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German Pages 194 Year 1970
ERICH WAlBEL
Die Verschuldeosfähigkeit des Minderjährigen im Zivilrecht
Schriften zum Bürgerliche n Recht Band 2
Die Verschuldensfähigkeit des Minderjährigen im Zivilrecht
Von
Dr. Erich Waibel
DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berl!n 41 Gedruckt 1970 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berl!n 65 Prlnted in Germany
© 1970 Duncker
Vorwort Die Vorschrift des§ 828 Abs. 2 BGB über die Haftung Minderjähriger aus unerlaubter Handlung hat - trotz ihrer Bedeutung für die Praxis, die sich aus der Vielzahl obergerichtlicher Entscheidungen ablesen läßtdie Wissenschaft kaum beschäftigt. Ziel der hier vorgelegten Arbeit war es deshalb, das bisher vorliegende Material, insbesondere die umfangreiche Judikatur, zu sichten und soweit möglich zu ordnen. Daneben erschien es, auch im Hinblick auf die gegenwärtigen Reformbestrebungen, aufschlußreich, der geschichtlichen Entwicklung, die zu dem im§ 828 Abs. 2 BGB gebrauchten Begriff der "Erkenntnis der Verantwortlichkeit" geführt hat, nachzugehen. Die Anregung zu dieser Arbeit, die von der Juristischen Fakultät der Ludwigs-Maximilians-Universität zu München als Dissertation angenommen wurde, gab mir Herr Professor Dr. Werner Rother. Für seine ständige, verständnisvolle Betreuung und nie erlahmende Geduld darf ich ihm an dieser Stelle besonders danken. Dank schulde ich auch Herrn Direktor Dr. Oskar Tschira vom Landkreisverband Bayern, ohne dessen Entgegenkommen es mir zeitlich nicht möglich gewesen wäre, die Arbeit fertigzustellen und Herrn Ministerialrat a. D. Dr. J. Broermann, der die Arbeit in sein Verlagsprogramm aufgenommen hat. Erich Waibel
Inhaltsübersicht Einleitung
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Erstes Kapitel Die Herkunft des Begriffs "der zur Erkenntnis der Verantwortlidlkeit erforderlidlen Einsidlt" I. Die Haftung der Minderjährigen nach dem römischen und dem gemeinen deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Die Anfänge einer auf das Schuldprinzip gegründeten Zurechnungslehre- Die Altersgruppeneinteilung- Das Abstellen allein auf die verstandesmäßige Entwicklung - Die Bedeutung der Art der Handlung für die Einsichtsfähigkeit. II. Die geschichtliche Entwicklung des Begriffs "der zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderlichen Einsicht" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1. Das "discernement" des Code Penal von 1791 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 a) Die Entwicklung des "discernement" in der französischen Rechtslehre des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Das Abstellen allein auf die Verstandsentwicklung als Ausdruck aufklärerischer Betrachtungsweise - Die Auslegung des "discernement". b) Der Einfluß des "discernement" auf die deutsche Gesetzgebung im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 c) Insbesondere die preußische Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . 29 aa) Das "Unterscheidungsvermögen" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Die Regelung der Zurechnungsfähigkeit im PrALR- Das Strafgesetzbuch von 1851 - Die Auslegung des Unterscheidungsvermögens. bb) Die zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einsicht . . 32 Das Strafgesetzbuch von 1871 - Die Motive zu § 56 RStGB. 2. Feuerbachs Theorie vom psychologischen Zwang . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Die Lehre von der Zurechnungsfähigkeit im älteren gemeinen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Übernahme der Lehren des römischen Rechts ins ältere gemeine Recht. b) Die "Einsicht in die Strafbarkeit" im älteren gemeinen Recht . . 36 Die Lehre vom "dolus" - Der Irrtum - Die Ausrichtung auf das Strafgesetz.
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Inhaltsübersicht c) Die "Einsicht in die Strafbarkeit" als Bestandteil der Zurechnungsfähigkeit bei Kleinschrod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 d) Die "Einsicht in die Strafbarkeit" als Bestandteil der Zurechnungsfähigkeit bei Feuerbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Feuerbachs Theorie vom psychologischen Zwang - Die "Kenntnis des Strafgesetzes" als entscheidender Punkt für die Zurechnungsfähigkeit. e) Der Einfluß Feuerbachs auf die Lehre von der Zurechnungsfähigkeit im jüngeren gemeinen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 3. Die Auslegung des § 56 RStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Die Rechtsprechung des RG - Die Kritik am § 56 StGB - Die Reformbestrebungen.
Zweites Kapitel
Die Konstruktion nnd Anslegung des§ 828 D BGB I. Der allgemeine Begriff der Unzurechnungsfähigkeit und § 828 II BGB 55 II. Die Anwendung des § 828 II BGB in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . .
