Die Völkischen in Deutschland: Kaiserreich und Weimarer Republik [2 ed.] 3534230124, 9783534230129

Die völkische Bewegung war ein loses Konglomerat von Vereinen und Parteien, die in ihrer Ideologie Rechtsnationalismus,

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German Pages 296 [298] Year 2018

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Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Gesichtspunkte zur Differentialdiagnostik
Die Völkischen im Kaiserreich
1. Die antisemitische Bewegung der Reichsgründungszeit
2. Grundlegung des völkischen Nationalismus: Bernhard Förster und Otto Glagau
3. Vom Diskurs zur Bewegung
4. Interferenzen I: Kolonialbewegung und Alldeutsche
5. Der Mißerfolg der Parteien
6. Parallelaktionen: Völkische Gesinnungsgemeinschaften
7. Interferenzen II: Kultur- und Lebensreform
8. Interferenzen III: Rassenhygienische Bewegung
Soziologische Exkurse
1. Proletaroider Intellektualismus
2. Völkischer Existentialismus
3. Gescheiterte Milieubildung
Die Völkischen in der Weimarer Republik
1. Tiefpunkt und Neubeginn
2. Der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund
3. Nationalismus ohne Nation? Der Deutschbund
4. Neue Parteien: Deutschsozialisten, Deutschsoziale, Regionalparteien mit völkischem Einschlag
5. Völkische in der DNVP
6. Deutschvölkische
7. Völkische Jugend
8. Zwischen Antifeminismus und Feminismus: Die Völkischen und die Frauen
9. Völkische in der NSDAP
10. Ausklang der völkischen Bewegung: Ludendorff-Bewegung und Deutsche Glaubensbewegung
Abkürzungsverzeichnis
Forschungsliteratur
Personenverzeichnis
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Die Völkischen in Deutschland: Kaiserreich und Weimarer Republik [2 ed.]
 3534230124, 9783534230129

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Stefan Breuer

Die Völkischen in Deutschland

Stefan Breuer

Die Völkischen in Deutschland Kaiserreich und Weimarer Republik 2. Auflage

Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Einbandbild: Friedrich August von Kaulbach: „Germania“ (1914). DHM Berlin.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 2., unveränderte Auflage 2010 © 2008 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: SatzWeise, Föhren Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-23012-9

Inhaltsverzeichnis Einleitung: Gesichtspunkte zur Differentialdiagnostik . . . . . . . . . . .

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Die Völkischen im Kaiserreich 1. Die antisemitische Bewegung der Reichsgründungszeit . . . . . . 2. Grundlegung des völkischen Nationalismus: Bernhard Förster und Otto Glagau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vom Diskurs zur Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Interferenzen I: Kolonialbewegung und Alldeutsche . . . . . . . . 5. Der Mißerfolg der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Parallelaktionen: Völkische Gesinnungsgemeinschaften . . . . . . 7. Interferenzen II: Kultur- und Lebensreform . . . . . . . . . . . . 8. Interferenzen III: Rassenhygienische Bewegung . . . . . . . . . . Soziologische Exkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Proletaroider Intellektualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Völkischer Existentialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gescheiterte Milieubildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Völkischen in der Weimarer Republik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Tiefpunkt und Neubeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund . . . . . . . . . . . . Nationalismus ohne Nation? Der Deutschbund . . . . . . . . . . . . Neue Parteien: Deutschsozialisten, Deutschsoziale, Regionalparteien mit völkischem Einschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Völkische in der DNVP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutschvölkische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Völkische Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Antifeminismus und Feminismus: Die Völkischen und die Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Völkische in der NSDAP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausklang der völkischen Bewegung: Ludendorff-Bewegung und Deutsche Glaubensbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Abkürzungsverzeichnis Forschungsliteratur

. 147 . 150 . 161 . . . .

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. 222 . 236 . 252

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Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung: Gesichtspunkte zur Differentialdiagnostik Wer sich anschickt, ein Panoramabild der völkischen Bewegung in Deutschland zu entwerfen, kann zumindest in einer Beziehung mit einer klaren Vorgabe rechnen: in der Wahl des Fluchtpunktes. Seit Adolf Hitler, nicht erst in Mein Kampf, dort aber am entschiedensten, für die NSDAP das Recht und die Pflicht in Anspruch nahm, „sich als Vorkämpferin und damit als Repräsentantin“ der „völkischen Ideen“ zu fühlen 1 und darin von deren Erzvater Theodor Fritsch bestärkt wurde, der der NSDAP bescheinigte, „ein Glied der allgemeinen völkischen Bewegung“ zu sein 2 , ist die Leitlinie vorgegeben, an die jede Behandlung des Gegenstands sich halten muß. Nicht als ob dieser Fluchtpunkt der einzig mögliche wäre. Hätte es die NSDAP nicht gegeben, wären wohl auch andere Realisierungen der „völkischen Ideen“ denkbar gewesen. Die Geschichte hat es jedoch nicht so gefügt, und damit steht jede Rekonstruktion vor der Aufgabe, die völkische Bewegung auf den Nationalsozialismus zu beziehen. Schon mit der nächsten Frage indes, wer alles auf dieses Bild gehört, tut sich ein wahrer Rattenkönig von Schwierigkeiten auf. Soll als „völkisch“ bereits gelten, wer den nationalen Gedanken mit dem der Macht verkuppelt und die eigene Nation „als den höchsten Wert annimmt, den Vergangenheit und Gegenwart aufweist“? 3 Das hieße, den völkischen Nationalismus mit dem Nationalismus schlechthin gleichzusetzen und alle Differenzen herunterzuspielen, durch die sich die Völkischen von anderen Nationalisten abgegrenzt haben, vom „alten“, bürgerlichen Nationalismus, wie ihn die Alldeutschen oder die Deutschnationalen pflegten, bis zum „neuen“ Nationalismus der Wehrbünde in der Weimarer Republik 4 , um vom „westlichen“, auf die „Staatsnation“ bezogenen Nationalismus zu schweigen. Oder soll darunter nur jener Nationalismus verstanden werden, der sich, anstatt auf die „Staats-“ oder „Kulturnation“, auf den Begriff der „Volksnation“ beruft, dem Völker „als überindividuelle und überhistorische Wesenheiten mit einer ererbten spezifischen Prägung (Nationalcharakter beziehungsweise -geist)“ gelten, deren Erhaltung höher zu bewerten sei als die individuellen Menschenrechte? 5 Eine solche Sichtweise ist aus mehreren Gründen problematisch. Sie ist es, 1

Adolf Hitler: Mein Kampf, 40. Aufl., München 1933, S. 514. Theodor Fritsch: Völkisch – oder national-sozialistisch, in: Hammer 24, 1925, H. 544. 3 Vgl. Deutschvölkischer Katechismus. Von einem deutschen Hochschullehrer, H. 1: Begriff und Wesen des Völkischen, Leipzig 1929, S. 15; H. 2: Völkische Organisationen. Leipzig 1931, S. 4. Der Verfasser dieses wichtigen und in Einzelheiten bis heute unverzichtbaren Überblicks, der der linksliberalen Deutung entscheidende Anstöße gegeben hat, ist bis heute nicht zweifelsfrei identifiziert. Manche Hinweise deuten auf den Dozenten an der Berliner Humboldt-Akademie Oscar E. G. Stillich: vgl. Puschner 2003, S. 445. 4 Zu dieser Differenzierung ausführlicher: Breuer 1999. 5 Vgl. Lepsius 1990, S. 235 ff.; Jansen 2005, S. 209. 2

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Einleitung: Gesichtspunkte zur Differentialdiagnostik

erstens, aus methodischen Gründen, weil das Dual zumeist nicht wertfrei eingesetzt, sondern im normativen Sinne verstanden wird, mit eindeutiger Präferenz für die Staatsnation und korrespondierender Abwertung der Volksnation, der bisweilen auch schon einmal Drogenqualitäten zugeschrieben werden, um ihre Verteidiger in möglichst ungünstigem Licht erscheinen zu lassen. 6 Wie es freilich möglich sein sollte, wissenschaftlich zwischen dem Wert individueller Rechte und demjenigen kollektiver zu entscheiden, ist unerfindlich. Sie ist es, zweitens, aus sachlichen Gründen, weil prominente Völkische auch mit der Staatsnation argumentieren, wo es ihren Absichten dienlich ist. 7 Und sie ist es, drittens, weil sie das völkische Denken mit dem ethnischen Gemeinsamkeitsglauben gleichsetzt und damit eine Entgrenzung des Erkenntnisobjekts bewirkt. Der ethnische Gemeinsamkeitsglaube indes – der Glaube an bestimmte Gleichartigkeiten der Herkunft und der Kultur, „primär der Sprache, aber auch der Alltagssitten, der Religion, bestimmter kollektiver Symbole u. ä.“ 8 – ist eine viel zu weit verbreitete und gerade heute in Gestalt der „ethnischen Mobilisierung“ überall auf dem Globus anzutreffende Erscheinung, als daß sie eine historische Besonderheit wie die völkische Bewegung in Deutschland hinreichend zu erklären vermöchte. Überdies sind ethnische Zugehörigkeiten in hohem Maße interpretationsoffene Kategorien, die sehr unterschiedliche Verbindungen mit politischen Präferenzen eingehen können, gegenwärtig etwa in Gestalt der Allianz von Multikulturalismus und Linksliberalismus oder derjenigen von Ethnopluralismus und Rechtspopulismus – beides Formen von Ethnopolitik. 9 Gerade in Deutschland, wo der Rekurs auf Ethnizität das Nationalbewußtsein zweifellos stärker geprägt hat als etwa in Frankreich oder den Vereinigten Staaten von Amerika, hat sich keineswegs nur die politische Rechte über die Markierung ethnischer Grenzen definiert. 10 Da der Begriff „völkisch“ durch den Nationalsozialismus kontaminiert ist, teilt sich dies durch die Gleichsetzung mit Ethnizität auch den liberalen, demokratischen und sogar sozialistischen Adaptionen des ethnisch gedeuteten Nationalbewußtseins mit, mit der Folge, daß die neuere deutsche Geschichte als eine einzige Bewegung auf 1933 zu erscheint. 11 Das entspricht zwar den Selbstdeutungen der völkischen 6

Vgl. Hoffmann 1994. Vgl. Breuer 2001, S. 96 ff. 8 Estel 2002, S. 30. Vgl. in diesem Sinne auch Smith 1991, S. 19 ff. 9 „Ethnic categories“, heißt es in der klassischen Studie von Barth 1969, „provide an organizational vessel that may be given varying amounts and forms of content in different socio-cultural systems“ (S. 14). Zu den aktuellen Erscheinungsformen von Ethnopolitik vgl. am Beispiel der USA: Neckel 1995; mit breiterem Fokus: Rata und Openshaw 2006; Olzak 2006. 10 Vgl. etwa, mit Blick auf die Diskussionen in der Paulskirche, Gosewinkel 2001, S. 110 ff. Auch die demokratische Linke des Vormärz hat sich eher von der Volks- als von der Staatsnation leiten lassen: vgl. für Wirth, Fröbel und Struve: Backes 2000, S. 135, 199, 201, 454 f. 11 Typisch hierfür etwa Greenfeld 1992 oder Hoffmann 1994. In Forschungen dieses Genres werden liberal-konservative Nationalisten wie Felix Dahn zu „völkischen Avantgardisten“ und genuin Nationalliberale wie Gustav Freytag zu deren Vorstufe: vgl. Kipper 2002, S. 135, 140, 85 ff. Christoph Jansen (1993) erkennt völkische Komponenten im Nationalismus liberaler Heidelberger Gelehrter, Michael Fahlbusch (1999, S. 229) nennt als „Vertreter der liberalen, deswegen nicht minder völkischen Politik im Kaiserreich“ – „Max Weber“. Für Eric Kurlander (2006) umfaßt der „völkisch-nationalism“ auch die große Mehrheit der deutschen Liberalen vor dem Ersten Weltkrieg. Michael Pittwald ereifert sich über „das völkische Denken Lassalles“ (2002, S. 195). Der 7

Einleitung: Gesichtspunkte zur Differentialdiagnostik

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Germanistik und Geschichtswissenschaft der NS-Zeit, sollte aber aus eben diesem Grund nicht fortgeschrieben werden. 12 Hilft es weiter, wenn man für die Bestimmung des Völkischen nur eine bestimmte Version der „Volksnation“ heranzieht, die sich durch die Betonung der Abstammungsgemeinschaft und deren „Biologisierung“ auszeichnet? 13 Das hätte, nach der einen Seite, den entgegengesetzten Effekt einer Verengung zur Folge, würden durch diese Festlegung doch die in der völkischen Bewegung nicht minder verbreiteten „spiritualistischen“ Deutungsmuster ausgeschlossen, die die Volksnation primär als Geist, Seele oder „Gestalt“ auffassen und nur sekundär auf Vererbung rekurrieren. Nach der anderen Seite bringt das Kriterium des Abstammungsglaubens wiederum eine Ausweitung mit sich, da es, wenn nicht für alle, so doch für zahlreiche ethnische Großgruppen typisch ist, zum Beispiel auch für das deutsche Judentum, das sich selbst immer wieder als „Schicksals- und Stammesgemeinschaft“ (Ludwig Holländer) gedeutet hat. 14 Ebenfalls im Sinne einer Extension des Objekts wirkt der Rekurs auf „Biologisierung“, vor allem aufgrund der naheliegenden Verbindung zum Begriff des „Rassismus“, der heute gern in einem umfassenden Sinne auf alle Formen gruppenbezogener Diskriminierung und Ausgrenzung angewendet wird, die mit naturalistischen Zuschreibungen operieren. 15 Wie Ernst Cassirer und Hannah Arendt gezeigt haben, sind jedoch Rassismus und Nationalismus „in ihrem Ursprung, wie in ihrem Inhalt und in ihrer Tendenz scharf geschieden“ 16 , bezieht sich doch der Nationalismus mit der Nation auf eine Größe, die vom Standpunkt konsequenter Rassentheorien als zusamBegriff des Völkischen wird auf diese Weise zu einem Strudel, der am Ende selbst die Sozialdemokratie und Goethe verschlingt. 12 Zu den Gründen, die sich gegen eine Verlängerung des völkischen oder gar „präfaschistischen“ Denkens ins frühe 19. oder gar 18. Jahrhundert anführen lassen, vgl. Hermand 1995, S. 24 ff. 13 Vgl. Kipper 2002, S. 16 f.; Wiwjorra 2006, S. 197 ff. Ähnlich Vopel 1999, S. 167 sowie bereits Julius Goldstein: Deutsche Volks-Idee und Deutsch-Völkische Idee. Eine Soziologische Erörterung der Völkischen Denkart, Berlin 1927, S. 5. In der Terminologie Max Hildebert Boehms wäre damit das Volk als Artbegriff, als „Demos“ angesprochen, im Unterschied zum Volk als „Ethnos“ als einer geistig-kulturellen Größe. Vgl. ders.: Das eigenständige Volk, Darmstadt 1965 (zuerst 1932), S. 17 ff., 38 f. Daß das meist besinnungslos als „völkisch“ qualifizierte Abstammungsprinzip sehr unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten zuläßt, zeigt Gosewinkel 2001, S. 325 u. ö. 14 So heißt es 1929 bei Ludwig Holländer, dem Direktor des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, explizit: „Wir werden heute nicht mehr den Grundsatz aufrechterhalten, daß es lediglich die Religion ist, welche die Juden eines Landes von ihren Mitbürgern unterscheidet. Wir sehen heute wie immer entscheidend im Judentum eine religiöse Gemeinschaft, aber wir erkennen wohl, daß auch der Gesichtspunkt der Schicksals- und Stammesgemeinschaft bedeutsame Bindungen erzeugt.“ Zit. n. Brenner 2001, S. 597. Einige Jahre zuvor konstatiert Walther Rathenau in einem Brief an Wilhelm Schwaner, die Juden seien für ihn „ein deutscher Stamm, wie Sachsen, Baiern oder Wenden.“ (Brief vom 18. 8. 1916, in: Walther Rathenau-Gesamtausgabe, Bd. V: Briefe 1871–1922, 2 Teilbde., hrsg. von Alexander Jaser u. a., Düsseldorf 2006, S. 1556). Selbst Erich Fromm betont in seiner Dissertation von 1922, die stärkste Kraft, die alle Juden verbinde, bleibe die „rassen- und stammesmäßige Bindung“ (zit. n. Brenner 2001, S. 598). Gewiß, Ethnizität wird in allen diesen Fällen offen gedeutet, aber um Ethnizität handelt es sich allemal. Auch dies ein Grund, auf einer begrifflichen Differenzierung zwischen „völkisch“ und „ethnisch“ zu beharren. 15 Vgl. aus der kaum mehr zu überschauenden Literatur: Fredrickson 2004, S. 172 f.; Hund 2006. 16 Cassirer 1988, S. 310.

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mengesetzt, als gemischt gilt. Das hat Nationalisten, zumal die völkischen, nicht daran gehindert, die Rassenlehren für ihre Zwecke zu adaptieren, wie es auch umgekehrt Rassisten nicht daran gehindert hat, ihrerseits den Nationalismus zu instrumentalisieren. Eine Begriffsbildung indes, der es um Differentialdiagnostik geht, hat nicht von den empirisch vorkommenden Verbindungen ihren Ausgang zu nehmen, sondern vielmehr danach zu streben, „durch Herauspräparierung der innerlich ,konsequentesten‘ Formen eines aus fest gegebenen Voraussetzungen ableitbaren praktischen Verhaltens die Darstellung der sonst unübersehbaren Mannigfaltigkeit zu erleichtern.“ 17 Seiner letzten Konsequenz nach aber ist der Rassismus „überall ein dem Nationalismus entgegengesetzter und ihn wie jede Form des Patriotismus untergrabender Faktor“, der „wie ein ständiger Schatten die Entwicklung des Nationalstaats und des auf ihm gegründeten Gleichgewichts Europas (begleitete), bis (er) am Ende dieser Periode sich als die Waffe erwies, mit der man der Nation den Garaus machen konnte.“ 18 Da die Völkischen trotz aller Konzessionen an die Rassenlehren in letzter Instanz stets Volk und Nation den Vorzug gegeben haben, wird dieses Buch sie dem Nationalismus und nicht dem Rassismus zuordnen und die entsprechende Semantik vermeiden, die sich in Formeln wie „völkisch-rassistisch“ oder der verbreiteten Übersetzung von „völkisch“ mit „racist“ oder „raciste“ äußert. 19 Soll man endlich den Schlüssel in einer spezifisch völkischen „Weltanschauung“ oder Religion suchen, wie die bislang kenntnisreichste Untersuchung dieses Gebietes empfiehlt? 20 Dem steht die Plethora von Angeboten gegenüber, die sich keineswegs in Nuancen unterscheiden, sondern der ganzen Breite des Spektrums entsprechen, das die philosophische Weltanschauungstypologie entworfen hat, vom „Naturalismus“, dem der Prozeß der Natur als „die einzige und die ganze Wirklichkeit“ gilt und der sich daher in beständigem Gegensatz mit religiösen Auffassungen befindet, über den „Idealismus der Freiheit“ bis zum „objektiven Idealismus“, der um die Idee einer „allgemeinverbreiteten geistigen göttlichen Kraft im Universum“ kreist. 21 Der Weg über Religion und Weltanschauung führt leider nicht „in das Zentrum der völkischen Weltanschauung und damit der Bewegung“ 22 , sondern in ein Rhizom, in dem materialistische und monistische, aber auch theo-, ario- und biosophische Anschauungen, Spiritismus, Glacial-Kosmogonie, deutschchristliche, gnostische und polytheistische Motive in undurchdringlicher Gemengelage liegen und jedem auch nur halbwegs Einsichtigen das Eingeständnis abgenötigt haben, die „Grundforderung einer geschlossenen, völkischen

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Max Weber 1989, S. 480 f. Arendt 1975, Bd. 2, S. 69, 76. 19 So nennt sich beispielsweise der Bund völkischer Europäer in den 30er Jahren „Alliance raciste européenne“ (vgl. Reichswart 15, 1934, Nr. 1). Johnpeter Horst Grill übersetzt völkischen Nationalismus als „racist populism, composed of anti-Semitism, intolerant nationalism, and a rejection of modernity“ (Grill 1983, S. 29). 20 Vgl. Puschner 2001, S. 14 u. ö. 21 Vgl. Wilhelm Dilthey: Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen (1911), in ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Leipzig und Berlin 1931, S. 75 ff., 84 ff., 100 ff., 107 ff., 112 ff., 220 ff. 22 Puschner 2006, h1i. 18

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Weltanschauung“ sei noch unerfüllt, man werde als Völkischer noch auf längere Sicht „zwiespältig und gebrochen“ sein. 23 Darüber hinaus führt dieser Weg zu einer Überbetonung der bizarren und verstiegenen Züge, die hier zweifellos in hoher Blüte stehen, von denen jedoch nicht bewiesen ist, ob sie tatsächlich für das durchschnittliche Mitglied, sagen wir des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes oder der Deutschvölkischen Freiheitspartei, verbindlich waren. Die Begriffsbildung an diesen Zügen zu orientieren, hieße, die Peripherie für das Zentrum, die Ausnahme für die Regel zu nehmen und damit gerade das zu verfehlen, was die völkische Bewegung in sozialer Hinsicht ausmacht: ihre Verankerung im juste milieu. Entsprechend zu relativieren sind auch die überstrapazierten Topoi des Irrationalismus, der Mystik, der romantischen oder kulturpessimistischen „Stimmung“, die aus einigen willkürlich ausgewählten Texten abgelesen werden, unter Ausblendung aller gegenteiligen Aussagen, die auf Optimismus, Fortschritts- und Wissenschaftsgläubigkeit schließen lassen. 24 Eine plausible Erklärung, wie sich der den Völkischen unterstellte „Angriff auf die Modernität, auf den ganzen Komplex von Ideen und Einrichtungen, in dem sich unsere liberale, weltliche, industrielle Zivilisation verkörpert“, mit der dort keineswegs seltenen „freisinnig-fortschrittlichen“, antiklerikalen Grundeinstellung verträgt, mit der Begeisterung für Eugenik, für Bevölkerungspolitik, für eine Stadtplanung, die selbst in Gartenstädten nicht auf U-Bahnen und elektrische Beleuchtung verzichten will 25 , sucht man in Darstellungen dieses Genres vergeblich. Mit der hier angedeuteten zwiespältigen Haltung gegenüber der Moderne ist indes eine Stelle erreicht, von der aus sich Gesichtspunkte zur begrifflichen Bestimmung gewinnen lassen. Ein Blick in die Quellen lehrt, daß die meisten Völkischen zwar den wissenschaftlich-technischen Fortschritt durchaus bejahen, ihn aber von unerwünschten Folgen begleitet sehen, die sie ausgeschaltet wissen wollen. Nicht der Fortschritt als solcher, aber irgendetwas in ihm stört die Harmonie, von der man meint, daß sie noch vor ein, zwei Generationen bestanden habe, um nun einem immer größer werdenden Chaos zu weichen, wie es zuletzt im untergehenden Römerreich der Fall war. Bis um 1830, so formuliert Paul Schultze-Naumburg diese Sichtweise, habe es „der Mensch […] verstanden, sich einen Lebensraum zu schaffen, der ihn tief innerlich beglückte und dessen Harmonie sich als Schönheit offenbarte.“ Im 19. Jahrhundert aber sei dieser „Lebensraum […] von einer schleichenden Krankheit befallen“ worden, die zu einer „Entartung des Volkes“ und zum Verlust dieser Harmonie geführt habe. 26 Adolf Bartels gibt noch dreißig Jahre hinzu, sieht aber nach Ablauf dessen, was er als „silbernes Zeitalter“ bezeichnet, gleichfalls eine „Decadence“ einsetzen, eine „Erkrankung des Volks23 Erich Röder: Probleme völkischer Weltanschauung, in: Die Kommenden 4, 1928, F. 24. Einen eindrucksvollen Überblick über die Gemengelage liefert Hauser 2004, S. 213 ff. 24 Vgl. u. a. Deutschvölkischer Katechismus 1929, a. a. O., S. 35, 38 u. ö.; Stern 1986, S. 7; Bourdieu 1975, S. 43; Sieferle 1995, S. 26 ff. 25 Vgl. Schubert 2004, S. 28. 26 Paul Schultze-Naumburg: Kulturarbeiten, zit. n. Kratzsch 1969, S. 125. Daß damit keine Ablehnung der modernen Technik verbunden ist – Schultze-Naumburg gehört zu den ersten Automobilbesitzern in Deutschland –, zeigt Borrmann 1989, S. 60, 63 f.

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tums, die individuell abnorme Entwicklungen hervorruft.“ 27 Friedrich Lienhard kontrastiert die eben vergangene Periode des „synthetischen Idealismus“ dem nunmehr dominierenden „analytischen Naturalismus“ und erklärt durch letzteren „unser tiefstes Bedürfnis“ für gestört, „das Bedürfnis nach Harmonie“. 28 In seiner Eröffnungsansprache zur sechsten Hauptversammlung der sächsischen Mittelstandsvereinigung in Dresden beschwört Theodor Fritsch fünfmal das „versöhnliche Moment der Harmonie“ als Antidot zur zerstörerischen Konkurrenz, die die gegenwärtige Wirtschaft in den Bankrott treibe. 29 Julius Langbehn, in vieler Hinsicht der Stichwortgeber für Topoi dieser Art, benennt als Remedium für die zersetzenden, atomisierenden und zentrifugalen Tendenzen der Gegenwart die Fähigkeit des Deutschen, aus Disharmonie Harmonie zu entwickeln – eine Fähigkeit, die in noch einmal gesteigerter Form im Niederdeutschen gegeben sei, den seine Stammesnatur zur Synthese disponiere: „Jenen Beruf zur Synthese kann und wird der Niederdeutsche auch auf geistigem Gebiete bethätigen; er scheint daher besonders geeignet, den bisher vorherrschenden Zersetzungstendenzen innerhalb der deutschen Bildung ein Halt zuzurufen; Zusammenschluß, auf geistigem Gebiet, ist Aufbau. Ein Stamm, der die Devise ‚up ewig ungedeelt‘ hat und ausführt, ist hierfür ein bemerkenswerter Faktor; vielleicht, daß ihm, der einst in die Fremde verkauft war, unter seinen Brüdern noch einmal die Rolle des Joseph in Egypten zufällt; und gerade in künstlerischen Dingen.“ 30 Verlust der Harmonie: das läßt zunächst an eine spezifisch deutsche Katastrophe denken, ist Deutschland doch zu dieser Zeit überzogen mit Hunderten und Aberhunderten von Gesangvereinen, die auf Namen wie „Harmonia“ und „Concordia“ hören und nichts so gerne schmettern wie das Mozartsche Bundeslied, das mit den Worten beginnt: „Brüder, reicht die Hand zum Bunde! Diese schöne Feierstunde führ uns hin zu lichten Höhn! Laßt, was irdisch ist, entfliehen! Unsrer Freundschaft Harmonien dauern ewig fest und schön.“ 31 Daß es sich gleichwohl um ein allgemeineres Problem handelt, zeigen die Hinweise von Marx in seinen Analysen zum Ausgang der Revolution von 1848, die der „Sozial-Demokratie“, einer spezifisch französischen „Koalition zwischen Kleinbürgern und Arbeitern“, das Bestreben attestieren, mittels demokratisch-republikanischer Institutionen den immer schärfer hervortretenden Gegensatz zwischen Kapital und Lohnarbeit „abschwächen und in Harmonie“ verwandeln zu wollen 32 , woraus sich schließen 27 Adolf Bartels: Die deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Alten und die Jungen, Leipzig 1900, S. 11, 14 f., 120 ff. Erst in der Weimarer Republik begegnet man häufiger der Tendenz, den Harmonieverlust zeitlich zurückzuverlagern, etwa auf die Renaissance (Wilhelm Kotzde), das Christentum (Nordungen) oder den Wotanismus (Bernhard Kummer, Herman Wirth). 28 Friedrich Lienhard: Neue Ideale nebst Vorherrschaft Berlins, Stuttgart 19132 , S. 45, 54. 29 Vgl. Theodor Fritsch: Der organische Staats-Gedanke und der Mittelstand, in: Hammer 10, 1911, H. 224. Schon ein Vierteljahrhundert zuvor hat Fritsch im Beratungsmaterial für den Programmentwurf einer antisemitischen Reformpartei die „Harmonie des Staats-Ganzen in verderblicher Weise beeinträchtigt“ gesehen und als Ursache das Bestreben der Juden ausgemacht, einen Staat im Staate bilden zu wollen: vgl. AC 1, 1885/86, Nr. 6. 30 [Julius Langbehn]: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, Leipzig 18902 , S. 228. 31 Zit. n. Klenke 1998, S. 4. 32 Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in ders. und Friedrich Engels: Werke, Bd. 8, Berlin (DDR) 1969, S. 111–207, 141.

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läßt, daß Kapitalismus und gesellschaftliche Harmonie inkompatible Größen sind. In einem etwas abstrakteren Zugriff wird dies auch in neueren Arbeiten zum Prozeß der Modernisierung so gesehen, für die der Übergang von der ersten beziehungsweise liberalen Moderne zur zweiten Moderne beziehungsweise Postmoderne in sozialer Hinsicht durch den Niedergang der bürgerlichen Lebensform und den Aufstieg der Massendemokratie, in kognitiver Hinsicht durch die Ersetzung der „synthetisch-harmonisierenden Denkfigur“ durch die „analytisch-kombinatorische Denkfigur“ bestimmt ist. War das bürgerliche Denken grundsätzlich bestrebt, ein Weltbild zu konstruieren, bei dem unterschiedliche Momente und Kräfte trotz partieller Gegensätze doch insgesamt ein harmonisches und gesetzmäßiges Ganzes bilden, und korrespondierte dies einem sozialen Aufbau, in dem sich die Klassen und Schichten in einem dynamischen Gleichgewicht befinden, so geht der Aufstieg der „analytisch-kombinatorischen Denkfigur“ mit einer Verfassung der Gesellschaft einher, in der „die soziale Mobilität prinzipiell keine Grenze kennt und ständig neue Besetzungen der sozial verfügbaren Rollen gestattet“, in der weiterhin die prinzipielle Beteiligung aller Atome, die die Massendemokratie konstituieren, „auf allen Ebenen eine unendliche Anzahl von Kombinationen (ermöglicht), deren Vielfalt und zugleich Vergänglichkeit eben jeden Substanzgedanken verschwinden und an seiner Stelle bloß funktionale Gesichtspunkte gelten läßt.“ 33 In der Terminologie Ulrich Becks, der den Vorgang freilich auf einen späteren Zeitpunkt datiert, stellt sich dieser Wandel als Übergang von der „einfachen“ zur „reflexiven Modernisierung“ dar, die auf die „Modernisierung der Prämissen der Industriegesellschaft“ abstellt, von den Lebens- und Arbeitsformen in Kleinfamilie und Beruf über die patriarchalischen Geschlechterverhältnisse bis hin zur Trennung von Staat und Gesellschaft, zum mechanistischen Weltbild und zur gegenständlichen Kunst. 34 Wie schon die erste Modernisierung erzeugt auch die zweite Gewinner und Verlierer. Zu den ersteren gehören die Besitzer großer Kapitalien ebenso wie diejenigen, die nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben: Arbeiterschaft und neuer Mittelstand. Diese Klassen profitieren je auf ihre Weise von der Weltmarktexpansion der deutschen Industrie, von der Erweiterung des sekundären und tertiären Sektors und vom Anstieg der Reallöhne. Da sie keinen Anlaß haben, einer verlorengegangenen Harmonie nachzutrauern, kommen sie als potentielle Klientel der Völkischen nicht oder jedenfalls nur sehr begrenzt in Frage. Anders steht es mit den Angehörigen des primären Sektors, dessen Anteil an der Zahl der Beschäftigten sich zwischen 1878 und 1913 von der Hälfte auf ein Drittel verringert, während gleichzeitig der Anteil an der wirtschaftlichen Wertschöpfung sinkt: von einem ungefähren Gleichstand mit dem sekundären Sektor um 1887 auf nur noch ein Drittel des letzteren. 35 Auch der alte Mittelstand in der Stadt gehört zu den Verlierern, wenn auch nicht im gleichen Ausmaß. Die Zahl der Kleinbetriebe im Handwerk geht zwischen 1882 und 1907 um knapp fünfzehn Prozent zurück, der Anteil der dort gewerblich Beschäftigten halbiert sich; besonders stark ist der 33 34 35

Kondylis 1991, S. 17. Vgl. Beck 1986, S. 14 sowie zuletzt ders. und Lau 2005. Vgl. Wehler 1995, S. 692.

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Rückgang der Alleinbetriebe, deren Zahl sich im gleichen Zeitraum fast um ein Drittel verringert. Die immerhin beachtliche Zunahme der Zahl der gewerblich Beschäftigten (von 5,5 Millionen auf 9,9 Millionen) geht deshalb überwiegend auf die größeren und mittleren Betriebe zurück, so daß auch hier der generelle Trend von ökonomischer Selbständigkeit zu abhängiger Beschäftigung weist. 36 Eine ähnliche Konstellation findet sich im Handel, wo sich zwar die Zahl der Betriebe und der dort Beschäftigten insgesamt erhöht, der Anteil der Kleinbetriebe jedoch abnimmt. 37 Aus den Reihen dieser Verlierergruppen haben die Völkischen immer wieder Zustrom erhalten, allerdings meist nicht zur gleichen Zeit, da die Konjunkturentwicklung in Stadt und Land unterschiedlichen Rhythmen unterliegt. Die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts sind eine Zeit des Preisverfalls für landwirtschaftliche Güter, was den agrarischen Protest begünstigt, wohingegen der erneute Preisanstieg für diese Produkte zwischen 1900 und 1914 und dann besonders die Inflation von 1923 die städtischen Konsumenten mobilisieren. 38 Eine weitere Gruppe, von der allerdings nur schwer zu entscheiden ist, ob sie zu den Gewinnern oder Verlierern der reflexiven Modernisierung gehört, ist das gebildete Segment des städtischen Mittelstands. Vermutlich trifft beides zu. Es gibt, bei den Lehrern, den Pfarrern, den Journalisten und Schriftstellern, den Freiheits- und Autonomiegewinn, wie er mit der verbesserten Ausbildung, dem erweiterten Horizont und den neuen Berufschancen und Aufstiegsmöglichkeiten einerseits, dem Brüchigwerden von Traditionen andererseits verbunden ist; und es gibt die kognitive Dissonanz, die aus der Spannung zwischen neuhumanistischen Idealen und einer Realität entspringt, die von Kapitalismus, Bürokratie und Szientismus bestimmt ist. Hinzu kommt als weitere beunruhigende Erfahrung, die auch die naturwissenschaftliche, medizinische und technische Intelligenz betrifft, daß dem ständig wachsenden Auflösungspotential der Wissenschaften eine offenbar nicht Schritt haltende Fähigkeit zur Retotalisierung, zur Schaffung sinnvoller Ganzheiten korrespondiert. Das mag hier und da kulturpessimistische Reaktionen ausgelöst haben, wie etwa bei Spengler, der das faustische Abendland unrettbar zum Untergang verurteilt sah. Im großen und ganzen aber überrascht eher das Gegenteil: die Zuversicht, mit der man seit der Jahrhundertwende daran geht, die verlorene, wie immer auch imaginäre Ganzheit im Rückgriff auf Kant, Goethe oder das Wagnersche Gesamtkunstwerk wiederherzustellen, und zwar nicht in einer schlichten Rolle rückwärts, sondern, wie man meint, auf der Höhe der Zeit. Von der um eine Synthese zwischen der Naturphilosophie Goethes und der darwinistischen Selektionstheorie bemühten „Theophysis“ Ernst Haeckels über die Umweltbiologie Hans Drieschs und Jakob von Uexkülls, die Gestaltpsychologie, die Anthroposophie, die literaturwissenschaftliche und kunstgeschichtliche Stilforschung, die universalistische Nationalökonomie im Sinne Othmar Spanns und seiner Schule bis hin zu den neuhegelianischen Reintegrationsversuchen des in alle Richtungen zerfasernden Formalrechts wird Deutschland zum Schauplatz einer intensiven „Suche nach Ganzheit“ (so der deutsche Titel eines instruktiven 36 37 38

Vgl. ebd., S. 680 f. Vgl. Nipperdey 1990, S. 265. Vgl. Nonn 1996; Geyer 1998.

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Buches von Anne Harrington), die sich quer zu den politischen Fronten vollzieht und zur Formierung zahlreicher neuer Vereine und Bünde führt. 39 Monistenbund, Kepler-, Bruno- und Goethebund, Dürerbund, Weimarer Kartell und Gesellschaft für ethische Kultur, das sind nur einige Beispiele aus einem Feld, das zunehmend dichter besetzt ist. 40 Damit ist der Kreis umrissen, der für eine Kritik der reflexiven Modernisierung empfänglich ist, die sich an der „synthetisch-harmonisierenden Denkfigur“ orientiert. Diese Kritik ist nicht einfach antimodern, da sie wesentlichen Strukturprinzipien der ersten Moderne – der funktionalen Differenzierung, der formalen Rationalisierung – verpflichtet bleibt, und sie ist auch nicht antikapitalistisch, da sie sehr genau zwischen ‚gutem‘, das heißt produktivem, und ‚schlimmem‘, das heißt spekulativem Kapital zu unterscheiden weiß. 41 Sie täuscht sich jedoch über die diesen Strukturprinzipien innewohnende Dynamik, die nicht einfach beliebig aufgehalten oder in andere Bahnen gelenkt werden kann, und ist insofern zwar „standortadäquat“, aber nicht „zeitadäquat“ (Theodor Geiger), Ausdruck eines „falschen Bewußtseins“, „das in seiner Orientierungsart die neue Wirklichkeit nicht eingeholt hat und sie deshalb mit überholten Kategorien eigentlich verdeckt.“ 42 Die Wissenssoziologie spricht in solchen Fällen von Ideologie, einem Denkgebilde, „welches trotz subjektiv ehrlichen Erkenntniswillens den Anspruch auf objektive Geltung gar nicht, oder nicht in vollem Umfange, oder nicht in dem Sinne, den es sich selbst zumißt, erheben kann, und durch sozialstrukturelle Momente in jener Eigenart seiner „Deviation“ vom logisch-normativen Ideal bedingt ist, welche gerade es regelmäßig mit sich bringt, daß dieses Denkgebilde mit fraglichem – oder ganz ohne rein theoretischen – Erkenntniswert eine von anderen Werten her bewertbare „Funktionalität“ im sozialen Leben besitzt“. 43 Näher besehen handelt es sich um eine „Mittelstandsideologie“ 44 , die nach Emil Lederer durch das Oberziel bestimmt ist, „daß ein „gesundes Wirtschaftsleben“ eine größtmögliche Anzahl mittlerer selbständiger Existenzen verlange, als Gegengewicht gegenüber dem „Flugsand“ der Arbeiterschaft und der Kapitalsübermacht der Großindustrie“, und die dieses Ziel durch die verschiedenartigsten 39 Zu Haeckel, dessen Monismus um die Jahrhundertwende als Inbegriff der Modernität gilt, obwohl er sich genausogut als „darwinisierender Ausläufer der romantischen Naturphilosophie“ lesen läßt, vgl. jetzt Kleeberg 2005 (S. 167); zu seinem nicht unerheblichen Einfluß auf völkische Kreise vgl. nur Willibald Hentschel: Heil, Ernst Haeckel!, in: Deutsch-soziale Blätter 9, 1894, Nr. 286; Für Ernst Häckel, in: Hammer 19, 1920, H. 427/428. Politisch gesehen läßt sich der Monismus allerdings keineswegs auf völkischen Nationalismus festlegen, wie umgekehrt auch im völkischen Nationalismus durchaus unterschiedliche Positionen zum Monismus zu registrieren sind: vgl. etwa A. v. Königslöw: Monistenbund, in: Hammer 7, 1908, H. 157; Karl Berndt: Monistenbund, ebd., H. 160; A. v. Königslöw: Nochmals Monistenbund, ebd., H. 160; Paul Förster: Monismus, in: Hammer 10, 1911, H. 227; Hans Wehleid: Etwas vom Monismus, in: Hammer 12, 1913, H. 276. Zur politischen Spannweite des Monismus vgl. Hübinger 1997; Panesar 2006, S. 99 ff. Zur Resonanz der Gestaltlehren vgl. die Überblicke von Simonis 2001; Harrington 2002; zur SpannSchule Siegfried 1974; zum Neuhegelianismus in der Rechtslehre Rottleuthner 1970. 40 Vgl. die Überblicke bei Kratzsch 1969; Groschopp 1997. 41 Vgl. Theodor Fritsch: Gutes und schlimmes Kapital, in: Hammer 13, 1914, H. 280, 281. 42 Karl Mannheim: Ideologie und Utopie (1929), 5. Aufl., Frankfurt 1969, S. 85. 43 Alexander von Schelting: Max Webers Wissenschaftslehre, Tübingen 1934, S. 172. 44 Nipperdey 1990, S. 259.

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Maßnahmen zu verwirklichen sucht: durch „solche, welche das Prinzip der freien Konkurrenz ausschalten sollen (sobald es sich um die Konkurrenz des Mittelstandes in den eigenen Reihen handelt), und wieder solche, welche es vertreten (der Arbeiterschaft gegenüber), solche, welche die Staatshilfe in Anspruch nehmen (wenn es sich um den Mittelstand handelt) und die sie ablehnen, wenn es sich um die Arbeiterversorgung handelt.“ 45 Zu einer Formel verdichtet und mit dem für eine „objektive Ideologie“ im Sinne Scheltings erforderlichen Allgemeinheitsanspruch ausgestattet hat dies Theodor Fritsch in seiner bereits zitierten Rede vor der sächsischen Mittelstandsvereinigung: „Die Mittelstands-Bewegung hätte kaum ein Daseinsrecht, wenn sie – wie ihre Gegner meinen – nichts Anderes wäre als ein Ausdruck der Klassen-Selbstsucht. Bezweckte sie nichts weiter, als die wirtschaftlichen Vorteile eines Standes zu sichern, der durch die moderne Entwicklung von allen Seiten bedroht ist, so wäre sie zwar so notwendig und berechtigt, wie jede andere Standes-Organisation zu wirtschaftlichen Zwecken, würde aber kaum ein höheres Allgemein-Interesse beanspruchen können. Sie würde die seit Jahrzehnten bestehenden Klassenkämpfe nur um eine neue Reibungsfläche vermehren, sonst aber schwerlich zur Lösung der sozialen Widersprüche beitragen. Die Mittelstands-Bewegung bedeutet aber mehr als einen solchen egoistischen Klassenkampf; sie bringt einen neuen Gedanken mit: das ist die organische Auffassung von Staat und Gesellschaft.“ 46 Eine solche Ideologie ist für sich genommen nicht „völkisch“. Organizistisches und holistisches Denken ist, wie der Blick auf so heterogene Geister wie Aristoteles oder Hegel lehrt, eine viel zu verbreitete Einstellung, als daß sie sich pauschal unter diesem Etikett verbuchen ließe 47 ; auch das Streben nach einer nicht durch große Reichtumsunterschiede und Klassengegensätze zerrissenen Gesellschaft der mittleren Existenzen begleitet die soziale Entwicklung von Solon und den Gracchen bis in die erste Moderne und hat sich in so unterschiedlichen Strömungen wie dem Jakobinismus, der ‚moral economy‘ der englischen Unterschichten, dem Anarchismus (Proudhon) und dem Frühliberalismus artikuliert. Und was die zweite Moderne betrifft, so ist der verbreiteten Annahme einer Verbindung zwischen der Polarisierung der Sozialstruktur und einer damit einhergehenden „Faschisierung des Mittelstands“ 48 entgegenzuhalten, daß nicht nur die Prä45 Emil Lederer: Klasseninteressen, Interessenverbände und Parlamentarismus (1912), in ders.: Kapitalismus, Klassenstruktur und Probleme der Demokratie in Deutschland 1910–1940, hrsg. von Jürgen Kocka, Göttingen 1979, S. 33–50, 44 f. Schon sechzig Jahre zuvor hat Marx mit Blick auf Frankreich in ähnlicher Weise den „kleinbürgerlichen Sozialismus“ beschrieben, der dort zu diesem Zeitpunkt allerdings noch unter den gänzlich anders gearteten Bedingungen eines Zusammengehens von Kleinbürgertum und Arbeiterschaft auftritt. „Das Kapital hetzt diese Klasse hauptsächlich als Gläubiger, sie verlangt Kreditinstitute; es ekrasiert sie durch die Konkurrenz, sie verlangt Assoziationen vom Staate unterstützt; es überwältigt sie durch die Konzentration, sie verlangt Progressivsteuern, Erbschaftsbeschränkungen, Übernahme der großen Arbeiten durch den Staat und andere Maßregeln, die das Wachstum des Kapitals gewaltsam aufhalten“ (Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: ders. und Friedrich Engels: Werke, Bd. 7, Berlin (DDR) 1969, S. 9–107, 89). 46 Fritsch 1911, a. a. O. 47 Zu dieser Sichtweise neigt Mendlewitsch 1988. 48 Leppert-Fögen 1974, S. 32.

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misse nicht stimmt – der alte Mittelstand wird nach dem überwiegenden Befund der empirischen Sozialforschung keineswegs zerrieben, sondern vermindert sich nur relativ zu anderen Berufsgruppen49 –, sondern auch die Konklusion. Zum einen gibt es keine durchgängige Politisierung: für die Jahre unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg gilt für den alten städtischen Mittelstand eher das Gegenteil, eine weit verbreitete Resignation gegenüber der Politik, die sich in einem zunehmenden Rückzug aus den Verbänden und Parteien äußert.50 Zum andern muß die Politisierung, so sie denn stattfindet, keineswegs notwendig nach rechts oder gar zum Faschismus führen, wie das Beispiel jener durchaus zahlreichen Handwerker, Kleinhändler und Gastwirte vor dem Ersten Weltkrieg zeigt, die einen bedeutenden Anteil an den geschätzten 25 % nichtproletarischer SPD-Wahlstimmen stellen oder sich im Hansa-Bund gegen das „Kartell der schaffenden Stände“ engagieren. 51 Daß man sehr wohl versuchen kann, die Disharmonien der zweiten Moderne im Rahmen und mit den Mitteln einer demokratischen Partei zu überwinden, lehrt das Beispiel Alfred Webers. 52 Damit die Mittelstandsideologie im völkischen Sinne aufgeladen werden kann, bedarf es bestimmter, nur selektiv wirksamer Voraussetzungen. Dazu gehört, erstens, die Projektion der „synthetisch-harmonisierenden Denkfigur“ auf ein als handlungsfähig gedachtes Kollektiv, das gewiß auch durch gemeinsame Abstammung gekennzeichnet ist, damit jedoch nicht erschöpfend erfaßt ist. Die „Gemeinschaft des Blutes“, heißt es in einer der zahlreichen Erörterungen der Frage „Was heißt völkisch?“, bildet zusammen mit der Gemeinschaft des Bodens die unterste Stufe der völkischen Gemeinschaft, die sich darüber hinaus durch ein ganzes Ensemble sinnhafter, kohärenter und harmonischer Ganzheiten auszeichnet: die „Gemeinschaft der Arbeit“ ebenso wie diejenige der Sitte, die „Gemeinschaft des Rechts“ ebenso wie diejenige der Bildung. 53 Eine solche in sich geglie49

Vgl. Hradil 2001, S. 136. Vgl. Nonn 1996, S. 104. 51 Vgl. Blackbourn 1988, S. 564, 571 f.; Haupt 1985, S. 20. Zum Hansa-Bund vgl. Stegmann 1970, S. 176 ff., 208 ff., 344 ff.; Mielke 1976; Nipperdey 1992, S. 590. 52 Vgl. Alfred Weber: Deutschland und die europäische Kulturkrise (1924), in ders.: Politische Theorie und Tagespolitik (1903–1933). Alfred-Weber-Gesamtausgabe Bd. 7, hrsg. von Eberhard Demm, Marburg 1999, S. 469–498, 472 f.; ders.: Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa (1925), ebd., S. 233–346, 299. Dort auch seine Beiträge zur Deutschen Demokratischen Partei, S. 403 ff. 53 Vgl. Max Wundt: „Was heißt völkisch?“ Langensalza 1924. Man kann von hier aus gesehen die völkische Bewegung durchaus als „eine auf ‚Gemeinschaft‘“ gerichtete verstehen, wie dies schon früh der Schwiegersohn von Tönnies, Rudolf Heberle, unter Pseudonym vorgeschlagen hat (Wolfgang Jarno: Zur Kritik der völkischen Bewegung, in: Preußische Jahrbücher 201, 1925, S. 275–286, 278). Anders als Heberle meint, schließt dieser Gemeinschaftsbegriff jedoch die bürgerliche Gesellschaft im Sinne der Hegelschen Rechtsphilosophie nicht aus, sondern ein und steht darin eher für jenen von Roderick Stackelberg (1981) herausgearbeiteten idealism debased als für den Tönniesschen „Wesenwillen“, wie dies im Ergebnis auch Heberle meint. Aus diesem Grund würde ich die völkische Bewegung auch nicht so scharf von einer Klassenbewegung scheiden, wie es Heberle in späteren Arbeiten getan hat (vgl. zum Beispiel 1967, S. 125 f.). Die unvermeidliche Folge ist dann, daß sich die völkische Bewegung kaum noch vom Nationalsozialismus abgrenzen läßt. In seinen ersten Annäherungen an die Thematik, die immerhin den ersten Versuch einer soziologischen Deutung der völkischen Bewegung darstellen, hat Heberle dies noch klarer gesehen. So heißt es in einer unveröffentlicht gebliebenen Rezension zu Freyers Revolution von rechts: 50

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derte, „organische“ Ganzheit ist in den Augen der Völkischen das Volk, woran sich bei Reventlow die Feststellung knüpft: „Der völkische Grundgedanke besteht, um es noch einmal zu sagen, in der Auffassung des Volks als eines organischen Ganzen.“ 54 In der Version Albrecht von Graefes, eines anderen Führers der Deutschvölkischen in der Weimarer Republik, liest sich das so: „Während für die nicht echt völkisch Empfindenden das Wirtschaftsleben alles, der beherrschende Gedanke, ‚die letzte deutsche Macht‘, und alles übrige nur Ideologie ist, ist für die Völkischen der beherrschende Gedanke, die besondere Eigenart des Volkstums auf allen Gebieten: Rasse, Moral, Religion, Kunst, Literatur, Wissenschaft und Wirtschaftsleben, dies letztere also nur als ein Teil von den vielen, die Volk und Staat in dem Unterschied mit anderen Völkern und Staaten ausmachen.“ 55 Zweitens bedarf es einer Bestimmung des Verhältnisses, in dem dieses Kollektiv zu anderen, ähnlich strukturierten Kollektiven steht. Das zu leisten ist Aufgabe der Gesinnung, des Ensembles der „wertbezogenen Grundeinstellungen und -optionen“, die „Urteil, Streben und Handlungen prädisponieren“ – in der Sprache Houston Stewart Chamberlains das „Steuerruder“, das „die Richtung und mit der Richtung zugleich das Ziel (vorgibt) – auch wenn dieses lange unsichtbar bleiben sollte“. 56 Im Falle der Völkischen handelt es sich dabei um eine wertrationale Einstellung, die auch für andere Strömungen der politischen Rechten charakteristisch ist: um die Präferenz für dasjenige, „was die Menschen ungleich statt gleich macht“. 57 Ob Julius Langbehn dekretiert: „Gleichheit ist Tod, Gliederung ist Leben“, ob Chamberlain das „grosse Naturprinzip der Vielseitigkeit, sowie der Un-

„Die völkische Bewegung selbst ist freilich nicht eindeutig durch das Interesse einer einzelnen Klasse, wohl aber durch eine Konvergenz der Interessen von Teilgruppen verschiedener Klassen bestimmt. Jede realistische, wirklichkeitssoziologische, an induktiv konstatierbare Tatsachen sich haltende Untersuchung der völkischen Bewegung hat gezeigt, daß sie ihren Hauptanhang unter Bauern und Kleinbürgern, sowie in abgesunkenen Teilen der Bourgeoisie hat, daß ihre Ideologie haargenau der Interessenlage dieser Schicht (!) entspricht, m. a. W. daß sie ein politischer Ausdruck des sozialen, insbesondere ökonomischen Wollens dieser von den Wirkungen des verlorenen Krieges und von der gegenwärtigen Krise besonders schwer getroffenen Schichten ist“ (zit. n. Waßner 1995, S. 65). 54 Graf Ernst Reventlow: Die Deutschnationale Volkspartei und das Völkische, in: Reichswart 3, 1922, Nr. 35. 55 Albrecht v. Graefe-Goldebee: Die Anbetung des goldenen Wirtschaftskalbes, in: Mecklenburger Warte / R.Z. 16, 1922, Nr. 286. 56 Art. Gesinnung, S. 596; Houston Stewart Chamberlain: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, 2 Bde., 27. Aufl., München 1941, Bd. 2, S. 819. Sein Zeitgenosse Max Scheler, der freilich nicht den Völkischen zuzurechnen ist, bestimmt die Bedeutung der Gesinnung dahingehend, „daß sie einen material apriorischen Spielraum für die Bildung möglicher Absichten und Vorsätze und Handlungen bis in die die Handlung unmittelbar regierende Bewegungsintention darstellt; daß sie gleichsam alle diese Stufen der Handlung bis zum Erfolge mit ihrer Wertmaterie durchdringt“ und zugleich „im Wechsel der Absichten in bezug auf dieselbe Sache Dauer bewahrt“ (Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik [1913/16]. Gesammelte Werke, Bd. 2, hrsg. von Maria Scheler, 5. Aufl., Bern 1966, S. 131). Zur Hochschätzung der Gesinnung bei den Völkischen vgl. Langbehn 18902 , a. a. O., S. 37, 46; Paul Förster: Unsere deutsch-sozialen Grundsätze und Forderungen, Leipzig 1892, S. 12; Friedrich Lange: Reines Deutschtum. Grundzüge einer nationalen Weltanschauung, 3. Aufl., Berlin 1904, S. 373; Philipp Stauff: Das Deutsche Wehrbuch, Wittenberg 1912, S. 178. 57 Bobbio 1994, S. 78.

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gleichheit in den Anlagen“ beschwört oder Theodor Fritsch dem „fahrlässige(n) Wort: ‚Alle Menschen sind gleich‘“ das „unanfechtbare Wort: ‚Alle Menschen sind ungleich‘“ entgegensetzt 58 , stets halten sich die Völkischen in jener durch den Modernisierungsprozeß ausgelösten Gegenströmung, die auf die Institutionalisierung rechtlicher, politischer und sozialer Gleichheit mit der Bekräftigung des Glaubens an die natürliche Ungleichheit reagiert. Im Unterschied zu den klassischen Konservativen der Vormoderne beziehen sie diesen Glauben auf das Volk, nicht mehr auf einen Stand; im Unterschied zu den Nationalisten der ‚zweiten Moderne‘ auf das Volk der ‚ersten Moderne‘, das sich durch eine Prädominanz der Mitte und ein geringes Maß an sozialer Polarisierung auszeichnet. 59 Die Hypostasierung des holistisch verstandenen Volkes und die Präferenz für Ungleichheit rechtfertigen es, von einem spezifisch völkischen Rechtsnationalismus zu sprechen, auch wenn namhafte Repräsentanten dieser Strömung immer wieder Vorbehalte gegenüber dem Wort „national“ und seinen Ableitungen vorgebracht haben.60 Versteht man unter Nationalismus ein Nationalbewußtsein, das der eigenen Nation „ein sehr hohes ontisches und sittliches Gewicht, ja ein Dignitätsübergewicht gegenüber allen anderen sozialen Gebilden zumindest innerweltlicher Zielsetzung“ zuweist, welches zugleich „über die soziale Dignität ihrer Angehörigen, das heißt ihre nach der wahren Seinsordnung gegebene Würde, ihren Wert als soziale Wesen entscheide“ 61 , dann gibt es keinen Grund, die Völkischen hiervon auszunehmen. Und tatsächlich hat sich die Mehrheit auch durchaus in diesem Sinne bekannt. Schon die antisemitische Bewegung versteht sich selbst

58 Langbehn 18902 , a. a. O., S. 150; Chamberlain 1941, a. a. O., Bd. 1, S. 304; Theodor Fritsch: Der demokratische Gedanke (1917), in ders.: Neue Wege. Aus Theodor Fritschs Lebensarbeit, hrsg. von Paul Lehmann, Leipzig 1922, S. 28. 59 Mit Blick auf diese Komponenten spricht Seymour Martin Lipset in einem klassischen Text der politischen Soziologie vom „Extremismus der Mitte“ (Lipset 1962, S. 131 ff.). Wenn ich mir diese Formel nicht zu eigen mache, so aus folgenden Gründen: zum einen steht sie bei Lipset für eine politisch eigenständige Form, die per definitionem weder rechts noch links sein kann, und widerspricht damit sowohl dem Selbstverständnis der Völkischen, die sich überwiegend „rechts“ verortet haben, als auch demjenigen etwa der Jakobiner und Sansculotten, die mit den Völkischen die Plazierung im sozialen Raum teilen, dabei aber nach einer Maximierung der Gleichheit strebten und damit politisch „links“ angesiedelt sind. Zum andern wirft Lipset auch noch den Faschismus in diesen Topf, womit das Konzept vollends sein analytisches Potential einbüßt. Auf die Völkischen ist es deshalb nur anwendbar, wenn man präziser vom Rechtsextremismus der Mitte spricht und jegliche Konfundierung mit den faschistischen Parteien vermeidet, die stets aus mehreren Klassen und Ideologien zusammengesetzt zu sein pflegen – womit wiederum nicht gesagt sein soll, daß es empirisch-historisch keine Verbindungen zwischen dem völkischen Nationalismus und dem Faschismus gegeben hätte. Zur Auseinandersetzung mit Lipset vgl. Kraushaar 1994. Als eine Form des Rechtsextremismus deutet auch Heinrich August Winkler den „Extremismus der Mitte“ in seiner Kritik an Lipset, die freilich mit diesem die Engführung des Konzepts auf Faschismus teilt: vgl. Winkler 1979, S. 217. 60 Vgl. zum Beispiel Richard Ungewitter: National oder deutschvölkisch? in ders. (Hrsg.): Deutschlands Wiedergeburt durch Blut und Eisen, Stuttgart o. J. (um 1916/17), S. 456–458; Walt(h)er Kramer: Völkisch oder national, in: Hammer 20, 1921, H. 468; Julius Lippert: Sind „völkisch“ und „national“ identische Begriffe? In: Die Tradition 4, 1922/23, H. 29; H. H. (recte: H. G.) Holle: National oder völkisch? In: Die Sonne 1, 1924, H. 3; Erich Ludendorff: Meine Lebenserinnerungen von 1926 bis 1933, Bd. 2, 4. Aufl., Pähl 1987, S. 62. 61 Estel 2002, S. 40.

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als ‚nationale Bewegung‘ (Bernhard Förster) und will den „Grundstein zu einer großen deutsch-nationalen Partei“ legen. 62 Der Gründer und erste Bundeswart des Deutschbundes, Friedrich Lange, überschreibt sein Opus magnum im Untertitel mit „Grundzüge einer nationalen Weltanschauung“; der spätere Großmeister des Bundes, Max Robert Gerstenhauer, charakterisiert die völkische Bewegung als „nationalistische Bewegung“, die sich selbst als den „Abschluß eines tausendjährigen Zeitalters, als Vertreterin einer neuen Weltanschauung, des Systems des Nationalismus“ betrachtet. 63 Theodor Fritsch verlangt die Schaffung einer „Nationalpartei“, Adolf Bartels zählt sich selbst zu den „Radikalnationalen“, „Entschieden-Nationalen“ und selbstverständlich auch „Nationalisten“, und für Max Wundt „ist die völkische Bewegung als eine besondere Erscheinung innerhalb der nationalen Bewegung hervorgetreten“. 64 Die Deutschvölkische Freiheitsbewegung nennt sich „die durch gemeinsame Weltanschauung verbundene Kampfund Schicksalsgemeinschaft der völkischen Nationalisten“, und auch in den Nationalsozialistischen Briefen heißt es mit Blick auf die Deutschvölkische Freiheitsbewegung und die NSDAP im Ton größter Selbstverständlichkeit: „Beide völkischen Richtungen sind also Nationalisten.“ 65 Adolf Hitler macht hier keine Ausnahme. Seine Jugenderinnerungen stehen unter der Überschrift „Der junge Nationalist“ und geben darüber Auskunft, wie schon der Fünfzehnjährige „zum Verständnis des Unterschiedes von dynastischem ‚Patriotismus‘ und völkischem ‚Nationalismus‘“ gelangte. 66 Die Völkischen haben es bei solchen Bekenntnissen nicht belassen. Sie haben sich vielmehr zu Gesinnungsgemeinschaften zusammengeschlossen, die nach Max Weber durch den „bewußten Glauben an den – ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden – unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg“ bestimmt sind. 67 In der völkischen Bewegung verbindet sich dies mit der mittelstandsideologischen Kritik der reflexiven Modernisierung, darüber hinaus mit weiteren Motivationen, wie sie für soziale Bewegungen typisch sind: solchen affektuell-emotionaler Art, die horizontale und vertikale Bindungen an Personen stiften, solchen traditiona62 Vgl. Bernhard Förster an Theodor Fritsch, Brief vom Oktober 1885, in: AC 1, 1885/86, Nr. 2; Satzung der Deutschen Antisemitischen Vereinigung, ebd., Nr. 7; Theodor Fritsch: „Deutsch-national“, ebd. 5, 1890, Nr. 118. Die Bezeichnung „deutsch-national“ hat ihren Ursprung in der Donaumonarchie, wo sich seit den späten 60er Jahren des 19. Jahrhunderts „deutsch-nationale“ Vereine bilden, die sich von den Liberalen abgrenzen: vgl. Wladika 2005, S. 36 ff. 63 Vgl. Lange 1904, a. a. O.; Max Robert Gerstenhauer: Rassenlehre und Rassenpflege. Hrsg. vom Deutschbund, Leipzig 1913, S. 7 ff.; vgl. auch ders.: Der Führer. Ein Wegweiser zu deutscher Weltanschauung und Politik, Jena 1927, S. 1 u. ö. 64 Theodor Fritsch 1922, a. a. O., S. 163; Adolf Bartels: Rasse. Sechzehn Aufsätze zur nationalen Weltanschauung, Hamburg 1909, S. 32, 109; Max Wundt: Richtungen der völkischen Bewegung, in: Die Sonne 1, 1924, H. 33. 65 Reinhold Wulle: Der Weg zum völkischen Staat (Unsere Waffen, 12. Folge. Rüstzeug der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung), Berlin 1928, S. 3; Nationalsozialistische Briefe 2, 1926, Nr. 13. 66 Hitler 1933, a. a. O., S. 8, 11. 67 Weber 1976, S. 12; vgl. Heberle 1967, S. 85 f. Expressis verbis hat sich etwa der Deutschbund als „völkische Gesinnungsgemeinschaft“ definiert: vgl. Max Robert Gerstenhauer: Rückblick und Ausblick, in: Deutschbundblätter 29, 1925, Nr. 1–3.

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ler Art und nicht zuletzt solchen zweckrationaler Art, die in der Erwartung persönlicher Vorteile bestehen.68 Daß diese heterogenen ideellen und materiellen, sachlichen und persönlichen Interessen einer prästabilierten Harmonie folgen, ist eine ganz unwahrscheinliche Annahme, ebenso wie die Ansicht, daß es erst der Nationalsozialismus gewesen sei, der ihre Politisierung bewirkt habe69 : um die Völkischen von der Nützlichkeit politischer Macht für die Durchsetzung ihrer Ziele zu überzeugen, bedurfte es nicht erst Hitlers, sondern nur der Lernprozesse, die jede Bewegung macht, deren Ziele quer zum Status quo stehen. Wie im Falle der Stellung zum Nationalismus sind deshalb auch mit Bezug auf den organisierten Betrieb von Politik die zweifellos reichlich vorhandenen Vorbehalte der Völkischen nicht zum Nominalwert zu nehmen. Baut man den Grenzbegriff um diese Kernelemente auf – die Verbindung von Mittelstandsideologie, Kritik der reflexiven Modernisierung und Rechtsnationalismus im Rahmen einer sozialen Bewegung –, so verlagert sich der Fokus der Aufmerksamkeit. Die Forschung hat sich bisher stark darauf konzentriert, eine „völkische Religion“, eine „völkische Wissenschaft“ oder eine „völkische Literatur“ zu identifizieren und es sich dabei recht bequem gemacht. 70 Die Evokation eines Volksgeistes, der Rückgriff auf Rassenlehren oder die Identifizierung ‚reaktionärer Gesinnung‘ genügten ihr häufig, um das Etikett „völkisch“ zu vergeben 71 ; und sie mußten ihr auch genügen, da bei den in Rede stehenden Erscheinungen die religiöse, allgemein-weltanschauliche oder literarisch-künstlerische Kommunikation im Vordergrund steht und darüber hinausgehende Informationen nur selten vorliegen. Die folgende Untersuchung hält diese Erscheinungen zwar durchaus nicht für marginal, aber für zu wenig aussagekräftig, um in differentialanalytischem Sinne verwendbar zu sein. Sie legt deshalb den Schwerpunkt auf die politischen Artikulations- und Organisationsformen der Völkischen, die politischen Vereine, Verbände und Parteien, bei denen das Aussagenprofil in allen Dimensionen des Typus, auch und gerade in bezug auf die Einstellung gegenüber der reflexiven Modernisierung, gut zu sein pflegt. Erweist sich der Grenzbegriff auf diesem Feld als relevant, ist damit ein Anhaltspunkt auch für die Einstufung der „blasseren“ Erscheinungen gewonnen, wird deren Ort doch nicht allein durch die explizite Programmatik bestimmt, sondern auch durch das Netzwerk der Beziehungen und Allianzen.

68 Vgl. Heberle 1967, S. 81 ff. Zum Begriff der sozialen Bewegung vgl. auch weiter unten, Kap. I.3. 69 Vgl. Hartung 1991 (a), S. 306. 70 Vgl. etwa Buchtitel wie „Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft“ (Junginger 1999) „Völkische Religion und Krisen der Moderne“ (Schnurbein und Ulbricht 2001), „Völkische Wissenschaft“ (Jacobeit, Lixfeld und Bockhorn 1994) oder „Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literatur in Deutschland 1890–1945“ (Ketelsen 1976). Auch ein so nützliches und im folgenden vielfach herangezogenes Werk wie das „Handbuch zur ‚völkischen Bewegung‘“ (Puschner, Schmitz und Ulbricht 1996) ist von dieser Kritik nicht auszunehmen, da es mit einem so abstrakt-allgemeinen Suchraster operiert, daß neben vielen zweifellos völkischen Erscheinungen auch solche mit ins Netz gelangen, über deren Zugehörigkeit man durchaus streiten kann – zum Beispiel der George-Kreis oder Karl May. 71 Vgl. exemplarisch bereits: Deutschvölkischer Katechismus 1929, a. a. O., S. 38, 59 u. ö.

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Notiz zur Zitierweise: Forschungsliteratur nach 1945 sowie häufiger verwendete Nachdrucke und Werkausgaben werden in den Fußnoten nur in Kurzzitation angeführt und im Literaturverzeichnis aufgeschlüsselt. Quellen und zeitgenössische Literatur werden in den Anmerkungen vollständig angegeben, Rückverweise und Abkürzungen im jeweiligen Kapitel aufgelöst. Hervorhebungen in Zitaten wurden, wofern nicht anders vermerkt, gelöscht.

Die Völkischen im Kaiserreich

1. Die antisemitische Bewegung der Reichsgründungszeit Die Uneinigkeit darüber, was als „völkisch“ zu verstehen sei, setzt sich in der Uneinigkeit über die Frage fort, seit wann überhaupt von einer völkischen Bewegung gesprochen werden kann. Während nicht wenige der Akteure den Terminus a quo in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts mit dem Aufkommen des politischen Antisemitismus gegeben sahen und damit der Forschung lange Zeit die Richtung wiesen 1 , tendiert ein Teil der neueren Forschung dahin, beide Bewegungen voneinander zu trennen. 2 Die antisemitische und die völkische Bewegung, meint Werner Bergmann, „entstanden unabhängig voneinander und liefen eine Weile parallel“, bevor sie sich seit den späten 90er Jahren einander annäherten 3 ; Uwe Puschner sieht ähnlich eine von der antisemitischen Bewegung unabhängige Wurzel der völkischen Bewegung im Kulturnationalismus der 90er Jahre, wie er sich 1894 und 1896 in der Gründung des Deutschbundes und der Zeitschrift Heimdall niedergeschlagen habe. Was davor liegt, die antisemitische Bewegung, der Bayreuther Regenerationsidealismus, gilt dementsprechend als „prävölkisch“. 4 Erst gegen Ende der 90er Jahre hätten sich beide Bewegungen verbunden, was dadurch ermöglicht worden sei, daß ihre Leitideen von unterschiedlicher Reichweite gewesen seien. Beim Antisemitismus habe es sich um eine vorwiegend negative und auf einen einzigen Punkt beschränkte Erscheinung gehandelt, wohingegen die völkische Bewegung über eine „Weltanschauung“ verfügt habe, in die der Antisemitismus als „konstitutives Element“ habe eingehen können.5 Noch größer erscheint der zeitliche Abstand in anderen Darstellungen, die die völki-

1 Vgl. Philipp Stauff: Die deutsch-völkische Partei, in: Hammer 13, 1914, H. 284; Adolf Bartels: Der völkische Gedanke. Ein Wegweiser, Weimar 1923, S. 24; Theodor Fritsch: Aus den Anfängen der völkischen Bewegung, in: Hammer 28, 1929, H. 638; Max Robert Gerstenhauer: Der völkische Gedanke in Vergangenheit und Zukunft, Leipzig 1933, S. 2; Eugen Schmahl: Die antisemitische Bewegung in Hessen von der Boeckelzeit bis zum Nationalsozialismus, in ders. und W. Seipel: Entwicklung der völkischen Bewegung, Gießen 1933, S. 1–132. – Die ältere Forschung, für die hier stellvertretend nur Massing, Arendt und Stern genannt seien, rechnet deshalb den Antisemitismus des frühen Kaiserreichs noch ganz selbstverständlich zur völkischen Bewegung. Vgl. Massing 1986 (zuerst 1949), S. 80 ff.; Arendt 1975 (zuerst 1951), Bd. 2, S. 182 ff.; Stern 1986 (zuerst 1961). Daß diese Auffassung freilich nie ganz unumstritten war, läßt sich den Arbeiten von Mohler oder Mosse entnehmen, für die der völkische Nationalismus in einem durchaus kontingenten Verhältnis zum Antisemitismus stand: vgl. Mohler 1989 (zuerst 1949), Bd. 1, S. 131 ff.; Mosse 1991 (zuerst 1964), S. 313 ff. 2 Wohlgemerkt: ein Teil. Für nicht wenige Darstellungen sind auch heute noch Antisemitismus und völkische Ideologie nicht voneinander zu trennen. Vgl. in diesem Sinne etwa Faye 1977, Bd. 1, S. 196 ff. sowie im Anschluß daran Ziege 2002. Von anderen Ansätzen her: Hartung 1996; Vopel 1999, S. 167, 175. 3 Bergmann 1996, S. 449. 4 Vgl. Puschner 2001, S. 14, 196; ders. 2003, S. 447. 5 Vgl. ders. 2001, S. 15.

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sche Bewegung erst am Vorabend des Ersten Weltkriegs (Lohalm) oder gar erst in der Weimarer Republik (Heberle) beginnen lassen. 6 Für diese Trennung gibt es sachliche Gründe. Mit seiner Kombination von Ideologie und Gesinnung, von zweck- und wertrationalen Motiven, bewegt sich der völkische Nationalismus in der Sphäre der „Vergesellschaftung“, worunter Max Weber eine soziale Beziehung versteht, bei der „die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht.“ Der Antisemitismus dagegen wurzelt in einem Affekt: der Judenfeindschaft, und fällt damit zunächst, sobald er über eine rein individuelle Äußerung hinausgeht, in die Sphäre der „Vergemeinschaftung“, bei der die Einstellung des sozialen Handelns „auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht.“ 7 Judenfeindschaft wird zu Antisemitismus freilich erst dann, wenn eine Reihe von hinzutretenden Bedingungen gegeben sind: Erstens, eine Hemmung und Zurückhaltung der konstitutiven Affekte (in der Regel: Haß, Racheimpulse, Neid, Eifersucht), die deren Realisierung der „vorblickenden Überlegung“ unterwirft, wodurch aus dem bloßen Impuls ein „Ressentiment“ wird, eine „dauernde psychische Einstellung“ vorwiegend negativer Art, wie sie sich vor allem im „Groll“ manifestiert: einem „dunkel durch die Seele wandelnde(n), verhaltene(n) und von der Aktivität des Ich unabhängige(n) Zürnen, das durch wiederholtes Durchleben von Haß-Intentionen oder anderen feindseligen Emotionen schließlich sich bildet und noch keine bestimmte feindliche Absicht enthält, wohl aber alle möglichen Absichten solcher Art in seinem Blute nährt.“ 8 Zweitens: die Kommunikation dieses Ressentiments, seine Artikulation in mündlicher und zunehmend auch schriftlicher Form, womit zugleich eine gewisse Diskursivierung, Rationalisierung und Intellektualisierung verbunden ist. Drittens: die damit einhergehende Anpassung an die Selbstbeschreibungen, Programme und Interessentenideologien, wie sie für die unterschiedlichen Handlungsfelder einer funktional differenzierten Gesellschaft charakteristisch sind. Zugespitzt ließe sich sagen: der Antisemitismus ist ein Affekt, welcher rationalisiert wird: Vergemeinschaftung, die zur Vergesellschaftung drängt; wohingegen der völkische Nationalismus als Ausdruck eines bestimmten Nationalbewußtseins primär eine Sache der Rationalität ist, die freilich ihrerseits bestimmte Affekte zu attrahieren vermag: Vergesellschaftung, die auch Vergemeinschaftung sein will. Und das wiederum heißt: Antisemitismus ist ein breiteres Phänomen, das sich mit den unter6

Vgl. Lohalm 1970, S. 30, 68. Heberle sieht zwar eine Wurzel der völkischen Bewegung im Germanozentrismus, der so alt sei wie das deutsche Nationalbewußtsein selbst, meint aber, daß sie erst durch die Zivilisationskritik der Jugendbewegung jenen revolutionären Zug erhalten habe, der sie von der antisemitischen Bewegung der Vorkriegszeit unterscheide: vgl. Jarno 1925, a. a. O., S. 275, 277. Für eine späte Datierung plädieren auch der Verfasser des Deutschvölkischen Katechismus (a. a. O., S. 30) oder Broszat 1958. 7 Weber 1976, S. 21. 8 In diesem Sinn hat Max Scheler, seinerseits auf Nietzsche zurückgreifend, das Ressentiment gedeutet, es allerdings nicht, wie naheliegend, auf die völkisch-antisemitische Bewegung seiner Zeit bezogen, sondern auf – das Judentum und die bürgerliche Demokratie. Vgl. Max Scheler: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen (1912), in ders.: Vom Umsturz der Werte. Gesammelte Werke, Bd. 3, hrsg. von Maria Scheler, 5. Aufl., Bern 1972, S. 33–148, 38, 36 f.

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schiedlichsten wertrationalen Einstellungen, Präferenzen, Glaubensüberzeugungen und materiellen Interessen zu verbinden vermag, während der völkische Nationalismus deutlich enger und voraussetzungsvoller und entsprechend nicht dekkungsgleich mit Antisemitismus ist. Auch wenn wohl die meisten völkischen Nationalisten Antisemiten sind, so kann man doch das eine sein, ohne das andere zu sein 9 ; und selbst dort, wo beides zusammenfällt, sind doch sehr unterschiedliche Grade der Intensität und Radikalität denkbar, die so erstaunliche Phänomene zulassen wie die Freundschaft zwischen einem antisemitischen „Edelvölkischen“ wie Wilhelm Schwaner und einem Juden wie Walther Rathenau. 10 Man kann deshalb der analytischen Trennung zwischen beiden Komplexen zustimmen und doch darauf beharren, daß es Überschneidungen gibt: sowohl auf rein zeitlicher als auch auf sachlicher Ebene, auch wenn es sich bei der letzteren lediglich um eine Teilidentität handeln kann. Es ist die These der folgenden Überlegungen, daß gerade die Heterogenität der antisemitischen Bewegung mit ihren extremen Gegensätzen erst das Spannungsfeld erzeugt hat, in dem sich der 9 Rembrandt als Erzieher beispielsweise ist in seiner ersten Fassung zweifellos bereits ein zentraler Text der völkischen Bewegung, aber noch kaum von judenfeindlichen Ressentiments geprägt; erst die zweite und vollends dann die dritte Fassung ist dagegen auch ein Dokument des völkischen Antisemitismus, und dann sogleich in seinen schrillsten Formen (zur Entwicklung der verschiedenen Fassungen vgl. Behrendt 1984, S. 41 ff.; zu Langbehns Antisemitismus ebd., S. 111 ff.). Friedrich Lienhard andererseits hat seine Karriere als völkischer Antisemit in der Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert begonnen, später dagegen den Antisemitismus stark zurückgefahren, ohne doch aufzuhören, ein völkischer Autor zu sein (vgl. Breuer 2004). Wichtige Stichwortgeber der Völkischen wie Adolf Reinecke, Ernst Wachler, Ludwig Fahrenkrog u. a. sind außerhalb der antisemitischen Bewegung des Kaiserreichs sozialisiert worden und haben dem judenfeindlichen Ressentiment unterschiedlichen Stellenwert eingeräumt (vgl. Puschner 2004a). Der erste Präsident der Reichskulturkammer, Hans Friedrich Blunck, bestreitet 1927, „daß sich mit dem sehr starken Selbstbewußtsein auf unsere Volkheit und seine Geschichte notwendig eine feindselige Einstellung zu anderen Völkern und Rassen ergeben müsse.“ Man habe viele Jahrhunderte ohne Verlust die westjüdische Bevölkerung neben sich gehabt, „ohne daß wir je einen phantastischen, unser Volk zerreißenden Antisemitismus kannten, wie er heute ausgebrochen ist …“ Die heute in Deutschland lebende jüdische Bevölkerung sei assimilierbar, ihre deutsche Gesinnung zu ehren und anzuerkennen (Zur Rassenbildungsfrage, in: Die Tat 19.1, 1927/28, S. 47– 50, 49). 10 Vgl. die Briefe von Rathenau an Schwaner, in: Walther Rathenau-Gesamtausgabe, Bd. V: Briefe 1871–1922, 2 Teilbde., hrsg. von Alexander Jaser u. a., Düsseldorf 2006. Schwaner hat sich selbst als „edelvölkisch“ bezeichnet und damit sein „Herzensverhältnis zu den guten Menschen aller Rassen“ charakterisiert. „Dieses Verhältnis kann durch keine Rasse und durch keine Sprache gestört werden. Und also stehe ich Walther Rathenau und Martin Buber näher als Wulle, Kube und Kuntze … Denn jene Beiden sind edelvölkisch, sind wirklich Edelrasse, diese aber – arbeiten noch mit dem Knüppel“ (Wilhelm Schwaner: Edelvölkisch, in: Der Volkserzieher 30, 1926, Nr. 8). Ein Hauptautor der Deutsch-Sozialen Blätter und des Hammer wie Ottomar Beta hat nicht in der Emanzipation der Juden, sondern in der durch den „Romanismus“ bedingten Mobilisation des Bodens die Crux der Gegenwart gesehen und behauptet, daß bei einer Überführung des Realkredits in die öffentliche Hand „das Judenthum auch in unserer Mitte ebenso unangefochten ‚handeln und wandeln‘ könnte“ wie zum Beispiel im Osmanischen Reich: Ottomar Beta: Deutschlands Verjüngung. Zur Theorie und Geschichte der Reform des Boden- und Creditrechts, Berlin 1901, S. 351, 347, 99. In der Weimarer Republik sind u. a. Antisemiten wie Wilhelm Kotzde, Karl Strünckmann und Herman Wirth der Tendenz entgegengetreten, alles Unheil den Juden anzulasten und in ihnen den Hauptfeind zu sehen: vgl. Wilhelm Kotzde: Völkisch, in: Der Falke 3, 1922, H. 5–7; Karl Strünckmann: Der Kreuzzug gegen Moskau, in: Die Kommenden 5, 1930, F. 32. Zu Wirth vgl. weiter unten, II.8.

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völkische Nationalismus konstituiert hat. Die zentralen Elemente des völkischen Diskurses haben sich in der antisemitischen Bewegung des frühen Kaiserreichs gebildet, als Produkt des Bemühens, eine mittlere Linie zwischen den Extrempolen zu finden, die für diese Bewegung charakteristisch waren. Dazu muß etwas weiter ausgeholt werden. Die öffentliche Artikulation von Judenfeindschaft, sei es im Sinne eines religiös-theologisch argumentierenden Antijudaismus, sei es im Sinne eines säkular begründeten Antisemitismus, datiert in Deutschland nicht erst seit der Nationalstaatsgründung von 1871 oder dem Börsenkrach von 1873. 11 Gleichwohl markieren diese beiden Ereignisse eine Schwelle, weil sich seitdem die Diskussion über die sogenannte Judenfrage mit den Diskursen über die Gestaltung des Nationalstaats und seines Verhältnisses zur religiösen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnung verknüpft. Aus der Perspektive des religiösen Feldes, das in dieser Zeit in Deutschland wie auch in einigen anderen Ländern eine Revitalisierung erlebt (nicht nur, aber auch im fundamentalistischen Sinne 12), erscheint der neue Staat als potentieller Träger einer umfassenden Offensive gegen den „Geist der Zeit“, der als irreligiös und materialistisch, auf jeden Fall im Gegensatz zum „Geist Gottes“ befindlich gilt 13 : Züge, die von prominenten Repräsentanten dieser Richtung wie De le Roi und Stoecker im protestantischen, Rohling und der Germania im katholischen Lager dem „modernen Judentum“ zugeschrieben werden 14 – notabene: dem modernen Judentum, denn der zu führende Kampf wird nicht so sehr als Religionskrieg vorgestellt, denn als Kampf um Religion, der im Judentum eine der Hauptstützen des Säkularismus treffen will. Der angestrebte „christliche Staat“ 15 wird dabei in seiner aktuellen Gestalt als Nationalstaat akzeptiert, womit Brückenschläge zum Nationalismus möglich werden, ohne daß der Fundamentalismus deshalb mit diesem koinzidierte; und er wird zugleich als sozialer Staat konzipiert, womit wiederum Brückenschläge zu den Forderungen der sozialistischen Bewegung möglich werden, ohne daß es deshalb auch hier zu einer Identifizierung gekommen wäre. 16 An beiden Aspekten des christlichen 11 Vgl. nur für das 19. Jahrhundert Sterling 1969; Erb und Bergmann 1989; Altgeld 1992; Brumlik 2002. 12 Vgl. Altgeld 1992; Smith 1995; Gross 2004. Zum Fundamentalismus vgl. Riesebrodt 1990; 2000. Kein Geringerer als Adolf Stoecker hat übrigens die von ihm mit entfachte antijüdische Bewegung der 70er Jahre als eine spezifisch deutsche Form der christlichen Erweckungsbewegungen gedeutet: vgl. Adolf Stoecker: Die Berliner Bewegung, ein Stück deutscher Erweckung (1906), in: Reinhold Seeberg (Hrsg.): Reden und Aufsätze von Adolf Stoecker, Leipzig 1913, S. 125–140. 13 Vgl. Engelmann 1984, S. 33. 14 Vgl. Heinrichs 2000, S. 177 ff., 181 ff. u. ö.; Blaschke 1997. Eine weitere Variante, die einen Dreifrontenkrieg gegen Protestantismus, Katholizismus und Judentum führt, erörtert Cosmann 2000. 15 Dieser Begriff wird 1847 vom konservativen Rechtsphilosophen Friedrich Julius Stahl (Der christliche Staat und sein Verhältnis zu Deismus und Judentum) eingeführt und mit einer Absage an die Judenemanzipation verbunden. Zehn Jahre später hat Hermann Wagener diese Position bekräftigt: vgl. ders.: Das Judenthum und der Staat, Berlin 1857. Von den vier Forderungen Stahls – christliche Obrigkeit, christlicher Eid, christliche Schule, christliche Ehe – übernimmt Stoecker die ersten drei und läßt nur die vierte fallen. Vgl. Engelmann 1984, S. 31. 16 Exemplarisch hierfür Rudolf Todt: Der radikale deutsche Socialismus und die christliche

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Staates macht sich eine judenfeindliche Rhetorik fest, die die trans- oder internationalen Aspekte des Judentums je nach Bedarf unter- oder überbetont und diesem zugleich die Kosten für die unsozialen Folgen des Kapitalismus anlastet. Die gleiche Schuldzuweisung ist selbstverständlich auch von anderen Feldern aus möglich. Sie artikuliert sich dann in einem vornehmlich säkular-protektionistischen Sinne, der sich auf ganz unterschiedliche Bestände beziehen kann: den modernen Nationalstaat im ethnisch-kulturellen Sinne 17, die föderalistische Struktur des Alten Reiches 18, Besitz und öffentlichen Einfluß des „Germanenthums“ 19 , des ostelbischen Junkertums 20 , die Interessen von Handel und Gewerbe 21 oder des Bayreuther Regenerationswerks. 22 Nicht immer muß diese mal auf vormoderne, mal auf moderne Bestände bezogene und deshalb nicht gut auf Einheitsformeln wie „Konservatismus“ zu bringende Verteidigungsstrategie nur gegen die Juden gerichtet sein; und nicht immer sind dort, wo Antisemitismus vorliegt, die Forderungen einheitlich, wie die auf Rürup und Nipperdey zurückgehende Unterscheidung von gemäßigtem und radikalem Antisemitismus zeigt. 23 Gleichwohl überrascht die monotone Regelmäßigkeit, mit der viele dieser protektionistischen Diskurse in Anschuldigungen gegen das Judentum münden, das für alles und jedes verantwortlich gemacht wird: für die mangelnde Festigkeit des deutschen Nationalbewußtseins (Treitschke); für den kleindeutschen Nationalismus (Frantz); für die schlechten Publikationsmöglichkeiten „germanischer“ Journalisten (Marr) und die noch schlechteren Marktchancen der Agrarier; für die Verschuldung der deutschen Handwerker und Hausbesitzer und die offenen Rechnungen der Bayreuther Festspiele. Durchmustert man die antisemitische Publizistik des Reichsgründungsjahrzehnts, so scheint es keine Frage zu geben, die sich bei näherer Prüfung nicht als Ausdruck der Judenfrage entpuppt. Gesellschaft, Wittenberg 1877. Todt gründet im gleichen Jahr den Centralverein für Social-Reform auf religiöser und constitutionell-monarchischer Grundlage, dem u. a. Rudolf Meyer und Adolph Wagner sowie zeitweise auch Stoecker angehören. Zu ihm vgl. Fricke 1983, Bd. 1, S. 431 ff. 17 Vgl. Heinrich von Treitschke: Unsere Aussichten (1879), in ders.: Aufsätze, Reden und Briefe, hrsg. von Karl Martin Schiller, 5 Bde., Meersburg 1929, Bd. 4, S. 466–482. 18 So vor allem Constantin Frantz. Seine Judenfeindschaft wird u. a. deutlich in: Der Nationalliberalismus und die Judenherrschaft, München 1874; Offener Brief an Richard Wagner, in: Bayreuther Blätter 1, 1878, H. 6, S. 149–170 sowie: Der Föderalismus, als das leitende Prinzip für die sociale, staatliche und internationale Organisation, unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland, kritisch nachgewiesen und constructiv dargestellt (zuerst 1879) ND Aalen 1962, S. 352 ff. Vgl. Dreyer 1991; Becker 1997, S. 206 f. 19 Vgl. die Schriften des ehemaligen 48er Demokraten Wilhelm Marr: Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum, Bern 1879; Wählet keine Juden! Der Weg zum Sieg des Germanenthums über das Judenthum, Berlin 1879. Wichtige Dokumente für die zunehmende Verfestigung des Ressentiments in Marrs Denken sind die auf Tagebuchaufzeichnungen von 1852 beruhende Reise nach Central-Amerika, Hamburg 1870 und Der Judenspiegel, Hamburg 1862. Seine Position im Rahmen der Hamburger Demokratie beleuchtet Zimmermann 1979, S. 193 ff., 216 ff. 20 Vgl. Ferrari Zumbini 2003, S. 145 ff.; Otto 2001. 21 Vgl. Egon Waldegg (d. i. Alexander Pinkert): Die Judenfrage gegenüber dem Handel und Gewerbe, Dresden 1879. Zu Pinkert, der 1879 in Dresden den antisemitischen Reformverein gründet und bis 1885 leitet, vgl. Piefel 2004, S. 21 ff. Allgemein: Volkov 1978. 22 Zu Wagner vgl. weiter unten. 23 Vgl. Rürup 1987, S. 114.

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In der Forschung wird die Kampagne gegen das Judentum oft mit der Tendenz zur Ethnisierung des Nationalismus und einer damit einhergehenden Disposition zum Rassismus erklärt, die für diese Epoche typisch sei. Tatsächlich ist in den verschiedenen Diskursen über die Judenfrage eine Wir/Sie-Dichotomie erkennbar, die Deutsche und Juden als unterschiedliche Völker beziehungsweise Nationen präsentiert und beide wiederum größeren Familien zuordnet, die als „Rassen“ vorgestellt werden. Versteht man unter Ethnisierung, wie Klaus Holz vorschlägt, „daß die Gesamtheit einer Personengruppe als historisch-genealogische, in der Geschichte durch Abstammung sich erhaltende Gruppe vorgestellt wird“, und unter Rassismus einen „Spezialfall der Ethnisierung“ 24 , dann wird man dafür mühelos Beispiele finden. Treitschkes Deutung des Judentums als „Nationalreligion eines uns ursprünglich fremden Stammes“ 25 begründet die Fremdheit der Juden mit der Abstammung, auch wenn sie diese grundsätzlich durch Assimilation für überwindbar hält. Stoecker sieht in den Juden „ein Volk für sich“, das einen „fremde(n) Blutstropfen in unserem Volkskörper“ bilde. 26 Für die Germania steht fest, „daß die Juden nicht nur nach Geschichte, Abstammung und Religion, sondern wie nach ihrer körperlichen Erscheinung, so auch nach Eigenschaften des Geistes und Charakters und der Sitte heute noch eine eigene Race sind, deren Assimilirung bis jetzt nicht gelungen ist, vielleicht niemals gelingt und sicherlich auch nur unter den erforderlichen Vorsichtsmaßregeln stufenweise geschehen darf“ 27 ; für die von Wilhelm Marr herausgegebene und überwiegend wohl auch geschriebene Deutsche Wacht ist ebenso evident, „daß in der That der unversöhnliche Gegensatz zwischen Deutschen und Juden sich ausdrückt in der anderen Abstammung, in der anderen Religion als Trägerin einer anderen Sittlichkeit und in ihrer Abneigung gegen redliche Arbeit“. 28 Als Abstammungsgemeinschaften seien beide zugleich Rassen, die allerdings nicht für sich stünden, sondern Teil größerer Einheiten seien – im deutschen Fall der arischen Rasse, zu der auch noch die slavische und keltische Rasse zählten, im jüdischen Fall der semitischen Rasse. 29 Vorstellungen dieser Art, die in der Rasse gleichsam die Inkarnation, die körperliche Erscheinungsform eines Volksgeistes oder einer Volksseele sehen, welche ihrerseits übergreifenden Familienverbänden zugerechnet werden, gehören auch in der folgenden Zeit zum Standardrepertoire des Antisemitismus, ob bei Bernhard Förster oder Otto Glagau, Julius Langbehn oder Böckel. 30 24

Holz 2001, S. 203. Heinrich von Treitschke: Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage (1880), in ders.: Aufsätze, Reden und Briefe, Bd. 4, a. a. O., S. 494–503, 500. 26 Adolf Stoecker: Christlich-Sozial. Reden und Aufsätze, Bielefeld und Leipzig 1885, S. 186, 228. 27 [o. V.]: Die deutsch-jüdische Nationalität, in: Germania Nr. 271, 24. 11. 1879, in: Karsten Krieger (Bearb.): Der ‚Berliner Antisemitismusstreit‘ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition, 2 Tle., München 2003, Teil 1, S. 18. 28 [o. V.]: Theodor Mommsen und sein Wort über unser Judenthum, in: Deutsche Wacht, H. 1, Januar 1881, ebd., S. 812 f. 29 Vgl. ebd., S. 814. 30 Zu Förster und Glagau vgl. weiter unten. Langbehn faßt in späteren Auflagen seines Buches 25

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Das Vorhandensein derartiger Vorstellungen erklärt für sich genommen freilich nicht viel. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß auch dort, wo die Zugehörigkeit zur Nation durch Staat und Recht anstatt durch Ethnizität bestimmt wird, das Judentum zum Objekt innerstaatlicher Feinderklärungen werden kann, wie ein Blick auf die entsprechenden Äußerungen und Maßnahmen Napoleons lehrt. Sodann erscheint es auch als zu kurz gegriffen, eine zwingende Verbindung zwischen Ethnizität und Antisemitismus zu unterstellen. Gewiß konstituiert sich eine ethnische Gruppe auch durch den Glauben an eine gemeinsame Abstammung, doch kann dieser gegenüber der jeweiligen Umwelt offene oder geschlossene Sozialbeziehungen stiften. Je größer und unüberschaubarer eine ethnische Gruppe, desto fiktiver und willkürlicher die Zuordnung, desto größer das Gewicht zusätzlicher Kriterien, die nach Max Weber für den ethnischen Gemeinsamkeitsglauben mindestens ebenso wichtig sind wie die Abstammung: die kulturellen Gemeinsamkeiten der Sprache, der Sitten, der Religion, die Erinnerung an ein gemeinsames geschichtliches Schicksal und so weiter. 31 Die Identität ethnischer Gruppen, ihr jeweiliges Wir-Bewußtsein, pflegt sich aus einer Auswahl aus diesen Faktoren zu bilden, deren Gewichtung je nach historischer Lage ganz unterschiedlich ausfallen und sowohl Abschließung als auch Öffnung bewirken kann. Das zeigt nicht zuletzt das Beispiel der in Deutschland lebenden Juden, die nach dem Befund Till van Rahdens eine ethnische Gruppe bilden, welche sich in bezug auf Sprache, Kultur und Nationalbewußtsein immer weiter in Richtung der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft öffnet, intern pluralistisch ist und doch aufgrund der Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung und einer gemeinsamen Religion ein gewisses Gruppenbewußtsein bewahrt, das nicht allein auf den äußeren Druck zurückgeführt werden kann. 32 Auch die Beziehung zwischen Ethnisierung und Rassismus stellt sich bei näherer Prüfung als keineswegs so eindeutig dar, wie dies in manchen Darstellungen erscheint. 33 Was als „Spezialfall der Ethnisierung“ (Holz) gedeutet wird – der Rekurs auf „Racentypen“ – ist insofern kein „Rassismus“ im strengen Sinne, als der Einteilung der Menschen in Ethnien, Völker und Nationen kein neuer GeDeutsche und Juden als zwei Rassen und diese wiederum als Teil der arischen beziehungsweise semitischen Rasse, in: Rembrandt als Erzieher, hrsg. von H. Kellermann, Weimar 1943, S. 276, 193. Für Böckel sind Deutsche und Juden sowohl eine Nation als auch eine „Race“: Otto Böckel: Die Juden, die Könige unserer Zeit. Rede, gehalten auf der Bockbrauerei zu Berlin am 4. Oktober 1886, Marburg 1892, S. 3, 7, 9. Die Linie läßt sich leicht weiter ziehen: von Anthropologen wie Virchow, die wie selbstverständlich von nationalen Rassen sprechen, über S. M., der über den „Volksgeist der verschiedenen Rassen“ schwadroniert bis zur Vorstellung einer „deutschen Rasse“ beim BdL-Funktionär Georg Oertel oder beim Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes, Heinrich Claß (vgl. Röhl 2001, S. 844; Fricke 1983, Bd. 1, S. 241 ff.; Breuer 2001, S. 72 m. w. N.). Noch für Hitler oder für Mathilde Ludendorff sind Volk und Rasse letztlich identisch: vgl. Adolf Hitler: Mein Kampf, 40. Aufl., München 1933, 11. Kap.: Volk und Rasse (S. 311 ff.); Essner 1994, S. 93; Mathilde Ludendorff: Die Volksseele und ihre Machtgestalter, 9.–12. T., München 1936, S. 20 f. Auch in der Publizistik der Bündischen Jugend begegnet man häufig der Beschwörung der „deutschen Rasse“: vgl. Die Kommenden 4, 1929, F. 4 (Kurt Koeppe); F. 43 (Hartmut Plaas); 5, 1930, F. 42 (Hans Schwarz van Berk). 31 Vgl. Weber 1976, S. 235 ff. Hieran anknüpfend Estel 2002, S. 30 ff. 32 Vgl. van Rahden 1996. 33 Als Beispiel für die Identifizierung beider Aspekte vgl. etwa Gramley 2001, S. 271.

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sichtspunkt hinzugefügt wird, der eine entsprechende wertrationale Präferenz begründen würde. Rasse ist nicht nur in den antisemitischen Diskursen, sondern weit darüber hinaus in der Publizistik des 19. Jahrhunderts keine von Ethnos, Volk oder Nation irgendwie unterscheidbare Größe, sondern bezeichnet den zum Volksgeist gehörenden Volkskörper und dessen Perpetuierung in der Zeit; durchaus geläufig sind deshalb Bezeichnungen wie der 1840 von Rudolf Wagner nach dem englischen „race of peoples“ gebildete Begriff „Volksrasse“, der sich bald so weit eingebürgert hat, daß er 1864 in das Staats-Wörterbuch von Bluntschli und Brater aufgenommen wird. 34 In der Presse der liberalnationalen Bewegung des Vormärz ist es selbstverständlich, von einer englischen, französischen und deutschen „Race“ zu reden 35 , und noch ein Max Weber findet nichts dabei, in seiner Freiburger Antrittsrede von 1895 von „physischen und psychischen Rassendifferenzen zwischen Nationalitäten im ökonomischen Kampf ums Dasein“ zu sprechen. 36 Dasselbe Verständnis liegt Carl Peters’ Konzept der „nationalen Rassen“ zugrunde, auch wenn es für Deutschland vorerst zu dem negativen Ergebnis kommt, „daß wir hier noch keiner ausgesprochenen ‚Rasse‘ gegenüberstehen.“ Das hat die Gewißheit von Peters und anderen, in der Epoche der „Herausprägung nationaler Rassen“ zu stehen, ebensowenig beeinträchtigt wie den Glauben, „daß der deutschen Nation, wenn sie ihre Durchbildung zu einer Edelrasse ungehemmt durchlaufen kann, eine hervorragende Stellung in dieser Welt der Völker, welche wir kennen, zufallen muß.“ 37 Erst als sich gegen Ende des Jahrhunderts Rassenanthropologie, Degenerationstheorie und selektionistische Soziobiologie verbinden, wird es möglich, ein eigenständiges, gegenüber dem Volks- und Nationsbegriff distanziertes Konzept von Rasse zu entwickeln, so daß auch erst seitdem von Rassismus und Rassenantisemitismus im strengen Sinne die Rede sein kann. 38 Bis dahin ist der Bezugsrahmen für Antisemitismus, soweit säkulare Motive im Spiel sind, nicht Rasse, sondern Volk und Nation, und auch diese wiederum nicht in ihrer engeren („ethnischen“), sondern in ihrer weiteren Bedeutung, die sowohl die Volks- als auch die Staatsnation umfaßt. 39 34

Vgl. Sommer und Conze 1984, S. 156 ff. Vgl. Müller 1996/97, S. 114. Weiße, germanische und deutsche „Race“ gehen auch in der Anthropologie der Zeit ineinander über, wie etwa die Arbeiten der Brüder Lindenschmitt (1848) belegen: vgl. Wiwjorra 2006, S. 223. 36 Weber 1993, S. 545. 37 Carl Peters: Das Deutschtum als Rasse (1905), in ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von Walter Frank, 3 Bde., Bd. 3, München und Berlin 1944, S. 358, 364 f. Christian Geulen zieht diesen Text sowie einige andere, u. a. von Theodor Fritsch, als Beleg für seine These heran, „daß die Nation […] sich in der doppelten Bewegung ihrer Globalisierung und Biologisierung in eine neue, Partikularität negierende Form politischer Kollektivität transformierte“: Geulen 2004, S. 372. Ich sehe darin jedoch weniger etwas Neues als vielmehr eine Fortführung der im 19. Jahrhundert verbreiteten Semantik, die Rasse als anderes Wort für Volk behandelt. 38 Selbst dies hat seine Zeit gebraucht, denn noch in den unmittelbar an Darwin anschließenden evolutionstheoretischen Entwürfen bleibt der Rassenbegriff notorisch unscharf und wird oft, zum Beispiel bei Lubbock, synonym mit „people“ verwendet: vgl. Gondermann 2006, S. 198, 233. 39 Wie wenig festgelegt die Begriffe sind, mag ein Text illustrieren, der aus einem Vortrag vor dem Alldeutschen Verband entstanden ist. Nation bezeichnet hier „etwas natürlich Entstandenes, eine auf Abstammung, auf Verwandtschaft beruhende Einheit“, welche darüber hinaus auch noch durch historische und kulturelle Faktoren bestimmt sei, Volk dagegen die Summe der Staatsange35

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Die bloße Evokation von Volk und Rasse in der antisemitischen Bewegung des Reichsgründungsjahrzehnts, soviel bleibt festzuhalten, macht diese noch nicht zu einer völkischen Bewegung. Dafür sind die Begriffe zu wenig fixiert, sind die handlungsleitenden Motive zu diffus und zu sehr auf ein einziges Ziel fixiert: die Rücknahme der Judenemanzipation von 1869/71 oder doch wenigstens die Eindämmung ihrer Folgen. 40 In ihr entsteht jedoch ein geistiges Spannungsfeld, das durch extrem entgegengesetzte Verknüpfungen von Judentum und Modernität gekennzeichnet ist und damit eine Reihe von Vermittlungs- und Lösungsversuchen stimuliert, wie sie für die völkische Bewegung typisch werden. Um dieses Feld zu vermessen, hält man sich am besten nicht an die politisch wirkungsmächtigsten, sondern an die gedanklich konsequentesten Positionen, die gleichsam die Grenzgestalten abgeben, um Abstand oder Nähe aller übrigen festlegen zu können. Nach der Seite der Anti- oder Gegenmoderne ist dies nicht, wie man zunächst vermuten sollte, der religiöse Fundamentalismus, steht dieser doch bereits vielfach, speziell in den unter lutheranischen Prämissen operierenden Spielarten, für eine Reihe von Kompromissen mit der Moderne und entfernt sich damit bereits vom reinen Typus. 41 Radikale Konsequenz findet man dagegen im ästhetischen Fundamentalismus eines Richard Wagner (1813–1883), der schon in den 50er Jahren eine massive und seitdem immer weiter radikalisierte Zeitablehnung formuliert hat, die den modernen Staat mitsamt seinen Apparaten, die moderne, auf Geldgebrauch und Kapitalverwertung gestützte Wirtschaft und nicht zuletzt die moderne Kultur mit ihrer Betriebsamkeit, ihrer Oberflächlichkeit und Modeabhängigkeit in toto verwirft und nach einer ebenso totalen Regeneration verhörigen, also genau das, was sonst als Staatsnation gilt: vgl. Ludwig Kuhlenbeck: Das Evangelium der Rasse, Prenzlau 1905, S. 28 f. Kuhlenbeck bezieht sich seinerseits auf Woltmann, der ebenfalls zwischen dem staatsrechtlichen Volk und der Nation unterscheidet, die letztere aber auch wiederum als Volk bezeichnet. Zur Austauschbarkeit der Begriffe in der alldeutschen Publizistik jetzt auch Walkenhorst 2007, S. 102 ff. 40 Diese Begrenzung ist von zeitgenössischen Beobachtern richtig gesehen, jedoch zu schnell verallgemeinert worden, mit der Folge, daß den aus der antisemitischen Bewegung entstehenden völkischen Vereinen und Parteien keine ideologische Eigenständigkeit zuerkannt wurde. Zumal die liberale Kritik neigt deshalb dazu, diese Verbände nur als einen Zweig des Konservatismus zu perzipieren: vgl. Hans Maier: Die Antisemiten, München 1910, S. 3; Friedrich Naumann: Die politischen Parteien (1910), in ders.: Werke Bd. 4. Politische Schriften, bearb. von Thomas Nipperdey und Wolfgang Schieder, Köln und Opladen 1964, S. 1–198, S. 144 ff.; Friedrich Lorenzen: Die Antisemiten, Berlin 1912, S. 15, 17, 55. 41 Etwa in der Anerkennung einer Trennung zwischen dem Reich Christi und dem Reich der Welt, in dem es nach den Maßgaben des weltlichen Naturrechts als eines Rechts zugeht, das zwar noch eine dunkle Kenntnis des göttlichen Naturrechts impliziert, gleichwohl durch das Medium der menschlichen Natur und Vernunft gebrochen ist. Daß das Luthertum deswegen allenfalls für rechtsradikale, nicht aber für fundamentalistische Bestrebungen tauge, wie Martin Riesebrodt meint (1990, S. 40 f.), überzeugt freilich nicht. Eine religiöse Primärmotivation ist Stoecker nicht abzusprechen, ebensowenig der Wille, die eingetretene Ausdifferenzierung, wenn schon nicht gänzlich aufzuheben, so doch so weit zurückzunehmen, daß die Religion wieder in ihre Funktion als Lebensführungsmacht eintreten kann. Was man allerdings mit Troeltsch festhalten kann, ist, daß Stoecker die aus der fundamentalistischen Zeitkritik gespeisten „sozialreformerischen Tendenzen den mittelständisch-patriarchalisch-hochkirchlichen geopfert“ und sich den Machtinteressen der konservativen Partei adaptiert hat. Vgl. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1919, S. 591.

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langt, als deren einziges Medium das von Wagner geschaffene Gesamtkunstwerk gilt. 42 Vor dessen Verwirklichung hat indes ein ungutes Geschick das „Judenthum in der Musik“ gesetzt, von dem sich Wagner seit den erniedrigenden Erfahrungen seines ersten Pariser Aufenthalts regelrecht verfolgt fühlt. 43 Sein Antisemitismus ist zwar noch kein „Erlösungsantisemitismus“, der den Sieg über Verderbnis und Entartung der modernen Zivilisation von der Entfernung oder gar Vernichtung der Juden erwartet, sind diese in Wagners Augen doch nur die Nutznießer, nicht aber die Ursache des Verfalls. 44 Weil ihre Emanzipation jedoch vermeintlich zu früh, vor der Überwindung der Moderne erfolgt ist, stärkt sie die kunstfeindlichen Mächte und muß deshalb zurückgenommen werden, wenn das Regenerationsprojekt nicht allzusehr verzögert werden soll. Die aufkommende antisemitische Bewegung verfolgt Wagner jedenfalls mit unverhohlener Befriedigung und prangert die „Staats-Autoritäten“ wegen der „an die Juden ertheilte(n) Vollberechtigung“ an, „die eine so ungeheure, unabsehbar folgenschwere Umgestaltung unseres Volkswesens“ bewirkt habe. 45 Am andern Pol dieses Spannungsfeldes steht Eugen Dühring (1833–1921), nach einer gescheiterten Universitätskarriere nicht weniger vom Ressentiment zerfressen als Wagner und stets bereit, seine vermeintlichen Verfolger – „die Professoren, die Juden und die durch und durch verjudeten Socialdemokraten“ – mit ätzenden Haßtiraden zu überziehen. 46 Wie Wagner von der politischen Linken herkommend, teilt er doch dessen Fortschrittskritik nicht und setzt sich statt dessen für eine volle Entfaltung aller von der Moderne entwickelten Kräfte im Rahmen einer „socialitären“ Ordnung ein. 47 Während Wagner von der Idee besessen ist, mit den Mitteln der Kunst einer Wiederkehr der Religion die Bahn zu ebnen, sieht Dühring, der sich selbst in der Nachfolge Voltaires plaziert, seine Aufgabe ganz im Gegenteil im Kampf gegen die Religion, die er der Lebensfeindschaft entspringen läßt; attackiert Wagner die Juden als Teil der von ihm perhorreszierten Fortschrittsmächte, so wirft Dühring ihnen genau umgekehrt vor, den Fortschritt zu behindern, als ein „Erbschaftsstück, welches nach mittelalterlichen Grundsätzen in die neuere Zeit hinein überkommen ist.“ Sie seien unfähig zur Wissenschaft, intolerant und illiberal, „die eifrigsten Agenten und Beschöniger der politischen Unfreiheit“, nur darauf aus, die Errungenschaften der Französischen Revolution in ihr Gegenteil zu verkehren, weshalb nichts anderes helfe, als sie mit ihren eigenen Mitteln zu bekämpfen: der Aufhebung der ihnen gewährten 42

Zu Wagners Fundamentalismus vgl. Breuer 2003, S. 145 ff. Zu den Wurzeln wie auch zur weiteren Entwicklung von Wagners Antisemitismus vgl. Fischer 2000. Die sehr kontroverse Debatte spiegelt sich u. a. in Friedländer und Rüsen 2000; Borchmeyer u. a. 2000. 44 Vgl. Friedländer 2000. 45 Richard Wagner: „Erkenne dich selbst“ (1881), in ders.: Gesammelte Schriften und Dichtungen, 2. Aufl., Leipzig 1888, Bd. 10, S. 265. 46 Eugen Dühring: Sache, Leben und Feinde, Karlsruhe und Leipzig 1882, S. 214. Lesenswert hierzu Theodor Lessing: Dührings Haß, Hannover 1922. 47 Vgl. H. Köppe: Das ‚sozialitäre System‘ Eugen Dührings, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung 4, 1914, S. 393–438; Arnold Voelske: Die Entwicklung des ‚rassischen Antisemitismus‘ zum Mittelpunkt der Weltanschauung Eugen Dührings, Phil. Diss. Hamburg 1936; Kaltenbrunner 1969; Jakubowski 1995. 43

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Freiheits- und Gleichheitsrechte. Damit sind nicht bloß die durch die Emanzipation etablierten politischen Rechte gemeint, sondern auch die bereits zuvor garantierten bürgerlichen Rechte, verlangt Dühring doch weitgehende Einschränkungen der Vertragsfreiheit, der freien Gattenwahl (Verbot von Mischehen) und der Freizügigkeit. Die Rede ist von ‚äußerlicher Einschränkung, Einpferchung und Abschließung‘, die im Falle eines kollektiven Landesverrats um die Deportation zu ergänzen seien. 48 Maßnahmen wie diese, die Dühring in späteren Jahren um die Forderung nach „Ausscheidung und Vernichtung“ ergänzen wird 49 , stünden nicht in Widerspruch zu den Prinzipien der Moderne, sondern zielten gerade auf deren Bewahrung. Die „Judenrace“, die sich selbst als auserwählte betrachte, müsse auch mit einer auserwählten Ausnahmegesetzgebung bedacht werden. „Die Juden sind (…) ein inneres Carthago, dessen Macht die modernen Völker brechen müssen, um nicht selbst von ihm eine Zerstörung ihrer sittlichen und materiellen Grundlagen zu erleiden“. 50

48 Eugen Dühring: Die Judenfrage als Frage der Racenschädlichkeit für Existenz, Sitte und Cultur der Völker, Karlsruhe und Leipzig, 3. Aufl. 1886, S. 116, 46 f., 18, 11, 9, 113; ders.: Sache, Leben und Feinde, a. a. O., S. 345. 49 Vgl. Kaltenbrunner 1969, S. 51 f. m. w. N. 50 Dühring: Die Judenfrage, a. a. O., S. 159. Dührings brutale Sprache hat in diesem Punkt auf die Völkischen ihren Eindruck nicht verfehlt. Nur so ist zu erklären, weshalb einige ihn, der selbst durchaus kein Völkischer war, in ihr Pantheon aufgenommen haben – so etwa der spätere Deutschbündler Ludwig Kuhlenbeck (Eugen Dühring, ein Vorkämpfer gegen Juden und Schriftgelehrte, in: Das Zwanzigste Jahrhundert 2, 1892, S. 629 ff., 758 ff.), Heinrich Driesmans oder Ernst Wachler: vgl. Puschner 2001, S. 341 m. w. N. Auch in den Erinnerungen von Willi Buch (1883– 1943), der 1908 Ernst Wachler in der Schriftleitung der Staatsbürger-Zeitung ablöst, nimmt Dühring einen bedeutenden Platz ein, nicht zuletzt wegen der Beziehungen, die zwischen dem von seinen Ideen inspirierten Sozialitären Bund, dem Deutschen Kulturbund für Politik (Gustav Simons) und dem Jungdeutschen Bund bestehen: vgl. Willi Buch: 50 Jahre antisemitische Bewegung. Beiträge zu ihrer Geschichte, München 1937, S. 24, 28 f. Aufschlußreich auch die vielen positiven Einschätzungen im Hammer, wo ihn ein K. Köhler zum „wissenschaftliche(n) Begründer der völkischen Idee“ erklärt, in: Hammer 27, 1928, H. 613; vgl. auch Hammer 9, 1910, H. 185, 187; 31, 1932, H. 717/718; 32, 1933, H. 733/734; 36, 1937, H. 820. Eine noch unmittelbarere Wirkung hat Dühring auf den „nationalen Sozialismus“ – besser: sozialen Nationalismus – in der Habsburgermonarchie entfaltet, zum einen auf Georg von Schönerer, der von Dühring vor allem den Rassenantisemitismus übernimmt (vgl. Kaltenbrunner 1969, S. 37), nicht aber die Kritik am Deutschnationalismus und am Christentum, die sich bei Schönerer auf den Katholizismus beschränkt, zum andern auf Rudolf Jung von der böhmischen Deutschen Arbeiterpartei, der um 1912/13 Kontakte mit Gustav Simons aufnimmt und neben dem Antisemitismus die Ablehnung des Klassenkampfs und Ansätze einer Boden- und Geldreform rezipiert: vgl. Wladika 2005, S. 567 ff. sowie zuvor Whiteside 1961.

2. Grundlegung des völkischen Nationalismus: Bernhard Förster und Otto Glagau Am Ende des ersten Jahrzehnts nach der Reichsgründung stehen somit diametral entgegengesetzte Begründungen der Judenfeindschaft im Raum, was für alle, die aus affektiven Gründen zu dieser Disposition neigen, erhebliche Probleme hinsichtlich der gedanklichen Konsequenz und intellektuellen Dignität ihres Standpunktes aufwirft. In Reaktion hierauf – und zweifellos auch auf das zu dieser Zeit zu verzeichnende Abebben der ersten antisemitischen Woge – setzen noch in den 80er Jahren Bemühungen ein, die divergierenden Positionen zu harmonisieren und der Bewegung dadurch neuen Schwung zu verleihen. Wichtige Impulse gehen dabei nicht von Wagner selbst, wohl aber von jenem Teil seiner Anhänger aus, der sich mit der radikalen Zeit- und Weltablehnung des Meisters schwertut – Ludwig Schemann, Adolf Wahrmund, Houston Stewart Chamberlain und vor allem: Bernhard Förster, der zusammen mit seinem Bruder Paul und Max Liebermann von Sonnenberg die Antisemiten-Petition von 1880 initiiert. 1 Andere Anstöße kommen von Otto Glagau, der schon in den 70er Jahren mit einer aufsehenerregenden Artikelserie in der Gartenlaube hervortritt, im Anschluß daran einige auflagenstarke Broschüren herausbringt und von 1880 bis 1888 mit dem Kulturkämpfer eine der wichtigsten Zeitschriften des antisemitischen Spektrums ediert. 2 Im Schrifttum dieser Autoren zeichnen sich zum erstenmal die Konturen der völkischen Ideologie ab. Daß ausgerechnet Bayreuth hierzu einen erheblichen Beitrag leistet, ist auf den ersten Blick überraschend, scheint doch von dort keine Brücke zu den Auffassun1 Zu Schemann und Chamberlain vgl. Schüler 1971, S. 101 ff., 112 ff. Der Orientalist Adolf Wahrmund (1827 – 1913) ist zwischen 1883 und 1909 mit zwölf Beiträgen in den Bayreuther Blättern vertreten, darunter einem Elaborat, das die Hauptgedanken seines antisemitischen „Klassikers“ Das Gesetz des Nomadentums und die heutige Judenherrschaft (Berlin 1887) zusammenfaßt. Der Fundamentalismus Wagners wie auch Lagardes wird hier in ähnlicher Weise wie bei Förster und Glagau mit Dühringschen Gedanken gekreuzt, mit der Folge, daß die Kritik an Wissenschaft und Technik weitgehend auf der Strecke bleibt und die Zeitablehnung auf Forderungskataloge reduziert wird, wie sie sich in den noch vorzustellenden Programmen der Antisemitenparteien finden: vgl. insbesondere Adolf Wahrmund: Die Bändigung Mammons. Vom deutschen Hochsinn und für ihn, in: Bayreuther Blätter 22, 1899, S. 311–359, 350 ff. Einige seiner Aufsätze haben auch in den Hammer Eingang gefunden: vgl. 1902, H. 1, 3, 9. Zum Beitrag des Bayreuther Kreises für die Formierung des völkischen Denkens vgl. noch Altgeld 1984; Châtellier 1996. 2 Die Aufsätze aus der Gartenlaube sind in erweiterter Fassung auch als Buch erschienen: vgl. Otto Glagau: Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin. Gesammelte und stark vermehrte Artikel der ‚Gartenlaube‘, Leipzig 1876; Der Börsen- und Gründungsschwindel in Deutschland. Zweiter Theil von „Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin“, Leipzig 1877. Vom gleichen Verfasser außerdem: Der Bankerott des Nationalliberalismus und die ‚Reaction‘, 6. Aufl., Berlin 1878; Deutsches Handwerk und historisches Bürgerthum, 3. Aufl., Osnabrück 1879; Des Reiches Noth und der neue Culturkampf, 2. Aufl., Osnabrück 1879.

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gen zu führen, wie sie Dühring in bezug auf Wissenschaft und Religion hegte. Sieht man näher zu, so zeigt sich allerdings, daß die Distanz weit mehr von seiten Dührings als von seiten Bayreuths betont wird. Während Dühring den Wagnerschen Kreis den „rückläufigen und romantischen Elementen“ zurechnet und sich, „bei aller Achtung vor der Persönlichkeit Schopenhauers“, von dessen lebensfeindlichen und weltflüchtigen Bestrebungen distanziert 3 , weist Wagner Dührings Schrift über die Judenfrage einzig wegen ihres Stils zurück, nicht wegen ihres Inhalts; und es sind Dührings Invektiven gegen seine Person, nicht diejenigen gegen die Juden, die Wagner verärgern. 4 Einen absoluten Hiatus, wie er von der Sache her durchaus bestand, hat Wagner in bezug auf Dühring nicht wahrgenommen, sonst hätte er auch wohl kaum die Erziehung seines Sohnes Siegfried einem Hauslehrer anvertraut, der sich beim Einstellungsgespräch zum Erschrecken Cosimas als „Dühringianer“ entpuppt.5 Der neue Erzieher, Heinrich von Stein (1857–1887), wird sich zwar unter dem Einfluß Wagners weit von seinem Ausgangspunkt entfernen, besonders was die Einstellung zur Religion betrifft, doch wird er Dühring, bei dem er 1875 studiert hat, zeitlebens Respekt zollen. Der Aufsatz Über Werke und Wirkungen Rousseaus, der im Dezember 1881 in den Bayreuther Blättern erscheint, setzt mit einer Reverenz vor Dühring ein, für die sich Stein zuvor beim Herausgeber Hans von Wolzogen (1848–1938) – und damit indirekt von Wagner – das Plazet holt. Er sei zwar, schreibt er am 5. November 1881, Dühring im tiefsten Grunde seines Gemütes entfremdet, seit er zu Wagner gehöre, doch fühle er sich durch Dührings „einem so gänzlich verschiedenen Grund entkeimten und dennoch gleichen Lehren bestärkt in unseren Resultaten.“ 6 Und Wolzogen beeilt sich zu erwidern: „Ich freue mich sehr gerade auf diesen Ihren Rousseau; und am allerwenigsten beängstigt mich dabei die Ihnen nötig erscheinende Erwähnung Dührings. Wir stehen wahrhaftig nicht auf jenem Standpunkte des litterarischen Verkehres, auf welchem es heisst: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘, und wo jede persönliche Missachtung mindestens durch Nichtachtung erwidert werden muss. Mich dünkt, wir haben die Pflicht, einmal auch eines Mannes wie Dühring mit allergrösster Gerechtigkeit ausdrücklich zu gedenken.“ 7 Im Kampf gegen die „Schemen semi-

3 Vgl. Dühring: Sache, Leben und Feinde, Karlsruhe und Leipzig 1882, S. 366, 109, 245 f., 283 f. In seiner Schrift über die Judenfrage wirft Dühring Wagner überdies vor, er habe zugunsten des Bayreuther Projekts, das auf das „Judengold“ angewiesen sei, seine Judenfeindschaft zu immer leiseren Akkorden herabgestimmt und sogar die „zur Bayreuther Orphik beisteuernden Leute vom Judenstamme […] von ihren Judeneigenschaften losgesprochen“: Dühring: Die Judenfrage als Frage der Racenschädlichkeit für Existenz, Sitte und Cultur der Völker, Karlsruhe und Leipzig 1886, S. 76 f. Zu den Hintergründen dieser Attacke, die auf die Ablehnung eines Aufsatzes von Dühring durch die Bayreuther Blätter zurückgeht, vgl. wiederum ders. 1882, a. a. O., S. 366 f. 4 Vgl. Cosima Wagner: Die Tagebücher 1869 – 1883, hrsg. von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, 2 Bde., München 1977, Bd. 2, S. 664, 680. 5 Vgl. ebd., S. 428 (20. 10. 1879). 6 Hans von Wolzogen (Hrsg.): Heinrich von Steins Briefwechsel mit Hans von Wolzogen, Berlin und Leipzig 1914, S. 29. 7 Ebd., S. 31. Die Einflüsse Dührings auf Stein werden ausführlich beleuchtet von Bernauer 1998, S. 73, 78, 227 ff.

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tisch-lateinischer Zivilisation“ ist Bayreuth von Anfang an nicht wählerisch bei der Suche nach Bundesgenossen.8 Während aber Stein und Wolzogen, bei aller Konzessionsbereitschaft, noch an Wagners Gegenstellung gegen die Modernität festhalten – Stein mehr mit der Präferenz für einen ästhetischen, Wolzogen mehr mit der für einen nationalreligiösen Fundamentalismus 9 – wird der Schritt zum typisch völkischen Kompromiß zwischen Ablehnung und Bejahung des ‚Fortschritts‘ erst von Bernhard Förster (1843–1889) vollzogen. Ein Gymnasiallehrer mit hochfliegenden Ambitionen, der für das Stocken seiner Karriere die Juden verantwortlich macht und sich deshalb in öffentliche Auseinandersetzungen verstrickt, die ihn 1880 sein Amt kosten, betätigt sich Förster von Anfang an als ein „Agent Bayreuths“. 10 Schon sein erster öffentlicher Auftritt gilt der Apotheose Wagners, der als „Begründer eines deutschen Nationalstils“, als Prophet einer ‚konservativen Revolution‘ und als Erneuerer „unsere(r) schon vergrabene(n) und vergessene(n) Wotan’s-Religion“ gefeiert wird 11 ; ein weiterer Vortrag walzt Wagners Invektiven gegen die Rolle des Judentums in der Musik aus und sieht in ihrem Urheber eine Reinkarnation des Dürerschen Ritters zwischen Tod und Teufel. 12 Seine „Gedanken über Deutsche Cultur, Wissenschaft, Kunst, Gesellschaft etc.“ veröffentlicht Förster 1883 unter dem Titel Parsifal-Nachklänge. Auch sonst läßt er bei jeder Gelegenheit den Jünger durchblicken, sei es, indem er sich Wagners Kampf gegen die Vivisektion zu eigen macht, sei es, indem er dessen Idee einer Regeneration durch Musik gegen die Polemik Eugen Dührings verteidigt. 13 Noch das Kolonisationsunternehmen, das Förster im Februar 1886 nach Paraguay führt, geschieht in Ausführung von Überlegungen, die der späte Wagner in Religion und Kunst (1880) ventiliert. 14 8

Heinrich von Stein: Idee und Welt, hrsg. von Günter Ralfs, Stuttgart 1940, S. 62. Vgl. die in diese Richtung gehenden Hinweise bei Bernauer 1998, S. 124 f. Wie sehr seine Judenfeindschaft fundamentalistisch motiviert ist, hat Wolzogen in seinem Brief an Stein vom 10. 1. 1884 zu erkennen gegeben, in dem er betont, „dass nicht die Religion der Juden es ist, welche uns feindlich bedroht, sondern gerade die Irreligiosität, die Modernisirung – welches zugleich der übelste Charakterzug des Semitismus ist: jene egoistisch-utilitaristische Selbstbelügung, deren moralisch-ideales Gegenbild die welterlösende Selbstverleugnung des Geistes Christi darstellt.“ (Wolzogen 1914, a. a. O., S. 81). 10 Erich F. Podach: Bernhard und Eli Förster, in ders.: Gestalten um Nietzsche, Weimar 1931, S. 125–176, 127. Zur Biographie Försters vgl. außerdem Salmi 1994. 11 Vgl. Bernhard Förster: Richard Wagner als Begründer eines deutschen Nationalstils mit vergleichenden Blicken auf die Kulturen anderer indogermanischer Nationen. Ein Vortrag, in: BBl 3, 1880 (4), S. 106–122, 113 f. 12 Vgl. ders.: Das Verhältnis des modernen Judenthums zur deutschen Kunst, Berlin 1881, S. 2 f.- Das Dürer-Bild wird bekanntlich 1871 von Nietzsche in die Wagner-Bewegung eingebracht, der den Ritter mit Schopenhauer identifiziert: vgl. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 15 Bde., Bd. 1, München 1988, S. 131. 1885 überreicht er das Blatt seiner Schwester als Geschenk zu ihrer Hochzeit mit Bernhard Förster, wohl kaum in Unkenntnis der Deutung, die dieser ihm mittlerweile verliehen hat: vgl. Friedrich Nietzsche 2000, S. 609. Zur wechselvollen Deutungsgeschichte dieses Bildes vgl. Schneider alias Schwerte 1962, allerdings ohne Hinweis auf Förster. 13 Vgl. Bernhard Förster: Beiträge zur Charakteristik der Zeit, XIII: Die Frage der Vivisektion im Deutschen Bundestage. Ein Stück Kulturkampf, in: BBl 5, 1882 (3), S. 90–96; ders.: Ein Deutschland der Zukunft, in: BBl 6, 1883, (1–3), S. 44–56. 14 Vgl. Richard Wagner: Religion und Kunst, in ders.: Dichtungen und Schriften, hrsg. von 9

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Wenn Förster wenige Monate vor seinem Ende die Bayreuther Gemeinde beschwört, daß er seine Arbeit in Nueva Germania als geistiger Sohn Richard Wagners leiste, kann er der Bestätigung und Unterstützung durch Bayreuth gewiß sein. 15 Gleichwohl fällt auf, daß Wagner diesem Jünger gegenüber auf Distanz hält. Die eben geknüpfte Beziehung droht schon zu Anfang wieder zu zerreißen, als Wagner Bedenken gegen Försters Mangel an Besonnenheit im Umgang mit dem Christentum äußert und ein von diesem eingereichtes Manuskript nur mit den Kürzungen Wolzogens in den Bayreuther Blättern bringen will. 16 Mehrere Bitten Försters um Wagners Unterschrift unter die von ihm initiierte Antisemiten-Petition werden abschlägig beschieden, desgleichen die Aufforderung zur Unterstützung einer geplanten antisemitischen Zeitung. „Sehen Sie, ob Sie in Fürst Bismarck’s Kram passen“, schreibt Wagner ihm am 22. Januar 1881 aus Neapel und fügt hinzu: „und Sie scheinen in den Kram zu passen, denn Sie adoptieren sein ganzes Programm“. Auch die Kolonisationspläne stoßen mitnichten auf Wagners Zustimmung. Am 9. 2. 1883 notiert Cosima Wagner: „Beim Frühstück besprechen wir die organisierte Auswanderung durch B. Förster, von welcher wir vernehmen, daß sie zahlreich vor sich gehe, daß Eltern ihre Söhne ihm anvertrauen; das erschrickt R. sehr, da er kein großes Vertrauen hegt.“ 17 Nach den Gründen für diese Distanzierung muß man nicht lange suchen. Förster stimmt zwar in puncto Antisemitismus, Antivivisektion und Vegetarismus durchaus mit einigen Anliegen Wagners überein, schwächt dessen Zeitablehnung jedoch in entscheidenden Punkten ab. Der gegen die Vivisektion gerichtete Aufsatz spricht sich bei aller Kritik sehr wohl für die Freiheit der Wissenschaft aus und bezeichnet es als ein „erhabenes Ziel“, „ins Innere der Natur einzudringen, dem Leben seine Gesetze ablauschen zu wollen“; zurückgewiesen wird lediglich, wie später bei Chamberlain, der Totalitätsanspruch der Wissenschaft, der durch den Hinweis auf die veredelnden Wirkungen von Kunst und Moral relativiert wird. 18 Ein Umgang mit der Natur, wie ihn neben Goethe Kant, Darwin u. a. gepflegt hätten, wirke wohltätig auf Verstand und Phantasie ein und bilde gleichzeitig den Charakter. Eine umfassende technische Schulung wird ebenso ins Auge gefaßt wie eine am preußischen Vorbild ausgerichtete Militarisierung, die durch eine neu zu schaffende „Gesundheits-Armee“ zu ergänzen sei, „welche der ‚Hygiene‘, das heißt der physischen Wohlfahrt der Gesammtheit“ dienen solle. 19 UnDieter Borchmeyer, Bd. 10, Frankfurt 1983, S. 117–163, 151 f. Zur Geschichte dieses Unternehmens vgl. Kraus 1999 (mir nicht zugänglich). 15 Vgl. Bernhard Förster: Offener Brief an den Freiherrn Hans Paul von Wolzogen in Bayreuth, in: BBl 11, 1888 (10), S. 357–360; Hans Paul von Wolzogen: Neu-Deutschland in Paraguay. Ein ernster Aufruf an die Unserigen, ebd., (12), S. 438–439. 16 Vgl. den Brief Wagners an Wolzogen vom 17. 1. 1880, zitiert in Carl Friedrich Glasenapp: Das Leben Richard Wagners in sechs Büchern. 4. neubearb. Ausg., Leipzig 1905 – 1911, Bd. VI., S. 297 ff. Förster hat sich in seinem zweiten Wagner-Vortrag beeilt, diesen Bedenken entgegenzukommen, indem er nunmehr entschieden für eine „christliche Cultur“ plädiert (Das Verhältnis des modernen Judenthums zur deutschen Kunst, a. a. O., S. 32). 17 Vgl. Cosima Wagner: Die Tagebücher 1869–1883, a. a. O., Bd. 2, S. 564, 672, 1109. 18 Vgl. Förster: Vivisektion, a. a. O., S. 93, 95. 19 Vgl. ders.: Zur Frage der ‚nationalen Erziehung‘, eine Bayreuther Studie, in: BBl 6, 1883,

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ternehmungen industrieller Art werden keineswegs grundsätzlich verworfen, wie bei Wagner, sondern lediglich mit der Auflage versehen, daß die von ihnen erzielten Gewinne allen an ihnen Beteiligten, einschließlich der Arbeiter, zugute kommen sollen. 20 Der Kapitalismus muß sich zwar heftige Anklagen gefallen lassen, doch begnügt sich die vollmundig verkündete „Vernichtung“ dann am Ende doch mit einer „höhere(n) Besteuerung der Börse, jeglicher Form des Luxus und überhaupt des beweglichen Besitzes“ in Form einer progressiven Einkommens- und Erbschaftssteuer. 21 Daß es keineswegs gegen den Kapitalismus schlechthin geht, sondern nur gegen den undeutschen, jüdischen, wird am klarsten in Wolzogens Unterstützungsaufrufen für das Paraguay-Unternehmen ausgesprochen, in denen die Leserschaft aufgefordert wird, ‚deutsches Kapital‘, „ja ich möchte sagen: Bayreuther Kapital“ zu spenden, das nicht der Erzielung von spekulativen Profiten dienen soll, sondern der Sicherung von deutscher Arbeit und deutschem Leben „auf dem Grunde einer neuen, verjüngten, gesunden, germanischen Kultur“. 22 Nimmt man weitere Forderungen hinzu, wie die nach einem expansiven Rüstungsprogramm oder nach Verstaatlichung der Eisenbahnen, dann wird deutlich, wie berechtigt das Urteil Veit Veltzkes ist, nach dem sich Förster „in krassem Gegensatz zu Antimilitarismus und Antistaatlichkeit seines ‚verehrten und lieben Meisters‘ und dessen Perhorreszierung Bismarcks“ befand. 23 Nicht alle diese Abweichungen von Wagner lassen sich dem Einfluß Dührings zuschreiben, dem Förster sich nach 1881 geöffnet hat 24 – am wenigsten die mit Aufrüstung und Militarisierung verbundenen Komplexe. Dühringschen Geistes aber ist zweifellos das positive Verhältnis zu Wissenschaft und Industrie, sind manche, wiewohl nicht wirklich durchdachte Äußerungen über die „Judenfrage“ als „Rassefrage“ 25 , ist endlich auch das Amalgam von libertären und, sit venia verbo, kommunitaristischen Vorstellungen, nach denen Förster sein „Deutsch(7–9), S. 189–228, 215 f., 226. Das ist, gegenüber den ein Jahr zuvor verfaßten Parsifal-Nachklängen, eine Akzentverschiebung in Richtung Progression, die deutlich von der dort noch vorherrschenden, ganz an Wagner orientierten Zeitablehnung absticht. Vgl. Bernhard Förster: ParsifalNachklänge, Leipzig 1883, S. 53 ff. 20 Vgl. ders.: Zur Frage der ,nationalen Erziehung‘, S. 220. 21 Ders.: Constantin Frantz ‚Zur Reform des Steuerwesens‘, in: BBl 5, 1882 (9/10), S. 315–317, 316. Vgl. auch ders.: Das Verhältnis des modernen Judenthums zur deutschen Kunst, a. a. O., S. 52: „Vernichten wir den Kapitalismus – sonst vernichtet er uns! (Lebhafter Beifall)“. 22 Wolzogen 1888, a. a. O.; ders.: Nachträge zu den Mitteilungen aus Nueva Germania, in: BBl 12, 1889 (11), S. 380–382. Auch dieses Bayreuther Kapital soll freilich mit 5 % verzinst und später „ratenweise unter ev. Erhöhung des Prozentsatzes zurückgezahlt (amortisiert) werden“, womit es sich vom profanen Kapital dann doch wieder wenig unterscheidet. 23 Veltzke 1987, S. 261. 24 Vgl. Bernhard Förster: Beiträge zur Charakteristik der Zeit, XVII: Lichtblicke aus der Zeitgenossenschaft. 4. Friedrich Zöllner. Ein Beitrag zur Würdigung des Menschen, des Kämpfers, des wissenschaftlichen Charakters, in: BBl 5, 1882 (11/12), S. 361–369, 366 f. Förster nimmt hier Dühring vor seinen Gegnern in der Berliner Universität und der preußischen Kultusbürokratie in Schutz.- Auch auf Bernhard Försters Bruder Paul scheint Dühring starken Einfluß gehabt zu haben. Nach der Erinnerung von Willi Buch soll er in Berlin Mitglied des von Dühring inspirierten „Sozialitären Bundes“ gewesen sein, der aus Henricis Sozialem Reichsverein hervorging: vgl. Willi Buch: 50 Jahre antisemitische Bewegung. Beiträge zu ihrer Geschichte, München 1937, S. 24. 25 Vgl. Förster: Friedrich Zöllner, a. a. O., S. 368. Wie wenig unterscheidbar für Förster Rasse und Volk sind, zeigen Formulierungen wie die vom „Grundcharakter des arischen Volksthums“

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land der Zukunft“ gestaltet wissen will. Wie der Berliner Privatgelehrte weist Förster den römischen Cäsarismus, aber auch den Feudalismus mit seiner Ständeordnung zurück und wirbt für eine Ordnung, die auf einem Maximum an Dezentralisation und kommunaler Autonomie beruht. 26 Die Gemeinden sowie die auf ihnen aufbauenden größeren Einheiten wie Gaue und Stämme sollen den größten Teil ihrer Angelegenheiten (Infrastruktur, Gerichtsbarkeit, Schule) in eigenverantwortlicher Selbstverwaltung regulieren und dabei „völligste, absolute, Denk-, Gewissens-, Lehr-, Mittheilungs-, Versammlungs-Freiheit“ genießen 27 ; für die auf diese Weise nicht zu bewältigenden Aufgaben wie Vertretung nach außen, Verteidigung, „Oberaufsicht über das Ganze“, soll es eine Regierung geben, die nach dem germanischen Prinzip der „Führung eines selbstgewählten und freiwillig anerkannten Oberhauptes“ einzurichten sei. 28 Diese Wahlmonarchie sei durch eine Volksvertretung zu ergänzen, die sich aus Delegierten der zu bildenden Berufskörperschaften zusammensetzen soll. Der westliche Parlamentarismus hingegen mit seiner Repräsentation atomisierter Individuen wird als undeutsch verworfen, womit einmal mehr eine Schnittmenge von Wagner und Dühring bezeichnet ist. 29 Mit seiner Präferenz für eine funktional differenzierte, gleichwohl harmonisch und organisch verstandene Ordnung, die um die mittleren Gruppen der Gesellschaft aufgebaut ist und sozialen Polarisierungen entgegenwirkt, entspricht dieses Programm dem völkischen Harmoniepostulat; mit seiner Hypostasierung des Deutschtums – „Wer unter den Nationen Europas ist denn jetzt ausser uns Deutschen noch Träger eines grossen Kulturgedankens??“30 – dem Rechtsnationalismus, wenngleich in einem Sinne, der sich sehr von den zeitgenössischen Manifestationen des bürgerlichen Nationalismus unterscheidet: denn das Deutschtum, dem die ‚große Aufgabe in der Geschichte der Völker‘ zugewiesen wird, eine „Läuterung und Neugeburt der Menschheit – somit auch Sicherstellung der menschlichen Cultur“ zu bewirken, ist nicht das reale, gegebene Deutschland, oder von den Ariern als stets „kämpfende(n), vorwärtsstrebende(n) Nationen“: ders.: Das Verhältnis des modernen Judenthums zur deutschen Kunst, a. a. O., S. 12. 26 Vgl. Förster: Zur Frage der ,nationalen Erziehung‘, a. a. O., S. 195 f., 219. 27 Ebd., S. 223. Diese Bekräftigung der bürgerlichen Freiheiten für den nichtjüdischen Bevölkerungsteil, die hart mit der Verweigerung derselben für den jüdischen kontrastiert, hat in diverse Programme der völkischen Parteien Eingang gefunden: vgl. im dokumentarischen Anhang zu Riquarts 1975, S. 331, 338 ff., 348, 358, 363. Und auch der Gleichheitsgedanke wird zwar eingeschränkt, aber keineswegs rundweg zurückgewiesen, wie Adolf Bartels’ Unterscheidung von ‚deutschem und jüdischem Demokratismus‘ zeigt, die für den ersteren, bei aller Betonung ‚konservativer‘ Züge, das allgemeine Stimmrecht und die Gleichheit aller ‚Bluts-, Volks- und Rassegenossen‘ reklamiert und die ‚rechte‘ Präferenz für Ungleichheit vor allem im Außenverhältnis geltend macht: vgl. Adolf Bartels: Rasse. Sechzehn Aufsätze zur nationalen Weltanschauung, Hamburg 1909, S. 76 f. Das spricht gegen den Vorschlag Thomas Göthels, den spezifisch völkischen Politikansatz als „Angriff auf die Prinzipien ‚liberalistisch-gesellschaftlicher Gruppenbildung‘ innerhalb des Nationalstaates“ zu deuten, als Streben nach Entdifferenzierung. Ein solches Streben ist fundamentalistisch, nicht völkisch. Vgl. Göthel 2002, S. 32 f. 28 Vgl. Förster: Zur Frage der ,nationalen Erziehung‘, a. a. O., S. 223; ders.: Ein Deutschland der Zukunft, a. a. O., S. 53. 29 Vgl. ders.: Zur Frage der ,nationalen Erziehung‘„ a. a. O., S. 222; ders.: Das Verhältnis des modernen Judenthums zur deutschen Kunst, a. a. O., S. 43 f. 30 Ders.: Ein Deutschland der Zukunft, a. a. O., S. 49.

