, die Früchte dieser Bemühungen wieder zu nehmen. Besonders hohe Anforderungen an diese guten Gründe sind daher dann zu stellen, wenn allen Betroffenen die potentiellen Erfolge ihrer Prozesse entzogen werden sollen. Dies stellt immerhin eine Abkehr von dem Gedanken dar, dass nur die Trittbrettfahrer ausgesiebt werden sollen, weil bei einer solchen ausnahmslosen ex-nunc-Wirkung zwangsläufig auch diejenigen benachteiligt werden, die unter Eingehung eines hohen Prozessrisikos Kosten und Mühen zur Wahrung ihrer Rechte auf sich genommen haben. Unter diesen Umständen wäre der Anreiz für künftige Kläger, Verstöße gegen Unionsrecht geltend zu machen, erheblich gemindert.155 Der Unionsverstoß des betroffenen Mitgliedstaats hingegen bliebe sanktionslos; auf diese Weise würde höchstens ein Anreiz für die Mitgliedstaaten gesetzt, auch in Zukunft die Schaffung oder Beibehaltung unionsrechtswidriger Vorschriften zu riskieren.156 Ein gänzlicher Verzicht auf die Rückausnahme kommt daher nur als Notinstrument in Betracht, wenn sich die befürchteten schwerwiegenden wirtschaftlichen Auswirkungen auf keine andere Weise beseitigen lassen sollten. Das Ermessen des EuGH im Hinblick auf die Anordnung einer Rückausnahme ist daher als intendiertes Ermessen zu verstehen, das grundsätzlich zu einer Rückausnahme und nur in begründeten Härtefällen zu einer vollumfänglichen ex-nunc-Wirkung führen kann. Da bereits die Anordnung der zeitlichen Beschränkung die Ausnahme von der Regel der ex-tuncWirkung ist, können die Anforderungen an eine solche weitergehende Ausnahme kaum hoch genug sein.
154 Generalanwalt Jacobs geht in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Banca Popolare di Cremona offenbar davon aus, dass der EuGH, wenn er dem Vorbild des BVerfG folgen und eine Unvereinbarerklärung aussprechen sollte, zugleich auf die Rückausnahme verzichten sollte. Nur so ließe sich jedenfalls sein Ziel erreichen, der unzähligen bereits eingelegten Rechtsbehelfe Herr zu werden; vgl. Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge vom 17. März 2005, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 86. 155 Vgl. Kokott, S. 38, die die Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs in Banca Popolare di Cremona wohl im obigen Sinne (siehe Fn. 154) versteht. 156 Vgl. Kokott, S. 38.
IV. Rückausnahme
225
6. Faktische Rückausnahme durch nationale Verfassungsgrundsätze? Zu klären ist noch, inwieweit zu den vom EuGH im Wege der Rückausnahme von der zeitlichen Beschränkung ausgenommenen Fällen weitere Fälle hinzukommen, in denen sich eine faktische Rückausnahme nach dem nationalen Verfassungsrecht ergibt. Denn wenn sich der Einzelne aufgrund einer angeordneten zeitlichen Beschränkung möglicherweise nicht mehr auf ein EuGH-Urteil „berufen“ kann, so ist damit nur gesagt, dass die Mitgliedstaaten aus Sicht des Europarechts die Erlaubnis bekommen, entsprechende Ansprüche zurückzuweisen. Ob das nationale Recht dennoch dazu verpflichtet, das Urteil des Gerichtshofs auch in den nicht von der Rückausnahme erfassten Fällen zu berücksichtigen, ist keine Frage des Unionsrechts mehr und kann nur für jede mitgliedstaatliche Rechtsordnung separat beantwortet werden. Im deutschen Verfassungsrecht kann sich eine solche Pflicht zur Berücksichtigung eines EuGH-Urteils aus dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit der Verwaltung ergeben. Dieser Grundsatz könnte die Verwaltung vor allem dazu zwingen, in der Vergangenheit liegende Bescheide, die entweder noch nicht angefochten oder aber schon rechtskräftig abgewiesen worden sind (und daher nicht von der Rückausnahme erfasst werden), nicht zu vollziehen oder zu vollstrecken.157 Damit aber wäre die zeitliche Beschränkung wirkungslos: Das Vorabentscheidungsurteil würde sich auf alle Rechtsverhältnisse auswirken mit Ausnahme der bereits vollzogenen oder vollstreckten bestandskräftigen Rechtsakte bzw. rechtskräftigen Urteile. Die Frage ist also: Ist das deutsche Verfassungsrecht blind für die Entscheidung des EuGH, die zeitliche Wirkung des Urteils zu begrenzen, so dass nur auf die materielle Unvereinbarkeit des nationalen Rechts (oder des von nationalen Behörden anzuwendenden Sekundärrechts) mit höherrangigem Unionsrecht abzustellen ist? Oder handelt die Verwaltung in den Augen der Verfassung auch dann rechtmäßig, wenn sie den vom EuGH ausgesprochenen Dispens annimmt und Verwaltungsakte vollzieht, die zwar eigentlich unionsrechtswidrig sind, bei denen sich aber der Adressat nicht mehr auf die Unionsrechtswidrigkeit berufen kann? Die Bundesregierung scheint davon auszugehen, dass eine zeitliche Beschränkung auch in Deutschland voll durchschlägt. Anders lässt sich ihr energischer Einsatz für eine Beschränkung der Urteilswirkungen in der Rechtssache Meilicke nicht erklären. Das BVerfG hat sich zu dieser Frage bisher nicht geäußert. Ein Blick auf die Normenkontrollverfahren mit Unvereinbarerklärung zeigt aber, dass das BVerfG hier von einer Anwendungssperre des verfassungswidrigen Gesetzes ausgeht, die 157
Everling, in: FS Börner, S. 72.
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
den weiteren Vollzug des Gesetzes verhindert.158 Insofern ist gut denkbar, dass das BVerfG auch bei Vorabentscheidungsurteilen mit zeitlicher Beschränkung von einer Anwendungssperre ausgeht. Fraglich ist nur, ob eine solche freiwillige Anwendung des Unionsrechts ihrerseits mit dem Unionsrecht vereinbar wäre. Dafür spräche, dass der EuGH selbst nur dahingehend tenoriert, dass sich kein Kläger für vergangene Zeiträume auf das Urteil „berufen“ könnte, nicht aber, dass das Urteil generell nicht auf vergangene Zeiträume anwendbar sei. Andererseits stellte ein Verzicht auf die zeitliche Beschränkung einen nationalen Sonderweg dar, der wiederum zu einer uneinheitlichen Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten führte. Außerdem erlässt der EuGH die zeitliche Beschränkung in dem Willen, die wirtschaftlichen Folgen seines Urteils zu begrenzen. Dieses Ziel würde verfehlt, wenn der antragstellende Staat die zeitliche Beschränkung nur zur Kenntnis nehmen und dann aus verfassungsrechtlichen Gründen ignorieren müsste. Trotz des Wortlauts der üblichen Tenorierung („kann sich niemand berufen“) ist daher die zeitliche Beschränkung so zu verstehen, dass es dem Unionsrecht entspricht, wenn nationale Behörden in den durch das Urteil gesetzten Grenzen das eigentlich unionsrechtswidrige nationale Recht bzw. Sekundärrecht anwenden und vor allem bereits ergangene, nicht angefochtene Bescheide vollziehen. 7. Zwischenergebnis Die Rückausnahme von der zeitlichen Beschränkung gibt dem Gerichtshof ein Instrument an die Hand, um die Interessen derer, die eine zeitliche Beschränkung beantragt haben, mit den berechtigten Erwartungen derjenigen, die bereits Schritte zur Wahrung ihrer Rechte unternommen haben, in Einklang zu bringen. Dem Gerichtshof steht dabei grundsätzlich ein Ermessensspielraum zu, ob und bis zu welchem Stichtag er eine Rückausnahme gewährt. Der bisher vom Gerichtshof gewählte Stichtag, bis zu dem entsprechende Rechtsbehelfe eingelegt worden sein müssen, um noch berücksichtigt werden zu können, nämlich der Tag der Verkündung des Urteils, stellt allerdings für die meisten Fälle eine sinnvolle Balance der betroffenen Interessen dar. Doch auch das im Rahmen der Verfahren Banca Popolare di Cremona und Meilicke vielfach vorgetragene Argument, dass im Rahmen der heute verstärkt medial begleiteten Vorabentscheidungsverfahren mit einer Vielzahl von Trittbrettfahrern zu rechnen sei, ist nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Allerdings kann es nicht dazu führen, dass die Rechtsbehelfsführer umso mehr unter Pauschalverdacht gestellt werden, je kurzfristiger vor dem Urteil sie ihre Anträge stellen. Hier liegt es an denjenigen, die einen Antrag auf Beschränkung der 158 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), BVerfGG, § 31 BVerfGG, Rn. 221; ders., DVBl. 2007, 917 (919).
V. Auswirkungen nationaler Vorschriften zur Bestandskraft
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Rückwirkung stellen und darüber hinaus auch die Möglichkeit von Rückausnahmen so weit wie möglich einschränken wollen, darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, dass ein Verfahren bereits intensiv von der Öffentlichkeit verfolgt wird (die Aufsatzkopien der Diskussion in der Fachliteratur würden bereits genügen) und dass bereits ein Großteil der Betroffenen Rechtsbehelfe eingelegt hat. Dann liegt zumindest die Vermutung nahe, dass viele der später aktiv Gewordenen eher den Trittbrettfahrern als den aufrichtigen Rechtsverfolgern zuzuordnen sind. Als einziger vernünftiger Stichtag, um letztere von ersteren zu sondieren, kommt nur der Tag der Verlesung der Schlussanträge in Betracht, sofern diese sich für die Unionsrechtswidrigkeit des Sekundärrechts oder des nationalen Rechts aussprechen. Wer erst nach solchen für die eigene Rechtsposition günstigen Schlussanträgen erste Schritte zur Wahrung seiner Rechte unternimmt, ruht sich ersichtlich auf der 90 %igen Wahrscheinlichkeit seines Erfolgs aus und ist vermindert schutzwürdig. Ist das unionsrechtswidrige Rechtsverhältnis jedoch seinerseits erst nach der Verlesung der Schlussanträge entstanden, dann kann dem Betroffenen nicht zum Vorwurf gemacht werden, keinen Rechtsbehelf vor der Verlesung der Schlussanträge eingelegt zu haben. Für Rechtsverhältnisse, die in diesem Zeitraum ergehen, muss daher der Tag der Verkündung des Urteils der relevante Stichtag für die Gewährung der Rückausnahme bleiben. Ein völliger Verzicht auf die Rückausnahme ist nur in extremen Ausnahmefällen denkbar, in denen bereits so viele Betroffene in einem frühen Stadium Rechtsbehelfe eingelegt haben, dass die zeitliche Beschränkung anderenfalls wirkungslos bliebe. Dann muss allerdings der unionsrechtliche Verstoß derart auf der Hand gelegen haben, dass die Tatbestandsvoraussetzung des guten Glaubens nur schwerlich erfüllt sein kann. Eine zeitliche Beschränkung ohne jegliche Rückausnahme für Anlassfälle dürfte daher in der Praxis kaum zu rechtfertigen sein.
V. Auswirkungen nationaler Vorschriften zur Bestandskraft oder Verjährung Der grundsätzliche Zielkonflikt, der der hier untersuchten zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen zugrunde liegt, dass manchmal die Abwägung zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit zuungunsten der Gerechtigkeit ausfällt, ist keineswegs neu. Jede Rechtsordnung hat ihre eigenen Vorschriften, die entscheiden, wann der Gerechtigkeit und wann der Rechtssicherheit der Vorzug zu geben ist: Verfahrensrechtliche Vorschriften zur Bestandskraft, zur Rechtskraft und zur Verjährung erfüllen genau diesen Zweck, dauerhaften Rechtsfrieden herzustellen, auch wenn die Entscheidung dadurch materiell-rechtlich „falsch“ wird.159 Und sie haben die gleiche Wirkung wie die Urteilsbeschränkung des 159
Rennert, DVBl. 2007, 400 (401).
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
EuGH: Sie führen dazu, dass sich ein Anspruchsinhaber auf seinen materiell existenten Anspruch vor Gericht nicht mehr „berufen kann“.160 Insofern bestehen zwei „Beschränkungsregime“ nebeneinander, die im Fall einer zeitlichen Beschränkung sogar zusammenwirken: Das nationale Verfahrensrecht bestimmt, welche in der Vergangenheit liegenden Sachverhalte von einem EuGH-Urteil überhaupt noch beeinflusst werden können, der EuGH kann seinerseits durch eine Beschränkung der zeitlichen Wirkungen des Urteils den Kreis der betroffenen Sachverhalte eingrenzen.161 Diesen Zusammenhang spricht auch der Gerichtshof selbst an, wenn er ausführt, dass die nationalen Gerichte das Unionsrecht in der vom EuGH gefundenen Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse anwenden müssen, die vor Erlass des Vorabentscheidungsurteils entstanden sind, „wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschriften betreffenden Streit vorliegen.“ 162
Die zeitlichen Wirkungen eines Vorabentscheidungsurteils werden daher in erheblichem Umfang nicht nur durch den EuGH, sondern auch durch die nationalen Rechtsordnungen bestimmt. Im Folgenden soll daher untersucht werden, wann und unter welchen Voraussetzungen eine solche Beschränkung zulässig ist. 1. Zulässigkeit und Erforderlichkeit nationaler Verfahrensvorschriften Der Vollzug des Unionsrechts geschieht weitestgehend durch die mitgliedstaatlichen Verwaltungen.163 Da es kein Unions-Verwaltungsverfahrensrecht gibt, das diesen Vollzug regeln würde, ist es nicht nur zulässig, sondern sogar erforderlich, dass die vollziehenden Behörden das jeweilige nationale Verfahrensrecht anwenden. Anderenfalls befände sich der so genannte indirekte Vollzug des Unionsrechts im rechtsfreien Raum. Dementsprechend richtet sich auch die Umsetzung von Auslegungsvorabentscheidungsurteilen des EuGH nach nationalem Verfahrensrecht: Die Verwaltungsbehörden in den Mitgliedstaaten setzen die Vorabentscheidungsurteile im Rahmen ihres Verwaltungsverfahrensrechts, die Verwaltungsgerichte im Rahmen ihres Verwaltungsprozessrechts und die ordentlichen Gerichte im Rahmen ihrer 160 So die typische Tenorierung des EuGH, vgl. statt vieler EuGH, Urteil vom 9. März 2000, Rs. C-437/97, Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, I-1157, Ziff. 3 des Tenors. 161 Weiß, DÖV 2008, 477 (478, Fn. 35); Finke, IStR 2006, 212 (215). 162 EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 24/86, Blaizot, Slg. 1988, 379, Rn. 27; Urteil vom 4. Mai 1999, Rs. C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685, Rn. 107; Urteil vom 3. Oktober 2002, Rs. C-347/00, Barreira Pérez, Slg. 2002, I-8191, Rn. 44; Urteil vom 17. Februar 2005, verb. Rs. C-453/02 u. C-462/02, Linneweber und Akritidis, Slg. 2005, I-1131, Rn. 41; siehe auch EuGH, Urteil vom 11. August 1995, verb. Rs. C-367/93 bis C-377/93, Roders, Slg. 1995, I-2229, Rn. 42. Siehe auch Gosch, DStR 2005, 413 (413). 163 Rennert, DVBl. 2007, 400 (400).
V. Auswirkungen nationaler Vorschriften zur Bestandskraft
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Prozessrechtsordnung um. Diese Vorgehensweise hat der Gerichtshof ausdrücklich für zulässig erklärt;164 es gilt die institutionelle und verfahrensmäßige Autonomie der Mitgliedstaaten.165 Insbesondere ist laut EuGH die Festsetzung von Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung (also Regelungen zur Bestandskraft, Rechtskraft oder Verjährung) im Interesse der Rechtssicherheit, die alle Beteiligten schützt, mit dem Unionsrecht vereinbar.166 Dabei ist es unerheblich, wenn in der von einer Ausschlussfrist betroffenen Rechtssache eine Vorschrift des Unionsrechts relevant wäre, über deren Auslegung der Gerichtshof ein Vorabentscheidungsurteil erlassen hat, ohne die zeitliche Wirkung dieses Urteils zu beschränken.167 Ohne die zeitliche Beschränkung entfalte die Auslegung zwar grundsätzlich Rückwirkung bis zum Inkrafttreten der Vorschrift, der Gerichtshof erkenne jedoch an, dass das nationale Gericht an die materiellen und formellen Anforderungen der eigenen Rechtsordnung gebunden sei.168 Interessanterweise sieht der EuGH einen gewichtigen Unterschied zwischen diesen Modalitäten des nationalen Verfahrens und der Begrenzung der zeitlichen Urteilswirkungen: Denn letztere nehme den Bürgern, die bei „rechtem Gang der Dinge“ (sic!) in der Lage wären, ihre aus dem Unionsrecht folgenden Rechte geltend zu machen, jegliche Möglichkeit, sich zur Begründung ihrer Forderung auf das Urteil zu berufen.169 Dass nationale Ausschlussfristen in ganz ähnlicher Weise dem Einzelnen die Möglichkeit nehmen, ihre zumindest mittelbar auf dem Unionsrecht beruhenden Ansprüche geltend zu machen, scheint der Gerichtshof so nicht zu sehen. Die Mitgliedstaaten können daher die Urteilswirkungen von Vorabentscheidungen durch nationale Vorschriften, insbesondere durch Ausschlussfristen, grundsätzlich selbst gestalten. 2. Grenzen der Zulässigkeit nationaler Verfahrensvorschriften Eine mittelbare Beschränkung der Urteilswirkungen durch nationale Verfahrensvorschriften ist aber – wie der Gerichtshof selbst betont – nicht schrankenlos 164 Ständige Rechtsprechung; grundlegend EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. 33/76, Rewe, Slg. 1976, 1989, Rn. 5; Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. 45/76, Comet, Slg. 1976, 2043, Rn. 11/18; Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-312/93, Peterbroeck, Slg. 1995, 4599, Rn. 12; speziell zu Vorabentscheidungsurteilen EuGH, Urteil vom 15. September 1998, Rs. C-231/96, Edis, Slg. 1998, I-4951, Rn. 13 ff. 165 Kremer, EuR 2007, 470 (474). 166 EuGH, Urteil vom 15. September 1998, Rs. C-231/96, Edis, Slg. 1998, I-4951, Rn. 20. 167 EuGH, Urteil vom 15. September 1998, Rs. C-231/96, Edis, Slg. 1998, I-4951, Rn. 26. 168 EuGH, Urteil vom 15. September 1998, Rs. C-231/96, Edis, Slg. 1998, I-4951, Rn. 17. 169 EuGH, Urteil vom 15. September 1998, Rs. C-231/96, Edis, Slg. 1998, I-4951, Rn. 18.
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
möglich. Vielmehr sind bei der Ausgestaltung der Verfahren, in denen sich der Einzelne auf die Auslegungen des Gerichtshofs berufen kann, der Äquivalenzund der Effektivitätsgrundsatz zu beachten. Diese Verfahren dürfen also weder ungünstiger gestaltet werden als die entsprechenden rein nationalen Verfahren noch darf die Durchsetzung der Ansprüche praktisch unmöglich gemacht oder unnötig erschwert werden.170 Dies betrifft insbesondere die nationalen materiellen und prozessualen Regelungen, in denen sich der unionsrechtlich begründete Erstattungsanspruch konkretisiert.171 a) Äquivalenzgrundsatz Der Äquivalenzgrundsatz, der hier bereits im Zusammenhang mit den Voraussetzungen der Rückausnahme angesprochen wurde,172 besagt, dass nationale Vorschriften auf unionsrechtlich geregelte Sachverhalte in gleicher Weise angewendet werden müssen wie in gleich gelagerten innerstaatlichen Fällen.173 Nicht zulässig wären daher zum Beispiel kürzere Verjährungsfristen für Ansprüche, die auf unmittelbar anwendbarem Unionsrecht beruhen. Insbesondere dürfen die Mitgliedstaaten nicht nach der Verkündung eines EuGH-Urteils spezielle Vorschriften erlassen, um die Durchsetzung der auf diesem Urteil beruhenden Ansprüche durch besondere Voraussetzungen zu erschweren.174 Mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar war daher zum Beispiel eine belgische Regelung, nach der die Einschreibegebühr „minerval“ nur dann erstattet werden konnte, wenn die entsprechende Klage vor dem Tag der Verkündung des Urteils in der Rechtssache Gravier, mit dem der Gerichtshof diese Gebühr für gemeinschaftsrechtswidrig erklärte, eingereicht worden war.175 Ein Verstoß gegen das Äquivalenzprinzip kann sich jedoch nicht nur aus einer diskriminierenden Gesetzeslage, sondern auch aus einer Ungleichbehandlung bei 170 EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. 33/76, Rewe, Slg. 1976, 1989, Rn. 5; Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. 45/76, Comet, Slg. 1976, 2043, Rn. 11/18; Urteil vom 15. September 1998, Rs. C-231/96, Edis, Slg. 1998, I-4951, Rn. 18 ff.; Urteil vom 1. Dezember 1998, Rs. C-326/96, Levez, Slg. 1998, I-7835, Rn. 18. 171 Tanzer, in: Holoubek/Lang (Hrsg.), S. 212 ff. 172 Siehe oben E. IV. 4. b). 173 EuGH, Urteil vom 15. September 1998, Rs. C-231/96, Edis, Slg. 1998, I-4951, Rn. 34; Urteil vom 15. September 1998, Rs. C-260/96, Spac, Slg. 1998, I-4997, Rn. 18; Urteil vom 8. März 2001, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Metallgesellschaft, Slg. 2001, I-1727, Rn. 85; siehe auch Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 10 EG, Rn. 17; Lange, S. 103; Schlacke, in: Erbguth/Masing (Hrsg.), S. 144. 174 EuGH, Urteil vom 29. Juni 1988, Rs. 240/87, Deville, Slg. 1988, 3513, Rn. 13; Urteil vom 15. September 1998, Rs. C-231/96, Edis, Slg. 1998, I-4951, Rn. 18; Urteil vom 9. Februar 1999, Rs. C-343/96, Dilexport, Slg. 1999, I-579, Rn. 39. 175 EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 309/85, Barra, Slg. 1988, 355, Rn. 19 ff. Der EuGH scheint sein Urteil allerdings eher auf eine gleichermaßen festzustellende Verletzung des Effektivitätsgrundsatzes zu stützen.
V. Auswirkungen nationaler Vorschriften zur Bestandskraft
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der Anwendung der Gesetze durch Behörden und Gerichte ergeben. So darf zum Beispiel ein nationales Gericht, wenn die Rechtsprechung eine Pflicht zur Rücknahme von Verwaltungsakten bei „offensichtlicher Rechtswidrigkeit“ bejaht, keine unterschiedlichen Maßstäbe bei der Prüfung dieser Voraussetzung anlegen, je nachdem ob ein offensichtlicher Verstoß gegen nationales Recht oder Unionsrecht behauptet wird.176 b) Effektivitätsgrundsatz Der Effektivitätsgrundsatz (auch sog. Vereitelungsverbot) besagt, dass durch die grundsätzlich zulässigen nationalen Verfahrensmodalitäten die Verwirklichung des Unionsrechts nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden darf.177 Der Unterschied zum Äquivalenzprinzip besteht darin, dass derartige Hürden auch dann unzulässig sind, wenn sie rein innerstaatliche Sachverhalte in gleichem Maße betreffen (wobei hierbei auch regelmäßig nationale Verfahrensgrundsätze oder –grundrechte verletzt sein dürften). Die Grenzen sind allerdings fließend: Eine Ausschlussfrist, die spezifisch auf unionsrechtlich geregelte Sachverhalte zugeschnitten ist, verstößt jedenfalls gegen den Äquivalenzgrundsatz. Wenn sie darüber hinaus ihre vom nationalen Gesetzgeber gewünschte Wirkung erzielt und die Geltendmachung der Ansprüche nicht nur leicht behindert, sondern stark erschwert oder gar gänzlich unmöglich macht, liegt zugleich ein Verstoß gegen das Vereitelungsverbot vor.178 Da nationale Verfahrensvorschriften aber ohnehin immer beide Grundsätze beachten müssen, ist eine genaue Abgrenzung im Einzelfall entbehrlich. Aufgrund des Effektivitätsgrundsatzes wären zum Beispiel extrem kurze Fristen zur Geltendmachung von Erstattungsansprüchen unzulässig, die von kaum einem der Betroffenen eingehalten werden könnten. Als grundsätzlich zulässig erachtet hat der Gerichtshof hingegen eine Rechtsnorm, nach der rückständiges Entgelt wegen schlechterer Bezahlung von Frauen nur für die letzten zwei Jahre vor Klageerhebung geltend gemacht werden konnte.179 Ein Verstoß gegen den Effektivitätsgrundsatz liegt aber laut EuGH dann vor, wenn eine solche Verjährungsvorschrift keine Verlängerungsmöglichkeit im Einzelfall vorsieht, z. B. wenn der Arbeitgeber die Arbeitnehmerin vorsätzlich über das wahre Gehalts176 EuGH, Urteil vom 19. September 2006, verb. Rs. C-392/04 u. C-422/04, i-21 Germany und Arcor, Slg. 2006, I-8559, Rn. 69. 177 EuGH, Urteil vom 15. September 1998, Rs. C-231/96, Edis, Slg. 1998, I-4951, Rn. 34; Urteil vom 15. September 1998, Rs. C-260/96, Spac, Slg. 1998, I-4997, Rn. 18; Urteil vom 8. März 2001, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Metallgesellschaft, Slg. 2001, I-1727, Rn. 85; Streinz, Europarecht, Rn. 593; Lange, S. 96; Schlacke, in: Erbguth/Masing (Hrsg.), S. 144 f. 178 EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 309/85, Barra, Slg. 1988, 355, Rn. 19 ff. 179 EuGH, Urteil vom 1. Dezember 1998, Rs. C-326/96, Levez, Slg. 1998, I-7835, Rn. 20.
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E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
niveau ihrer männlichen Kollegen getäuscht hat.180 Daraus folgt, dass aufgrund des Effektivitätsgrundsatzes die Sorgfaltspflichten für den Gesetzgeber steigen, je kürzer die Fristen für die Geltendmachung unionsrechtlich begründeter Ansprüche sind. Bei einer kurz bemessenen Frist muss er Ausnahme- bzw. Verlängerungsmöglichkeiten für Härtefälle vorsehen, bei einer ohnehin schon großzügig bemessenen Pflicht dürfte das entbehrlich sein. Eine wichtige und in jüngster Zeit heiß diskutierte Frage ist, inwieweit der Effektivitätsgrundsatz die mitgliedstaatlichen Verwaltungen zur Aufhebung bestandskräftiger, unionsrechtswidriger belastender Verwaltungsakte verpflichtet. (Bislang war eine Pflicht zur Rücknahme vor allem im Zusammenhang mit unionsrechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakten, namentlich Subventionsentscheidungen, diskutiert worden.181) Eine solche Pflicht würde die Auswirkungen von Vorabentscheidungen erheblich stärken: Soweit noch keine Bestandskraft eingetreten ist, müssten nationale Behörden und Gerichte das Vorabentscheidungsurteil ohnehin im weiteren Verlauf des Verfahrens beachten und umsetzen. Soweit Bestandskraft eingetreten ist, müsste das Verfahren neu aufgerollt und im Einklang mit dem Urteil des Gerichtshofs neu beschieden werden. Umso wichtiger wäre es in dieser Situation für die Mitgliedstaaten, eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen zu erreichen, denn dann würden durch unbeschränkte Urteile des Gerichtshofs wirklich alle Sachverhalte seit Inkrafttreten einer Vorschrift in Frage gestellt. Diesbezüglich kann jedoch für die Mitgliedstaaten Entwarnung gegeben werden: Auch wenn die Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Zeit lang dahin zu tendieren schien, den Vorrang des Unionsrechts rigoros auf rechtskräftige Urteile und bestandskräftige Akte der Verwaltung anzuwenden,182 so ist nach den jüngeren Urteilen in den Rechtssachen Kühne & Heitz183, Kapferer184 und Kempter185 davon auszugehen, dass der EuGH die Bestandskraft nationaler Verwaltungsentscheidungen respektiert und nur in begrenztem Umfang deren Durchbrechung durch eine Aufhebung EU-rechtswidriger Einzelakte fordert.186 In Kühne & Heitz spricht der Gerichtshof deutlich aus, dass das Unionsrecht grundsätzlich 180 EuGH, Urteil vom 1. Dezember 1998, Rs. C-326/96, Levez, Slg. 1998, I-7835, Rn. 34. 181 Vgl. hierzu Rennert, DVBl. 2007, 400 (404 ff.). 182 EuGH, Urteil vom 29. April 1999, Rs. C-224/97, Ciola, Slg. 1999, I-2517; siehe auch Potacs, EuR 2004, 595 (596): „Auf Grund von Ciola konnte aber der Eindruck entstehen, dass von dem so wichtigen Institut der Bestandskraft ,nicht mehr viel übrig‘ bleibt [. . .].“; Gundel, EuR 1999, 781 (786); Hahn, IStR 2005, 145 (147). 183 EuGH, Urteil vom 13. Januar 2004, Rs. C-453/00, Kühne & Heitz, Slg. 2004, I-837. 184 EuGH, Urteil vom 16. März 2006, Rs. C-234/04, Kapferer, Slg. 2006, I-2585. 185 EuGH, Urteil vom 12. Februar 2008, Rs. C-2/06, Kempter, Slg. 2008, I-411. 186 Gosch, DStR 2005, 413 (413); Potacs, EuR 2004, 595 (602); Lange, S. 101; Mössner, in: FS Rengeling, S. 346 f.
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nicht die Rücknahme einer bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung durch die Behörde verlange.187 Eine Pflicht zur Überprüfung (und ggf. Revidierung) der Verwaltungsentscheidung bestehe nur unter den besonderen Voraussetzungen, dass (i) das nationale Recht eine Rücknahmebefugnis überhaupt vorsehe, (ii) die Entscheidung aufgrund eines letztinstanzlichen Urteils bestandskräftig geworden ist, (iii) dieses Urteil aufgrund einer falschen Auslegung des Unionsrechts erging, ohne dass eine Vorlage beim EuGH stattgefunden hätte und (iv) der Betroffene sich unmittelbar nach Kenntniserlangung von der Entscheidung des Gerichtshofs (und damit der richtigen Auslegung des Unionsrechts) an die Verwaltungsbehörde gewandt habe.188 Dem lassen sich zwei Kernaussagen entnehmen: Erstens kann eine Rücknahmepflicht überhaupt nur entstehen, wo das nationale Recht eine Möglichkeit zur Rücknahme vorsieht, sie ist also ihrerseits im nationalen Recht verwurzelt und ergibt sich nicht unmittelbar aus dem Unionsrecht.189 Auch insoweit respektiert also der Gerichtshof die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten. Zweitens ist erforderlich, dass der Betroffene alle Möglichkeiten zur Bekämpfung des unionsrechtswidrigen Verwaltungsaktes ausgeschöpft hat, der Eintritt der Bestandskraft also nicht ihm zuzuschreiben ist.190 Wäre von Seiten der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit alles ordnungsgemäß gelaufen, hätte schließlich schon das von dem Betroffenen angestrengte Verfahren zu einer Klärung vor dem EuGH führen müssen. Hier zeigt sich, dass der Gerichtshof bei der Durchbrechung der Bestandskraft ganz ähnliche Ziele verfolgt wie bei der Gewährung der Rückausnahme von der zeitlichen Beschränkung: Derjenige, der sich gewissenhaft um die Durchsetzung seiner Rechte bemüht hat, soll nicht um die Früchte seiner Anstrengungen gebracht werden. Zugleich setzt damit der Gerichtshof wieder einen Anreiz für den Einzelnen, sich gegen Verletzungen des Unionsrechts zu wehren und so die Voraussetzungen für eine Vorabentscheidung beim Gerichtshof zu schaffen. Gerade der zweite Punkt, inwieweit eine Rücknahmepflicht konstitutiv die Rechtsverfolgung durch den Betroffenen voraussetzt, ist allerdings heftig umstritten. Zum Teil wird vertreten, dass auch Verwaltungsakte, deren Bestandskraft durch bloßes Verstreichenlassen der Frist eingetreten ist, aufgehoben werden müssten (immer unter der Voraussetzung, dass das nationale Recht hierzu eine Möglichkeit vorsieht).191 Für diesen Ansatz spricht, dass es widersprüchlich er187 EuGH, Urteil vom 13. Januar 2004, Rs. C-453/00, Kühne & Heitz, Slg. 2004, I-837, Rn. 24. 188 EuGH, Urteil vom 13. Januar 2004, Rs. C-453/00, Kühne & Heitz, Slg. 2004, I-837, Rn. 28 und Tenor. 189 Frenz, DVBl. 2004, 375 (376); Ruffert, JZ 2004, 620 (621), beide allerdings mit Zweifeln, ob der EuGH nicht im Ernstfall doch ein gemeinschaftsrechtliches bzw. nunmehr unionsrechtliches Rücknahme-Institut begründen würde. 190 Mössner, in: FS Rengeling, S. 347. 191 Frenz, DVBl. 2004, 375 (375).