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1. Die Auslegung des Begriffs der zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderlichen Einsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
a) Die Definition der "zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderlichen Einsicht" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Das grundlegende Urteil RGZ 53, 157 ff. - Die Abschwächung der Rechtsfolgeeinsicht durch die Rechtsprechung. b) Die Berücksichtigung der Willensfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 aa) Die Berücksichtigung der Willensfähigkeit mittels der Rechtsprechung über den Einfluß äußerer Umstände auf das Maß der erforderlichen Sorgfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 bb) Die Berücksichtigung der Willensfähigkeit innerhalb des Verschuldeoserfordernisses der Zumutbarkeit . . . . . . . . . . . . . 69 cc) Würdigung dieser Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Das Verhältnis von Verantwortlichkeitseinsicht und Verschulden . . 74 Die Anpassung des auf vorsätzliche Handlungen zugeschnittenen Begriffs der Zurechnungsfähigkeit auf das Zivilrecht- Ergänzung durch den Begriff der "Einsicht" in die Gefährlichkeit der Handlung" - § 828 II enthält keine Regelung der Schuldfähigkeit Strenge Trennung von Verschulden und Verantwortlichkeit in der Rechtsprechung des RG - Berücksichtigung von Altersgruppen bei der Fahrlässigkeit- Bedenken gegen diese Rechtsprechung. 3. Insbesondere: Der Begriff der Einsicht in die Gefährlichkeit . . . . . .
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a) Die Umschreibung des Begriffs der Gefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Unbestimmtheit des Gefahrbegriffs - Möglichkeit, die Gefahr
Inhaltsübersicht
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graduell abzustufen- Abhängigkeit des Urteils der Gefährlichkeit von der Abstrahierung bzw. Konkretisierung des gegebenen Sachverhalts - Eingrenzung des Gefahrbegriffs im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut. b) Die Abhängigkeit der Abstraktion eines Sachverhalt€S von d€ssen Eigenart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Beispiele aus der Rechtsprechung. c) Die Festlegung des Gefahrbegriffs durch wertende Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Wechselbeziehung zwischen Grad der Generalisierung der Bedingungen und der Wahrscheinlichkeit des Erfolges- Statistische Betrachtungsweise unzulänglich - Notwendigkeit einer wertenden Betrachtung nach dem Vorbild der Adäquanztheorie. 4. Die Unterscheidung von Verantwortung und Verschulden an Hand des Begriffspaares "allgemeine" und "besondere" Gefahr .. . .. . .. 102 a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Ausgangspunkt der Rechtsprechung : Trennung von Verschulden und Vera ntwortlichkeit- Die Methode der Unterscheidung von allgemeiner und besonderer Gefahr. b) Bedenken gegen die praktische Brauchbarkeit dieser Unterscheidung ............... .. .. . . ......... .... .. . ........... .... . .. . 108 Fälle mit ungewöhnlichem Kausalverlauf - Beispiele aus der Rechtsprechung - Fälle allgemein gefährlichen Verhaltens Beispiele aus der Rechtsprechung. c) Dogmatische Bedenken gegen diese Unterscheidung . . . . . . . . . . . 115 Schluß von der Gefährlichkeit auf das Unrecht der Handlung nicht möglich - Problem der abstrakten Gefährdungshandlung-Ursache: verfehlte Regelung des§ 828 II BGB. d) Die Einsichtsfähigkeit bei der V€rletzung eines Schutzgesetzes 120 Problem der abstrakten Gefährdungsdelikte. e) Die Erkennbarkeit der "konkreten Gefahr" als notwendiger Bestandteil der Einsichtsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Problem der Rechtswidrigkeit einer bloßen Gefährdung - Sorgfaltsverstoß begründet erst das Unrecht der Handlung. f) Der Irrtum des Minderjährigen über die objektiv bestehende
Gefahr bei unzulänglichen Vorsichtsmaßregeln . .......... ... . 127
5. Die Ersetzung des Tatbestandsmerkmals der "Einsicht in die Verantwortlichkeit" durch eine "Einsicht in die allgemeine Gefährlichkeit" in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes . . . . . . . . . . . . . 130 Altersgruppenmaßstab als Regulativ für extensive Auslegung des § 828 II BGB - Abweichen des BGH von den Motiven der Rechtsprechung des RG- Gleichsetzung von Gefährlichkeitseinsicht und Verantwortlichkeitseinsicht durch den BGH - Verzicht auf die Rechtsfolgeeinsicht-Ergebnis dieser Rechtsprechung. III. Die Anwendung des § 828 Abs. 2 BGB auf die Fälle mitwirkenden Ver schuldens (§ 254 BGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