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sondern ein ideales, durch das Projekt einer „nationalen Neugeburt“ erst herzustellendes, in welchem dem Genius eine führende Rolle zukommt. 31 In ähnlicher Weise wie Bernhard Förster hat Otto Glagau (1834–1892) versucht, seinen Platz zwischen Wagner und Dühring zu finden. Die Erfahrung, daß man recht gut damit und erst recht davon leben kann, wenn man seine persönlichen Mißerfolge den Juden anlastet 32 , treibt Glagau seit 1874 immer tiefer in den antisemitischen Enthüllungsjournalismus und läßt ihn bald auch den Schulterschluß mit den Exponenten der aufkommenden antisemitischen Bewegung suchen. Er unterhält Kontakte nach Bayreuth, besucht im Sommer 1881 Hans von Wolzogen und bringt in seiner Zeitschrift Der Kulturkämpfer wiederholt Beiträge über Wagner und die Festspiele; auch Bernhard Försters verschiedene Projekte, von der Antisemitenpetition bis zur Gründung von Nueva Germania, werden mit Wohlwollen und Aufmerksamkeit bedacht. 33 Dabei läßt er jedoch nicht nur Distanz gegenüber dem in diesem Kreis gepflegten schwerfälligen Stil erkennen, sondern setzt sich auch von dessen Fundamentalismus ab, speziell der Philosophie Schopenhauers, die wegen ihrer pessimistischen Weltablehnung in toto zurückgewiesen wird. 34 Dagegen werden Agitatoren und Publizisten wie Ernst Henrici und Adolf Wahrmund, die der Position Dührings nahestehen, ausdrücklich gelobt. 35 Als der Vertreter Henricis auf dem Zweiten internationalen antijüdischen Kongreß in Chemnitz (27./28. 4. 1883) von der Versammlung ein generelles Bekenntnis zu Dühring verlangt, votiert Glagau, der die Verhandlungen führt, zwar mit der Gegenseite um Liebermann von Sonnenberg, begründet aber seine Entscheidung lediglich mit pragmatisch-taktischen, nicht mit prinzipiellen Argumenten – und dies, obwohl er dem Christentum bei weitem positiver gegenübersteht als Dühring. 36 31 Ders.: Deutsche Colonien in dem oberen Laplata-Gebiete mit besonderer Berücksichtigung von Paraguay, Naumburg 1886, S. 221; ders.: Brief an Theodor Fritsch, in: AC 1, 1885/86, Nr. 2. 32 Nach seinem Studium der Philologie und Philosophie muß Glagau zehn Jahre lang sein Brot als Hauslehrer verdienen, bis es ihm gelingt, als Journalist in der liberalen Nationalzeitung Fuß zu fassen. In der Gründerkrise Anfang der 70er Jahre büßt er seine gesamten Ersparnisse in einer Fehlspekulation ein und muß dann auch noch erleben, daß sein Schauspiel Aktien, das diese Erfahrungen verarbeitet, von allen großen Häusern zurückgewiesen wird: vgl. Weiland 2004, S. 43 ff. 33 Vgl. etwa [o. V.]: ‚Erkenne Dich selbst!‘, in: Der Kulturkämpfer. Zeitschrift für öffentliche Angelegenheiten Bd. 3, 1882, S. 32–35; Bayreuth und die Wagnerschen Bühnenfestspiele, ebd., S. 241–257; Hans von Wolzogen und die ‚Bayreuther Blätter‘, ebd., Bd. 7, 1883, S. 430–438; Bayreuther Fest-Spiele 1884, ebd., Bd. 9, 1884, S. 246–253; Bayreuther Festspiele und die Idealisirung des Theaters, ebd., Bd. 11, 1885, S. 271–273; Bernhard Förster’s Abschied, ebd., Bd. 7, 1883, S. 194– 198; Bernhard Förster in und über Paraguay, ebd., Bd. 11, 1885, S. 266–271; Neu-Germanien in Süd-Amerika, ebd., Bd. 12, 1885, S. 231–234; Schüler 1971, S. 250 (m. w. N.). 34 Vgl. Veltzke 1987, S. 254. 35 Vgl. [o. V.]: Semiten, Antisemiten und Anti-Antisemiten, in: Der Kulturkämpfer, Bd. 3, 1881, S. 73–79; [o. V.]: Babylonierthum, Judenthum und Christenthum, ebd., Bd. 6, 1882, S. 225–235. Sämtliche Artikel im Kulturkämpfer (mit Ausnahme von Nachschriften des Herausgebers) sind anonym, werden jedoch vom Herausgeber streng redigiert: vgl. Weiland 2004, S. 76. Dort auch die Angabe der Auflagenhöhe, die sich zwischen 1000 und 3000 Exemplaren bewegt haben soll.Henricis Nähe zu Dühring wird am deutlichsten in seiner Rede: Was ist der Kern der Judenfrage? Berlin 1881, diejenige Wahrmunds in dessen Buch: Das Gesetz des Nomadentums und die heutige Judenherrschaft (zuerst 1887), 3. Aufl., München 1919, S. 158 ff. Allerdings teilen weder Henrici noch Wahrmund Dührings Feindschaft gegen das Christentum. 36 Vgl. [o. V.]: Der Zweite Antijüdische Congreß, in: Der Kulturkämpfer, Bd. 7, 1883, S. 305– 315; Weiland 2004, S. 117, 140 f., 79.

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In der Forschung wird Glagau gern als Vertreter einer „ländlichen Romantik“ und als Befürworter einer Regression hinter die Moderne dargestellt. 37 Daran ist soviel richtig, daß dieser Autor nicht zögert, „das Zusammenströmen der Bevölkerung in den großen Städten, das Fabrikwesen, de(n) Maschinenbetrieb“ zu den „Schattenseiten“ der modernen Kultur zu rechnen und Empfehlungen zu erteilen, „wieder mehr von der Fabrik- zur Hausindustrie, von der Maschinenzur Handarbeit zurück(zu)kehren“ und zu begreifen, „daß Deutschland von Natur nicht ein Industrie- und Handelsstaat, sondern ein Ackerbaustaat ist.“ 38 Über solchen Bekundungen sollte man indes nicht die Nachsätze und Einschränkungen überlesen, die das Gesagte sogleich wieder relativieren. Da sich nichts in der Weltgeschichte wiederholen lasse, sei es „thöricht, wenn man als eine Aushülfe etwa die Erneuerung der mittelalterlichen Stände vorschlagen wollte“, wie es auch nicht ratsam sei, für die „Rückkehr zu dem absoluten Regiment“ zu schwärmen. Das Bekenntnis zum Ackerbaustaat meint denn auch keineswegs Abbau und Eliminierung der Industrie, sondern lediglich ernährungswirtschaftliche Autarkie, Zollschutz und eine Gesetzgebung, bei der die Landwirtschaft „nicht länger als Stiefkind behandelt werde, sondern mindestens die gleiche Gunst erfahre, wie Industrie, Handel und Börse“. 39 Dem Vorschlag, dem Handwerk seinen goldenen Boden zurückzugeben und dafür zu sorgen, daß es seine „ehemalige Größe und Herrlichkeit“ wiedergewinne, folgt alsbald die Präzisierung, daß „die Rückkehr zur geschlossenen Zunft“ eine „ungesunde Reaction“ sei, weshalb allenfalls die Einführung obligatorischer Innungen anzustreben sei. 40 Die Polemik gegen den Manchesterkapitalismus wird wie bei Förster durch die Unterscheidung zwischen „semitischem“ und industriellem Kapital spezifi37

Vgl. Pulzer 2004, S. 119. [o. V.]: Die Werthlosigkeit des modernen Parlamentarismus, in: Der Kulturkämpfer, Bd. 1, 1880, S. 341–351, 349; Nachschrift des Herausgebers, ebd., S. 483 f. 39 Ebd., S. 349, 484. An anderer Stelle heißt es: „Die Landwirthschaft kann sich mit Industrie und Handel vortrefflich vertragen, nur das unproductive Geldgeschäft und jener Speculationshandel, dem es einerlei ist, ob er der eigenen Nation oder dem Auslande Vortheil bringt, sind ihr feindlich, und werden es immer sein.“ [o. V.]: Die Aufgaben des Deutschen Adels, in: Der Kulturkämpfer, Bd. 1, 1880, S. 129–137, 134.- In der Forschung werden die „agrarromantischen“ Züge des völkischen Denkens notorisch überzeichnet (vgl. vor allem Bergmann 1970), während die gegenteiligen Positionen wie zum Beispiel Ottomar Betas Verteidigung der Großstädte, der industriellen Produktion und der Freizügigkeit unterbelichtet bleiben (vgl. Deutschlands Verjüngung. Zur Theorie und Geschichte der Reform des Boden- und Creditrechts, Berlin 1901, S. 105 ff.). Sogar ein so extremer BdL-Ideologe wie Heinrich Pudor, für den die Deutschen ein „Ackerbauvolk“ sind, dessen Zukunft „nicht auf dem Wasser und nicht in der Luft und nicht in der Stadt (liegt), sondern auf dem Lande“ (Landwirtschaft und Judentum, Berlin 1913, S. 1), und der deshalb fordert, mit allen Mitteln die Freizügigkeit zu beschränken, um die Bevölkerung auf dem Land zu halten, präzisiert sich doch meist dahingehend, daß es um die „Erzielung der Gleichgewichtslage“ zwischen Landwirtschaft und Industrie geht, nicht um die Abschaffung der letzteren. Anzustreben sei im Gegenteil eine „Verbindung von landwirtschaftlicher und industrieller Arbeit“, die Schaffung ländlicher Industrien mit moderner Energieversorgung, die es der Agrarbevölkerung ermöglichen sollen, „landwirtschaftlich-industrielle Arbeit mit denselben modernen Mitteln zu leisten, die die städtische Industrie anwendet“ (Deutschland für die Deutschen! Vorarbeiten zu Gesetzen gegen die jüdische Ansiedlung in Deutschland I, München und Leipzig 1912, S. 30 f.). 40 Vgl. [o. V.]: Die Aufgaben des Deutschen Adels, a. a. O., S. 135; Die Handwerker und die Parteien, ebd., Bd. 1, 1880, S. 195–203, 200. 38

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ziert und dahingehend konkretisiert, daß man keineswegs für die Aufhebung des Capitals als solchem sei. 41 So bleibt es bei bescheidenen Forderungen wie derjenigen nach einer Börsensteuer, einer Reform der Aktiengesetzgebung und einer Reorganisation der Reichsbank, die um einige „staats-sozialistische“ Programmpunkte wie die Verstaatlichung des Eisenbahnwesens und der Post ergänzt werden. 42 Ganz wie bei Förster wird dieser Katalog durch Vorschläge verfassungspolitischer Art flankiert, die auf die Ersetzung der freien Repräsentation durch eine berufsständische hinauslaufen und damit dem ansonsten als „materialistisch“ perhorreszierten Interesse sein Recht geben: „Im schnurgeraden Gegensatz zu den ‚liberalen‘ Nachtwächtern, verlangen wir eine Interessenvertretung, eine ständische Interessenvertretung, die sich aus Deputirten der hauptsächlichsten Berufszweige, namentlich der Großgrundbesitzer und Bauern, der Arbeiter und Fabrikanten, der Handwerker und Kaufleute zusammenzusetzen hat. Advocaten und Richter, Beamte und Professoren, Journalisten und Börsianer müßten unbedingt ausgeschlossen werden.“ 43 Man tut gut daran, in Forderungen dieser Art weniger einen ‚sehnsüchtigen Primitivismus‘ (Pulzer) zu sehen als vielmehr eine – wie immer auch mit bestimmten Vorbehalten versehene – Anerkennung der modernen Berufs- und Arbeitswelt. Sie deckt sich im übrigen nicht von ungefähr mit dem zur gleichen Zeit von Bismarck für Preußen ins Leben gerufenen Volkswirtschaftsrat, dem die Aufgabe zugedacht ist, „im Gesamtbereich der staatlichen Wirtschaftspolitik die Parteien noch mehr als bisher in den Vorhof der eigentlichen Entscheidungen zu verbannen und die Interessenten auch formal auf direktere Wege der Einflußnahme auf die Exekutive und der Zusammenarbeit mit ihr zu verweisen.“ 44 Mit Hans-Ulrich Wehler lassen sich Institutionen dieser Art als Bestandteile des „Strukturtypus des ‚Korporativismus‘“ verstehen, der mehr autoritär oder mehr liberaldemokratisch ausgerichtet sein kann, in jedem Fall aber in die moderne wirtschaftspolitische Ordnung hineingehört, auch wenn er explizit als Abwehr bestimmter, als chaotisch empfundener Konsequenzen dieser Moderne konzipiert ist. 45 Der Vergleich zwischen Glagau und Förster läßt wiederum die Kernmotive völkischer Gesinnung und Ideologie erkennen: die rechtsnationalistische Präferenz für Ungleichheit, sowohl innerhalb der Nation (zwischen dem Genius und der Masse beziehungsweise einzelnen Ständen) als auch zwischen den Nationen 46 ; die Bejahung der ersten Moderne und die Zurückweisung der reflexiven Modernisierung mittels Externalisierung: der Zuschreibung derselben zu einem 41 Vgl. [o. V.]: Fürst Bismarck und der Socialismus, ebd., Bd. 1, 1880, S. 169–178, 174; Weiland 2004, S. 152. 42 Vgl. [o. V.]: Fürst Bismarck im Kampf mit der Börse, in: Der Kulturkämpfer, Bd. 9, 1884, S. 201–207, 206; Nachschrift des Herausgebers, ebd., Bd. 1, 1880, H. 1, S. 17. 43 [o. V.]: Die Werthlosigkeit des modernen Parlamentarismus, a. a. O., S. 351. 44 Gall 1983, S. 602 f. Auch in wilhelminischer Zeit ist auf dieses Konzept gern zurückgegriffen worden, besonders von den Ideologen der Mittelstandsverbände und der Arbeitgeberpresse: vgl. Stegmann 1970, S. 262, 284, 288 f., 333 u. ö. 45 Vgl. Wehler 1995, S. 662 ff. 46 Vgl. für Glagau das Lob der Ungleichheit in: [o. V.]: Die Aufgaben des Deutschen Adels, a. a. O., S. 129.

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fremden Volksgeist, der in einem weiteren Schritt genauso ethnisiert und naturalisiert wird wie der eigene. Juden und Deutsche erscheinen als unterschiedliche Abstammungsgemeinschaften, deren Angehörige im Habitus und tendenziell auch im Phänotyp identisch sind, als „Rassen“, die für je spezifische Etappen und Möglichkeiten der Moderne stehen und in einem Kampf auf Leben und Tod begriffen sind. 47 Es handle sich, heißt es mit einiger Dramatik im Editorial des Kulturkämpfers, „um die Erhaltung Deutscher Art und Deutscher Sitte gegenüber einem fremden Stamme, der mit seinem Wesen und Treiben Alles überwuchert und unsere ganze Kultur bedroht“, es gelte „die höchsten und heiligsten Güter der Nation.“ 48 Der Vergleich macht aber auch deutlich, daß diese Gesinnung weder mit einem einheitlichen politischen Programm noch mit einer einheitlichen Weltanschauung verbunden sein muß, vielmehr beachtliche Varianzen auf beiden Gebieten verträgt. So steht Förster für eine stärker kommunitäre Ausrichtung, wie sie auch bei Wagner und Dühring vorliegt, wogegen Glagau gewisse Neigungen zum Etatismus und „Staats-Socialismus“ erkennen läßt 49 , überdies dazu neigt, das nationalkulturelle Regenerationsprogramm auf die antisemitische Komponente zu verkürzen. Förster wiederum sieht, darin Stoecker nahestehend (den er gleichwohl durch seinen Radikalantisemitismus überbietet), als entscheidende Differenz zwischen Juden und Nichtjuden die Religion an; diese aber kann, wie jeder Glauben, abgestreift und ausgetauscht werden – nach Förster durch den gegenwärtigen Platzhalter der Religion, das Wagnersche Gesamtkunstwerk. „Jeder Jude“, schreibt er in der Antisemitischen Correspondenz, „der sich mit Liebe und Ueberzeugung einer Geistesrichtung ergiebt, welche ihrem Wesen nach unjüdisch ist, hört mit der Zeit auf, Jude zu sein.“ Dies gelte, wie für die Religion, so auch „von der arischen wissenschaftlichen Forschung, der Kunst, dem Leben für das Volk und die Gemeinde u. Aehnl.: wer sich solchem Thun mit ganzem Herzen und ächter Liebe hingiebt, ist kein Jude mehr.“ 50 Dieser idealistischen Weltanschauung, die trotz mancher Anleihen beim Vokabular der Rassenlehren in Glaube und Geist die letztlich entscheidende Kraft sieht 51 , steht bei Glagau eine eher naturalistische Auffassung gegenüber, die zwar ihrerseits nicht irreligiös oder antireligiös ist, den Schwerpunkt aber deutlich auf die Abstammung, die biologische Verwandtschaft, verlagert. Einen primär religiösen Standpunkt, wie ihn Stoecker, mutatis mutandis aber auch Förster in der „Judenfrage“ einnimmt, lehnt der Kulturkämpfer dezidiert ab: „Die Judenfrage will Stöcker nur als eine ‚social-ethische 47

Vgl. Bernhard Förster: Das Verhältnis des modernen Judenthums zur deutschen Kunst, a. a. O., S. 10, 15, 34 u. ö.; ders.:, Ein Deutschland der Zukunft, a. a. O., S. 50; für Glagau vgl. Weiland 2004, S. 132. 48 Otto Glagau: An die Leser, in: Der Kulturkämpfer, Bd. 1, 1880, S. 1 f. 49 Vgl. [o. V.]: Fürst Bismarck im Kampf mit der Börse, a. a. O., S. 204. Glagaus Nähe zur Zeitschrift Der Staats-Socialist, die vom Centralverein für Social-Reform auf religiöser und constitutionell-monarchischer Grundlage herausgegeben wurde, erörtert Weiland 2004, S. 80. 50 Bernhard Förster: Unsere Arbeit, unsere Ziele! In: AC 3, 1887, Nr. 9. 51 Zwar ist „Rasse“ auch bei Förster eine Kategorie der Natur; diese aber wird definiert als „thätige Kraft des Makrokosmos“, die sich „im Gehirne, in der Seele des Mannes“ (!) manifestiert. Deshalb kann Förster schreiben: „Arier und Idealisten sind somit zwei Begriffe, welche, streng genommen, einander decken.“ (Bernhard Förster: Parsifal-Nachklänge, a. a. O., S. 6, 15).

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Frage‘ auffassen; er schrickt davor zurück, sie als Nationalitäts- und Racenfrage zu erkennen, was sie doch in letzter Instanz unbedingt ist. Vor dem getauften Juden macht Stöcker Halt und sieht in ihm einen Bruder; was er als Geistlicher auch wol nicht anders kann. Aber im Grunde genommen ist es eine Inconsequenz und eine Verkleisterung der Frage.“ 52 Denn, davon ist Glagau überzeugt: „Wenn alle Juden sich heute taufen ließen, so bestände die Judenfrage in voller Schärfe nach wie vor, denn der getaufte Israelit unterscheidet sich im Fühlen, Denken, Wollen und Handeln so gut wie in Nichts vom orthodoxen Juden, und selbst seine Enkel und Urenkel verrathen in körperlicher wie in geistiger Hinsicht noch ihre Abstammung, und sehen im Juden ihren Stammesgenossen.“ 53 Diese Spannung zwischen unterschiedlichen Weltanschauungen hat das völkische Denken auch später nicht verlassen, wie nicht nur die Unterschiede zwischen „idealistischem Antisemitismus“ und „Rassenantisemitismus“ zeigen, sondern auch die höchst divergenten Auslegungen des Rassenkonzepts selbst, die zwischen biologistischen und spiritualistischen Auffassungen schwanken.54 Den völkischen Nationalismus als solchen haben diese Divergenzen gleichwohl nicht berührt.

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[o. V.]: Semiten, Antisemiten und Anti-Antisemiten, a. a. O., S. 75. [o. V.]: Die Petition gegen Israel, in: Der Kulturkämpfer, Bd. 2, 1880, S. 372–388, 373. Ausführlicher zur Bedeutung des Abstammungsprinzips bei Glagau Weiland 2004, S. 130 ff. Dort auch der Hinweis auf die entsprechend schärferen Sanktionen gegen das Judentum, die über die politischen Rechte hinausgehen und auch in die bürgerlichen Rechte eingreifen, etwa durch das Verbot von Mischehen oder die anempfohlene „Repatriierung“ nach Palästina: ebd., S. 135 ff. 54 Vgl. weiter unten, Kap. 8. Bis in die NS-Ideologie verfolgt diesen Gegensatz Bärsch 1998. 53

3. Vom Diskurs zur Bewegung In den frühen 80er Jahren kristallisieren sich in den Schriften von Bernhard Förster und Otto Glagau zentrale Elemente des völkischen Diskurses. Das gleiche Jahrzehnt sieht indes auch die Anfänge einer völkischen Bewegung in dem von Rudolf Heberle in die politische Soziologie eingeführten Sinne eines sozialen Handlungszusammenhangs, der im wesentlichen durch die folgenden Merkmale bestimmt ist: ein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, ein „Wir-Gefühl“; eine gemeinsame Ideologie, die auf eine Erneuerung der Gesellschaft drängt und dabei vor politisch-staatlichen Grenzen nicht Halt macht; und einen sozialen Träger, der die entsprechenden Ideen aufnimmt und propagiert.1 Obwohl soziale Bewegungen als ganze nicht organisiert zu sein pflegen, bilden sich dabei typischerweise „in jeder wichtigeren, entfalteten sozialen Bewegung organisierte Gruppen“, die meist durch geringe Rollenspezifikation und variable Organisations- und Aktionsformen bestimmt sind. 2 Im Falle der völkischen Bewegung sind dabei im wesentlichen zwei Stufen der Organisation zu erkennen: freiwillige Zusammenschlüsse in Gestalt von Vereinen und Dachverbänden von Vereinen; und Parteien, die zur Durchsetzung ihrer Ziele politische Macht anstreben und sich zu diesem Zweck um eine Verknüpfung ideeller, materieller und persönlicher Interessen bemühen – mit sehr begrenztem Erfolg, wie sich zeigen wird. Wenngleich die Bezeichnung „Partei“ schon sehr früh auftaucht, etwa bei der Sozialen Reichspartei Ernst Henricis oder der Deutschen Reformpartei Alexander Pinkerts, die 1881 in Berlin und Dresden gegründet werden, handelt es sich dabei doch zunächst durchweg um lokal begrenzte und kurzlebige Unternehmungen. Die Soziale Reichspartei mit ihrer Mischung von antisemitischen, nationalistischen, linksliberalen und sozialdemokratischen Forderungen erleidet bereits bei den Wahlen von 1881 mit gerade 843 Stimmen eine deutliche Abfuhr und löst sich bald danach auf 3 ; ihr Gründer, übrigens ein ehemaliger Schüler Bernhard Försters und genau wie dieser wegen antisemitischer Agitation aus dem Schuldienst entlassen, verläßt 1885 die politische Bühne und versucht sein Glück in Togo. 4 Die deutlich gemäßigtere Reformpartei, von Pinkert als „Mittel- oder Bürgerpartei“ konzipiert, bricht schon im zweiten Jahr auseinander, weil die 1

Vgl. Heberle 1967, S. 9 ff., 95 ff. Ebd., S. 8; vgl. Raschke 1985, S. 77. 3 Zu den Forderungen vgl. Ernst Henrici: Wie hat sich die Bevölkerung Berlins bei den bevorstehenden Reichstagswahlen zu verhalten? Berlin 1881, S. 9 ff.: „Obenan steht der Kampf gegen das Judenthum. (Bravo). 2. Der Staat ist nicht nur in politischer, sondern auch in socialer und wirthschaftlicher Beziehung der Mittelpunkt des Volkslebens. 3. Um dies zu erreichen, wäre es vortheilhaft, den Parlamenten technische Kammern als eine Art ständiger Kommissionen zur Seite zu stellen. 4. Schutz der Produktion gegen den Schacher und Schutz der nationalen Arbeit. 5. Erweiterung des Staatsbetriebes. 6. Kräftigung der Landwirthschaft. 7. Nationale Erziehung.“ 4 Vgl. Kurt Wawrzinek: Die Entstehung der deutschen Antisemitenparteien (1873–1890), Berlin 1927, S. 38 ff., 46 ff.; Ferrari Zumbini 2003, S. 232 ff., 254 ff. Zum abenteuerlichen Lebensweg 2

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Dresdner unter Pinkert sich mehr an Stoecker orientieren, während die Chemnitzer unter der Führung Ernst Schmeitzners, des Verlegers von Nietzsche, Dühring und der Bayreuther Blätter, es in der „Judenfrage“ mehr mit Dühring halten. 5 Als vorherrschende Organisationsform der völkischen Bewegung in ihrem ersten Jahrzehnt ist deshalb der Verein anzusehen. Schwerpunkte sind dabei zum einen Sachsen, wo schon 1879 in Dresden ein Deutscher Reformverein gegründet wird, dem bald weitere in Chemnitz (1881), Leipzig (1884) und Zwickau (1887) folgen; zum andern Berlin (Deutscher Volksverein 1881) und Hessen mit den Reformvereinen von Kassel (1881), Frankfurt (1882) und Marburg (1886). 1885 beträgt die Zahl dieser Vereine 52, 1890 circa 80. Eine Liste, die um 1892/93 entstanden sein dürfte, nennt über 200 Vereine, von denen nahezu die Hälfte (60 beziehungsweise 30) in Sachsen und Hessen liegt. 6 Nach der Seite des sozialen Trägers handelt es sich um Zusammenschlüsse innerhalb des unteren Mittelfelds, allen voran der selbständigen und unselbständigen Kaufleute, Handwerker und kleinen Beamten. 7 In Frankfurt stellt diese Gruppe den größten Teil der Mitglieder, in Chemnitz geht der Reformverein direkt aus einer Umwandlung des Vereins zur Wahrung der Interessen Handelsund Gewerbetreibender hervor. 8 Erklärtes Motiv der Vergesellschaftung sind jedoch nicht zweckrationale ökonomische oder soziale Interessen, auch wenn diese keineswegs abwesend sind, sondern der Wunsch nach Verbreitung einer bestimmten wertrationalen Gesinnung, wie sie etwa in der Forderung nach „Wiedererwekkung und Förderung des deutschen christlichen Geistes“ zum Ausdruck kommt, die der Frankfurter Reformverein in den Vordergrund stellt. 9 Am ausführlichsten verbreitet sich hierüber das Programm des am 12. März 1881 in Berlin von Bernhard Förster und Liebermann von Sonnenberg ins Leben gerufenen Verbandes. Der Deutsche Volksverein, heißt es dort, sei zwar kein religiöser, sondern ein sozialpolitischer, auf nationaler Grundlage stehender Verein. Doch glaube er nicht, „daß es ausreiche, die bestehenden Gesetze rein äußerlich, in ‚korrekter‘ Weise zu beobachten, vielmehr verlangt er mit aller Bestimmtheit, daß der rechte Bürger sich mit denselben sowie überhaupt mit den Grundgedanken unseres staatlichen Lebens in vollste innere Uebereinstimmung zu setzen versteht. Denn gerade in einem lebhaften persönlichen Ehrgefühle und der Religiosität der Gesinnung erblickt die Vereinigung die notwendige Ergänzung zu jedem geschriebenen Rechte und das wirksame Gegenmittel gegen den immer mehr überhandnehmenden Individualismus und die unser Volksleben zerrüttende Korruption in Handel und Wandel, von welcher auch die höheren Klassen der Bevölkerung ergriffen und selbst die aus Wahlen hervorgegangenen vertretenden KörperschafErnst Henricis, zu dem auch der Brand der Synagoge von Neustettin im Februar 1881, wenige Tage nach einer seiner Brandreden, gehört, vgl. Hoffmann 1998, S. 7 ff., 247 ff. 5 Vgl. Piefel 2004, S. 23, 36, 46 ff. Zu Schmeitzner vgl. Brown 1987. Wie fern übrigens Nietzsche der völkischen Bewegung gestanden hat, zeigt anhand seines Briefwechsels mit Theodor Fritsch Niemeyer 2005. 6 Vgl. Pötzsch 2000, S. 77, 93 ff. 7 Vgl. ebd., S. 110 ff.; Piefel 2004, S. 26, 105. 8 Vgl. Schlotzhauer 1989, S. 55; Wawrzinek 1927, a. a. O., S. 56. 9 Vgl. Schlotzhauer 1989, S. 53.

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ten nicht völlig frei geblieben sind.“ 10 Erst an zweiter Stelle folgen die sozialpolitischen Forderungen, die dann auch noch recht vage bleiben: Es geht um die Entlastung des „kleinen Mannes und des Mittelstandes“, die Begünstigung des „immobilen Besitzes“, die Zurückweisung des Manchestertums, eine Reform des Aktienwesens, eine „scharfe Heranziehung der Börse zu den öffentlichen Staatslasten“, die (Wieder-)Herstellung leistungsfähiger Korporationen sowie um eine Aktivierung des Staates auf den Feldern Kunst und Wissenschaft, dies alles in engstem Zusammenhang mit der üblichen Forderung nach „Bekämpfung des Judentums“. 11 Nicht wenig davon ist Stoecker abgeschaut, doch fehlen andererseits auch wesentliche fiskal- und sozialpolitische Elemente, so daß es durchaus zutreffend ist, wenn Peter Pulzer den Deutschen Volksverein rechts von Stoecker lokalisiert. 12 Die Schaffung einer Gesinnungsgemeinschaft, die, ähnlich wie die liberale Bewegung des Vormärz, Geschlossenheit auf ideeller Ebene mit „Vielfalt der Auffassungen in konkreten politischen Fragen“ und nicht zuletzt auch einer relativ lockeren Organisation verbindet 13 , bildet auch den Fluchtpunkt für die verschiedenen Einigungsbemühungen, die die völkische Bewegung von Anfang an begleiten. Während die ersten Versuche in dieser Richtung, die beiden antijüdischen Kongresse von 1882 und 1883, noch an den unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten scheitern, die hinsichtlich der anzustrebenden Ausrichtung (international oder national) und der Gewichtung der Rassenfrage bestehen 14 , wird 1886 auf dem Kasseler Kongreß ein Durchbruch erzielt. Treibende Kraft hierfür ist der Ingenieur Theodor Fritsch (1852–1933), der seit Ende der 70er Jahre in Leipzig ein mühlentechnisches Büro leitet und ein Kleines Mühlenjournal herausgibt, das sich für die Interessen der Mühlenbesitzer einsetzt, schon sehr früh aber auch den Ausschluß der jüdischen Müller aus dem Müllerverband fordert. 15 Von Anfang an stark von Dühring beeinflußt, dem er lediglich in der Totalverwerfung des Christentums nicht folgt, darüber hinaus stark beeindruckt von Bernhard Förster und Otto Glagau 16 , avanciert Fritsch in den 80er Jahren rasch zu einem der führenden Publizisten des völkischen Antisemitismus, der sich nicht mit Pinkerts Deutscher Reform und Schmeitzners Internationaler Monatsschrift begnügt, sondern bald

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Zit. n. AC 3, 1888, Nr. 19. Vgl. ebd.; Piefel 2004, S. 23 f. 12 Vgl. Pulzer 2004, S. 140. Das Programm der Christlich-Sozialen Arbeiterpartei von 1878 sieht neben der Forderung nach Sonntags-, Arbeits- und Frauenschutz auch die Schaffung sozialer Sicherungssysteme vor, wie sie fünf Jahre später in den von Bismarck initiierten Gesetzen auf den Weg gebracht werden. Vgl. Wilhelm Mommsen 1960, S. 71 f. 13 Vgl. Hein 1996, S. 75. 14 In der ersten Frage stehen sich Schmeitzner und Pinkert beziehungsweise Chemnitz und Dresden gegenüber, in der zweiten Frage außerdem Stoecker und Henrici: vgl. Piefel 2004, S. 42 ff.; Wawrzinek 1927, a. a. O., S. 50 ff. 15 Zur Biographie vgl. Ferrari Zumbini 2003, S. 327 ff. 16 Fritsch verlegt 1883 die Parsifal-Nachklänge B. Försters und bringt drei Jahre später in Nr. 19 der Brennenden Fragen breite Auszüge aus der 3. Aufl. von Dührings Judenfrage unter dem Titel: Neuere Urtheile über die Juden II (Dühring), ohne jeden distanzierenden Kommentar (Leipzig 1886). Zum Verhältnis zu Förster und Glagau vgl. auch die Nachrufe in AC 4, 1889, Nr. 55 und DSBl 7, 1892, Nr. 187. 11

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schon auf ein breiteres Publikum zielt: zunächst mit seiner Flugschriftenreihe Brennende Fragen (ab 1883), sodann ab 1886 mit der zunächst monatlich, dann halbmonatlich und ab Oktober 1889 wöchentlich erscheinenden Zeitschrift Antisemitische Correspondenz, schließlich 1887 mit dem Antisemiten-Katechismus, der es unter dem Titel Handbuch der Judenfrage auf 44 Auflagen bringen wird. 17 Schon in der dritten Nummer seines Blattes macht Fritsch klar, daß das angestrebte Ziel einer „Isolirung der jüdischen Nation auf gesetzlichem Wege […] nicht ohne Zustimmung einer Volks-Majorität“ zu erreichen sei 18 ; diese aber sei nur zu gewinnen, indem man die spaltungs- und polarisierungsträchtigen religiösen Aspekte in den Hintergrund dränge. Verlege man den „Schwerpunkt in der Bekämpfung des Judenthums vorwiegend auf das wirthschaftliche Gebiet“, könnten „christliche und freigeistige Judengegner recht wol Hand in Hand gehen“. 19 Auf dieser Basis könne ein „Bund“ gebildet werden, „der mit geistigen und materiellen Kräften für das gefährdete Deutschthum überall eintritt“, eine „Germanische Allianz“ oder ein „Germanen-Bund“, „der die Förderung und Pflege deutschen Wesens zu seinem vornehmsten Ziele macht“: in der Wirtschaft mittels einer engen Vereinigung von Produzenten und Konsumenten, die den jüdischen Handel- und Zwischenhandel überflüssig macht, in der Gesellschaft durch Exklusion des Judentums aus allen deutschen Vereinigungen, Verbänden und Familien, „vor allem durch Verhütung weiterer Bluts-Vermischung in Misch-Ehen“ u. s. f. 20 Zu diesem Zweck versenden Fritsch und sein Kreis gezielt Einladungen an diejenigen antisemitischen Vereine, von denen zu erwarten ist, daß sie der radikalantisemitischen Zielsetzung zustimmen, womit von vorneherein die Anhänger der Stoeckerschen Richtung ausgeschlossen sind. Aus diesem handverlesenen Kreis finden sich zu Pfingsten 1886 in Kassel 43 Delegierte (nach Polizeiberichten nur 32) ein, die sich zum obersten Ziel einer Aufhebung der Judenemanzipation auf verfassungsmäßigem Wege bekennen und dies mit der Bereitschaft verbinden, „eine gesunde Reformpolitik auf wirthschaftlichem Gebiete […] auf das thatkräftigste zu unterstützen“. Gegen die naheliegende Idee, sich zu diesem Zweck als eigenständige Partei zu organisieren, werden zwar noch Bedenken erhoben, teils weil der Zeitpunkt verfrüht sei, teils weil es erfolgversprechender sei, der antisemitischen Idee in den bereits bestehenden Parteien Anhänger zu werben. Am Ende aber entscheidet man sich doch für eine „ideelle(n) Vereinigung“, der die Aufgabe zugewiesen wird, „den Boden für die Bildung einer ‚deutsch-nationalen Reform-Partei‘ vorzubereiten und durch eifrige Propaganda das Volk

17 Vgl. Piefel 2004, S. 57, 60. Für die hier vorgeschlagene Datierung der völkischen Bewegung ist Fritsch ein wichtiger Zeuge. Denn so gut wie alle Ideen, die er nach 1902 im Hammer vorgetragen hat, finden sich bereits in seinem Schrifttum der 80er Jahre, so daß es nicht möglich ist, zwischen einem ‚nur-antisemitischen‘ und einem völkischen Fritsch zu unterscheiden, wie Uwe Puschner meint (2001, S. 60). 18 Thomas Frey (d. i.Theodor Fritsch): Wo sind unsere nächsten Ziele?, in: AC 1, 1885/86, Nr. 3. 19 [o. V., o. Titel]: AC 1, 1885/86, Nr. 6. Unterstützung in dieser Richtung erhält Fritsch vor allem von Wilhelm Marr. Vgl. dessen Artikel: Warum die Antisemiten meistens konservativ sind, in: AC 4, 1889, Nr. 46. 20 Ders.: Unsere Ziele, in: AC 1, 1885/86, Nr. 4.

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über die drohende Juden-Gefahr aufzuklären.“ 21 Anstelle der heterogenen antisemitischen Bewegung, deren organisatorische Zusammenfassung bislang stets an den Gegensätzen zwischen Dühringianern, Stoeckerianern und Wagnerianern gescheitert ist, soll nun eine neue, einheitliche Bewegung treten, die ihre Leitideen vom Leipziger, das heißt vom „nationalen Antisemitismus“ empfängt. 22 Als Sitz dieses neuen Verbandes, der Deutschen Antisemitischen Vereinigung, wird Leipzig bestimmt, als Leiter des geschäftsführenden Ausschusses ihres „Central-Comitees“ Theodor Fritsch. 23 Fritsch ist es auch, der sogleich für das zu entwickelnde Parteiprogramm einen Entwurf vorlegt, in dem der Antisemitismus in eine umfassendere, ‚social-reformerische‘ beziehungsweise ‚germanisch-nationale‘ Konzeption eingebettet wird. In ihrem Kern zielt diese Konzeption darauf, die bis dahin primär wertrationale Vergesellschaftung um eine zweckrationale Dimension zu ergänzen und so die Voraussetzungen für eine Partei zu schaffen, die nicht nur Gesinnungs-, sondern auch Standes- respective Klassenpartei ist. Der Stand, dessen Interessen man sich vorzugsweise annehmen will, ist, wie nicht weiter überraschen wird, der alte Mittelstand. Während für die negativ privilegierten Erwerbsklassen lediglich eine Einschränkung der Frauen- und Kinderarbeit verlangt wird, wird die Gruppe der positiv privilegierten in Stadt und Land mit einem ausdifferenzierten Programm umworben, das freilich überwiegend produzentenpolitisch ausgerichtet ist. In ihrem Interesse soll die Konkursordnung revidiert und verschärft und die Gewerbefreiheit eingeschränkt werden, sollen Ratenzahlungsgeschäfte abgeschafft oder streng überwacht und wucherische Darlehen für nicht einklagbar erklärt werden. Der Handel mit Handwerkserzeugnissen soll nur den Produzenten selbst gestattet, die Rolle der Börse durch höhere Besteuerung zurückgeschnitten werden. An die Bestrebungen der Pariser Sansculotten während der großen Französischen Revolution erinnern die Punkte 11 und 12, die die Einführung einer progressiven Erbschaftssteuer, die Festsetzung einer Maximalgrenze für Privatvermögen und die Mediatisierung des überschießenden Teils durch den Staat verlangen. Nach Fritsch soll es sich bei diesem Katalog nur um das „indirecte Programm“ handeln, dem eine dienende Funktion im Hinblick auf das eigentliche Ziel zugedacht ist: die „Isolirung der Semiten“. 24 Doch setzt sich schon bald die Einsicht durch, daß die Prioritäten umgekehrt werden müssen, wenn man im politischen Feld erfolgreich sein will. Schon 1887 ist in der Antisemitischen Correspondenz nicht mehr vom indirecten Programm, sondern vom „Programm der deutschen Antisemiten“ die Rede 25, und wenngleich Paul Förster (1844–1926), der Bruder Bernhard Försters und Mitinitiator der Antisemitenpetition, bald darauf noch einmal die Skep21

Vgl. [o. V.]: Der Casseler Congreß, in: AC 1, 1885/86, Nr. 6. So die Selbstbezeichnung in dem wohl von Fritsch verfaßten Artikel: Kirchlicher und nationaler Antisemitismus, in: AC 3, 1888, Nr. 34. 23 Vgl. [o. V.]: Deutsche antisemitische Vereinigung, in: AC 1, 1885/86, Nr. 4. 24 Vgl. das als Beilage ebd. angefügte „Berathungs-Material“, ad 3 sowie Titus Germanicus: Isolirung der Semiten, in: AC 1, 1885/86, Nr. 7. Wer sich hinter diesem Pseudonym verbirgt, ist mir nicht bekannt. Das im folgenden vorgestellte „indirecte Programm“ ist dort in einer längeren Fußnote abgedruckt und Theodor Fritsch als Verfasser zugewiesen. 25 Vgl. AC 2, 1886/87, Nr. 19. 22

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sis all derer zusammenfaßt, die gegen den Schritt zur Parteibildung sind 26 , ist doch der Zug zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr aufzuhalten. Dem für Juni 1889 in Bochum anberaumten Treffen, an dem rund 250 Delegierte aus 100 deutschen Städten teilnehmen, liegt der Programmentwurf einer Kommission vor, an der neben Fritsch, Liebermann, König und Stehlich auch Paul Förster beteiligt ist. 27 Daß die Dinge sich seit 1887 beschleunigen und der zunächst anvisierte lange Zeithorizont, in dem man sich mit einer „ideellen Vereinigung“ und reiner Aufklärungsarbeit begnügen will, einer überstürzten Parteibildung weicht, hängt mit dem sensationellen Wahlerfolg zusammen, den Otto Böckel (1859–1923) bei den Reichstagswahlen im Februar 1887 im Wahlkreis Marburg erringt. Böckel, zu diesem Zeitpunkt erst siebenundzwanzig Jahre alt, ist ein promovierter Germanist, der sich auf den Spuren Wilhelm Heinrich Riehls mit Volksliedforschung befaßt, dies jedoch durchaus nicht mit romantischen Intentionen verbindet, wie seine gleichzeitige Aufgeschlossenheit für Dühring und vor allem für Glagau zeigt, an den er sich um 1885 anschließt. 28 Auch zu Theodor Fritsch bestehen zunächst enge Verbindungen. 1886 erscheint in den Brennenden Fragen die Flugschrift Nr. 21, Die Güterschlächterei in Hessen. Ein Mahnruf an das deutsche Volk von Dr. Capistrano, hinter dem sich niemand anders verbirgt als Otto Böckel; vom selben Verfasser bringt die Antisemitische Correspondenz im März 1886 Ein Wort in elfter Stunde. 29 Böckel seinerseits läßt in seinem Organ Reichsherold auch Fritsch zu Wort kommen. 30 Das Verhältnis trübt sich allerdings schon bald, weil Böckel den Leipzigern vorwirft, zu zögerlich im Aufbau einer antisemitischen Partei zu sein und zu enge Beziehungen zu den Konservativen zu unterhalten – eben jenen Konservativen, von denen Böckel schreibt, er hasse sie mehr als alle Juden und Sozialdemokraten zusammen. 31 Sein Reichstagsmandat jagt er 1887 einem Konservativen ab und meint in dieser Frontstellung auch die größten politischen Chancen zu erkennen; wohingegen die Fritsch-Gruppe die Antisemiten „zur Zeit – und bis auf Weiteres – auf eine Anlehnung an die Konservativen, das Centrum – zur Not auch an die Frei-Konservativen und Nationalliberalen angewiesen“ sieht. 32 Auf dem Bochumer Antisemitentag vermag Böckel zwar seine Präferenzen nicht durchzusetzen, doch ist es letztlich seine Drohung, eine eigene Partei zu 26 Vgl. Paul Förster: Das antisemitische Programm. Taktik und Aufgaben, in: AC 3, 1888, Nr. 22. 27 Vgl. Wawrzinek 1927, a. a. O., S. 75 f. 28 Vgl. seinen Nachruf auf Otto Glagau (1892), in Weiland 2004, S. 225 ff.; Mack 1967, S. 127 ff.; Pfahl-Traughber 2000, S. 394 ff.; Sudhoff 2001, S. 93. – Allgemein zu Böckel auch Peal 1985. 29 Vgl. AC 1, 1885/86, Nr. 4. 30 Vgl. Der Reichsherold Nr. 4 vom 25. 2. 1887, Nr. 20 vom 17. 6. 1887 und Nr. 70 vom 31. 1. 1888. Zit. n. Sudhoff 2001, S. 100 ff. 31 Vgl. Pötzsch 2000, S. 84 ff.; Sudhoff 2001, S. 94. 32 [o. V.]: Versuch zur Klarlegung der Partei-Scheidungen, in: AC 2, 1887, Nr. 12. Die in dieser Formulierung klar hervortretende taktische Einstellung, die in den genannten Parteien Vehikel für die Verbreitung völkisch-antisemitischer Forderungen sieht, wird in der Literatur nicht immer klar genug herausgearbeitet. Fritsch wird hier mal zur „konservativ orientierten Richtung“ gezählt (vgl. Piefel 2004, S. 75 f.), mal zu den Gegnern der Konservativen (vgl. Fricke 1983, Bd. 1, S. 86).

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gründen, die die Deutsche Antisemitische Vereinigung unter Handlungsdruck setzt. Der „Hessische Bauernkönig“ verfügt nämlich nicht nur in seinem Stammland über Anhänger, sondern hat auch den Dresdner Reformverein auf seiner Seite, der unter Pinkerts Nachfolger Oswald Zimmermann einen neuen Aufschwung erlebt und sich anschickt, den Führungsanspruch Leipzigs über die völkisch-antisemitische Bewegung zu bestreiten. 33 Als Böckel mit seinem Anhang unter Protest den Kongreß verläßt, beschließen die zurückbleibenden Delegierten die Gründung einer Partei und verabschieden fast einstimmig den Programmentwurf, der zum einen die radikalantisemitischen Ziele der Petition von 1880/81 bekräftigt (Aufhebung der Gleichberechtigung und Stellung der Juden unter Fremdenrecht), darüber hinaus aber nicht weniger als die „Neuorganisation unseres Volkes und Staates auf wirtschaftlichem und geistigem Gebiet“ ins Auge faßt. 34 Dazu zählen wesentliche Punkte aus Fritschs ‚indirectem Programm‘ von 1886 wie die Beschränkung der Gewerbefreiheit, die gründliche Reform des Börsenwesens, die Revision der Konkursordnung, eine wirksame Wuchergesetzgebung mit Festlegung eines Höchstzinssatzes sowie eine Verstaatlichung der Reichsbank, die um sozialprotektionistische Elemente wie die Einführung des obligatorischen Befähigungsnachweises im Handwerk und die Senkung der Grundsteuer für die Agrarproduzenten ergänzt werden. Nicht aufgenommen sind dagegen die egalitaristischen Forderungen nach Vermögensbegrenzung und Mediatisierung des überschießenden Teils durch den Staat, offenbar in der Absicht, die Partei nicht ausschließlich an eine kleinbürgerliche Interessenlage zu binden. 35 Gewissermaßen als Ersatz hierfür figurieren Forderungen wie die nach einer progressiven Einkommenssteuer sowie einer Verstaatlichung der Grundbuchschulden mit allmählicher Ablösung. 36 Eine seit der Jahrhundertmitte auch und gerade in Juristenkreisen populäre Tendenz aufgreifend, verlangt man darüber hinaus die Verdrängung des ‚römischen Rechts der bloßen Besitztitel‘ durch deutsche Rechtsgrundsätze der ‚Achtung der Persönlichkeit um ihrer selbst und des Bestands des Staates willen‘, was sich u. a. in einer Senkung der Anwaltskosten, 33 Vgl. Piefel 2004, S. 75 f. Oswald Zimmermann (1859 – 1911), der von 1879 bis 1883 in Breslau und Leipzig Philosophie und Volkswirtschaft studiert hat und anschließend die journalistische Laufbahn einschlägt, hat starke geistige und auch persönliche Verbindungen nach Bayreuth. In seinen Artikeln referiert er gern über die Arbeit Hans von Wolzogens und kommt übrigens auch selbst in den Bayreuther Blättern zu Wort: vgl. ebd., S. 68 f. 34 Grundsätze und Forderungen der Antisemitischen deutsch-sozialen Partei (1889), in: Riquarts 1975, S. 339–345. 35 Die Idee verschwindet allerdings nicht gänzlich. Wenige Jahre später erscheint im deutschsozialen Zwanzigsten Jahrhundert, wenn auch unter deutlicher Distanzierung des Herausgebers Erwin Bauer, ein pseudonymer Beitrag, der die Zerstückelung aller großen privaten Vermögen, einschließlich des Grundbesitzes, ab einer Grenze von einer Million Mark vorsieht und nur die Einkommen unangetastet lassen will. Vgl. Phil. Anthrop.: Eine Million. Versuch zur Lösung der sozialen Frage, in: Das Zwanzigste Jahrhundert 3, 1892–93, S. 1–16, 9. 36 Das revidierte Programm vom 19. 5. 1891 präzisiert diesen Punkt. Unter der Überschrift „Bodenbesitz-Reform“ heißt es: „Einführung eines Heimstätten-Gesetzes, Wiederherstellung bezw. Erhaltung des deutschen Anerben-Rechtes; scharfe Bestimmungen gegen Guts-Zertrümmerungen, Grundstück-Wucher und gegen Bauschwindel; Verstaatlichung der Grundschulden“ (DSBl 6, 1891, Nr. 146). Damit nimmt die Partei Forderungen auf, wie sie vor allem von Ottomar Beta und Willibald Hentschel in die Diskussion eingebracht werden: vgl. dazu die folgende Anmerkung.

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der Beseitigung des Anwaltszwangs, Schutz der Privatpersonen gegen Beleidigung und Beschimpfung durch gegnerische Advokaten vor Gericht, neue Hypotheken und Subhastationsordnungen u. ä. m. manifestieren soll. 37 Um den Konkurrenten im antisemitischen Spektrum, den Christlich-Sozialen, Stimmen abzujagen, kommt man auch der Interessenlage der negativ privilegierten Klassen stärker entgegen, u. a. indem man die Umwandlung der gewerblichen Aktienunternehmungen in den bedeutendsten Produktionszweigen in genossenschaftliche Betriebe verlangt und sich für einen weiteren Ausbau der Krankenkassen, Unfall-, Invaliden- und Altersversorgungsgesetze, Maximalarbeitstag sowie Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit einsetzt. Um diese sozialpolitische, weit über den reinen Antisemitismus hinausgehende Dimension deutlich zu machen, favorisieren Fritsch und Liebermann den Vorschlag Paul Försters, die neue Organisation „Deutsch-soziale Partei“ (DSP) zu nennen. 38 In ihrem Wahlaufruf vom Februar 1890 definiert sie als ihre Hauptaufgabe, den von der „‚liberalen‘ KapitalWirtschaft“ zerriebenen Mittelstand neu zu schaffen: „wir wollen im wahren Sinne eine Partei des Mittelstandes sein!“ 39 Wenige Monate später, im Juli 1890, versammelt Otto Böckel seine Truppen in Erfurt und gründet dort die Antisemitische Volkspartei, die sich 1893 in Deutsche Reformpartei (DRP) umbenennt. Von den Deutschsozialen unterscheidet sich 37 Vgl. Grundsätze und Forderungen, a. a. O. Zur dichotomischen Gegenüberstellung von römischem und deutschem Recht in der Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts vgl. Luig 1995. Bei den völkischen Autoren erfreut sich diese Dichotomie, die sich vorzüglich zur Erweiterung der Überfremdungsklagen eignet, ebenfalls großer Beliebtheit: vgl. nur Ernst Henrici, a. a. O., 1881, S. 13; Bernhard Förster: Richard Wagner als Begründer eines deutschen Nationalstils mit vergleichenden Blicken auf die Kulturen anderer indogermanischer Nationen. Ein Vortrag, in: BBl 3, 1880, S. 106-122, 111; Zur Frage der ‚nationalen Erziehung‘, eine Bayreuther Studie, in: BBl 6, 1883, S. 189-228, 195; Parsifal-Nachklänge, Leipzig 1883, S. 27, 83; Otto Glagau: Nachschrift des Herausgebers, in: Der Kulturkämpfer, Bd. 1, 1880, S. 483 f., 484; Constantin Frantz über das Römische Recht, ebd., Bd. 8, 1883, S. 313–316; Die „Land-Bewegung“, ebd., Bd. 12, 1885, S. 41–62; Adolf Wahrmund: Das Gesetz des Nomadentums und die heutige Judenherrschaft (1887), 3. Aufl., München 1919, S. 128 f.; [Julius Langbehn]: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, Leipzig 18902 , S. 71; Willibald Hentschel: Der Kampf gegen das römische Recht, in: DSBl 6, 1891, Nrn. 136, 139, 141; Der Entwurf zum bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich und die GrundbesitzFrage, in: DSBl 7, 1892, Nrn. 194–199; Das konservative Programm und der Entwurf zum Bürgerlichen Gesetzbuch, ebd., Nr. 227 sowie vor allem die weiter unten vorgestellten Arbeiten von Ottomar Beta. Auch in den völkischen Parteiprogrammen hat die Kritik am römischen Recht ein vielfältiges Echo gefunden: so bei der Deutschen Reformpartei von 1881, der Deutsch-sozialen Partei von 1889, der Antisemitischen Volkspartei von 1890, der Deutsch-sozialen Reformpartei von 1895, der Deutsch-sozialen Partei von 1905, der Deutschen Reformpartei von 1906: vgl. Riquarts 1975, S. 324, 364, 378, 384. Zu den Programmen nach 1918 vgl. von Olenhusen 1981. Zur Kritik dieser Dichotomie, insbesondere der angeblichen Kausalbeziehung zwischen römischem Recht und Kapitalismus, nach wie vor lesenswert: Max Weber: „Römisches“ und „deutsches“ Recht (1895), in ders. 1993, S. 524 ff. 38 Vgl. Pötzsch 2000, S. 90. In einem ungezeichneten und deshalb wohl von Fritsch stammenden Aufsatz heißt es: „Durch seine Schrift ‚Das deutsch-soziale Vermächtnis Kaiser Wilhelms‘ führte Dr. Paul Förster den Namen zum ersten Mal ein.“ (Zur „Namens-Aenderung“, in: AC 4, 1889, Nr. 54). Fritsch selbst erwägt 1891, ob man die neue Partei nicht besser „national-sozial“ nennen sollte, verwirft diese Idee dann aber wieder, weil der „Klang dieser Wort-Zusammenstellung […] unvorteilhaft“ sei (DSBl 6, 1891, Nr. 144). 39 Wahl-Aufruf der deutsch-sozialen Partei, in: DSBl 5, 1890, Nr. 79.

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diese Partei, die ihre Schwerpunkte in Hessen und Ostsachsen hat, vor allem in zwei Punkten: der Forderung nach Ausdehnung des für den Reichstag geltenden allgemeinen, geheimen und direkten Wahlrechts auch auf die parlamentarischen Körperschaften der Bundesstaaten (Punkt 16) und dem Verzicht auf einen Ausbau der Sozialversicherung (Punkt 10), worin man sowohl einen Hinweis auf die von Böckel umworbene, in der Hauptsache bäuerliche Klientel sehen kann, als auch ein Echo der Vorstellungen Glagaus, der etwa Stoeckers Versuche, die Arbeiterschaft durch christlich-soziale Forderungen zu gewinnen, für wenig aussichtsreich gehalten hat. 40 Die beste Lösung der sozialen Frage, die auch Böckel nicht leugnet, besteht für ihn in einer „praktische(n) Mittelstandspolitik“, deren Gegner die Interessenten des Status quo seien, die „Junker und die jüdisch infizierten Großunternehmer“ sowie deren parlamentarische Repräsentanz. 41 Zu dieser zählt er, wie bereits bemerkt, in erster Linie die Konservativen, diese „reaktionär-feudale Clique“, aber auch die Christlich-Sozialen Stoeckers und die Deutschsozialen, die er zu ‚abkommandierten Konservativen‘ erklärt, zur ‚freiwilligen Schutztruppe der Conservativen‘. 42 Daß dies nicht das letzte Wort ist, ist bekannt, und ebenso bekannt sind die Gründe, die die Deutschreformer dazu bringen, sich im Herbst 1893 von Böckel zu lösen und den Deutschsozialen zu nähern. Neben allerlei finanziellen und moralischen Schwierigkeiten, in die sich der hessische Bauernkönig verstrickt, spielt hier vor allem eine Rolle, daß die elf Mandate, die die Deutsche Reformpartei 1893 für den Reichstag gewinnt, nicht ausreichen, um ihr den für eine erfolgreiche parlamentarische Arbeit unverzichtbaren Fraktionsstatus zu sichern. Da Böckel hartnäckig alle Kooperationsangebote zurückweist, kommt es schließlich hinter seinem Rücken zu Verhandlungen. Seine Abwahl als Vorsitzender des Mitteldeutschen Bauernvereins im September des folgenden Jahres macht dann den Weg zur Fusion frei, die auf einer Vertrauensmännerversammlung beider Parteien in Eisenach am 7. Oktober 1894 beschlossen wird. 43 Die neue Organisation nennt sich Deutsch-soziale Reformpartei (DSRP). Sie besteht aus etwa 30–35 000 Mitgliedern, die in zunächst dreizehn, später vierzehn Landes- beziehungsweise Provinzialverbänden organisiert sind, einer Doppelspitze aus den Leitern der ehemaligen DSP und DRP (Liebermann von Sonnenberg, Oswald Zimmermann), einer Hauptgeschäftsstelle unter der Leitung von Wilhelm Giese, einer Reihe von Periodika sowie einigen angeschlossenen Standesorganisationen, von denen allerdings nur die hessischen Bauernvereine eine gewisse Bedeutung besitzen. 44 Das von den beiden Vorsitzenden und Paul Förster entworfene und auf dem Erfurter Parteitag vom Oktober 1895 verabschiedete Programm ist ein Kompromiß zwischen den Programmen von 1889 beziehungs40 Vgl. das Erfurter Programm der Antisemitischen Volkspartei im Anhang zu Pulzer 2004, S. 342 f.; Weiland 2004, S. 83. 41 Vgl. den Bericht der Mittheilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus (im folgenden kurz Abwehrblätter) 2, 1892, Nr. 37; Reichsherold vom 17. 6. 1892; 11. 3. 1894; 23. 11. 1894 u. ö., zit. n. Mack 1967, S. 129. 42 Vgl. Abwehrblätter 2, 1892, Nr. 51; 3, 1893, Nr. 40. 43 Vgl. Levy 1975, S. 106 ff. 44 Vgl. ebd., S. 118; Pötzsch 2000, S. 101 ff.; Fricke 1984, Bd. 2, S. 540 ff.; ders. 1981, S. 428 f.

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weise 1890. Es ist deutschreformerisch im Verzicht auf den Ausbau der sozialen Sicherung, deutschsozial im Verzicht auf die Ausdehnung des Reichstagswahlrechts auf Länderebene sowie in der bereits in früheren Programmen erhobenen Forderung nach einer Beschränkung der Konsumvereine, die wohl den Interessen des Handwerks, nicht aber denen der Bauern entspricht. 45 Als typisch völkisch läßt sich die Rhetorik der Versöhnung und der Wiedergeburt ansehen, die in den Leitsätzen gleich dreimal hintereinander beschworen wird: „Die Deutsch-soziale Reformpartei wendet sich an das gesamte deutsche Volk ohne Unterschied des Standes und des Bekenntnisses, sie will es allen zum Bewußtsein bringen, daß sie als Söhne eines Stammes zusammengehören im Kampf um die wirtschaftliche und sittliche Wiedergeburt des Deutschtums. Unabhängig nach oben und unten, nach rechts wie links wollen wir das große Ziel der nationalen Wiedergeburt fest ins Auge fassen und geraden Weges darauf losgehen. Neben der sittlichen Erneuerung unseres Volkslebens sehen wir die nationale Wiedergeburt in erster Linie darin, daß der schaffenden Arbeit die ihr gebührende Stellung eingeräumt wird. Zur Zeit ist sie in ihren Rechten beeinträchtigt durch ein Übergreifen des beweglichen Kapitals. Diesem Kapitalismus gegenüber betrachten wir es als unsere Hauptaufgabe, die Gemeinschaft der Interessen an der schaffenden Arbeit den einzelnen Berufsständen zum klaren Verständnis zu bringen und sie davon zu überzeugen, daß jede einzelne Gruppe ihren Interessen am wirksamsten dient durch Zusammengehen mit den anderen. Unser Ziel muß sein, die scheinbaren Interessengegensätze zur Versöhnung zu bringen, und so aus allen Gruppen der schaffenden Arbeit eine eng zusammenhängende Streitmacht gegen den gemeinsamen Feind zu bilden.“ 46

45 Vgl. Levy 1975, S. 126; Programm der Antisemitischen Vereinigung (1887), Punkt 17; Programmentwurf des 2. Norddeutschen Antisemiten Tages (1892), Punkt 9; Programm der Deutschsozialen (antisemitischen) Partei (1893), Punkt 17, in: Riquarts 1975, S. 355, 360. 46 Programm der Deutsch-sozialen Reformpartei (1895), in: Riquarts 1975, S. 361 f.

4. Interferenzen I: Kolonialbewegung und Alldeutsche Die neuere historische Forschung hat den Blick auf die 90er Jahre als die Zeit einer „allgemeine(n) Neustrukturierung der Öffentlichkeit“ gelenkt, einer „fundamentale(n) Neukonstituierung der politischen Nation“. 1 Tatsächlich beginnt dies jedoch schon in den 80er Jahren, wie die ‚Berliner Bewegung‘, die BöckelBewegung in Hessen und die Vorgänge in Sachsen zeigen, die im voranstehenden Kapitel skizziert wurden. Ebenfalls in diese Zeit fallen die Anfänge der Kolonialbewegung, mit der sich die völkische Bewegung in vielem überschneidet, ohne mit ihr identisch zu sein. Die Physik bietet für solche Konstellationen den Begriff der „Interferenz“ an, womit die „Gesamtheit der charakteristischen Überlagerungserscheinungen“ bezeichnet wird, „die beim Zusammentreffen zweier oder mehrerer Wellenzüge (…) mit fester Phasenbeziehung untereinander am gleichen Raumpunkt beobachtbar sind.“ 2 Wie bei jeder Entlehnung naturwissenschaftlicher Konzepte sind bei der Übertragung in den politisch-gesellschaftlichen Bereich Abstriche zu machen, trifft doch dort, wie sich zeigen wird, die Bestimmung nicht zu, daß bei Interferenzen keine Wechselwirkung der Einzelwellen festzustellen ist. Nützlich ist der Begriff jedoch insofern, als er signalisiert, daß es sich um die zeiträumliche Kopräsenz zweier verschiedener Bewegungen handelt, die durch ihr partielles Zusammenfallen nicht in ihrer Eigenständigkeit tangiert werden. Mit der Kolonialbewegung, deren geistige und politische Wurzeln bis zu den vor- und nachmärzlichen Diskussionen über die Migrationsproblematik, den Aufbau einer Seemacht und den Gewinn von Handelsstationen und Siedlungsgebieten zurückverfolgt werden können3 , scheint die völkische Bewegung auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam zu haben, hat man ihr doch noch jüngst attestiert, daß „außereuropäische Kolonien in den völkischen Zukunftsplänen keine Rolle spielten oder zumindest nur von peripherer Bedeutung waren.“ 4 Gewiß läßt sich manches so interpretieren. Ein Adolf Wahrmund etwa hat sich wie Lagarde für eine „Rückkehr zur vorwiegenden Ackerbauwirthschaft und vernünftigen Beschränkung der industriellen Produktion, wie des Exports und Imports“ ausgesprochen und eher eine „Bändigung und Regelung des ‚Verkehrs‘“ anvisiert als eine weitere Förderung der kapitalistischen Dynamik, aus der der moderne Imperialismus resultiert. 5 Julius Langbehn redet zwar von „Deutschlands Weltherrschaft“, will diese aber nur als eine „innerliche“ verstanden wissen.6 Theodor 1

Eley 1991, S. 174. Meyers Großes Taschenlexikon in 24 Bdn., Mannheim etc. 1995, Bd. 10, S. 215. 3 Zu dieser Kontinuitätslinie vgl. Fenske 1978; Müller 1996/97; Fitzpatrick 2007. 4 Puschner 2001, S. 153. 5 Adolf Wahrmund: Die Bändigung Mammons. Vom deutschen Hochsinn und für ihn, in: BBl 22, 1899, S. 311–359, 350. 6 [Julius Langbehn]: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, Leipzig 18902 , S. 223. 2

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Fritsch äußert sich anfangs skeptisch hinsichtlich des Nutzens der Kolonialpolitik 7 , Heinrich Pudor äußert Bedenken, „solange wir im eigenen Lande genug zu kolonisieren haben“ 8 , und Houston Stewart Chamberlain geht gar so weit, im Imperialismus beziehungsweise Universalismus eine dem germanischen Wesen fremde und von ihm allererst überwundene Erscheinung zu sehen – eine Behauptung, die dann von prominenten Völkischen während des Burenkriegs gegen die Briten ins Feld geführt wird, denen man vorwirft, das Germanentum römischen und/oder jüdischen Einflüssen geopfert zu haben. 9 Von Anfang an werden diese Stimmen indes von einem breiten Chor übertönt, der eine ganz andere Melodie anschlägt. Man denke nur an den bereits erwähnten Neu-Germanien-Plan Bernhard Försters, an Ernst Henrici, der nach seiner ersten Togo-Reise 1887 die Nachtigal-Gesellschaft für vaterländische Afrikaforschung gründet und sich selbst (mit katastrophalem Erfolg) als Plantagengründer versucht, und nicht zuletzt an die propagandistischen Aktivitäten des späteren Deutschbund-Gründers Friedrich Lange, der sich ab 1883 in der Täglichen Rundschau für verstärkte Kolonialtätigkeit Deutschlands einsetzt, sich 1884 an der Gründung der Gesellschaft für deutsche Kolonisation beteiligt und für die Finanzierung der Ostafrikaexpeditionen Carl Peters’ und Graf Pfeils wirbt. 10 Zwar gibt er die Zusammenarbeit mit Peters wegen anhaltender Meinungsverschiedenheiten schon Ende 1885 wieder auf, doch bleibt die Agitation für eine weit ausgreifende Kolonial- und Weltpolitik des Reiches auch später eines seiner Steckenpferde. In seinen 1898 und 1899 vor dem Deutschbund gehaltenen „Hermannsreden“ verlangt er die „politische Mobilmachung der gesamten nationalen Bewegung“, um Deutschlands „Anspruch auf die Weltherrschaft“, auf die „Meisterung der ganzen Erde“ durchzusetzen. 11 Der Deutschbund verpflichtet sich explizit, „der Sicherung deutschen Ansehens in aller Welt, der Wahrung deutscher Gemeinbürgschaft mit den Deutschen jenseits der Reichsgrenzen (sowie) deutschem Aufstreben durch Landmacht, Flotte und Kolonialerwerbungen“ zu dienen. 12 Ideen dieser Art finden sich auch im Kreis um die Antisemitische Correspondenz und ihr Nachfolgeorgan, die Deutsch-Sozialen Blätter. Theodor Fritsch 7

Vgl. Theodor Fritsch: Zur Parallele zwischen Negern und Juden, in: AC 4, 1889, Nr. 48. Heinrich Pudor: Deutschland für die Deutschen! Vorarbeiten zu Gesetzen gegen die jüdische Ansiedlung in Deutschland II, München und Leipzig 1912, S. 75. 9 Vgl. Houston Stewart Chamberlain: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, 2 Bde., 27. Aufl., München 1941, Bd. 2, S. 777 ff.; Johannes Lehmann-Hohenberg: Die Rechtsnot unserer Zeit und ihre Abhilfe (1901), in: Rechtshort. Kulturhort für freies deutsches Volkstum 5, 1909, Nr. 23/24. 10 Vgl. Bernhard Förster: Parsifal-Nachklänge, Leipzig 1883, S. 71, 87 ff.; Ernst Henrici: Wie hat sich die Bevölkerung Berlins bei den bevorstehenden Reichstagswahlen zu verhalten? Berlin 1881, S. 13; Hoffmann 1998, S. 251 ff. Friedrich Langes „Kolonialpolitische Erinnerungen“ in ders.: Reines Deutschtum. Grundzüge einer nationalen Weltanschauung, 3. Aufl., Berlin 1904, S. 261 ff.; Lotte Adam: Geschichte der ‚Täglichen Rundschau‘. Phil. Diss. Berlin 1934, S. 22 f. Zum Deutschbund ausführlicher weiter unten. 11 Vgl. Lange 1904, a. a. O., S. 375, 384. Zu Langes kolonialpolitischem Engagement vgl. Arnold Leinemann: Friedrich Lange und die Deutsche Zeitung (betrachtet im Abschnitt 1896–1900), Phil. Diss. Berlin 1938, S. 57 ff.; Gossler 2001, S. 388 ff. 12 Was ist und was will der Deutschbund? Zit. n. Philipp Stauff: Das Deutsche Wehrbuch, Wittenberg 1912, S. 185. 8

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schiebt seine anfänglichen Bedenken bald beiseite und befürwortet die Einrichtung von Kolonien als „Absatz-Gebiete […] für die Ueber-Produktion aus gewerblichen und industriellen Erzeugnissen Deutschlands“; die zu große Nachgiebigkeit Deutschlands gegenüber England wird mit einer Heftigkeit kritisiert, die kaum hinter der alldeutschen Propaganda zurücksteht. 13 Fritschs Mitarbeiter Willibald Hentschel (1858–1947), ein promovierter Chemiker und Schüler Haeckels, der seit 1882 in der sächsischen Antisemitenszene aktiv ist 14 , gehört zwar nicht zu den Kolonialideologen im engeren Sinne, verfügt dafür aber über einschlägige praktische Erfahrungen: 1885/86 nimmt er an einer der Ostafrikaexpeditionen des Grafen Pfeil teil. 15 Erwin Bauer, der Herausgeber des deutsch-sozialen Zwanzigsten Jahrhunderts, bezeichnet sich als „Anhänger einer großen nationalen Kolonialpolitik“ und nimmt aus seiner Kritik am Alldeutschen Verband die kolonialpolitischen Bestrebungen ausdrücklich aus. 16 Auch Ernst Wachler (1871–1945), später einer der wichtigsten Autoren des Hammer und von 1898 bis 1902 Mitglied im Hauptausschuß des Vereins für das Deutschtum im Ausland, tritt in seiner Zeitschrift Iduna nicht nur für die „festere Einigung Mittel-Europas unter deutscher Vorherrschaft“ ein, sondern auch für die folgenden Ziele: „Stärkung der Machtmittel von Heer und Flotte. Kräftigung und Ausbreitung des Deutschtums über See. Reform der deutschen Kolonialpolitik (Erwerb neuer Siedelungsgebiete außer den Handelskolonien).“ 17 Bei den sogenannten Hottentottenwahlen von 1907 stellt sich die Deutsche Reformpartei rückhaltlos hinter den Kurs einer „gesunden Kolonialpolitik“. 18 Eine explizite Verknüpfung von völkisch-antisemitischen und national-imperialistischen Motiven nimmt der Berliner Schriftsteller Ottomar Beta (1845– 1913) vor, der seit September 1889 zum engeren Mitarbeiterkreis Fritschs zählt. Aufgewachsen in England, ist Beta von der Vorstellung beherrscht, daß das 1871 gegründete Reich ein ganz unfertiges Gebilde sei, das weder in rechtlicher noch in wirtschaftlicher oder sozialer Hinsicht ein wirklicher Nationalstaat sei, der imstande wäre, es mit einer Weltmacht wie England aufzunehmen. Als wichtigstes Handicap gilt ihm das römische Recht, das mit der Kodifikation des BGB noch 13

Vgl. [o. V.]: Ein Schandfleck an der deutschen Kolonial-Politik, in: AC 4, 1889, Nr. 71. Erste Artikel erscheinen 1882 in der Deutschen Reform; zu diesem Zeitpunkt ist Hentschel stellvertretender Schriftführer des Dresdner Reformvereins. Fritsch hat er vermutlich 1883 auf dem Chemnitzer Kongreß kennengelernt: vgl. Piefel 2004, S. 40 ff., 99. Sein erster Aufsatz in der Antisemitischen Correspondenz ist: Monopole, Wahlen, Judenthum, in: AC 2, 1887, Nr. 10. Wichtige Bücher sind: Varuna. Eine Welt- und Geschichts-Betrachtung vom Standpunkt des Ariers, Leipzig 1901; Mittgart, ein Weg zur Erneuerung der germanischen Rasse, Leipzig 1904. Zur Biographie vgl. Löwenberg 1978; Becker 1988, S. 219 ff. 15 Vgl. Joachim Graf von Pfeil: Zur Erwerbung von Deutsch-Ostafrika. Ein Beitrag zu seiner Geschichte, Berlin 1907, S. 159 ff. 16 Vgl. [o. V.]: Der ‚Allgemeine Deutsche Verband‘, in: Das Zwanzigste Jahrhundert 1, 1892, S. 1134–1144, 114. Zu Erwin Bauer vgl. weiter unten. 17 Werbebeilage zu Iduna 6, 1903/1904. Faksimile in Puschner 2001, S. 140. Der Verein für das Deutschtum im Ausland ist keine völkische Organisation (vgl. ebd., S. 107), wohl aber personell mit der völkischen Bewegung vernetzt, sitzt doch neben Wachler auch noch ein zweiter Völkischer im Hauptausschuß: der Geograph Paul Langhans, ab 1909 Bundeswart des Deutschbundes. Vgl. Weidenfeller 1976, S. 336 ff. 18 Vgl. Piefel 2004, S. 157. 14

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einmal in Deutschland zur Herrschaft gebracht worden sei. Dieses Recht führe zu einer Mobilisation des Bodens und begünstige die Bodenspekulation, welche sowohl die Landwirtschaft in einen Teufelskreis der Verschuldung treibe, als auch das industrielle Kapital in seiner Entwicklung behindere. Zugleich gerate Deutschland auf diese Weise in die Abhängigkeit von Mächten, die von derartigen Hemmungen frei seien: England und Juda. Das deutsche Volk, so Beta, habe die Kontrolle über seinen Boden, diese wichtigste Grundlage aller Nationalwirtschaft, an fremde Mächte verloren, es wohne im eigenen Land nur noch zur Miete und gerate auch geistig-kulturell immer mehr in einen Zustand der „Wohnungslosigkeit“. 19 Um „Judas Macht“ zu brechen, welche längst nicht mehr nur das Finanz- und Bankkapital, sondern auch die Presse, die Literatur, die Theater umfasse, bedürfe es eines neuen Rechts, dessen Vorbild Beta paradoxerweise im mosaischen Recht mit seiner Idee eines Stammeseigentums an Grund und Boden zu erkennen meint. Nötig sei eine allgemeine Entschuldung, etwa im Sinne von Rodbertus, der eine Umwandlung sämtlicher Hypotheken- in Rententitel vorgeschlagen hatte, eine Neugestaltung des Kreditwesens, die teils auf dem Wege einer „Verstaatlichung des Realkredits“, teils durch Bildung von Kreditgenossenschaften nach dem Vorbild Raiffeisens zu erreichen sei, und nicht zuletzt eine Stabilisierung der Besitzverteilung durch Ausdehnung der bis dahin dem Adel vorbehaltenen Institutionen des Majorats und des Fideikommisses auf den Klein- und Mittelbesitz, der auf diese Weise dem Markt entzogen werde. 20 Damit könne die Steuerquote gesenkt und das Konsumniveau der breiten Masse gehoben, der unproduktive Klassenkonflikt stillgestellt und eine „Solidarität der gesammten werkthätigen Bevölkerung, der Arbeiter, Unternehmer und Grundherren“ begründet werden, die Deutschland in die Lage versetzen werde, erfolgreich auf dem Weltmarkt zu agieren und England aus seiner Führungsstellung zu verdrängen. 21 Daß dies trotz des gegenwärtig geringen auswärtigen Besitzstandes des 19 Vgl. seine Artikel: Das deutsche Volk als Stiefkind des römischen Rechts, in: AC 4, 1889, Nr. 58 ff.; Lebendiges Recht und Rechtsschablone. Zu dem ‚Entwurfe eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich‘ in: Das Zwanzigste Jahrhundert 2.1, 1891/92, S. 6 ff., 251 ff. sowie, zahllose weitere Artikel zusammenfassend: Deutschlands Verjüngung. Zur Theorie und Geschichte der Reform des Boden- und Creditrechts, Berlin 1901. Das Buch enthält eine Fülle von autobiographischen Hinweisen (besonders S. 17 ff., 293 ff.) und eine „Liste der Werke des geboykotteten Schriftstellers O. Beta“ (S. 500 ff.), aus der die folgenden Titel hervorgehoben seien: Preußen’s Geschichte und die deutsche Einheit, Berlin 1869; Darwin, Deutschland und die Juden, Berlin 1875; Eine Deutsche Agrarverfassung für Stadt und Land, Leipzig 1878; Die Politik des Unbewußten, Leipzig 1887. Vgl. auch den Nachruf in: Hammer 12, 1913, H. 258. 20 Vgl. Ottomar Beta: Grund und Boden als Ware und Werkzeug, in: DSBl 5, 1890, Nr. 82 ff.; Reform-Vorschläge zur Boden-Frage, ebd., Nr. 101; Das Bedürfnis eines besonderen ImmobiliarSachen-Rechts, ebd. Nr. 122 ff.; Deutschlands Verjüngung, a. a. O., S. 197 f. Ähnlich Willibald Hentschel: Zucht-Ideale, in: AC 4, 1889, Nr. 65; Theodor Fritsch: Zwei Grundübel: Boden-Wucher und Börse, Leipzig 1894. 21 Vgl. als frühe Quintessenz den 1892 vor dem Deutsch-Sozialen antisemitischen Verein für Berlin gehaltenen Vortrag über Real- und Personal-Credit, der unter dem Titel Warum? Warum liegen wir Deutsche in den Ketten der Schuldknechtschaft? erschienen ist (Berlin 1892). Die hier entwickelten Ideen hat Beta später im Hammer vielfach variiert: vgl. u. a.: Die verdammten Engländer, 1, 1902, H. 10; Besteuerung des Bodens nach gemeinem Wert I-III, 5, 1906, H. 92, 95, 96;

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Reiches möglich sei, ist Betas feste Überzeugung. Weltmächte, heißt es in einem frühen Aufsatz, könne es jeweils nur drei geben. Da zwei Positionen bereits mit Amerika und Rußland besetzt seien, komme als dritte Macht von vergleichbarem Potential nur Europa in Frage, für dessen Führung letztlich allein Deutschland als der „Stamm Europa’s“ über die nötigen Voraussetzungen verfüge. 22 Entsprechend begeistert kommentiert Beta nach der Jahrhundertwende die Flotten- und Weltpolitik des Kaisers als endliche Durchbrechung der „binnenländische(n) Befangenheit“ der Deutschen. 23 Angesichts des Einflusses, den die Antisemitische Correspondenz und die Deutsch-Sozialen Blätter auf die völkisch-antisemitischen Parteien haben – die Deutsch-Sozialen Blätter firmieren im Untertitel als offizielles „Organ der deutsch-sozialen Partei“ – überrascht es nicht, auch in den Parteiprogrammen auf ähnliche Forderungen zu stoßen. Schon die Antisemitische Vereinigung verlangt 1887 in ihrem Programm unter Punkt 18: „Kolonisation: Eine tatkräftige und zielbewußte, auf Erwerb von Handels- und Ackerbaukolonien gerichtete Kolonialpolitik; Einrichtung von überseeischen Strafkolonien, Beförderung der inneren Kolonisation“; das Programm der Deutsch-sozialen (antisemitischen) Partei von 1893 wiederholt diesen Passus fast wörtlich. 24 Die konkurrierende Antisemitische Volkspartei Böckels erwähnt zwar 1890 in ihren Leitlinien die Kolonialpolitik mit keinem Wort, ordnet sich aber bei der Vereinigung auf diesem Gebiet den Deutschsozialen unter. In ihrem Programm von 1895 verlangt die Deutsch-soziale Reformpartei unter Punkt 18: „Erhaltung und Erwerbung von Handels- und Ackerbaukolonien, Errichtung überseeischer Strafansiedelungen für rückfällige Verbrecher, Beförderung der inneren Kolonisation zur Stärkung des Deutschtums, kräftigen Schutz der Deutschen im Auslande, Verbesserung des Konsulatswesens, Schaffung eines Reichsauswanderungsgesetzes mit dem Hauptziele einer nationalen Regelung der deutschen Auswanderung.“ 25 Überzeugungen dieser Art haben die Völkischen wie von selbst in die nationalimperialistischen Agitationsvereine geführt, die zur gleichen Zeit wie die eigenen Verbände und Parteien entstehen: den Deutschen Kolonialverein (1882), die Gesellschaft für deutsche Kolonisation (1884), die aus der Verschmelzung beider Verbände hervorgehende Deutsche Kolonialgesellschaft (1887) und vor allem den maßgeblich von Exponenten der Kolonialbewegung bestimmten Alldeutschen Verband (1891), der sich in seinem Gründungsaufruf für die „Belebung des vaterländischen Bewußtseins“, die „Pflege und Unterstützung deutsch-nationaler Bestrebungen“, die „Förderung einer tatkräftigen deutschen Interessenpolitik“ Die Vorwegnahme der Grundrente I-II, 5, 1906, H. 103, 104; Monarchie, Polenfrage und BodenReform I-V, 6, 1907, H. 124, 127, 129, 130, 131; 7, 1908, H. 136; Zum Fall Damaschke, 7, 1908, H. 135; Unter falschem Recht I-II, 7, 1908, H. 147, 148; Die Folgen des Bodenhandels für Staat und Unternehmertum I-II, 9, 1910, H. 194, 195; Vom deutschen Recht, 10, 1911, H. 209. Dort auch die knappe Darstellung der Hauptthesen durch Willibald Schulze: Ottomar Beta und die Bodenfrage, 29, 1930, H. 679/680. 22 Vgl. Ottomar Beta: Die Welt-Reiche der Zukunft, in: DSBl 7, 1892, Nrn. 214–216. 23 Ders.: Das Buch von unsern Kolonien. Neubearbeitung, 2. unv. Aufl., Leipzig 1908 (zuerst 1902), S. 227. 24 Riquarts 1975, S. 333, 360. 25 Ebd., S. 366 f.

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und insbesondere auch die „Fortführung der deutschen Kolonialbewegung zu praktischen Ergebnissen“ einsetzt. 26 Von den Reichstagsabgeordneten, die dem Alldeutschen Verband (ADV) bis 1914 angehören, zählen 15 % zur Deutsch-sozialen Partei beziehungsweise 9 % zur Wirtschaftlichen Vereinigung; prominente Repräsentanten der Deutschsozialen wie Liebermann von Sonnenberg und Ludwig Werner gehören zu seinen Gründungsmitgliedern und agieren gelegentlich als sein Sprachrohr im Reichstag. 27 Andere ADV-Mitglieder aus der völkisch-antisemitischen Szene sind die Deutschsozialen Paul Förster, Friedrich Raab, Wilhelm Schack, Ludwig und Ernst Graf Reventlow und Wilhelm Lattmann, der 1911 Liebermann im Parteivorsitz nachfolgt, sowie die Deutschreformer Oswald Zimmermann und Ferdinand Werner, der spätere Vorsitzende der Deutschvölkischen Partei, die 1914 aus der (Wieder-)Vereinigung von DSP und DRP hervorgeht.28 Hinzu kommen aus den Verbänden Max Robert Gerstenhauer und Paul Langhans (Deutschbund), Alfred Roth (Reichs-Hammerbund), Ludwig Schemann (Gobineau-Vereinigung) sowie Publizisten mit multiplen Zugehörigkeiten wie Philipp Stauff, Adolf Bartels, Theodor Fritsch und Reinhold Wulle. 29 Auch wenn sich die meisten dieser Verbindungen erst in den 90er Jahren und später kristallisieren, wird doch die Basis dafür bereits früher gelegt. Im Gegenzug engagieren sich prominente Alldeutsche in völkisch-antisemitischen Verbänden und publizieren in entsprechenden Organen. Fritz Bley (1853– 1931), seit 1899 Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses des ADV, gehört zum Vorstand des Verbandes gegen Überhebung des Judentums, stellt in Ernst Wachlers Kynast den Alldeutschen Verband vor und meldet sich auch im Hammer zu Wort. 30 Paul Dehn (1848–1938), bis 1923 Vorstandsmitglied der Hamburger Alldeutschen und seit 1919 auch im Gesamtvorstand des ADV, porträtiert in den Deutsch-Sozialen Blättern den Verband gegen Überhebung des Judentums und steuert zwischen 1903 und 1905 mehrere Artikel für den Hammer bei. 31 Ebenfalls mit mehreren Texten ist der Wilmersdorfer Regierungsrat Kurd von Strantz (1863–1949) im Hammer vertreten, der im ADV zu den schrillsten Verfechtern einer Expansion Deutschlands auf Kosten Frankreichs gehört.32 Der Privatdozent und politische Schriftsteller Albrecht Wirth, seit 1900 im Vorstand des ADV, 26 Zit. n. Mommsen 1960, S. 90. Zu den Kolonialvereinen vgl. Bendikat 1984; zum ADV Kruck 1954; Chickering 1984; Peters 1996; Hering 2003. 27 Vgl. Stegmann 1970, S. 53; Levy 1975, S. 127 f., 286. 28 Vgl. ebd.; Hering 2003, S. 225, 282; Peters 1996, S. 219, 211, 131 f., 147, 213, 223. 29 Vgl. Peters 1996, S. 208, 218; Hering 2003, S. 226, 191, 383, 386, 175, 191, 474 f. Alfred Roth wird 1913 in den Gesamtvorstand des ADV gewählt: vgl. Stegmann 1970, S. 54. 30 Vgl. Fritz Bley: Der Alldeutsche Verband, in: Der Kynast 1, 1898, H. 3; Zum englischen Journalisten-Besuch, in: Hammer 6, 1907, H. 121. Zur Person vgl. Hering 2003, S. 202, 235. 31 Vgl. Paul Dehn: Der Verband gegen Ueberhebung des Judentums, in: DSBl 27, 1912, Nr. 58 (Beilage); Ansiedelungs-Politik von ehedem, in: Hammer 2, 1903, H. 25; Die große Kapital-Assoziation, in: Hammer 3, 1904, H. 48; Englischer Liberalismus und Imperialismus, in: Hammer 4, 1905, H. 74; Im Bann der Börse, in: Hammer 9, 1910, H. 197 sowie zahlreiche Glossen ebd. Zur Person vgl. Hering 2003, S. 271, 307. 32 Vgl. Kurd v. Strantz: Die Agrar-Politik des Reiches, in: Hammer 2, 1903, H. 19; Handels- und Agrar-Politik, ebd., H. 30; 1905, Falsche Sozial-Politik, in: Hammer 6, 1907, H. 117; Das Kriegsziel nach Ost und West, in: Hammer 13, 1914, H. 296; Was wird mit Luxemburg, in: ebd., H. 299; zu Person vgl. Hering 2003, S. 202; Peters 1996, S. 102 f., 135 f. Nach dem Ersten Weltkrieg ist Strantz

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schreibt im Hammer und im Volkserzieher. 33 Heinrich Claß, ab 1908 Vorsitzender des ADV, ist von 1894 bis 1900 Mitglied des Deutschbundes. 34 Befunde dieser Art werden in der Forschung freilich meist etwas zu schnell zum Anlaß genommen, den ADV en bloc zu einem Repräsentanten der völkischen Ideologie oder gar zu einem Teil der völkischen Bewegung zu erklären und diese wiederum als Erscheinungsform eines neuen „radikalen Nationalismus“ zu interpretieren. 35 Gewiß gibt es ein nicht unerhebliches Maß an Übereinstimmungen: im ethnischen Nationsverständnis 36, im Wunsch nach einer geschlossenen, die Kräfte der ‚Zivilisation‘ überformenden und sie integrierenden Nationalkultur 37 , in der Wendung zu einem „imperialistischen Nationalismus“ 38 , dessen wirtschafts- und bevölkerungspolitische Aspekte so eng verknüpft sind, daß Dichotomien à la „Weltpolitik“ versus „Lebensraum“ fehl am Platze sind. 39 Aber erstens ist dies alles nicht neu, sondern steht in Kontinuität mit der sehr viel älteren Tradition des liberalen Nationalismus 40 , und zweitens weist der ADV eine Reihe von Zügen auf, die für den aus dieser Tradition entspringenden ‚alten‘ Nationalismus und nicht für den völkischen typisch sind. In sozialer Hinsicht ist er, wie schon sein Vorgänger, die Deutsche Kolonialgesellschaft, vom besitzenden und gebildeten Bürgertum geprägt 41 , genauer: von dessen ehemals liberalen und nun zunehmend nach rechts rückenden Segmenten, wohingegen die völkischen Verbände ihren Schwerpunkt eher in kleinbürgerlichen Schichten haben; die zentrale Leitung liegt in den Händen der sozialen Führungsgruppen des Kaiserreichs und repräsentiert ein beachtliches Macht-

als Schriftleiter der von Wachler und Seeliger herausgegebenen Zeitschrift Die Krone hervorgetreten, von der in deutschen Bibliotheken drei Jahrgänge (1920 – 1922) nachgewiesen sind. 33 Vgl. Albrecht Wirth: Ziele und Wege der Welt-Geschichtsschreibung, in: Hammer 2, 1903, H. 15; Was ist deutsch, ebd., H. 20; Volkstum und Imperialismus, in: Hammer 3, 1904, H. 43; Die politischen Folgen der jetzigen Kämpfe, in: Hammer 13, 1914, H. 293 sowie zahlreiche Aufsätze in: Der Volkserzieher (ab 1908). Zur Person vgl. Peters 1996, S. 241; Puschner 2001, S. 73. 34 Vgl. Peters 1996, S. 55. 35 Zu diesem Begriff mit jeweils unterschiedlichen Akzentuierungen: Schilling 1968; Eley 1980, S. 15, 166 u. ö.; Wehler 1995, S. 1067 ff.; Stegmann 1993; Peters 1996, S. 11; Hering 2003, S. 10, 15 u. ö. sowie zuletzt Walkenhorst 2007. Ich folge dieser Begriffsbildung nicht, weil sie dort eine Differenz behauptet, wo keine ist (im Außenverhältnis) und andererseits wichtige Differenzen unmarkiert läßt, etwa die Rechts-Links-Polarität oder die Differenz zum neuen Nationalismus nach 1918: vgl. insbesondere Walkenhorst 2007, S. 14, 226 ff., 338. Man muß nur einmal Claß’ Kaiserbuch von 1912 lesen, um zu sehen, wie nah der dort artikulierte Nationalismus zwar nicht in politischer, wohl aber in sozialer und ökonomischer Hinsicht altliberalen Vorstellungen ist, und welcher Abstand ihn von allen Konzepten einer ‚totalen Mobilmachung‘ trennt. 36 Vgl. Ernst Hasse: Das Deutsche Reich als Nationalstaat (Deutsche Politik I.1), München 1905, S. 10. 37 Vgl. ders.: Die Zukunft des deutschen Volkstums (Deutsche Politik I.4), München 1907, S. 167. 38 Vgl. Krätschell 1959; Perras 2004, S. 9. 39 Vgl. nur Joachim Graf v. Pfeil: Zur Erwerbung von Deutsch-Ostafrika. Ein Beitrag zu seiner Geschichte, Berlin 1907, S. 145 ff.; Carl Peters: Alltagspolemik und Kolonialpolitik (1884), in ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von Walter Frank, 3 Bde., Bd. 1, München und Berlin 1943, S. 340 sowie Perras 2004, S. 41, 47, 191 f. 40 Vgl. Perras 2004, S. 176 ff. sowie die weiter oben (Anm. 3) angegebene Literatur. 41 Vgl. Hering 2003, S. 176; Chickering 1984, S. 102 ff.; Bendikat 1984, S. 133 ff.

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potential, während die Völkischen vielfach von entwurzelten, proletaroiden Intellektuellen geführt werden. Zumal auf außenpolitischem Gebiet bedingt dies einen sehr unterschiedlichen Politikstil, der die Alldeutschen bisweilen nötigt, sich von der ebenso maß- wie hemmungslosen Agitation der Völkischen zu distanzieren. 42 Auf zeitlicher Ebene entspricht dem eine den ‚Fortschritt‘ nicht nur akzeptierende, sondern enthusiastisch begrüßende Einstellung, wie sie etwa in Carl Peters’ Jugendwerk hervortritt, das den ‚Weltproceß‘ als eine in steter Steigerung begriffene teleologische Entwicklung deutet und für einen „verklärten und veredelten Optimismus“ eintritt, der noch im Spätwerk der Bewunderung für Englands zivilisatorische Leistung zugrundeliegt. 43 In sachlicher Hinsicht endlich dominiert die Überzeugung, daß als mächtigstes Vehikel dieses Fortschritts die Akkumulation des Kapitals gelten muß, auch und gerade, wo sie durch Konzentration und Zentralisation gewaltige Disparitäten erzeugt. Für Treitschke, der den Alldeutschen zahlreiche Stichworte geliefert hat, ist diese Zentralisation schlechterdings heilsam, sei doch „jedes neue Hunderttausend, das die Kruppsche Fabrik ihrem Kapitale zugelegt hat, […] bisher der deutschen Volkswirtschaft zugute gekommen“ 44 ; für Carl Peters gehören dazu auch das Aktien- und Börsenwesen als selbstverständliche Begleiterscheinungen hochkapitalistischer Wirtschaft 45 , und auch für Ernst Hasse ist das Großkapital eine Großmacht, deren Vernichtung weder möglich noch wünschenswert sei, so bedenklich auch ihre Mißbräuche seien. „Es bleibt die notwendige Voraussetzung für den Fortschritt der Zivilisation und der Kultur.“ 46 Aufgabe der Politik sei es nicht, dem Rad in die Speichen zu greifen, sondern durch „Weltpolitik“ dafür zu sorgen, daß Austausch und Verkehr „sich auf die vorteilhafteste Weise für ein begrenztes Wirtschaftsgebiet vollziehen, […] und daß das betreffende Wirtschaftsgebiet eine genügende Ausdehnung gewinnt, um der Träger großer wirtschaftlicher Unternehmungen (Handel, Kapitalanlagen in der Fremde) sein zu können.“ 47 Für die Völkischen dagegen stellt sich die Lage völlig anders dar. „Die ganze industrielle Herrlichkeit, die uns umgiebt“, wird Theodor Fritsch später schrei42 Vgl. Levy 1975, S. 215. Dasselbe gilt umgekehrt: Liebermann von Sonnenberg droht Ende 1908 mit seinem Austritt aus dem ADV, weil er dort die politischen Verdienste der Deutschsozialen im Parlament nicht genügend gewürdigt sieht: vgl. Peters 1996, S. 233. 43 Vgl. Carl Peters: Willenswelt und Weltwille. Studien und Ideen zu einer Weltanschauung, Leipzig 1883, S. 244, 320 ff., 391; ders.: Was lehrt uns die englische Kolonialpolitik (1897), in ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, a. a. O.; Weitherzige Kolonialpolitik (1898); Renegatentum (1898) sowie zahlreiche weitere Aufsätze zur englischen Weltpolitik in Bd. 3 (1944). Diese Bewunderung schließt allerdings keineswegs den Willen aus, England von seinem angestammten Platz zu vertreiben. 44 Heinrich von Treitschke: Die gerechte Verteilung der Güter. Offener Brief an Gustav Schmoller (1875), in ders: Aufsätze, Reden und Briefe, hrsg. von Karl Martin Schiller, 4 Bde., Meersburg 1929, Bd. 4, S. 258–294, 290. Zum Einfluß Treitschkes auf die Alldeutschen vgl. Winzen 1981; Breuer 1999, S. 34 ff. 45 Vgl. Carl Peters.: Die deutsche Kolonialpolitik und die öffentliche Meinung in England (1886), in ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, a. a. O., S. 361; ders.: Sozialismus und Kolonialpolitik (1907), ebd., S. 448. 46 Vgl. Hasse 1907, a. a. O., S. 186. 47 Ernst Hasse: Weltpolitik, Imperialismus und Kolonialpolitik (Deutsche Politik II), München 1908, S. 8 f.

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ben, „ist eitel Lug und Schein.“ 48 Industrie, Handel und Verkehr fördern den allgemeinen Wohlstand nicht, sie bringen vielmehr den wirtschaftlichen Organismus aus dem Gleichgewicht und zerstören sein Zentrum, die städtischen und ländlichen Besitzklassen. 49 „Seit Jahrzehnten zeigt unser Wirtschafts-Leben die Wirkung, daß es die Reichtümer der Nation immer mehr in einzelnen Händen aufhäuft und dabei die breitere Masse des Volkes immer mehr ihres Besitzes beraubt – sie enterbt.“ Infolge dieser fortschreitenden „Besitz-Verschiebung“ hat der technische und materielle Fortschritt die Tendenz, „das Übel zu steigern, denn gerade dort, wo Verkehr, Produktion und Handel am lebhaftesten, wo die Bevölkerung am dichtesten, wo der Reichtum am größten und die Werkzeuge der Produktion und des Austausches am höchsten entwickelt sind, finden wir auch die tiefste Armut, den härtesten Kampf um’s Dasein und die schlimmste Arbeitslosigkeit.“ 50 Dem Wachstum der Kapitalien auf der einen Seite entspricht die fortschreitende Verschuldung im Volke auf der anderen Seite. „Jede übermäßige Bereicherung Einzelner kann nur auf Kosten der Gesamtheit vor sich gehen. Die irdischen Güter sind nicht unbegrenzt an Menge und Zahl. Wer davon ein Uebermaß an sich reißt, der muß sie Anderen entziehen.“ 51 Wirtschaft erscheint aus dieser Perspektive als Nullsummenspiel, das jedoch aufgrund der mit der modernen Kapitalbildung zusammenhängenden Konzentrationstendenz das gesellschaftliche Gefüge zu zerreißen droht. 52 „Der blendende Industrie- und Verkehrs-Rummel blüht auf dem Grabe der heimischen Landwirtschaft und des gesamten produktiven Mittelstandes […] Je höher der sogenannte NationalReichtum steigt, desto näher rücken wir dem wirtschaftlichen Zusammenbruch und der sozialen Revolution.“ 53 Was diese Entwicklung allein noch aufhalten kann, ist eine „Neubildung im Mittel, die allmälig (sic) die gesunden Elemente von den Extremen zurückzieht“ 54 : durch eine Steuerpolitik, die den Mittelstand fördert, durch antimonopolistische Maßnahmen, durch staatliche Kontrolle des Aktienkapitals – und nicht zuletzt: durch Aufhebung der Judenemanzipation: denn vor allem das angeblich jüdische, das „zinsen-saugende“ Kapital ist gemeint, wenn Fritsch behauptet, man könne einem Staat und einer Nation keinen größeren Dienst erweisen, „als daß man das Kapital zum Lande hinaustreibt.“ 55 48

Theodor Fritsch: ‚Die praktische Lösung der sozialen Frage‘, in: Hammer 3, 1904, H. 38. Vgl. ders.: Zwei Grundübel: Boden-Wucher und Börse, Leipzig 1894, S. 18; Wem kommt das Kartell zu Gute? Eine nüchterne Betrachtung zu den bevorstehenden Reichstags-Wahlen, in: DSBl 4, 1889, Nr. 72. 50 Ders.: Zwei Grundübel, a. a. O., S. 132. 51 Ders.: Kapital-Herrschaft oder Monarchie (I), in: Hammer 5, 1906, H. 86. 52 Ders.: Wem kommt das Kartell zu Gute? a. a. O. Vgl. auch ders.: Die Großbetriebe in Sorgen, in: Hammer 3, 1904, H. 37; Kapital-Herrschaft oder Monarchie, a. a. O.; Zum Streit um die Nachlaß-Steuer, in: Hammer 8, 1909, H. 163. 53 Ders.: ‚Die praktische Lösung der sozialen Frage‘, a. a. O. 54 Ders.: Wem kommt das Kartell zu Gute? a. a. O. 55 Ders.: Zwei Grundübel, a. a. O., S. 152. Im rhetorischen Schwung kann diese Einschränkung auf das jüdische Kapital bisweilen auch entfallen, wie zum Beispiel bei Willibald Hentschel: „Aus diesem Chaos gibt es nur einen Ausweg: die allmälige Verdrängung der privat-kapitalistischen Produktions-Weise, die Verstaatlichung aller derjenigen Großbetriebe, innerhalb deren jene gefährlichen Mißstände eingerissen sind, und die Einführung neuer Grundsätze in die Verwaltung der Staats-Betriebe, welche Grundsätze nicht sowohl auf die Ausbeutung und auf das rücksichts49

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Das alles sind Gedankengänge, die bei den häufig aus den Reihen des Liberalismus herkommenden Alldeutschen mit wenig Zustimmung rechnen können. 56 Zwar sieht man auch hier im agrarischen Großbesitz eine gefährliche Erscheinung, der durch die Einführung von Höchstgrenzen zu begegnen sei, doch wird ähnliches für die industriellen Riesenbetriebe kategorisch zurückgewiesen: handele es sich hierbei doch „um wirklich organisch Gewordenes, das man nicht spalten, nicht zurückschrauben kann.“ 57 Gänzlich anathema ist diesen durchaus klassenkämpferisch gestimmten Kreisen das Verständnis, das die Völkischen bisweilen dem sozialdemokratischen Radikalismus entgegenbringen 58 , neigt man doch hier zu der Auffassung Treitschkes, dem Sozialismus sei „nicht halbe und bedingte, sondern ganze und rücksichtslose Feindschaft“ anzusagen, und das selbst da, wo er in der gemäßigten Form staatlicher Sozialpolitik auftrete, die die „Versorgung des arbeitsscheuen, staatsgefährlichen, großstädtischen Proletariats auf öffentliche Kosten“ anstrebe. 59 Nicht einmal in der Politik gegenüber den Juden ist man hier bereit, den Völkischen entgegenzukommen, obwohl man sich im Ressentiment nicht selten einig ist. Zwar wird mit Heinrich Claß 1908 ein erklärter Vertreter des Radikalantisemitismus zum Vorsitzenden des ADV gelose Raffen hinauslaufen, auf wucherische und schwindelhafte Börsen-Umtriebe, als vielmehr auf eine maß- und zielstrebige Produktion, auf Schutz, Hebung und Seßhaftmachung des ArbeiterStandes.“ (Zur wirtschaftlichen Frage III, in: DSBl 5, 1890, Nr. 77). 56 Vgl. etwa das Lob der liberalen bürgerlichen Selbstverwaltung bei Peters: Weitherzige Kolonialpolitik, a. a. O., S. 404 oder Claß’ Bekenntnis zu seiner altliberalen Herkunft, in: Daniel Frymann (d. i. Heinrich Claß): Wenn ich der Kaiser wär’, Leipzig 1912, hier zit. n. der 4. Aufl., Leipzig 1913, S. 205. 57 Claß 1913, a. a. O., S. 59 f. Die alldeutsche Haltung gegenüber dem Großgrundbesitz ist sowohl aus der klassisch-bürgerlichen Gegenstellung gegen das Grundeigentum zu erklären, wie sie etwa für Ricardo oder John Stuart Mill typisch ist, als auch aus nationalistischen Motiven, wirft man ihm doch vor, der größte ‚Polonisator‘ zu sein: vgl. Der preußische Staat als Polonisator (1894), in: Alldeutscher Verband (Hrsg.): Zwanzig Jahre alldeutscher Arbeit und Kämpfe, Leipzig 1910, S. 5 ff.; Hasse 1905, a. a. O., S. 87, 93, 114; ders. 1907, a. a. O., S. 105. Auf völkischer Seite reicht das Spektrum von den Verstaatlichungsideen, wie sie Fritsch und Hentschel hin und wieder in die Debatte geworfen haben (vgl. die Hinweise weiter unten, S. 132), bis zu den gemäßigteren Positionen von Wulle und Gerstenhauer, die allenfalls von ihren Besitzern nicht selbst bewirtschaftete und/oder überschuldete Latifundien enteignen wollen: vgl. Reinhold Wulle: Mehr Land! Grundlagen des neuen Deutschland, Leipzig 1917, S. 43, 88 f.; Max Robert Gerstenhauer: Der Führer. Ein Wegweiser zu deutscher Weltanschauung und Politik, Jena 1927, S. 34, 71, 155. 58 So rechnet es etwa Hentschel der Sozialdemokratie ausdrücklich als Verdienst an, daß sie die staatliche Schutzgesetzgebung für die Proletarier veranlaßt habe. „Unsere Aufgabe kann es nur sein, die in der Sozialdemokratie angehäufte Spannkraft in Bahnen zu leiten, wo sie nicht mehr schaden kann, sondern Segen bringen muß, – sie mitwirken zu lassen an der Wieder-Errichtung eines wirtschaftlichen Organ-Systems an Stelle des Wirrwarrs, den die Folgen der französischen Revolution und die heimtückischen Lehren des Manchestertums über uns gebracht haben.“ (Zur wirtschaftlichen Frage I, in: DSBl 5, 1890, Nr. 75). Selbst Liebermann von Sonnenberg schlägt andere Töne an als die bürgerliche Rechte, wenn er schreibt: „Mit der Sozialdemokratie teilt der Antisemitismus die Auffassung, daß die bestehende Ordnung in Staat und Gesellschaft unhaltbar geworden ist.“ (Zur Begründung unsres deutsch-sozialen Programms, in: AC 4, 1889, Nr. 55). Solche Ansichten haben die Völkischen freilich nicht daran gehindert, in der Sozialdemokratie zugleich eine Erfindung des Judentums zu sehen: vgl. H. O.: Die Sozialdemokratie in jüdischen Diensten, in: AC 3, 1888, Nr. 40. 59 Treitschke: Der Sozialismus und seine Gönner (1874), in ders.: Aufsätze, Reden und Briefe, Bd. 4, a. a. O., S. 122–211, 152; Frymann, op.cit., 7. Aufl., Leipzig 1925, S. 189.

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wählt, doch veröffentlicht dieser sein Dissimilationsprogramm 1912 unter Pseudonym. 60 Sein Vorgänger, Ernst Hasse, will dagegen, wie bereits Treitschke, die Judenemanzipation unangetastet lassen und beschränkt seinen antisemitischen Forderungskatalog auf die Einwanderungspolitik. 61 Carl Peters, Mitbegründer des ADV, läßt sich von seinen antijüdischen Ressentiments nicht davon abhalten, für seine Unternehmungen um jüdische Geldgeber zu werben, mit Juden wie Otto Arendt befreundet zu sein und bei Reichstagswahlen für die Nationalliberalen gegen einen Antisemiten zu kandidieren; im ADV tritt er mit Erfolg allen Bestrebungen zur Einführung eines Arierparagraphen entgegen. 62 Erst mit der Bamberger Erklärung von 1919 wird es der Verband explizit als seine Aufgabe definieren, „den jüdischen Einfluß zurückzudämmen“ und „alle Bestrebungen zu fördern“, „die ruhig und bestimmt dafür eintreten, daß Deutschland den Deutschen gehört, und daß es demgemäß in allen inneren, äußeren, kulturellen und wirtschaftlichen Fragen geleitet werde.“ 63

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Vgl. Frymann, a. a. O. Vgl. Hasse 1907, a. a. O., S. 67. Vgl. Perras 2004, S. 68, 207, 220, 222, 183. Erklärung des Alldeutschen Verbandes, in: Jochmann 1963, S. 17.

5. Der Mißerfolg der Parteien Ihren größten Erfolg feiern die Völkischen bei den Reichstagswahlen von 1893, als sie sechzehn Mandate erobern. Auch bei einigen Landtags- und Kommunalwahlen schneiden sie zunächst gut ab, etwa in Sachsen, wo sie ihre Stimmenzahl bis 1895 mehr als verdoppeln können (11,3 %), oder im Großherzogtum Hessen, wo sie mit den Sozialdemokraten gleichziehen. 1 Ihre Siegesserie hält indes nicht an. Als bei den Reichstagswahlen von 1898 nur mehr dreizehn Sitze gewonnen werden, machen sich die nur notdürftig verkleisterten Spannungen zwischen den verschiedenen Flügeln wieder bemerkbar und führen im Oktober 1900 zum Austritt der Deutschsozialen; der verbleibende Rest formiert sich neu als Deutsche Reformpartei, so daß der Radikalantisemitismus in den folgenden Jahren bis 1914 wieder durch zwei Parteien vertreten ist. 2 Bei den Reichstagswahlen ist ihre Stimmenzahl seitdem rückläufig. Die Deutschsozialen, die 1907 noch 76028 Stimmen verbuchen, erzielen 1912 nur noch 56765; die Deutsche Reformpartei geht im gleichen Zeitraum von 76255 auf 50373 Stimmen zurück. 3 Das Gesamtvolumen der für alle antisemitischen Kandidaten (gemäßigte wie radikale) abgegebenen Stimmen sinkt von 284 000 Stimmen 1898 auf 149000 im Jahre 1912, das ist in Prozenten ausgedrückt ein Rückgang von 3,7 % auf 1,2 %, in Reichstagsmandaten von 13 auf 8. 4 Massimo Ferrari Zumbini hat daraus den Schluß gezogen: „Aufs Ganze gesehen läßt sich also sagen, daß die Wahlgeschichte des Antisemitismus im kaiserlichen Deutschland die Geschichte einer Niederlage ist, und zwar einer solchen, die sich nicht auf die Mängel des Wahlrechts zurückführen läßt.“ 5 Aus marxistischer Sicht ist diese Niederlage durch unterschiedliche Klasseninteressen verursacht, die das völkische Spektrum in zwei gegensätzliche Strömungen zerreißen: in die von ‚kleinbürgerlichen Kräften‘ getragenen Deutschreformer, die sich an den Interessen der Mittelschichten orientieren, und die in größerer Nähe zu den herrschenden Klassen, speziell deren junkerlicher Fraktion, stehenden Deutschsozialen, die in ‚sozialdemagogischer‘ Absicht auch nach Einfluß auf die Arbeiterklasse streben und sich deshalb der Mittelstandsorientierung verweigern. 6 Diese Annahme geht an der Sache vorbei. Die Leichtigkeit, mit der sich die Deutschsozialen bei der Fusion von 1895 von ihren sozialstaatlichen Programmpunkten verabschieden, zeigt, wie wenig tief diese in der Partei verankert sind. Die nach dem Zusammenschluß vom Vorstand der DSRP herausgegebenen Mitteilungen für die Vertrauensmänner der Partei, die nicht zuletzt aufgrund der beigefügten Vortragsentwürfe eine aufschlußreiche Quelle darstellen, lassen von 1 2 3 4 5 6

Vgl. Ferrari Zumbini 2003, S. 578 f. Vgl. Fricke 1984, Bd. 2, S. 63 ff., 534 ff. Vgl. Scheil 1999, S. 131 f. Vgl. Ferrari Zumbini 2003, S. 581. Ebd. Vgl. Fricke 1984, Bd. 2, S. 535.

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einer Verweigerung gegenüber Mittelstandsinteressen nichts erkennen, sondern geben als eindeutiges Ziel vor, „den deutschen Mittelstand zur entscheidenden politischen Macht in unserem Staatsleben zu machen.“ 7 Die Partei, so bekräftigt Wilhelm Giese vom Berliner Vorstand, „die die Kräfte des Mittelstandes zum Kampf gegen den Mammonismus und das Judentum zusammenfassen will, ist vorhanden, es ist die antisemitische, die deutsch-soziale Reformpartei“, die Partei „zum Schutz des kleinen Mannes, das heißt des deutschen Volkes überhaupt gegen die großkapitalistische, zumeist jüdische Ausbeutung.“ 8 Nach der Trennung haben nicht nur die Deutschreformer an dieser Orientierung festgehalten, wie sich an Oswald Zimmermanns Leitsätzen zur Mittelstandsfrage (1904) belegen ließe, sondern auch die Deutschsozialen, wie ein Blick in die Schriften Heinrich Pudors (1865–1943) zeigt, der um 1912 zu den führenden Mitgliedern des Deutsch-Sozialen Vereins zu Leipzig gehört und keine Mühe hat, sein Engagement für den Bund der Landwirte mit einem Eintreten für die Belange auch des städtischen Mittelstands zu verbinden. 9 Im übrigen haben sich auch die Deutschreformer von ihrer traditionell antikonservativen Einstellung nicht hindern lassen, mit den Konservativen Wahlbündnisse einzugehen, wo immer es taktisch geboten erscheint – so zum Beispiel bei den Reichstagswahlen von 1903 und 1907. 10 Auch von der Mitgliederstruktur her gesehen fällt es schwer, die Spaltungslinien innerhalb der völkischen Parteienlandschaft mit unterschiedlichen Klassenlagen in Verbindung zu bringen. Die Masse der Mitglieder beider Parteien kommt durchweg aus den unteren Strata des Mittelfelds, aus den Reihen der Kleinlandwirte, Kleinhändler, Handwerker, Handlungsgehilfen und Beamten, nur hier und da auch des Bildungsbürgertums. 11 Der wichtigste Unterschied zwischen ihnen, der zwischen städtischen und ländlichen Mittelklassen, bildet sich nicht auf der Ebene der Parteien ab. Die Deutschreformer haben ihre Basis sowohl im bäuerlich-ländlichen Hessen als auch im gewerblichen Sachsen, während die Deutschsozialen sich ebensosehr an die im Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband organisierten städtischen Angestellten anlehnen wie an den Bund der Landwirte. 12 7 Mittheilungen für die Vertrauensmänner der Deutsch-sozialen Reformpartei, Nr. 1, 16. 9. 1896: Stadt und Land im gemeinsamen Kampfe. Entwurf zu einem Vortrage von Dr. Th. Lindström. (BArch R 8004/2). 8 Wilhelm Giese: Ausblick, in: Antisemitisches Monatsblatt für die Mitglieder und Freunde der Deutsch-sozialen Reformpartei, Hartung 1898 (BArch R 8004/1). 9 Vgl. Fricke 1984, Bd. 2, S. 64 f.; Piefel 2004, S. 147, 168. Von Pudor vgl. neben verschiedenen Aufsätzen im Organ der Sächsischen Mittelstandsvereinigung (Der Fortschritt 2, 1908/09; 3, 1909/ 10) vor allem: Zur Sozialpolitik des Mittelstandes I-IV, Gautzsch b. Leipzig 1910 – 1911. Daß gerade der BdL den städtischen Mittelstand als Bundesgenossen umworben hat, obwohl in der Zoll- und Steuerpolitik unüberbrückbare Gegensätze bestehen, ist nach Emil Lederer damit zu erklären, daß dieser Verband „die Interessen der Landwirtschaft nicht so sehr direkt gegenüber den anderen Klassen (vertritt), sondern indirekt durch Anforderungen an den Staat“, womit, „wenigstens ideologisch, eine Verbindung und Zusammenarbeit mit andern Klassen möglich“ und, wie hinzuzufügen ist: auch nötig wird: Emil Lederer: Die wirtschaftlichen Organisationen, Leipzig und Berlin 1913, S. 120. 10 Vgl. Piefel 2004, S. 142, 159. 11 Vgl. Pötzsch 2000, S. 116 ff.; Schlotzhauer 1989, S. 84 ff. 12 Vgl. Levy 1975, S. 99 f.; Kasischke-Wurm 1997, S. 358.