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scheint, wenn der Gerichtshof auf der einen Seite hohe Anforderungen an eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen stellt, also die Rechtssicherheit nur ausnahmsweise zu Lasten der Gerechtigkeit überwiegen lässt, und auf der anderen Seite den Mitgliedstaaten ohne weiteres erlaubt, berechtigte Ansprüche durch die in alle Ewigkeit unaufhebbare Bestandskraft seiner Bescheide zu vernichten. Doch dieser Widerspruch lässt sich beseitigen. Die nationalen Bestandskraftregeln und die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen dürfen nicht isoliert betrachtet werden, sondern müssen als Einheit gesehen werden. Die faktische Beschränkung der Urteilswirkungen durch das nationale Recht ist bei jedem Urteil, mit oder ohne zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen, vorhanden. Diesen Kompromiss einzugehen, ist der Gerichtshof offenbar im Hinblick auf die Rechtssicherheit und die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten bereit. Wenn nun ein Mitgliedstaat eine Beschränkung der Urteilswirkungen im Vorabentscheidungsurteil selbst beantragt, also über die ohnehin schon sehr großzügige Eindämmung der Folgen eines Urteils noch eine weitergehende Immunität begehrt, dann kann dies zwangsläufig nur unter erheblich höheren Voraussetzungen möglich sein. Nicht erforderlich ist dem bereits erwähnten Urteil Kempter zufolge, dass der Betroffene sich im Rahmen seiner Rechtsmittel gegen den Verwaltungsakt ausdrücklich auf das Unionsrecht beruft.192 Die Relevanz des Unionsrechts zu erkennen ist Aufgabe der mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte. Auch hier zeigen sich wieder deutliche Parallelen zur Rückausnahme-Dogmatik, wo der Gerichtshof ebenfalls nicht verlangt, dass die Rechtsbehelfe gerade den Verstoß gegen das Unionsrecht rügen.193 In seinem Urteil Kapferer hat der EuGH seine Rechtsprechung zur Bestandskraft von Verwaltungsakten übertragen und entschieden, dass auch nationale Gerichte trotz des Effektivitätsgrundsatzes nicht verpflichtet sind, eine in Rechtskraft erwachsene gerichtliche Entscheidung zu überprüfen und aufzuheben, falls sich zeigt, dass sie gegen Unionsrecht verstößt.194 c) Gezielter Ausschluss der Wirkungen einzelner EuGH-Urteile? Verständlicherweise ist die Neigung der Mitgliedstaaten groß, nicht tatenlos zuzusehen, wenn ein Urteil des Gerichtshofs, dessen Folgen nicht beschränkt wurden oder dessen Folgenbeschränkung nach Auffassung des Mitgliedstaats 192 EuGH, Urteil vom 12. Februar 2008, Rs. C-2/06, Kempter, Slg. 2008, I-411, Rn. 45; angedeutet bereits in EuGH, Urteil vom 13. Januar 2004, Rs. C-453/00, Kühne & Heitz, Slg. 2004, I-837, Rn. 7, wo die Rücknahmepflicht bejaht worden war, obwohl der EuGH ausdrücklich festgestellt hatte, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens keine Vorlage an den Gerichtshof beantragt hatte. 193 Siehe oben E. IV. 4. d). 194 EuGH, Urteil vom 16. März 2006, Rs. C-234/04, Kapferer, Slg. 2006, I-2585.
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nicht effektiv genug ist, erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen hat. Also wird versucht, die Wirkungen eines einzelnen Urteils durch ein möglichst gezieltes Gesetz abzufedern, auch wenn die Möglichkeit eines Verstoßes gegen das Effektivitäts- und/oder das Äquivalenzgebot extrem naheliegend scheint. Der erste Fall, in dem ein Mitgliedstaat mit einem solchen Versuch scheiterte, war der Versuch der belgischen Regierung, die Folgen des Urteils Gravier durch ein Gesetz einzudämmen. In dem besagten Urteil Gravier vom 13. Februar 1985 hatte der EuGH die Unvereinbarkeit einer nur von Ausländern zu entrichtenden Studiengebühr mit dem Gemeinschaftsrecht festgestellt und keine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen angeordnet.195 Dies hätte zwangsläufig zu Erstattungsansprüchen für bereits entrichtete Gebühren geführt, jedenfalls solange dem nach belgischem Recht keine Bestandskraft entgegenstand. Belgien versuchte, dem mit einem Gesetz zu begegnen, das einen Erstattungsanspruch nur dann zuließ, wenn die Anspruchsteller Bürger eines EWG-Mitgliedstaates waren und ihren Anspruch vor der Verkündung des Gravier-Urteils bei einem belgischen Gericht anhängig gemacht hatten196 (für Bürger anderer Staaten wurde der Anspruch gleich ganz ausgeschlossen). Damit ähnelte die belgische Regelung den Tenores des EuGH bei einer zeitlichen Beschränkung. Dass der EuGH eine solche Regelung nicht akzeptieren konnte, ist nicht überraschend: Nicht nur, dass dies eine klare Verletzung des Effektivitätsgrundsatzes ist, da allen denjenigen, die noch keine Klage bei einem Gericht eingereicht haben, die Durchsetzung ihrer Rechte aus dem EWG-Vertrag unmöglich gemacht wird,197 es verstößt auch gegen den Grundsatz, dass nur der Gerichtshof befugt ist, die zeitliche Wirkung seiner Urteile zu beschränken.198 Inzwischen kann es wohl als gefestigte Rechtsprechung des Gerichtshofs angesehen werden, dass der nationale Gesetzgeber nicht einfach nach Verkündung eines Urteils, dem zufolge bestimmte Vorschriften nicht mit den Verträgen vereinbar sind, eine Verfahrensregel erlassen kann, die speziell die Möglichkeiten einschränkt, Erstattungsansprüche aufgrund dieses Urteils geltend zu machen und damit die zeitliche Beschränkung gewissermaßen selbst anzuordnen.199 Das hindert die Mitgliedstaaten jedoch nicht daran, es immer wieder zu versuchen. In Österreich versuchten die Bundesländer, als nach den Schlussanträgen des Generalanwalts Saggio ein Unterliegen in der Sache Evangelischer Krankenhausverein Wien zu befürchten war, die Folgen durch eine Änderung der Abgabenordnung 195
Für eine ausführliche Darstellung des Falls C. II. 1. f). EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 309/85, Barra, Slg. 1988, 355, Rn. 6. 197 EuGH, Urteil vom 2. Februar 1988, Rs. 309/85, Barra, Slg. 1988, 355, Rn. 19. 198 Hahn, IStR 2005, 145 (148). 199 EuGH, Urteil vom 29. Juni 1988, Rs. 240/87, Deville, Slg. 1988, 3513, Rn. 13; Urteil vom 2. Oktober 2003, Rs. C-147/01, Weber’s Wine World, Slg. 2003, I-11365, Rn. 86; siehe auch Ehrke, Eur. Law Reporter 2004, 40 (43). 196
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dahingehend zu begrenzen, dass eine Erstattung pauschal ausgeschlossen war, wenn die Steuer bereits auf Dritte abgewälzt worden war.200 Letztlich wurde also eine besondere Regelung zum Schutz vor ungerechtfertigten Bereicherungen eingeführt. Der EuGH hatte zwar gegen die mit den Regelungen verbundene Rückwirkung grundsätzlich nichts einzuwenden, erinnerte jedoch den vorlegenden Verwaltungsgerichtshof daran, dass die Regelungen nur unter bestimmten Bedingungen angewandt werden dürften, wobei insbesondere erforderlich sei, dass neben der dem Fall EKW zugrundeliegenden Getränkesteuer auch andere Abgaben betroffen seien.201 Ironischerweise machte der österreichische Verwaltungsgerichtshof den Landesgesetzgebern einen Strich durch die Rechnung, als er die Anwendung der Bereicherungsvorschrift ablehnte, da er nach ständiger Rechtsprechung nur die Rechtslage bei Erlass des Bescheides zugrundezulegen habe. Daran könne auch die in späteren Gesetzen angeordnete Rückwirkung nichts ändern.202 Ein aktuelles Beispiel aus Deutschland ist § 175 Abs. 2 AO. Diese Vorschrift wird in der Literatur auch gerne als „lex Manninen“ bezeichnet,203 da sie offenkundig aus Anlass des Maninnen-Urteils204 des EuGH geschaffen wurde, jenes Vorabentscheidungsurteils, durch das sich bereits deutlich die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit des deutschen Anrechnungsverfahrens abzeichnete, wie später das Urteil Meilicke205 bestätigt hat. Mit der Unanwendbarkeit des Anrechnungsverfahrens vor Augen war zu befürchten, dass deutsche Steuerpflichtige mit Vermögensanlagen im Ausland nachträglich die Anrechnung ausländischer Körperschaftsteuer beantragen und hierzu die im Ausland ausgestellten Steuerbescheide vorlegen würden.206 Da dies bis dato eine Durchbrechung der Bestandskraft wegen eines rückwirkenden Ereignisses (die Bescheinigung aus dem Ausland ist materiell-rechtliche Voraussetzung für die Berücksichtigung im Inland207) nach 200 Vgl. VwGH, Erkenntnis vom 4. Dezember 2003, Gz. 2003/16/0148; EuGH, Urteil vom 2. Oktober 2003, Rs. C-147/01, Weber’s Wine World, Slg. 2003, I-11365, Rn. 11 ff. 201 EuGH, Urteil vom 2. Oktober 2003, Rs. C-147/01, Weber’s Wine World, Slg. 2003, I-11365, Rn. 92. 202 VwGH, Erkenntnis vom 30. März 2000, Gz. 2000/16/0116; in einem späteren Urteil stellte der VwGH allerdings fest, dass die österreichischen Regelungen grundsätzlich den vom EuGH aufgestellten Anforderungen genügten, siehe VwGH, Erkenntnis vom 4. Dezember 2003, Gz. 2003/16/0148. 203 Siehe z. B. Rehm/Nagler, GmbHR 2007, 381 (383); Loose, in: Tipke/Kruse (Hrsg.), AO/FGO, § 175 AO, Rn. 49; Dornheim, Steuerwarte 2006, 10 (10); WeberGrellet, DStR 2009, 1229 (1235); Ribbrock, RIW 2005, 130 (135); Mössner, in: FS Rengeling, S. 353. 204 EuGH, Urteil vom 7. September 2004, Rs. C-319/02, Manninen, Slg. 2004, I-2000. 205 EuGH, Urteil vom 6. März 2007, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835. 206 Hahn, IStR 2005, 145 (148). 207 Loose, in: Tipke/Kruse (Hrsg.), AO/FGO, § 175 AO, Rn. 49.
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§ 175 Abs. 1 Nr. 2 AO bewirkt hätte,208 wurde ein neuer Abs. 2 Satz 2 hinzugefügt, der nunmehr festlegt: „Die nachträgliche Erteilung oder Vorlage einer Bescheinigung oder Bestätigung gilt nicht als rückwirkendes Ereignis.“
Da die Neufassung auf alle Bescheinigungen anzuwenden ist, die nach dem 28. Oktober 2004 vorgelegt werden, ist somit eine Wiedereröffnung unter Berufung auf das Urteil Meilicke von 2007 und durch Vorlage entsprechender ausländischer Steuerbescheide ausgeschlossen. Selbst für diejenigen Steuerpflichtigen, die direkt nach dem Urteil Manninen vom 7. September 2004 tätig werden wollten, ergibt sich eine äußerst kurze Übergangsfrist von gut eineinhalb Monaten.209 Der EuGH hatte sich bisher mit der „lex Manninen“ nicht auseinander zu setzen. In der Literatur wird vielfach vertreten, dass dieser weitgehende Ausschluss der Möglichkeit, einen aufgrund des Anrechnungsverfahrens ergangenen Steuerbescheid zu ändern, gegen den Effektivitätsgrundsatz verstoße und daher unionsrechtswidrig sei.210 Andererseits darf nicht vergessen werden, dass diese neugefasste Vorschrift sich nicht auf die zahlreichen211 ohnehin noch offenen Steuerverfahren bezieht, so dass das Vorabentscheidungsurteil keineswegs sämtlicher Wirkung beraubt ist. Da die Mitgliedstaaten nach Kühne & Heitz nur unter bestimmten Voraussetzungen zur Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte verpflichtet sind, scheint sich eine gesetzliche Verschlechterung der Möglichkeiten, einen bereits bestandskräftigen Steuerbescheid nachträglich ändern zu lassen, durchaus im Rahmen des unionsrechtlich Zulässigen zu bewegen. Eine endgültige Klärung wird aber nur der EuGH vornehmen können. Allein der Umstand, dass die Gesetzeslage aus Anlass eines EuGH-Urteils vorgenommen wurde, führt jedenfalls noch nicht zur Unionsrechtswidrigkeit der Vorschrift.212 Die Mitgliedstaaten können daher nicht gezielt ausschließlich die Wirkungen eines EuGH-Urteils durch gesetzgeberische Maßnahmen beschränken, sie haben aber die Möglichkeit, aus Anlass eines Urteils weiterreichende Vorschriften zu erlassen, die neben einer Reihe von Sachverhalten auch die dem Vorabentscheidungsverfahren zugrundeliegenden Sachverhalte erfassen. Inwieweit die aus dem Urteil drohenden Konsequenzen es rechtfertigen, solche „Kollateralschäden“ in Kauf zu nehmen, müssen die mitgliedstaatlichen Regierungen selbst entscheiden. Es empfiehlt sich für die Mitgliedstaaten, die vorher bereits mit einer unions208 BFH, Urteil vom 18. April 2000, VIII R 75/98, BStBl. 2000, Teil II, 423 (424); siehe auch Dornheim, Steuerwarte 2006, 10 (14); Mössner, in: FS Rengeling, S. 352. 209 Dornheim, Steuerwarte 2006, 10 (14). 210 Hahn, IStR 2005, 145 (148); Rehm/Nagler, GmbHR 2007, 381 (383); Thömmes, IWB 2007, Fach 11a, 1131 (1134); vorsichtiger Ribbrock, RIW 2005, 130 (135); Mössner, in: FS Rengeling, S. 354; Seer, in: Lüdicke (Hrsg.), S. 17. 211 Vgl. Kokott/Henze, NJW 2006, 177 (179). 212 Vgl. EuGH, Urteil vom 2. Oktober 2003, Rs. C-147/01, Weber’s Wine World, Slg. 2003, I-11365, Rn. 90 f.
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rechtlich gewagten Abgabenvorschrift hasardiert haben, bei der Ausgestaltung jener Rechtsnorm, die die Urteilsfolgen abmildern soll, nicht erneut die Grauzonen des unionsrechtlich Zulässigen auszuloten:213 Je enger die Verfahrensvorschrift auf die dem Urteil zugrundeliegende Rechtsnorm zugeschnitten ist, umso wahrscheinlicher ist ein Verstoß gegen das Äquivalenzgebot; je mehr Steine die Verfahrensvorschrift bei der Geltendmachung von Erstattungsansprüchen in den Weg legt, umso größer ist das Risiko eines Verstoßes gegen das Effektivitätsgebot. Eine gangbare Möglichkeit wäre zum Beispiel die Verkürzung der Ausschlussfristen für alle Erstattungsansprüche.214 Auch eine Vorschrift, die generell den Anknüpfungszeitraum für Erstattungsansprüche aufgrund einer Unvereinbarkeit mit höherrangigem Recht jeglicher Art (nicht nur Unionsrecht, sondern auch nationalem Verfassungsrecht oder gar Parlamentsgesetzen gegenüber Verordnungen) beschränkt, wäre denkbar. Der so ausgestaltete Art. L. 190 des französischen „Livre des procédures fiscales“ ist vom EuGH als unionsrechtskonform angesehen worden.215 Anzumerken ist, dass sich der Gerichtshof allein an der Rückwirkung derartiger Verfahrensvorschriften nicht stört, sofern sie eben nicht spezifisch auf die Folgen einzelner Urteile zugeschnitten sind.216 3. Durchbrechung des Anwendungsvorrangs durch mitgliedstaatliche Gerichte? Bisher hat sich dieser Abschnitt nur mit den Möglichkeiten der nationalen Gesetzgeber befasst, die Auswirkung von Vorabentscheidungen zu begrenzen. An dieser Stelle soll nun kurz der Frage nachgegangen werden, inwieweit auch nationale Gerichte eine solche Schadensbegrenzung vornehmen können. Zur Anschauung kann dabei ein in jüngerer Zeit ergangenes Urteil des deutschen BVerfG dienen, das in einem Sachverhalt mit unionsrechtlichem Hintergrund eine Unvereinbarerklärung aussprach. Mit Urteil vom 28. März 2006 erklärte das deutsche BVerfG das bayerische staatliche Wettmonopol in seiner damaligen Form für mit dem Grundgesetz (na213
Hahn, IStR 2005, 145 (150). Wobei die allgemeine Verjährungsfrist von drei Jahren, die für den Erstattungsanspruch im deutschen Recht gemäß § 195 BGB analog gilt (BVerwG, NJW 2006, 3225 (3226)), bereits das Minimum dessen darstellt, was nach der Rechtsprechung des EuGH noch sicher als unter dem Aspekt des Effektivitätsgrundsatzes zulässig gelten kann; vgl. EuGH, Urteil vom 15. September 1998, Rs. C-231/96, Edis, Slg. 1998, I-4951, Rn. 35; Urteil vom 15. September 1998, Rs. C-260/96, Spac, Slg. 1998, I-4997, Rn. 19; Urteil vom 17. November 1998, Rs. C-228/96, Aprile, Slg. 1998, I-7141, Rn. 19; Urteil vom 9. Februar 1999, Rs. C-343/96, Dilexport, Slg. 1999, I-579, Rn. 26. 215 EuGH, Urteil vom 28. November 2000, Rs. C-88/99, Roquette Frères, Slg. 2000, I-10465, Rn. 30 ff.; siehe auch Hahn, IStR 2005, 145 (150). 216 EuGH, Urteil vom 2. Oktober 2003, Rs. C-147/01, Weber’s Wine World, Slg. 2003, I-11365, Rn. 92. 214
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mentlich der Berufsfreiheit gemäß Art. 12 GG) unvereinbar und setzte dem Gesetzgeber eine Frist zur verfassungskonformen Neuregelung bis zum 31. Dezember 2007.217 Bis zur Neuregelung sei das Gesetz nach Maßgabe der Urteilsgründe weiter anwendbar.218 Hinsichtlich der unionsrechtlichen Fragestellungen erklärte sich das BVerfG – richtigerweise – für unzuständig,219 konnte sich allerdings ein obiter dictum nicht verkneifen, demzufolge die verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsgründe eines staatlichen Wettmonopols gleichlaufend seien mit den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts.220 Anders als das BVerfG haben sich die Verwaltungsgerichte sehr wohl mit der Frage zu beschäftigen, ob ein Verstoß gegen das Unionsrecht vorliegt, und entweder dem EuGH vorzulegen oder aber, sofern bereits eine eindeutige Rechtsprechung des Gerichtshofs vorliegt, das unionswidrige nationale Recht unangewendet zu lassen. Vor diesem Hintergrund sahen sich nun zahlreiche Gerichte mit der Frage konfrontiert, wie der Ausspruch des BVerfG, das bisherige Wettrecht sei vorübergehend weiter anwendbar, zu verstehen sei. Sollte damit etwa auch der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vorübergehend außer Kraft gesetzt worden sein? Das OVG Münster bejahte diese Frage: Aufgrund der drohenden inakzeptablen Gesetzeslücke werde der Anwendungsvorrang temporär durchbrochen. Trotz des Verstoßes der gegenwärtigen Rechtslage gegen die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit sei daher das Sportwettengesetz Nordrhein-Westfalen nach den Maßgaben der Entscheidung des BVerfG weiter anwendbar.221 Nachdem mehrere nordrhein-westfälische Verwaltungsgerichte Bedenken gegen diese Durchbrechung des Anwendungsvorrangs geäußert hatten,222 legte das VG Köln schließlich dem EuGH eine entsprechende Vorlagefrage zur Beantwortung vor.223 Die Mitgliedstaaten, die sich an dem Verfahren beteiligten, machten durch die Bank geltend, dass eine Durchbrechung des Anwendungsvorrangs, wie sie das OVG Münster vorgenommen hatte, in Ausnahmefällen möglich sein müsse. Zur Begründung beriefen sie sich auf eine Analogie zur zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen in der Rechtsprechung des EuGH.224 Der EuGH hingegen 217
BVerfGE 115, 276 (277, Ziff. 1 u. 2 des Tenors). BVerfGE 115, 276 (277, Ziff. 3 des Tenors; 319). 219 BVerfGE 115, 276 (299 f.). 220 BVerfGE 115, 276 (316 f.). 221 OVG Münster, Beschluss vom 28. Juni 2006, Az. 4 B 961/06, NVwZ 2006, 1078 (1080). 222 VG Minden, Beschluss vom 26. Mai 2006, Az. 3 L 249/06, BeckRS 2006, 23430; VG Köln, Urteil vom 6. Juli 2006, Az. 1 K 3679/05, BeckRS 2006, 24956; VG Köln, Beschluss vom 11. August 2006, Az. 6 L 736/06, BeckRS 2006, 25157; VG Arnsberg, Beschluss vom 21. August 2006, Az. 1 L 725/06, BeckRS 2006, 25052. 223 Vorabentscheidungsersuchen des VG Köln vom 9. Oktober 2006, Rs. C-409/06, Winner Wetten, ABl. 2006, Nr. C 326 vom 30. Dezember 2006, S. 25. 224 EuGH, Urteil vom 8. September 2010, Rs. C-409/06, Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015, Rn. 63. 218
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lehnte eine solche Befugnis der mitgliedstaatlichen Gerichte relativ knapp ab: Zum einen hätten im vorliegenden Fall bereits keine zwingenden Erwägungen der Rechtssicherheit vorgelegen, die eine Aussetzung des Anwendungsvorrangs hätten rechtfertigen können, zum anderen könne über eine solche Aussetzung ohnehin nur durch den Gerichtshof entschieden werden.225 Diese Entscheidung ist zu begrüßen: In der Tat sprechen alle Argumente gegen eine Möglichkeit der Durchbrechung des Anwendungsvorrangs durch nationale Gerichte – anderenfalls hätte der Gerichtshof seine strikte Rechtsprechung zur zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen komplett unterlaufen. Denn letztendlich handelt es sich um dieselbe Frage: Ob die Wirkungen eines Urteils zeitlich begrenzt werden oder ob eine Auslegung des Unionsrechts zwar zeitlich unbegrenzt gilt, sich wegen einer temporären Durchbrechung des Anwendungsvorrangs aber nicht durchsetzen kann, macht im Ergebnis keinen Unterschied.226 Eine den Anwendungsvorrang suspendierende Übergangsfrist entspricht einer zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen bis zu einem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt.227 Könnte jedes nationale Gericht über eine vorübergehende Durchbrechung des Anwendungsvorrangs entscheiden, wäre das Monopol des EuGH, die zeitliche Wirkung seiner Urteile (und damit der verbindlichen Auslegung des Unionsrechts) allein zu bestimmen, hinfällig. Damit stellte sich wieder das Problem der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts:228 Wenn nationale Gerichte selbst die Voraussetzungen für die ausnahmsweise Durchbrechung prüfen dürften, könnte jedes einzelne Gericht zu einer anderen Beurteilung der Lage kommen. Eine einheitliche Anwendung der unionsrechtlichen Vorschriften wäre dann illusorisch. Die Prüfungskompetenz für ein solches neues Institut der Durchbrechung des Anwendungsvorrangs kann daher sinnvollerweise nur beim EuGH liegen.229 Im Übrigen stellt sich jedoch auch die Frage, ob überhaupt ein Bedürfnis für ein solches neues Institut besteht. Ein nationales Gericht, das sich über eine Durchbrechung des Anwendungsvorrangs Gedanken macht, kann die Vorlagefrage an den EuGH (die sich im Hinblick auf die Sachfrage sowieso nicht vermeiden lassen wird) auch gleich mit der Anregung der zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen verbinden. Dem steht auch nicht entgegen, dass eine Vorlage in Fällen ausgeschlossen sein könnte, bei denen die Auslegung des Unions225 EuGH, Urteil vom 8. September 2010, Rs. C-409/06, Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015, Rn. 67. 226 Vgl. Koenig/Schreiber, DÖV 2008, 450 (454); siehe auch Terhechte, EuR 2006, 828 (837 f.). 227 Siehe hierzu E. II. 2. b). 228 Siehe auch Generalanwalt Bot, Schlussanträge vom 26. Januar 2010, Rs. C-409/ 06, Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015, Rn. 120. 229 Ehlers/Eggert, JZ 2008, 585 (591); Kruis, EuZW 2006, 603 (607); wohl auch Neuschl/Schumm, ZEuS 2008, 527 (546 ff.).