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Inhaltsübersicht 1. Anwendung der allgemeinen Verschuldensgrundsätze im Rahmen des § 254 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
a) Die Auffassung des Schrifttums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Mitverschulden als Verschulden gegenüber dem Schädiger Verschulden gegen sich selbst- Verbot des venire contra factum proprium. b) Die Auffassung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 § 276 BGB bestimmt auch das Verschulden des § 254 BGB Entsprechende Anwendung von§§ 276, 828 II BGB. 2. Der Inhalt der "Deliktsfähigkeit" beim eigenen Verschulden . . . . . . 139 Unterschiede des Verschuldens in§ 276 BGB und des Verschuldens gegen sich selbst - Schwierigkeiten der Anwendung des § 828 l i BGB im Rahmen des§ 254 BGB. 3. Mitverschulden trotz fehlender Einsicht in die Gefährlichkeit der Handlung bei verbotenem Tun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Belehrungen, Mahnungen, Verbote als wesentlicher Umstand bei der Erlangung der Einsichtsfähigkeit. a) Die Verbotsübertretung bzw. der Verstoß gegen eine den Schutz des Schädigers bezweckende Vorschrift als ausreichende Grundlage des Mitverschuldens ............ .... .................... 148 b) Mitverschulden durch vorsätzlich begangene unerlaubte Handlung ...... . ... .. .. . ............ . ....... .. . .. . . .. .. ....... ... 151 c) Folgerungen aus dieser Rechtsprechung für die Anwendung des § 828 Abs. 2 BGB auf das mitwirkende Verschulden . . . . . . . . . . . . 153
Drittes Kapitel Der allgemeine Begriff der ZureClbnungsfähigkeit und seine Anwendung auf Minderjährige im Zivilrecht 1. Die Diskussion um die Obernahme der strafrechtlichen Regelung der Zurechnungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 34. Deutscher Juristentag-Arbeitsbericht der Akademie für Deutsches Recht - Referentenentwurf des BJM - Scheitern der Reformbemühungen.
2. Kann auf die Vorschriften über die Deliktsfähigkeit verzichtet werden? .. . ... . .... . .... . . . ........ . .... .. . . . . . ....... .. . . ..... 159 Standpunkt der subjektiven Fahrlässigkeitsth~orie - Schuldunfähigkeit als Unterfall des Verbotsirrtums - Parallele im Zivilrecht- Berücksichtigung der Bestandteile der Schuldfähigkeit im Rahmen des Verschuldens. a) Bedenken gegen einen Verzicht auf Vorschriften über die Schuldfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Keine Berücksichtigung des fehlenden Hemmungsvermögens bei vorsätzlicher Schädigung - Erweiterung der Haftung - Allesoder-Nichts-Prinzip.
Inhaltsübersicht
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b) Auswirkungen einer Streichung des § 828 Abs. 2 BGB auf die Billigkeitshaftung nach § 829 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Notwendigkeit der Vorschrift des § 829 BGB - Folgen einer Umgestaltung der Billigkeitshaftung. 3. Ist die Obernahme der strafrechtlichen Regelung des § 3 JGG ins Zivilrecht angebracht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 a) Die Vereinbarkeit von individueller Schuldfähigkeit und typisierter Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 b) Auswirkungen auf die Abgrenzung von Deliktsfähigkeit und Verschulden ........................................... ..... 179 c) Die Auswirkungen auf die Billigkeitshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
Zusammenfassung
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Schrifttumsverzeichnis
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Einleitung Das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch stellt in den Mittelpunkt seiner Regelung der deliktischen Schadensersatzansprüche die Haftung aus Verschulden. Der Gefährdungshaftungstatbestand des § 833 bildete dagegen von Anfang an eine Ausnahme. Erst recht erscheinen die später in Spezialgesetzen normierten weiteren Vorschriften über Haftung ohne Verschulden als Abweichungen von der ursprünglichen Konzeption der §§ 823 ff. BGB. Die Verfasser des BGB entschieden sich für das Verschuldensprinzip, weil es dem geläutertenRechtsbewußtsein einer hochentwickelten Rechtskulturmehr zu entsprechen schiel). als eine Regelung der Schadensersatzpflicht auf der Grundlage des Veranlassungsprinzips1 • Insbesondere waren sie der Ansicht, der Verschuldensgrundsatz sei in der Lage, den Widerspruch zwischen dem Drang des Menschen nach freier Entfaltung und ungehemmter Betätigung einerseits und seinem Bedürfnis nach umfassendem Schutz seiner Rechtsgüter gegen Beeinträchtigungen durch Dritte andererseits befriedigend zu lösen. Man befürchtete, die Kausalhaftung würde die individuelle Freiheit in unerträglicher Weise beschränken und den Handelnden mit einer unberechenbaren Verantwortlichkeit belasten2 • Durch die Beschränkung der Haftbarkeit auf Fälle des Verschuldens sollte der einzelne eine gewisse Bewegungsfreiheit, einen "Spielraum"3 erhalten, innerhalb dessen er von Repressalien, insbesondere von Ausgleichspflichten freigestellt sein sollte. Ähnliche Absichten, wie sie zur Übernahme des Verschuldensgrundsatzes führten, wurden mit der Einführung der Regelung über die Zurechnungsfähigkeit verfolgt. In den Materialien zum BGB tritt dies zwar nicht deutlich hervor. Hier werden dogmatische Erwägungen ins Feld geführt. Den Geisteskranken und Bewußtlosen wird die juristische Handlungsfähigkeit abgesprochen' und für Kinder bis zum 7. Lebensjahr wird die Willensfähigkeit und damit wohl auch die juristische HandProtokolle II, 585, Bericht der Reichstagskommission, S. 98. Protokolle II, 569, 585, Bericht der Reichstagskommission, S. 98; Deutsch, Fahrlässigkeit und erforderliche Sorgfalt, S. 67 ff.; Rümelin, Die Gründe der Schadenszurechnung, S. 28. s Deutsch, a.a.O., S. 69; die Protokolle sprechen von der Abgrenzung von Rechtskreisen (Prot. II S. 587). ' Vgl. Motive II, 731; Motive I, 130; Max Rümelin, Die Geisteskranken im Rechtsgeschäftsverkehr, S.10. 1
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Einleitung
lungsfähigkeit verneint. Dahinter steht jedoch als tragender und vom Gesetzgeber konsequent durchgeführter Grundsatz der umfassende Schutz der geistig kranken oder behinderten bzw. der noch in der Entwicklung befindlichen Person5 • Dem entspricht auch die bewußte Übereinstimmung der Regelung von Delikts- und Geschäftsfähigkeit, die beide in Anlehnung an das strafrechtliche Vorbild (§§ 51, 56 a. F. StGB) ausgestaltet wurden8 • Das Erfordernis der Zurechnungsfähigkeit soll den unreifen Jugendlichen vor den Folgen seiner Handlungen schützen. Die Notwendigkeit eines solchen Schutzes folgt aus der Erwägung, daß das Kind zu seiner Reifung ein gewisses Maß an Freiheit und Betätigungsraum braucht7 • Es ergäben sich für die Entwicklung des Kindes schwerwiegende Folgen, würde man es, aus Furcht, es könnte einen Schaden anrichten, vor jeder Berührung mit der Umwelt ängstlich zurückhalten8 • Aus diesem Grunde werden Kinder bis. zu sieben Jahren schlechthin von jeder Haftung freigestellt, und auch Minderjährige zwischen sieben 1,1nd achtzehn Jahren können nur dann zum Ersatz herangezogen werden, wenn sie die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht, wie das BGB in§ 828 II die Zurechnungsfähigkeit Jugendlicher umschreibt, erlangt haben. Der Haftungsausschluß wegen fehlender Zurechnungsfähigkeit erfolgt individuell, d. h. es muß jeweils im Einzelfall festgestellt werden, ob der jugendliche Schädiger verantwortlich i. S. von § 828 II BGB gewesen ist. In gewissem Gegensatz dazu steht die Objektivierung des Verschuldeos im Zivilrecht durch den typisierten Fahrlässigkeitsmaßstab. Ein Verschulden in diesem Sinne liegt auch dann vor, wenn der Schädiger infolge individueller Mängel nicht das gruppentypische Maß an Fähigkeiten und Kenntnissen zu erbringen vermag. "Das Risiko persönlicher Unzulänglichkeit, gemessen am Standard seiner Gruppe, trifft den Handelnden, nicht den Geschädigten'." Dieser sog. objektive Fahrlässigkeitsmaßstab schränkt den an sich durch den Verschuldeosgrundsatz gewährleisteten ,.Spielraum" im Interesse des redlichen Verkehrs wieder ein. Das Vertrauen darauf, ciaß die anderen Verkehrsteilnehmer über die durchschnittlichen Fähigkeiten ihrer Berufs- oder Altersgruppe verfügen, wird geschützt. 5 Deutsch, a.a.O., S. 146 ff.; Rümelin, Die Geisteskranken im Rechtsverkehr, S. 2; Boscher, VersR 64,888 (894). 6 Protokolle I, 56; I!, 584; Motive I!, 73 ff.; Deutsch, a.a.O., 8.145 f. 1 Deutsch, a.a.O., S. 69. 8 Pienitz, Schuld und Haftung bei Schadensfällen, an denen Minderjährige beteiligt sind, S. 11; Dittenberger, Der Schutz des Kindes gegen die Folgen eigener Handlungen, S. 65 f. 9 Larenz, JuS 65, 373 (379).