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Soweit klassentheoretische Argumente für den Niedergang der völkischen Parteien ins Spiel gebracht werden können, sind es nicht gegensätzliche Klassenlagen, die in Frage kommen, sondern Gegensätze innerhalb der für beide Parteien typischen Klassenlage. Emil Lederer hat schon früh darauf hingewiesen, daß der Mittelstand sich von den anderen Hauptklassen der Gesellschaft durch eine geringere Einheitlichkeit unterscheidet, durch das Fehlen einer klaren Verankerung im Produktionsprozeß, die den Interessen von Unternehmern und Arbeiterschaft ihr bekanntes klares Profil verleiht. Zwar spielen produktionspolitische Momente auch im Mittelstand eine Rolle, etwa im Falle der Bauernschaft oder des Handwerks, doch wird die daraus resultierende Gemeinsamkeit durch den Gegensatz zwischen agrarischen Produzenten und städtischen Konsumenten überlagert. Der Kleinhandel andererseits empfängt sein Interessenprofil weder aus der Produktion noch aus der Konsumtion, sondern aus der Zirkulation und konzentriert seine Forderungen deshalb auf eine Ausschaltung der Konkurrenz auf diesem Gebiet, insbesondere der Warenhäuser. Mittelständische Politik, so Lederer, ist „dadurch von den übrigen Arten sozialer Politik unterschieden, daß sie ganz wahllos alle Produktionsprobleme – soweit sie mit ihren Interessen zusammentreffen – in sozialpolitische umwertet, ohne sie jedoch um einen festen Kern gruppieren zu können, der sich aus der wirtschaftlichen Funktion des Mittelstandes ergeben würde. So fehlt der Mittelstandspolitik das ökonomische Zentrum; sie kann nicht mit der Durchsetzung eines Prinzips arbeiten, weil sie ein den wirtschaftlichen Idealen ganz fremdes Ziel verfolgt“: die „soziale(n) Forderung auf Erhaltung einer möglichst großen Schicht mittelständischer, in ihrer dauernden Lebenshaltung gesicherter Existenzen.“ 13 Klar blickende Köpfe in den Reihen der Völkischen haben diese Problematik deutlich gesehen, wie zum Beispiel der frühere Schriftleiter der Deutschen Wacht, Emil Huhle, der schon 1896 eine Parteibildung aus dem Mittelstand heraus überhaupt für unmöglich erklärt, weil hier die Zahl der widerstreitenden Ansprüche am größten sei. 14 Neben diesem klassentheoretischen Grund für den Mißerfolg der Parteien müssen indes noch weitere Faktoren angeführt werden, die sich grob in interne und externe gliedern lassen. Unter den internen Ursachen fällt als erstes der Umstand ins Auge, daß die Parteibildung überstürzt erfolgt, als Resultat der Sorge einiger lokaler Führer, von ihren Rivalen überflügelt oder ausgespielt zu werden. Auch nach der formellen Parteikonstituierung hat man es daher mit einem Archipel lokaler Gesinnungsvereine zu tun, die sich nicht so sehr nach sachlichen Prinzipien als nach persönlichen Loyalitäten gruppieren und diese im übrigen auch leicht wechseln, etwa nach einem erfolgreichen rhetorischen Auftritt eines Mitglieds der Führungsriege. Bei aller Betonung der Gesinnung haben die völkischen Parteien von Anfang an auch einen Zug zur Patronage-Partei, für die nach der Parteitypologie Max Webers das Interesse charakteristisch ist, politische Macht (und damit auch: Stellen, Pfründe, Einfluß) für einen persönlichen Führer und

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Lederer 1913, a. a. O., S. 99, 98. (H. v. m., S. B.). Vgl. Emil Huhle: Das neue Reichstagswahlrecht, Leipzig 1896; [o. V.]: Der Antisemitismus als Mittelstandspartei, in: Abwehrblätter 6, 1896, Nr. 37. 14

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dessen Anhang zu erstreben. 15 Die Deutsche Reformpartei verdankt ihre Entstehung allein der Initiative des charismatischen Demagogen Otto Böckel und bleibt auch nach dessen Entfernung eine personalistische Gefolgschaftspartei, die sich nun um Böckels Nachfolger, Oswald Zimmermann, gruppiert. Auf dem ‚Charisma der Rede‘ (Max Weber) beruht auch die Position des Führers der Konkurrenzorganisation, Max Liebermann von Sonnenberg. Der Zusammenschluß mit den Deutschsozialen 1895 ist, wie Erwin Bauer mit dem bösen Blick des Renegaten erkannt hat, im Grunde nichts weiter als „die geschickte Mache zweier antisemitischer Cliquenführer“16 , nicht anders als die Trennung von 1900 und der erneute Zusammenschluß von 1914 zur Deutschvölkischen Partei. 17 Bemühungen, sich eine stärker bürokratische Struktur zu geben, scheitern an der notorischen Finanzknappheit, die auch durch die Schaffung eines eigens zur Einziehung und Verwaltung der Mitgliedsbeiträge eingerichteten Vereins „Quittungsmarke“ nicht überwunden werden. 18 Die Einkommensverhältnisse der Führer erlauben es nicht, die organisatorischen Defizite durch Honoratiorenverwaltung zu kompensieren, wie dies in den konservativen und liberalen Parteien möglich ist. Die völkischen Führer leben weniger für die Politik als von der Politik; ihr geringes ökonomisches Kapital läßt sie auf die Einnahmen angewiesen sein, die aus Diäten, journalistischer Arbeit oder Eintrittsgeldern für Agitationsveranstaltungen fließen, manchmal auch aus dubioseren Quellen, wie im Fall des oben zitierten Erwin Bauer, der sein angeschlagenes kleines Zeitungsimperium mit einem Kredit aus konservativen Kreisen wieder flott macht und im Gegenzug der konservativen Partei hilft, mehrere Wahlkreise in Sachsen zu erobern. 19 Von daher der in diesen Kreisen endemische Vorwurf des „Geschäftsantisemitismus“, von daher die ständigen Verdächtigungen hinsichtlich einer möglichen jüdischen 15

Vgl. Weber 1976, S. 167. Der Untergang der antisemitischen Parteien. Ein Mahnwort an die nationale Bewegung im Deutschen Reiche von einem alten Antisemiten, Leipzig 1895, S. 7. Das Pamphlet ist ohne Verfasserangabe erschienen. Nach der in diesen Dingen gut informierten Täglichen Rundschau ist der Text Erwin Bauer zuzuschreiben: vgl. Nr. 197 vom 23. 8.1895. Zu Bauer vgl. Anm. 19. 17 Vgl. Fricke 1984, Bd. 2, S. 559 ff. 18 Vgl. ders. 1981, S. 428. 19 Vgl. Herr Liebermann v. Sonnenberg als Parteiführer und Gesinnungsgenosse. Aufschlüsse über die Vorgänge in der deutsch-sozialen Bewegung Leipzigs. Von einigen Deutsch-Sozialen, Leipzig 1893, S. 108 ff. Der Baltendeutsche Erwin Bauer (1857–1901) gründet nach einer Tätigkeit als Redakteur in Reval, Hamburg und Berlin im Oktober 1890 das Zwanzigste Jahrhundert und übernimmt im Juli 1891 die Leitung der Neuen Deutschen Zeitung, des Organs des antisemitischen Deutschsozialen Reform-Vereins in Leipzig, das zunächst im Verlag von Theodor Fritsch erschienen ist. Bereits im folgenden Jahr erwirbt Bauer das Blatt und gründet einen eigenen Verlag, dem er Das Zwanzigste Jahrhundert hinzufügt. 1891 und 1892 hält er häufig Vorträge vor antisemitischen Versammlungen in Leipzig und anderen Orten Sachsens und rückt bis in den Landesvorstand der Deutsch-sozialen Partei Sachsens auf. Das erwähnte Darlehen scheint seine Geldschwierigkeiten nur kurzfristig behoben zu haben, denn schon im Frühjahr 1893 gibt er seine Rechte am Zwanzigsten Jahrhundert auf und stellt im folgenden Jahr die Neue Deutsche Zeitung ein. Zugleich verläßt er die Deutsch-soziale Partei, nicht, weil er vom Antisemitismus genug hat, sondern weil ihm die antisemitische Bewegung zu „links“ geworden ist. Seine verbleibenden Lebensjahre verbringt er als freier Schriftsteller und Journalist in Leipzig und Annaberg. Näher zu Bauer und zum Zwanzigsten Jahrhundert, das nach Bauer zunächst von Friedrich Lienhard und später von Heinrich Mann geleitet wird: Breuer 2004, S. 80 f. 16

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Herkunft, mit denen selbst Gesinnungsgenossen ihre Konkurrenten überziehen 20 , von daher der zähe Widerstand, auf den jeder Versuch einer Zentralisierung der Entscheidungsprozesse, Bürokratisierung der Organisation und Homogenisierung des äußeren Erscheinungsbildes stößt. Als beispielsweise Oswald Zimmermann 1907 den Reichsbund der Deutschen Reformpartei gründet, der an die Stelle der einzelnen Landesverbände treten soll, verweigern Brandenburg und Sachsen die Gefolgschaft und tragen damit maßgeblich zur Dekomposition der Partei bei. 21 Nicht einmal im Reichstag gelingt es, die Mitglieder der völkisch-antisemitischen Fraktion zu einer einheitlichen Stimmabgabe zu bewegen. Bei den insgesamt 80 Abstimmungen der Legislaturperiode von 1893–1898 votieren sie ganze 46 mal geschlossen. In der folgenden Periode von 1898 bis 1903 stimmen die Deutschreformer bei namentlichen Abstimmungen siebenmal gegen die Deutschsozialen, viermal sogar gegeneinander, ähnlich 1908 bei der Beratung über die Börsengesetznovelle und das Reichsvereinsgesetz. Als 1909 ihr eigener Antrag auf einen Einwanderungsstop für Juden zur Abstimmung kommt, fehlt mehr als die Hälfte der völkischen Abgeordneten. Die Angst um ihre Parteipfründe veranlaßt 1909 bei den Debatten über die Reichsfinanzreform zahlreiche Abgeordnete der Deutschsozialen wie der Deutschreformer, die 1907 auch als Repräsentanten von Konsumenteninteressen gewählt wurden, sich dem Druck des Bundes der Landwirte (BdL) zu beugen und für höhere Zölle und Steuern zu stimmen, die die städtischen Mittel- wie Unterschichten schwer treffen. Die Erbschaftssteuer dagegen, die auch das Grundeigentum belastet hätte, wird mit etlichen Stimmen der Völkischen zu Fall gebracht. Beide Parteien hat dies wohl mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder gekostet. 22 Als eine überstürzt zur Partei mutierte Gesinnungsgemeinschaft sind die Völkischen für parlamentarische Politik besonders schlecht gerüstet. Die Strategie, die ihnen zunächst die größten Erfolge beschert – die Mobilisierung nationaler, sozialer und demokratischer Sentiments sowie judenfeindlicher Ressentiments –, gerät nach den Wahlen an ihre Grenze, weil die radikalen Aspekte ihres Programms aus je unterschiedlichen Gründen ein parlamentarisches Zusammengehen mit anderen Parteien unmöglich machen. Die Absage an den ökonomischen Liberalismus und an die Judenemanzipation steht einer Kooperation mit den liberalen Parteien im Wege, die angestrebte Förderung des alten Mittelstands (wie natürlich ebenfalls der Antisemitismus) einer solchen mit den Sozialisten. Nicht einmal die Konservativen, die mit ihrem Tivoli-Programm von 1892 dem Radikalantisemitismus weit entgegenkommen, indem sie die Christlichkeit von Verwaltung und Schule fordern 23 , bieten sich als Bündnispartner an, konkurriert man doch in vielen Wahlkreisen um die gleichen Wählergruppen und erweckt die 20 Die Redaktion der Abwehrblätter hat sich ein grimmiges Vergnügen daraus gemacht, solche Verdächtigungen zu sammeln. Die Sachregister der frühen Jahrgänge führen unter dem Stichwort „Verjudung“ nahezu die gesamte völkische Prominenz auf. 21 Vgl. Piefel 2004, S. 160. 22 Vgl. Ludwig Curtius: Der politische Antisemitismus von 1907–1911, München 1911, S. 72 ff.; Friedrich Lorenzen: Die Antisemiten, Berlin 1912, S. 35, 48 ff.; Levy 1975, S. 170, 241 ff. 23 Dazu näher: Retallack 1988, S. 91 ff.; Bussiek 2002, S. 321 ff. Im ursprünglichen Programm-

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Herkunft vieler Wortführer der Völkischen aus dem liberalen oder demokratischen Spektrum Argwohn: ein Wilhelm Marr hat seine Laufbahn schließlich im radikaldemokratischen Jungen Deutschland begonnen und auch später immer wieder durchblicken lassen, daß in seinen Augen die „Antisemiten die rechtschaffensten ‚Fortschrittler‘“, wenn nicht gar Sozialisten sind 24 , ein Ernst Henrici als Versammlungsredner der linksliberalen Fortschrittspartei, der diese aus Unzufriedenheit mit ihrer Sozialpolitik verläßt und sich auf diesem Feld Lassalle annähert 25 ; andere Beispiele sind Oswald Zimmermann, der zunächst als Redakteur eines freisinnigen Blattes arbeitet, Otto Glagau, der der liberalen Nationalzeitung angehört, Otto Böckel, der nach Auskunft des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Singer seine Laufbahn in nächster Nähe der Sozialdemokratie beginnt, oder der spätere Mitarbeiter des Deutschen Tageblatts, Erich Schlaikjer, der für den Vorwärts Theaterkritiken schreibt und Mitglied von Naumanns Nationalsozialem Verein ist. 26 „Hinter dem vulgären Antisemitismus der Gegenwart“, so der Redakteur der konservativen Badischen Landpost, „lauert das Gorgonenhaupt der sozialistisch-demokratischen Revolution“. 27 Die Erkenntnis, daß rebus sic stantibus ein zentrales Ziel der parlamentarischen Aktivität: die Rücknahme der Emanzipation auf gesetzlichem Wege, unerreichbar ist, stärkt jene Kräfte, die nach Bündnispartnern suchen und dafür Abstriche von der Programmatik hinzunehmen bereit sind. Besonders die Deutschsozialen um Liebermann von Sonnenberg, die ihre Mandate vielfach der Unterstützung durch den BdL verdanken, setzen darauf, die Differenzen gegenüber den Konservativen zu verringern 28 und drängen deshalb alle diejenigen ins Abseits, die sich diesem Kurs verweigern. Das trifft in erster Linie die populären Demagogen vom Schlage Hermann Ahlwardts und Otto Böckels, die schon nach kurzer Zeit der neu gegründeten Einheitspartei den Rücken kehren und die Antisemitische Volkspartei reaktivieren, deren Programm von dem inzwischen zu den Deutschkonservativen übergelaufenen Erwin Bauer als „eine Wiederaufwärmung der ältesten Forderungen der radicalsten Demokratien, die die Weltentwurf ist noch expliziter von der „Ausschließung der Juden von allen obrigkeitlichen Aemtern und von der Erziehung und dem Unterricht christlicher Kinder“ die Rede: ebd., S. 331. 24 Vgl. Zimmermann 1986, S. 15 ff. Wilhelm Marr: Warum die Antisemiten meistens konservativ sind, in: AC 4, 1889, Nr. 46; ders.: Realpolitisch, in: AC 1, 1885/86, Nr. 3. Der hier gemeinte Sozialismus ist natürlich der „arische“, dessen ‚größte Feinde‘ im großstädtischen Arbeitertum und in der „semitischen“ Sozialdemokratie zu suchen sind: vgl. die Hinweise auf entsprechende Äußerungen Marrs in dem der o. g. Nr. 46 der AC beiliegenden Flugblatt Nr. 17. 25 Vgl. Hoffmann 1998, S. 249, 12. Die von Henrici 1881 projektierte „Partei der Zukunft“ soll die Lücke zwischen Konservativen und Sozialdemokraten ausfüllen und offensichtlich von den einen so viel übernehmen wie von den anderen: vgl. Ernst Henrici: Wie hat sich die Bevölkerung Berlins bei den bevorstehenden Reichstagswahlen zu verhalten? Berlin 1881, S. 8. 26 Vgl. Piefel 2004, S. 69; Weiland 2004, S. 43 f.; Abwehrblätter 2, 1892, Nr. 4; 38, 1928, Nr. 3–4. Noch der spätere Gauleiter von Franken, Julius Streicher, beginnt seine politische Laufbahn vor dem Ersten Weltkrieg als liberaldemokratischer Junglehrer, der sich im ‚Fortschrittlichen Volksverein, Verein Freisinn‘ gegen die ‚Zentrumsherrschaft‘ und den für sie typischen ‚Mißbrauch der Religion für politische Zwecke‘ engagiert: vgl. Ruault 2006, S. 160. 27 Adam Röder: Christlich-konservativ. Ein Mahnwort an die konservativen Kreise unseres Volkes, Leipzig 1894. Zit. n. Wolf 1995, S. 58 f. 28 Vgl. Abwehrblätter 9, 1899, Nr. 37; Levy 1975, S. 202 ff. Zu Liebermann vgl. Weidemann 1993.

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geschichte überhaupt erlebt hat“, bezeichnet wird: in ihm würden nicht nur die Mediatisierung der Fürsten und die Einführung der parlamentarischen, plebiszitär ergänzten Demokratie gefordert, sondern auch die religiöse Neutralität des Staates, die Zertrümmerung des auf Gewalttiteln beruhenden Großgrundbesitzes und weitere Maßnahmen, die der Gedankenwelt Eugen Dührings entsprungen seien. 29 Es trifft aber auch prominente Ideologen wie Theodor Fritsch, der ab 1892 mit einer Serie von kirchenfeindlichen und Dühringfreundlichen Attacken gegen ‚Pfaffen und Juden‘ den Graben zwischen sich und der Partei vertieft und darüber nicht nur seine Parteiämter verliert, sondern auch die Deutsch-Sozialen Blätter, das Nachfolgeorgan der Antisemitischen Correspondenz, das er 1894 an Liebermann von Sonnenberg abtreten muß. 30 Ihm folgen Ottomar Beta und Willibald Hentschel, der sich schon 1893 von der Fusionierung des deutschsozialen Gedankens mit dem Bund der Landwirte angewidert zeigt 31 , sowie vor allem Paul Förster, der sich zu Beginn der 90er Jahre mehr und mehr an Hermann Ahlwardt angenähert hat und 1894 mit einem Programmentwurf für die Deutsch-soziale Reformpartei aufwartet, von dem Erwin Bauer meint, er atme den Geist des sozialdemokratischen Zukunftsstaates. 32 Das geht natürlich erheblich an der Wahrheit vorbei, da die von Paul Förster anvisierte Ordnung durchaus eine Eigentümer-Marktgesellschaft ist, die ihren Schwerpunkt im alten Mittelstand hat. Es ist aber auch nicht völlig aus der Luft gegriffen, da Förster ein allgemeines Recht auf Arbeit, eine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, die Verstaatlichung aller Bergwerke und großen Betriebe und die Zusammenfassung aller Lohnarbeiter in freiwilligen Erwerbsgenossenschaften postuliert und zur Finanzierung seines sozialen Programms umfangreiche Enteignungen privaten Kapitals vorschlägt – selbstverständlich, wie man in diesem Fall nicht lange erläutern muß, nur solchen Kapitals, das sich in jüdischen Händen befindet. 33 Da derartige Ideen bei den Deutschsozialen nicht mehrheitsfähig sind, spielt Förster schon 1894 mit dem Gedanken des Parteiaustritts 34, doch fügt er sich zunächst und trägt die Fusion mit. Erst 1897 29 Vgl. Der Untergang der antisemitischen Parteien, a. a. O., S. 32 ff. Zum Programm der antisemitischen Volkspartei vgl. Abwehrblätter 5, 1895, Nrn. 23 und 24. Was die behauptete Nähe zu Dühring angeht, so ist sie in der Tat sowohl für Böckel als auch für Ahlwardt belegbar: vgl. ebd. 4, 1894, Nrn. 28 und 46. Bei Dühring selbst und den im Bund der Socialitären organisierten Dühringianern stößt dies allerdings nicht unbedingt auf Gegenliebe, sind diesen doch die Parteiantisemiten allesamt zu fortschrittsfeindlich, zu mittelstandsfreundlich, zu deutschnational und vor allem: zu christlich. Vgl. ebd. sowie Nr. 29. 30 Vgl. Theodor Fritsch: Zum Stöcker’schen Standpunkt, in: AC 7, 1892, Nrn. 222–226; ders.: Zur religiösen Frage, in: AC 8, 1893, Nr. 234; Ferrari Zumbini 2003, S. 376 ff.; Piefel 2004, S. 98 ff. 31 Vgl. Willibald Hentschel: Die Stellung der Deutsch-Sozialen zu den politischen Parteien III, in: AC 8, 1893, Nr. 257; Abwehrblätter 3, 1893, Nr. 31; zu Betas Kritik an den Konservativen, die auch den Agrarismus, die Hochschutzzollpolitik und die Unfähigkeit einschließt, sich zu einer modernen Volkspartei nach dem Vorbild der englischen Tories umzuwandeln vgl. ebd. 23, 1913, Nr. 15/16; ders.: Deutschlands Verjüngung. Zur Theorie und Geschichte der Reform des Bodenund Creditrechts, Berlin 1901, S. 207, 217, 336 u. ö. 32 Vgl. Der Untergang der antisemitischen Parteien, a. a. O., S. 22. 33 Vgl. Speit 2001, S. 29 f. 34 Vgl. „Germanicus“: Aus der antisemitischen Bewegung, in: Das Zwanzigste Jahrhundert 4.1, 1894, S. 182–185.

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wird er die Reichstagsfraktion der DSRP verlassen, weil sie sich, wie er in einem Brief an Zimmermann schreibt, zu sehr am Mittelstand orientiere. 35 Nach und nach verschwinden auf diese Weise wichtige Aktivisten der ersten Stunde, denen die völkischen Parteien ihre Organisation und nicht zuletzt auch einige Wahlerfolge verdanken. 36 Der Versuch, sich durch Marginalisierung der Intransigenten bündnisfähig zu machen, bringt den völkischen Parteien freilich nicht die erhofften Früchte ein, da sich noch in den 90er Jahren die politischen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen ändern, womit wir bei den externen Ursachen des Niedergangs sind. Auf politischer Ebene ist es von erheblicher Bedeutung, daß 1895 Konservative, Nationalliberale und Fortschritt in Sachsen die Einführung des Dreiklassenwahlrechts durchsetzen und damit die Mobilisierungsfähigkeit der Völkischen stark beeinträchtigen. Innerhalb weniger Jahre verringert sich die Zahl der Reformvereine in Sachsen um zwei Drittel, die Landtagsmandate gehen verloren und auch bei den Reichstagswahlen müssen Niederlagen eingesteckt werden: 1898 können die Reformer nur mehr drei von den 1893 gewonnenen Mandaten bestätigen, 1903 gehen zwei weitere Sitze an die SPD. Als 1905 auch noch in Dresden, der Hochburg der Deutschreformer, das kommunale Wahlrecht in ein Berufswahlrecht umgewandelt wird, setzt ein rapider Verfall der DRP ein, der durch den Autoritätverlust der Führung weiter beschleunigt wird. Anfang 1914 soll die Partei nur noch 3000 Mitglieder besessen haben.37 Einer derjenigen, die diese Entwicklung schon früh erkennen und sich nach alternativen Strategien umsehen, ist Theodor Fritsch. Die seit der Jahrhundertwende von ihm präferierte Lösung besteht darin, es erneut über die Vereinsebene zu versuchen und die Interessen des Mittelstands nicht partei-, sondern verbandspolitisch zu aggregieren – jenes Mittelstands, dem jeder zugehöre, „der nicht bloßer Tagelöhner oder mehrfacher Millionär ist“. 38 Für diese Ziele engagiert er sich 35 Vgl. Abwehrblätter 7, 1897, Nrn. 27, 38; Mittheilungen für die Vertrauensmänner der Deutsch-sozialen Reform-Partei, Nr. 5, 1. 9. 1897 (BArch, R 8004/1); Riquarts 1975, S. 106, 215 (hier verwechselt mit Bernhard Förster). Sein weiterer Weg führt Paul Förster in den Deutschen Volksbund Hans von Moschs, der aus den Resten der seinerzeit von Böckel und Ahlwardt gegründeten Antisemitischen Volkspartei hervorgeht und wie diese die Spitze sowohl gegen die Juden als auch gegen Junkertum und Großgrundbesitz kehrt (vgl. Abwehrblätter 6, 1896, Nr. 45; 10, 1900, Nrn. 2, 40). Als sich dieser Verband, bei dem sich alsbald auch Ahlwardt und Böckel wieder einfinden (vgl. ebd. 9, 1899, Nr. 27; 12, 1902, Nr. 2), der wieder selbständig gewordenen Deutschen Reformpartei anschließt (1907), gerät Förster in einen Streit mit dem skandalumwitterten Wilhelm Bruhn über eine Reichstagskandidatur, der noch im gleichen Jahr zu seinem, Försters, Ausschluß sowohl aus der Partei als auch aus dem Volksbund führt: vgl. Abwehrblätter 17, 1907, Nr. 9; Curtius 1911, a. a. O., S. 44 f. 36 Mit Richard Levy könnte man mit Blick auf diese Gruppe von „revolutionary antisemites“ sprechen, würde dieser Begriff dort nicht weiter gefaßt als es hier geschieht, nämlich auch Fundamentalisten wie Lagarde oder Solitäre wie Dühring einschließend (Levy 1975, S. 29). Die Zuordnung Paul Försters zum Gegentypus der „conventional antisemites“ (ebd., S. 31) scheint mir lediglich für die Anfangszeit zuzutreffen. 37 Vgl. Piefel 2004, S. 120, 134, 148; Scheil 1999, S. 112; Fricke 1984, Bd. 2, S. 66. Die Deutschsozialen haben dagegen ihren Bestand besser halten können: er beträgt 1914 immerhin noch 11000 Mitglieder: vgl. ebd., S. 559. 38 Theodor Fritsch: Handwerker-Tag und Mittelstands-Partei, in: Hammer 3, 1904, H. 55. Fritschs Mittelstand umfaßt in diesem Sinne „außer den Handwerk- und Gewerbetreibenden

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sowohl publizistisch in seiner neuen Zeitschrift Hammer 39 als auch praktisch-organisatorisch: 1905 startet er eine Initiative zur Gründung einer Mittelstandsvereinigung für das Königreich Sachsen, die er bis 1914 als erster Vorsitzender leitet. 40 Die Akzentuierung der Interessenpolitik erlaubt es ihm nun, flexibler mit den „Konservativen“ umzugehen, indem er auf verbandspolitischer Ebene mit ihnen zusammenarbeitet, während er auf parteipolitischer Ebene weiterhin auf Abstand hält. 41 So öffnet er dort verankerten Mittelstandspolitikern wie Ludwig Fahrenbach den Hammer und agitiert gemeinsam mit ihm für einen reichsweiten Zusammenschluß aller Angehörigen des gewerblichen Mittelstands zu einer großen Zentralorganisation. 42 Auf ihren Appell hin findet im September 1911 in Dresden der Erste Reichsdeutsche Mittelstandstag statt, auf dem sich der Reichsdeutsche Mittelstandsverband konstituiert, zu dessen Hauptforderungen die Beseitigung des § 100q der Gewerbeordnung (Verbot der Preisfestsetzung durch Zwangsinnungen), gesetzliche Maßnahmen gegen Warenhäuser, Konsumvereine und Wandergewerbe, Schutz gegen gewerkschaftlichen ‚Streikterrorismus‘ und Boykott sowie eine Einschränkung der ‚krankmachenden Sozialpolitik‘ zugunsten der wirtschaftlich Unselbständigen gehören.43 Unter den ihm angegliederten Organisationen, die 1914 nach eigenen Angaben 630 000 Mitglieder zählen, ist die Sächsische Mittelstandsvereinigung mit über 130 000 Mitgliedern die stärkste, und sie ist es denn auch, die den Vorsitzenden (Felix Höhne), den Geschäftsführer (Ludwig Fahrenbach) und einen Großteil der Mitglieder des Geschäftsführenden Ausschusses stellt, darunter: Theodor Fritsch. 44 Was unter schichtspezifischen Ge-

noch Kaufleute, Beamte, Lehrer, Techniker, Ärzte und sonstige gelehrte Stände“, ferner die Landwirte. „Auch der geschulte Fabrik-Arbeiter wie der Handwerks-Geselle dürfen sich dazu zählen. Sie haben alle einen gemeinsamen Gegner zu bekämpfen: das Alles überwuchernde internationale Groß-Kapital – den schlimmsten Feind der Unabhängigkeit aller Völker“ (ebd.). 39 Vgl. dort u. a. die folgenden Texte: Handwerks-Sorgen (1, 1902, H. 4); Vom wirtschaftlichen Kampfe (1, 1902, H. 8); Warum der gewerbliche Mittelstand ruiniert wird (2, 1903, H. 21); Die Trusts (2, 1903, H. 27); Die Großbetriebe in Sorgen (3, 1904, H. 37); Der geschmähte Kleinbetrieb (3, 1904, H. 46); Berechtigter und unberechtigter Großbetrieb (3, 1904, H. 49); Mittelstand oder Groß-Kapital? (3, 1904, H. 53); Warenhäuser und Mittelstand (3, 1904, H. 60); Mittelstands-Politik (4, 1905, H. 61); Zur Mittelstands-Frage (4, 1905, H. 79); Der Mittelstand und seine Ziele (4, 1905, H. 84); Zur wirtschaftlichen Lage des Handwerks (5, 1906, H. 86); Kapital-Herrschaft oder Monarchie (5, 1906, H. 86, 90); Mittelständisches (6, 1907, H. 121); Die Mittelstands-Bewegung (7, 1908, H. 142); Vom Mittelstands-Tage (7, 1908, H. 152); Je mehr Kapital, desto mehr Schulden (10, 1911, H. 211); Der organische Staatsgedanke und der Mittelstand (10, 1911, H. 224, 225); Die Tricks der Warenhäuser (12, 1913, H. 261); Warenhäuser und öffentliche Sittlichkeit (12, 1913, H. 262); Gemeinschafts-Arbeit der Erwerbs-Stände (12, 1913, H. 270). 40 Vgl. Stegmann 1970, S. 143 ff.; Gellately 1974, S. 163 ff.; Ferrari Zumbini 2003, S. 389 ff.; Piefel 2004, S. 152. 41 Vgl. Ferrari Zumbini 2003, S. 392. 42 Ludwig Fahrenbach ist Redakteur der konservativen Politischen Nachrichten und Vertrauensmann des Führers der sächsischen Konservativen, Mehnert: vgl. Stegmann 1970, S. 46. Von ihm im Hammer u. a.: Das Verhalten der sächsischen Parteien zur Mittelstands-Bewegung (5, 1906, H. 94); Sind die Mittelstands-Gruppen organisationsfähig? (ebd., H. 97); Der sächsische Mittelstand bei den Wahlen (6, 1907, H. 113); Städtischer Mittelstand und Wahlrechts-Reform (6, 1907, H. 125); Mittelständisches aus Sachsen (7, 1908, H. 138). 43 Vgl. Lederer 1913, a. a. O., S. 109 f. 44 Vgl. Stegmann 1970, S. 252 ff.; Fricke 1985, Bd. 3, S. 657 ff.; Gellately 1974, S. 179 ff.

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sichtspunkten ein Erfolg sein mag, ist es freilich aus der Perspektive der völkischen Ideologie nicht gleichermaßen: denn Fritsch muß, um seinen Einfluß nicht zu gefährden, in seinen Interventionen innerhalb der Verbände nicht nur seine Polemik gegen die Religion im allgemeinen und das Judentum im besonderen temperieren, er muß darüber hinaus auch seine Kritik am Großkapital relativieren und schärfer zwischen „gutem“, nämlich produktivem Kapital und „schlimmem“, nämlich spekulativem Kapital unterscheiden. 45 Im Kern ähnlich ergeht es den Völkischen in wichtigen Segmenten des neuen Mittelstands. Auch hier verdankt ein Interessenverband wie der 1893 gegründete Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband (DHV) seine Entstehung der Initiative antisemitischer Agitatoren wie Friedrich Raab und Johannes Irrwahn und kooperiert sogar lange Jahre eng mit der DSP. Je größer der Verband jedoch wird, desto stärker wird der Druck, sich aus dieser Verbindung zu lösen und sich parteipolitisch neutral zu erklären. Die seit 1905 in größerer Zahl in den Verband strebenden neuen Mitglieder legen „keinen Wert auf antisemitische Parteipolitik, sondern auf die Sozialpolitik“, so daß der bis dahin dominierenden völkisch-antisemitischen Richtung „eine mehr gewerkschaftlich ausgerichtete Fraktion“ entgegentritt. Diese übernimmt 1911 die Führung des Verbandes und reduziert dessen Beziehungen sowohl zu den völkischen Parteien wie zu den Gesinnungsvereinen mit stark antisemitischer Tendenz, denen er als körperschaftliches Mitglied angehört hat. 46 Nicht wenig dürfte zu dieser Distanzierung beigetragen haben, daß prominente Völkische die beiden Teuerungswellen für tierische Produkte von 1905/06 und 1910 durchaus nicht zum Anlaß nehmen, für die Interessen der städtischen Konsumenten einzutreten, vielmehr pauschal den Vorrang der Produktion verkünden und die Schuld an den hohen Preisen dem Handel, insbesondere dem angeblich jüdischen „Parasitenhandel“ (Pudor), zuzuschieben versuchen. 47 Auch im agrarischen Bereich zeigt sich, daß die Wahlerfolge der Völkischen in 45 Vgl. Ferrari Zumbini 2003, S. 392 f.; Gellately 1974, S. 188. Theodor Fritsch: Gutes und schlimmes Kapital, in: Hammer 13, 1914, H. 280, 281. 46 Vgl. Hamel 1966, S. 100 ff., 119 ff. 47 Vgl. Lorenzen 1912, a. a. O., S. 37. Zur Ablenkungsstrategie vgl. die ungezeichneten, wohl von Fritsch stammenden Artikel im Hammer: Wer treibt Fleischwucher (4, 1905, H. 77); Die heimlichen Fäden der Fleischnot (ebd., H. 80); Wer sind die Fleisch-Wucherer (5, 1906, H. 88); Fleischnötliches (ebd., H. 89). Offen für den BdL und die Interessen der agrarischen Produzenten hat ein weiterer Hammer-Autor Partei ergriffen, Heinrich Pudor: Zur Sozialpolitik des Mittelstandes I, Gautzsch b. Leipzig 1910, S. 6 u. ö.; ders.: Landwirtschaft und Judentum, Berlin 1913. Zu Pudor vgl. weiter unten, S. 84. Daß diese Strategie alles andere als unumstritten ist, zeigt eine in der Deutschen Reform erschienene Kritik eines „alten Gesinnungsgenossen, der viele Jahre den Vorständen von Berliner Reformvereinen angehört hat“. Bei den Beamten und Lehrern, ja den Gebildeten überhaupt schade es den völkischen Parteien, „daß ihre Politik allzusehr in das Kielwasser des Bundes der Landwirte geraten ist. Die Beamten- und Lehrerschaft, unter der Lebensmittelteuerung als Nur-Konsumenten schwer leidend, hat nun einmal für extreme agrarische Wünsche gar kein Verständnis. Selbst in Berlin – ich spreche aus eigener Erfahrung –, wo sie früher traditionell aus gesunder völkischer Abneigung gegen den verjüdelten Freisinn antisemitisch und konservativ wählten, gehen die Beamten mehr und mehr zu den linksstehenden Parteien über […] Die Entwicklung zum Industriestaat schreitet fort, das platte Land geht zurück. Schon deshalb hat eine Agrarpartei keine Zukunft …“ (zit. n. Abwehrblätter 20, 1910, Nr. 37).

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den späten 80er und frühen 90er Jahren situativ bedingt waren und sich einer Kette mehr oder weniger kontingenter Faktoren verdankten: dem zu Beginn der 90er Jahre einsetzenden Preisverfall für agrarische Produkte, dem „Neuen Kurs“ des Reichskanzlers Caprivi, die Kornzölle beim Abschluß neuer Handelsverträge zu senken, dem Fehlen agrarischer Interessenverbände und der offenkundigen Unfähigkeit der etablierten Honoratiorenparteien, zumal der Deutschkonservativen, den sich dagegen auf dem Land erhebenden Proteststurm aufzufangen. Daraus war eine einmalige und in dieser Weise nicht prolongierbare Konstellation entstanden, in der sich die traditionellen Parteibindungen der agrarischen, aus Bauern und Landarbeitern zusammengesetzten Wählerschaft auflösten und neuen Optionen wichen, die in bestimmten Regionen wie dem kleinbäuerlichen Hessen oder dem Südwesten den völkischen Parteien oder unabhängigen Bauernbünden zugute kamen. 48 Als sich dann jedoch, etwa ab 1897, die Preisentwicklung wieder umkehrt und der Neue Kurs durch eine Rückkehr zum Agrarprotektionismus abgelöst wird, ist die Stunde der Protestparteien schon wieder vorüber. 49 Mit der Gründung des Bundes der Landwirte (BdL) 1893 entsteht auch auf dem Land eine mächtige pressure group, die mit Erfolg die Interessen ihrer Klientel organisiert, von der Beratung in allen Angelegenheiten, die mit Versicherung, Kredit, Rechtsfragen und dergleichen zu tun haben, über den günstigen Einkauf von Saatgut, Dünger, Viehfutter und landwirtschaftliche Maschinen bis hin zum Abschluß vorteilhafter Versicherungen 50 , und die damit vor allem die kleineren Bauern gewinnt, die in Massen diesem Verband zuströmen. Von den 328000 Mitgliedern, die der BdL 1913 zählt, stammt die große Mehrheit, 85–89 %, aus dem Kleinbauerntum. 51 Gewiß spielt auch in diesem Zweckverein der völkische Antisemitismus eine erhebliche Rolle, wie ein Blick auf das Führungspersonal, die Mitgliedschaftregeln und die Verbandspublizistik zeigt. 52 Zugleich aber wird er insofern domestiziert, als er in die interessenpolitische Agenda eingefügt und zweckrationalen Erwägungen subordiniert wird. 53 Auch der Nationalismus steht hinter der agrarischen Produzentenpolitik durchaus an zweiter Stelle. 54 48

Vgl. Nonn 1996, S. 111. Vgl. ebd., S. 25 f., 295 ff. 50 Vgl. Puhle 1975, S. 50 ff.; Hunt 1975, S. 518. 51 Vgl. Eley 1991, S. 182. 52 Gemäß § 4 der Bundessatzungen kann nur Mitglied werden, wer einem christlichen Bekenntnis angehört: vgl. Weidemann 1993, S. 131. Zu den Radikalantisemiten in der Führungsriege zählen vor allem Georg Oertel, der Chefredakteur der zum BdL gehörenden Deutschen Tageszeitung, und Diederich Hahn. Otto Böckel arbeitet von 1897 bis 1899 als Angestellter in der Hauptverwaltung des BdL. Liebermann von Sonnenberg, ebenfalls Mitglied, hält von 1895 bis 1911 regelmäßig Reden auf den Generalversammlungen des Bundes sowie auf vielen Regionalversammlungen: vgl. Puhle 1975, S. 129 ff. 53 Das räumt selbst Hans-Jürgen Puhle ein, der sonst dazu tendiert, das Maß der völkisch-antisemitischen Durchdringung der „konservativen“ Parteien und Verbände sehr hoch anzusetzen. Vgl. ders. 1975, S. 135 f.; ähnlich Levy 1975, S. 89 mit Kritik an Puhle, ebd., S. 305. Auch die jüngste Untersuchung zum BdL kommt zu dem Schluß, „daß der Antisemitismus innerhalb seiner Ideologie zwar fest verwurzelt war, dabei aber nie die Rolle eines vorherrschenden Ideologieelementes einnahm“: Kimmel 2001, S. 9. 54 Vgl. Nonn 1996, S. 301. 49

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Wie stark das Gewicht der materiellen Interessen gegenüber dem doktrinären Überbau ist, zeigt sich nirgendwo deutlicher als im Kernland des völkisch-antisemitischen Agrarprotests, in Oberhessen. Als sich nach den Reichstagswahlen von 1893 heraustellt, daß die finanziellen Ressourcen des von Böckel initiierten Mitteldeutschen Bauernvereins nicht wie vorgesehen für günstige Kredite und preiswertes Viehfutter eingesetzt worden sind, sondern für Wahlkampfzwecke 55, zudem auch Vorwürfe laut werden, Böckel habe seine Schulden zum Teil aus Mitgliedsbeiträgen bezahlt, zwingt man den hessischen Bauernkönig im September 1894, vom Amt des Vorsitzenden zurückzutreten und aus dem Verein auszuscheiden. Unter seinen Nachfolgern Köhler und Hirschel werden die engen Verbindungen zur Reformpartei gelockert und die wirtschaftlich-sozialen Zielsetzungen entschieden in den Vordergrund geschoben. Im Frühjahr 1904 schließt sich der inzwischen in den Hessischen Bauernbund umbenannte Verein dem BdL an. 56 Die ältere Forschung hat den BdL vor allem als „Kampforganisation des ostelbischen Großgrundbesitzes“ (Puhle) gesehen, mit deren Hilfe eine vorindustrielle Elite die Bauern manipuliert und für reaktionäre Zwecke eingespannt habe. Daran ist zwar richtig, daß in den Führungsrängen dieses Verbandes mit den Junkern eine Gruppe dominiert, deren gesellschaftliche Position nach wie vor durch ständische Qualitäten mitbedingt ist. 57 Soweit indes unter reaktionär eine Politik verstanden wird, die den angeblichen Fortschritt zu Kapitalismus und Industrialisierung verhindern will, ist diese Vokabel unangebracht, handelt es sich doch bei den Junkern um eine Gruppe, die in ökonomischer Hinsicht schon seit längerem durch die Existenzbedingungen einer kapitalistischen Grundrentnerschaft in einer zum Weltmarkt offenen Eigentümer-Marktgesellschaft determiniert ist; und auch von Manipulation wird man schlecht sprechen können, insofern die Junker ihre besonderen Interessen nur in dem Maße durchzusetzen vermögen, in dem sie sich auch der Interessen der Viehzucht oder Mischwirtschaft betreibenden Klein- und Mittelbauern Westelbiens und Süddeutschlands annehmen. 58 Wesentlich bedingt ist ihre Führungsrolle dabei durch die Bedeutung, die ihnen als broker im Prozeß der Reallokation staatlicher Ressourcen zuwächst. Die Nähe zur preußischen Regierung wie auch das beachtliche Obstruktionspotential, über das die Agrarier in den Parlamenten verfügen, ermöglichen eine ebenso konsequente wie effektive Interessenwahrnehmung, die der Landwirtschaft als ganzer und mit ihr auch den landwirtschaftlich geprägten Regionen zugute kommt – in Gestalt einer Zollpolitik, die allen agrarischen Produzenten Gewinne zu Lasten der städtischen Verbraucher beschert; einer Steuerpolitik, die dank der Reformen von 1890–1893 die Landgemeinden und Gutsbezirke entlastet und daran auch die einkommensschwachen Steuerzahler partizipieren läßt; einer Regionalförderung, die das wirtschaftlich zurückgebliebene Ostelbien im Eisenbahn- und Straßenbau am Westen vorbeiziehen läßt, darüber hinaus Meliorationen, ein 55 56 57 58

Vgl. Schlotzhauer 1989 (a), S. 180. Vgl. ebd., S. 187 ff. Vgl. Schiller 2003, S. 347, 433, 496 f. u. ö. Vgl. Nonn 1996, S. 298.

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landwirtschaftliches Fortbildungswesen oder den Bau von Kreiskrankenhäusern und -bibliotheken finanziert; nicht zuletzt auch in gezielten Subventionen, zum Beispiel für den Einsatz künstlicher Dünger, für den Zuckerrübenanbau und für ländliche Brennereien, von denen auch die Bauernschaft profitiert. 59 Im Gegenzug für die erfolgreiche Akquisition staatlicher Gelder und Infrastrukturprojekte leisten die Bauern den regierungsnahen Parteien Gefolgschaft bei den Landtagsund Reichstagswahlen und tragen so das Ihre dazu bei, daß das horizontale Schichtungsgefüge durch vertikale Interessenidentitäten und -loyalitäten überlagert wird. 60 Anstelle der Konfrontation zwischen Bauern und Großbesitz, wie sie für die Zeit der Agrarreformen und noch für die des preußischen Heereskonflikts typisch war, „traten ein Krisenbewußtsein der Landwirtschaft angesichts des Aufstiegs der Industriegesellschaft und das gemeinsame Interesse von Bauern wie Gutsbesitzern an einer ihre Einkommen politisch garantierenden Marktordnung. In bezug auf die Entwicklung des ländlichen Raums stimmten Bauern wie Großgrundbesitzer darin überein, die Position des eigenen Kreises durch Investitionen in die Infrastruktur und damit in die Vermarktungsbedingungen ihrer Produkte zu verbessern, dies aber möglichst weitgehend durch finanzielle Ressourcen des Staates oder der Provinz zu bewerkstelligen.“ 61 Infolge der hier nur knapp angedeuteten Vergesellschaftungs- und Vergemeinschaftungsprozesse wächst der agrarische Bereich zu einer Einheit zusammen, die aufgrund ihrer gemeinsamen Interessenlage, ihres hohen Maßes an sozialer Schließung und ihrer klaren regionalen Begrenzung auf den protestantischen, nördlichen Teil Deutschlands als „Milieu“ angesprochen werden kann. 62 M. Rainer Lepsius, der diesen Begriff vor längerer Zeit ins Spiel gebracht hat, hat darin primär eine „sozialmoralische“ Kategorie gesehen und damit das Ausmaß unterschätzt, in dem es sich um ein Zwischengebilde zwischen dem gesellschaftlichen Schichtungsgefüge und dem Staat handelt: das agrarische Milieu ist im Gegensatz zum katholischen wie auch sozialistischen Milieu weit weniger eine soziale beziehungsweise sozialmoralische als vielmehr eine soziopolitische Größe, an deren Herstellung die staatliche Bürokratie, nicht zuletzt dank der Einrichtung öffentlich-rechtlicher landwirtschaftlicher Berufskorporationen, maßgeblichen Anteil hat. 63 Er hat es darüber hinaus pauschal als „konservatives Milieu“ qualifiziert und damit die Vorstellung erweckt, als stünde es en bloc unter der Kuratel der 59 Vgl. Wagner 2004, S. 269 f.; ders. 2005, S. 391, 393, 414 f. Speziell zur Zollpolitik vgl. Aldenhoff-Hübinger 2002, S. 181; zur Steuerpolitik Pyta 1994; Thier 1999, S. 623 ff. 60 Vgl. Wehler 1995, S. 833 f.; Nipperdey 1990, S. 205 f., 214. 61 Wagner 2005, S. 451. 62 Zum Milieubegriff vgl. Lepsius 1993, S. 25 ff. sowie weiter unten im Abschnitt Soziologische Exkurse. Während Lepsius die Entstehung des „konservativ-agrarischen“ Milieus schon für das frühe Kaiserreich ansetzt (ebd., S. 32 ff.), plädieren andere erst für einen späteren Zeitpunkt, so etwa Bösch 2002 für die Zeit nach 1918. Die Untersuchungen von Nonn, der den Milieubegriff nicht explizit verwendet, machen das Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg wahrscheinlich: vgl. Nonn 1996, besonders S. 295 ff. 63 Daß die 1894 in Preußen geschaffenen Landwirtschaftskammern durch ihre Einbindung der ländlichen Besitzklasse in ein korporatives Behördenmodell wesentlich zur staatlichen „Domestizierung der ländlichen Honoratiorenkultur“ beigetragen haben, zeigt Steinbeck 1997 (S. 96). Wegen der starken Präsenz von Mitgliedern der Deutschkonservativen Partei und des BdL in diesen

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konservativen Partei beziehungsweise der beiden konservativen Parteien des Kaiserreichs, der Deutschkonservativen und der Freikonservativen Partei. Abgesehen davon, daß am Konservatismus dieser Parteien erhebliche Zweifel bestehen, setzt sich die Koppelung von ‚konservativ‘ und ‚agrarisch‘ über die Tatsache hinweg, daß die konservativen Parteien in den letzten vier Reichstagswahlen des Kaiserreichs nur einen Wähleranteil von 12–13 % für sich zu gewinnen vermögen 64 – ein Anteil, der zwar in den Regionen mit überwiegend landwirtschaftlicher Bevölkerung deutlich höher liegt, jedoch nicht so hoch ist, daß man von einem Vertretungsmonopol sprechen könnte. In den Gebieten des agrarischen und protestantischen Deutschland gehen zahlreiche Wahlkreise an nationalliberale, bisweilen sogar linksliberale Kandidaten (Schleswig-Holstein); und wenngleich es richtig ist, daß die Liberalen sich nicht primär als Sachwalter agrarischer Interessen verstehen, sich mit dem BdL bisweilen sogar scharfe Fehden liefern, ist es doch auch richtig, daß es immer wieder zu Wahlbündnissen und zur Zusammenarbeit in den Parlamenten kommt. Von den 54 Mitgliedern der nationalliberalen Reichstagsfraktion nach den Wahlen von 1907 sind 32 dem BdL verpflichtet, von den 65 Fraktionsmitgliedern im preußischen Abgeordnetenhaus von 1908 28, darunter ein Viertel als eingeschriebenes Mitglied des BdL. 65 Es erscheint von hier aus gesehen angemessener, nicht von einem konservativen Milieu zu sprechen, sondern von einem agrarisch-protestantischen Milieu, das von mehreren Parteien repräsentiert wird, die sich konservativ oder liberal nennen, tatsächlich aber mit dem klassischen Konservatismus oder Liberalismus nur mehr wenig gemein haben.66 Als Max Weber 1920 in seiner Parteisoziologie nach Beispielen für den Typus der „sachliche(n) und ‚Weltanschauungs‘-Parteien“ sucht, spricht er explizit vom alten Konservatismus und alten Liberalismus. 67 Von diesen Parteien haben sich die Deutschkonservativen am weitesten auf die Völkischen zubewegt, so weit, „that the lines between Conservatism and antisemitism became – for a time – so indistinct as to virtually disappear“. 68 So berechtigt diese Feststellung sein mag: von einer feindlichen Übernahme durch den völkischen Antisemitismus, ja von einer „Entwicklung zum völkischen Nationalismus innerhalb der konservativen Partei“ oder gar zum „Präfaschismus“ 69 kann nicht die Rede sein. Trotz Stoecker und Tivoli-Programm ist die Deutschkonservative Partei doch viel zu sehr Interessenpartei, genauer: Partei materieller Interessen, als daß sie sich derart von ideellen Interessen, Gesinnungen und Ideologien Kammern (ebd., 105 ff., 115 ff.) gilt allerdings auch umgekehrt, daß der Staat an die kurze Leine agrarischer Interessen gelegt wird. 64 Vgl. Winkler 1995, S. 84. 65 Vgl. Puhle 1975, S. 197. Zur Zusammenarbeit des BdL mit den Nationalliberalen vgl. auch Eley 1991, S. 200 f. 66 Karl Rohe spricht von einer „Fusionierung der ehemals gegensätzlichen politischen Traditionen von Liberalismus und Konservativismus“ „unter den Vorzeichen des Nationalen“: Rohe 1992, S. 65, 122. Ob man deswegen von einem „nationalen Lager“ sprechen kann, sei hier dahingestellt. 67 Max Weber 1976, S. 168. Der Niedergang beider Strömungen ist Gegenstand der grundlegenden Untersuchungen von Kondylis 1986 und 1991. 68 Retallack 1999, S. 507. 69 Stegmann 1970, S. 325; Puhle 1975, S. 11.

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hätte bestimmen lassen, wie dies die genannten Deutungen nahelegen. Ihr Nationalismus ist purer „Zweck-Nationalismus“ – eine Einstellung, bei der die Nation „weniger Selbstzweck als vielmehr notwendige Konzession an den Geist der Zeit“ ist, die „in erster Linie der Erhaltung des monarchischen Systems und seiner sozialen Hierarchien sowie der Förderung der Landwirtschaft dienen sollte“ 70 ; ihr Antisemitismus hat zwar ein stabileres Fundament im Ideal eines christlichen Staates, wird aber von den professionellen Judenhetzern sicher nicht grundlos als instrumentell attackiert. 71 Tatsächlich bedient man sich seiner Anfang der 90er Jahre, um der lästigen Konkurrenz der Deutschreformer und Deutschsozialen den Wind aus den Segeln zu nehmen; als diese dann seit der Jahrhundertwende in die Flaute geraten, fahren auch die Konservativen ihre Rhetorik zurück. Im September 1910 läßt die Kreuzzeitung verlauten, die „Konservative Partei sei in ihrer großen Mehrheit“ davon überzeugt, daß sich der „antisemitische Passus ihres Programms praktisch nicht mehr rechtfertigen“ lasse, seien doch auch im Judentum „konservative Kräfte lebendig und wirksam, wie uns die erfreuliche Tätigkeit zahlreicher jüdischer Männer im praktischen Leben, in Wissenschaft und Kunst täglich zeigt, während die im Judentume so auffallenden destruktiven Kräfte sich leider in reichem Maße auch bei rassereinen Deutschen entwickelt haben.“ 72 Das Handbuch der Deutsch-Konservativen Partei wirft ein Jahr später der antisemitischen Bewegung vor, die Juden nachdrücklicher und rücksichtsloser zu bekämpfen, als dies im Wesen des Konservatismus liege, mit dem hauptsächlichen Erfolg, „daß das ganze Judentum sich jeglichen antisemitischen Bestrebungen, auch den berechtigten, gegenüber solidarisch erklärte, statt daß die früher bestandene Scheidung zwischen guten und üblen Elementen in der Judenheit sich schärfer markiert hätte.“ 73 Obwohl man aus taktischen Gründen auch weiterhin eine Zusammenarbeit mit den Deutschsozialen nicht ausschließt 74 , kann doch angesichts der Kräfteverhältnisse kein Zweifel daran bestehen, zu wessen Bedingungen dies geschieht. So hat es alles in allem den Anschein, als sei um die Jahrhundertwende die politische Gestaltungskraft des völkischen Gedankens erschöpft. Mit den neuen großen Verbänden wie BdL oder DHV existieren nun zwar Vergesellschaftungen und Vergemeinschaftungen, die wesentliche Elemente der völkisch-antisemitischen Bewegung in sich aufgenommen haben, doch sind diese dort deutlich den Zweckinteressen nachgeordnet. In die gleiche Richtung wirkt die Milieubildung im agrarisch-protestantischen Bereich. Eine völkische Partei, die die heterogenen Interessenlagen der bäuerlichen und städtischen Schichten einerseits, des alten und des neuen Mittelstands andererseits zu überbrücken und auszugleichen imstande wäre, ist am Vorabend des Ersten Weltkriegs nur schwer vorstellbar, und so wirkt denn auch der neuerliche Zusammenschluß von Deutschsozialen und 70

Bussiek 2002, S. 362. Vgl. Nipperdey 1992, S. 306. 72 Zit. n. Stegmann 1970, S. 23. 73 Handbuch der Deutsch-Konservativen Partei. Bearb. u. hrsg. vom Hauptverein der DeutschKonservativen, 4. umgearb. und verm. Aufl., Berlin 1911, S. 9. Weitere Belege für das Zurückdrängen des Antisemitismus in der Deutschkonservativen Partei bei Levy 1975, S. 255. 74 Vgl. ebd., S. 84. 71

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Deutschreformern 1914 zur Deutschvölkischen Partei weniger als Aufbruch, denn als Bemühen, die letzten Aktiva aus einem doppelten Konkurs zu retten. 75 Zwar ist es verfrüht, wenn Friedrich Lorenzen 1912 meint, vom Antisemitismus als solchen drohe dem deutschen Volk und der liberalen Sache keine Gefahr mehr 76, doch ist daran soviel richtig, daß auf dem Weg über die Parteipolitik für die Völkischen vorerst kein Weiterkommen ist.

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Zur Deutschvölkischen Partei vgl. Fricke 1984, Bd. 2, S. 559 ff. Vgl. Lorenzen 1912, a. a. O., S. 54.

6. Parallelaktionen: Völkische Gesinnungsgemeinschaften Wie haben die Völkischen auf diese Entwicklung reagiert? In der Forschung begegnet man der Ansicht, sie hätten sich zunehmend auf die wirtschaftliche und soziale Interessenvertretung des Mittelstands verlegt und die antisemitischen Aspekte ihrer Programmatik an Ideologen delegiert, die nur mehr eine marginale Position eingenommen hätten. 1 Aber das kann man so nicht sagen. Gerade die Ideologen zählen seit der Jahrhundertwende, wie gezeigt, zu den Aktivsten auf dem Feld der mittelständischen Verbands- und Ideologiebildung, und dies, ohne ein Jota von ihrer radikalantisemitischen Grundhaltung zu lassen. Auf der Parteiebene kommt es zwar 1903 zum Zusammenschluß der Deutschsozialen mit den Christlichsozialen sowie den süddeutschen Bauernbündlern zur Wirtschaftlichen Vereinigung, deren Programm keinen speziell gegen die Juden gerichteten Passus aufweist. 2 Von solchen eher taktisch zu verstehenden Bündnissen bleibt jedoch die völkisch-antisemitische Grundeinstellung unberührt. Die Parteiprogramme von Deutschsozialen wie Deutschreformern sehen 1905 und 1906 immer noch die Aufhebung der Emanzipation vor, und auch die Parteipresse wird nicht müde, als Fernziel „die Ausstoßung des jüdischen Fremdvolkgiftes aus dem deutschen Volkskörper“ zu beschwören. 3 Einige Jahre zuvor, auf dem Hamburger Parteitag der DSRP von 1899, hatte man sich gar erstmals zu der Forderung nach „völlige(r) Absonderung und (wenn die Notwehr es gebietet) schließliche(r) Vernichtung des Judenvolkes“ bekannt, ohne freilich zu präzisieren, ob diese Vernichtung sich nur auf die ethnische Identität oder auch auf die leiblichen Träger derselben beziehen soll. 4 Von einer zunehmenden Ausrichtung auf mittelständische Interessen kann 1

Vgl. Riquarts 1975, S. 183. Vgl. Friedrich Lorenzen: Die Antisemiten, Berlin 1912, S. 27. 3 Vgl. DSBl 19, 1904, Nr. 4, Beilage; ferner diverse Artikel im Jg. 27, 1912, Nrn. 52, 38, 48, 50, 56, 95. Die Beiträge stammen aus der Feder von Heinrich Pudor, zu dieser Zeit nicht nur Mitglied im Deutsch-sozialen Verein in Leipzig, sondern auch im Reichs-Hammerbund. Präziser wird er im Hammer (10, 1911, H. 211), wo er für die „Auswanderung, bezugsweise Austreibung der Juden aus deutschen Landen“ folgende Vorschläge macht: „a) Die in den letzten 5 Jahren eingewanderten Juden haben Deutschland binnen 3 Jahren wieder zu verlassen, in den letzten 6–10 Jahren zugewanderte binnen 5 Jahren, in den letzten 10–20 Jahren zugewanderte binnen 8 Jahren, in den letzten 20–30 Jahren zugewanderte binnen 10 Jahren, die seit länger als 30 Jahren zugewanderten Juden haben Deutschland binnen 12 Jahren zu verlassen. b) Darüber, ob Jude oder Nicht-Jude, entscheidet nicht die Konfession, sondern Blut und Rasse. Für Abkömmlinge aus Misch-Ehen werden besondere Bestimmungen erlassen; in zweifelhaften Fällen wird die Abwanderung in eine deutsche Kolonie freigestellt.“ Ausführlicher ders.: Deutschland für die Deutschen. Vorarbeiten zu Gesetzen gegen die jüdische Ansiedlung in Deutschland I und II, München und Leipzig 1912. Nach 1918 wird dieser Autor offen zum Pogrom auffordern und damit dann allerdings selbst die Alldeutschen und die Deutschvölkische Partei nötigen, auf Distanz zu gehen: vgl. Abwehrblätter 28, 1918, Nr. 17/18; 29, 1919, Nrn. 20, 25. Über Pudors umfangreiches Schrifttum informiert eine von ihm selbst zusammengestellte Übersicht unter dem Titel: Dr. Heinrich Pudor, ein Vorkämpfer des Deutschtums und des Antisemitismus, Leipzig 1934. Zu seiner Biographie vgl. Adam 1999. 4 Vgl. Mommsen 1960, S. 84. Parteiintern wurden Forderungen auf dieser Linie schon seit län2

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allenfalls mit Blick auf die Deutschsozialen gesprochen werden, die ihre zunächst von den Christlich-Sozialen adaptierten sozialpolitischen Forderungen Mitte der 90er Jahre deutlich abschwächen. Bei den Deutschreformern sind die letzteren ohnehin von Anfang an nicht sehr ausgeprägt, was Erwin Bauer damals veranlaßt, die Eisenacher Fusion von 1894 als „Capitulation des alten guten conservativ-aristokratischen Deutsch-Socialismus vor der antisemitischen Demokratie“ abzulehnen. 5 Der Sache näher kommt die These, daß sich zahlreiche Aktivisten der völkischen Szene angesichts der zunehmend marginaleren Wahlergebnisse „zu einer Art ‚Kulturrevolution von rechts‘ (entschlossen), die tiefer und grundsätzlicher ansetzen wollte als politische Aktivitäten und Parolen.“ 6 Schon 1886 hatte Theodor Fritsch ja davor gewarnt, den Weg der Parteipolitik zu beschreiten und statt dessen die Gründung eines Germanen-Ordens beziehungsweise einer Germanischen Allianz vorgeschlagen 7 , sich dann allerdings selbst durchaus aktiv in das Projekt einer deutschsozialen Partei gestürzt. Nach seinem vorübergehenden Rückzug nehmen andere seine Bedenken auf und verschärfen sie zu einer grundsätzlichen Kritik an der Organisationsform Partei. Eine Partei, heißt es in einem Vortrag, den der Magdeburger Vertrauensmann des Deutschbundes, Dr. Rudolf Küster, am 29. Januar 1895 in Magdeburg hält, könne ihrem Wesen nach nur äußere Ziele verfolgen, speziell die Einwirkung auf die Gesetzgebung; zu diesem Zweck sammle und übe sie unter dem Zeichen des allgemeinen Stimmrechts möglichst große Massen. „Die innere Art des Einzelnen aber, seine Gesinnung und seine nichtpolitischen Handlungen vermag und beabsichtigt sie weder bestimmt zu beeinflussen, noch auch nur sicher und allseitig zu erkennen.“ 8 Eben dies, so im Jahr zuvor Friedrich Lange (1852–1918) in seinem Aufruf zur Gründung des Deutschbundes, leiste nur die Form des Bundes, der seinen Mitgliedern gerem ventiliert. Vgl. den anonymen Artikel „Was ist Antisemitismus?“ in dem von Paul Förster herausgegebenen Verbandsblatt der Verbände Brandenburg und Pommern der Deutsch-sozialen Reform-Partei Nr. 4 vom Mai 1897: „In unserm Vaterlande ist für die Juden kein Raum, sie haben kein Recht auf Anteil daran. Sie wollen auch selbst gar nicht in uns aufgehen, sondern ihre Besonderheit bewahren und zugleich die Führung übernehmen. Sie lehnen es ab, ein gleichwertiger (organischer) Bestandteil unseres Volkes und Staates zu werden. Dagegen wollen wir ihnen die Hand bieten, um sich nach reinlicher Scheidung von uns, im Sinne der Zioniten, ein eigenes jüdisches Vaterland und einen jüdischen Staat zu begründen“ (BArch R 8004/1). 5 Der Untergang der antisemitischen Parteien. Ein Mahnwort an die nationale Bewegung im Deutschen Reiche von einem alten Antisemiten, Leipzig 1895, S. 18. 6 Ulbricht 2001, S. 426. 7 Das ist zwar nur indirekt belegt durch ein Selbstzitat Fritschs in einem Text des Jahres 1912 (vgl. Pötzsch 2000, S. 83 f.), wird aber durch ähnlichlautende Warnungen aus dem Jahr 1890 gestützt. „Wir haben bereits vor 5 Jahren in den ersten Nummern der ‚Antisemitischen Correspondenz‘ betont, daß es weniger unsere Aufgabe sein müsse, eine kleine isolirte antisemitische Partei zu gründen, als vielmehr – alle Parteien antisemitisch zu machen!“ Theodor Fritsch: Die verschiedenenen Schattirungen des Antisemitismus, in: DSBl 5, 1890, Nr. 99. In seinem Beitrag von 1912 unterschlägt Fritsch nicht nur seine eigene politische Praxis in den späten 80er und frühen 90er Jahren, sondern auch sein späteres Votum für die Schaffung einer Mittelstandspartei: vgl. Theodor Fritsch: Handwerker-Tag und Mittelstands-Partei, in: Hammer 3, 1904, H. 55. Gegenüber Adolf Stoecker hat er sich 1906 sogar brieflich für die Gründung einer „deutsch-nationalen Arbeiterpartei“ ausgesprochen: vgl. Fricke 1996, S. 338. 8 Zit. n. Gossler 2001, S. 403.

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nicht gestatte, „mit dem Namen bloß oder einem Jahresbeitrage oder irgend einem Bruchteile ihrer Persönlichkeit ihm anzugehören“, vielmehr „von jedem sein Tiefstes und Bestes“ fordere. Was Lange vorschwebt, ist eine „Gemeinde“, die sich in „weihevoller Opferstimmung“ zusammenfindet und auf dieser affektuellen Grundlage zu einer wertrationalen Vergesellschaftung gelangt: einer „Burschenschaft der Erwachsenen“, die durch „einheitlichen Willen“, eine gleiche Weltanschauung und ein „in allen gleich starke(s) und zu religiöser Glut verklärte(s) Deutschideal“ zusammengeschlossen sein soll. 9 Noch einen Schritt weiter geht 1912 Philipp Stauff (1876–1923), als er in seinem Deutschen Wehrbuch auf ein anderes Vorbild aus der Kirchengeschichte zurückgreift und der völkischen Bewegung die Schaffung von „Orden und ordensähnlichen Vereinigungen“ empfiehlt. Ein Orden, führt er aus, „kann mehr und Höheres leisten als der Verein oder Verband. Zunächst trifft er seine Menschenauswahl sorglicher; wer nicht gewünscht wird, kommt an den Orden in der Regel überhaupt nicht heran. Die Mitglieder stehen unter stärkerer Verpflichtung, als sich das beim Verein ermöglichen läßt. Ist bei letzterem die Gesinnungsgemeinschaft immerhin mehr äußerlich, oberflächlich und das Sichzusammenfinden mehr taktisch auf Grund allseitiger Zugeständnisse, so ist die Gesinnungsgrundlage im Orden wurzelhaft und der Zusammenhalt deswegen viel dauerhafter, selbstverständlicher; auch sind weit weniger Innenreibungen zu befürchten. Die Mitglieder kommen einander innerlich näher und übernehmen in irgendwelchem Sinn und Umfange eine Art Bürgschaft für einander. Beim Verein arbeiten im allgemeinen einige Vorstandmitglieder; im Orden müssen alle arbeiten. Weit leichter und sicherer lassen sich da Erkundigungen einziehen, ist da eine Einwirkung auf Erscheinungen und Vorgänge außerhalb systematisch durchzuführen. Gemeinsame Handlungen von Weihecharakter vertiefen den Willen und geben eine mystische Zusammenstimmung der Geister und Gemüter, die anderwärts nicht erreichbar ist, die aber gerade aus zahlreichen Einzelwillen einen Gesamtwillen und aus zahlreichen Einzelkräften die Einheitskraft macht.“ 10 Tatsächlich konstituieren sich in den beiden Jahrzehnten, die dem Gründungsaufruf Friedrich Langes folgen, zahlreiche völkische Verbände unter der Bezeichnung „Bund“ oder „Orden“. 11 Dem 1894 installierten Deutschbund, der sich freilich explizit nur als Bund, nicht als Orden versteht 12 , gesellt sich sechs Jahre später der Deutsche Volksbund zur Seite, der von Otto Böckel, Paul Förster und Hans von Mosch ins Leben gerufen wird und nach dem Eindruck externer Beobachter 9

Friedrich Lange: Reines Deutschtum. Grundzüge einer nationalen Weltanschauung, 3. Aufl., Berlin 1904, S. 350 f. 10 Philipp Stauff: Das Deutsche Wehrbuch, Wittenberg 1912, S. 178. 11 Vgl. zur näheren Bestimmung Herman Schmalenbach: Die soziologische Kategorie des Bundes, in: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften, hrsg. von Walter Strich, Bd. 1, München 1922, S. 35–105, 72; Art. Orden, TRE, S. 317; RGG, S. 609 sowie Breuer 2006, S. 92 ff. 12 Vgl. Lange, Reines Deutschtum, a. a. O., S. 355. Die von Fricke (1983, S. 517) vorgeschlagene Einstufung des Deutschbundes als „ordensmäßige Vereinigung“ trifft deshalb das Selbstverständnis nicht, was indirekt auch durch den Antrag der Gemeinde Berlin für die VertrauensmännerVersammlung am 18. 6. 1916 bestätigt wird, den Deutschbund zu einer „Ordensgemeinschaft“ nach dem Vorbild der Ritter- und Mönchsorden auszugestalten – ein Antrag, der keine Mehrheit gefunden hat: vgl. DbBl 21, 1916, Nr. 4/5.

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„eine Art antisemitischer Freimaurerloge“ darstellt. 13 Zunächst nicht völkisch geprägt, dann aber immer entschiedener in diese Richtung tendierend ist der um Wilhelm Schwaners Zeitschrift Der Volkserzieher 14 gruppierte Volkserzieherbund von 1905, der zeitweise deutliche Sympathien für die Ziele der Freimaurerbewegung und deren Organisationsformen erkennen läßt 15 ; von Anfang an eindeutig dagegen der Mittgart-Bund Willibald Hentschels (1906) und der Reichs-Hammerbund Theodor Fritschs (1912). Als „Orden“ präsentieren sich der Neutempler-Orden (Ordo Novi Templi) von Lanz von Liebenfels (1900); der Wälsungen-Orden Paul Hartigs (1909); der mit der Guido-von-List-Gesellschaft verbundene Hohe Armanen-Orden (1911); der Deutsche Orden Otto Sigfrid Reuters (1911) und der 1912 von Hermann Pohl gegründete Germanen-Orden, die wiederum nach dem Vorbild der Freimaurerlogen aufgebaute geheime Schwesterorganisation des Reichs-Hammerbundes. Als eine Abspaltung des Deutschen Ordens beziehungsweise der mit diesem verbundenen Deutschgläubigen Gemeinschaft kann auch die Germanische Glaubens-Gemeinschaft Ludwig Fahrenkrogs noch hier eingeordnet werden. 16 Die nähere Analyse zeigt freilich rasch, daß die mit Begriffen wie Bund und Orden anvisierte, sich nicht bloß auf Rollen oder Rollensegmente erstreckende, sondern die ganze Person einschließlich ihrer Lebensführung erfassende Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung nirgends erreicht wird, so daß es sachlich angemessener ist, von Gesinnungsvereinen und -gemeinschaften zu sprechen. Der Deutschbund, mit seinen rund 1500 Mitgliedern um 1914 der größte und einflußreichste Zusammenschluß dieses Genres, verlangt zwar von allen Beitrittswilligen eine Probe- und Bewährungszeit, in denen sie beweisen müssen, daß sie ihr „Deutschbewußtsein“ zum „Deutschgewissen“ vertieft haben, fördert aber zugleich multiple Mitgliedschaften, womit er sich erhebliche Loyalitätsprobleme einhandelt. 17 Sein Gründungsmitglied Heinrich Claß gehört mehrere Jahre zugleich dem Alldeutschen Verband an, dessen Vorsitzender er 1908 wird; Paul Langhans und Georg von Stössel sind im Geschäftsführenden Ausschuß dieses Verbandes. Umgekehrt nimmt der Deutschbund bekannte Führer der Deutschsozialen Partei wie Liebermann von Sonnenberg und Ferdinand Werner auf, Repräsentanten des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes wie Alfred 13 Lorenzen 1912, a. a. O., S. 23. Der Bund bringt es in Berlin, Pommern und Schlesien auf circa fünftausend Mitglieder, gerät jedoch schon bald aufgrund von Finanzproblemen in Turbulenzen und schließt sich 1907 der Deutschen Reformpartei an: vgl. Willi Buch: 50 Jahre antisemitische Bewegung. Beiträge zu ihrer Geschichte, München 1937, S. 21, 39 f. 14 Der erste Jahrgang erscheint 1897. An völkischen Autoren sind dort u. a. vertreten: Houston Stewart Chamberlain, Heinrich Driesmans, Ludwig Fahrenkrog, Paul Förster, Theodor Fritsch, Harald Grävell, Lehmann-Hohenberg, Friedrich Lienhard, Heinrich Pudor, Theodor Scheffer, Willy Schlüter, Philipp Stauff, Karl Strünckmann, Ernst Wachler, Albrecht Wirth, Hans von Wolzogen und natürlich vor allem Wilhelm Schwaner selbst. 15 Vgl. Wilhelm Schwaner: Treiben wir Politik? II. Teil, in: Der Volkserzieher 11, 1907, Nr. 3; Christoph Carstensen: Der Volkserzieher. Eine historisch-kritische Untersuchung über die Volkserzieherbewegung Wilhelm Schwaners, Würzburg-Aumühle 1941, S. 9 f., 45. 16 Vgl. Alfred Roth: Verzeichnis deutschvölkischer Vereine, Bünde und Orden, in: Deutschvölkisches Jahrbuch 1920, S. 232–241; zu den Gründungsdaten vgl. Puschner 2001, S. 384 ff. 17 Vgl. Fricke 1983, Bd. 1, S. 517 ff.; 1996, S. 328 f., 332; Gossler 2001, S. 402 f.

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Roth und Albert Zimmermann oder des Deutschvölkischen Schriftstellerverbandes wie Adolf Bartels. 18 Die gemeinsame Gesinnung „zu einer nationalen Welt- und Lebensanschauung zu vertiefen“, gelingt nur sehr begrenzt, da es dem vielbeschäftigten Lange hierfür schlicht an Zeit mangelt. 19 Die anfangs von ihm eingebrachten wirtschaftspolitischen Grundsätze, die zwar „eine planmäßige Stärkung und Sammlung der bürgerlichen Mehrheit des Volkes“ beabsichtigen, dies aber ausgerechnet mittels Zwangsgenossenschaften und weitreichenden Verstaatlichungen von Schlüsselindustrien und -betrieben anstreben, werden 1896 nur mit einer Mehrheit von 61 gegen 42 Stimmen angenommen und „mit so wenig tat- und schaffensfreudiger Stimmung“ verfolgt, daß Lange resigniert. 20 Themen wie Überkonfessionalität oder christlicher Charakter des Bundes, elitäre Struktur oder Massenpolitik, selbst die Feindbestimmung, sind von Anfang an kontrovers und bleiben es auch, so daß Lange nicht umhin kommt, in der Satzung auf genauere programmatische Festlegungen zu verzichten. 21 Lediglich der Ausschluß von Juden ist konsensfähig; schon bei den Mitgliedsbeiträgen beginnt die brüderliche Solidarität zu bröckeln, und dies bei Personen, die sich durchweg aus gebildeten und ökonomisch gut gestellten Kreisen rekrutieren. 22 Die ideologische Verwirrung wird dadurch gesteigert, daß der Gründer und Leiter des Bundes – bis 1909: Friedrich Lange – auf mehreren Registern gleichzeitig spielt. Lange ist Radikalantisemit, hält aber von den Antisemitenparteien wenig, wie seine Ausfälle gegen deren Führungsriege und ihre Neigung zur „demagogischen Hetze“ und zum „Neid um des Geldes willen“ belegen. 23 Gleichzeitig konterkariert er seine eigene Kritik an der Parteipolitik, indem er mithilfe des Deutschbundes in eben diesem Feld Machtpositionen aufzubauen versucht. Ende 1895 als Herausgeber der Täglichen Rundschau entlassen, weil er diese allzu dreist in ein Forum für antisemitische Propaganda verwandelt hat 24 , bringt er wenige 18

Vgl. Fricke 1996, S. 333; Gossler 2001, S. 404; Rösner 1996, S. 885. Friedrich Lange, in: DbBl 13, 1908, Nr. 11. Wie wenig man damit vorangekommen ist, zeigt der Vorschlag Theodor Scheffers gut siebzehn Jahre später, „aus der Gesinnungsgemeinschaft des Deutschbundes auch eine Überzeugungsgemeinschaft erstehen zu lassen“, die sich in Rechts-, Wirtschafts- und Glaubensfragen durch eine einheitliche Auffassung wenigstens in den Grundlagen auszeichnet. Vgl. Theodor Scheffer: Meine Vorschläge für die Vortragstätigkeit in den Deutschbund-Gemeinden und Pflegschaften, in: DbBl 30, 1925, Nr. 6–7. Erst die weiter unten vorzustellenden Arbeiten Max Robert Gerstenhauers haben in dieser Hinsicht einige „Fortschritte“ erbracht. 20 Vgl. Friedrich Lange: Reines Deutschtum, a. a. O., S. 360 ff., 370. Langes Vorschläge erinnern in vielem an Glagau, manches, wie zum Beispiel die Übertragung von Aufgaben der sozialen Sicherung an die projektierten Zwangsgenossenschaften an Emile Durkheim, der diesen Gedanken 1902 im Vorwort zur zweiten Auflage seines Buches De la division du travail social ventiliert. 21 Vgl. Gossler 2001, S. 407, 410. Zu den wechselnden Feindbestimmungen – mal die Sozialdemokratie, mal das Zentrum, mal die Konservativen, mal die Liberalen – vgl. auch den Nachruf auf Lange in den Abwehrblättern 28, 1918, Nr. 1. 22 Vgl. Stauff 1912, a. a. O., S. 187; Gossler 2001, S. 407. 23 Friedrich Lange 1904, a. a. O., S. 92, 107 ff. Zu Langes Radikalantisemitismus, der starke Einflüsse von Dühring erkennen läßt, vgl. ebd., S. 106 und vor allem 246, wo die Forderung nach einer reichsgesetzlichen Ächtung jeder ehelichen Vermischung mit nichtarischem Blut durch öffentliche Bekanntmachung erhoben wird. 24 Vgl. Lotte Adam: Geschichte der ‚Täglichen Rundschau‘. Phil. Diss. Berlin 1934, S. 25 ff. Mit 19

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Monate später ein eigenes Blatt heraus, die Deutsche Zeitung, und zwar mit Mitteln, die zum erheblichen Teil von Deutschbundmitgliedern aufgebracht worden sind. 25 In diesem Organ, das sich an die „Gebildeten aller Stände“ richtet und deshalb über eine begrenzte Zahl von Beziehern nicht hinauskommt 26 , tritt Lange noch im Gründungsjahr für die Bildung eines „Deutschkartells“ ein, das sich am Vorbild der Septennatskoalition von 1887 orientiert und Wahlabsprachen zwischen Konservativen, Nationalliberalen, Deutschsozialen und dem BdL ermöglichen soll. 27 Einen ähnlichen Sammlungsplan verfolgt er 1901 mit der Gründung eines Nationalen Reichswahlverbandes, dem die Aufgabe zugeteilt wird, der erstarkenden Sozialdemokratie und dem „Ultramontanismus“ den Wind aus den Segeln zu nehmen, und der zu diesem Zweck auch Juden als Mitglieder willkommen heißt. Den Antisemiten ist dabei die Rolle eines Juniorpartners zugedacht, der nicht viel mehr als ein Vetorecht gegen jüdische Kandidaten erhält. 28 Die Idee findet, wie vorherzusehen, nicht nur bei den Antisemitenparteien wenig Anklang. Auch die Deutschbundgemeinden verweigern ihrem Bundeswart die Gefolgschaft und erteilen seinen Plänen eine „kühle Absage“, was Lange bei seiner Abschiedsrede von 1909 als „herbe Enttäuschung“ bezeichnet. 29 Überhaupt wäre von Führerschaft zu sprechen in diesem Fall ein Euphemismus. Schon ein Jahr nach Gründung des Deutschbundes muß Lange den Mitgliedern die Konsultierung des Bundestages bei umstrittenen Fragen zusichern, und auch später kommt es immer wieder zu Konflikten mit einzelnen Gemeinden, die das autoritäre Gebaren des Bundeswarts nicht hinnehmen wollen. 30 Prominente Mitglie-

Willy Pastor wird dort allerdings einige Jahre später ein anderer völkischer Antisemit Schriftleiter: vgl. Wiwjorra 2001, S. 13. 25 Vgl. Arnold Leinemann: Friedrich Lange und die Deutsche Zeitung (betrachtet im Abschnitt 1896–1900), Phil. Diss. Berlin 1938, S. 22. 26 Nach Leinemann startet die DZ mit 16 000 Abonnenten. Das unter Lange erreichte Maximum beträgt 25 000: vgl. ebd., S. 23. 27 Vgl. ebd., S. 36; Grießmer 2000, S. 92 f. 28 Vgl. Grießmer 2000, S. 92 f., 94; Abwehrblätter 12, 1902, Nr. 11. Zur Ablehnung des „Deutschkartells“ im völkischen Lager vgl. den Kommentar zu Langes Artikel: Kann ein Kartell noch helfen? In: Mittheilungen für die Vertrauensmänner der Deutsch-sozialen Reformpartei, Nr. 4 vom 14. 4. 1897 (BArch R 8004/1). 29 Vgl. DbBl 14, 1909, Nr. 11. Das hat Lange nicht davon abgehalten, es noch zwei weitere Male mit der gleichen Strategie zu versuchen: das erste Mal 1905, als er die Bildung eines ‚Ausschusses für nationale Politik‘ aus Führungspersönlichkeiten der nationalen Vereine und Verbände vorschlägt, dessen Aufgabe es sein soll, eine „Nationalpartei im Reichstage“ auf den Weg zu bringen; ein weiteres Mal 1909 mit dem Projekt eines ‚Nationalen Blocks‘, der nun auch noch die Linksliberalen einschließen soll: vgl. Grießmer 2000, S. 96, 281 ff. 30 Vgl. Gossler 2001, S. 410. Ein Beispiel ist der Streit mit der von Ernst Hunkel geführten Gemeinde Neckarland, der 1908 sogar zur Vertagung des Bundestages und zur Verlegung des Festortes führt (vgl. DbBl 13, 1908, Nr. 6). Lange kann sich zwar noch einmal durchsetzen und seine Kritiker aus dem Deutschbund verdrängen, doch ist seine Autorität seitdem so geschwächt, daß er ein Jahr später die Bundesführung an Paul Langhans abgibt (vgl. ebd., Nr. 10; Jg. 14, 1909, Nr. 11). – Der zu diesem Zeitpunkt noch mit seiner Doktorarbeit beschäftigte Ernst Hunkel (1885–1938) hat sich danach vor allem im Schnittfeld von deutschgläubiger Bewegung, Siedlungsund Lebensreformbewegung engagiert. Wichtige Schriften aus der Zeit des Kaiserreichs: Fürst Bismarck und die Arbeiterversicherung, Diss. Erlangen 1909; Der Verein Deutscher Studenten zu Berlin. Wesen, Ziele, Geschichte, Berlin (1912); Jungdeutsches Erwachen, Berlin 1916; Deut-

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der wie Theodor Fritsch und Willibald Hentschel ziehen daraus schon früh die Konsequenz, ihre Aktivität auf andere Organisationen zu verlagern. 31 Der Bund deutscher Volkserzieher wird 1905 aus der Lesergemeinde der gleichnamigen Zeitschrift heraus gegründet, teils aus dem Wunsch, eine festere Gruppenidentität zu erlangen, teils in der Absicht, den Kampf gegen die geistliche Schulaufsicht in Preußen wirkungsvoller zu führen. 32 In dem überwiegend aus Lehrern bestehenden Bund zeigen sich jedoch schon nach zwei Jahren „tiefe Disharmonien“ (Carstensen), da der Gründer und auf Lebenszeit gewählte Vorsitzende, Wilhelm Schwaner (1863–1944), hauptsächlich an der Durchsetzung seiner Bildungsreligion interessiert ist und demgemäß einen lockeren Zusammenschluß bevorzugt, der sich auf ein gemeinsames Lesen seiner Germanenbibel und allenfalls noch gemeinsames Singen und Wandern beschränkt, wohingegen die Gemeinde schärfere Außengrenzen verlangt, sich dabei aber über die genaue Organisationsform nicht zu einigen vermag. 33 „Der eine wollte eine Schule, der andere einen Tempel, der dritte einen Bund, der vierte eine Loge; dieser eine Gemeinde, jener eine Anarchie, der letzte gar ein neues Demokratenblättchen – und jeder verschwor sich, nur auf seinem Wege und mit seinem Programm sei der Bund existenzmöglich und –berechtigt.“ 34 Von den Debatten entnervt, legt Schwaner zunächst 1908 die Leitung nieder und löst den Bund formell auf, entschließt sich aber schon ein Jahr später zum Wiederaufbau, diesmal mit einer klaren Satzung, definierter Zugangsbeschränkung und deutlich umrissenen Verhaltensanforderungen an die Mitglieder, die sich verpflichten müssen, weder zu rauchen noch zu trinken, Freundschaft und Kameradschaft zu pflegen, sich in die Natur zu versenken und sich allgemein als „Suchende, Werdende, Unvollkommene“ zu begreifen. 35 Sich diesen Bedingungen und zumal dem autoritären Stil des Vorsitzenden zu unterwerfen, ist jedoch nur etwa ein Zehntel der Leserschaft des Volkserziehers bereit, etwa dreihundert bis fünfhundert Personen.36 Selbst dieser kleine Kreis wird immer wieder von Richtungskämpfen und Abspaltungen erschüttert, die sich am Führungsanspruch Schwaners, an seinen Allianzen mit deutschreligiösen und antisemitischen Gruppen und seiner allgemeinpolitischen Einstellung entzünden. Die Mehrzahl der sche Gemeinschaft, Berlin 1916; Deutschland und die Polenfrage im Weltkriege, Berlin 1916. Vgl. auch die Hinweise weiter unten. 31 Vgl. Theodor Fritsch: Wie bringen wir neues Leben in den Deutschbund? In: DbBl 8, 1903, Nr. 8. 32 Vgl. Wilhelm Schwaner: Wir Pfingstfahrer, in: Der Volkserzieher 9, 1905, Nr. 15; Ernst Eberhardt-Humanus: Der Bund deutscher Volkserzieher, ebd., Nr. 17; Bund deutscher Volkserzieher: Wiederholte Bekanntmachung, ebd., Nr. 19. 33 Vgl. Panesar 2006, S. 80 f. Zu Person und Werk Wilhelm Schwaners, der bis 1894 selbst im Lehrerberuf tätig ist und anschließend als Redakteur bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften arbeitet, vgl. Carstensen 1941, a. a. O.; Ehrentreich 1975; Ulbricht 1996, S. 257 ff. Die von Schwaner zusammengestellte Germanenbibel (Berlin 1904) stellt eine Art deutsches Glaubenskorpus dar, das aus Texten von Meister Eckehart über Schopenhauer, Fichte, Wagner, Lagarde bis zu Eduard von Hartmann kompiliert ist. 34 Wilhelm Schwaner: Selig, die reinen Herzens sind, in: Der Volkserzieher 13, 1909, Nr. 10. 35 Vgl. Panesar 2006, S. 83. 36 Vgl. Carstensen 1941, a. a. O., S. 22 f.; Wilhelm Schwaner: An die Rechte, in: Der Volkserzieher 15, 1911, Nr. 2.

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Mitglieder, so muß Schwaner 1913 im Kunstwart einräumen, tendiere „dem politischen und religiösen Bekenntnis nach sehr weit nach links“, während die Leitung „immer und überall unter dem Gesichtswinkel des Nationalen und DeutschVölkischen“ arbeite. 37 Daß der Verein gleichwohl über ein Vierteljahrhundert zusammenbleibt, ist letztlich nur damit zu erklären, daß die Vergesellschaftung auf die Gesinnungsgrundlage reduziert und der Vergemeinschaftung nachgeordnet wird. Das einzige Programm, auf das sich „alle Freunde in Nord und Süd, Ost und West“ verpflichten sollten, heißt es 1910, seien die zwei Worte „frei“ und „deutsch“. 38 Bei seiner Auflösung 1936 (der ein Jahr zuvor die Umwandlung in einen ‚Bund für Deutschtum auf christlicher Grundlage‘ vorhergegangen ist), zählt der Verein nur wenig mehr als hundert Mitglieder und ist damit nicht viel mehr als ein erweiterter Freundeskreis. 39 Eher als Gesinnungsverein denn als Bund ist auch der Reichs-Hammerbund anzusehen, der 1912 aus den seit einigen Jahren in größeren Städten wie Leipzig, Berlin, Stuttgart und Nürnberg existierenden „Hammer-Gemeinden“ gebildet wird. 40 Gewiß handelt es sich nicht bloß um „Lesergemeinschaften“ (Weißbekker), sondern durchaus um einen Agitationsverein, der „durch Verbreitung der im Hammer vertretenen Gedanken und durch Gewinnung neuer Anhänger und Leser für das Blatt“ wirken will. 41 Verlangt sind bestimmte Aktivitäten wie zum Beispiel die Verteilung von Flugblättern, die 1912/13 in einer Auflage von zwei Millionen Exemplaren vertrieben werden, ferner die „Ablehnung jüdischen Umganges und die Vermeidung jüdischer Geschäfte“. 42 Darüber hinaus unterliegt die Mitgliedschaft wie beim Deutschbund speziellen Auslesebedingungen, allen voran dem „Bekenntnis deutschen Blutes und deutscher Gesinnung“. Für die letztere ist der Beweis in einer Probezeit zu erbringen, für das erstere ist eine Ahnenprobe erforderlich, die in den Zuständigkeitsbereich von Bernhard Koerner fällt, eines Guido-von-List-Anhängers, der seine im Königlich Preußischen Heroldsamt erworbenen Kompetenzen auch dem Deutschbund zur Verfügung stellt. 43 Sieht man von den Flugblattaktionen ab, die man sich freilich wohl eher nur im Sinne eines Auslegens oder Liegenlassens in Gaststätten, Arztpraxen und Zugabteilen vorzustellen hat, reduziert sich die Aktivität auf die regelmäßigen Hammer-Abende, bei denen über einzelne Artikel gesprochen wird, sowie auf Beiträge 37

Zit. n. Abwehrblätter 23, 1913, Nr. 18. Wilhelm Schwaner: Vom Ich zum Bunde ins All, in: Der Volkserzieher 14, 1910, Nr. 7. 39 Vgl. Carstensen 1941, a. a. O., S. 83 ff. 40 Vgl. Lohalm 1970, S. 56 ff.; Fricke 1985, Bd. 3, S. 681 ff.; Bönisch 1996. 41 Zur Organisation der Hammerbund-Gemeinden, in: Hammer 11, 1912, H. 233. Vgl. Herzog 1999, S. 165 ff. 42 Vgl. Vom Reichs-Hammerbund, in: Hammer 12, 1913, H. 264. Ein Exemplar der Satzung sowie eine Sammlung von Flugblättern und Broschüren findet sich im ehemaligen NSDAPHauptarchiv: vgl. BArch NS/26/884. 43 Vgl. Stauff 1912, a. a. O., S. 208; Puschner 2001, S. 235. Zu Koerner (1875 – 1952), dem langjährigen Herausgeber des Deutschen Geschlechterbuches und Kopf der im Berliner „Roland“ organisierten völkischen Genealogen vgl. Grolle 1991. Seine szenetypische Mitgliedschaft in Vereinen wie Reichs-Hammerbund, Germanen-Orden, Deutschvölkischer Schriftstellerverband, Deutscher Orden, Deutschbund, Ostmarkenverein und Guido-von-List-Gesellschaft beleuchtet Gerstner 2005. 38

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zum Aufbau einer „Judenstatistik“, aus denen 1913 Philipp Stauffs Semi-Kürschner hervorgeht. 44 Trotz seines pompösen Namens umfaßt der Reichs-Hammerbund bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht mehr als sechzehn Ortsgruppen mit insgesamt 500 Mitgliedern, deren Tätigkeit sich in belanglosen Mitgliederversammlungen erschöpft. 45 Lediglich Hamburg und Stuttgart dürften dabei die Zahl von hundert Mitgliedern erreicht haben, wobei sich die Bedeutung von Hamburg daraus erklärt, daß hier der Sitz der Deutsch-sozialen Partei und vor allem des DHV liegt, dessen führendes Mitglied Alfred Roth nach dem Tod des ersten Bundeswartes, Karl August Hellwig, im Sommer 1914 zum neuen Bundeswart des Reichs-Hammerbundes gewählt wird. Nicht wesentlich eindrucksvoller fällt die Bilanz bei den „Orden“ aus. Der 1912 aus einer innerhalb der Magdeburger Hammer-Gemeinde bestehenden Loge hervorgegangene Germanen-Orden46 , der sich als „Keimzelle einer religiös und rassisch reinen Wiedergeburt des deutschen Volkes“ (Hufenreuter) versteht, bricht schon nach kurzer Zeit auseinander, weil sein Gründer und Kanzler, Hermann Pohl, sich allzu obsessiv mit der Ausarbeitung ordensinterner Rituale und Regeln beschäftigt und der politischen Wirksamkeit zu wenig Beachtung schenkt. 47 Im Oktober 1916 kommt es zum Schisma zwischen der Gruppe um Pohl, die sich als Germanen-Orden Walvater neu konstituiert48 , und der weiterhin als GermanenOrden sans phrase firmierenden Mehrheit. Letztere sammelt sich um ein neues Führungstriumvirat und beruft nach dem Krieg Philipp Stauff zum „Geheimkämmerer“, der sich in seinem Einsatz für Guido von List sowohl mit dem Deutschbund als auch mit Schwaners Volkserzieherbund und Fahrenkrogs Germanischer Glaubens-Gemeinschaft überworfen hat. 49 Aus einer Untereinheit des Germa44 Vgl. Herzog 1999, S. 168; Philipp Stauff (Hrsg.): Semi Kürschner oder Literarisches Lexikon der Schriftsteller, Dichter, Bankiers, Geldleute, Ärzte, Schauspieler, Künstler, Musiker, Offiziere, Rechtsanwälte, Revolutionäre, Frauenrechtlerinnen, Sozialdemokraten usw. jüdischer Rasse und Versippung, die von 1813–1913 in Deutschland tätig oder bekannt waren, Berlin 1913. Zum Vorbild dieses Machwerks, dem von Wilhelm Pickl von Witkenberg verfaßten Semi-Gotha (Weimar 1912), vgl. Hufenreuter 2004. 45 Vgl. die Mitteilung der Hauptgeschäftsstelle vom 21. 2. 1914, BArch NS/26/884; Lohalm 1970, S. 61 f. 46 Vgl. Vom Germanen-Orden, in: Hammer 11, 1912, H. 248. Flugblätter, Broschüren sowie ein Exemplar der Satzungen in: BArch NS/26/843. 47 Zur Geschichte des Ordens vgl. Goodrick-Clarke 1997, S. 110 ff.; Hufenreuter 2003, S. 140 ff. 48 Ein Exemplar der Satzungen in: BArch NS/26/846. 49 Stauff gehört seit 1911 zum Hohen Armanen Orden und wird ein Jahr später zum Präsidenten der Guido-von-List-Gesellschaft (gegr. 1907) gewählt, zu der u. a. Ernst Wachler, Gustav Simons, Bernhard Koerner und Richard Ungewitter zählen (Wedemeyer 2004, S. 206). Weitere Mitgliedschaften Stauffs sind für den Deutschen Orden, den Deutschen Roland und die Deutschvölkischen Partei verbürgt: vgl. Puschner 2001, S. 133 u. ö. Eine instruktive Fallstudie über diesen Multifunktionär bietet Hufenreuter 2003.- Die Ideen des österreichischen Schriftstellers Guido (von) List (1848–1919) sind in Deutschland in nuce durch die Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert bekannt gemacht worden, die zu dieser Zeit von Friedrich Lienhard geleitet wurde. Vgl. Guido List: Von der Deutschen Wuotanspriesterschaft, in: Das Zwanzigste Jahrhundert 4, 1893–94, S. 119 ff., 242 ff., 343 ff., 442 ff. sowie Friedrich Lienhard: Guido List, ebd., S. 189 ff. Seine aus der Theosophie entwickelte „Ariosophie“ nimmt freilich erst nach der Jahrhundertwende schärfere Konturen an, in Werken wie Die Armanenschaft der Ario-Germanen (1908 und 1911) und Die Ursprache der Ario-Germanen und ihre Mysteriensprache (1914). Sie stellt, soweit aus der

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nen-Ordens, die sich in Anlehnung an freimaurerische Vorbilder als „Germanenloge“ bezeichnet, wird die Münchner Thule-Gesellschaft hervorgehen, aus der heraus dann wieder der Weg in die Parteipolitik beschritten wird. 50 Im Juli 1921 verschmilzt der Germanen-Orden mit dem Wälsungenorden, gewinnt aber dadurch mitnichten an Stabilität, weil Theodor Fritsch aus Protest gegen die Fusion mit insgesamt sechs Logen den Orden verläßt und Philipp Stauff als Geheimkämmerer entlassen wird. 51 In den deutsch- und germanischgläubigen Gemeinschaften geht es ähnlich zu. 52 Primum movens all dieser Gruppen und Grüppchen ist nicht so sehr, wie man auf den ersten Blick anzunehmen geneigt ist, der Wille zur Restauration der paganen Götterwelt, als vielmehr der Wunsch nach einer autochthonen, nicht durch irgendwelche Fremdeinflüsse verformten nationalen Kultur, wie er bereits das Werk Richard Wagners und mehr noch die Aktivitäten des Bayreuther Kreises grundiert. 53 Ernst Wachler, der als einer der ersten diese Motive ins Völkische übersetzt und dafür ab 1903 mit dem Harzer Bergtheater ein eigenes Medium entwickeln wird 54 , erhebt schon 1893 Richard Wagner in den Rang eines geistigen Führers und erklärt: „Eine deutsch-nationale Kultur der Zukunft wird im Geiste Richard Wagners auf dem Hintergrunde einer künstlerischen Weltanschauung sich erheben, oder sie wird nicht sein.“ 55 Einige Jahre später hat sich Wachler zu dem anfangs noch abgewerteten Goethe bekehrt, der in seinem Werk der von Sekundärliteratur ersichtlich, eine Mischung dar, die auf der Achse Exklusion/Inklusion zum Rassenaristokratismus gravitiert, auf der Linie Progression/Regression dagegen eine Kompromißhaltung erkennen läßt, wie sie für die Völkischen typisch ist: der industriell-städtische Komplex mit allen seinen sozialen und politischen Institutionen wird relativiert, während gleichzeitig von „ariogermanisch-deutsch-österreichischen Schlachtschiffen“ geträumt wird (Goodrick-Clarke 1997, S. 77 ff.; vgl. auch Hauser 2004, S. 417). Für eine genauere Einschätzung wäre es nötig, nicht nur die (schwer zugängliche) Primärliteratur auszuwerten, sondern auch den spezifisch österreichischen Kontext auszuleuchten – eine Aufgabe, die den Rahmen eines Buches über die Völkischen in Deutschland sprengt. 50 Vgl. Goodrick-Clarke 1997, S. 114 ff.; Gilbhardt 1994, S. 47 ff., 188. Johannes Hering, der zusammen mit Rudolf von Sebottendorf die Münchner Loge organisiert, ist übrigens selbst ehemaliger Freimaurer: vgl. Goodrick-Clarke 1997, S. 115. 51 Vgl. Hufenreuter 2003, S. 146 f. 52 Überblicke bei Erhard Schlund: Neugermanisches Heidentum im heutigen Deutschland, München 1924; Alfred Müller: Die neugermanischen Religionsbildungen der Gegenwart. Ihr Werden und Wesen, Bonn 1934; Art. Deutschgläubige Bewegungen (TRE); von Schnurbein 1996; Ulbricht 1998; Nanko 2001. Aus der Teilnehmerperspektive vgl. Georg Groh: Geschichte der germanischen Gottgläubigkeit, in: Rig. Blätter für germanisches Weistum 3, 1928, S. 122–129, 146–156; 4, 1929, S. 54–62; Kurt Hutten: Art. Völkisch-religiöse Richtungen, in: Calwer Kirchenlexikon. Kirchlich-theologisches Handwörterbuch, hrsg. von Friedrich Keppler, Bd. 2, Stuttgart 1941, S. 1274–1278; ders.: Art. Deutschgläubige Bewegungen, RGG3. 53 So zu Recht Zernack 1997, S. 150 ff. 54 Vgl. Puschner 1996. Dazu paßt nicht nur der bildungsbürgerliche Familienhintergrund, sondern auch der Werdegang Wachlers: Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie, u. a. bei Treitschke und Riehl, Promotion bei Wilhelm Dilthey, Dramaturg am Berliner Theater, Chefredakteur der Weimarischen Zeitung und Aktivist der Heimatkunst- und Theaterreformbewegung. Für eine frühe Würdigung vgl. Curt Hotzel: Ernst Wachler. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte unserer Zeit, Kassel 1921. 55 Heinrich Ernst Wachler: Nationale Kultur, in: Das Zwanzigste Jahrhundert 3, 1893, S. 89–90, 89.

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Giordano Bruno begründeten Weltsicht den definitiven Ausdruck verliehen habe. 56 Der Kern der anzustrebenden nationalen Religion, die allein die geistige und politische Zersplitterung der Deutschen zu überwinden vermöchte, sei in „Goethes Welt- und Lebensanschauung“ zu finden, das Ziel daher „nicht das siebente Jahrhundert, sondern Goethe“. 57 Der katholischen Frauenrechtlerin Elisabeth Gnauck-Kühne versichert er 1904 brieflich, Freigeist zu sein und für „Altertümeleien reaktionairer Romantik“ nichts übrig zu haben, zu denen er auch die „Wodansanbetung“ rechnet. 58 Bei Alfred Conn, einem führenden Mitglied der Deutschgläubigen Gemeinschaft, wird es später ebenso dezidiert heißen: „Es ist in der Tat notwendig, die Selbstverständlichkeit auszusprechen, daß deutscher Glaube kein Glaube an altgermanische Götter, überhaupt kein Glaube an etwas ist, daß deutschgläubig nicht heißt, an Stelle des Jahwe den Wodan setzen. Das sind kindliche Ansichten, die an unserm wesentlichen Wollen blind vorbeischießen, bewirkt durch die bedauerliche Unwissenheit auf dem Gebiete der altgermanischen Religionsvorstellungen. Wer würde wohl so töricht sein und jemanden glauben machen wollen, der Blitz sei nicht eine elektrische Entladung, sondern der Hammer Donars? Nein, wahrlich, alle altgermanischen Götter und alle Eddagesänge sind dem deutschen Glauben entbehrlich“. 59 Bekundungen dieser Art haben die Deutsch- und Germanischgläubigen freilich nicht daran gehindert, die Suche nach den Wurzeln des „heimischen Erbgutes“ bis zur „heimischen Götter- und Heldensage, dem eingeborenen germanisch-nordischen Mythos“ voranzutreiben, von dem zugleich in ebenso anachronistischer wie unbelegter Weise behauptet wird, er stehe „mit den Ergebnissen der neueren Naturforschung (in keiner Weise) in Widerstreit“. 60 Aus dieser Einstellung resultiert eine Aufwertung der Edda, eine Annäherung an ariosophische Kreise – Wachler gehört 1908 zu den Gründungsmitgliedern der Guido-von-List-Gesellschaft – und schließlich 1911 der Zusammenschluß mit Neomythikern wie Josef Weber, Adolf Kroll und Karl Konrad zur Gesellschaft Wodan, die sich kurz darauf der Germanischen Gemeinschaft, einem Freundeskreis der Germanischen Glaubens-Gemeinschaft, anschließt. 61 Als Wachler allerdings 1914 auf dem ersten All56 Wichtige Etappen sind seine Schriften: Über die Zukunft des deutschen Glaubens, Berlin 1900; Germanisierung der Religion, in: Die Jahreszeiten 1, 1911, S. 133–138; Deutsche Glaubensgemeinschaft, ebd., S. 232; Die Erweckung germanischer Religion, in: Der Volkserzieher 15, 1911, Nr. 26. Zur Bruno-Verehrung im völkischen Lager vgl. auch Ludwig Müller von Hausen: Giordano Bruno, in: Hammer 8, 1909, H. 180; 9, 1910, H. 181. 57 Vgl. Ernst Wachler: Über die religiöse Einigung der Deutschen, in: Allgemeiner Beobachter 3, 1913/14. Teil I: Nr. 12; Teil II: Nr. 14; Schlußwort Nr. 19. Zitate aus: Schlußwort. Zum Goethekult auch Wilhelm Schwaner: Das Gottsuchen der Völker, in: Der Volkserzieher 12, 1908, Nr. 10. 58 Zit. n. Puschner 2001, S. 231. 59 Alfred Conn: Göttersage und deutscher Glaube, in: Neues Leben 16, 1922, H. 7. 60 Wachler 1913/14, a. a. O., Teil II. Zu dieser für das völkische Denken typischen Kreuzung vgl. auch Ludwig Fahrenkrog, der „unser Jahrhundert der Naturwissenschaften“ als die zweite große Revolution des germanischen Geistes gegen seine Unterjocher feiert, und zwar „die, welche Befreiung bringt.“: Germanentempel (III), in: Der Volkserzieher 12, 1908, Nr. 10. Die erste Revolution ist nach Fahrenkrog die Reformation. 61 Vgl. Junker 2002, S. 20, 26. Zur Wertung der Edda vgl. Ernst Wachler: Kann die Edda Religionsbuch der Deutschen werden? In: Hammer 4, 1905, H. 68; Das Problem einer heiligen Schrift für Deutsche, ebd. 8, 1909, H. 178; 9, 1910, H. 181, 185, 186. Für Wilhelm Schwaner „sind ‚Edda‘,

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thing dieser Gemeinschaft über „Deutsche Religion und Einigung aller Germanisch-deutsch-Religiösen“ sprechen will, löst dies einen anhaltenden Streit aus, da man ihm vorwirft „als deutsch-jüdischer Mensch“ nicht über die hierzu erforderlichen Voraussetzungen zu verfügen. 62 Der heftigste Widerstand gegen Wachler geht von der Deutschreligiösen Gemeinschaft (ab 1915: Deutschgläubige Gemeinschaft, DGG) aus, einer Unterabteilung des 1911 von dem Bremer Telegraphendirektor Otto Sigfrid Reuter (1876–1945) im Verein mit dem Ex-Deutschbündler und unterdessen zum Schriftleiter der Ostmark avancierten Ernst Hunkel gegründeten Deutschen Ordens, die von ihren Mitgliedern die Versicherung deutscher Abkunft und das Freisein „von semitischem und dunkelfarbigem Rasseneinschlag“ verlangt. 63 Die Berufung auf das gemeinsame Blut kann jedoch nicht verhindern, daß auch auf dieser Grundlage der Spaltpilz bestens gedeiht. 1912 ruft Ludwig Fahrenkrog (1867–1952), seit Herbst 1911 Mitglied der DGG, gemeinsam mit Wilhelm Schwaner und dessen Volkserziehern einen eigenen Verein ins Leben, der sich als Germanisch-deutsche Religionsgemeinschaft bezeichnet. 64 Auch diese, zunächst nur auf drei „Ursätze“ 65 eingeschworene Gruppe spaltet sich sogleich wieder, weil Schwaner seinem Anhang nicht den förmlichen Kirchenaustritt zur Pflicht machen will, im übrigen wohl auch die alleinige Führung der Volkserzieherbewegung in der Hand behalten will. 66 Schwaners Volkserzieherbund wendet sich danach dem Deutschchristentum zu und kappt entschieden alle Verbindungen zur Ariosophie, die man ‚Faust‘ und ‚Ring‘ die Heiligen Bücher“: Heimat-Religion, in: Der Volkserzieher 16, 1912, Nr. 18. Von Josef Weber (d. i. Adolf Riemann) vgl. Allvater (Wodan) oder Jehovah, Berlin 1906; von Adolf Kroll: Die Edda, Berlin 1917; Das Hohelied von Allvater. Ein germanisches Glaubensbekenntnis, Jena 1918. Zusammen mit Karl Konrad: Kann uns die Edda Religionsbuch werden? Zeitz 1919. 62 Zit. n. Junker 2002, S. 54. Wachlers Mutter ist in jugendlichem Alter vom Judentum zum Protestantismus konvertiert: vgl. Puschner 1996, S. 767. Philipp Stauff hat deshalb Wachler 1913 in den Semi-Kürschner aufgenommen, damit freilich den Protest Theodor Fritschs provoziert, der sich hinter seinen Mitarbeiter stellt und im Hammer verlautbaren läßt, Wachler sei „zu Unrecht in das Buch geraten“ (Vom Semi-Kürschner, in: Hammer 13, 1914, H. 279). Stauff hat daraufhin einen Rückzieher gemacht und angekündigt, Wachler aus der geplanten Neuauflage wieder herauszunehmen (ebd.). Zum Vorgang aufschlußreich: Hufenreuter 2003, S. 124 ff. Dort auch der Hinweis, daß Fritschs Schwanken in der Rassenfrage, von dem weiter unten noch die Rede sein wird, auch durch den Streit um Wachler verursacht sein dürfte. 63 Vgl. Puschner 2001, S. 236 ff. Bezeichnend schon der Ort der Gründung: die Räume der in Berlin erscheinenden antisemitischen Staatsbürger-Zeitung: vgl. Ulbricht 1988–1992, S. 114. Die Eigenliteratur der DGG ist ausführlich dokumentiert in: Deutschgläubig. Eine Geschichte der Deutschgläubigen Gemeinschaft unter besonderer Berücksichtigung der Beziehungen zu den zeitgenössischen völkisch-religiösen Gründungen des XX. Jahrhunderts, hrsg. von der Deutschgläubigen Gemeinschaft, 4 Bde., o. O., 1968 ff.- Bei der von Hunkel geleiteten Zeitschrift Ostmark handelt es sich um das Organ des 1896 gegründeten Ostmarkenvereins: vgl. Grabowski 1998, S. 109. 64 Vgl. Ludwig Fahrenkrog: Germanisch-deutsche Religion, in: Der Volkserzieher 16, 1912, Nr. 18. Zu Fahrenkrog, der als Maler, Illustrator, Bildhauer und Schriftsteller ein umfangreiches Œuvre geschaffen hat, vgl. Wolfschlag 2006. 65 Sie lauten: 1. Ich bin; 2. Du bist; 3. Das Unnennbare ist. Vgl. „Leitende Sätze, entworfen von Ludwig Fahrenkrog und Wilhelm Schwaner“ im Anhang zu Fahrenkrogs Artikel „Germanischdeutsche Religion“, a. a. O. 66 Vgl. Puschner 2001, S. 240 ff.; Panesar 2006, S. 87.

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eben noch zum höchsten Weistum erklärt hat, welches überhaupt je hervorgebracht worden sei 67 , während Fahrenkrog um so entschiedener das germanischpagane Element akzentuiert und seine Gemeinde Pfingsten 1913 in Germanische Glaubens-Gemeinschaft (GGG) umbenennt. 68 Zu ihren bekannteren Mitgliedern zählen Philipp Stauff, Maria Grunewald, Bruno Tanzmann, Carl Weißleder und der Maler Fidus. 69 Obwohl zwischen DGG und GGG anfangs enge Kontakte und sogar Doppelmitgliedschaften bestehen, driftet man rasch auseinander, weil die DGG es ablehnt, über ein nationalreligiöses Minimum hinauszugehen und den „Gesinnungsglauben“ zu einem „Bekenntnisglauben“ auszuweiten, der eine Festlegung auf die von Fahrenkrog entwickelte pantheistisch-idealistische Weltanschauung mit ihrer Mischung von Meister Ekkehart und Eduard von Hartmann, ihrer Fixierung auf ein zu schaffendes Nationalheiligtum (den „Germanentempel“) und ihren kultisch-rituellen Spezialitäten eingeschlossen hätte, darüber hinaus auch das Deutschtum, also Volk und Nation, dem Germanentum subordiniert. 70 Die Deutschgläubigen beharren demgegenüber auf „Gewissensfreiheit“ und auf dem Vorrang der Nation gegenüber der Rasse. Gewiß solle der Germane dem Germanen Bruder sein und die Pflege dieser Brüderlichkeit „eine heilige, religiöse Aufgabe“. Dies dürfe jedoch nicht auf Kosten der geschichtlich gewordenen Volkheit geschehen, sei doch das Germanentum als Volkheit versunken und durch mehrere neue Volkheiten abgelöst, die das „größere Recht“ des Lebenden gegenüber dem Abgestorbenen beanspruchen könnten.71 Anstatt sich, wie die GGG, auf ein Programm der Selbsterlösung zu kaprizieren, das nur in der Sozialform der Sekte realisierbar ist, im übrigen in wirtschaftlicher, sozialer und politischer Hinsicht nicht über ein paar Banalitäten hinausgelangt 72 , zieht man es in der DGG vor, kulturpolitisch offensiv zu werden, wie die verschiedenen Initiativen im Rahmen der Volkshochschul-, Heimatschul- und Bauernhochschulbewe67

Vgl. Wilhelm Schwaner: Religion? Deutsch! In: Der Volkserzieher 16, 1912, Nr. 8. Zur anschließenden Distanzierung Schwaners von List vgl. Hufenreuter 2003, S. 168 f. Auch andere prominente völkische Aktivisten rücken um diese Zeit von List und der auf ihn bezogenen Gesellschaft ab, darunter Ludwig Wilser, Max Robert Gerstenhauer und Ernst Hunkel. Für die Folgezeit notiert Hufenreuter „das Abdriften der Gesellschaft in die Bedeutungslosigkeit sowie ihre regelrechte Verfemung in meinungsführenden Kreisen der völkischen Bewegung“ (ebd., S. 180). 68 Vgl. Junker 2002. Als „amtliches Organ“ fungiert zunächst die von Paul Hartig herausgegebene Zeitschrift Die Nornen (1914–1921), nach einem Streit zwischen Hartig und Fahrenkrog die von Carl Weißleder herausgegebene Lebensschule (1921–1922). Danach versucht man es mit eigenen Zeitschriften, denen insgesamt jedoch nur geringer Erfolg beschieden ist: Der Weihwart (1922–1926), Der deutsche Dom (ab 1926 unregelmäßig, 1929 eingestellt), Nordischer Glaube (1930–1934): vgl. ebd., S. 64 ff. 69 Vgl. ebd., S. 50, 62 f.; Heinz Bartsch: Die Wirklichkeitsmacht der Allgemeinen Deutschen Glaubensbewegung der Gegenwart. Phil. Diss. Leipzig 1938, S. 25. 70 Vgl. Ernst Hunkel: Völkisch-religiöse Gemeinschaft oder ‚germanische‘ Glaubenssekte, in: Amtlicher Anzeiger der Deutschgläubigen Gemeinschaft. 3. Jg., 3. F. Beilage zu: Neues Leben 14, 1919/20; Bartsch 1938, a. a. O., S. 22 ff.; Puschner 2001, S. 245, 252 ff. 71 Ernst Hunkel: „Deutschgläubige Gemeinschaft“, in: Amtlicher Anzeiger der Deutschgläubigen Gemeinschaft. 3. Jg., 1. F. Beilage zu: Neues Leben 14, 1919/20. 72 Vgl. nur die an Dürftigkeit nicht zu überbietenden Abschnitte über Arbeit, Religion-KunstWissenschaft und Staat in Ludwig Fahrenkrog: Geschichte meines Glaubens, Halle 1906, S. 159 ff.

Parallelaktionen: Völkische Gesinnungsgemeinschaften

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gung, aber auch die vor allem von Ernst Hunkel gepflegten Kontakte zur Jugendund Siedlungsbewegung zeigen. 73 Die größere Offenheit und geringere dogmatische Festlegung hindert freilich nicht, daß auch die DGG immer wieder von – meist persönlich motivierten – „Bruderkämpfen“ betroffen wird, die 1923 zur Ausstoßung Ernst Hunkels, 1924 zur Verselbständigung der im Jungborn-Bund zusammengefaßten Jugend und 1927 zur Absplitterung der Nordischen Glaubensgemeinschaft führen.74 Erst 1933/34 finden einige dieser Gruppen sowie Fahrenkrogs Germanischgläubige unter dem Dach der Deutschen Glaubensbewegung wieder zusammen, ohne es freilich allzu lange miteinander auszuhalten. Angesichts der insgesamt nur geringen numerischen Stärke dieser Gruppen, die zusammengenommen kaum mehr als tausend Mitglieder gehabt haben dürften 75 , sollte man ihre Bedeutung nicht allzu hoch veranschlagen.

73 Vgl. Ernst Hunkel: Die Wiedererweckung deutscher Bauern- und Rassenkultur durch die Volkshochschule, in: Neues Leben 12, 1917, H. 2/3. Das Blatt enthält seit dem 11. Jahrgang (1916/ 17) eine Beilage unter dem Titel: „Heiliger Frühling. Blätter deutschvölkischer Jugend“, die von Otger Gräff verantwortet wird. Über die Beziehungen zur Jugendbewegung vgl. weiter unten, S. 210 f. 74 Vgl. Müller 1934, a. a. O., S. 22 f.; Bartsch 1938, a. a. O., S. 23 f. Der Jungborn-Bund schließt sich 1924 mit den Jungscharen der GGG zum Bund der Nordungen zusammen. 75 Vgl. Bartsch 1938, a. a. O., S. 26; Puschner 2001, S. 261. Adolf Bartels schätzt 1924 die Zahl der Germanisch- beziehungsweise Deutschgläubigen etwas höher ein, nimmt allerdings für Deutschland und Österreich eine Obergrenze von fünftausend an: vgl. ders.: Der Nationalsozialismus Deutschlands Rettung, Leipzig 1924, S. 30.

7. Interferenzen II: Kultur- und Lebensreform Die Hinweise auf die verschiedenen Bewegungen, in denen Völkische aktiv sind, unterstreichen noch einmal, was schon bei der Behandlung der imperialistischen und kolonialistischen Bezüge deutlich wurde: die völkische Bewegung erschöpft sich nicht in Verbänden und Parteien mit spezifisch völkischer Zielsetzung. Sie treibt vielmehr ihre Ableger auch in andere Bewegungen und Organisationen hinein, mit denen nur eine Teilidentität der Ziele besteht. Manche dieser Organisationen sind national oder nationalistisch motiviert, wie zum Beispiel der 1885 in Dresden ins Leben gerufene Allgemeine Deutsche Sprachverein, der sich von der Entfernung unnötiger Fremdwörter eine „Erhaltung und Wiederherstellung des echten Geistes und eigenthümlichen Wesens der deutschen Sprache“ verspricht und dergestalt „das allgemeine nationale Bewußtsein im deutschen Volke zu kräftigen“ hofft. 1 Andere dagegen verfolgen Ziele, die es den Völkischen wohl erlauben, als ‚Trittbrettfahrer‘ (Puschner) an ihnen zu partizipieren, die aber dennoch so eigenständig sind, daß es nicht angeht, sie in toto dem völkischen Nationalismus oder einem anderen politischen Typus zuzuschlagen. Hierher gehören die Bestrebungen zur Kulturreform, wie sie sich beispielsweise im 1902 von Ferdinand Avenarius gegründeten Dürerbund niedergeschlagen haben, einer „Gebildeten-Reformbewegung“, die sich vor allem die Rettung der „ästhetischen Kultur“ vor der zunehmenden Ökonomisierung und dem erdrükkenden Historismus zur Aufgabe macht 2 ; zur religiösen Reform, wie sie u. a. in der von Heinrich Sohnrey inaugurierten protestantischen Dorfkirchenbewegung und diversen Bemühungen um eine Aufwertung des Diesseits, eine zeitgemäßere, das heißt meist: nationalisierte Deutung der Christusmythe (Arthur Bonus) oder eine antiklerikale, stärker laientheologische Ausrichtung (Friedrich Andersen) zum Ausdruck kommen 3 ; oder zum Heimatschutz, dessen Anfänge bis in das Reichsgründungsjahrzehnt zurückreichen (Ernst Rudorff). 4 Auch die lokalen 1 Zit. n. Bernsmeier 1977, S. 371. Vgl. auch Chickering 1994. Nicht verwechselt werden sollte diese Organisation mit dem 1898 von Adolf Reinecke gegründeten Alldeutschen Sprach- und Schriftverein, dessen Zeitschrift Heimdall „rasch zum Organ verschiedener radikalnationalistischer und völkischer Zusammenschlüsse Deutschlands und Österreichs“ avanciert: Puschner 2001, S. 32. 2 Vgl. Kratzsch 1969; ferner vom Bruch 1998; 2003. 3 Zur Dorfkirchenbewegung und zur Rolle Sohnreys im Schnittpunkt von ländlicher Wohlfahrtspflege, Heimatschutzbewegung, Innerer Mission, Jugendbewegung und lokaler Volkskunde vgl. Treiber 2004; zu Bonus vgl. Graf 1996. 4 Zum Bund Heimatschutz, der mit schätzungsweise 30 000 Mitgliedern, vornehmlich aus dem gebildeten Bürgertum, zu den bedeutenderen Reformbewegungen der wilhelminischen Ära zählt, vgl. Knaut 1993. Instruktiv auch das Beispiel der niedersächsischen Heimatbewegung, die Werner Hartung (1991a) untersucht hat. Die Studie von Sievers (1997 – 1999) befaßt sich mit den erst in den 20er Jahren erschienenen Schriften des Berliner Studienrats Joachim Kurd Niedlich (1884 – 1928), der zugleich zu den wichtigsten Exponenten der deutschchristlichen Bewegung gezählt

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Sittlichkeitsvereine können hierzu gerechnet werden, die im Namen des Schutzes der Jugend und der Sitten Kampagnen gegen Schmutz und Schund lancieren. 5 Alle diese Verbände und die ihnen attachierten oder nahestehenden Medien, vom Kunstwart über Eckart und Türmer, die Bayreuther Blätter bis zur Dorfkirche, nehmen wohl von Anfang an auch Mitglieder und Mitarbeiter aus der völkischen Bewegung auf und tragen auf diese Weise zu einem regen Austausch von Personen und Ideen bei. 6 Von völkischer Dominanz oder Hegemonie aber kann in den meisten Fällen nicht die Rede sein. Kunstwart und Dürerbund bemühen sich in gleicher Weise um eine Einbeziehung des Kulturliberalismus und des demokratischen Nationalismus 7, und was die Heimatschutzbewegung angeht, so bezieht deren charakteristische Gegenstellung gegen die reflexive Modernisierung ihre Motive weit weniger aus einem chauvinistischen Nationalismus als vielmehr aus der idealistischen Ästhetik und zeitgenössischen Reformbestrebungen, wie sie etwa in der englischen arts-and-crafts-Bewegung (Ruskin, Morris) vorliegen. Der einseitigen Verbuchung dieser Bewegung auf dem Konto konservativer oder gar regressiver Ambitionen ist William Rollins mit treffenden Argumenten entgegengetreten. 8 Das Ausmaß, in dem der völkische Nationalismus Themen und Motive aus diesen Reformbewegungen adaptiert, läßt sich am besten an seinem Verhältnis werden kann: 1920 begründet er an der Berliner Arndt-Volkshochschule den Bund für deutsche Kirche. 5 Vgl. aus der Primärliteratur Karl Brunner: Unser Volk in Gefahr! Ein Kampfruf gegen die Schundliteratur, Pforzheim 1909; ders.: Vergiftete Geistesnahrung. Eine ernste Mahnung an Jugendliche, Eltern und Erzieher, Leipzig 1914. Aus der Sekundärliteratur Peukert 1983; Jäger 1988; Maase 1995; 2001; ders. und Kaschuba 2001; Ulbricht 1997; Bollenbeck 1999, S. 159 ff.; Storim 1999; 2002. 6 Im Kunstwart ist Adolf Bartels zwischen 1897 und 1902 einer der häufigsten Mitarbeiter; weitere einschlägige Autoren sind hier Paul Schultze-Naumburg, speziell mit seinen zwischen 1900 und 1903 abgedruckten „Kulturarbeiten“, Willy Pastor (1905, 1906) und sogar Philipp Stauff (1912). In dem seit 1906 erscheinenden Eckart publizieren u. a.: Adolf Bartels, Otto Böckel, Eberhard König, E. G. Kolbenheyer, Friedrich Lienhard, Willy Pastor, Friedrich Seeßelberg, Ernst Wachler, Hans von Wolzogen. Beinahe die gleichen Autoren, zu ergänzen um Marie Diers, Ludwig Fahrenkrog, Paul Förster, Jörg Lanz von Liebenfels und Philipp Stauff, schreiben im Türmer, einer dem Kulturprotestantismus zuzurechnenden „Monatsschrift für Gemüt und Geist“ (ab 1898). In den Bayreuther Blättern schreiben u. a. Bartels, Beta, Graevell, Lienhard, Pastor, Wahrmund. Auch in den Vorständen der Verbände ist die personelle Verschränkung beachtlich: so finden sich im Gesamtvorstand des Dürerbundes Völkische wie Bartels, Driesmans, SchultzeNaumburg, Schwaner, Thode und Sohnrey: vgl. Kratzsch 1969, S. 336 f., 463 ff.; der 1904 gegründete Bund Heimatschutz gibt sich mit Schultze-Naumburg und Robert Mielke sogar eine Leitung rein völkischer Observanz. 7 Vgl. Kratzsch 1969, S. 36 ff., 139, 294 ff. sowie die S. 463 ff. wiedergegebene Vorstandsliste des Dürerbundes. 8 Vgl. Rollins 1997. In den Regionalverbänden der Heimatschutzbewegung begegnet man freilich auch immer wieder militanten Nationalisten wie Wilhelm Kotzde, der nach 1918 eine führende Rolle in der völkischen Jugendbewegung einnehmen wird (vgl. ebd., S. 226 ff.) oder Karl Wagenfeld, dem Mitbegründer des Westfälischen Heimatbundes (vgl. Kaufmann 1991). Auch der Rassismus ist hier vertreten, wie das Beispiel Richard von Hoffs zeigt, dessen Weg vom Heimatbund Niedersachsen zu Hans F. K. Günther und seiner Zeitschrift Rasse führt, welche er von 1934 bis 1943 herausgibt: vgl. Hartung 1991, S. 126; Ulbricht 1996, S. 255 ff. Seit Mai 1933 ist er überdies Senator für Kunst, Bildung und Wissenschaft in Bremen: vgl. Artinger 2000, S. 151.

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zur Lebensreform studieren. Diese Bewegung, die mit dem Vegetarismus und Antivivisektionismus der späten 60er und siebziger Jahre einsetzt, um sodann immer neue Triebe hervorzubringen, von der Antialkohol- über die Bodenreform- und Gartenstadtbewegung bis zur Siedlungs- und Nacktkulturbewegung9 , zieht die Völkischen aus mehreren Gründen an. Zum einen bestehen von Anfang an personelle Verflechtungen, etwa in Gestalt der Brüder Förster, die nicht nur die Antisemitenpetition von 1880/81 auf den Weg bringen, sondern auch die vegetarischen und tierschützerischen Ambitionen ihres Bayreuther Meisters übernehmen. Bernhard Förster attackiert bereits 1882 die Pervertierung der Wissenschaften im Rahmen der Vivisektion und ruft die Leserschaft der Bayreuther Blätter zu einem Generalrevirement der Lebensführung auf. 10 Sein Bruder Paul wirkt neben seiner Tätigkeit als führendes Mitglied und Reichstagsabgeordneter der Deutsch-sozialen Partei als zweiter Vorsitzender des Internationalen Vereins zur Bekämpfung der wissenschaftlichen Thierfolter (Vivisektion) und erster Vorsitzender des Deutschen Bundes der Impfgegner und engagiert sich außerdem in der Naturheilkunde-, Ernährungsreform- und Vegetarierbewegung. 11 Sodann gibt es weitreichende Gemeinsamkeiten in soziokultureller Hinsicht. Wie die Völkischen haben auch die Lebensreformer ihre Schwerpunkte im nördlichen, protestantischen Deutschland (insbesondere in Sachsen) und rekrutieren ihre Anhänger in den Mittelschichten. Besonders attraktiv muß dabei den an einer Förderung des sozialen Wandels interessierten Gruppen der Völkischen der Umstand erscheinen, daß sich Adel und Bauernschaft auf diesem Feld stark zurückhalten, und daß auch innerhalb des städtischen Mittelstands das Gewicht mehr auf Aufsteigergruppen des neuen Mittelstands liegt, den staatlichen Beamten und Angestellten der Privatwirtschaft, die die „naturgemäße Lebensweise“ bewußt als Mittel einsetzen, um „ihre kulturelle Verbürgerlichung zu organisieren“. 12 Während sich die Lebensreformer einerseits am Bürgertum und dessen Idealen wie ‚Persönlichkeit‘ und ‚methodische Lebensführung‘ orientieren, lassen sie auf der anderen Seite zugleich Distanz und Kritik erkennen, indem sie dem Bürgertum vorwerfen, „eine Entbindung von Kultur und Kunst aus ethischen und 9 Vgl. Krabbe 1974; 2001; Kerbs und Reulecke 1998. Grundlegend zu den Verflechtungen zwischen Lebensreform und völkischer Bewegung: Puschner 2001, S. 155 ff. 10 Vgl. Bernhard Förster 1882 (Vivisektion), a. a. O., S. 96. 11 Vgl. Zerbel 1993, S. 157; Regin 1995, S. 104, 118, 255 u. ö. Schon die Titel seiner Schriften zeigen die Breite des Spektrums, in dem Paul Förster sich bewegt: Die Kunst des glücklichen Lebens, Berlin 1895; Tierschutz in Gegenwart und Zukunft, Dresden 1898; (Hrsg.): Pocken und Schutzimpfung, Berlin 1900; Die Vivisektion. Ein Wort zur Verständigung und Mahnung, Dresden 1900; Deutsche Bildung, Deutscher Glaube, Deutsche Erziehung, Leipzig 1906; Der Vegetarismus als Grundlage eines neuen Lebens, Frankfurt 1909; Entdeckung der Heimat, in: Heimatschutz in Brandenburg 8, 1917, S. 41–45. Eine Monographie über diese Schlüsselfigur ist ein Desiderat. 12 Barlösius 1997, S. 168 f. Zum Sozialprofil der vegetarischen Anhängerschaft vgl. ebd., S. 98 ff. Zu einem ähnlichen Befund gelangt Wedemeyer 2004, S. 425 f. für die Körperkulturbewegung, die neben der Rhythmischen Gymnastik und verschiedenen esoterischen Gruppen die FKK-Bewegung und die Bodybuilding- und Fitneßbewegung umfaßt. In der Naturheilkundebewegung sind zwar mehr als ein Drittel der Mitglieder des Deutschen Bundes der Vereine für Gesundheitspflege Arbeiter und unselbständige Handwerker, was eine pauschale Qualifizierung als „mittelständisch“ nicht erlaubt. In den Leitungsgremien dominiert allerdings die Mittelschicht: vgl. Regin 1995, S. 70 ff., 79, 88.

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religiösen Deutungen“ zumindest zugelassen, wenn nicht begünstigt zu haben.13 Gegen diesen als sittlichen Verfall und Entartung perzipierten Prozeß setzen sie, genau wie die Völkischen, auf eine Verlangsamung und Abbremsung der Ausdifferenzierung selbständiger Handlungssphären, auf die Wiederbelebung der für die „erste“, die „liberale Moderne“ charakteristischen „synthetisch-harmonisierenden Denkfigur“ (Kondylis), betonen dabei allerdings sehr viel stärker deren körpergebundene Aspekte, das Gleichgewicht von Körper und Geist, Natur und Kultur. 14 Eine Brücke, über die sich leicht antisemitische Deutungsmuster transportieren lassen, bildet dabei die Unterscheidung von reinen und unreinen (oder fremdartigen) Stoffen, die im Zentrum der lebensreformerischen Wirklichkeitsauffassung steht: „Während reine Stoffe nur ‚natürliche‘ sein können, gehören unreine in abgestuften Bedenklichkeitsgraden zur Zivilisation, also jenem Bereich, den Menschen in willkürlichem (‚frevelhaftem‘) Eingriff in die harmonische Welt geschaffen haben. Für alle lebensreformerischen Entwürfe ist konstitutiv, daß die selbstgeschaffene Zivilisation dadurch ihre schädliche Wirkung erzielt, daß sie die Menschen veranlaßt, unreine Stoffe zu verinnerlichen und sich zugleich vom lebensnotwendigen Austausch mit reinen Elementen abzuschließen.“ 15 Einen Überblick über die Verflechtungen zwischen Lebensreform- und völkischer Bewegung gewinnt man am ehesten, indem man sich an die im vorigen Abschnitt geschilderten Gesinnungsgemeinschaften und ihre Zeitschriften hält. Neben dem Deutschbund, auf dessen Aktivitäten an anderer Stelle einzugehen sein wird, hat sich vor allem der Bund deutscher Volkserzieher für die Verbreitung lebensreformerischer Ideen stark gemacht, was sich nicht nur an den Verhaltensvorschriften für seine Mitglieder (Verbot von Fleisch-, Tabak- und Alkoholgenuß), sondern auch an den Themen der Beiträge im Volkserzieher ablesen läßt. Beschränkt sich noch der erste Jahrgang weitgehend auf kulturpolitische Fragen, so kommt schon im zweiten Jahrgang (1898) die ganze Breite der Lebensreform zur Sprache. Ein A. Konrad befaßt sich mit der Ablehnung eines vegetarischen Kinderheims (Nr. 51), E. Frey mit den verschiedenen Heilmethoden (Nrn. 15–19, 21), H. Lietze mit dem deutschen Landerziehungsheim (Nr. 15), R. Kohn und W. Schwaner mit Medizinärzten und Naturärzten (Nrn. 47 und 49), M. May mit dem Trunk und seiner Bekämpfung (Nr. 1), Heinrich Pudor mit Fragen der Körperpflege (Nr. 47) und W. Bode mit dem Thema Volksvergiftung (Nr. 10). Im dritten Jahrgang geht es um Gegenstände wie Bodenbesitzreform (F. Wolf, Nr. 34), Gesundheitsreform (E. Schönborn, Nr. 21), die Impffrage (A. Rehse, Nr. 51), naturgemäße Lebensführung (A. Schmitz, Nrn. 7, 10, 15, 25, 26), Lichtheilverfahren (Th. Schüler, Nr. 42), Prügelpädagogik (H. K., B. Radich, Nr. 31, 34), Selbstvergiftung des Körpers (Dr. Paczkowski, Nr. 37) und Schulreform (E. Eberhardt-Humanus, Nr. 41). Und so geht es weiter, von Jahrgang zu Jahrgang. Wie sehr es der Volkserzieher versteht, sich damit ein bestimmtes Publikum zu schaffen, zeigt ein Blick in die Anzeigenseiten, auf denen für Wanderstiefel und Origi13 14 15

Vgl. Barlösius 1997, S. 171. Zum Harmoniekonzept am Beispiel des Vegetarismus vgl. Sprondel 1986, S. 326, 323. Ebd., S. 322.

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nal-Lodenstoffe aus reiner Schafwolle geworben wird, für Säfte und Marmeladen aus der Obstbausiedlung Eden, für Reformkleidung und -schuhwerk, und nicht zuletzt für Kurheime und Heilstationen wie etwa das Sanatorium von Dr. Strünckmann in Blankenburg/Harz, das in den 20er Jahren als Schauplatz sogenannter Biologischer Wochen dienen wird. 16 Vom Bund deutscher Volkserzieher spaltet sich 1907 eine Gruppe unter der Führung von Carl Weißleder und Willy Schlüter ab, die sich als Biosophischer Bund bezeichnet, Vortragsabende und Kurse über Suggestion, Hypnotismus, Lebensmagnetismus und moderne „Psychagogik“ veranstaltet sowie eine eigene Zeitschrift unter dem Titel Lebenskultur herausgibt. 17 Der Bund, zu dem nach eigenen Angaben ‚Sozialisten, Individualisten, Theosophen, Vegetarier etc.‘ gehören, löst sich anscheinend bereits nach zwei Jahren wieder auf; an seiner Statt gründet Weißleder im Dezember 1910 den Schaffer-Bund, der sich als ‚Bund über den Bünden‘ versteht und das Ziel verfolgt, die unterschiedlichen Bestrebungen aller ‚Neuformer‘ zu verknüpfen und zu bündeln. 1912 vereinigt er sich mit dem ein Jahr zuvor gegründeten Deutschen Tatbund, dem u. a. Heinrich Driesmans, Fidus und der Volksschullehrer und Schriftsteller Adalbert Luntowski angehören, zum Deutschen Schaffer-Bund, der allerdings erst nach dem Weltkrieg über seine Zeitschrift Die Lebensschule breiter in die Öffentlichkeit wirkt. 18 Das völkische Element zeigt sich u. a. im Untertitel dieses Blattes („Monatsschrift für deutschvölkisches Seelen-, Sippen- und Siedlungsleben“), in der Beschränkung der Mit16 Vgl. Panesar 2006, S. 48. Der Arzt Karl Strünckmann (1872 – 1953) ist vor dem Ersten Weltkrieg Mitglied der buddhistischen Deutschen Pâli-Gesellschaft und der Mahabodhigesellschaft, aus der er 1913 ausgeschlossen wird. Nach Kriegsende tritt er in verschiedenen Zeitschriften, vor allem im Württemberger Raum, für eine „christrevolutionäre“ Politik ein und sucht insbesondere den Kontakt zum völkischen Flügel der Jugendbewegung. Seit Frühjahr 1926 leitet er das Sanatorium in Blankenburg, das 1937 nach Bad Harzburg verlegt wird. Sein Schrifttum umfaßt zahlreiche Aufsätze in Zeitschriften wie Der Volkserzieher (1902, 1906, 1911, 1927 – 1932), Der Türmer (1911/12), Deutsches Volkstum (1918, 1926), Die Tat (1921 – 1929), Die Sonne (1924, 1925), Widerstand (1929) und Die schwarze Front (1931), daneben aber auch einige selbständige Publikationen: Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag. Ein Warnruf an die Landwirtschaft. Zugleich ein ernstes Wort zu Gunsten der deutsch-völkischen ländlichen Volkshochschule, 1928; Die deutsche Aufgabe in der Weltkrisis. Betrachtungen eines Biologen, Flensburg 1927; Die deutsche Rolle im Weltenspiel. Ein Wegweiser für die Stillen im Lande. Mit einem offenen Brief an Erich Ludendorff, Flarchheim 1928; (Pseudonym Kurt von Emsen): Adolf Hitler und die Kommenden, Leipzig 1932. Zu seiner Biographie vgl. den Lebenslauf in BArch RK B 0214; PK M 0085; Linse 1983, S. 90 ff.; Wedemeyer 1998; Piecha 2006. 17 Carl Weißleder (1876 – 1953) betätigt sich zunächst als Gastwirtsgehilfe und Versicherungskaufmann, bevor er sich als selbsternannter „Krankenheiler auf seelischer Grundlage“ etabliert. Seine Leitideen gewinnt er teils auf autodidaktischem Wege, teils aus der Freundschaft mit Willy Schlüter (1873–1935), der als Theosoph und Nietzscheaner, Schüler des Soziologen Ferdinand Tönnies und Anhänger des Naturheilkundlers Carl Huter, Mitglied des Deutschen GuttemplerOrdens und Gartenstadtenthusiast eine für die Interpenetration völkischer und lebensreformerischer Bestrebungen exemplarische Figur ist, darüber hinaus auch über ein weites Spektrum politischer Optionen verfügt, das vom Anarchismus bis zur Reichspartei des deutschen Mittelstandes reicht, für die er 1925 Die Mission des Mittelstandes. 99 Thesen für das deutsche Volk (Dresden) verfaßt. Zu ihm ausführlich die informative Studie von Knüppel 1998/99. 18 Vgl. Knüppel 1998/99, T. 1, S. 69 f., 82 ff., 89; T. 2, S. 44. Zu Fidus vgl. Frecot u. a. 1997; zu Luntowski (1883 – 1934), einem bekennenden Vegetarier, der sich später Adalbert Reinwald nennt, vgl. ebd., S. 128 f.