V. Auswirkungen nationaler Vorschriften zur Bestandskraft
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rechts klar ist.230 Denn exakt das gleiche Problem würde sich auch stellen, wenn der EuGH über eine Durchbrechung des Anwendungsvorrangs entscheiden sollte. Auch für eine solche Frage käme einzig und allein ein Vorabentscheidungsverfahren in Betracht.231 In beiden Fällen ließe sich der Problematik daher nur durch die Zulässigkeit isolierter Vorlagefragen zur zeitlichen Wirkung der Auslegung bzw. des Anwendungsvorrangs begegnen (wobei dann wiederum die Tatbestandsvoraussetzung „guter Glaube“ wohl zu verneinen wäre, wenn die Auslegung des Unionsrechts klar ist). Für ein paralleles Institut der vorübergehenden Durchbrechung des Anwendungsvorrangs ist daher kein Raum.232 Die Anordnung einer Übergangsfrist für die Fortgeltung unionsrechtswidrigen nationalen Rechts durch ein Gericht lässt sich auch nicht als „nationale Verfahrensvorschrift“ einordnen, die nach den oben dargelegten Grundsätzen grundsätzlich zulässig ist und lediglich am Effektivitäts- und Äquivalenzgrundsatz zu messen wäre.233 Der EuGH erkennt zwar grundsätzlich an, dass der Einzelne in Ermangelung eines europäischen Verfahrensrechts seine unionsrechtlichen Ansprüche nur nach nationalem Recht durchsetzen kann.234 Eine Übergangsregelung mit der Konsequenz der Durchbrechung des Anwendungsvorrangs bezweckt aber gerade nicht, die Durchsetzung der Ansprüche während dieses Zeitraums zu regeln, sondern sie komplett zu unterbinden. Insofern würde eine solche Regelung jedenfalls am Effektivitätsgrundsatz scheitern. Zur Sportwettenentscheidung des BVerfG sei abschließend noch folgendes gesagt: Es erscheint sehr zweifelhaft, ob das BVerfG wirklich durch seine Übergangsfrist den Anwendungsvorrang des Unionsrechts durchbrechen wollte. Wahrscheinlicher ist wohl, dass seine Sportwettenentscheidung als rein verfassungsrechtliche Entscheidung anzusehen ist und die Klärung des Anwendungsvorrangs, die beim BVerfG nicht entscheidungserheblich war, den (Ober-)Verwaltungsgerichten vorbehalten bleiben sollte, bei denen diese Frage entscheidungserheblich geworden wäre.235 Hätte das BVerfG den Anwendungsvorrang 230
So aber Ehlers/Eggert, JZ 2008, 585 (591); siehe zur Problematik oben D. VII. 2. Dies deutet sich selbst bei Ehlers/Eggert, JZ 2008, 585 (591), an. 232 Vgl. auch Terhechte, EuR 2006, 828 (838). 233 A.A. Beljin, NVwZ 2008, 156 (157). 234 Siehe z. B. EuGH, Urteil vom 15. September 1998, Rs. C-231/96, Edis, Slg. 1998, I-4951, Rn. 34. 235 U. Karpenstein/Kuhnert, DVBl. 2006, 1462 (1466); wohl auch Mertens, DVBl. 2006, 1564 (1568); Kruis, EuZW 2006, 603 (607); Terhechte, EuR 2006, 828 (833); a. A. Beljin, NVwZ 2008, 156 (161); siehe auch BVerfG, 1. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 7. Dezember 2006, 2 BvR 2428/06, NJW 2007, 1521, in dem das BVerfG dem OVG Münster zugesteht, im Eilverfahren ohne Vorlage an den EuGH „den Zeitpunkt des Eintritts des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts und der daraus folgenden Nichtanwendung der in Rede stehenden nationalen Maßnahmen selbst zu bestimmen.“ Offenbar geht also das BVerfG davon aus, diesen Zeitpunkt nicht bereits durch sein Sportwettenurteil bestimmt zu haben. Siehe auch EuGH, Urteil vom 8. September 2010, Rs. C-409/06, Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015, Rn. 59 ff. 231
242
E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
vorübergehend suspendieren wollen, hätte es dem EuGH wegen Art. 267 Abs. 3 AEUV eigentlich die Frage vorlegen müssen, ob eine solche Übergangsfrist mit dem Unionsrecht vereinbar sei, denn diese Frage wäre entscheidungserheblich gewesen.236 Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die Übergangsfrist dann sinnlos wäre, weil das BVerfG selbst den Gleichlauf des Grundgesetzes und der Grundfreiheiten in Bezug auf die Zulässigkeit von Sportwettenverboten festgestellt habe. Denn auf rein nationale Sachverhalte ohne Unionsbezug ist die Übergangsfrist in jedem Fall anwendbar. Insofern wäre also nur ein deutlicher Vorbehalt des BVerfG wünschenswert gewesen, dass die Übergangsfrist nur gilt, sofern dem der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht entgegensteht. 4. Zwischenergebnis: Möglichkeiten der Schadensbegrenzung für die Mitgliedstaaten Ein gezielter Ausschluss nur der Wirkungen eines einzelnen Urteils ist somit nicht möglich. Allerdings haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, nachträglich Vorschriften zu erlassen, die nicht nur auf unionswidrig erhobene, sondern auch auf rechtmäßig erhobene Beträge anwendbar sind. Dadurch wird das Äquivalenzprinzip gewahrt. Empfehlenswert sind daher Vorschriften, die gleichermaßen Rückzahlungen unionsrechtswidriger wie verfassungswidriger Abgaben erfassen.237 Zur Einhaltung des Effektivitätsgrundsatzes ist außerdem erforderlich, dass eine gewisse Zahl von (Rück-)Zahlungsansprüchen noch bestehen bleibt. Der betroffene Staat kann seine aus dem Vorabentscheidungsurteil resultierende Erstattungslast also nur reduzieren, aber nicht beseitigen. Es hängt letztlich also am Geschick des nationalen Gesetzgebers, ob er eine Regelung findet, die diese vom EuGH gesetzten Grenzen möglichst weit auslotet. Wohl mit dem Unionsrecht vereinbar dürften Fristen für die Geltendmachung von Rückzahlungsansprüchen sein, die nicht unverhältnismäßig kurz sind und die gleichermaßen unionsrechtswidrige wie verfassungswidrige Abgaben erfassen. Natürlich ist eine solche Regelung bei aller gesetzgeberischen Kunstfertigkeit nur dann hilfreich, wenn die nationalen Gerichte sie überhaupt auf vor ihrem Erlass liegende Sachverhalte anwenden dürfen. Daneben bleibt den Mitgliedstaaten immer noch die Möglichkeit, bereits im Vorfeld die Auswirkungen, die ein Urteil entfalten kann, in einem verkraftbaren Rahmen zu halten: die legitime „Flucht in die Bestandskraft“ durch eine zügige Bearbeitung von Verwaltungs- und Steuerverfahren. Gerade die spektakulären Verfahren Banca Popolare di Cremona und Meilicke geben Anlass zu der Feststellung, dass die Mitgliedstaaten an ihrer misslichen Lage nicht ganz unschuldig 236
Beljin, NVwZ 2008, 156 (161); Ehlers/Eggert, JZ 2008, 585 (593, Fn. 120). EuGH, Urteil vom 2. Oktober 2003, Rs. C-147/01, Weber’s Wine World, Slg. 2003, I-11365, Rn. 108; VwGH, Erkenntnis vom 4. Dezember 2003, Gz. 2003/16/0148. 237
V. Auswirkungen nationaler Vorschriften zur Bestandskraft
243
sind, wenn sich zum Beispiel Steuerveranlagungen bei Unternehmen über zehn Jahre und mehr hinziehen.238 Da der Gerichtshof die Bestandskraft nach den nationalen Verfahrensvorschriften weitgehend akzeptiert, stellt dies den sichersten Zufluchtsort für die Mitgliedstaaten dar, um der rigorosen ex-tunc-Wirkung der Vorabentscheidungsurteile zu entgehen. Zugegebenermaßen bietet die Bestandskraft auch keinen hundertprozentigen Schutz, wie das Verfahren Kühne & Heitz gezeigt hat. Doch erstens kommt eine Durchbrechung der Bestandskraft wohl nur in den Mitgliedstaaten in Betracht, in denen das nationale Verfahrensrecht eine solche überhaupt vorsieht, und zweitens sind die Voraussetzungen der Kühne-&Heitz-Doktrin so hoch, dass sie nur in extremen Ausnahmefällen zum Tragen kommen, wenn nämlich die Gerichte des Mitgliedstaats konsequent ihre unionsrechtlichen Pflichten ignoriert haben. Insofern bietet die Bestandskraft den Mitgliedstaaten, die sich auf allen Ebenen (inklusive der Rechtsprechung) redlich um die Umsetzung des Unionsrechts bemühen, einen ausreichenden Schutz vor allzu bösen Überraschungen durch die ex-tunc-Wirkung der Vorabentscheidungen. 5. Exkurs: Maßnahmen auf unionsrechtlicher Ebene In Fällen, bei denen ein EuGH-Urteil eine Vielzahl von Mitgliedstaaten zu beeinflussen droht, könnten die Regierungen auch auf die Idee kommen, den Urteilswirkungen nicht im nationalen Alleingang, sondern vielmehr in einer konzertierten Aktion zu begegnen. Zumindest einen Schritt in diese Richtung sind die Mitgliedstaaten im Rahmen der Vertragsänderungen von Maastricht mit dem Protokoll zu Art. 157 AEUV239 gegangen. Nachdem der Gerichtshof in der Rechtssache Barber diejenigen Rechtsverhältnisse von der unmittelbaren Wirkung dieser Vorschrift ausgenommen hatte, die sich in der Vergangenheit erschöpft hatten, so dass niemand von einem Zeitpunkt vor Urteilserlass Rentenansprüche geltend machen konnte, legten die Mitgliedstaaten in dem Protokoll fest: „Im Sinne des Artikels 141 gelten Leistungen aufgrund eines betrieblichen Systems der sozialen Sicherheit nicht als Entgelt, sofern und soweit sie auf Beschäftigungszeiten vor dem 17. Mai 1990 zurückgeführt werden können, außer im Fall von Arbeitnehmern oder deren anspruchsberechtigten Angehörigen, die vor diesem Zeitpunkt eine Klage bei Gericht oder ein gleichwertiges Verfahren nach geltendem einzelstaatlichen Recht anhängig gemacht haben.“
Die Meinungen hinsichtlich der Bedeutung dieses sogenannten „Barber-Protokolls“ 240 gehen auseinander. Zum Teil ist es aufgrund seines weiten Wortlauts 238
Kokott/Henze, NJW 2006, 177 (179); Hahn, IStR 2005, 145 (147 f.). Protokoll (Nr. 17) zu Artikel 141 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (1992), veröffentlicht als Protokoll zu Artikel 119 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, ABl. 1992, Nr. C 224 vom 31. August 1992, S. 104. 240 Vgl. Huep, S. 101. 239
244
E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
dahingehend verstanden worden, dass es eine über den Entscheidungsgegenstand des Urteils Barber hinausreichende Beschränkung der Urteilswirkung enthalte.241 Andererseits wird die Auffassung vertreten, es handele sich „nur“ um eine Präzisierung des Barber-Urteils, der Anwendungsbereich des Tenors bleibe also unverändert.242 Doch selbst wenn es sich nur um eine Präzisierung handeln sollte, so wäre dies immer noch ein ernstzunehmender Eingriff in die Befugnisse des Gerichtshofs. Denn üblicherweise obliegt es nur ihm, in späteren Urteilen Fragen zu klären, die in früheren Urteilen offen geblieben sind.243 Natürlich können die Mitgliedstaaten auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs reagieren, indem sie mit Wirkung für die Zukunft eine Vertragsvorschrift ändern.244 Eine Auslegung mit Wirkung für in der Vergangenheit liegende Rechtsverhältnisse ist aber die ureigene Domäne der rechtsprechenden Gewalt. Letztlich handelt es sich also um einen Verstoß gegen den auch im Unionsrecht geltenden Grundsatz der Gewaltenteilung.245 Daran ändert auch die Feststellung des EuGH nichts, dass das Protokoll das Urteil Barber im Wesentlichen so auslegt wie später das Urteil Ten Oever,246 also eher zufällig das fast gleiche Ergebnis erzielt wurde.247 Bedenken bestehen auch im Hinblick auf das Rückwirkungsverbot: Es erscheint als eine Umgehung dieses Verbots (bzw. der strengen Voraussetzungen für seine Durchbrechung), wenn die Mitgliedstaaten im Wege eines Vertragsprotokolls Art. 157 AEUV „auslegen“, anstatt offen und ehrlich diesen Artikel zu ändern und die Rückwirkung dieser Änderung in den Vertrag aufzunehmen. Von einem pragmatischen Standpunkt gesehen bietet sich die Annahme eines solchen Protokolls für die Mitgliedstaaten an. Protokolle zu den Verträgen sind 241 So zum Beispiel die Argumentation der Vertreter der Regierung des Vereinigten Königreichs in der Rechtssache Vroege, siehe EuGH, Urteil vom 28. September 1994, Rs. C-57/93, Vroege, Slg. 1994, I-4567, Rn. 37; siehe auch EuGH, Urteil vom 28. September 1994, Rs. C-128/93, Fisscher, Slg. 1994, I-4583, Rn. 45. 242 So die Bundesrepublik Deutschland und auch der EuGH selbst, siehe EuGH, Urteil vom 28. September 1994, Rs. C-57/93, Vroege, Slg. 1994, I-4567, Rn. 41; EuGH, Urteil vom 28. September 1994, Rs. C-128/93, Fisscher, Slg. 1994, I-4583, Rn. 49; siehe auch Kollatz, DZWir 1995, 284 (286); M. Kirchner, S. 61 f.; Huep, S. 245. 243 Griebeling, RdA 1992, 373 (378); a. A. M. Kirchner, S. 60; Berenz, NZA 1994, 433 (438); Zuleeg, RdA 1996, 71 (75). 244 Vgl. Langohr-Plato, MDR 1994, 19 (20). 245 Borchardt, Versicherungswirtschaft 1992, 929 (935); im Ergebnis auch Steinmeyer, BB 1992, 1553 (1554); vgl. auch Coen, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, Art. 157 AEUV, Rn. 64. 246 EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1993, Rs. C-109/91, Ten Oever, Slg. 1993, I-4879. Beim Erlass dieses Urteils war das Barber-Protokoll zwar schon seit über einem Jahr im Amtsblatt veröffentlicht, es trat allerdings erst einige Wochen nach diesem Urteil in Kraft, vgl. Huep, S. 91 f. 247 EuGH, Urteil vom 28. September 1994, Rs. C-7/93, Beune, Slg. 1994, I-4471, Rn. 61; Urteil vom 28. September 1994, Rs. C-57/93, Vroege, Slg. I-4541, Rn. 41; Urteil vom 28. September 1994, Rs. C-128/93, Fisscher, Slg. 1994, I-4583, Rn. 49; vgl. Huep, S. 91 f., S. 102 f.
VI. Zusammenfassung
245
gemäß Art. 51 EUV Bestandteil der Verträge selbst, haben also Primärrechtscharakter und stehen damit auf einer Rangstufe mit dem übrigen geschriebenen und ungeschriebenen Primärrecht, also auch dem Gewaltenteilungsgrundsatz.248 Selbst wenn ein Protokoll in die Kompetenzen des Gerichtshofs eingreifen und den Gewaltenteilungsgrundsatz verletzen sollte, so kann es der EuGH deswegen nicht für nichtig erklären. Zugegebenermaßen wird diskutiert, ob die Verträge der Union einen änderungsresistenten Kern enthalten.249 In diesem Fall wäre eine gerichtliche Überprüfung durch den Gerichtshof durchaus denkbar;250 er könnte in einem Vorabentscheidungsverfahren inzident die Unanwendbarkeit von primärrechtswidrigem Primärrecht feststellen251 oder die Mitgliedstaaten in einem Vertragsverletzungsverfahren kollektiv zur Beseitigung des mit dem Kernunionsrecht nicht vereinbaren Zustands verurteilen.252 Alle diese Ansätze sind aber derzeit noch rein akademisch und sollen nicht weiter vertieft werden. Der Gerichtshof hat sich jedenfalls bisher nicht zu einer Kompetenz zur Prüfung der Einhaltung materieller Revisionsgrenzen geäußert. Daher scheint es für die Mitgliedstaaten derzeit relativ gefahrlos möglich, durch eine „authentische“ Auslegung des Vertrags in Form eines Protokolls die Rechtsprechung des Gerichtshofs auf zwar rechtswidrige, aber wirksame Weise zu determinieren.253 Wermutstropfen hierbei bleibt für die Mitgliedstaaten, dass ein solches Protokoll nur einstimmig beschlossen werden kann,254 was sich in der derzeitigen Union mit 27 Mitgliedstaaten durchaus schwierig gestalten kann.
VI. Zusammenfassung Vorabentscheidungen des Gerichtshofs in Auslegungsverfahren haben grundsätzlich die Aufgabe, zu erläutern und zu verdeutlichen, wie eine Vorschrift des Unionsrechts seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen ist oder jedenfalls zu verstehen gewesen wäre. Ihnen kommt daher grundsätzlich eine ex-tunc-Wirkung zu. Eine Folge dieser Rückwirkung ist, dass dem Einzelnen ein unionsrechtlich begründeter Erstattungsanspruch zusteht, wenn er aufgrund einer unionsrechtswidrigen Vorschrift zu Unrecht eine Zahlung vorgenommen hat. Als Stichtag für die Beschränkung der zeitlichen Wirkung wählt der EuGH seit jeher den Tag der Verkündung des Urteils. Die Urteilswirkungen treten also da248 Kokott, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 51 EUV, Rn. 5; Borchardt, Versicherungswirtschaft 1992, 929 (935); Huep, S. 102, S. 242. 249 Siehe hierzu Vedder/Folz, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU-Recht (40. Erg.-Lfg.), Art. 48 EUV, Rn. 15 ff.; Sichert, S. 748 ff.; Schroeder, S. 366 ff., insb. S. 378 ff. 250 Siehe hierzu Schroeder, S. 380 ff.; Sichert, S. 818 ff. 251 Sichert, S. 800 ff., S. 816. 252 Sichert, S. 791 ff., S. 816. 253 M. Kirchner, S. 60; Mohr, S. 159; Berenz, NZA 1994, 433 (438). 254 Vgl. Mohr, S. 159.
246
E. Rechtsfolgen der Begrenzung im Auslegungsverfahren
her nur ex nunc ein. Nach der hier vertretenen Auffassung sollte aber in Einzelfällen auch eine Verlegung dieses Zeitpunkts in die Zukunft in Betracht gezogen werden, und zwar dann, wenn gerade die wirtschaftlichen Folgen im Zeitraum zwischen der Urteilsverkündung und der hinreichend zügigen Umsetzung des Urteils durch den nationalen Gesetzgeber ein solches Ausmaß annehmen, dass sie dem betroffenen Mitgliedstaat nicht zuzumuten sind. Die Verlegung des Stichtags in die Zukunft hat somit die Wirkung einer Umsetzungsfrist. Eine solche sollte aber nur gewährt werden, wenn der Mitgliedstaat seinerseits alle Versuche unternommen hat, die Inanspruchnahme dieser Frist gar nicht erst nötig werden zu lassen. Ein weiteres wichtiges Merkmal der zeitlichen Beschränkung ist die vom EuGH angeordnete Rückausnahme für alle diejenigen, die bereits vor Erlass des Urteils Schritte zur Wahrung ihrer Rechte unternommen haben. Auch hier scheint eine Verlegung des Stichtags in Ausnahmefällen denkbar, wenn aufgrund der Masse der bereits eingelegten Rechtsbehelfe die Gefahr besteht, dass die zeitliche Beschränkung leer läuft. In diesen Fällen erscheint eine Vorverlegung des Stichtags für die Rückausnahme auf den Tag der Verlesung der Schlussanträge sinnvoll, sofern die darin geäußerte Rechtsauffassung später vom Gerichtshof geteilt wurde. Grundsätzlich kommt dem EuGH ein Ermessen bezüglich der Rückausnahme zu, wobei er nur in extremen Ausnahmefällen einen gänzlichen Verzicht auf diese rechtfertigen könnte. Die Wirkungen eines Vorabentscheidungsurteils werden nicht nur durch die vom EuGH beschlossene zeitliche Beschränkung beeinflusst, sondern auch durch nationale Verfahrens- und Ausschlussvorschriften. Diese Vorschriften müssen allerdings die Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität beachten. Insbesondere ist es den Mitgliedstaaten verwehrt, gezielt durch nationale Rechtsnormen die Auswirkungen eines EuGH-Urteils zu konterkarieren. Ebenso wenig sind nationale Gerichte befugt, den Anwendungsvorrang des Unionsrechts vorübergehend zu suspendieren und damit eine faktische Begrenzung der zeitlichen Wirkung vorangegangener EuGH-Entscheidungen zu erreichen.
F. Die Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Begrenzung der zeitlichen Wirkung im Ungültigkeitsverfahren I. Einleitung Die bisherigen Ausführungen zu Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen haben sich primär auf solche Vorabentscheidungen bezogen, in denen der Gerichtshof sich zur Auslegung des Unionsrechts äußern musste (Auslegungsverfahren nach Art. 267 Abs. 1 lit. a und lit. b Var. 2 AEUV), also die Vereinbarkeit von nationalen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht zu prüfen war. Doch auch in der zweiten Variante des Vorabentscheidungsverfahrens, den Ungültigkeitsverfahren, stellt sich die Frage der zeitlichen Wirkungen. Fälle, in denen diese Thematik angesprochen oder gar eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen angeordnet wird, sind noch seltener als im Rahmen der Auslegungsentscheidungen. Auch in der Literatur finden sie – abgesehen von einer „Blütezeit“ in den achtziger Jahren, während derer sich vor allem die Rechtswissenschaftler in den romanischen Ländern intensiv mit ihnen beschäftigt hatten1 – heute deutlich weniger Aufmerksamkeit als ihr Pendant.2 Dies kann nicht verwundern: Die Auslegungsentscheidungen greifen in den Kern der nationalstaatlichen Souveränität ein, indem sie zur rückwirkenden Unanwendbarkeit von mitgliedstaatlichen Steuer- oder Sozialvorschriften führen. Über solche Verfahren lässt sich mit Beiträgen in Fachzeitschriften trefflich streiten, wobei in der Regel den Autoren, die auf der Besoldungsliste des Staates stehen, die zeitlichen Beschränkungen nicht weit genug gehen,3 während Steuerberater und Rechtsanwälte sich darüber empören, dass ein Mitgliedstaat „unverdientermaßen“ überhaupt in den Genuss einer zeitlichen Beschränkung kommen will.4 Derartige Stürme der Entrüstung kann ein Ungültigkeitsverfahren, das einen rein „EU-internen“ Konflikt zwischen EU-Recht höherer und niederer Rangstufe auflöst, einfach nicht entfachen.
1 Siehe zum Beispiel Labayle, Rev. Trim. Dr. Eur. 1982, 484; Isaac, C.D.E. 1987, 444; Simon, in: FS Pescatore, S. 651. 2 Einige wenige Ausnahmen gibt es: Everling, in: FS Börner, S. 57 ff.; Weiß, EuR 1995, 377 (379 f., 391 ff.); Müller, S. 40 ff.; Schima, S. 106 ff. 3 Siehe z. B. Steinberg/Bark, EuZW 2007, 243 (246); Forsthoff, DStR 2005, 1840 (1843). 4 Siehe z. B. Klein, IStR 2006, 209 (211); Thömmes, IWB 2005, Fach Nr. 11a, 927 (932).
248
F. Voraussetzungen und Rechtsfolgen im Ungültigkeitsverfahren
Damit wäre bereits die wichtigste Besonderheit des Ungültigkeitsverfahrens angesprochen: Es handelt sich um einen rein unionsrechtlichen Fall, bei dem der EuGH über die Geltung von Unionsrecht zu entscheiden hat.5 Gegenstand der Überprüfung kann gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. b Var. 1 AEUV die Handlung eines Organs, einer Einrichtung oder einer sonstigen Stelle der Union sein, also insbesondere Sekundärrecht oder aufgrund einer Ermächtigung erlassenes niedrigerrangiges Recht. Von der Zielrichtung ähnelt das Verfahren damit der Nichtigkeitsklage, da an seinem Ende zwar nicht eine Entscheidung über die automatische Nichtigkeit, aber zumindest über die Gültigkeit von Unionsrecht steht.6 Aufgrund der faktischen erga-omnes-Wirkung der Vorabentscheidung läuft dies am Ende auf das Gleiche hinaus, dass nämlich keine Behörde und kein Gericht die in Rede stehende Vorschrift mehr anwenden darf.7 Aus der Ähnlichkeit der beiden Verfahren erklärt sich auch die bereits angesprochene dogmatische Herleitung über eine analoge Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV.8 Sowohl in Anbetracht der Tatbestandsvoraussetzungen als auch der Rechtsfolgen ist die zeitliche Beschränkung im Rahmen der Ungültigkeitsverfahren derjenigen im Rahmen von Auslegungsverfahren sehr ähnlich. Das erklärt, weshalb in der Literatur bei der Darstellung der zeitlichen Wirkungen regelmäßig gar nicht zwischen den beiden Arten von Vorabentscheidungen unterschieden wird.9 Der Gerichtshof selbst unterscheidet jedoch deutlich zwischen den beiden Arten der Vorabentscheidung.10 Dies ergibt sich bereits daraus, dass der Gerichtshof zur dogmatischen Begründung nur in Ungültigkeitsentscheidungen auf eine analoge Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV zurückgreift, während er im Auslegungsverfahren einen allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit heranzieht.11 Dass der Gerichtshof auch im Übrigen einen Unterschied macht, zeigt sich deutlich daran, dass er bei den für seine Rechtsprechung so typischen Verweisungen auf frühere Urteile sauber trennt: Bereits in den grundlegenden Maisfällen12 erfindet er die zeitliche Beschränkung gewissermaßen neu und erwähnt das theoretisch als Präzedenzfall zur Verfügung stehende Defrenne II-Urteil mit keinem Wort; auch 5
Weiß, EuR 1995, 377 (379); Waldhoff, S. 37. Everling, in: FS Börner, S. 61. 7 Everling, in: FS Börner, S. 61. 8 Siehe dazu oben C. II. 2. c) cc). 9 Siehe zum Beispiel Borchardt, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, Art. 267 AEUV, Rn. 61 ff.; Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 267 AEUV, Rn. 75. 10 EuGH, Urteil vom 11. Dezember 2007, Rs. C-161/06, Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841, Rn. 68. Siehe auch Isaac, C.D.E. 1987, 444 (456); Bebr, C.M.L.R. 18 (1981), 475 (501). 11 Siehe dazu oben C. II. 2. c) cc). 12 EuGH, Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 4/79, Société Coopérative „Providence Agricole de la Champagne“, Slg. 1980, 2823; Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 109/ 79, Maïseries de Beauce, Slg. 1980, 2883; Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 145/79, Roquette Frères, Slg. 1980, 2917. 6
II. Grundsatz: Rückwirkung der Ungültigkeitsentscheidung
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in späteren Entscheidungen verweist er nur auf vorangegangene Ungültigkeitsentscheidungen mit zeitlicher Beschränkung, nicht aber auf Auslegungsurteile. Vor diesem Hintergrund hat die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkung im Rahmen von Ungültigkeitsentscheidungen eine gesonderte Betrachtung – wenn auch nur mit der aufgrund ihrer vergleichsweise geringen praktischen Bedeutung gebotenen Kürze – durchaus verdient.
II. Grundsatz: Rückwirkung der Ungültigkeitsentscheidung Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union schweigt sich über die grundsätzliche zeitliche Wirkung von Vorabentscheidungen zur Gültigkeit oder Ungültigkeit von Unionsrecht ebenso aus wie im Rahmen der Auslegungsurteile. Wieso die Väter der Verträge dieses Problem im Rahmen der Nichtigkeitsklage ausdrücklich regelten, beim Vorabentscheidungsverfahren aber nicht adressierten, bleibt ihr Geheimnis.13 Möglicherweise war eine Aussage zu den Rechtsfolgen in einem Verfahren, das sich im Wesentlichen durch die Einbeziehung der nationalen Gerichte mit ihren unterschiedlichen Rechtstraditionen auszeichnete, schlechterdings nicht verhandelbar, so dass die Lösung der Frage dem Gerichtshof überlassen wurde. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die zeitliche Wirkung der Ungültigkeitsentscheidungen lange Zeit zwischen den Generalanwälten des Gerichtshofs umstritten war.14 Bis in die Mitte der siebziger Jahre unterschieden die Generalanwälte streng zwischen dem Verfahren der Nichtigkeitsklage und dem Vorabentscheidungsverfahren zur Ungültigerklärung und waren dementsprechend der Auffassung, anders als die Nichtigerklärung könne die Ungültigerklärung nur Wirkung zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens und damit keine Rückwirkung über den Einzelfall hinaus entfalten.15 Für die Allgemeinheit würde der entsprechende Rechtsakt in diesem Fall erst durch ein Handeln des Gesetzgebers unwirksam. Ab Anfang der achtziger Jahre jedoch vertraten andere Generalanwälte die Auffassung, auch die Ungültigerklärung entfalte eine allgemeine Wirkung ex tunc.16 Die Kommission und der Rat sprachen sich ebenfalls für eine ex-tunc-Wirkung aus.17 13
Bebr, C.M.L.R. 18 (1981), 475 (494). Siehe zum Ganzen Bebr, C.M.L.R. 18 (1981), 475 (494). 15 Generalanwalt Gand, Schlussanträge vom 28. Oktober 1965, Rs. 16/65, Schwarze, Slg. 1961, 1151 (1182). Für die Literatur siehe Glaesner, in: Schermers/Timmermans/ Kellermann/Watson (Hrsg.), S. 311. 16 Generalanwalt Capotorti, Schlussanträge vom 6. Mai 1980, Rs. 130/79, Slg. 1980, 1887 (1909); Generalanwalt Reischl, Schlussanträge vom 21. Januar 1981, Rs. 66/80, International Chemical Corporation, Slg. 1981, 1191 (1229 f.). 17 Siehe EuGH, Urteil vom 13. Mai 1981, Rs. 66/80, International Chemical Corporation, Slg. 1981, 1191 (Tatbestand, 1203, 1206). 14
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F. Voraussetzungen und Rechtsfolgen im Ungültigkeitsverfahren
Der Gerichtshof schloss sich schließlich der letztgenannten Auffassung an: Zum einen stellte er fest, dass ein Urteil, das die Ungültigkeit einer Organhandlung feststellt, für jedes andere Gericht und jede Behörde einen hinreichenden Grund darstellt, diese Handlung als ungültig anzusehen.18 Die Entscheidung wirkt also erga omnes.19 Zum anderen entfaltet eine Entscheidung über die Gültigkeit oder Ungültigkeit von Unionsrecht, wie der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache Roquette Frères/Hauptzollamt Geldern kurz und knapp feststellt, wie ein Nichtigkeitsurteil grundsätzlich Rückwirkung.20 Alles in allem ist daher die grundsätzliche Interessenlage die gleiche wie bei den Auslegungsurteilen, bei denen der EuGH ebenfalls von einer automatischen ex-tunc-Unanwendbarkeit des unionsrechtswidrigen nationalen Rechts ausgeht.
III. Besonderheiten bei den Tatbestandsvoraussetzungen Das Motiv für die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Ungültigkeitsentscheidungen ist laut EuGH das gleiche wie bei den Auslegungsurteilen: Der Gerichtshof kann die zeitliche Wirkung des Urteils modifizieren, wenn zwingende Erwägungen der Rechtssicherheit dies rechtfertigen.21 Viel weiter ins Detail geht der Gerichtshof aber nicht. Anders als bei den Auslegungsurteilen, bei denen sich die „Rechtssicherheitserwägungen“ schnell in den zwei etwas konkreteren Tatbestandsvoraussetzungen „schwere wirtschaftliche Folgen“ und „guter Glaube“ manifestierten, hat der Gerichtshof diese Abstraktionsebene bei seinen Ungültigkeitsurteilen nie verlassen. Damit ist er grundsätzlich freier in seiner Subsumtion, und dementsprechend bieten die Urteile auch ein gemischteres Bild.22
18 Urteil vom 13. Mai 1981, Rs. 66/80, International Chemical Corporation, Slg. 1981, 1191, Rn. 13. 19 Schwarze, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 234 EG, Rn. 62; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU/EG, Art. 234 EG, Rn. 90; Schima, S. 101; U. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), EU-Recht, Art. 267 AEUV, Rn. 104; nur von einer Präjudizwirkung gehen aus: Germelmann, EuR 2009, 254 (262 ff.); Kadelbach, in: Holoubek/Lang (Hrsg.), S. 124. 20 Urteil vom 26. April 1994, Rs. C-228/92, Roquette Frères/Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445, Rn. 17; Urteil vom 8. Februar 1996, Rs. C-212/94, FMC, Slg. 1996, I-389; bereits angedeutet in EuGH, Urteil vom 13. Mai 1981, Rs. 66/80, International Chemical Corporation, Slg. 1981, 1191, Rn. 15 ff.; siehe auch Everling, in: FS Börner, S. 68; Lauwaars, in: Schermers/Timmermans/Kellermann/Watson (Hrsg.), S. 313 ff.; Schima, S. 106; Müller, S. 44. 21 EuGH, Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 145/79, Roquette Frères, Slg. 1980, 2917, Rn. 52; Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 109/79, Maïseries de Beauce, Slg. 1980, 2883, Rn. 45; Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 4/79, Société Coopérative „Providence Agricole de la Champagne“, Slg. 1980, 2823, Rn. 45; Urteil vom 10. März 1992, verb. Rs. C-38/90 und C-151/90, Lomas, Slg. 1992, I-1781, Rn. 23. 22 Siehe zum Ganzen auch Müller, S. 51.
III. Besonderheiten bei den Tatbestandsvoraussetzungen
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1. Folgen des Urteils Im Vordergrund der Erwägungen, die der Gerichtshof zur Rechtssicherheit anstellt, stehen offensichtlich die wirtschaftlichen Folgen seiner Entscheidung. Hier hat der EuGH für eine zeitliche Beschränkung zum Beispiel ausreichen lassen, dass es aufgrund des Urteils zu Rückforderungen kommen könnte, die aufgrund der unterschiedlichen Regelungen in den Mitgliedstaaten zu Unterschieden in der Behandlung führen und dadurch neue Wettbewerbsverzerrungen hervorrufen könnten.23 Welchen Gesamtbetrag diese Rückforderungen ausmachen, und wie gravierend sich diese Rückforderungen auf die betroffenen Wirtschaftskreise auswirken, spricht der Gerichtshof hingegen nicht einmal an. Dass die wirtschaftlichen Folgen auch „schwerwiegend“ sind, wie es der Gerichtshof im Rahmen von Auslegungsurteilen verlangt, ist hier offenbar nicht erforderlich. Vielmehr nimmt der Gerichtshof eine reine Opportunitätskontrolle vor und überprüft, ob eher ein Urteil mit oder ohne Rückwirkung der Union dienlich ist. Wenn also die unvereinbare Sekundärrechtsnorm den Zielen der Verträge nicht förderlich war und durch die Rückwirkung der entstandene Schaden voraussichtlich nicht beseitigt wird, sondern zusätzlicher Schaden entsteht, dann erscheint es sinnvoller, auf die dogmatisch korrekte Rückwirkung zu verzichten und sich mit dem geringeren Übel abzufinden.24 In einigen Ungültigkeitsurteilen schlug der Gerichtshof einen ganz anderen Weg ein: Bei den in Frage stehenden Rechtsnormen handelte es sich jeweils um Vorschriften über Abgaben und Erstattungen für landwirtschaftliche Produkte. Diese Vorschriften behandelten einzelne Produkte unterschiedlich, ohne dass es eine Rechtfertigung für diese Differenzierung gegeben hätte. Eine solche Ungleichbehandlung verstieß, so der Gerichtshof, gegen das Verbot der Diskriminierung auf dem gemeinsamen Agrarmarkt.25 In jedem dieser Fälle stellte der EuGH fest, dass die Rechtswidrigkeit der Vorschriften weniger aus irgendeiner Stelle ihres Textes, sondern vielmehr aus ihrem Schweigen resultiere. Nicht die Begünstigung einzelner Wirtschaftsteilnehmer, sondern die fehlende Einbeziehung anderer Produzenten machte die Vorschriften rechtswidrig. Weiter führte der EuGH aus, dass es dem Gemeinschaftsgesetzgeber obliege, aus dem vorliegenden Urteil die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen, um eine gemein-
23 EuGH, Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 145/79, Roquette Frères, Slg. 1980, 2917, Rn. 52; Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 109/79, Maïseries de Beauce, Slg. 1980, 2883, Rn. 45; Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 4/79, Société Coopérative „Providence Agricole de la Champagne“, Slg. 1980, 2823, Rn. 45. 24 Vgl. Weiß, EuR 1995, 377 (388 f.). 25 EuGH, Urteil vom 19. Oktober 1977, verb. Rs. 117/76 und 16/77, Ruckdeschel, Slg. 1977, 1753, Rn. 10; Urteil vom 19. Oktober 1977, verb. Rs. 124/76 und 20/77, Moulins & Huileries de Pont-à-Mousson, Slg. 1977, 1795, Rn. 22/23; Urteil vom 29. Juni 1988, Rs. 300/86, van Landschoot, Slg. 1988, 3443, Rn. 10 ff.