Einleitung
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Die Berücksichtigung der alterstypischen Reifemängel des Jugendlichen im Rahmen der objektiven Verschuldeosprüfung führt nun, gerade weil§ 276 und§ 828 li von sich teilweise widersprechenden Grundgedanken geprägt sind, notwendig zu Spannungen und Überschneidungen mit der Prüfung der Verantwortlichkeit i. S. von § 828 li BGB, die sich ja ebenfalls auf die, wenn auch individuelle, altersmäßige Reife bezieht. Die Schwierigkeiten einer eindeutigen Abgrenzung von Verschulden und Verschuldengfähigkeit werden noch vermehrt durch den eigenartigen Begriff "der zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderlichen Einsicht", den das BGB in § 828 li zur Umschreibung der Deliktsfähigkeit Minderjähriger verwendet. Die vom Strafrecht her geläufige Definition bezeichnet demgegenüber als Verschuldeusfähigkeit die Fähigkeit, das Unerlaubte der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln10• Die Unterschiede liegen auf der Hand: das Strafrecht geht von einem zweigliedrigen Begriff der Verschuldeosfähigkeit aus, der einen intellektuellen Bestandteil, die Fähigkeit der Einsicht in das Unrecht, und einen voluntativen Bestandteil, das Steuerungsvermögen, enthält11 , während die Verantwortlichkeitseinsicht des§ 828 II BGB nur den intellektuellen Faktor, die Einsichtsfähigkeit, umfaßt. Diese "Einsichtsfähigkeit" des bürgerlichen Rechts bezieht sich jedoch nicht wie im Strafrecht, lediglich auf das Unrecht, also das bloße Verbotensein der Handlung, sondern darüber hinausgehend auf die Verantwortlichkeit, die auf die verbotene Handlung folgt. Damit sind die Probleme angedeutet, mit denen es die vorliegende Arbeit zu tun hat. Es soll zunächst versucht werden, die geschichtliche Herkunft des in § 828 Abs. 2 BGB gebrauchten Begriffs der "Einsicht in die Verantwortlichkeit" zu klären. Daranknüpft sich die Frage, ob diese Umschreibung der Deliktsfähigkeit dogmatisch haltbar und für die Praxis brauchbar ist. In diesem Zusammenhang ist zu untersuchen, wie sich die Auslegung des § 828 Abs. 2 BGB durch die Rechtssprechung gestaltet hat. Dabei interessierten insbesondere die Schwierigkeiten einer Berücksichtigung der fehlenden Willensfähigkeit, die Abgrenzung der Verantwortlichkeitseinsicht (§ 828 Abs. 2) vom Verschulden (§ 276) und die Ahwendung des§ 828 Abs. 2 BGB auf das mitwirkende Verschulden des § 254. Abschließend ist dem Problem nachzugehen, ob eine Vorschrift über die Deliktsfähigkeit Minderjähriger im bürgerlichen Recht überhaupt erforderlich ist und wie sie auszusehen hat, um eine für das Zivilrecht geeignete Regelung der Schuldfähigkeit abzugeben. Vgl. § 3 JGG, §51 StGB n. F. Ebenso beispielsweise das BGB bei der Regelung der Testierfähigkeit, vgl. § 2229 Abs. 4 BGB. lo
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Erstes Kapitel
Die Herkunft des Begriffs "der zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderlichen Einsicht" I. Die Haftung der Minderjährigen nach dem römischen und dem gemeinen deutschen Recht Der in § 828 II BGB zur Umschreibung der Deliktsfähigkeit Minderjähriger gebrauchte Begriff der "zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderlichen Einsicht" hat kein Vorbild im gemeinen deutschen Privatrecht. Die Ansichten über die Haftung des Minderjährigen im gemeinen Recht folgten den überlieferten Lehren des römischen Rechts. Dieses in Deutschland rezipierte Justinianische Recht war seinerseits das Ergebnis einer langen Entwicklung. Das römische Recht! beurteilte ursprünglich bei den Jugendlichen die Frage der Verantwortlichkeit an Hand bestimmter, äußerlich erkennbarer Merkmale oder Eigenschaften. Nach der Geschlechtsreife unterschied es die "puberes" von den "impuberes"2 • Die Abgrenzung der "infantes" von den "infantes majores" wurde nach der Fähigkeit, sprechen zu können, getroffen3 • Infantia bedeutet das Alter, in welchem das Kind noch nicht sprechen kann'. 