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gliedschaft des Deutschen Schaffer-Bundes auf ‚deutschblütige Menschen‘ und der Verquickung mit der Deutschsozialistischen Partei 19 ; der lebensreformerische Zug in dem von Weißleder entworfenen ‚Schaffer-Grundplan‘, der im Rahmen eines dreistufigen Programms der Selbsterlösung auf der untersten Stufe die „Wiederherstellung des körperlichen Gleichgewichts“ via „Lebens-Reform“ vorsieht: durch „Turn- und Sportübungen, Naturheilkunde, Vegetarismus, Alkoholund Tabakgegnerschaft, Rassenforschung usw.“ 20 Daß die höchste Stufe in diesem idealen Curriculum vitae im „Gottmenschentum“ gipfelt, läßt eine weitere Verbindung zur völkischen Szene erkennen, ist doch das zur näheren Bestimmung benutzte Vokabular zur Gänze dem Schrifttum der Germanischen Glaubens-Gemeinschaft entlehnt, der Weißleder als Mitglied angehört. Ludwig Fahrenkrog wiederum, das Haupt dieser Gemeinschaft, ist zugleich im Bundesvorstand des Deutschen Schaffer-Bundes. 21 Starkes Engagement für lebensreformerische Ziele zeigt auch der Hauptkonkurrent der GGG, die Deutschgläubige Gemeinschaft. Ihr Mitbegründer, Ernst Hunkel, fordert schon 1904 die Völkischen auf, ihre Anhängerschaft durch Werbung bei den „Neuformern“ zu erweitern und setzt dieses Ziel ab 1914 auch publizistisch um, als er nach dem Tod von Gustav Simons dessen Zeitschrift Neues Leben. Monatsschrift für deutsche Wiedergeburt in die Hand bekommt. 22 Aus dem ursprünglich rein lebensreformerischen und freiwirtschaftlichen Blatt, das die Interessenlagen der 1893 gegründeten Vegetarischen Obstbaukolonie Eden widerspiegelt, wird unter Hunkels Federführung ein Organ der DGG, das neben Abteilungen für Religion, völkische und Rassenfragen sowie Staat/Recht/Wirtschaft ständige Rubriken für Gesundheitspflege/Stammzucht (ab 1916/17: Lebensführung), Erziehung/Unterricht und Deutschvölkische Bewegung/Erneuerungs-Bestrebungen aufweist. 1917 gründet Hunkel über seine Frau Margart die Deutsche Schwesternschaft, die „ihre Hauptaufgabe in der Aufzucht rassisch wertvoller Kinder im Geiste deutscher Volks- und Lebenserneuerung“ erblickt 23 ; zwei Jahre später installiert er sich mit 45 Anhängern im oberhessischen Sontra, um dort die Freiwirtschaftslehre Silvio Gesells zu verwirklichen. 24 Unter den Aufnahme19 Vgl. die Satzung des Deutschen Schaffer-Bundes, in: Die Lebensschule 2, 1920, Bl. 21. Zur Verquickung mit der Deutschsozialistischen Partei vgl. weiter unten, II.4. 20 Carl Weißleder: Der „Schaffer“-Grundplan, in: Die Lebensschule 1, 1919, Bl. 11–12. 21 Vgl. ebd.; Knüppel 1998/99, T. 1, S. 87 sowie die Satzung des Deutschen Schaffer-Bundes, a. a. O. 22 Vgl. Puschner 2001, S. 131; Linse 1983 (a), S. 189. Beachtenswert in diesem Zusammenhang ist auch die von Hunkel gemeinsam mit Alfred Fritsch verfaßte Schrift: Unsere Volksreligion, die Sehnsucht nach ihr von heute, die Erfüllung in der Zukunft. Gewidmet den deutschen Lebensreformern, vornehmlich den drei Kulturverbänden, dem Deutschen Kulturbund, dem Neuen deutschen Kulturbund in Oesterreich und dem Deutschen Orden, Oranienburg 1915. 23 Zit. n. Linse 1983 (a), S. 189. 24 Für die Ideen Silvio Gesells, der vor dem Ersten Weltkrieg zeitweise, später dauerhaft in der Kolonie Eden gelebt hat, ist Hunkel durch Gustav Simons geworben worden: vgl. hierzu und zur Rolle Hunkels in der Freiwirtschaftsbewegung Bartsch 1994, S. 48 f., 60 ff., 78 f. Aus dem freiwirtschaftlichen Fragen gewidmeten Schrifttum Ernst Hunkels seien erwähnt: Deutsche Freiwirtschaft, Oranienburg 1919; Völkische Freiwirtschaft, in: Neues Leben 16, 1921/22, H. 9; Selbsthilfe der Arbeit als Weg der Freiwirtschaftsbewegung zur politischen Macht, Jena 1926; Auf freiem Grund ein freies Volk! Lampertsheim 1927; Indexwährung, das Ende aller Wirtschaftsnot und

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bedingungen der „Freiland-Siedlung Donnershag“ findet sich neben der üblichen Klausel („von jüdischem und farbigem Einschlage frei“) die folgende Passage, die die Beziehung zur Lebensreform verdeutlicht: „In unsere Gemeinde soll kein fremder und falscher Ton mehr hereinklingen; und wer die Brücken, die ihn mit der seelenverpestenden und nervenzerrüttenden Zivilisationswelt verbanden, so weit abgebrochen hat, daß er sich in unseren Lebenskreis begibt, dem wird es auch nicht schwer werden, der Hüterin des fremden Glaubens den Abschied zu geben und sich mit den Seinen ganz und gar auf den Grund der Heimat zu stellen. Aus der deutschgläubigen Grundgesinnung folgt als eine Selbstverständlichkeit die Tat der Lebenserneuerung auch in Wohnung, Kleidung, Nahrung und Genuß, frei von engem Eiferertum und äußerlichen Bindungen, aber fest verankert im Gemeinschaftsgewissen und in der Verantwortung für die völkische Kraft und Gesundheit, getragen von Sehnsucht nach Reinheit und Lebensadel. Angedeutet ist dieses Streben in der Bestimmung, daß Schlächtereien und Verkaufsläden für Rauschgetränke und Tabak auf dem Siedlungsgelände grundsätzlich nicht eingerichtet werden dürfen.“ 25 Während Gruppen wie der Biosophische Bund, der Schaffer-Bund und die Germanisch- und Deutschgläubigen eher zur Peripherie der völkischen Bewegung gerechnet werden müssen, befindet sich der um die Zeitschrift Hammer gruppierte Bund mitten im Zentrum. Schon ein flüchtiger Blick läßt die hohe Aufmerksamkeit erkennen, die man hier den Themen der Lebensreform widmet. Die ZeitArbeitslosigkeit, Frankfurt 1931. – Silvio Gesell (1862 – 1930) gehört mit seinen Vorschlägen zur Einführung eines „Schwundgeldes“, zur Aufhebung des privaten Grundeigentums und zur Begründung einer „Marktwirtschaft ohne Kapitalismus“ eher in die libertär-anarchistische als in die völkische Tradition, was auch durch seine Mitwirkung als Volksbeauftragter für das Finanzwesen in der ersten bayerischen Räterepublik unterstrichen wird. Ebenso unübersehbar ist jedoch sein Bestreben, auch unter den Völkischen Anhänger für seine Ideen zu werben, das sich in einer zeitweiligen Zusammenarbeit mit Gustav Simons sowie in mehreren Aufsätzen in Theodor Fritschs Hammer (1912, 1913), in Wilhelm Schwaners Volkserzieher (1913) sowie in Ernst Hunkels Neuem Leben (1914/15) manifestiert hat (vgl. Onken 1999, S. 38 ff.). Auch dem Wiederabdruck eines dieser Aufsätze in dem von Richard Ungewitter herausgegebenen Band Deutschlands Wiedergeburt durch Blut und Eisen (gedruckt 1916, beschlagnahmt, publiziert 1919), hat er sich nicht versagt und steht so in einer Phalanx neben Hunkel, Wachler, Driesmans, Fahrenkrog, Schöll und anderen Mitgliedern der völkischen Prominenz. Von der Resonanz seiner Ideen zur Geld- und Bodenreform zeugen zahlreiche Beiträge in: Hammer 1911, 1918 und 1923; Neues Leben ab 1915/ 16; Reichswart 3, 1922, Nr. 26–35. Neben Ernst Hunkel hat sich vor allem Bruno Tanzmann, der Gründer der Deutschen Bauernhochschule und Mitbegründer der Artamanen (vgl. weiter unten), auf die ökonomischen Aspekte von Gesells Lehren berufen, wie Hunkel mit rechtsnationalistischer und antisemitischer Akzentuierung: vgl. Bruno Tanzmann: Beitrag zur Kritik der Freiwirtschaftsbewegung F.F.F., in: Deutsche Bauernhochschule 4, 1924, H. 1, S. 61–64. Weitere Rezeptionsspuren lassen sich bis zu so unterschiedlichen Geistern wie den Brüdern Gregor und Otto Straßer oder John Maynard Keynes verfolgen: vgl. Kissenkoetter 1978, S. 94 ff. 25 Ernst Hunkel: Freiland-Siedlung Donnershag, in: Neues Leben 14, 1919, H. 1. Das Siedlungsexperiment hat nur wenige Jahre überstanden. Schon im Oktober 1924 wird die Genossenschaft „Deutsch-Ordens-Land“ nach anhaltenden Streitigkeiten über die Wirtschaftsführung Hunkels und vor allem über die angeblich von diesem präferierte Mehrehe nach dem Muster von Hentschels Mittgart (s. u.) aufgelöst: vgl. Linse 1983 (a), S. 190 f. Ob dieser Vorwurf zutrifft, läßt sich nicht mehr überprüfen. Zumindest verbal hat sich Hunkel jedoch von der Mittgart-Idee distanziert, die er insgesamt für künstlich und abseitig erklärt: vgl. ders.: „Mittgart“, in: Neues Leben 17, 1922, H. 3.

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schrift mit dem Untertitel „Monatsblätter für deutschen Sinn“, so erläutert der Herausgeber, stehe außerhalb jeder politischen Partei-Tendenz, sie befürworte „alle Reform-Bestrebungen“, die aus „wahrhaft nationalem Geiste“ geboren seien und auf eine „Gesundung“ des deutschen Volkes „an Leib und Seele“ hinzielten. 26 Entsprechend begegnet man Artikeln über „Ernährungs- und Gesundheitsfragen“ (1903), „Forderungen der germanisch Gesinnten für Erziehungs-Reform in den höheren Schulen“ (1905), „Die Kultur der Entarteten“ (1905), „Besteuerung des Bodens nach gemeinem Wert“ (1906), „Lesegift und Leserausch“ (1908), „Kunst und Wissenschaft im Zeitalter der Perversität“ (1908), „Stadt und Land in der Zukunft“ (1909), „Ursachen der Degeneration“ (1910) usf. Daß es sich dabei keineswegs um ein vorübergehendes Interesse handelt, zeigt noch viele Jahre später der Beitrag eines engen Mitarbeiters von Fritsch, Paul Lehmann, der eine unauflösliche Verbindung zwischen Lebensreform und völkischem Gedanken postuliert: „wer sich zum völkischen Gedanken und Ziel bekennt, muß Lebensreformer sein. Wer es nicht ist, ist nicht völkisch im Geiste und in Wahrheit, sondern mit dem Munde“. 27 Fritsch selbst ist für dieses Ziel immer wieder mit Beiträgen eingetreten: so bereits 1896 mit seiner Schrift über Die Stadt der Zukunft28 , und so mit immer neuen Artikeln im Hammer, die für die 1904 gegründete Deutsche ErneuerungsGemeinde werben, aus der vier Jahre später die Siedlungsgesellschaft „Heimland“ hervorgeht. 29 Unterstützt wird er dabei von zahlreichen Mitarbeitern, die sich darum bemühen, mit Berichten, Kommentaren und Kritiken Verbindungen zu den verschiedenen Strömungen der Lebensreform zu knüpfen. Zu ihnen zählen Apostel der Nacktkulturbewegung wie Heinrich Pudor, der sich im Hammer allerdings meist zu unverfänglicheren Themen wie etwa „Die Über-Entwicklung des Gehirns und die Ziele der Kultur“ äußert 30 , für eine Schulreform eintretende Lehrer wie Josef Stibitz 31 , an Ernährungsfragen Interessierte wie der Sanitätsrat Gustav Stille 32, Biosophen wie Willy Schlüter 33, vor allem aber der neben Fritsch und Beta produktivste Autor des Hammer, der bereits erwähnte Willibald Hentschel, der in immer neuen Anläufen alle nur denkbaren Themen der Lebensreform umkreist. In einer siebenteiligen Artikelserie über Gründe und Abgründe des Verfalles, die zwischen April und Juli 1906 erscheint, prangert er etwa die „Höllenfahrt“ an, „wie sie die hinter uns liegende industrielle Raub-Epoche mit 26

Vgl. Herzog 1999, S. 155 f. Paul Lehmann: Lebensreform und völkischer Gedanke, in: Hammer 25, 1926, H. 589. 28 Zur Gartenstadtbewegung vgl., allerdings mit starker Unterbelichtung der völkischen Beiträge: Hartmann 1976. Eine kritische Würdigung bietet dagegen die Einleitung Dirk Schuberts zur Neuedition von Fritschs Schrift, in: Schubert 2004, S. 9–105. 29 Vgl. dazu m. w. N. Linse 1996, S. 403 ff. 30 Vgl. Hammer 9, 1910, H. 192. Zur Nacktkultur vgl. Pudors Frühwerk: Nackende Menschen, Jauchzen der Zukunft, London 1893. Weitere Beiträge zu lebensreformerischen Themen finden sich in seinen Schriften: Die neue Erziehung. Essays über die Erziehung zur Kunst und zum Leben, Leipzig 1902; Hygiene der Bewegung, in: Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung. Beihefte zur ‚Zeitschrift für Kinderforschung‘, Heft 19, 1906; Mutternot!, ebd., H. 141, 1917. 31 Vgl. Hammer 7, 1908, H. 155. 32 Vgl. Hammer 7, 1908, H. 145. 33 Vgl. Hammer 10, 1911, H. 215, 218, 221. 27

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ihrer Fusel- und Phrasenwirtschaft, mit ihrem Wucher und ihrer Volksausbeutung“ darstelle. Die modernen Städte, so sein Vorwurf, züchteten den „Typus des sinkenden Menschen“, der mit seiner ungesunden Ernährung – zuviel Fleisch, zuviel Fett, zuviel Zucker und zuviele „Nervengifte“ wie Alkohol, Tabak, Tee, Kaffee und Morphium – nicht nur den eigenen Körper schädige, sondern auch den nachwachsenden Generationen eine schwere und stets anwachsende Hypothek aufhalse. Dagegen seien die Verdienste der Reformer zu begrüßen, vom Vegetarismus über die Naturheil- bis hin zur Kleiderreformbewegung, auch wenn diese letztlich nicht weit genug gingen und zum Beispiel nicht das „Kleiderwesen als Ganzes“ in Frage stellten, das, zusammen mit dem falschen Ernährungs- und Wohnungswesen, die Völker „semitisiert“. 34 Was Hentschel propagiert, ist also eine Verbindung von Lebensreform und Antisemitismus, die sich nicht in einer Rücknahme der Emanzipation erschöpft, vielmehr eine Art Sedimentierung des jüdischen beziehungsweise „semitischen“ Wesens in der Kultur behauptet und dessen Austilgung durch Revolutionierung der Lebensweise verlangt. Der Hammer-Kreis beläßt es nicht bei der Formulierung solcher Botschaften. Er bemüht sich auch um deren Verbreitung. Das geschieht zum einen über die bereits dargestellte Bildung von Hammer-Gemeinden, die durch Vortragsveranstaltungen und Flugblattaktionen auf ihre Ziele aufmerksam machen, zum andern mittels einer Strategie, die man am besten als Interpenetration bezeichnet. Sehr im Gegensatz etwa zur Medienpolitik eines Stefan George, der strikt auf Geschlossenheit seines Kreises achtet und nicht selten mit Mitarbeitern bricht, wenn diese in fremden Zeitschriften oder Anthologien publizieren, ermuntert Fritsch seine Autoren geradezu, ihre Ideen auch anderwärts auszubreiten; wie er umgekehrt den Hammer auch für Autoren öffnet, die fest in anderen Organen beziehungsweise Verbänden verankert sind. So schreibt Ottomar Beta nicht nur in den Bayreuther Blättern (1903, 1906, 1909), sondern auch in der Politisch-Anthropologischen Revue oder dem Volkserzieher, wo auch Heinrich Pudor publiziert. Ernst Wachler betreibt seit der Jahrhundertwende eine ganze Reihe eigener Zeitschriftenunternehmen: Der Kynast, Deutsche Zeitschrift, Iduna (1898–1906). Er selbst sowie Fritsch, Beta und Stauff schreiben darüber hinaus im Rechtshort, einer von Johannes Lehmann-Hohenberg (1851–1925) zwischen 1905 und 1910 herausgegebenen Zeitschrift, die sich vor allem den Kampf gegen das römische 34 Vgl. Willibald Hentschel: Gründe und Abgründe des Verfalles, I-VII, in: Hammer 5, 1906, H. 92–98; hier: H. 96, S. 367 f. Auf den völkischen Flügel der Nacktkulturbewegung scheint dieser Gedanke seinen Eindruck nicht verfehlt zu haben: 1910 gründet Richard Ungewitter (1868–1958), Verfasser auflagenstarker Werke wie Die Nacktheit in entwickelungsgeschichtlicher, gesundheitlicher, moralischer und künstlerischer Beleuchtung (1906), die „Loge für aufsteigendes Leben“ (später „Treubund für aufsteigendes Leben“, Tefal), die nur Personen „deutschen Blutes“ aufnimmt und sich in Terminologie und Programmatik stark an Hentschel orientiert. Zu Ungewitter, dem darüber hinaus Mitgliedschaften in der Guido-von-List-Gesellschaft, der Deutsch-Sozialen Partei, dem Reichs-Hammerbund, der Germanischen Glaubensgemeinschaft, dem Verband gegen die Überhebung des Judentums, dem Reichsverband gegen die Sozialdemokratie, dem Alldeutschen Verband, dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund und 1922/23 der NSDAP zugeschrieben werden, vgl. Schneider 1996, S. 429 ff.; Schmölling 2002; Wedemeyer 2004, S. 199 f., 206 ff., 221 f. Zur lebhaften Diskussion um die Nacktkultur vgl. Toepfer 1997; Möhring 2004; Cross 2004.

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Recht zur Aufgabe gemacht hat. 35 Im Hammer wiederum publizieren: das Mitglied der lebensreformerischen Siedlungsgenossenschaft Eden, Gustav Simons, der mit der Zeitschrift des Deutschen Kulturbundes, Neues Leben, über ein eigenes Organ verfügt, dessen Spalten für Autoren des völkischen Spektrums weit offen stehen; der „Arionudist“ und Herausgeber von Ostara, Jörg Lanz von Liebenfels; die Herausgeber von Zeitschriften wie Politisch-Anthropologische Revue (Otto Schmidt-Gibichenfels), Bayreuther Blätter (Hans von Wolzogen), Deutsche Kultur (Heinrich Driesmans) oder Der Kunstwart (Ferdinand Avenarius), Mitglieder des Volkserzieher-Kreises um Wilhelm Schwaner, wie dieser selbst und Willy Schlüter, seinerseits Schriftleiter von Zeitschriften wie Lebensreform (1911) und Deutsches Leben (1912). Der Effekt solcher Strategien ist gewiß nicht gering zu veranschlagen. So gelingt es mit ihrer Hilfe zweifellos, dem völkischen Ideengut eine gewisse Respektabilität in bürgerlichen Kreisen zu verschaffen. In bezug auf das Ziel hingegen, die völkisch-antisemitische Deutungskultur durch Einwirkung auf die Lebensweise abzustützen und so ein spezifisches Milieu zu schaffen, ist Skepsis geboten. Schon die Lebensreform selbst hat, ungeachtet der ihr widerfahrenen öffentlichen Beachtung, nur Segmente der deutschen Bevölkerung zu erfassen vermocht, wie die Zahl von etwa 330 000 Mitgliedern für die Antialkoholbewegung oder von 100 000 Mitgliedern für die Bodenreformbewegung belegt, den beiden quantitativ bedeutendsten Strömungen der sogenannten „peripheren“ Lebensreform. Die Naturheilbewegung bringt es 1913 auf 885 Vereine mit 148000 Mitgliedern, wohingegen die Anhängerschaft des Vegetarismus und der Nacktkulturbewegung deutlich geringer ausfällt. Der Deutsche Vegetarier-Bund zählt 1905/06 knapp über anderthalbtausend Mitglieder, die erste reichsweite Nudistenvereinigung zwanzig Jahre später eben zweitausend.36 In all diesen Verbänden, so der Befund Wolfgang Krabbes, fassen zwar völkische Vorstellungen seit Ende des 19. Jahrhunderts Fuß, sind „hierbei allerdings – insgesamt gesehen – von nur mäßiger Erheblichkeit“. Sehe man von der Nacktkulturbewegung und dem Leserkreis des Hammer ab, so „ließen sich unter den Lebensreformern selten militant-völkische Konzeptionen nachweisen.“ 37 Zu einem ähnlichen Ergebnis sind auch verschiedene Einzeluntersuchungen über die Tierschutz-, Antivivisektions- und Naturheilkundebewegung gelangt. 38 Die Gründe für diese mangelnde Resonanz sind zum einen außerhalb der Völkischen zu suchen: in dem Umstand, daß es erheblicher Anstrengungen bedarf, um eine Lebensführung auf lebensreformerischer Grundlage zu organisieren, Anstrengungen, wie sie eher von Virtuosen als von der Masse zu erwarten sind; in der Existenz von konkurrierenden – sozialistischen, anarchistischen, radikaldemokratischen oder sogar ‚liberalkonservativen‘ – Einstellungen innerhalb der Lebensreformbewegung, zu denen namentlich bei den Ernährungsreformern pazifisti35

Vgl. Nerius 2000. Vgl. Krabbe 2001, S. 26, 28; 1974, S. 136, 148. Erst in der Weimarer Republik wird die Zahl der FKK-Bünde stark ansteigen: auf einige Hundert Vereinigungen mit einer Mitgliederzahl zwischen 30 000 und 75 000: vgl. Wedemeyer 2004, S. 230, 424. 37 Krabbe 1974, S. 157 f. 38 Vgl. Zerbel 1996, S. 552; 1993, S. 142 f.; Regin 1995, S. 262. 36

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sche und internationalistische Motive hinzukommen; in der Neigung der Verbandsleitungen, sich parteipolitisch und konfessionell neutral zu halten. 39 Zum andern tragen die Völkischen selbst nicht wenig dazu bei, daß man Distanz zu ihnen hält. Gegenüber den Bodenreformern etwa lassen sich Fritsch, Beta und Hentschel immer wieder zu beißenden antisemitischen Attacken hinreißen 40 , und das, obwohl deren Parole „Weder Mammonismus noch Kommunismus!“ ganz gut ins völkische Konzept paßt. 41 Den Naturheilern mit ihrer „barocken Reaktion gegen die Schulmedizin“ wirft Hentschel vor, das Leben durch „pedantische Sorge um die Gesundheit“ in seiner Klangfarbe herabzusetzen und zu verhäßlichen; den Vegetariern hält er entgegen, „daß man durch Gartenstädte, Obst- und Gemüsebau oder ähnliche gute Dinge kein im Sinken begriffenes Volk auf der Höhe erhalten kann. 42 Beide Strömungen setzten am falschen Ende an, indem sie eine „Herabsetzung der Ausgabeposten“ anstrebten und dem „Kulturbrande“ zu entfliehen versuchten. „Nun mögen sie in manchen Stücken recht haben, denn vieles, was einen sehr großen Aufwand an rassischer Energie erfordert, ist es sicher nicht wert, und es wäre eine Wohltat, wenn man das viele Dumme und Häßliche, was sich bei uns eingeschlichen hat und an unseren Kräften zehrt, beseitigen könnte – nur dürfen wir dabei das Kind nicht mit dem Bade ausschütten; wir dürfen nicht vergessen, daß wir im Wettbewerbe mit den anderen Völkern, im Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität leben, und daß unsere Schicksale in gesteigertem 39

Vgl. Krabbe 1974, S. 158; Regin 1995, S. 258 ff. Vgl. bereits Theodor Fritsch: Offener Brief an Herrn Dr. A. Theod. Stamm, Ehren-Präsident der Land-Liga, in: AC 2, 1886/87, Nr. 8. Ferner Ottomar Beta. Grund und Boden als Ware und Werkzeug VI: Flürscheim & Co, in: DSBl 5, 1890, Nr. 91; Deutschlands Verjüngung. Zur Theorie und Geschichte der Reform des Boden- und Creditrechts, Berlin 1901, S. 378 ff. Willibald Hentschel: Geschichts-Philosophie, Bodenbesitz-Reform und Judenschutz, in: DSBl 7, 1892, Nr. 187; Studien zur Grund- und Boden-Frage, ebd., Nrn. 188, 190, 193; [o. V.]: Bodenbesitz-Reform, Freihandel, Juden-Frage, ebd., Nr. 211; Allerlei Stimmen für und wider die Bodenbesitz-Reform, ebd., Nr. 215. Hauptvorwurf ist die mangelnde Berücksichtigung des als „jüdisch“ qualifizierten Wuchers durch die Bodenreformer, weshalb deren Vorschläge zur Verstaatlichung des Grundbesitzes beziehungsweise der Grundrente letztlich darauf hinausliefen, „durch einen großartigen Coup das gesamte Vermögen der arischen Völker in die Hände jener Wucherer auszuliefern.“ (Hentschel 1892, a. a. O., Nr. 193). 41 Vgl. Adolf Damaschke: Die Bodenreform. Grundsätzliches und Geschichtliches zur Erkenntnis und Überwindung der sozialen Not, 10. Aufl., Jena 1915, S. 1 ff. Der 1898 von Adolf Damaschke gegründete und bis 1935 geführte Bund Deutscher Bodenreformer hat starke Impulse von Stoeckers Christlich-sozialer Bewegung und vom National-sozialen Verein Friedrich Naumanns empfangen, sich darüber hinaus in seiner Anfangszeit auch Betas Forderung einer Überführung des Realkredits in die öffentliche Hand zu eigen gemacht (vgl. Beta: Deutschlands Verjüngung, a. a. O., S. 389 f.). Da er sich indes durchweg um Zusammenarbeit mit allen Parteien und Verbänden einschließlich denjenigen der politischen Linken bemüht hat, erfüllt er das für die Zuordnung zu den Völkischen zentrale Kriterium einer rechtsnationalistischen Ausrichtung nicht. Immerhin hat die Gemeinsamkeit in der (mittelstands-)ideologischen Programmatik Alfred Roth zu Beginn der Weimarer Republik veranlaßt, den Bund unter die von ihm aufgelisteten deutschvölkischen Verbände aufzunehmen. Vgl. das Verzeichnis deutschvölkischer Vereine, Bünde und Orden. Zusammengestellt von Alfred Roth, in: Deutschvölkisches Jahrbuch 1920, hrsg. von Georg Fritz, S. 232–241, 235. Zum Bund deutscher Bodenreformer vgl. den Artikel in Fricke 1983, Bd. 1, S. 282 ff. 42 Willibald Hentschel: Vom aufsteigenden Leben. Ziele der Rassenhygiene, Leipzig 1914, S. 16, 51. 40

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Maße durch technische Erfolge bedingt und bestimmt werden; ein reines Bauernvolk könnte sich an unserer Stelle nimmer erhalten.“ 43 Für Lebensreformer, die dies nicht wahrhaben wollen, ist der studierte Chemiker und Biologe, der sich noch im hohen Alter an der Konstruktion eines Rückstoßmotors versucht, denn auch schnell mit Vokabeln wie „Friedensschwärmer und Judenfreunde“ bei der Hand. 44 Hinzu kommt, daß er seine eigenen lebensreformerischen Ambitionen mit einem Projekt verknüpft, das einen Frontalangriff auf eingelebte Moralvorstellungen der bürgerlich-christlichen Welt verkörpert, die auch bei den meisten Lebensreformern außerhalb der Disposition stehen: der Anlage von ‚MenschenGärten‘, die als Stätten rassischer Hochzucht für die völkische Oberschicht fungieren sollen. Die Mittgart-Gemeinden, von denen Hentschel träumt, sollen jeweils tausend Frauen und hundert Männer mit langen Schädeln und blonden Haaren vereinen, Merkmalen, die vermeintlich das Vorhandensein innerer Qualitäten wie Kraft, Tatenfreude, Schöpfertum und dergleichen indizieren. Sie sollen auf dem Land angesiedelt sein, um ihre Mitglieder vor den Gefahren der städtischen Zivilisation (wie Alkohol, Nikotin und Begriffsjurisprudenz) zu schützen; sie sollen auf Groß- und Gemeinwirtschaft beruhen und sich ganz auf ihr oberstes Ziel konzentrieren: die „gesteigerte Fortzeugung der Tüchtigen“, die sich Hentschel vor allem von der Einführung der sogenannten Mittgart-Ehe erhofft: einer auf Zeit geschlossenen Verbindung, die mit der Schwängerung endet. 45 Die vom Christentum propagierte unauflösliche Einehe wird dagegen als ‚teuflisches Werkzeug der Zerstörung‘ perhorresziert. 46 Obwohl dieses Projekt nicht über die Gründung einiger Ortsgruppen des Mittgart-Bundes hinauskommt 47 , löst es doch eine aufgeregte Debatte aus, in der selbst die meisten Völkischen auf Distanz zu Hentschel gehen. In der (freilich nur zum Teil dem völkischen Spektrum zuzurechnenden) Politisch-Anthropologischen Revue wird Hentschels Varuna von Ludwig Wilser als Machwerk attackiert, das dem Ansehen der „wahrhaft wissenschaftlichen Rassenlehre“ abträglich sei. 48 43 Vgl. ders.: Varuna. Das Gesetz des aufsteigenden und sinkenden Lebens in der Völkergeschichte, 3. Aufl., Leipzig 1918, S. 168 f. 44 Vgl. ders. 1914, a. a. O., S. 66; Becker 1988, S. 247. 45 Vgl. ders. 1918, a. a. O., S. 170 ff. sowie bereits: Mittgart, ein Weg zur Erneuerung der germanischen Rasse, Leipzig 1904. Man könnte hier im Sinne der oben vorgestellten Idealtypen von Fundamentalismus sprechen, ist doch Mittgart als ein Ort konzipiert, in dem wesentliche Elemente nicht nur der zweiten, sondern bereits der ersten Moderne außer Kraft gesetzt sind. Aber zum einen soll Mittgart eben nur der Züchtung einer neuen Oberschicht dienen und kein Organisationsmodell für die Gesellschaft insgesamt sein; und zum andern schlagen auch hier Strukturmerkmale der Moderne durch, ist Mittgart doch funktional auf die „Steigerung der rassischen Energien“ als „Voraussetzung alles dauernden Fortschrittes“ bezogen (Hentschel 1918, a. a. O., S. 169). Seine Zugehörigkeit zur Moderne zeigt sich darüber hinaus in der von Hentschel anvisierten Expertokratie, die sowohl den Eintritt in Mittgart als auch die dort stattfindende Menschenproduktion dem Urteil von Sachverständigen unterwirft (ebd., S. 170 ff.). 46 Vgl. Hentschel 1914, a. a. O., S. 95. 47 Vgl. Becker 1988, S. 238 ff.; Linse 1996, S. 402. 48 Vgl. Ludwig Wilser: Weltbetrachtung eines Ariers, in: Politisch-Anthropologische Revue 2, 1903/04, S. 409–413. Auch das zu dieser Zeit vor allem vom alten Nationalismus geprägte Archiv für Rassenhygiene und Gesellschafts-Biologie läßt bei aller Sympathie doch nicht im Zweifel, daß

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Ludwig Kuhlenbeck befürchtet, Weltverbesserer in der Art Hentschels würden mit ihren Ideen „eine gesunde realpolitische Inangriffnahme der Rassenfrage nur in Mißkredit bringen, ja lächerlich machen.“ 49 Der Hammer, der einmal angetreten war, das in Hentschels Elaboraten skizzierte Programm auszuarbeiten, sieht sich 1908 zur Distanzierung genötigt und verordnet seinem Autor eine mehrjährige Ruhepause. 50 Schon zuvor hatte Ottomar Beta grundsätzliche Zweifel an der Möglichkeit geübt, „Zuchtidealen zum Ausdruck in der Gesetzgebung zu verhelfen“ und empfohlen, „das ganze Gebiet als Privatsache gelten zu lassen.“ 51 Ludwig Schemann würdigt wohl Hentschels Leidenschaft für die arische Idee, hält es aber für höchst bedenklich, „ihr durch Polygamie wieder aufzuhelfen.“ „Gobineau würde darin nur ein Zeichen erkannt haben, daß die Dekadence, die zu solchen Mitteln greife, auf ihrem Gipfel angelangt sein müsse. Der Mann, der den Lobgesang auf die germanische Frau geschrieben hat […], hätte zweifellos in deren Degradierung das denkbar ungermanischste Rettungsmittel gesehen“. Selbst wenn die Rettung gelänge, sei doch fraglich, „ob dann die Arier wirklich noch das blieben, was sie jenem einstens waren, ob solche Weiße überhaupt der Rettung noch wert wären? oder ob man eine Generation nicht besser ihrem Schicksale überließe, die angeblich nur noch die Wahl hätte zwischen Dekadence, Perversität, Ausschweifungen aller Art und freier Liebe, menschlicher Rassenzüchterei, fécondation artificielle und ähnlichen schönen Dingen, wie wir sie jetzt vielfach als etwas ganz Normales, ja zu Erstrebendes behandelt sehen können.“ 52 Auch Max Robert Gerstenhauer erklärt die Zuchtbestrebungen Hentschels für kontraproduktiv: „Man gefährdet dadurch leicht gerade die besten Grundlagen gesunder Rassenentwicklung, die gute Sitte und die religiösen Anschauungen, die jeden derartigen Eingriff für unzulässig erklären.“ 53 Noch viele Jahre später, nachdem Hentschel längst eine deutlich abgeschwächtere Version in Gestalt seines Artam-Projekts präsentiert hat, glaubt sich der Organisator der hieran anknüpfenden Artamanenbewegung, August Kenstler, zur Klarstellung genötigt, ihm „die länger dauernde Einehe (…) trotz aller Mängel für die Erzeugung und Aufzucht einer tüchtigen neuen Generation (als) die relativ zweckmäßigste Regelung der Fortpflanzungs-Tätigkeit“ erscheint: vgl. Alfred Ploetz: Willibald Hentschels Vorschlag zur Hebung unserer Rasse, in: Archiv für Rassenhygiene und Gesellschafts-Biologie 1, 1904, S. 885–895, 894 f. sowie den Austausch zwischen Ploetz und Hentschel im folgenden Jahrgang, S. 269 ff. 49 Ludwig Kuhlenbeck: Das Evangelium der Rasse, Prenzlau 1905, S. 68. 50 Vgl. Theodor Fritsch: Erklärung der Schriftleitung zur Mittgart-Frage, in: Hammer 7, 1908, H. 135. Noch wenige Jahre zuvor hatte Fritsch seinen Freund Hentschel gegen Wilser verteidigt: vgl. Theodor Fritsch: Zur Kritik an Hentschels ‚Varuna‘, in: Politisch-Anthropologische Revue 2, 1903/04, S. 666 ff. Im Hammer ist Hentschel, der bis dahin fast jedes Jahr mit mehreren Beiträgen vertreten war, erst ab 1911 wieder präsent. Seine Publikationstätigkeit verlagert sich in dieser Zeit auf die Politisch-Anthropologische Revue, während des Ersten Weltkriegs auf Hunkels Neues Leben. 51 Ottomar Beta: Deutschlands Verjüngung. Zur Theorie und Geschichte der Reform des Boden- und Creditrechts, Berlin 1901, S. 372. 52 Ludwig Schemann: Gobineaus Rassenwerk, Stuttgart 1910, S. 279, 410 f. Eine spätere Würdigung Hentschels durch Schemann ist deutlich wohlwollender, wiederholt aber das gleiche Argument: vgl. ders.: Die Rassenfragen im Schrifttum der Neuzeit, München 1931, S. 256 f. 53 Max Robert Gerstenhauer: Rassenlehre und Rassenpflege. Hrsg. vom Deutschbund, Leipzig 1913, S. 45.

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„daß wir mit Willibald Hentschel in keiner Verbindung stehen, sondern nur aus seinem öffentlichen Aufruf ‚Was soll nun aus uns werden?‘ das von ihm geprägte Wort ‚Artam‘ aufgegriffen haben.“ 54

54 August Kenstler: Zur Arbeitsdienstpflicht, in: Deutsche Bauern-Hochschule 4, Frühling 1924, S. 39. Zu Hentschels Aufruf und den Artamanen vgl. weiter unten, S. 218 ff.

8. Interferenzen III: Die Rassenhygienische Bewegung Mittgart ist dazu gedacht, aus einem gegebenen Volk eine neue Führungsschicht zu züchten, die sich nicht so sehr durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse als durch besondere Tüchtigkeit und Leistungskraft auszeichnet und deshalb fortwährend der Erneuerung bedarf. 1 Insofern sprengt es den Rahmen des völkischen Nationalismus nicht. Daß es jedoch überhaupt konzipiert und jahrelang ernsthaft diskutiert werden kann 2 , deutet darauf hin, daß den Völkischen seit der Jahrhundertwende ihr Volk problematisch zu werden beginnt – und zwar nicht nur wegen seiner ungesunden und unnatürlichen Lebensweise, die von den Lebensreformern kritisiert wird, sondern auch wegen seiner genetischen Zusammensetzung, seiner „rassischen“ Qualitäten. Konnte Julius Langbehn noch um 1890 von keinem Zweifel angekränkelt seinen Deutschen bescheinigen: „Sie sind, waren und werden sein Arier“, die geborene Aristokratie der Menschheit, so erklärt Chamberlain knapp ein Jahrzehnt später die modernen Nationen zu Mischpopulationen, in denen sich arische und nichtarische Bestandteile fänden; nur von einzelnen Individuen, nicht von ganzen Völkern könne man sagen, sie seien arisch. 3 Kurz darauf kommt Adolf Bartels zu dem Ergebnis, es habe – bedingt durch die Freizügigkeit, das übermäßige Anwachsen der Großstädte, das Zweikindersystem etc. – eine „Verschlechterung unserer Rasse stattgefunden, genauer ausgedrückt, das deutsche Volk ist nicht mehr in so hohem Grade germanisch rassenhaft bestimmt wie früher.“ Der Adel und das höhere Bürgertum seien jüdisch versippt; die Industriearbeiter unter sozialdemokratisch-jüdischer Führung; der Landarbeiterstand polonisiert. Obwohl das mittlere Bürgertum und die Bauernschaft noch Anlaß zur Hoffnung böten, sei doch bei einer Fortsetzung dieses Trends eine Katastrophe zu befürchten: „Finis Germaniae, mit einem so schlecht1 Der Rassenaristokratismus hat später Hentschel zum Vorläufer des „Nordischen Gedankens“ erklärt, doch trifft dies nur sehr bedingt zu. Hentschel hat zwar die „Tatsache“ anerkannt, „daß die nordische Rasse einen Vorrat konstitutiver und spezifischer Werte aufgespeichert enthält“ und deshalb in allen historischen Zeitaltern als „Regenerator der Völker“ gewirkt hat. Zugleich hat er jedoch eingeräumt, daß Rassenmischung eine Bedingung kulturellen Schöpfertums sein kann und den Mittgartbund deshalb nicht auf die germanische Rasse eingeschworen: vgl. Willibald Hentschel: Zwei vergessene Faktoren der Rassenwertung, in: Politisch-Anthropologische Revue 10, 1911–12, S. 317 ff. Tatsächlich ist das von ihm aufgestellte Züchtungsziel des ‚edlen Menschen‘ rassisch gesehen ein Mischling, wenn auch mit einem hohen Anteil an nordischem Blut. Es ist gerade die Annahme, daß Mischlinge ihre Eigenschaft nicht auf Dauer weitervererben, die Hentschel veranlaßt, mit Mittgart eine kontinuierlich fließende Quelle der Energieerneuerung einzuführen: vgl. noch ders.: Rasse und Rassenzucht, in: Hammer 28, 1929, H. 641. 2 Vgl. nur Theodor Fritsch: Die rechte Ehe. Ein Wort zum Züchtungs-Gedanken und MittgartProblem, in: Hammer 12, 1913, H. 255 sowie die Diskussionen im 28. Jahrgang des Hammer (1929). 3 Vgl. Rembrandt als Erzieher, hrsg. von H. Kellermann, Weimar 1943, S. 193, 209 f.; Houston Stewart Chamberlain: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, 2 Bde., 27. Aufl., München 1941, Bd. 1, S. 347, 315.

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rassigen, dazu noch stockkatholischen Untergrund kann das deutsche Volk nicht existieren, zumal wenn dazu noch die oberen Klassen jüdisch gemischt sind“. 4 Auch Theodor Fritsch meint eine „Volkserschöpfung“ zu erkennen.5 Es seien keine rechten Deutschen mehr, die da unsere Städte anfüllten, eher Turanier, Chasaren, Chinesen. Überall habe sich asiatisches Händlertum ausgebreitet und das Deutsche, dem dieses wesensfremd sei, verdrängt. Man müsse sich endlich eingestehen, „daß nur noch ein kleiner Teil unseres Volkes wahrhaft deutsch genannt werden kann – und daß dieser Teil in den Hintergrund gedrängt ist und keinen Einfluß auf das öffentliche Leben mehr übt“ 6 . Im Gegensatz zu einer verbreiteten Meinung haben die Völkischen aus dieser Diagnose jedoch weniger rassen- als vielmehr ethno- und klassenpolitische Konsequenzen gezogen. Da diese indes vielfach mit gedanklichen Mitteln legitimiert werden, die sich eng an die zeitgenössischen Rassenlehren anlehnen, ist es nötig, etwas weiter auszuholen und einige der Veränderungen zu beleuchten, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert im bürgerlich-christlichen Weltbild vollzogen haben. Neue Akzente kommen hier zum einen von der prähistorischen Forschung, die die herkömmliche „ex-oriente-lux“-Vorstellung auflöst und den nach Asien weisenden biblischen Ursprungsmythos wie die ihm korrespondierende Konzeption eines seit Urzeiten bestehenden, von Südwesten nach Nordosten gerichteten Kulturgefälles durch die gegenteilige Annahme einer autochthonen Kulturtradition Europas ersetzt, wobei sie besonders die Rolle der Germanen herausstellt 7 ; diese, so die sowohl von Hobbyforschern wie Karl Penka (1847–1912) und Ludwig Wilser (1850–1923) als auch von prominenten akademischen Spezialisten wie Gustaf Kossinna (1858–1931) verbreitete Botschaft, seien nicht, wie lange Zeit angenommen (und noch in der Walhalla bei Regensburg versinnbildlicht), aus dem Kaukasus eingewandert, sondern seit jeher in Nordeuropa ansässig gewesen, wo sie schon im Neolithikum ein hochkulturelles Niveau erreicht hätten. 8 Diese Umwertung der Vorgeschichte, die Europa von Asien trennt und zur Stätte einer eigenen, wie bald behauptet wird: höheren Kultur erhebt, verbindet sich zum andern mit dem ebenfalls neu erwachten Interesse an anthropometrischen, insbesondere craniologischen Studien und Reihenuntersuchungen, in deren Gefolge „der Germanenbegriff von seinem durch die antiken Quellen belegten historischen Kontext zunehmend gelöst“ und in eine „Metapher für ein 4 Adolf Bartels: Rasse. Sechzehn Aufsätze zur nationalen Weltanschauung, Hamburg 1909, S. 185, 196. 5 Theodor Fritsch: Volks-Erschöpfung, in: Hammer 4, 1905, H. 83. 6 Ders.: Die Kultur der Entarteten, in: Hammer 4, 1905, H. 72. 7 Vgl. Wiwjorra 2006. 8 Vgl. Karl Penka: Die Herkunft der Arier. Neue Beiträge zur historischen Anthropologie der europäischen Völker, Wien und Teschen 1886; Ludwig Wilser: Die Germanen. Beiträge zur Völkerkunde, Eisenach und Leipzig 1903; Gustaf Kossinna: Die deutsche Vorgeschichte, eine hervorragend nationale Wissenschaft, 1912; Altgermanische Kulturhöhe, in: Deutscher Volkswart 1, 1913/14, H. 1. Zu Penka und Wilser vgl. Wiwjorra 2006, S. 238 ff., 241 ff.; zu Kossinna, der von seinen Ideen wie von seinen politischen Sympathien her ein schwer einzuordnender Grenzgänger zwischen altem und völkischem Nationalismus ist, in den letzten Jahren seines Lebens darüber hinaus Affinitäten zur „Nordischen Bewegung“ an den Tag gelegt hat, vgl. umfassend Grünert 2002, S. 229 ff., 240 ff., 302 ff.

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nordeuropäisches Bevölkerungskontinuum“, eine „nordische Rasse“ verwandelt wird. 9 Da diese Untersuchungen jedoch zugleich auf die Anwesenheit anderer, dem nordisch-germanischen Typus kontrastierende Rassen zu verweisen scheinen, gewinnt ein schon um die Jahrhundertmitte publizierter, aber zunächst wenig beachteter Deutungsvorschlag Gobineaus an Plausibilität, demzufolge die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der Rassenkreuzungen und damit der kulturellen Entropie ist, der fortschreitenden Verdünnung des allein schöpferischen Blutes der arischen Rasse. 10 Georges Vacher de Lapouge (1854–1936) beispielsweise unterscheidet zwischen den dolichocephalen, das heißt langschädligen und hellhäutigen Ariern und den dunklen, aus Asien eingewanderten Brachycephalen und führt die aktuelle demographische und kulturelle Krise Frankreichs und Europas auf ihre Vermischung zurück; durch diese würden Merkmale unterschiedlicher evolutionärer Provenienz kombiniert und zu disharmonischen, in sich zerrissenen Bastardpopulationen zusammengewürfelt, die allein kurzfristigen egoistischen Interessen folgten und die Lasten verweigerten, die mit Nachkommenschaft verbunden seien. 11 Der russische Anthropologe Joseph Deniker (1852–1918) entdeckt in Frankreich gleich mehrere Rassen, von denen er in seinem Buch Les races et les peuples de la terre (1900) annimmt, daß sie auch in anderen Völkern und Nationen anzutreffen seien. Ähnliche Ideen vertreten in Deutschland in Kenntnis der französischen Arbeiten Otto Ammon und Ludwig Woltmann sowie die Vertreter einer Bewegung, die aufgrund ihres Rekurses auf die neue, selektionstheoretische Biologie mit Bezeichnungen wie Sozialdarwinismus, Eugenik oder Rassenhygiene belegt wird. 12 Im Gefolge der in zahlreichen 9

Wiwjorra 2002, S. 85. Vgl. Sieferle 1989, S. 138 f. 11 Vgl. ebd., S. 154 f., 159. Daß Vacher de Lapouge der erste Vertreter der politischen Rassenlehre sei, „der klar zwischen Volk und Rasse unterscheidet und diesen Unterschied polemisch ausspielt“ (Lutzhöft 1971, S. 84), trifft allerdings zumindest für die erste Hälfte des Satzes nicht zu. Schon 1841 heißt es in den Mémoires de la Société éthnologique: „In einem Volk sind immer mehrere Rassen vertreten; daher gilt es, die reinen Rassenbilder aus der Mischung herauszufinden.“ Auch für den Anthropologen Topinard steht 1889, also ungefähr zeitgleich mit de Lapouge, fest, „daß der Begriff Rasse mit dem des Volkstums nicht das mindeste zu tun hat; daß alle Völker Europas ungefähr aus denselben Rassenbestandteilen, nur in verschiedenen Mischungsverhältnissen, zusammengesetzt sind“. Zit. n. Hans F. K. Günther: Rassenkunde des deutschen Volkes, München 1937, S. 17, 6. 12 Das genaue Verhältnis dieser Bezeichnungen ist umstritten. Eugenik und Rassenhygiene gelten weithin als synonyme Ausdrücke für Strategien zur Verbesserung des Erbgutes der Bevölkerung, werden manchmal aber auch verwendet, um innerhalb dieser Strategien zwischen einem linken, sozialistisch-liberalen und einem rechten, ,völkisch-rassistischen‘ Flügel zu unterscheiden. Beide werden überdies von manchen dem Sozialdarwinismus (näher dazu Pickhardt 1997) als einer Übertragung der Selektionstheorie auf gesellschaftliche Prozesse subordiniert, was wiederum von anderen angezweifelt wird, die die rassenhygienische Kernthese der Kontraselektion für antidarwinistisch halten: vgl. statt vieler Herlitzius 1995, S. 60, 46 f. Da sozialdarwinistische Erklärungsstrategien auch ohne Rassentheorien auskommen, gerade diese aber für das Folgende zentral sind, verzichte ich auf diesen Begriff und halte mich statt dessen an den der Rassenhygiene, der im Unterschied zu Sozialdarwinismus auch als Selbstbezeichnung häufig verwendet worden ist. Eine Identifizierung mit einer bestimmten politischen Position wird damit allerdings nicht verbunden. Wie Sheila Faith Weiss gezeigt hat, „kann man die deutsche Rassenbewegung unmöglich als ein exklusives Phänomen der politischen Rechten ansehen“, und selbst dort, wo sie eindeutig rechts ist, ist sie dies in einem multiplen Sinne, der sowohl alten und völkischen Nationa10

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Monographien sowie eigens dafür gegründeten Organen wie der Politisch-Anthropologischen Revue (ab 1901) und dem Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie (ab 1904) entwickelten Theorien lockert sich die bis dahin weitgehend unbefragte Identität von Volk und Rasse so nachhaltig, daß Ludwig Wilser in einem Vortrag vor dem Alldeutschen Verband feststellen kann, „daß ‚Rasse‘ und ‚Volk‘ ganz verschiedene Begriffe sind, deren Verwechselung die größte Verwirrung in der Geschichte und Völkerkunde angerichtet hat. Die ‚Rasse‘ wird bestimmt durch leibliche Merkmale und geistige Eigenschaften, die in ungemessenen Zeiträumen unter der Wirkung der Außenwelt erworben, von Geschlechtern zu Geschlechtern erblich übertragen werden; zur Umschreibung des Begriffs ‚Volk‘ aber sind wir auf die Sprache angewiesen, die nicht ererbt, sondern erlernt wird“. 13 In seinem zur gleichen Zeit erscheinenden Buch über die Germanen präzisiert er: „Rasse ist ein rein naturwissenschaftlicher, Volk ein sprachlich-geschichtlicher, Staat endlich ein rechtlich-politischer Begriff. Eine Rasse kann sich über verschiedene Völker und Staaten, ja Weltteile erstrecken, ein Volk besteht selten aus nur einer Rasse, ein Staat umfaßt häufig mehrere Völker. […] Derselben Rasse Angehörende haben gleiche Leibesbeschaffenheit und geistige Anlagen, Volksgenossen gleiche Sprache und Sitten, Staatsbürger eines politischen Gemeinwesens gleiche Gesetze, Verfassung und Obrigkeit.“ 14 Ihre letzte gedankliche Zuspitzung erfahren diese Ansichten allerdings erst nach dem Ersten Weltkrieg in der sogenannten Nordischen Bewegung, deren Protagonisten, allen voran Hans F. K. Günther (1891–1968) und Ludwig Ferdinand Clauß (1892–1974), einer jüngeren Generation angehören und sich zunächst völkischen Verbänden anschließen: Günther 1922 dem Deutschbund und später auch dem ‚Bundschuh‘, einer Nebenzelle des völkischen Jugendbundes der Artamanen; Clauß 1920 ebenfalls dem Deutschbund, dem Deutschvölkischen Schutzund Trutzbund und möglicherweise auch dem völkischen Jugendbund der Adler und Falken. 15 Im Schrifttum dieser Nordizisten, dem auch völkische Organe breiten Raum geben 16 , werden die bis dahin kursierenden Rassentheorien systemati-

lismus als auch Neo- beziehungsweise Rassenaristokratismus umschließt. Vgl. Weiss 1989, S. 153– 199; Breuer 1999, S. 42 ff., 50 ff. 13 Ludwig Wilser: Die Bedeutung der Germanen in der Weltgeschichte, in: Politisch-Anthropologische Revue 2, 1903–04, S. 640–649, 640 f. Näher zu Wilser: Wiwjorra 2006, S. 238 ff. 14 Ludwig Wilser: Die Germanen. Beiträge zur Völkerkunde, zit. n. der 3. verb. Aufl., Leipzig 1920, 2 Bde., Bd. 1, S. 59. 15 Briefl. Mitteilung von Gregor Hufenreuter, der an einer Geschichte des Deutschbundes arbeitet; vgl. außerdem Max Robert Gerstenhauer: Der völkische Gedanke in Vergangenheit und Zukunft, Leipzig 1933, S. 63, 102; DbBl 27, 1922, Nr. 6–9 über einen Auftritt von Günther und Clauß auf dem Dresdner Bundestag des Deutschbundes. 1924 sind beide Träger des Langhans-Preises (Deutscher Volkswart 7, 1925, H. 4). Die Stammrolle des Deutschbundes von 1926 weist Günther als Mitglied der Dresdner, Clauß als Mitglied der Freiburger Gemeinde aus. Zu Günthers Mitgliedschaft im Bundschuh vgl. Kater 1971, S. 600 f.; zu den Mitgliedschaften von Clauß vgl. Weingart 1995, S. 152; Der Reichskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung, Brief vom 26.10. 1922 (BArch R 1507/375). 16 So kann beispielsweise Günther 1925 in dem dem Deutschbund nahestehenden Deutschen Volkswart die Grundthesen seines Buches über den Nordischen Gedanken in drei Aufsätzen vorstellen: vgl. Deutscher Volkswart 7, 1925, H. 10, 11; 8, 1925/26, H. 2. Auch in Deutschlands Erneue-

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siert und verfeinert. Die in ihnen enthaltenen Wertungen werden so scharf herausgearbeitet, daß Gobineaus Theorem vom alleinigen kulturellen Schöpfertum der arischen beziehungsweise, wie es jetzt heißt, „nordischen“ Rasse erneut bekräftigt wird 17 ; die mit diesem Theorem verbundene Lehre von der Entartung durch Rassenmischung wird ebenfalls bestätigt, jedoch der Irreversibilität entkleidet, die bei Gobineau zu pessimistischen Konsequenzen führt. Obwohl nur noch etwas über die Hälfte der in Deutschland lebenden Bevölkerung mehr als 50 % nordischen Bluts besitzen und ein noch kleinerer Teil (6-8%) als rein nordisch gelten soll 18 , hält der Nordizismus diese Entwicklung für umkehrbar: „durch eine Mehrung höherwertiger Erbanlagen, das heißt durch die höhere Kinderzahl der Erblich-Tüchtigsten und eine Hemmung der Fortpflanzung der Erblich-Minderwertigen“. 19 Während der zweite Teil dieser Forderung auch von Rassenhygienikern vertreten wird, deren Sympathien eher dem ‚alten‘, bürgerlichen Nationalismus gelten, geht der erste Teil deutlich weiter. Im Unterschied zu den Vertretern der Rassenhygiene, die die Eugenik in den Dienst der Erhaltung aller Rassen stellen wollen und vor der Bevorzugung eines bestimmten Typus warnen, geht es Günther um eben eine solche Bevorzugung. Der nordische Gedanke ziehe nicht, wie der Rassegedanke früherer Prägung, einen Graben um das eigene Volk als einer in seiner Gemischtrassigkeit zu verteidigenden Größe. Vielmehr wende er sich von außen nach innen, indem er ein „leiblich-seelisches Vorbild für die Auslese im deutschen Volk“ aufstelle. 20 Er beruhige sich deshalb nicht beim Status quo, sondern bringe Unruhe, indem er für eine „erbgesundheitliche und rassische Reinigung“ sowie den „Geburtensieg der vorwiegend nordischen Menschen innerhalb aller deutschen Stämme“ eintrete. 21 Da Günther allerdings gleichzeitig betont, daß „die einzelnen deutschen Stämme durch das jedem von ihnen eigene Mischungsverhältnis der in Deutschland vertretenen Rassen voneinander verschieden sind“ 22 , und zwar verschieden nicht einfach nur im empirischen Sinne, sondern im Wertsinne – der Anteil an wertvollen nordrassigen Menschen ist in Norddeutschland größer als in Süddeutschland –, da weiterhin die nordrassigen Deutschen den Trägern nordischen Blutes in anderen Gebieten wie Skandinavien oder England näher stehen sollen als den durch „dinarische“ oder gar „ostische“ Einsprengsel bastardisierten Populationen Süddeutschlands, folgt aus diesem Ansatz nicht bloß eine Option für eine neues, rassenanthropologisch begründetes Stratifikationsmodell 23 , sondern, wie die Kritiker sofort erkannt haben, ein „Angriff auf die rung, einer Zeitschrift, die sowohl vom völkischen als auch vom alten Nationalismus getragen wird, ist er ab dem 4. Jahrgang (1920) häufig vertreten. 17 Vgl. Hans F. K. Günther: Der Nordische Gedanke unter den Deutschen, 2. Aufl., München 1927, S. 75. 18 Vgl. ders.: Rassenkunde Europas, 2. Aufl., München 1926 (zuerst 1925), S. 78 ff.; ders.: Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes, ND d. 3. Aufl., Berlin 1943 (zuerst 1929), S. 92 f., 126. 19 Ders.: 1927, a. a. O., S. 13. 20 Ebd., S. 39 f. 21 Ebd., S. 62, 25. 22 Ebd., S. 42. 23 Günther spricht explizit vom „Neuen Adel“ (ebd., S. 23) und versteht darunter „alle erblichgesunden, erblich-tüchtigen, erblich-klugen Menschen gleich reinen nordischen Blutes“: ders.:

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Nationalstaatsidee“, der auf die „Abspaltung des nordwestlichen, protestantischen Deutschland vom katholischen Süd- und Ostdeutschland“ hinausläuft sowie auf den „Aufbau eines nordischen Imperiums, das alle Regionen Nordwesteuropas mit der Dominanz ‚nordischen Blutes‘ umfassen sollte.“ 24 Günther hat dies zwar immer wieder mit dem Argument zu entkräften versucht, daß auch das von ihm anvisierte Ausleseprogramm notwendigerweise auf das Volk zurückgreifen müsse, und speziell auf ein Volk wie das deutsche, das bei aller Degeneration doch noch ein vergleichsweises hohes Potential an nordischem Blut aufweise 25, doch sind die separatistischen und internationalistischen Implikationen seiner Lehre so evident, daß es schon erheblicher Anstrengungen bedarf, sie zu ignorieren. Hier, wenn irgendwo, liegt eine Auffassung vor, die die Bezeichnung Rassismus im uneingeschränkten Sinne verdient. Es liegt auf der Hand, daß ein Diskurs, der so sehr um Degeneration kreist wie der rassenanthropologische, auch die Völkischen anziehen muß, die durch die antisemitische Bewegung für Denkfiguren dieser Art präpariert sind. Es wundert daher nicht, schon 1887 in der Antisemitischen Correspondenz auf einen Artikel über die „Rassen-Frage“ zu stoßen, in dem, wenn auch nur aus zweiter Hand, über die Forschungsergebnisse von Vacher de Lapouge berichtet wird, die zu diesem Zeitpunkt nur erst in Aufsatzform in der Revue d’Anthropologie vorliegen. 26 Gleichwohl dauert es seine Zeit, bis die rassenanthropologische Kritik am Konzept der Volksrasse bei den Völkischen Resonanz findet. Weder in der Antisemitischen Correspondenz noch in den Deutsch-Sozialen Blättern wird darüber diskutiert, und obschon sich dann nach der Jahrhundertwende der Hammer der Frage annimmt, stößt man doch auch hier noch immer wieder auf die Gewißheit, daß bei allem „Rückgang der blonden Rasse“, bei aller „immer deutlicher hervortretende(n) Entartung unseres Geschlechts“, die „deutsche Rasse“ nach wie vor bestehe. 27 Ihr Dahinschwinden wird überdies nicht im gobinistischen Sinne auf Adel und Rasse, München 1926, S. 83. Einen „Adel der Entscheidung“ kennt auch Clauß (Die nordische Seele. Artung, Prägung, Ausdruck, Halle 1923, S. 159). Noch deutlicher werden die neoaristokratischen Ambitionen von den dii minori der Nordischen Bewegung ausgesprochen. Ein Professor Th. Arldt schlägt 1926 eine Staffelung der politischen und sozialen Rechte nach Rassenzugehörigkeit vor, die Menschen mit mongoloidem, negroiden, armenoiden oder sonstigem fremden Einschlag zu „Halbbürgern“ ohne Stimmrecht macht, die Masse derjenigen mit nordischem Blutsanteil in Mischung mit dinarischen und alpinen Elementen zu „Vollbürgern“ und die hochprozentig Nordischen zu „Edelbürgern“ mit besonderen Vorrechten, wie zum Beispiel erhöhtem Stimmrecht und der „Vorbehaltung bestimmter Stellungen“: Th. Arldt: Deutschstämmigkeit, in: Nordische Blätter. Zeitschrift für nordisches Leben 2, 1926, Nr. 3. 24 Essner 1994, S. 88. Essner bezieht sich vor allem auf nationalsozialistische Kritiker wie Friedrich Merkenschlager (Götter, Helden und Günther. Eine Abwehr der Güntherschen Rassenkunde, Nürnberg 1926) und antisemitische Katholiken wie Wilhelm Schmidt (Rasse und Volk, Salzburg und Leipzig 1927). 25 Vgl. Hans F. K. Günther 1927, a. a. O., S. 105 ff. 26 Vgl. [o. V.]: Zur Rassen-Frage, in: AC 2, 1886/87, Nr. 16. Der Artikel ist mit dem Kürzel „-ch.“ gezeichnet, was wohl für Fritsch steht. Unter dem gleichen Titel kommt Adolf Reinecke zehn Jahre später auf die Problematik zurück, indem er für Deutschland den Gegensatz von Dolichocephalen und Brachycephalen mit demjenigen von protestantischem und katholischem Bevölkerungsteil gleichsetzt: vgl. Heimdall 2, 1897, S. 125. Zit. n. Puschner 2001, S. 213. 27 Vgl. Theodor Fritsch: Der Rückgang der blonden Rasse, in: Hammer 2, 1903, H. 29, 35, 39; ders.: Zur Klärung des Rassen-Begriffes, in: Hammer 3, 1904, H. 54.

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Rassenmischung zurückgeführt, sondern auf Umweltbedingungen vornehmlich sozialer und wirtschaftlicher Art: „Das Leben hat einen Zuschnitt angenommen, der dem Gedeihen der germanischen Art unzuträglich ist. Alle Eigenschaften, die früher die Stärke und Ueberlegenheit des Germanen ausmachten, als zum Beispiel: Kampfmut und Tapferkeit, Treue, Hingebung an edle Ziele, selbstlose Aufopferung für Ideale, starkes Ehrgefühl, strenge Wahrheitsliebe und Geradheit, Mangel an Geld-Sinn, Offenheit, Gutmütigkeit – sie erscheinen heute kaum noch als Tugenden, ja sie bereiten ihm den Untergang. In unserer Zeit mit ihren veränderten Lebens-Bedingungen, ihren verworrenen und unlauteren Erwerbs-Verhältnissen stehen obige Eigenschaften dem Fortkommen des Einzelnen geradezu hemmend im Wege.“ 28 Ottomar Beta nimmt den Sieg der Engländer im Burenkrieg gar zum Anlaß, die Antiquiertheit aller Versuche zu behaupten, gegen den Strom der Entwicklung am Ideal der Rassereinheit festzuhalten. Es sei doch wohl evident, „dass die Rassen- und Herrenmoral nicht nur nicht genügt, um ein Volk und einen Staat zu erhalten, sondern mitunter sogar ein Hinderniss sein kann, um im Kampf ums Dasein, um den Weltmarkt und die Weltherrschaft, ja, wie im Falle der Boeren, auch nur um die eigene Existenz seinen Mann zu stehen.“ 29 Im Deutschbund teilt man diese Ansicht zwar nicht, doch biegt man sich hier die Rassenanthropologie für nationalistische Zwecke zurecht. Friedrich Lange, der in einem frühen Aufsatz der Anthropologie noch die kalte Schulter zeigt 30 , stellt einige Jahre später der „weißen Rasse“ kollektiv den Adelsbrief aus und hält demgegenüber die Abstände zwischen ihren einzelnen Klassen und Ständen für unbedeutend. Bezogen auf das deutsche Volk äußert er die Gewißheit, daß es in der Mehrheit „trotz der Tatsache keltischer, slawischer und romanischer Mi28

Ders.: Rassenfrage und Erneuerungs-Gemeinde, in: Hammer 7, 1908, H. 156. Ottomar Beta: Deutschlands Verjüngung. Zur Theorie und Geschichte der Reform des Boden- und Creditrechts, Berlin 1901, S. 372. 30 Vgl. Friedrich Lange: Reines Deutschtum. Grundzüge einer nationalen Weltanschauung, 3. Aufl., Berlin 1904, S. 139. Anthropologische Forschung, heißt es dort, sei zwar wichtig, doch nur von begrenzter Relevanz. Selbst wenn „unser ganzes Volk allmählich immer mehr rundschädelig würde, könnte doch nur der allergraueste Theoretiker uns aufreden wollen, daß wir zu irgend einem Zeitpunkt aufhörten, die geistigen und sittlichen Erben unserer germanischen Väter zu sein […] Bei allmählicher Entwicklung bleibt jedes Volk so lange Erbe seiner Vorfahren, wie es Erbe zu sein wünscht und bewährt, denn das Bewußtsein und der Wille zu ererbten Idealen beweisen vollkräftig, daß diese Ideale noch herrschen. Kurz: – wie man es auch betrachten mag, auf anthropologischem Wege werden wir schwerlich dahin gelangen, das Inventarium des reinen Deutschtums aufzustellen.“ Diese, wenn man so will, „idealistische“ Version, bei der Volk und Rasse in gewohnter Weise durcheinandergehen, grundiert auch die Arbeiten, die Hans von Wolzogen in der von Lange herausgegebenen Deutschen Welt veröffentlicht und später unter dem Titel Aus deutscher Welt zusammengestellt hat (Leipzig 1905, S. 144, 120 f.); ferner ders.: Die Vergeistigung der Rasse, in: Deutsche Welt 8. 4. 1906. Ähnliche Bestrebungen finden sich bei Friedrich Lienhard, für den „Menschen und Rassen […] in die Sichtbarkeit geschleuderte Ideen“ sind: Gobineaus Amadis und die Rassenfrage, in ders.: Wege nach Weimar. Beiträge zur Erneuerung des Idealismus, 11. Aufl., Stuttgart o. J. (Wiederabdruck der 3. Aufl. 1917), Bd. 5: Schiller, S. 1–45, 13; vgl. auch ders.: Der Kern der Rassenfrage, ebd., Bd. 1, S. 36–51. Selbst auf Fritsch hat diese Auffassung Eindruck gemacht, spricht er sich doch bisweilen dafür aus, daß nicht die äußeren Merkmale über die Zugehörigkeit zu einer Rasse entschieden, sondern der Geist (Was ist es um die Rasse, in: Hammer 9, 1910, H. 203). Im Wiederabdruck von 1922 sind diese Passagen weggelassen: vgl. Puschner 2001, S. 125. 29

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schung noch germanisch“ sei, auch wenn dies mit gewissen Abstufungen gelte: am reinsten sei der germanische Kern im Westen, mehr keltisch gemischt dagegen der Süden, mehr slawisch gemischt der Osten. „Wir können in dem Augenblicke, wo im Beginn unserer Weltpolitik das gelbe Problem im größeren Maßstabe an uns herantritt, die Bevölkerung unseres Deutschen Reiches durchaus als Einheit und (in dem anthropologisch heute noch denkbaren Sinne) auch als Reinheit ansprechen“. Die im Titel des Aufsatzes angesprochene „Rassen-Aristokratie“ enthüllt sich von hier aus gesehen geradezu als das Gegenteil dessen, was Günther später mit seinem Konzept des „Neuen Adels“ meint: als bloße „Reinhaltung des Volkstums“. 31 In der Folgezeit werden die Bezüge auf die Rassenanthropologie zwar häufiger und – bezogen auf deren Diskussionsstand – sachlich zutreffender, was mit dem zunehmenden Einfluß der Gesellschaft für Rassenhygiene und sich verdichtenden persönlichen Kontakten, zum Beispiel im Rahmen der Gobineau-Vereinigung, zusammenhängen mag. 32 An der Glaubensgewißheit der Völkischen, daß die neuen Erkenntnisse nur eine Bestätigung ihres vorab feststehenden Nationalismus seien, ändert dies jedoch nichts. Adolf Bartels, auch er ein prominenter Deutschbündler, erklärt 1904 in der Deutschen Welt „das Rassenhafte“ zu einer so harten Substanz, „daß es gar nicht untergehen kann und auch durch Mischungen immer wieder hindurchbricht“; das aber bedeute, „daß man ein Volk nicht als ein bloßes Mischlingsprodukt ansehen kann, daß immer eine Rasse vorwiegt, eine Rasse das nationale Ferment ergibt“ – im deutschen Falle das Germanentum, was dann die Rede vom „Finis Germaniae“ doch wieder sehr relativiert. 33 Max Robert Gerstenhauer (1873–1940), Schriftleiter der Deutschbund-Blätter und ab 1923 Bundesgroßmeister des Deutschbundes, übernimmt wohl 1913 in seiner vom Deutschbund herausgegebenen Schrift Rassenlehre und Rassenpflege die Annahme, daß das deutsche Volk aus verschiedenen (wie er meint: zwei) Rassen gemischt sei, hält aber den historischen Rassentheoretikern und den Rassenhygienikern entgegen, daß daraus eine neue „Vitalrasse“ entstanden sei. Aus den Grundsätzen der Genealogie und der Weismannschen Vererbungslehre ergebe sich zweifelsfrei: „daß in Wirklichkeit die Volkheiten sehr wohl eine Gemeinsamkeit des Wesens, eine selbständige Eigenart besitzen, daß in ihnen durch die jahrhundertelange Kreuzung und Fortpflanzung neue physiologische Einheiten entstanden sind.“ 34 Auch wenn innerhalb dieser Einheit das germanische Element seit einiger Zeit im Abnehmen begriffen sei, sei 31

Friedrich Lange 1904, a. a. O., S. 244 f., 246. Eine wichtige Scharnierfunktion scheint dabei vor allem Ludwig Schemann (1852–1938), der Gründer der Gobineau-Vereinigung, wahrgenommen zu haben, der freundschaftliche Beziehungen sowohl zu Vacher de Lapouge, Otto Ammon, Ludwig Wilser und Ludwig Woltmann als auch zu führenden Vertretern der deutschen Rassenhygiene wie Eugen Fischer, Alfred Ploetz, Max von Gruber und Fritz Lenz unterhält: vgl. Puschner 2001, S. 81, 177. Eine knappe Skizze zu Schemann bei Becker 1990, S. 102 ff. Von Gruber und Fritz Lenz haben ihre Ideen darüber hinaus in völkischen Organen vertreten, der erstere zum Beispiel in Ernst Wachlers Zeitschrift Die Jahreszeiten (1, 1911), der letztere in Ernst Hunkels Neuem Leben (11, 1916; 12, 1918). 33 Adolf Bartels: Zur Rassenforschung (1904), in ders. 1909, a. a. O., S. 71, 65, 73. 34 Max Robert Gerstenhauer: Rassenlehre und Rassenpflege. Hrsg. vom Deutschbund, Leipzig 1913, S. 21. 32

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dieser Rückgang doch noch nicht so stark, daß man zu einer Politik der „Rassenentmischung und germanische(n) Reinzucht“ übergehen müsse, an deren Durchsetzungsmöglichkeit Gerstenhauer überdies ernstliche Zweifel hat. 35 In dem vermutlich ebenfalls von ihm verfaßten Arbeitsplan des Deutschbundes in der Rassenfrage heißt es explizit: „Wenn unser Volk auch nicht mehr reinrassig germanisch ist, so ist es doch noch germanisch rassenhaft bestimmt; es bildet eine durch seine Abstammung hergestellte physiologische Einheit mit im allgemeinen gleichen Erbmassen und daher einen Volkskörper mit selbständiger Eigenart. Das Ergebnis der Rassenlehre ist also die wissenschaftliche Vertiefung und Festigung des völkischen Gedankens; sie ist die wissenschaftliche Grundlage der nationalen Weltanschauung geworden, insbesondere der alten Forderung der Reinerhaltung der völkischen Eigenart des deutschen Wesens (‚reines Deutschtum‘)“. 36 Kurz nach dem Ersten Weltkrieg wiederholt er diese Auffassung in einem Rahmen, der über den Deutschbund hinaus kanonische Geltung für die gesamte völkische Bewegung beansprucht, dem Deutschvölkischen Jahrbuch. „Wir Deutschen bilden also eine generative Einheit, eine Abstammungsgemeinschaft oder ‚Vitalrasse‘ ; und als solche einen wirklichen Volkskörper, eine physiologische Einheit, die hergestellt ist durch das Netz der bei allen Mitgliedern im großen und ganzen gleichen Erbmassen.“ 37 Als später der ehemalige Schriftleiter der Deutschbund-Blätter, Hermann Gustav Holle (1852–1926), neuerlichen Bestrebungen entgegentritt, „durch fortgesetzte Zuchtwahl nach den äußerlichen Merkmalen den Germanen auch geistig

35 Ebd., S. 41. Noch schärfer formuliert dies ausgerechnet Ludwig Schemann, der sich wie kein Zweiter darum bemüht hat, die Gedankenwelt Gobineaus in Deutschland heimisch zu machen. Es sei ausgeschlossen, heißt es in einem zur gleichen Zeit erschienenen Aufsatz, „gewisse Betätigungen des deutschen Gedankens (etwa das Alldeutschtum nach seinen weitesten Zielen) heute noch systematisch auf eine anthropologische Basis, anstatt auf die einzig angezeigte sprachlichnationale, zu stellen. Es kann ja keiner von uns sich der Erkenntnis mehr verschließen, daß die Vorbedingungen hierfür s. z. s. mit jedem Tage mehr eingeschränkt werden, indem die für unsere Gesichtspunkte und Hoffnungen maßgebendste Oberschicht immer mehr zusammenschmilzt, die übrigen Schichten aber gemäß den Verkehrsverhältnissen der modernen Welt sich immer wahlloser vermischen. Ohne daher Ausdrücke wie ‚wahnwitziges Ideal‘ gutheißen zu wollen, wird man doch Schallmayer zugeben müssen, daß Gobineaus ‚visionäre blonde Edelrasse‘ weder im ganzen mehr zurückkonstruiert, noch auf ihre Einzelexemplare durchweg mit Sicherheit mehr die Hand gelegt werden kann“ (Ludwig Schemann: Neues aus der Welt Gobineaus. Echos auf ein Buch, in: Politisch-Anthropologische Revue 11, 1912/13, S. 31–46, 41). 36 Deutschvölkische Hochschulblätter 3, 1913/14, S. 18 f.; Geschäftsbericht des Br. Schriftwart über das Jahr 1913/14, in: DbBl 19, 1914, S. 80 f. Zit. n. Puschner 2001, S. 76. Die ebendort geforderten „Maßnahmen einer planmäßigen Züchtungspolitik“, wie zum Beispiel „die künstliche Ausmerzung der Minderwertigen, der Schwachen, Kranken, Untüchtigen und Schlechten, durch ihren Ausschluß von der Nachzucht“ beziehen sich nicht auf Rassenzucht im Güntherschen Sinne, sondern gehören in die allgemeine Rassenhygiene (vgl. ebd., S. 121). 37 Max Robert Gerstenhauer: Rasse, Volk und Staat, in: Deutschvölkisches Jahrbuch 1920, S. 75–88, 79. Der von Alfred Ploetz geprägte Ausdruck „Vitalrasse“, das sei hier nur en passant vermerkt, wird übrigens von Günther zurückgewiesen, weil mit ihm der Rassenbegriff auf eine Größe übertragen werde, die in Wahrheit nichts anderes bedeute als Volk: vgl. Hans F. K. Günther 1937, a. a. O., S. 19.

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aus dem Volke wieder herauszüchten“ zu wollen, und nachgerade von dem „Wahngebilde der künstlichen Züchtung“ spricht 38 , wechselt Gerstenhauer zwar auf den ersten Blick die Seiten, indem er „germanische Rassenreinzucht“ verlangt und das deutsche Volk auf die Aufgabe verpflichten will, „Menschen mit edlen germanischen Zügen und arischen Langschädeln (zu) züchten“. Seine weiteren Ausführungen zeigen hingegen, daß er vom Konzept der Volksrasse nur einige Abstriche gemacht hat, ohne es gänzlich preiszugeben. Es sei wohl richtig, „daß das deutsche Volk nicht reinrassig germanisch, sondern aus germanischen (oder arischen) und nichtarischen (besonders alpinen oder turanischen) Rassenbestandteilen gemischt ist“, doch überwögen immer noch die germanischen: „etwa zwei Drittel germanische, ein Drittel nichtgermanische; die Deutschen sind also nicht mehr reinrassig germanisch, aber noch ‚rassenhaft germanisch bestimmt‘“. 39 Einige Zeit später werden selbst diese Einschränkungen wieder fallengelassen und Völker als Abstammungsgemeinschaften bestimmt, „deren einzelne Mitglieder im großen und ganzen von der gleichen Rasse sind“. Womit es im deutschen Falle gerechtfertigt sei, von einer „deutschen Rasse“ zu sprechen. 40 Wie dominant diese Vorstellung ist, zeigt ein Artikel Heinrich Blumes von 1927, in dem dieser im Anschluß an Gerstenhauer gegenüber allen Bestrebungen, Volk als sprachlich-kulturellen und Rasse als biologischen Begriff auseinanderzuhalten, darauf beharrt, „daß dem Begriffe ‚Volk‘ auch ein starker biologischer Kern innewohne. Die Erbeinheiten, die aus verschiedenenen Rassen in ein Volk einfließen, bleiben nicht mosaikartig nebeneinander liegen, sondern beeinflussen sich gegenseitig. Man braucht dabei nicht an eine Strukturänderung zu denken. Die biologische Einheitlichkeit der Angehörigen eines Volkes wird dadurch gesteigert. So haben das deutsche Volk und auch das Judentum, die beide Rassenmischungen sind, doch im Laufe der Jahrhunderte eine bestimmte biologische Eigenprägung ausgebildet, eine ‚Physiologische Einheit‘ oder ‚Vitalrasse‘, wie Gerstenhauer sie benennt, oder ‚sekundäre Rasse, Rasse zweiter Ordnung‘, um 38 Hermann Gustav Holle: Völkische Politik, in: Deutscher Volkswart 6, 1921, H. 3. Spätere Stellungnahmen Holles zur Rassenlehre Günthers fallen deutlich positiver aus, bestehen aber nach wie vor darauf, daß „erst die Mischung mit anderen Rassebestandteilen die nordische Kultur zur höchsten Blüte gesteigert hat“; woraus zu folgern sei, daß „die alpine (ostische) Rasse, die in Deutschland hauptsächlich inbetracht kommt, nicht die absprechende Beurteilung finden (darf), wie bei Hans Günther.“ (H. G. Holle: Von der rassischen Zusammensetzung unsres Volkes, in: Die Sonne 2, 1925, H. 16–17). Holles Hauptschrift ist die „Allgemeine Biologie als Grundlage für Weltanschauung, Lebensführung und Politik“, München 1919. Zu seiner Person vgl. die Skizze in: Bremische Biographie, hrsg. von der Historischen Gesellschaft zu Bremen und dem Stadtarchiv Bremen, Bremen 1969, S. 244 f., die freilich sein Wirken im Deutschbund unerwähnt läßt. 39 Max Robert Gerstenhauer: Das Programm der Rassenpolitik, in: Deutscher Volkswart 6, 1921, H. 6 (fortgesetzt in H. 7, 8, 9). Noch einige Jahre später wird Gerstenhauer die rassischen und völkischen Blutsgemeinschaften zu „verkörperte(n) Ausdrucksformen göttlichen Wirkens, einer göttlichen Idee“ erklären und damit endgültig offenbaren, daß nicht die Rassenbiologie, sondern die Volksnomostheologie sein eigentlicher Bezugspunkt ist: vgl. Max Robert Gerstenhauer: Der Führer. Ein Wegweiser zu deutscher Weltanschauung und Politik, Jena 1927, S. 8; ders.: Ein neues Kulturzeitalter? In: Der Wille. Monatsschrift der Deutschen Freiheitsbewegung 1, 1932, H. 4. 40 Ders.: Die Zukunft der völkischen Bewegung (II), in: DbBl 29, 1924, Nr. 8; Unsere nächsten Arbeitsziele, ebd. 31, 1926, Nr. 7–8.

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einen Jägerschen Ausdruck zu gebrauchen.“ 41 Und Heinrich Blume (1887 – ?) ist nicht irgendwer. In den 20er Jahren ist er Bundeskanzler des Deutschbundes und damit der zweite Mann nach Gerstenhauer (s. u., S. 163). Auch dem späteren Führer der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung, Reinhold Wulle, fließt das Wort von der „deutsche(n) Rasse“ noch wie selbstverständlich in die Feder. 42 Damit ist eine Grenze der Rezeption markiert, die verständlich macht, warum für die meisten Völkischen die Rassenlehre in ihrer genuin rassistischen Zuspitzung inkommensurabel ist. Diese Inkommensurabilität äußert sich in doppelter Weise, entweder als direkte oder indirekte Ablehnung des Nordizismus oder als Umdeutung, von der nur selten genau gesagt werden kann, ob sie einem strategischen Kalkül oder schlichtem Unverständnis geschuldet ist. Offene Ablehnung bekunden beispielsweise Jürgen von Ramin, Reichstagsabgeordneter der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung, der starke Bedenken gegen die Konstruktion eines nordischen Idealtyps äußert und Günther eine Abkehr vom völkischen Gedanken vorwirft 43 ; Adolf Bartels, der Günthers Schrift über den Nordischen Gedanken für unbefriedigend erklärt und bekennt, ihm sei das Volkstum zuletzt ein wichtigerer Gedanke als derjenige der Rasse 44 ; Karl Strünckmann, der nicht in der Entnordung das Problem der Gegenwart sieht, sondern in der durch eine naturwidrige Lebensweise hervorgerufenen Entartung45 ; Artur Dinter, der Günther zu einem „noch im Stoffwahn befangene(n) Rassenforscher“ erklärt und darauf beharrt, daß das deutsche Volk, wenn auch nicht rassenrein, so doch rassisch

41 Heinrich Blume: Volksbildung und Heimatschulen, in: Mecklenburger Warte / R.Z. 21, 1927, Nr. 19. Blume bezieht sich hier auf die Arbeiten des Deutschbund-Bruders Hermann Jäger, der es für möglich und durch das Beispiel des jüdischen (!) Volkes für bewiesen hält, daß aus Rassenmischung neue Rassen, ‚Rassen zweiter Ordnung‘ entstehen können: vgl. Hermann Jäger: Wie entstehen Völker? In: Politisch-Anthropologische Monatsschrift 20, 1921, Nr. 1; Gibt es Rassen zweiter Ordnung? In: Deutschlands Erneuerung 9, 1925, H. 2; Völkische Erziehung, in: DbBl 30, 1925, Nr. 1. 42 Vgl. Reinhold Wulle: Der völkische Staat, in: Mecklenburger Warte / R.Z. 17, 1923, Nr. 288. 43 Vgl. Jürgen von Ramin: Rasse, in: Der Student 1, 1925, F. 13; Ringendes Deutschtum, 15. 1. 1926, zit. nach dem Wiederabdruck [Die nordische Bewegung], in: Die Sonne 3, 1926, H. 2 (Deutsche Wacht). 44 Vgl. Adolf Bartels: Der nordische Gedanke, in: Deutsches Schrifttum 18, 1926, Nr. 12 (Beilage zum Reichswart 7, 1926). Schon in seiner Besprechung von Günthers Rassenkunde des deutschen Volkes mag Bartels sich, bei allem Respekt, nicht zu dessen Anschauung bekennen, „daß Volkstum nur ein geschichtlich-sittentümlicher Begriff sei“ (Deutsches Schrifttum 15, 1923, Nr. 2, Beilage zum Reichswart 4, 1923). Noch grundsätzlicher fällt die Distanzierung in seiner Besprechung von Günthers Rassenkunde des jüdischen Volkes aus. Bei der Lektüre habe er einmal mehr „das schon öfter gefühlte Verlangen“ gespürt, „den ganzen Rassekram zum Teufel zu werfen. Rassegemische, Rassegemische, Rassegemische, weiter nichts, von reinen Rassen nicht die Spur mehr! Was waren das für schöne Zeiten, als wir Deutsche uns im Gegensatz zu den Romanen und Slawen und gar den Juden noch als reine Germanen empfanden und alles Gute, was wir haben, aus diesem ableiteten! Nun, seit Hauser und Günther sind wir womöglich ostisch oder gar ostbaltisch oder sudetisch – dies ist die neueste Erfindung! Scherz beiseite, aber die Rassenwissenschaft unserer Zeit hat wirklich etwas verwirrendes“: Deutsches Schrifttum 22, 1930, Nr. 6 (Beilage zum Reichswart 11, 1930). Daß Bartels das Buch dann dennoch empfiehlt, hat nicht in den rassentheoretischen Aussagen seinen Grund, sondern in der Bedienung antisemitischer Ressentiments durch Günther. 45 Vgl. Karl Strünckmann: „Auf-Nordung“ oder „Auf-Artung“, in: Die Sonne 2, 1925, H. 18.

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rein und gerade aufgrund seiner günstigen Mischung zur Genialität prädestiniert sei 46 ; Friedrich Solger, für den der Gedanke der Aufnordung schlechterdings unvölkisch ist, weil er „eine Gemeinbürgschaft der Blonden, nicht der Deutschen“ schaffe und den Skandinavier für wertvoller halte als den Süddeutschen 47 ; Karl Felix Wolff, der dem Nordizismus vorwirft, das deutsche Volk nicht nur körperlich, sondern auch geistig auseinanderzudividieren und dem „tollsten inneren Zwist“ zu überantworten 48 ; Hans Friedrich Blunck, der die Errichtung einer „neue(n) Rassenlinie südlich von Niedersachsen quer durch Deutschland“ beklagt und nicht ansteht, Günthers Werk als „Dilettantenarbeit“ zu qualifizieren, das „der Wissenschaft der Rassenkunde schwersten Schaden angetan“ habe 49 ; des weiteren Reinhold Richter, Heinrich Pudor und Ludwig Neuner. 50 Eher indirekt fällt die Ablehnung bei Alfred Seeliger aus, der einem Buch des Günther-Gegners Wilhelm Schmidt eine überaus positive Besprechung widmet, und dies immerhin in einem offiziellen Organ der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung. 51 Bernhard Kummer sieht die „Rassenkunde“ – Günthers Markenname – in Gefahr, „neben den stark bejahten Gesetzen der körperlichen Wirklichkeit die ebenso realen, nur mit anderen Mitteln zu erforschenden Gesetze der seelischen Wirklichkeit zu mißachten“, und distanziert sich vom Gedanken der Züchtung. 52 Otto Schmidt-Gibichenfels, von 1911 bis 1922 Herausgeber der Poli46 Vgl. Artur Dinter: Deutsche und jüdische Rasse, in: Nationalsozialistische Briefe, 40. Brief, 15. 5. 1927. 47 Friedrich Solger: Konservative Rassenpolitik, in: Gewissen 7, 1925, Nr. 21. Der Geologieprofessor Solger (1877 – 1965) ist vor dem Ersten Weltkrieg Vorsitzender der Berliner Ortsgruppe des Alldeutschen Verbandes und Mitglied des Werdandi-Bundes. Nach 1918 engagiert er sich in der Berliner Arndt-Hochschule und im Bund völkischer Lehrer: vgl. Ulbricht 1988 – 1992, S. 118 f. 48 Karl Felix Wolff: Die sogenannte Nordische Bewegung, in: Reichswart 9, 1928, Nr. 30. Der Südtiroler Volkskundler Wolff (1879–1966), vor dem Ersten Weltkrieg lange Mitglied im Alldeutschen Verband, hat seinen Angriff gegen Günther und dessen „Irrlehre von der Entnordung“ auch in einem Buch vorgetragen, das in der von Gustaf Kossinna herausgegebenen Mannus-Bibliothek erschienen ist: Rassenlehre. Neue Gedanken zur Anthropologie, Politik, Wirtschaft, Volkspflege und Ethik, Leipzig 1927, S. 38 ff. Kossinna hat sich zwar von einigen politischen Aspekten dieses Buches distanziert, seine guten Beziehungen zu Wolff jedoch fortgesetzt: vgl. Grünert 2002, S. 302 f. 49 Hans Friedrich Blunck: Zur Rassenbildungsfrage, in: Die Tat 19.1, 1927/28, S. 47–50, 48 f. 50 Vgl. Reinhold Richter: Nordische Rasse oder deutsches Volk, in: Reichswart 9, 1928, Nr. 23; Heinrich Pudor: Nochmals ‚Blut und Rasse‘, in: Michel, 21. 8. 1927; Ludwig Neuner: Volk, Freiheit und Vaterland 5, 1927, F. 45, 47–49. Die Schriften von Pudor und Neuner waren mir im Original nicht zugänglich. Ihre Argumentation wird referiert von Kurt Holler: Übersicht, in: Nordische Blätter. Zeitschrift für nordisches Leben 3, 1927, Nrn. 2 und 5–6. Von Ludwig Neuner, einem Anhänger Otto Dickels, vgl. noch: Die Deutsche Rassenfrage. Gesammelte Aufsätze, Obermenzing 1929. 51 Vgl. Alfred Seeliger: Rasse und Volk, in: Mecklenburger Warte / R.Z. 22, 1928, Nr. 145. Der Arzt und Schriftsteller Alfred Seeliger (1867–1938) leitet in Berlin vor 1900 den Konservativen Wahlverein, dann in Pirna die Ortsgruppe des Alldeutschen Verbandes; zugleich gehört er zum Führungsgremium der von Fritsch und Hentschel gegründeten Deutschen Erneuerungsgemeinde. Nach 1918 ist er Gründungsmitglied der Arbeitskammer der Schirmherrschaft der Deutschen Bauernhochschule und Zweiter Vorsitzender der Gesellschaft für deutsches Schrifttum. Sein Haus in Wehlen bei Dresden dient als Begegnungsstätte der völkischen Prominenz. Vgl. Puschner 2001, S. 283. 52 Bernhard Kummer: Rassenmaterialismus, in: Reichswart 11, 1930, Nr. 48.

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tisch-Anthropologischen Monatsschrift und von 1924 bis 1925 der Sonne, zweier Organe, die sich sowohl dem Rassenaristokratismus als auch dem völkischen Nationalismus verpflichtet fühlen, erteilt dem Nordizismus zumindest in politischer Hinsicht eine deutliche Absage, indem er zwar konzediert, daß das deutsche Volk nur noch in natürlicher und kultureller Beziehung germanisch bestimmt sei, nicht aber in rassischer Hinsicht, dann aber sogleich hinzufügt, es sei „ganz ausgeschlossen, etwa die Forderungen zu erheben, das Blutsbekenntnis auf sämtliche Merkmale der nordischen beziehungsweise germanischen Rasse auszudehnen“, da man auf diese Weise „von der als ‚gut deutsch‘ zu bezeichnenden Menschenmenge vielleicht noch nicht 10 % übrig behalten“ würde. „So großen Wert wir also auf den Adel rein germanischer beziehungsweise nordischer Abstammung und entsprechender leiblich-geistiger Ausprägung legen und so sehr wir die Vermehrung solcher Typen als eine erstrebenswerte Forderung der Zukunft aufstellen wollen, so dürfen wir darum doch nicht diejenigen Volksgenossen aus unserer Gemeinschaft ausschließen, die nicht reinen, ja nicht einmal überwiegend reinen germanischen Gepräges sind.“ 53 Beispiele für Umdeutung finden sich in den bereits erwähnten, leicht zu vermehrenden Äußerungen aus der Spitze des Deutschbundes54 , aber auch in einem für die Selbstverständigung der Völkischen so zentralen Organ wie dem Hammer. Dort wird zwar keine Gelegenheit ausgelassen, die Verstärkung zu begrüßen, die die völkische Bewegung durch die naturwissenschaftliche Begründung der Rassenlehre bei Günther erfahren habe 55, doch lassen die näheren Ausführungen erkennen, daß sich die Rezeption ganz in den Bahnen bewegt, die Theodor Fritsch schon in der Vorkriegszeit festgelegt hat. Was von Willibald Schulzes Einwand zu halten ist, im Hammer sei die von Gobineau begründete naturwissenschaftliche Richtung der völkischen Bewegung während des letzten Jahrzehnts zu kurz gekommen, zeigt dessen vollmundig vorgetragene Überzeugung, „daß wir – Gott sei Dank! – eben im wesentlichen noch ein nordisches Volk sind.“ 56 Auch ein anderer Autor praktiziert diese Umdeutungstechnik, wenn er ausgerechnet Günther für die Untermauerung seiner Behauptung in Anspruch

53 Otto Schmidt-Gibichenfels: Die Rassenlehre und die Völkischen, in: Hammer 21, 1922, H. 469. 54 Um nur noch ein weiteres, besonders signifikantes Beispiel anzuführen: In seiner Weiherede vom Hermannsfest am 7. 6. 1925 identifiziert Heinrich Kraeger, Schriftleiter des Deutschen Volkswarts, nicht nur nordisch und deutsch, sondern behauptet, daß der nordische Mensch in Deutschland weiter entwickelt sei als überall sonst, „sodaß der Deutsche, nordisch bestimmt, unter den Menschen der vorgeschrittenste, der relativ (beziehentlich) beste und eine höhere Form, sozusagen eine Fortbildung der nordischen Rasse ist“: DbBl 30, 1925, Nr. 6–7. 55 Vgl. u. a. Willibald Schulze: Volk und Rasse, in: Hammer 26, 1927, H. 593; ders.: Besprechung von Günthers Rassenkunde des jüdischen Volkes, Hammer 29, 1930, H. 666; ders.: Zum 40. Geburtstage des Professor Hans F. K. Günther am 16. Hornung 1931, in: Hammer 30, 1931, H. 687/ 688; ders.: Der naturwissenschaftliche Flügel der völkischen Front, in: Hammer 30, 1931, H. 695/ 696. In dem vom Hammer empfohlenen „Grundstock einer völkischen Hausbücherei“ weist die Abteilung III „Die rassischen Grundlagen“ nur drei Titel auf, die allesamt von Günther stammen. Dazu heißt es: „Selten ist ein Bucherfolg so ehrlich erarbeitet und vom völkischen Standpunkte so ohne Einschränkung zu begrüßen wie der Günther’s“ (Hammer 28, 1929, H. 660). 56 Schulze 1927, a. a. O.

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nimmt, „daß die blutsmäßige Grundeinstellung des heutigen deutschen Volkes […] noch vorwiegend germanisch ist.“ 57 Das Gewicht, das beide Verfasser, ganz im Einklang mit Theodor Fritsch 58 , darauf legen, den anthropometrischen Argumenten die Spitze zu nehmen, wird in der übrigen völkischen Publizistik gern dazu genutzt, die Biologie gänzlich zu verabschieden. Germanisches Kulturerbe, so ein „Dr. H.“, sei wohl „bei den germanisch aussehenden Volksgenossen am selbstverständlichsten“ zu vermuten, doch sei auch „jeder andere Volksgenosse […] Germane, wenn er germanisch denkt und fühlt! Der Unterschied zwischen beiden liegt vielleicht nur darin, daß es dem Reinrassigeren leichter fällt, sich das völkische Kulturgut zu eigen zu machen, während der andere schwere Kämpfe in seinem Innern gegen die dunklen Mächte der Mischblütigen ausfechten muß.“ Völkische Aufgabe sei es daher, „die deutschgermanische Seele in all den deutschen Volksgenossen zu befreien, die sie besitzen oder in sich ahnend fühlen! Dann wird vielleicht auch in fernen Zeiten das Innenleben die äußere Erscheinung nach der Vorväter Art gestalten, denn der Geist bildet den Körper!“59 Auffassungen dieser Art koppeln sich zwar nur von biologischen Begründungen ab und nicht gleichzeitig auch vom Rassenbegriff, zielen sie doch auf die Züchtung einer „deutschen Rasse“, wie sie schon Chamberlain anvisiert hat. 60 Worum es sich jedoch durchweg handelt, ist nicht Rassismus, der die Präferenz für eine als besonders hochwertig angesehene Rasse impliziert und diese aus dem gegenwärtigen Rassengemisch herausfiltern und privilegieren will, sondern ein ethnischer Nationalismus, der eben dieses Gemisch im großen und ganzen akzeptiert und darauf verzichtet, es rassisch auseinanderzudividieren. Das schließt, wie der völkische Antisemitismus zeigt, eine aggressive und militante Wendung gegen ethnische Minderheiten ebensowenig aus wie den Rekurs auf Angebote der Rassenanthropologie, die eine Zuordnung dieser Minderheiten zu fremden Rassen erlauben. Nur: der primäre Grund für diese Wendung ist das Idealbild des ethnisch homogenen, geschlossenen Nationalstaates, das die Anwesenheit von Gruppen mit vermuteten anderen Loyalitäten nur dann zuläßt, wenn diese rechtlich oder faktisch von zentralen staatsbürgerlichen Rechten ausgeschlossen sind. Typisch völkisch ist darüber hinaus die enge Koppelung dieses ethnischen Nationalismus mit einer spezifisch mittelständischen Ideologie, ist man sich doch in der Überzeugung einig, daß die Rassenfrage nicht zuletzt eine Klassenfrage sei, auf die eine „verständige Mittelstandspolitik“ die beste Antwort sei. 61 Die „Hauptsache bei der ganzen Rassenverbesserung“, schreibt Gerstenhauer, „ist: die Änderung der wirtschaftlichen und sozialen Gesamtverhältnisse so, daß die Erhaltung und Vermehrung der rassisch guten Volksbestandteile ermöglicht und begünstigt wird, nicht aber, wie das jetzt der Fall ist, die Rassenwerte unseres 57

Woland: Das Rassenprinzip und seine Übertreibung, in: Hammer 24, 1925, H. 546. Vgl. die Anmerkung der Schriftleitung zu Pastor Falck: Der Bund für deutsche Kirche, in: Hammer 26, 1927, H. 593, „daß in fast jedem Deutschen ein nordischer Blutsteil als Erbbild der Ahnen kreist, den zu festigen und verstärkt in die Zukunft weiter zu geben, Sache des Willens ist“. 59 Dr. H.: Rasse – Grundsätzliches und Abwehrendes, in: Mecklenburger Warte / R.Z. 26, 1932, Nr. 19. 60 Vgl. Breuer 2001, S. 70 ff. 61 Vgl. Ludwig Kuhlenbeck: Das Evangelium der Rasse, Prenzlau 1905, S. 57. 58

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Volkes durch Kapitalismus und Industrialismus, durch Verstädterung und Proletarisierung in sinnloser und verbrecherischer Weise vergeudet werden.“ 62 Im völkischen Denken kommt Rasse erst nach Ethnos und Klasse.

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Max Robert Gerstenhauer 1913, a. a. O., S. 37.

Soziologische Exkurse 1. Proletaroider Intellektualismus Zur sozialen Verortung der Völkischen wurde bisher pauschal auf die Kategorie des Mittelstands oder der Mittelklasse Bezug genommen. Das reicht hinsichtlich der Masse der Wähler und Mitglieder der Parteien und Verbände völlig aus. Auch für weitergehende Differenzierungen kommt man mit den kategorialen Angeboten der älteren Soziologie, etwa der Unterscheidung von altem und neuem Mittelstand, immer noch recht weit. Schwierigkeiten entstehen erst dann, wenn man sich mit der Tatsache befaßt, daß diese Parteien und Verbände nicht von Bauern und Handwerkern initiiert und geleitet werden, sondern von Angehörigen höherrangierender Schichten, die oft über Bildungspatente, mitunter sogar über Adelsbriefe verfügen. Während man für die Adligen, die in der völkischen Bewegung eine Rolle spielen – Hans von Wolzogen, Max Liebermann von Sonnenberg, Hans von Mosch, Ernst und Ludwig zu Reventlow, Albrecht von Graefe und Jürgen von Ramin, um nur einige zu nennen – noch argumentieren kann, daß sie überwiegend nicht jenen oberen Strata des Standes angehören, die sich im Kaiserreich relativ erfolgreich behauptet haben1 , sondern dem Klein- und Dienstadel, den Max Weber als in ökonomischer, sozialer und geistiger Hinsicht mittelständisch qualifiziert hat 2 , ist dies für die Aktivisten aus der Bildungsschicht nur begrenzt möglich. Ein Teil dieser Gruppierung steht wohl in einem öffentlichen Dienstvertragsverhältnis als Lehrer, Hochschullehrer, Verwaltungsbeamter oder Offizier und kann damit noch über die Kategorie des neuen Mittelstands erschlossen werden. 3 Ein anderer Teil dagegen übt unabhängige Berufe wie die des Schriftstel1

Zu dieser Gruppe am Beispiel von Brandenburg: Schiller 2003. Vgl. Max Weber 1984, S. 382. Ausführlich belegt dies die instruktive Fallstudie von Malinowski 2003, S. 157 ff. 3 Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst sind etwa Otto Böckel, Bernhard Koerner, Max Robert Gerstenhauer, Otto Sigfrid Reuter und Karl August Hellwig. Lehrer und Hochschullehrer sind, wenn auch mitunter nur zeitweise: die Brüder Förster, Ernst Henrici, Hermann Ahlwardt, Philipp Stauff, Ludwig Fahrenkrog, Wilhelm Schwaner, Adolf Wahrmund, Ferdinand Werner, Johannes Lehmann-Hohenberg, Ludwig Kuhlenbeck, Friedrich Lange, Julius Streicher u. a.; mit Richard Kunze und Emil Holtz stellt die Lehrerschaft sogar zwei Parteivorsitzende, nämlich der Deutschsozialen Partei und der Deutschsozialistischen Partei (s. u.). Unter den diversen Verbandsgründungen sind zu nennen: der im März 1914 von dem Deutschbündler und Schriftleiter des Deutschen Volkswarts, Gerhard Krügel, gegründete Deutschvölkische Lehrerbund (vgl. Abwehrblätter 24, 1914, Nr. 10) und der 1921 entstandene, Ende 1927 circa 900 Mitglieder zählende Bund völkischer Lehrer Deutschlands (zu ihm: Seeligmann 1977), der ab 1922 ein eigenes Organ herausgibt: Die völkische Schule. Daß „die deutsche Oberlehrerschaft wohl eine der stärksten geistigen Kräfte der völkischen Bewegung geworden ist“, wie die Abwehrblätter in ihrem Nachruf auf Friedrich Lange schreiben (28, 1918, Nr. 1), ist zwar eine unzuverlässige Verallgemeinerung, jedoch nicht ohne ein Korn Wahrheit, wie auch die Beitrittswelle zur NSDAP nach den Märzwahlen von 1933 zeigt: vgl. Gerth 1940, S. 525 f.; Breyvogel 1977. 2

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lers, Journalisten und Publizisten aus, die in den üblichen Stratifikationsmodellen nicht gut unterzubringen sind. 4 Theodor Geiger hat, nachdem er noch im ersten Anlauf diese literarischen Vertreter dem neuen Mittelstand zugeordnet hatte 5, den Vorschlag gemacht, von einer gleichsam neben oder über den Klassen stehenden „Elite“ zu sprechen, die nicht über ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln oder Art und Umfang des Einkommens bestimmt ist, sondern über ihre gesellschaftliche Funktion: die Erzeugung und Verwaltung der „repräsentativen Kulturbestände“ der Gesellschaft – die sogenannte „Intelligenz“, die dann freilich auch den zum neuen Mittelstand zählenden beamteten Teil mit umfaßt. 6 Auch neuere Arbeiten nehmen von der eigentümlichen Autonomie dieser Gruppierung gegenüber den Klassenstrukturen ihren Ausgang, ziehen dabei aber die Bezeichnung „Intellektuelle“ vor, wobei die an Bourdieu anknüpfende Forschung vor allem auf die Funktion der Machtkritik abstellt, während andere in der Tradition Max Webers auch die Funktion der Machtstabilisierung betont wissen wollen. 7 Mit Blick auf das völkische Führungspersonal läßt sich die Geigersche Formel nur mit erheblichen Abstrichen übernehmen. Was in diesen Kreisen erzeugt wird, ist vielfach Halbwissen und Halbbildung, die nur innerhalb eines eingeschworenen Publikums auf eine gewisse Resonanz rechnen und daher kaum als „repräsentativer Kulturbestand“ gelten können8 : man denke an die esoterischen Spekulationen der „Ariosophie“, an die ebenso monomanen wie dilettantischen Rekonstruktionen der Urgeschichte bei Herman Wirth und anderen, an die fragwürdigen, auch in ihrer Entstehungszeit alles andere als unumstrittenen Rassenkonstruktionen, an die von der Öffentlichkeit zurückgewiesenen und nicht selten 4 Zu denken ist hier etwa an: Otto Glagau, Wilhelm Marr, Oswald Zimmermann, Ernst Hunkel, Adolf Reinecke, Friedrich Lange, Julius Langbehn, Friedrich Lienhard, Max Bewer, Willy Pastor, Wilhelm Scheuermann, Adolf Bartels, Hans von Wolzogen, Willi Buch, Erwin Bauer, Ottomar Beta, Willibald Hentschel, Otto Schmidt-Gibichenfels, Dietrich Eckart, Wilhelm Kotzde, Houston Stewart Chamberlain. 5 Vgl. Geiger 1987, S. 99. 6 Vgl. ders. 1987 (a), S. 88, 12 ff. 7 Vgl. Charle 1997; Hübinger und Mommsen 1993; Hertfelder und Hübinger 2000. 8 Der langjährige Redakteur der Abwehr-Blätter, Johannes Stanjek, hat das in Rede stehende Phänomen in Anlehnung an Plinius und Lichtenberg als „Ultracrepidamie“ bezeichnet, als die fatale Neigung, Urteile abzugeben, die über den eigenen Horizont hinausgehen. „Ultracrepidamie und Ultracrepidamisten hat es zu allen Zeiten gegeben. Zu keiner Zeit aber hat sich die böse Klasse der Ultracrepidamisten so breit gemacht, wie in der unsrigen und auf keinem Gebiet hat sie sich in so verhängnisvoller Weise geltend gemacht wie auf dem Gebiet des modernen Antisemitismus, der Rassentheorien usw. […] Es soll Herrn Theodor Fritsch ganz und gar nicht zum Vorwurf gemacht werden, daß er das Gelbgießerhandwerk erlernt hat. Auch ihn trieb es zu höheren Zielen, aber ihm fehlte die Bescheidenheit. Wer Bescheid weiß, ist bescheiden; für Herrn Fritsch gilt aber keines von beiden. Obwohl er kein Wort hebräisch versteht, spielt er sich als Autorität auf alttestamentlichem Gebiete auf und schleudert er seine gehässigen Angriffe gegen den Judengott und gegen das Alte Testament in die Menge. Obwohl er keine Ahnung von Mathematik, Physik und Astronomie hat, ‚kritisiert‘ er auf das schärfste die Einstein-Theorie, und er leitet seine Berechtigung zu einer solchen ‚Kritik‘ lediglich daraus ab, daß er – Fritsch – ein eingefleischter Antisemit und Einstein Jude ist. Und das Traurige dabei ist, daß er unter den Halbgebildeten eine beträchtliche Anzahl von Anhängern gefunden hat, die den von ihm produzierten Unsinn für bare Münze hinnehmen und die ihn sogar als den Vertreter des ‚wissenschaftlichen Antisemitismus‘ feiern“ (Abwehr-Blätter 37, 1927, Nr. 7/8).

Soziologische Exkurse: Proletaroider Intellektualismus

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verhöhnten poetischen Fingerübungen eines Julius Langbehn, dessen Lyrik nur den Staatsanwalt interessierte, eines Dietrich Eckart, dessen zahllose Theaterstücke über die Uraufführung nicht hinauskamen oder eines Artur Dinter, dessen erstes Theaterstück in seiner hochdeutschen Fassung vernichtende Kritiken erntete. 9 Der Befund indessen, daß es gerade Angehörige der gebildeten Schichten waren, die „die bösartigste Sorte von Antisemitismus verbreiteten“ 10 und zugleich als Abnehmer dieser Produkte fungierten, wird dadurch nicht berührt, auch wenn man darüber nicht vergessen sollte, daß dieselben Schichten auch den Widerstand dagegen getragen haben, wie er etwa vom Verein zur Abwehr des Antisemitismus formuliert wurde. Zum genaueren Verständnis dieser Sachlage ist es unumgänglich, den Blick über die soziale Statik hinaus auf die Dynamik zu richten, die für die intellektuellen Tätigkeitsfelder in diesem Zeitraum charakteristisch ist. In Deutschland vergrößert sich seit der Jahrhundertmitte wie in vielen anderen Ländern Europas der Anteil eines Jahrgangs, der eine höhere Schule besucht, rasant. Diesem Anstieg in der Produktion von Gebildeten korrespondiert zwar auch eine Ausdehnung des Massenmarkts für literarische Erzeugnisse, eine Zunahme der unabhängigen intellektuellen Berufe – in dem Jahrzehnt von 1896 bis 1906 fast um 60 %, nachdem der Zuwachs in den anderthalb Jahrzehnten zuvor nur bei 10 % gelegen hatte – sowie eine beachtliche Vergrößerung des Lehrpersonals an Schulen und Hochschulen 11 , doch stehen den hierdurch geweckten hohen Erwartungen noch höhere Restriktionen entgegen: die Unsicherheiten und Risiken, die mit einer Existenz im Sektor der freien Berufe verbunden sind; oder, im öffentlichen Sektor, die rigiden Kontrollen durch die staatliche Verwaltung, die Kirchen und das soziale Umfeld, um von dem markanten Kontrast zu schweigen, der zwischen der Gehaltshöhe und den hochfliegenden Ambitionen besteht. Max Weber hat diese gesteigerte Dynamik begrifflich einzufangen versucht, indem er neben den auf Besitz und Erwerb gegründeten Klassen einen weiteren Typus einführte, die „soziale Klasse“, deren Angehörige durch die Möglichkeit des relativ leichten Auf- oder Abstiegs bestimmt und deshalb durch ein hohes Maß an Unsicherheit charakterisiert ist. 12 Sein Hinweis, daß dies in bevorzugtem Maße für das Kleinbürgertum und die besitzlose Intelligenz gilt 13 , findet in den Biographien der völkischen Aktivisten reiche Bestätigung. Bernhard Förster steigt zunächst mit einer kunsthistorischen Promotion in die Position eines Gymnasiallehrers und Dozenten an der Berliner Kunstschule auf, vermag sich aber als Publizist nicht dauerhaft zu etablieren, wie der Abbruch seiner Mitarbeit an den Preußischen Jahrbüchern zeigt. 14 Selbst die bescheidene berufliche Sicherheit zer9

Vgl. Wiwjorra 1995; Stern 1986, S. 142; Plewnia 1970; Witte 1995. Massing 1986, S. 96. 11 Vgl. Charle 1997, S. 108 ff. 12 Vgl. Weber 1976, S. 177. 13 Ebd., S. 179. 14 In den Jahrgängen 1879 und 1880 erschienen in dieser von Treitschke geleiteten Zeitschrift vier Texte von Förster: Die griechische Skulptur im Dienste der Attaliden zu Pergamos, Bd. 44, S. 646–659; Franz Lenbach, Bd. 45, S. 408–413; Der deutsche Prosastil in unsern Tagen, Bd. 46, S. 109–125; Die bisherigen Ergebnisse der Ausgrabungen zu Pergamon, Bd. 46, S. 420–430. 10

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bricht bald darauf, als Förster sich infolge eines Disziplinarverfahrens und mehrerer Prozesse genötigt sieht, aus dem Amt zu scheiden. 15 Otto Glagau muß nach seinem Studium der Philologie und Philosophie zehn Jahre lang sein Brot als Hauslehrer verdienen, bis es ihm gelingt, in der liberalen Nationalzeitung Fuß zu fassen. Der Absturz kommt Anfang der 70er Jahre, als er seine gesamten Ersparnisse in einer Fehlspekulation verliert und darüber hinaus die Kränkung erlebt, daß sein diese Erfahrungen verarbeitendes Schauspiel Aktien von allen großen Häusern zurückgewiesen wird. Ähnliche Kränkungen muß Ottomar Beta einstecken, der als Bühnen- wie als Romanautor scheitert und auch als Feuilletonjournalist nicht über zweit- und drittklassige Blätter hinauskommt. Otto Böckel bringt es nach seinem Studium der Germanistik und neueren Sprachen, das er immerhin mit der Promotion abschließt, nur bis zum Hilfsbibliothekar an der Universität Marburg, der seine Arbeit nur mit halbem Herzen macht. Hermann Ahlwardt schafft es zwar bis zum Schulrektor, wird aber 1891 wegen zahlreicher Konflikte mit der Schulbehörde und finanzieller Unregelmäßigkeiten entlassen. Max Liebermann von Sonnenberg gerät schon während seines Studiums an der Berliner Kriegsakademie in Geldnöte, muß aus dem aktiven Dienst ausscheiden und eine Stellung an einer Vorbereitungsanstalt für das Offiziersexamen annehmen, um seine Schulden zu tilgen. Adolf Bartels muß seine erfolgreiche Gymnasialkarriere ein Jahr vor dem Abitur abbrechen, da seine Eltern sich die Fortsetzung seiner Ausbildung nicht leisten können. Erst nach demütigenden Erfahrungen in Hamburg, die ihn zeitweise wieder zurück in die provinzielle Enge seines Heimatortes Wesselburen treiben, kann er im Journalismus Fuß fassen. Heinrich Pudor verwirtschaftet innerhalb nur eines halben Jahres das vom Vater geerbte Konservatorium in Dresden und schlägt sich danach abwechselnd als Schriftsteller, Verleger, Maler, Bildhauer und Cellist durchs Leben. Ludwig Schemann erträgt die Diskrepanz zwischen seinen wissenschaftlich-künstlerischen Ambitionen und der Tätigkeit als Bibliothekar in Göttingen nicht und muß die letztere 1891 aus gesundheitlichen Gründen aufgeben, um fortan von einer schmalen Pension und der Unterstützung durch Verwandte und Bekannte als Privatgelehrter zu leben. Houston Stewart Chamberlain erkrankt schon als Schüler an einer Störung des Nervensystems; bei der Arbeit an seiner nie abgeschlossenen Dissertation erleidet er einen erneuten Zusammenbruch. Friedrich Lange arbeitet zwei Jahre lang als Lehrer und wechselt nach einer „Sinnkrise“ in den Journalismus, was in den Augen seiner Verwandtschaft als sozialer Abstieg erscheint. 16 Der soziale und meist auch wirtschaftliche Abstieg muß nicht vollzogen werden. Er liegt jedoch als Möglichkeit wie ein Schatten auf allen Karrieren, die allein über den Erwerb kulturellen Kapitals vermittelt sind. Mit Blick auf diesen Schatten läßt sich diese Gruppe dem von Max Weber so bezeichneten „proletaroiden Intellektualismus“ zuordnen, der historisch ein breites Spektrum umfaßt, 15 Die Ursache des Disziplinarverfahrens ist eine Schlägerei, die Förster mit antisemitischen Pöbeleien ausgelöst hat: vgl. Erich F. Podach: Bernhard und Eli Förster, in ders.: Gestalten um Nietzsche, Weimar 1931, S. 125–176, 138. 16 Vgl. Weiland 2004, S. 43 ff.; Ottomar Beta: Deutschlands Verjüngung, Berlin 1901, S. 365 ff.; Mack 1967, S. 126; Mai 1994; Weidemann 1993; Fuller 1996, S. 31 ff., 51 ff. (zu Bartels ferner: Rösner 1996; Neumann 1997); Adam 1999; Schüler 1971, S. 102, 113 f.; Gossler 2001, S. 381 f.

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das von den „am Rande des Existenzminimums stehenden, meist nur mit einer als subaltern geltenden Bildung ausgerüsteten kleinen Beamten und Kleinpfründner(n) aller Art“ über die Schriftkundigen und Elementarlehrer bis hin zur autodidaktischen Intelligenz der negativ privilegierten Schichten reicht. 17 Interessant ist dieses Deutungsangebot nicht nur hinsichtlich der Verortung im sozialen Raum, sondern auch hinsichtlich des für diese Gruppe charakteristischen Habitus, der hier im Unterschied zum geläufigen Verständnis dieses Begriffs nicht so sehr durch „ein System verinnerlichter Muster“ bestimmt ist, „die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen“ 18 , als vielmehr durch die gesteigerte Fähigkeit, sich von eben diesen Mustern abzustoßen. Die „außerhalb oder am untersten Ende der sozialen Hierarchie stehenden Schichten“, so hat es Max Weber gesehen, stünden „gewissermaßen auf dem archimedischen Punkt gegenüber den gesellschaftlichen Konventionen, sowohl was die äußere Ordnung wie was die üblichen Meinungen angeht […] Sie sind daher einer durch jene Konvention nicht gebundenen originären Stellungnahme zum ‚Sinn‘ des Kosmos und eines starken, durch materielle Rücksicht nicht gehemmten, ethischen und religiösen Pathos fähig.“ 19 Diese Hinweise geben wichtige Aufschlüsse über das, was man das Unruhemoment der völkischen Bewegung nennen könnte, den eigentümlichen Überschuß über ihre mittelstandsideologische und sozialprotektionistische Basisprogrammatik. In dieser Bewegung geht es eben nicht nur um die Sicherung des kleinen und mittleren Grundbesitzes vor den Wechselfällen des Weltmarktes, um Bestandsgarantien für das städtische Handwerk oder den Kleinhandel. Es geht auch um den sozialen Aufstieg einer mittellosen Intelligenz, die sich nicht selten auch räumlich im Abseits befindet, in der kleinstädtischen oder ländlichen Provinz. Es geht um die Partizipationsansprüche von mehr oder weniger gebildeten Laien gegenüber den allenthalben sich etablierenden Expertokratien, um die Umwandlung einer als nicht mehr volksnah empfundenen Kirche oder Schule in eine ‚Volks-Kirche‘ oder ‚Volks-Schule‘, um Alternativen zur Schulmedizin, um eine Reorganisation der Geschlechterbeziehungen unter hygienischen und eugenischen Gesichtspunkten, um eine Anerkennung außerprofessioneller Urteilskraft in der Justiz, um ein anderes, ‚volkstümliches‘ Theater, eine andere Plastik, eine andere Architektur, kurzum: um eine andere Moderne, in der die entkoppelten Teilsysteme wieder an eine zentrale Sinnkonstruktion zurückgebunden sind, die zu entwerfen der völkischen Intelligentsia obliegt. Und auch dies wird durch Webers Hinweise plausibel: daß diese Bestrebungen in einzelnen Fällen eine Abdrift auslösen können, die von eben den Bindungen abführt, die man erneuern will: von der Religion, von den ethischen und mora17

Weber 2001, S. 274 f. Bourdieu 1983, S. 143. 19 Weber 2001, S. 274 f. Für die hieran anschließende Spezifizierung, daß bei den aus dem Kleinbürgertum kommenden Gruppen das religiöse Bedürfnis entweder eine ethisch-rigoristische oder okkultistische Wendung zu nehmen pflege, bieten die Völkischen ebenfalls reiches Anschauungsmaterial: für den Gesinnungsrigorismus etwa der Deutschbund, für den Okkultismus der SchafferBund, der diesem Phänomen in seiner Zeitschrift Die Lebensschule höchste Aufmerksamkeit widmet. Auch der Hammer hat sich immer wieder dieses Themas angenommen. 18

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lischen Standards der Zeit, von den Erwartungen des gesellschaftlichen Umfelds im Hinblick auf berufliche, familiale, mitunter selbst sexuelle Festlegung. Nur so lassen sich Lebensläufe verstehen wie derjenige eines Julius Langbehn, der sein Studium in größtmöglichem räumlichen Abstand zu seiner Familie beginnt, aus der Kirche austritt, sich von seiner Burschenschaft exmittieren läßt, sein Doktordiplom in Fetzen zerrissen an seine Universität zurückschickt, um sich als ‚ewiger Student‘ durchzuschlagen, beziehungsarm, in äußerster Bescheidenheit und nicht selten am Rande des Hungertods vegetierend; nur so Karrieren wie diejenige Bernhard Försters oder Ernst Henricis, die ohne zu zögern ihre bürgerliche Stellung auf dem Altar ihrer Ressentiments opfern, um schließlich im südamerikanischen oder afrikanischen Urwald zu landen; nur so jene Entgleisungen und Exzesse, wie sie sich auf den unterschiedlichsten Feldern manifestiert haben: im maßlosen, alle Grenzen selbst des traditionell-christlichen Antijudaismus sprengenden Judenhaß der Langbehn und Ahlwardt, in den alle Regeln der herkömmlichen Familien- und Sexualmoral mißachtenden Züchtungsutopien eines Hentschel, in dem wie immer auch randständigen ökonomischen Radikalismus, der in Anknüpfung an die Freiwirtschaftslehre Silvio Gesells oder sogar den kleinbürgerlichen Sozialismus Proudhons die Abschaffung von Zins und Grundrente verlangt und dabei bis zur Forderung nach Beseitigung des Geldes und des privaten Grundeigentums geht. 20 Selbst bei einem so sehr auf den goldenen Mittelweg bedachten Strategen wie Theodor Fritsch bricht diese Neigung zum Extrem immer wieder durch und läßt ihn mit Vorschlägen liebäugeln, die tief in die ansonsten für sakrosankt erklärten Besitzstände eingreifen, indem sie etwa die Nationalisierung beziehungsweise Kommunalisierung des Haus- und Grundbesitzes, die Kollektivierung der Produktion oder die Begrenzung, ja Konfiskation von Privatvermögen über Normalgröße ins Auge fassen. 21 Der proletaroide Intellektualismus hat in die völkische Bewegung ein Moment der Unruhe hineingetragen, das immer wieder über die konventionelle Repräsentation von Mittelstandsinteressen hinausdrängt.

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Vgl. etwa Ernst Hunkel: Nationalsozialismus? In: Frei-Deutschland 18, 1923, S. 1 ff. Für eine völkische Version des Proudhonismus, die sich wiederum polemisch von Gesell abgrenzt, vgl. vor allem die Arbeiten des Hammer-Autors Willibald Schulze: Proudhon, in: Hammer 30, 1931, H. 693/694; Volkswirtschaft ohne Geld, ebd., H. 701/702. 21 Vgl. in diesem Sinne bereits seinen Briefwechsel mit der bodenreformerischen Landliga, in dem er sich mit dem Ziel einer „Verstaatlichung aller Immobilien“ einverstanden erklärt, in: AC 2, 1886/87, Nrn. 8, 12; ferner: ‚Die praktische Lösung der sozialen Frage‘, in: Hammer 3, 1904, H. 38, 40, 45; Kapital-Herrschaft oder Monarchie, in: Hammer 5, 1906, H. 86, 90. Ottomar Beta, der solche Verstaatlichungsideen für Unsinn hielt, muß einige Mühe gehabt haben, den „Popularisator“ seiner Gedanken immer wieder auf Kurs zu bringen. Vgl. Deutschlands Verjüngung, Berlin 1901, S. 317; sein Verhältnis zu Fritsch ist in der Zueignung zu Heft 9 ebd. beschrieben (nach S. 395).