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F. Voraussetzungen und Rechtsfolgen im Ungültigkeitsverfahren
schaftsrechtskonforme Gleichbehandlung der verschiedenen Agrarerzeuger zu erzielen. Eine Ungültigerklärung könne allerdings nur den bisher Begünstigten ihre Befreiung entziehen, nicht aber den zu Unrecht Benachteiligten die Befreiung gewähren. Um nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten, ordnete der Gerichtshof die weitere Anwendbarkeit der Vorschrift bis zu ihrer Neuregelung an.26 Diese Ausführungen dürften dem Leser bekannt vorkommen – letztlich handelt es sich um die gleiche Argumentation, die auch das BVerfG zur Begründung seiner Unvereinbarkeitserklärungen aufgrund eines verfassungswidrigen Begünstigungsausschlusses vornimmt.27 Grund für die Beschränkung der Urteilswirkung sind in diesem Fall also der Respekt vor der Entscheidungsprärogative des Gesetzgebers und die Rechtssicherheit derer, denen der Gerichtshof ansonsten einen Vorteil wegnehmen müsste, weil er nicht dazu befugt ist, einer anderen Gruppe von Betroffenen den gleichen Vorteil zuzusprechen.28 In jüngerer Zeit hat der EuGH dann allerdings in einigen weiteren Ungültigkeitsentscheidungen einen Weg eingeschlagen, der schon wieder deutlich stärker an seine Rechtsprechungslinie in den Auslegungsurteilen erinnert. Er stellte fest, dass die Ungültigkeit einer Vorschrift einer Verordnung dazu führen könne, dass bereits geleistete Ausgleichsabgaben wieder zurückzuzahlen seien, und dass dies erhebliche finanzielle Folgen nach sich ziehen könnte sowie auch schwerwiegende organisatorische Probleme, die mit der Wiederaufnahme längst abgeschlossener Abrechnungen und der Notwendigkeit der Neuberechnung der betreffenden Abgabe für die Vergangenheit zusammenhingen.29 Derartige Ausführungen hätten sich auch durchaus in der Begründung für die zeitliche Beschränkung der Wirkungen eines Auslegungsurteils finden können. Damit ist freilich noch nicht gesagt, dass der Gerichtshof diese Voraussetzungen auch für künftige Fälle als zwingend ansieht. Es ist gut denkbar, dass sich der Gerichtshof notfalls auch mit weniger zufrieden geben würde.
26 EuGH, Urteil vom 19. Oktober 1977, verb. Rs. 117/76 und 16/77, Ruckdeschel, Slg. 1977, 1753, Rn. 11 ff.; Urteil vom 19. Oktober 1977, verb. Rs. 124/76 und 20/77, Moulins & Huileries de Pont-à-Mousson, Slg. 1977, 1795, Rn. 24 ff.; Urteil vom 29. Juni 1988, Rs. 300/86, van Landschoot, Slg. 1988, 3443, Rn. 22 ff. 27 Siehe oben B. II. 1. b). 28 Kritisch Müller, S. 59 ff. Anders sah dies der EuGH in den Auslegungsurteilen zu Art. 157 AEUV bzw. dessen Vorgängervorschriften: Hier ging er immer davon aus, dass die Ungleichbehandlung männlicher und weiblicher Arbeitnehmer durch eine allseitige Begünstigung zu beseitigen sei, siehe EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 40; Urteil vom 17. Mai 1990, Rs. C-262/88, Barber, Slg. 1990, I-1889, Rn. 39. 29 EuGH, Urteil vom 10. März 1992, verb. Rs. C-38/90 u. C-151/90, Lomas, Slg. 1992, I-1781, Rn. 27; Urteil vom 8. Februar 1996, Rs. C-212/94, FMC, Slg. 1996, I-389, Rn. 59.
III. Besonderheiten bei den Tatbestandsvoraussetzungen
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2. Guter Glaube Der Aspekt der Gutgläubigkeit hat eine noch geringere Bedeutung als die Folgen des Urteils.30 Nur in einigen wenigen Urteilen tauchen Erwägungen auf, die an die Prüfung des guten Glaubens in den Auslegungsentscheidungen erinnern.31 In zwei dieser Fälle ging es um Leistungen des französischen Staates an Private (zum einen eine Familienbeihilfe für Angehörige von Wanderarbeitnehmern, zum anderen eine Beihilfe für lokale Radiosender), die jeweils aufgrund einer gemeinschaftsrechtlichen Genehmigung (zum einen eine EG-Verordnung, zum anderen eine Kommissionsentscheidung) gezahlt wurden. Hier beschränkte der Gerichtshof die Wirkungen des Urteils unter Hinweis darauf, dass Frankreich durch die Genehmigungen dazu verleitet worden sei, gemeinschaftsrechtswidrige Praktiken beizubehalten. Unter diesen Umständen wollte man dem französischen Staat bzw. den betroffenen Radiosendern unter Berücksichtigung aller öffentlichen und privaten Interessen eine Nach- bzw. Rückzahlung für in der Vergangenheit liegende Zeiträume nicht zumuten.32 Dass der Gerichtshof ausgerechnet in diesen Fällen so etwas wie eine Gutglaubensprüfung durchführt, ist gar nicht so überraschend, wenn man die Konstellationen genauer betrachtet: Die Ungleichbehandlung beruhte letzten Endes auf einer nationalen Verwaltungspraxis oder nationalem Recht. Die Befugnis hierzu ergab sich zwar aus gleichfalls gegen den EG-Vertrag verstoßenden Gemeinschaftsrechtsakten, doch hätten die französischen Behörden hiervon jederzeit zugunsten eines gemeinschaftsrechtskonformen Verhaltens abweichen können. Die vorlegenden Gerichte hätten also, statt nach der Gültigkeit der Verordnung bzw. Entscheidung zu fragen, auch ein Auslegungsverfahren dahingehend anstrengen können, ob eine Praxis wie die der französischen Sozialbehörden bzw. das französische Gesetz zur Beihilfe für lokale Radiosender mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei. Hier stand also letztlich nicht das Gemeinschaftsrecht, sondern nationales Recht auf dem Prüfstand, wie es sonst für die Auslegungsverfahren typisch ist. Damit unterscheiden sich diese Fälle wesentlich von den übrigen hier untersuchten Ungültigkeitsvorlagen wie zum Beispiel den Maisfällen. Die Gutglaubensprüfung weist alle Charakteristika der entsprechenden Prüfung in den Auslegungsurteilen auf: Der betroffene Mitgliedstaat wurde durch eine Handlung eines Gemeinschaftsorgans (im einen Fall sogar des Gemeinschaftsgesetzgebers,
30
Weiß, EuR 1995, 377 (391). EuGH, Urteil vom 15. Januar 1986, Rs. 41/84, Pinna, Slg. 1986, 1; Urteil vom 22. Dezember 2008, Rs. C-333/07, Régie Networks, Slg. 2008, I-10807; EuGH, Urteil vom 19. September 2000, verb. Rs. C-177/99 u. C-181/99, Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013. 32 EuGH, Urteil vom 15. Januar 1986, Rs. 41/84, Pinna, Slg. 1986, 1, Rn. 27 f.; Urteil vom 22. Dezember 2008, Rs. C-333/07, Régie Networks, Slg. 2008, I-10807, Rn. 123 ff. 31
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F. Voraussetzungen und Rechtsfolgen im Ungültigkeitsverfahren
der die Verordnung erlassen hatte) in den falschen Glauben versetzt, sein Handeln sei gemeinschaftsrechtskonform. Dadurch kann dem Mitgliedstaat nicht mehr vorgeworfen werden, dass er es besser hätte wissen müssen, so dass eine zeitliche Beschränkung grundsätzlich möglich wird. Auch ein weiterer Fall, bei dem Fragen des guten Glaubens eine Rolle spielten, stellte ein solches „Quasi“-Auslegungsverfahren dar.33 Hier ging es um eine französische Steuervorschrift, die nicht mit der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar war. Der Rat hatte diese Abweichung auf Betreiben Frankreichs jedoch im Wege einer Entscheidung gebilligt.34 Der Gerichtshof stellte fest, dass die Entscheidung wegen Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ungültig war.35 Somit verstieß die nationale Regelung – auch wenn dies nicht mehr Gegenstand der Vorabentscheidung war – gegen Gemeinschaftsrecht. Ein zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen lehnte der Gerichtshof jedoch ab, da der Grundsatz des Vertrauensschutzes, auf den Frankreich sich berufen hatte, dem Schutz des Bürgers gegen den Staat diene und nicht umgekehrt. Diese Ausführungen sind ein wenig überraschend. Insbesondere in den Auslegungsverfahren hat der Gerichtshof keinerlei Bedenken, Mitgliedstaaten die Berufung auf den Gedanken der Rechtssicherheit, der eng mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes verwandt36 ist, zu gestatten. Lag es also nur an der Wortwahl Frankreichs, das sich auf den subjektiven Aspekt der Rechtssicherheit, den Vertrauensschutz,37 berief, und nicht auf die objektive Komponente? An dieser Stelle ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs schlichtweg unklar. Im konkreten Fall kam jedenfalls hinzu, dass der EuGH davon ausging, Frankreich habe die Entscheidung maßgeblich beeinflusst, obwohl es aufgrund der Umstände hätte wissen müssen, dass die Entscheidung aufgrund ihres Inhalts gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstieß.38 Demgemäß wäre eine zeitliche Beschränkung auch am Fehlen des guten Glaubens Frankreichs gescheitert, selbst wenn es sich nicht auf Vertrauensschutz berufen hätte. Insofern ist das Urteil wohl in erster Linie als eine allgemeine Klärung zu verstehen, dass Mitgliedstaaten sich zwar – in Ungültig-
33 EuGH, Urteil vom 19. September 2000, verb. Rs. C-177/99 u. C-181/99, Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013. 34 Entscheidung des Rates vom 28. Juli 1989 zur Ermächtigung der Französischen Republik, eine von Artikel 17 Absatz 6 Unterabsatz 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/ EWG zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern abweichende Sondermaßnahme zu treffen, ABl. 1989, Nr. L 239 vom 16. August 1989, S. 21. 35 EuGH, Urteil vom 19. September 2000, verb. Rs. C-177/99 u. C-181/99, Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013, Rn. 63. 36 EuGH, Urteil vom 19. September 2000, verb. Rs. C-177/99 u. C-181/99, Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013, Rn. 67. 37 Siehe dazu oben C. II. 2. c) bb). 38 EuGH, Urteil vom 19. September 2000, verb. Rs. C-177/99 u. C-181/99, Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013, Rn. 69.
III. Besonderheiten bei den Tatbestandsvoraussetzungen
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keits- wie in Auslegungsverfahren – auf den Grundsatz der Rechtssicherheit, nicht aber auf den Gedanken des Vertrauensschutzes berufen können.39 Abgesehen von diesen Ausnahmefällen im Rahmen verkappter Auslegungsverfahren prüft der Gerichtshof den guten Glauben an die Gültigkeit der Vorschrift überhaupt nicht. Der Grund dafür dürfte allerdings nicht allein darin zu suchen sein, dass im Ungültigkeitsverfahren nur das Unionsrecht betroffen ist.40 Zwar ist es zutreffend, dass der EuGH hier das Unionsrecht auslegen und für ungültig erklären kann, wie er es für richtig hält, ohne auf bisherige Regelungen der Rechtsverhältnisse durch nationales Recht Rücksicht zu nehmen.41 Ebenso trifft es wohl in der Regel zu, dass in diesen Fällen bereits deutlich erkennbar ist, dass eine Rechtsmaterie bereits vom Unionsrecht geregelt ist.42 Alles dies ändert jedoch nichts daran, dass auch in diesen rein unionsrechtlich gelagerten Fällen Platz für „Bösgläubigkeit“ ist: Die Mitgliedstaaten könnten von sich aus erkennen, dass die Verordnung, die sie vollziehen, gegen höherrangiges Unionsrecht verstößt. Wenn man von den Mitgliedstaaten verlangen kann, dass sie die Vereinbarkeit ihrer gesamten Rechtsordnung mit dem gesamten Unionsrecht stetig hinterfragen, dann dürfte – so könnte man konsequent argumentieren – es sie kaum überfordern, die Vereinbarkeit des sekundären mit dem primären Unionsrecht in Frage zu stellen. Diesen Schluss zieht der Gerichtshof natürlich nicht. Es erschiene auch geradezu absurd, wenn der Gerichtshof, der sich der Durchsetzung der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts verschrieben hat, nun hinterfragen würde, ob das Vertrauen Einzelner und insbesondere der Mitgliedstaaten in die Gültigkeit von sekundärem Unionsrecht berechtigt war. Mitgliedstaaten müssen zwar damit rechnen, dass ihr nationales Recht gegen Unionsrecht verstoßen kann, und derartige Kollisionen nach Kräften vermeiden (Art. 4 Abs. 3 AEUV). Auf die Gültigkeit des Unionsrechts selbst sollen sie hingegen vertrauen können, wenn sie es im Wege des mitgliedstaatlichen Vollzugs43 ausführen. Und selbst wenn die Mitgliedstaaten eine Unvereinbarkeit mit dem Primärrecht erkannt hätten, was sollten sie dagegen tun? Die Mitgliedstaaten können unionsrechtswidriges nationales Recht durch ihre Gesetzgeber abschaffen, für eine primärrechtskonforme Novelle des Sekundärrechts sind sie jedoch nicht zuständig. Einfach unangewendet lassen können sie das vermeintlich primärrechtswidrige Unionsrecht auch nicht. Und nach Ablauf der Klagefrist stünde ihnen nicht einmal mehr die Nichtigkeitsklage 39 Siehe auch die Ausführungen von Generalanwalt Cosmas, der ebenfalls zwischen Gutgläubigkeit und Vertrauensschutz differenziert, Generalanwalt Cosmas, Schlussanträge vom 23. März 2000, verb. Rs. C-177/99 u. C-181/99, Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013, Rn. 83. Siehe zum Ganzen auch Müller, S. 61 f. 40 So aber Weiß, EuR 1995, 377 (392). 41 Weiß, EuR 1995, 377 (392). 42 Weiß, EuR 1995, 377 (392). 43 Vgl. hierzu Streinz, Europarecht, Rn. 580 ff.
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F. Voraussetzungen und Rechtsfolgen im Ungültigkeitsverfahren
zur Verfügung. Eine Gutglaubensprüfung, wie sie der EuGH in den Auslegungsverfahren durchführt, würde daher im Rahmen eines Ungültigkeitsverfahrens ins Leere laufen. 3. Ausnahmecharakter der zeitlichen Beschränkung? Die eher geringen tatbestandlichen Voraussetzungen in Ungültigkeitsverfahren werden auch darin sichtbar, dass der Gerichtshof in fast keinem seiner Ungültigkeitsurteile von einem Ausnahmecharakter der zeitlichen Beschränkung spricht44 – anders als bei den Auslegungsurteilen, in denen er diese Formel geradezu mantraartig wiederholt.45 Die einzige Ausnahme ist hier das Urteil in der Rechtssache Pinna.46 Sie ergibt sich zwangsläufig aus dem Umstand, dass es sich hierbei um eine Konstellation wie in einem Auslegungsurteil handelte. Letztlich scheint der Gerichtshof sich also relativ frei bei der Rechtsfolgenanordnung seiner Ungültigerklärungen zu fühlen. Das dürfte vor allem darin begründet sein, dass der EuGH bei dieser Verfahrensart weniger Anlass sieht, disziplinierend tätig zu werden. Während zu viel Nachsicht mit den Mitgliedstaaten durch regelmäßige Beschränkungen der Urteilswirkungen im Auslegungsverfahren leicht dazu führen könnte, dass die Mitgliedstaaten das Unionsrecht nicht mehr ordnungsgemäß umsetzen, besteht diese Gefahr bei rein unionsrechtsinternen Konflikten nicht. Wenn der Unionsgesetzgeber gegen höherrangiges Unionsrecht verstößt, dann kann dies – so scheint der EuGH zu denken – nur ein unglückliches Versehen, aber keine böse Absicht sein. Schließlich ziehen die Unionsorgane doch alle an einem Strang. Wenn man so will, ist also der Umstand, dass der EuGH überhaupt eine Vorschrift des Unionsrechts für ungültig erklären muss, der gedachte Ausnahmefall, der Anlass gibt, über die zeitlichen Wirkungen des Urteils nachzudenken. Ansonsten orientiert sich der Gerichtshof offenbar weiterhin stark an der Regelung des Art. 264 Abs. 2 AEUV: Die Formulierung „falls er dies für notwendig hält“, scheint er weitgehend als „wann immer er dies für notwendig hält“ zu verstehen.47 Im Rahmen seiner Ungültigkeitsverfahren schafft sich der Gerichtshof somit einen weitestmöglichen Beurteilungsspielraum auf der Tatbestandsseite. Während er im Auslegungsverfahren hohe Hürden für eine zeitliche Beschränkung aufstellt, scheint dies in Ungültigkeitsverfahren eher eine Frage der 44
Isaac, C.D.E. 1987, 444 (464). EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne, Slg. 1976, 455, Rn. 71/73; zuletzt EuGH, Urteil vom 10. Januar 2006, Rs. C-402/03, Skov, Slg. 2006, I-199, Rn. 51; Urteil vom 18. Januar 2007, Rs. C-313/05, Maciej Brzezin´ski, Slg. 2007, I-513, Rn. 56; Urteil vom 6. März 2007, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835, Rn. 35. 46 EuGH, Urteil vom 15. Januar 1986, Rs. 41/84, Pinna, Slg. 1986, 1, Rn. 27. 47 Siehe auch Isaac, C.D.E. 1987, 444 (464), allerdings beschränkt auf die MaisFälle. 45
III. Besonderheiten bei den Tatbestandsvoraussetzungen
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Zweckmäßigkeit zu sein.48 Umso überraschender ist es, dass derartige Fälle so selten sind. 4. Zeitliche Begrenzung im Urteil selbst enthalten Im Verfahren International Chemical Corporation49 vertraten die Kommission, der Rat und die italienische Regierung die Auffassung, in Vorabentscheidungsurteilen über die Gültigkeit eines Gemeinschaftsrechtsaktes könne auf das Erfordernis verzichtet werden, dass eine zeitliche Begrenzung immer in dem ersten Urteil enthalten sein müsse, durch das eine Vorabentscheidungsfrage beantwortet wird.50 Der Gerichtshof hat sich zu dieser Frage bisher nicht ausdrücklich geäußert. Seine Ausführungen in International Chemical Corporation, dass die nationalen Gerichte auch nach einer Ungültigerklärung jederzeit zu einer erneuten Vorlage befugt seien, wenn noch „Unklarheiten über die Gründe, über den Umfang und eventuell über die Folgen der zuvor festgestellten Ungültigkeit bestehen sollten“,51 könnte allerdings so interpretiert werden, dass er diese Auffassung teilt.52 Es erscheint jedoch äußerst unwahrscheinlich, dass der Gerichtshof tatsächlich eine solche Aussage treffen wollte. Denn es ist nicht ersichtlich, wo der fundamentale Unterschied zwischen den beiden Verfahrensarten liegen soll, der eine abweichende Behandlung rechtfertigen würde. Die Ratio hinter dem hier in Rede stehenden Erfordernis trifft auch auf Ungültigkeitsentscheidungen zu: Es sollte unbedingt vermieden werden, dass die nationalen Gerichte nach einem ersten Urteil die vom Gerichtshof festgestellte Ungültigkeit mit Rückwirkung anwenden, nur um dann nach einem erneuten Urteil die Ungültigkeit nur noch ex nunc umzusetzen. Dadurch würden gleich gelagerte Sachverhalte ungleich behandelt, was dem Grundsatz der einheitlichen Anwendbarkeit des Unionsrechts widerspräche. Außerdem wäre die Rechtssicherheit beeinträchtigt:53 Ein Kläger, der nach der zeitlich unbegrenzten Ungültigerklärung einer Verordnung davon ausgehen darf, einen Erstattungsanspruch zu haben, müsste immer befürchten, aufgrund eines erneuten Urteils – diesmal mit zeitlicher Begrenzung – den Anspruch noch im laufenden Verfahren zu verlieren. 48
A.A. Isaac, C.D.E. 1987, 444 (468). EuGH, Urteil vom 13. Mai 1981, Rs. 66/80, International Chemical Corporation, Slg. 1981, 1191. 50 Generalanwalt Reischl, Schlussanträge vom 21. Januar 1981, Rs. 66/80, International Chemical Corporation, Slg. 1981, 1191 (1236). 51 EuGH, Urteil vom 13. Mai 1981, Rs. 66/80, International Chemical Corporation, Slg. 1981, 1191, Rn. 14. 52 Isaac, C.D.E. 1987, 444 (463). 53 Generalanwalt Reischl, Schlussanträge vom 21. Januar 1981, Rs. 66/80, International Chemical Corporation, Slg. 1981, 1191 (1236). 49
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F. Voraussetzungen und Rechtsfolgen im Ungültigkeitsverfahren
Daher gilt in Ungültigkeitsverfahren, genauso wie in Auslegungsverfahren, dass eine zeitliche Begrenzung nur in dem Urteil vorgenommen werden kann, durch das ein Rechtsakt (erstmals) für ungültig erklärt wird. Eine erneute Vorlagefrage kommt allenfalls dann infrage, wenn noch „Unklarheiten“ darüber bestehen, wie das Urteil zu verstehen ist, nicht aber, wenn nachträglich im Hinblick auf die Urteilswirkungen ein anderer Urteilsausspruch gewünscht ist. Die erneute Vorlagefrage kann nur klarifizieren, nicht modifizieren. 5. Befugnis zur zeitlichen Beschränkung von Amts wegen Gerade im Rahmen der Ungültigkeitsverfahren entbrannte eine heftige Diskussion, ob der Gerichtshof von sich aus eine Entscheidung zu den zeitlichen Wirkungen seiner Vorabentscheidungen treffen darf. Die französischen Gerichte, die ihm die Maisfälle vorgelegt hatten, empörten sich darüber, dass der Gerichtshof mit der zeitlichen Beschränkung eine Frage beantwortet habe, die ihm überhaupt nicht gestellt worden sei. Der Gerichtshof habe somit seine Befugnisse in dieser Verfahrensart überschritten; es sei Aufgabe der nationalen Gerichte, die Rechtsfolgen eines Vorabentscheidungsurteils für das Ausgangsverfahren zu bestimmen.54 Diese Kritik kann nicht überzeugen. Der Gerichtshof greift durch die Rechtsfolgenbestimmung nicht in die Befugnisse der nationalen Gerichte ein. Zugegebenermaßen gibt der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union dem EuGH – anders als in Art. 264 Abs. 2 AEUV – keine ausdrückliche Befugnis zur Modifikation der Urteilswirkungen in Ungültigkeits-Vorabentscheidungen. Allerdings enthält der Vertrag auch keine Regelung, die diese Befugnisse den nationalen Gerichten zuschriebe, und inhaltlich ist die Frage der zeitlichen Wirkung eng mit der jeweiligen materiellen Vorabentscheidungsfrage verbunden, stellt also gewissermaßen einen Annex zur Frage nach der Gültigkeit einer Verordnung dar.55 Das spricht bereits für eine Art „Annex-Kompetenz“ des EuGH. Auch aus einem weiteren Grund kann die Kompetenz für eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen nur beim Gerichtshof liegen und nicht bei den nationalen Gerichten:56 Dürfte jedes nationale Gericht für sich entscheiden, welche konkreten Rechtsfolgen eine Ungültigkeitsentscheidung hat, wäre die einheitliche Anwendung des Unionsrechts nicht mehr gewährleistet.57 Im Übrigen ist auch nicht ersichtlich, wieso ausgerechnet das Aussprechen einer zeitlichen Beschränkung in die Kom54 Tribunal d’Instance de Lille, SA Roquette Frères/Admin. des Douanes, Urteil vom 15. Juli 1981, Recueil Dalloz Sirey 1982, 9 f.; Conseil d’Etat, Beschluss vom 28. Juni 1985, ONIC/Société Maïseries de Beauce, Rev. Trim. Dr. Eur. 1986, 157 (158 f.). 55 Masclet, Rev. Trim. Dr. Eur. 1986, 161 (167). 56 Generalanwalt Darmon, Schlussanträge vom 14. November 1984, Rs. 112/83, Société des Produits de Maïs, Slg. 1985, 719 (728). 57 Simon, in: FS Pescatore, S. 673.
IV. Besonderheiten bei der Rechtsfolgenbestimmung
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petenzen der nationalen Gerichte eingreifen sollte. Die unausgesprochene Konsequenz aller zuvor ergangenen Ungültigkeitsurteile, dass der Rechtsakt als von Anfang an nicht wirksam zu behandeln war, schränkte die nationalen Gerichte nicht weniger in ihrer Urteilsfreiheit ein.58 Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass einigen Richtern in Frankreich erst im Rahmen der Maisfälle bewusst wurde, dass der EuGH im Vorabentscheidungsverfahren keine abstrakten Rechtsgutachten zur beliebigen weiteren Verwendung erstellt, sondern dass er eine Entscheidung zur „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung“ der Verträge (Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV) fällt.
IV. Besonderheiten bei der Rechtsfolgenbestimmung 1. Zeitpunkt für den Eintritt der Urteilswirkungen In der Mehrzahl der Ungültigkeitsurteile mit zeitlicher Beschränkung tenoriert der EuGH dergestalt, dass die Ungültigerklärung niemanden dazu berechtigt, Rechtsverhältnisse vor Erlass des Urteils in Frage zu stellen.59 Somit erlangt das Urteil eine ex-nunc-Wirkung entsprechend derjenigen in Auslegungsverfahren mit Urteilsbeschränkung.60 Der EuGH hat allerdings in einigen Urteilen eine abweichende Tenorierung gewählt, durch die er den Eintrittszeitpunkt der Urteilswirkungen in die Zukunft verlegte. Ausgangspunkt war jeweils die Feststellung, dass eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung vorlag und dass sich die Rechtswidrigkeit der betreffenden Verordnungen nicht aus den vorhandenen Regelungen ergab, sondern vielmehr aus ihrem Schweigen, weil bestimmte vergleichbare Gruppen nicht erfasst wurden.61 Es handelte sich also um Fälle gleichheitswidriger Begünstigungsausschlüsse. In zweien dieser Fälle erklärte der EuGH die Verordnung für 58
Simon, in: FS Pescatore, S. 669. EuGH, Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 145/79, Roquette Frères, Slg. 1980, 2917, Rn. 53 u. Ziff. 3 des Tenors; Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 109/79, Maïseries de Beauce, Slg. 1980, 2883, Rn. 46 u. Ziff. 2 des Tenors; Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 4/79, Société Coopérative „Providence Agricole de la Champagne“, Slg. 1980, 2823, Rn. 46 u. Ziff. 2 des Tenors; Urteil vom 27. Februar 1985, Rs. 112/83, Société des Produits de Maïs, Slg. 1985, 719, Rn. 20 u. Ziff. 2 des Tenors; Urteil vom 10. März 1992, verb. Rs. C-38/90 und C-151/90, Lomas, Slg. 1992, I-1781, Rn. 30 u. Ziff. 2 des Tenors. 60 Müller, S. 44. Derselbe verkennt allerdings, dass die Formulierung der zeitlichen Beschränkung ersichtlich an die entsprechende Beschränkung in Auslegungsvorabentscheidungen und gerade nicht in Nichtigkeitsentscheidungen angelehnt ist; siehe Müller, ebd. 61 EuGH, Urteil vom 19. Oktober 1977, verb. Rs. 117/76 u. 16/77, Ruckdeschel, Slg. 1977, 1753, Rn. 11 ff.; Urteil vom 19. Oktober 1977, verb. Rs. 124/76 u. 20/77, Moulins Pont-à-Mousson/ONIC, Slg. 1977, 1795, Rn. 24 ff.; Urteil vom 29. Juni 1988, Rs. C-300/86, van Landschoot, Slg. 1988, 3443, Rn. 23. 59
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F. Voraussetzungen und Rechtsfolgen im Ungültigkeitsverfahren
lediglich mit dem Gleichheitsgrundsatz unvereinbar, überließ es aber dem Gemeinschaftsgesetzgeber, die zur Beseitigung der Unvereinbarkeit erforderlichen Maßnahmen zu treffen.62 Zur Begründung dieser Tenorierung führte der Gerichtshof an, dass in diesen Fällen die bloße Ungültigerklärung die Ungleichbehandlung nicht beseitigen könne. Es sei Sache der zuständigen Organe, die Unvereinbarkeit zu beseitigen, da es im Übrigen mehrere Möglichkeiten gebe, die Gleichbehandlung der betroffenen Erzeugnisse wieder herzustellen.63 Auch wenn der Gerichtshof dies im Tenor nicht so ausspricht, hat die Unvereinbarerklärung faktisch die Wirkung einer Verschiebung des Zeitpunkts, zu dem die Urteilswirkungen eintreten, in die Zukunft.64 Sowohl im Hinblick auf die Tatbestandsvoraussetzungen (gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss) als auch im Hinblick auf die Rechtsfolgen (Unvereinbarerklärung und Neuregelungsauftrag an den Gesetzgeber) erinnern diese Urteile stark an die Rechtsprechungspraxis des deutschen BVerfG oder auch der italienischen Corte costituzionale.65 In zwei weiteren Fällen erzielte der Gerichtshof eine vergleichbare pro-futuroWirkung. Einmal erklärte er die umstrittene gemeinschaftsrechtliche Vorschrift zwar für ungültig und forderte den Gemeinschaftsgesetzgeber zur Schaffung einer rechtmäßigen Vorschrift auf, gleichzeitig ordnete er aber auch an, dass bis zu dieser Neuregelung die in der umstrittenen Bestimmung vorgesehene Befreiung weiter anzuwenden und auf die von der Diskriminierung betroffenen Wirtschaftsteilnehmer zu erstrecken sei.66 In diesem Fall begründete der EuGH die Verlegung des Zeitpunkts für den Eintritt der Urteilswirkungen sehr pauschal mit Rechtssicherheitserwägungen. In dem zweiten Fall erklärte der Gerichtshof eine Beihilfenentscheidung der Kommission für ungültig, setzte aber die Urteilswirkungen bis zum Erlass einer neuen Entscheidung aus. Zur Begründung führte er aus, dass die aufgrund der Entscheidung gezahlten Beihilfen sehr zahlreich gewesen seien. Außerdem verfüge die Kommission über die ausschließliche Zuständigkeit für die Beurteilung staatlicher Beihilfen mit dem Gemeinsamen Markt.67 Letztlich ging es in beiden Fällen darum, einerseits nicht in die Kompetenzen der zuständigen Organe einzugreifen und andererseits nicht den an und
62 EuGH, Urteil vom 19. Oktober 1977, verb. Rs. 117/76 u. 16/77, Ruckdeschel, Slg. 1977, 1753, Rn. 13 u. Tenor; Urteil vom 19. Oktober 1977, verb. Rs. 124/76 u. 20/77, Moulins Pont-à-Mousson/ONIC, Slg. 1977, 1795, Rn. 27/29 u. Tenor. 63 EuGH, Urteil vom 19. Oktober 1977, verb. Rs. 117/76 u. 16/77, Ruckdeschel, Slg. 1977, 1753, Rn. 13; Urteil vom 19. Oktober 1977, verb. Rs. 124/76 u. 20/77, Moulins Pont-à-Mousson/ONIC, Slg. 1977, 1795, Rn. 27/29. 64 Isaac, C.D.E. 1987, 444 (453). 65 Isaac, C.D.E. 1987, 444 (453). 66 EuGH, Urteil vom 29. Juni 1988, Rs. C-300/86, van Landschoot, Slg. 1988, 3443, Rn. 24 u. Ziff. 2, 3 des Tenors. 67 EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2008, Rs. C-333/07, Régie Networks, Slg. 2008, I-10807, Rn. 123 ff.