1 Vgl. zum ganzen: Pernice, Labeo Bd. 1, S. 206 ff.; Savigny, System d. röm. Rechts, Bd. 2, S. 35 ff. 1 Ursprünglich wurde auf die individuelle Geschlechtsreife abgestellt (so noch die Sabinianer). Die Prokulianer und nach ihnen Justinian entschieden sich aus praktischen Gründen für die feste Altersgrenze des 14. Lebensjahres. Mädchen wurden von jeher mit dem 12. Lebensjahr mündig, vgl. dazu : Kunkel, Röm. Privatrecht, S. 87; Wächter, Pandekten, Bd. 1 § 48; Sohm, Institutionen § 44; Puchta, Institutionen II, § 202; Pernice, Labeo I, S. 207 ff.; WindscheidKipp, Pandektenrecht, Bd. 1, § 54; Regelsberger, Pandekten, § 63; G. May, Elements De Droit Romain, S. 100. Auch im alten germanischen Recht fallen Geschlechtsreife und Mündigkeit zusammen; vgl. Gierke, Dt. Privatrecht, Bd. 1, s. 382. 3 Qui fari non possunt, bzw. qui fari possunt; vgl. Kunkel, Röm. Privatre~t, S. 87; Savigny, System, Bd. 3, § 106; Wächter, Pandekten,§ 48 A II, 2; Puchta, Institutionen, Bd. 2, § 202. 4 "infantes" waren die Kinder bis zum 7. Lebensjahr. Die Festlegung gerade auf das 7. Lebensjahr, die auch heute im BGB noch von Bedeutung ist, stammt
1. Kap., I. Haftung Minderjähriger im röm. u. gem. dt. Recht
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Diese Altersstufen entsprechen den Bedürfnissen des älteren Rechts, das für die Begründung von Rechten und Pflichten allein auf bestimmte vom Rechtssubjekt zu sprechende Formeln abstellte und damit den Willen ganz hinter der Willensäußerun g zurücktreten ließ. Das römische Recht der älteren Zeit kannte nur eine rein physische Zurechnung und berücksichtigte allein die nach außen in Erscheinung tretende Kausalbeziehung zwischen Tat und Täter, die Verursachung des Erfolges5• Einsichtsfähigkeit und Willensfähigke it spielten keine Rolle, die Entwicklung des Verstandes wurde als gleichgültig angesehen8 • Erst in einer späteren Epoche der Rechtsentwickl ung gingen die römisischen Juristen dazu über, auch die subjektiven Beziehungen des Täters zur Handlung in den Kreis ihrer Erwägungen einzubeziehen7 • Allgemein wird angenommen, die Unterscheidung von zurechnungsfäh igen und unzurechnungsfäh igen Minderjährigen gehe auf Julian zurück8 • Seine Lehre wird von Ulpian weiterentwicke lt'. Einheitliche, allgemeine Grundsätze über die Zurechnungsfäh igkeit Minderjähriger , eine systematische Zurechnungsleh re hat das römische Recht jedoch nicht ausgebildet. Deshalb finden sich im Codex Justinianus die einzelnen Aussprüche der Gesetzgebung und die, je nach Entwicklungsstufe, verschiedenen Ansichten der Rechtswissensc haft ohne Unterschied und ohne den Versuch, ein geschlossenes System auszubilden, nebeneinander zusammengestellt1°. Im wesentlichen werden unterschieden die infantes, d. h. die Kinder bis zum siebten Lebensjahr und die impuberes vom siebten bis zum vierzehnten Lebensjahr, die man ihrerseits wieder in infantiae proximi und pubertati proximi unterteilte. Die infantes wurden den Wahnsinvon der griechischen Philosophie, die der Zahl sieben eine besondere Bedeutung beimaß; vgl. Savigny, System, Bd. 3, S. 32 (§ 107); Dernburg, Pandekten, Bd. 1, §53, Fußn. 4; Pernice, Labeo I, S. 210, 214. ~ Pernice, Labeo I, S. 217, Dernburg, Pandekten,§ 53, 1c; Erik Wolf, Große Rechtsdenker, S. 559; vgl. auch Tittmann, Handbuch .der Strafrechtswisse nschaften und der deutschen Strafgesetzkunde , Bd. 1, §. 82 (für das gemeine Recht). Das Alter wird allenfalls als Milderungsgrund angesehen, vgl. Baumert, Ober die Zurechnungsfähi gkeit und Bestrafung jugendlicher Personen, S. 4 und die dort aufgeführten zwei Bestimmungen des Zwölftafelgesetz es. • Vgl. Pernice, Labeo I, S. 212, Fußn. 26. 7 Pernice, Labeo I, S. 219. 8 Baumert, Zurechnungsfähi gkeit, S. 6; Pernice, Labeo I, S. 219; Dernburg, Pandekten, Bd. 1, §53, Fußn. 5; Ulpian, D .44, 4, 4, 26: .,Julianus ... saepissime scripsit doli pupillos, qui probe pubertatem sunt, capaces esse." ' Baumert, Zurechnungsfähi gkeit, S. 8, 12. 10 Baumert, Zurechnungsfähi gkeit, S. 11; Schaffstein, Die allgemeinen Lehren vom Verbrechen, S. 98. 2 Walbel