2. Völkischer Existentialismus Vom proletaroiden Intellektualismus läßt sich der Bogen zu einem anderen Deutungsangebot schlagen, das nicht nur, aber auch für die völkische Bewegung relevant ist. Die zugleich objektive und subjektive Entwurzelung der Intellektuellen ist historisch wohl zum erstenmal in der Epoche der Romantik zum Gegenstand des Nachdenkens geworden, so etwa bei Fichte, der in seiner Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794/95 das „absolute Abstraktionsvermögen“ des reinen Ich postuliert, oder bei Friedrich Schlegel, der daraus das Konzept der romantischen Ironie in ihrer doppelten Gestalt als rezessive und produktive Ironie ableitet – der Fähigkeit des Subjekts, sich aus allem zurückzuziehen (rezessive Ironie), und der Fähigkeit, sich auf alles hin entwerfen zu können (produktive Ironie). 1 In seiner Deutung der Romantik hat Hegel diese beiden Seiten miteinander verknüpft. Je ausgeprägter das Vermögen der Abstraktion oder Annihilation, so seine These, desto größer die Entwurzelung und die Leere, in die das Subjekt stürzt; desto stärker das Bedürfnis nach Kompensation, nach neuem Halt. Genau darin ist nach Hegel das Motiv für die notorische Neigung zur Konversion zu sehen, die so viele Romantiker in die Arme der Kirchen getrieben hat. „Verzweiflung am Denken, an Wahrheit, an und für sich seiender Objektivität, und Unfähigkeit, eine Festigkeit, Selbsttätigkeit sich zu geben“, habe die einen dazu gebracht, sich in religiöse Empfindungen zu flüchten, die anderen dazu, sich in positive Religiosität zu werfen, „um etwas Festes zu haben, weil der inneren Subjektivität alles schwankt. Sie will sich mit der ganzen Gewalt des Gemüts an Positives wenden, den Kopf unter das Positive beugen, dem Äußerlichen sich in die Arme werfen, und findet innere Nötigung dazu.“ 2 Michael Großheim hat dafür plädiert, in dieser spezifischen Lösung den Ausdruck einer umfassenderen, die historische Epoche der Romantik überdauernden Grundkonstellation zu sehen, die er als ‚romantisch-existentialistisch‘ bezeichnet. 3 Romantisch sei diese Konstellation, weil sie auf der in dieser Epoche zuerst bewußt gewordenen Selbstmächtigkeit des Subjekts beruhe, das die Welt, nach Carl Schmitts berühmter Formel, nur als Anlaß und Gelegenheit seiner romantischen Produktivität behandelt 4 ; existentialistisch, weil die Rettung vor dem damit einhergehenden Substanz- und Traditionsverlust vom „Sprung“ in ein Allgemei1

Vgl. Schmitz 1992. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Karl Markus Michel und Eva Moldenhauer, Bd. 20, Frankfurt 1971, S. 417 f. Zum Kontext vgl. Pöggeler 1998. 3 Vgl. Großheim 1999, S. 128. Gegenüber Deutungen, die die völkische Bewegung als Ausläufer der Romantik sehen, sei betont, daß sich die Rede von der ‚romantisch-existentialistischen Denkweise‘ hier nicht auf Inhalte bezieht, sondern auf ein formales Grundmuster, das mit sehr verschiedenen Inhalten aufgefüllt werden kann. Näher dazu Großheim 2002, S. 150, 168 u. ö. 4 Vgl. Carl Schmitt: Politische Romantik (1919), 4. Aufl., Berlin 1982, S. 23. 2

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nes erhofft werde, von der „Entscheidung“, dem bewußten enracinement (Maurice Barrès). Liege dieses Allgemeine im Feld des Politischen, in politischen Verbänden oder Institutionen, so könne von „politischem Existentialismus“ gesprochen werden, der nach „Geborgenheit in einem Gehäuse (Gemeinschaft, Staat, Nation etc.)“ strebe. 5 Diese Deutung kann auch für die völkischen Intellektuellen herangezogen werden. Zwar ist die produktive Ironie, das souveräne Spiel mit Rollen und Masken, in ihren Reihen nur schwach vertreten, da der proletaroide Intellektualismus hierfür keine günstige Voraussetzung darstellt. 6 Um so häufiger begegnet man der rezessiven Ironie mitsamt ihrer unvermeidlichen Begleiterscheinung: dem Bedürfnis, die durch die Distanzierung eingetretene Leere zu kompensieren, wie es im Drang nach Vergemeinschaftung in Gesinnungsvereinen und –parteien sowie in der Beschwörung des Volkstums und der Landschaft seinen Ausdruck findet. Wie die Intellektuellen der Geniezeit um 1800 sind auch die völkischen Intellektuellen nicht allein durch das Auflösungspotential des modernen Selbstbewußtseins bestimmt, sondern ebensosehr durch die Fähigkeit, „sich selbst bestimmen, jeden Inhalt durch sich in sich setzen zu können“, anders gesagt: durch die Fähigkeit zur Selbstbindung, zur Bindung aus Willkür 7 ; und wie ihre Vorgänger führt auch sie dies zur Unterwerfung unter ein Kollektiv oder eine Institution, für die nun freilich zeitgemäßere, dem fortgeschrittenen Grad der Selbstermächtigung adäquatere Erscheinungsformen gesucht werden: nicht mehr der traditionelle dynastische Staat, sondern die erst noch zu erzeugende Volksgemeinschaft; nicht mehr die herkömmliche Anstaltskirche, die ihr Licht scheinen läßt über Gerechte und Ungerechte, sondern die Volkskirche, die Laienkirche oder besser noch die Gemeinschaft der Qualifizierten, die eigene Transzendenzerfahrungen für sich reklamieren und damit das religiöse Charisma zugleich privatisieren, individualisieren und popularisieren – eine Entwicklung, die im übrigen nicht auf die Völkischen beschränkt ist und ganz allgemein eine „schleichende Entmachtung“ der religiösen Experten und Institutionen mit sich bringt. 8 Konversionen im Stil der historischen Romantik sind eher die Ausnahme als die Regel und beschränken sich auf einige spektakuläre Fälle wie denjenigen Langbehns. 5

Großheim 2002, S. 25. Entsprechend ist auch die völkische Bewegung kein Ort für den Typus des Exzentrikers, der der ästhetischen Lebensform und damit der produktiven Ironie zuzuordnen ist. Der Exzentriker, schreibt Konrad Paul Liessmann, „übernimmt die Moral der Mitte, aber nicht als Ethos, als innere Haltung, sondern als Spielanleitung, als dramaturgisches Konzept, als Form – und das unterscheidet den Exzentriker von jedem, der mit einer neuen Moral antritt, um sie an die Stelle der alten ins Zentrum zu setzen. Emanzipationen und Revolutionen aller Art, überhaupt soziale Bewegungen, wie sehr sie sich auch von einer Außenseite oder einem Untergrund her definieren mögen, sind so nie von Exzentrizität getragen, da sie den ethischen Schwerpunkt eines Zentrums erobern und besetzen möchten und die artistische, elegante, schwebende Balance zwischen Zentrum und Peripherie tunlichst vermeiden. Deshalb verstehen solche Bewegungen in der Regel auch keinen Spaß“ (Liessmann 1994, S. 17). Etwas anders steht es um die Spielart des Exzentrikers, wie sie vom Sonderling verkörpert wird. Ihm gegenüber hat sich die völkische Bewegung empfänglicher gezeigt. 7 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke Bd. 7, Frankfurt 1970, § 4, Anm. 8 Vgl. Knoblauch 2002. 6

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Der Hinweis auf die religiösen Vergemeinschaftungen macht freilich deutlich, daß man es nicht bloß mit politischem Existentialismus zu tun hat. Der „Sprung ins Allgemeine“ kann sich auch auf das religiöse Feld beziehen und dort Umbesetzungen und Umbauten auslösen, ja sogar eine Neuerfindung von „Tradition“ stimulieren, wie sie den deutsch- und germanischgläubigen Gemeinschaften zugrundeliegt. Auch in den christlichen Kirchen, und hier vor allem im Protestantismus, verstärken sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Bestrebungen zu einer Nationalisierung der Religion. 9 Paul de Lagarde stellt seinen Lesern die Aufgabe, „eine Deutschland eigentümliche Gestalt der Religion zustande zu bringen“, die nicht mehr in rivalisierende Kirchen gespalten ist 10 ; Gustav Frenssen und Arthur Bonus machen sich für eine „Germanisierung des Christentums“ stark, Max Bewer gar für einen „deutschen Christus“. 11 Adolf Reinecke fordert, dem Christentum „in Fortsetzung der ersten durch Luther bewirkten Umformung und Reinigung nun eine zeitgemäße abermalige Läuterung in freiem und arischem Geiste zu geben.“ 12 In der Gestalt der Lehre vom „REINEN KRIST“, die Hermann Burte in seinem Roman Wiltfeber der ewige Deutsche (1912) entwickelt, wird dieses Gedankengut einem breiteren Publikum bekannt. 13 Zu beachten ist dabei allerdings, erstens, daß religiöser Nationalismus eine Kategorie von hohem Allgemeinheitsgrad ist, die sehr unterschiedliche Haltungen gegenüber der Welt umschließt – in Lagardes fundamentalistischer Nationalmystik eine radikale Weltablehnung, die das Göttliche in der Seele des einzelnen wie des Volkes durch Weltentsagung verwirklichen will 14 ; bei den Neopaganen und Deutschchristlichen dagegen eine Sakralisierung des Diesseits, die Gott als „Personifizierung der weltimmanenten Wirkungsweise und Gesetzmäßigkeit“ versteht und dabei nicht selten die Grenze zum Pantheismus und Anthropotheismus überschreitet. 15 Und zweitens, daß es sich im Unterschied zu den politischen Manifestationen noch um Randerscheinungen handelt. Dies gilt nicht nur, wie gezeigt, von den deutsch- und germanischgläubigen Gruppen, es gilt auch für die Ansätze zu einem Deutschchristentum, die bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs in den Kirchen auf deutliche Ablehnung stoßen und erst nach 1918 im Bund für Deutsche Kirche (1921) eine eigenständige Organisationsform erhalten. 16 Kann man darüber hinaus auch von einem ästhetischen Existentialismus sprechen? Auf den ersten Blick scheint es dafür an der nötigen Voraussetzung zu fehlen, der Anerkennung einer autonomen ästhetischen Sphäre und der Ablehnung einer rein ästhetischen Lebensform im Sinne Kierkegaards. Völkische Lite9

Vgl. Tilgner 1966; Smith 1995. Paul de Lagarde: Drei Vorreden (1881), in: Deutsche Schriften, München 1924, S. 101. 11 Vgl. Crystall 2002, S. 85; Arthur Bonus: Zur Germanisierung des Christentums, Jena 1911; Max Bewer: Der deutsche Christus, Dresden 1907. Zum Kontext vgl. Lächele 2001; Fenske 2005. 12 Adolf Reinecke: Deutsche Wiedergeburt. Grundlegende Baustücke zur Jungdeutschen Bewegung, hrsg. vom Alldeutschen Sprach- und Schriftverein, Lindau 1901, S. 183. 13 Zu Hermann Burte, eigentlich Hermann Strübe (1879 – 1960), vgl. Hartung 2001, S. 48 ff. 14 Vgl. Breuer 2001, S. 311 ff. 15 Vgl. Sonne 1982, S. 33; Erhard Schlund: Neugermanisches Heidentum im heutigen Deutschland, München 1924, S. 34; Alfred Müller: Die neugermanischen Religionsbildungen der Gegenwart. Ihr Werden und Wesen, Bonn 1934, S. 51, 65, 70. 16 Vgl. Lächele 1996, S. 162; zum Deutschchristentum vgl. die Hinweise weiter unten. 10

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raturkritiker wie Adolf Bartels verwenden einen erheblichen Teil ihrer Energie auf die Denunziation aller zeitgenössischen Bestrebungen, die auf eine Abkoppelung der Kunst von den Zumutungen anderer gesellschaftlicher Felder drängen und die externe durch eine interne Realitätskonstruktion ersetzen. Unter dem Rubrum „Spätdecadence“ faßt Bartels ein buntes Sortiment zusammen, das von den ‚meist an Sacher-Masochismus leidenden‘ Autoren Jung-Wiens (Bahr, Schnitzler, Hofmannsthal) über die ‚Sexualisten‘ Berlins (Przybyszewski, Dehmel) bis zur ‚esoterischen Haschischpoesie‘ Stefan Georges reicht und nicht einmal Richard Wagner ausspart, der an den Anfang dieses vermeintlichen Verfallsprozesses gestellt wird. 17 Kunst ist für Bartels kein eigengesetzlicher Bereich, sondern heteronom, bestimmt durch den Zweck, den Geist der Gegenwart zu ‚nationalisieren‘. 18 Ähnliches gilt für Maler wie Fahrenkrog, Fidus, Stassen u. a., denen man zu Recht bescheinigt hat, ‚Tendenzkünstler‘ zu sein, da sie die Kunst zur Propaganda neureligiöser Ideen benutzten. 19 Nimmt man die Abneigung gegenüber formalen Innovationen und Experimenten hinzu, das Ressentiment gegen Reflexion und Intellektualität, nicht zuletzt auch den prononcierten Archaismus, der sich in der Vorliebe für Gestalten und Motive aus der germanischen Mythologie zeigt, die manche gemeinhin als völkisch geltende Werke charakterisiert – von den Titelvignetten der Zeitschriften bis zur Fassade des Atlantishauses in der Bremer Böttcherstraße –, dann spricht vieles für eine Einstellung, die hinter die Ausdifferenzierung von Kunst in die Ungeschiedenheit einer durch Religion und Mythos geprägten Welt zurück will und insofern folgerichtig als reaktionär und antimodern qualifiziert wird. 20 Wer das so sehen will, sieht sicher etwas. Aber nicht genug, und vor allem nicht: das Wesentliche. Denn die Völkischen partizipieren auf ihre Weise an dem, was Systemtheoretiker die ästhetische Kommunikation der Moderne nennen, also an Formentwicklungen und Stilen, die die Ausdifferenzierung des Kunstsystems begleiten beziehungsweise durch diese erst ermöglicht werden. Dazu gehört etwa in der Architektur die Faszination für Gußeisen-, Stahl- und Stahlbetonkonstruktionen, deren zeitgenössischen Manifestationen zwar ein Mangel an künstlerischer Formung vorgehalten wird 21 , der jedoch im Prinzip durchaus behebbar erscheint, etwa mittels einer Fassadengestaltung, welche sich ebenso der Vorgaben der gotischen Backsteinarchitektur wie des zeitgenössischen Expressionismus bedient 22 – 17 Vgl. Adolf Bartels: Die deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Alten und die Jungen. 3. Aufl., Leipzig 1900 (zuerst 1897), S. 258 ff.,183 ff. 18 Vgl. ders.: Heimatkunst. Ein Wort zur Verständigung, München und Leipzig 1904, S. 19. 19 Vgl. Schuster 2001. 20 Exemplarisch für diese Sichtweise sind für die Literatur: Mosse 1991; Hermand 1995; Haß 1993; für die Architektur Fehl 1995; für die Malerei Kaffanke 2001. 21 Vgl. Heinrich Pudor: Zur Ästhetik der Eisenarchitektur, in: Der Architekt 8, 1902, S. 1–3; ders.: Erziehung zur Eisenarchitektur, ebd., 9, 1903, S. 24–26. 22 Beispiele dafür bietet vor allem Norddeutschland mit der Bremer Böttcherstraße (Bernhard Hoetger) oder dem Hamburger Chilehaus (Fritz Höger): vgl. Pehnt 1998; Turtenwald 2003. – Das von Jeffrey Herf (1984) vorgeschlagene und von Gerhard Fehl auf die Architektur übertragene Konzept des „reaktionären Modernismus“ trifft zwar den hybriden Charakter, setzt aber dennoch die Akzente schief, indem es darunter eine vermittelnde Annäherung an die Moderne versteht, „die jedoch dem Modernen selbst nicht verpflichtet ist“ (Fehl 1995, S. 22). Daß etwa das Chilehaus

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wie überhaupt die Aufgeschlossenheit gegenüber dem Expressionismus größer ist, als man von den Kampagnen gegen die „Asphaltkunst“ her vermuten könnte, gilt er doch manchen als zeitgemäßer Ausdruck der nordisch-germanischen Seele. 23 In der Malerei haben Künstler wie Fidus großzügig aus dem Formenangebot des Jugendstils geschöpft 24 , und auch die Weihe- und Mysterienspiele von Lienhard und Wachler sind ohne den Symbolismus des Fin de siècle nicht zu denken. Selbst der dazu konträre Realismus, der die Umwelt als Medium für Formgewinn nutzt, „genauer: Realitätskonstruktionen der Umwelt aus der Umwelt als Medien importiert, um sie dann codespezifisch zu formieren“ 25 , gehört in die ästhetische Kommunikation der Moderne, auch wenn die in den Heimatromanen von Frenssen, Bartels oder Löns verwendeten Realitätskonstruktionen überwiegend fiktiver Natur sind – eine vorgestellte Landschaft, eine zurechtgemachte Geschichte, ein imaginäres Volk, mitunter sogar, wie im Falle der „niederdeutschen Bewegung“, eine wenigstens zum Teil erfundene Sprache, existiert doch das Plattdeutsch seit dem 16. und 17. Jahrhundert nur noch in mündlicher Form, so daß jeder Autor die Schriftlichkeit der von ihm gewählten Mundartvarietät erst erfinden muß. 26 In der Überzeugung, daß der Mensch durch das ‚Milieu‘ charakterisiert wird, steht die Heimatkunst dem vielgeschmähten Naturalismus in nichts nach, auch wenn sie den Asphalt der Großstadt durch den dörflichen Anger oder die ländliche Kleinstadt ersetzt. 27 Es ist deshalb zwar nicht unumstritten, aber auch nicht gänzlich inkonsequent, wenn völkische Autoren sich nicht bloß mit der Verkündung des „Germanismus“ begnügen, sondern zugleich angeben, in welchem Sinne dieser zu verstehen sei: in dem einer kommenden ‚Germanischen alle Anforderungen erfüllt, die an ein modernes Bürohaus zu stellen sind, wird man nicht ernsthaft bestreiten können. Ebensowenig zutreffend ist es zu sagen, die gemeinten Erscheinungen seien „reaktionär in den Zielen, fortschrittlich in den Mitteln“ (ebd., S. 21). Schließlich gehört es, um wiederum nur vom Chilehaus zu sprechen, durchaus zu den Zielen, eine effiziente Bürotätigkeit zu ermöglichen, und was die Mittel angeht, so sind sie zwar fortschrittlich im Sinne der neuesten technischen Standards, aber nur dort, wo es der „Zweckteufel“ (Höger) gebietet; die Klinkerverblendung hingegen ist, von der Konstruktion her betrachtet, durchaus kontingent. Ihre Aufgabe ist es überdies, als ein Gegengewicht zu dienen, das den Faktor Kultur stark machen und damit einer Eigendynamik der zivilisatorischen Mittel entgegenwirken soll, so daß es auch von hier aus gesehen fragwürdig ist, ganz allgemein von einer Fortschrittlichkeit in den Mitteln zu sprechen. So einfach, wie es diese Deutung will, lassen sich Fortschritt und Reaktion nicht verteilen. 23 Zur „Nationalisierung“ beziehungsweise „Germanisierung des Expressionismus“ vgl. Bushart 1990, S. 105, 112, 14; Ulbricht 1999. Beispiele für Allianzen zwischen völkischem Nationalismus und Expressionismus finden sich vor allem in Verlagen der Jugendbewegung oder in der Künstlergruppe „Jung-Erfurt“ (Curt Hotzel u. a.): vgl. Nowak u. a. 1999, S. 34, 100 ff., 110. Zur nichtsdestoweniger massiven Polemik gegen den Expressionismus vgl. Brenner 1963, S. 32 ff.; Baumann 2002; Saehrendt 2005, S. 36 ff. 24 Vgl. Frecot, Geist und Kerbs 1997. 25 Plumpe und Weber 1993, S. 38. 26 Vgl. Lesle 1999, S. 201 ff. sowie die Beiträge in: Dohnke u. a. 1994. Allgemein zur Heimatliteratur: Roßbacher 1975. 27 Vgl. Roßbacher 2000, S. 306. In der Literaturwissenschaft hat bekanntlich Josef Nadler diese Sichtweise ins Extrem gesteigert, auch wenn er letztlich weniger geo- als ethnozentrisch argumentiert. Vgl. ders.: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, 4 Bde., Regensburg 1912–1928. Zu ihr Meissl 1985.

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Moderne‘, die sich zum Chaos der jetzigen ‚jüdischen Moderne‘ nicht bloß verneinend verhält, sondern sie als „Mittel und Durchgang“ wertet. 28 In gewisser Weise läßt sich sogar das für die Völkischen typische ‚heteronome‘ Verständnis von Kunst als ein Effekt von Entwicklungen des Kunstsystems selber deuten, sind diese doch seit der Jahrhundertwende von Tendenzen und Kräften bestimmt, die darauf hinarbeiten, die Systemgrenze wieder durchlässig zu machen oder sogar aufzuheben. Hierher gehören die durch die moderne Technik ermöglichten Massenkünste, wie sie zunächst im Kolportageroman und später vor allem im Kino ihren Niederschlag gefunden haben, gehören auf eine gänzlich andere Weise aber auch die Bestrebungen der Avantgarde, Literatur und Kunst in weiterreichende soziopolitische Strategien einzubinden und so Ausdifferenzierung durch Entdifferenzierung zu ersetzen. 29 Gewiß, Massenkünste und Avantgarde zählen aufgrund ihres internationalen, die nationalkulturelle Kontinuität sprengenden Charakters zu den bevorzugten Haßobjekten der Völkischen, wie Georg Bollenbeck eindringlich vor Augen geführt hat. 30 Ebensowenig jedoch, wie sich die völkische Architektur den Imperativen des Funktionalismus verweigert, verzichtet auch die völkische Literatur auf die Techniken und Strategien der verfemten Antipoden. Burtes Wiltfeber mit seinem spektakulären Schluß, der den Helden mitten im Liebesakt vom Blitz treffen läßt, ist Sensationshascherei, Dinters Sünde wider das Blut reinste Kolportage, und auch die Romane von Löns oder Bartels vermögen nicht zu verbergen, was ihre Verfasser der Schulung durch den Journalismus verdanken. 31 Zumal der Wehrwolf mit seiner Ansammlung ausgesuchter Grausamkeiten fügt sich zumindest in dieser Beziehung durchaus in die für die literarische Moderne essentielle Tendenz zur Integration des Schokkierenden und Häßlichen 32 , um von Ewers oder Johst ganz zu schweigen. Nicht einmal ein in dieser Hinsicht so konventioneller Heimatroman wie Wilhelm Kotzdes Frau Harke kommt ohne Schnitte und ohne Konzessionen an das Sensatio28 Vgl. in diesem Sinne Adalbert Luntowskis 1912 vor dem Hamburger Deutschbund gehaltenen Vortrag, der 1914 in erweiterter Form unter dem Titel: Die Geburt des deutschen Menschen in Leipzig erscheint (hier: S. 47 f., 7), sowie ders.: Der deutsche Mensch, in: Bühne und Welt 17, 1915, Nr. 3. Paul Schulze-Berghof hat dieser Begriffsprägung zwar entgegengehalten, daß in den Worten germanisch und Moderne ein begrifflicher Widerspruch liege, der jede dauernde und wirkliche gedankliche Verschmelzung ausschließe. Der von ihm favorisierte „pathetische Stil“, für den er die Bezeichnung „Germanismus“ vorzieht, weist jedoch mit Liliencron und Dehmel Repräsentanten auf, die sich durchaus einer ‚moderaten Moderne‘ im Sinne Georg Bollenbecks zuordnen lassen. Vgl. Paul Schulze-Berghof: Germanisch-dichterische Monumentalkunst, in: Bühne und Welt 17, 1915, Nrn 1, 2, 6, 9, 11; 18, 1916, Nrn. 2, 3; Ulbricht 1999, S. 68 ff. 29 Zu den Massenkünsten vgl. Bollenbeck 1999, S. 33 ff.; zur Avantgarde Plumpe 1995, S. 177 ff., 184. 30 Vgl. Bollenbeck 1999, S. 159 ff., 262 ff. 31 Das ist natürlich kein Spezifikum der Völkischen. Selbst bei den konservativen Ultras, um nur von ihnen zu reden, finden sich Analogien, zum Teil sogar wesentlich früher, wie die langjährige Mitarbeit von Hermann Goedsche alias Sir John Retcliffe (1815–1878) bei der Kreuzzeitung belegt. Goedsches „Historisch-politische Romane“ sind mit ihren pornographisch-sadistischen Zügen ein Präludium zur Massenkommunikation der Moderne; mit ihrer Obsession für Geheimbünde und Weltverschwörungen überdies eine komplette Antizipation des Weltbildes, wie es für den Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund oder die Ludendorffs typisch sein wird. Aufschlußreich zu Goedsche: Neuhaus 1980. 32 Vgl. Kiesel 2004, S. 99 ff.

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nelle aus. Schließlich hat die verbreitete Verachtung, mit der zunächst der Film gestraft wird, doch die Diskussion darüber nicht verhindert, wie sich ein offensichtlich so massenwirksames Medium für nationalpädagogische Zwecke nutzen ließe – politisch gesehen der Gegenpol zu den Bestrebungen der Avantgarde, systemtheoretisch betrachtet aber eben deshalb das strukturelle Pendant. 33 Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: hier wird nicht die Behauptung vertreten, daß die unter der Bezeichnung „Existentialismus“ in die Philosophiegeschichte eingegangene Denkrichtung mit den Völkischen gemeinsame Inhalte teilte. Eine solche Behauptung würde von beiden Seiten zurückgewiesen, und das mit Recht. Gemeint ist vielmehr, daß sich Subjektivität in der Moderne durch die doppelte Fähigkeit zur Abstraktion einerseits, zum Sich-Entwerfen in verschiedene Richtungen andererseits auszeichnet, und daß diese „existentialistische“ Grundposition als eine Option neben anderen die Festlegung im völkisch-nationalistischen Sinne enthält. Die von Michael Mönninger für das Bauwesen der Epoche herausgestellte Eigentümlichkeit, daß „die Architekten noch verschiedene Entwurfssprachen beherrschten und je nach Auftraggeber und Bauaufgabe auch verwirklichen durften, ohne gleich in den Kulturkampf zwischen guter Moderne und böser Tradition verwickelt zu werden“ 34 , beschreibt genau diese Grundposition, aus der heraus so unterschiedliche Wege möglich waren wie derjenige von Poelzig, Scharoun oder Mies van der Rohe, der von regionalistischen Anfängen zu einer entschiedenen Bejahung der reflexiven Modernisierung geführt hat, oder derjenige von Höger oder Schmitthenner, den Fritz Schumacher als den „vorbildlichen Mittelweg zwischen Typisierung und Individualisierung“ charakterisiert hat. 35 Auch auf ästhetischer Ebene lassen sich die Völkischen nicht einfach aus der Moderne subtrahieren.

33 Vgl. die Ausführungen über die sogen. Kinoreformbewegung, deren Protagonisten (Hermann Häfker, Karl Brunner, Robert Gaupp, Konrad Lange u. a.) vor allem im Umfeld des Dürerbundes und verwandter Organisationen beheimatet waren, bei Lenk 1996 und Bruns 1996 (a). 34 Michael Mönninger: Die Suche nach der einfachsten Form, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 199, 27. 8. 1992. 35 Zit. n. Voigt und Frank 2003, S. 14.

3. Gescheiterte Milieubildung Das 19. Jahrhundert kennt einige Fälle, in denen eine soziale Bewegung sich nicht in bloßer Mobilisierung erschöpft, sondern komplexe Ordnungsgefüge von einiger Dauer hervorbringt – die von M. Rainer Lepsius so genannten sozialmoralischen Milieus, die durch eine „Koinzidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung, schichtspezifische Zusammensetzung der intermediären Gruppen gebildet werden.“ 1 Das ist etwa der Fall bei der katholischen Volksbewegung, die sich seit den 50er Jahren in einer „Fülle von lokalen, häufig unter geistlicher Leitung stehenden Kirchen-, Wohltätigkeits- und Geselligkeitsvereinen“ institutionalisiert 2 , bei der Arbeiterbewegung, die parallell zur Industrialisierung ein dichtgewebtes sozialistisches Milieu hervorbringt, das sich durch ein hohes Maß an Geschlossenheit und sozialer Integration auszeichnet, oder bei der agrarischen Bewegung der 90er Jahre, der es gelingt, das horizontale Schichtengefüge auf dem Land durch eine neue vertikale, die Landwirtschaft insgesamt dem industriell-städtischen Bereich entgegensetzende Gliederung zu überformen.3 Ergebnis dieses Prozesses ist die bekannte Milieustruktur, die das Kaiserreich in ein katholisches, sozialistisches und agrarisches Milieu gliedert, zu dem nach Lepsius’ nicht unbestritten gebliebenem Vorschlag als viertes Milieu noch das liberale hinzutritt. 4 Peter Longerich hat nun die These vertreten, daß sich noch im Kaiserreich, insbesondere im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg, durch Abspaltungen aus dem liberal-bürgerlichen und agrarisch-konservativen Milieu ein fünftes Milieu herausgebildet habe, „das man als nationalistisch und rechtsradikal bezeichnen kann.“ 5 Da Longerich hiermit auch auf die Gruppen abstellt, die zur völkischen Bewegung rechnen, ließe sich die These auch so formulieren, daß die völkische Bewegung in ähnlicher Weise wie die oben genannten anderen Bewegungen milieukonstitutiv geworden ist. Ist diese These haltbar? Für die nähere Prüfung ist es unerläßlich, den vieldiskutierten Milieubegriff genauer zu fassen. Übersetzt man die von Lepsius angeführten Kriterien in eine stärker an Max Weber orientierte Begrifflichkeit, dann lassen sich soziale Milieus als das Produkt von Vergesellschaftungen und Vergemeinschaftungen verstehen, die der Verteidigung von Interessen dienen, sei es solchen ideeller Natur wie Religion beziehungsweise Konfession, Sprache, Kultur oder solchen materieller Natur wie etwa der Interessen der landwirtschaftlichen Produzenten oder der städtischen Konsumenten; die dabei vertikal das Gefüge der Klassen und Schichten 1

Lepsius 1993, S. 38. Ebd.; vgl. Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte 2000. 3 Vgl. Lösche 1990–1993; Tenfelde 1996; Emil Lederer: Die wirtschaftlichen Organisationen, Leipzig und Berlin 1913, S. 116 ff. 4 Vgl. die Gegenargumente bei Winkler 1995, S. 415, 432 f.; Weichlein 1996, S. 26, 212 ff. 5 Longerich 1995, S. 212 f. Ein völkisches Milieu glaubt auch Gossler 2001, S. 379 zu erkennen. 2

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durchschneiden, einen regionalen Bezug besitzen und zu ihrer Absicherung auch das Medium politischer Macht nutzen, was in der Regel mit einer symbolischen Dramatisierung der Grenze zur Umwelt und umfassenden Loyalitätsanforderungen an die Mitglieder einhergeht. Letztlich entscheidend ist dabei, um einen Gedanken Karl Rohes aufzugreifen, „nicht eine bestimmte Denkweise, sondern eine bestimmte Lebensweise“, die ihre Grundlage und Stütze in einer „institutionalisierten Deutungskultur“ findet; diese wird in der Regel von politischen Eliten hervorgebracht und über ein Spektrum von Medien verbreitet, das „von lokal-regionalen Honoratioren, einer meist gleichfalls regional beschränkten Milieupresse über ausgebildete Parteiorganisationen bis hin zu modernen Massenmedien“ reicht. 6 Der Hinweis auf die modernen Massenmedien macht überdies deutlich, daß soziale Milieus im Unterschied zu Lepsius nicht vorrangig als Relikte vormoderner, vorindustrieller Strukturen aufzufassen sind, sondern als denkbare Ordnungsmuster auch einer modernen Gesellschaft – ein Gedanke, der, obschon mit unterschiedlichen Akzentuierungen des Milieubegriffs, auch von der neueren Forschung geteilt wird. 7 Es fällt nicht schwer, einige Elemente dieses Katalogs auch im völkischen Spektrum auszumachen. Die völkischen Parteien haben ihre regionalen Schwerpunkte, wie gezeigt, in Hessen, Sachsen sowie Teilen Norddeutschlands, während ihnen im Süden dauerhaftere Erfolge versagt bleiben, trotz der dort oftmals nicht geringeren Präsenz antisemitischer Einstellungen, trotz einer auch dort vorhandenen völkisch-antisemitischen Presse und trotz der Ausstrahlungskraft von Bayreuth, das sich selbst zunehmend in einer Achse mit Weimar sieht 8 ; dasselbe gilt für Gesinnungsverbände wie den Deutschbund oder den Reichs-Hammerbund, die südlich der Mainlinie nur über wenige Ortsgruppen verfügen. 9 Erst jenseits der Reichsgrenze, in den sudetendeutschen Gebieten und in einigen Teilen Deutschösterreichs, findet sich wieder eine bedeutendere antisemitisch-völkische Szenerie, die freilich stark in Fluß und vielfach mit alt- und neunationalistischen Tendenzen legiert ist. 10 Als Deutungselite wurde im vorigen Abschnitt der pro6

Rohe 1992, S. 19, 26. Vgl. nur Schulze 1992, S. 174 ff.; Hradil 2001, S. 44 f.; Vester u. a. 2001. 8 Vgl. Pötzsch 2000. Für Bayern vgl. Tiedemann 1988, S. 387–396; für Baden und Württemberg Smith 1993; Scheil 1993; Wolf 1995; H. P. Müller 1994. Zur Presse vgl. Puschner 2006 (a); Reinecke 1996; Hufenreuter 2006. Zur Achse Bayreuth-Weimar vgl. Hans von Wolzogen: ‚Bayreuth und Weimar‘. Ein Gelöbnis zu Friedrich Lienhards Fest, in: Bühne und Welt 17, 1915, H. 10 (LienhardSonderheft). 9 Dependancen des Deutschbundes in diesem Raum finden sich lediglich in Freiburg und Würzburg, des Reichs-Hammerbundes nur in Memmingen, München, Nürnberg und Stuttgart. München weist immerhin mit den Deutschvölkischen Vereinen Odin und Bismarck, dem Akademischen Bund Ethos, dem Ring der Norda, dem Urda-Bund und Asgard eine ausgeprägte völkische Szene auf, die den Nationalsozialisten nach 1919 fraglos den Start erleichtert hat. Vgl. Puschner 2006 (a). 10 Altnationalistische Tendenzen zeigen sich beispielsweise bei Schönerer, der nach seinem Karriereknick von 1888 die demokratischen Elemente seines Linzer Programms (Sozialgesetzgebung, allgemeines Wahlrecht) stark zurücknimmt: vgl. Wladika 2005, S. 529. In neunationalistische Richtung geht die 1904 in Trautenau gegründete Deutsche Arbeiterpartei Böhmens und Mährens, in der sich jedoch ab 1918 unter dem Einfluß Rudolf Jungs Positionen durchsetzen, die viele Gemeinsamkeiten mit der Deutschsozialistischen Partei Alfred Brunners und den Ideen 7

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letaroide Intellektualismus benannt, und auch für die Existenz einer institutionalisierten Deutungskultur lassen sich mühelos Belege anführen: von der weitgefächerten Landschaft der Reformvereine bis hin zu den Parteien. An völkisch-antisemitischen Presseorganen mangelt es ebenfalls nicht. Auf regionaler Ebene erscheint seit Sommer 1882 in Kassel unter der Leitung von Ludwig Werner das Reichsgeldmonopol, mit dem ab 1887 in Marburg der Reichsherold Otto Böckels konkurriert – ein Blatt, das auf seinem Höhepunkt 1882 eine Auflage von bis zu 30 000 erreicht haben soll. 11 Andere Organe sind die beiden Dresdner Blätter Deutsche Reform (ab 1879/80) und Deutsche Wacht (ab 1887), die Offenbacher Deutsche Volkswacht (1894–1901) und die Hamburger Abwehr (1889–1895) sowie das Deutsche Blatt (1893–1906). 12 In Leipzig bringt Theodor Fritsch 1885 seine auf ein überregionales Forum zielende Antisemitische Correspondenz heraus, die ab 1890 unter dem Namen Deutsch-Soziale Blätter firmiert und bis 1914 erscheint; als Fritsch sie 1894 an Liebermann von Sonnenberg abtritt, hat sie einen Abonnentenstamm von 7200. 13 Nach der Vereinigung der Deutschsozialen mit den Resten der Deutschreformer werden die Deutsch-Sozialen Blätter ebenfalls umgetauft, in Deutschvölkische Blätter; Fritsch gibt seit 1902 seinen Hammer heraus. Ebenfalls überregionale Verbreitung besitzen die in Berlin erscheinende Staatsbürgerzeitung sowie die ab 1896 von Friedrich Lange herausgegebene Deutsche Zeitung, die später in den Besitz des Alldeutschen Verbandes übergeht. 14 Zu diesen Organen muß man jene Blätter hinzurechnen, in denen völkisch-antisemitisches Gedankengut nur punktuell und mitunter auch nur zeitweise, je nach Zusammensetzung der Redaktion, transportiert wird, wie zum Beispiel die bis 1893 zum Dühringlager gehörende Westfälische Reform, die Sachsenschau (Magdeburg), die Mittelsächsische Zeitung (Meißen) oder die Neue Deutsche Zeitung (Leipzig), die zwischen 1891 und 1894 unter der Leitung des Antisemiten Erwin Bauer steht, der zugleich die völkische Kulturzeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert herausgibt. 15 In diesen Kontext gehört auch die Presse der oben erGottfried Feders aufweisen, also: völkischer Natur sind: vgl. ebd., S. 580 ff., 599 ff., 610 ff. sowie weiter unten. 11 Vgl. Sudhoff 2001. 12 Vgl. Pötzsch 2000, S. 135; für Norddeutschland vgl. die Überblicke bei Riquarts 1975, S. 143 ff.; Kasischke-Wurm 1997, S. 36 f. Einige weitere Lokalblätter sind aufgelistet in einer Beilage zu den Deutsch-Sozialen Blättern 8, 1893, Nr. 276. Gute Übersichten über die antisemitischvölkische Presselandschaft finden sich in den Abwehrblättern. Vgl. auch Fricke 1984, Bd. 2, S. 540. 13 Vgl. Piefel 2004, S. 102. 14 Vgl. Arnold Leinemann: Friedrich Lange und die Deutsche Zeitung (betrachtet im Abschnitt 1896–1900), Phil. Diss. Berlin 1938. Die Kontrolle der Alldeutschen über die DZ beginnt 1908: zunächst in Gestalt eines Konsortiums, zu dessen Hauptaktionären der Freikonservative und führende Alldeutsche Freiherr v. Stössel gehört; ab 1913 der Deutschen Zeitungsgesellschaft und ab Januar 1917 der Neudeutschen Verlags- und Treuhandgesellschaft, deren Aufsichtsratsvorsitzender, Heinrich Claß, für die Kontrolle der Zeitungsinhalte verantwortlich ist. In der Weimarer Republik steigt die Auflage zeitweise auf 40 000, geht dann aber wieder zurück: vgl. Stegmann 1970, S. 171 ff.; Streubel 2006, S. 69 f.- Auch das eigentliche Organ des ADV, die über eine Auflage von 7000 Exemplaren (1914) verfügenden Alldeutschen Blätter, hat immer wieder völkischen Autoren ein Forum geboten: vgl. Hering 2003 (a). 15 Zu Bauer und zum Zwanzigsten Jahrhundert vgl. die Hinweise weiter oben.

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wähnten Verbände mit antisemitischem Einschlag, allen voran das Organ des DHV, die Deutsche Handelswacht, die sich mehrfach über ihre „Völkischen Hochziele“ verbreitet 16 sowie die vom BdL kontrollierte Deutsche Tageszeitung, in der auch völkische Autoren wie Ottomar Beta, Heinrich Pudor, Ferdinand Werner, Ernst Wachler und Philipp Stauff zu Wort kommen; seit 1914 gehört ein weiterer prominenter Völkischer, Ernst Graf Reventlow, zur Redaktion und verfaßt in dieser Funktion zahllose Artikel. 17 Selbst in respektable Organe finden völkischantisemitische Positionen zeitweise Eingang, wie zum Beispiel in die Tägliche Rundschau unter Friedrich Lange und Willy Pastor, in die von einem Philo(M. G. Conrad) und einem Antisemiten (Carl Bleibtreu) herausgegebene Gesellschaft, den Kunstwart, den Türmer oder die schon mehrfach erwähnten Bayreuther Blätter. 18 Einschlägig spezialisierte Verlage sind zum Beispiel in Berlin (Hans Lüstenöder) und in Sachsen zu finden (Theodor Weicher und „Germanicus“ in Leipzig, Ernst Schmeitzner in Chemnitz, Glöß in Dresden). 19 Gleichwohl reicht dies alles nicht aus, um aus der völkischen Bewegung ein Milieu zu machen. So fest und unverrückbar die einschlägige Deutungskultur seit den 80er Jahren sein mag, sie steht keineswegs für ein völlig eigenes Wert- und Normensystem, das durch einen Hiatus von anderen Wert- und Normensystemen getrennt wäre. Mit den Konservativen verbindet die Völkischen die Präferenz für Ungleichheit, mit den (Alt-)Liberalen die Fixierung auf die harmonisch-synthetische Denkfigur der ersten Moderne; auch die Hochschätzung der (ethnisch gedeuteten) Nation oder des Leistungsprinzips sind alles andere als ein Sonderbesitz der Völkischen. Wie leicht die gern demonstrativ zur Schau getragene Distanz zum „plebejischen Radikalismus“ eingezogen werden kann, zeigt nicht nur der Tivoli-Parteitag der Konservativen, sondern jede Reichstagswahl: zumal in den Stichwahlentscheidungen verhelfen die Völkischen liberalen oder konservativen Kandidaten zum Sieg gegen Sozialisten, wie auch umgekehrt die Klientel der Liberalen und der Konservativen im Konfliktfall eher für völkisch-antisemitische Kandidaten votiert als für Sozialisten. 20 Auch die signifikante personelle Fluktuation zwischen den antisemitisch-völkischen Vereinen und anderen Verbänden steht jener sozialen und politischen Schließung entgegen, die für die Bildung eines Milieus charakteristisch ist. 21 Eine spezifische Lebensweise schließ16 Das Blatt erscheint zunächst ab 1893 als Beilage, ab dem 3. Jahrgang 1896 unter diesem Titel. Die genannte Artikelserie findet sich im 16. Jahrgang 1909 in den Nrn. 12, 15, 18 sowie 18, 1911, Nr. 15. 17 Zur Deutschen Tageszeitung vgl. Pacyna 1958; Kimmel 2001, S. 59, 66, 98, 111, 161. Zu Reventlows Tätigkeit vgl. ebd., S. 40 sowie Boog 1965, S. 290. 18 Vgl. Kurt Wawrzinek: Die Entstehung der deutschen Antisemitenparteien (1873 – 1890), Berlin 1927, S. 59. Zur Gesellschaft vgl. Breuer 2004, S. 82; zur Täglichen Rundschau Lotte Adam: Geschichte der ‚Täglichen Rundschau‘. Phil. Diss. Berlin 1934, S. 25 ff.; zum Kunstwart Kratzsch 1969; zum Türmer Parr 2003; zu den Bayreuther Blättern Hein 1996, S. 211 ff. 19 Guter Überblick bei Ulbricht 1996 (a). Ein so weitgefächertes Programm, wie es Eugen Diederichs seit 1896 entwickelt hat, läßt sich sicher nicht pauschal als völkisch qualifizieren. Daß die Ambitionen des Verlegers gleichwohl in diese Richtung tendieren, habe ich 1996 in einem Vortrag gezeigt, ohne dort freilich bereits über den hier zugrundegelegten Typus zu verfügen: vgl. Breuer 1999 (a). 20 Vgl. Scheil 1999, S. 134 ff. 21 Vgl. ebd., S. 21.

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lich, wie sie im katholischen oder auch im sozialistischen Milieu anzutreffen ist, ist ebenfalls nicht zu erkennen. Angesichts dieser Sachlage erscheint es am angemessensten, von einem gescheiterten Versuch der Milieubildung zu sprechen, von Vergesellschaftungen und Vergemeinschaftungen, bei denen es nicht gelungen ist, die gemeinsamen Präferenzen zu einer halbwegs konsistenten Weltanschauung auszubauen und diese dauerhaft mit materiellen Interessen so verbinden, daß sich daraus eine klar abgegrenzte Großgruppe mit spezifischer Identität ergeben hätte. Was nach dem Scheitern der Parteien bleibt, ist ein Ensemble von Gesinnungsgemeinschaften, die sich um einige ideologische Unternehmer scharen und nur locker miteinander verbunden sind, ein Archipel, der seine größte Dichte in Mittel- und Norddeutschland besitzt und hier auch seine Zentren hat: Berlin mit seiner bis in die Gründerzeit zurückreichenden antisemitischen Lokal„kultur“ und einer entsprechenden Presselandschaft; Dresden als Sitz der Deutschreformer und eines Netzwerks von Intellektuellen, zu dem Anfang der 90er Jahre Heinrich Pudor, Max Bewer und Julius Langbehn gehören; Leipzig mit der Gruppe um Fritsch sowie nicht zuletzt Hamburg, das seit 1893 Sitz des DHV, von 1900 bis 1914 Sitz der Deutsch-sozialen Partei und anschließend der Deutschvölkischen Partei ist, seit 1914 überdies der Geschäftsführung des Reichs-Hammerbundes. Unter zeitlichen Gesichtspunkten drängt es sich im übrigen auf, eher an Archipele von Sternen als von Inseln zu denken, ist doch ein typisches Merkmal dieser Welt das rasche Auftauchen und ebenso rasche Wiederverschwinden. Das gilt für die lokalen Reformvereine ebenso wie für die überlokalen Verbände und Parteien, es gilt für das Führungspersonal, das meteorhaft aufsteigt wie Böckel oder Ahlwardt, um alsbald in Hinterzimmern zu verschwinden, und es gilt nicht zuletzt für die Presse, deren Mortalitätsrate enorm ist. Von den sechsunddreißig Blättern, die zwischen 1890 und 1897 erscheinen, existieren 1898 nur noch sieben; die durchschnittliche Lebensdauer einer Zeitung beträgt in dieser Szene ganze zwei Jahre. 22 Als 1913 Adolf Bartels zu einem „Deutschen Tag“ am Fuß der Wartburg einlädt, ist dies das Eingeständnis, daß die Bewegung wieder auf dem Niveau des Meetings angekommen ist, von wo sie dreißig Jahre zuvor mit den sogenannten Antisemitentagen ihren Ausgang genommen hat. Für die Ausdifferenzierung und Stabilisierung eines Milieus, das ist am Vorabend des Ersten Weltkriegs unübersehbar, besitzt die völkische Bewegung nicht genügend Substanz. Die Annahme ist nicht unbegründet, daß sie ohne den Weltkrieg in der Marginalität verschwunden wäre.

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Vgl. Levy 1975, S. 115.

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1. Tiefpunkt und Neubeginn Zunächst freilich bedeutet der Ausbruch des Ersten Weltkriegs für die Völkischen nur eine weitere Stufe in dem Abstieg, in dem sie sich spätestens seit der Jahrhundertwende befinden. Das liegt zum einen daran, daß sie sich durch die Ereignisse nicht davon abhalten lassen, ihre Hauptaufmerksamkeit auch weiterhin auf den inneren Feind zu richten, womit sie den um die Einhaltung des „Burgfriedens“ besorgten Staat gegen sich aufbringen. Viele Organe der Völkischen geraten unter Präventivzensur und werden immer wieder verboten: zum Beispiel der Hammer im März 1915 für sechs Wochen, ab August 1916 bis Kriegsende, desgleichen für unterschiedliche Zeiträume die Deutschvölkischen Blätter und die Staatsbürger-Zeitung. 1 Zum andern rückt mit dem Krieg die Außenpolitik in den Vordergrund, ein Feld, auf dem die Völkischen bis dahin wenig Eigenes, und vor allem: wenig Konsensfähiges, hervorgebracht haben. Man denke an Langbehn mit seiner Forderung nach einer ‚Achsendrehung‘ der deutschen Politik von der Ostsee zur Nordsee, von Ostelbien zu den ‚Seestämmen‘ der Dänen und Holländer, von deren Einverleibung sich der Rembrandtdeutsche eine neue Öffnung zur Welt, zur ‚planetarischen Politik‘ erhofft, an Chamberlains Zurückweisung des ‚römischen‘ Imperialismus zugunsten ‚germanischer‘ Begrenzung im Äußeren oder an Friedrich Lange, der beides zugleich anvisiert: eine nach Osten gerichtete ‚welfische‘ Expansion und eine auf ‚Weltherrschaft‘ zielende überseeische Kolonialpolitik, und man hat eine ungefähre Vorstellung von der auf diesem Gebiet vorherrschenden Kakophonie. 2 So ist es denn wenig verwunderlich, wenn die Völkischen im Krieg den Schulterschluß mit dem zielklareren und zugleich in seiner Bewegungsfreiheit weniger eingeschränkten ‚alten‘ Nationalismus suchen. Schon im Februar 1917 ruft die Führung des Reichs-Hammerbundes die Mitglieder dieser Vereinigung dazu auf, dem Alldeutschen Verband beizutreten – angesichts der Tatsache, daß viele prominente Völkische längst diesen Schritt getan haben, fast ein überflüssiger Vorschlag. 3 Wilhelm Schwaners Volkserzieher, der seinen Titel vorübergehend in Deutschmeister umgewandelt hat und jetzt weiß-rot-schwarz umrandet erscheint, unterstützt die Gründung der Deutschen Vaterlandspartei, die für den Siegfrieden eintritt und die Nation für dieses Ziel mobilisieren will. 4 Die einzelnen Landesverbände der 1914 gegründeten Deutschvölkischen Partei (DvP) schließen 1

Vgl. Piefel 2004, S. 171 f.; Fricke 1984, Bd. 2, S. 560. Vgl. [Julius Langbehn]: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, Leipzig 18902 , S. 140 ff., 222; Houston Stewart Chamberlain: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, 2 Bde., 27. Aufl., München 1941, Bd. 2, S. 781, 797; Friedrich Lange: Reines Deutschtum. Grundzüge einer nationalen Weltanschauung, 3. Aufl., Berlin 1904, S. 384, 398 f. 3 Vgl. Lohalm 1970, S. 64. 4 Vgl. Panesar 2006, S. 88. Zur Vaterlandspartei, die zu den Alldeutschen in einem gewissen Konkurrenzverhältnis steht, vgl. Hagenlücke 1997. 2

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sich ihr sogar korporativ an. 5 Auf ihrem Parteitag im Dezember 1918 gehen die Delegierten der DvP noch einen Schritt weiter und erklären die Verschmelzung ihrer Organisation mit der aus einem Bündnis von Deutschkonservativen, Freikonservativen, alldeutschen Nationalliberalen und Christlich-Sozialen hervorgegangenen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), gründen aber zur Sicherung des Zusammenhalts der bisherigen Mitglieder einen eigenen neuen Gesinnungsverband, den Deutschvölkischen Bund.6 Die innenpolitische Polarisierung durch Revolution und Bürgerkrieg verstärkt die Bereitschaft, mit anderen Verbänden und Parteien der Rechten zusammenzuarbeiten und neue Organisationen mit ihnen zu bilden. Als im Herbst/Winter 1918/19 die Alldeutschen, ihrerseits unter Mitgliederschwund und Auflösung zahlreicher Ortsgruppen leidend, ihre Fühler in Richtung der ehemaligen Antisemitenparteien und -verbände ausstrecken, um eine antisemitische und nationalistische Massenorganisation zu gründen, erklären sich Reichs-Hammerbund und Deutschvölkischer Bund sogleich zur Mitarbeit bereit. Letzte Zweifel werden durch den Ausgang der Wahlen zur Nationalversammlung behoben, bei denen prominente Völkische wie Lattmann, Werner und Roth durchfallen. 7 Aus den Verhandlungen des überverbandlichen „Judenausschusses“ geht im Februar 1919 der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund (DSTB) hervor, der sich „die sittliche Wiedergeburt des deutschen Volkes durch die Erweckung und Förderung seiner gesunden Eigenart“ zum Ziel setzt. 8 Wiewohl er hinsichtlich der dazu ins Auge gefaßten Mittel (Beseitigung des ‚unterdrückenden und zersetzenden Einflusses des Judentums‘) wie auch seiner Mitgliedschaftsregeln (‚deutsche Abstammung‘ als conditio sine qua non) ganz auf der Linie des Vorkriegsantisemitismus liegt und insofern eher dem völkischen als dem alten Nationalismus zuzurechnen ist, verfügt er doch zugleich über eine geheime Leitung, die ihn dem letzteren subordiniert. 9 Dieser geheime Vorsitzende ist Konstantin von Gebsattel, gleichzeitig der stellvertretende Vorsitzende des ADV, der in der Anlaufphase des DSTB einen erheblichen Teil der finanziellen Mittel bereitstellt. Während indessen die dem Bund beigetretenen völkischen Verbände alsbald ihre organisatorische Selbständigkeit aufgeben – der Deutschvölkische Bund löst sich zum 20. September 1919 in den DSTB auf, der Reichs-Hammerbund zum 1. April 1920 10 – behalten die Alldeutschen ihren Verband. Zwar fungiert mit Alfred Roth ein prominenter Hammerbündler als Hauptgeschäftsführer des DSTB, doch hat dieser sich nicht nur der geheimen Leitung, sondern auch einem geschäftsführenden 5

Vgl. Fricke 1984, Bd. 2, S. 561. Vgl. Striesow 1981, Bd. 1, S. 30. Der zusammengesetzte Charakter der DNVP erlaubt es zumindest für das erste Jahrzehnt ihres Bestehens nicht, über eine grobe Zuordnung zum rechten Pol des Parteienspektrums hinauszugehen. Der ‚alte‘ Nationalismus gewinnt erst mit der Wahl Hugenbergs zum Parteivorsitzenden (1928) die Hegemonie. Zur Entwicklung der Partei vgl. Liebe 1956; Trippe 1995; Dörr 1964. Zum Neben- und Gegeneinander von altem, neuem und völkischem Nationalismus in der DNVP vgl., allerdings mit anderer Begriffsbestimmung, Kiiskinen 2005, S. 31 ff. 7 Vgl. Abwehrblätter 29, 1919, Nr. 3. 8 Satzung des Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bundes, BArch ADV 494. 9 Vgl. Lohalm 1970, S. 21. 10 Vgl. ebd., S. 82 f. 6

Tiefpunkt und Neubeginn

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Vorsitzenden zu beugen (Gertzlaff von Hertzberg), der dem ADV angehört. Die für den DSTB vereinbarte Diktaturverfassung degradiert die beiden stellvertretenden Vorsitzenden aus der ehemaligen DvP, Ferdinand Werner und Friedrich Wiegershaus, zu bloßen Statisten, die keinen Einfluß auf die Entscheidungen besitzen. 11 Hält man sich vor Augen, daß auch im Vorstand der DNVP die Repräsentation des völkischen Flügels eher bescheiden ausfällt – von den im Sommer 1919 gewählten 40 Mitgliedern des Vorstands gehören mit Werner und Lattmann nur zwei dieser Richtung an 12 –, dann wird deutlich, daß die Jahre 1918/19 den vorläufigen Tiefpunkt der völkischen Bewegung markieren. In organisatorischer Hinsicht ist der völkische Nationalismus zum Juniorpartner des alten Nationalismus geworden, auch wenn dieser seinerseits zunehmend auf einen Radikalantisemitismus einschwenkt, der vor dem Krieg eine Domäne des völkischen Nationalismus gewesen ist. Dem Tiefpunkt folgt freilich schon bald ein neuer Aufschwung. Dieser zeigt sich zum einen in der Entwicklung des DSTB zu einer Massenorganisation, die in bezug auf Mitgliederstärke und regionale Verbreitung den Rahmen des völkischen Antisemitismus der Vorkriegszeit deutlich überschreitet; zum andern aber auch in der erneuten Parteibildung, teils in Gestalt von Klein- und Kleinstparteien, teils in Form des Versuchs, heterogene Parteigebilde auf die Linie des völkischen Nationalismus zu bringen. Nach dem Zerfall des DSTB 1922 gelingt es einer Abspaltung von der Deutschnationalen Volkspartei, der Deutschvölkischen Freiheitspartei, für kurze Zeit einen erheblichen Teil der Völkischen zu sammeln und die bis dahin größten Wahlerfolge einer völkischen Partei zu erzielen. Im weiteren wird zu untersuchen sein, weshalb auch dieser Erfolg nicht dauerhaft ist und die Völkischen das politische Feld der NSDAP überlassen müssen – einer Partei, die zwar ebenfalls eine starke völkische Komponente enthält, jedoch darin nicht aufgeht.

11 12

Vgl. ebd., S. 265 f. Vgl. Striesow 1981, Bd. 1, S. 80.

2. Der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund Bedingt durch die Entscheidung der Alldeutschen, ihre Präsenz im DSTB verdeckt zu halten, kann der Bund zunächst nur auf die Mitglieder des Reichs-Hammerbundes und der DvP zurückgreifen. Deren Zahl ist überschaubar. Der 1913 gegründete Reichs-Hammerbund zählt einen Monat nach Kriegsausbruch gerade sechzehn Ortsgruppen, die nur selten mehr als hundert Mitglieder haben. Trotz einer gewissen Aufwärtsentwicklung während des Krieges liegt seine Mitgliederzahl bei Gründung des DSTB unter 2000. 1 Deutlich stärker ist die aus der Vereinigung von Deutschsozialen und Deutschreformern hervorgegangene DvP, die jedoch anscheinend ihren Mitgliederbestand nicht zu halten vermag. Beträgt er 1914 noch 14000, so liegt er 1919 nur mehr bei circa 9000. 2 Immerhin verfügt die Partei mit den Deutschvölkischen Blättern über ein seit langem eingebürgertes Organ der antisemitischen Szene und mit der Deutschvölkischen Verlagsanstalt über einen leistungsfähigen Publikationsapparat.3 Dank der rastlosen organisatorischen Aktivitäten Roths und des Einsatzes der vom ADV bereitgestellten Finanzmittel gelingt es noch im Laufe des Jahres 1919, zahlreiche kleinere völkische Verbände zum Anschluß an den DSTB zu bewegen: so den Bund deutschvölkischer Juristen, den Bund zur Pflege nordischer Kunst und Wissenschaft, den Deutschvölkischen Schriftstellerverband, den Deutschen Bund zur Bekämpfung fremden und Förderung deutschen Wesens, den Verband zur Befreiung vom Judenjoch u. a. Die Verhandlungen mit dem von Jürgen von Ramin geführten Deutschen Volksbund in Berlin ziehen sich in die Länge, können aber bis zum Herbst 1920 doch noch erfolgreich abgeschlossen werden. 4 Da die meisten dieser Verbände quantitativ nicht sehr ins Gewicht fallen – lediglich der Deutsche Volksbund verfügt mit seinen etwa 3000 Mitgliedern vor allem im Berliner Raum über eine größere Gefolgschaft 5 – dürfte der rasch einsetzende Mitgliederzustrom nur zum geringeren Teil auf das Reservoir der völkisch-antisemitischen Bewegung der Vorkriegszeit zurückzuführen sein. Lohalm schätzt, daß von den rund 30 000 Schutz- und Trutzbündlern bis Ende 1919 nur etwa die Hälfte aus diesen Reihen stammt. Ende 1920 erreicht die Mitgliederzahl bereits 110 000, um bis zum Juni/Juli 1922 noch einmal um weitere 50–70 000 zuzunehmen. 6 Hält man sich vor Augen, daß die Deutsch-soziale Reformpartei auf 1

Vgl. Jung 2000, S. 17. Vgl. Fricke 1984, Bd. 2, S. 559; Levy 1975, S. 305. 3 Vgl. Lohalm 1970, S. 84. Im August 1920 übernimmt der DSTB auch noch die von Ludwig Woltmann gegründete Politisch-Anthropologische Monatsschrift, die mit ihren inzwischen circa 800 Beziehern eher ein intellektuelles Publikum anspricht: vgl. BArch ADV 491. 4 Vgl. Lohalm 1970, S. 78 f., 85; Fricke 1984, Bd. 2, S. 562 ff. 5 Vgl. Lohalm 1970, S. 359; Striesow 1981, Bd. 1, S. 284; Bd. 2, S. 261. Zur Reorganisation des schon im Kaiserreich bestehenden Deutschen Volksbunds vgl. Abwehrblätter 29, 1919, Nr. 18. 6 Vgl. Lohalm 1970, S. 89 f. 2

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ihrem Höhepunkt nicht mehr als 30–35000 Mitglieder hatte 7, so wird deutlich, welchen Entwicklungssprung das völkische Lager seither gemacht hat. Die Ursachen liegen auf der Hand. Sie sind einmal in der massiven Propagandatätigkeit zu suchen, die eine flächendeckende Verbreitung des völkischen Gedankenguts in Form von Flugblättern, Broschüren und Veranstaltungen ermöglicht. Als besonders wirksam erweist sich dabei die vom DSTB-Vorstandsmitglied Artur Dinter praktizierte Strategie, dieses Gedankengut in Romanform aufzubereiten und unter die Leute zu bringen. 8 Sodann in der erfolgreichen Verknüpfung, die der DSTB mit den gegenrevolutionären Bestrebungen herzustellen versteht, allen voran mit den Freikorps und verwandten Organisationen wie dem Jungdeutschen Orden, der Organisation Consul und dem Bund Wiking sowie mit Stahlhelm und Reichswehr. 9 Starke Anziehungskraft entfaltet der DSTB zumal auf die bürgerliche Jugend, speziell in den Oberklassen der Gymnasien und in der Studentenschaft. Die nicht mehr zum Kriegseinsatz gekommenen, aber in hohem Maße einsatzwilligen Jahrgänge sind äußerst dankbar für das Angebot einer inneren Front, wie es von den Schutzbundpropagandisten auf kulturellem Feld gemacht wird, vorzugsweise in Kampagnen gegen Theaterstücke jüdischer Autoren und Regisseure oder gegen Filme, die als Angriffe auf das „sittliche Volksempfinden“ perzipiert werden. Auf diesem Feld überschneiden sich die von antisemitischen Gruppen inszenierten Krawalle mit den von lokalen „Jugendringen“ durchgeführten Stör- und Sprengaktionen so nachhaltig, daß der DSTB geradezu als Jugendorganisation erscheint. In München zählt die Studentengruppe des DSTB im Juli 1920 über 1800 Mitglieder, und dies bei rund 9000 Immatrikulierten. Insgesamt sind 85 % des DSTB unter 45 Jahre alt. 10 Von der völkischen Bewegung des Kaiserreichs unterscheidet sich der DSTB auch durch seine ausgeglichenere räumliche Verteilung. Während der Vorkriegsantisemitismus sich auf einige klar umgrenzte Regionen konzentriert hat – Sachsen, das nördliche Hessen, Hamburg und einige Gebiete in Norddeutschland – ist der vom DSTB propagierte völkische Antisemitismus „ein überregionales, ‚gesamtdeutsches‘ Phänomen“ (Lohalm), das im gesamten Reichsgebiet über Ortsgruppen verfügt. Gewiß gibt es Brennpunkte wie Berlin, München und Hamburg, doch gelingt es den Völkischen darüber hinaus in völlig neue Regionen vorzustoßen: Franken, Westfalen-Lippe, Rheinland, Niedersachsen, Ostpreußen, Pommern, Brandenburg und Oberschlesien. 11 Selbst in Schleswig-Holstein, dessen 7

Vgl. Levy 1975, S. 118. Vgl. Artur Dinter: Die Sünde wider das Blut, 1918. Das Buch erreicht bis 1921 das 200. Tausend. Zu Dinters Karriere informativ: Witte 1995; Fabréguet 2000; Hartung 2001. 9 Vgl. Lohalm 1970, S. 212 ff. Unter den Attentätern, die die Morde an Erzberger und Rathenau begingen, finden sich Mitglieder des Germanen-Ordens und des DSTB, der den Aktionen wohl auch Unterstützung geleistet hat: vgl. ebd., S. 230, 232. Zum Beziehungsgeflecht zwischen DSTB, Germanen-Orden, Brigade Ehrhardt und O. C. vgl. Krüger 1971, S. 85 f.; Sabrow 1999, S. 78, 114, 119 u. ö.; Meinl 2000, S. 31. 10 Vgl. Lohalm 1970, S. 152 ff., 169. Zu den „Selbstschutzaktionen“ der unmittelbar nach Kriegsende entstehenden Jugendringe, die auf das durch die Aufhebung der Zensur und verschiedener Jugendschutzbestimmungen ermöglichte veränderte Angebot in der Sphäre der Massenkultur reagieren, vgl. Kindt 1974, S. 21 ff. 11 Vgl. Lohalm 1970, S. 119 f. 8

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Bevölkerung noch bei den Wahlen zur Nationalversammlung überwiegend linksliberal und sozialdemokratisch wählt, verfügt der DSTB im Sommer 1922 über 33 Ortsgruppen. 12 Und wenn Gebiete wie Südbayern und Mecklenburg mit 18 beziehungsweise 22 Ortsgruppen deutlich dahinter zurückbleiben, so liegt dies weniger am Fehlen eines völkischen Potentials als an der Konkurrenz durch andere völkische Parteien und Verbände wie der NSDAP oder des Verbandes nationalgesinnter Soldaten. 13 Die nähere Betrachtung zeigt allerdings, daß es sich vor allem um eine territoriale Ausweitung und nicht auch um eine soziale handelt. Die stärksten Gruppen, die zwischen 2500 und 4000 Mitglieder zählen, bestehen in München, Berlin, Hamburg, Hannover und Stettin, gefolgt von Stuttgart, Dresden, Duisburg, Bremen, Essen, Kiel, Leipzig, Gelsenkirchen, Breslau und Magdeburg, die im Juli 1920 jeweils zwischen 1000 und 2000 Mitglieder aufweisen. 14 Setzt man dies zur Gesamtzahl in Beziehung, die zu diesem Zeitpunkt bei etwa 80 000 gelegen haben dürfte, so ergibt sich ein Anteil von rund einem Drittel allein für die Großstädte. Der Rest dürfte sich auf kleinere und mittlere Städte wie etwa Flensburg verteilt haben, das immerhin eine Ortsgruppe mit 600 Mitgliedern besitzt. 15 Soweit Mitgliederlisten mit beruflichen Angaben vorhanden sind, weisen sie auf Angestellte, Beamte (vornehmlich Lehrer) sowie auf Kaufleute, Gewerbetreibende und Handwerker hin, mithin eine ähnliche Klientel wie seinerzeit in den Antisemitenparteien. Deutlich schwächer vertreten sind Landwirte und vor allem Arbeiter, deren Anteil in vielen Ortsgruppen unter 5 % bleibt, und dies obwohl der Bund einen erheblichen Teil seiner Mittel darauf verwendet, gerade in dieser Zielgruppe um Anhänger zu werben. Nur in Ausnahmefällen trägt diese Strategie Früchte, wie etwa in Nürnberg, wo der Diplomingenieur Karl Maerz im Sommer 1920 eine Abspaltung des kommunistischen Revolutionären Matrosenbundes dem DSTB anzugliedern vermag. „Die Arbeiter sind draußen geblieben“, resümiert eine Denkschrift zur Entwicklung des DSTB bis 1921 und macht dafür die zunehmende ‚Verbürgerung‘ und einen Mangel an Radikalismus verantwortlich. 16 Verstärkt wird die exklusive Tendenz durch den sektiererischen Anspruch auf Regulierung der Lebensführung, den der DSTB gegenüber seinen Mitgliedern erhebt. Die als verpflichtend vorgestellten „Lebensregeln“ verlangen unter anderem, daß der „Deutschbewußte“ jede Heirat mit „fremdem Geblüt“ in seiner Familie zu bekämpfen, jeden gesellschaftlichen Verkehr mit „Undeutschen“ zu vermeiden und geschäftliche Beziehungen mit ihnen nur im Ausnahmefall zu pflegen habe. Jüdische Geschäfte und Warenhäuser seien tabu, desgleichen jüdische Zeitungen, Theaterstücke, Vereine mit jüdischen Mitgliedern und Vorlesungen von jüdischen Professoren.17 Eine andere Schrift unter dem gebieterischen 12

Vgl. Rietzler 1982, S. 146. Vgl. Jung 2000, S. 18. 14 Vgl. den Vorläufigen Geschäftsbericht des Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bundes vom September 1920. NL Alfred Roth, Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg. 15 Vgl. Rietzler 1982, S. 150; Lohalm 1970, S. 119, 141. 16 Vgl. Lohalm 1970, S. 110 ff. 17 Vgl. Deutschvölkischer Schutz- und Trutzbund (Alfred Roth): Unser Wollen – unsere Aufgabe, Hamburg 1920, S. 6. 13

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Titel Das sollt Ihr tun! schreibt den Ortsgruppen detaillierte Lektüreprogramme vor und entwirft eine „Schule für Gesinnungspflege“, die sich offenkundig am Vorbild kommunistischer Schulungskurse orientiert. 18 Eine „deutschvölkische Auskunftei“ soll sich zwar vor allem gegen Juden richten, enthält aber zugleich eine Spitze gegen die eigenen Mitglieder, die sich überdies die Einrichtung einer „Abteilung Gesinnungsdienst“ gefallen lassen müssen. 19 Mag man sich auf der Ebene der bloßen Gesinnung noch einigermaßen einig sein, so driftet man sehr rasch auseinander, sobald es um die Ausgestaltung dieser Gesinnung zu konkreten Positionen in den verschiedenen gesellschaftlichen Handlungsfeldern geht. Noch die größten Gemeinsamkeiten, nicht nur zwischen Altnationalisten und Völkischen, sondern auch unter den Völkischen selbst, bestehen jetzt, bedingt durch den Kriegsverlauf, auf dem Feld der Außenpolitik, das durch die Fortschreibung alter Feindbilder und Verschwörungstheorien bestimmt ist. Den „unerbittlichsten und zähesten Feind“ der Deutschen20 erblickt man weiterhin in England, das als Repräsentant aller dem deutschen Idealismus entgegengesetzten Werte gilt: des Materialismus wie des Utilitarismus, des Mammonismus wie des egoistisch-individualistischen Liberalismus, woraus die bekannten Herrschaftsformen der Plutokratie nach innen, des „Handels-Imperialismus“ nach außen resultieren – Merkmale, von denen nicht näher ausgeführt werden muß, woher sie aus völkisch-antisemitischer Sicht rühren. 21 Dem folgt, da die Vereinigten Staaten von Amerika nur als eine Art „Greater England“ wahrgenommen werden, Frankreich, allerdings mit deutlichem Abstand, erscheint es doch aufgrund seiner demographischen Entwicklung und angeblichen sittlichen „Entartung“ als Heimat eines biologisch wie machtpolitisch niedergehenden Volkes. 22 Deutliche Spaltungslinien zeichnen sich dagegen im Verhältnis zu Rußland ab. Während die einen in diesem durch Krieg und Revolution geschwächten Land den natürlichen Bündnispartner Deutschlands im Kampf gegen das Versailler System sehen – selbstverständlich erst, nachdem es den Bolschewismus abgeschüttelt hat 23 –, erkennen andere hier eine weltgeschichtliche Chance für einen Umbau Deutschlands und Europas, ja der Welt. Aus dieser Perspektive erscheint der Bolschewismus wegen seiner mörderischen Klassenpolitik gegen die kulturtragenden Oberschichten Rußlands – den grundbesitzenden Adel ebenso wie das städtische Bürgertum und die Bildungseliten – als eine destruktive Kraft, die Ruß18

Vgl. Alfred Roth: Das sollt Ihr tun! Hamburg 1921, S. 10 ff. Vgl. ebd., S. 19 f.; ders.: Aus der Kampfzeit des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes, Hamburg 1939, S. 39. 20 [o. V.]: Buchbesprechung zu „Tirpitz Erinnerungen“, in: Hammer 19, 1920, H. 421. 21 Vgl. Jung 2000, S. 83 ff. Aus der Vielzahl der dort angeführten Belege sei stellvertretend für viele auf das Buch von Georg Winzer: Die Judenfrage in England, Hamburg 1920 verwiesen. Hinter Georg Winzer verbirgt sich Heinrich Kraeger, der 1912 zu den Mitbegründern des ReichsHammerbundes gehört, später im DSTB wirkt und 1922 die Deutschvölkische Freiheitspartei mit aus der Taufe heben wird: vgl. Jung 2000, S. 199. Ab 1924 gibt er den Deutschen Volkswart heraus, die Monatsschrift des Deutschbunds. 22 Vgl. ebd., S. 120 ff. 23 Vgl. [o. V.]: Frankreich und der Bolschewismus, in: Deutschvölkische Blätter 24, 1922, 17. 6.; Johann Kolshorn: Rußland und Deutschland durch Not zur Einigung, Leipzig 1922 (Hammer-Verlag). 19

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land in ein vollständiges Chaos stürzt und damit ein Vakuum schafft, das nur von Deutschland wieder gefüllt werden kann. Was die Vertreter dieser Minderheitsmeinung antreibt, ist nicht so sehr das Entsetzen über die „asiatische Tat“ (Ernst Nolte) des – wiederum vor allem als „jüdisch“ perzipierten – Bolschewismus, als vielmehr das kalte Kalkül mit ihr: die Nutzung der Führerlosigkeit Rußlands zu einer gezielten Osterweiterung Deutschlands, in deren Zuge sich mit einem Schlag sämtliche Probleme lösen sollen, an denen letzteres laboriert: das Bevölkerungs- und Auswanderungsproblem durch extensive Kleinsiedlung; damit zugleich: das Ernährungs- und Versorgungsproblem sowie das Problem des wirtschaftlichen Ungleichgewichts, das durch das Überhandnehmen des Industriestaats gegenüber dem Agrarstaat entstanden sei. So zeichnet im Dezember 1919 in der von Adolf Bartels herausgegebenen Zeitschrift Die Deutsche Not ein anonymer, vermutlich mit dem Herausgeber identischer Autor das Bild eines zukünftigen Deutschland, welches zwar weniger bevölkert, aber gesünder sei, „das törichte Ideal der Weltbeglückung mit seinen Industrieprodukten aufgegeben hat, sein Leben für sich lebt und den Überschuß seiner jungen Mannschaft etwa nach Osten an die sehr herabgekommenen, regierungsfähiger und arbeitsfroher Menschen bedürftigen slawischen, von ihm bis zu einem gewissen Grade abhängig gewordenen Staaten abgibt, das ganze Land bis zum Ural und vielleicht noch weiter friedlich durchdringt.“ 24 Zehn Monate später erinnert ein führender Autor des Hammer, Walther Kramer, in einer Besprechung der Deutschen Geschichte von Einhart (d. i. Heinrich Claß) an die Sage von Wodan, der nach dem Zusammenbruch seiner Welt in die Waldländer des Ostens entwichen sei. „Und in den unbegrenzten Weiten des Ostens liegen die Wiegenländer neu entstandener germanischer Völkerstämme der Zukunft. Vielleicht hat der menschenfressende Bolschewismus in Rußland eine notwendige Aufgabe im Rahmen des Weltgeschehens zu erfüllen, indem er die osteuropäischen Gebiete menschenleer macht für den großen Regenerationszug der nordeuropäischen Menschheit, der unter dem Weckruf: ‚Nach Ostland wollen wir reiten‘, in nicht zu ferner Zeit ganze Völkerschichten mit fortreißen dürfte.“ 25 Das ist, wie Walter Jung zu Recht bemerkt, in vielem eine Vorwegnahme von Hitlers späterer Lebensraumprogrammatik, die von diesem allerdings in charakteristischer Weise so weit geöffnet wird, daß auch die progressiven Teile der deutschen Rechten sich hier einfügen können, wird doch der neue Ostlandzug als Krieg gedacht, der der militärischen Hochrüstung bedarf und zudem durch eine bündnispolitische Umorientierung nach Westen, zum Erzfeind England, abgestützt werden soll. In dieser Hinsicht überschreitet Hitler das Programm der völkischen Lebensraumideologen, und erst recht natürlich jener Gruppe der Völkischen, die auf das Bündnis mit einem postbolschewistischen Rußland setzt und sich deshalb scharf gegen alle Bestrebungen wendet, „Rußland als Kolonisations24 [o. V.]: Die deutsche Zukunft. Allerlei Wahrscheinlichkeitsrechnung, in: Die Deutsche Not 12, Dezember 1919, zit. n. Jung 2000, S. 255. Die Vermutung, Adolf Bartels sei der Verfasser, ergibt sich aus der Nähe dieser Vorstellungen zu dessen Vorkriegsschriften, insbesondere zu seinem Vortrag vom Januar 1913: Der deutsche Verfall, Leipzig. 25 Walther Kramer: Buchbesprechung zu Einhart: Deutsche Geschichte, in: Hammer 19, 1920, H. 439, zit. n. Jung 2000, S. 256.

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Land zu betrachten, dessen Reichtümer und Rohstoffe erstrebenswert“ seien, „dessen Volk aber eine eher unangenehme Beigabe“ darstelle. 26 Während es sich hier um eine gleichsam innervölkische Kontroverse handelt, lassen sich die Konflikte in der Wirtschaftspolitik mehr auf die Gegensätze zwischen Altnationalisten und Völkischen innerhalb des DSTB beziehen. Repräsentativ für die Zielvorstellungen der ersteren sind die Ausführungen über den wirtschaftlichen Wiederaufbau, die der ehemalige Oberfinanzrat im sächsischen Finanzministerium, Paul Bang (1879–1945) im Deutschvölkischen Jahrbuch und in Deutschlands Erneuerung publiziert. 27 Der Vertraute von Heinrich Claß, der von 1920 bis 1934 Mitglied der Hauptleitung des Alldeutschen Verbandes ist und bei den Kapp-Putschisten als Finanzminister gehandelt wird 28 , weiß sich zwar hinsichtlich der Schuldzuschreibung an die Juden mit den Völkischen einig 29, kennt aber für die auch von ihm angestrebte „Rettung des Mittelstandes“ nur einen recht schmalen Katalog von Maßnahmen: in der Landwirtschaft innere Kolonisation, in Industrie und Gewerbe Fusionsverbote und Höchstbegrenzungen des Großbankenkapitals. 30 Ansonsten konzentrieren sich seine Forderungen auf einen raschen „Abbau der zerrüttenden Zwangswirtschaft“ sowie die Wiederherstellung der freien, auf dem Selbstinteresse beruhenden Privatwirtschaft. Aufgeräumt werden müsse mit dem „staatssozialistische(n) Irrtum, der den Staat zur Futterkrippe macht“, mit der „geradezu wahnsinnigen Bürokratisierung der Wirtschaft“, die dem Volk das Selbstvertrauen, den Willen zur Selbsthilfe ausgetrieben „und damit zugleich die unentbehrliche Auslese der Besten verhindert“ habe. Bangs wirtschaftspolitisches Credo könnte von jedem Liberalen dieser Zeit unterschrieben werden: „Deshalb ist es neben der Entbürokratisierung der Wirtschaft eine völkische Forderung, daß der Gesetzgebungsmagen endlich von seiner krankhaft beschleunigten Verdauung geheilt wird, daß der Staat nur noch die großen, grundlegenden Gesichtspunkte regelt, im übrigen aber die wirtschaftliche Entwicklung der freien Kräftebetätigung, insbesondere auf dem Wege der wirklichen wirtschaftlichen Selbstverwaltung überläßt. Wenn wir hier ein Stichwort prägen wollen, so muß es heißen: Zurück vom unvölkischen Wirtschaftsmaterialismus zum völkischen Wirtschaftsidealismus!“ 31 Gerade die Völkischen teilen dieses bedingungslose Vertrauen in den sich 26 V. Kl.: Rußland als Schlüssel der Zukunft, in: Hammer 20, 1921, H. 456, zit. n. Jung 2000, S. 261. 27 Vgl. Paul Bang: Zum Wirtschaftsaufbau, in: Deutschvölkisches Jahrbuch 1920, hrsg. von Georg Fritz, S. 181–189; Die Grundbedingungen unseres wirtschaftlichen Wiederaufbaues, in: Deutschlands Erneuerung 3, 1919, H. 11; Staatsbankerott oder Erneuerung, in: Deutschlands Erneuerung 4, 1920, H. 2; Die Entedelung der deutschen Wirtschaft, in: Deutschlands Erneuerung 5, 1921, H. 2. 28 Vgl. Hering 2003, S. 25, 146. 29 Vgl. seine unter dem Pseudonym „Wilhelm Meister“ verfaßte Schrift: Judas Schuldbuch. Eine deutsche Abrechnung, 4. verb. u. stark verm. Neudruck München 1919. Die Schrift erreicht innerhalb von zwei Jahren fünf Auflagen mit insgesamt 33 000 Exemplaren: vgl. Lohalm 1970, S. 126. 30 Vgl. Bang: Zum Wirtschaftsaufbau, a. a. O., S. 186 f. 31 Ebd., S. 185.

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selbst regulierenden Markt jedoch nicht. Zumal im Kreis um den Hammer pflegt man hier das alte Mißtrauen gegen den „Mammonismus“ und die „Plutokratie“, aus dem sich schon in den Gründerjahren die Polemik gegen die reflexive Modernisierung speist, um während des Krieges neue Nahrung zu finden. Eine von Alfred Roth und Theodor Fritsch verfaßte Eingabe des Reichshammerbundes vom März 1916 ergeht sich in heftigen Anklagen gegen die „unheimliche, ungreifbare Macht der Plutokratie, wie sie besonders in den Direktionszimmern der Großbanken sich sammelt“, und lastet ihr, nicht der staatlichen Zwangswirtschaft, die wachsenden Versorgungsprobleme an. Gewiß wird dabei die Aufmerksamkeit wie üblich vor allem auf den jüdischen Reichtum gelenkt, doch trifft dessen Denunziation bisweilen auch den Reichtum schlechthin. Der Ruf nach schonungslosem Durchgreifen des Staates „mit Beschlagnahme, Geld-, Freiheits- und Ehrenstrafen“ macht jedenfalls keinerlei Unterschiede. 32 Eine vom DSTB herausgegebene Kampfschrift Wider den Wucher verlangt die Verstaatlichung der Reichbank und die Herabsetzung des Diskontsatzes auf 0 %; Grund und Boden seien zu Staatseigentum zu erklären und die Mieten um die Hälfte zu senken. 33 Auf der gleichen Linie liegt im August 1920 ein Eingabeentwurf an den Reichstag, der namens des DSTB die Sozialisierung der Banken und Börsen, des Groß- und Viehhandels sowie des Anzeige- und des Erfinderwesens fordert. 34 Die Aktion wird allerdings sogleich von den Alldeutschen unterbunden, die hierin einen unzulässigen Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit sehen. Schon kurz zuvor hatte Bang in einem Schreiben an Hertzberg gewarnt: „Es kann sich nicht um Beseitigung des Kapitalismus, sondern nur um die Beschneidung seiner Mißbräuche handeln“. Konzessionen an die Sozialisten hätten nur zur Folge, daß man dadurch „Geister ruft, die man später nicht mehr bannen kann“. 35 Im großen und ganzen ist diese Furcht vor den möglichen Folgen einer zu großen Öffnung nach links übertrieben, wie weiter unten noch genauer zu zeigen sein wird. Sie ist indes nicht gänzlich aus der Luft gegriffen. In München macht sich zu dieser Zeit Dietrich Eckart, ein häufiger Gastredner auf Veranstaltungen des DSTB, für einen „deutschen Bolschewismus“ stark, der sich vom jüdischen Bolschewismus durch eine „allumfassende Tat der Selbstlosigkeit“ unterscheide: den freiwilligen Verzicht der Besitzenden auf den Zins. 36 Das Parteiprogramm der NSDAP vom 24. Februar 1920 erklärt sich in Punkt 17 mit dem Anliegen der Bodenreformbewegung solidarisch, indem es die „Schaffung eines Gesetzes zur unentgeltlichen Enteignung von Boden für gemeinnützige Zwecke“ verlangt, ferner die „Abschaffung des Bodenzinses und Verhinderung jeder Bodenspekula-

32 Vgl. die Wiedergabe des Textes bei Otto Armin (d. i. Alfred Roth): Die Juden in den KriegsGesellschaften und in der Kriegs-Wirtschaft, München 1921, S. 15 ff. 33 Vgl. Guido Roeder: Wider den Wucher. Ein Sammelruf nach rechts und links von einem Gegner der Mitte. Hammer-Schläge H. 20, Hamburg 1920, S. 4 f., 10. 34 Text im BArch ADV 491. 35 Zit. n. Lohalm 1970, S. 380. In einer erneuten Eingabe vom Juni 1921 ist nur noch von Staatsaufsicht die Rede: vgl. BArch ADV 492. 36 Vgl. Dietrich Eckart: Deutscher und jüdischer Bolschewismus, in: Auf gut deutsch 1, 1919, H. 25.

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tion.“ 37 Noch weiter geht die Deutschgläubige Gemeinschaft, die es mit der gegenüber den Bodenreformern kritisch eingestellten Freiwirtschaftslehre Silvio Gesells hält und den „richtig verstandenen Klassenkampf zum siegreichen Ende“ propagiert: „das heißt bis zur Vernichtung des Kapitalismus und bis zur Verwirklichung des Rechtes auf den vollen Arbeitsertrag“. 38 Der Aufhebung der Zinsknechtschaft fügt diese Gruppe diejenige der Privatgrundrente hinzu und steht schließlich auch nicht an, nach dem Vorbild Gesells eine „75- bis 100prozentige Sachwertsteuer, das heißt Hypothekisierung des gesamten deutschen Besitzes“ zu fordern, um endlich über die nötigen Mittel „zur gesunden Aufzucht unseres Nachwuchses und für Kulturzwecke aller Art“ zu verfügen. 39 Für die Deutschnationale Volkspartei, die im Reichstag unter anderem von Paul Bang vertreten wird, haben diese „wahrhaft Völkischen“ ebensowenig übrig wie für den Nationalsozialismus. 40 Die anderen Völkischen freilich, und das ist wohl die Mehrheit, wollen weder mit Bang noch mit Gesell gehen und halten es mit dem Großmeister des Deutschbundes, Max R. Gerstenhauer, der bei dem einen eine Bejahung des „Überkapitalismus“ und „Überindustrialismus“ ausmacht, bei dem anderen eine Tendenz, die Bauern durch Wegsteuerung der Grundrente und sonstige bodenreformerische Maßnahmen noch mehr proletarisieren zu wollen. Als Alternative wird statt dessen das nationalsozialistische Wirtschaftsprogramm im Sinne Gottfried Feders empfohlen. 41 Wiederum mehr innervölkischer Natur sind die Konflikte auf dem religiösweltanschaulichen Feld, wo mehrere Strömungen um die Hegemonie streiten. Am radikalsten gerieren sich die „paganen Völkischreligiösen“ (Puschner), die sich schon vor dem Ersten Weltkrieg in Gruppen wie der Deutschgläubigen Gemeinschaft oder der Germanischen Glaubensgemeinschaft zusammengeschlossen haben und eine Strategie der Selbsterlösung unter Rückgriff auf germanische Vorbilder predigen – eine zahlenmäßig kleine Schar, die auch nach 1918 eine Min37 Vgl. den Text in Tyrell 1991, S. 24. Erst im April 1928 wird dieser Passus von Hitler dahingehend erläutert, daß er sich nur auf das jüdische Grundeigentum beziehe: vgl. Grill 1928, S. 150. Für mehrere Jahre bietet der Punkt die nötige Rückendeckung für die Bestrebungen des neonationalistischen Straßerflügels, die auf eine Nationalisierung des Grund und Bodens zielen. Vgl. weiter unten im Abschnitt 9. 38 Ernst Hunkel: Nachwort der Schriftleitung zum Aufsatz „Preußentum und Sozialismus“ von Herbert Kniesche, in: Heiliger Frühling, 29. Blatt, Beilage zu: Neues Leben 16, 1921/22. 39 Ernst Hunkel: Völkisch? In: Frei-Deutschland. Monatsschrift für nordische Wiedergeburt 18, 1923, H. 3. 40 Vgl. Ernst Hunkel: „Deutsche Freiheitspartei“ und „Neues Leben“, in: Neues Leben 14, 1919/20, S. 64 ff.; Nationalsozialismus? In: Frei-Deutschland 18, 1923, S. 1 ff. Mit der nationalsozialistischen Dissidenz dagegen hat sich Hunkel durchaus anfreunden können, wie seine spätere Mitarbeit an Otto Straßers Deutscher Revolution belegt, deren freiwirtschaftliche Beilage er herausgibt. 1934 geht er zunächst ins tschechische Exil, dann nach Schweden, wo er im Herbst 1938 stirbt (freundliche Mitteilung von Gregor Hufenreuter, der eine Studie über Hunkel vorbereitet). 41 Vgl. Hans Georg Miller: Die deutsche Bauernhochschule (Die „ländlichen Volks“- und „Bauernhochschulen“) auf entwicklungsgeschichtlicher, weltanschaulicher und agrarpolitischer Grundlage, Stuttgart 1928, S. 308; Max Robert Gerstenhauer: Die Zukunft der völkischen Bewegung (II), in: DbBl 29, 1924, Nrn. 8 und 9; ders.: Der Führer. Ein Wegweiser zu deutscher Weltanschauung und Politik, Jena 1927, S. 104, 108 f. Gottfried Feder, der spätere NSDAP-Programmatiker, hat sich schon früh kritisch zu Gesell geäußert: vgl. Die Irrlehre des Freigeldes, in: Hammer 19, 1920, H. 441.

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derheit in der völkischen Bewegung bleibt, gleichwohl von der Mehrheit als eine nicht geringe Belastung der völkischen Sache empfunden wird. 42 Eine zweite, ebenfalls deutlich minoritäre Gruppe, die sich um Artur Dinter schart, will dagegen am Christentum festhalten, läßt aber nur noch das Johannesevangelium gelten und greift im übrigen auf gnostische und spiritistische Lehren zurück. 43 Bei weitem die Mehrheit folgt den ebenfalls schon vor dem Krieg propagierten, jedoch erst nach 1918 in organisierter Form auftretenden Bestrebungen zur „Germanisierung des Christentums“, die neben einer antijüdischen auch eine antikatholische Spitze haben.44 Wichtige Wortführer dieser Richtung sind Hans von Wolzogen, der das seit längerem in Bayreuth ventilierte Gedankengut 1911 in seiner Schrift Germanisierung der Religion verdichtet; Adolf Bartels, der im Januar 1913 erstmals vom „Deutschchristentum“ spricht 45 , und der Flensburger Pastor Friedrich Andersen, der beharrlich die Amtskirche attackiert, weil sie in ihrer katholischen wie protestantischen Form auf die angeblich jüdisch-hellenistischem Denken entstammende Lehre von der „Verbalinspiration“ zurückgehe, die zu einer Veräußerlichung und Verfälschung des charismatisch verstandenen Urchristentums geführt habe. 46 1917 veröffentlichen diese drei Autoren in Zusammenarbeit mit Ernst Katzer unter dem Titel Deutschchristentum auf rein evangelischer Grundlage 95 Leitsätze zum Reformationsfest, die zur Grundlage des vier Jahre später ins Leben gerufenen Bundes für Deutsche Kirche werden, einer Organisation, die sich „die Umgestaltung des gegenwärtigen, auf semitischen Boden gewachsenen Kirchenchristentums“ zur Aufgabe macht, seine Umbildung in eine „Volkskirche als Gesinnungsgemeinschaft, in der sich alle Deutschgesinnten […] zusammenfinden können.“ 47 Obwohl Andersen und Bartels über erheblichen 42 So sieht sich etwa der Gau Rheinland des DSTB im Februar 1921 genötigt, mit einem Flugblatt einem Artikel in der Kölnischen Volkszeitung entgegenzutreten, der die völkische Bewegung als kirchenfeindlich, heidnisch oder gar atheistisch attackiert. Es sei „geradezu widersinnig, […] wenn man uns den Größenwahn einer Religionsneustiftung, und noch dazu den Spleen einer Wiederbelebung vorgeschichtlicher Religionskulte, Wotanskult, Sonnenanbetung oder dergl. in die Schuhe schieben will. Derartige Angriffe tragen nur zu deutlich den Stempel des Erfinders an der Stirn. Halten Sie uns denn für Kinder oder Schwachsinnige, daß Sie uns solche operettenhaften Anachronismen ernstlich anmuten? Glauben Sie, unsere vom heiligen Ernst der furchtbaren Not unseres Volkes getragenen Führer, durchweg Männer der Wissenschaft und praktischen Erfahrung, würden ihre Zeit mit dergleichen fruchtlosen Phantastereien vergeuden?“ BArch ADV 489. 43 Vgl. Hieronimus 1982, S. 165 ff. 44 Konziser Überblick bei Puschner 2004. Zum Schrifttum vgl. die Bibliographie von Walter Loose: Deutschchristentum, schon jetzt eine starke Bewegung, in: Deutscher Volkswart 6, 1921, H. 4. Eine Erläuterung aus der Sicht des Deutschbundes gibt Max Robert Gerstenhauer: Was ist Deutsch-Christentum, Berlin 1930. 45 Vgl. Adolf Bartels: Der deutsche Verfall, Berlin 1913, S. 45; ders.: Deutschchristentum (Der neue Lessing), in ders.: Rasse und Volkstum, Weimar 1920, S. 249–270. 46 Vgl. Friedrich Andersen: Antiklerikus. Eine Laientheologie auf geschichtlicher Grundlage, Schleswig 1907; Deutschtum und Christentum, Hamburg-Altona 1914. Zur Biographie vgl. Siems 1988; Wattenberg 2004. 47 Grundlinien für eine deutsche Kirche, o. O. u. J. (1921), S. 1, zit. n. Puschner 2004, S. 118. Näher zu dieser Organisation Sonne 1982, S. 30 ff.; Meier 1994; Kühl-Freudenstein 2003. Publizistisches Medium ist die von 1922 bis 1933 erscheinende Halbmonatsschrift Die Deutschkirche. Sonntagsblatt für das deutsche Volk. Unter der Schriftleitung von Pfarrer Ernst Bublitz schreiben dort

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Einfluß im DSTB verfügen – der erstere zeichnet im Rahmen des jährlich vom DSTB organisierten „Deutschen Tages“ verantwortlich für die Sektion „Deutsche Religion“, der letztere für „Deutsches Schrifttum“ 48 –, gibt es doch auch einen gewissen Gegenwind aus der Chefetage, wie ein Schreiben des Hauptgeschäftsführers an Andersen belegt, in dem er den Empfänger über Bedenken im Bundesvorstand gegen eine öffentliche Erörterung religiöser Fragen auf dem „Deutschen Tag“ in Weimar unterrichtet, da hierdurch „die Gefahr starker Kämpfe innerhalb der deutschvölkischen Bewegung heraufbeschworen“ werden könnte. 49 Nicht unerwähnt bleiben sollte in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß es sogar Mitglieder gibt, die ihre Zugehörigkeit zum Bund mit derjenigen in einer Freimaurerloge vereinbar finden – erstaunlicherweise, wie man angesichts der im völkischen Spektrum verbreiteten Paranoia gegenüber dem Freimaurertum sagen muß. 50 Da es sich hierbei auch um Mitglieder in Führungspositionen handelt, wie den Leiter der geheimen, überdies logenartig aufgebauten Nebenorganisation, Alfred Jacobsen, wundert es nicht, daß bald wilde Verdächtigungen wegen einer freimaurerisch-jesuitischen Verschwörung innerhalb des Bundes wuchern. Besonders heftige Attacken kommen dabei von Ludwig Müller von Hausen, der in der Monatsschrift des Verbandes gegen Überhebung des Judentums, Auf Vorposten, die Alldeutschen als von Freimaurern unterwandert darstellt und deren Vertreter in der Leitung des DSTB verdächtigt, die völkische Bewegung unter ihre Kontrolle bringen zu wollen. 51 Der öffentlichen Polemik folgen bald zahlreiche Prozesse, so daß sich die völkische Szene schon 1921 wieder stark zerstritten präsentiert. 52 Eine weitere Spannungslinie, mit der der DSTB nie richtig fertig wird, ergibt sich aus dem zentralistischen Aufbau, der mit dem ausgeprägten regionalen Sonderbewußtsein mancher Gaue kollidiert. In Sachsen, Württemberg, Baden und Bayern stößt man sich nicht nur am monokratischen Gebaren der Hamburger Führung. Auch der in der Satzung verankerte Zwang zur Abführung eines erheblichen Teils der Mitgliedsbeiträge sowie der auf dem Deutschen Tag in Detmold gefaßte Beschluß, alle Mitglieder mit den Deutschvölkischen Blättern zu beliefern und letztere auf diese Weise gegenüber der übrigen völkischen Presse zu privilegieren, rufen starken Unmut hervor, weil damit neben den ideellen auch materielu. a. Gerstenhauer, Andersen, Wolzogen, Bartels, Askan Schmitt, Otto Petras, Maria Grunewald, Ernst Niekisch. 48 Vgl. Roth 1921, a. a. O., S. 28. 49 Alfred Roth an Friedrich Andersen, Brief vom 18. 9.1920 (BArch ADV 491). Roth gehört als Mitglied des Germanen-Ordens zum paganen Flügel der Bewegung. 50 Vgl. exemplarisch etwa das im Verlag J. F. Lehmann publizierte Buch von Friedrich Wichtl: Weltfreimaurerei, Weltrevolution, Weltrepublik. Eine Untersuchung über Ursprung und Endziele des Weltkrieges, München 1921, dessen Verfasser häufig als Redner auf DSTB-Veranstaltungen auftritt: Lohalm 1970, S. 257. Ausführlicher hierzu Pfahl-Traughber 1993. 51 Vgl. Auf Vorposten 9, 1921, H. 4/5; 11/12. Müller von Hausen (1851–1926) ist mit Gottfried zur Beek identisch, dem Herausgeber der 1919 erschienenen deutschen Übersetzung der Protokolle der Weisen von Zion. Zur Geschichte dieser Schrift vgl. Sammons 2001; zur Wirkung insbesondere innerhalb der NSDAP Meyer zu Uptrup 2003. 52 Vgl. Lohalm 1970, S. 87, 256 ff.

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le Interessen berührt werden. Im Dezember protestiert Theodor Fritsch gegen diesen Beschluß und verlangt, den Mitgliedern die Wahl zwischen den Deutschvölkischen Blättern und seinem Hammer freizustellen. 53 Gleichzeitig kündigen die beiden Gauleiter von Nord- und Südbayern, Lorenz Mesch und Rudolf John Gorsleben, der Zentrale die Gefolgschaft auf und unternehmen den Versuch, einen eigenen bayerischen Schutz- und Trutzbund zu gründen. Dieses Vorhaben wird zwar von Hamburg aus auf gerichtlichem Wege unterbunden, doch wird dabei soviel Porzellan zerschlagen, daß sich der DSTB in Bayern nicht wieder erholt und das Terrain für andere, geschlossenere Organisationen freigibt. 54 Es spricht deshalb manches dafür, daß das im Sommer 1922 nach dem Mord an Rathenau verfügte Verbot einen Verband trifft, der seinen Zenit bereits überschritten hat.

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Vgl. BArch ADV 492. Zum Verlauf des Konflikts vgl. aus der Sicht der Zentrale: Deutschvölkische Blätter 37, 1922, Nr. 14 (Beilage). Mesch und Gorsleben sind eng mit dem konspirativen Flügel der völkischen Bewegung verbunden: Mesch als Leiter des Regensburger Germanen-Ordens, Gorsleben als Mitglied der Thule-Gesellschaft (Goodrick-Clarke 1997, S. 138). Der Runenmystiker und Esoteriker Gorsleben (1883–1930), dessen Ideenwelt strukturelle Ähnlichkeiten mit den Gedanken von Guido von List aufweist, gründet 1925 in Dinkelsbühl die Edda-Gesellschaft, der u. a. Otto Sigfrid Reuter, Otto Dickel und Mathilde von Kemnitz (später: Ludendorff) angehören. Als ihr Organ fungiert die Zeitschrift Deutsche Freiheit, die bis 1939 unter wechselnden Titeln wie Arische Freiheit, Hag All Hag und Hagal erscheint: vgl. ebd., S. 141, 233. 54

3. Nationalismus ohne Nation? Der Deutschbund Zu den geschlosseneren Organisationen, die nach 1922 einige der Funktionen des DSTB übernehmen, gehören die völkischen Parteien, von denen noch ausführlicher die Rede sein wird. Ebenfalls gehören hierzu aber auch die Gesinnungsvereine, die es vorgezogen haben, sich nicht dem DSTB anzuschließen. Der wichtigste unter ihnen ist der Deutschbund, der sich 1918/19 wohl am „Judenausschuß“ wie auch an der Gründung des DSTB beteiligt, seine Selbständigkeit aber nicht aufgibt, teils aus Überzeugung, teils aber auch, weil er alle Mühe hat, angesichts leerer Kassen seine eigene organisatorische Kontinuität zu sichern. 1 Zwar kooperiert man mit dem DSTB und anderen völkischen Verbänden in der „Gemeinschaft deutschvölkischer Bünde“, die u. a. den „Deutschen Tag“ trägt – eine Art jährlicher Großkundgebung in den Jahren 1920–1922 2 – doch führt diese Kooperation nicht zum Zusammenschluß. Man habe sich, so erinnert sich Gerstenhauer später, auf eine Arbeitsteilung in dem Sinne geeinigt, „daß der Schutz- und Trutzbund die Massen ergreifen, der Deutschbund die geistigen Führer in sich vereinigen und für die Massenorganisationen ausbilden sollte.“ 3 Die Gemeinschaft deutschvölkischer Bünde bleibt denn auch ein lockeres Gebilde, ein bloßes „Ausspracheforum“ (Lohalm) der Verbandsleiter, aus dem weder ein gemeinsames Programm noch eine gemeinsame Organisation hervorgeht. 4 Seine Selbständigkeit wie auch seine geringere Präsenz in der Öffentlichkeit bewahren den Deutschbund davor, das Schicksal des DSTB zu teilen. Nach dem Mord an Rathenau nur für ein halbes Jahr verboten, kann er bereits im Januar 1923 seine Aktivitäten wieder aufnehmen und die Chancen nutzen, die sich in einer Zeit häufiger Verbote von Massenorganisationen einem Verein bieten, der weniger auf die unmittelbare Gewinnung politischer Macht aus ist als auf die mittelbare: durch den Aufbau einer Gesinnungsgemeinschaft, durch die Schaf-

1 Zur düsteren Kassenlage, die es sogar an Geld für Licht und Heizung in der Bundeskanzlei fehlen läßt, vgl. den Bericht über die Vertrauensmänner-Versammlung vom 24. 9. 1921 in Weimar, in: DbBl 27, 1922, Nr. 1–3. Für die Überlassung von Kopien aus den schwer zugänglichen Jahrgängen 1922 und 1923 der DbBl bin ich Gregor Hufenreuter zu Dank verpflichtet. 2 Die Aufstellung der für den Deutschen Tag als „Obmänner“ vorgesehenen Personen weist etliche Mitglieder des Deutschbundes auf, so zum Beispiel Paul Langhans (Deutsche Volksforschung), Gerhard Krügel (Deutsche Volksbildung), Theodor Scheffer (Deutsche Volkshochschule), Wilhelm Kotzde (Deutsche Jugendbewegung), Adolf Bartels (Deutsches Schrifttum) und Theodor Fritsch (Zeitungswesen). Vgl. Alfred Roth: Unser Wollen – unsre Arbeit, Hamburg 19213, S. 9. 3 Max Robert Gerstenhauer: Die Art der Betätigung des Bundes, in: DbBl 30, 1925, Nr. 4–5. An anderen Stellen wird der Deutschbund geradezu als „Generalstab und Kriegsakademie der völkischen Arbeit“ definiert (Deutschmeister-Versammlung, in: DbBl 29, 1924, Nr. 7), als „Führerbund“, der den völkischen Massenverbänden die Offiziere zu liefern habe: vgl. den Bericht über die Tagung der Gauwarte und Volkshochschulleiter, in: DbBl 30, 1925, Nr. 6–7. 4 Vgl. Lohalm 1970, a. a. O., S. 19, 78 ff.

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fung einer ideologischen und weltanschaulichen Plattform, durch Schulung und Erziehung. Dafür verfügt der Bund über gute Voraussetzungen. Sein Schwerpunkt liegt bereits seit dem Kaiserreich näher an Weimar als an Potsdam, in jener kulturell wie geographisch zentralen Region Deutschlands, in der seit der Jahrhundertwende zahlreiche prominente Völkische ihren Wohnsitz haben.5 Anfang der 20er Jahre setzt sich darüber hinaus im Bund eine Gruppe durch, die das unter Friedrich Langes Nachfolger Paul Langhans in eine gewisse Routine geratene Vereinsleben zu galvanisieren und dem Bund zahlreiche neue Mitglieder zu gewinnen versteht. 6 Organisatorisches Mittel hierfür ist eine neue Führungsstruktur, die auf mehreren, in einem Zeitraum von etwa anderthalb Jahren eingeführten Veränderungen beruht: auf einer Entmachtung der Bundesversammlung zugunsten der Vertrauensmännerversammlung, die fortan allein über die Verwendung der Gelder beschließt und die Bundeskammer wählt; auf einer Umwandlung des Spitzenamts des Bundeswarts in eine rein repräsentative, auf die Leitung der Bundesfeste und die Pflege des Bundesgedankens beschränkte Funktion, für die sich der bisherige Bundeswart, Paul Langhans, zur Verfügung stellt; und auf der Einführung des neuen Amtes des Bundesgroßmeisters, der zunächst auf drei Jahre, bei Wiederwahl aber auf Lebenszeit gewählt werden kann und laut Satzung „bei allen den Bund betreffenden Angelegenheiten letzte entscheidende Instanz“ ist. Ihm zur Seite steht ein vom Bundesgroßmeister zu berufender Bundeskanzler, der für seine Geschäftsführung selbständig verantwortlich ist. 7 Bundeskanzler ist von 1923 bis 1939 der Melsunger Stadtschulrektor Heinrich Blume, Bundesgroßmeister von 1923 bis 1940 der Ministerialrat im Thüringischen Ministerium für Inneres und Wirtschaft, Max Robert Gerstenhauer. 8 Ein genauerer Blick auf die Führungsriege gibt Aufschluß über den hohen Grad an organisatorischer Verflechtung, der sich in den Weimarer Jahren zwischen dem Deutschbund und anderen völkischen Vereinen und Parteien entwikkelt. Paul Langhans ist Obmann des 1918 vom Deutschbund eingerichteten Hochstifts für deutsche Volksforschung zu Gotha, das in drei fachliche Abteilungen unter der Leitung des Rassenhygienikers und Bevölkerungspolitikers Max von Gruber, des Philosophen Bruno Bauch und des Historikers und karpathendeutschen Politikers Dr. Kaindl gegliedert ist. Zugleich firmiert er als Vorsitzender der dem Hochstift angegliederten Volkshochschulgemeinschaft, die zum Zweck der Gründung völkischer Volkshochschulen in Stadt und Land „Arbeitsämter“ ein5

Vgl. Mathiesen 1994; Ulbricht 1995 sowie die Beiträge in Ehrlich und John 1998. Die Zahl vergrößert sich von 1534 im Jahr 1914 auf 3250 im Jahr 1925 (darunter 2331 Bundesbrüder): vgl. Fricke 1984, Bd. 2, S. 517. 7 Vgl. den Bericht über die Vertrauensmänner-Versammlung vom 24. 9. 1921 in Weimar, in: DbBl 27, 1922, Nr. 1–3 sowie die Verfassung des Deutschbundes. Eingetragen in das Vereinsregister Weimar unter Band II Nr. 77 am 3. Oktober 1929, Melsungen o. J. 8 Gerstenhauers Wahl in dieses Amt erfolgt auf dem Bundestag am 27. 5. 1923 in Frankenberg (vgl. DbBl 28, 1923, Nr. 4–6). Schon am 25. 9. 1921 war er jedoch auf dem Bundestag in Weimar zum Stellvertretenden Bundesgroßmeister gewählt worden, ohne daß es zu diesem Zeitpunkt schon das Amt des eigentlichen Großmeisters gegeben hätte. Gregor Hufenreuter interpretiert dies als „sukzessive Einführung Gerstenhauers in die führende Position des Bundes (…), die mit einer stückweisen Zurückstufung von Langhans einherging und dessen Führungsposition als Bundeswart innerhalb des Bundes schließlich verdrängte“ (Briefliche Mitteilung vom 24. 2. 2007). 6

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richtet. 9 Eine nach Langhans benannte Stiftung des Deutschbundes zur Ehrung völkischer Dichter und Künstler verleiht jährlich einen Ehrenpreis, zu dessen Trägern u. a. Wilhelm Kotzde, Hans F. K. Günther und Ludwig Ferdinand Clauß zählen. 10 Heinrich Blume, 1913 Mitglied der Deutschsozialen Partei und seit 1916 im Deutschbund, vertritt 1918 die Deutschvölkischen beim Anschluß an die DNVP, verläßt diese Partei jedoch vier Jahre später und schließt sich der SA, kurz darauf auch der NSDAP an; 1924 zieht er für das Bündnis zwischen Deutschvölkischen und Nationalsozialisten in den Reichstag ein und gehört zur Reichsleitung der DVFP. 11 Mitglied im Bund völkischer Lehrer, legt er 1926 eine Schrift über Die Aufgaben der Schule im völkischen Staate vor, die mit einem Vorwort von Ludendorff versehen ist. 12 Seit 1928 leitet er die Geschäfte der schon 1913 gegründeten, während des Krieges jedoch inaktivierten Deutschvölkischen Hauptstelle, deren wichtigste Aufgabe es ist, „Reibungen zwischen den einzelnen völkischen Richtungen und den Austrag von Streitigkeiten völkischer Führer in der Oeffentlichkeit nach Möglichkeit zu verhindern und das gedeihliche Mit- und Nebeneinander der völkischen Verbände zu fördern.“ 13 1927 übernimmt er außerdem den Vorsitz der Deutschen Kunstgesellschaft, eines 1920 von der Malerin Bettina Feistel-Rohmeder gegründeten Agitationsverbandes, der das Ziel verfolgt, „dem Deutschen Volk das Bewußtsein seiner angestammten Kunst, das ihm verlorengegangen war, zurückzuschenken“. 14 Blume setzt sich dafür ein, aus dieser bis dahin eher vor sich hindämmernden Vereinigung eine „Zweckgemeinschaft“ des Deutschbundes zu machen, die von der Mutterorganisation propagandistische, organisatorische und vor allem finanzielle Unterstützung erhält, mit deren Hilfe sie ein eigenes Medium, die Deutsche Kunstkorrespondenz, herausgeben kann, ein kostenlos an rund hundert völkische Schriftleitungen versandter Nachrichtendienst, der sich nicht mehr damit begnügt, eine Vergrößerung des Marktanteils „deutschblütiger“ Künstler zu verlangen, vielmehr in aggressiver und pöbelnder Weise die Expatriierung der als „verniggert“ und jüdisch-bolschewistisch diffa9 Vgl. Piefel 2005, A. 263. Die Leitung des städtischen Zweigs obliegt Theodor Scheffer, die des ländlichen Zweigs Bruno Tanzmann. Zu beiden vgl. weiter unten. 10 Vgl. Aus der Arbeit des Deutschbundes, in: Deutscher Volkswart 3, 1918, H. 9/10; 7, 1925, H. 4. 11 Vgl. die biographischen Angaben zu Blume bei Clinefelter 1995, S. 108 f.; Wer ist’s, 9. Ausgabe, Berlin 1928. 12 Sie ist in dem auf völkische Literatur spezialisierten Verlag Theodor Weicher in Leipzig erschienen. Vgl. auch Heinrich Blume: Wir Völkischen und die Lehrerbildung, in: Die völkische Schule 4, 1926, H. 6 und 7/8. 13 Vgl. Deutschvölkische Hauptstelle, in: Die Kommenden 3, 1928, F. 27. Angeschlossen sind u. a. folgende Verbände: Adler und Falken, Bund Artam, Bund völkischer Lehrer, Deutschbund, Deutschchristliche Arbeitsgemeinschaft, Deutsche Kunstgesellschaft, Deutscher Roland, Deutschgläubige Gemeinschaft, Gewerkschaft deutschvölkischer Post-, Telegraphen- und Fernsprechangestellter Oesterreichs, Heimatschule Bad Berka. 14 Bettina Feistel Rohmeder: Kurzer Rückblick auf die Entstehung und Entwicklung der Deutschen Kunstgesellschaft, in dies.: Im Terror des Kunstbolschewismus. Urkundensammlung des „Deutschen Kunstberichtes“ aus den Jahren 1927–33, Karlsruhe 1938, S. 211–217, 212. Näher zur Deutschen Kunstgesellschaft und zu Feistel-Rohmeder: Clinefelter 1995; Baumann 2002, S. 42 ff., 247 ff.

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mierten „Novemberkunst“ – also Expressionismus, Kubismus, Neue Sachlichkeit und überhaupt alle Kunst nach Hans Thoma und Böcklin – aus den Museen und Galerien fordert. Ergänzt wird dieses Blatt durch eine eigene Kunstzeitschrift, die Deutsche Bildkunst, die zunächst als Vierteljahresschrift in einer Auflage von 3000 Exemplaren erscheint, dann als Beilage zur überbündischen Zeitschrift Die Kommenden in einer Auflage von 5000 Stück. 15 Als 1929 der Kampfbund für deutsche Kultur gegründet wird, mit dem die Nationalsozialisten ihre Reputation beim Bildungsbürgertum verbessern wollen, erklärt die Deutsche Kunstgesellschaft sogleich ihren körperschaftlichen Beitritt und organisiert darüber hinaus mit dem „Führer-Rat der Vereinigten Deutschen Kunst- und Kulturverbände“ ein Netzwerk, in dem völkische und nationalsozialistische Verbände zusammengeschlossen sind: allen voran der Deutschbund, die ihm attachierte Deutsche Heimatschule Bad Berka, der Bund völkischer Lehrer, der Deutsche Frauenkampfbund, die mit Unterstützung des Deutschbundes gegründete Jugendorganisation Adler und Falken (s. u.), der Schwarzhäuser Ring, der Werkland-Kreis (Georg Stammler) sowie einige Ortsgruppen des Bayreuther Bundes Deutscher Jugend und des Kampfbundes für deutsche Kultur. 16 Den vereinten Anstrengungen von Blume und Feistel-Rohmeder gelingt es, der Deutschen Kunstgesellschaft die Anerkennung der NSDAP zu erwerben, so daß sie 1933 über eine breite Unterstützerfront für ihren Angriff auf die „Entartete Kunst“ verfügt. 17 Die Leitung des Deutschbundes wie auch die meisten führenden Mitglieder des einstigen DSTB haben zu diesem Zeitpunkt längst ihren Beitritt zur NSDAP vollzogen. 18 Am umfassendsten ist das Netzwerk, das sich der Bundesgroßmeister geschaffen hat. Schon im Kaiserreich bewegt sich Gerstenhauer virtuos in einem Spektrum, das vom Alldeutschen Verband (dessen Meininger Ortsgruppe er mitbegründet) über die Deutsche Kolonialgesellschaft und den Deutschvölkischen Kolonialverein bis zur Deutsch-sozialen Partei reicht, für die er seit 1898 im Wahlkampf steht. 19 Nach 1918 erweitert sich dieses Spektrum um den DSTB, den Thüringer Landbund und die DNVP, deren Thüringer Landesverband er mit aus der Taufe hebt und deren Deutschvölkischem Reichsausschuß er angehört.20 Als die Deutschnationalen 1924 keine einheitliche Haltung gegenüber dem Dawes-Plan 15

Vgl. Feistel-Rohmeder 1938, a. a. O., S. 214. Vgl. ebd. Zum Kampfbund für deutsche Kultur vgl. näher Steinweis 1991; Gimmel 2001; Lönnecker 2002. 17 Wie Clinefelter 1995, S. 206 nachweist, gehen der bekannten Münchner Ausstellung von 1937 über „Entartete Kunst“ wenigstens 22 lokale Kunstausstellungen in den vier Jahren davor voraus, die allesamt dem von Feistel-Rohmeder und der Deutschen Kunstgesellschaft entwikkelten Kriterienkatalog folgen. 18 Vgl. Fricke 1984, Bd. 2, S. 523. 19 Vgl. Max Robert Gerstenhauer: Der völkische Gedanke in Vergangenheit und Zukunft, Leipzig 1933, S. 24 ff. Seine erste Schrift (Deutschnational, ein Weckruf an Deutschlands Studentenschaft zur fünfundzwanzigjährigen Jubelfeier der Reichsgründung) veröffentlicht er 1895, als zweiundzwanzigjähriger Student (vgl. ebd., S. 11). Weitere Arbeiten aus den folgenden Jahren sind: eine Aufsatzreihe über den Kampf der Buren in den Alldeutschen Blättern (1896), die 1899 in die Broschüre Das Burenvolk, seine Entstehung und seine Bedeutung für das Deutschtum eingeht, sowie Die Landfrage in Südwestafrika (1908). In deutschen Bibliotheken ist nur dieser letzte Titel ausgewiesen. 20 Vgl. Gerstenhauer 1933, a. a. O., S. 60 ff. 16

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finden, wechselt er zur Wirtschaftspartei, bei der er sich für den Kurs einsetzt, der 1928 zum Sturz des bürgerlichen Kabinetts in Thüringen und 1930 zur Zusammenarbeit mit der NSDAP in der Regierung Baum/Frick führt. 21 Im Oktober 1931 verläßt er auch diese Partei, weil der gemäßigte Flügel im Reichstag Brüning toleriert, und schließt sich zusammen mit der übrigen Spitze des Deutschbundes der NSDAP an. 22 Weitere Tätigkeitsfelder sind der Stahlhelm, in dessen Kulturausschuß Gerstenhauer aktiv ist, der Reichslandbund, für den er zwei Schriften über Bodenrecht verfaßt 23 , und die 1925 zusammen mit Kurd Niedlich gegründete Deutschchristliche Arbeitsgemeinschaft, in der sich elf völkische Verbände mit religiösem Anspruch unter der Leitung des Bundes für Deutsche Kirche zusammenfinden. 24 Während des Kirchenkampfs nach 1933 wird Gerstenhauer Präsident des Thüringer Kirchentages und schließt sich den nationalkirchlichen Deutschen Christen an. 25 Als Verfasser der ersten systematischen Stellungnahme des Deutschbundes zur Rassenpolitik (s. o., S. 119 f.), von der er im Rückblick meint, sie erst habe den Übergang „von der bloß antisemitischen zur völkischen Bewegung“ ermöglicht 26 , entwickelt er auch auf diesem Gebiet zahlreiche Initiativen, etwa 1923 mit der Gründung des Bundes „Germanentag“, der das Bewußtsein der kulturellen Zusammengehörigkeit der germanischstämmigen Völker fördern soll 27 , oder mit der Eingliederung des zum Deutschbund gehörenden Hochstifts für Rassen- und Volkstumspflege in den Nordischen Ring, einer 1926 gegründeten Einrichtung, die sich unter der Führung von Hanno Konopacki-Konopath vor allem der Verbreitung der Güntherschen Rassenlehre widmet. 28 1928 ruft Gerstenhauer zur 21 Die im September 1920 als Wirtschaftspartei des deutschen Mittelstandes gegründete Partei erzielt bei den Landtagswahlen 1926 und 1927 in Sachsen und Thüringen jeweils um die zehn Prozent der Stimmen, bei den Reichstagswahlen von 1928 4,5 %. 1932 wandert ihre Anhängerschaft zur äußersten Rechten ab, insbesondere zur NSDAP. Vgl. Fricke 1985, Bd. 3, S. 723 ff.; Grass 1997, S. 152 ff. Wo Gerstenhauers politische Hoffnungen schon 1927 liegen, zeigt eine Passage seines Buches Der Führer, in der es als „Hauptaufgabe der völkisch-sozialen Bewegung, insbesondere der national-sozialistischen Arbeiterpartei Hitlers“ bezeichnet wird, die Arbeiterschaft aus dem Einfluß der Sozialdemokratie zu befreien und dadurch die „Wendung zur Rettung und zum Aufstieg Deutschlands herbeizuführen“: Max Robert Gerstenhauer: Der Führer. Ein Wegweiser zu deutscher Weltanschauung und Politik, Jena 1927, S. 101; vgl. auch ebd., S. 168 f. Die Ansicht, daß ein deutscher Mussolini nötig sein könne (ebd., S. 164), hat ihn schon früh von der Deutschvölkischen Freiheitspartei getrennt. 22 Vgl. Fricke 1984, Bd. 2, S. 521; Reimers 2000, S. 146; Grass 1997, S. 189, 165 ff.; Schumacher 1972, S. 178; Gerstenhauer 1933, a. a. O., S. 82. 23 Vgl. Gerstenhauer 1933, a. a. O., S. 74, 62 f.; ders.: Anerbenrecht und Bodenrechtsreform, Berlin 1923; Bodenrecht, Siedlung und Besteuerung, Berlin 1925 (beide herausgegeben vom Reichslandbund). 24 Vgl. den Bericht in: DbBl 30, 1925, Nr. 10–11. 25 Vgl. Sonne 1982, S. 129; Max Robert Gerstenhauer: Was ist Deutsch-Christentum? Berlin 1930. 26 Gerstenhauer 1933, a. a. O., S. 42. 27 Vgl. Otto Tröbes: Die Germanentagung in Rostock, in: Die Sonne 9, 1932, H. 9. Besonders angelegen sein läßt sich Gerstenhauer dabei die Beziehungen zu den flämischen Nachbarn, eine Folge seiner Tätigkeit als Presseattaché der Militärverwaltung in Brüssel während des Ersten Weltkriegs. Vgl. dazu auch seine Schrift: Die germanischen Westmarken und ihre Bedeutung für die germanische Völkerfamilie, Melsungen 1932. 28 Vgl. Gerstenhauer 1927, a. a. O., S. 37 f.

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Gründung einer „Teutstiftung“ auf, die Geldmittel zur „Bildung germanischer Rassenkerne“ bereitstellen soll, teils in Form einer Förderung von rassischen Siedlungsprojekten, teils in Form von Ehestandsdarlehen und Erziehungsbeihilfen für die Mitglieder all jener völkischen Verbände, die auf dem Blutsbekenntnis beruhen.29 Zur Sicherung einer gesunden Lebensweise im Sinne der Lebensreform verfügt der Deutschbund darüber hinaus über den Bund für deutsche Lebenserneuerung, der sich vor allem dem Kampf gegen den Alkoholismus und den Nikotinmißbrauch widmet 30 – mit offenbar nur geringer Ausstrahlung in die eigenen Reihen, wie ein gestandener Lebensreformer in der dem Deutschbund nahestehenden Zeitschrift Die Sonne mißbilligend festhält: „Wie sehr bin ich erschrokken, wenn ich zum Beispiel in die Kreise des Deutschbundes geschaut habe, der zur Elite der deutsch-völkischen Bewegung gehört. Noch immer können die alten, ehrwürdigen Herren sich nicht dazu aufraffen, sich zu besiegen, indem sie auf Alkohol, Tabak und andere Gifte verzichten, für welche unser irregeführtes Volk noch immer Milliarden in den Zeiten der tiefsten Schmach hinauswirft. Ist es da ein Wunder, daß die eigene Jugendbewegung, die der Deutschbund ins Leben rief, empört über das Treiben der Alten, sich loslöste?“ 31 Rassenpolitik und Lebensreform sind bei Gerstenhauer untrennbar verknüpft mit dem Gedanken einer ‚Rückkehr aufs Land‘, womit freilich keine Reagrarisierung gemeint ist, sondern lediglich die Rückkehr zu einem ausgeglicheneren Verhältnis zwischen Land und Stadt, Landwirtschaft und Industrie, was immer dies im einzelnen heißen mag. So wundert es nicht, ihn auch im Vorstand der Gesell-

29 Vgl. Aufruf des Deutschbundes, in: Die Kommenden 3, 1928, F. 3. Beilage: Die nordische Bewegung. 30 Vgl. Gerstenhauer 1927, a. a. O., S. 152 f.; DbBl 28, 1923, Nr. 1–3. Geschäftsführer ist von 1922 bis 1924 mit dem Lehrer Friedrich Schöll (1874–1967) ein weiterer typischer Multifunktionär der völkischen Bewegung, zu dessen Mitgliedschaften neben dem Deutschbund (seit 1918) u. a. der Reichs-Hammerbund, der Deutsche Orden, der DSTB, der Bund für deutsche Kirche, der Bund völkischer Lehrer, die Deutsche Glaubensbewegung sowie ab 1937 die NSDAP gehören. Seit 1903 in der Lebensreform aktiv, zählt er 1920 zu den Mitbegründern der Siedlung ‚Vogelhof‘, der 1926 ein privates Landerziehungsheim („Hellaufschule Sonnenheim“) angegliedert wird. Von 1912 bis 1925 gibt er die Zeitschrift Hellauf heraus und setzt sich darüber hinaus in zahlreichen Büchern und Broschüren für die Ziele der Lebensreform sowie für pädagogische und religiöse Reformen im völkischen Sinne ein: vgl. Ziele und Aufgaben des Deutschen Vereins für Volksernährung, Stuttgart 1917; Die Schäden des Kapitalismus und deren Beseitigung durch die organische Volkswirtschaft, in: Richard Ungewitter (Hrsg.): Deutschlands Wiedergeburt durch Blut und Eisen, Stuttgart 1919, S. 90–107; Alkohol und deutscher Aufstieg, ebd., S. 371–375; Das wahre Christentum als deutscher Volksglaube, Stuttgart 1921; Die Wahrheit über das Christentum, Stuttgart 1922; Die Hellaufschule als Erlebnisschule und als Beispiel einer höheren deutschen Schule, Stuttgart 1925; Der Aufbau des Schulwesens im völkischen Staat, Stuttgart 1928. Zu seiner Biographie vgl. den Lebenslauf in BArch RK I0534 sowie jetzt umfassend: Knüppel 2006; 2007. 31 Karl Strünckmann: „Auf-Nordung“ oder „Auf-Artung“, in: Die Sonne 2, 1925, H. 18. Mit der eigenen Jugendbewegung ist der Bund der Adler und Falken gemeint, der im Februar 1920 von dem Deutschbund-Mitglied Wilhelm Kotzde gegründet und auf der Vertrauensmänner-Versammlung in Witzenhausen am 12. 9. 1920 vom Deutschbund übernommen wird: vgl. DbBl 25, 1920, Nr. 9–12. Zu den Adlern und Falken und ihrem Verhältnis zum Deutschbund vgl. u., S. 211 ff. – Die Bilanz des „Br. BGrm. Gerstenhauer“ hinsichtlich der Beteiligung der Bundesmitglieder an der deutschen Lebensreform fällt übrigens ähnlich niederschmetternd aus: vgl. DbBl 30, 1925, Nr. 6–7.

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schaft der Freunde der Artamanenbewegung zu finden, jener weiter unten noch näher vorzustellenden Strömung, die sich vor allem die Verdrängung polnischer Landarbeiter aus der ostelbischen Gutswirtschaft zum Ziel gesetzt hat 32 , sowie in der Erwachsenenbildung auf dem Land, die durch die 1921 von Bruno Tanzmann in Hellerau gegründete Schirmherrschaft der Deutschen Bauernhochschule e. V. und den im Herbst 1924 ins Leben gerufenen Verband der christlichen und deutschen Volkshochschulen auf dem Lande wesentliche Impulse erfahren hat. 33 Schon 1922 knüpft Gerstenhauer Verbindungen zur thüringischen Bauernhochschule in Neudietendorf und setzt sich für die Vergabe von Unterstützungsgeldern aus dem Staatshaushalt ein. 34 Als Bruno Tanzmann wegen seiner deutschgläubigen Einstellung und wohl auch wegen seines Finanzgebarens in den eigenen Reihen auf Widerstand stößt, läßt sich Gerstenhauer 1925 auf dem 5. Germanischen Bauernhochschultag zu Gauernitz zu dessen Nachfolger wählen. 35 Zur Schirmherrschaft zählen zu diesem Zeitpunkt mehr als tausend Einzelpersonen sowie etliche Dutzend korporative Verbände. Die Gesamtzahl der ländlichen Volks- und Bauernhochschulen beläuft sich auf 43, deren Kurse von 7738 Schülern und Schülerinnen, überwiegend aus dem bäuerlichen Mittel- und Großbesitz, besucht werden. Auch wenn davon nur der kleinere Teil der dezidiert völkischen Richtung zuzurechnen ist, gibt es doch ein breites Maß an Übereinstimmungen in Teilzielen und Methoden. 36 Schließlich ist Gerstenhauer auch im Vorstand der von ihm protegierten Deutschen Heimatschule Bad Berka nahe bei Weimar, die im Herbst 1922 von dem völkischen Publizisten und Pädagogen Dr. Theodor Scheffer als bewußte „Gegengründung gegen die Berliner Demokratischen Volkshochschulen“ eingerichtet

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Vgl. Gerstenhauer 1927, a. a. O., S. 154. Tanzmann, geb. 1878 in der Oberlausitz, ist gelernter Landwirt. Seit 1910 wohnhaft in Hellerau, eröffnet er dort eine Buchhandlung, gründet eine ‚deutschbewußte‘ Wanderschriftenzentrale, mit der er vor allem die Jugendbewegung zu erreichen versucht, und einen völkischen Lesering. Seit 1912 steht er in Kontakt mit Georg Stammler, der auch bei den Adlern und Falken eine Rolle spielen wird (s. u.). Noch vor 1914 erläßt Tanzmann diverse Aufrufe zur Gründung deutscher Volkshochschulen, die 1917 in einer „Denkschrift zur Begründung einer Deutschen Volkshochschule“ zusammengefaßt werden. In Tanzmanns Hakenkreuz-Verlag erscheint ab 1919 Die Deutsche Bauern-Hochschule. Zeitschrift für das geistige Bauerntum und die Volkshochschulbewegung. Ab März 1926 führt er zusammen mit Friedrich Schmidt die Geschäfte der Artamanen (s. u.), von denen er sich jedoch schon bald wieder zurückzieht. Auch mit dem Deutschbund überwirft er sich, da sein Plan, in Hellerau ein Hochstift für deutsche Art zu gründen, in Konkurrenz zu dem vom Deutschbund betriebenen Hochstift für deutsche Volksforschung steht. Wachsende Isolation und finanzielle Krisen treiben ihn 1939 in den Selbstmord: vgl. Ulbricht 1997 (a); 1996 (a); Piefel 2005. 34 Vgl. Reimers 2000, S. 143 f. 35 Vgl. den Bericht über diese Tagung in: Deutsche Bauern-Hochschule 5, 1925, F. 4; Piefel 2005, S. 268. Seine Prinzipien hat Gerstenhauer schon zuvor im gleichen Blatt dargelegt: vgl. ders.: Die Grundsätze der Bauernhochschulbewegung, ebd., 4, 1924, F. 1. 36 Vgl. Hans Georg Miller: Die deutsche Bauernhochschule (Die „ländlichen Volks“- und „Bauernhochschulen“) auf entwicklungsgeschichtlicher, weltanschaulicher und agrarpolitischer Grundlage, Stuttgart 1928, S. 155, 303, 307 f., 363. Wie sehr sich zumal der Deutschbund für die Bauernhochschulen interessiert, zeigt die Mitteilung, daß im Vorstand der Bauernhochschule Neudietendorf sechs Bundesbrüder vertreten sind: vgl. DbBl 30, 1925, Nr. 8–9. 33

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wird. 37 Scheffer (1872–1945), den man nicht zu Unrecht den „wohl umtriebigsten und erfolgreichsten Praktiker(s) völkischer Hochschulbildung in Deutschland“ zwischen 1918 und 1945 genannt hat 38 , kommt aus dem Volkserzieher-Kreis um Wilhelm Schwaner, ist seit 1907 Mitglied des Deutschbundes und baut die Deutsche Heimatschule zielstrebig in dessen Sinne aus. Neben Jugendbünden wie den Adlern und Falken finden sich hier die Mitglieder des Deutschen Ordens oder des Treubundes für aufsteigendes Leben ein, hält Georg Stammler, ein in der Szene beliebter und ebenfalls dem Deutschbund angehörender völkischer Dichter, seine „Deutschen Richtwochen“, die auf die „Heranbildung einer jungen, verantwortungsbewußten Führerschicht im Volke zielen“ 39 , und lassen sich die Artamanen in Lehrgängen schulen, die vom Wirtschaftsministerium bezuschußt werden. Enge Beziehungen bestehen zu ähnlichen Einrichtungen der völkischen Erwachsenenbildung, die nach dem Vorbild von Bad Berka gestaltet werden, wie zum Beispiel die Deutschen Heimatschulen in Altenburg oder in Arnstadt oder die Heimatschule Mitteldeutschland, und überall begegnet man in den Vorlesungsplänen Max Robert Gerstenhauer. 40 Über die Motive, die hinter dieser Hyperaktivität stehen, informiert am besten Gerstenhauers Schrift Der Führer, mit der der Verfasser seinem Ziel einer völkischen Weltanschauung, einer „Ethik des Nationalismus“, noch am nächsten gekommen ist. Dieser Text verbreitet sich zunächst, wie von der Zielsetzung her nicht anders zu erwarten, über die „Weltsendung des Deutschtums“, die „Bedeutung der deutschen Rasse (!) für die gesamte Menschheit“, die als diejenige eines kollektiven Erlösers vorgestellt wird. Der Deutsche, heißt es, sei „der faustische, der heldische, der kulturschöpferische Mensch“, der „einen stärkeren metaphysischen Hang, einen stärkeren Trieb und eine größere Fähigkeit zur geistig-seelischen Vervollkommnung als andere Völker und andere Rassen hat“, und deshalb den „Rassenadel(s) der Menschheit“ verkörpert. 41 Es ist diese Eigenschaft, die ihn, gerade heute, zum Heilbringer prädestiniert: 37

Einen Bericht über die ersten Lehrgänge gibt Dietrich Bernhardi: Deutsche Heimatschule Bad Berka a. Ilm, in: Deutscher Volkswart 8, 1925, H. 5. 38 Ulbricht 1994, S. 186. Zur Biographie Scheffers ausführlich ders. 1995. 39 Vgl. Georg Stammler: Deutsche Richtwochen, o. J. (Kopie aus dem Archiv Teichmann, Privatbesitz). Über Inhalt und Ablauf der Deutschen Richtwochen, zu deren Aufnahmebedingungen die „Gewähr blutsdeutscher Abkunft“ gehört, informiert: Wir fassen die Hände. Vom Richtwochenwerk Georg Stammlers (Werk und Schau. Schriften für neues Volkwerden, hrsg. von Georg Stammler), Oberdorla 1928.- Der aus Württemberg stammende Schriftsteller Georg Stammler (1872–1948), mit bürgerlichem Namen Ernst Emanuel Krauss, arbeitet nach einer Tätigkeit als Buchhändler in Hellerau (1912–18) als Dozent an der Berliner Arndt-Hochschule, der Volkshochschule Mühlhausen und diversen Bauernhochschulen. 1924 ist er Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Freiheitsbewegung, ab 1925 der NSDAP. Sein Werk erscheint im Urquell-Verlag Erich Röths (Flarchheim/Thüringen), der auch die Deutsche Bauern-Hochschule Tanzmanns und die Zeitschrift Die Kommenden übernimmt. Stammler leitet das Amt für Lebenserneuerung bei den Adlern und Falken (Der Zwiespruch 7, 1925, F. 5) und ist Mitglied ihres Bundesrates; auch an den Treffen der Artamanen nimmt er häufig teil. Aus dem politischen Schrifttum hervorzuheben ist: Feuer übers Land. Politische Bekenntnisse, 1931 im eigenen Werkland-Verlag, Oberdorla, erschienen. 1940 erhält er den Schwäbischen Dichterpreis. Zur Person Stammlers vgl. Ulbricht 1988–1992, S. 132 ff. 40 Vgl. Ulbricht 1994; 1995; 1996 (b); Reimers 2000, S. 151 ff., 181 ff. 41 Gerstenhauer 1927, a. a. O., S. 23, 116.