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für sich unbeteiligten und unbescholtenen Begünstigten durch Rückforderungen einen Schaden zuzufügen. Der EuGH nutzt also den Weg der Rechtsfolgenbestimmung über die analoge Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV für eine im Vergleich zu den Auslegungsurteilen deutlich kreativere und freiere Festlegung des Eintritts der Urteilswirkungen. Zwar ist auch hier der Regelfall die ex-nunc-Wirkung ab dem Datum der Verkündung des Ungültigkeitsurteils, der EuGH sieht jedoch die Möglichkeit für eine pro-futuro-Wirkung und hat von dieser auch schon mehrfach Gebrauch gemacht. 2. Rückausnahme Die so genannte Rückausnahme für diejenigen, die sich bereits um die Verfolgung ihrer Rechte gekümmert haben, welche einen zentralen Teil der Rechtsprechung des EuGH zu den zeitlichen Urteilswirkungen seit Defrenne II darstellt, hat im Rahmen der Ungültigkeitsentscheidung eine bewegte Geschichte durchlebt: Die ersten Ungültigkeitsentscheidungen mit zeitlicher Beschränkung in den Maisfällen enthielten keine derartige Rückausnahme.68 Der Gerichtshof sprach nicht einmal die Möglichkeit einer solchen an, obwohl er erst wenige Jahre zuvor in Defrenne II von sich aus davon Gebrauch gemacht hatte und die Vergleichbarkeit der Interessenlagen für die Parteien des Ausgangsverfahrens auf der Hand lag.69 Dies hatte zur Folge, dass die Klägerinnen der Ausgangsverfahren, obwohl die Vorlagefrage vor dem EuGH zu ihren Gunsten entschieden worden war, am Ende mit leeren Händen dastanden, da das vorlegende Gericht die Ungültigkeit in ihrem Fall unberücksichtigt lassen musste. Der Erfolg war für sie ein rein „platonischer“.70 Über die Gründe für diese abweichende Behandlung kann nur spekuliert werden. Wahrscheinlich war der Gerichtshof ehrlicherweise der Auffassung, durch jegliche Rückerstattung, und sei sie auch nur für die Rechtsmittelführer, die unerwünschte Wettbewerbsverfälschung noch weiter zu vertiefen. Außerdem stand hier nicht das verdiente Entgelt für die Arbeit einer Stewardess auf dem Spiel, sondern „nur“ die Gewinnmarge großer Industrieunternehmen, bei denen klar war, dass sie noch lange Zeit auf den betroffenen Märkten tätig sein und von der 68 EuGH, Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 145/79, Roquette Frères, Slg. 1980, 2917, Rn. 53 u. Ziff. 3 des Tenors; Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 109/79, Maïseries de Beauce, Slg. 1980, 2883, Rn. 46 u. Ziff. 2 des Tenors; Urteil vom 15. Oktober 1980, Rs. 4/79, Société Coopérative „Providence Agricole de la Champagne“, Slg. 1980, 2823, Rn. 46 u. Ziff. 2 des Tenors. Siehe auch Müller, S. 46 ff. 69 Vgl. Generalanwalt Lenz, Schlussanträge vom 28. Februar 1985, Rs. 33/84, Fragd, Slg. 1985, 1605 (1611). 70 Boulouis, Recueil Dalloz Sirey 1982, 9 (11); Isaac, R.D.E. 1987, 444 (456); siehe auch Masclet, Rev. Trim. Dr. Eur. 1986, 161 (163).
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Neuregelung profitieren würden.71 Vor diesem Hintergrund erschien es dem EuGH offensichtlich verschmerzlich, diese Unternehmen für einen begrenzten Zeitraum ihrer Erstattungsbeiträge zu berauben. Nichtsdestotrotz wurde dieser Aspekt der Urteile in der Literatur heftig kritisiert.72 Mehr noch: Die französischen Gerichte verweigerten rundheraus die Befolgung der Vorabentscheidung73 – ein bisher einmaliger Vorgang, den das vorlegende Tribunal d’Instance Lille damit begründete, dass sich die Kompetenz des EuGH in der Beantwortung der Vorlagefragen erschöpfe und er daher nicht zu einem ungefragten Rückgriff auf Art. 174 Abs. 2 EWGV (Art. 264 Abs. 2 AEUV) befugt gewesen sei.74 Die Argumentation des Tribunal d’Instance lässt bereits erkennen, dass es bei dem „Krieg der Gerichte“,75 der aufgrund der Mais-Entscheidungen des EuGH entbrannte, vor allem darum ging, die Kompetenzen der (eigenen) nationalen Richter vor dem vermeintlichen unersättlichen Zugriff der stärker werdenden europäischen Gerichtsbarkeit zu retten. Die dahinterstehenden Ängste veranschaulicht die empörte Äußerung eines französischen Autors. Dieser fragte sich, ob die nationalen Gerichte dabei zusehen sollten, wie sie vom EuGH zu einfachen Registraturen für die Streitsachen degradiert werden, über die dann der Gerichtshof in Luxemburg inhaltlich entscheiden darf.76 Diese Kritik ist am sonst eher unbeirrbaren Gerichtshof nicht spurlos vorbeigegangen. In einer späteren Entscheidung, in der er sich eigentlich nur zur Reichweite des Urteils Roquette Frères äußern sollte, wies er in einem ungewöhnlichen obiter dictum77 darauf hin, dass Art. 174 Abs. 2 EWGV ihm einen Beurteilungsspielraum einräume, um in jedem Einzelfall konkret diejenigen Wirkungen zu bezeichnen, die als fortgeltend zu betrachten seien. Dieser Beurteilungsspielraum soll insbesondere die Frage umfassen, ob gegebenenfalls der Kläger des Ausgangsverfahrens und darüber hinaus andere Marktteilnehmer in einer vergleichbaren prozessualen Situation von der Begrenzung der zeitlichen Wirkung auszu-
71
Vgl. Brown, C.M.L.R. 18 (1981), 509 (518). Errera, in: Schermers/Timmermans/Kellermann/Watson (Hrsg.), S. 99; Alexander, Y.E.L. 8 (1988), 11 (25); Labayle, Rev. Trim. Dr. Eur. 1982, 484 (488). 73 Wobei Boulouis anmerkt, dass es sich gerade um keine Rebellion oder Ungehorsam handele, wenn nationale Gerichte von der Rechtsprechung des Gerichtshofs abwichen. Da es sich um ein Kooperationsverhältnis zwischen vorlegendem Gericht und EuGH handele, fehle es hierzu bereits an einer Gehorsamspflicht der nationalen Gerichte: Boulouis, Recueil Dalloz Sirey 1982, 9 (12). 74 Tribunal d’instance de Lille, Urteil vom 15. Juli 1981, Recueil Dalloz Sirey 1982, 9 (10). Vgl. EuGH, Urteil vom 27. Februar 1985, Rs. 112/83, Sociéte des produits de maïs, Slg. 1985, 719, Rn. 4; siehe hierzu auch Everling, in: FS Börner, S. 63 f. 75 Simon, in: FS Pescatore, S. 651. 76 Boulouis, Recueil Dalloz Sirey 1982, 9 (13). 77 Everling, in: FS Börner, S. 65; Müller, S. 46. 72
V. Zusammenfassung
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nehmen ist bzw. sind.78 Mit diesen Ausführungen versucht der Gerichtshof wohl nachträglich zu signalisieren, dass er die Problematik der Behandlung der Anlassfälle nicht übersehen hat, dass er sie in den Maisfällen jedoch nicht für hinreichend schutzbedürftig hielt, in zukünftigen Fällen aber jederzeit anders entscheiden könnte. In der Folge hat der EuGH dann auch tatsächlich anders entschieden und die Anlassfälle, freilich unter Verweis auf seinen nach wie vor bestehenden Beurteilungsspielraum, von der zeitlichen Begrenzung ausgenommen79 – damit verebbte dann auch das ausgesprochene Interesse der französischsprachigen Literatur an der zeitlichen Wirkung der Vorabentscheidungsurteile. Die regelmäßige Rückausnahme zugunsten bestimmter Rechtsschutzsuchender im Rahmen der zeitlichen Beschränkung von Ungültigkeitsentscheidungen kann inzwischen als gefestigte Rechtsprechung gelten.80 Dementsprechend behandelt der Gerichtshof inzwischen Ungültigkeits- und Auslegungsurteile im Hinblick auf die Rückausnahme für Anlassfälle faktisch gleich. Das Hintertürchen, gegebenenfalls eine kompromisslose zeitliche Begrenzung ohne Ausnahme für Anlassfälle und Quasi-Anlassfälle vorzunehmen, behält sich der Gerichtshof jedoch bisher nur für Ungültigkeitsentscheidungen vor.
V. Zusammenfassung Die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen in Ungültigkeitsvorabentscheidungsverfahren ist derjenigen in Auslegungsverfahren sehr ähnlich, jedoch streng von dieser zu unterscheiden. Bereits die dogmatische Herleitung unterscheidet sich: Während der Gerichtshof in Auslegungsverfahren die zeitliche Beschränkung mit dem allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit begründet, greift er in Ungültigkeitsverfahren auf eine analoge Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV oder auf die notwendige Kohärenz mit der Nichtigkeitsklage zurück. Die Tatbestandsvoraussetzungen sind deutlich weniger scharf konturiert als im Rahmen der Auslegungsverfahren. Die Gefahr schwerwiegender Folgen scheint nicht bestehen zu müssen. Letztlich nimmt der Gerichtshof hier nur eine Abwägung aller widerstreitenden Interessen vor, wobei die Urteilsfolgen im Vorder78 EuGH, Urteil vom 27. Februar 1985, Rs. 112/83, Sociéte des produits de maïs, Slg. 1985, 719, Rn. 18; siehe auch EuGH, Urteil vom 22. Mai 1985, Rs. 33/84, Fragd, Slg. 1985, 1605, Rn. 18; kritisch zur dogmatischen Verankerung der Rückausnahme in der Analogie zu Art. 264 Abs. 2 AEUV Müller, S. 58 f. 79 EuGH, Urteil vom 15. Januar 1986, Rs. 41/84, Pinna, Slg. 1986, 1, Rn. 30 u. Ziff. 2 des Tenors; Urteil vom 10. März 1992, verb. Rs. C-38/90 und C-151/90, Lomas, Slg. 1992, I-1781, Rn. 29 u. Ziff. 2 des Tenors; vgl. auch EuGH, Urteil vom 8. Februar 1996, Rs. C-212/94, FMC, Slg. 1996, I-389, Rn. 59 f. 80 Müller, S. 47.
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F. Voraussetzungen und Rechtsfolgen im Ungültigkeitsverfahren
grund stehen. Der gute Glaube der betroffenen Mitgliedstaaten spielt nur eine untergeordnete Rolle. Dies erscheint insofern folgerichtig, als in diesem Rahmen nicht nationales, sondern Unionsrecht auf dem Prüfstand steht. In jüngeren Entscheidungen zeichnet sich eine Annäherung an die Voraussetzungen in den Auslegungsverfahren ab; es bleibt abzuwarten, ob der Gerichtshof auf lange Sicht die bisher streng getrennten Verfahren zu einer einheitlichen Dogmatik zusammenfassen wird. Auf der Rechtsfolgenseite gestaltet der EuGH die zeitliche Beschränkung grundsätzlich so wie auch im Auslegungsverfahren. Im Regelfall geht der Gerichtshof somit von einer ex-tunc-Wirkung seiner Urteile aus. Ein abweichendes Ergebnis erzielt er auch in diesem Verfahren durch die Anordnung einer Wirkungsbeschränkung mit Rückausnahme jeweils bis zum Tag der Urteilsverkündung. Allerdings hat er hier schon von seinem Ermessen bezüglich der Rückausnahme Gebrauch gemacht und in Einzelfällen gänzlich auf diese verzichtet. Außerdem hat der EuGH in einigen Gültigkeitsverfahren, bei denen eine gleichheitswidrige Begünstigung vorlag, den Zeitpunkt des Eintritts der Urteilswirkungen in die Zukunft verlegt – teilweise in Form einer Unvereinbarerklärung – und den zuständigen Organen die Neuregelung der Rechtslage aufgegeben.
G. Rechtsökonomische Aspekte I. Ökonomische Analyse des Rechts 1. Allgemeines Der EuGH begründet seine Rechtsprechung zur zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen mit dem Gedanken der Rechtssicherheit, so dass letztlich eine Abwägung zwischen dem Vertrauensschutz und der materiellen Gerechtigkeit stattfindet. Gerade diese Orientierung der Jurisprudenz an schwer greif- oder quantifizierbaren Konzepten wie „Gerechtigkeit“ wird jedoch von den Vertretern der ökonomischen Analyse des Rechts kritisiert: Im Gegensatz zu anderen Wissenschaften befinde sich die Rechtswissenschaft in einem „methodischen Vakuum“, in dem es keine richtigen oder falschen Ergebnisse gebe, sondern das gewünschte Ergebnis nahezu nach Belieben unter Berufung auf dieselben rechtlichen Prinzipien in der einen oder der anderen Richtung begründet werden könne.1 Diesem Problem will die ökonomische Analyse des Rechts begegnen, indem sie Rechtsprozesse vom Gesichtspunkt der Ökonomik betrachtet: Was sind die wirtschaftlichen Folgen eines neuen Gesetzes? Welche Auswirkungen hat eine Gerichtsentscheidung über den Einzelfall hinaus? Führt sie zu einer Wohlstandsvermehrung, oder setzt sie Anreize zu einer ungünstigen Allokation von Mitteln? Im Rahmen dieser Fragen spielt insbesondere der Gedanke der Effizienz eine große Rolle; es soll verhindert werden, dass die ohnehin schon knappen Ressourcen durch ungünstige Rechtsregelungen verschwendet werden.2 Dabei eignet sich die ökonomische Analyse des Rechts keineswegs nur zur Bewertung güterwirtschaftlicher Vorgänge. Der Begriff der Ökonomik ist nach heutigem Verständnis weiter gefasst: Überall dort, wo mit knappen Ressourcen jeglicher Art (dies können auch immaterielle Ressourcen sein) „gewirtschaftet“ werden muss und dementsprechend Wahlentscheidungen über die Verwendung dieser Ressourcen getroffen werden müssen, können ökonomische Methoden zur Anwendung kommen.3 So kann also nicht nur das Wirtschaftsrecht, sondern auch
1
Adams, S. 12. Salje, Rechtstheorie 15 (1984), 277 (285); vgl. Posner, S. 10 ff.; Janson, S. 88 ff.; Schäfer/Ott, S. 2; Thiele, WISU 1994, 993 (996); siehe auch Ch. Kirchner, in: Assmann/Ch. Kirchner/Schanze (Hrsg.), S. 65; kritisch ders., S. 25 ff. 3 Ch. Kirchner, S. 13, S. 30; siehe auch Posner, S. 3. 2
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G. Rechtsökonomische Aspekte
die Verfassungsgebung eines Staates (Stichwort: „public choices“) einer ökonomischen Analyse unterzogen werden.4 Ausgangspunkt der Anwendung ökonomischer Instrumente außerhalb ihres klassischen Anwendungsbereichs in der Güterwirtschaft ist das so genannte „ökonomische Paradigma“: Dabei wird von der bereits erwähnten Ressourcenknappheit ausgegangen, sowie davon, dass die betroffenen Individuen sich von ihren eigenen Interessen („Präferenzen“) leiten lassen. Aus dem Zusammentreffen von Präferenzen und knappen Ressourcen ergibt sich schließlich die Erforderlichkeit von Wahlentscheidungen. Hierbei ist zu unterstellen, dass sich die Einzelnen von rationalen Gesichtspunkten leiten lassen.5 Um es am Beispiel des Falls Meilicke darzustellen: Geld ist das Paradebeispiel einer knappen Ressource. Grundsätzlich haben Individuen die Präferenz, Geld für eigene (zumindest unmittelbarere) Zwecke zu investieren, anstatt sie dem Staat als Steuern zu zahlen. Dadurch liegt ein Einspruchsverfahren gegen einen Steuerbescheid nahe. Da jedoch auch ein solches Verfahren Geld kostet (je nach der nationalen Zuordnung der Verfahrenskosten in jedem Fall oder zumindest im Fall des Unterliegens), muss der Bürger eine Wahlentscheidung treffen, wie er mit seinem verbleibenden Geld umgeht: Will er es einsetzen, um die Chance zu erhalten, die verlorenen Steuerbeträge zurückzugewinnen? Oder gibt er die gezahlten Steuern als verloren auf und investiert sein restliches Geld lieber in eine sicherere Anlage? In vergleichbarer Weise werden die Mitgliedstaaten vor entsprechende Wahlentscheidungen gestellt: Lohnt es sich finanziell, erst einmal eine riskante Steuervorschrift einzuführen oder sie zumindest beizubehalten und das Verdikt des EuGH abzuwarten? Oder übersteigen die Folgekosten (Rückzahlungen, zusätzlicher Verwaltungsaufwand für die Bearbeitung der Rückforderungsansprüche etc.) die Einnahmen (insbesondere die unumkehrbaren Steuereinnahmen aus bereits bestandskräftigen Bescheiden)? Auch private Unternehmen müssten sich in ähnlicher Weise die Frage stellen, ob es wirtschaftlicher ist, ein geschlechtsdiskriminierendes Entgeltschema möglichst lange beizubehalten oder es gleich so unionsrechtskonform wie möglich zu gestalten. Im Rahmen der rechtsökonomischen Überlegungen sind außerdem zwei verschiedene Perspektiven zu berücksichtigen: Zum einen sind die ex-ante-Wirkungen des Rechts zu beachten. Dabei geht es um die Frage, wie das zukünftige Verhalten der Akteure durch eine rechtliche Regelung gesteuert wird. Zum anderen sind auch die ex-post-Wirkungen zu beachten: Wie werden die Ressourcen verteilt, wenn die Rechtsregelung zur Anwendung kommt?6 4 Ch. Kirchner, S. 23; Deckert, S. 72; Thiele, WISU 1994, 993 (996); ausführlich Weigel, S. 94 ff.; van Aaken, in: FS Schäfer, S. 651 ff.; siehe zur ökonomischen Analyse der US-amerikanischen Verfassung ausführlich Posner, Kap. VII, S. 677 ff. 5 Ch. Kirchner, S. 12 ff. 6 Vgl. Eger, in: FS Nutzinger, S. 181 ff.
I. Ökonomische Analyse des Rechts
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Von den Vertretern der ökonomischen Analyse des Rechts wird zugestanden, dass die ökonomischen nur einige der Aspekte sind, unter denen rechtliche Probleme zu erörtern und in der Rechtsanwendung zu lösen sind.7 Somit können grundsätzlich auch außerökonomische Aspekte wie die Rechtssicherheit (wobei selbst diese nicht gänzlich außerhalb der Ökonomie liegt, da sie Investitionsentscheidungen erleichtern kann8) ausschlaggebend für eine gerichtliche Entscheidung sein, soweit sich nur plausibel und nachvollziehbar begründen lässt, warum dieser Aspekt schwerer wiegt als die anderen Gesichtspunkte. 2. Rechtsfolgenanalyse durch Gerichte Die Veranschaulichung anhand des Meilicke-Verfahrens hat einen Umstand bereits als gegeben vorausgesetzt, der hier noch einmal näher dargelegt werden soll: Dass nämlich rechtsökonomische Aspekte nicht nur bei der Gesetzgebung, sondern auch bei der Anwendung des Rechts durch Gerichte (und Behörden) zu beachten sind.9 Denn gerade obergerichtliche Entscheidungen beschränken sich nicht nur darauf, die streitgegenständlichen knappen Ressourcen unter den Parteien des Rechtsstreits aufzuteilen, sondern sie präzisieren die interpretierte Norm für zukünftige Verfahren und zeichnen damit die Ressourcenverteilung in vergleichbaren Verfahren vor. Obergerichtliche Entscheidungen haben damit einen quasi-legislatorischen Charakter; dementsprechend eignen sie sich gleichermaßen zu einer ökonomischen Betrachtung wie gesetzgeberische Entscheidungen.10 Voraussetzung für eine selbständige ökonomische Wirkung eines Urteils ist allerdings ein entsprechender Spielraum der Richter: Wo ein klarer Gesetzeswortlaut eine Entscheidung bereits vorgibt, sind die ökonomischen Folgen bereits der Rechtsetzung zuzuschreiben. Wenn hingegen den Richtern ein weiter Auslegungsspielraum verbleibt oder sie gar echte Rechtsfortbildung betreiben, werden die entscheidenden Weichen erst durch das Urteil selbst gestellt, und entsprechend groß ist der Einfluss der Richter auf das ökonomische Gefüge.11 Es ist in dieser Arbeit bereits verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass den Vorabentscheidungen des EuGH eine faktische erga-omnes-Wirkung, vergleichbar mit der Bindungswirkung von Entscheidungen nationaler Obergerichte, zu7 Ch. Kirchner, in: Assmann/Ch. Kirchner/Schanze (Hrsg.), S. 67; Posner, S. 27; Schäfer/Ott, S. 6. 8 Backhaus, in: Marciano/Josselin (Hrsg.), S. 247. 9 Deckert, S. 74; Kötz/Schäfer, S. VII f. (Vorwort); Janson, S. 199 f.; vgl. auch Weigel, S. 165. Kritisch hingegen Eidenmüller, S. 414 ff. In den USA, dem Geburtsland der ökonomischen Analyse des Rechts, dürften die Gerichte aufgrund der überragenden Bedeutung des case law sogar der Hauptadressat dieser Strömung sein, Eidenmüller, S. 410. 10 Ch. Kirchner, S. 19; vgl. auch Janson, S. 200. 11 Eidenmüller, S. 397 ff.; vgl. auch Ch. Kirchner, S. 30. Zur Legitimation der Folgenorientierung durch gesetzliche Lücken siehe Deckert, S. 225.
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G. Rechtsökonomische Aspekte
kommt.12 Die Vorabentscheidungen des EuGH, die theoretisch die Güterverteilung unter einer halben Milliarde13 „Rechtsunterworfenen“ vorgeben können, sind daher wie geschaffen für eine rechtsökonomische Betrachtung. Umso überraschender erscheint, dass es bisher kaum nennenswerte Untersuchungen zu diesem Thema gegeben hat.14 Diese Lücke wird auch die vorliegende Arbeit nicht ansatzweise schließen können. Nichtsdestotrotz sollen im Folgenden einige besonders auffällige ökonomische Aspekte der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur zeitlichen Beschränkung der Wirkung seiner Vorabentscheidungsurteile aufgegriffen werden.
II. Ökonomische Betrachtung der ex-tunc-Wirkung von Vorabentscheidungen 1. Ökonomische Folgen des Erstattungsanspruchs und sonstiger Zahlungsansprüche Aufgrund der ex-tunc-Wirkung haben diejenigen, die unionsrechtswidrig erhobene Abgaben gezahlt haben, einen unionsrechtlichen Erstattungsanspruch;15 in ähnlicher Weise haben diejenigen, die unmittelbar aus dem Unionsrecht berechtigt werden, einen bisher noch nicht erfüllten Anspruch auf Zahlung von etwa Arbeitslohn16 oder Sozialleistungen.17 Mit der Erfüllung dieser Ansprüche ist der unionsrechtlich gewünschte Zustand hergestellt – allerdings nicht unbedingt der ökonomisch gewünschte. Denn die Erhebung der Abgabe kann rein fiskalisch betrachtet durchaus berechtigt gewesen sein, nur wurde sie unglücklicherweise mit den falschen, nämlich mit unionsrechtswidrigen, Mitteln versucht. Die Rückzahlung stellt sich dann eher als ein unfreiwilliges Geschenk an den Steuerzahler dar. Insofern stellt sich die Frage, ob die ex-tunc-Wirkung überhaupt eine ökonomisch sinnvolle Allokation bewirkt. Diese Frage lässt sich nicht allgemein beantworten, vielmehr hängt die Antwort stark von den Umständen des Einzelfalls ab. Im Rahmen einer solchen ökonomischen ex-post-Analyse sind verschiedene Aspekte zu berücksichtigen: Zum einen bringt die Rückabwicklung von Abgabenzahlungen Transaktionskosten mit 12
Siehe oben D. VII. 2. d). Vgl. Eurostat, Pressemitteilung 179/2008 vom 15. Dezember 2008. 14 Zu nennen sind hier insbesondere die Arbeiten von Vording/Lubbers zur Steuerrechtsprechung des EuGH, siehe Vording/Lubbers, British Tax Review 2006, 91 ff., dies., Budgetary Impact, passim. 15 Siehe dazu näher oben E. I. 2. 16 Vgl. EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 40; Urteil vom 17. Mai 1990, Rs. C-262/88, Barber, Slg. 1990, I-1889, Rn. 39. 17 Vgl. EuGH, Urteil vom 4. Mai 1999, Rs. C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685, Rn. 105. 13
II. Ökonomische Betrachtung der ex-tunc-Wirkung
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sich – letztlich wird Geld mit hohem Verwaltungsaufwand hin- und hergeschoben, ohne einem einzigen sinnvollen Verwendungszweck zugeführt worden zu sein. Gerade bei eher geringen Einzelbeträgen wäre daher zu erwägen, ob es gesamtwirtschaftlich nicht sinnvoller wäre, das Geld einfach beim Staat zu belassen. Dann könnte dieser mit der zu Unrecht eingenommenen Gesamtsumme wenigstens sinnvolle Aufgaben erledigen, die allen zugute kommen, anstatt in einem aufwendigen Verfahren diese Summe in Form vieler Teilbeträge an die Belasteten zurückzuzahlen, mit denen sich aufgrund ihrer geringen Höhe (isoliert betrachtet) kaum sinnvolle Investitionen bewerkstelligen lassen. Andererseits besagt die Theorie vom abnehmenden Grenznutzen des Einkommens, dass ein Betrag x, auf viele Individuen verteilt, diesen mehr Nutzen bringen kann, als wenn eine einzige Person – oder eben der Staat – diesen Betrag zugesprochen bekommt.18 In unserem Beispiel bedeutet die Anwendung dieser Theorie, dass zum Beispiel ein Betrag von je 1.000 Euro sich auf den Lebensstandard von 100.000 Rentnern mit einer niedrigen Rente erheblich auswirken kann, während die entsprechende Summe von 100 Mio. Euro in einem Staatshaushalt nur ein Tropfen auf den heißen Stein wäre. Betrachten wir zum Vergleich die Fälle ungleichen Entgelts, wie zum Beispiel in der Rechtssache Defrenne II.19 Hier ließe sich argumentieren, dass die Auszahlung der Differenz zwischen den Entgelten für männliche und weibliche Arbeitnehmer an die benachteiligten Frauen nicht zu Lasten der Arbeitgeber ausfallen könne, da diese nur einen nicht gerechtfertigten Überschuss herauszugeben hätten. Denn das Entgelt für männliche Arbeitnehmer stellt – vereinfacht gesprochen – vermutlich das wirtschaftlich angemessene Entgelt für die jeweilige Tätigkeit dar.20 Dass die Arbeitgeber ihre bei weiblichen Arbeitnehmern eingesparten Lohnbeträge auf das Entgelt der Männer aufgestockt hätten, erscheint hingegen unwahrscheinlich – warum sollten wirtschaftlich denkende Arbeitgeber freiwillig zu viel Entgelt bezahlen?21 Bei den Frauen hingegen konnten sich die 18
Janson, S. 44; Schäfer/Ott, S. 72 ff. EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455. 20 Nach einer anderen Ansicht liegt hingegen eine ökonomisch gerechtfertigte Ungleichbehandlung vor, da die Arbeitgeber den Frauen nur deshalb einen niedrigeren Lohn gezahlt haben, um damit statistische Belastungen durch weibliche Arbeitnehmer (zum Beispiel Entgeltfortzahlung während eines nach nationalem Recht vorgesehen Mutterschutzes) auszugleichen. Siehe dazu Adams, S. 114 ff. (zum deutschen Diskriminierungsverbot). Dadurch wird allerdings der Sinn des Art. 157 AEUV generell in Frage gestellt. Diese Vorschrift würde dann in jedem Fall eine wirtschaftliche Belastung des Unternehmens darstellen, nicht nur die Nachzahlungen für vergangene Zeiträume aufgrund der Entscheidung Defrenne II. Letztendlich wird es sehr von der jeweiligen nationalen Rechtsordnung abhängen, inwieweit die Einstellung einer Frau tatsächlich derartige statistische Belastungen für den Arbeitgeber mit sich bringt. 21 Zugegebenermaßen lässt sich anders herum argumentieren, dass sich auf dem Markt ein über dem wirtschaftlich angemessenen Preis liegendes Entgelt für männliche Flugbegleiter gerade deshalb entwickeln konnte, weil allgemein bekannt war, dass die 19
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G. Rechtsökonomische Aspekte
Arbeitgeber die zu jener Zeit noch vorherrschende allgemeine Diskriminierungslage zugunsten machen und ihnen ein zu niedriges Gehalt anbieten. Damit ist allerdings noch nicht gesagt, dass dieser Überschuss auch wirtschaftlich im Unternehmen verblieben ist. Er kann sich zum Beispiel in niedrigeren Flugpreisen niedergeschlagen haben, so dass letztlich alle Fluggäste von der Benachteiligung der Stewardessen profitiert haben. Oder die Fluggesellschaften könnten sich entschieden haben, von dem eingesparten Geld zusätzliche Flugbegleiter einzustellen und die Anzahl der Stewards und Stewardessen pro Flugzeug zu erhöhen, um einen besseren Service bieten zu können. Sofern tatsächlich ein ungerechtfertigter Überschuss bei der Fluggesellschaft verblieben ist, scheint die Entgeltnachzahlung unproblematisch. Hat die Fluggesellschaft hingegen im Vertrauen auf die nationale Rechtslage die eingesparten Beträge anderweitig investiert, dann erscheinen die Nachzahlungspflichten als eine zusätzliche Belastung des Unternehmens (zumindest, sofern die Investitionen nicht ihrerseits zusätzliche Gewinne generiert haben). 2. Wohlfahrtssteigerung als immanentes Ziel der Europäischen Union Diese ohnehin schon vielschichtige Interessenlage wird durch die Einwirkung des Unionsrechts noch um einen weiteren wichtigen Aspekt angereichert: Das Ziel der ökonomischen Analyse des Rechts, die Erzielung einer effizienten Allokation, ist den Gründungsverträgen der Europäischen Gemeinschaft bzw. Union keineswegs fremd. Im Gegenteil: Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl sollte eine bessere, effizientere Aufstellung der Montanindustrie der Mitgliedstaaten erzielen.22 Auch die aktuell gültigen Verträge (insbesondere der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) verfolgen das Ziel, durch den Abbau von Handelshemmnissen und die Stärkung des unionsweiten Wettbewerbs ineffiziente Produktionen zu beseitigen und so die Gesamteffizienz innerhalb der Union zu steigern. Während nationale protektionistische Maßnahmen, z. B. Einfuhrzölle oder verbotene Beihilfen, dazu führen, dass der Wettbewerb eingeschränkt wird und dass damit auch ineffiziente, verschwenderische Produktionsstandorte weiter im Markt verbleiben können, sorgt der freie Wettbewerb dafür, dass derartige Teilnehmer vom Markt verschwinden und die so frei werdenden Ressourcen an anderer Stelle effizienter eingesetzt werden können.23
Fluggesellschaften bei ihrer weiblichen Belegschaft Geld einsparen konnten und somit die Kasse für ein höheres Entgelt der männlichen Arbeitnehmer gefüllt war. Somit hatten die angehenden Stewards das nötige Wissen, um ihren Marktpreis in die Höhe zu treiben; der Marktpreis erhöhte sich in diesem Modell also gerade wegen der schlechteren Bezahlung der weiblichen Arbeitnehmer. 22 Vgl. Streinz, Europarecht, Rn. 17. 23 Hoffmann, in: Thränert (Hrsg.), S. 29.
III. Ökonomische Betrachtung der zeitlichen Beschränkung
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Die Prinzipien der Wohlfahrtssteigerung und Effizienz, typische Ziele der ökonomischen Analyse des Rechts,24 sind daher den EU-Verträgen immanent. Sofern sich nicht in Bezug auf einzelne Vorschriften herausstellen sollte, dass diese zu einer Wohlfahrtsminderung oder Ressourcenverschwendung führen und dementsprechend wohl anderen, als höherrangig bewerteten Zielen (zum Beispiel Schutz der Menschenrechte etc.) dienen sollen, kann zumindest als Arbeitshypothese davon ausgegangen werden, dass eine konsequente Durchsetzung des Unionsrechts ökonomisch sinnvoll ist und zu einer Wohlfahrtssteigerung führt. Wenn der EuGH in seinen Vorabentscheidungsurteilen (mit Rückwirkung) die konsequente und einheitliche Anwendung des Unionsrechts sicherstellen will, so verfolgt er damit automatisch eine Verbesserung der ökonomischen Situation in der Union, selbst wenn er dieses Ziel in der Regel in seinen Begründungen nicht ausdrücklich zur Sprache bringt. Damit überlagern sich – zumindest im Rahmen von Auslegungsurteilen – zwei Betrachtungsebenen: Zum einen stellt sich die Frage nach der sinnvollen Ressourcenallokation innerhalb des Mitgliedstaats, dessen Norm gegen das Unionsrecht verstoßen hat. Diese Fragestellung wird jedoch überlagert von der Frage nach der unionsweit effizientesten Allokation der vorhandenen Mittel.