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1. Kap., I. Haftung Minderjähriger im röm. u. gern. dt. Recht
nigen (furiosi) gleichgestellt11 und regelmäßig als deliktsunfähig betrachtet, weil es ihnen an der notwendigen Einsicht fehle 12 • Die pubertati proximi und die infantiae proximi werden meist nach der doli capacitas unterschieden13 • Für die infantiae proximi gilt die Vermutung der Zurechnungsfähigkeit, die pubertati proximi gelten als zurechnungsfähig 14 • Durch diese Vermutung sollte jedoch die Prüfung der individuellen Reife im Einzelfall nicht ausgeschlossen werden15 • Die entscheidende Frage war dabei, ob der "impubes" der verbrecherischen Absicht fähig war ("si doli capax est")1 8• Neben dem "doli capax" werden in den Quellen aber auch verschiedene andere Umschreibungen gebraucht 17• Immerhin bleibt festzuhalten, daß das spätere römische Recht die Zurechnungsfähigkeit der Unmündigen von einer gewissen - und zwar allein geisti-
11 Mod. D. 48, 8, 12: Infans vel furiosus si hominem occiderint, lege Cornelia non tenentur, cum alterum innocentia eonsilii tuetur, alterum fati infelieitas exeusat. 11 Ulp. D. 9, 2, 5, 2 (Sachbeschädigung); Ulp. D. 47, 2, 23 (Diebstahl); Mod. D. 48, 8, 12 (Tötung eines Menschen). Wächter, Pandekten, Bd. 1, § 48, A II d; Binding, Grundriß, S. 101; Sohm, Institutionen, § 44 a. E. (Deliktsfähigkeit); Keller, Pandekten, § 27e; Chauveau et Faustin Helie, Theorie, Bd. 2, S. 150 f.; Baumert, Zurechnungsfähigkeit , S. 2 f.; Perniee, Labeo I, S. 209; Mommsen, Röm. Strafrecht, S. 76 ("huius aetatus pupilli nullum intelleeturn habent"); Regelsberger, Pandekten, § 131, I. ta Pernice, Labeo I, S. 219. Die Worte "pubertati proximi" und "doli (vel eulpae) capax" werden als gleichbedeutend gebraucht; Savigny, System, Bd. 3, § 107; Baumert, Zurechnungsfähigkeit, S.12. u Irgendwelche Bestimmungen, von welchem Alter an die impuberes als "pubertati proximi" anzusehen sind, gibt es nicht. Das gemeine Recht teilte im Anschluß an die Glossatoren (Aeeursius) die Zeit zwischen dem 7. ("infantia") und dem 14. bzw. 12. Lebensjahr ("pubertas") vielfach in zwei Hälften und nahm an, daß "infantiae proximi" die impuberes vom 7. bis zum 101/2 bzw. 9 1/2 Lebensjahr und "pubertati proximi" die impuberes vom 10 112 bzw. 9 1/2 bis zum 14. bzw. 12. Lebensjahr waren. Seit Savigny ist diese Ansicht aufgege'l;len. Als "proximus" wird nur noch der angesehen, der weniger als ein Jahr von dem einen oder anderen Grenzpunkt entfernt ist. Im übrigen entscheidet die persönliche Reife, vgl. Binding, Grundriß d. Dt. Strafrechts, S. 101; Savigny, System, Bd. 3, § 107 (S. 38); Windscheid-Kipp, Pandekten,§ 54 Fußn. 7; Thibaut, System, § 211; Bekker, Theorie des heutigen deutschen Strafrechts, Bd. 1, S. 355; Keller, Pandekten,§ 27c; Baumert, Zurechnungsfähigkeit, S. 12 f. 15 Savigny, System, Bd. 3, § 107 (S. 38). 11 Ulp. D. 47, 8, 2, 19; Ulp. D. 48 10, 3, 1. 11 Ulp. D. 9, 2, 5, 2: "iniuriae capax"; Maee. D. 29, 5, 14: "eius aetatis ... ut rei intelleeturn eapere possent". Gaius III, 208 (= Inst. 4, 1, 18): " ... plerisque plaeet, quia furtum ex adfeetu eonsistit, ita demum obligari eo erimine impuberem, si proximus pubertati sit, et ob id intellegat se delinquere". Gai. D. 50, 17, 111 pr.: Pupillum qui proximus pubertati sit, eapaeem esse et furandi et iniuriae faxiendae. Inst. III, 9, 10: ... nam infans et qui infanti proximus est ... nullum intelleeturn habent. Sed in proximus infanti propter utilitatem eorum benignior iuris interpretatio faeta est, ut idem iuris habeant, quod pubertati proximi.