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„Wieder einmal arbeiten die Deutschen mit ihrem idealistischen, himmelstürmenden Streben, mit ihrer völkischen Bewegung für die ganze Menschheit. Wieder einmal sind sie es, die ein neues Kulturzeitalter heraufführen und eine weltgeschichtliche Tat vollbringen. Die Deutschen retten die abendländische Kultur vor dem Untergang, indem sie die Völker von dem völkerwürgenden Mammonismus, dem industrialistisch-kapitalistischen System befreien. Wir bringen der Welt statt des völkerverderbenden Internationalismus mit seinem Menschheitsbrei und Kötertypus das Evangelium von der reinen, gottgewollten Entfaltung der Volkheiten und Rassen. Nicht eine vermischte und verdorbene gleichförmige Masse Mensch, sondern ein Nebeneinander gut gearteter, frei sich entwickelnder, gut gedeihender Volkspersönlichkeiten, das ist die wahre Erhebung und Veredelung der Menschheit, das ist es, was der völkische Gedanke und die völkische Bewegung zustande bringen werden.“ 42 Die nähere Betrachtung muß nun allerdings einräumen, daß von „Deutschheit in Deutschland wenig Spuren zu finden (sind)“. 43 Zerlege man die Idee der Volkheit in ihre drei Wesensbestandteile – die Naturanlage beziehungsweise rassische Eigenart des Volkes, das Volkstum als solches und die höchste geistige Einheit –, dann zeige sich in allen drei Dimensionen ein beklagenswerter Zustand. Die rassische Reinheit sei infolge wahlloser Vermischung mit nichtgermanischen Elementen perdu, das Volkstum dank eines fatalen Hangs zur Xenophilie und zum Weltbürgertum zu „immer undeutscheren Neubildungen“ verhunzt und die höchste geistige Einheit eine Sache der Vergangenheit, bestehe doch die deutsche Geschichte in nichts anderem als „fortlaufender Verminderung des geistigen Nationalbesitzes, den das deutsche Volk, als es in die Weltgeschichte mit hineingezogen wurde, bereits besaß“ 44 . In summa: „Beim deutschen Volke ist infolge seiner geschilderten widervölkischen Entwicklung die ursprüngliche nationale Naturanlage verkümmert, das Volkstum eine Mischbildung aus nationaldeutschen und fremdnationalen Bestandteilen und endlich eine geistige Einheit, eine deutsche Nationalität überhaupt nicht vorhanden.“ 45 Der von Gerstenhauer verkündete Nationalismus bezieht sich also auf eine Nation, die es streng genommen gar nicht (mehr) gibt, die allererst noch zu schaffen ist. 46 Dabei handelt es sich um nichts Geringeres als um eine Palingenese, eine 42

Ebd., S. 18. Ebd., S. 122. 44 Ebd., S. 120. 45 Ebd., S. 122. 46 Vgl. auch das Echo dieser Vorstellung bei Kanzler Blume, der das deutsche Volk schon völlig in der „Versumpfung des Bastardtumes“ versackt sieht und dem Deutschbund die Aufgabe zuschreibt, „ein ‚Volk im Volke‘ zu sein, in einem Volke, das keins mehr ist, in seinem Wesen unsichtbar und doch im höchsten Grade wirksam, ein Kristallkern in einer Lauge, der aus ihr die wesensgleichen Teile anzieht, durch sie wächst und zuletzt das Geschick des Ganzen richtunggebend bestimmt. Die Lauge aber schüttet man ab“: Geschäftsbericht erstattet von Br. BKzl. Blume, in: DbBl 30, 1925, Nr. 6–7. Diese Aussagen finden sich bemerkenswerterweise im gleichen Heft wie die oben zitierte Weiherede Heinrich Kraegers, die den Deutschen bescheinigt, in toto eine Höherentwicklung des nordischen Menschen zu sein. Was für den einen die Quintessenz aller genialischen Fähigkeiten der Menschheit ist, ist für den anderen eine unbrauchbare Brühe, die in den Ausguß gehört. 43

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„Wiedergeburt“ 47 , die bei den Stammzellen ansetzen muß, der „Naturanlage des Volkes“. Da durch die kulturelle und historische Entwicklung die Idee der Deutschheit verfälscht worden ist, gilt es, bildlich gesprochen, die Axt an den krumm gewachsenen Baum zu legen, um es ihm zu ermöglichen, von den Wurzeln her noch einmal neu zu wachsen, was in die politisch-soziale Sprache übersetzt zweierlei heißt: „Reinigung des Deutschtums, wo es nur irgend geht“; und Rekonstruktion des Deutschtums von dort her, wo noch Wurzeln vorhanden sind: „bei den Ungebildeten – denen des Landvolkes, nicht bei den städtischen“. Auf dem Land, im Bauerntum, gebe es „noch ungebrochenes, ursprüngliches deutsches Volkstum“ im Sinne der germanischen Naturanlage, gebe es noch deutsches Wesen, aus dem sich mit einiger Beharrlichkeit auch eine entsprechende Erscheinung herauszüchten lasse. Dazu aber sei Eile geboten, denn: „Auch dies deutsche Wesen wird schnell aus dem deutschen Volke – auch aus der deutschen Bauernschaft, die politisch, rassisch und geistig ‚der feste Kern des deutschen Volkes‘ ist – verschwinden, wenn wir nicht bald das undeutsche Kulturmaterial und die Herrschaft der nicht nationaldeutschen Anschauungen aus Deutschland herausbringen. Wir müssen es also dadurch erhalten, daß wir das undeutsche Kulturgut entfernen; und die kulturliche Weiterentwicklung muß ganz dem deutschen Volkscharakter, der germanischen Naturanlage gemäß erfolgen.“ 48 Die hier herausgearbeiteten Merkmale stimmen mit der „Verquickung von Kulturpessimismus und mystischem Nationalismus“ überein, die Fritz Stern als typisch für einen bestimmten Strang nationaler Ideologie in Deutschland dargestellt hat. 49 Und das ist auch nicht überraschend, lehnt sich Gerstenhauer doch eng an jenen Autor an, von dem her Stern sein Deutungsmuster gewinnt: Paul de Lagarde. 50 Nicht folgen möchte ich Stern allerdings, wenn er darin zugleich die Merkmale völkischer Ideologie sehen will. Die Kombination von Zeitablehnung und Erlösungswunsch ist typisch für den modernen Fundamentalismus, die Fokussierung der Erlösungserwartung auf die Nation speziell für den nationalreligiösen Fundamentalismus. 51 Während es sich dabei jedoch im Fall von Lagarde um Alleinstellungsmerkmale handelt, sind sie bei Gerstenhauer mit anderen Elementen legiert, die sich bei Lagarde in dieser ausgeprägten Form nicht finden: dem Vertrauen auf Wissenschaft und Fortschritt, auf eine wissenschaftlich angeleitete Vervollkommnung und „Höherzüchtung“ des Menschen; dem nachgerade kulturprotestantischen Streben nach einer „Ethik des Nationalismus“, welche „die alten idealistischen Sittenlehren des Christentums, Kants und unseres klassischen Bildungsideals“ ergänzen soll; und, nicht zuletzt: der penetranten Mittelstandsideologie, die sich das Heil vornehmlich von der „Stärkung und Förderung des städtischen und ländlichen Mittelstandes“ erwartet. 52 Es ist die Zusammenzwingung dieser Elemente mit dem ihnen durchaus heterogenen nationalreligiö47

Gerstenhauer: Die Zukunft der völkischen Bewegung (I), in: DbBl 29, 1924, Nr. 7. Ders. 1927, a. a. O., S. 123. 49 Stern 1986, S. 3. 50 Vgl. ebd., S. 25 ff. Zur Bedeutung Lagardes vgl. Gerstenhauer 1913, a. a. O., S. 7, 11 ff., 48; 1927, a. a. O., S. 3, 13, 15, 130 f., 136, 147; 1933, a. a. O., S. 11. 51 Zu diesem Begriff und zur Einordnung Lagardes näher: Breuer 1999, S. 71 ff. 52 Vgl. nur Gerstenhauer 1927, a. a. O., S. 4 f., 46, 99 f. 48

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sen Fundamentalismus, die Gerstenhauer zu einem völkischen Ideologen macht, nicht der letztere allein. Bezieht man andere führende Mitglieder des Deutschbundes in die Betrachtung mit ein, so zeigt sich überdies, daß die Verwerfung der modernen Kultur nur selten so weit geht wie in den oben zitierten Passagen. Schon Gerstenhauer selbst, der keinen Gedanken ohne Goethezitat zu Papier bringen kann, ist viel zu sehr Bildungsphilister, als daß er es wirklich ernst meinen könnte mit der Behauptung, die deutsche Geschichte bestehe seit der Völkerwanderung in einer fortlaufenden Verminderung des geistigen Nationalbesitzes. Der Vertrauensmann der Deutschbundgemeinde Freiburg und Gründer der Adler und Falken, der Schriftsteller Wilhelm Kotzde, faßt die kulturelle Entwicklung Deutschlands immerhin bis zur Gotik als eine beständige Aufgipfelung und sieht erst in der Renaissance die Anfänge eines Niedergangs durch Überfremdung, der aber auch immer noch Ausnahmen zuläßt wie die deutsche Klassik oder, im 19. Jahrhundert, die Malerei Moritz von Schwinds, Hans Thomas oder Arnold Böcklins. 53 Adolf Bartels, der für den Deutschbund die Zeitschrift Deutsches Schrifttum (zeitweilig als Beilage des Deutschen Volkswarts, dann des Reichswarts) herausgibt, grenzt sich sogar explizit von Lagarde ab, „der die Reformation beinahe als Schädigung des Evangeliums ansieht und durch die geistige Bewegung der Zeit nur die Erkenntnis der Kultur als des Weltbeglückenden heraufgeführt annimmt“ 54 , und läßt mit der Reformation nachgerade die eigentliche Blütezeit der deutschen Kultur beginnen, die bei ihm bis zu seinem Dithmarscher Landsmann Friedrich Hebbel reicht. „Nein“, heißt es emphatisch im Deutschen Schrifttum in einer Kritik am Kulturpessimisten par excellence, Oswald Spengler, „das 19. Jahrhundert hat in Deutschland und wohl auch in den anderen Ländern noch wirklich bodenständige Kultur (wie wären Gestalten wie Hebbel, Mörike, Gotthelf, Keller, Storm, Anzengruber, Böcklin, Thoma möglich!), die unheilvolle Entwicklung beginnt erst um 1860.“ 55 Man tut gut daran, sich bei der Bestimmung dessen, was völkisch ist, eher an solche Auffassungen zu halten als an die rhetorischen Exzesse Gerstenhauers, die auch durch dessen eigene politische Programmatik nur zum kleineren Teil abgedeckt sind.

53 Vgl. Wilhelm Kotzde: Die Erneuerung des deutschen Menschen, Freiburg i. Br. 1923; Erziehung zum Deutschtum, in: Der Tag, 9. 12.1923; Die Aufgabe der Bünde, in: Die Kommenden 2, 1927, F. 9; Von der Herrlichkeit deutscher Malerei, in: Thomas Westerich (Hrsg.): Das Jugend- und Lebensgeleitbuch. Gedenke, daß du ein Deutscher bist (1914), 2. Aufl. Leipzig 1920, S. 318–354, 344 ff.- Stichwortgeber für diese Sichtweise ist Richard Benz: Die Renaissance, das Verhängnis der deutschen Cultur, Jena 1915 sowie ders.: Die Gotik als Grundlage deutscher Kunst und Cultur, Jena 1915/16. 54 Adolf Bartels: Reformation und Christentum, in: Deutscher Volkswart 3, 1918, H. 9/10. Zur Differenz zwischen Bartels und Gerstenhauer vgl. auch die Besprechung, die Gerstenhauer zur Neuauflage von Bartels’ Buch Rasse und Volkstum geschrieben hat: Deutscher Volkswart 5, 1920, H. 2. 55 L. L.: Oswald Spengler und wir, in: Deutsches Schrifttum 11, 1921, Nr. 2 (Deutscher Volkswart 6, 1921).

4. Neue Parteien: Deutschsozialisten, Deutschsoziale, Regionalparteien mit völkischem Einschlag Der Deutschbund ist nicht der einzige größere Verband, der gegenüber dem DSTB seine Selbständigkeit wahrt. Den Anschluß verweigern etwa lokale Verbände wie der von Hans von Mosch geleitete Deutschsoziale Verein in Spandau oder der Ausschuß für Volksaufklärung in Berlin; auch einige überlokale Organisationen wie der Deutsche Herold, der Wälsungen-Orden oder der Verband gegen Überhebung des Judentums behalten ihre Selbständigkeit und nutzen diese nicht selten, um den Hegemonieanspruch des DSTB massiv zu bestreiten. 1 Das regelmäßig im Deutschvölkischen Jahrbuch veröffentlichte „Verzeichnis deutschvölkischer Vereine, Bünde und Orden“ weist für 1920 mindestens 72 Verbände für Deutschland, Österreich und die Tschechoslowakei auf, zwei Jahre später 89, von denen viele weder 1920 noch 1921 genannt worden sind. 2 Neben diesen Verbänden, die mit dem DSTB, bei allen Differenzen, den Charakter eines auf Gesinnung und Ideologie gegründeten Vereins teilen, gibt es indes auch solche, die sich ausdrücklich als Partei verstehen und damit den Schritt ins politische Feld verbinden. Manche davon bleiben von rein lokaler Bedeutung, wie die von Rudolf Lebius 1918 in Berlin gegründete Großdeutsche Freiheitspartei, die sich 1920 unter der Bezeichnung Nationaldemokratische Partei an den Reichstagswahlen beteiligt, es jedoch gerade eben auf 4000 Stimmen bringt. 3 Größere Resonanz finden dagegen die Deutschsozialistische und die Deutschsoziale Partei sowie verschiedene Parteien mit mehr oder minder ausgeprägtem völkischen Einschlag. Von diesen letzteren sollen hier zunächst nur die Regionalparteien ins Auge gefaßt werden, während die beiden wichtigsten überregionalen Parteien, die Deutschnationale Volkspartei und die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, in gesonderten Abschnitten dargestellt werden. Die Deutschsozialistische Partei (DP), die sich formell im April 1920 konstituiert, kann in mehrfacher Hinsicht als eine Fortsetzung der Antisemitenorganisationen des Kaiserreichs angesehen werden. Ihr Initiator, der Ingenieur Alfred Brunner (1871–1936), beschäftigt sich seit 1904 mit völkischen Fragen und verfügt über gute Kontakte zu einschlägigen Kreisen. Seine im Dezember 1918 abgeschlossene „Denkschrift zur Gründung einer deutschsozialistischen Partei auf judenreiner und kapitalloser Grundlage“ wird mit finanzieller Unterstützung des Germanen-Ordens, der geheimen Schwesterorganisation des Reichs-Hammerbundes, gedruckt und einige Monate später vom Münchner Beobachter, dem

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Vgl. Lohalm 1970, S. 85; Striesow 1981, Bd. 1, S. 285. Vgl. Deutschvölkisches Jahrbuch 1920, S. 232 ff.; 1922, S. 99 ff. (Verf. Alfred Roth). Vgl. Fricke 1985, Bd. 3, S. 388 ff.; Kruppa 1988, S. 134 ff.

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Sprachrohr des bayerischen Germanen-Ordens, verbreitet. 4 Noch im Oktober 1919 wird in der Münchner Thule-Gesellschaft, hinter der ebenfalls dieser Orden steht, eine Deutschsozialistische Arbeitsgemeinschaft gegründet, die sich am 20. Januar 1920 als Ortsgruppe der DP konstituiert. 5 Brunner selbst wird im Sommer 1919 in den Beirat des DSTB kooptiert; für viele Aktivisten der Partei ist ebenfalls die Mitgliedschaft im DSTB oder im Reichs-Hammerbund belegt. Beide Organisationen steuern im übrigen finanzielle Starthilfen für verschiedene Ortsgruppen bei. 6 Obwohl sich der Parteigründer als ‚völkisch links‘ stehend verortet und sich gern von den als ‚einseitig antisemitisch‘ bezeichneten ‚Altvölkischen‘ abgrenzt 7 , sind seine Leitgedanken doch wenig mehr als eine Reprise des seit langem in der völkischen Bewegung zirkulierenden Ideenguts. Wenn er den Niedergang der arisch-germanischen Weltanschauung im ‚Land des Idealismus‘ beklagt und Deutschland als ‚Tummelfeld des Materialismus und des Mammonismus‘ bezeichnet, welche ihrerseits auf den ‚Semitismus‘ zurückzuführen seien, dann wiederholt er bis in die Wortwahl hinein die Stereotypen, die Wilhelm Marr 1879 in seiner Schrift über den Sieg des Judentums über das Germanentum ausgebreitet hat. 8 Wenn er den Semitismus als sengenden und brennenden Nomadengeist charakterisiert, greift er auf eine Formel Adolf Wahrmunds zurück, während die Attacken auf das angeblich semitische römische Recht und die jüdische Zinsknechtschaft an Ottomar Beta und Theodor Fritsch anknüpfen.9 Nicht einmal die Forderung nach einem „deutschen nationalen Sozialismus“, welcher dem „jüdisch-internationalen Sozialismus“ entgegenzusetzen sei, ist neu, läßt sie sich doch bereits im Kontext der Deutsch-sozialen Partei der wilhelminischen Ära nachweisen. 10 Die von Brunners Kieler Vertrautem, Fritz Wriedt, ventilierte Strategie, „die linksstehenden Parteien zu einer Einheitsfront gegen den Mammonismus aufzufordern“ 11 , hat ihr Vorbild ebenfalls bei Wilhelm Marr, der in seinem 4 Ein Exemplar dieser Denkschrift befindet sich im ehemaligen NSDAP-Hauptarchiv, BArch NS/26/839. 5 Vgl. Tyrell 1975, S. 65 ff., 235; Rietzler 1982, S. 159 f. 6 Vgl. Lohalm 1970, S. 98; Rietzler 1982, S. 160, 164. 7 Vgl. Alfred Brunner an Fritz Wriedt, Brief vom 17. 3. 1921, BArch NS/26/839; Tyrell 1975, S. 73. 8 Vgl. Alfred Brunner: Deutsche Not und Rettung! Duisburg 1921, S. 2. 9 Vgl. ebd., S. 3. 10 Ebd., S. 9. Vgl. die weiter oben erwähnten Erwägungen von Fritsch aus dem Jahr 1891, ferner, mit Bezug auf eine Rede Erwin Bauers: DSBl 7, 1892, Nr. 221, S. 536. Einen noch älteren Beleg hat Stephan Malinowski im Deutschen Adelsblatt von 1887 gefunden, das einen Beitrag mit dem Titel „Fürst Bismarck der erste Nationalsozialist“ enthält: vgl. Malinowski 2003, S. 163. 11 Fritz Wriedt an Alfred Brunner, Brief vom 29.10. 1920, BArch NS/26/839. Die Kieler Ortsgruppe der DP macht dazu im November 1920 Vorschläge für eine „wirtschaftliche Mobilmachung“, die (staats-)sozialistischen Ideen weit entgegenkommen. Danach sollen alle Staatsbürger, Männer wie Frauen, zu Angestellten des Reiches werden, die von diesem zu versorgen seien; die ganze Produktion solle dem Reich gehören, das auch den Handel zu organisieren habe; Geldwirtschaft und Zinsrechnung seien aufzuheben, die Betriebe in Selbstverwaltung zu überführen. Wenn die Wirtschaft auf diese Weise erst wieder aufgebaut sei, könne „die sozialistische Organisation in Fortfall kommen und in liberaler Richtung in aller Ruhe für eine praktische, bequeme und schöne Inneneinrichtung gesorgt werden.“ Vgl. Walter Oesterling: Die wirtschaftliche Mobilmachung, in: Die Lebensschule. Monatsschrift für deutschvölkische Einheit, Reinheit und Fein-

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Testament eines Antisemiten 1891 ähnliches gefordert hat. 12 Bis in die Anfangszeit der völkischen Bewegung läßt sich auch die Kreuzung fundamentalistischer und progressiver Züge zurückverfolgen, die wortreiche Klage über eine Technik, die zur „Sklavin überstaatlicher Geldmächte und damit zu einem Instrument des Raubbaues, der Materialverschleuderung und der Rassenverschandelung im allergrößten Maßstabe“ geworden sei, der gleich darauf die Beteuerung folgt, man wolle „das Rad der technischen Entwicklung nicht zurückdrehen“. 13 Wie in der Programmatik, steht die DP auch in bezug auf die soziale Zusammensetzung in der Kontinuität der Vorkriegsepoche. Die Mitgliederwerbung wendet sich explizit nur an „Deutschgeborene“ und verlangt von Beitrittswilligen das Bekenntnis, „daß ich deutscher Abstammung bin und daß unter meinen und meiner Frau Vorfahren sich insbesondere keine solchen jüdischen Blutes befinden.“ 14 Unter den auf diese Weise Rekrutierten dominieren durchaus nicht die Arbeiter, wie verschiedentlich behauptet wird. 15 In der Münchner Ortsgruppe, mit rund 400 Mitgliedern die stärkste Untergliederung der Partei, geben Journalisten und Akademiker wie Max Sesselmann, Hans Georg Müller und Dr. Friedrich Wieser den Ton an; in der Ortsgruppe Nürnberg (300 Mitglieder) besteht der Vorstand aus einem technischen Angestellten, einem städtischen Boten, einem Schlosser, einem Handlungsgehilfen und einem Ankerwickeler; ihr Wortführer, der allerdings erst im Januar 1920 der DP beitritt und sogleich in ihre Spitze aufrückt, ist der Volksschullehrer Julius Streicher. 16 Die Mitgliederlisten der Dithmarscher Ortsgruppen weisen neben Lehrern und Pastoren Apotheker, Postbeamte, Spediteure, Malermeister und Gastwirte aus. Ähnliches gilt für die übrigen Ortsgruppen in Hannover, Berlin, Bielefeld, Düsseldorf, Leipzig, Königsberg und Kiel, deren Mitglieder sich überwiegend aus den unteren Mittelschichten rekrutieren. 17 Es erscheint deshalb konsequent, wenn der Landesverband Niedersachsen für den dritten Reichsparteitag der DP in Zeitz den Antrag formuliert, „die Werbe- und Aufklärungsarbeit neben der bisherigen Weise der unmittelbaren Einwirkung auf die Arbeiterkreise fortan in ausgedehntem Umfang auf die Gewinnung des gesunden Teils des Mittelstandes zu richten, weil dieser im heit 2, 1920, 23. Bl. Die Zeitschrift hat auch anderen DP-Führern ein Forum geboten, so Fritz Wriedt für einen Artikel über „Wiederaufbau?“ (2, 1920, Bl. 22) und Alfred Brunner: Kommunismus oder deutscher Sozialismus (1, 1919, Bl. 6). In einem Schreiben an den Parteivorstand vom 15. 9. 1920 bezeichnet die Ortsgruppe Kiel den Schriftleiter, Carl Weißleder, als Parteimitglied: BArch NS/26/839. 12 Vgl. Zimmermann 1986, S. 150. 13 Brunner 1921, a. a. O., S. 4, 10. 14 Vgl. Deutschsozialistische Partei Deutschlands: Richtlinien der Partei. Undatiertes Werbeblatt, circa 1919/20. Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg, Fasc. 741: Deutschsozialistische Partei. 15 So unter Berufung auf eine Dissertation von 1931: Fricke 1984, Bd. 2, S. 548. Zu den Mitgliederzahlen vgl. den Bericht über den ersten Parteitag vom 24.–26. 4. 1920 in Hannover, BArch NS/26/109. 16 Vgl. Franz-Willing 1974, S. 130; Tyrell 1975, S. 235. 17 Vgl. Rietzler 1982, S. 173, 160. Der Leiter der etwa 30 Personen umfassenden Berliner Ortsgruppe, Arno Chwatal, beklagt in einem Tätigkeitsbericht vom September 1920, die „linksradikalen Arbeiter“ der Stadt würden den Einladungen der DP zu ihren Veranstaltungen „einfach keine Folge“ leisten: vgl. Tyrell 1975, S. 242.

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sozialen Gefüge des Volkes aus organisatorischen Gründen zur Führung der Unterschichten berufen und geeignet ist.“ 18 Auf die Mentalität dieser Zielgruppe ist nicht nur der Forderungskatalog zugeschnitten, der auf „Ausbau und Erhaltung eines gesunden Mittelstandes“ mittels zinsloser Kredite, einer Ausweitung des Stellenangebots durch Berufsverbote für Juden sowie Reformen des Miet- und Bodenrechtes setzt 19 , sondern auch die gesamte Strategie, die mehr auf eine Metanoia der Gesinnung aus ist als auf die Gewinnung politischer Macht. Brunner differenziert ausdrücklich zwischen der ‚lehrenden und lernenden‘ deutschsozialistischen Bewegung und der ‚kämpfenden und fordernden‘ deutschsozialistischen Partei und läßt nicht im Zweifel, wo er den Schwerpunkt sieht: die Bewegung besteht für ihn in der kontinuierlichen Verbreitung der Weltanschauung, während die Partei nur als intermittierende Einrichtung gilt, „die besonders in den Wahlzeiten in Tätigkeit zu treten hat und in den Zwischenzeiten alle Vorarbeiten für tatkräftige Durchführung der Wahlen trifft.“ 20 Brunner selbst agiert weit mehr als ein Missionar, der über das Medium des Briefes seine Ideen zu verbreiten sucht, denn als politischer Unternehmer, der um Gefolgschaft wirbt. Gewaltmethoden, wie sie die NSDAP im Umgang mit dem politischen Gegner praktiziert, lehnt er ab; eine dauerhafte Führungsposition in der Partei strebt er nicht an und läßt schon im November 1920 einen neuen Vorsitzenden wählen, den Berliner Lehrer Emil Holtz. 21 Die Führungsstruktur ist weder charismatisch noch traditional, noch bürokratisch, sondern schlicht defizitär, was vor allem auch für die Parteifinanzen gilt. 22 Die Partei bleibt „ein dezentralisiertes Gebilde ohne organisatorischen Mittelpunkt“, dessen Untereinheiten weitgehend selbständig agieren und kaum koordiniert werden. 23 Auch wenn die Bezeichnung „Weltanschauungspartei“ etwas zu hoch greift, da es hierfür doch an vielem fehlt, ist die Feststellung richtig, daß die DP „in keiner Weise über die traditionellen Erscheinungsformen antisemitisch-völkischer Vereine und Parteien seit dem Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinaus(weist)“. 24 Für einen Erfolg unter den Bedingungen der Massendemokratisierung sind das keine guten Voraussetzungen. Bei den ersten Reichstagswahlen im Juni 1920 stellt sich die DP nur in fünf Wahlbezirken zur Wahl und erreicht knapp über 7000 Stimmen. 25 Da auch die Mitgliederzahl bei 1500–2000 stagniert, setzt man verstärkt auf die Zusammenarbeit mit anderen völkischen Gruppen, sei es, wie in Schleswig-Holstein, mit verschiedenen Zweckvereinen der Mittelschichten, sei es, wie in Franken und Bayern, mit Gesinnungsverbänden wie der von Otto Dikkel gegründeten Deutschen Werkgemeinschaft (DW). 26 Bestrebungen dieser Art 18 Landesverband ‚Niedersachsen‘ der D.S.P. in Hannover: Antrag 1 Hannover ‚Parteiwege‘ für den Parteitag, Frühjahr 1921, 4. 3. 1921, in: BArch NS/26/109. 19 Deutschsozialistische Partei Deutschlands: Richtlinien der Partei, a. a. O. 20 Brunner 1921, a. a. O., S. 12 f. 21 Vgl. Tyrell 1975, S. 90, 74. 22 Vgl. das Rundschreiben Nr. 5 des Parteivorstands vom 10. 5. 1921, in dem darüber geklagt wird, daß viele Landesverbände und Ortsgruppen keine Beiträge abführten: BArch NS/26/839. 23 Vgl. Tyrell 1975, S. 72. 24 Ebd., S. 93. 25 Vgl. Rietzler 1982, S. 165. 26 Der Augsburger Studienrat Otto Dickel (1880–1944) tritt 1921 mit einer gegen Spengler

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erweisen sich indes schon bald als für die Kohäsion der Partei nicht förderlich, besonders dann, wenn die Partner mit finanziellen Ressourcen locken, denen die notorisch am Rande des Offenbarungseides entlangschrammenden deutschsozialistischen Lokalmatadoren nicht widerstehen können. In Nürnberg wird Streichers Flaggschiff, der Deutsche Sozialist, nur durch Zuschüsse Dickels vor dem Untergang bewahrt, muß sich allerdings auf Drängen des Geldgebers in Deutscher Volkswille umtaufen. Die Beziehungen sind bald so eng, daß Streicher im November 1921 eine Ortsgruppe der DW gründet, in die er außer seinen zahlreichen Anhängern auch seine Zeitung einbringt. Eine Woche später tritt er aus der DP aus und beraubt diese damit ihres nach München wichtigsten Stützpunktes in Süddeutschland. 27 Da gleichzeitig auch die Kieler Ortsgruppe zur DW übertritt und die Machtverhältnisse in Bayern sich deutlich zugunsten der straffer organisierten NSDAP verschieben, ist das Schicksal der DP besiegelt. Brunner, der sich über seine eigenen rhetorischen Fähigkeiten so wenig Illusionen macht wie über diejenigen der übrigen Parteiführer 28, bemüht sich eine Zeitlang noch verzweifelt, seine Partei mit der NSDAP in einer Bundesorganisation mit föderalistischer Leitung zusammenzuschließen, scheitert aber am Widerstand Hitlers. Im Laufe des Jahres 1922 treten ganze Ortsgruppen wie diejenigen von Hannover, Berlin und Hamburg zur NSDAP über, so daß die Parteileitung im Herbst 1922 keine andere Wahl mehr sieht, als sich aufzulösen. Die meisten Mitglieder schließen sich der NSDAP an. 29 Nicht viel anders ergeht es einer weiteren Organisation, die das Nationale und das Soziale zu verbinden sucht: der im Februar 1921 in Berlin gegründeten Deutschsozialen Partei (DsP). Auch sie ist vor allem das Werk eines einzelnen, der in diesem Fall allerdings weit mehr von persönlichen als von sachlichen Motiven getrieben ist und seine Emotionen nicht unter Kontrolle hat: die Rede ist von Richard Kunze (1872–1945?), einem ehemaligen Volksschullehrer und Funktionär der Deutschkonservativen Partei, der 1918 der DNVP beitritt und gleichzeitig als Agitator für den DSTB tätig ist. Als es ihm nicht gelingt, einen Platz auf der deutschnationalen Kandidatenliste zu ergattern, gründet er kurzerhand seine eigene Partei, die vom Namen und von den Aufnahmebedingungen her an die Tradition der antisemitischen Parteien des Kaiserreichs anknüpft, dabei aber einige andere Akzente setzt. In der Judenpolitik knüpft sie an den verschärften Fordegerichteten Schrift über Die Auferstehung des Abendlandes (Augsburg 1921) hervor, die die Wurzeln allen Übels im „Zentralismus“ und im römischen Recht ausmacht. Die von ihm im März desselben Jahres in seiner Heimatstadt gegründete „Deutsche Werkgemeinschaft des Abendländischen Bundes“ (DWG) sieht die „Zentralarbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer“ vom Herbst 1918 als Vorbild für eine Reorganisation der sozialen Beziehungen an und strebt danach, die völkischen Verbände auf dieser Basis zusammenzuführen. Vgl. Tyrell 1975, S. 110 ff. sowie die knappe biographische Skizze Dickels bei Joachimsthaler 2000, S. 374 f. Die DWG steht zeitweise in einem nicht gänzlich klaren engeren Verhältnis zur Germanischen Glaubens-Gemeinschaft (GGG). Obwohl nicht formelles Mitglied, wird Dikkel 1925 aus ihr ausgeschlossen und gründet daraufhin mit dem ebenfalls ausgeschlossenen Adolf Kroll die GGG-Südmark. Vgl. Junker 2002, S. 56. 27 Vgl. Lenman 1971, S. 135 ff.; Hambrecht 1976, S. 28. 28 Vgl. Alfred Brunner an Fritz Wriedt, Brief vom 17. 3. 1921, BArch NS/26/839. 29 Vgl. Maser 1994, S. 232 f.

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rungskatalog von Heinrich Claß an, der für alle noch nicht eingebürgerten Juden die sofortige Ausweisung und für die eingebürgerten die Einführung des Fremdenrechts vorsieht 30 , in der Wirtschafts- und Sozialpolitik verlangt sie eine Beschränkung der Großbetriebe, um die Zahl der selbständigen Gewerbetreibenden zu erhöhen, die Festsetzung einer Vermögenshöchstgrenze, „innerhalb deren sich jede Einzelpersönlichkeit frei entfalten soll“, den Ausbau des Genossenschaftswesens und der Sozialversicherung auf der Grundlage der berufsständischen Selbstverwaltung sowie eine „Beteiligung der Arbeiter am Gewinn des Unternehmens“ – Forderungen, die den Horizont des wilhelminischen Nationalismus ebenso überschreiten wie der Gedanke einer Bestimmung der Staatsform durch Volksentscheid. 31 Dabei setzt die Partei, setzt vor allem ihr Führer, von Anfang an nicht nur auf die Kraft der Argumente. In Zeitungsinseraten wirbt Kunze für den Kauf seines Gummiknüppels „Heda“, und wo dieser nicht reicht, wird bisweilen auch zu schärferen Waffen gegriffen, wie im Oktober 1922, als Kunze auf einer Parteiversammlung in Oppeln einen Kritiker niederschießt. Es kennzeichnet die allgemeine Brutalisierung der politischen Auseinandersetzung, daß eine solche Partei bei den Reichstagswahlen im Mai 1924 über dreihunderttausend Stimmen (= 1,1 %) erringt. Schon bei den Dezemberwahlen des gleichen Jahres sind es dann freilich nur mehr halb so viele, und vier Jahre später gerade noch 45 000, von denen ein erheblicher Teil auf das Konto des kurz zuvor der DsP beigetretenen Verbandes ehemaliger Haus- und Grundbesitzer und Hypothekengläubiger gehen dürfte. Zu diesem Zeitpunkt ist die Partei jedoch bereits durch interne Auseinandersetzungen geschwächt, die große Teile der Anhängerschaft veranlassen, sich entweder der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung oder der NSDAP anzuschließen. Kunze selbst entscheidet sich zunächst für die eine, dann, im Mai 1930, für die andere Option. 32 Daß der völkische Nationalismus seit Anfang der 20er Jahre den Weg aus der politischen Marginalität findet, ist nun freilich weniger Kleinunternehmungen in der geschilderten Art zu verdanken. Wichtiger ist die Rezeption völkischer Denkund Argumentationsmuster durch lokale und regionale Honoratioren, Zeitungsredaktionen, Zweckvereine und Parteien, welche subjektiv anderen Primärzielen gefolgt sein mögen, objektiv aber den Boden für die spätere nationalsozialistische Propaganda bereiten. Die Wirkung solcher „Milieu-Öffner“ und „Milieu-Achsen“ ist bisher nur für die zweite Hälfte der Weimarer Republik genauer erforscht 33 , doch lassen sich bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit Tendenzen ausmachen, die in diese Richtung deuten. Hierzu gehört etwa das ausgedehnte bürgerliche Selbstschutzwesen, das sich in Einwohnerwehren, der sogen. Tech30 Vgl. Daniel Frymann [d. i. Heinrich Claß]: Wenn ich der Kaiser wär’ –, Leipzig, 4. Aufl. 1913, S. 74 ff. 31 Vgl. Wahlaufrufe der Deutschsozialen Partei, in: Reichstags-Handbuch, II. Wahlperiode 1924, hrsg. vom Bureau des Reichstages, Berlin 1924, S. 339–347, 342 ff. 32 Vgl. Der Reichskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung: Meldungen 1929–1933, S. 107 ff. (BArch R 1507/143); Kruppa 1988, S. 377, 146 f., 223, 297; Striesow 1981, Bd. 1, S. 632; Fricke 1984, Bd. 2, S. 538 ff. 33 Vgl. den Überblick bei von Saldern 1993, S. 36 ff.

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nischen Nothilfe oder der „Orgesch“ organisiert – Einrichtungen, die nach Andreas Wirsching „eine nicht zu unterschätzende Rolle gleichsam als ‚Zwischenwirte‘ für die späteren rechtsextremen Parteien und Verbandsgründungen“ gespielt haben34 –, gehören hieran anknüpfende Zusammenschlüsse wie die 1923 gegründeten Vereinigten Vaterländischen Verbände Deutschlands, die neben rein völkischen Organisationen wie dem Deutschbund freilich auch solche alt- oder neunationalistischen Zuschnitts wie den Alldeutschen Verband oder den Bund Wiking aufweisen 35 , gehören weiterhin Verbände wie der Großhessische Wirtschaftsbund für Hessen, Hessen-Nassau und Waldeck, dessen Gründungserklärung in wesentlichen Punkten mit dem Orgesch-Programm übereinstimmt und dessen letzte Anhänger im Sommer 1923 geschlossen in die SA eintreten 36 , gehören endlich auch viele Bauernvereine, die teils an Vorgängerorganisationen aus dem Kaiserreich anknüpfen, wie zum Beispiel der Hessische Bauernbund, eine Fortsetzung des von Otto Böckel gegründeten Mitteldeutschen Bauernvereins37 , teils neugegründet werden, wie der Thüringer Landbund oder der Schleswig-Holsteinische Bauernverein, die aus der wachsenden Opposition gegen den Druck der Kriegs- und Zwangswirtschaft entstehen. 38 Rudolf Heberle hat in einer bleibend wichtigen Untersuchung am Beispiel Schleswig-Holsteins herausgearbeitet, wie sich berufsständische Interessenlagen mit regionalistischen, partikularistischen und föderalistischen Ideenströmungen verbinden und neue Parteien hervorbringen, die zwar nicht en bloc als völkisch qualifiziert werden können, gleichwohl bestimmte Übereinstimmungen mit jenem völkischen Syndrom aufweisen, aus dem auch die NSDAP einen Teil ihrer Attraktivität bezieht, darunter nicht zuletzt: die Forderung nach Überwindung des gesellschaftsmäßigen, anstalthaften und eo ipso der Massendemokratisierung zugänglichen Charakters des modernen Staates durch die grundsätzliche Verwurzelung in einem stammesmäßig bestimmten und gegliederten Volkstum.39 In Schleswig-Holstein entschließt sich die Führung des Bauernvereins im Januar 1919, für die Wahlen zur Nationalversammlung eigene Kandidaten aufzustellen, da man sich durch den ‚städtischen‘ Liberalismus, den man während des Kaiserreichs gewählt hat, nicht mehr hinreichend repräsentiert glaubt. Daraus entsteht die Schleswig-Holsteinische Bauern- und Landarbeiterdemokratie (SHBLD), die trotz der knappen Vorbereitungszeit 7,3 % der Stimmen, bei den kurz darauf folgenden Wahlen zur Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung 8,5 % gewinnt, in ihren Hochburgen im Wahlkreis Flensburg-Apenrade sowie auf der Geest sogar 35,5 % beziehungsweise 38,4 %. 40 Anfangs eine „reine Standespartei, die der Durchsetzung der agrar- und wirtschaftspolitischen Ziele des Bauernver34 Vgl. Fenske 1969, S. 76 ff.; Könnemann 1971; Bucher 1971; Nusser 1973; Wirsching 1999, S. 113 ff., 299 ff., 310 f. 35 Vgl. Fenske 1969, S. 188 ff., 224 ff.; Fricke 1983, Bd. 1, S. 13 ff., 368 ff.; Diehl 1985. 36 Vgl. Schön 1970, S. 19 f. 37 Vgl. ebd., S. 146 ff. 38 Vgl. Dressel 1998; Thyssen 1958, S. 342 ff.; Stoltenberg 1962, S. 40 f. 39 Vgl. Heberle 1963, S. 145. Das Manuskript zu dieser Untersuchung wurde bereits 1934 abgeschlossen. 40 Vgl. ebd., S. 76, 97.

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eins dienen sollte“ 41 , wandelt sich die SHBLD bald nach den Wahlen in eine „Stammespartei“ um 42 , in deren Führungsspitze das bäuerliche Element hinter dem städtischen Intellektualismus zurücktritt, wenngleich einem solchen, der sich oft aus bäuerlichen Familien rekrutiert. 43 Unter dem neuen Namen Schleswig-Holsteinische Landespartei (ab Februar 1919) verfolgt man im wesentlichen drei Ziele: in wirtschaftspolitischer Hinsicht eine Kombination von sozialprotektionistischen Strategien für den Mittelstand mit einer an altliberale Traditionen anknüpfenden Zurückweisung des Staatsinterventionismus, wie er sich während des Krieges in Gestalt einer bürokratisch reglementierten Ernährungszwangswirtschaft manifestiert hat; in verfassungspolitischer Hinsicht eine stärkere Ökonomisierung der Politik durch Einführung einer zweiten, berufsständischen Kammer sowie gleichzeitig eine Reduktion des Zentralstaates zugunsten eines föderalistischen Aufbaus, was sich sowohl gegen das Reich als auch gegen Preußen richtet, das sich Schleswig-Holstein einverleibt hat 44 ; und in gesellschafts- und allgemeinpolitischer Hinsicht eine Sistierung der massendemokratischen Umdeutung des Liberalismus, die dem Hineinwirken eines fremden, „jüdischen“ Elements angelastet wird. „Nicht die moderne zentralistische Massendemokratie, in der Juden durch die Presse und das Kapital angeblich einen unangemessen großen Einfluß ausübten, sollte das politische Ordnungsprinzip Deutschlands sein, sondern die auf kleinen Gemeinschaften beruhende volksstaatliche Demokratie, in der Berufsstände, Regionen und Volksstämme je eigene Entscheidungen trafen.“ 45 Eine ausgefeilte antisemitische Doktrin mag mit diesen Anschauungen nicht verbunden gewesen sein, doch zeigt sich klar genug jenes Deutungsschema, das auch in anderen Zusammenhängen den Übergang einzelner Segmente des alten Mittelstands vom Liberalismus zum völkischen Denken bestimmt – in diesem Fall freilich mit der besonderen Nuance, daß auch der nationale Staat, obzwar nicht negiert, so doch deutlich abgeschwächt wird. 46 Rudolf Heberle hat dies schon 1934 sehr genau gesehen, als er die Landespartei als „eine durch die Verneinung der Revolution von 1918 modifizierte und von der DDP unterschiedene Nachfolgerin des Freisinns“ charakterisierte, als Vertreterin einer „völkisch-mittelständische(n) Ideologie“, die das „Substrat für den späteren Aktivismus der Landvolk-Bewegung und der NSDAP“ geworden sei. Sie selbst allerdings habe aufgrund ihrer quietistischen, auf Selbstbesinnung und Verinnerlichung der Lebensführung zielenden Grundstimmung, die eher in Richtung Antipolitik wies, 41

Wulf 2003, S. 153. Vgl. Rietzler 1982, S. 95. 43 Vgl. Thyssen 1958, S. 352 f.; Wulf 2003, S. 156. 44 Vgl. Rietzler 1982, S. 97; Heberle 1963, S. 141 f. 45 Wulf 2003, S. 159. 46 Bei einzelnen Wortführern der Landespartei kann sich das regionale Sonderbewußtsein allerdings vorübergehend bis zum Verlangen nach politischer Sezession aus dem Nationalstaat steigern – so etwa bei Paul v. Hedemann-Heespen, der im Frühjahr 1919 für eine Rückkehr SchleswigHolsteins zur Personalunion mit Dänemark plädiert, damit allerdings wenig Widerhall findet. Vgl. Schmidt 1956, S. 136. Hedemann gehört vor 1914 zu den profiliertesten Verfechtern des Heimatschutzes in seiner Region: vgl. Paul v. Hedemann-Heespen (Hrsg.): Sechs Jahre Arbeit des Schleswig-Holsteinischen Landesvereins für Heimatschutz 1908–1914, Lübeck 1915. 42

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diesen Übergang nicht zu vollziehen vermocht. 47 Schon bei den Reichstagswahlen von 1921 erhält sie nur noch 3,8 % der Stimmen, um bis 1924 auf 0,8 % abzusinken. Ihr Erbe tritt in Schleswig-Holstein zunächst die DNVP, später die NSDAP an. 48 Entsprechungen zur Landespartei finden sich, wie bereits angedeutet, auch in anderen Regionen, so im ehemaligen Königreich Hannover in der Deutsch-Hannoverschen Partei (DHP), die zwar bereits seit 1869 existiert, jedoch nach 1918 sowohl in regionaler als auch in sozialer Hinsicht einen Umbau erfährt 49 : sie verlagert ihren Schwerpunkt aus dem mittlerweile industrialisierten welfischen Kernland in die (zuvor stark antiwelfisch ausgerichteten) Agrargebiete des Regierungsbezirks Stade, und sie wird aus einer überwiegend vom Adel geführten Partei zu einer Partei des ländlichen und städtischen Mittelstands, die von einer bürgerlichen Führungsschicht beherrscht wird. Ihr programmatisches Hauptziel, die Schaffung eines von Preußen unabhängigen Landes Hannover, wird in enger Anlehnung an den Niedersachsengedanken begründet, findet aber bei der Vorabstimmung von 1924 nicht den erforderlichen Zuspruch: nur ein Viertel statt des erforderlichen Drittels der Wählerschaft setzt sich für einen Volksentscheid ein. 50 In der Folgezeit unterstützt die DHP die Regierungen der bürgerlichen Mitte und die Präsidialregime, büßt dabei aber immer weitere Anhänger ein. 1932 ist ihr Stimmenanteil auf 2,5 % gesunken. 51 Deutlich erfolgreicher agiert dagegen der 1919 gegründete Thüringer Landbund (TLB), der schon 1920 mit einer eigenen Liste zu den Parlamentswahlen kandidiert und „als stärkste Fraktion des bürgerlichen Lagers“ in den Landtag einzieht. Als erklärte agrarische Interessenpartei ist der TLB ab 1924 an allen Landesregierungen beteiligt und stellt zwischen 1930 und 1932 sogar den Regierungschef. Zur christlich-nationalen Ausrichtung gesellt sich dabei von Anfang an eine völkische Komponente, die sich ideologisch an der Verbindung von Mittelstandsprogrammatik, Nationalismus und Kritik der kapitalistischen Massenkultur und organisatorisch an der Verflechtung mit völkischen Verbänden ablesen läßt. 52 In Franken gründen im Dezember 1918 die Repräsentanten verschiedener Mittelstandsvereinigungen und des BdL, die zuvor konservativ oder nationalliberal gewählt haben, die Bayerische Mittelpartei (BMP), die sich gleichermaßen gegen den ‚internationalen spekulativen Großkapitalismus‘ wie gegen den revolutionären Sozialismus wendet, im weiteren auch Vorbehalte gegen das demokratische Wahlrecht und die Dominanz Preußens erkennen läßt. 53 Die Kritik an der 47

Heberle 1963, S. 99, 147, 145. Vgl. Wulf 2003, S. 160 f. 49 Vgl. Heberle 1963, S. 141. Zur DHP und ihren Ähnlichkeiten mit der Schleswig-Holsteinischen Landespartei vgl. Noakes 1971, S. 112 ff. Knapper Überblick bei Fricke 1986, Bd. 4, S. 482 ff. 50 Vgl. Prilop 1954; Aschoff 1987, S. 329 ff. 51 Vgl. Aschoff 1987, S. 336 f. 52 Vgl. Dressel 1998, S. 11, 41, 30. 1924 gründet sich zum Beispiel auf Initiative des Landbundes und in dessen Zentrale eine Arbeitsgemeinschaft vaterländisch-völkischer Berufs- und Gesinnungsverbände im Lande Thüringen. 53 Vgl. Programm der Bayerischen Mittelpartei (Deutsch-Christliche Volkspartei) vom 10. Dezember 1918, in: Kiiskinen 2005, S. 426–429. Zur Gründung vgl. ebd., S. 38 ff.; Fenske 1969, S. 68 ff.; Striesow 1981, Bd. 1, S. 216 f., 230. 48

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Zwangswirtschaft und das nachdrückliche Eintreten für die „Wiedererstarkung und Hebung des Mittelstandes in Stadt und Land“ entspricht der Bejahung der ersten Moderne; die reflexive Modernisierung dagegen wird in typisch völkischer Manier dem Judentum zugeschrieben und dessen gesetzliche Ausschaltung aus dem politischen Leben verlangt. 54 Daß dies auch für die Zugehörigkeit zur BMP gilt, macht die Satzungsänderung vom 10. Dezember 1918 klar, die den Parteinamen durch den Zusatz „Deutsch-christliche Volkspartei“ ergänzt. 55 Bei den Wahlen zur Nationalversammlung erringt die BMP 6,3 %, in Mittel- und Oberfranken 14,8 % beziehungsweise 9,5 %. 56 In den katholischen Regionen Ober- und Niederbayerns wirken die Nähe zum BdL wie auch die Tatsache, daß evangelische Pfarrhäuser zu den stärksten Stützen und Multiplikatoren der BMP zählen 57 , zunächst als Wahlhemmnis, doch gelingt es der Partei, durch Mitarbeit in den Einwohnerwehren und vor allem durch enge Kooperation mit dem DSTB Terrain zu gewinnen. Im November 1919 schließt sich der durch zahlreiche Querverbindungen mit dem DSTB verflochtene Deutschnationale Volksverein in München der BMP an und verstärkt dadurch den völkisch-antisemitischen Einschlag; mit ungefähr 2500 Mitgliedern macht die Münchner Ortsgruppe bald ein Viertel der Gesamtpartei aus und kann, nicht zuletzt auch aufgrund ihrer Nähe zum Regierungssitz, erheblichen Einfluß ausüben. 58 Der vor allem aus finanziellen Erwägungen vollzogene Anschluß an die DNVP im März 1920 relativiert dies allerdings wieder und führt zu wachsenden innerparteilichen Spannungen, die im November 1922 mit der Abspaltung der Münchner Gruppe um von Xylander und der Gründung eines „Völkischen Blocks“ enden, der im April 1924 die DNVP überflügelt. 59 Bemerkenswert ist jedoch, daß die Grenze zwischen Deutschnationalen und Völkischen in Bayern weit durchlässiger bleibt als im übrigen Reich. Schon bei den Dezemberwahlen von 1924 gewinnt die DNVP einen großen Teil der völkischen Wähler wieder, und auch von Xylander selbst findet 1926 den Weg zurück in die

54 So heißt es in den Blättern der Bayerischen Mittelpartei Nr. 14 vom 7. 12. 1919, S. 85: „Die Bayerische Mittelpartei steht auf dem Boden des Deutschen Volkstums und der deutschen idealistischen Weltanschauung. Sie ist bestrebt beide mit allen Kräften zu fördern und kämpft deshalb gegen jeden zersetzenden undeutschen Geist. Das Judentum ist ein nach Bluts- und Geistesart durch seinen eigenen Willen abgeschlossener völkischer Fremdkörper. Daher verlangt die Bayerische Mittelpartei eine ausschließlich deutsche Leitung unserer gesamten politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Angelegenheiten; sie wendet sich entschieden gegen die Vorherrschaft des Judentums, die seit der Revolution immer verhängnisvoller hervortritt, und fordert Maßnahmen gegen Zuwanderung des kulturell tief unter dem deutschen Volke stehenden Ostjudentums“ (zit. n. Kiiskinen 2005, S. 48). 55 Vgl. Striesow 1981, Bd. 1, S. 227 f., 219; Bd. 2, S. 593. 56 Vgl. Kiiskinen 2005, S. 489. 57 Vgl. Kittel 1996, S. 867. 58 Vgl. Kiiskinen 2005, S. 46, 64 f. Zu den prominenten Schutz- und Trutzbündlern in der BMP zählen Oberst von Xylander, Rudolf Buttmann, Paul Tafel sowie wahrscheinlich auch der spätere bayerische Justizminister Christian Roth. 59 Der Völkische Block erzielt bei den bayerischen Landtagswahlen 17,1 % und wird damit drittstärkste Partei, nur 0,2 Prozentpunkte hinter der zweitstärksten Partei, der SPD. Die Vereinigte Nationale Rechte dagegen, eine Listengemeinschaft von DNVP und DVP, erhält nur 9,4 %: vgl. Kiiskinen 2005, S. 244 f.

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DNVP. Erst die Abspaltung des Landbundes Ende der 20er Jahre leitet den Niedergang der DNVP ein, der 1930 im Verlust von drei Vierteln der noch 1928 erzielten Stimmen kulminiert. 60

60

Vgl. ebd., S. 189, 301, 349.

5. Völkische in der DNVP Das (Wieder-)Erstarken der völkischen Bewegung begünstigt auch in der DNVP Bestrebungen, auf eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen altem und völkischem Nationalismus zu drängen. Der neuralgische Punkt, an dem beide Strömungen immer wieder aneinander geraten, ist dabei nicht zufällig der Antisemitismus, genauer: die Stellung zum radikalen Antisemitismus, der schon im Kaiserreich die Grenzlinie zwischen liberal-konservativen und völkischen Nationalisten markiert hat. Nicht daß die ehemaligen Deutsch- und Freikonservativen beziehungsweise Nationalliberalen, die die Führungsspitzen der DNVP besetzen, generell den Antisemitismus abgelehnt hätten. Nicht wenige von ihnen, wie zum Beispiel der spätere Parteiführer Westarp, teilen die Ansicht, daß das Judentum als „Fremdvolk“ zu gelten habe, das mittels Verbreitung internationalistischer Ideologien wie des marxistischen Sozialismus und der kosmopolitischen Demokratie die Vorherrschaft in Deutschland gewonnen und damit die unvermeidliche antisemitische Reaktion selbst verschuldet habe. 1 Ihren Ausdruck findet diese Einstellung in der Entschließung des Hauptvorstandes vom 13. 10. 1919, mit der sich die DNVP als auf dem Boden des deutschen Volkstums stehend präsentiert und den Kampf „gegen jeden zersetzenden undeutschen Geist“ ankündigt, „mag er von jüdischen oder anderen Kreisen ausgehen. Sie (scil. die DNVP, S. B.) wendet sich besonders gegen die Vorherrschaft des Judentums, die seit der Revolution in Regierung und Öffentlichkeit immer verhängnisvoller hervortritt.“ 2 Sobald es sich freilich darum handelt, diese allgemeine Einstellung in politische Forderungen zu übersetzen, zeigt sich, daß die Mehrheit der Partei nicht bereit ist, über einen gemäßigten Antisemitismus hinauszugehen. Mit Rücksicht auf potentielle jüdische Wähler zumal in den östlichen Grenzgebieten, aber auch und vor allem auf mögliche Koalitionspartner zieht man es vor, den Antisemitismus nicht zu scharf herauszustellen und sich gegen die entsprechenden Forderungen zu sperren, die vom völkischen Flügel in immer neuen Kampagnen vorgetragen werden. So lehnt Westarp nicht nur Gewalttaten gegen Juden ab (was ihn noch nicht unbedingt vom Radikalantisemitismus unterscheidet), er weist auch das Verlangen nach einem Arierparagraphen für die Parteimitgliedschaft zurück. Die antisemitische Stellungnahme der DNVP, erläutert er im November 1919 in einem Artikel für die Kreuzzeitung, richte sich „weder gegen die jüdische Religion, noch gegen die staatsbürgerliche Gleichheit der Juden und gegen deren Ansprüche auf

1 Vgl. Striesow 1981, Bd. 1, S. 150. Vgl. in diesem Sinne auch die späteren Erinnerungen von Kuno Graf Westarp: Konservative Politik im Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, bearb. von Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen, Düsseldorf 2001, S. 139 ff. Eine ausführliche Darstellung des Antisemitismus in der Führungsriege der DNVP gibt für die Anfangszeit der Partei Bernd 2004. 2 Zit. n. Striesow 1981, Bd. 1, S. 145.

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Achtung ihrer Persönlichkeit“. 3 Anders gesagt: der deutschnationale Antisemitismus soll kompatibel sein mit den zentralen Bauprinzipien eines modernen Rechtsstaates und darüber hinaus die Manövrierfähigkeit der DNVP im politischen System der Weimarer Republik nicht beeinträchtigen. Genau hier setzt die völkische Kritik den Hebel an. Der radikale Antisemitismus ist für sie gewiß nicht nur Mittel zum Zweck, wie das einschlägige Schrifttum seit den Anfängen der Bewegung lehrt. Er ist es aber immer auch, und nach 1918 ganz besonders. Seine Akzentuierung eignet sich hervorragend, um die DNVP im Parteienspektrum zu isolieren und diejenigen Kräfte in ihr zu stärken, die auf Systemopposition setzen, auf die Absage an die gesamte, mit den Vokabeln „Weimar“ und „Versailles“ bezeichnete Ordnung; und sie ist überdies ein Mittel, „um die Masse der DNVP-Mitglieder gegen die Parteiführung zu mobilisieren“ 4 und auf diese Weise die Hegemonie des alten Nationalismus über den völkischen zu brechen. Schon im April 1919 verlangen die bis dahin wenig zum Zuge gekommenen Repräsentanten des völkischen Flügels vom Parteivorstand eine klare Stellungnahme in der Judenfrage, das heißt ein Bekenntnis zu radikalantisemitischen Zielen. 5 Das kann zwar mit Vertagungen und Formelkompromissen für einige Zeit hinausgezögert werden, doch wächst seitdem die Opposition. In Berlin gründen Publizisten der äußersten Rechten wie Reinhold Wulle, Richard Kunze, Jürgen von Ramin und andere einen Deutschvölkischen Arbeitsring, um (radikal-)antisemitische Kandidaturen in der DNVP durchzusetzen und eine entsprechende Propaganda zu fördern. 6 Aus diesem Kreis werden bald darauf heftige Angriffe gegen den Einfluß der Alldeutschen in DNVP und DSTB vorgetragen, die sich noch verschärfen, als Wulle Ende 1920 seinen Posten als Hauptschriftleiter der alldeutschen Deutschen Zeitung aufgeben muß. 7 Dies ist der Anfang eines anhaltenden Konfliktes zwischen den Alldeutschen und den Deutschvölkischen, die später nicht nur den ADV verlassen, sondern in ihren Hochburgen zahlreiche alldeutsche Ortsgruppen zerschlagen. Wulle verfaßt 1923 gar eine Anklageschrift gegen Heinrich Claß, die diesem vorwirft, auf die Zerstörung der völkischen Bewegung hinzuarbeiten und dafür Geld aus den USA zu erhalten. 8 Wie groß das Selbstbewußtsein der Völkischen und ihr Anspruch auf angemes3

Zit. n. ebd., S. 152. Ebd., S. 101. 5 Vgl. ebd., S. 114. 6 Vgl. ebd., S. 241; Lohalm 1970, S. 258. Reinhold Wulle (1882–1950) leitet von 1918 bis 1920 die Deutsche Zeitung; Richard Kunze (s. o.) das Deutsche Wochenblatt und Jürgen von Ramin (1884– 1962) das Ringende Deutschtum. 7 Vgl. Hering 2003, S. 475. Als neues Forum fungiert für die Deutschvölkischen zunächst 1921, dann wieder, nach zeitweiliger Unterbrechung, ab April 1923, Das Deutsche Tageblatt, (Herausgeber: Hans Stelter, Reinhold Wulle), das bis Juli 1929 erscheint und danach durch die ebenfalls von Wulle herausgegebenen, aber nur mehr wöchentlich erscheinenden Deutschen Nachrichten ersetzt wird. Die wichtigsten allgemeinpolitischen Artikel aus dem Deutschen Tageblatt finden sich auch in der von Albrecht von Graefe mitbegründeten Mecklenburger Warte / Rostocker Zeitung, auf die im folgenden wegen der besseren Zugänglichkeit zurückgegriffen wird. 8 Vgl. Hering 2003, S. 476. Vgl. Albrecht v. Graefe-Goldebee: Deutscher Kampf oder Geheimbündelei, in: Mecklenburger Warte / R.Z. 17, 1923, Nr. 169; H. E.: Herr Justizrat Claß, der Steuermann des Habsburg-Kurses im Alldeutschen Verband, ebd. 18, 1924, Nr. 72; J. Bucher: Der Alldeutsche Verband und wir Völkischen, ebd., Nr. 93. 4

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sene Repräsentanz in den Verbänden und Parteien der Rechten inzwischen geworden ist, zeigen die Ereignisse der Jahre 1921 und 1922. Im April/Mai 1921 beginnt Ludwig Müller von Hausen mit seinen bereits erwähnten Enthüllungsartikeln über den DSTB, die dessen geheime Nebenorganisation, den „Bund“, als eine Gründung von Freimaurern darstellen. Unterstützung erhält er von völkischen Organisationen wie dem Deutschen Herold in Mitteldeutschland und dem Wälsungen-Orden in Thüringen, die die Führung durch Roth und Hertzberg attackieren und sich Reinhold Wulle anschließen wollen. 9 In der Führungsspitze des DSTB brechen ebenfalls heftige Auseinandersetzungen aus, als Ferdinand Werner im Frühjahr 1921 ultimativ die Ausschaltung des geheimen diktatorischen Leiters verlangt und sich für eine neue kollegiale Führung stark macht. Die kategorische Ablehnung dieser Forderung durch Roth, Gebsattel und Hertzberg veranlaßt Werner, fortan auf Obstruktion zu setzen und sich Plänen einer neuen Gesamtorganisation innerhalb der völkischen Bewegung sowie der Gründung einer neuen völkischen Partei zuzuwenden. Der endgültige Bruch, der zugleich das Ende des DSTB einleitet, kommt auf dem Deutschen Tag in Coburg im Oktober 1922, als Hertzberg Werner und Wiegershaus ihrer Ämter enthebt und zugleich deren Verbündete, Fritsch und Dinter, als nicht mehr dem Gesamtvorstand zugehörig erklärt. 10 Auch in der DNVP verstärken die Völkischen seit dem Herbst 1921 ihren Druck auf die Parteiführung. Nur mit knapper Not kann diese im November einen Vorstoß von Wulle in Richtung eines Judenausschlußparagraphen abwehren, muß aber zur Kenntnis nehmen, daß die DNVP-Fraktion im Preußischen Landtag bereit ist, alle Angehörigen der jüdischen Religionsgemeinschaft aus der Partei auszuschließen. 11 Als nach dem Mord an Rathenau der Reichstagsabgeordnete und ehemalige Generalstabsoffizier Wilhelm Henning (1879 – ?) wegen belastender Äußerungen die Fraktion verlassen soll, solidarisieren sich ganze Landesverbände mit ihm. Zwei weitere Abgeordnete, Reinhold Wulle und Albrecht von Graefe (1868–1933), verlassen ebenfalls die Fraktion. 12 Zwar gelingt es der Parteileitung in den folgenden Wochen, die Fraktionsrebellen zu isolieren, doch bewirkt die beharrliche Betonung der Gemeinsamkeit hinsichtlich des „völkischen“, genauer: antisemitischen Standpunkts, daß die Dissidenten zunehmend klarer machen, was sie sonst noch von der Parteimehrheit trennt. Im August 1922 greift der Hammer die „Halbseidenen“ in der Parteiführung massiv an und insinuiert, sie hingen an geheimen Fäden der „unehrlichen Welt-Regisseure […], die nicht zulassen, daß das politische Theater gestört wird“, was nichts anderes heißt, als daß sie von Juden gesteuert würden. Daran schließt sich der Vorwurf an, der DNVP fehle „die volkstümliche Ader, ja sichtlich überhaupt die rechte Fühlung mit der Volksseele. Eine gewisse alt-konservative Verknöcherung und wohl auch ein Stück Junker-Hochmut machte sich hier und da fühlbar. Wir brauchen aber

9

Vgl. Lohalm 1970, S. 259; Striesow 1981, Bd. 1, S. 286 f. Vgl. Lohalm 1970, S. 266, 269 f. 11 Vgl. Striesow 1981, Bd. 1, S. 334, 314. 12 Vgl. die Austrittserklärung in: Mecklenburger Warte / R.Z. 16, 1922, Nr. 168. 10

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eine wirklich volkstümliche Partei, die vor allem auch den einsichtigen Teil der betrogenen Arbeiter zu gewinnen vermag.“ 13 Denselben Vorwurf erhebt der Reichswart, der die mangelnde Werbekraft des deutschnationalen Programms „in der Arbeiterwelt und in der der kleinen Angestellten“ moniert und die DNVP als „eine Partei des Kapitalismus“ charakterisiert. 14 Albrecht von Graefe, von Fritsch namentlich zum Handeln aufgefordert, nimmt diese Vorlage auf. Am Vorabend des Parteitages in Görlitz greift er in einer Rede vor seinen Anhängern den „Großkapitalismus“ an und dehnt wenig später seine Polemik auch auf die Parteileitung von Hergt und Helfferich aus, die, als Vertreter der ‚kapitalistisch-materialistischen‘ Richtung in der DNVP, die Banken und die Schwerindustrie ‚nicht vor den Kopf stoßen‘ wollten und in diametralem Gegensatz zur ‚idealistisch-völkischen Richtung‘ in der Partei stünden. 15 Das heißt offen auszusprechen, was auf der Gegenseite schon seit längerem geargwöhnt wird: daß es nicht nur um die Rechte der Juden geht, sondern um die Stellung zu der 1919 geschaffenen politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Ordnung. Schon im August 1921 hatte der Landesvorsitzende von Ost-Hannover, Heinrichs, in einem Brief gewarnt, „die ganze Geschäftswelt und namentlich die Großindustrie, der Großhandel und vor allem die Großbanken“ würden im Falle eines Sieges der Radikalantisemiten der DNVP den Rücken kehren, da sie „sich nicht ausschließlich auf die Opposition und die Negation einstellen“ könnten. 16 Tatsächlich sind es dann allerdings die Völkischen, die der DNVP den Rücken kehren – oder genauer: die Gefolgschaft der drei Reichstagsabgeordneten Wulle, Graefe und Henning 17, die keineswegs sämtliche Völkischen umfaßt, die 1918 der Partei beigetreten sind. Als die Gründung einer Deutschvölkischen Arbeitsgemeinschaft innerhalb der Partei im September 1922 auf den entschiedenen Widerstand der Führung stößt, die eine Partei in der Partei nicht akzeptieren will, beschließt die Gruppe um Wulle im November 1922 die Verschmelzung ihrer Organisation mit dem Deutschvölkischen Freiheitsbund, den der Kapitänleutnant a. D. Graf Ernst Reventlow (1869–1943), selbst kein Mitglied der DNVP, kurz zuvor mit dem ausdrücklichen Ziel gegründet hat, unzufriedene Völkische zum Verlassen der DNVP zu bewegen. 18 Nach dem Beitritt weiterer Verbände wie 13 Theodor Fritsch: Zur Scheidung in der deutsch-nationalen Volks-Partei, in: Hammer 21, 1922, H. 484. 14 [o. V.]: Deutschnational – Deutschvölkisch, in: Reichswart 3, 1922, Nr. 31; [o. V.]: Deutschvölkische Politik, ebd., Nr. 41. 15 Vgl. Der Kampf um Wahrheit und Recht. Reichstagsabgeordneter v. Graefe und der völkische Gedanke, in: Mecklenburger Warte / R.Z. 16, 1922, Nr. 258. 16 Zit. n. Striesow 1981, Bd. 1, S. 303. 17 Striesow schätzt den Anhang der drei Rebellen auf dem Görlitzer Parteitag auf etwas weniger als ein Fünftel: vgl. ebd., Bd. 2, S. 681. 18 Zur Gründung der Deutschvölkischen Arbeitsgemeinschaft vgl. den Bericht in: Mecklenburger Warte / R.Z. 16, 1922, Nr. 254; zum Deutschvölkischen Freiheitsbund, der seinen Schwerpunkt im Hamburger und Berliner Raum hat, vgl. Reichswart 3, 1922, Nr. 41. Als Mitglieder des Gründungsausschusses werden dort u. a. genannt: Artur Dinter, Karl Fahrenhorst, Eberhard König sowie Hans Stelter als politischer Leiter. Zu Reventlow, der nach einer Zeit als Redakteur bei den Alldeutschen Blättern (1908–1914) und der Deutschen Tageszeitung (1914–1920) 1920 eine eigene Wochenschrift gründet, den bis zu seinem Tod erscheinenden Reichswart, vgl. die leider nicht über das Kaiserreich hinausgeführte Monographie von Boog 1965.

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dem Deutschen Herold, dem Völkischen Arbeiterbund und dem Völkischen Rechtsblock in Bayern wird im Dezember 1922 die Trennung von der DNVP auch formell vollzogen und die Gründung der Deutschvölkischen Freiheitspartei (DVFP) bekannt gegeben. 19 Ihr schließt sich allerdings kein einziger Landesverband und kaum eine Ortsgruppe der DNVP an, so daß die neue Partei sich nicht auf eine bereits vorhandene Organisationsstruktur stützen kann. 20 Entsprechend bescheiden fallen die ersten Wahlergebnisse auf Reichsebene im Mai 1924 für die neue Partei aus. Nur in Franken und Oberbayern-Schwaben vermag sie an der DNVP vorbei- und in Mecklenburg knapp mit ihr gleichzuziehen, während sie überall sonst, speziell im agrarisch-protestantischen Milieu Ostelbiens, weit abgeschlagen hinter ihr zurückbleibt. 21 Die Sorge um den politischen Erfolg veranlaßt die völkische Deutungselite, das eigene Profil so scharf herauszuarbeiten wie selten zuvor. In der Tradition, einem Organ, das sich die „Paarung der konservativen beziehungsweise preußischen Staatsidee mit der deutschvölkischen Anschauungswelt“ zur Aufgabe gemacht hat 22 , wendet sich der Herausgeber dagegen, den Konflikt auf die unterschiedliche Haltung in der Judenfrage zu reduzieren und hebt statt dessen die Wandlung der DNVP von einer Rechts- zu einer Mittelpartei hervor; diese Wandlung habe es bewirkt, daß es heute eigentlich kaum mehr eine Frage des öffentlichen Lebens gebe, „in der die Völkischen sich mit der grundsätzlichen oder taktischen Haltung der Deutschnationalen einverstanden erklären könnten.“ 23 Im gleichen Blatt begründet Wulle seinen Beitritt zur Deutschvölkischen Freiheitspartei mit der Diskrepanz, die bei den Deutschnationalen zwischen systemfeindlicher Rhetorik und faktischem Verzicht auf das „Mittel der Obstruktion“ bestehe. Das Wesen der völkischen Politik liege darin, „daß wir mit rücksichtsloser Klarheit alles Undeutsche in Deutschland bekämpfen und durch Deutsches, Völkisches ersetzen. Völkische Politik verlangt daher rücksichtslosen Kampf gegen das ganze neudeutsche System“, verlangt vor allem auch den Verzicht auf ‚positive Mitarbeit‘. 24 19

Vgl. Reichswart 3, 1922, Nr. 51; Mecklenburger Warte / R.Z. 16, 1922, Nr. 297. Vgl. Striesow 1981, Bd. 1, S. 410, 415. 21 In Ostpreußen erzielt die DVFP 8,6 %, in Potsdam I 5,8 %, in Frankfurt/Oder 5,0 %, in Pommern 7,3 %: vgl. Falter u. a. 1986, S. 69. 22 Franz Sontag: An die Leser und Freunde der „Tradition“, in: Die Tradition 4, 1922/23, H. 27. Der Schriftsteller Franz Sontag (1883–1961) war von 1911 bis 1913 Redakteur der Alldeutschen Blätter und anschließend bis 1917 Geschäftsführer des ADV. 1919 gründet er die Monatsschrift Die Tradition, aus deren Leitung er sich im März 1922 vorübergehend zurückzieht, um für die neuen Blätter Reinhold Wulles tätig zu sein. Von Wulle trennt er sich jedoch bereits 1923 wieder, als dieser gegenüber dem ADV und den übrigen „vaterländischen Verbänden“ auf Konfrontationskurs geht: vgl. die von Sontag zusammengestellte Broschüre: Deutschvölkische Freiheitspartei und vaterländische Bewegung, o. O., o. J. (Dezember 1923), in: BArch R 8034/I. Spätere Wirkungsfelder sind die Bergisch-Märkische Zeitung und das Verbandsorgan des Stahlhelm (Hering 2003, S. 25, 185). 1930 veröffentlicht er unter dem Pseudonym Junius Alter das Buch Nationalisten. Deutschlands nationales Führertum der Nachkriegszeit (Leipzig), das u. a. auch Porträts von Graefe, Wulle und Reventlow enthält. 23 Franz Sontag: Die deutschvölkische Freiheitspartei, in: Die Tradition 4, 1922/23, H. 34. 24 Reinhold Wulle: Warum ich mich der deutschvölkischen Freiheitspartei angeschlossen habe? Ebd., H. 35. Vgl. bereits Albrecht v. Graefe-Goldebee: ‚Positive Mitarbeit‘ und ‚Oppositionspolitik‘, ebd., 3, 1921/22, H. 31. 20

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Noch schärfer markiert der Hammer die Gegensätze. Während Theodor Fritsch sich zunächst damit begnügt, der DNVP-Führung vorzuhalten, sie betreibe die Geschäfte der Juden25 , macht Walther Kramer den Unterschied in zwei Dimensionen fest: Die „Nationalen“ oder auch „Alt-Nationalen“ seien auf einen geographischen und wirtschaftlichen Inkrementalismus ausgerichtet, der sie jede Riesenbrücke, jeden neuen Großdampfer und jede Erweiterung der Großstädte als Fortschritt begrüßen lasse, wogegen die Völkischen alles daran mäßen, ob es mit der „Seele“ des deutschen Volkes vereinbar sei; ebenso lehne man es ab, wie die „Nationalen“ die Nation in ständisch-exklusivem Sinne auf die besitzenden und gebildeten Schichten zu beschränken, wodurch das Nationale in Gegensatz zum Sozialen gerate und „Anreiz zum Klassenkampf“ gebe. „Der Nationale ist eben zuerst Standesmensch: Geheimrat, Akademiker, Fabrikant, Gebildeter, und dann – ganz nebenbei – ist er auch noch Deutscher, aber beileibe nicht etwa Volk. Damit will er am liebsten nichts zu tun haben. ‚Abstand wahren‘ war das beliebte Sprichwort derjenigen, für die der Mensch erst beim Leutnant und der gesellschaftsfähige Mensch erst beim Akademiker anfing. Diese geistig armselige Gesellschaft ist es gewesen, die durch Dummheit und Dünkel den Krieg verloren hat. Wir Völkischen sind zuerst Volk, sind mit Leib und Seele Deutsche, und vergessen dabei fast, daß wir – ganz nebenbei – auch noch Kaufmann, Landwirt, Beamter, Generalfeldmarschall oder – ‚Tapezierergehilfe‘ sind.“ 26 Theodor Fritsch gefällt dieser Gedankengang so gut, daß er mehrfach auf ihn zurückkommt und noch im Mai 1926 seine Kritik am Alldeutschen Verband darauf aufbaut. „Völkisch“, so seine Version, „bedeutet uns zugleich auch volkstümlich, volksmäßig, volkseinheitlich. Das Völkische will nicht nur Partei-Gegensätze, sondern auch Klassen- und Standes-Gegensätze überbrückt sehen. Es will die Volks-Gemeinschaft, gegründet auf Blut und einheitliche Geistesart.“ 27 Solche Formulierungen müssen freilich stets auf Fritschs mittelstandsideologisches Fundament bezogen werden, um den Grad an Inklusionsbereitschaft nicht zu hoch anzusetzen. Über dem Prinzipienstreit gilt es überdies nicht aus den Augen zu verlieren, daß die Sezession in der politischen Wirklichkeit keine absolute Trennung des völkischen vom alten Nationalismus bedeutet. Das gilt weder für die DVFP, der man schon bald vorhalten wird, die Eierschalen des alten Nationalismus nicht vollständig abgestreift zu haben (vgl. den nächsten Abschnitt), noch für die DNVP, die sich zumindest bis 1928 alle Mühe gibt, auch für das völkische Spektrum wählbar zu sein. Als Wulle in einer Kampfschrift seinen Austritt damit begründet, daß die DNVP „von A bis Z nicht völkisch“ sei, läßt die Hauptgeschäftsstelle verlauten, eine „zwingende Veranlassung, sich von der Fraktion und Partei zu trennen“, sei in Wulles völkischer Gesinnung nicht gegeben. 28 Wichtiger als die 25

Vgl. Theodor Fritsch: Deutsch-nationale Sonderbarkeiten, in: Hammer 23, 1924, H. 522. Walt(h)er Kramer: Was unterscheidet die Völkischen von den Nationalen, in: Hammer 23, 1924, H. 524. Ähnlich bereits ders.: Völkisch oder national, in: Hammer 20, 1921, H. 468. Walther Kramer (1881–1964) ist ein unehelicher Sohn von Theodor Fritsch: vgl. Schubert 2004, S. 63. 27 Theodor Fritsch: Der Alldeutsche Verband und der völkische Gedanke, in: Hammer 25, 1926, H. 573. 28 Zit. n. Striesow 1981, Bd. 1, S. 417. 26

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Unterschiede, heißt es in einer Informationsbroschüre für die örtlichen Führer, seien die Gemeinsamkeiten, vor allem die gemeinsamen Feinde, das Judentum und der Marxismus. 29 Auch die zu den Gegnern der Dissidenten zählende Deutsche Tageszeitung, das Organ des Reichslandbundes, betont, daß die Sezession „mit dem deutsch-völkischen Gedanken an sich nichts zu tun“ habe; die Grundeinstellung der DNVP sei und bleibe völkisch, weshalb auch die große Masse der Deutschvölkischen in ihr verbleibe. 30 Der Reichslandbund selbst verurteilt die Sezession als „parteivölkische Brunnenvergiftung“, die dem wahren völkischen Gedanken abträglich sei. 31 Tatsächlich schließen sich prominente Vertreter des völkischen Radikalantisemitismus wie Alfred Roth, Ferdinand Werner und Max Robert Gerstenhauer dem Schritt der Wulle-Gruppe nicht an. Gestützt auf einen nach wie vor beträchtlichen Anhang agitieren sie weiter auf der Linie des bekannten Kurses und erreichen es immerhin, daß nach längeren Kontroversen 1926 der Ausschluß von Juden aus der Partei in die Satzung aufgenommen wird; radikalere Apartheidsideen, die auf eine Rücknahme der Emanzipation zielen, bleiben allerdings auf interne Gremien wie den Völkischen Reichsausschuss bei der Parteileitung beschränkt und finden keinen Eingang in die offizielle Programmatik. 32 . Wie groß das Interesse 29 Vgl. Deutschnationales Rüstzeug, Heft Nr. 1: Die Deutschvölkische Freiheitspartei, Berlin 1924, S. 3. 30 Vgl. Striesow 1981, Bd. 1, S. 416 f. 31 Vgl. den nicht gezeichneten Artikel: Parteivölkische Brunnenvergiftung, in: Reichs-Landbund. Nachrichten der Bundeszentrale 4, 1924, Nr. 11. Ob man dem hier formulierten Anspruch, den wahren völkischen Gedanken zu vertreten, Glauben schenken soll, ist dagegen eine andere Frage. So groß in vielem die Schnittmenge mit dem in den völkischen Parteien zirkulierenden Gedankengut ist, so deutlich ist doch auch der instrumentelle Charakter, den dieses in den Forderungen und Verlautbarungen der Landbündler besitzt. „Politisch“, schreibt Wolfram Pyta, „vermochten die agrarischen Interessenten nur etwas mit dem ‚Volk‘ anzufangen, wenn es keine Ansprüche sui generis anmeldete und als Verlängerung landwirtschaftlicher Partikularinteressen zu instrumentalisieren war“ (Pyta 1996, S. 228). Ich würde darin allerdings weniger eine „dezidiert vorbürgerliche Sicht des ‚Volkes‘“ sehen (Pyta), als vielmehr eine subjektive Interessentenideologie im Sinne Alexander von Scheltings, bei der „ein bestimmtes Interesse und der Gedanke an die durch die Ideologie zu leistende soziale Funktion bewußterweise im Spiele ist“, im Unterschied zum genuinen Nationalismus, der eher in den Kreis der objektiven Ideologien gehört: vgl. Schelting 1934, S. 175. 32 Vgl. ebd., S. 421; von Gaertringen 1996, S. 172. Der Beschluß dieses Ausschusses vom 17. 2. 1924 verdient mitgeteilt zu werden, da er immerhin in Anwesenheit des Parteivorsitzenden Hergt gefaßt wird. „Die völkische Weltanschauung ist für die Politik der Deutschnationalen Volkspartei richtunggebend. Sie ist in unserer Geschichte und in der nordrassischen, uns von unsern germanischen Vorfahren überkommenen Eigenart unseres Volkes begründet. Der völkische Staat entwickelt sich aus dem Zusammenwirken aller gesunden, artgleichen Kräfte unseres Volkes und auf der bewußten Ablehnung alles Fremdblütigen, Jüdischen und Fremdartigen in Politik, Kultur und Wirtschaft. Entschlossenes Führertum mit persönlicher Verantwortung steht dem Massen- und Gleichheitswahn der westlichen Demokratien gegenüber. Deshalb fordern wir: 1. Deutschland ist von Deutschblütigen zu regieren! Die öffentliche Verwaltung in Reich, Ländern und Gemeinden ist deutsch zu gestalten. Nur Deutschblütige dürfen zur Wahl in eine Volksvertretung aufgestellt werden. Heerwesen, Rechtsprechung und Jugenderziehung müssen in die Hände von Deutschblütigen gelegt werden. 2. Die deutsche Familie ist von fremdrassigen Eindringlingen freizuhalten. 3. Die deutsche Kultur ist von fremdrassiger Gedankenwelt zu säubern und rücksichtslos zu reinigen. 4. Die deutsche Wirtschaft ist auf dem Grundsatz der freien Entfaltung der Persönlichkeit aufzubauen. Die Herrschaft des jüdischen Weltkapitals und die Reste der

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der Führung ist, die völkische Klientel bei der Stange zu halten, zeigen darüber hinaus einschlägige Flugschriften und Reden. Hans Schlange-Schöningen, der 1929 von der DNVP zur Christlich-Nationalen Bauern- und Landvolkpartei überwechseln wird, bringt 1924 eine Broschüre Wir Völkischen heraus und spricht vor Studenten über die Aufgaben völkischer Politik. Von einer am 3. 2. 1924 in Stettin gehaltenen Rede dieses Politikers urteilen die Abwehrblätter, sie habe „auf dem Gebiete der Judenhetze mit das ärgste dar(ge)stellt, was je überhaupt von Versammlungsrednern – auch die Deutschvölkischen nicht ausgenommen – geleistet worden ist.“ 33 Eine andere Flugschrift, verfaßt von Albrecht Philipp, ist überschrieben: Der völkisch-nationale Gedanke im Kampf mit der Republik. 34 Das Festhalten an der völkischen Semantik mag mit zu den Faktoren des erstaunlichen Erfolges gehören, den die DNVP in den Reichstagswahlen des Jahres 1924 verbucht. Im Mai entscheiden sich 19,5 %, im Dezember sogar 20,5 % für diese Partei und machen sie damit zur zweitstärksten Reichstagsfraktion hinter der SPD. Ein Blick auf die einzelnen Wahlkreise zeigt, daß der Erfolg vor allem dem Abstimmungsverhalten des ländlichen protestantischen Deutschland zu verdanken ist. Bei den Maiwahlen liegt Pommern mit 49,5 % an der Spitze (1920: 35,5 %), gefolgt von Frankfurt/Oder mit 40,5 % (1920: 27,7 %) und Ostpreußen mit 38,9 % (1920: 30,9 %). In industriell-großstädtischen Regionen wie Berlin, Westfalen-Süd und Düsseldorf-Ost liegt der Anteil nur bei 21,5 %, 12,3 % und 15,0 %. 35 Zu Recht wird der DNVP daher bescheinigt, zur „Milieupartei“, zur „‚Volkspartei‘ des evangelisch-ländlichen Deutschland“ geworden zu sein. 36 Näher besehen ist sie dies jedoch vor allem deshalb, weil sie bis 1925 als einzige größere Partei nicht an der Regierung beteiligt ist und sich dadurch vorzüglich als Auffangbecken für Protestströmungen aller Art eignet. Auf dem Agrarsektor sind dies die Landarbeiterverbände, die in den Anfangsjahren der Republik mit ungewohnter Vehemenz den Gutsbesitzern entgegentreten und in der DNVP erstmals eine politische Heimstätte finden, die regionalen Landbünde, in denen sich der bäuerliche und adlige Grundbesitz organisiert, sowie jenes caput mortuum der einstigen Deutschkonservativen Partei, das sich im sogenannten Hauptverein eine eigenständige Organisation bewahrt hat und sich schon bald als überaus lebendig erweist. 37 Was diese drei Gruppen in die Politik treibt, ist neben ihrem jeweiligen Sonderinteresse der Protest gegen vermeintliche oder reale Benachteiligungen der Landwirtschaft insgesamt, die aus so unterschiedlichen Faktoren wie der hohen Verschuldung, wachsendem Kostendruck, mangelnder Kreditwürdigkeit und nicht zuletzt: steigenden Belastungen durch Reichs- und Landessteuern einerseits, Sozialversicherungsbeiträge andererseits resultieren. 38 marxistischen Wirtschaft sind zu beseitigen und durch eine dem deutschen Volkscharakter entsprechende völkisch-soziale Wirtschaftsreform mit Beteiligung des deutschen Arbeiters am Werk seines Fleißes zu ersetzen.“ Zit. n. Abwehrblätter 34, 1924, Nr. 3/4. 33 Ebd. 34 Bibliographische Nachweise bei Striesow 1981, Bd. 1, S. 419. 35 Vgl. Falter u. a. 1986, S. 69. 36 Pyta 1996, S. 297. 37 Vgl. für die Landarbeiter die einschlägigen Arbeiten von Flemming 1974; 1978; 1983; für den Hauptverein Stegmann 1983. Eine gute Fallstudie für alle drei Gruppen bietet Hempe 2002. 38 Vgl. Bergmann und Megerle 1989.

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In den Jahren der Stabilisierung richtet sich dieser Protest weniger gegen die politische Ordnung als solche, als gegen bestimmte Politiken. Um diese zu ändern, drängen gerade die Landbünde die DNVP, sich an den Landesregierungen wie an der Reichsregierung zu beteiligen. 39 Als diese Beteiligung jedoch zu keinen spürbaren Erleichterungen führt, die Lage sich vielmehr mit der 1927 einsetzenden Weltagrarkrise dramatisch verschlechtert, löst sich die Interessenkoalition auf. In den Landbünden vermag man sich nicht mehr auf eine gemeinsame Wahlempfehlung zu verständigen, mit der Folge, daß sich die orientierungslos gewordenen Bauern an den Reichstagswahlen von 1928 vielfach nicht mehr beteiligen oder sogar zu außer- und antiparlamentarischen Aktionen übergehen, die sich auch gegen das Partei- und Verbandswesen richten. 40 In manchen Regionen wie etwa Schleswig-Holstein kostet dies die DNVP zehn Prozentpunkte, zwei Jahre später noch einmal weitere siebzehn Punkte, so daß die Partei 1930 auf den Status einer Splitterpartei reduziert ist. Selbst in sicheren Hochburgen wie Ostpreußen oder Pommern vermag sie 1930 nur mehr die Hälfte ihres einstigen Wählerpotentials zu mobilisieren, was vermutlich auf die Abkehr vieler Landarbeiter und Bauern zurückzuführen ist. 41 Auch in Mittel- und Süddeutschland kündigen viele Landbünde die Zusammenarbeit auf und wenden sich neuen berufsständischen Parteien wie der Christlich-Nationalen Bauern- und Landvolkpartei zu. 42 Die Folgen dieser Entwicklung werden in der Forschung gern unter der Überschrift „Radikalisierung des Konservatismus“ behandelt. Die Krise der gouvernementalen Politik habe den Raum für jene reaktionären Kräfte geöffnet, die sich 1918 nur vorübergehend von der politischen Bühne zurückgezogen hätten und nunmehr erneut ihren Führungsanspruch anmeldeten: die Kreise um Alfred Hugenberg, um den alldeutschen Verband und den konservativen Hauptverein. Mit der Wahl Hugenbergs zum Parteivorsitzenden habe eine ‚völkisch-schwerindustrielle Allianz‘ in der DNVP die Macht ergriffen und die Partei auf eine ‚sozialreaktionäre Konfrontationsstrategie‘ festgelegt, die schließlich mit Notwendigkeit in das Bündnis mit der NSDAP geführt habe. 43 Richtig an dieser Deutung ist: die DNVP verliert ab 1928 ihren Charakter als Milieupartei, und sie gerät unter die Kontrolle des intransigenten Parteiflügels, der auf „Systemveränderung“ zielt, nicht bloß auf neue Prioritäten in der Agrar-, Zoll- oder Steuerpolitik. Kennzeichnungen wie „Radikalisierung des Konservatismus“, „völkisch-schwerindustrielle Allianz“ oder „reaktionär“ verfehlen je39

Vgl. Pyta 1996, S. 299. Vgl. ebd., S. 98. Am bekanntesten ist die Landvolkbewegung in Schleswig-Holstein, die 1929 mit spektakulären Bombenanschlägen auf sich aufmerksam macht. In ihrer Zeitung, Das Landvolk, ist anfangs eine deutliche Gravitation in Richtung des neuen Nationalismus zu erkennen, wie er in den Kreisen um Kapitän Ehrhardt dominiert. Nach der Verhaftung wichtiger Führer der Bewegung gewinnt der völkische Nationalismus in der von Ludendorff vertretenen Variante die Oberhand, um alsbald von der NSDAP absorbiert zu werden: vgl. Bergmann und Megerle 1989, S. 238 ff.; Stoltenberg 1962; Beyer 1983. Zur Zeitschrift Das Landvolk vgl. Breuer und Schmidt 2002. 41 Vgl. Falter u. a. 1986, S. 71 f.; Pyta 1996, S. 304 f. Ausführlicher zu Pommern: Baranowski 1995, S. 146 f. 42 Vgl. Pyta 1996, S. 311 ff.; Merkenich 1998, S. 293; Müller 2001. 43 Vgl. Holzbach 1981, S. 216, 258. 40

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doch auf eigentümliche Weise den Kern des Wandels, den die DNVP unter Hugenberg erlebt. Statt einer Radikalisierung erfährt der Konservatismus eine weitere Marginalisierung, eine Verdrängung durch den alten Nationalismus, der weit mehr mit dem autoritären Liberalismus gemein hat als mit der Ideologie der societas civilis. 44 Von Reaktion kann man ebenfalls nicht sprechen, weil es den Großagrariern und Alldeutschen, die nun in der DNVP den Ton angeben, weder um die Restauration der Ständegesellschaft noch um die Rückkehr zu der in der Vergangenheit durchaus erfolgreichen, die Interessen aller Gruppen des ländlichen Milieus wahrnehmenden Politik geht, sondern um Klassenpolitik im engsten Sinne des Wortes. Diese bezieht sich zwar mit der Grundrente nicht eben auf den progressivsten Teil der deutschen Wirtschaft, setzt aber eine industriekapitalistische Ordnung voraus und ist auch insofern nicht reaktionär zu nennen. Eine konkrete Allianz mit einzelnen Verbänden dieser Industrie bedeutet dies freilich noch nicht. Während des Wahlkampfs von 1930 finden sich keine Spitzenfunktionäre der rheinisch-westfälischen und mitteldeutschen Schwerindustrie mehr im Lager Hugenbergs; dessen Agrarpläne, vor allem das auf eine weitgehende Entrechtung der Gläubiger zielende Entschuldungsprogramm, stoßen bei der Industrie auf so entschiedene Ablehnung, daß auch der Spendenfluß stark zurückgeht. Vor den Landtagswahlen in Preußen im April 1932 steht die DNVP am Rande des finanziellen Ruins und wird nur notdürftig mit Geldern am Leben erhalten, die Hugenberg seinen eigenen Wirtschaftsunternehmen entzieht. Erst bei den Novemberwahlen von 1932 öffnen sich die Schatullen der Industrie wieder, doch geschieht auch dies nicht in einem Umfang und mit so klaren Vorgaben, daß es gerechtfertigt wäre, von einer Allianz mit der Schwerindustrie zu sprechen. 45 Was schließlich den „völkischen“ Charakter angeht, den die DNVP in ihrer Endphase angenommen haben soll 46 , so beschränkt sich dieser auf einige Anleihen semantischer Art. Obwohl gerade Hugenberg von seiner kathedersozialistischen Schulung her durchaus bereit ist, dem kleineren und mittleren Eigentum entgegenzukommen, erscheint doch die von ihm geführte Partei allzu sehr als eine Klassenpartei des Großgrundbesitzes mit einem alldeutschen Zusatz 47 , als daß sie für die Massen der zunehmend standesbewußter agierenden Bauern und Landarbeiter wählbar sein könnte. Das Entschuldungsprogramm, das u. a. eine Ablösung durch Landabtretung vorsieht, begünstigt den Großgrundbesitz, desgleichen die vorgesehenen steuerpolitischen Erleichterungen48 ; die agrarpolitische Propaganda macht keinen expliziten Unterschied zwischen landwirtschaft44 Vgl. dazu aus unterschiedlichem Blickwinkel: Kondylis 1986, S. 504 ff.; Eley 1991, S. 223 ff.; Malinowski 2003, S. 175 ff. Thomas Mergel (2003, S. 323) spricht zu Recht von der Umformung zu einer rechtsradikalen Partei, unterlässt es aber, den genauen Charakter dieses Rechtsradikalismus näher zu bestimmen. 45 Vgl. Müller 2003, S. 202, 229, 342 f., 361. 46 Vgl. in diesem Sinn auch Eley 1991, S. 227 f. 47 Vgl. Pyta 1996, S. 307. Zu den Plänen des frühen Hugenberg, das kleinere und mittlere Eigentum durch Siedlung sowie durch Mitbeteiligung von Arbeitern am Produktivvermögen zu fördern, vgl. Holzbach 1981, S. 38 ff., 100. 48 Vgl. Müller 2003, S. 231.

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lichen Betriebsgrößen und ermöglicht es dadurch anderen politischen Unternehmern, gezielt das kleine und mittlere Bauerntum anzusprechen und ihm seine gesamtwirtschaftliche und bevölkerungspolitische Unentbehrlichkeit zu bescheinigen. 49 Da auch die antisemitische Agitation gegen die „jüdische“ Finanzspekulation und den Bodenwucher in der DNVP seit dem Eintritt in die Regierung Luther (1925) stark zurückgetreten ist 50 , öffnet sich auf diese Weise zum zweiten Mal nach den 90er Jahren der ländliche Raum für eine agrarische Massenmobilisierung nach Böckelschem Muster, die an den Parteien der ländlichen Oligarchie vorbei in die Richtung einer neuen Milieupartei vorstoßen könnte. Mit den Deutschvölkischen, die sich 1922 von der DNVP getrennt haben, stünde im Prinzip eine für diesen Zweck geeignete Partei bereit. Die Frage ist, warum nicht sie, sondern die Nationalsozialisten das Rennen gemacht haben.

49 Einschlägige Beispiele dafür bietet vor allem die NSDAP. Vgl. etwa Adolf Hitler: Mein Kampf, 40. Aufl., München 1933, S. 151; Gottfried Feder: Das Programm der N.S.D.A.P. und seine weltanschaulichen Grundgedanken. Nationalsozialistische Bibliothek H. 1, München 1930, S. 24; Herbert Backe: Deutscher Bauer erwache! Die Agrarkrise, ihre Ursachen und Folgerungen. Nationalsozialistische Agrarfragen Nr. 4, München 1931, S. 27 ff.; Werner Willikens: Nationalsozialistische Agrarpolitik, München 1931, S. 23. 50 Vgl. Müller 2003, S. 33, 280. Für Thüringen vgl. Dressel 1998, S. 91. Zu ähnlichen Befunden gelangen für den Reichslandbund, der in dieser Phase der DNVP besonders nahe steht, Reif 1994 und Merkenich 1998, S. 126 ff.

6. Deutschvölkische Die von Graefe, Wulle und Henning ins Leben gerufene Deutschvölkische Freiheitspartei ist zunächst als eine Sammelorganisation gedacht, die neben individuellen Mitgliedern auch geschlossene Verbände aufnehmen soll, um eine möglichst breite Zusammenfassung aller völkischen Gruppen zu erreichen. 1 Die Chancen dafür scheinen zunächst nicht schlecht zu stehen. Mit Wilhelm Henning schließt sich der Verband nationalgesinnter Soldaten der neuen Partei an, Graf Reventlow bringt den Deutschen Freiheitsbund ein, der aus der BMP ausgeschiedene Rudolf von Xylander den Völkischen Rechtsblock in Bayern. 2 Hinzu kommen: der Verband gegen die Überhebung des Judentums (Müller von Hausen), der Deutsche Volksbund (Jürgen von Ramin), der Deutschsoziale Bund (Hans von Mosch), der Bismarckorden, der sich unter der Leitung Wilhelm Kubes von der deutschnationalen Bismarckjugend abgespalten hat sowie der von Bernhard Koerner geleitete Deutschvölkische Arbeitsring in Berlin mitsamt dem Deutschen Roland. 3 Auch aus dem Gesamtvorstand des verbotenen DSTB unterzeichnen viele den Gründungsaufruf, zweifellos in der Erwartung, in der DVFP einen Ersatz für ihre seit Juli 1922 verbotene Organisation zu gewinnen. 4 Diese Strategie bringt nicht nur Mitglieder ein, sondern auch wichtige Publikationsorgane wie den wöchentlich erscheinenden Reichswart Reventlows oder Tageszeitungen wie das Spandauer Tageblatt (Hans von Mosch) und das Göttinger Tageblatt (Gustav Wurm). Die korporative Struktur legt eine kollegiale Führung nahe, wie sie ja auch bereits im DSTB immer wieder gefordert worden ist. Die Satzung kennt demgemäß eine erweiterte Führerschaft, in der neben den Landesverbänden auch die völkische Prominenz vertreten ist, sowie eine von diesem Gremium zu wählende Führerschaft im engeren Sinne, die aus dem Vorsitzenden (bis 1928: Albrecht von Graefe; bis 1933: Reinhold Wulle), seinem Stellvertreter und höchstens sieben Beisitzern zusammengesetzt ist. Damit stellt sich die DVFP deutlich in die Tradition der Honoratiorenparteien des Kaiserreichs, deren Leiter sich gewöhnlich in der Rolle eines primus inter pares gesehen und auf charismatische Prätentionen verzichtet haben, im übrigen dazu auch meist nicht über die unerläßlichen subjektiven Voraussetzungen verfügten. Angesichts der politischen Sozialisation des ersten Vorsitzenden in der Deutschkonservativen Partei sowie seiner Zugehörigkeit zum Stand der Rittergutsbesitzer wäre jede andere Organisationsform auch eine Überraschung gewesen. 5 Ein Blick auf die soziale Zusammensetzung und die Programmatik unter1

Vgl. Wulff 1968, S. 19 f. Vgl. Striesow 1981, Bd. 1, S. 406 ff., 422. 3 Vgl. ebd., S. 423; Bd. 2, S. 696 f.; Kruppa 1988, S. 415, 425; Gerstner 2005, S. 102 f. 4 Es handelt sich u. a. um Adolf Bartels, Artur Dinter, Theodor Fritsch, Heinrich Kraeger, Adalbert Volck: vgl. Striesow 1981, Bd. 2, S. 696. 5 Vgl. Wulff 1968, S. 18 ff., 190. 2

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streicht die Kontinuität zur völkischen Bewegung der Vorkriegszeit, läßt allerdings auch eine wesentliche Differenz erkennen. In der Tradition der einschlägigen Gesinnungsgemeinschaften und –parteien steht die Bestimmung, daß nur Mitglied werden kann, wer an Eides statt versichert, „daß sich unter seinen und seiner Frau Eltern und Großeltern weder Angehörige der jüdischen noch der farbigen Rasse befinden“ 6 ; derselben Tradition entspricht es, daß die meisten Mitglieder kleinbürgerlichen Schichten entstammen, während sich die Führungsriege vielfach aus Angehörigen akademischer Berufe und Beamten sowie Grundbesitzern rekrutiert. Neu hingegen ist die große Zahl ehemaliger Soldaten, Offiziere und Angehöriger der Freikorps, die ein putschistisches Element in die DVFP hineintragen beziehungsweise die bereits in diese Richtung weisenden Züge verstärken. 7 Besonders zu erwähnen ist der Anschluß des Freikorpsführers Gerhard Roßbach, der mit seiner Sturmabteilung zwischen 1919 und 1921 im Baltikum, im Ruhrgebiet und Oberschlesien gekämpft und in der Zwischenzeit seine Mannschaften immer wieder in Form von Tarnorganisationen im Raum MecklenburgPommern untergebracht hat. Die unter seiner Mitwirkung im November 1922 gegründete Großdeutsche Arbeiterpartei ist zunächst als norddeutscher Ableger der NSDAP gedacht, schließt sich aber nach ihrem Verbot im Januar 1923 als geschlossener Block der DVFP an. 8 Roßbach gehört sogleich zur Parteileitung und tut sich vor allem als Organisator der paramilitärischen völkischen Turnerschaften und des Jugendbundes Graf Yorck von Wartenburg hervor. 9 Entsprechend dieser Zusammensetzung weist die Programmatik der Partei eine Mischung aus typischen Mittelstandsinteressen und konterrevolutionären Ambitionen auf. Wie in den Antisemitenparteien der Kaiserzeit geht es um die Erhaltung eines unabhängigen Mittelstands, der vor der Konkurrenz durch Großbetriebe und Warenhäuser zu schützen und bei öffentlichen Aufträgen zu bevorzugen sei, um eine Änderung der Börsen- und Finanzgesetzgebung, mit der die Zusammenballung unproduktiven und spekulativen Kapitals in wenigen Händen verhindert werden soll, sowie selbstverständlich um Aufhebung der Judenemanzipation. 10 Eingriffe in die Bodenverteilung werden zwar abgelehnt, doch nimmt 6 Text des Mitgliedsausweises der DVFP, zit. n. Sauer 2006, S. 108. Auch die Nachfolgepartei der DVFB, die Deutschvölkische Freiheitsbewegung, schreibt diese Bestimmung fort: vgl. Deutsche Nachrichten 3, 1928, Nr. 18. 7 Vgl. Sauer 2006, S. 107 f.; Wulff 1968, S. 21. 8 Vgl. Schuster 2005, S. 23; Mecklenburger Warte / R.Z. 17, 1923, Nr. 36. 9 Vgl. Kruppa 1988, S. 199, 227; zu Roßbach vgl. die biographische Skizze von Campbell 1992; Sauer 2002. Die völkischen Turnerschaften waren in Hundertschaften gegliedert, von denen 1923 in Norddeutschland 165 bestanden haben sollen. Etliche dieser Einheiten wurden mit Wissen der Reichsregierung in die illegalen Verbände der Schwarzen Reichswehr eingegliedert: vgl. Schuster 2005, S. 25 f. 10 Vgl. den Aufruf der Deutschvölkischen Freiheitspartei vom 31. 12.1922, in: Mecklenburger Warte / R.Z. 16, 1922, Nr. 304 sowie vom 6. Januar 1923, in: Reichswart 4, 1923, Nr. 1. Die Juden, heißt es in einem 1923 von Wulle präsentierten Forderungskatalog, „sind nach Artikel 113 der bestehenden Verfassung unter Minderheitsschutz zu stellen. Damit scheiden sie endgültig aus der Verwaltung, der Schule, der Justiz und allen sonstigen öffentlichen Aemtern des völkischen Staates aus.“ Auch das nationalsozialistische „Blutschutzgesetz“ wird bereits antizipiert, soll doch „mit harten erbarmungslosen Gesetzen […] die Blutreinheit der deutschen Nation erzwungen, das heißt gezüchtet werden. Mischehen zwischen Deutschen und Rassefremden müssen zur Aus-

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man nun den jüdischen Grundbesitz explizit aus und gibt ihn zur Enteignung frei. 11 Neu sind auch die Programmpunkte, die auf einen Umsturz der innen- und außenpolitischen Ordnung zielen. Dazu gehört die Forderung, den Reichstag durch ein ständisches Berufsparlament zu ersetzen und die Exekutive einem ‚völkischen Diktator‘ zu übertragen, dem ein geheimer Rat und ein zu schaffender Senat zur Seite stehen sollen. Zur Überwachung der Verwaltung seien darüber hinaus „völkisch gerichtete Ausschüsse mit besonderen Befugnissen“ sowie „Ausnahmegerichte“ zu bilden. 12 Das zielt auf die Unterbindung aller „sozialistischen Versuche“, soll aber zugleich als Ausgangsposition für eine Zusammenfassung aller völkischen Kräfte dienen, deren oberstes Ziel die Beseitigung des ‚Versailler Diktats‘ und die Wiederherstellung der deutschen Souveränität sein müsse. 13 Die Aktivitäten der Partei lassen bei den preußischen Behörden keinen Zweifel aufkommen, daß die DVFP, sehr im Gegensatz zur DNVP, an der Umsetzung dieser Ziele arbeitet. Als Beweise dafür dienen die Wehrsportunternehmungen der Turnerschaften und Jugendorganisationen, einige konspirative Treffen Roßbachs mit Offizieren und Soldaten der Reichswehr sowie die Absprachen mit der NSDAP, der anderen großen völkischen Partei, die es nicht bei legalen Methoden der Machtgewinnung belassen will. Die enge Kooperation, die ihren augenfälligsten Ausdruck in der Teilnahme Graefes und Roßbachs am Hitler-LudendorffPutsch von 1923 findet, veranlaßt den preußischen Innenminister schon im März 1923, das bereits für die NSDAP bestehende Verbot auf die DVFP auszudehnen. 14 Einige Wochen später gelangt auch der Reichskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung zu dem Ergebnis, daß in der DVFP Gruppen bestehen, die das Ziel verfolgen, eine aktivistische Soldatenpartei nach dem Vorbild der italienischen Faschisten zu bilden. 15 Der Übergang zu einer offen das Gewaltmonopol des Staates bestreitenden Politik, in dem Geoff Eley zu Recht das Unterscheidungsmerkmal der deutschen Rechten nach 1918 gesehen hat, ist an der DVFP deutlich erkennbar. 16 Er erklärt zugleich, weshalb mächtige Interessenverstoßung aus den Reihen unserer Nation führen, und zwar ohne jedes Ansehen der Person und des Standes“: Reinhold Wulle: Der völkische Staat, in: Mecklenburger Warte / R.Z. 17, 1923, Nr. 288. 11 Vgl. den in der vorigen Anm. zitierten Aufruf sowie: Deutschvölkische Agrarpolitik, in: Mecklenburger Warte / R.Z. 18, 1924, Nr. 23; Ziele der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung, ebd., Nr. 77. Ähnlich Artur Dinter: Das politische Programm des Völkisch-Sozialen Blocks, ebd., Nr. 54, der allerdings neben dem Grund- auch noch gleich den Hausbesitz der Juden „zugunsten der werktätigen Bevölkerung“ enteignen will. 12 Vgl. den Aufruf vom 31. 12.1922, a. a. O. Ähnlich auch: Ein völkisches Programm. Reichswart-Entwurf, in: Reichswart 5, 1924, Nr. 1–2. 13 Vgl. Wulff 1968, S. 17. 14 Vgl. Mecklenburger Warte / R.Z. 17, 1923, Nr. 70. 15 Vgl. Wulff 1968, S. 21 ff., 36; Kruppa 1988, S. 227; Die deutschvölkische Verschwörung, in: Abwehrblätter 33, 1923, Nr. 7/8. 16 Vgl. Eley 1991, S. 209 ff. So sehr die DVFP in diesem Punkt mit der NSDAP übereinstimmt: von einer Partei faschistischen Typs trennt sie gleichwohl die fehlende charismatische Organisation und der Verzicht auf das Führerprinzip (vgl. dazu weiter unten, Kap. 8), wodurch sich unvermeidlich stärker sachliche Orientierungen wie Standes- und Klasseninteressen sowie ideologischweltanschauliche Aspekte in den Vordergrund schieben. Als ‚Reichspartei des deutschen Faschismus‘ (so die kommunistische Rote Fahne) sollte man sie deshalb nicht bezeichnen (vgl. unter Übernahme dieser Bezeichnung Fricke 1984, Bd. 2, S. 553). „Mit dem italienischen Faszis-

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bände wie der Reichslandbund, die sich selbst durchaus als völkisch verstehen, ihr die Gefolgschaft verweigern und bei den Deutschnationalen bleiben. 17 Im Gegensatz zur NSDAP, die in Teilen auch nach dem Putsch noch für gewisse Zeit an dieser Strategie festhält, vermag sich die DVFP jedoch schneller umzustellen. Während der in Landsberg inhaftierte Hitler seiner Gefolgschaft keine klare Orientierung bietet, mit der Folge, daß die NSDAP im Laufe des Jahres 1924 in mehrere pro- und antiparlamentarische Gruppen auseinanderbricht, entscheidet sich die DVFP, die seit Februar 1924 in Preußen wieder zugelassen ist, an den anstehenden Landtagswahlen in Thüringen, Mecklenburg-Schwerin und Bayern teilzunehmen und die Proteststimmung auszunutzen, die sich in der Bevölkerung wegen Inflation, Ruhrkampf und Dawesplan regt. Es gelingt Graefe, Teile der NSDAP um Rosenberg und Gregor Straßer zu einem Bündnis zu bewegen, das sich unter Bezeichnungen wie Völkisch-Sozialer Block oder Völkischer Block den Wählern präsentiert und Erfolge einfährt, wie sie keine Partei dieser Richtung bis dahin in Deutschland je hat verbuchen können. In Thüringen sind es im Februar 1924 9,3 %, in Mecklenburg-Schwerin kurz darauf 19,3 % und in Bayern im Mai 17,1 %, genau soviel wie die SPD. Im gleichen Monat erobert das Bündnis bei den Reichstagswahlen 6,5 % und damit 32 Mandate 18, deren unterschiedliche Verteilung indes keinen Zweifel daran läßt, daß es sich um eine Allianz verschiedener Parteien handelt: die von Graefe und seinem Anhang dominierte Mecklenburger Partei, die mehr als ein Fünftel der Wähler gewinnt, ist eine Partei des flachen Landes, die nationalsozialistisch geprägte fränkische Partei hingegen (20,7 %) hat ihre Hochburgen in den zahlreichen Klein- und Mittelstädten mit einer typisch mittelständisch-kleinbürgerlichen Sozialstruktur. 19 Auf den Vorschlag Ludendorffs nimmt die neugewählte Fraktion die Bezeichnung Nationalsozialistische Freiheitspartei an – ein Entgegenkommen an die Nationalsozialisten, das die reale Gewichtsverteilung verschleiert. Von den 32 Abgeordneten stellen die Nationalsozialisten nicht einmal ein Drittel, während der Rest auf die Deutschvölkischen entfällt, darunter allein zehn Mandate für die Führungsriege dieser Partei. 20 Es entspricht dieser Konstellation, wenn Ludendorff, der selbst keiner mus“, so Artur Dinter in seiner ersten Rede im thüringischen Landtag am 29. 2. 1924, „hat die völkische Bewegung nichts, aber auch gar nichts gemein, als die nationale Einstellung“: Mecklenburger Warte / R.Z. 18, 1924, Nr. 54. 17 So heißt es in einem Bericht über die Verhandlungen, die der RLB mit Wulle und Kube Anfang März 1924 geführt hat, daß es zwar in wirtschaftspolitischer Hinsicht kaum eine Forderung der DVFP gebe, die der RLB nicht unterschreiben könne, daß es sich aber in staatspolitischer Hinsicht um eine „ausgesprochen gegenrevolutionäre Frontsoldatenbewegung“ handle, die zu keiner Koalition mit anderen Parteien bereit sei und deswegen abgelehnt werden müsse: BArch R 8034/I, Bl. 106 ff. Darüber hinaus sei die Gründung „völkischer Bauernschaften“ durch die DVFP als Versuch aufzufassen, die wirtschaftspolitische Einheitsorganisation der Landwirtschaft zu sprengen. Zum Streit um die im Dezember 1923 ins Leben gerufenen völkischen Bauernschaften, die übrigens von Anfang an eine Totgeburt waren, vgl. Albrecht von Graefe-Goldebee: Völkische Bauernschaften, in: Mecklenburger Warte / R.Z. 17, 1923, Nr. 294 sowie [o. V.]: Warum ‚völkische Bauernschaft‘ gegen ‚Landbund‘ ?, in: Reichs-Landbund. Nachrichten der Bundeszentrale 4, 1924, Nr. 4. 18 Vgl. Döring 2001, S. 47. 19 Vgl. Falter u. a. 1986, S. 69; Hambrecht 1976, S. 66 ff. 20 Dazu zählen neben Graefe, Wulle und Henning: Graf Reventlow, Georg Ahlemann, Theo-

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der beiden Gruppierungen angehört, Albrecht von Graefe ‚als seinen Vertrauensmann‘ zum Fraktionsführer ernennt. Auch der übrige Fraktionsvorstand wird von den Deutschvölkischen dominiert. 21 Dieser Höhepunkt der Deutschvölkischen ist indessen auch schon ihr Zenit. Als Ludendorff auf der konstituierenden Sitzung der Fraktion am 25. Mai 1924 den Zusammenschluß auch auf Parteiebene dekretiert, stößt dies auf den geschlossenen Widerstand der norddeutschen Nationalsozialisten, die ein eigenes Führungsgremium (das „Direktorium“) bilden und sich von der Münchner Zentrale lossagen. 22 Nachdem auch Hitler seinen Rückzug erklärt hat, rechnet der von ihm mit der Weiterführung der NSDAP beziehungsweise ihrer Nachfolgeorganisation, der Großdeutschen Volksgemeinschaft (GVG), betraute Alfred Rosenberg scharf mit der DVFP ab und wirft ihr vor, lediglich eine kleine Oberschicht zu repräsentieren, „welche sich eine politische Macht heranbilden wollte, um im Parlament dementsprechend auftreten zu können.“ Die geplante Verschmelzung bedeute „ein Unheil für den Nat.soz. Gedanken“ und müsse deshalb abgelehnt werden. 23 Rosenberg kann für diese Ansicht indes nur einen Teil der süddeutschen Verbände gewinnen. Die übrigen – allen voran die Gruppen um Streicher und Esser – treffen sich Mitte August 1924 in Weimar mit den Deutschvölkischen, kommen aber zu keinem Ergebnis, da sie auf der Führungsrolle Hitlers beharren und dies mit heftigen Angriffen gegen Ludendorff verbinden, der sich seinerseits der Situation nicht gewachsen zeigt. 24 Mindestens ebenso nachteilig wie der interne Streit über Führung und Strategie wirkt sich auf die Völkischen die Veränderung der politischen Rahmenbedingungen aus, die aus der Währungsstabilisierung, dem Dawes-Plan und der Wiederherstellung der internationalen Kreditfähigkeit Deutschlands resultiert. Alle diese Faktoren bewirken noch 1924, wie hier nur angedeutet werden kann, eine Abkehr großer Teile der Wählerschaft von dem bis dahin dominierenden, stark weltanschaulich-doktrinär bestimmten Politikmuster und eine Hinwendung zu den sich immer stärker in den Vordergrund schiebenden wirtschafts- und sozialpolitischen Verteilungskämpfen, die korporatistisch-gouvernementale Politikformen und insbesondere auch ein erneutes engeres Zusammenwirken der Parteien mit externen Kollateralorganisationen verlangen. 25 Die vom Inflationstrauma verfolgten Mittelschichten wenden sich teils neuen Regional- und Interessenparteien zu wie der Wirtschaftspartei, teils der DNVP, obwohl oder besser gesagt gerade weil sich diese Partei in der Reichstagsdebatte über den Dawes-Plan aus ihrer Antihaltung löst und sich von Interessenverbänden wie dem Reichslanddor Fritsch, Hans Stelter, Wilhelm Kube, Jürgen von Ramin und Karl Fahrenhorst: vgl. Striesow 1981, Bd. 1, S. 436. 21 Vgl. Döring 2001, S. 66 f. 22 Vgl. die entsprechenden Dokumente in Jochmann 1963, S. 73 ff. 23 Vgl. Alfred Rosenberg: Nationalsozialismus und Deutschvölkische Freiheitspartei, ebd., S. 103 ff. 24 Vgl. Horn 1980, S. 191 ff.; Jablonsky 1989, S. 118 ff. Ausführliche, die Differenzen freilich eher verschleiernde Berichte über die Weimarer Tagung in: Mecklenburger Warte / R.Z. 18, 1924, Nr. 185 ff. 25 Vgl. Maier 1981, S. 483 ff.; Mommsen 1997, S. 230 ff.

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bund bestimmen läßt, für die entscheidende Abstimmung den Fraktionszwang aufzuheben und so die Annahme des Plans zu ermöglichen. Was unter normalen Umständen einer Partei das Genick gebrochen hätte, schlägt der DNVP jetzt zum Vorteil aus: in den Dezemberwahlen 1924 vermag sie ihren Stimmenanteil gegenüber den Maiwahlen noch einmal um einen Prozentpunkt zu steigern und insbesondere in Franken den Völkischen wichtige Stimmen abzujagen. 26 Insgesamt halbiert sich die Stimmenzahl der Völkischen, wie überhaupt alle Parteien, die die Dawes-Vereinbarungen scharf bekämpft haben, erhebliche Verluste erleiden. 27 Kurz darauf bricht auseinander, was vom Bündnis noch übrig ist. Am 12. Februar 1925 tritt die „Reichsführerschaft“ zurück, zwei Tage später erscheint im Reichswart der Aufruf zur Gründung der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung Großdeutschlands, der vom Führungsgremium der alten DVFP unterzeichnet ist. 28 Am 27. Februar gründet Hitler in München die NSDAP neu. Einen Tag zuvor erklärt er in einer Rede, er habe sich immer gegen die Sammelbezeichnung „völkisch“ gewehrt, weil dieser Begriff zu unbestimmt und auslegungsfähig sei. Die NSDAP wird von ihm nun als „große deutsche Nationalbewegung“ vorgestellt und scharf von der völkischen Idee distanziert. Der Nationalsozialismus, wird es gut ein Jahr später heißen, habe mit der vöIkischen Idee nichts zu tun, diese sei ein Zerrbild. 29 Auch wenn diese Abgrenzung dann nicht immer konsequent durchgehalten wird, rückt doch in Hitlers Vokabular die Kombination von Nationalismus und Sozialismus so sehr in den Vordergrund, daß der eindeutige Bezug zum Völkischen zunehmend abblaßt. Die neugegründete NSDAP ist jedenfalls von Anfang an eine Partei, in der der völkische Nationalismus nur mehr eine Komponente unter mehreren ist und in der seine Repräsentanten sich eine zunehmend harscher werdende Kritik gefallen lassen müssen.- 30 Die Deutschvölkische Freiheitsbewegung (DVFB), die sich am 21./22. Februar 1925 in Berlin konstituiert, gibt sich eine ähnliche Struktur wie die Deutschvölkische Freiheitspartei. Sie gruppiert sich um eine Reichsleitung, die im Kern aus den im Dezember 1924 gewählten völkischen Reichstagsabgeordneten besteht (Graefe, Wulle, Henning, Reventlow, Kube, Stöhr, von Ramin, Fahrenhorst und Wiegershaus), zu denen noch einige weitere Führungspersönlichkeiten wie Theodor Fritsch oder Heinrich Blume hinzukommen; die Reichsleitung wiederum wählt aus ihrer Mitte die Geschäftsleitung und den Gesamtleiter der Bewegung. 31 Die 26 Vgl. Hambrecht 1976, S. 84. Der Stimmenateil der DNVP steigt hier von 14,9 % im Mai 1924 auf 23,6 %, während die Völkischen auf 7,5 % zurückgehen: vgl. Falter u. a. 1986, S. 69 f. Auch in Mecklenburg verlieren die Völkischen fast zehn Prozentpunkte. 27 Vgl. Wulff 1968, S. 64; Döring 2001, S. 74. 28 Vgl. Kundgebung der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung Großdeutschlands, in: Reichswart 6, 1925, Nr. 7. 29 Vgl. Adolf Hitler: Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte, Bd. 1: Die Wiedergründung der NSDAP Februar 1925 – Juni 1926, hrsg. von Clemens Vollnhals, München etc. 1992, S. 3, 334. 30 Vgl. ders.: Mein Kampf, 40. Aufl., München 1933, S. 395 ff. Die Gründe für seine Weigerung, mit den Deutschvölkischen zusammenzuarbeiten, hat Hitler später ausführlich in einem offenen Brief an Graefe dargelegt, der am 19. 3. 1926 im Völkischen Beobachter veröffentlicht wird: vgl. Hitler 1992, a. a. O., Bd. 1, S. 337 ff. 31 Vgl. Wulff 1968, S. 72.

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einige Jahre später auf der Eisenacher Tagung beschlossene Verfassung sieht hierfür den Titel „Reichsführer“ vor und bestimmt, daß dieser fortan für fünf Jahre vom Rat der Gauführer zu wählen sei. 32 Organisatorisch setzt man erneut auf die nur lockere Zusammenfügung geschlossener Verbände, die ihre Eigenständigkeit bewahren sollen. 33 Immerhin kommt nun eine gewisse räumliche Expansion in Gang. Während auf der ersten Reichsvertretertagung vom Februar 1925 noch ausschließlich Nord- und Mitteldeutschland repräsentiert sind, gelingt es im November desselben Jahres, mit zwei süddeutschen Gruppen eine Arbeitsgemeinschaft zu bilden: dem von Anton Drexler, dem ehemaligen Vorsitzenden der (NS)DAP geleiteten National-sozialen Volksbund in Bayern und der Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung Württembergs unter Prof. Mergenthaler. Ein weiterer Erfolg kann einige Wochen später mit dem Beitritt der Deutschsozialen Partei Richard Kunzes zu dieser AG verbucht werden, so daß Ende 1925 alle größeren völkischen Verbände bis auf die NSDAP unter der Führung der DVFB in einer Art „völkischem Block“ zusammengeschlossen sind. Mit rund 27 500 Mitgliedern verfügt die DVFB fast wieder über die gleiche Stärke wie die DVFP von 1922. 34 Auch in den übrigen Merkmalen besteht Kontinuität. Die DVFB grenzt sich deutlich von der faschistischen Methode des gewaltsamen Umsturzes ab und erklärt, ein Mussolini sei in Deutschland nicht möglich; die anfangs durchaus vorhandene Sympathie für den Faschismus weicht einer schroffen Distanzierung, die das Regime ganz in der Hand der „überstaatlichen Mächte“ (Rom, Juda und Freimaurertum) sieht und diese Kritik auch auf die NSDAP und selbst die Alldeutschen überträgt.35 Der Schwerpunkt der Selbstdefinition liegt auf der Ebene der ideellen Interessen, wird doch als vordringlichste Aufgabe die „systematische Arbeit zur Vertiefung und Verbreitung der völkischen, sozialen Gedanken und Weltanschauung“ bezeichnet, hinter welcher alle persönlichen Interessen zurückzustehen hätten. Insbesondere Reventlow läßt dabei nicht im Zweifel, daß in der Verweigerung der „realpolitische(n) und völkische(n) Unterordnung der Person unter die richtig verstandene Sache“ einer der Hauptfehler der Hitlerbewegung bestehe. 36 Als gegnerische Weltanschauungen werden in bekannter Manier der 32

Vgl. Deutsche Nachrichten 3, 1928, Nr. 18. Vgl. Wulff 1968, S. 72. 34 Vgl. ebd., S. 142 f., 264 f., 147; Wulle 1926, a. a. O., S. 6. 35 Vgl. den ungezeichneten Artikel: Mussolini in jüdischer Hand, in: Mecklenburger Warte / R.Z. 18, 1924, Nr. 214; Wulle 1926, a. a. O., S. 14; Fritz Hilgenstock: Faschistische oder deutsche Staatsform? (Unsere Waffen, 21. Folge. Rüstzeug der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung), Berlin 1930; ders.: Die Entwicklung des Faschismus, in: Mecklenburger Warte / R.Z. 25, 1931, Nr. 7; Albrecht v. Graefe-Goldebee: Völkische Freiheitsbewegung, Deutschnationale und N.S.D.A.P. (Unsere Waffen, 22. Folge. Rüstzeug der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung), Berlin 1930, S. 13; H. L.: Alldeutscher Verband und Rom, in: Mecklenburger Warte / R.Z. 25, 1931, Nr. 13. 36 Vgl. Reichswart 6, 1925, Nr. 8. Unter der Überschrift „Was uns trennt“ hat Reventlow schon zuvor seine, von derjenigen Hitlers diametral abweichende Auffassung des Führergedankens skizziert. Die Bewegung, heißt es dort, sei das Primäre, der Führer das Sekundäre. Von dieser oder jener Führerpersönlichkeit könne die Bewegung nicht abhängig sein, noch an eine solche gebunden werden. „Führer kommen und gehen, sterben oder nutzen sich ab, oder versagen. Das sind natürliche Dinge, mit ihnen muß gerechnet werden. Ausfall eines Führers oder mehrerer darf nie 33

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Liberalismus-Mammonismus-Semitismus ausgemacht, ferner der Ultramontanismus und Klerikalismus, mit dessen Benennung man Ludendorff einzubinden sucht. 37 Dessen „Kampf gegen Rom und Juda“ wird ausdrücklich in einer Ergebenheitsadresse gewürdigt, die der erste Reichsvertretertag dem „großen Führer und Feldherrn“ zukommen läßt. 38 Als freilich kurz darauf die NSDAP Ludendorff als Kandidaten für die Reichspräsidentschaftswahlen aufstellt, verweigert ihm die DVFB die Gefolgschaft und setzt sich zunächst für Jarres, dann für Hindenburg ein – eine Entscheidung, die bei zahlreichen Wählern als Desavouierung der eigenen Spitze empfunden worden sein dürfte, auch wenn Ludendorff nicht Parteimitglied ist. 39 In der Sache bekennt man sich zu den gleichen ständischen und Klasseninteressen wie schon die Vorgängerorganisationen, und dies mit dem gleichen geringen Erfolg, was die Aufstellung eines halbwegs kohärenten, die unterschiedlichen Interessenlagen von Stadt und Land ausgleichenden Programms und die Herstellung einer engeren Verbindung zu maßgeblichen Verbänden angeht. Den Interessen des alten und neuen Mittelstands in den Städten sucht man etwa Rechnung zu tragen, indem man die „grundsätzliche Anerkennung aller vorrevolutionären Staats-, Kommunal- und sonstigen öffentlichen Schulden“ verlangt, die Forderungen der verschiedenen Sparer- und Hypothekengläubigerverbände nach einer möglichst umfassenden Aufwertung aufgreift, für die versicherungstechnische Separation der Angestellten von den Arbeitern plädiert, die Personalabbauverordnungen für die öffentliche Verwaltung ablehnt und auf eine Erhöhung der Bezüge der unteren und mittleren Beamten drängt. 40 Pläne für die Finanzierung derart erheblicher öffentlicher Ausgaben werden nicht vorgelegt, statt dessen verlangt man in demagogischer Weise eine Beseitigung des „Steuerbolschewismus“, eine Änderung des „ungesunde(n) und überspannte(n) Zentralismus der Erzbergerschen Finanzreform“ und tritt allen Steuererhöhungsplänen der Bürgerblockregierungen entgegen. 41 Was man den Städtern auf diese Weise geben will, soll ihnen freilich gleich wieder genommen werden, wie der agrarpolitische Forderungskatalog lehrt. Das von den deutschvölkischen Abgeordneten des Reichstags und des Preußischen Landtags schon wenige Wochen nach der Parteigründung beschlossene Landwirtschaftsprogramm schreibt den Vorrang des primären Sektors in der deutschen Volkswirtschaft fest, der durch das übliche Instrumentarium erreicht werden soll: Abbau der Zwangswirtschaft, Schutzzölle, Subventionen, Steuervorteile, Siedlungsförderung. 42 Um gegenüber den Deutschnationalen, die exakt dasselbe forund nimmer die völkische Bewegung kopflos machen oder verwirren können.“ Reichswart 5, 1924, Nr. 33. 37 Vgl. [o. V.]: Hitlers Frieden mit Rom, in: Reichswart 6, 1925, Nr. 6. 38 Vgl. Wulff 1968, S. 68 f., 73. 39 Vgl. ebd., S. 86 ff. 40 Vgl. Reichswart 7, 1926, Nr. 37, Beilage „Die völkische Bewegung“; Döring 2001, S. 176 ff., 188 f., 197 ff., 201 ff. 41 Vgl. Reichswart 7, 1926, Nr. 37, Beilage „Die völkische Bewegung“. 42 Vgl. Wulff 1968, S. 77 ff., 119 ff.; Döring 2001, S. 165 ff.; [o. V.]: Völkische Bauernbewegung, in: Reichswart 7, 1926, Nr. 42.

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dern, einen eigenen Akzent zu setzen, betont man besonders „den entschlossenen Kampf gegen das System der planmäßigen Enteignung und aller ihrer teuflischen Mittel“, womit vor allem der Dawes-Plan gemeint ist, gegen den vom Leder zu ziehen die Deutschvölkischen nicht müde werden. 43 Das schärft zwar das systemkritische Profil, hat aber zugleich den Nebeneffekt, die wichtigste berufsständische Organisation der Landwirtschaft, den Reichslandbund, zu vergrätzen, der sich besonders für die Annahme des Dawes-Plans eingesetzt hat. Nicht zuletzt deshalb haben sowohl der Reichslandbund wie auch die anderen Landbünde bis 1928 ihre Wahlempfehlungen zugunsten der Deutschnationalen abgegeben und damit den Deutschvölkischen auf dem Land eine nur schwer zu überwindende Schranke gesetzt. 44 Darüber hinaus dürfte es das Vertrauen der ländlichen und städtischen Mittelschichten nicht erhöht haben, wenn aus den Führungsgremien der DVFB immer wieder Stimmen laut werden, die der Partei ihre zu große Bürgerlichkeit vorwerfen. Da ist zum einen der Kreis um Theodor Fritsch, der bereits zur Zeit der Freiheitspartei und der verschiedenen völkisch-sozialen Blöcke über die „bürgerliche(n) Wahldummheiten“ klagt, die die Völkischen zu einer Vernachlässigung der Arbeiterschaft geführt hätten, und der nun erneut seine Gesinnungsgenossen mahnt, Mittel und Wege zur Zügelung der „Kapital-Tyrannei“ zu finden. 45 Da ist zum andern Graf Reventlow, der die Deutschvölkischen als den linken Flügel der Nationalbewegung begreift und deshalb (zum Verdruß wiederum von Fritsch) eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten nicht ausschließt, wofern diese sich nur vom Internationalismus lossagten und ihre Stellung zum Judentum änderten. 46 Gewiß, Reventlows „Antikapitalismus“ richtet sich nicht gegen das Privat43 Albrecht von Graefe: Aufgaben der deutschen Bauernbewegung, in: Mecklenburger Warte / R.Z. 20, 1926, Nr. 247. 44 Vgl. Pyta 1996, S. 302. Die kritische Distanz zeigt sich u. a. in der Anlage zum Schreiben des RLB Org. I Tgb. Nr. 4381 vom 20.12. 1926 betr. Entschließung der Landwirtschaftlichen Tagung veranstaltet von der DVFB zu Magdeburg am 10. 10. 1926. Eine Auflistung der „Völkische(n) Angriffe auf die Reichs-Landbund-Führung“ enthält das Dossier vom 10. 2. 1928. Beide Dokumente finden sich in den Akten des Reichslandbundes: vgl. BArch R 8034/I, Bl. 292 ff. 45 Vgl. Theodor Fritsch: Bürgerliche Wahl-Dummheiten, in: Hammer 23, 1924, H. 519; ders.: Vor der Enteignung, in: Hammer 24, 1925, H. 559. In diesem Sinne sind wohl auch die häufigen Sympathieerklärungen für den sozialdemokratischen Renegaten August Winnig im Hammer zu deuten: vgl. Hammer 25, 1926, H. 589; 26, 1927, H. 597 und 619. – Die von Fritsch empfohlenen Heilmittel – sie reichen von der ‚freiwilligen Sozialisierung‘ über die Verstaatlichung der Banken bis zur Festsetzung einer Höchstgrenze für Privatbesitz – wiederholen allerdings weitgehend den schon im Kaiserreich ventilierten Forderungskatalog. Vgl. noch ders.: Das Vexierspiel der Sozialisierung, in: Hammer 25, 1926, H. 569; Der Sozialismus als Angelpunkt aller Politik, in: Hammer 25, 1926, H. 578. 46 Vgl. [o. V.]: Deutschvölkisch! In: Reichswart 3, 1922, Nr. 29; Mit Radek? ebd. 4, 1923, Nr. 26; Völkisch-kommunistisch?, ebd. Nr. 32. Zur Debatte zwischen Reventlow und Radek vgl. Schüddekopf 1973, S. 125 ff.; Dupeux 1985, S. 195 ff. Zu einer Neuauflage dieser Debatte kommt es Anfang 1926, als Fritsch Reventlows im Reichswart (7, 1926, Nr. 1) erhobenen Vorschlag, die Haltung gegenüber dem Bolschewismus zu überdenken, kategorisch zurückweist und den in der völkischen Bewegung schon seit langem zirkulierenden Verdacht erneuert, „daß der Bolschewismus nur einen der beiden Flügel der großen jüdischen Weltfront bildet und von einem anderen Ende aus dasselbe Ziel erstrebt wie die jüdische Hochfinanz: nämlich die Aufrichtung der jüdischen Weltherrschaft“: Theodor Fritsch: Für und wider den Bolschewismus?, in: Hammer 25, 1926,

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eigentum, sondern gegen das Bankkapital, vorzugsweise dasjenige, das sich in nicht-deutschen Händen befindet, darüber hinaus gegen das Börsen- und Aktienwesen; Eingriffen in die Verteilung des Bodenbesitzes setzt er eine klare Schranke in der Wahrung der Betriebsfähigkeit. 47 Immerhin sieht er eine Anerkennung des Achtstundentages und eine Beteiligung der Arbeiter an den Betrieben vor, darüber hinaus eine Reduzierung des Großbesitzes durch eine Änderung des Erbrechts sowie ein neues Bodenrecht. 48 Als 1926 die Parteispitze um Wulle und Graefe immer deutlicher danach strebt, im Wettstreit mit der NSDAP stärker das herkömmliche Interessenprofil der „Altvölkischen“ herauszustellen und die Partei in eine Neuauflage der alten Deutsch-sozialen Partei Liebermanns von Sonnenberg zu verwandeln 49 , verschärft er deutlich die Tonart und gibt die Parole aus: „Nicht Reformen, sondern Revolution“. 50 Für die Entschließungen der DVFB vom 3. und 4. September 1926 setzt er eine Präambel durch, die in deutlichem Kontrast zum anschließenden Forderungskatalog steht. „Wir Völkischen wollen nicht die Wiederkehr von vielem, was gewesen ist; wir wollen keinen Klassenstaat, wie er in dem alten sogenannten Obrigkeitsstaat verkörpert war, sondern einen sozialen Volksstaat. Wir wollen rücksichtslose Beseitigung der Geldsackherrschaft in Staat und Gesellschaft.“ 51 Als die DVFB Ende 1926, Anfang 1927 in einer Reihe von Landtags- und Bürgerschaftswahlen kein einziges Mandat erringen kann, führt Reventlow, unterstützt von seinen Fraktionskollegen Wilhelm Kube und Franz Stöhr, die Niederlage auf die ungenügende Berücksichtigung von Arbeiterinteressen zurück. Die von ihm in diesem Zusammenhang noch einmal prononciert vorgetragenen Forderungen stoßen indes in der Parteiführung auf wenig Resonanz, weil man sich hier keine Chancen ausrechnet, in der Konkurrenz mit den Linksparteien zu reüssieren. Eine Gewinnung der Arbeiterschaft sei zwar von essentieller Bedeutung für den Erfolg des völkischen Gedankens, meint Albrecht von Graefe, doch sei die Voraussetzung dafür die „vorherige Schaffung von Macht für die völkische H. 567. Vgl. auch ders.: Die Völkischen und der Bolschewismus, in: Hammer 25, 1926, H. 569.- Die Konsequenz aus Reventlows Gedankenspielen hat dann kurz vor der nationalsozialistischen Machtübernahme Karl Otto Paetel gezogen, der 1926/27 als Redakteur bei Wulles Deutschem Tageblatt beschäftigt ist, dann freilich bald unter den Einfluß des neuen Nationalismus im Sinne Ernst Jüngers gerät. Einige seiner Aufsätze in der (über-)bündischen Zeitschrift Die Kommenden sprechen sich explizit für ein Zusammengehen der „revolutionären Nationalisten“ mit der KPD und der Sowjetunion aus, desgleichen sein 1933 erschienenes Nationalbolschewistisches Manifest: vgl. Karl Otto Paetel: Nationwerdung, in: Die Kommenden 6, 1931, F. 17; Nationalismus und K.P.D., ebd., 7, 1932, F. 38; Das Nationalbolschewistische Manifest, Berlin 1933, S. 25. 47 Vgl. [o. V.]: Arbeiterpartei? In: Reichswart 6, 1925, Nr. 3; Ein völkisches Programm, ebd. 5, 1924, Nr. 1–2. 48 Vgl. Ein völkisches Programm, a. a. O. sowie die Artikelreihe „Das soziale Problem“, ebd., 4, 1923, Nrn. 48–51; gefolgt von: „Die Lösung des sozialen Problems“, 5, 1924, Nr. 1/2. Auf derselben Linie liegen die auf der Weimarer Reichsvertretertagung der NSFB einstimmig angenommenen Ausführungen des Reichstagsabgeordneten Franz Stöhr, der für die Aktiengesellschaften die Einführung der paritätischen Mitbestimmung im Aufsichtsrat und eine Teilung des Reingewinns zwischen Arbeitnehmern und Aktionären verlangt: vgl. Wesen und Ziele völkischer Sozialpolitik, in: Mecklenburger Warte / R.Z. 18, 1924, Nr. 190. 49 Vgl. Wulle 1926, a. a. O., S. 27; Noakes 1971, S. 61. 50 Vgl. ebd.; [o. V.]: Zur Tagung, in: Reichswart 7, 1926, Nr. 36. 51 Reichswart 7, 1926, Nr. 37, Beilage „Die völkische Bewegung“.