III. Ökonomische Betrachtung der zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen 1. Ex-post-Betrachtung Im Hinblick auf die ökonomischen ex-post-Effekte sollte eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen nur dann stattfinden, wenn durch die Beibehaltung des Status Quo eine sinnvollere Ressourcenallokation gewährleistet ist als durch die Rückzahlungen oder erstmaligen Zahlungen, die das Unionsrecht im Falle der Rückwirkung hervorruft, wenn also die Durchsetzung des Unionsrechts ökonomisch weniger sinnvoll erscheint als der ausnahmsweise Verzicht darauf. Auch hier lässt sich eine Abwägung nur im Einzelfall vornehmen. Im Zweifel dürften schwerwiegende wirtschaftliche Folgen, die zum Beispiel die Finanzierungssysteme der Gemeinden25 oder der Sozialsysteme26 in einem großen Mitgliedstaat aus dem Gleichgewicht brächten, mit all ihren Nebenwirkungen auch für die wirtschaftliche Entwicklung der Union nachteilig sein, so dass ein stures Beharren auf der rückwirkenden korrekten Anwendung des Unionsrechts nie24
Vgl. Eidenmüller, S. 41. Vgl. dazu den Sachverhalt von EuGH, Urteil vom 3. Oktober 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373. 26 Vgl. dazu den Sachverhalt von EuGH, Urteil vom 4. Mai 1999, Rs. C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685. 25
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G. Rechtsökonomische Aspekte
mandem, weder dem betroffenen Mitgliedstaat noch der Wirtschaftsgemeinschaft, einen wirtschaftlichen Vorteil brächte.27 Nichtsdestotrotz handelt es sich auch aus wirtschaftlicher Sicht um eine Wahl zwischen Skylla und Charybdis. Die ökonomisch effizienteste Allokation lässt sich im Zweifel dann erzielen, wenn die Mitgliedstaaten von Anfang an das Unionsrecht beachteten. Dann würde zum Beispiel durch eine unionsrechtskonforme Abgabe zum einen der nationale fiskalische Zweck erzielt, zum anderen würde das Ziel des gemeinsamen Marktes weiterverfolgt. Aufgabe der Rechtsprechung des EuGH zur zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkung muss daher primär sein, bereits die Entstehung von Sachverhalten zu unterbinden, bei denen sich die Frage nach einer zeitlichen Beschränkung stellt. Diese verhaltenssteuernden ex-ante-Wirkungen der EuGH-Rechtsprechung sollen im Folgenden näher untersucht werden. 2. Ex-ante-Betrachtung a) Verhaltenssteuernde Aspekte in Bezug auf die Mitgliedstaaten Im Hinblick auf die Mitgliedstaaten hat die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur zeitlichen Wirkung seiner Vorabentscheidungen die Folge, dass die Mitgliedstaaten sich strategisch verhalten und versuchen werden, ihre aufgrund von Urteilen des EuGH erlittenen Verluste zu minimieren. Hier stehen die Staaten zwischen zwei Extrempositionen: Entweder sie richten ihre nationalen Gesetze ohne Rücksicht auf die Vereinbarkeit mit Unionsrecht auf maximale Kostenersparnis oder maximale Einnahmen aus und hoffen darauf, möglichst wenig zurückzahlen zu müssen, wenn die entsprechende Regelung vom EuGH kassiert wird. Oder aber sie bemühen sich gleich von Anfang an um EU-Rechts-Konformität, unter Umständen mit höheren Kosten oder niedrigeren Einnahmen, dabei aber auch mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit, dass keine weiteren Ausgaben aufgrund eines unerwünschten Urteils des Gerichtshofs hinzukommen. In der Realität wird sich das Verhalten der Mitgliedstaaten irgendwo auf der Skala zwischen diesen beiden Extrempositionen verorten lassen. Eine bewusste Entscheidung für das eine oder andere Verhalten setzt voraus, dass die Mitgliedstaaten wissen, welches Handeln unionsrechtskonform ist (dazu sogleich). Die erstgenannte Handlungsoption ist aus der Sicht der Union tendenziell wohlstandshemmend, da kurzfristige nationale Interessen in den Vordergrund gestellt werden: Der Staat hat zwar kurzfristig seine Steuereinnahmen aus Kapitalerträgen gesichert, langfristig mag es sich aber – jedenfalls für die Gesamtheit der Mitgliedstaaten – als schädlich erweisen, dass er dadurch grenzüberschrei27
Waldhoff, S. 44.
III. Ökonomische Betrachtung der zeitlichen Beschränkung
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tende Investitionen unattraktiv macht.28 Der Staat kann zusätzliche Ausgaben im Sozialbereich vermeiden, schreckt dadurch aber den Zuzug dringend benötigter Talente aus dem Ausland ab.29 Das kann wiederum auch ihm schaden, wird aber in jedem Fall zu Effizienzverlusten für die Europäische Union führen, die gerade aus dem freien Zu- und Wegzug der Arbeitskräfte Effizienzgewinne erzielen soll. Trotz dieser schädlichen Wirkungen für die Union oder sogar für den eigenen Staat lässt sich ein derartiges Verhalten immer wieder beobachten – nicht zuletzt, weil die gegenwärtigen Probleme innerhalb der eigenen Staatsgrenzen den politischen Akteuren näher scheinen als langfristige Probleme, die sich auf das gesamte Gebiet der EU verteilen. Außerdem dürfte immer auch die Befürchtung mitspielen, dass von dem eigenen „Verzicht“ nur die anderen Mitgliedstaaten profitieren, insbesondere wenn diese sich ihrerseits nicht unionsrechtskonform verhalten.30 Aus ökonomischer Sicht erscheint es daher sinnvoll, diese Handlungsoption, das Ignorieren der unionsrechtlichen Vorgaben, für die Mitgliedstaaten so unattraktiv wie möglich zu machen. Am besten erreichen ließe sich dieses Ziel durch die vollständige und ausnahmslose Rückwirkung der EuGH-Urteile.31 Dann könnten die Mitgliedstaaten nicht mehr auf Mitnahmeeffekte spekulieren und müssten von Anfang an auf Unionsrechtskonformität setzen. Anders formuliert: Je großzügiger der Gerichtshof mit seiner Rechtsprechung zur zeitlichen Beschränkung, also zur Ausnahme von der Rückwirkung, ist, um so geringer ist der Anreiz für die Mitgliedstaaten, das Unionsrecht bei der Befolgung nationaler (insbesondere fiskalischer) Interessen zu respektieren.32 Einen verhaltenssteuernden Effekt kann die Androhung der Rückwirkung allerdings nur erzielen, wenn die materielle Rechtsprechung des Gerichtshofs hinreichend vorhersehbar ist, die Mitgliedstaaten also überhaupt zu einem unionsrechtskonformen Verhalten in der Lage sind.33 Wenn auch die weniger profitablen Optionen Gefahr laufen, vom Gerichtshof als unionsrechtswidrig befunden zu werden, sinkt die Hemmschwelle, es gleich mit der profitabelsten zu versuchen, selbst wenn bei dieser die Wahrscheinlichkeit einer Unionsrechtsverletzung am größten ist. Dies dürfte insbesondere der Fall sein, wenn bereits bestehende 28 Vgl. hierzu den Sachverhalt von EuGH, Urteil vom 6. März 2007, Rs. C-292/04, Meilicke, Slg. 2007, I-1835. 29 Vgl. hierzu die Sachverhalte von EuGH, Urteil vom 4. Mai 1999, Rs. C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685, und EuGH, Urteil vom 20. September 2001, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193. 30 Eine umfassende Analyse der Gründe, aus denen Mitgliedstaaten gegen Unionsrecht verstoßen, findet sich bei Van Roosebeke, S. 25 ff. 31 Vording/Lubbers, British Tax Review 2006, 91 (92); dies., Budgetary Impact, S. 8. 32 Seer, in: Lüdicke (Hrsg.), S. 25. 33 Vording/Lubbers, Budgetary Impact, S. 8; dies., British Tax Review 2006, 91 (100 f.); siehe auch Seer, in: Lüdicke (Hrsg.), S. 25.
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G. Rechtsökonomische Aspekte
Rechtsvorschriften in den Verdacht geraten, unionsrechtswidrig zu sein. Die Hemmung ist naturgemäß besonders groß, ein eingespieltes und funktionierendes System nur aufgrund des bloßen Verdachts der Unionsrechtswidrigkeit aufzuheben, der sich durchaus als unbegründet erweisen kann. Aus rechtsökonomischer Sicht wäre es daher an erster Stelle entscheidend, dass die Rechtsprechung des EuGH in den einzelnen Bereichen vorhersehbarer wird. Gerade im ökonomisch so relevanten Steuerrecht ist die Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung als (zu) „dynamisch“ charakterisiert worden.34 Soweit dieses Ziel der Vorhersehbarkeit erreicht ist, sollte die Rückwirkung der Vorabentscheidungsurteile so konsequent wie möglich durchgesetzt werden, um ihren verhaltenssteuernden Charakter zu erhalten. Insofern ist die derzeitige Rechtsprechungspraxis des EuGH aus ökonomischer Perspektive durchaus zu befürworten: Wenn die Unionsrechtswidrigkeit nicht erkennbar war, das Recht seine verhaltenssteuernde Funktion also ohnehin nicht erfüllen konnte, kann ausnahmsweise aufgrund der Gutgläubigkeit eine Ausnahme von der ex-tuncWirkung gewährt werden. Sofern dies die absolute Ausnahme bleibt, wird insgesamt ein hinreichender Anreiz für die Mitgliedstaaten gesetzt, sich von Anfang an um eine gemeinschaftsrechtskonforme und allgemein wohlfahrtssteigernde Regelung zu bemühen.35 Unter dem Aspekt der ökonomischen Anreize erscheint es auch nicht sinnvoll, die fiskalischen Auswirkungen eines EuGH-Urteils stärker zu berücksichtigen, wie gelegentlich gefordert wird.36 Da der Gerichtshof bereits jetzt die wirtschaftlichen Folgen seiner Urteile berücksichtigt, kann eine noch stärkere Berücksichtigung nur bedeuten, dass der gute Glauben weniger stark zum Tragen kommen dürfte. Dadurch würde aber ein Anreiz zu rücksichtslosem Verhalten geschaffen: Denn dann wäre es eine ernsthafte Alternative zum unionsrechtskonformen Verhalten, durch unionsrechtswidriges Handeln möglichst große Summen einzunehmen oder einzusparen, um sich die „Amnestie“ durch den Gerichtshof zu sichern.37 Unangenehme Folgen wären dann nur noch bei Unionsrechtsverstößen von untergeordneter wirtschaftlicher Bedeutung zu befürchten. Die Rechtsprechung hätte damit ihr ökonomisches Ziel, Anreize zu einem wohlfahrtssteigernden Verhalten im Einklang mit dem EU-Recht zu setzen, verfehlt.
34
Vording/Lubbers, British Tax Review 2006, 91 (93). Vording/Lubbers, British Tax Review 2006, 91 (111 f.). 36 Schwarze, NJW 2005, 3459 (3464 f.); ders., Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn. 739 ff.; Tiedtke/Mohr, EuZW 2008, 424 (427). Siehe zu dieser Kritik ausführlich oben D. II. 6. 37 Vgl. Dörr, Der Konzern 2006, 59 (64). 35
III. Ökonomische Betrachtung der zeitlichen Beschränkung
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b) Verhaltenssteuernde Aspekte in Bezug auf die Individuen in der Union Im Hinblick auf die Einzelnen erscheint insbesondere die von der Rechtsprechung regelmäßig gemachte Rückausnahme von der Urteilsbeschränkung interessant. Die hierdurch hervorgerufene Gefahr, dass Trittbrettfahrer unverdiente Profite aus einem EuGH-Urteil schlagen könnten, ist auch ökonomisch relevant. Durch die Trittbrettfahrer werden dem Staat Einnahmen entzogen. Diese Einnahmen dürfen aufgrund der Gutgläubigkeit des Staates als legitim angesehen werden. Hätte der Staat die Unionsrechtswidrigkeit seines Handelns gekannt, hätte er sich diese Einnahmen wahrscheinlich auch durch eine andere, mit dem EU-Recht vereinbare Regelung sichern können. (Das Gleiche gilt natürlich auch für den bösgläubigen Staat, allerdings tritt hier die Steuerungsfunktion der Rückwirkung hinzu, aufgrund derer ihm – gewissermaßen als wirtschaftspädagogische Maßnahme – diese Ressourcen wieder entzogen werden sollen.) Im Zweifel wären diese Ressourcen (die Einnahmen) beim Staat besser aufgehoben gewesen als bei einem Trittbrettfahrer. Wer sich erst um die Rechtsdurchsetzung bemüht, wenn die Gewinnchancen bereits klar sind, zeigt dadurch eine geringe Wertschätzung für die in Rede stehenden Ressourcen, denn anderenfalls hätte er sich auch bei einer geringeren Erfolgswahrscheinlichkeit um ihren Rückgewinn bemüht. Insoweit trägt also die Rückausnahme die Gefahr in sich, eher zu ökonomischer Verschwendung als zu Wohlfahrtssteigerungen zu führen.38 Aber auch durch das Verhalten derjenigen, die sich bereits frühzeitig um die Durchsetzung ihrer Rechte bemühen, sind Effizienzverluste zu beklagen: Die Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass nur in den Genuss der Ausnahme kommt, wer rechtzeitig Klage oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt hat, führt zwangsläufig zu einer mehr oder weniger großen Welle von Verwaltungsverfahren und Gerichtsprozessen, die sich gegen unionsrechtlich fragwürdige Rechtsvorschriften richten,39 auch wenn nur eines dieser vielen Verfahren zu einer Klärung dieser Frage vor dem EuGH führen wird. Die in allen übrigen Verfahren aufgewendeten Ressourcen erscheinen insoweit als Verschwendung.40 Andererseits sind, wie bereits dargelegt wurde, die vom Gericht aufgestellten Voraussetzungen für die Gewährung einer Rückausnahme notwendig, um gerade das Aufspringen von Trittbrettfahrern zu verhindern. Dieses Dilemma lässt sich offenbar nicht vermeiden, sobald man überhaupt anfängt, Ausnahmen von der Urteilsbeschränkung zuzulassen. Von einem rein ökonomischen Standpunkt aus 38
Vording/Lubbers, British Tax Review 2006, 91 (111). Und davon gibt es einige: Kessler/Spengel, DB 2003, Beilage 5, 1 (3 ff.), listen über 100 (!) potentiell unionswidrige Vorschriften allein aus dem deutschen Steuerrecht auf. 40 Düsterhaus, EuZW 2006, 393 (395), betrachtet dies in Steuerfällen als den „Preis gemeinschaftsrechtswidriger Steuergesetzgebung“. 39
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G. Rechtsökonomische Aspekte
erscheint es daher zumindest bedenkenswert, auf die Rückausnahme gänzlich zu verzichten und die Ressourcen beim gutgläubig agierenden Mitgliedstaat zu dessen (hoffentlich) rationaler Verwendung zu belassen. Das Vorgehen gegen unionsrechtliche Vorschriften würde dadurch allerdings weniger attraktiv, zumindest soweit zu befürchten wäre, dass der betroffene Mitgliedstaat erfolgreich eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen beantragen könnte. Der Gerichtshof verlöre dadurch ein Stück weit die Kontrolle über die Individuen als dezentrale Kontrollinstanz. Dazu scheint er nicht bereit zu sein.
IV. Zusammenfassung Aus ökonomischer Sicht sollte eine zeitliche Beschränkung im Hinblick auf die ex-post-Effekte nur dann angeordnet werden, wenn dadurch eine bessere Allokation der Ressourcen erreicht wird als durch eine Rückabwicklung der bereits geleisteten Zahlungen. Die Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Folgen in einem Mitgliedstaat lässt es grundsätzlich sinnvoller erscheinen, auf eine erneute Umverteilung zu verzichten. Letztlich kann diese Frage jedoch nur in jedem Einzelfall gesondert beantwortet werden. Die ökonomisch beste Lösung lässt sich im Zweifel jedoch erzielen, wenn von vornherein nicht gegen das Unionsrecht verstoßen wird. Daher kommt den ex-ante-Effekten der Urteilsbeschränkung, das heißt ihren verhaltenssteuernden Effekten, eine besondere Bedeutung zu: Eine zeitliche Beschränkung der Urteilsfolgen muss die Ausnahme bleiben. Nur dann haben die Mitgliedstaaten einen Anreiz, das Unionsrecht bei der nationalen Gesetzgebung hinreichend zu berücksichtigen. Das Ignorieren der vom Unionsrecht gemachten Vorgaben muss unter strategischen Gesichtspunkten so unattraktiv wie möglich sein. Eine Anreizwirkung kann die grundsätzliche ex-tunc-Wirkung allerdings nur dann entfalten, wenn die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den jeweils betroffenen Rechtsmaterien hinreichend vorhersehbar ist. Im Hinblick auf die Rückausnahme ist festzustellen, dass sie die Gefahr einer Ressourcenverschwendung in sich trägt – zumindest, wenn sie zu großzügig gewährt wird. Letztlich handelt es sich hier aber um einen Bereich, bei dem die juristischen Argumente des effektiven Rechtsschutzes und der Funktionsfähigkeit des EuGH, der ein Interesse daran hat, dass das Vorabentscheidungsverfahren für den Einzelnen attraktiv bleibt, die ökonomischen Bedenken überstimmen.
H. Alternativen: Die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen de lege ferenda Der Gerichtshof hat sich seit seinem Defrenne II-Urteil von 1976 auf eine gewisse konstante Linie zur zeitlichen Wirkung seiner Vorabentscheidungsurteile eingespielt. Andererseits ist die Zahl der Fälle, in denen eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen bisher relevant wurde, sehr überschaubar. Daher ist es insbesondere in den näheren Einzelheiten schwer abzuschätzen, welche der hier dargestellten Elemente in die Kategorie „gefestigte Rechtsprechung“ eingeordnet werden können und bei welchen es sich eher um Einzelfalljudikatur handelt. Insofern besteht durchaus noch Spielraum für Änderungsvorschläge – und für konstruktive Kritik sowieso. Gerade in der Literatur, aber auch bei den Mitgliedstaaten, hat die Unzufriedenheit mit der Rechtsprechung des EuGH in diesem Bereich immer wieder zu Anmerkungen und Anregungen geführt, was der EuGH bei der Ausgestaltung der zeitlichen Urteilswirkungen grundlegend besser machen sollte oder gar müsste. Auf diese Ansätze soll im Folgenden eingegangen werden.
I. Stärkere Rücksichtnahme auf die finanziellen Belange der Mitgliedstaaten In der Literatur wird zum Teil gefordert, der EuGH solle in Zukunft mehr Rücksicht auf die erheblichen finanziellen Folgen seiner Entscheidungen für die Mitgliedstaaten nehmen und die strengen Voraussetzungen, die dazu führen, dass er nur ausnahmsweise eine zeitliche Beschränkung vornehmen kann, lockern.1 Gemeinsam ist diesen Vorstößen, dass sie sich zwar mehr Urteile mit zeitlicher Beschränkung wünschen, dass sie aber nur wenig konkrete Anhaltspunkte dafür liefern, an welchem Punkt der Gerichtshof seine Rechtsprechung ändern sollte. Da die schwerwiegenden Folgen der Entscheidung eine der beiden Hauptvoraussetzungen für die zeitliche Beschränkung sind, kann sich eine solche Kritik nur gegen die zweite wichtige Voraussetzung, den guten Glauben, sowie gegen das Erfordernis der Beschränkung im zeitlich ersten Urteil zu einer bestimmten Rechtsfrage richten. Natürlich ist es mit dem guten Glauben so eine Sache. Ob nationales Recht mit dem Unionsrecht vereinbar ist oder nicht, ist aufgrund der Unübersichtlichkeit 1 Schwarze, Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn. 739; ders., NJW 2005, 3459 (3465); Tiedtke/Mohr, EuZW 2008, 424 (428).
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H. Zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen de lege ferenda
des Unionsrechts wie auch der nationalen Rechtsordnungen oft nicht leicht zu beantworten. Dennoch befindet sich der nationale Gesetzgeber in der wenig beneidenswerten Situation, irgendeine Regelung treffen zu müssen.2 Hierbei steht ihm jedoch immer die Möglichkeit offen, gerade in den schwer zu entscheidenden Grenzfällen die Kommission einzuschalten. Die Rechtsprechungspraxis des Gerichtshofs zeigt, dass der EuGH nicht von den Mitgliedstaaten erwartet, schlauer als die Kommission, die „Hüterin der Verträge“, zu sein. Wenn sich die Mitgliedstaaten an dieses Prozedere hielten, sollte ihnen eigentlich nicht viel Unbill widerfahren können.3 Schon verständlicher ist die Kritik an der Präklusion aufgrund früherer Urteile,4 kann diese doch dazu führen, dass ein Mitgliedstaat nicht in den Genuss einer zeitlichen Beschränkung kommt, obwohl er gutgläubig auf die Vereinbarkeit seiner Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht vertrauen durfte. Auf der einen Seite ist das Kriterium sinnvoll, weil es die einheitliche Anwendung des Unionsrechts fördert. Die Mitgliedstaaten sollten nicht ermuntert werden, stillzuhalten und zu hoffen, dass die Folgen eines EuGH-Urteils sie nicht treffen werden. Auf der anderen Seite ist es für die Mitgliedstaaten schwer abzuschätzen, ob eine Rechtsvorschrift eines anderen Mitgliedstaats so ähnlich ist, dass eine Präklusion wahrscheinlich ist. Hier wäre in Zukunft ein Entgegenkommen beider Seiten, sowohl des Gerichtshofs als auch der Mitgliedstaaten, erstrebenswert. Zum einen sollten die Mitgliedstaaten auch bei einem eher mäßigen Verdacht, dass in der eigenen Rechtsordnung eine Parallelvorschrift zu der vom Gerichtshof überprüften Vorschrift existiert, die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen anregen. Zum anderen sollte der Gerichtshof davon absehen, den Kreis von seinem Urteil erfasster ähnlicher Regelungen zu weit zu ziehen und auch schon die bloß entfernte Ähnlichkeit zum Anlass für eine Präklusion zu nehmen.
II. Unvereinbarerklärung nach dem Vorbild des deutschen Bundesverfassungsgerichts Ein insbesondere in der deutschen Literatur häufig zu findender, an die Adresse des Gerichtshofs gerichteter „Verbesserungsvorschlag“ geht dahin, der EuGH solle sich ein Beispiel an der Unvereinbarerklärung des BVerfG nehmen und in seinen Urteilen verstärkt dazu übergehen, nur die Unvereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Unionsrecht festzustellen und den Mitgliedstaaten eine Frist für die Umsetzung des Urteils zu setzen, letztlich die Urteilswirkungen also erst 2 3 4
Schwarze, Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn. 742. Siehe dazu auch oben D. II. 6. Siehe hierzu auch oben D. VII. 2. d).
III. Die „Berliner Erklärung‘‘
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ab einem zukünftigen Zeitpunkt einsetzen zu lassen.5 Auf derartige Novellierungsvorschläge wurde im Rahmen der Diskussion über die zeitlichen Anknüpfungspunkte bereits intensiv eingegangen.6 Daher seien die dortigen Feststellungen hier nur kurz zusammengefasst: Es erscheint grundsätzlich denkbar, dass der Gerichtshof die Wirkungen seiner Urteile ab einem Zeitpunkt in der Zukunft einsetzen lässt und den Mitgliedstaaten damit eine Übergangsfrist zur Anpassung der Rechtslage gibt. In einigen Ungültigkeitsentscheidungen hat der EuGH bereits entsprechend tenoriert. Aufgrund der schwerwiegenden Folgen für Altfälle und vor allem für die Anwendungsfälle innerhalb der Übergangsfrist kommt eine solche pro-futuro-Wirkung aber nur ganz ausnahmsweise in Betracht, wenn es schlechterdings aufgrund der schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen während der Umstellungsphase den betroffenen Mitgliedstaaten nicht zuzumuten wäre, sich mit einer „normalen“ Urteilsbeschränkung mit ex-nunc-Wirkung ab Erlass des Urteils zufriedenzugeben.
III. Die „Berliner Erklärung“ Beide zuvor genannten Kritikpunkte, die Forderung nach mehr Rücksichtnahme auf die mitgliedstaatlichen Belange und der Vorschlag, bei der Modifikation der Urteilswirkungen hin und wieder eine Unvereinbarerklärung nach deutschem Vorbild in Betracht zu ziehen, finden sich in der so genannten „Berliner Erklärung der Expertenkommission Europäisches Verfassungsrecht zur Wahrung mitgliedstaatlicher Belange“.7 Initiator dieser Erklärung war das deutsche Bundesministerium der Finanzen, das im Herbst 2007 eine rechtsvergleichende Untersuchung zur „Beschränkung der Urteilswirkungen im Falle der Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm“ in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ausschrieb.8 In der Kurzbeschreibung des Auftrags wurde festgestellt, dass es eine Divergenz zwischen der Rechtsprechung des BVerfG und des EuGH gebe. Das BVerfG nehme auf die Belange verlässlicher Haushalts- und Finanzplanung Rücksicht, während der EuGH die Voraussetzungen für eine zeitliche Beschränkung eher eng ziehe. Da der Gerichtshof in der Rechtssache Meilicke schon die bloße Ähnlichkeit der 5 Wunderlich/Albath, DStZ 2005, 547 (552); Schwarze, Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn. 740; ders., NJW 2005, 3459 (3465). 6 Siehe dazu oben E. II. 2. b). 7 Berliner Erklärung der Expertenkommission Europäisches Verfassungsrecht zur Wahrung mitgliedstaatlicher Belange vom 23. September 2008, abgedruckt in: Hufen/ Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 1, S. 13 ff.; siehe hierzu auch Sangmeister, ZRP 2008, 252 (253 f.). 8 Öffentliche Vergabebekanntmachung (§ 3a Nr. 1 Abs. 4 VOL/A) für die Vergabe von Dienstleistungsaufträgen im beschleunigten Verhandlungsverfahren (§ 3a Nr. 1 Abs. 5 Buchstabe c VOL/A) vom 26. Oktober 2007, BMF-Newsletter vom 26. Oktober 2007.
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H. Zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen de lege ferenda
Rechtsfragen mit solchen aus früheren Verfahren habe genügen lassen, um eine Unsicherheit der Rechtslage abzulehnen, seien die Tatbestandsvoraussetzungen in Zukunft im Zweifel noch schwieriger zu erfüllen. Als Motiv für den Gutachtenauftrag führte das Finanzministerium weiter aus, es sei davon auszugehen, dass die Rechtsprechung des BVerfG einem allgemeinen Rechtsgedanken entspreche, der sicherlich auch in der Rechtsprechung vieler anderer europäischer Verfassungsgerichte zu finden sei. Man kann sich leicht vorstellen, was das Bundesfinanzministerium zu dieser Ausschreibung bewogen haben mag. Nachdem die Bundesregierung in der Rechtssache Meilicke, in der sie sich vehement für eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen eingesetzt hatte, eine Niederlage mit deutlichen Auswirkungen auf den Haushalt hatte hinnehmen müssen, sollte hier der Versuch unternommen werden, dem EuGH nachzuweisen, dass sich aus den Verfassungspraktiken der 27 Mitgliedstaaten ein allgemeiner Rechtsgrundsatz herleiten lasse, dem zufolge im Rahmen von Normverwerfungsverfahren unbedingt auf die fiskalischen Interessen des betroffenen Staates Rücksicht zu nehmen sei. Da derartige allgemeine Rechtsgrundsätze eine der ungeschriebenen Quellen des Unionsrechts sind,9 ließe sich unter Umständen dem EuGH (als nicht ganz so heimlichem eigentlichen Adressaten des Gutachtens10) nachweisen, dass seine Rechtsprechungspraxis zur zeitlichen Beschränkung aufgrund ihrer engen Voraussetzungen und der damit verbundenen nachrangigen Berücksichtigung der finanziellen Interessen der Mitgliedstaaten selbst unionsrechtswidrig sei. Das Resultat dieser Bemühungen, die Berliner Erklärung, geht dann jedoch nicht ganz so weit: Die Expertenkommission begrüße „die gefestigte Rechtsprechung des EuGH, [. . .] gewichtige mitgliedstaatliche Belange im Rahmen seiner Vorabentscheidungsverfahren durch die Modifikation der Urteilswirkungen zu berücksichtigen. [. . .] In Beachtung allgemeiner Rechtsgrundsätze der Gemeinschaft sollte bei der Urteilsfindung auch künftig darauf geachtet werden, dass gewichtige mitgliedstaatliche Interessen zum Tragen kommen.“ Als eines dieser Interessen wird im Folgenden „die Vermeidung schwerwiegender Einbußen für die öffentlichen Haushalte und die Sicherheit der Finanzplanung auch im Hinblick auf europarechtliche Defizitgrenzen“ genannt. Zur Berücksichtigung dieser Belange biete sich eine Beschränkung der Urteilswirkung auf den Zeitpunkt ex nunc an, im Einzelfall auch eine Verschiebung des Zeitpunkts in die Zukunft oder eine Aufforderung an den Gesetzgeber, den Verstoß zu beseitigen.11
9
Schwarze, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 220 EG, Rn. 14, 16. Sangmeister, ZRP 2008, 252 (253). 11 Berliner Erklärung der Expertenkommission Europäisches Verfassungsrecht zur Wahrung mitgliedstaatlicher Belange vom 23. September 2008, abgedruckt in: Hufen/ Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 1, S. 13 f. 10
III. Die „Berliner Erklärung‘‘
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Ein klares Bekenntnis der Art „Es gibt einen allgemeinen Rechtsgrundsatz in den Mitgliedstaaten, dass bei Normenkontrollverfahren die fiskalischen Interessen des Staates besonders zu berücksichtigen sind“ enthält die Berliner Erklärung nicht. Offenbar ließ sich ein solcher Grundsatz nicht nachweisen. Dies überrascht nicht: Immerhin handelt es sich hier um eine sehr konkrete Detailfrage hinsichtlich der Tatbestandsvoraussetzungen für eine zeitliche Beschränkung. Hier eine weitreichende Übereinstimmung im Rahmen der Rechtsordnungen von 27 Mitgliedstaaten zu finden, konnte kaum erwartet werden. Wie im rechtsvergleichenden Teil dieser Arbeit bereits aufgezeigt worden ist, lassen sich durchaus Argumente dafür finden, dass es einen allgemeinen Rechtsgrundsatz gibt, nach dem die Folgen eines Urteils mit ex-tunc-Wirkung in besonders gelagerten Ausnahmefällen durch eine Modikation der zeitlichen Wirkungen abzuschwächen sind. Hinsichtlich der genauen Ausgestaltung ist das Bild in den Mitgliedstaaten jedoch sehr gemischt, so dass dem Gerichtshof im Rahmen der wertenden Rechtsvergleichung ein erheblicher Gestaltungsspielraum zukommt.12 Wenn man darauf verweist, dass eine durchaus beachtliche Anzahl an Mitgliedstaaten die Belange des Staates, insbesondere seine finanziellen Interessen, als einen möglichen Grund für eine Verschiebung der Urteilswirkungen ansieht,13 dann darf man nicht vergessen, dass das auch der EuGH bereits seit Defrenne II tut. Insofern befindet sich die Rechtsprechung des Gerichtshofs bereits jetzt im Einklang mit der Rechtslage in der Mehrzahl der Mitgliedstaaten. Einen weitergehenden Rechtsgrundsatz, dass die staatlichen Interessen so hoch zu stellen sind, dass andere Erwägungen wie der gute Glaube völlig in den Hintergrund treten, lässt sich den einzelnen Rechtsordnungen hingegen nicht entnehmen. Nichtsdestotrotz lassen sich der Berliner Erklärung und vor allem dem zugrundeliegenden Rechtsgutachten einige interessante Erkenntnisse entnehmen. Zumindest deutsche Juristen dürfte es überraschen, wie viele Jurisdiktionen bei ihren Normenverwerfungen nur zur ex-nunc-Nichtigkeit kommen.14 Und vielleicht mag die Feststellung, dass in Europa eine Normverwerfung erst ab dem Zeitpunkt der Urteilsverkündung eher die Regel denn die Ausnahme ist, auch den EuGH zu einem etwas entspannteren und großzügigeren Umgang mit der Beschränkung der Urteilswirkungen bewegen. Dabei sollte allerdings nicht vergessen werden, dass die dogmatischen Grundlagen komplett verschieden sind: Unmittelbar mit den nationalen Normenkontrollverfahren vergleichen lassen sich 12
Siehe oben B. IV. 2. Laut BMF-Gutachten nehmen 16 Rechtsordnungen wichtige staatliche Belange zum Anlass für eine Verschiebung der Urteilswirkungen, wobei sieben konkret auf den Schutz vor schwerwiegenden fiskalischen Belastungen abstellen, Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 1, S. 89 ff. 14 Laut BMF-Gutachten sind dies 16 Rechtsordnungen, wohingegen nur sieben (inkl. der frz. Verwaltungsgerichte) von einer ex-tunc-Nichtigkeit ausgehen, Hufen/Nörr Stiefenhofer Lutz (Hrsg.), BMF-Gutachten, Teil 1, S. 72. 13
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auf europäischer Ebene nur die Entscheidungen zur Unwirksamkeit von Sekundärrechtsakten. Wenn der EuGH jedoch, wie in der Mehrzahl der hier dargestellten Fälle, eine Auslegungsentscheidung trifft, dann ist der alte Theorienstreit zwischen Nichtigkeitslehre und Vernichtbarkeitslehre, der der Dichotomie in Rechtsordnungen mit ex-tunc-Nichtigkeit und ex-nunc-Vernichtbarkeit zugrundeliegt, nicht so ohne weiteres übertragbar. Eine ex nunc wirkende Auslegung bei einem Feststellungsurteil ist dogmatisch schwer zu begründen: Zum Inkrafttreten einer Rechtsvorschrift gibt es das Außerkrafttreten durch einen weiteren Hoheitsakt als „actus contrarius“; insofern ist es nicht verwunderlich, dass viele Rechtsordnungen ihre Verfassungsgerichte ermächtigen, eine Normenkontrollentscheidung mit dieser Wirkung zu erlassen. Dann wird entweder der Gesetzgeber vom Gericht zum Erlass eines Änderungsgesetzes verpflichtet, oder das Gerichtsurteil stellt selbst diesen abändernden Hoheitsakt dar. Zur richtigen Auslegung einer Vorschrift hingegen gibt es keinen „actus contrarius“. Eine EU-Verordnung tritt nicht mit einer falschen Auslegung in Kraft und behält anschließend über viele Jahre diese Form, nur um dann durch das Urteil des EuGH davon befreit zu werden. Was die richtige Auslegung einer Verordnung ist, kann sich zwar im Laufe der Zeit ändern – das geschieht allerdings durch schleichende Veränderungen in der Gesellschaft und im Rechtsverständnis, nicht durch den einmaligen Akt eines Vorabentscheidungsurteils. Der Umstand, dass in der Mehrzahl der Mitgliedstaaten verfassungswidrige Vorschriften nur ex nunc durch das Verfassungsgericht vernichtet werden, lässt daher kaum den Schluss zu, dass auch Auslegungsurteile dieser Mehrheit folgend nur ex-nunc-Wirkung haben sollten.
IV. Zweistufiges Verfahren 1. Problematik Die Entscheidung über die zeitlichen Wirkungen des Urteils ist in der Rechtsprechung des EuGH immer untrennbar mit der eigentlichen Sachentscheidung verbunden. Ihre Anträge auf Beschränkung der Urteilswirkungen haben die Beteiligten daher gemeinsam mit ihren Ausführungen zur Sachfrage bis zum Abschluss der mündlichen Verhandlung zu stellen. Ebenso haben sie bis zu diesem Zeitpunkt auch das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Beschränkung darzulegen. Für die Beteiligten des Verfahrens zieht das mehrere praktische Probleme nach sich: Erstens ist bis zur Urteilsverkündung unklar, ob eine zeitliche Beschränkung überhaupt nötig wird. Der zum Teil erhebliche Aufwand, der zum Nachweis der schwerwiegenden wirtschaftlichen Störungen betrieben wird, kann sich dann, wie im Fall Banca Popolare di Cremona, als völlig überflüssig erweisen.15 Eine weitere Komplikation für die Beteiligten besteht darin, dass erst mit 15
Siehe oben C. II. 1. l).
IV. Zweistufiges Verfahren
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dem Ausspruch in der Sachfrage klar ist, welche Rechtsverhältnisse durch das Urteil in Frage gestellt werden. In dem nicht ganz seltenen Fall, dass das vorlegende Gericht mehrere Vorlagefragen, möglicherweise überdies mit zahlreichen Unterpunkten, gestellt hat,16 stehen die Beteiligten vor der nahezu unlösbaren Aufgabe, alle erdenklichen Urteilskombinationen durchzuspielen und die entsprechenden Kosten vorzutragen. Ein drittes Problem besteht im Rahmen des Erfordernisses, dass der Gerichtshof die entsprechenden Rechtsfragen nicht schon in einem früheren Urteil beantwortet haben darf: Für die Mitgliedstaaten, deren Rechtsvorschriften nicht unmittelbar dem Vorabentscheidungsverfahren zugrundelagen, ist es oft schwierig abzuschätzen, ob in der eigenen Rechtsordnung Parallelvorschriften existieren. Oft wird zumindest eine Ähnlichkeit mit eigenen Rechtsnormen festzustellen sein. Ob diese Ähnlichkeit aber so groß ist, dass sie aus der Sicht des EuGH zu einer Präklusion in zukünftigen Verfahren führen wird, lässt sich regelmäßig nur erraten. Die Folge ist, dass in vielen Fällen zahlreiche Mitgliedstaaten rein prophylaktisch einen Antrag auf Beschränkung der zeitlichen Wirkungen des Urteils stellen müssen. Dies belastet nicht nur die Verwaltungen der Mitgliedstaaten, sondern auch den Gerichtshof, der sich mit diesem Vorbringen auseinandersetzen muss. Schlimmstenfalls wird dadurch, zum Beispiel durch die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung, das Verfahren unnötig in die Länge gezogen. Um diesen Problemen zu begegnen, soll daher im Folgenden ein zweistufiges Verfahren vorgeschlagen werden, in dem der EuGH in einem Zwischenurteil die eigentliche Sachfrage beantwortet, bevor er sich in einem abschließenden Urteil der Frage der zeitlichen Wirkung widmet. 2. Vorschlag für ein zweistufiges Verfahren Das Urteil in einer Rechtssache, in dem der EuGH sich mit der zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen befasst, unterscheidet sich kaum von einem sonstigen Vorabentscheidungsurteil. Der einzige Unterschied besteht in einem meist eher kurzen Abschnitt am Ende des Urteils, in dem der Gerichtshof auf seine Defrenne II-Rechtsprechung hinweist und bestenfalls die vorgebrachten Argumente zu den Voraussetzungen der zeitlichen Beschränkung prüft. Nur in dem Fall, dass der EuGH tatsächlich eine Beschränkung ausspricht, wird der Auslegungstenor um einen zusätzlichen Punkt ergänzt. Auch das Verfahren läuft so ab wie bei jedem anderen Vorabentscheidungsverfahren, nur dass die Beteiligten ei16 Ein Paradebeispiel hierfür sind die neun Vorlagefragen in Test Claimants in the FII Group Litigation, die sich zum Teil auf Unterfragen von a) bis i) aufgliedern und darüber hinaus vielfach aufeinander Bezug nehmen: EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2006, Rs. C-446/04, Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753, Rn. 31.
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nen zusätzlichen Punkt in ihren Ausführungen berücksichtigen. Daher erscheint es ohne weiteres denkbar, diejenigen Elemente des Prozesses, die die zeitliche Wirkung betreffen, schlichtweg von der eigentlichen Sachfrage abzutrennen und in einer zweiten Prozesshälfte gesondert zu behandeln. Ein solcher zweistufiger Prozess würde folgendermaßen ablaufen: Die Parteien, diejenigen mitgliedstaatlichen Regierungen, die sich zu einer Beteiligung entschließen, und die Kommission geben nach der Zustellung des Vorlagebeschlusses wie üblich ihre Stellungnahme zur eigentlichen Sachfrage ab.17 Die Beteiligten müssen sich auch zu diesem Zeitpunkt schon äußern, wenn sie eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen befürworten. Nur so kann der Gerichtshof sich darauf einstellen, ob ein gewöhnliches einstufiges oder ein zweistufiges Verfahren durchzuführen ist. Nach Eingang der Stellungnahmen kann der EuGH die auf die Vorlagefragen begrenzte mündliche Verhandlung vorbereiten und durchführen. Das eigentliche Vorlageverfahren zu den Sachfragen wird durch Urteil abgeschlossen. Dieses erste Urteil lässt sich nach deutschem Prozessrechtsverständnis am ehesten als Zwischenurteil charakterisieren, wobei der Vergleich insoweit hinkt, als Zwischenurteile eigentlich nicht den Streitgegenstand selbst betreffen, sondern nur Vorfragen klären.18 Korrekterweise sollte daher das Urteil zu den Sachfragen schlicht als „Urteil“ bezeichnet werden, während die nachfolgende Behandlung der zeitlichen Wirkung ein „Nachurteil“ darstellt. Das Urteil beantwortet die vom vorlegenden Gericht gestellten Sachfragen und enthält außerdem noch einen Hinweis darauf, dass über die zeitlichen Wirkungen noch nicht abschließend geurteilt worden ist. Dieser Hinweis sollte der Klarheit wegen in den Tenor aufgenommen werden und könnte folgendermaßen aussehen: „Die Entscheidung über die zeitlichen Wirkungen des Urteils bleibt einer späteren Entscheidung des Gerichtshofs vorbehalten. Das Ausgangsverfahren bleibt hiervon in jedem Fall unberührt.“
Durch diesen Tenor wird verdeutlicht, dass andere Gerichte als das vorlegende Gericht die Entscheidung vorläufig noch nicht zugrundelegen können, da noch nicht feststeht, ob die zeitliche Wirkung des Urteils begrenzt wird. Für das Ausgangsverfahren, das nach bisheriger Rechtsprechung ohnehin immer von den zeitlichen Beschränkungen ausgenommen worden ist („Ergreiferprämie“), ist das Vorabentscheidungsverfahren damit beendet. Das Ausgangsverfahren kann daher bereits zu diesem Zeitpunkt auf der Basis des Vorabentscheidungsurteils, mit dem alle Sachfragen beantwortet sein sollten, weitergeführt und abgeschlossen werden.
17 18
Vgl. U. Karpenstein, Rn. 369. Oberheim, § 10, Rn. 4.
IV. Zweistufiges Verfahren
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Die Auswirkungen über das Ausgangsverfahren hinaus werden erst in dem „Nachverfahren“ bestimmt, das die eigentliche Neuerung des hier vorgeschlagenen Ansatzes darstellt. Die Beteiligten (zu denen dann konsequenterweise nicht mehr die Parteien des Ausgangsverfahrens zu zählen wären) sind erneut zur Stellungnahme aufgefordert, diesmal in Bezug auf die Voraussetzungen für eine Beschränkung der zeitlichen Urteilswirkungen. Basierend auf der Sachentscheidung des EuGH können die Mitgliedstaaten nun eine fundierte Folgenabschätzung treffen und dementsprechend die schwerwiegenden Folgen darlegen. Der EuGH entscheidet dann abschließend durch (Schluss-)Urteil, ob die Urteilswirkungen zu begrenzen sind oder nicht. 3. Vorteile des zweistufigen Verfahrens Das in dieser Arbeit vorgeschlagene zweistufige Verfahren bringt eine Reihe von Vorteilen mit sich. Insbesondere wird verhindert, dass der Ablauf des Vorabentscheidungsverfahrens durch die Frage der zeitlichen Beschränkung gehemmt wird. Wie bereits aufgezeigt worden ist, ist diese Rechtsfolgenfrage für die Parteien des Ausgangsverfahrens nicht entscheidungserheblich.19 Es ist daher nicht einzusehen, warum das Ausgangsverfahren erheblich verzögert werden und dadurch der Rechtsschutz der Bürger verkürzt werden soll, nur weil die Mitgliedstaaten durch Parallelentscheidungen in ähnlichen Fällen schwerwiegende Wirkungen befürchten. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist es zweckdienlicher, wenn sie nur auf die Beantwortung ihrer materiell-rechtlichen Fragen warten und sich nicht um für sie unerhebliche prozessuale Fragen kümmern müssen. Auch für diejenigen, die ein vertieftes Interesse an der Frage der Urteilsfolgen haben, in vorderster Linie also die Mitgliedstaaten, brächte ein zweistufiges Verfahren Vorteile mit sich. Eine Abschätzung der wirtschaftlichen Folgen dürfte ihnen leichter fallen, wenn sie wissen, welche von möglicherweise mehreren auf dem Prüfstand stehenden Normen unionsrechtswidrig sind und Rückforderungen nach sich ziehen werden. Zu guter Letzt dürfte das zweistufige Verfahren den Interessen des Gerichtshofs entgegenkommen. Denn er muss sich nur dann vertieft mit dem Vortrag der beteiligten Mitgliedstaaten zu ihren wirtschaftlichen Belastungen befassen, wenn diese Frage tatsächlich relevant wird. Bisher musste der Berichterstatter die Frage der zeitlichen Wirkungen vor der mündlichen Verhandlung mit berücksichtigen.20 Während der mündlichen Verhandlung befasste sich die Kammer mit diesem Antrag. Und schlimmstenfalls wurde sogar die mündliche Verhandlung erneut eröffnet, wenn der Gerichtshof zu dem Schluss kam, die Voraussetzungen der 19 20
Siehe oben C. II. 1. l). Vgl. Schima, S. 145.
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Beschränkung der Urteilswirkung noch nicht hinreichend überprüft zu haben. Aufwand, der nicht immer notwendig war, wie das Urteil in der Rechtssache Banca Popolare di Cremona eindrucksvoll vor Augen geführt hat.21 Ein abgestuftes Verfahren wäre daher auch prozessökonomisch sinnvoll. Nicht ganz vermeiden lassen wird sich allerdings, dass die Mitgliedstaaten beim bloßen Verdacht, dass ein Urteil auch bei ihnen schwerwiegende Folgen auslösen könnte, einen „prophylaktischen“ Antrag stellen werden. Dies ist dem vom Gerichtshof entwickelten und mit guten Argumenten vertretbaren Erfordernis geschuldet, dass eine frühere Befassung mit einer konkreten Rechtsfrage eine spätere zeitliche Beschränkung ausschließt. Dennoch dürfte es für die Arbeitsbelastung des Gerichtshofs einen deutlichen Unterschied machen, ob er bereits von Anfang an die Argumente für eine zeitliche Beschränkung anhören und einbeziehen muss, oder ob er dies auf eine zweite Prozesseinheit verschieben kann, die möglicherweise gar nicht stattfinden muss. Schließlich könnte die Trennung von Sachentscheidung und Entscheidung über die Urteilswirkung die Vertreter des Dammbruch-Arguments ein wenig besänftigen.22 Wenn der Gerichtshof im Rahmen der eigentlichen Sachentscheidung selbst noch nicht genau weiß, wie eine mögliche Verhandlung über die zeitlichen Wirkungen ausgehen könnte, sollte er weniger geneigt sein, eine bestimmte Entscheidung allein deshalb zu fällen, weil er sich auf die Abfederung durch die Urteilsbeschränkung verlassen kann. Umgekehrt besteht allerdings die Gefahr, dass der Gerichtshof bereits im Rahmen der Sachentscheidung aus Rücksicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse eines Mitgliedstaats entgegen seiner eigentlichen juristischen Überzeugung eine Unionsrechtsverletzung verneint, weil er nicht riskieren will, dass sich im Nachverfahren herausstellt, dass die Voraussetzungen der Urteilsbeschränkung beim besten Willen nicht bejaht werden können. Nichtsdestotrotz: Im Vergleich zur derzeitigen Praxis würde ein zweistufiges Verfahren für alle Beteiligten eine deutliche Verbesserung darstellen. 4. Vereinbarkeit mit dem EU-Prozessrecht Die Abstufung einer Streitigkeit in mehrere Verfahrensteile ist dem EU-Prozessrecht keineswegs fremd: Art. 91 § 1 Abs. 1 EuGH-VerfO sieht vor, dass eine Partei in einem streitigen Verfahren23 vorab eine Entscheidung über einen Zwischenstreit beim Gerichtshof beantragen kann. Der Gerichtshof kann dann nach eigenem Ermessen über diese Zwischenfrage vorab entscheiden oder die Entscheidung dem Endurteil vorbehalten (Art. 91 § 4 Abs. 1 EuGH-VerfO). Zwi21 EuGH, Urteil vom 3. Oktober 2006, Rs. C-475/03, Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373, Rn. 39. 22 Siehe oben C. II. 2. d) bb). 23 Wägenbaur, VerfO EuGH, Art. 91 VerfO EuGH, Rn. 1; Brown/Kennedy, S. 289.
IV. Zweistufiges Verfahren
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schenstreitigkeiten können dabei zum einen prozesshindernde Einreden (die in der Vorschrift auch ausdrücklich genannt werden), zum anderen sonstige abtrennbare Rechtsfragen betreffen.24 Derartige Zwischenstreitigkeiten im engeren Sinn25 können unter anderem auch verfahrensrechtliche Vorfragen betreffen, zum Beispiel Fragen zur Durchführung und Gestaltung des Verfahrens.26 Das Zwischenverfahren ist grundsätzlich im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens anwendbar.27 Zwar spricht Art. 91 § 1 Abs. 1 EuGH-VerfO von „Parteien“, was auf das Erfordernis eines streitigen Verfahrens hinweist, allerdings ordnet Art. 103 EuGH-VerfO an, dass die Bestimmungen der Verfahrensordnung wesensgemäß auf das Vorabentscheidungsverfahren, unter Berücksichtigung der Besonderheiten dieser Verfahrensart, anzuwenden sind. Auch im Vorabentscheidungsverfahren sind prozesshindernde Einreden zu verfahrensspezifischen Zulässigkeitsfragen denkbar, zum Beispiel der Einwand der Unzulässigkeit oder Unerheblichkeit der Vorlagefrage oder die fehlende Vorlageberechtigung des vorlegenden „Gerichts“.28 Zumindest ein Zwischenstreit im engeren Sinne über Verfahrensfragen oder materielle Vorfragen ist ohne weiteres im Vorabentscheidungsverfahren möglich. Allerdings kann der Zwischenstreit seiner Zweckrichtung nach nur der Klärung von Vorfragen dienen, also Fragen, die einerseits für die Entscheidung in der Hauptsache relevant sind, die sich aber andererseits so einfach beantworten lassen, dass eine Abtrennung vom Rest der Rechtssache unter prozessökonomischen Gesichtspunkten einen Sinn ergibt.29 Dies zeigt sich deutlich in der englischen und der französischen Fassung der Verfahrensordnung, die unmissverständlich fordern, dass die Zwischenfrage die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen darf (engl. „not going to the substance of the case“, frz. „sans engager le débat au fond“). Diese Situation unterscheidet sich erheblich von der des hier vorgeschlagenen zweistufigen Verfahrens, wo die eigentlichen Hauptfragen vorweg geklärt und die eher nachrangigen Fragen der Urteilswirkungen nachgeschoben werden. Es würde den Wortlaut der Vorschrift schon deutlich strapazieren, wenn man entweder die eigentliche Sachfrage oder aber die nachgeschobene prozessuale Nebenfrage unter den Begriff „Vorfrage“ subsumieren wollte. Eine direkte Anwendung des Art. 91 EuGH-VerfO dürfte folglich ausscheiden. 24 Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), § 12, Rn. 9; Klinke, Rn. 297. 25 So die Bezeichnung bei Klinke, Rn. 299, Fn. 289; dem folgend Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), § 12, Rn. 9. 26 Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), § 12, Rn. 11. 27 A.A. Wägenbaur, VerfO EuGH, Art. 91 VerfO EuGH, Rn. 1. 28 Vgl. zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen des Vorabentscheidungsverfahrens Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), § 10, Rn. 16 ff. 29 Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), § 12, Rn. 2.
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H. Zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen de lege ferenda
Somit stellt sich automatisch die Frage einer analogen Anwendung. In diesem Zusammenhang ist jedoch bereits das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke zu verneinen. Die momentan letzte Änderung der Verfahrensordnung des EuGH stammt vom 24. Mai 2011, und auch in den vorangegangen Jahren wurde die Verfahrensordnung regelmäßig ergänzt und geändert. Da die Problematik der zeitlichen Beschränkungen des Urteils seit der Defrenne II-Entscheidung bekannt ist und die damit verbundenen prozessualen Hindernisse seitdem mehr und mehr ins Bewusstsein aller Beteiligten gerückt sind, hätten mehr als genug Gelegenheiten zu einer Ergänzung der Verfahrensordnung bestanden. Dies gilt umso mehr, als der Gerichtshof sich seine Verfahrensordnung gemäß Art. 253 Abs. 6 Satz 1 AEUV selbst gibt und die Einbindung der anderen Organe sich auf eine Genehmigung des Rates beschränkt. Der Gerichtshof ist damit, anders als im typischen Anwendungsfall der Analogie, nicht gezwungen, auf ein Tätigwerden des Gesetzgebers zu warten, sondern er ist im Hinblick auf die Verfahrensordnung selbst das rechtsetzende Organ. Es wäre daher nicht einzusehen, warum der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zu einer analogen Anwendung von Art. 91 Abs. 1 EuGH-VerfO übergehen sollte, wenn er diese Vorschrift auch selbst entsprechend ergänzen könnte. De lege lata liegen daher die Voraussetzungen für ein zweistufiges Verfahren noch nicht vor, allerdings ließen sich diese Voraussetzungen de lege ferenda durch eine Änderung der Verfahrensordnung, die der Gerichtshof selbst vornehmen kann (vorbehaltlich der Genehmigung des Rates), durchaus kurzfristig schaffen.
V. Zusammenfassung Die derzeitige Rechtsprechung des EuGH wird der zugrundeliegenden Problematik der Abwägung zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit besser gerecht, als ihre Kritiker glauben machen wollen. Eine Revolution der Rechtsprechung zu den zeitlichen Wirkungen erscheint daher nicht erforderlich. Auch die vom Bundesfinanzministerium eingesetzte „Expertenkommission Europäisches Verfassungsrecht“ hat die Rechtsprechungslinie des EuGH weitgehend befürwortet und Änderungen eher im Detail denn in Grundsatzfragen vorgeschlagen. Trotzdem: „Das Bessere ist der Feind des Guten“ (Voltaire). Das in dieser Arbeit vorgestellte zweistufige Verfahren ermöglicht es, die Interessen der Parteien des Ausgangsverfahrens an einer schnellen Durchführung des „Zwischenverfahrens“ 30 vor dem EuGH zu wahren, ohne Kompromisse bei der Sorgfalt machen 30 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist das Vorabentscheidungsverfahren „für die Parteien des Ausgangsverfahrens [. . .] ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten“; vgl. statt vieler EuGH, Urteil vom 11. Juni 2009, verb. Rs. C-155/08 u. C-157/08, X, Slg. 2009, I-5093, Rn. 87.
V. Zusammenfassung
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zu müssen, mit der die Frage behandelt werden kann, ob die zeitlichen Wirkungen des Urteils zu beschränken sind. Ein solches Verfahren ließe sich durch einige leicht zu bewirkende Änderungen der Verfahrensordnung kurzfristig einführen. Vielleicht kann der hier dargestellte Ansatz eine juristische Diskussion in Gang bringen, die weniger auf eine Kritik der bisherigen Rechtsprechung abzielt, sondern realistisch darauf schaut, wie die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkung durch Feinjustierung und Änderungen des Verfahrens für alle Beteiligten praktischer und vorhersehbarer wird.
J. Schlussbemerkungen I. Ergebnisse der Arbeit 1. Die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen, die der EuGH in seinem Urteil in der Rechtssache Defrenne II vor gut dreißig Jahren entwickelt hat, gibt dem Gerichtshof ein notwendiges Instrument an die Hand, um in besonders gelagerten Fällen, in denen mit unverhältnismäßig schwerwiegenden Folgen für die Mitgliedstaaten oder Private zu rechnen ist, ausnahmsweise der Rechtssicherheit Vorrang vor der Gerechtigkeit zu geben. Bei dieser zeitlichen Beschränkung handelt es sich keineswegs um eine Neuerfindung des EuGH. Viele Mitgliedstaaten kennen ähnliche Instrumentarien, um bei Normverwerfungsverfahren das Vertrauen in die bisherige Rechtslage zu schützen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Rechtsordnungen, bei denen eine verworfene Norm ex tunc nichtig wird (hierzu zählt auch das Unionsrecht) und solchen Rechtsordnungen, bei denen ein Verwerfungsurteil die gegen höherrangiges Recht verstoßende Norm ohnehin nur für die Zukunft beseitigen kann. Des Weiteren sehen die meisten Rechtsordnungen Ausnahmemöglichkeiten vor, die eine Verschiebung des Zeitpunkts der Urteilswirkungen erlauben. Systeme mit grundsätzlicher ex-tunc-Wirkung können eine Verschiebung auf den Zeitpunkt des Urteils (ex-nunc-Wirkung) oder gar auf einen in der Zukunft liegenden Zeitpunkt (pro-futuro-Wirkung) vorsehen. Auch Systeme mit ex nunc wirkenden Normenkontrollen können eine Verschiebung in die Zukunft oder aber die Anordnung einer weiterreichenden Rückwirkung vorsehen. Als Gründe für eine Verschiebung der Urteilswirkungen werden insbesondere die Einhaltung der Gewaltenteilung sowie die Rücksichtnahme auf wichtige staatliche, insbesondere finanzielle Interessen angesehen. Diese Gründe sind allerdings in den meisten Rechtsordnungen gegen die berechtigten Interessen der von einer Einschränkung des Urteils betroffenen Individuen abzuwägen. Hier ist eine Tendenz zu sehen, denjenigen, die bereits zur Wahrung ihrer Rechte tätig geworden sind, ihre Rechtspositionen nicht nachträglich wieder wegzunehmen. Interessanterweise stellen in der heutigen EU mit 27 Mitgliedstaaten die Rechtsordnungen mit ex tunc wirkenden Normenkontrollverfahren die Minderheit dar; Ende der siebziger Jahre, als der Gerichtshof erstmals ausdrücklich zur zeitlichen Wirkung seiner Vorabentscheidungsurteile Stellung nehmen musste, sah das noch anders aus. Bislang hat sich der Gerichtshof von dieser Entwicklung allerdings weitgehend unbeeindruckt gezeigt und an seiner Rechtsprechung, dass Vorabentscheidungen grundsätzlich ex-tunc-Wirkung haben, festgehalten.