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Bewegung.“ Dies aber könne mit einiger Aussicht auf Erfolg nur erreicht werden, wenn die Partei „ihren werbenden Wahrheitskampf auch in den Reihen des übrigen Volkstums aller Stände und Berufe eifrigst (betreibe), um hierdurch mit zunehmender Macht auch der Arbeiterschaft bessere Gewähr bieten zu können.“ 52 Reventlow entschließt sich daraufhin zum Übertritt in die NSDAP. In der im Reichswart vom 12. Februar 1927 publizierten Begründung heißt es, daß sein „sozialrevolutionäres Bestreben innerhalb der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung ohne jede Aussicht auf Erfolg“ sei, da dort der „alte Kasten- und Gesellschaftsdünkel“ vorherrsche. Überraschenderweise nimmt er dabei für seine „sozialrevolutionäre“ Linie das Erbe eben jener Deutsch-sozialen Partei in Anspruch, auf die sich auch sein Antagonist Reinhold Wulle beruft. Die gegnerische Position wird als ‚konservative, großgrundbesitzerliche, krypto-kapitalistische‘ Richtung gebrandmarkt und in die Nähe der ehemaligen Deutschkonservativen und jetzigen Deutschnationalen gerückt. 53 Wie zur Bestätigung dieses Vorwurfs veröffentlicht Albrecht von Graefe wenige Tage später einen Artikel, in dem er die völkische Bewegung als Vorstufe für eine Wiederherstellung der Monarchie und die Schaffung einer berufsständischen Ordnung deutet. 54 Bald darauf wird er sich das Urteil der Börsenzeitung zu eigen machen, die in der NSDAP eine ‚nationalbolschewistische‘ Strömung erkennt, „deren Hauptexponenten Dr. Göbbels (sic), Strasser und Graf Reventlow sind.“ 55 Der Austritt Reventlows ist der Anfang vom Ende der DVFB. Neben Stöhr schließt sich auch Theodor Fritsch diesem Schritt an; Wilhelm Kube wird aus der Partei ausgeschlossen, mit der Folge, daß die völkische Reichstagsfraktion zerbricht. Eine Austrittswelle setzt ein, die die Partei fast die Hälfte ihrer Mitglieder kostet. Ganze Landesverbände wie Brandenburg wechseln geschlossen zur NSDAP über, und auch die 1925 gewonnenen Verbände wie die württembergischen Nationalsozialisten und Kunzes Deutschsoziale gehen wieder eigene We52 Albrecht von Graefe-Goldebee: „Völkisch-konservativ“ oder „völkisch-sozial“? in: Mecklenburger Warte / R.Z. 21, 1927, Nr. 31. 53 Vgl. Graf E. Reventlow: Austritt und Uebertritt, in: Reichswart 8, 1927, Nr. 7. Rückblickend hat Reventlow sein Engagement bei der DVFP als Irrtum bezeichnet. „Man hatte es also bei der Deutschvölkischen Freiheitspartei im Grunde mit nichts anderem zu tun als mit einer organisierten Schicht, die sich als Herrenschicht den anderen Teilen der Bevölkerung gegenüber fühlte, sich ihre innerpolitischen Ziele in diesem Sinne gesetzt hatte und die rein taktisch denkend sich sagte, sie werde wohl den Forderungen der Arbeiterschaft gegenüber bisweilen nachgeben und zurückstecken müssen. Aber es lag dieser Parteiführung sehr fern, ihr beziehungsweise das Parteiinteresse und Parteiziel mit Interessen und Ziel und Wünschen der Arbeitnehmerschaft gleichzusetzen und, gleichsam aus der Seele der Arbeitnehmerschaft heraus, die soziale Frage zu betrachten und auch zu behandeln. Die Freiheitspartei war eine reine Bürgerpartei mit allen Eingeschränktheiten des bürgerlichen Horizonts, über den der Bürger eben nicht hinwegkann (…) Mit dem einen Flügel an die konservativen Großgrundbesitzer, die ausgesprochene preußische Reaktion, gebunden und verbunden, mit dem anderen im kleinen, grundphiliströsen für große unbestimmte Phrasen eingenommenen Bürgertum verwurzelt, bot diese Partei die Unmöglichkeit, daß diejenigen innerhalb der Partei sich durchsetzten, welche die soziale Frage für den Angelpunkt schlechthin der deutschen Zukunftsfrage hielten.“ Ernst Graf zu Reventlow: Völkische Bewegung, in ders.: Der Weg zum neuen Deutschland. Ein Beitrag zum Wiederaufstieg des deutschen Volkes, Essen 1931, S. 140. 54 Vgl. Wulff 1968, S. 155. 55 Vgl. Graefe 1930, a. a. O., S. 14.

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ge. 56 Graefe und Wulle versuchen noch, die Verluste durch eine Zusammenarbeit mit den Wehrverbänden auszugleichen, gewinnen aber lediglich den Wehrwolf hierfür. Auch die Umdefinition in eine „Volksbewegung der romfreien Deutschen“, die den Schwerpunkt der Agitation vollends auf Antikatholizismus und Antiultramontanismus verlagert und hierin einmal mehr den Faschismus und den „faschisierten“ Nationalsozialismus einbezieht, bringt keine Wende. 57 Bei den Reichstagswahlen vom Mai 1928 erzielt ihr Völkisch-Nationaler Block kein einziges Mandat, während die NSDAP zwölf Sitze gewinnt. Einen nennenswerten Wählerstamm besitzen die Deutschvölkischen nur mehr in den überwiegend agrarischen Gebieten Ostelbiens, die vor 1914 deutschkonservativ gewählt hatten, so daß man sie in dieser Schrumpfform mit einigem Recht als „Erbe der Konservativen“ bezeichnen kann. 58 Allerdings mit der Betonung auf „Erbe“. Der Niedergang der DVFB bedeutet das Aus für den Typus von Organisation, der die völkische Szene seit ihren Anfängen beherrscht hat: der verschiedene Gruppen und Verbände aggregierenden, vor allem auf Gesinnung und Ideologie setzenden, an die Interessen eines relativ schmalen Segments der deutschen Gesellschaft gebundenen, auf regionale Hochburgen beschränkten und überwiegend formal-legal operierenden Sammelorganisation mit kollegialer Führung. Die Gründe für diesen Niedergang sind zum einen in diesem Typus selbst zu suchen, der die Artikulation gegensätzlicher ideeller und materieller Interessen begünstigt und die Organisation dadurch zerrissen und führungslos erscheinen läßt; zum andern in den Rahmenbedingungen, die nur zeitweilig einer radikalen Systemopposition günstig sind, im Prinzip aber eher die Nachfrage nach korporatistisch-gouvernementaler Politik fördern, auf die dieser Typus schlecht eingestellt ist. Die mangelnde Resonanz bei den Wählern verstärkt die internen Spannungen 56

Vgl. Döring 2001, S. 86. Zum Schulterschluß mit der „Lutherkirche“ „gegen Verrömerung und Judäisierung“ vgl. das Resümee der Arbeitstagung der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung am 19. und 20. Januar 1929 in Berlin: Die sittlichen Grundlagen des Dritten Reiches (Unsere Waffen, 14. Folge. Rüstzeug der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung), Berlin 1929, S. 60 f., ferner den Bericht über die Tagung der DVFB in Verden, in: Mecklenburger Warte / R.Z. 25, 1931, Nr. 36, auf der die Parole „Abwehr und Angriff gegen Rom und Juda für ein neues Reich auf völkischem Grunde“ ausgegeben wird und Heinrich Wolf einen Vortrag über „Rom, der Pfahl im Fleische Deutschlands. – Die Notwendigkeit einer deutsch-protestantischen Politik“ hält. Das Judentum mit seiner angeblichen Weltstaatsidee bleibt danach zwar eine der beiden „überstaatlichen Mächte“, die als „Todfeinde der Nationalstaatsidee“ und damit auch des deutschen Nationalismus gelten. Die Notwendigkeit, sich im Tageskampf gegen den immer mächtiger werdenden Nationalsozialismus zu behaupten, läßt indes den anderen Todfeind an die erste Stelle rücken, da eine Nähe der NSDAP zu ihm propagandistisch leichter zu konstruieren ist als zum Judentum. So präsentiert Wulle Rom als den „Vorkämpfer des Nichtgermanentums“ und die europäische Geschichte als einzigen „Kampf der Nichtgermanen gegen das Germanentum (…), dessen vorläufige Krönung das Diktat von Versailles ist“: Der völkische Freiheitskampf als geschichtliche Notwendigkeit. Vortrag des Reichsführers der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung Reinhold Wulle, in: Mecklenburger Warte / R.Z. 23, 1929, Nr. 164. Ähnlichlautende Behauptungen finden sich bei Wilhelm Henning (Wer ist völkisch? ebd. 22, 1928, Nr. 128), bei Albrecht von Graefe, der „Roms zielbewußte Gegenreformation“ in den protestantischen Norden vordringen sieht (Die Eroberung des Nordens, ebd., Nr. 22) oder bei Dr. L. F. Gengler: Hitlers Verrat an der völkischen Weltanschauung, ebd. 27, 1933, Nr. 5. 58 Vgl. Wulff 1968, S. 159, 166, 168. 57

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zwischen den verschiedenen Interessenrichtungen und sprengt immer wieder die Organisation: so 1903 die Deutsch-soziale Reformpartei, so 1924 die Nationalsozialistische Freiheitsbewegung, so 1927 die DVFB. Als sich 1927/28 im Gefolge der Agrarkrise der Wind wieder dreht und auf dem Land die Nachfrage nach Protestpolitik steigt, die DNVP sich darüber hinaus aus der Rolle einer Milieupartei zurückzieht und neue Spielräume öffnet, sind die Deutschvölkischen verbraucht und zerschlissen, ihre Führungskräfte entzaubert. Was nach der Abspaltung der Gruppen um Reventlow, Kube, Fritsch u. a. noch übrig ist, ist durch die innerparteiliche Polarisierung so weit in die Nähe der Hugenberg-DNVP gedrängt worden, daß die Wähler darin keine Alternative mehr sehen. So ist es nicht die DVFB, sondern die NSDAP, denen sich die an völkischer Politik interessierten Schichten auf dem Land und bald zunehmend auch in der Stadt zuwenden. Der Niedergang der Deutschvölkischen bedeutet zugleich das Aus für die beiden Generationen, die mit diesem Parteitypus verbunden sind: die Generation der zwischen 1850 und 1865 Geborenen, die sich selbst einmal als „Übergangsmenschen“ (Hermann Conradi) gedeutet hat, und die ihr folgende, in den beiden ersten Jahrzehnten des Kaiserreichs geborene Generation, deren Erfahrungshorizont entscheidend durch Weltkrieg und Revolution geprägt ist. Nicht daß die DVFB sich nicht auch um die Jüngeren bemüht hätte. Es gibt Kontakte zur Bündischen Jugend, die hier und da, etwa mit den Adlern und Falken, eine Zusammenarbeit begründen, und es gibt einen Deutschvölkischen Studentenverband, zu dessen Führungsriege Theodor Adamheit gehört, der überdies von November 1930 bis Mai 1931 als Schriftleiter der Kommenden fungiert, einer wichtigen Zeitschrift der Bündischen Jugend. 59 Dessen ungeachtet vermag die Partei zu keiner Zeit den Eindruck zu entkräften, daß auch ihr Personalbestand zu jener „Republik der Greise“ (Goebbels) gehört, die von den Nationalsozialisten so wirkungsvoll attackiert wird. 60 Albrecht von Graefe ist sechzig, als er 1928 die Reichsführerschaft abgibt, sein Nachfolger Wulle zwar vierzehn Jahre jünger, jedoch durch seine Tätigkeit bei der alldeutschen Deutschen Zeitung und seine Mitgliedschaft in der DNVP bis 1922 dem Establishment zu nahe, um noch als jung gelten zu können. Das Kandidatenaufgebot, das die DVFB bei Reichstags- und Landtagswahlen präsentiert, besteht aus immer den gleichen langgedienten Funktionären, die keine wirkliche Verbindung zur Jugend haben. Mit den 30er Jahren beginnt für die völkischen Veteranen innerhalb wie außer59 Die Adler und Falken (zu ihnen vgl. weiter unten) entsenden eine Delegation zur Rostocker Reichstagung der DVFB und sagen dort ihre „Kampfkameradschaft“ zu: vgl. Mecklenburger Warte / R.Z. 23, 1929, Nr. 164. Theodor Adamheit (* 1899) tritt zunächst als Schriftleiter, später als „Reichsführer“ der Deutschvölkischen Studentenbewegung Großdeutschlands hervor (vgl. Der Student. Akademische Halbmonatsschrift für völkisch-soziale Erneuerung, 1925). Zwischen 1926 und 1930 erscheinen in der Mecklenburger Warte / R.Z. knapp zwei Dutzend Artikel aus seiner Feder, überwiegend zu hochschulpolitischen Themen. Eine Zeitlang weist ihn das Impressum sogar als verantwortlichen Redakteur aus. Im September 1929 hält er auf der Reichstagung der DVFB einen Vortrag über „Jungnationalismus“, der noch im gleichen Jahr als parteioffizielle Broschüre erscheint: vgl. ders.: Der Jungnationalismus als deutsche Erneuerungsbewegung (Unsere Waffen, 18. Folge. Rüstzeug der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung), Berlin 1929. Auch in: Mecklenburger Warte / R.Z. 23, 1929, Nrn. 164 und 165. 60 Vgl. Mommsen 1985, S. 59.

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halb der DVFB die Zeit des Rückzugs aus dem aktiven öffentlichen Leben und des endgültigen Abtretens. Albrecht von Graefe stirbt im April 1933, gefolgt von Theodor Fritsch im September des gleichen Jahres. 1934 stirbt Friedrich Wiegershaus, stellvertretender Vorsitzender des DSTB und später Landesverbandsführer Westmark der DVFB, 1936 Alfred Brunner, der Gründer der Deutschsozialistischen Partei, 1937 Erich Ludendorff, 1938 Ludwig Schemann, Alfred Seeliger und Hans von Wolzogen, 1940 Max Robert Gerstenhauer. Adolf Bartels und Alfred Roth leben zwar noch bis 1945 beziehungsweise 1948 und kommen in den Genuß zahlreicher Ehrungen, spielen aber politisch keine Rolle mehr; Bartels ist der NSDAP nie beigetreten. Zu einer gewissen Machtstellung im NS-Regime bringt es aus der Führungsriege der ehemaligen deutschvölkischen Verbände, wenn ich recht sehe, nur Wilhelm Kube (1883–1943), zunächst als Gauleiter der Kurmark und Oberpräsident der Provinz Brandenburg, später, nach zeitweiligem Verlust seiner Ämter, als Generalkommissar für Weißruthenien. 61 Der ehemalige Vorsitzende der Deutschvölkischen Partei (DvP) und stellvertretende Vorsitzende des DSTB, Ferdinand Werner, steigt dank seines frühzeitigen Wechsels zur NSDAP (1930) 1933 zum hessischen Staatspräsidenten auf, vermag dieses Amt aber nur wenige Monate zu halten und wird anschließend mit einem Ehrensold abgefunden. 62 Gerhard Roßbach überführt seine Schilljugend und die Spielschar Ekkehard 1933 in die HJ, wird aber 1934 während der Röhm-Aktion festgenommen und für ein halbes Jahr inhaftiert, da er wegen seiner Beziehungen zur Reichswehr und seiner Unterstützung Schleichers verdächtig ist. 63 Graf Reventlow kann seinen Reichswart zwar noch bis zu seinem Tod 1943 halten und als Stellvertretender Führer der Deutschen Glaubensbewegung einen gewissen Einfluß ausüben, muß dieses Amt aber 1936 aufgeben. 64 Andere müssen erkennen, daß ihre Rolle als Vorkämpfer der völkischen Idee ihnen keine Privilegien in einem Regime einbringt, das vor einer zu engen Identifikation mit diesen Kreisen zurückscheut. Heinrich Pudor beantragt vergeblich die Aufnahme in die NSDAP und muß sogar von Herbst 1933 bis Juli 1934 wegen ‚Verächtlichmachung führender Persönlichkeiten der Reichsregierung‘ ins Gefängnis. Seine Schriften werden für unerwünscht erklärt und beschlagnahmt. 65 Auch Artur Dinter bemüht sich vergeblich um (Wieder-)Aufnahme in die Partei; als Haupt einer eigenen Kirche wird er von der Gestapo observiert und kommt ebenfalls zeitweise in Haft. Seine ‚Deutsche Volkskirche‘ wird 1937 verboten, er selbst zwei Jahre später durch Ausschluß aus der Reichsschrifttumskammer aller Publikationsmöglichkeiten beraubt. 66 Ernst Wachler, langjähriger Hammer-Autor und wegen seiner jüdischen Herkunft schon im Kaiserreich heftigen Anfeindungen im eigenen Lager ausgesetzt, wird 1944 in Theresienstadt umgebracht. 67 Reinhold Wulle schließlich kann zwar noch eine Zeitlang seinen Informationsbrief 61 62 63 64 65 66 67

Vgl. Art. Wilhelm Kube 2001. Vgl. Jatho 1985, S. 205 ff. Vgl. Campbell 1992; 1993. Vgl. Nanko 1993, S. 281. Die letzte Folge des Reichswart erscheint am 17. Februar 1944. Vgl. Adam 1999, S. 194 ff. Vgl. Witte 1995, S. 147 ff. Vgl. Puschner 1996; ders. 2001, S. 232.

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herausgeben und seine Anhänger in der monarchistischen „Gesellschaft Deutsche Freiheit“ sammeln, wird aber 1938 verhaftet und muß einige Jahre im Gefängnis und im Konzentrationslager Sachsenhausen verbringen. 1945 wird er sich noch einmal als Parteigründer versuchen und die Deutsche Aufbau Partei ins Leben rufen, die 1946 mit der Deutschen Konservativen Partei zur Deutschen Rechtspartei fusioniert. 68 .

68

Vgl. Schmollinger 1983, S. 985.

7. Völkische Jugend Von einem fehlenden oder gestörten Verhältnis zur Jugend läßt sich freilich nur mit Blick auf die DFVP/DFVB sprechen, nicht auf die völkische Bewegung insgesamt; für diese letztere gilt vielmehr, daß sie nach 1918 in weit größerem Maß auf Zuspruch bei der Jugend rechnen kann als vor 1914. Gewiß zählt auch schon im Kaiserreich das antisemitische Segment der Studentenschaft zu den wichtigsten Trägern der Bewegung, wie die Resonanz der Antisemitenpetition von 1880/ 1881 gerade in Universitätsstädten oder die Bereitschaft zur Aufnahme eines „Arierparagraphen“ in den Vereinen deutscher Studenten zeigt 1 ; und gewiß kennt man auch damals bereits einschlägige Organisationen wie den 1909 an der Berliner Universität gegründeten Deutschvölkischen Studentenverband, in dessen Zeitschrift, den von 1911 bis 1914 erscheinenden Deutschvölkischen Hochschulblättern, sich die völkische Prominenz von Bartels und Böckel bis Wachler und Wilser ein Stelldichein gibt. 2 Während sich das Engagement in dieser Zeit jedoch auf den akademischen Raum beschränkt und darüber hinaus starken Fluktuationen unterworfen ist, gewinnt es nach 1918 deutlich an Breite und Kontinuität. Studenten bilden im Nachkrieg eigene Freiwilligenverbände und stellen einen wesentlichen Teil der Freikorps; sie gründen an zahlreichen Universitäten „Hochschulringe deutscher Art“, die sich im Juni 1920 in Göttingen zum Deutschen Hochschulring (DHR) zusammenschließen. 3 Daß es hierbei um wesentlich mehr geht als nur um Hochschulpolitik, zeigt die bewußte Einbeziehung von Studentenverbänden in Österreich und der Tschechoslowakei, die eine „großdeutsch-nationalistische“ Ausrichtung signalisiert, zeigt außerdem die 1922 vom DHR in der Deutschen Studentenschaft als der Dachorganisation der örtlichen Studentenschaften durchgesetzte Würzburger Mitgliedschaftsformel, die für die staatsrechtlich nicht zu Deutschland gehörenden Verbände eine Rekrutierung mittels des Abstammungsprinzips zuläßt, das sowohl in antislawischem als auch in antisemitischem Sinne aufgeladen wird. 4 Das ist für sich genommen noch nicht spezifisch völkisch, sondern Ausdruck des für verschiedene Strömungen charakteristischen 1

Vgl. Roos-Schumacher 1986; Kampe 1988; 2000. Vgl. Puschner 2001, S. 284. Zu den Gründungsmitgliedern dieses auf dem ‚Blutsbekenntnis‘ beruhenden Verbandes zählt der zunächst zu den Deutschsozialen, dann zu den Deutschkonservativen und schließlich zu den Deutschnationalen gehörende Wilhelm Kube, der sich auch später als Jugendorganisator hervorgetan hat: Im Januar 1919 gründet er in Breslau den Jugendbund Bismarck, der 1922 als Reichsverband der Bismarckjugend in die DNVP inkorporiert wird. Schon im folgenden Jahr ist Kube wieder zu seinen Anfängen zurückgekehrt, indem er sich der Deutschvölkischen Freiheitspartei anschließt. Vgl. Loop 2006. 3 Vgl. Zirlewagen 1999, S. 40 ff.; Brunck 1996, S. 105, 188 ff.; Walther Schulz: Die Hochschulring-Bewegung. Ihre Grundlagen und Auswirkungen, Berlin 1927; Fricke 1984, Bd. 2, S. 116 ff. 4 Vgl. Schwarz 1971; Lönnecker 2004. „Vorbildlich“ in diesem Sinne ist auch die Deutsche Burschenschaft, die bereits 1920 auf dem Eisenacher Burschentag beschließt, nur Deutsche arischer Abstammung aufzunehmen: vgl. Brunck 1996, S. 156. 2

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Ethnonationalismus 5, doch bildet sich auf dieser Grundlage auch eine „Deutschvölkische Studentenbewegung Großdeutschlands“, die sich seit Oktober 1925 „Völkische Studentenbewegung“ nennt, über eine eigene Zeitschrift verfügt (Der Student) und sich im Streit mit dem preußischen Kultusminister Becker zu profilieren vermag. 6 Zwar gelingt es den Deutschvölkischen nicht, den DHR zu erobern, der in der zweiten Hälfte der 20er Jahre immer mehr in das Fahrwasser der DNVP gerät 7 , doch zeigt ihre Agitation mittelbare Folgen, bereitet sie doch den Boden für den Aufstieg des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes, der ab 1926/27 die Hochschulszenerie zu beherrschen beginnt. 8 Auch außerhalb der akademischen Sphäre können die Völkischen erhebliche Terraingewinne verbuchen. In der Jugendbewegung, die als solche natürlich ebensowenig völkisch ist wie die Lebensreform- oder die Frauenbewegung 9 , finden sich schon vor dem Ersten Weltkrieg Verbände wie die Fahrenden Gesellen, die Jugendorganisation des DHV, die von den Alldeutschen Blättern als „völkisch unbedingt zuverlässig“ eingestuft wird (womit wohl vor allem die Übernahme des „Arierparagraphen“ aus der Satzung des Mutterverbandes gemeint ist) 10 , aber auch Gruppen im Wandervogel, die sich für eine Ethnisierung des Nationsverständnisses und dessen Zuspitzung im antisemitischen Sinne stark machen. 11 Friedrich Wilhelm Fulda, Herausgeber der „nichtamtlichen“ Führerzeitung des Wandervogels, öffnet die Spalten seines Blattes sogar für Philipp Stauff. Während des Krieges schließt sich der „Wandervogel V.B. (Vaterländischer Bund für Jugendwandern)“ der völkischen Bewegung an und gibt sich im Sommer 1918 die neue Bezeichnung „Wandervogel, Völkischer Bund für Jugendwandern“. 12 Zur gleichen Zeit gewinnt Ernst Hunkel vom Deutschen Orden den Wandervogelführer Otger Gräff als Mitarbeiter für das Beiblatt für die deutschvölkische Jugend beim Neuen Leben, „Heiliger Frühling“. 13 Aus dessen Lesern und Mitgliedern seines Greifenbundes bildet Gräff den Jungdeutschen Bund, der manchen wegen des zur Aufnahmebedingung gemachten „Blutsbekenntnisses“ „als erster völkisch-nationaler, ja rassisch bewußter Bund innerhalb der Jugendbewegung“ gilt. 14 Ob man allerdings aus solchen Fakten schließen kann, daß zu diesem Zeit5 Hier bin ich anderer Ansicht als Ulrich Herbert in seiner ansonsten instruktiven Studie über die ‚Generation der Sachlichkeit‘ (1995). Gänzlich verschwommen ist der Begriff des Völkischen bei Leisen 1964. 6 Vgl. Theodor Adamheit: Der Kampf für die Deutsche Studentenschaft, Berlin 1927; Leisen 1964, S. 126 ff.; Brunck 1996, S. 191. 7 Vgl. Fricke 1984, Bd. 2, a. a. O. 8 Vgl. Kater 1975; Faust 1973. 9 Wie gegenüber den Breitwandgemälden in der Manier von George Mosse festzuhalten ist: vgl. ders. 1965, S. 202 ff. 10 Vgl. Wilhelm Kotzde: Völkisches zur Jugendbewegung, in: Alldeutsche Blätter 1914, Nr. 9, S. 74–76, 75. Zu den 1909 gegründeten Fahrenden Gesellen vgl. Kindt 1968, S. 694 ff. 11 Vgl. Laqueur 1978, S. 91 ff.; Winnecken 1991, S. 62 ff. 12 Vgl. Kindt 1968, S. 373; Fiedler 1989, S. 116 ff. 13 Zu Otger Gräff (1893–1918), der zuvor einer beachtlichen Zahl völkischer Gesinnungsgemeinschaften angehört, von der Germanengilde und dem Reichs-Hammerbund über den Deutschen Volksbund bis hin zur ‚Loge des aufsteigenden Lebens‘ vgl. Kindt 1968, S. 951 ff.; Jantzen 1982, Bd. 5, S. 103–105; Ulbricht 1988–92, S. 115. 14 Vgl. Kindt 1968, S. 953 ff., 992 f.; Heinz Bartsch: Die Wirklichkeitsmacht der Allgemeinen

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punkt ein Drittel der Jugendbewegung völkisch eingestellt ist, muß allein schon deswegen bezweifelt werden, weil bei solchen Schätzungen meistens völkisch und nationalistisch gleichgesetzt wird. 15 Nach Kriegsende ist es vor allem der Deutschbund, von dem weitere Initiativen ausgehen. Wohl um 1919 erscheint eine nicht datierte, von den Deutschbund-Gemeinden Bismarckland und Breisgau unterzeichnete „Denkschrift über die Entfachung einer umfassenden Deutschbewegung unter der Jugend“, die zur Gründung einer an den Deutschbund angelehnten und doch hinreichend selbständigen Jugendgemeinschaft aufruft, die die Bezeichnung „Adler“ tragen soll, in Anknüpfung an den alten Göttervogel der Arier und das Sinnbild des Evangelisten Johannes. In diese Gemeinschaft soll „weder jüdisches noch farbiges Blut, auch nicht in Mischungen“, Eingang finden; ihre Mitglieder sollen Rauch- und Rauschgifte meiden und sich der Aufgabe verschreiben, der Deutschbewegung jene „seelisch und geistig wertvolle Jugend“ zu gewinnen, „die wir sonst den ‚entschiedenen Schulreformern‘ sozialistischer und kommunistischer Prägung überließen.“ Der Leiter des Bundes solle vom Bundeswart des Deutschbundes ernannt werden und dafür sorgen, „daß Ziel und Lebensstimmung des Adlers nicht vom reinen Deutschtum abirren.“ Ähnliches solle für einen noch zu schaffenden Älterenbund gelten, der unter dem Namen „Falken“ alle Adler vereinen solle, die das 18. Lebensjahr überschritten haben.16 Im Februar 1920 läßt der Verfasser dieser Denkschrift, der bei Freiburg ansässige und seit Ende 1913 dem Deutschbund angehörende Schriftsteller Wilhelm Kotzde, den Worten Taten folgen und gründet auf einer Schwarzwaldhöhe bei Kirchzarten mit einer zunächst noch kleinen Schar von Jungen und Mädchen den angekündigten Bund.17 Ein anonymer Beobachter, der im August 1921 an Deutschen Glaubensbewegung der Gegenwart. Phil. Diss. Leipzig 1938, S. 18. Als nach dem Tod Gräffs die deutschgläubigen Tendenzen im Jungdeutschen Bund wieder zurückgedrängt werden, gründet Hunkel Ende 1918 die Jungbornlauben des Deutschen Ordens, die wiederum das „Blutreinheitsbekenntnis“ verlangen. Nach Hunkels Ausscheiden aus dem Deutschen Orden formt sich aus den Jungbornlauben der Greifenring im Deutschen Orden, der sich 1924 zusammen mit den Jungscharen der Germanischen Glaubensgemeinschaft als Orden der Nordungen neu konstituiert: vgl. ebd., S. 18 f., 31 ff.; Nanko 1993, S. 46 f. 15 Vgl. Laqueur 1978, S. 120. 16 Denkschrift über die Entfachung einer umfassenden Deutschbewegung unter der Jugend, o. J., Rathenow und Neuhäuser (Kopie aus dem im Privatbesitz befindlichen Archiv Teichmann). 17 Wilhelm Kotzde (1878–1948) ist bis 1907 als Volksschullehrer in Berlin tätig, anschließend als freier Schriftsteller, seit 1918 im Breisgau. Als Mitbegründer des Rathenower Wandervogel e. V. und des Havelländischen Heimatvereins engagiert er sich früh in der Jugend- wie in der Heimatbewegung. 1913/14 verstrickt er sich in eine publizistische Fehde mit dem Kunstwart über den Stellenwert patriotischer Jugendliteratur, die ihn den Anschluß an den Deutschbund suchen läßt. 1918 erhält er den Ehrenpreis der Langhans-Stiftung des Deutschbundes zur Ehrung völkischer Dichter und Künstler, legt aber im Januar 1922 für einige Jahre die Mitgliedschaft im Deutschbund nieder. Auch aus der Führung der Adler und Falken wird er sich ab 1927 wieder zurückziehen, um sich mehr seiner schriftstellerischen Tätigkeit zu widmen. Seine öffentlichen Funktionen beschränken sich danach auf die Schirmherrschaft der Deutschen Falkenschaft, die Mitgliedschaft im Irminbund und im Bund völkischer Lehrer sowie ab Mai 1933 in der NSDAP. Unter seinen Romanen sind hervorzuheben: Schulmeister Wackerath, 1904; Im Schillschen Zug 1907; Frau Harke 1915; Die Wittenbergisch Nachtigall 1917; Die Burg im Osten 1925; Schicksal der Allheidis 1929; Wilhelmus von Nassauen 1933. Zahlreiche Aufsätze finden sich in Organen wie: Heimat-

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einer Tagung dieses Bundes teilnimmt, notiert: „Die Bewegung ist von Kotzde mit Unterstützung des Deutschbundes vom Schreibtisch aus ins Leben gerufen worden. Nach seiner eigenen Angabe sandte er im ersten Jahr 3000 Briefe hinaus. Der Erfolg äusserte sich schnell […] Dazu waren die Kinder der Deutschbundbrüder so ziemlich zwangsweise geführt wurde, so dass rein zahlenmässig der Bund sehr groß war.“ 18 Da Kotzde gleichzeitig im Rahmen des vom Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes organisierten „Deutschen Tages“ das Amt eines Obmanns für Deutsche Jugendbewegung innehat, sieht der Hamburger Polizeipräsident im Juli 1922 hinreichende Verdachtsmomente gegeben, um die Adler und Falken als Unterstützungsverein des verbotenen DSTB aufzulösen. Für den Reichskommissar für Überwachung der öffentlichen Ordnung steht zu dieser Zeit fest, „dass zwischen dem deutsch-völkischen Schutz- und Trutzbunde und überhaupt der deutschvölkischen Bewegung, und dem Bunde ‚Adler und Falken‘ die engsten Beziehungen bestehen.“ 19 Das ist zwar nicht ganz korrekt, da die Adler und Falken im August 1921 für einige Jahre die Beziehungen zum Deutschbund abbrechen, trifft aber trotzdem ins Schwarze, weil die zugrundeliegenden Differenzen nur strategischer, nicht grundsätzlicher Art sind. Schon 1926 versöhnt man sich wieder. 20 Es gibt also durchaus Interferenzen zwischen den Völkischen und einem Teil der Jugendbewegung. Versucht man freilich, diese inhaltlich zu bestimmen, stößt man auf erhebliche Schwierigkeiten. Als erstes ist festzuhalten, daß nicht überall dort, wo die Vokabel „völkisch“ als Selbstbeschreibung akzeptiert wird, auch eine Übernahme des entsprechenden Gesinnungskerns vorliegen muß. So kann der George-Anhänger Ernst Kantorowicz 1919 in der Zeitschrift der Freideutschen Jugend die Ansicht vertreten, die völkische Orientierung habe nichts mit Politik zu tun und sei strikt von allem Nationalismus zu scheiden. 21 Ein republikanischdemokratischer Freideutscher wie Walter Hammer schickt seinem Hochruf auf Schwarz-Rot-Gold die Aufforderung voran, es sei „im wahrsten Sinne des Wortes

schutz in Brandenburg (1913, 1914), Deutscher Volkswart (1913 ff.), Deutsches Volkstum (1917), Der Türmer (1920, 1922/23, 1923/24, 1927), Deutsche Bauern-Hochschule (1924), Der Zwiespruch (1925–1927), Die Sonne (1925), Arminius (1926), Die junge Front (1930), Deutsche Zeitung (1930), Die Deutschkirche (1931), Neuland (1931, 1932). Zu Person und Werk vgl. die Skizze in Jantzen 1974, Bd. 2, S. 203–206. 18 Vertraulicher Bericht über die Tagung der Adler und Falken in Pottenstein, Ernting 1921. (AdJ A 2–80/4). Der Bericht nennt eine Zahl von 700 Teilnehmern. Die Zahl der Mitglieder beträgt zu diesem Zeitpunkt rund 3000, um sich bis 1932 auf circa 3500 zu vergrößern, davon 2000 Jungen und 1500 Mädchen. Ostern 1929 spaltet sich davon die Deutsche Falkenschaft ab, die es bis 1933 auf etwa 1000 Mitglieder bringt: vgl. Kindt 1974, S. 840, 842, 862. 19 Vgl. Alfred Roth: Unser Wollen – unsre Arbeit, Hamburg, 3. Aufl. 1921 (zuerst 1919), S. 9; Der Reichskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung vom 2.10. 1922, BArch R 1507/357, S. 9. 20 Zum Konflikt mit dem Deutschbund, der sich an unterschiedlichen Fragen wie der Führungsrolle Kotzdes und seinen Kompetenzen gegenüber anderen Deutschbundbrüdern sowie an der Frage Wehrbund oder Wanderbund entzündet, vgl. die Hinweise und Berichte in: Der Falke 2, 1921, H. 5; 3, 1922, S. 64 f.; Der Adler 3, 1922, H. 5–7; DbBl 27, 1922, Nr. 1–3 und 4–5; zur Wiederannäherung vgl. Der Adler 7, 1926, H. 4. 21 Vgl. Kindt 1974, S. 257 f.

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völkische Pflicht auch der Jugend, an den Angelegenheiten des Staates herzlichen Anteil zu nehmen.“ 22 Der Kronacher Bund setzt sich im Rahmen seiner Grenzlandsarbeit explizit die „Pflege eines volkhaften Zusammenhanges“ zur Aufgabe, den er in ethnischem Sinne versteht, lehnt es aber entschieden ab, Juden aus dem Bund auszuschließen. Eine Verpflichtung des Bundes auf genau umschriebene politische oder weltanschauliche Normen gar wird für undenkbar erklärt. 23 Der Deutsche Mädchen Wanderbund, das weibliche Pendant der Fahrenden Gesellen, zerbricht Anfang der 20er Jahre an dem anhaltenden Streit über die Frage, ob der Begriff völkisch im antisemitischen Sinne auszulegen sei. 24 Der Leiter des Jungnationalen Bundes, Heinz Dähnhardt, will 1922 „neue Formen und Gesetze unseres völkischen Lebens“ entwickeln, zieht für deren Realisierung aber die Volkskonservative Vereinigung den völkischen Parteien und Verbänden vor. 25 Als weiteres Beispiel für die sehr unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten, die die „völkische Idee“, besser gesagt: der ethnische Nationsgedanke, in der Jugendbewegung erfährt, mag die Neugründung des Jungdeutschen Bundes im August 1919 durch Frank Glatzel dienen, die das Bekenntnis zum Aufbau eines Deutschen Reiches als „Grundlage und Gestalt völkischen Lebens“ mit der klaren Abgrenzung von der deutschgläubigen Richtung Otger Gräffs und Ernst Hunkels verbindet. Einige Jahre später vollzieht Glatzel den Schnitt zur politischen Rechten, um sich der DVP anzuschließen, für die er 1930 als Abgeordneter in den Reichstag einrückt. 26 Auch dort jedoch, wo der Gesinnungskern unzweideutig vorhanden ist, bleibt das ideologische Profil häufig so unscharf, daß es schwerfällt, über den Rechtsnationalismus hinaus Momente auszumachen, die für eine Qualifizierung desselben als völkisch nötig sind. So beschwört Wilhelm Kotzde, der „Bundesvater“ der Adler und Falken, in seinen zahlreichen Reden und Aufsätzen zwar immer wieder „die göttliche Sendung des deutschen Volkstums“ und läßt nicht im Zweifel, daß er „die Deutschen für das auserwählte Volk Gottes“, ja das „Welterlösungsvolk“ hält, die einzigen Erben, „an denen die Zukunft der Lichtsendung des nordischen Menschen hängt“. 27 Die Konkretisierung dieser Sendung für die Gegenwart geht jedoch selten über den Wunsch nach einem Helden hinaus, der „Parzival, Faust und Bismarck in eins wäre“. 28 Noch mit die genaueste Handlungsanweisung besteht in der Empfehlung, endlich auf die „Priester des deutschen Volkes“ zu hören, die heute die Künstler seien, womit die mangelnde Nachfrage nach seinen, Kotzdes Büchern, zum Sakrileg und die unzureichende Werbung in völkischen

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Walter Hammer: Rathenau ermordet! In: Junge Menschen 3, 1922, S. 174. Vgl. Kindt 1974, S. 304, 297, 317. 24 Vgl. de Ras 1988, S. 131 ff. 25 Vgl. Kindt 1974, S. 491, 495. 26 Vgl. ebd., S. 327, 324, 332, 330. 1933 hat sich Glatzel dann allerdings wieder eines anderen besonnen: vgl. seinen Aufsatz „Aufbruch der jungen Nation“, in: Die Kommenden 8, 1933, F. 26. Zu Glatzel ausführlich Müller 1971. 27 Wilhelm Kotzde: Ausgang, Entwicklung und Ziele des deutschen Geistes, in: Deutscher Volkswart 5, 1920, H. 7, S. 224–226, 224; ders.: Die feurige Wolke, ebd., H. 8, S. 257–261, 259; ders.: Von deutscher Jugend Sendung. Gedanken aus den Bergen, Nürnberg 1921, S. 7. 28 Kotzde 1921, a. a. O., S. 12. 23

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Buchhandlungen zum Anschlag auf die Bewegung gestempelt ist. 29 Blättert man das Schrifttum des Bundes durch, vor allem die abwechselnd erscheinenden Hefte Der Adler und Der Falke, so gewinnt man allerdings den Eindruck, daß die meisten Mitglieder es wohl auch gar nicht sehr viel genauer wissen wollen. Im Mittelpunkt stehen hier die Berichte von Wanderungen und Fahrten, von Bundestagen und Führertreffen, die sich nur wenig von der Eigenliteratur der nicht explizit politisch ausgerichteten Bünde unterscheiden. „Völkisch“, das heißt oft nicht viel mehr als Aneignung der Nationalkultur, „völkische Arbeit“ etwas ähnliches wie das, was eine spätere Jugendbewegung als „Basisarbeit“ bezeichnen wird. 30 Trotz dieses wenig ausgearbeiteten ideologischen Profils gibt es genügend Hinweise auf die Motive, die Adler und Falken sowie die ihnen nahestehenden Bünde dazu veranlassen, sich als Teil der völkischen Bewegung zu verstehen. Dazu gehören: die Attacken auf die Großstadt und die dem großstädtischen Leben zugeschriebenen pathologischen Erscheinungen wie Zivilisationskrankheiten, Alkohol- und Nikotinmißbrauch, ungesunde Ernährung und Lebensführung31 ; die Empörung über die „Entgleisungen des Expressionismus, Futurismus, Kubismus und anderer fremd-völkischer Strömungen“ 32 ; die Wut über das Kino und das zeitgenössische Theater, das „heute zumeist eine Stätte des Schmutzes (sei), an der die Triebe niederer Rassen sich ausrasen dürfen“ 33 ; die Klagen über das „Autorasen und Motorengeknatter“ unserer Tage 34 ; und dagegen dann das Kontrastbild einer harmonischen, in sich geschlossenen Volkskultur, die sich unmittelbar der Natur, der Herkunft der Deutschen aus dem Wald verdanken soll. 35 Gleich29 Vgl. ders.: Die Erneuerung des deutschen Menschen, Freiburg 1923 (unpag., S. 3); ders.: Notschrei, in: Deutscher Volkswart 5, 1920, H. 12, S. 341–343. Von hier aus gesehen lassen sich die diversen Bündegründungen durch Kotzde nachgerade als Akte der Marktsubstitution interpretieren. 30 Vgl. Erich Müller: Auf großer Fahrt, in: Der Falke 2, 1921, H. 5: „‚Dienst am Deutschtum‘ sollte unsere Fahrt nach Nürnberg sein. Manch einer mag vor Eifer garnicht recht dazu gekommen sein, doch ich kann Dir sagen, daß in den Stunden, in denen ich allein bei scheidender Nachmittagssonne im Gestühl am Sebaldusgrab saß, als ich auf den Spuren des Meisters Dürer ehrfurchtsvoll wandelte, als ich oben auf dem Söller der alten Zollernburg stand, daß da sich mir der deutsche Geist zutiefst offenbarte. Da erlebte ich erst eigentlich, was völkisch sein heißt.“ Vgl. auch Kurt Holler: Völkische Arbeit, ebd. 31 Vgl. Hans Teichmann: Der heilige Frühling, in: Der Falke 6, 1925, H. 1. Teichmann (1901– 1974), später der Schwiegersohn Kotzdes, ist Schriftleiter der beiden Zeitschriften der Adler und Falken, von 1928 bis Ende 1929 auch der Kommenden. 32 Wilhelm Kotzde.: Die Geschichte der Adler und Falken, in: Deutschlands Erneuerung 10, 1926, H. 4. 33 Vgl. ders.: Jahreswende – Schicksalswende? In: Der Adler 6, 1925, H. 1. 34 Ders. 1926, a. a. O.; Heiligung des Werks, Weißenfels 1930, S. 11. 35 Vgl. ders.: Erziehung zum Deutschtum, in: Der Tag, 9. 12.1923; ders.: Der Fahrtenmensch, in: Deutsche Bauern-Hochschule 4, 1924, F. 1: „Der Wald ist sicher der höchstgeordnete Lebenskreis auf dieser Erde. Und in ihm war unser Volk in seinem Werden eingefügt. Unsere Qual begann erst, als wir dieses Gefüge verließen. Ich meine nicht den Zeitpunkt, als wir vom Jäger- zum Bauernvolk wurden, da blieben wir seelisch noch ein Waldvolk. Die Kunst ist immer klarste Offenbarung des Wesens eines Volkes; als Schwind seine Bilder malte, da waren wir Deutsche noch nicht aus unserm Lebenskreis getreten. Aber als wir auf den Asphalt traten, da war es vorbei mit uns. Oder wäre es doch gewesen, wenn nicht der Wandervogel die rettende Tat getan, daß er uns den Weg zurück in unsern Lebenskreis zeigte. Aber wir haben diese Tat nicht vollendet.“ Ideen dieser Art verdankt Kotzde den Arbeiten des österreichisch-ungarischen Biologen und Naturphi-

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wohl: bei allem laus temporis acti weiß man doch nur zu gut, daß sich die Höhepunkte deutscher Kultur in der Stadt entfaltet haben, und daß sich erst recht die Wiedergewinnung einer Machtstellung Deutschlands nur mit der modernen Technik, nicht ohne oder gar gegen sie, erreichen läßt. Denjenigen Wandervögeln, die die Technik als etwas Grausames und Zerrüttendes verfluchen, hält Kotzde entgegen, daß ihre jetzige äußere Erscheinung nur ein Übergang sei, dem man mit der beim Wandern, im Wald, erworbenen seelischen Kraft begegnen könne. „Ohne Technik würde Deutschland zu Grunde gehen; denn der Vernichtungswille der anderen Völker ist da. Ohne Technik würden wir der Entwicklung der Zeit hilflos gegenüberstehen. Die Bevölkerung der Erde nimmt zu, der einzelne Mensch, das einzelne Volk wird von Jahr zu Jahr über einen geringern Raum verfügen; ohne Technik müßten wir darauf ersticken. Die Großstädte sind da und nicht von der Erde zu tilgen; die Technik muß uns dienen, daß das Leben in ihnen einmal ertragbar wird für Menschen, die Seele haben. Karl Schmidt hat davon gesprochen, daß die heutigen Großstädte die Form noch nicht haben, die gemeisterte Form. Sie sind unversehens entstanden, unter den Händen von Menschen, die nicht Wandervögel waren, das heißt die tieferen Zusammenhänge deutschen Menschseins verloren hatten. Es wird ein neues Geschlecht kommen, das um diese Zusammenhänge weiß, es wird auch die Großstädte meistern; aber es bedarf dazu der Technik. Heute pfuscht man, wenn man Flüsse reguliert, Kraftwerke anlegt, Städte baut. Wenn das kommende Geschlecht wieder ein waldgeborenes sein und zugleich alle Gegebenheiten der Technik beherrscht, wird man nicht mehr pfuschen.“ 36 Stellt man Äußerungen wie diese neben das Bekenntnis zum ‚nordischen Rassengedanken‘, das die Publizistik der Adler und Falken von Anfang an durchzieht 37 , könnte man sogar versucht sein, den Schwerpunkt eher beim Neo- beziehungsweise Rassenaristokratismus zu vermuten als beim völkischen Nationalismus; und in der Tat könnten viele Äußerungen genau so bei Hans F. K. Günther losophen Raoul Francé (1874–1943), der seit der Jahrhundertwende zu den Mitstreitern Ernst Wachlers gehört (Puschner 1996, S. 782). Typisch für Francé ist die Behauptung einer engen Verbindung zwischen Waldkultur und Gotik, womit ein weiterer, für Kotzde zentraler Topos benannt ist: vgl. Raoul Francé: Ewiger Wald. Ein Buch für Wanderer, Leipzig 1922; ders.: Die Kultur von morgen. Ein Buch der Erkenntnis und der Gesundung, Dresden 1922. Zur (durchaus kontroversen) Rezeption der Ideen Francés in der völkischen Bewegung vgl. Alfred Seeliger: Raoul Henry Francé, in: Deutsche Bauern-Hochschule 5, 1925, F. 7; Gerhard Tenschert: Die „Deutsche Lebenslehre“. Raoul H. Francés ‚Objektive Philosophie‘ und ihre Bedeutung für den völkischen Gedanken, in: Reichswart 8, 1927, Nr. 45; Rudolf Viergutz: Richtiges Leben, in: Die Kommenden 4, 1929, F. 41 (pro) sowie Adolf Bartels: Nochmals: Völkisch, in: Deutscher Volkswart 6, 1921, H. 10 (contra); zum Echo speziell in der Jugendbewegung Wolschke-Bulmahn 1990, S. 83 ff. Allgemein zur Rolle des Waldes in der ‚deutschen Mythologie‘ seit den Brüdern Grimm: Lehmann und Schriewer 2002; Becker 2007. 36 Wilhelm Kotzde: Technik, in: Der Adler 7, 1926, H. 8–12; vgl. ebd. auch Hansjoachim Lemme: Wir und die Technik. Beide Artikel reagieren auf den von Felix Wankel, dem späteren Erfinder des nach ihm benannten Motors, unternommenen Versuch, die Jugendbewegung zu einer bejahenden Haltung gegenüber der Technik zu bringen. Vgl. Felix Wankel: Jugendbewegung und Technik, in: Die Kommenden 1, 1926, F. 49. 37 Vgl. Wilhelm Kotzde: Anmerkungen, in: Der Falke 2, 1921, H. 5; Hans Teichmann: Grundlagen, in: Der Adler 6, 1925, H. 2.

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oder Ludwig Ferdinand Clauß stehen, die im übrigen auch in den Zeitschriften der Adler und Falken ausgiebig zu Wort kommen. 38 So wird ganz in der Manier Günthers das nordische Blut zur einzigen Quelle von Heldentum und Schöpferkraft erklärt und der kulturelle Niedergang aus einer relativen Abnahme des nordischen Blutsanteils im Verhältnis zum ostischen abgeleitet, wie auch die Gegenstrategie – die Verlagerung überschüssiger Großstadtpopulationen auf das Land – mit diesem Argument begründet wird. 39 1925 richten die Adler und Falken ein Amt für Rassenkunde und Vorgeschichte ein, das zunächst unter der Leitung von Ernst Pallme-König steht, anschließend unter derjenigen von Kurt Holler, der zur gleichen Zeit Mitglied des Nordischen Rings und Schriftleiter der Nordischen Blätter ist. 40 Als in der Zeitschrift Die Sonne eine heftige Attacke gegen den „Rassenpessimismus“ der Nordizisten erscheint, stellt sich Kotzde vor die Angegriffenen und erklärt: „Das Werk Günthers ist von überragender Bedeutung. Nehmen wir es als Grundlage, die jeder, aber auch jeder sich erwerben muß, der in die Reihen der völkischen Bewegung treten will.“ 41 Ein Jahr später engagiert er sich im Beirat des vom J. F. Lehmanns Verlag ins Leben gerufenen Werkbundes für deutsche Volkstums- und Rassenforschung, zusammen mit Eugen Fischer, dem Mitautor des verbreiteten Standardwerks Menschliche Auslese und Rassenhygiene (1921), und Hans F. K. Günther, dem Verfasser der Rassenkunde des deutschen Volkes (1922). Der Gründungsaufruf wird in voller Länge im Adler abgedruckt. 42 Das Gewicht, das dem Faktor Rasse zugeschrieben wird, ist dennoch geringer als im Rassenaristokratismus. Dem nordischen Blut werden nicht nur positive, sondern auch negative Eigenschaften attestiert, wie etwa die fatale Neigung zu Streit und Dissoziation. Die Germanen, meint Kotzde, seien das Volk des Brudermords, das sich ohne entgegenwirkende Kräfte so zerfleischt hätte, daß es aus der Weltgeschichte ausgeschieden wäre. 43 Zu diesen entgegenwirkenden Kräften 38

Vgl. Hans F. K. Günther: Die heldische Rasse, in: Der Falke 2, 1921, H. 1; ders.: Die nordische Bewegung unter den Deutschen, in: Der Falke 6, 1925, H. 6; Ludwig Ferdinand Clauß: Artung der Seele, in: Der Falke 5, 1924, H. 7–8; ders.: Auszug aus ‚Die nordische Seele‘, ebd., H. 9– 10; ders.: Die Edda und wir Deutsche, ebd. Beide Autoren gehören, wie weiter oben bemerkt, seit Anfang der 20er Jahre zum Deutschbund, Clauß sogar zur Freiburger Gemeinde, die bis 1922 von Wilhelm Kotzde geleitet wird. 39 Vgl. Wilhelm Kotzde: Von deutscher Artung, in: Der Adler 5, 1924, H. 5–6; Teichmann: Der heilige Frühling, a. a. O. 40 Kurt Holler (1901–1981) wird in der NS-Zeit zum Mitarbeiterstab der von Günther und Clauß herausgegebenen Zeitschrift Rasse gehören und es bis zum SS-Hauptscharführer bringen (BArch RS C 0503). Ebenfalls aus den Reihen der Adler und Falken kommt ein weiterer bekannter Autor der nordischen Bewegung im Dritten Reich: Lothar Stengel von Rutkowski (1908– 1992): vgl. Jantzen, Bd. 3, 1975, S. 299–304. Seit 1930 Mitglied der NSDAP und der SS, ist Stengel von 1934 bis 1938 Führer im Stab beim Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA), dann Medizinalrat in Thüringen, Universitätsdozent für Rassenhygiene und RuSHA-Arzt in Prag: vgl. Heinemann 2003, S. 637 f. 41 Wilhelm Kotzde: Führung, in: Die Sonne 2, 1925, H. 14–15. Ausgelöst wurde der Streit durch den Artikel von Hermann Albert Prietze: Sind wir Deutsche ein Volk von Mischlingen? Ebd., H. 1. 42 Vgl. Der Adler 7, 1926, H. 3. 43 Vgl. Wilhelm Kotzde: Deutscher Glaube, in: Der Falke 4, 1923, H. 1–2.

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zählt Kotzde die Religion, in diesem Fall: das Christentum, aber auch die Nationalkultur, allgemeiner: die Kräfte des Geistes und der Seele, die wohl biologisch bedingt seien, in dieser Bedingtheit aber nicht aufgingen. Davon abgesehen stellt sich die Lage für Kotzde deutlich undramatischer dar als für Günther und Clauß, ist für ihn doch ausgemacht, daß „trotz aller Mischung unser Blut (noch) überwiegend nordisch“ ist und gewissermaßen nur der Aktivierung bedarf, um seine volksverbindenden und Brüderlichkeit stiftenden Eigenschaften zu entfalten. 44 Der Auffassung, die deutsche Arbeiterschaft sei während der Revolution vor allem deswegen fremden, das heißt jüdisch-sozialistischen Führern gefolgt, weil sie nicht überwiegend nordischen Blutes sei, hält er entgegen: „Nein und dreimal nein! Der deutsche Arbeiter ist vorwiegend nordischen Blutes, so gut wie irgend ein anderer Stand […] Der Arbeiter ist nicht anderen Blutes als die geistigen oder die besitzenden Schichten unseres Volkes.“ Die „Kernfrage aller völkischen Arbeit“ ist von hier aus gesehen nicht auf dem Wege der Exklusion zu lösen, wie die Rassenaristokraten meinen, sondern auf dem Wege der Inklusion, indem die „Geistigen und Besitzenden“ sich nicht in ihrem Kastengeist verbeißen, sondern „ihr ganzes Denken und Handeln auf den Gedanken der Volksgemeinschaft“ einstellen. Das sei bei den Adlern und Falken bereits erreicht, weshalb man sie mit Recht „völkisch“ nennen dürfe. 45 „Wer das vermag, der erbringt damit den Beweis dafür, daß das nordische Blut in ihm bestimmend ist, und sei er körperlich nach einer anderen Rasse hin ausgeschlagen.“ 46 Man sieht: Rasse ist aus dieser Sicht eine Sache der Einstellung, die sich im völkischen Nationalismus manifestiert, keine von der Einheit Volk irgendwie zu unterscheidende Größe. Rassenzüchterische Ideen der „Aufnordung“ spielen denn auch eine weit geringere Rolle als Fragen der seelischen Aufforstung: der Wiedergewinnung der ursprünglichen Waldseele des deutschen Volkes. Als Kotzde seine Anhängerschaft 1927 auf die Lösung der drei großen Fragen der Gegenwart verpflichtet, spricht er nur von der kulturellen, der sozialen und der Siedlungsfrage. Die Rassenfrage dagegen, die den Rassisten so zentral ist, wird nicht einmal erwähnt.47 Im Kern ähnlich verhält es sich mit der Vorstellungswelt der übrigen völkischen Jugendbünde, die sich ab 1926 um die von Kotzde in Verbindung mit Gerhard Roßbach gegründete Zeitschrift Die Kommenden scharen 48 : u. a. dem Deutschwandervogel, dem Bayreuther Bund der deutschen Jugend, dem Ludendorff nahestehenden Deutschvölkischen Jugendbund Graf Yorck von Wartenburg oder den Geusen. Jungvölkischer Bund e. V., die sich schon 1926 für die NSDAP erklären. 49 Sie alle näher vorzustellen, würde viel Raum kosten und doch keine wesent44 Vgl. ders.: Vom Werden und Wollen der Adler und Falken, in: Deutsche Bauern-Hochschule 4, 1925, F. 5.; ders.: Zur Rassenfrage in der Jugendbewegung, in: Die Kommenden 4, 1929, F. 13. 45 Ders.: Völkisch, in: Der Falke 3, 1922, H. 5–7. 46 Ders. 1929, a. a. O. 47 Vgl. ders.: Die Aufgabe der Bünde, in: Die Kommenden 2, 1927, F. 9. 48 Vgl. die Ankündigung in: Der Falke 6, 1925, H. 11/12. Ferner Wilhelm Kotzde: Unser Bündnis mit der Schilljugend, ebd. Förmlich besiegelt wird das Bündnis auf dem gemeinsam mit der Schilljugend gefeierten Bundestag der Adler und Falken in Friedberg vom 28.7.–4. 8. 1926. 49 Kurzporträts dieser Bünde bei Hertha Siemering (Hrsg.): Die Deutschen Jugendverbände. Ihre Ziele, ihre Organisation sowie ihre neuere Entwicklung und Tätigkeit, Berlin 1931; Kindt 1974, S. 813 ff.- Auch Roßbachs Schilljugend ließe sich hier anführen, allerdings mit der Einschrän-

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lich neuen Erkenntnisse bringen. Es mag deshalb genügen, den Abschnitt mit einem Blick auf die paradoxe Sonderbildung eines Bundes mit überbündischem Charakter abzurunden, der seine Anhänger aus vielen völkischen Bünden rekrutiert, ohne zugleich von ihnen die Aufgabe ihrer primären Mitgliedschaft zu verlangen 50 – den Bund der Artamanen. Dieser Bund entsteht als leicht zeitverzögerte Reaktion auf einen Aufruf, den Willibald Hentschel, der langjährige Weggefährte Theodor Fritschs und somit wichtiges Bindeglied zur völkischen Bewegung des Kaiserreichs, 1923 in der Zeitschrift der Deutschen Bauern-Hochschule ergehen läßt. 51 Um den Wiederaufbau der durch den Krieg zerrütteten Volkswirtschaft in Gang zu setzen, gilt es nach Hentschel, mit der Landwirtschaft zu beginnen und vor allem deren Kern, die großen ostelbischen Güter, aus der Abhängigkeit von ausländischen Arbeitskräften zu befreien. Aus den Kreisen der ‚ehrliebenden Jugend‘ soll sich zunächst eine einzelne, freiwillige Werkgemeinschaft, „Artam“ genannt 52 , bilden, die unter der Leitung eines erfahrenen Obmannes alle laufenden landwirtschaftlichen und technischen Arbeiten auf einem Rittergut übernehmen soll. Im Falle des Erfolges würden weitere Werkgemeinschaften diesem Vorbild folgen und so nach und nach die polnischen Saisonarbeiter überflüssig machen. Wirkung entfaltet dieser Aufruf freilich erst ein halbes Jahr später, als Wilhelm Kotzde und Bruno Tanzmann, der Leiter der Dresdner Bauernhochschule, ihre Anhängerschaft auffordern, in diesem Sinne aktiv zu werden. 53 Im April 1924 kommt auf einem Rittergut in Sachsen die erste Artamanenschaft unter der Leitung des Siebenbürgener Jungbauern August G. Kenstler zum Einsatz; ihr folgen weitere Gruppen, so daß 1926 circa 650 Artamanen auf 65 Gütern und Höfen tätig sind. Ihren Höhepunkt erreicht die Bewegung drei Jahre später, als 2000–2300 Artamanen auf 270–300 Gütern arbeiten. 54 Nach einer Statistik, die Fritz Hugo Hoffmann 1931 veröffentlicht, gehört knapp die Hälfte kaufmännischen Berufen an; der Rest verteilt sich auf andere Gruppen der unteren städtischen Mittelschichten, allen voran aus der Handwerkerschaft. Nur 12 % haben einen landwirtschaftlichen Hintergrund, und nur 2 % kommen aus der Studentenschaft. 55 Die Gesamtzahl derjenigen, die sich zwischen 1924 und 1935, dem Datum der endgültigen Auflösung des Bundes, an einer Artamanengruppe beteiligen, beläuft sich kung, daß in ihr eine starke Strömung in Richtung des von Ernst Jünger vertretenen neuen Nationalismus geht, was immer wieder zu Sezessionen führt. So spaltet sich im Sommer 1927 der zweite Bundesführer, Werner Laß, ab und gründet die Freischar Schill; im Dezember 1930 macht sich Jupp Hoven mit seinem Jungpreußischen Bund selbständig: vgl. Kindt 1974, S. 950, 958 ff., 1001 f. 50 Vgl. Raabe 1961, S. 77; Kater 1971, S. 610. 51 Vgl. Willibald Hentschel: Was soll nun aus uns werden? In: Deutsche Bauern-Hochschule 3, 1923/24, F. 3. 52 Das angeblich aus dem Indogermanischen stammende Wort „Artam“ soll „Erneuerung aus den Urkräften des Volkstums, aus Blut, Boden, Sonne, Wahrheit“ bedeuten, so Fritz Hugo Hoffmann in seiner Vorstellung des Bundes Artam, in: Siemering 1931, a. a. O., S. 104. 53 Vgl. den Aufruf: An die gesamte völkische Jugendbewegung, in: Deutsche Bauern-Hochschule 4, 1924, F. 4. 54 Die Zahlenangaben schwanken: vgl. Hoffmann 1931, a. a. O., S. 105; Kindt 1974, S. 911 f. 55 Vgl. Hoffmann 1931, a. a. O., S. 106.

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nach eigenen Angaben auf 25–30 000 Personen, tatsächlich wohl aber auf deutlich weniger, da während des Schismas (1929–1933) die Mitgliederzahl auf wenige Hundert zurückgeht. 56 Ursache des Schismas sind zum einen persönliche Konflikte innerhalb des engeren Führungszirkels, die die Geschichte der Artamanen von Anfang an überschatten. 57 Zum andern sachliche Gründe wie der Konflikt um die Finanzierung der aufwendigen Bundesgeschäftsstelle sowie insbesondere der wachsende Dissens über den Platz, der dem Siedlungsgedanken in der Prioritätenskala zuzuweisen ist. Während eine Gruppe um den von 1927 bis 1929 als Bundesführer amtierenden Fritz Hugo Hoffmann (1891–1965), im Einklang mit den ursprünglichen Vorstellungen der Gründerväter Kotzde und Tanzmann, dafür eintritt, bewährten Artamanen die Möglichkeit (und das heißt auch: die erforderlichen Sachmittel) zur Ansiedlung zur Verfügung zu stellen, und sei es vorläufig nur zur sogenannten ‚Halbsiedlung‘ 58 , rückt die im Februar 1929 gewählte neue Bundesführung um Wilhelm Rödiger hiervon ab. Siedlung, so erklärt sie, sei „nur zu erreichen nach dem Zusammenbruch des liberalen und marxistischen Staats- und Wirtschaftssystems“, weshalb es vordringlich darauf ankomme, „die gesamte deutsche Jugend zu einer Arbeitsgemeinschaft für die Erhaltung und Eroberung des Ostens zusammenzufassen“ – wobei mit Osten durchaus nicht nur der deutsche Osten gemeint ist. 59 Der Konflikt hat zugleich einen parteipolitischen Hintergrund: die neue Bundesführung tendiert zur NSDAP, während Fritz Hugo Hoffmann sich nach der Spaltung Ludendorff anschließt. 60 Der Dissens erweist sich bald als unüberbrückbar, geht es dabei doch nicht zuletzt auch um die Frage, zu welchen Zwecken die finanziellen Ressourcen des 56 Vgl. Kindt 1974, S. 911; ähnlich Schmitz 1985, S. 49. Eine neuere Untersuchung, die sich auf eine Auswertung des Artamanenarchivs auf Burg Ludwigstein stützt, kommt auf eine Gesamtzahl von maximal 8000 bis 11000: vgl. Brauckmann 2005, S. 5. 57 Sie sind ausführlich geschildert in einem Typoskript von Alwiß Rosenberg, der 1932 Bundesführer der abgespaltenen ‚Artamanen. Bündische Gemeinden für Landarbeiter und Siedlung‘ wird. Vgl. ders.: Streit in der Artamanenbewegung. Archiv der Artamanen, AdJ A 2–82/10. 58 Vgl. Fritz Hugo Hoffmann in: Die Kommenden 3, 1928, F. 35; ders., ebd., 4, 1929, F. 11; ders.: Blut und Boden, in: Blut und Boden 1, 1929, H. 2; Hellmuth von Müller-Berneck: Dörferbau im Großen, in: Die Kommenden 4, 1929, F. 12. 59 Vgl. die Erklärung der Bundesführung in: Kindt 1974, S. 924. Das liegt im übrigen ganz auf der Linie der von dem deutschnationalen Agrarpolitiker Georg W. Schiele geleiteten Gesellschaft der Freunde der Artamanenbewegung, die angesichts der erheblichen wirtschaftlichen Probleme einer landwirtschaftlichen Existenzgründung seit längerem darauf setzt, die Siedlung auf unbestimmte Zeit zu vertagen. Vgl. Georg W. Schiele: Siedlung aus Religion, in: Die Kommenden 3, 1928, F. 35; ders.: Wann kommen wir zur Siedlung? In: Blut und Boden 1, 1929, H. 2; Rosenberg o. J., a. a. O., S. 84; Schmitz 1985, S. 70 ff. 60 Wilhelm Rödiger (1904–1972) ist seit 1927 Mitglied der NSDAP, der von August 1930 bis Mai 1931 amtierende Bundesführer Friedrich Schmidt (1902–1973) seit 1925: vgl. BArch PK K 0004; Akte Friedrich Schmidt im IfZ München, Fb 106/40. Zu Hoffmann vgl. Jantzen 1982, Bd. 5, S. 125 ff.; Kindt 1974, S. 911 ff. Hinsichtlich der Zugehörigkeit der Artamanen zur NSDAP differieren die Angaben stark. Friedrich Schmidt spricht 1931 von 90 % (Arbeitsdienstpflicht wird modern, in: Die Kommenden 6, 1931, F. 8), Michael Kater schätzt 80 % (1971, S. 613). Neuere Einschätzungen liegen deutlich niedriger: vgl. Schmitz 1985, S. 73. Brauckmann 2005, S. 114, 97 weist für die Zeit nach 1933 für 60,9 % der einfachen Artamanenmitglieder eine Mitgliedschaft in der NSDAP nach, für die Zeit vor 1933 dagegen nur für 21,7 %.

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Bundes eingesetzt werden sollen. Auf dem Reichsthing im Dezember 1929 kommt es zum offenen Schlagabtausch zwischen beiden Gruppen. Die Mehrheit um die Bundesführung schließt die Minderheit aus, die sich daraufhin als eigener Bund mit Fritz Hugo Hoffmann als Bundesführer konstituiert (‚Die Artamanen. Bündische Gemeinden für Landarbeit und Siedlung‘). Der Niedergang der Bewegung ist damit nur noch eine Frage der Zeit. Schon im Juli 1931 muß der alte Bund Artam e. V. Konkurs anmelden und existiert danach nur noch in Gestalt einiger kleinerer Nachfolgeorganisationen; die Hoffmann-Gruppe hält sich etwas besser, zählt aber 1932 auch nur noch etwa hundert Mitglieder, die sich im Sommer 1934 mit dem alten Bund zu einem neuen Bund Artam e. V. zusammentun. 61 Hoffmann selbst ist nicht mehr dabei, sondern leitet die Jugendorganisation der LudendorffBewegung. 62 Das faktische Ende der Artamanen kommt im September 1934 mit der Eingliederung in den Reichsnährstand Richard Walther Darrés, der übrigens selbst eine Zeitlang dem Bundschuh, einer Nebenorganisation der Artamanen, angehört hat. 63 Die Zuordnung der Artamanen zum völkischen Spektrum ist in der Literatur nicht umstritten. Sie wird aber meist mit Argumenten begründet, die im Rahmen der hier zugrundegelegten Typologie entweder für den Fundamentalismus oder für den Neo- beziehungsweise Rassenaristokratismus charakteristisch sind. Weder das eine noch das andere trifft zu. Die Forderung nach Siedlung, nach Rückkehr aufs Land steht nicht für eine fundamentalistische Ablehnung der Moderne, sondern für die Sicherstellung einer ausreichenden landwirtschaftlichen Basis für Deutschland, was nach der Ernährungskrise des Ersten Weltkriegs durchaus nachvollziehbar ist. Der industrielle und technische Apparat soll dabei erhalten bleiben, da man sich über seine Unentbehrlichkeit gerade für eine effiziente Agrarwirtschaft durchaus im klaren ist. So setzt sich Fritz Hugo Hoffmann für die Schaffung eines neuen Typus ein: des „Wertarbeiter(s) auf dem Lande […], der auf die Dinge der neuen Landarbeitslehre schneller eingeht, mit Maschinen besser umzugehen weiß“ 64 ; Bruno Tanzmann plädiert gar für ein umfassendes Intensivierungsprogramm, das die Rentabilität der Landwirtschaft durch gemeinwirtschaftlich oder staatlich organisierte „technische Bewässerung, Berieselung und Beregnung aller Anbauflächen“ steigern soll. „Wenn einmal die verderblichen Trockenperioden in deutschen Landen ausgeschaltet sind, wenn in einem Riesennetz von Beregnungsanlagen die deutschen Ströme und Seen über die deutschen Gaue wandern, dann wird Deutschland zum fruchtbarsten Land der Erde.“ Zugleich werde auf diese Weise „ein ungeheurer, einträglicher und hochverzinslicher Arbeitsmarkt im eigenen Lande entdeckt“, werde es Aufträge regnen für die Industrie, insbesondere für „Fabriken, die Dampfmaschinen, Bagger, Eisenbahnen, Dampfpflüge, landwirtschaftliche Maschinen, Beregnungsanlagen,

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Vgl. Kindt 1974, S. 912 f.; Kater 1971, S. 619 ff. Vgl. Der Zwiespruch 14, 1932, H. 2 (Mitteilungen der Verbände). 63 Vgl. Kindt 1974, S. 913. Der Bund Artam kann dabei allerdings noch einige Zeit seine Selbständigkeit bewahren. Die förmliche Auflösung wird im Dezember 1935 beschlossen: vgl. ebd., S. 914. Zur Mitgliedschaft Darrés vgl. Kater 1971, S. 627 f. 64 Vgl. Hoffmann 1931, a. a. O., S. 105; vgl. auch ders. 1929, a. a. O. 62

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Baustoffe, Düngemittel u. a. herstellen.“ 65 Ebensowenig geht es um die Schaffung einer neuen, rassisch bedingten Ständehierarchie, sondern um die Begründung einer kleinbäuerlich geprägten Ordnung, die zugleich eine neue Leistungselite hervorbringen soll. Dazu werden gewiß Topoi der neueren Rassenlehren herangezogen, doch erfolgt deren Rezeption mit so vielen Vorbehalten, daß von Seiten der Nordischen Bewegung Zweifel an der Verankerung des Rassenaristokratismus bei den Artamanen geäußert werden.66 Mit der Kategorie des völkischen Nationalismus wird dieser doppelten Distanz gegenüber den gedanklich konsequenteren Positionen Rechnung getragen.

65 Bruno Tanzmann: An die Führer der deutschen Landwirtschaft und Industrie! An die Führer des deutschen Volkes! In: Der Zwiespruch 7, 1925, H. 71; ders.: Leitgedanken zum Hilfswerk für ländliche Siedlung, in: Der Zwiespruch 7, 1925, H. 78. 66 Vgl. [o. V.]: Artamanen und Nordische Bewegung, in: Die Sonne 7, 1930, S. 135 f. Das ursprünglich der völkischen Bewegung zugehörige Blatt versteht sich seit der Übernahme der Schriftleitung durch Hanno Konopacki-Konopath (1882–1962) als „Organ der Nordischen Bewegung“: vgl. Der sechste Jahrgang der ‚Sonne‘. Geleitwort des Schriftleiters, in: Die Sonne 6, 1929, H. 1.

8. Zwischen Antifeminismus und Feminismus: Die Völkischen und die Frauen Die verbreitete Deutung des völkischen Nationalismus vom Antisemitismus her zieht beinahe automatisch eine weitere Gleichung nach sich. Wenn „ein antisemitischer Standpunkt […] praktisch eine anti-emanzipatorische Position und Widerstand gegen die unterschiedlichen Bekundungen des modernen sozialen und politischen Freiheitsringens“ bedeutet 1 , liegt der Schluß nahe, daß dort, wo Antisemitismus das Denken und Handeln so nachdrücklich bestimmt wie bei den Völkischen, auch eine Emanzipationsverweigerung gegenüber anderen Gruppen vorliegen muß, allen voran gegenüber den Frauen, mit denen der Emanzipationsbegriff am engsten verbunden ist. Dem Antisemitismus als unmittelbarer Reaktion auf die Emanzipation des Judentums würde von hier aus gesehen ein „Antifeminismus“ im Sinne einer „institutionalisierten Opposition“ (Planert) zu den Emanzipationsforderungen der Frauenbewegung korrespondieren, wie die zweite Seite einer Medaille. 2 Gesetzt, die Voraussetzung träfe zu (woran es, wie in den ersten Abschnitten dieses Buches gezeigt, begründete Zweifel gibt), so ließen sich unschwer zahlreiche Belege anführen, die die These vom Antifeminismus der Völkischen stützen. Dabei muß man nicht einmal an die von pathologischem Frauenhaß durchzogenen Tiraden eines Lanz von Liebenfels denken, die dem „freien Weib“ alles Unheil der Weltgeschichte anlasten, oder an die nicht weniger extremen, tief in die sexuelle Selbstbestimmung einschneidenden Züchtungsphantasien eines Willibald Hentschel. 3 Auch der konventionellen Moralvorstellungen verhaftete Mainstream hat in den von der zeitgenössischen Frauenbewegung erhobenen Forderungen nach rechtlicher Gleichstellung und Inklusion in bis dahin exklusiv männliche Lebens- und Arbeitsbereiche nicht viel anderes gesehen als ein Anzeichen für die allgemeine Entartung, die mit dem „jüdischen“ Liberalismus über die Welt gekommen sei. Schon Otto Glagau sieht in der Frauenemanzipation nichts anderes als die Abschaffung der Ehe und die Zerstörung der Familie 4 ; noch weiter gehen andere, die eine Revolution bis in die Anthropologie hinein befürchten. 1

Volkov 1990, S. 35; 2001. Vgl. auch Schaser 2003. In diesem Sinne hat bereits ein Neoaristokrat wie Hans Blüher den Antifeminismus als Gegenbewegung gegen den Feminismus verstanden, „jene Kulturauffassung, nach der die Frau ‚ebenso‘, wie der Mann, zu allen Dingen berufen sei“: Hans Blüher: Was ist Antifeminismus? Zuerst 1915, zit. n. dem Wiederabdruck in ders.: Gesammelte Aufsätze, Jena 1919, S. 86–93, 90; vgl. auch ders.: Der bürgerliche und der geistige Antifeminismus (1916) und: Frauenbewegung und Antifeminismus (1921), beide in ders.: Philosophie auf Posten. Gesammelte Schriften 1916–1921, Heidelberg 1928, S. 97–124; 169–202. Aus heutiger Sicht vgl. Planert 1998, S. 12; dies. 2002. 3 Vgl. Puschner 2000, S. 170, 174. 4 Otto Glagau: Gegen die Frauenemancipation I und II, in: Der Bazar 1870, Nrn. 22 und 24, zit. n. Bussemer 1985, S. 54. 2

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Der Heimdall prophezeit für den „Fall allgemeiner Vermännlichung weiblicher Betätigungs-Felder“ das „Ersterben der Fortpflanzungs-Fähigkeit des Weibes“ und eine Assimilation an den Mann „auch in den Körper-Formen und im Gesichts-Ausdrucke“ 5 ; der Hammer die „Entmannung der Männer und Entweibung der Weiber“, den Verfall der Ehe und den Absturz in die verkehrte Welt der aufgelösten Geschlechtergrenzen. 6 Philipp Stauff macht diese Auflösung und damit die Frauenbewegung für den Geburtenrückgang verantwortlich 7 , der sich seit der Jahrhundertwende zu einer zunehmend bedrohlicher empfundenen Vorstellung entwickelt, und selbst der zunächst der Frauenbewegung durchaus aufgeschlossen gegenüberstehende Volkserzieher Wilhelm Schwaners schwenkt ab 1908/09 auf die wachsende Misogynie ein. 8 Daß man nicht unbedingt ein Mann sein muß, um Ansichten dieser Art zu vertreten, zeigt das Beispiel von Emma Witte, die die „Zukunftsaufgaben der völkischen Frau“ in der Verschiebung des Schwerpunktes ihres Schaffens „hinweg vom öffentlichen Leben […] zu ihren ureigensten Gebieten, zu Familie, Ehe, Mutterschaft“ verortet. Nur die „Aufrechterhaltung der Grenzlinie zwischen Mann und Weib, die Steigerung der einem jeden von ihnen eignenden besonderen Anlagen“ ermögliche die „Aufwärtsentwicklung des Volksganzen und der Rasse“. 9 Ein „Feminismus unter nationaler Flagge“ 10 ist aus dieser Perspektive ein Unding, jegliches Frauenrechtlertum Verrat und Zersetzung, weil es die Frau ihrem Wesen entfremdet. 11 „Antifeminismus“, so das Resümee Ute Planerts, „gehörte als integraler Bestandteil zur deutschvölkischen Weltanschauung.“ 12 Wie die Theorie, so die Praxis. Zwar bedarf es in Deutschland bis zum Reichsvereinsgesetz von 1908 keiner aufwendigen Begründungen, um Frauen aus dem öffentlichen Leben fernzuhalten, sondern lediglich des Hinweises auf die geltenden Gesetze, die eben dies garantieren. Als diese Schranken jedoch fallen, macht man in den völkischen Verbänden keine Anstalten, sich neu zu justieren. Der Deutschbund, dessen Gründer mit scheinheiligem Bedauern 1894 den Ausschluß von Frauen mit dem Hinweis auf das Vereinsrecht begründet hat, kennt auch später noch lediglich „liebe Brüder und Freunde“ und löst das Partizipationsproblem mit der Gründung eines Deutschen Frauenbundes (1909), dessen Mitglieder nicht zugleich dem Deutschbund angehören, der aber seinerseits Deutschbündler

5 [o. V.]: Frauen-Recht, in: Heimdall. Zeitschrift für reines Deutschtum und Alldeutschtum 16, 1911, S. 121–124, 123. 6 Vgl. Theodor Fritsch: Frauen-Frage, in: Hammer 2, 1903, H. 23; Bildung und Frauenberuf, in: Hammer 4, 1905, H. 69; Zur Frauen-Frage, in: Hammer 6, 1907, H. 120; Frauen-Stimmrecht? in: Hammer 6, 1907, H. 111. Vgl. Planert 1998, S. 86 ff.; Hornig 2003. 7 Vgl. Philipp Stauff: Völkische Fruchtbarkeit, in: Alldeutsche Blätter 19, 1909, S. 238 f., 245 f. 8 Vgl. Planert 1998, S. 88 ff. 9 Emma Witte: Die Frau im völkischen Deutschland, in: Hammer 25, 1926, H. 586. 10 Dies.: Die Stellung der Frau im Leben und Recht germanischer Völker. Feminismus unter nationaler Flagge, in: Erhard Eberhard (Hrsg.): Geschlechtscharakter und Volkskraft. Grundprobleme des Feminismus, Darmstadt und Leipzig 1930, S. 77–124. 11 Vgl. Hermann Gustav Holle: Völkische Lebenskraft, in: Deutscher Volkswart 1, 1913/14, S. 241–253. 12 Planert 1998, S. 130.

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als außerordentliche Mitglieder akzeptieren muß. 13 Ebensowenig vermag sich der Reichs-Hammerbund dazu durchzuringen, den Frauen die „volle Stimmberechtigung“ in den einzelnen Hammergemeinden oder gar der Reichsorganisation zu gewähren. Wohl sei „die Mitwirkung der Frau bei der Ausbreitung unserer Bestrebungen“ zu begrüßen, doch äußere sich diese am besten in der Teilnahme an Vortragsveranstaltungen. 14 Im Hammer kommen während der gesamten 38 Jahre seines Bestehens gerade 16 Frauen zu Wort, in der Regel zu Themen geschlechtsspezifischer Art wie dem Frauenstimmrecht, der Frauenerwerbstätigkeit oder dem Frauenstudium.15 Weibliche Filialvereine, wie sie das Verbandswesen des liberalen und des alten Nationalismus überreichlich kennt, sucht man damals bei den Völkischen vergeblich 16 , so daß es zutreffend ist, wenn Uwe Puschner vom „männerbündischen Charakter der völkischen Bewegung“ spricht. 17 Es verwundert deshalb nicht, daß Mitglieder dieser Bewegung einen hohen Anteil an jenem Verband stellen, der sich die aktive Verteidigung des maskulinen Charakters von Politik und Gesellschaft zum obersten Ziel gesetzt hat: dem 1912 gegründeten Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation. 18 Über Fakten dieser Art muß nicht diskutiert werden. Sie sind unbestreitbar. Diskutiert werden muß jedoch über die Frage, ob damit über das Thema „Die Völkischen und die Frauen“ schon alles gesagt ist. Denn das ist mitnichten der Fall. Antifeminismus, dies gilt es als erstes festzuhalten, kommt bei den Völkischen vor, bestimmt vermutlich auch das Denken der Mehrheit, ist aber ebensowenig ein exklusives und damit für differentialanalytische Zwecke taugliches Merkmal wie der Antisemitismus. Die meisten Aussagen, die in völkischen Texten über Frauen- und Männerbilder stehen, lassen sich auch in den Diskursen finden, wie sie zu diesem Thema im Kontext des alten Nationalismus oder sogar des Liberalnationalismus geführt werden; nicht einmal die ‚rassenideologische Aufladung des Frauenbildes‘ eignet sich zur Markierung spezifisch völkischer Versionen, da der Bezug auf Rasse in dieser Zeit quer durch das politische Feld Usus ist, wenn auch zum linken Pol hin abnehmend. Auch das verschiedentlich 13 Vgl. DbBl 15, 1910, Nr. 1. Immerhin, ungeachtet der üblichen Stereotypen, die Langes Kritik der Frauenbewegung durchziehen (eine Folge des Überschusses Unverheirateter, des Einflusses jüdischer Demagoginnen usw.), hält er es doch nicht für einen Nachteil, wenn die Frauen und Mädchen „in ihrem gesamten Auftreten freier und selbstbewußter“ würden und sich die Berufe eroberten, die ihnen gemäß seien: Friedrich Lange: Reines Deutschtum. Grundzüge einer nationalen Weltanschauung, 3. Aufl., Berlin 1904, S. 174, 165. 14 Vgl. Puschner 2000, S. 167. 15 Vgl. Hornig 2003, S. 37 f. 16 Vgl. Puschner 2000, S. 167. Der gegenteilige Eindruck, den der Überblick von Karin Bruns (1996) vermittelt, entsteht nur dadurch, daß zwischen „völkisch“ und „deutschnational“ nicht differenziert wird. 17 Puschner 2000, S. 168. 18 Vgl. Planert 1998, S. 118 ff. Das Gründungsmanifest, Friedrich Sigismunds Frauenstimmrecht, erscheint 1912 in der völkischen Verlagsbuchhandlung Theodor Weicher in Leipzig. Unter den Mitgliedern des Bundes finden sich zahlreiche Personen, die zugleich führende Funktionen in anderen völkischen Verbänden ausüben, wie zum Beispiel Ludwig Schemann (Gobineau-Gesellschaft), Paul Langhans (Deutschbund), Karl Hellwig (Reichs-Hammerbund), Adolf Bartels und Philipp Stauff (Deutschvölkischer Schriftstellerverband): vgl. Planert 1998, S. 124 ff. Rund ein Viertel der Mitglieder ist weiblich: vgl. ebd., S. 131.

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angeführte Argument, der völkische Antifeminismus relativiere die bürgerlich-liberale Trennung von privat und öffentlich durch die Hypostasierung der Nation 19 , eignet sich nur zur Abgrenzung zwischen nationalistischen und nichtnationalistischen Positionen, nicht jedoch zur Klärung der Frage, mit welcher Art von Nationalismus man es zu tun hat. Antifeminismus, ob nationalistisch legitimiert oder nicht, ist eine viel zu weit verbreitete Erscheinung, als daß man sie speziell den Völkischen zuschreiben könnte. Der Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation besteht denn auch keineswegs nur aus völkischen Nationalisten, sondern weist zahlreiche Namen aus dem gesamten rechten Spektrum auf, von alten Nationalisten wie Dietrich Schäfer über ästhetische Fundamentalisten wie Henry Thode bis hin zu Rassenhygienikern wie Max von Gruber. 20 Zweitens: Die Fixierung auf den zweifellos vorhandenen Antifeminismus bringt es mit sich, daß die in die entgegengesetzte Richtung weisenden Ansätze unterbelichtet werden, die auch bei den Völkischen erkennbar sind. So hat etwa eine Prüfung der von Frauen verfaßten Texte im Hammer eine deutliche Diskrepanz zu den von Männern vertretenen Vorstellungen ergeben, die sich vor allem auf zwei Feldern bemerkbar macht: in der Befürwortung der Frauen- und Mädchenbildung und der Frauenerwerbstätigkeit. 21 Auch wenn sie dies gleich wieder relativieren, indem sie die für Frauen vorzusehenden Berufsfelder in enger Anlehnung an die häusliche Sphäre gestalten und die Berufstätigkeit nur für die Phase bis zur Eheschließung zulassen wollen, gehen Autorinnen wie Emma Wehr, Käthe Rohmeder und Ingeborg Andresen doch deutlich über das hinaus, was in diesen Kreisen sonst üblich ist und setzen damit einen Prozeß in Gang, der sehr bald eine Eigendynamik gewinnt. 22 Ähnliches gilt für das seit der Jahrhundertwende regelmäßig im Türmer publizierende Vorstandsmitglied des Bundes zur Bekämpfung der Frauenemanzipation, Marie Diers (1867–1949), die bei allem Mutterkult nicht nur für Mädchenarbeit eintritt, sondern auch für die „Aufbesserung der weiblichen Arbeitslöhne“ und der Bildungschancen der Mädchen und Frauen. 23 In der Weimarer Republik engagiert sie sich zunächst in der DNVP, wechselt aber 1922 zur Deutschvölkischen Freiheitspartei und später zur Deutschvölkischen Freiheitsbewegung, in deren erweiterte Reichsleitung sie im Februar 1925 gewählt wird. 24 Ihr Plädoyer für einen (wie immer auch bescheidenen) Ausbau des Einflusses, „den die Frau auf die Gestaltung der Politik, das heißt das Schicksal ihres Landes und somit der ganzen Zukunft ihrer Kinder

19

Vgl. Lange 1998, S. 145. Vgl. Planert 1998, S. 129 f., 125. 21 Vgl. Hornig 2003, S. 40. 22 Vgl. Emma Wehr: Die Frauen-Bewegung vom nationalen und weiblichen Standpunkte, in: Hammer 4, 1905, H. 66; Käthe Rohmeder: Zur deutschen Frauen-Bewegung, in: Hammer 4, 1905, H. 68; Ingeborg Andresen: Frauenfrage und Hammerziele, in: Hammer 8, 1909, H. 163. Käthe Rohmeder ist die Frau des völkischen Aktivisten Wilhelm Rohmeder und die Mutter der oben erwähnten Malerin und Kunstkritikerin Bettina Feistel-Rohmeder. 23 Marie Diers: Die Mutter des Menschen. Gedanken zur Frauenfrage, Berlin 1903, S. 11, 51. Zum Mutterkult vgl. ebd., S. 3; zu ihrer Rolle im Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation, dessen Frauenpressedienst sie seit 1918 leitet, vgl. Planert 1998, S. 148. 24 Vgl. Reichswart 6, 1925, Nr. 9. 20

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hat“ 25 , veranlaßt 1926 den Reichsvertretertag dieser Partei, ihr die Ermächtigung, zu erteilen, „nach ihrem Ermessen die Frauen der völkischen Bewegung zusammenzuschließen und zur Mitarbeit heranzuziehen“. 26 Zu einer Bewegung eigener Art haben sich diese Vorstellungen am Rande der evangelischen Frauenbewegung ausgeformt, in der von der Lehrerin Guida Diehl (1868–1961) ins Leben gerufenen Neulandbewegung. Diese entsteht im Herbst 1916 aus der Leserschaft der zu Beginn desselben Jahres gegründeten „Zeitschrift für die gebildete weibliche Jugend“, die unter dem Titel Neuland eine Art geistigmoralischer Mobilmachung der jungen Frauen, nicht nur, aber vornehmlich aus dem protestantischen Spektrum anstrebt. Aus dessen Argumentationsarsenal stammt die zur Begründung des Engagements herangezogene Volksnomostheologie, in der man mit Klaus Scholder und anderen „die Antwort des deutschen Protestantismus auf die völkische Bewegung“ sehen kann 27 , stammt der kulturreformerische Impuls, der auf eine „Neugeburt Deutschlands“ durch eine „innere Revolution geistiger Art“ zielt 28 , stammt nicht zuletzt auch ein ausgeprägter Antisemitismus, dessen Wurzeln bei Guida Diehl bis in die Kindheit zurückreichen, gehörte ihr Vater doch zur Anhängerschaft Adolf Stoeckers in Frankfurt.29 Stehen am Anfang noch christlich-soziale Motive neben solchen eher jugendbewegter Art im Vordergrund, so treten diese etwa seit Mitte der 20er Jahre zurück und weichen einem Aktivismus, der die Nähe zum völkischen Lager sucht und in dieses einen frauenpolitischen Akzent hineinbringt. Ein erstes Indiz dafür ist im Herbst 1926 die von Guida Diehl initiierte Gründung des Deutschen Frauenkampfbundes gegen die Entartung im Volksleben (DFK). Während Neuland nach einer überraschend starken Anfangsmobilisierung eine rückläufige Tendenz aufweist – die Leserschaft geht von etwa 10 000 um 1920 bis 1933 auf 2500 zurück –, zählt der DFK schon zwei Jahre nach seiner Gründung rund 1400 Einzelmitglieder und 180 000 korporative Mitglieder, die sich teils aus dem rechten Flügel des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF), teils aus völkischen Verbänden wie dem Deutschbund oder dem Deutschen Frauenorden rekrutieren. 30 Typisch völkisch sind die Attacken gegen Materialismus und Mammonismus, gegen Schmutz und Schund, „Negertänze, Jazzbandlärm, Apachenmaskenbälle, sogar am Totensonntag vorgeführte Entkleidungsrevuen, Rauschgifte, kurz sinnenverwirrendes, erschlaffendes ‚Amusement‘ und ‚Sensationen‘ aller Art“, als deren baldige Folge „Unnatürlichkeit, Entnervung, Krankheit, Entmütterlichung, Geburtenrückgang und Volkstod“ prognostiziert wer-

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Marie Diers: Die völkische Frau, in: Deutscher Volkswart 8, 1926, H. 11. [o. V.]: Die Frauen in der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung, in: Mecklenburger Warte / R.Z. 20, 1926, Nr. 209. 1930 ist Marie Diers der NSDAP beigetreten: vgl. Marie Diers, Lebenslauf in: http://www.uni-kassel.de/frau-bib/bestaende/archiv/nachlass/diers/ein… 27 Scholder 2000, S. 157. Vgl. auch Tilgner 1966. 28 Vgl. Guida Diehl: Was wir wollen. Frage und Antwort: über den Neulandbund (1. Aufl., Eisenach 1918); 2. umgearb. Aufl., Tambach 1919, S. 1, 8. 29 Vgl. Lange 1998, S. 30 f., 16. 30 Vgl. ebd., S. 41. 26

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den. 31 In dieselbe Richtung weisen die Allianzen, mit denen man dieser Gefahr zu begegnen versucht. Nach einem Bericht des Berliner Polizeipräsidenten ist der DFK bereits 1928 zum „völkisch-nationalen Block“ übergetreten; wenig später schließt er sich dem von den Nationalsozialisten gegründeten Kampfbund für deutsche Kultur an und gibt der Politik des nationalsozialistischen Innen- und Volksbildungsministers in Thüringen, Wilhelm Frick, die nötige Schützenhilfe. 32 Im August 1930 tritt Guida Diehl der NSDAP bei, da nur diese Partei in ihren Augen den Kampf gegen den „Kulturbolschewismus“ mit der nötigen Rigorosität führt. Im November 1931 übernimmt sie gar das Amt einer Kulturreferentin in der Reichsfrauenleitung der NSDAP und läßt in der Folgezeit nichts unversucht, die Anerkennung der Neulandbewegung als „weibliche Parallelbewegung zum Nationalsozialismus“ und deren Gleichstellung mit der NS-Frauenschaft zu erreichen. 33 Welche Lösung Diehl für die Frauenfrage vorschwebt, läßt sich am besten ihren beiden Büchern Deutscher Frauenwille und Die deutsche Frau und der Nationalsozialismus entnehmen. 34 Auf der Linie des herkömmlichen, nicht nur völkischen Antifeminismus liegt die Forderung nach einem generellen Verbot der Berufsarbeit für verheiratete Frauen, die entsprechend harsche Kritik von Seiten des BDF auf sich gezogen hat. Schon weniger eindeutig stellt sich die Lage für die unverheirateten Frauen dar, denen Berufsarbeit zugestanden wird, allerdings nur in vermeintlich weiblichen Tätigkeitsfeldern im „haus-, garten- und landwirtschaftlichen, pflegerischen, erzieherischen, lehrenden, heilenden, künstlerischen und kunstgewerblichen Bereich“, was dann in der Summe doch gar nicht wenig ist. 35 Nimmt man hinzu, daß Diehl für diese Felder eine Art Selbstverwaltung der Frauen verlangt und die Schaffung einer rein weiblichen Sphäre von der Mädchenschule bis hin zu Frauenuniversitäten mit ausschließlich weiblichen Lehrkräften für erforderlich hält, darüber hinaus auch noch die Einrichtung besonderer Ständekammern (Frauenkörperschaften) ins Auge faßt, dann wird deutlich, daß es sich in frauenpolitischer Hinsicht bei der Differenz zur bürgerlich-demokratischen Frauenbewegung um eine difference in degree, not in kind handelt. Diehl steht denn auch nicht an, das „Hinaustreten der Frau in die Mitarbeit an den öffentlichen Aufgaben und am gesamten Volksleben“ als die „größte(n) Umwälzung in der Menschheitsgeschichte“ zu bezeichnen, „die seit Jahrtausenden geschah“, und im Anhang ihres Buches die „Grundsätze der NS-Frauenschaften“ abzudrucken, in denen es explizit heißt: „Wir erkennen den großen Verwandlungsprozeß des Frauenlebens der letzten 50 Jahre als eine Notwendigkeit an, die das Maschinenzeitalter mit sich brachte, und bejahen die Ausbildung und Eingliederung aller Frauenkräfte zum Besten der Nation, soweit sie nicht in Ehe, Familie und Mutterschaft ihren nächstliegen31 Vgl. den Aufruf des Deutschen Frauenkampfbundes: Deutsche Zukunft in Gefahr! In: Die Kommenden 2, 1927, F. 47. 32 Vgl. Lange 1998, S. 163, 114 ff. 33 Vgl. ebd., S. 119, 124. 34 Vgl. Guida Diehl: Deutscher Frauenwille, Gotha 1928; Die deutsche Frau und der Nationalsozialismus, Eisenach. 1. Aufl. 1932, 2. bis 5. Aufl. 1933. 35 Diehl 1933, a. a. O., S. 103.

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den Dienst am Volksganzen leisten können. Wir erstreben eine neue, wahre Lösung der Frauenfrage.“ 36 Die von Neuland angestrebte limitierte Inklusion dürfte für die Zielsetzungen der meisten der in völkischen Verbänden beziehungsweise Verbänden mit völkischen Flügeln organisierten Mädchen und Frauen repräsentativ sein. Schon im letzten Kriegsjahr bemüht sich die auf eine Sammlung der gesamten Rechten hinarbeitende Deutsche Vaterlandspartei verstärkt um die Gewinnung von Frauen und ist dabei immerhin so erfolgreich, daß sie im Anteil der weiblichen Mitgliedschaft selbst die SPD übertrifft. 37 Graf Reventlow, vor dem Krieg einer der Wortführer des Antifeminismus, schwenkt 1921 um und freut sich über die „intensive und ausgedehnte Mitarbeit der Frau in den nationalen Lagern“. 38 Einen Schritt weiter gehen nach Kriegsende die aus dem Deutschen Mädchen Wanderbund überlieferten Äußerungen, die das Gefüge von Mädchenschulen, Frauenuniversitäten und spezifisch weiblichen Berufen durch eine zu gründende ‚Frauenpartei‘ krönen wollen 39 , oder die Kommentare, mit denen die Frauen der Adler und Falken und des Bundes deutscher Pfadfinderinnen ihre Position zwischen der bürgerlichen Frauenbewegung einerseits und dem Maskulinismus der Rosenberg und Hans F. K. Günther andererseits zu bestimmen versuchen. 40 Die Frauenorganisation des Jungdeutschen Ordens, der freilich nur in seiner Anfangszeit (und auch dann nur partiell) der völkischen Bewegung zugerechnet werden kann, setzt sich für die Einrichtung einer Frauenkammer ein, die in allen Fragen, die „das ureigenste Gebiet der Frau“ betreffen – „Altersfürsorge, Kindesfürsorge, Mutterschutz“ – ein Mitentscheidungsrecht besitzen soll. 41 Auch in der DNVP, die sich nolens volens um die Stimmen der Arbeiter und der Frauen bemüht, ohne ihnen allzu große Konzessionen zu machen 42 , findet sich die Ansicht, daß zwar der Begriff „Frauenrechte“ die „Metapher für ein überwundenes und vor allem falsches Anliegen der Frauen“ sei 43 , dies aber keine 36

Ebd., S. 7, 117. Vgl. Hagenlücke 1997, S. 184 f.; Stibbe 2002, S. 201. 38 [o. V.]: Die gleichberechtigte Frau, in: Reichswart 2, 1921, Nr. 4. 39 Vgl. de Ras 1988, S. 137. 40 Vgl. [o. V.]: Die Frau und der Staat, in: Die Kommenden 1, 1926, F. 9; Erna Schaper: Frauen und Jugendbewegung, in: ebd., F. 15; dies.: Die Quelle der deutschen Frauenkraft, ebd., F. 21; Hanna Zeil: Zur Frauenfrage. Betrachtungen an Schriften über Frauen, ebd., F. 36; Erda: Die Zukunft der Frauenbewegung. Die Tagung des Weltbundes für Frauenstimmrecht, ebd. 4, 1929, F. 29. Allgemein zu den Vorstellungen der in Bünden organisierten weiblichen Jugend Schade 1996. 41 Vgl. Arthur Mahraun: Das Jungdeutsche Manifest, Berlin, 2. Aufl., o. J., S. 148. Der Jungdeutsche Orden hat sich bis Mitte der 20er Jahre als Teil der völkischen Bewegung verstanden, hinsichtlich der Inklusion der Arbeiterschaft allerdings stets auch neonationalistische Positionen bezogen: vgl. Wolf 1988, S. 18 f., 22 u. ö. Zu den Jungdeutschen Schwesternschaften, die seit 1925 eine eigene Monatsschrift besitzen, die Jungdeutsche Frauenzeitung, vgl. ebd., S. 25 f., 37 f., 60. Ein wichtiges Verbindungsglied zur völkischen Bewegung, insbesondere zur Dresdner Bauernhochschule und zu den Adlern und Falken, ist die Dichterin Maria Kahle (1891–1975), die in der Tageszeitung des Ordens, dem Jungdeutschen, für Kunst, Wissenschaft und Unterhaltung zuständig ist: vgl. ebd., S. 37; Bracht 1994. 42 Vgl. Scheck 1997, S. 45. 43 Vgl. Heinsohn 2000, S. 228. 37

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Rückkehr zur Exklusion bedeute. Statt der Rechte seien die Pflichten gegenüber der Volksgemeinschaft zu betonen, die für die Geschlechter andersartige, aber gleichwertige Aufgaben implizierten. Die Skala der Angebote, die in eigens dafür eingerichteten Institutionen und Medien wie dem Reichsfrauenausschuß, der Deutschnationalen Frau oder der Frauenkorrespondenz für nationale Zeitungen entwickelt werden44 , reicht dabei von einem „mütterlichen Modell“, das den Platz der Frau vornehmlich in der Sphäre des Hauses und den dieser nahestehenden politischen Feldern wie Erziehung, Jugendpflege und dergleichen sieht, bis zu einem ‚kameradschaftlichen Modell‘, das eine ‚organische‘Arbeitsteilung der Geschlechter postuliert und daraus neue Rollendefinitionen für die Frau als Mitstreiterin oder Kameradin gewinnt. 45 Vom Kameradschaftsmodell ist es freilich nur ein kleiner Schritt bis zu geschlechteregalitären Vorstellungen, wie sie besonders pronciert in dem 1920 gegründeten Ring nationaler Frauen vertreten werden, einer am rechten Rand der DNVP angesiedelten Vereinigung, die auf die Zusammenfassung aller rechten Frauenverbände in expliziter Konkurrenz zum liberal dominierten Bund deutscher Frauenvereine zielt. 46 Zu den Wortführerinnen dieses, über korporative Beitritte bald über 200 000 Mitglieder starken Verbandes gehören Käthe Schirmacher (1865–1930), die die DNVP in der Nationalversammlung vertritt, sich im Völkischen Reichsausschuß der Partei engagiert und – ausgerechnet – im Hammer eine Lanze für den Kampf der alten Frauenrechtlerinnen gegen die „einseitige Vorherrschaft des einen Geschlechts“ bricht 47 ; die Philosophin und Publizistin Lenore Kühn (1878–1955), Mitglied der Fichte-Gesellschaft, des Reichsfrauenausschusses der DNVP, Beiratsmitglied im Vorstand des Bundes Deutscher Frauenvereine und eine der produktivsten Autorinnen des Flaggschiffs der bürgerlichen Frauenbewegung, Die Frau, die sich in zahlreichen Schriften kritisch mit den zeitgenössischen Männerbundideologien auseinandersetzt und für eine gleichrangige Beteiligung von Frauen an den politischen Führungspositionen eintritt, zum Teil sogar bereits mit Forderungen nach einer Quotenregelung 48 ; und last, but not least die beiden Schriftleiterinnen des 1922 gegründeten Verbandsorgans Die Deutsche Frau, das über die für eine Frauenzeitschrift mit politischen Ambitionen ungewöhnlich hohe Auflagenzahl von 10 000 Exemplaren verfügt: Ilse Hamel (1874–1943) und Beda Prilipp (1875–1971). 49 Im Schrifttum dieser Frauen hat Christiane Streubel mit Recht eine „Koinzidenz radikalnationalistischer und fe44

Vgl. Süchting-Hänger 2002, S. 143 ff. Vgl. Heinsohn 2000, S. 225 f.; 2002; 2003. Zu ähnlichen Veränderungen im Frauenbild der Alldeutschen ab 1925 vgl. Hering 2003, S. 391 ff. 46 Grundlegend hierzu: Streubel 2006. 47 Käthe Schirmacher: Wer ist Frauenrechtlerin, in: Hammer 24, 1925, H. 553; vgl. auch dies.: Die Frau im öffentlichen Leben, in: Hammer 25, 1926, H. 580. Zur Biographie vgl. Walzer 1991. Zur weiblichen Beteiligung am Völkischen Reichsauschuß, die deutlich höher als bei jedem anderen Parteigremium liegt, vgl. Süchting-Hänger 2002, S. 270 ff. Daß bei den DNVP-Frauen auch noch in der Hugenberg-Zeit die ethnisch-nationalistische Exklusion (wie üblich gedeutet als „Rassismus“) mit geschlechterpolitischer Inklusion vereinbar ist, zeigt Scheck 2000; 2001. 48 Vgl. Lenore Kühn: Die Frau im deutschen Staat, in: Die Frau 39, 1932, H. 11; Wagner 1996, S. 120 ff.; Schmidt 2002. 49 Vgl. Streubel 2006, S. 96 ff., 124 ff. 45

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ministischer Anschauungen“ ausgemacht und die letzteren präzise definiert als ein „Ideensystem […], das innerhalb einer distinkten Gemeinschaft für die Aufhebung von Geschlechterhierarchien plädiert“. 50 Angesichts der Nähe dieser Frauen zum völkischen Reichsausschuß der DNVP wie auch ihres späteren Eintretens für den Hugenberg-Flügel würde ich freilich nicht von „neuem Nationalismus“ sprechen, sondern von einer Strömung, die sich in der Interferenzzone von altem und völkischem Nationalismus plaziert. 51 Daß diesem „Feminismus von rechts“ (Streubel) in der DNVP mehr Mitsprachemöglichkeiten eingeräumt werden als in den rein völkischen Verbänden und Parteien, ist sicherlich richtig: die DVFP weigert sich, Kandidatinnen für die Parlamentswahlen aufzustellen und will von Frauenausschüssen in der Partei nichts wissen; die NSDAP schließt schon 1921 Frauen von führenden Parteiämtern aus. 52 In der Publizistik ist jedoch auch ein gegenläufiger Trend zu beobachten. Während in der deutschnationalen und alldeutschen Deutschen Zeitung die kurzzeitige Konjunktur für Leitartikel aus weiblicher Feder schon 1923 wieder endet und die Frauenbeilage 1926 in „Frau und Heim“ umbenannt wird 53 , tritt im Flaggschiff der Deutschvölkischen, dem Deutschen Tageblatt und seinen Kopfblättern, ab 1928 anstelle der überwiegend von Männern geschriebenen Beilage „Die Frauenwarte“ eine neue Beilage, „Der Wächterruf“, die von Pia Sophie Rogge-Börner (1878–1955) redigiert wird. Die für den Lehrerberuf ausgebildete, aber in ihm nicht tätige Publizistin engagiert sich 1919 zunächst in der DNVP und schreibt für die Deutsche Zeitung, schließt sich aber bereits 1921 Wulle und seinem Deutschen Tageblatt an. 54 Nach dem Hitler-Ludendorff-Putsch betätigt sie sich im Völkisch-sozialen Block im Unterwesergebiet sowie der Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung, um danach bei der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung und im Bartels-Bund politisch und publizistisch aktiv zu werden. 55 Im Reichswart, dessen Herausgeber im Kaiserreich zu den prominentesten Antifeministen gehört hat, löst sie mit ihrem Artikel „Hat die völkische Frau staatspolitische Aufgaben?“ eine sich über fünf Monate ziehende Debatte aus, eine weitere im März 1927 über die Ansichten Maria Groeners, die bis zum Juni des gleichen Jahres anhält. 56 Im Januar 1929 gründet sie den Ring völkischer Frauen und wird kurz darauf als dessen Führerin von Wulle in die Reichsführerschaft der DVFB berufen. 57 Im Deutschen Tageblatt kann sie ihre Ansichten nicht nur in der Frauenbeilage, sondern auch außerhalb derselben, des öfteren sogar in Leitartikeln publizieren. 58 50

Ebd., S. 26, 65. Vgl. ebd., S. 395. 52 Vg. ebd., S. 307 sowie den Artikel: Die Frauen in der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung, Mecklenburger Warte / R.Z. 20, 1926, Nr. 209. 53 Vgl. Streubel 2006, S. 229. 54 Über diesen Seitenwechsel der „Fahnenträgerin der antisemitischen Frauen“ berichten die Abwehrblätter in ihrer Ausgabe vom 8. 10.1921: vgl. den Artikel „Antisemitische Frauenlogik“, Jg. 31, Nr. 20. 55 Vgl. ihren Lebenslauf in BArch RK B 0177; Ziege 1997. 56 Vgl. Reichswart 5, 1924, Nr. 17 ff.; 8, 1927, Nr. 11 ff. 57 Vgl. Mecklenburger Warte / R.Z. 23, 1929, Nr. 16. 58 Da diese Seite von Rogge-Börners Tätigkeit der bisherigen Forschung verborgen geblieben ist, seien einige der längeren Artikel aufgelistet, hier zitiert nach dem Kopfblatt des Deutschen 51

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In ihren Aufsätzen und Büchern wendet sie sich nicht nur gegen die beiden Erzfeinde der Völkischen, „Judenbibel und Römerrecht“ 59 , sondern auch gegen alle als „pseudovölkisch“ qualifizierten Bestrebungen, die darauf hinauslaufen, die nordisch-germanische Frau in dem durch diese Erzfeinde verursachten Zustand der Abhängigkeit und Unterordnung zu belassen. Das richtet sich gegen die Alldeutschen, die im zukünftigen Staat das Frauenstimmrecht wieder beseitigen wollen 60 , gegen die Schopenhauerianerinnen in der völkischen Bewegung, wie Maria Groener oder Ilse Tanzmann, die willentlich oder unwillentlich den Vorstellungen von der Minderwertigkeit der Frau zuarbeiten 61 , gegen die mystischen Schwärmereien vom „Muttergeist“ im Stile Ernst Bergmanns62 , aber auch gegen die unter rassistischen Neoaristokraten verbreitete Vorstellung vom Geschlechterdimorphismus, in dem Rogge-Börner, harmoniesüchtig wie alle Völkischen, ein zu korrigierendes Degenerations- und Entartungsprodukt sieht: „Gefühlswerte und Verstandes- und Willens- und Tatkräfte konnten sich einst in beiden Geschlechtern der nordischen Rasse uneingeengt, frei entfalten, bestimmten daher auch beider Schicksalsablauf. Wie gut stände es um uns heute, wenn auch im Manne noch Kraft der Liebe und des Glaubens, Wärme und Tiefe des Gemüts zur Entwickelung kämen, wenn auch die Verstandesfähigkeiten der Frau und ihre kämpferisch bewußten Willenskräfte wieder ihre Pflege und freie Entfaltung fänden, mit einem Worte: wenn die Harmonie im nordisch bedingten Menschen wiederhergestellt wäre! Denn er war einmal eine harmonische Ganzheit an Gefühl, Verstand und Leiblichkeit. Daß wir das Weib in die Ausschließlichkeit der Gefühlszone, den Mann in die Ausschließlichkeit der kalten Zweckmäßigkeitsantriebe zwangen, hat beide, Mann und Weib, halbiert und damit gleichzeitig ihre Einheit als Schöpfungsbild zerbrochen.“ 63 Tageblatts, der Mecklenburger Warte / R.Z.: Jg. 21, 1927: „Weibeslehre“ (Nr. 63); Jg. 22, 1928: Altgermanische Kulturhöhe und Kunst (Nr. 94); Ablenkung (Nr. 137); Gewöhnung (Nr. 210); Preußen (Nr. 228); Die hohe Stunde (Nr. 264); Vom tiefen, letzten Sinn (Nrn. 275, 287); Die Zeit der zwölf Nächte (Nr. 299); Jg. 23, 1929: Ein Dämon (Nr. 108); „Für Friede und Völkerbund“ (Nr. 150); Gen Ostland!; Das westfälische Heidefräulein (Nr. 163); Die Wegbereiter Friedrichs II. (Nr. 169); Der Pazifismus im Bürgertum (Nr. 174); Urglaube der Menschheit (Nr. 177); Jg. 24, 1930: Atlantische Urreligion und ihre Bedeutung für die Gegenwart (Nr. 10); „So sah das germanische Heidentum aus!“ (Nr. 14); Romkirchliche Moral und Kulturverfall (Nr. 22); Islands Tausendjahrfeier (Nr. 25); Österreich und das Reich (Nr. 33); Erziehung zur Persönlichkeit; Götterdämmerung in der Wissenschaft (Nr. 36); Um Gandhi (Nr. 47); Jg. 26, 1932: Der antigermanische Geist (Nr. 23); Preußentum als Inbegriff (Nr. 33). 59 Vgl. [o. V.] (= Pia Sophie Rogge-Börner): Mehr Licht, deutscher Prinz! Politisches Glaubensbekenntnis einer deutschen Frau, Erfurt 1925, S. 16. 60 Vgl. ebd., S. 62 ff. 61 Vgl. ebd., S. 30 ff.; dies.: Frühlingsheft der deutschen Bauernhochschule, in: Die Sonne 2, 1925, H. 19. Ilse Tanzmann, die Frau von Bruno Tanzmann, hat sich mit ihren Aktivitäten auf den Kreis um die Deutsche Bauernhochschule beschränkt. Maria Groener wird Anfang der 20er Jahre durch ihr Buch Hominibus bonae voluntatis: das Buch vom Weibe im Lichte Schopenhauers (Nürnberg 1923) bekannt; darüber hinaus publiziert sie u. a. in Deutschlands Erneuerung (4, 1920; 6, 1922) und in der Deutschkirche (9, 1930; 10, 1931). 62 Vgl. dies.: Zurück zum Mutterrecht? Studie zu Prof. Ernst Bergmann: „Erkenntnisgeist und Muttergeist“, Leipzig 1932; vgl. Schmidt 2000. 63 Pia Sophie Rogge-Börner: Nordischer Gedanke und Verantwortung, Leipzig 1930, S. 64. Aufgrund ihrer Rezeption der Rassenlehren Hans F. K. Günthers und Ludwig Ferdinand Clauß’

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Ihren typisch völkischen Harmoniekult stützt Rogge-Börner durch häufige Bezugnahme auf das prähistorische Vermutungswissen ab, das Germanenforscher und Mythomanen wie Bernhard Kummer (1897–1962) und Herman Wirth (1885– 1981) in ihren seit 1927/28 erscheinenden Werken ausbreiten. 64 Während Kummer, gern gesehener Gastautor in Rogge-Börners Beilage wie auch in Reventlows Reichswart oder den Blättern Ludendorffs65 , einen Zusammenhang zwischen Rassereinheit, altheidnischer Religion und hoher Stellung der germanischen Frau konstruiert 66 , der mit zunehmender Rassenmischung und vor allem dem Aufkommen des Christentums zerbrochen sei, holt Wirth noch weiter aus, indem er eine vorgeschichtliche, in Atlantis beheimatete Urkultur postuliert, welche mutterrechtlich organisiert gewesen sei und einer rein monotheistischen Urreligion gehuldigt habe, „der die ewige Wiederkehr im kosmischen Wandel, das Werden und Vergehen als das große, sittliche Gesetz des Weltalls, als die Offenbarung Gottes des Weltgeistes durch seinen Sohn in Zeit und Raum galt.“ 67 Ein Ableger dieser Urkultur, die „Tuatha“, habe in einem heute in der Nordsee versunkenen Festlandgebiet (Doggerbank) gesiedelt und anschließend Nord- und Nordwesteuropa erschlossen; dort sei es dann, und zwar schon zur Zeit der historischen Germanen, zur Rassenmischung, zur Einführung des orientalisch-römischen Vaterrechts, zum Verschwinden der ursprünglichen gesellschaftlichen „Gleichheit und Gleichberechtigung“ sowie zur Ersetzung der Laien- durch eine Priesterreligion gekommen, kurzum: zum „Sich-selbst-Verlieren des Nordens, des alten Tuatha-Volkes, an die Macht- und Habgier des Südens“. 68 Dem in der völkischen Bewegung grassierenden Germanenkult versetzt Wirth einen gehörigen Dämpfer, indem er darkönnte man Rogge-Börner auch dem Rassenaristokratismus zuordnen. Diese Rezeption erfolgt bei ihr jedoch stets funktional bezogen auf die Stärkung der Geschlechteregalität in einer ethnisch gedeuteten nationalen Gemeinschaft. Aufnordungsstrategien, wie sie für Günther und die „nordische Bewegung“ so zentral sind, interessieren sie nicht als solche, sondern nur insoweit, wie damit eine Aufwertung der Frau verbunden ist. Zu den Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen Rogge-Börner und Günther vgl. Schmidt 2005, S. 161 ff. 64 Vgl. Bernhard Kummer: Midgards Untergang, Leipzig 1927; Die germanische Weltanschauung nach altnordischer Überlieferung, Leipzig 1930; Die deutsche Ehe, Leipzig 1930; Herman Wirth: Aufgang der Menschheit. Untersuchungen zur Geschichte der Religion, Symbolik und Schrift der Atlantisch-Nordischen Rasse, Jena 1928; Die Heilige Urschrift der Menschheit. Symbolgeschichtliche Untersuchungen diesseits und jenseits des Nordatlantik, Leipzig 1931 ff.; Was heißt deutsch? Ein urgeistesgeschichtlicher Rückblick zur Selbstbesinnung und Selbstbestimmung, Jena 1931. Ein ausführliches Verzeichnis der Schriften von und über Herman Wirth bietet Baumann 1995; aus der neueren Forschung vgl. Wiwjorra 1995; Langer 2003. 65 Vgl. etwa seine Beiträge in: Mecklenburger Warte / R.Z. 23, 1929, Nrn. 131, 157, 175; 24, 1930, Nr. 35; Reichswart 9, 1928, Nr. 33; 11, 1930, Nrn. 6, 8, 23, 42–43; 12, 1931, Nrn. 28, 45; 13, 1932, Nrn. 1, 11; Deutsche Wochenschau 5, 1928, Nrn. 20, 21, 35, 44, 45; Ludendorffs Volkswarte 1, 1929, Nrn. 6, 18. 66 Vgl. Kummer 1927, zit. n. der 2. Aufl. Leipzig 1935, S. 299, 302. 67 Wirth 1928, a. a. O., S. 17. Zum Mutterrecht vgl. ebd., S. 183. Die eigentümliche „Gottessonnenreligion“ Wirths hat ihren künstlerischen Ausdruck in der von Bernhard Hoetger (1874–1949) gestalteten Fassade des „Atlantishauses“ in der Bremer Böttcherstraße gefunden. Der Architekt und der Bauherr, Ludwig Roselius (1874–1943), haben sich zu Wirths Lehre bekannt. Roselius hat ihr durch die von ihm geförderten Nordischen Thing-Tage in Bremen Publizität zu verschaffen versucht. Vgl. Strohmeyer 2000; 2002; Tallasch 2002. 68 Wirth 1931, a. a. O., S. 43.

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auf besteht, „daß es das germanische Anheimfallen an den Alberichfluch war, das selber seine Hüterinnen der heiligsten Werte, die ‚Volksmütter‘, entrechtete“. 69 Nicht weniger provozierend ist seine Behauptung, daß die deutsche Erneuerung nicht allein vom Mann vollbracht werden könne, ja streng genommen überhaupt nicht von ihm: „Ohne die Selbstbesinnung der deutschen Frau, ohne die Wiedererlangung ihrer Gottesmutterschaft, ihrer Volksmutterschaft, wird jede männliche Arbeit ergebnislos bleiben. Die ‚deutsche‘ Erneuerung geht über die ‚deutsche‘ Frau.“ 70 Man begreift von hier aus die Begeisterung, mit der der völkische „Feminismus“ 71 das Werk Herman Wirths aufgenommen und jedes Buch und jeden Vortrag kommentiert hat 72 – im Fall Rogge-Börners freilich nicht ohne den Hinweis auf die Eigenständigkeit und sogar zeitliche Priorität der eigenen Arbeit: „Seit einem Jahrzehnt bemühe ich mich, meinen Deutschen den tieftragischen 69 Ebd., S. 57. Für Wirth ist deshalb auch „die in der völkischen Bewegung noch so weit verbreitete Auffassung, daß der Jude die geschichtliche Ursache des Niederganges der nordischen Welt und ihrer ehemaligen Gottesfreiheit wäre, ein geschichtlicher Irrtum, eine Folge der Unkenntnis des wirklichen Verlaufes unserer Vergangenheit. Der Jude im nordischen Abendland ist keine ursächliche, sondern eine Folge-Erscheinung.“ Mehr noch: In ihrer ursprünglichen Gestalt z.Zt. des Moses und der Propheten stehe die israelitische Volksreligion „nicht nur dem Geiste, sondern auch teilweise noch dem Blute nach über Alt-Arabien nachweisbar in ferner Verwandtschaft mit der atlantisch-nordischen Rasse und ihrer Kultur“. Die Überwindung der Weltwirtschaft und die Aufhebung des Alberichsfluchs bringe deshalb auch „Ahasvers Schicksalswende“. Ein neues Prophetentum werde entstehen, „aus uralter und neuer Verwandtschaft des Blutes und des Geistes mit uns. Was dadurch mit uns bereits unlöslich verbunden ist, wird in uns aufgehen: das andere Teil wird durch den Zionismus dann endgültig wieder zur Heim- und Volksstätte gelangen.“ (Herman Wirth: Um das nordische Erwachen, in: Reichswart 10, 1929, Nr. 7). Der Herausgeber des Reichswart hat sich in zwei Folgeartikeln von dieser nicht nur in puncto Alberich an Richard Wagner erinnernden Auffassung abgesetzt (Nrn. 8 und 10) und weitere Stellungnahmen pro und contra veröffentlicht (Nrn. 11–20). Scharf ablehnend äußern sich Ludendorffs Deutsche Wochenschau (6, 1929, 6. 1., 20.1., 27. 1.) sowie Emma Witte im Hammer (31, 1932, H. 717/718; H. 723/724; H. 729/730); moderater, aber ebenfalls kritisch Willibald Hentschel im Hammer (31, 1932, H. 715/716). Ein Vertreter des völkischen Flügels in der NSDAP wie Alfred Rosenberg begrüßt zwar die Forschungen Wirths, meint aber: „maßgebend kann für uns das Weltbild und die Weltauffassung der Vorgeschichte in keiner Weise sein“ (Herman Wirth und die Rassenkunde, in: Völkischer Beobachter, 11. 2. 1932). Zustimmend dagegen C. G. Harke (Hammer 29, 1930, H. 662), Friedrich Kolbe (Hammer 31, 1932, H. 725/726), Karl Strünckmann (Der Volkserzieher/ Der Bücherfreund 33/34, 1930, 20, Bl. 6), Egon von Wulffen (Die Sonne 6, 1929, H. 1). 70 Wirth 1931, a. a. O., S. 58. 71 Ich setze diesen Begriff hier in Anführungszeichen, weil Wirth in ihm eine Erfindung der Herrenmoral gesehen hat, die deshalb abzulehnen sei: vgl. Wirth 1931, a. a. O., S. 59. 72 Vgl. von Rogge-Börner unter anderem: Mecklenburger Warte / R.Z. 24, 1930, Nrn. 10, 36, 50; Bundesnachrichten des Schwarzhäuser Rings, Ringbrief Nr. 8, 1931; Wissenschaft und Gotteserkenntnis, in: Widerstand 7, 1932, H. 2. Zum „Führer und Leitstern“ wird Wirth etwa im Bund deutscher Pfadfinderinnen erhoben: vgl. „Herrat“ (Pseudonym für Ida Krippahl): Wo steht die Jugendbewegung? Wo stehen wir“ in: Die Kommenden 7, 1932, F. 11. Wirth hat seinerseits die deutsche Jugendbewegung als „bewußte Ablehnung der Materialisierung und Mechanisierung der städtischen Luxuskultur und ihrer Entartungserscheinungen“ gewürdigt und in ihr einen der sich periodisch wiederholenden Durchbrüche der höher gearteten Weltanschauung der Urahnen gesehen (1928, a. a. O., S. 9). In den eher männerbündischen Teilen der Bündischen Jugend ist die Resonanz erwartungsgemäß geringer ausgefallen, doch hat es auch hier Zustimmung gegeben, etwa bei Wilhelm Kotzde, der in Wirth eine verwandte Seele gespürt und sich mit ihm angefreundet hat: vgl. Wilhelm Kotzde: Wege meines Denkens, in: Neuland 16, 1931, Nr. 10; ders.: Gründe meines Schaffens, undatiertes Ms., Archiv Teichmann, Privatbesitz. Der von Kotzde gegründete

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Irrweg, den unser Blut ging, sichtbar zu machen, damit sie sich vielleicht doch noch herausfinden auf einen uns artgemäßen Weg. Und da ist es mir wirklich ein Erlebnis gewesen, daß nun Professor Herm. Wirth mit einer völlig neuartigen Forschungsmethode auftritt und aus der Kultsymbolik der älteren und jüngeren Steinzeit abliest, daß in jener Epoche, als der Nordische Mensch noch unberührt von Fremdeinflüssen war, die Frau, nicht der Mann im Vordergrund des Gemeinsamkeitslebens gestanden habe, als Priesterin, Aerztin, Richterin usw. Ich möchte überhaupt hier einmal aussprechen, wie es mich mit tiefer Freude erfüllt und mit Dankbarkeit gegen die Blutskraft, die mir das ermöglichte, daß ich als Erste in Deutschland die sogen. Frauenfrage in unmittelbare Beziehung zum Rassegedanken gebracht und schon vor dem Erscheinen Kummers und Wirths in der Oeffentlichkeit die germanische Geschlechterauffassung und die Stellung der frühgermanischen Frau so herausgearbeitet habe, wie diese beiden Forscher das jetzt im einzelnen belegen und bestätigen.“ 73 Im Unterschied zu Wirth, der in seinen politischen Stellungnahmen bereits die Karrieremöglichkeiten in einem zukünftigen nationalsozialistischen Staat im Auge hat, schreckt Rogge-Börner nicht davor zurück, ihren Anti-Androkratismus auch auf prominente Repräsentanten der NSDAP auszudehnen. Während der Vorschlag Hitlers, zwischen Bürgern und Staatsangehörigen zu unterscheiden und die Frauen pauschal den letzteren zuzuweisen, noch ohne Namensnennung als ‚ungermanische Verstiegenheit‘ abgekanzelt wird 74 , muß sich der Leiter des Agrarpolitischen Apparats der NSDAP, Richard Walther Darré, eine ebenso ausführliche wie vernichtende Kritik seines Buches über Das Bauerntum als Lebensquell der nordischen Rasse (1929) gefallen lassen, die dem Verfasser aufgrund seiner Züchtungsideen eine „unbewußte, aber völlige Gebanntheit in Orientalismus und rassefremdes Denken“ bescheinigt. 75 Nicht viel besser kommen die Vertreter der „männerbündischen Staatsauffassung“ weg, unter denen sich immerhin kein Geringerer als Alfred Rosenberg befindet. 76 Der Gedanke der „Eingeschlechterherrschaft“ sei ‚widervölkisch‘, nicht bloß, weil er gegen das nordische Ideal der „zweigeschlechtlichen Führung“ verstoße, sondern auch, weil er gegen Ehe und Familie gerichtet sei und daher auf eine „Ideologie des Sterbens, der Atomisierung unsrer Rasse“ hinauslaufe. 77 Gegenüber solchen Einseitigkeiten erSchwarzhäuser Ring hat auch Rogge-Börner aufgenommen und sich für ihre Positionen stark gemacht: vgl. Ringbrief Nr. 4/5, 1931. 73 Pia Sophie Rogge-Börner: Erziehung zur Persönlichkeit, Mecklenburger Warte / R.Z. 24, 1930, Nr. 36. Herman Wirth hat das Kompliment erwidert und Rogge-Börners Werk als „das Beste und Wertvollste, was bisher über die Frau gerade im Zusammenhang mit der nordischen Bewegung geschrieben wurde“ (Wirth 1931, a. a. O., S. 59), anerkannt – freilich explizit nur die nach seinem eigenen Hauptwerk erschienene Schrift Nordischer Gedanke und Verantwortung. 74 Vgl. Pia Sophie Rogge-Börner: Am geweihten Brunnen. Die deutsche Frauenbewegung im Lichte des Rassegedankens, Weimar 1928, S. 30. 75 Dies.: Nordischer Gedanke, a. a. O., S. 29. 76 Namentlich mit seinem Buch von 1930: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Andere Vertreter dieser Auffassung sind Alfred Baeumler (Männerbund und Wissenschaft, 1934) und Otto Höfler (Kultische Geheimbünde der Germanen, 1934). Ausführlich dazu und m. w. N.: Schmidt 2000. 77 Rogge Börner: Mehr Licht, a. a. O., S. 94; dies.: Der neue Mensch aus deutschem Artgesetz, Berlin 1935, S. 98.