I. Ergebnisse der Arbeit
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2. Auch im Rahmen der Verfahrensarten vor dem EuGH ist festzustellen, dass das Vorabentscheidungsverfahren nicht das einzige Verfahren ist, in dessen Rahmen sich Fragen der zeitlichen Wirkung stellen. Sowohl im Rahmen der Nichtigkeitsklage als auch im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens ist dies ein Thema. Die Nichtigkeitsklage wirkt grundsätzlich ex tunc; Art. 264 Abs. 2 AEUV sieht allerdings eine Ausnahmemöglichkeit hiervon vor, um zur ex-nuncWirkung der Nichtigerklärung einer Organhandlung zu gelangen. Bei Vertragsverletzungsverfahren hingegen ist davon auszugehen, dass die Mitgliedstaaten die Verletzung grundsätzlich nur ex nunc abzustellen haben, wobei jedoch in Ausnahmefällen eine Verpflichtung zu einem rückwirkenden Tätigwerden der Mitgliedstaaten denkbar erscheint. Eine solche Verpflichtung zur rückwirkenden Folgenbeseitigung scheint darüber hinaus auch in einem Untätigkeitsverfahren denkbar. 3. Eine besondere Brisanz erhält die Frage der zeitlichen Wirkung in Vorabentscheidungsverfahren. Da Vorabentscheidungen (anders als Nichtigkeitsklagen) an keine unmittelbare Frist geknüpft sind, können hier Sekundärrechtsakte oder nationale Gesetze auch noch nach vielen Jahren aufgrund eines möglichen Verstoßes gegen höherrangiges Unionsrecht in Frage gestellt werden. Je länger die verstrichene Zeitspanne, umso häufiger kann die unionswidrige Vorschrift angewandt worden sein, und umso höher sind die drohenden Rück- oder Nachzahlungsansprüche. 4. Der EuGH unterscheidet bei der dogmatischen Herleitung seiner Befugnis zur Beschränkung der zeitlichen Wirkung deutlich zwischen Vorabentscheidungen über die Auslegung des Unionsrechts und Vorabentscheidungen über die Gültigkeit von Sekundärrecht. In Auslegungsverfahren begründet er die Beschränkung mit dem allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit, der dem Unionsrecht innewohne, in Gültigkeitsverfahren hingegen wendet er Art. 264 Abs. 2 AEUV analog an. 5. Der grundsätzlichen Entscheidung des EuGH, in besonders gelagerten Konstellationen ausnahmsweise die Wirkungen seiner Vorabentscheidungsurteile zu beschränken, ist uneingeschränkt zuzustimmen. Nur so kann den berechtigten Interessen derer, die auf eine bestimmte Auslegung des Unionsrechts vertraut haben, die sich nachträglich als falsch erweist, genüge getan werden. Zugleich wird so eine konsequente, nur der richtigen Auslegung des Unionsrechts verpflichtete Rechtsprechung in Fällen ermöglicht, in denen der Gerichtshof sonst aus Rücksichtnahme auf die wirtschaftlichen und letztlich auch integrationspolitischen Folgen wider besseres Wissen eine von der für juristisch richtig empfundenen Lösung abweichende Entscheidung treffen müsste. 6. Mit dieser grundsätzlichen Zustimmung geraten die vom Gerichtshof gewählten Voraussetzungen für eine zeitliche Beschränkung ins Blickfeld: Die zwei zentralen Tatbestandsvoraussetzungen des EuGH sind die Gefahr schwerwiegen-
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J. Schlussbemerkungen
der Folgen sowie der gute Glaube der die Beschränkung wünschenden Betroffenen. Diese Voraussetzungen erscheinen im Grundsatz sinnvoll. Im Einzelnen sollte sich die Rechtsprechung jedoch deutlich weiterentwickeln. Die Schwere der wirtschaftlichen Folgen muss auf eine einheitliche Vergleichsbasis, zum Beispiel einen Quotienten des jährlichen Bruttosozialprodukts der betroffenen Mitgliedstaaten, gestellt werden. Dabei sollten zumindest grobe Größenordnungen gebildet werden, im Rahmen welcher Beträge bzw. Verhältnisse mit einer zeitlichen Beschränkung zu rechnen ist oder nicht, wobei sich der EuGH weiterhin das Recht vorbehalten könnte, aufgrund einer Abwägung der Besonderheiten des Einzelfalls abweichend zu entscheiden. Der Begriff der „Gefahr“ wurde bisher in der EuGH-Rechtsprechung in ungerechtfertigter Weise vernachlässigt. Wie im deutschen Gefahrenabwehrrecht bezeichnet „Gefahr“ die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Eintritts der befürchteten wirtschaftlichen Folgen. Hier sollte der EuGH seine Rechtsprechung in erheblichem Maße präzisieren. Die Gefahr sollte beurteilt werden anhand des Erwartungswerts, der sich aus den unterschiedlichen möglichen Schadenshöhen und ihren jeweiligen Wahrscheinlichkeiten errechnet. 7. Nicht im Rahmen der Vorabentscheidung zu berücksichtigen ist allerdings die Frage, ob die Kosten aufgrund unrechtmäßig erhobener oder einbehaltener Beträge bereits übergewälzt worden sind. Darüber haben ausschließlich die nationalen Gerichte zu entscheiden. Allerdings sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, wenn sie eine Rechnung über die drohenden wirtschaftlichen Folgen aufstellen, auch zu berücksichtigen, wieviele Ansprüche voraussichtlich aufgrund einer Überwälzung der Kosten (und damit einer ungerechtfertigten Bereicherung) oder aufgrund anderer Einwände letztlich nicht durchsetzbar sein werden. 8. Liegen dem Ausgangsverfahren mehrpolige Verhältnisse zwischen Privaten zugrunde, ist das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen für alle Interessengruppen, in jedem Fall aber zumindest für die Antragsteller zu prüfen. 9. Bedenklich erscheint die Praxis des EuGH, das Gewicht der wirtschaftlichen Folgen davon abhängig zu machen, auf welcher Gliederungsebene eines Mitgliedstaats diese Folgen auftauchen. Dadurch werden Mitgliedstaaten mit föderaler Struktur bevorzugt, die viele ihrer Aufgaben auf die unteren, leistungsschwächeren Ebenen delegieren. Da der Gerichtshof auch sonst keine Rücksicht darauf nimmt, inwieweit interne Verhältnisse der Mitgliedstaaten die Befolgung des Unionsrechts erschweren, sollte er es auch hier den Mitgliedstaaten überlassen, zumindest den Versuch zu unternehmen, auf unteren Ebenen auftauchende wirtschaftliche Folgen gesamtstaatlich aufzufangen. 10. Die zweite Tatbestandsvoraussetzung „guter Glaube“, die der EuGH teilweise auch durch die Formulierung „objektive und bedeutende Unsicherheit der Rechtslage“ ausdrückt, erfordert als Ausgangspunkt eine mehrdeutige Rechts-
I. Ergebnisse der Arbeit
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lage, gewissermaßen eine Grundunsicherheit. Hinzukommen muss jedoch ein erschwerendes Element, das den Betroffenen das berechtigte Gefühl gab, mit ihrer Interpretation des Unionsrechts richtig zu liegen. 11. Ein solches Verhalten kann insbesondere ein Verhalten der Kommission sein, das die Betroffenen in ihrer Rechtsauffassung bestätigt. Allein der Umstand, dass die Kommission kein Vertragsverletzungsverfahren einleitet oder ein solches Verfahren nicht fortführt, kann allerdings nicht ausreichen, sondern hat allenfalls Indizcharakter. Das Verhalten der Mitgliedstaaten ist jedenfalls ausreichend, um Private (zum Beispiel Unternehmen) gutgläubig zu machen. Einen Mitgliedstaat kann das Verhalten der anderen Mitgliedstaaten hingegen nur dann gutgläubig machen, wenn nahezu einstimmige Einigkeit im Hinblick auf die Interpretation der Rechtslage besteht. Auch der Gerichtshof kann den guten Glauben der Mitgliedstaaten begründen, wenn er sich entweder missverständlich ausdrückt oder explizit eine Meinung äußert, die er erst in einem späteren Verfahren wieder revidiert. Das Verhalten Privater, insbesondere großer Unternehmen oder Verbände, ist hingegen grundsätzlich nicht geeignet, den guten Glauben anderer Privater zu begründen. 12. Schließlich erfordert der gute Glaube eine objektivierte Sichtweise der Umstände. Die Betroffenen dürfen nicht jedes Verhalten der Kommission zu ihren Gunsten auslegen, sondern die erschwerenden Faktoren müssen sie vernünftigerweise in ihrem Glauben an die Richtigkeit ihrer Rechtsauffassung bestärkt haben. 13. Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorhandensein des guten Glaubens ist die jeweilige Begründung eines Rechtsverhältnisses. Der gute Glaube der Betroffenen kann daher je nach Entwicklung der Umstände durchaus lange vor dem abschließenden Urteil des EuGH erschüttert werden und somit wegfallen. 14. Beide Tatbestandsvoraussetzungen, die Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Folgen und der gute Glaube, stehen gleichrangig nebeneinander und müssen kumulativ erfüllt sein. 15. Zum Nachweis, ob die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, ist in der Regel vor dem Gerichtshof insoweit der Sachverhalt aufzuklären, weil dies nicht zur Kompetenz des vorlegenden Gerichts gehört. Hier gilt der Beibringungsgrundsatz; die Beteiligten müssen detailliert zu den erwarteten Störungen und den Umständen, die ihren guten Glauben begründet haben, Stellung nehmen. 16. Eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkung erfordert keinen Antrag seitens eines der Beteiligten, sondern kann vom Gerichtshof jederzeit kraft seines Amtes angeordnet werden. Eine korrespondierende Pflicht zu einer Prüfung von
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J. Schlussbemerkungen
Amts wegen im Rahmen eines jeden Vorabentscheidungsverfahrens gibt es jedoch nicht. Daher bietet es sich für die Beteiligten an, auf die Möglichkeit einer solchen Beschränkung und das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen hinzuweisen. Auch das vorlegende Gericht ist zu einem solchen Hinweis berechtigt, sollte diesen aber deutlich von den Vorabentscheidungsfragen trennen, da eine zeitliche Beschränkung kein tauglicher Gegenstand für eine Vorlagefrage ist. 17. Die Kompetenz zur Anordnung einer zeitlichen Beschränkung liegt ausschließlich beim Gerichtshof; nationale Gerichte können daher nicht selbst den zeitlichen Anwendungsbereich eines Vorabentscheidungsurteils beschneiden, selbst wenn ihrer Meinung nach die Voraussetzungen dafür vorliegen. 18. Eine zeitliche Beschränkung ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nur dann möglich, wenn er zum ersten Mal eine konkrete Rechtsfrage beantwortet. Diesem restriktiven Ansatz einer Präklusion ist zuzustimmen, so schmerzhaft er im Einzelfall für die Beteiligten auch sein mag. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass durch eine spätere zeitliche Beschränkung das Unionsrecht in den Mitgliedstaaten und auch innerhalb ein und desselben Mitgliedstaats je nach Zeitpunkt der Rechtsverfolgung unterschiedlich angewandt werden müsste. 19. Im Rahmen der konkreten Beantwortung der Frage, ob eine Rechtsfrage bereits geklärt wurde oder nicht, sollte der EuGH Zurückhaltung wahren. Wenn bisher nur eine ähnliche Frage beantwortet wurde, deren Übertragbarkeit auf die vorliegende Fragestellung unklar ist, dann ist eine Präklusion zu verneinen. 20. Eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs wirkt bei Auslegungs- wie bei Gültigkeitsfragen zurück auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der unionsrechtlichen Norm, die er ausgelegt oder über deren Gültigkeit er entschieden hat. Diese uneingeschränkte ex-tunc-Wirkung erscheint jedoch unangebracht, wenn sich die Auslegung der unionsrechtlichen Norm, die Gegenstand des Auslegungsverfahrens ist oder an der das Sekundärrecht zu messen ist, im Laufe des Integrationsprozesses gewandelt hat. Sekundärrecht oder nationales Recht können daher auch erhebliche Zeit nach Inkrafttreten unionsrechtswidrig werden. In diesen Fällen kann das Urteil nur so weit in die Vergangenheit zurückwirken, wie diese neue Auslegung reicht. 21. Eine weitergehende Folge der Rückwirkung ist, dass der Einzelne einen unionsrechtlichen Erstattungsanspruch auf Rückzahlung zu Unrecht geleisteter Abgaben hat, dessen nähere Modalitäten sich nach dem nationalen Recht richten. 22. Bei der Wahl des Stichtags für das Ende der Beschränkung der Urteilswirkungen und somit für den Eintritt der Wirkungen des Urteils kommt neben dem Tag der Verkündung des Urteils (diese Lösung hat der EuGH bisher immer gewählt) auch die Wahl eines Zeitpunkts in der Zukunft in Betracht. Dadurch würde den Mitgliedstaaten eine Übergangsfrist für den Erlass unionsrechtskonformer Rechtsvorschriften gewährt. Eine solche Übergangsfrist dürfte jedoch nur
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sehr restriktiv zugestanden werden, wenn nämlich gerade aufgrund der Zeitspanne, die bis zum Erlass neuer Vorschriften vergeht, der Eintritt schwerwiegender Folgen zu befürchten wäre. 23. Der Tag des Erlasses eines früheren EuGH-Urteils kommt nur dann als Stichtag für eine zeitliche Beschränkung in Betracht, wenn der Gerichtshof bereits in diesem früheren Urteil eine Beschränkung vorgenommen hat. In diesem Fall hat die Bezugnahme auf die Beschränkung im Rahmen des nachfolgenden Urteils allerdings rein deklaratorischen Charakter. 24. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass eine zeitliche Beschränkung nur solange angeordnet werden kann, wie beide Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen. Fällt der gute Glaube des Betroffenen schon vor Verkündung des Urteils weg, kann die zeitliche Beschränkung auch nur so weit reichen. 25. Die zeitliche Beschränkung des Urteils wirkt sich bereits de lege lata nicht nur auf die Mitgliedstaaten, von deren Gericht eine Vorlage kommt, oder auf die die Beschränkung beantragenden, sondern vielmehr auf alle Mitgliedstaaten aus. Würde die zeitliche Beschränkung sich nur selektiv auf einzelne Mitgliedstaaten auswirken, wäre das Unionsrecht nicht mehr in der gesamten Union einheitlich anwendbar. 26. Der Gerichtshof sieht in ständiger Rechtsprechung eine Rückausnahme von der zeitlichen Beschränkung vor für diejenigen, die vor Erlass des Vorabentscheidungsurteils Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt haben. Als „entsprechende Rechtsbehelfe“ sind im deutschen Recht insbesondere Widersprüche gegen Verwaltungsakte und Einsprüche gegen Steuerbescheide anzusehen. Zivilprozessrechtliche Mahnanträge sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bereits den Klagen zuzurechnen. Maßgebliche Handlung ist nach hier vertretener Auffassung die Einreichung des Rechtsbehelfs bei der jeweils zuständigen Stelle. Nicht erforderlich ist, dass der Rechtsbehelf ausdrücklich Verstöße gegen das Unionsrecht rügt. 27. Hinsichtlich des Stichtags, bis zu dem ein Rechtsbehelf eingelegt sein muss, damit der Prozessierende in den Genuss der Rückausnahme kommt, sollte der EuGH zu einer variableren Tenorierung übergehen. Im Hintergrund sollte immer die Abwägung stehen, wer schutzwürdiger ist: der wirtschaftlich bedrohte, gutgläubige Mitgliedstaat (oder auch Private), oder derjenige, der aufgrund des EuGH-Urteils einen Anspruch geltend machen kann. Im Zweifel ist der letztere schutzwürdig; diesen Bonus verspielt jedoch, wer erst dann einen Anspruch erhebt, wenn der Erfolg fast sicher scheint. Es sollte daher differenziert werden: Im Regelfall ist der Erlass des Urteils auch der passende Stichtag für die Rückausnahme. Wenn aber – insbesondere aufgrund des großen Medieninteresses – so viele Individuen bereits Rechtsbehelfe eingelegt haben, dass die zeitliche Beschränkung wirkungslos zu sein droht, dann sollte abweichend tenoriert und auf die Schlussanträge des Generalanwalts abgestellt werden: Plädiert der Generalan-
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walt im Sinne der Mitgliedstaaten, ist die Klageerhebung bis zum Zeitpunkt des Vorabentscheidungsurteils prämierungswürdig; die Rückausnahme ist daher zu tenorieren wie bisher. Geht der Generalanwalt hingegen von der Unionsrechtswidrigkeit des auf dem Prüfstand befindlichen nationalen Rechts oder Unionssekundärrechts aus, dann erscheint eine Rückausnahme nur bis zur Verlesung der Schlussanträge gerechtfertigt. Etwas anderes gilt nur für Ansprüche, die überhaupt erst im Zeitraum zwischen Schlussanträgen und Urteil entstehen. Da hier ein früheres Tätigwerden gar nicht möglich war, ist Stichtag für die Rückausnahme in solchen Fällen weiterhin der Tag der Verkündung des Urteils. 28. Dem EuGH kommt sowohl in Gültigkeits- als auch in Auslegungsverfahren ein Ermessen zu, ob und in welchem Umfang er eine Rückausnahme gewährt. Hierbei handelt es sich um ein intendiertes Ermessen, da im Regelfall die Rechteinhaber, die bereits Schritte zur Wahrung ihrer Rechte unternommen haben, schutzwürdig sind. Nur in begründeten Ausnahmefällen darf der Gerichtshof hiervon abweichen. 29. Unabhängig davon, ob sich der Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsurteil für oder gegen eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen entscheidet, können die nationalen Rechtsordnungen Ausschlussvorschriften zu Bestandskraft oder Verjährung vorsehen, die je nach Fallkonstellation die Berufung auf das Vorabentscheidungsurteil unmöglich machen. Voraussetzung ist jedoch, dass keine Ungleichbehandlung von unionsrechtlich und nationalrechtlich geregelten Sachverhalten vorliegt (Äquivalenzgrundsatz) und dass die Verwirklichung des Unionsrechts nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden darf (Effektivitätsgrundsatz). Vor diesem Hintergrund ist es den Mitgliedstaaten nicht erlaubt, gezielt die Wirkungen einzelner EuGH-Urteile durch nationale Rechtsvorschriften zu beschränken. 30. Das Unionsrecht fordert grundsätzlich nicht von den Mitgliedstaaten, dass bereits bestandskräftige Rechtsakte wegen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht wieder aufgehoben werden. Eine Pflicht zur Aufhebung besteht nur in eng begrenzten Ausnahmefällen, wenn eine solche nach nationalem Recht überhaupt möglich ist, der Betroffene den Rechtsweg erschöpft hat und das letztinstanzliche Urteil ergangen ist, ohne dass eine Vorlage an den EuGH gerichtet worden war. 31. Anders als eine Unvereinbarerklärung des BVerfG hat eine zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen keine Anwendungssperre zur Folge; vielmehr dürfen die nationalen Behörden und Gerichte die eigentlich unionsrechtswidrigen Vorschriften in dem Rahmen, den der EuGH vorgibt, auf die von der zeitlichen Beschränkung betroffenen Sachverhalte anwenden. Da diese vorübergehende Anwendung unionsrechtskonform ist, sollte ihr auch der in vielen mitgliedstaatlichen Verfassungen existierende Grundsatz der Gesetzmäßigkeit nicht entgegenstehen.
I. Ergebnisse der Arbeit
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32. Eine pragmatische Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, die Wirkung eines Urteils zu beschränken, bestünde in der Verabschiedung eines Protokolls zu den Verträgen, in dem die Urteilswirkungen geklärt werden. Ein solches Protokoll verstieße zwar gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz, müsste aber vom Gerichtshof dennoch beachtet werden. 33. Die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen in Ungültigkeitsverfahren ähnelt sehr derjenigen in Vorabentscheidungsverfahren zur Auslegung des Unionsrechts. Allerdings stehen im Rahmen der Tatbestandsvoraussetzungen die Folgen des Urteils sehr im Vordergrund; die Gutgläubigkeit spielt hingegen eine eher geringe Rolle. Es erschiene auch nicht sachgerecht, wenn der Gerichtshof überprüfte, ob ein Mitgliedstaat oder gar ein Individuum auf die Gültigkeit des Unionsrechts vertrauen durfte. Auf der Rechtsfolgenseite ist auf die Besonderheit hinzuweisen, dass der EuGH in Ungültigkeitsverfahren vereinzelt schon den Zeitpunkt für den Eintritt der Urteilswirkungen auf einen in der Zukunft liegenden Stichtag gelegt hat. Ein weiterer Unterschied zur zeitlichen Beschränkung in Auslegungsverfahren liegt darin, dass der Gerichtshof in den ersten Ungültigkeitsverfahren, in denen er die Urteilswirkungen beschränkte, keine Rückausnahme zum Schutz derjenigen vorsah, die bereits Schritte zur Wahrung ihrer Rechte vorgenommen hatten – nicht einmal zugunsten der Klägerin des Ausgangsverfahrens. Von dieser Praxis hat der EuGH zwischenzeitlich Abstand genommen, behält sich aber die Befugnis zu einer zeitlichen Beschränkung ohne Rückausnahme weiterhin vor. 34. Unter dem Aspekt der ökonomischen Rechtsfolgenanalyse erscheint eine zeitliche Beschränkung nur dann sinnvoll, wenn sie eine seltene Ausnahme bleibt. Anderenfalls fehlt den Mitgliedstaaten der Anreiz zur Befolgung des Unionsrechts. Allerdings setzt dies auch voraus, dass die Entwicklung des Unionsrechts insgesamt vorhersehbarer wird, weil ansonsten kein verhaltenssteuernder Effekt auf die Mitgliedstaaten erzielt werden kann. Im Hinblick auf die Individuen der Union kommt der Rückausnahme von der Urteilsbeschränkung eine besonders verhaltenssteuernde Wirkung zu, da sie Anreize setzt, sich gegen unionsrechtliches Handeln zu wehren. Die daraus resultierenden Rechtsbehelfe sind potentiell geeignet, zu einer baldigen Vorlage beim EuGH und damit zur Klärung unionsrechtlicher Unsicherheiten zu führen. 35. Sobald die Frage einer zeitlichen Beschränkung im Raum steht, ergeben sich zahlreiche praktische Probleme: Das Verfahren wird um einige komplizierte Rechtsfragen reicher, die unter Umständen die Dauer des Verfahrens verlängern können. Dadurch wird der Rechtsschutz des Ausgangsklägers eingeschränkt, der deutlich länger auf sein Zwischenurteil warten muss. Unter Umständen müssen die Mitgliedstaaten aufwendig die befürchteten Auswirkungen darlegen, selbst wenn diese Fragen sich im Nachhinein als völlig irrelevant erweisen, weil der Gerichtshof bereits in der Hauptsache eine Unionsrechtswidrigkeit verneint. Um
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ganz sicher zu gehen, müssen außerdem die Mitgliedstaaten schon bei rein ähnlich gelagerten Sachverhalten einen prophylaktischen Antrag auf Begrenzung der Urteilsfolgen stellen, um der Präklusion zu entgehen. Um diese Probleme zu vermeiden, wird die Einführung eines zweistufigen Verfahrens vorgeschlagen, bei dem in einem ersten Schritt die eigentlichen Vorlagefragen beantwortet und diese Antworten in Form eines Zwischenurteils an das vorlegende Gericht geleitet werden, während erst in einem zweiten Schritt über die zeitliche Beschränkung verhandelt und entschieden wird. Die Voraussetzungen für ein solches Verfahren müssten allerdings noch vom Gerichtshof im Wege einer Änderung der Verfahrensordnung geschaffen werden.
II. Ausblick Die zeitliche Beschränkung der Urteilswirkungen, die seit nunmehr drei Jahrzehnten zum Repertoire des Gerichtshofs gehört, wird sicherlich auch in Zukunft in schöner Regelmäßigkeit eine Rolle im Vorabentscheidungsverfahren spielen. Die hier aufgezeigten Fragen stellen sich jedenfalls unter dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union genauso wie unter allen Vorgängerverträgen. In Fällen, in denen aufgrund der Rückwirkung eines drohenden Vorabentscheidungsurteils für einen Mitgliedstaat hohe Summen auf dem Spiel stehen, wird das Verfahren gewiss die Aufmerksamkeit der Fachpresse oder gar der Massenmedien erwecken und zu mehr oder weniger subtilen Versuchen der Einflussnahme auf die Richter in Luxemburg führen. Die Mitgliedstaaten werden weiterhin versuchen, den EuGH zu einer großzügigeren Handhabung der zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen zu bewegen. Dass der Gerichtshof sich davon wird beeindrucken lassen, darf allerdings bezweifelt werden. Nach dem derzeitigen Stand der Dinge ist davon auszugehen, dass der EuGH seine Beschränkungsrechtsprechung in der bisherigen Form weiterführen wird. Auch die Folgen der so genannten „Berliner Erklärung“ sind noch abzuwarten; bisher hat der EuGH – soweit ersichtlich – hierzu keine Stellung genommen. Wünschenswert wäre, dass der EuGH, auch wenn er im Großen und Ganzen seine restriktive Rechtsprechungslinie beibehält, offen für Verbesserungen im Detail bleibt. Hier wäre Raum für eine genauere Stellungnahme zu der Grenze zwischen nicht schwerwiegenden und schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen, zu einer Konkretisierung des Gefahrenbegriffs und zu einer Verfeinerung der Rechtsfolgen- und Rückausnahmebestimmung. Auch die Einführung eines zweistufigen Verfahrens würde für den Gerichtshof keine Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung bedeuten. Das Kapitel der zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen ist jedenfalls noch keineswegs abgeschlossen, sondern verspricht auch in Zukunft spannende Verfahren und überraschende Entscheidungen.
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Sachverzeichnis Abgabe mit zollgleicher Wirkung 77 abstrakt-generelle Normenkomplexe 137 Abstraktionsniveau 167–169 acquis communautaire 38 actus contrarius 282 Amtsblatt der Europäischen Union 196, 218–220 Amtsermittlungsgrundsatz siehe Untersuchungsgrundsatz Analogie 58, 97–100, 239, 261 Anlassfall 23, 30, 46, 191, 227, 263 Antrag auf Begrenzung der Urteilsfolgen – Antragserfordernis 160 – Antragsfrist 159–160 – Begrenzung der Urteilsfolgen ohne Antrag 158–159 – Berechtigung zur Antragstellung 154– 156 – Vorlagefrage des nationalen Gerichts 156–158 Anwendungsvorrang 38, 90, 182, 202, 204, 238–242 Appellentscheidung 25 Äquivalenzgrundsatz 183, 210, 230–231, 238, 242 Assoziationsrat 78, 136 Ausgangsverfahren 155–156, 206–207, 284–286 Auslegung, gemeinschaftsrechtskonforme 84 Auslegungsverfahren 64, 89–91, 114– 246 authentische Auslegung 76, 245 Barber-Protokoll 76–77, 243–245 Begünstigungsausschluss, gleichheitswidriger 24, 109, 252, 259–261, 264
Beibringungsgrundsatz 148–152 Berliner Erklärung 279–282 Berufsausbildung 73–75, 141, 167–168 Beschränkungsregime 228 Bestandskraft 33, 46, 56, 92, 108 Beurteilungsspielraum 223–224, 262– 263 Beweisangebot 148 Beweislast 152–153 Chevron-Oil-Test 41 Dammbruch-Gefahr 102–103, 113, 286 Darlegungslast 148–152 Dienstleistungsfreiheit 239 Diskriminierungsverbot siehe auch Äquivalenzgrundsatz – allgemeines Diskriminierungsverbot 68, 73–74, 112, 167–168, 180 – Gleichheit des Arbeitnehmerentgelts 65 Durchführungsakte 55–59 dynamische Rechtsentwicklung 141 „echtes“ Auslegungsurteil 71 effektiver Rechtsschutz 105–106, 129, 206–207, 212, 214, 218, 221, 276 Effektivitätsgrundsatz 210, 231–234, 237, 238, 242 effet utile 103–104 einheitliche Anwendung des Unionsrechts 162–166, 203–204, 208–209, 240, 278 Entscheidungserheblichkeit 59, 63, 92, 158, 161, 207, 241–242, 285
Sachverzeichnis erga-omnes-Wirkung – nationale Normenkontrollverfahren 29, 35, 36, – Nichtigerklärung 55 – Vorabentscheidungsurteile 17, 90, 172–173, 248, 250, 267 Ergreiferprämie 30, 284 Ermessen des EuGH 50–53, 148, 159, 222–224, 246, 264, 286 erschöpftes Rechtsverhältnis 147–148 Erstattungsanspruch 105, 128, 165–166, 175, 182–183, 235, 268–270 Europäische Integration 67, 106–107, 111, 129, 180, 203–204 Europäische Kommission 132–135, 145, 155, 164–165, 192 Europäisches Parlament 137 European Communities Act 1972 (UK) 38 ex-ante-Wirkungen siehe ökonomische Analyse des Rechts ex-nunc-Wirkung – nationale Normenkontrollverfahren 23–25, 27, 28, 29–30, 36, 41, 42–43 – Nichtigerklärung 57–59 – Vorabentscheidungsurteile 180–182, 185–186, 259 Expertenkommission Europäisches Verfassungsrecht 279–280 ex-post-Wirkungen siehe ökonomische Analyse des Rechts ex-tunc-Wirkung – nationale Normenkontrollverfahren 23, 27, 28, 33, 35, 38, 42–43 – Nichtigerklärung 55 – Vorabentscheidungsurteile 64, 89–90, 179–182, 249–250, 268–271 Feststellungscharakter 62 Feststellungsurteil 60, 179, 184, 282 Feststellungswirkung 59 Folgenbeseitigungspflicht 56–57, 60, 65 Funktionalität als Ausgangspunkt der Rechtsvergleichung 20
319
Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Störungen 114–129, 146, 251 Gefährdungslage siehe Gefahrenbegriff Gefahrenbegriff 123–126 gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung siehe Auslegung, gemeinschaftsrechtskonforme Gerechtigkeit, materielle 44, 105, 205, 227, 265 Gerichtshierarchie 21 Gestaltungsausspruch siehe Gestaltungsurteil Gestaltungsurteil 36, 55, 62 Gewaltenteilung 45, 76, 100–102, 244– 245 Grenznutzen des Einkommens 269 Grundrechtecharta 105 grundrechtsgleiche Rechte 105–106 Gültigkeitsverfahren siehe Ungültigkeitsverfahren Guter Glaube siehe Unsicherheit der Rechtslage horizontale Wirkung von Richtlinien 104, 110, 112 Human Rights Act (UK) 38 Hüterin der Verträge 134, 139, 155, 192, 278 indirekter Vollzug 228, 255 Individualrechtsschutz 91, 164, 206 inter-partes-Wirkung 90, 171–173 Judiciary Act (USA) 39 Kapitalverkehrsfreiheit 84, 85 Klagebefugnis 55, 104 Klagefrist 91–93, 99, 255 Kommission siehe Europäische Kommission Kontext, relevanter faktischer 126–128 lex Manninen 236–237 loi organique (Frankreich) 26
320
Sachverzeichnis
Mahnungsentscheidung (Italien) 34 Mehrebenensystem 47, 105, 128 Mehrwertsteuerrichtlinie 79–83, 216, 254 mitgliedstaatlicher Vollzug siehe indirekter Vollzug Mitnahmeeffekt 273 Nachurteil 284 nationale Ausschlussfrist 70, 229, 231, 238 Nichtigerklärung – beim BVerfG 23 – beim EuGH 55–59 Nichtigkeitsklage 55–59, 64, 91, 97–100, 248, 249, 255 – Verhältnis zum Ungültigkeitsverfahren 98–99 Nichtigkeitslehre 23, 42, 44, 282 Niederlassungsfreiheit 84, 109, 239 Normenhierarchie 21, 37 Normenkontrollverfahren – allgemein 21, 53 – allgemeine Grundsätze 47–53, 281–282 – „amerikanisches System“ 39 – Deutschland 20–26, 225 – dezentrales/diffuses Normenkontrollverfahren 39, 42 – Frankreich 26–29 – Italien 32–34 – konzentriertes Normenkontrollverfahren 42 – Österreich 29–32 – „österreichisches System“ 40 – Spanien 34–35 – Tschechische Republik 35–37 – Vereinigte Staaten von Amerika 39–41 – Vereinigtes Königreich 37–39 ökonomische Analyse des Rechts 265– 276 – ex-ante-Wirkungen 266, 272–276 – ex-post-Wirkungen 266, 271–272
– Rechtsfolgenanalyse durch Gerichte 267–268 ökonomisches Paradigma 266 Parallelfall 23, 46, 191 parliamentary supremacy 37–39, 45 Präferenzen (Ökonomie) 266 Präklusion aufgrund früherer Vorabentscheidungsurteile 131, 169–174, 194– 195, 201–204, 278 praktische Konkordanz 106 Produkthaftung 176–177 pro-futuro-Wirkung – nationale Normenkontrollverfahren 31, 36, 42–43 – Nichtigerklärung 58 – Vorabentscheidungsurteile 259–261, 279 prospectivity 40–41, 46 Protektionismus 270 Prozessökonomie 171, 286, 287 Prozessrisiko 206, 212, 214, 220, 222, 224 prozessuale Maßnahmen und Anordnungen 159 Quellen des Unionsrechts 47, 50, 280 Rat der Europäischen Union 137–138, 288 räumlich beschränkte Urteilswirkung 197–205 rechtliches Gehör 151, 161 Rechtmäßigkeit der Verwaltung 225 Rechtsbehelf 209–210 Rechtsfortbildung 45, 49–51, 93, 160, 267 Rechtsgrundentscheidung 103 Rechtsgrundsätze, allgemeine 22, 47–53, 71, 94, 279–282 Rechtshängigkeit 208–209 Rechtskraft 106, 165, 188, 209, 225, 234 Rechtsprechungsänderung 136–137
Sachverzeichnis Rechtssicherheit – allgemein 20, 129, 165–166, 184, 185, 203, 205, 210–211 – allgemeiner Grundsatz der Rechtssicherheit 94–99, 223 – zwingende Erwägungen der Rechtssicherheit 58, 66, 70, 93–99, 147, 250– 258, 265 Rechtsvergleichung, wertende 48–53, 104, 281 Regularisierung 59, 61 Ressourcenallokation 265, 268, 270, 271, 272 retroactivity 40 richtlinienkonforme Auslegung 110 Rückausnahme 205–227, 261–263 Rückwirkung von Gesetzen 96 rule of law 40 Schadensabwälzung siehe ungerechtfertigte Bereicherung Schadenseintritt siehe Gefahrenbegriff Schlussanträge 193–194, 213–217 schriftliche Erklärung vor dem EuGH – Stellungnahme einer Partei des Ausgangsverfahrens 155 – Stellungnahme eines Mitgliedstaats vor dem EuGH 81, 86, 91, 121, 155, 171, 284 Schwellenwert 121–123 Slippery-Slope-Argument siehe Dammbruch-Gefahr stare decisis 40 Subsidiaritätsprinzip 163–164 teleologische Auslegung 103–104 Transaktionskosten 268 Treu und Glauben 142 Trittbrettfahrerproblematik 196, 206, 218, 226–227, 275 Übergangszeitraum – Übergangszeitraum zur Rechteverfolgung 220–221
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– Übergangszeitraum zur Rechtsanpassung 186–192 Umsetzungsfrist siehe Übergangszeitraum zur Rechtsanpassung ungerechtfertigte Bereicherung 174–176 Ungültigkeitsverfahren 89–93, 247–264 – Verhältnis zur Nichtigkeitsklage 98–99 Unionsgericht im funktionellen Sinn 157, 160 unmittelbar anwendbares Unionsrecht 61, 110, 182, 230 Unsicherheit der Rechtslage 129–145, 146, 253–256 Untätigkeitsklage 62–63 Untersuchungsgrundsatz 148 Unvereinbarerklärung 23–25, 69, 181, 260, 278, 279 Urteilstenor 180, 181, 186, 198, 199– 200, 208, 216, 284 Urteilsverkündung 183, 185–186, 211– 213 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie 111–112 Vereitelungsverbot siehe Effektivitätsgrundsatz Verfälschung des Wettbewerbs 80, 261 Verfassungsrezeption 22 Verfassungstraditionen 48 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 163, 254 Vernichtbarkeitslehre 23, 282 vertikale Zuständigkeitsverteilung siehe Mehrebenensystem Vertrag von Lissabon 54, 58–59, 93 Vertrag von Maastricht 76, 243 Vertragsverletzungsverfahren 59–62, 63, 66, 77, 85, 109, 132–135, 245 Vertrauensschutz 46, 94–97, 254–256, 265 Verwaltungsaufwand 118, 266, 269 Vorlagebeschluss 106, 161, 196, 207, 215, 218–220, 284 Vorlagefrage 152, 156–158, 164, 169, 240, 283
322
Sachverzeichnis
Waffengleichheit vor Gericht 151 Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung vor dem EuGH 81, 85, 160, 191, 283 Wohlfahrtssteigerung 270–271
Zweistufiges Verfahren 283–288 Zwischenurteil 283, 284, 286 Zwischenverfahren vor dem EuGH 286– 288