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scheint die Frauenbewegung, auch und gerade in ihrer bürgerlichen Gestalt, nachgerade als eigentliche Vorkämpferin des „völkischen Sozialismus“, habe sie doch von Anfang an „das Erbwissen von der Würde und der hohen ethischen Verantwortlichkeit nordrassigen Menschentums“ bewahrt. 78 Ideen dieser Art hat Rogge-Börner auch nach der Machtübernahme der NSDAP öffentlich vertreten, zum einen in der von ihr herausgegebenen Monatsschrift Die deutsche Kämpferin – Stimmen zur Gestaltung einer wahrhaftigen Volksgemeinschaft, die immerhin bis 1937 erscheint 79 ; zum andern in einer Denkschrift an die neue politische Führung, die 1933 zusammen mit Beiträgen von Lenore Kühn, Irmgard Reichenau, Sophie Philipps, Yella Erdmann und Margarethe Kurlbaum-Sieber sowie posthumen „Worten“ von Käthe Schirmacher in einem von Irmgard Reichenau herausgegebenen Band publiziert wird. Die „deutschen Frauen völkisch-nationaler Lebensrichtung“, heißt es dort in einer Sprache, deren Kühnheit mit Blick auf die Machtverhältnisse erstaunt, hätten angesichts der nunmehr langsam einsetzenden Neuordnung des Staates die Pflicht, „die führenden Männer mit größtem Ernst darauf aufmerksam zu machen, daß der Staat nicht noch einmal wieder als Staat des Mannes geordnet werden darf, sondern als Lebensraum des ganzen deutschen Menschen, der aus Mann und Frau besteht, eingerichtet werden muß.“ Zwar denke niemand daran, „die Masse der Frauen in die Öffentlichkeit zu drängen; sie werden ihre Lebenserfüllung wie bisher im Hausfrau- und Mutterberuf finden, wie die Masse der Männer in der Arbeit ums Brot und in der Vaterschaft.“ Für die überdurchschnittlichen Begabungen des weiblichen Geschlechts seien jedoch die Führungspositionen genauso zu öffnen wie für diejenigen des männlichen: „Das Volk hat ein unveräußerliches Recht auf Führung durch die besten Deutschen beider Geschlechter […] Die besten Männer und die besten Frauen haben sich in die Führung der Nation zu teilen. An jeglichem Führeramt müssen Mann und Frau beteiligt sein.“ Das gelte nicht nur für alle ständischen, gesetzgebenden, politischen Körperschaften, sondern auch für das Wehrwesen, denn: „Von der Pflicht und der Ehre, die Nation zu schützen in Kriegsnot und das Leben für sie einzusetzen, werden die deutschen Frauen als Gesamtheit sich nicht mehr ausschließen lassen! Fast alle unsere Grenznachbarn bewaffnen nicht nur ihre Männer-Armeen bis an die Zähne, sondern bilden jetzt auch die leistungsfähigen Frauen zum Kriegsdienst aus. Nur wir zehnfach gefährdeten Deutschen versacken immer tiefer in pazifistischen Ideologien und berauschen uns an einer spießbürgerlichen ‚Weiblichkeit‘, für die das wahrhaftige Leben dieser alle kämpferischen Kräfte herausfordernden Zeitalterwende überhaupt keine Verwendung hat.“ 80 Rogge-Börner mag den Begriff Feminismus als Synonym für einen auf die Spitze getriebenen Weibchen-Kultus abgelehnt haben. 81 Es besteht jedoch kein Grund, ihr in dieser eigenwilligen Auslegung zu folgen. Zum völkischen Denken gehört auch ein feministischer Strang. 78

Ebd., S. 76; dies.: Mehr Licht, S. 27. Vgl. Crips 1990. 80 Pia Sophie Rogge-Börner: Denkschrift an den Kanzler des Deutschen Reiches Adolf Hitler und an den Vizekanzler Herrn Franz von Papen, in: Irmgard Reichenau (Hrsg.): Deutsche Frauen an Adolf Hitler, Leipzig, 1933, S. 7–11. 81 Vgl. dies.: Am geweihten Brunnen, a. a. O., S. 26. 79

9. Völkische in der NSDAP Um das Verhältnis der NSDAP zur völkischen Bewegung zu bestimmen, sollte man sich nicht an die Aussagen der Beteiligten halten. Die Völkischen außerhalb dieser Partei haben die Differenz auf der Ebene der Weltanschauung festgemacht und ihren Konkurrenten als romhörig, ultramontanistisch und dergleichen wahrgenommen, wofür es natürlich kaum Anhaltspunkte gibt. Die Nationalsozialisten, allen voran Hitler, haben dagegen eher die Gemeinsamkeit in der Weltanschauung betont und Unterschiede vor allem auf der Ebene der Organisation behauptet, gleichzeitig aber nicht im Zweifel gelassen, daß sie selbst zu bestimmen beanspruchten, was als völkische Weltanschauung zu gelten habe. Tatsächlich handelt es sich dabei ja auch um ein Phantasma, dessen Übernahme zu der von Grund auf verfehlten Auffassung führt, die NSDAP sei eine „Weltanschauungspartei“ gewesen. 1 Im Unterschied zur DVFB ist die NSDAP eine „Partei des faschistischen Typs“. 2 Darunter verstehe ich eine Partei, die der vorherrschenden Gesinnungsrichtung nach der politischen Rechten angehört, es dabei jedoch vermeidet, sich in weltanschaulicher wie ideologischer Hinsicht festzulegen, so daß ein breites Spektrum an ideellen und materiellen Interessen in sie Eingang finden kann. Dazu zählt insbesondere der neue Nationalismus, wie er vom Straßerflügel vertreten worden ist, aber auch der Rassenaristokratismus, der mit Namen wie Darré oder Himmler verbunden ist. Neuere Untersuchungen betonen deshalb zu Recht den Aggregatcharakter des Nationalsozialismus, den konzeptionellen Pluralismus und Polyzentrismus in der Partei, und sprechen sogar von einer „ideologischen Simulation“ (Hans Mommsen). 3 Den Zusammenhalt dieser heterogenen Elemente stiften: die abstrakte wertrationale Präferenz für Ungleichheit, die eine Abgrenzung sowohl nach links wie zur Mitte hin bewirkt; das Interesse insbesondere der Mitglieder des Führungsstabes an Stellen und Einfluß (Patronage); die affektive, in einzelnen Untergliederungen wie der SA männerbündische Vergemeinschaftung und ein Kult der Gewalt; und die ebenfalls stark affektiv begründete charismatische Organisation, die zwar bürokratische Strukturen nicht ausschließt, sie aber überlagert. 4 1

Zur Kritik dieser Auffassung vgl. Tyrell 1975, S. 93 ff. Zu diesem Begriff, allerdings mit anderer Akzentuierung: Schieder 1993; vgl. auch Mommsen 1998. 3 Vgl. Woodruff D. Smith 1986, S. 14; Kroll 1998, S. 20, 309; Mommsen 1991. 4 Vgl. Breuer 2005, S. 39 ff. Bei der Entwicklung dieser Merkmale habe ich, wie einige Kritiken zeigen, das Gesinnungsmoment nicht deutlich genug herausgearbeitet. Die faschistischen Parteien werden zwar am rechten Pol des politischen Feldes verortet, jedoch erst in der Schlußbetrachtung (S. 196) und nicht bei der Vorstellung des Idealtypus. Überdies fehlt eine Differenzierung zwischen Gesinnung einerseits, Ideologie und Weltanschauung andererseits, wie ich sie an anderer Stelle entwickelt habe (vgl. Breuer 2006, S. 107 ff. sowie oben, Einleitung). Die notwendige Erwei2

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Die Zugehörigkeit der NSDAP zum faschistischen Parteitypus schließt nun allerdings nicht aus, daß sich unter den von ihr aggregierten Strömungen auch eine starke völkische Strömung befindet, ja in der Anfangszeit sogar überwiegt. Versieht man den folgenden Satz mit gewissen Vorbehalten zeitlicher und sachlicher Art (Partei statt Bewegung), dann ist es durchaus richtig, was Kurt Sontheimer schreibt: „Die NSDAP selbst war in erster Linie eine völkische Bewegung und gehört in ihrem ideologischen Ursprung zu den vielfältigen, teilweise esoterischen Gruppen der Deutsch-Völkischen.“ 5 Diese Zugehörigkeit läßt sich an folgendem festmachen: In soziologischer Hinsicht ist auf die Verwurzelung im gleichen „Rechtsextremismus der Mitte“ hinzuweisen, wie er auch für die völkischen Verbände und Parteien, vom großen Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund bis zur kleinen Deutschsozialistischen Partei, charakteristisch ist. Im Unterschied zur Entwicklung nach 1925, als die Partei ihr soziographisches Profil zunehmend der Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung annähert 6 , ist in der Zeit bis zum Marsch auf die Feldherrenhalle der untere städtische Mittelstand (Handwerker und kleine Kaufleute, Angestellte und untere Beamte) deutlich überrepräsentiert, so daß man mit Recht von einer „kleinbürgerlich geprägten völkisch-nationalistischen Gesinnungsgemeinschaft“ gesprochen hat. 7 Organisationsgeschichtlich entspricht dem die Kontinuitätslinie, die von der im Januar 1919 gegründeten Deutschen Arbeiterpartei zurück zu der im August 1918 entstandenen Thule-Gesellschaft führt, welche ihrerseits ein Ableger des seit 1912 bestehenden Germanen-Ordens ist, einer geheimen Nebenorganisation des von Theodor Fritsch gegründeten Reichs-Hammerbundes. 8 Auf programmatischer Ebene läßt sich dies an den zahllosen Übereinstimmungen belegen, die zwischen dem 1920 von Drexler und Hitler entworfenen 25-Punkte-Programm der NSDAP und den entsprechenden Entwürfen und Äußerungen der Deutschsozialisten existieren. Albrecht Tyrell hat in seinem instruktiven Vergleich nur drei Komplexe ausgemacht, in denen gewisse Divergenzen bestehen: „In der Forderung nach Kolonien und in der Frage der zentralen Staatsgewalt sprach sich die D(S)P allgemein weniger deutlich aus, während sie in der Frage der religiösen Erneuerung stärker deutschchristlichen Bestrebungen Raum gab als die hier zurückhaltend taktierende NSDAP.“ 9 Auch für das Führungspersonal läßt sich diese Zugehörigkeit zur völkischen Bewegung mühelos demonstrieren, und zwar sowohl nach der organisatorischen wie nach der gesinnungsmäßig-ideologischen Seite hin. Vom Parteigründer Anton Drexler (1884–1942) ist bekannt, daß er während des Ersten Weltkriegs Kontakte zu antisemitischen Kreisen in München hat und eine Zeitlang der Vaterlandspartei angehört; sein Mentor ist Dr. ing. Paul Tafel, ein Mitglied des DSTB terung des „faschistischen Minimums“ von drei Kriterien auf vier (Gesinnung, Charisma, Patronage, Gewalt) erfolgt in einer demnächst erscheinenden Studie. 5 Sontheimer 1983, S. 131. Ähnlich Mosse 1991; Altgeld 1991; Wirsching 1999, S. 517 ff.; Meyer zu Uptrup 2003, S. 18 f. 6 Vgl. Anheier und Neidhardt 1993; Rösch 2002. 7 Auerbach 1996, S. 71; vgl. auch Kater 1971 (a). 8 Vgl. Phelps 1963; Gilbhardt 1994; Goodrick-Clarke 1997, S. 112 ff. 9 Tyrell 1975, S. 82.

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und des Germanen-Ordens, der 1920 auf der Liste der Bayerischen Mittelpartei für den Reichstag kandidiert. 10 Im März 1921 nimmt Drexler, zu dieser Zeit Vorsitzender der NSDAP, am dritten Parteitag der Deutschsozialisten in Zeitz teil und stimmt dort dem Beschluß zu, beide Parteien zu verschmelzen. 11 Nach der Übernahme des Parteivorsitzes durch Hitler im Juli 1921 zusehends in den Hintergrund gedrängt, organisiert Drexler in Bayern zusammen mit Pöhner den Völkischen Block, für den er von 1924 bis 1928 im Landtag sitzt. Der von ihm als Gegengewicht zur NSDAP gegründete Nationalsoziale Volksbund lehnt sich, wie gezeigt, eng an die Deutschvölkische Freiheitsbewegung an. 12 Dietrich Eckart (1868–1924), von August 1921 bis März 1923 Hauptschriftleiter des Völkischen Beobachter und nach dem Urteil vieler Biographen von maßgeblichem Einfluß auf den jungen Hitler, gehört dem DSTB an und ist häufig unter den Gästen der Thule-Gesellschaft zu finden, zu deren festen Mitgliedern übrigens Rudolf Heß und Hans Frank zählen, zwei weitere Namen aus der Führungsriege der NSDAP. 13 Die von Eckart herausgegebene Wochenschrift Auf gut deutsch, die von Dezember 1918 bis Mai 1921 in München erscheint, steigert die gegen das Judentum, die Freimaurer und den Bolschewismus gerichtete Paranoia in einer Weise, vor der selbst die Blätter eines Theodor Fritsch noch verblassen. 14 Wichtigster Mitarbeiter ist Alfred Rosenberg (1893–1946), auch er ein Gast der Thule und seit Herbst 1919 Mitglied der DAP. 1923 löst er Eckart als Hauptschriftleiter des Völkischen Beobachter ab und entwickelt sich in der Folgezeit zu einem der repräsentativen Doktrinäre der Partei. 15 Ebenfalls zum Umkreis Eckarts kann Gottfried Feder (1883–1941) gezählt werden, der seine Parole von der „Brechung der Zinsknechtschaft“ auf Versammlungen des DSTB und der Deutschsozialisten vorträgt und, wie Rosenberg, seit Herbst 1919 zur DAP gehört. 16 Ein für die Ausbreitung der NSDAP über München hinaus so wichtiger Mann wie Julius Streicher (1885–1946) beginnt seine politische Laufbahn im DSTB, engagiert sich ab Januar 1920 bei den Deutschsozialisten und wechselt im Sommer 1921 zu Otto Dickels Deutscher Werkgemeinschaft, bevor er sich im Oktober 1922 mit seiner Nürnberger Gefolgschaft Hitler anschließt. 17 Auch bei den führenden norddeutschen Nationalsozialisten führt der Weg zur NSDAP nicht selten über völkische Organisationen beziehungsweise Organisationen mit völkischem Einschlag: so bei dem späteren Gauleiter Hinrich Lohse, 10 11 12 13 14

Vgl. Franz-Willing 1974, S. 91; Lohalm 1970, S. 406, 434. Vgl. Tyrell 1975, S. 103 f. Vgl. Joachimsthaler 2000, S. 363; Phelps 1961. Vgl. Lohalm 1970, S. 168, 290 f.; Gilbhardt 1994, S. 69 f.; Plewnia 1970; Engelman 1971. Eine Studie über diese Zeitschrift fehlt. Eckarts Beiträge sind bibliographisch erfaßt in Grün

1941. 15 Vgl. als knappen Überblick: Bollmus 1989. Ausführlich und mit umfassender Bibliographie: Piper 2005. 16 Vgl. Gottfried Feder: Das Radikalmittel, in: Süddeutsche Monatshefte 16, 1918/19; Die Irrlehre des Freigeldes, in: Hammer 19, 1920, H. 441; Innere Geschichte der Brechung der Zinsknechtschaft, in: Völkischer Beobachter 72, 12. 8. 1920. Weitere Beiträge aus dieser Zeit in ders: Kampf gegen die Hochfinanz, München 1933. Zu Feders Aktivitäten vgl. Lohalm 1970, S. 127, 141, 293, 295; Tyrell 1978. 17 Vgl. Lenman 1971, S. 134 f.; Ehlers 1975; Ruault 2006.

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der bis 1921 Generalsekretär der Schleswig-Holsteinischen Landespartei ist, bei Adalbert Volck, dem offiziellen Leiter des Direktoriums der Nationalsozialistischen Arbeitsgemeinschaft in Norddeutschland (Reichs-Hammerbund und DSTB) 18 , oder bei Schutz- und Trutzbündlern wie Fritz Sauckel, Bernhard Rust, Karl Kaufmann und Martin Mutschmann. 19 Leonardo Conti, ab 1939 Reichsgesundheitsführer, beginnt seine politische Karriere ebenso in der Deutschvölkischen Freiheitspartei wie Artur Gütt, der ab 1933 die für die staatliche Gesundheitspolitik zuständige Abteilung im Reichsinnenministerium leitet 20 , um von anderen, zum Teil bereits erwähnten prominenten Renegaten dieser Partei wie Artur Dinter, Wilhelm Kube oder Graf Reventlow zu schweigen. Mit den Völkischen außerhalb der NSDAP teilen die Genannten die für die Nachkriegszeit typische Distanzierung von den „Altvölkischen“ des Kaiserreichs, denen man vorwirft, sich zu sehr mit den Interessen der bürgerlichen Schichten identifiziert zu haben: von daher der erstaunliche Erfolg, den die Vokabel „Sozialismus“ im Wortschatz der „Jungvölkischen“ erlebt. Dietrich Eckart beispielsweise will die Führungsrolle im Kampf gegen das angeblich nach der Weltherrschaft strebende Judentum nicht länger dem Bürgertum zuweisen, sondern der Arbeiterschaft, die entschieden mehr Tatkraft und Idealismus besitze als das feige Bürgertum. Gelinge es, die Arbeiter vom Einfluß des „jüdischen Marxismus“ zu befreien, so sei eine Wiedergeburt Deutschlands möglich, die zugleich zu einer Regeneration der Menschheit führen werde. 21 Alfred Rosenberg greift diesen Gedanken auf und verleiht ihm eine weitere Spitze, indem er die Weltherrschaft des Judentums nicht nur hinter dem westlichen Finanzkapital, sondern auch hinter dem Bolschewismus ausmacht und so zwei traditionelle Feinde des völkischen Lagers verschmilzt. Auch Rosenberg, dessen Verwurzelung im völkischen Denken sich an der ambivalenten Haltung gegenüber der Großstadt erkennen läßt, an der Polemik gegen die moderne Kunst u. a. m., erkennt dabei die Notwendigkeit, die Mittelschichtbindung zu durchbrechen und eine „sozialistische“ Wendung zu vollziehen, die die „von einem Kollektiv durchgeführte Sicherung des Einzelwesens beziehungsweise ganzer Gemeinschaften vor jeglicher Ausbeutung ihrer Arbeitskräfte“ bedeuten soll. 22 Gottfried Feder wiederum, dessen Polemik sich hauptsächlich gegen das internationale Finanzkapital richtet, verspricht sich von der Brechung der Zinsknechtschaft den „wahren Sozialismus“, der auf einer Versöhnung der Klassen beruhen, aber auch eine „Hebung der Arbeiterklasse“ bringen werde 23 : „die einzig mögliche und endgültige Befreiung der schaffenden Arbeit von den geheimen überstaatlichen Geldmächten“, die „Wiederherstellung der freien Persönlichkeit, die Erlösung des

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Vgl. Rietzler 1982, S. 96, 245 f. Vgl. Lohalm 1970, S. 327. 20 Vgl. Weiß 1998, S. 76; Labisch und Tennstedt 1985, Bd. 1, S. 236 ff.; Bd. 2, S. 423 ff. 21 Vgl. Plewnia 1970, S. 98, 30, 62. 22 Vgl. Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, 61.–62. Auflage, München 1935, S. 534. 23 Vgl. Gottfried Feder, Das Manifest zur Brechung der Zinsknechtschaft des Geldes (1919), in: ders. 1933, a. a. O., S. 51–78, 53, 68. 19

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Menschen aus der Versklavung, aus dem Zauberbanne, in die seine Seele vom Mammonismus verstrickt wurde“. 24 Die nähere Betrachtung läßt freilich unschwer erkennen, daß es mit dem (jung-) völkischen Sozialismus nicht weit her ist. Drexlers Intentionen gehen vor allem auf eine „Adelung des deutschen Arbeiters“, worunter er eine Art Statuserhöhung in Richtung des Mittelstands versteht, der zugleich eine Vertiefung des Abstands zum Proletariat entspricht. 25 Für Eckart heißt „deutscher Bolschewismus“ schlicht: „Die Besitzenden unter uns müssen auf den Zins verzichten,“ was im Klartext bedeutet, die Deutschen müßten auf die Juden verzichten, seien diese doch „fleischgewordener Geldgeist, glatte Verkörperung der Zinsidee, weiter nichts“. 26 Für Rosenberg erschöpft sich der Sozialismus in der Verstaatlichung der Bahn und der Kommunalisierung der Wasserversorgung; als „sozialistische Einrichtungen“ gelten ihm „der städtische elektrische Verkehr, die Polizei, die öffentlichen Bibliotheken usw.“ 27 Und für Feder ist selbst das noch zuviel. Seine Attacken richten sich nämlich nicht nur gegen Banken und Börsen, die nationale und internationale „Plutokratie“, sondern gleichermaßen gegen den modernen Steuer- und Wohlfahrtsstaat, fordert er doch nicht weniger als „die Aufhebung aller direkten und indirekten Steuern“, um den Millionen Kleingewerbetreibender, Bauern und Rentnern – von den Arbeitern ist nicht mehr die Rede – das Leben zu erleichtern. 28 Um das „Hochziel des nationalsozialistischen Staates“ zu erreichen, den „Staat ohne Steuern“ 29 , ruft er 1921 sogar zu einem allgemeinen Steuerstreik auf, ohne sich dabei um die Gefahr einer Auflösung der Reichseinheit zu scheren. 30 Immerhin soll der von ihm als künftiges wirtschaftspolitisches Lenkungsorgan avisierte „Zentralrat“ unter seinen einhundert Mitgliedern dreißig Arbeiter zählen, sehr im Unterschied zu Eckart, der dem putschenden Kapp im März 1920 die Wiedereinführung der alten Ständevertretung empfiehlt, im Unterschied auch zu Rosenberg, der von der Herrschaft eines neuen Deutschen Ordens träumt. 31 Die übrigen politischen Vorstellungen der völkischen Nationalsozialisten können hier nur knapp angedeutet werden. Auf religionspolitischem Gebiet gibt es beträchtliche Spannungen zwischen einem Flügel um Dietrich Eckart, der sich 24

Ebd., S. 52. Vgl. Nolte 1971, S. 34 f. 26 Dietrich Eckart, Deutscher und jüdischer Bolschewismus, in: Auf gut deutsch 1, 1919, H. 25. 27 Rosenberg 1935, a. a. O., S. 536 f. 28 Feder 1933, a. a. O., S. 53. Nur am Rande sei darauf hingewiesen, daß Feder das, was er hier mit der einen Hand gibt, mit der anderen wieder nimmt. Seine verbleibenden Ausgaben, vor allem solche infrastruktureller Art, soll der Staat durch die Ausgabe zinsloser Staatskassengutscheine finanzieren, die im Sinne einer produktiven Kreditschöpfung wirken sollen, praktisch aber wohl inflationäre Tendenzen begünstigen und damit gerade das kleine und mittlere Eigentum schädigen: vgl. ders.: Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundlagen, 25.–40. Aufl., München 1930, S. 52. Auffassungen dieser Art haben Feders späteren Anschluß an Gregor Straßer erleichtert. 29 Ders.: Der deutsche Staat auf nationaler und sozialer Grundlage, 11. Aufl., München 1933 (zuerst 1923), S. 128. 30 Ders.: Der kommende Steuerstreik, in: ders. 1933, a. a. O., S. 113–146, 124. 31 Vgl. ders.: Der soziale Staat, in: ders. 1933, a. a. O., S. 40–50, 48; Dietrich Eckart: Kapp, in: Auf gut deutsch 2, 1920, H. 11/12; Rosenberg 1935, a. a. O., S. 520 ff. 25

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zwar gegen das Zentrum wendet, die NSDAP aber für alle diejenigen offen halten will, die sich wohl vom politischen, nicht aber vom religiösen Katholizismus abzukehren bereit sind, und einem vehementen Antiklerikalismus, wie ihn etwa Rosenberg, Streicher und Dinter vertreten, die sich sich für die Schaffung eines überkonfessionellen Deutschchristentums einsetzen. 32 Mehr Einigkeit besteht dagegen im kulturellen Feld: hier gelingt es dem 1929 von Rosenberg ins Leben gerufenen Kampfbund für deutsche Kultur in verschiedenen Kampagnen gegen die Avantgardekunst nicht nur die Völkischen innerhalb und außerhalb der NSDAP hinter sich zu scharen, sondern auch Teile des Bildungsbürgertums für sich zu gewinnen. 33 Auf bevölkerungspolitischem Gebiet sucht und findet man den Schulterschluß mit der eugenischen beziehungsweise rassenhygienischen Bewegung und ihren Forderungen; in der Außenpolitik knüpft man an die schon in der Vorkriegszeit bei den Völkischen verbreiteten Lebensraumideen an, die bei einer Minderheit eine Expansion Deutschlands in Richtung Osteuropa vorsehen, jedoch weder einen Krieg gegen die beiden angelsächsischen Weltmächte noch einen solchen gegen die Sowjetunion ansteuern. 34 Durchgängig ist ein aufdringlicher Antisemitismus, der in der Mindestforderung auf eine Rücknahme der Emanzipation hinausläuft, bei herausragenden Exponenten wie Eckart und Rosenberg, Streicher und Dinter aber auch unverkennbar paranoide Züge aufweist. 35 Daß die NSDAP trotz dieser starken Verankerung in der völkischen Bewegung nicht mit dieser identifiziert worden ist, ist in erster Linie Hitler zuzuschreiben. Seine einzigartige Position in dieser Partei beruht, wie oft und zuletzt besonders eindringlich von Ian Kershaw gezeigt worden ist, auf dem „Charisma der Rede“ (Max Weber), das in atemberaubender Geschwindigkeit zu immer größeren Foren treibt. 36 Die Unentbehrlichkeit, die der Demagoge auf diese Weise erwirbt, nutzt er rücksichtslos, um seine innerparteiliche Herrschaft auszubauen. Die Gründerväter, Karl Harrer und Anton Drexler, werden binnen kurzem marginalisiert, potentielle Konkurrenten wie Otto Dickel beiseitegeschoben. Die Satzung, die Hitler im Juli 1921 von einer außerordentlichen Mitgliederversammlung verabschieden läßt, verwandelt die NSDAP in eine neuartige ‚Führerpartei‘, in der der Parteichef das Interpretations- und Entscheidungsmonopol in allen Fragen des Programms, des Personals und der politischen Strategie für sich reklamiert, 32 Vgl. Hastings 2003. Ob man freilich so weit gehen kann, Eckart und Hitler „the reunion of the Christian confessions taking place under the aegis of an antisemitic Catholic renewal“ zu unterstellen (ebd., S. 416), scheint mir zweifelhaft – nicht nur mit Blick auf Hitlers Taktik, sich in Glaubensfragen nicht festzulegen, sondern auch angesichts der in Auf gut deutsch vorgetragenen Kirchenkritik. 33 Vgl. oben. 34 Zu den außenpolitischen Vorstellungen Eckarts, Feders und Rosenbergs vgl. Breuer 2001, S. 181 f. Die Besonderheit Hitlers in diesem Kontext hat dagegen Nolte mit Recht in dem Bewußtsein der „einzigartigen geschichtlichen Möglichkeit“ gesehen, „die Russische Revolution unter bürgerlicher und europäischer Sympathie auszumerzen und damit für das zu einem eisenharten Volkskörper zusammengeschlossene Deutschland eine völlig neue und seine Zukunft unbedingt sichernde raumpolitische Lage zu schaffen“: Nolte 1971, S. 58. 35 Vgl. Breuer 2001, S. 353 ff., 363 ff. Speziell zu Streicher jetzt: Ruault 2006. 36 Vgl. Kershaw 1998, S. 190, 195.

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seine de facto charismatische Herrschaft aber „unter der Form einer vom Willen der Beherrschten abgeleiteten und nur durch ihn fortbestehenden Legitimität“ verbirgt, wie Max Weber dies für den Typus der „Führer-Demokratie“ herausgearbeitet hat. 37 Dank dieser Struktur kann sich die NSDAP zugleich geschlossener und offener als ihre Konkurrenten präsentieren. Langwierige und kontroverse Programmdiskussionen, wie sie etwa die DP beschäftigen (übrigens ohne jemals zu einem Abschluß zu gelangen), finden hier nicht statt, so daß die NSDAP von den für die völkischen Verbände typischen Sezessionen weitgehend verschont bleibt. Gleichzeitig erleichtert das undeutliche programmatische Profil, das freilich nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden sollte, den Anschluß anderer Gruppen, die durchaus die Erwartung hegen können, über persönliche Beziehungen zum Parteichef ihre Vorstellungen in der Partei verbindlich zu machen. Auf diese Weise gelingt es, die NSDAP von ihrer ursprünglichen Identifikation mit den teils deutschchristlich, teils deutschgläubig, teils protestantisch geprägten völkischen Mutterorganisationen abzulösen und auch für katholische Kreise wählbar zu machen 38 , ohne damit zugleich Barrieren gegenüber Deutschchristen, Deutschgläubigen oder Protestanten zu errichten – eine Konstellation, die sowohl den ungewöhnlichen Erfolg der NSDAP in München mit seiner zu 85 % katholischen Bevölkerung erklärt, wie auch ihre Expansion in das überwiegend protestantische Franken. Überrundet die NSDAP bereits Ende 1921 mit rund 6000 Mitgliedern die DP, so erweitert sie ein Jahr später noch einmal deutlich ihre Basis, als sich Julius Streicher gegen eine Übernahme seiner Schulden mitsamt seiner Gefolgschaft Hitler unterstellt. Die Mitgliederzahl der NSDAP vergrößert sich dadurch sprunghaft auf ungefähr 20 000. 39 Bis zum Hitler-Ludendorff-Putsch im November 1923 erhält die Partei zahlreiche weitere Mitglieder, so daß sie schließlich auf rund 55000 angewachsen ist – noch immer überwiegend in Bayern und Franken, noch immer beschränkt auf die gleiche kleinbürgerlich-städtische Klientel, wie sie auch für andere völkische Verbände charakteristisch ist, zugleich aber von einer Flexibilität, die bereits erkennen läßt, daß hier eine neue Organisationsform bereitsteht, die die der völkischen Bewegung bis dahin gesetzten Grenzen zu transzendieren imstande ist. 40 Nach der Wiedergründung von 1925 erweitert Hitler diese Grenzen planmäßig mittels einer Doppelstrategie, die einerseits der „völkischen Weltanschauung“ höchsten Respekt bezeugt, gleichzeitig aber jeden Versuch abwehrt, daraus irgendwelche programmatischen Konsequenzen zu ziehen. Schon am 26. Februar 1925 verkündet er, er habe sich immer gegen die Sammelbezeichnung „völkisch“ gewehrt, weil der Begriff zu unbestimmt und zu auslegungsfähig sei; in fünf Jahren, heißt es einige Zeit später, dürfe es keine „Völkische Bewegung“ mehr geben, sondern nur mehr eine NSDAP. 41 Der erste Band von Mein Kampf warnt vor

37 38 39 40 41

Vgl. Weber 1976, S. 156; Tyrell 1975, S. 148 f. Vgl. Hastings 2003; Heilbronner 1998. Vgl. Hambrecht 1976, S. 31 f.; Kershaw 1998, S. 229. Vgl. Kershaw 1998, S. 242. Vgl. Adolf Hitler: Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933, hrsg. vom

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„jenen deutschvölkischen Wanderscholaren […], deren positive Leistung immer gleich Null ist, deren Einbildung aber kaum übertroffen zu werden vermag“, und gießt Hohn und Spott über die ‚völkischen Methusaleme‘ aus, die „von altgermanischem Heldentum, von grauer Vorzeit, Steinäxten, Ger und Schild schwärmen, in Wirklichkeit aber die größten Feiglinge sind, die man sich vorstellen kann.“ 42 Ein Jahr nach der Machtergreifung zählt er gar „jenes Grüppchen völkischer Ideologen, das glaubt, die Nation wäre nur dann glücklich zu machen, wenn sie die Erfahrungen und die Resultate einer zweitausendjährigen Geschichte vertilgt, um im vermeintlichen Bärenfell aufs neue ihre Wanderung anzutreten“, zu den zahlreichen „Feinden des neuen Regiments.“ 43 Daß es sich hierbei nicht um eine bloß rhetorische Distanzierung handelt, zeigen Unvereinbarkeitsbeschlüsse, die eine gleichzeitige Mitgliedschaft in der NSDAP und Organisationen wie Ludendorffs Tannenbergbund untersagen, oder sogar Parteiausschlüsse wie derjenige, der 1928 den Thüringer Gauleiter Artur Dinter wegen seiner Angriffe gegen die Kirchen trifft. 44 Es ist nur scheinbar paradox, wenn man feststellt, daß erst das Abrücken von den exaltierten Manifestationen völkischer Glaubensvorstellungen der NSDAP die volle Ausschöpfung des völkischen Wählerpotentials ermöglicht hat. Weitgehend unbelastet von den Streitfragen, die den Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund oder die Deutschsozialisten in Dauerdiskussionen verstrickt haben, konzentriert sich die Partei auf den Kampf mit dem politischen Gegner und gewinnt dabei rasch ihre ursprüngliche Klientel wieder: das städtische Kleinbürgertum. Noch 1928 überwiegend eine Regionalpartei, die in Bayern deutlich höhere Ergebnisse als im Reichsdurchschnitt erzielt (6,4 % gegenüber 2,6 %) 45 , vermag sie in den folgenden Jahren auch im protestantischen Norden Fuß zu fassen und den Parteien der Mitte und der gemäßigten Rechten zahlreiche Stimmen abzujagen. Bei den Juliwahlen 1932 stammen 37 beziehungsweise 38 % der NSDAP-Stimmen aus dem nordwestlichen und nordöstlichen Deutschland, gegenüber 28 % aus Süddeutschland. 46 Unterstützen hier die Handwerkervereinigungen zunächst DDP und DNVP, so schwenken sie in den späten 20er Jahren zur Wirtschaftspartei über, um schließlich bei den Präsidentschaftswahlen von 1932 für Hitler zu votieren. 47 Auch wenn die neuere Forschung gezeigt hat, daß der neue Mittelstand der Angestellten und Beamten aus diesem Trend ausgenommen werden muß, ja geradezu hemmend auf den Aufstieg der NSDAP gewirkt hat 48 , berührt dies doch nicht die Tatsache, daß der alte städtische MitInstitut für Zeitgeschichte, Bd. 1: Die Wiedergründung der NSDAP Februar 1925 – Juni 1926, hrsg. von Clemens Vollnhals, München etc. 1992, S. 3, 417. 42 Ders.: Mein Kampf, 40. Aufl., München 1933, S. 395 f. 43 Max Domarus (Hrsg.): Hitler, Reden und Proklamationen 1932–1945, 2 Bde., Würzburg 1962–1963, Bd. 1, S. 354. Besonders schroff fällt die Distanzierung von den Völkischen auf religionspolitischem Gebiet aus: vgl. Meier 1987. 44 Vgl. Pyta 1996, S. 384. 45 Vgl. Pridham 1973, S. 322. 46 Vgl. Falter 1991, S. 156. 47 Vgl. Wulf 1969; Krohn und Stegmann 1977. Allgemein: Winkler 1972. 48 Vgl. Winkler 1995, S. 401, 421. Differenzierte Überlegungen hierzu auch bei Lenger 1989; Brustein 1998.

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telstand sowohl in der Mitgliedschaft als auch in der Wählerschaft der NSDAP überrepräsentiert ist. 49 Von kaum zu überschätzender Bedeutung ist, daß sich ab 1930 auch der alte Mittelstand auf dem Land den Nationalsozialisten zuwendet. Kamen bei den Reichstagswahlen von 1928 in Ober- und Niederbayern nur 3,9 beziehungsweise 2,5 % der Stimmen von ländlichen Wählern gegenüber rund 10 % aus der Stadt, in Oberfranken nur 7,9 % gegenüber 17,8 % 50 , so vermag die Partei in der Folgezeit diesen Unterschied auszugleichen. Zwischen 1930 und 1932 steigert sich der Prozentsatz der ländlichen Wähler der NSDAP auch in den katholischen Kreisen Schwabens von 13,5 % auf 31,1 %; als die Kirche Anfang 1933 ihren Widerstand aufgibt, erhöht er sich noch einmal auf 43,1 %. 51 In den ländlichen Regionen des protestantischen Deutschland vollzieht sich in dieser Zeit geradezu ein Erdrutsch zugunsten der NSDAP. Bei der Reichstagswahl vom Juli 1932 erzielt sie in den Dörfern der Schleswig-Holsteinischen Geest mehr als drei Viertel aller Stimmen; ähnlich hohe Gewinne fährt sie in den kleinbäuerlichen Regionen Hessens ein, dem Stammland Otto Böckels. 52 Auch in Gebieten wie Mecklenburg, in denen sich die Anzahl der in klein- und mittelbäuerlichen Betrieben beschäftigten Personen mit derjenigen in landwirtschaftlichen Großbetrieben die Waage hält, vermag die NSDAP die absolute Mehrheit zu erringen, wie bei der Landtagswahl vom Juni 1932, als sie 30 von 59 Sitzen erringt. 53 Während die DNVP in ihren einstigen Hochburgen wie Ostpreußen, Potsdam I, Frankfurt/Oder und Pommern nur noch zwischen 9 % und 15,8 % zu verbuchen vermag, lauten die Ergebnisse für die NSDAP 47,1 %, 38,2 %, 48,1 % und 48,0 %. 54 Die Gründe für diesen Siegeszug sind schon oft erörtert worden und deshalb hier nur knapp anzudeuten. Nach der Seite der Bauern sind die auslösenden Faktoren die 1927 einsetzende Agrarkrise und der anhaltende Preisverfall für ihre Produkte, der durch eine hohe Verschuldung sowie durch zusätzliche Lasten verschärft wird, die aus dem Ausbau des Steuersystems und des Sozialversicherungswesens resultieren. Nach der Seite der NSDAP ist es zum einen die Abkehr von extremistischen Programmen der Bodenverstaatlichung 55 und die Hinwendung 49 Vgl. Broszat 1971, S. 51; von Saldern 1993, S. 30 f.; Brustein 1996, S. 104 schätzt den Anteil der aus dem alten Mittelstand stammenden Parteimitglieder zwischen 1925 und 1932 auf 30–35 %, bei einem Bevölkerungsanteil von 24 %. Aus den wahlsoziologischen Untersuchungen von Jürgen Falter ergibt sich, daß dieser Anteil um so höher ausfällt, je größer der Anteil der Protestanten ist. Bei der Reichstagwahl vom Juli 1932 votieren drei Fünftel der protestantischen Selbständigen für die NSDAP gegenüber 13 % der katholischen: vgl. Falter 1991, S. 284. In diesen Zahlen sind auch die Selbständigen in der Landwirtschaft enthalten. 50 Vgl. Pridham 1973, S. 83. 51 Vgl. ebd., S. 282, 305. 52 Vgl. Heberle 1963, S. 100; Pyta 1996, S. 332. 53 Vgl. Hempe 2002, S. 41, 343. 54 Vgl. Falter u. a. 1986, S. 73. 55 Ein wichtiger Exponent solcher Programme ist Erich Rosikat (1890–1934). Der Syndikus der Schlesischen Landessiedlungsgesellschaft in Breslau sympathisiert zunächst mit der Deutschsozialen Partei Richard Kunzes, geht dann 1925 mit seinen Anhängern in die NSDAP und wird stellvertretender Gauleiter von Schlesien. 1926 redigiert er die Beilage Völkische Bauernschaft im Rahmen der Berliner Arbeiterzeitung, die zum Kampf-Verlag der Brüder Straßer gehört und schreibt außerdem für die Nationalsozialistischen Briefe (Kissenkoetter 1978, S. 97 f.; Grill 1982,

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zu den üblichen Forderungskatalogen der agrarischen Rechten, die um Themen wie Zollschutz, Siedlung, Krediterleichterungen, Aussetzung von Zwangsversteigerungen und Stundung von Zins- und Steuerzahlungen kreisen 56 , zum andern und wahrscheinlich in der Hauptsache der Umstand, daß die Partei noch nicht durch Regierungsbeteiligung oder durch uneinheitliches Verhalten im Parlament diskreditiert ist, darüber hinaus auch nicht, wie die DNVP seit der Wahl Hugenbergs zum Parteivorsitzenden, mit dem Odium zu kämpfen hat, ein bloßes Instrument der Gutsbesitzeroligarchie zu sein. Besonders vorteilhaft wirkt sich aus, daß es die Nationalsozialisten durch ihre entschiedene Distanzierung von allem völkischen Sektierertum vermeiden, bei den wichtigsten Meinungsführern auf dem Dorf, den protestantischen Pfarrern, Widerstände aufzubauen, mehr noch: daß es ihnen gelingt, sich gegenüber der Kirche als eine noch formbare politische Kraft zu präsentieren, die mit ihrer Betonung des Volksgemeinschaftsgedankens in Affinität zum christlichen Liebesgebot zu stehen und zugleich eine einmalige Chance zur Realisierung volkskirchlicher beziehungsweise volksmissionarischer Ansprüche darzustellen scheint. 57 Nimmt man die beachtliche Organisationsleistung hinzu, die im kurzfristigen Aufbau eines Agrarpolitischen Apparates und der Infiltration zahlreicher Landbünde liegt, dann versteht man, weshalb sich die Rolle der NSDAP im ländlichen Deutschland nicht auf ein kurzes Gastspiel beschränkt hat. 58 Wenn es von hier aus gesehen richtig ist, die NSDAP als erfolgreichsten Träger völkischer Politik zu bezeichnen, der es wie kein anderer verstanden hat, das Wählerpotential des alten Mittelstands in Stadt und Land gegen die Folgen der S. 166). Überzeugt von der Notwendigkeit „einer grundstürzenden Aenderung der Besitzverhältnisse am Grund und Boden“ setzt er sich für eine „Umwandlung von Großgütern in bäuerliche Betriebe“ ein. Den Vorwurf, dies sei Jakobinismus, nimmt er auf und wendet ihn positiv im Sinne einer „Volkserhebung zur Wiedererlangung der verlorenen deutschen Freiheit“. Bauernsiedlung und Seßhaftmachung der landlosen Bauernsöhne seien „vom Bauerntum selbst in entschlossenem Kampf“ zu erringen (Das Erbe des Bauernkrieges, in: Die Kommenden 2, 1927, F. 21 und 35). Der Programmentwurf des Straßerkreises, den er maßgeblich beeinflußt, sieht eine Nationalisierung von Grund und Boden vor, die Aufteilung aller über 1000 Morgen großen Güter in Bauerngüter von 50 bis 200 Morgen und die Verpachtung derselben als Reichslehen. Auch für die Landarbeiter ist ein Anteil vorgesehen, der aber mit 2 Morgen deutlich niedriger ausfällt: vgl. Kühnl 1966, S. 327. 1927 wird Rosikat aus der NSDAP ausgeschlossen, da er seine Mitgliedschaft in Ludendorffs Tannenbergbund nicht aufzugeben bereit ist: vgl. Tyrell 1991, S. 144, 163 f. Grill 1982 stellt zwar zu Recht den Beitrag des Straßer-Flügels zur ländlichen Propaganda der Partei heraus, unterschätzt aber das Ausmaß, in dem sich der endgültige Durchbruch gerade der Abstoßung dieser für die meisten Bauern inakzeptablen Programmteile verdankt. Aus Rosikats Schrifttum sind zu erwähnen: Die Finanzierung der landwirtschaftlichen Siedlung, in: Archiv für innere Kolonisation 16, 1924, H. 4–7; Die Vernichtung des Bauerntums durch den jüdischen Händlergeist, in: Der Weltkampf 3, 1926, S. 49–65; Kampfruf: Land, ebd., F. 27; Platz den Bauernsöhnen! in: Arminius 8, 1927, H. 20. Nach der Reichstagswahl von 1928 hat Rosikat eine Broschüre vorgelegt, in der er der völkischen Bewegung empfiehlt, die ‚faschistische Methode‘ Hitlers durch eine stärkere Akzentuierung sozialistischer Forderungen zu ergänzen: vgl. Die Lehren der Maiwahlen für die parteivölkische Bewegung, BArch PK K 0061. 56 Vgl. Gessner 1976, S. 244 f. 57 Vgl. dazu die erhellenden Ausführungen von Pyta 1996, S. 383 ff. 58 Vgl. Gies 1967. Dort auch der Hinweis, daß die Idee zum Aufbau eines solchen Apparates auf einen Völkischen zurückgeht: den Artamanenführer August G. Kenstler: vgl. ebd., S. 343.

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reflexiven Modernisierung zu mobilisieren 59 , so muß doch sogleich hinzugefügt werden, daß damit nur ein Teil der Wahrheit erfaßt ist. Auf dem Land beruht der Erfolg dieser Partei auch auf dem Geschick, mit dem sie es vermeidet, sich lediglich als Repräsentantin eines einzigen Standes beziehungsweise Berufsgruppe darzustellen. Das beeindruckt offensichtlich nicht nur zahlreiche Bauern, die bei den Wahlen ihre Stimme gerade nicht solchen Parteien geben, die sich so eindeutig als rein berufsständische Interessenpartei präsentieren wie zum Beispiel die Christlich-Nationale Bauern- und Landvolkpartei, sondern einer Partei wie der NSDAP, die die Überwindung von Klassenschranken und Standesborniertheiten zu ihrem Hauptziel erklärt und mit ihrem Konzept der Volksgemeinschaft eine wie immer auch vage Perspektive andeutet, „in der ständische und ökonomische Partikularinteressen durch die Unterordnung unter ein völkisches Gesamtwohl eingeebnet werden sollten.“ 60 Es beeindruckt auch andere Gruppen des agrarischen Milieus wie etwa die Gutsbesitzer, von denen beispielsweise in Mecklenburg mehr als ein Viertel die Parteimitgliedschaft erwirbt 61 , oder die Landarbeiter, die bei der Reichstagswahl vom Juli 1932 zu 37 % für die NSDAP votieren. 62 Im protestantisch-ländlichen Deutschland jedenfalls ist die NSDAP eindeutig keine ständische- oder Klassenpartei, sondern eine Milieupartei, die als Fürsprecherin aller agrarischen Produzenten angesehen wird. 63 In den industriellen Zentren und in überwiegend katholischen Regionen gilt dies nicht. Hier konkurriert die NSDAP mit etablierten Parteien anderer Milieus wie der SPD oder dem Zentrum. Worüber man jedoch nicht genug staunen kann, ist nicht bloß das Ausmaß, in dem es ihr gelingt, Einbrüche in deren Klientel zu erzielen – etwa 40 % der Parteimitglieder kommen zwischen 1925 und 1933 aus der Arbeiterschaft, ähnlich hoch liegt am Ausgang der Weimarer Republik der Wähleranteil 64 –, sondern weit mehr noch das Wie, die propagandistische Strategie, mit der dies erreicht wird. Wird der alte Mittelstand in den Städten mit dem Versprechen umworben, die Währung stabil zu halten, damit auch Einkommen aus Renten, Mieten, Stipendien und dergleichen, punktet man bei der Arbeiterschaft mit Wirtschaftsprogrammen, die auf inflationsfinanzierte Staatsausgaben für Beschäftigungszwecke setzen und damit die mittelständischen Einkommen entwerten 65 ; stellt man den agrarischen Produzenten ein Ende des Preisverfalls 59 Diese Sichtweise steht im Mittelpunkt nicht weniger zeitgenössischer Beobachtungen. Vgl. nur Carl Mierendorff: Überwindung des Nationalsozialismus, in: Sozialistische Monatshefte 37, 1931, S. 225–229, 226; Theodor Geiger: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. FaksimileNachdruck der 1. Aufl. von 1932, Stuttgart 1987, S. 109 ff. 60 Pyta 1996, S. 327. 61 Vgl. Hempe 2002, S. 336 ff. Die beträchtlichen Sympathien, deren sich die NSDAP innerhalb des ostelbischen Landadels erfreut, beleuchtet Malinowski 2003. 62 Vgl. Falter 1991, S. 229. In Mecklenburg dürfte dazu nicht wenig beigetragen haben, daß der dortige Gauleiter, Friedrich Hildebrandt, selbst ein ehemaliger Landarbeiter ist, der sich für die Interessen seiner Schicht stark macht. Auch ein erheblicher Teil des Führungspersonals rekrutiert sich aus der Landarbeiterschaft: vgl. Hempe 2002, S. 324 f. Zu Hildebrandt vgl. Behrens 1998, S. 66 ff. 63 Vgl. Pyta 1996, S. 472. 64 Vgl. Brustein 1996, S. 148. Beim paramilitärischen Arm, der SA, macht der Arbeiteranteil sogar mehr als die Hälfte aus: vgl. Reichardt 2002, S. 318, 315. 65 Vgl. Brustein 1996, S. 144.

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für ihre Produkte in Aussicht, was zugleich höhere Nahrungsmittelkosten für die städtischen Konsumenten impliziert, verbirgt man diesen gegenüber die Konsequenzen und ergeht sich in rhetorischen Beschwörungen der volksgemeinschaftlichen Harmonie; bemüht man sich im Süden mit einigem Erfolg darum, das antiklerikale Image der Partei abzubauen und sich als Schutzschild der katholischen Minderheit zu präsentieren, spielt man in konfessionell gemischten Gebieten die antiultramontane Karte aus und weckt bei Teilen der protestantischen Geistlichkeit die Hoffnung auf eine Fortsetzung der Reformation. 66 Daß diese Widersprüche, obwohl sie in der zeitgenössischen Publizistik wie auch von den gegnerischen Parteien ein ums andere Mal dargelegt werden, den Massenzustrom zur NSDAP nicht aufzuhalten vermögen, läßt nur den Schluß zu, daß diese Partei von den Wählern als weich, als eine Art Machtfeld angesehen wird, in dem man mit einiger Beharrlichkeit sein spezifisches Interesse durchzusetzen vermag. Getäuscht haben sich am Ende alle. Für die Bauernschaft bringt zwar das erste Kabinett Hitler die Erfüllung wichtiger Forderungen wie den befristeten Vollstreckungsschutz für landwirtschaftliche Betriebe, Verdoppelung des Zollschutzes, Steuersenkungen und Zinsverbilligungen für Agrarkredite, doch zeigen sich schon bald die Schattenseiten dieser Politik, wie zum Beispiel die mit der Eingliederung in den Reichsnährstand verbundene Zwangskartellierung, die weitere Einkommenssteigerungen der Agrarproduzenten verhindert. 67 Die strukturpolitische Zielsetzung einer Förderung bäuerlicher Kleinbetriebe weicht spätestens im Krieg neuen Konzeptionen einer „völkischen Leistungsgesellschaft“ (Lutz Raphael), die eine Steigerung der bäuerlichen Arbeitsproduktivität anstreben und dafür einschneidende Maßnahmen ins Auge fassen: allen voran die Eliminierung der als unrentabel angesehenen Betriebsgrößen und die Umsiedlung der Expropriierten in die annektierten Ostgebiete, wo sie Höfe mit einer leistungsfähigen (und das heißt: den Einsatz moderner landwirtschaftlicher Maschinen ermöglichenden) Betriebsgröße bewirtschaften oder in nichtlandwirtschaftliche Berufe überführt werden sollen. 68 Die Großraumplanungen der NS-Agrarexperten lassen dabei die Konturen einer grundlegenden Transformation der Besitzverhältnisse wie der Erwerbsstruktur des ländlichen Raums erkennen, in deren Gefolge nicht nur das im Nebenerwerb produzierende Kleinbauerntum, sondern auch der sich selbst genügende bäuerliche Familienbetrieb aus der deutschen Agrarlandschaft verschwunden wäre. Zu Recht hat man diesen, überdies eng mit bevölkerungspolitischen und eugenischen Ambitionen verbundenen Planungen einen revolutionären Charakter bescheinigt, der auf nicht weniger zielt als eine „Aushebelung des Eigentumsrechtes und damit letztlich auf eine Aushöhlung der bürgerlichen Privatrechtsgesellschaft.“ 69 Ähnliches ist für den alten städtischen Mittelstand nicht vorgesehen, doch muß auch dieser es erleben, daß die endliche Erfüllung seiner langjährigen Forderung nach Pflichtzugehörigkeit zu den Zunftinnungen sowie nach Einführung des 66 67 68 69

Vgl. Pyta 1996, S. 390 f.; am Beispiel der Schwarzwaldregion: Heilbronner 1998; Vgl. Farquharson 1976, S. 50 ff.; Grundmann 1979; Corni 1990; ders. und Gies 1994. Vgl. Streb und Pyta 2005, S. 73 ff. Pyta 2001, S. 49.

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„Großen Befähigungsnachweises“ vor allem den Effekt hat, ein weiteres „Hilfsorgan staatlicher Wirtschaftsaufsicht und –lenkung“ zu schaffen, die sich keineswegs an den Interessen des kleingewerblichen Mittelstands ausrichtet, sondern an rüstungswirtschaftlichen Prioritäten. Der Kampfbund für den gewerblichen Mittelstand, der sich der Einsicht in diese Notwendigkeit verweigert, wird schon im August 1933 aufgelöst und in die NS-Hago (Nationalsozialistische Handwerks-, Handels- und Gewerbe-Organisation) überführt, eine Einrichtung, die ebenso auf dem Absterbeetat steht wie die Betriebszellenorganisation NSBO. 70 Sein Leiter, Theodor Adrian von Renteln, kann sich zwar noch bis 1935 als Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages behaupten, muß aber danach ebenso ins zweite Glied zurücktreten wie die meisten anderen prominenten Völkischen in der NSDAP. Die Liste dieser Gescheiterten ist lang. Anton Drexler, immerhin der Gründer der Partei und Verfasser ihres Programms, wird völlig an den Rand gedrängt. Hermann Esser, zur Zeit von Hitlers Festungshaft zusammen mit Streicher und Dinter Leiter der Großdeutschen Volksgemeinschaft, bringt es eben zum Präsidenten des Reichsfremdenverkehrsverbandes und zum Staatssekretär für Fremdenverkehr in Goebbels’ Ministerium. 71 Gottfried Feder muß im August 1934 von seinem Amt als Staatssekretär weichen, als Hjalmar Schacht Reichswirtschaftsminister wird. 72 Alfred Rosenberg, im Januar 1934 von Hitler mit der „Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“ betraut, bleibt jahrelang auf seine Nationalsozialistische Kulturgemeinde beschränkt, deren wichtigstes machtpolitisches Instrument in einem Theaterabonnentenverband besteht; die von ihm aufgebaute Dienststelle, das „Amt Rosenberg“, „hatte innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftssystems nur geringe Bedeutung.“ 73 Julius Streicher, seit 1934 Leiter der Regierung von Ober- und Mittelfranken, wird 1940 in einem Parteigerichtsverfahren wegen übler Nachrede gegen Göring seiner Ämter enthoben und behält nur den Titel Gauleiter und die Herausgeberschaft des Stürmer. 74 Sein Protégé, Reichsärzteführer Gerhard Wagner, der mit seinem Förderer den obsessiven „kontagionistischen“ Antisemitismus teilt und mit einem anderen prominenten Völkischen, Rudolf Heß, das Faible für die lebensreformerische „Neue Deutsche Heilkunde“, schenkt den aus der Neuorganisation des öffentlichen Gesundheitswesens resultierenden Machtverschiebungen zu wenig Aufmerksamkeit und muß es erleben, daß sein Aufgabenfeld nach und nach auf propagandistische Maßnahmen beschränkt wird. 75 Der 1933 zum Stellvertreter des Führers erhobene Heß sieht sich zwar nach kurzer Zeit, ohne großes Zutun seinerseits, an der Spitze einer umfang70

Vgl. Broszat 1971, S. 217 f., 215. Ausführlich dazu von Saldern 1979. Vgl. Weiß 1998, S. 99, 113. 72 Vgl. Tyrell 1978. 73 Bollmus 20062 , S. 9; vgl. auch ebd., S. 66. Zur Rolle Rosenbergs innerhalb des Regimes grundlegend: Piper 2005. 74 Vgl. Weiß 1998, S. 449 f. 75 Vgl. Süß 2003, S. 35, 44, 56 ff. Die Nähe Wagners zu Streicher und seinem kontagionistischen Antisemitismus beleuchtet Essner 2002, S. 91, 140 ff. Zum Schicksal der Lebensreform aufschlußreich: Krabbe 1989. 71

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reichen Dienststelle mit weitreichenden Kompetenzen, doch beschränken sich deren Aktivitäten innerhalb der Partei auf die Zelebrierung des Führerkults, später auch auf die Kanalisierung des Zugangs zum Machthaber, im staatlichen Bereich auf die Wahrnehmung eines Vetorechts und punktuelle Interventionen, die keiner zielgerichteten Programmatik folgen. 76 Die im „Roland“ organisierten völkischen Sippenkundler müssen es hinnehmen, daß ihr Exponent Achim Gercke, in der „Kampfzeit“ Leiter des Sippenamtes der NSDAP und 1933 zunächst zum Sachverständigen für Rassenforschung im Reichsministerium des Inneren berufen, 1935 aus der Partei ausgeschlossen wird, offiziell wegen Verstosses gegen § 175 StGB, in Wahrheit, weil er dem als Irrlehre verurteilten Konzept der „Deutschrasse“ anhängt. 77 Auch bei jenen Völkischen in der NSDAP, deren Ambitionen mehr auf weltanschaulicher Ebene liegen, sind die meisten Blütenträume nicht gereift. Wohl schießen zunächst nach der Machtübernahme die Versuche ins Kraut, eine völkische Biologie, Biomedizin oder Anthropologie zu begründen, die im Gegensatz zum „jüdischen“ Rationalismus nicht analytisch, sondern synthetisch, nicht abstrakt-isolierend, sondern „ganzheitlich“ sein soll – Ernst Lehmann, Friedrich Sander, Erich Jaensch oder Ernst Krieck sind hier zu nennen, neben vielen anderen. Die ideologische Hegemonie aber erobern sie nicht, im Gegenteil: Seit etwa 1936 geraten sie ins Schußfeld einer Gruppe von eher pragmatisch orientierten biologisch-medizinischen „Technokraten“, die eine intransigente Form der Mendelschen Genetik, des Darwinismus und der Rassenbiologie als Grundlage der nationalsozialistischen Sozialpolitik und Kriegsstrategie durchsetzen wollen: Karl Astel, Lothar Stengel von Rutkowski, Falk Ruttke. Diese Gruppe, die Unterstützung bei Himmlers SS und den ihr nahestehenden Institutionen wie Ahnenerbe und Lebensborn findet, versteht es, die Ganzheitslehre als eine getarnte Form des römisch-katholischen „Holismus“ zu etikettieren und damit in Mißkredit zu bringen, mit der Folge, daß ihre Vertreter viele ihrer einflußreichen Positionen verlieren. 78 Die 1932 von „Evangelischen Nationalsozialisten“ wie Wilhelm Kube und Hanno Konopacki-Konopath gegründete Glaubensbewegung Deutsche Christen (DC) kann zwar zunächst einige Anfangserfolge verbuchen, vermag aber ihre Forderung nach Durchführung des Arierparagraphen und Reinigung des Gottesdienstes von aller ‚orientalischen Entstellung‘ nicht durchzusetzen. Schon im August 1933 vollzieht Hitler einen religionspolitischen Kurswechsel, der zur Folge hat, daß den Deutschen Christen die bisherige parteipolitische Unterstützung mehr und mehr entzogen wird. Der volksmissionarische Totalitätsanspruch der DC, wonach jeder protestantische Deutsche faktisch der evangelischen Kirche angehören müsse und jedes Parteimitglied den DC, wird spätestens durch den sogenannten Toleranzerlaß von Heß vom 13. Oktober 1933 verneint, der es jedem Parteimitglied freistellt, einer oder auch keiner Konfession anzugehören. Vertreter des intransigenten Flügels der DC wie Dr. Richard Krause, der im November 76 77 78

Vgl. Longerich 1992, S. 109 ff., 256 ff. Vgl. Gerstner 2005, S. 104 ff.; Essner 2002, S. 90. Vgl. Harrington 2001, S. 344 ff.

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1933 mit seiner Sportpalast-Rede einen Eklat auslöst, werden von allen kirchlichen Funktionen entbunden. 79 Immerhin wird mit Herman Wirth ein völkischer Weltanschauungsunternehmer, der das zwischen Deutschchristen und Deutschgläubigen gelegene Feld bearbeitet 80 , 1935 von Himmler mit der Leitung der für das weltanschauliche Profil der SS zentralen Studiengesellschaft für Geistesurgeschichte („Deutsches Ahnenerbe“) betraut, doch muß er dieses Amt schon nach zwei Jahren wieder aufgeben. 81 Anderen Neomythikern wie Bernhard Kummer oder dem Externsteine-Spezialisten Wilhelm Teudt ergeht es nicht viel besser. 82 Auf das Schicksal der deutschgläubigen Bewegungen, von denen sich die Deutschen Christen 1933 eilfertig absetzen 83 , wird im nächsten Abschnitt genauer eingegangen. Der Schriftsteller Hans Friedrich Blunck wird von Goebbels 1933 zum Präsidenten der neugegründeten Reichsschrifttumskammer ernannt, fällt jedoch schon nach zwei Jahren dem Kompetenzgerangel der NS-Schrifttumsfunktionäre zum Opfer und tritt 1935 zurück. 84 Sein Nachfolger Hanns Johst, spätestens seit 1924 Vorzeigeliterat der völkischen Bewegung und seit 1932 auch der NSDAP, kann seine Position nur durch einen Wechsel der Loyalität von Rosenberg zu Himmler und durch entsprechende ideologische Umschaltungen behaupten. 85 Paul Schultze-Naumburg, Wortführer der völkischen Polemik gegen das Neue Bauen und 1930 kulturpolitischer Berater Wilhelm Fricks in Thüringen, muß sich von Hitler vorhalten lassen, sein Entwurf für das Gauforum in Weimar sei zu provinziell geraten; Paul Schmitthenner, eine andere Galionsfigur der völkischen Architektur, wird von allen größeren Aufträgen abgeschnitten, ebenso wie Fidus oder Fritz Höger. 86 Der Bildhauer-Architekt Bernhard Hoetger, der das Weltbild Herman Wirths in der Fassade des Atlantishauses in der Bremer Böttcherstraße umgesetzt hat, wird 1938 in einem von ihm selbst eingeleiteten Verfahren aus der NSDAP beziehungsweise ihrer Auslandsorganisation ausgeschlossen, da die von ihm vertretene ‚nordische Kunst‘ auf nebelhaften Spekulationen unwissenschaftlicher Forscher beruhe, die der Führer in der Kulturrede von 1936 als eine Gefahr für die Bewegung gegeißelt habe. Tatsächlich hatte Hitler sich unmißverständlich von all jenen abgegrenzt, die den „Nationalsozialismus nur vom Hörensagen her kennen und ihn daher nur zu leicht mit undefinierbaren nordischen Phrasen verwechseln und in irgendeinem sagenhaften atlantischen Kulturkreis ihre Motivforschungen beginnen“, und zugleich die Böttcherstraße als „abschreckendes Bei-

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Vgl. Meier 1964; 1976, Bd. 1, S. 56 ff., 85 ff.; 1992, S. 51 ff., 82. Vgl. die Einstufung bei Hieronimus 1982, S. 165. 81 Wirth gehört der NSDAP 1925/26 und dann wieder seit 1933 an. Zu seiner Karriere vgl. Kater 19972, S. 11 ff., 58 ff. 82 Zu Kummer vgl. von See und Zernack 2004, S. 113 ff.; zu Teudt Lönnecker 2004 (a). 83 Vgl. Max Robert Gerstenhauer: Der völkische Gedanke in Vergangenheit und Zukunft, Leipzig 1933, S. 161 f. 84 Vgl. Weiß 1998, S. 45 f.; Hoerle 2003. 85 Vgl. Düsterberg 2004, S. 225 f., 258, 287 ff. 86 Vgl. Durth 1992, S. 153; Voigt und Frank 2003, S. 80 ff.; Kaffanke 2001, S. 399 f.; Turtenwald 2003, S. 39. 80

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spiel“ dafür bezeichnet, was in der Zeit vor der Machtübernahme als Kultur und Baukunst ausgegeben worden sei. 87 Was immer „Hitlers Volksstaat“ (Götz Aly) gewesen ist: ein Staat der Völkischen war er nicht, jedenfalls nicht in dem Sinne, daß Völkische in ihm eine herausragende Rolle gespielt hätten.

87 Zit. n. Strohmeyer 2000, S. 85 ff., 94. Die Kreisleitung Bremen der NSDAP geht noch einen Schritt weiter und nennt die Odinsgestalt am Lebensbaum und das Paula-Becker-ModersohnHaus „bedauerliche Zeugnisse eines krankhaften Geistes“. Der Bauherr und Eigentümer, der Bremer Kaffeemagnat Ludwig Roselius, soll erwogen haben, die Odinsfigur durch ein riesiges Hakenkreuz zu ersetzen: ebd., S. 89 f.

10. Ausklang der völkischen Bewegung: Ludendorff-Bewegung und Deutsche Glaubensbewegung Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten verändert auch für die Völkischen außerhalb der NSDAP die Handlungsbedingungen grundlegend. Da die neue Staatspartei gemäß Hitlers Doppelstrategie nicht nur auf Abwehr, sondern auch auf Inkorporation setzt und sich deshalb immer wieder als Kampforganisation der völkischen Bewegung stilisiert, sind viele, wohl die meisten Sympathisanten dieser Bewegung zur Unterwerfung bereit, winken dafür doch die vielfältigen Prämien des legalen Machtbesitzes. Wer jedoch Weltanschauung und Doktrin höher hält als die Person oder materielle Vergünstigungen, kann diesen Weg nicht gehen und muß nach Alternativen suchen, die in einem Einparteienstaat naturgemäß nicht mehr auf der Ebene der politischen Parteien liegen können, sondern allenfalls auf derjenigen des Gesinnungsvereins beziehungsweise der Weltanschauungssekte, in der das ursprüngliche völkische Programm um seine politisch-sozialen Komponenten (also den spezifisch ‚ideologischen‘ Part im eingangs entwickelten Sinne) coupiert ist. Zwei Beispiele verdienen dabei besondere Beachtung: die Ludendorff-Bewegung und die Deutsche Glaubensbewegung. Die Ludendorff-Bewegung verdankt ihren Namen dem ehemaligen Generalquartiermeister des kaiserlichen Heeres, Erich Ludendorff (1865–1937), der die militärische Niederlage wie auch den Verlust seiner Stellung als de-facto-Diktator in den Jahren 1917 und 1918 nicht verwinden kann und beides auf das Wirken sogenannter „überstaatlicher Mächte“ (Juden, Freimaurer und Jesuiten) zurückführt. 1 Nach dem Kapp-Putsch setzt er sich nach München ab und sammelt dort einen Kreis von Vertrauten um sich, mit deren Hilfe er ins Zentrum der politischen Macht zurückzukehren hofft. 2 1923 beteiligt er sich aktiv am Umsturzversuch der Nationalsozialisten, wird im Gegensatz zu Hitler freigesprochen und bemüht sich während dessen Festungshaft maßgeblich, wenn auch nicht sonderlich erfolgreich um das Bündnis zwischen Nationalsozialisten und Deutschvölkischen. Bei den Präsidentschaftswahlen im März 1925 läßt er sich von Hitler zur Kandidatur verleiten, scheitert aber bereits im ersten Wahlgang weit abgeschlagen mit nur 1,1 % der Stimmen. 3 Danach zieht er sich vorübergehend aus dem politischen Leben zurück und gerät immer mehr unter den Einfluß von Mathilde von Kemnitz (1877–1966), einer promovierten Nervenärztin, die sich seit Anfang der 20er Jahre im Umfeld des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes be1 Vgl. Erich Ludendorff: Vom Feldherrn zum Weltrevolutionär und Wegbereiter Deutscher Volksschöpfung. Meine Lebenserinnerungen von 1919 bis 1925, München 1941, S. 13 u. ö.; Nebelin 2000, S. 247. Wesentlichen Einfluß auf diese Deutung hat Ludendorffs Berater und Vertrauter, Oberst Max Bauer. Zu ihm vgl. Kitchen 1975. 2 Vgl. Thoss 1978. 3 Vgl. Döring 2001, S. 78.

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wegt und während des Hitler-Ludendorff-Prozesses publizistisch für den General eintritt. Aus dieser Bekanntschaft wird eine Freundschaft und schließlich eine Arbeits- und Lebensgemeinschaft, die im September 1926 vor dem Standesamt besiegelt wird. 4 Während Erich Ludendorff ungeachtet aller Annäherung an das völkische Spektrum zeitlebens den alten, wilhelminischen Nationalismus nicht völlig abstreifen kann, was sich u. a. in seinem Festhalten an einer Abstufung der politischen Rechte wie auch seiner vorbehaltlosen Bejahung der modernen Technik zeigt 5 , bezieht Mathilde Ludendorff ihre Antriebe aus der deutschgläubigen Bewegung, wie sie sich seit der Jahrhundertwende in zahlreichen Zirkeln und Zeitschriften artikuliert. Der von ihr präferierte Glaubenstyp hat sein Proprium in einer „anthropo- und ethnozentrischen Soteriologie“, in der „Aufforderung an den deutschen Menschen, durch den im innersten Selbst erlebten Gott seine Selbstschöpfung und -erlösung zu vollenden und den ‚Gotterhaltungswillen‘ zu stärken, der zur ‚Gotteinheit‘ führte.“ 6 Wer die vier „wunderbaren Wünsche“ – nach dem Wahren, Guten und Schönen sowie dem ‚genialen Fühlen‘ – in sich spürt und sein ganzes Leben in den Dienst ihrer Erfüllung stellt, der soll erhaben werden über zeitliche, räumliche und ursächliche Bedingtheit, soll in sich das Göttliche oder Gott verwirklichen und damit das höchste Ziel erreichen: „vor seinem Tode Bewußtsein Gottes zu werden!“ 7 Dieser prima facie individualistische und heilsaristokratische Zug ist eingebettet in eine rechtsnationalistische Konzeption, die von verschiedenen „Erbseelen“ der Völker ausgeht, diese in „Lichtvölker“ und „Schachtvölker“ einteilt und innerhalb der ersteren dem deutschen Volk als dem „gottwachste(n) aller Völker“ den höchsten Rang zuweist. 8 Seine spezifisch völkische Ausrichtung erhält dieser religiöse Nationalismus durch den angestrengten Versuch, das ‚neomythische‘, wohl aus der Ariosophie Guido von Lists übernommene Konzept des Erberinnerns mit Versatzstücken eines naturwissenschaftlichen Weltbildes auszustaffieren, das sich Mathilde Ludendorff während ihres Studiums bei August Weismann

4 Zur Entwicklung dieser Beziehung sowie zur Biographie und zum Weltbild Mathilde Ludendorffs grundlegend: Schnoor 2001. Die Beziehungen zum völkischen Lager sind wesentlich durch Gottfried Feder vermittelt, der 1923 ihren Triumph des Unsterblichkeitswillens bespricht: vgl. Der Reichswart 4, 1923, Nr. 7. Daß Mathilde von Kemnitz die Verbindung mit Ludendorff nicht nur Vorteile einbrachte, sondern auch den Verlust des Zugangs zu Organen des rechten Establishments wie den Süddeutschen Monatsheften, in denen sie zwischen 1914 und 1925 mehrfach vertreten ist, zeigt Mildenberger 2006, S. 631. 5 So sehen etwa die Kampfziele von 1927 vor, daß die Betätigung politischer Rechte nach dem Leistungsgrundsatz zu erfolgen habe. Ausgeübte Wehrpflicht und „betätigte Mutterschaft“ sollen dabei Vorzugsrechte begründen: vgl. Erich Ludendorff: Vom Feldherrn zum Weltrevolutionär und Wegbereiter Deutscher Volksschöpfung. Meine Lebenserinnerungen von 1926 bis 1933, 4. Aufl., Pähl 1987, S. 89. Zur Technikbejahung vgl. ders.: Der totale Krieg, München 1935, S. 29 ff. Zu Erich Ludendorff als ‚altem Nationalisten‘ vgl. Amm 2006, S. 61 ff. 6 Art. Deutschgläubige Bewegungen, in: TRE Bd. 8, S. 557. 7 Mathilde Ludendorff: Triumph des Unsterblichkeitswillens, 36.–38. Aufl., München 1939, S. 270; vgl. auch ebd., S. 396, 242 f. 8 Vgl. dies.: Die Volksseele und ihre Machtgestalter, 9.–12. T., München 1936, S. 32 ff.; [Mathilde von Kemnitz:] Der göttliche Sinn der völkischen Bewegung, München 1924, S. 4.

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und ihrer Assistenz bei Emil Kraepelin zusammengebastelt hat. 9 Ausgerechnet diese spezifisch völkische Kreuzung progressiver und regressiver Momente bringt ihr freilich eine Kritik derjenigen Völkischen ein, die sich durch die ‚freidenkerischen‘ Implikationen der naturwissenschaftlichen Bauteile in ihrer sei es deutschchristlichen, sei es deutschgläubigen Einstellung bedroht sehen. So wirft Guida Diehl beispielsweise der „Naturphilosophie der Frau Ludendorff“ vor, „eine Schwester des Haeckelschen Monismus“ zu sein und gleichsam einer rechten Variante des internationalen Freidenkertums zu huldigen. 10 Andere stoßen sich an der Verwischung der Grenzen zwischen Gott und Mensch, Glauben und Wissen und beantworten die Frage: „Ist die ‚Philosophie‘ der Frau Mathilde Ludendorff geeignet, Richtlinien für einen deutschen Glauben zu geben?“ rundweg mit nein. 11 Eine weitere, sehr spezielle Note ergibt sich aus der von Mathilde Ludendorff entwickelten „nationalfeministischen Lebensphilosophie“, die zwischen weiblicher Erotik und Mutterrolle trennt, den Männern eine mangelnde Berücksichtigung der ersteren vorwirft und daraus den Geburtenrückgang erklärt. Nicht leicht verdaulich dürften dem in sittlichen Dingen bis auf einige Ausnahmen eher konventionellen völkischen Lager Ansichten gewesen seien, die die sexuelle Beziehung zwischen den Geschlechtern nicht auf die Monogamie einschränken wollen und darüber hinaus eine Ebenbürtigkeit der Frau auch auf den Gebieten jenseits von Haushalt und Familie postulieren. 12 Die Kritik am männlichen Willen zur Macht und der daraus folgenden Neigung zum „Imperialismus“ ermöglicht Mathilde Ludendorff zumindest in ihren frühen Schriften sogar eine Differenzierung im Antisemitismus, die die beklagten Folgen der jüdischen Weltherrschaft nicht der „jüdischen Rasse“ insgesamt, sondern lediglich der kleinen imperialistischen Gruppe in ihr zuschreibt und das Heilmittel gegen dieselben wie auch gegen die Entartung der arischen Rasse in der „weiblichen Staatsarbeit“ sieht. 13 Dem Den9

Vgl. Mathilde Ludendorff 1939, a. a. O., S. 168, 112 ff. Vgl. Guida Diehl: Der ‚Deutsche Gottglaube‘ von Frau Dr. Mathilde Ludendorff, in: Neulandblatt 16, 1931, Nr. 16; vgl. auch dies.: Erlösung vom Wirrwahn. Wider Dr. Mathilde Ludendorff und ihr Buch ‚Erlösung von Jesu Christo‘, Eisenach 1931; Albrecht von Graefe-Goldebee: In Harmonie von deutschem Stolz und Demut vor Gott. Erwiderung eines deutschen Christen auf Frau Mathilde Ludendorff’s ‚Erlösung von Jesu Christo‘, Rostock o. J. (1931/32). 11 Vgl. die so überschriebene Artikelfolge von Hermann Reimnitz im Reichswart 12, 1931, Nr. 31 und 32. 12 Vgl. Mildenberger 2006, S. 626. Mathilde Ludendorffs Karriere auf diesem Feld beginnt 1920, als sie, noch unter dem Namen von Kemnitz, den kurzlebigen Weltbund nationaler Frauen gründet, der auf dem Bekenntnis basiert, „dass die Verstandesbegabung des weiblichen Geschlechtes auf allen Gebieten des psychologischen Denkens die Frau verpflichtet, den Wissensund Staatsbau kritisch zu prüfen und ergänzend zu befruchten, unbeeinflußt von männlicher Denkweise, aber auch eingedenk der Begabung des männlichen Geistes“ – eine Vorstellung, die jedenfalls für die Zeit, in der das Massenwahlrecht noch herrscht, das Frauenstimmrecht und die staatliche Mitarbeit der Frau impliziert. Vgl. Mathilde von Kemnitz: Des Weibes Kulturtat. Zwei Vorträge mit Aussprache, gehalten auf dem ersten allgemeinen Frauenkonzil, Selbstverlag, Garmisch o. J. [1920], S. 52 f., zit. n. Schnoor 2001, S. 22; dies.: Das Weib und seine Bestimmung. Ein Beitrag zur Psychologie der Frau und zur Neuorientierung ihrer Pflichten, 3. Aufl., München 1927 (zuerst 1917), S. 181 f. 13 Vgl. den Teilabdruck ihres Vortrags auf dem deutschen Frauenkonzil in München am 10

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ken Erich Ludendorffs dürften solche Auffassungen wohl nur dadurch assimilierbar gewesen sein, daß Mathilde eine Verbindung zu dessen zunehmend ausuferndem Konspirationismus herstellt: die „überstaatlichen Mächte“ erscheinen bei ihr als geheime Männerbünde, denen am wirksamsten durch „die Gleichstellung der Frau neben dem Manne“ entgegenzutreten sei. 14 Als Forum für die Verbreitung dieser Ideen dient der Tannenbergbund, ein im September 1925 gegründeter Dachverband, der sich laut Satzung als „Zusammenfassung aller zur völkischen Weltanschauung sich bekennenden Frontkrieger und Jugendbünde“ versteht. 15 Dabei handelt es sich im wesentlichen um den in München ansässigen Deutschvölkischen Offiziersbund, den Bund Alt-Reichsflagge, einige Frontbann-Gruppen in Ostpreußen und Sachsen, den Verband Hindenburg in Hannover sowie kleinere völkische Splittergruppen – alles in allem vielleicht 20 000 Mann, die in Ludendorff ihren Führer sehen und ihn, mit Erfolg, bitten, als „Schirmherr“ ihres Bundes zu firmieren. 16 Als publizistische Organe stehen der Völkische Kurier in München unter Wilhelm Weiß und die Deutsche Wochenschau zur Verfügung. 17 Bundesführer ist der General a. D. Friedrich Bronsart von Schellendorf (1864–1950), der eigentliche Kopf und Organisator Oberst a. D. Konstantin Hierl (1875–1955). 18 Hierl ist es auch, der im Sommer 1926 positiv auf Ernst Jüngers Appell zum Zusammenschluß aller nationalrevolutionären Kampfbünde reagiert und bereit ist, sich auf dessen Programm eines neuen, sozial inklusiven und die wissenschaftlich-technische Moderne bejahenden Nationalismus einzulassen. 19 Hierl lädt Jünger sogar ein, im Januar 1927 vor dem Tannenbergbund in München einen Vortrag zu halten, erregt damit aber das Mißfallen des Schirmherren. „Sein (das heißt Jüngers) Vortrag sagte mir nicht zu.

18. 6. 1920 in: Deutsche Bauern-Hochschule 5, 1926, F. 8 („Ueber nordische Rasse und Antisemitismus“). 14 Vgl. Mathilde Ludendorff: Statt Heiligenschein und Hexenzeichen mein Leben, V. Teil: Freiheitskampf wider eine Welt von Feinden an der Seite des Feldherrn Ludendorff, Pähl 1967, S. 155 f., 160. Allgemein zu ihren frauenpolitischen Ansichten: Hering 1990; Korotin 1997. 15 Vgl. Erich Ludendorff 1987, S. 33. Zum Tannenbergbund vgl. Buchheim 1958, S. 356 ff.; Frikke 1986, Bd. 4, S. 180 ff.; Bill 1995; Schnoor 2001, S. 202 ff. 16 Vgl. Bill 1995, S. 8 f., 20. Die Angabe von 30–40 000 Mitgliedern in Fricke 1986, Bd. 4, S. 180 ff. ist unbelegt. 17 Der Völkische Kurier erscheint allerdings nur bis Ende 1925 und wird danach unter der Bezeichnung Arminius fortgeführt. Dieser geht im Herbst 1926 an Kapitän Ehrhardt über und wird zum Forum des ‚neuen Nationalismus‘ : vgl. Breuer und Schmidt 2002, S. 182 ff. Die Deutsche Wochenschau kann von 1926 bis 1929 als Organ der Ludendorff-Bewegung gelten. Sie wird danach abgelöst von Ludendorffs Volkswarte. Eine Aufstellung der dort von Erich Ludendorff veröffentlichten Artikel findet sich in Erich Ludendorff 1987, a. a. O., S. 391 ff. 18 Vgl. Erich Ludendorff 1987, a. a. O., S. 24 f. 19 Vgl. Ernst Jünger: Schließt Euch zusammen! In: Standarte 1, 1926, H. 10 sowie die Antworten von Konstantin Hierl ebd., H. 11, H. 15. Zu Hierls Bemühungen, den völkischen an den neuen Nationalismus anzunähern, vgl. ders.: Die politischen Aufgaben des Tannenberg-Bundes, in: Volk und Wehr Nr. 29, 18. Heuert 1926; Unsere Stellung zum Staate (1926), in ders.: Ausgewählte Schriften und Reden, 2 Bde., München 1941, Bd. 1, S. 221–228; Unser politisches Bekenntnis, ebd., S. 229–239.

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Das Wort ‚Nationalismus‘ hatte schon lange keinen guten Klang mehr für mich. An Stelle der Nation mußte das Volk treten.“ 20 In den folgenden Monaten gehen Erich und Mathilde Ludendorff daran, den Tannenbergbund von seinem neonationalistischen Kurs abzubringen und ihn in ein Instrument ihrer zunehmend Gestalt annehmenden, im Kern von Mathilde Ludendorff entworfenen Weltanschauung zu verwandeln. 21 Eine erste Etappe ist die Umgestaltung der Satzung, welche die bis dahin nur korporativ zusammengeschlossenen Verbände nötigt, sich in jedem Fall „Tannenbergbund“ zu nennen und den ursprünglichen Namen in Klammern dahinter zu setzen. 22 Ein neu eingefügter Passus räumt dem Schirmherrn das Recht ein, die „politische und geistige Einstellung des Bundes“ zu bestimmen und die „letzte Entscheidung in allen Bundes-, Aufbau- und Ehrenangelegenheiten“ zu treffen. Mit der zusätzlichen Befugnis, den Bundesführer zu ernennen, die Landesführer zu bestätigen und zu entlassen sowie über die Beschlüsse des Bundestages zu entscheiden, ist das Führerprinzip eingeführt. Da gleichzeitig die Mitgliedschaft nunmehr auch für Frauen zugänglich sein soll, ist damit de facto, wenn auch nicht de jure, die Möglichkeit einer neuen, aus Erich und Mathilde Ludendorff bestehenden Doppelspitze gegeben, wie dies schon bald an dem gemeinsamen Auftreten beider bei Vortragsveranstaltungen deutlich wird. 23 Während sich die neue Satzung in weltanschaulicher Hinsicht noch nicht auf Mathildes Programm einer „Deutschen Gotterkenntnis“ festlegt, kommt es schon 1927 zu den ersten Präzisierungen der dem Tannenbergbund zugewiesenen Aufgaben. In der im August 1927 publizierten Schrift Meine Kampfziele wird als vordringlichste Aufgabe der Kampf gegen die „überstaatlichen Mächte“ propagiert: das Judentum, „das durch Freimaurerei und Marxismus mit seinen Abarten, durch Leihkapital und Verseuchung des geistigen und sittlichen Lebens der Völker die Weltherrschaft erstrebt“ 24 , und den „Jesuitismus“, dem nicht minder gefährliche Absichten zugeschrieben werden. Gegen das Freimaurertum beginnt 20 Erich Ludendorff 1987, a. a. O., S. 62. In seiner Selbstinterpretation unterscheidet Ludendorff zwischen einer „nationalen“, bis zum Kapp-Putsch dauernden Phase seines Wirkens und einer anschließenden „völkischen“ Phase, die dann durch seine Bekehrung zu den Ideen seiner Frau überwunden worden sei: vgl. ders. 1941, a. a. O., S. 19, 121. Den Unterschied zwischen national und völkisch macht er vor allem an der Verwurzelung der „nationalen Bewegung“ in der „christlichen Weltanschauung“ fest: vgl. ebd., S. 118.- Auch Ernst Jünger sah sich seinerseits zur Distanzierung veranlaßt. Vgl. seinen Aufsatz „Die antinationalen Mächte“ (Arminius 8, 1927, Nr. 5), in dem er das Konstrukt der „überstaatlichen Mächte“ zurückweist. 21 Die Grundlinien dieser in dem 1921 erschienenen Werk Triumph des Unsterblichkeitswillens festgelegten Weltanschauung hat Mathilde Ludendorff in zwei Trilogien ausgebaut: Der Seele Ursprung und Wesen (1. Teil: Schöpfungsgeschichte, Leipzig 1923; 2. Teil: Des Menschen Seele, Pasing 1925; 3. Teil: Selbstschöpfung, Leipzig 1927) und: Der Seele Wirken und Gestalten (1. Teil: Des Kindes Seele und der Eltern Amt, München 1930; 2. Teil: Die Volksseele und ihre Machtgestalter. Eine Philosophie der Geschichte, München 1933; 3. Teil: Das Gottlied der Völker, München 1935). 22 Vgl. Der Reichskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung, BArch R 1507/ 124, S. 115. 23 Vgl. Schnoor 2001, S. 205; Bill 1995, S. 10 f. 24 Erich Ludendorff: Meine Kampfziele, in: Deutsche Wochenschau Nr. 27, 21. 8. 1927, hier zit. n. Ludendorff 1987, a. a. O., S. 88.

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man im gleichen Jahr mit einer aufsehenerregenden Kampagne, die in Erich Ludendorffs Schrift Vernichtung der Freimaurerei durch Enthüllung ihrer Geheimnisse (o. O., 1927) kulminiert. 25 Ihr schließt sich 1929 ein Angriff auf die katholische Kirche an, der im folgenden Jahr auf den Protestantismus ausgedehnt wird. 26 Die Generalisierung des Argwohns gegen die „geheimen Männerbünde […], die die Weltgeschichte der Jahrtausende mit ihrer Kriegshetze und ihren Revolutionen gemacht hatten, um ihr Endziel: Herrschaft über die Völker der Erde, unter Niederzwingung ihrer Rivalen, der anderen Priesterkasten, anzustreben und auch weitgehend zu erreichen“ 27 , macht dabei auch vor den Verbänden und Parteien nicht halt, mit denen sonst in zentralen innen- und außenpolitischen Fragen ein beträchtliches Maß an Übereinstimmung besteht. Das gilt etwa für die NSDAP, die als Agent Roms verdächtigt wird, für die Deutschnationale Volkspartei, für den angeblich mit Freimaurern durchsetzten Stahlhelm, für die Alldeutschen, den Jungdeutschen Orden, überhaupt sämtliche Wehrverbände, die Burschenschaften und Korps, die Turnerschaften und Jugendbünde. 28 Selbst die Völkischen bleiben vom Verfolgungswahn nicht verschont, so daß sich die Ludendorff-Bewegung bald in völliger Isolation befindet. 29 Wie tief das Ansehen des Generals gesunken ist, zeigt 1931 eine Artikelserie im Reichswart, die mit Blick auf „Ludendorffs Selbstreklame“ zu Vokabeln wie peinlich und widerwärtig greift und von einem „beinahe krankhaften inneren Zwang“ spricht, mit dem Ludendorff alles in sein Schema zu pressen versuche. 30 Die fortschreitende Verweltanschaulichung wie auch der damit einhergehende Verzicht auf Wehrübungen führen schon bald zur Sezession derjenigen Kräfte, die 25 Das Buch erreicht noch im gleichen Jahr eine Auflage von über 100 000 Exemplaren: vgl. Erich Ludendorff 1987, a. a. O., S. 86. Unter den Rezensionen lesenswert (allein schon wegen des Titels): Johannes Stanjek: Exzellenz Horribiliscribifax!, in: Abwehrblätter 37, 1927, Nr. 17–18. 26 Vgl. Erich und Mathilde Ludendorff: Das Geheimnis der Jesuitenmacht und ihr Ende, München 1929; Mathilde Ludendorff: Bekenntnis der protestantischen Kirche zum römischen Katholizismus, München o. J. (1930). 27 Mathilde Ludendorff 1967, a. a. O., S. 155 f. 28 Vgl. Erich Ludendorff: Hitlers Verrat der Deutschen an den römischen Papst, München 1931; ders.: Heraus aus dem braunen Sumpf, München 1932; ders. 1941, a. a. O., S. 68 f., 238 (Alldeutsche), 328 (Stahlhelm), 364 (DNVP), 153 f. (Studentenverbände); ders. 1987, a. a. O., S. 82, 101, 153 (Jungdo). Nicht einmal Hindenburg fehlt in der Liste: vgl. ebd., S. 22. Ähnlich Mathilde Ludendorff 1967, a. a. O., S. 152 ff., 204 f. 29 So verfallen etwa der Germanen-Orden, der Deutschbund und Theodor Fritsch dem Verdikt, freimaurerisch beeinflußt zu sein; „die Deutschvölkische Freiheitsbewegung war durch ihre christliche Einstellung gebannt.“ Dem Gründer des Deutschen Ordens, dem Deutschgläubigen Otto Sigfrid Reuter, der noch 1928 die Festrede auf einer Veranstaltung des Tannenberg-Bundes in Walsrode halten darf, bescheinigt Ludendorff, in okkulten Vorstellungen gefangen zu sein, desgleichen Jakob Wilhelm Hauer, dem Gründer der Deutschen Glaubensbewegung. Herman Wirth kommt nicht viel besser weg: vgl. Erich Ludendorff 1941, a. a. O., S. 48, 249; ders. 1987, S. 156, 185, 210, 263, 356. Die Deutschvölkische Freiheitsbewegung beschließt, um ihren einstigen Bündnispartner wiederzugewinnen, eigens eine Satzungsänderung im Sinne Ludendorffs, erreicht damit aber nichts weiter als die kategorisch vorgetragene Forderung nach „restliche(r) Unterordnung unter einen Führer, der die Wege und Ziele bestimmt.“ (Vgl. den Briefwechsel zwischen Henning und Ludendorff in: Der Freiheitskämpfer. Beilage zur Mecklenburger Warte / R.Z. 22, 1928, Nr. 241). 30 Vgl. [o. V.]: Weltkrieg droht; Ludendorff und sein Schema; Ludendorffs Selbstreklame; Kein großer Mensch, in: Reichswart 12, 1931, Nrn. 8–13.

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sich vom Tannenbergbund eine Stärkung des Wehrbundlagers erhofft haben. Als einer der ersten verabschiedet sich Oberst Hierl, der seit Herbst 1927 keine Chancen mehr für die Durchsetzung seiner am Vorbild von Ernst Röhms Frontbann orientierten Vorstellungen mehr sieht. 31 Ihm folgen zahlreiche Offiziere, die sich der weltanschaulichen Leitung durch eine Frau nicht unterordnen wollen, schließlich auch ganze Verbände wie der Frontkrieger-Bund und der Deutschvölkische Offiziersbund. Zwar gelingt es, einige neue Gruppen teils zu inkorporieren (wie zum Beispiel den Bartelsbund, einen Zusammenschluß von einigen Dutzend völkischen Schriftstellern), teils neu aufzubauen (wie zum Beispiel den TannenbergStudentenbund oder die im September 1931 von dem Artamanenführer Fritz Hugo Hoffmann gegründete Deutschjugend), doch vermögen diese den Aderlaß nicht wettzumachen. Die Gesamtzahl der Mitglieder geht nach polizeilichen Lageberichten 1929 auf circa 15 000 zurück, andere plausible Schätzungen lauten für 1930/1931 auf etwa 10 000. 32 Auch die soziale Zusammensetzung verändert sich, soweit dies bei der spärlichen Quellenlage erkennbar ist. Im Publikum der vom Tannenbergbund veranstalteten Vorträge macht der Frauenanteil nun über die Hälfte aus, ansonsten überwiegen Lehrer, Mediziner, Juristen und Beamte. 33 Aus diesem Kreis wird im April 1930 noch einmal eine engere Gruppe herausgefiltert, die aus all denen besteht, die dem Beispiel der Ludendorffs folgen und aus der Kirche austreten: der Verein „Deutschvolk“. Dieser Verein ist charismatisch strukturiert, das heißt ganz auf Mathilde Ludendorff als Religionsstifterin zugeschnitten, ohne irgendwelche Zwischeninstanzen; die Zugehörigkeit manifestiert sich nicht so sehr in bestimmten Ritualen oder gemeindeförmig (es gibt keine Ortsgruppen), als vielmehr in der Vermeidung bestimmter Handlungen wie zum Beispiel der Taufe von Kindern oder des Genusses von Alkohol sowie im Bezug des Mitteilungsblattes Am Heiligen Quell, das zunächst als Beilage zur Zeitschrift des Tannenbergbundes, Ludendorffs Volkswarte, erscheint (seit März 1929), ab 1930 als eigenständige Monatsschrift, die überwiegend von Mathilde Ludendorff verfaßt ist. 34 Als im Sommer 1933 Tannenbergbund und Deutschvolk verboten werden, nicht aber Am Heiligen Quell, verfügt die Ludendorff-Bewegung immerhin noch über ein Medium, mit dem sie ihren Zusammenhalt zu sichern vermag. Das Blatt wird auf halbmonatliches Erscheinen umgestellt und erreicht nach kurzer Zeit die Auflagenhöhe von Ludendorffs ebenfalls verbotener Volkswarte, ja übertrifft sie 1937 mit 86 000 Exemplaren noch. 35 In unverkennbarer Parallele zur Deutschen 31

Vgl. Der Reichskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung: Meldungen 1929–1933, S. 140 ff. (BArch R 1507/143). Hierl tritt im April 1929 in die NSDAP ein, wird Abteilungsleiter in der Organisationsabteilung II, Mitglied der Reichstagsfraktion und später Reichskommissar für den Reichsarbeitsdienst. Nach dem Krieg wird er zu mehreren Jahren Arbeitslager verurteilt: vgl. Art. Konstantin Hierl, 1972. 32 Vgl. Schnoor 2001, S. 207; Fricke 1986, Bd. 4, a. a. O.; Heinz Bartsch: Die Wirklichkeitsmacht der Allgemeinen Deutschen Glaubensbewegung der Gegenwart. Phil. Diss. Leipzig 1938, S. 80. 33 Vgl. Schnoor 2001, S. 232. 34 Vgl. ebd., S. 250 ff.; Erich Ludendorff 1987, a. a. O., S. 274. Ludendorffs Volkswarte hat nach eigenen Angaben Ende 1932 eine Auflagenhöhe von 61000, Am Heiligen Quell 600: vgl. ebd., S. 383. 35 Vgl. Bill 1995, S. 13.

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Glaubensbewegung, der beizutreten sich die Ludendorffs freilich beharrlich weigern, nennt man sich jetzt „Glaubensbewegung der Deutsch-Gottgläubigen“ und findet damit immerhin soviel Resonanz, daß zeitgenössische Beobachter von der „unmittelbar stärkste(n) deutschgläubige(n) Bewegungsrichtung“ sprechen. 36 Die Versöhnung zwischen Erich Ludendorff und Hitler im März 1937 beschert der Bewegung die Aufhebung aller Beschränkungen ihres ‚weltanschaulichen Wirkens‘ und die Anerkennung als Religionsgemeinschaft, die unter der Bezeichnung „Bund für Deutsche Gotterkenntnis (Ludendorff)“ am 19. Juni 1937 ins Vereinsregister eingetragen wird und fortan als mit den christlichen Kirchen gleichgestellt gilt. In dieser Gestalt gelingt es der Ludendorff-Bewegung als einer der wenigen Ausläufer der völkischen Bewegung, die nationalsozialistische Herrschaft zu überleben. – Die Deutsche Glaubensbewegung gehört streng genommen weder zeitlich noch sachlich in ein Kapitel über die Völkischen in der Weimarer Republik. Hervorgegangen aus einer Arbeitsgemeinschaft verschiedener außerkirchlicher Gruppen, die sich im Juli 1933 in Eisenach unter dem Titel „Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung“ (ADG) zusammengeschlossen haben, konstituiert sie sich im Mai 1934 förmlich als „Deutsche Glaubensbewegung“ (DG) unter der Führung Jakob Wilhelm Hauers, fällt also ganz in die Glaubensgeschichte des Dritten Reiches. 37 Bei weitem der größte Teil ihrer Mitglieder, schätzungsweise sechs Siebentel 38 , kommt auch nicht aus völkischen Kreisen, sondern aus dem Bund freireligiöser Gemeinden Deutschlands, der im Lauf seiner bis 1859 zurückreichenden Geschichte vielfältige Einflüsse aufgenommen hat, vom rationalistischen Freidenkertum über den Monismus bis hin zur Sozialdemokratie. 39 Wenn die DG dennoch in der Forschung immer wieder als Ausläufer der völkischen Bewegung gedeutet wird 40 , dann kann sich dies auf folgende Tatsachen stützen: Der Aufruf zur Eisenacher Tagung ist von prominenten Vertretern dieses Lagers unterzeichnet, wie etwa Ludwig Fahrenkrog, Bernhard Kummer, Gustav Neckel, Herman Wirth, Theodor Fritsch, Graf Reventlow, Wilhelm Schwaner und Georg Stammler. 41 Dem in Eisenach konstituierten Führerrat gehören aus diesem Kreis Fahrenkrog, Reventlow und Wirth an, ferner mit Ernst Bergmann und Otto Sigfrid Reuter weitere bekannte Namen, die, wie die übrigen auch, ihre Anhängerschaft mit einbringen: so etwa Reuters Deutschgläubige Gemeinschaft, die nach dem Ausscheiden Ernst Hunkels und der Übernahme der Führung durch Alfred Conn ihre ursprünglich auch politischen und (frei-) wirtschaftlichen Ambitionen ganz der religiösen Zielsetzung nachgeordnet hat; oder die Germanische Glaubensgemeinschaft Fahrenkrogs, die sich in der Anfangsphase der Weimarer 36

Vgl. Bartsch 1938, a. a. O., S. 86 f. Zur Geschichte der DG vgl. vor allem Bartsch 1938, a. a. O.; Buchheim 1953, S. 157 ff.; Meier 1992, S. 81 ff.; Nanko 1993. Wenig Neues, jedoch viele Fehler im Detail enthält Baumann 2005. 38 Die absoluten Zahlen schwanken selbst in der gründlichsten Untersuchung, die dieser Gegenstand bisher gefunden hat, zwischen 60 000 und 90 000: vgl. Nanko 1993, S. 178 f. 39 Vgl. Simon-Ritz 1995; Pilger-Strohl 2001. 40 Vgl. neben der bereits zitierten Literatur noch Cancik 1982, S. 180, 207. 41 Vgl. Nanko 1993, S. 134. Zu Bergmann und Reventlow vgl. weiter unten; zu dem Nordisten Gustav Neckel (1878–1940) vgl. von See und Zernack 2004, S. 113 ff. 37

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Republik zeitweise mit der Deutschen Werkgemeinschaft Otto Dickels verbunden hat und nach der 1925 erfolgten Trennung von dieser ein breiteres Wirkungsfeld sucht. 42 Weitere Verbindungen bestehen zum völkischen Flügel der Jugendbewegung, etwa zu den Älteren der Adler und Falken, die im Oktober ihren Beitritt erklären 43 , zu den Nordungen und nicht zuletzt zum Erich Röth Verlag, der seit 1929 die Kommenden verlegt und nach deren Verbot eine Fortsetzung unter dem Titel Wille zum Reich herausgibt, in der die DG bis März 1935 mit einer festen Beilage vertreten ist. 44 Mit der Ernennung Graf Reventlows zum Stellvertretenden Vorsitzenden im Oktober 1933 rückt schließlich eine Person in den engeren Führungskreis der DG auf, die bereits in der Deutschvölkischen Freiheitspartei beziehungsweise -bewegung eine Schlüsselrolle gespielt hat. 45 Auch der Initiator und Führer der DG, Jakob Wilhelm Hauer (1881–1962), läßt sich hier verorten, wenn auch nicht ohne Unschärfen, da Hauers Äußerungen selten über das religiös-weltanschauliche Feld hinausgehen. 46 Der Tübinger Religionswissenschaftler und Kanzler des zur Jugendbewegung gehörenden Bundes der Köngener 47, der ursprünglich dem völkischen Nationalismus durchaus ablehnend gegenübersteht 48 , bemüht sich seit Anfang der 30er Jahre um eine Synthese der verschiedenen Richtungen der von ihm so bezeichneten „junggermanischen Bewegung“ von Herman Wirth über die Nordische und Germanische Glaubensgemeinschaft bis zum Tannenbergbund, die ihm als zeitgemäßer Ausdruck eines weit zurückreichenden, die altindischen Upanishaden ebenso wie Plotin, Meister Eckehart ebenso wie Goethe umfassenden indogermanischen Glaubens erscheinen. 49 Im Unterschied zu den Ludendorffs, die sich denn auch gegen alle Integra42

Vgl. Nanko 1993, S. 134, 147; Bartsch 1938, a. a. O., S. 23, 29 f. Vgl. Der Führer 7, 1933, Nr. 3, Oktober. 44 Wille zum Reich erscheint von März 1934 bis Juni 1941, seit 1937 als Organ des Kulturkreises der SA. 1934/35 erscheint im Erich Röth Verlag außerdem die Monatsschrift der DG Deutscher Glaube sowie die von Hermann Buddensieg und Wilhelm Schloz in Verbindung mit Wilhelm Hauer herausgegebene Schriftenreihe „Deutscher Glaube im Aufbruch“ mit folgenden Titeln: Hermann Buddensieg: Deutscher Glaube im Aufbruch; Paul Krannhals: Der Glaubensweg des deutschen Menschen; Friedrich Schöll: Nordische Lebensbejahung oder christlicher Erlösungsglaube; ders.: Unsterblichkeit oder Ewigkeit. Der Tod als das Tor des Lebens; Paul Zapp: Religiöser Zerfall und deutscher Glaube (allesamt Eisenach 1935). Im Erich Röth Verlag sind ferner folgende der DG zuzurechnende Schriften erschienen: Kurt Hüttenrauch: Natio und Religio, 1934; Rudolf Viergutz: Vom Wesen des Deutschen Glaubens, 1934; Lenore Kühn: Deutschheit und Glaube, 1934. 45 Vgl. Nanko 1993, S. 174. Graf Reventlow hat sich seit seinem Übertritt zur NSDAP verstärkt deutschreligiösen Themen zugewandt. Vgl. seine Bücher: Für Christen, Nichtchristen, Antichristen. Die Gottfrage der Deutschen, Weimar 1928; Deutscher Sozialismus. Civitas Dei Germanica, Weimar 1930; Wo ist Gott? Berlin 1934. 46 Zum Lebensweg Hauers vgl. die von der ehemaligen Ludendorfferin Marie Dierks verfaßte Biographie (1986, mit Personalbibliographie). Zum akademischen Umfeld und zu den Stationen von Hauers NS-Karriere, die von der Hitlerjugend (Mai 1933) über die SS (Juni 1934) und den SD (August 1934) zur NSDAP führt (Mai 1937), vgl. Junginger 1999. 47 Zu dem 1920 gegründeten Bund der Köngener vgl. Kindt 1974, S. 180 ff. 48 Vgl. Jakob Wilhelm Hauer: Im Kampf um die deutsche Jungmannschaft, in: Unser Weg 4, 1925, H. 1. 49 Vgl. ders.: Die völkisch-religiöse Bewegung und das Christentum, in: Kommende Gemeinde 4, 1932, H. 1/2. 43

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tionsbemühungen sperren, vertritt der vom theologischen Liberalismus herkommende Hauer dabei zunächst keinen Absolutheitsanspruch, sondern sucht das Gespräch zwischen den verschiedenen Strömungen zu fördern50 ; dies gilt auch für das Christentum, dem sogar eine gewisse historische Berechtigung zuerkannt wird. Als jedoch in den unmittelbar auf die nationalsozialistische Machtübernahme folgenden Monaten eine Benachteiligung der junggermanischen Gruppen, gar eine Zwangschristianisierung droht, verstärkt sich die antichristliche Haltung wie auch die Distanz zum theologischen und politischen Liberalismus und läßt aus der Präferenz für die Freiheit in ihrer originären Form als Glaubens- und Gewissensfreiheit eine solche für Ungleichheit werden. 51 Auf den ersten Blick ist dabei allerdings nicht sogleich erkennbar, worauf diese sich bezieht: auf Rasse oder Volk. Für das erstere, also für einen Rassenaristokratismus, spricht vordergründig die Auffassung, derzufolge Rasse – „die in uns liegende bluthafte und seelisch-geistige Erbanlage“ – „ein Stück Offenbarung des Ewigen“ sei, eine „Gegenwärtigung des Gottes in dem Raum von Blut und Geist“ 52 , spricht im weiteren der enge Anschluß an die Rassenlehren von Hans F. K. Günther und Ludwig Ferdinand Clauß und die mit ihnen verbundene Überhöhung der nordischen Rasse, der die üblichen Merkmale wie Weltbejahung, Sachlichkeit, Neigung zum Idealismus etc. zugeschrieben werden. 53 Weicht Hauer jedoch schon darin vom nordizistischen Schema ab, daß er die „Rassenseele“ an eine „Raumseele“ koppelt, weshalb jeder „Versuch der Eroberung des anderen Raumes durch die andere Rasse“ zum Scheitern verurteilt sei 54 , so enthüllt sich der in eine gänzlich andere Richtung weisende Ansatz vollends, wenn man erfährt, daß nach Hauers Ansicht (a) „die Erkenntnisse der Rassenforschung keine unbedingten sind“; (b) „jede Rasse in ihrer Wurzel polymorph ist“ und daher „eine ganze Reihe von verschiedenen Anlagen“ enthält; (c) alle Rassen in vorgeschichtlicher Zeit verwandt waren; (d) in sich „polar gebaut“ sind, was etwa bei der nordischen Rasse eine Veranlagung nicht nur zum Rationalismus, sondern auch zur Mystik bedeute; und (e) nicht in reiner, sondern in gemischter Form

50 Zu Hauers Herkunft aus dem theologischen Liberalismus vgl. Junginger 1999, S. 71 f., 90. Typisch für diese Einstellung ist der in Anm. 49 zitierte Aufsatz, den Hauer auch der deutschvölkischen Zeitschrift Der Wille zum Nachdruck zur Verfügung gestellt hat: vgl. Der Wille 1, 1932, H. 2 und 3. Beide Glaubensrichtungen werden hier gedeutet als „dynamische Einheit polarer Glaubenskräfte“, „die durch die gewaltigsten Spannungen hindurch immer wieder neu errungen werden muß, wobei ein Glaube dem anderen nicht nur Gegner ist, sondern Bruder, weil vom selben Grunde gezeugt“. 51 Eine Bejahung der Machtergreifung Hitlers, die freilich insofern nicht uneingeschränkt ist, als sie noch gewisse Freiheitsspielräume zu sichern versucht, findet sich bereits in Jakob Wilhelm Hauer: Vom totalen Sinn der Deutschen Revolution, in: Kommende Gemeinde 5, 1933, H. 2/3. Ferner ders.: Was will die Deutsche Glaubensbewegung? Stuttgart 1934. Zu Hauers politischem Liberalismus und dessen allmählicher Adaption an den völkischen Nationalismus vgl. Junginger 1999, S. 124 ff. sowie Alles 2002, S. 195. 52 Hauer 1934, a. a. O., S. 21, 20. 53 Vgl. (Jakob) Wilhelm Hauer: Deutsche Gottschau. Grundzüge eines Deutschen Glaubens, 3. unv. Aufl., Stuttgart 1935 (zuerst 1934), S. 66, 124; ders.: Religion und Rasse, Tübingen 1941, S. 183; Junginger 1999, S. 166 f., 176. 54 Hauer 1935, a. a. O., S. 9.

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vorkommen. 55 Mit den ersten vier Annahmen hebelt Hauer die Rassenanthropologie aus, mit der fünften nimmt er zwar eine ihr durchaus geläufige Ansicht auf, nicht aber die Konsequenz, die sich bei Clauß und Günther hieran anzuschließen pflegt: die eines Entmischungs- und Aufnordungsprogramms. Hauers Problem ist nicht die Vermischung des nordischen Blutes mit anderem Blut im deutschen Volk, sondern die Überfremdung des deutschen, nordisch-germanischen „Seelentums“ durch das vorderasiatisch-semitische Seelentum, das sich in der doppelten Gestalt der jüdischen und der christlichen Religion von der ihm zugehörigen „Raumseele“ abgelöst hat und nach Weltherrschaft strebt – wirtschaftlich in der Form des jüdischen Kapitalismus, religiös-politisch in Gestalt des christlichen Kirchenzwangs. 56 Hauer, das läßt schon diese knappe Skizze erkennen, ist kein „Rassist“ 57 , der auf eine Neuordnung der Populationen nach rassischen Kriterien hingearbeitet hätte. Zwar teilt sich die Welt für ihn in zwei große Rassenblöcke, doch sind diese letztlich mit den in ihnen dominierenden Völkern identisch. Das deutsche Volk erscheint jedenfalls in dieser Sichtweise als eine durch Raum, Rassenmischung und göttliche Offenbarung geprägte Größe eigener Art, die als solche nicht weiter dekomponierbar ist. Sie kann und soll zwar in Zukunft stärker vor Überfremdung geschützt werden, wobei durchaus an Eigenschaften der nordischen Rasse appelliert wird, doch handelt es sich dabei um einen Kampf, der im Feld des Glaubens und mit den Mitteln einer von ihm inspirierten Politik und Pädagogik geführt wird, nicht, wie im Rassenaristokratismus, mit den Mitteln einer positiven und negativen Eugenik. Hauers Programm bezieht seine Motivationen aus der völkisch-nationalistischen Xenophobie, nicht, wie bei Clauß und Günther, aus der rassistischen Mixophobie. Für eine Zuordnung zur völkischen Bewegung mit ihrer eigentümlichen Zwischenstellung zwischen Progression und Regression spricht im übrigen auch die Betonung der Polarität, die beim nordisch-germanisch-deutschen Menschen die entgegengesetztesten Züge umfassen soll: Rationalismus nicht weniger als Mystik, dionysischen Rausch nicht weniger als apollinische Klarheit, Aufklärung nicht weniger als Romantik. Es sei, so Hauer, ein sehr großer Fehler, daß man diese Polarität nicht erkannt habe und deshalb nicht durch sie hindurch in die „Wurzeltiefe“ vorgedrungen sei, „in der das deutsche Wesen aus seiner Einheit notwendig diese Spannungen erzeugt.“ Notwendig sei vielmehr eine „Gesamtschau“, die beide Pole in ein höheres Ganzes zu integrieren verstehe. Aus deren Perspektive „gehört der strenge Denker Hegel ebenso zum deutschen Wesen wie der ekstatische Hölderlin, Kant so gut wie Schiller oder Schelling, Schopenhauer und Wagner so gut wie Nietzsche, Klages nicht weniger als Hermann Schwarz.“ 58 Das wird zwar nicht näher ausgeführt, doch wird man folgern dürfen, daß hier nicht bloß die Personen gemeint sind, sondern auch die von ihnen vertretenen

55

Vgl. ebd., S. 232 f. Vgl. ebd., S. 10, 18, 16 f. Zu Hauers primär politisch motiviertem und von Ambivalenzen geprägtem Antisemitismus vgl. Junginger 1999, S. 183 ff., 192; Baumann 2005, S. 154 ff. 57 So aber Alles 2002, S. 180, 195. 58 Hauer 1935, a. a. O., S. 161. 56

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Inhalte. Tatsächlich bietet die DG ja ebenso progressiv eingestellten Neoaristokraten wie Hans F. K. Günther ein Forum wie dem an Klages’ Fundamentalismus orientierten Arbeitskreis für biozentrische Forschung, zu dem Julius Deussen, Werner Deubel, Hans Eggert-Schröder, Hans Kern und Otto Huth gehören. 59 Eine Kreuzung oder Fusionierung beider Richtungen, wie sie vom Idealtypus der völkischen Ideologie her gefordert ist, findet freilich nicht statt. Die DG bleibt ideologisch und weltanschaulich ein Aggregat, dessen verschiedene Bestandteile schon bald wieder nach organisatorischer Selbständigkeit streben. Die Führung der Nordisch-Religiösen Arbeitsgemeinschaft, in der sich mehrere Gruppen zusammengeschlossen haben (Germanische Glaubensgemeinschaft, Nordungen, Nordische Glaubensgemeinschaft), stellt schon im Juli 1933 ein „Nordisches Artbekenntnis“ auf und fordert die ADG auf, es zu übernehmen. Als Hauer dies ablehnt, scheiden die Wortführer – Norbert Seibertz, Wilhelm Kusserow, Hanno Konopath – aus der ADG aus und gründen neue Gesinnungsverbände, die bald den Schulterschluß mit der rassenaristokratischen Nordischen Bewegung suchen und finden. 60 Im Jahr darauf organisieren sich die Freireligiösen selbständig als Deutsche Volkskirche, die sich an Ernst Bergmanns Konzept einer Nationalkirche orientiert 61 , die Germanische Glaubensgemeinschaft Fahrenkrogs und die Deutschgläubige Gemeinschaft Reuters und Conns gehen eigene Wege 62, und schließlich zerbricht auch die Verbindung mit dem Erich Röth Verlag, teils aus persönlichen Gründen, teils, weil hier mit Friedrich Schöll ein Anhänger Rosenbergs das Wort führt, der eine gewisse Verbindung zum nichtkirchlichen Christentum aufrechterhalten will. 63 So finden sich Hauer und Reventlow bald an der Spitze eines Verbandes, in dem die ursprünglichen „deutschgläubigen“ Motivationen immer mehr in den Hintergrund geraten. Die Masse der Mitglieder kommt jetzt aus der NSDAP, die Führungsstäbe der Orts- und Landesgemeinden und vor allem die Redaktion der im November 1934 gegründeten Zeitschrift Durchbruch vertreten die Ansicht, der Nationalsozialismus sei Religion genug, einen eigenen

59 Vgl. Bartsch 1938, a. a. O., S. 47; Junginger 1999, S. 251 f. Näher zu diesem Arbeitskreis und seiner Rolle im Dritten Reich Klausnitzer 1999, mit erhellenden Bemerkungen über den Abstand, der diesen Kreis selbst noch von den völkischen Positionen der Gruppe um Rosenberg trennt. Ferner Schneider 2001, S. 283 ff.; 2005. 60 Vgl. Bartsch 1938, a. a. O., S. 58 f., 97 ff. 61 Vgl. Buchheim 1953, S. 188. Der in Leipzig lehrende Philosoph Ernst Bergmann (1881–1945) ist breiteren Kreisen durch seine Rehabilitierung des Mutterrechts (Erkenntnisgeist und Muttergeist. Eine Soziosophie der Geschlechter, Breslau 1932) und anschließend durch sein Werk Die deutsche Nationalkirche (Breslau 1933) bekannt geworden, in dem er den Nationalsozialismus zum Kampf gegen das Christentum, insbesondere in seiner römisch-katholischen Variante, animiert (ebd., S. 152, 312 u. ö.). 1934 wird er in den Vorstand des Bundes der freireligiösen Gemeinden gewählt, wenig später zu dessen Führer: vgl. Nanko 1993, S. 207. Eine kritische Erörterung seiner geschlechterpolitischen Thesen bei Schmidt 2000, S. 99 ff. – 62 Vgl. ebd., S. 67 f.; Buchheim 1953, S. 188. 63 Die Auseinandersetzungen zwischen Erich Röth und Hauer sind im umfangreichen Nachlaß Hauers dokumentiert: vgl. die Korrespondenzen in BArch N 1131/89. Von Schöll, der 1933 zu den Mitinitiatoren der ADG gehört (vgl. Nanko 1993, S. 64, 71, 115, 134), vgl. zahlreiche Beiträge in Wille zum Reich, besonders ab 1936. Zur Abgrenzung von Hauer vgl. seinen Beitrag: Hier irrt Wilhelm Hauer!, ebd., 11, 1936, F. 17–18.

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religiösen Bereich gebe es nicht mehr. 64 Ende März 1936 ist ihre Isolation so weit gediehen, daß Hauer und Reventlow keine Chance zur Durchsetzung ihrer Ideen in der DG mehr sehen und ihre Ämter niederlegen. Wenngleich die DG noch bis zum Ende des Dritten Reiches existiert, ist damit ihre Geschichte als Teil der völkischen Bewegung abgeschlossen.

64

Vgl. Cancik 1982, S. 198 ff.

Abkürzungsverzeichnis AC ADG AdJ ADV BArch BBl BDF BdL BMP DbBl DC DFK DG DGG DHR DHV DP DRP DSBl DSP DsP DSRP DSTB DvP DVFB DVFP DW GGG IfZ R.Z. SHBLD TLB

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Personenverzeichnis Adamheit, Theodor 206 Ahlemann, Georg 197 Ahlwardt, Hermann 73–75, 127, 130, 132, 144 Ammon, Otto 114, 119 Andersen, Friedrich 98, 158, 159 Andresen, Ingrid 225 Arldt, Th. 117 Astel, Karl 249 Avenarius, Ferdinand 98, 107 Baeumler, Alfred 234 Bang, Paul 155, 157 Bartels, Adolf 11, 20, 41, 62, 88, 97, 99, 112, 119, 122, 128, 130, 136–138, 144, 154, 158, 159, 161, 171, 194, 207, 209, 224 Bauch, Bruno 162 Bauer, Erwin 53, 59, 71, 73, 74, 85, 128, 142, 173 Bauer, Max 252 Baum, Erwin 165 Becker, Carl Heinrich 210 Beek, Gottfried zur (siehe Müller von Hausen) Bergmann, Ernst 231, 259, 263 Beta, Ottomar 27, 43, 53, 59–61, 74, 99, 105, 106, 108, 110, 118, 128, 130, 132, 143, 173 Bewer, Max 128, 144 Bismarck, Otto von 39, 40, 44 Bleibtreu, Carl 143 Bley, Fritz 62 Blüher, Hans 222 Blume, Heinrich 121, 122, 162–164, 169, 199 Blunck, Hans Friedrich 27, 123, 250 Böckel, Otto 30, 31, 52–55, 61, 71, 73–75, 78, 79, 86, 99, 127, 130, 142, 144, 178, 193, 209, 244 Bonus, Artur 98, 135 Bronsart von Schellendorf, Friedrich 255 Brüning, Heinrich 165 Bruhn, Wilhelm 75 Brunner, Alfred 141, 172–176, 207 Brunner, Karl 139 Bublitz, Ernst 158 Buch, Willi 35, 40, 128 Buddensieg, Hermann 260 Burte, Hermann 135, 138 Buttmann, Rudolf 181 Chamberlain, Houston Stewart 18, 36, 39, 58, 87, 112, 128, 130, 147

Chwatal, Arno 174 Claß, Heinrich 31, 63, 66, 87, 142, 154, 155, 177, 184 Clauß, Ludwig Ferdinand 115, 117, 163, 216, 217, 231, 261, 262 Conn, Alfred 94, 259, 263 Conrad, Michael Georg 143 Conti, Leonardo 239 Dähnhardt, Heinz 213 Dahn, Felix 8 Damaschke, Adolf 108 Darré, Richard Walther 220, 234, 236 Darwin, Charles 32, 39 Dehn, Paul 62 De le Roi, Johannes 28 Deniker, Joseph 114 Deubel, Werner 263 Deussen, Julius 263 Dickel, Otto 123, 160, 175, 238, 241, 260 Diederichs, Eugen 143 Diehl, Guida 226, 227, 254 Diers, Marie 99, 225, 226 Dinter, Artur 122, 129, 138, 151, 158, 185, 186, 194, 196, 207, 239, 241, 243, 248 Drexler, Anton 200, 237, 238, 240, 241, 248 Driesch, Hans 14 Driesmans, Heinrich 35, 87, 99, 102, 104, 107 Dühring, Eugen 34, 35, 37, 38, 40–42, 45, 48, 52, 74, 75, 88 Eckart, Dietrich 128, 129, 156, 238–241 Eggert-Schröder, Hans 263 Ehrhardt, Hermann 191, 255 Erdmann, Yella 235 Erzberger, Matthias 151 Esser, Hermann 198, 248 Ewers, Hanns Heinz 138 Fahrenbach, Ludwig 76 Fahrenkrog, Ludwig 27, 87, 92, 95–97, 99, 103, 104, 127, 136, 259, 263 Fahrenhorst, Karl 186, 198, 199 Feder, Gottfried 142, 157, 238–240, 248, 253 Feistel-Rohmeder, Bettina 163, 164, 225 Fidus 96, 102, 136, 137, 250 Fischer, Eugen 119, 216

Personenverzeichnis Förster, Bernhard 20, 30, 36, 38–42, 44, 45, 47– 49, 51, 58, 75, 100, 127, 129, 130, 132 Förster, Paul 36, 40, 51, 52, 54, 55, 62, 74, 75, 85– 87, 99, 100, 127 Francé, Raoul Henry 215 Frank, Hans 238 Frantz, Constantin 29 Frenssen, Gustav 135, 137 Freytag, Gustav 8 Frick, Wilhelm 165, 227, 250 Fritsch, Theodor 7, 12, 16, 19, 20, 31, 49–52, 54, 58, 59, 62, 64, 66, 74–77, 85, 87, 90, 93, 95, 104– 106, 108, 110, 113, 117, 118, 124, 125, 132, 142, 144, 156, 160, 161, 173, 185, 186, 188, 194, 198, 199, 202, 204, 206, 207, 218, 237, 257, 259 Fulda, Friedrich Wilhelm 210 Gaupp, Robert 139 Gebsattel, Konstantin von 185 Gercke, Achim 249 Gerstenhauer, Max Robert 20, 62, 66, 88, 96, 110, 119–122, 127, 157, 159, 162, 164–171, 189, 207 Gesell, Silvio 103, 104, 132, 157 Giese, Wilhelm 55, 69 Glagau, Otto 30, 36, 42–47, 49, 52, 55, 73, 88, 128, 130, 222 Glatzel, Frank 213 Glöß, F. W. 143 Gobineau, Joseph Arthur Comte de 109, 114, 116, 120, 124 Goebbels, Joseph 204, 248 Goedsche, Hermann 138 Göring, Hermann 248 Gorsleben, Rudolf John 160 Graefe, Albrecht von 18, 127, 184–186, 194, 196– 199, 203–207 Gräff, Otger 210, 213 Graevell, Harald 87, 99 Groener, Maria 230, 231 Gruber, Max von 119, 162, 225 Grunewald, Maria 96, 159 Günther, Hans F. K. 99, 115, 116, 120, 122–124, 163, 165, 215–217, 228, 231, 232, 261–263 Gütt, Artur 239 Haeckel, Ernst 14, 15, 59, 254 Häfker, Hermann 139 Hahn, Diederich 78 Hamel, Ilse 229 Hammer, Walter 212 Harrer, Karl 241 Hartig, Paul 87, 96 Hartmann, Eduard von 90, 96 Hasse, Ernst 64, 67

291

Hauer, Jakob Wilhelm 257, 259, 260–264 Hedemann-Heespen, Paul von 179 Hellwig, Karl August 92, 127, 224 Henning, Wilhelm 185, 186, 194, 197, 199, 257 Henrici, Ernst 40, 42, 47, 49, 58, 73, 127, 132 Hentschel, Willibald 53, 59, 65, 74, 87, 90, 104– 106, 108–112, 128, 132, 218, 222 Hering, Johannes 93 Hertzberg, Gertzlaff von 149, 156, 185 Heß, Rudolf 238, 248 Hierl, Konstantin 255, 258 Hildebrandt, Friedrich 246 Himmler, Heinrich 236, 249, 250 Hindenburg, Paul von 257 Hitler, Adolf 7, 20, 21, 31, 165, 176, 196–199, 234, 237, 238, 241–243, 245, 248–252, 259, 261 Hirschel, Otto 79 Höfler, Otto 234 Höger, Fritz 136, 137, 139, 250 Höhne, Felix 76 Hoetger, Bernhard 136, 232, 250 Hoff, Richard von 99 Hoffmann, Fritz Hugo 218–220, 258 Holländer, Ludwig 9 Holle, Hermann Gustav 120, 121 Holler, Kurt 216 Holtz, Emil 127, 175 Hotzel, Curt 137 Hoven, Jupp 218 Hugenberg, Alfred 148, 191, 192, 229, 230, 245 Huhle, Emil 70 Hunkel, Ernst 89, 95–97, 103, 104, 119, 128, 157, 210–213, 259 Hunkel, Margart 103 Huter, Carl 102 Huth, Otto 263 Irrwahn, Johannes 77 Jacobsen, Alfred 159 Jäger, Hermann 122 Jänsch, Erich 249 Johst, Hanns 138, 250 Jünger, Ernst 203, 218, 255, 256 Jung, Rudolf 35, 141 Junius Alter (siehe Franz Sontag) Kahle, Maria 228 Kaindl, Raimund Friedrich 162 Kantorowicz, Ernst 212 Katzer, Ernst 158 Kaufmann, Karl 239 Kemnitz, Mathilde von (siehe Mathilde Ludendorff)

292

Personenverzeichnis

Kenstler, August Georg 110, 218, 245 Kern, Hans 263 Keynes, John Maynard 104 Klages, Ludwig 262, 263 Köhler, Philipp 79 König, Adolph 52 König, Eberhard 99, 186 Koerner, Bernhard 91, 127 Kolbenheyer, Erwin Guido 99 Konopacki-Konopath, Hanno 165, 221, 249, 263 Konrad, Karl 94 Kossinna, Gustav 113, 123 Kotzde, Wilhelm 12, 27, 99, 128, 138, 161, 163, 166, 171, 211–219, 233 Kraeger, Heinrich 124, 153, 169, 194 Kraepelin, Emil 254 Kramer, Walther 154, 188 Krause, Richard 249 Krauss, Ernst Emanuel (siehe Georg Stammler) Krieck, Ernst 249 Kroll, Adolf 94, 176 Krügel, Gerhard 127, 161 Kube, Wilhelm 197–199, 203, 204, 206, 207, 209, 239, 249 Kühn, Lenore 229, 235 Küster, Rudolf 85 Kuhlenbeck, Ludwig 33, 35, 110, 127 Kummer, Bernhard 12, 123, 232, 250, 259 Kurlbaum-Sieber, Margarethe 235 Kunze, Richard 127, 176, 177, 184, 200, 204, 244 Kusserow, Wilhelm 263

Lohse, Hinrich 238 Ludendorff, Erich 138, 191, 196–198, 201, 207, 219, 220, 232, 242, 243, 252, 253, 255–257, 259, 260 Ludendorff, Mathilde 31, 138, 160, 252–256, 258, 260 Lüstenöder, Hans 143 Luntowski, Adalbert 102, 138

Lagarde, Paul de 36, 57, 75, 90, 135, 170 Langbehn, Julius 12, 18, 27, 30, 57, 112, 128, 129, 132, 144, 147 Lange, Friedrich 20, 58, 85, 86, 88, 89, 118, 127, 128, 130, 142, 143, 147, 162, 224 Lange, Konrad 139 Langhans, Paul 59, 62, 87, 89, 161, 162, 224 Lanz von Liebenfels, Jörg 87, 99, 107, 222 Laß, Werner 218 Lassalle, Ferdinand 8, 73 Lattmann, Wilhelm 62, 148, 149 Lebius, Rudolf 172 Lehmann, Ernst 249 Lehmann, Julius Friedrich 216 Lehmann, Paul 105 Lehmann-Hohenberg, Johannes 87, 106, 127 Lenz, Fritz 119 Liebermann von Sonnenberg, Max 36, 42, 48, 52, 54, 55, 62, 64, 66, 71, 73, 74, 78, 87, 127, 130, 142 Lienhard, Friedrich 12, 27, 71, 87, 92, 99, 118, 128 List, Guido von 92, 96, 160, 253 Löns, Hermann 137, 138

Paetel, Karl Otto 203 Pallme-König, Ernst 216 Pastor, Willy 99, 128, 143 Penka, Karl 113 Peters, Carl 32, 58, 64, 67 Petras, Otto 159 Pfeil, Joachim Graf von 58, 59 Philipps, Sophie 235 Pinkert, Alexander 29, 47, 49, 53 Ploetz, Alfred 119, 120 Pöhner, Ernst 238 Pohl, Hermann 87, 92 Prilip, Beda 229 Pudor, Heinrich 43, 58, 69, 77, 84, 87, 105, 106, 123, 130, 143, 144, 207

Maerz, Karl 152 Mann, Heinrich 71 Marr, Wilhelm 29, 30, 73, 128, 173 Marx, Karl 12, 16 Mergenthaler, Christian 200 Mesch, Lorenz 160 Meyer, Rudolf 29 Mielke, Robert 99 Mosch, Hans von 75, 86, 127, 172, 194 Müller, Hans Georg 174 Müller von Hausen, Ludwig 159, 185, 194 Mussolini, Benito 165, 200 Mutschmann, Martin 239 Nadler, Josef 137 Neckel, Gustav 259 Neuner, Ludwig 123 Niedlich, Joachim Kurd 98, 165 Niekisch, Ernst 159 Nietzsche, Friedrich 38, 48, 262 Oertel, Georg 31, 78

Raab, Friedrich 62, 77 Radek, Karl 202 Ramin, Jürgen von 122, 127, 150, 184, 194, 198 Rathenau, Walther 27, 151, 160, 161, 185 Reichenau, Irmgard 235 Reinecke, Adolf 27, 98, 117, 128, 135

Personenverzeichnis Renteln, Adrian von 248 Retcliffe, Sir John (siehe Goedsche, Hermann) Reuter, Otto Sigfrid 87, 95, 127, 160, 257, 259 Reventlow, Ernst Graf 62, 127, 143, 186, 197, 199, 200, 202–204, 206, 207, 228, 233, 239, 259, 260, 263, 264 Reventlow, Ludwig Graf 62, 127 Richter, Reinhold 123 Riehl, Wilhelm Heinrich 52, 93 Rödiger, Wilhelm 219 Röhm, Ernst 258 Röth, Erich 168, 260, 263 Rogge-Börner, Pia Sophie 230–235 Rohmeder, Käthe 225 Rohmeder, Wilhelm 225 Roselius, Ludwig 232, 251 Rosenberg, Alfred 197, 198, 228, 234, 238–241, 248, 263 Rosenberg, Alwiß 219 Rosikat, Erich 244, 245 Roßbach, Gerhard 195, 196, 207, 217 Roth, Alfred 62, 88, 92, 148, 150, 156, 185, 189, 207, 250 Roth, Christian 181 Rudorff, Ernst 98 Rust, Bernhard 239 Ruttke, Falk 249 Sander, Friedrich 249 Sauckel, Fritz 239 Schacht, Hjalmar 248 Schack, Wilhelm 62 Schäfer, Dietrich 225 Scheffer, Theodor 87, 88, 161, 163, 166–168 Schemann, Ludwig 36, 62, 110, 119, 120, 130, 207, 224 Scheuermann, Wilhelm 128 Schiele, Georg Wilhelm 219 Schirmacher, Käthe 229, 235 Schlaikjer, Erich 73 Schlange-Schöningen, Hans 190 Schloz, Wilhelm 260 Schlüter, Willy 87, 102, 105, 107 Schmeitzner, Ernst 48, 49, 143 Schmidt, Friedrich 167, 219 Schmidt, Wilhelm 123 Schmidt-Gibichenfels, Otto 107, 123, 128 Schmitt, Askan 159 Schmitthenner, Paul 139, 250 Schöll, Friedrich 104, 166, 263 Schönerer, Georg von 35, 141 Schultze-Naumburg, Paul 11, 99, 250 Schulze-Berghof, Paul 138 Schumacher, Fritz 139

293

Schwaner, Wilhelm 27, 87, 90–92, 95, 96, 99, 104, 107, 127, 147, 168, 223, 259 Seeliger, Alfred 123, 207 Seeßelberg, Friedrich 99 Seibertz, Norbert 263 Sesselmann, Max 174 Sigismund, Friedrich 224 Simons, Gustav 35, 92, 103, 104, 107 Sohnrey, Heinrich 98, 99 Solger, Friedrich 123 Sontag, Franz 187 Spann, Othmar 14 Spengler, Oswald 14, 171, 175 Stahl, Friedrich Julius 28 Stammler, Georg 164, 166–168, 259 Stassen, Franz 136 Stauff, Philipp 62, 86, 87, 92, 93, 95, 96, 99, 106, 127, 143, 210, 223, 224 Stehlich, Friedrich 52 Stein, Heinrich von 37, 38 Stelter, Hans 184, 186, 198 Stengel von Rutkowski, Lothar 216 Stibitz, Josef 105 Stille, Gustav 105 Stoecker, Adolf 28–30, 33, 45, 46, 49, 55, 81, 85, 108, 226 Stöhr, Franz 199, 203, 204 Stössel, Georg von 87, 142 Strantz, Kurd von 62 Straßer, Gregor 104, 197, 204, 236, 240, 244 Straßer, Otto 104, 157, 236, 244 Streicher, Julius 73, 127, 174, 176, 198, 238, 241, 242, 248 Strünckmann, Karl 27, 87, 102, 122 Tafel, Paul 181, 237 Tanzmann, Bruno 96, 104, 163, 167, 218–220, 231 Tanzmann, Ilse 231 Teichmann, Hans 214 Teudt, Wilhelm 250 Thode, Henry 99, 225 Todt, Rudolf 29 Treitschke, Heinrich von 29, 30, 64, 66, 67, 93, 129 Uexküll, Jakob von 14 Ungewitter, Richard 92, 106 Vacher de Lapouge, Georges 114, 117, 119 Volck, Adalbert 194, 239 Wachler, Ernst 27, 35, 59, 62, 87, 92–95, 99, 104, 106, 119, 143, 207, 209 Wagener, Hermann 28

294

Personenverzeichnis

Wagenfeld, Karl 99 Wagner, Adolph 29 Wagner, Cosima 39 Wagner, Gerhard 248 Wagner, Richard 14, 33, 34, 36–42, 90, 93, 136, 233 Wahrmund, Adolf 36, 42, 57, 99, 127, 173 Waldegg, Egon (siehe Pinkert, Alexander) Wankel, Felix 215 Weber, Josef 94 Wehr, Emma 225 Weicher, Theodor 143, 163, 224 Weiß, Wilhelm 255 Weißleder, Carl 96, 102, 103, 174 Weismann, August 253 Werner, Ferdinand 87, 127, 143, 148, 149, 185, 189, 207 Werner, Ludwig 62, 142 Westarp, Kuno Graf 183 Wiegershaus, Friedrich 149, 185, 199, 207 Wieser, Friedrich 174

Wilser, Ludwig 96, 109, 110, 113, 115, 119, 209 Winnig, August 202 Wirth, Albrecht 62, 87 Wirth, Herman 12, 27, 128, 232–234, 250, 257, 259, 260 Witte, Emma 223 Wriedt, Fritz 173, 174 Wolf, Heinrich 205 Wolff, Karl Felix 123 Woltmann, Ludwig 33, 114, 119, 150 Wolzogen, Hans von 37–39, 42, 53, 87, 99, 107, 118, 128, 159, 207 Wulle, Reinhold 62, 66, 122, 184–189, 194, 195, 197, 203–207 Wurm, Gustav 194 Xylander, Rudolf von 181, 194 Zimmermann, Albert 88 Zimmermann, Oswald 53, 55, 69, 71–73, 75, 88, 128