1. Kap., I. Haftung Minderjähriger im rörn. u. gern. dt. Recht
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gen, verstandesmäßigen18 - Reife, vom Dasein einer vollständigen intellektuellen Urteilsfähigkeit111 abhängig machte. Neben der altersmäßigen Entwicklung des Unmündigen berücksichtigte das römische Recht bei der Frage der Deliktsfähigkeit auch die Beschaffenheit der verbotenen Handlung20, in der richtigen Erkenntnis, daß die Frage der Einsichtsfähigkeit auch von der Eigenart des Delikts abhängt, und daß beispielsweise ein Kind schon bald weiß, daß es nicht stehlen oder jemanden körperlich verletzen darf, während sich das Verständnis für andere Verbrechen wie etwa Urkundenfälschung oder Münzdelikte erst später zu entwickeln pflegt21 • Dagegen wurde der Unterschied zwischen dolosen und culposen Delikten als nicht so schwerwiegend angesehen, um eine unterschiedliche Behandlung bei der Frage der Zurechnungsfähigkeit zu rechtfertigen22 • Die Prinzipien des römischen Rechts beherrschten auch das deutsche Zivilrecht bis zum Inkrafttreten des BGB23 • Das gemeine Recht nahm ebenfalls feste Altersgrenzen absoluter Deliktsunfähigkeit (bei Kindern) und Deliktsfähigkeit (bei Mündigen) an, und überließ in dem dazwischenliegenden Altersabschnitt die Beurteilung der individuellen Zurech-:nungsfähigkeit dem Richter, der festzustellen hatte, ob der Jugendliche die zur Erkenntnis seiner Schuld erforderliche Einsicht schon erreicht hatte 24 • Allerdings bestand, wie schon im römischen Recht, auch in der Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts große Unklarheit darüber, was nun unter der "doli capacitas", der zur Erkenntnis der Schuld erforderlichen Einsicht, zu verstehen sei, d. h. worauf sich die Einsichtsfähigkeit des Unmündigen beziehen müsse. Nach Mommsen soll festgestellt werden, ob der angeschuldigte Unmündige das Verbrechen "zu fassen vermochte" 25 • Savigny entnimmt dem römischen Recht die Regel, der Unmündige werde durch seine Handlung verpflichtet, sobald er fähig sei, "das Unerlaubte, das Unrecht seiner Regelsberger, Pandekten,§ 131 II A (S. 479). So: Savigny, System, Bd. 3, § 107 (S. 38); vgl. auch Sohm-Mittels-Wenger, Lehrbuch, S. 242. 10 Diese Unterscheidung ist älter als das Erfordernis altersmäßiger Reife, wurde aber später mit diesem zusammen verwendet; vgl. Dernburg, Bd. 1, § 53, Fußn. 5. 11 Vgl. Mommsen, Röm. Strafrecht, S. 76 Fußn. 6; Regelsberger, Pandekten, § 131 II A (S. 479); Savigny, System, Bd. 3, § 108; Ihering in lherings Jahrb. Bd. IV, S. 60 ff., jeweils mit Quellenangaben. 11 Savigny, Bd. 3, § 108 (S. 43); Baumert, Zurechnungsfähigkeit, S. 13. 18 Vgl. den ausführlichen überblick bei RG Urt. v. 16. 3. 1896 RGZ 37, 155 = . SeuffA Bd. 22 Nr. 5. 14 So Wendt, Lehrbuch der Pandekten, § 23 (S. 47); vgl. BayOLG Urt. 2. 10. 1880, Sammlung v. Entscheidungen des Bayer. Obersten LG Bd. 8 (1881), S.532. u Mommsen, Röm. Strafrecht, S. 76, Fußn. 6. tB
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v.
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1. Kap., II. Geschtl. Entwicklung der Verantwortlichkeitseinsicht
Handlung zu begreifen"28• Dernburg schließlich ist der Ansicht, deliktsfähig könnten nur pubertati proximi sein, also nur solche Unmündige, welche sich der Mündigkeit nähern und dies nur dann, wenn sie im gegebenen Fall die Strafbarkeit ihrer Handlung erkennen konnten27• Das Reichsgericht hat es abgelehnt, die Zurechnungsfähigkeit im Zivilrecht von der zur Erkenntnis der Strafbarkeit seiner Handlung erforderlichen Einsicht abhängig zu machen28• Zu einer einheitlichen Begriffsbestimmung ist die Rechtsprechung jedoch nicht gelangt28 • Schließlich taucht noch vor dem eigentlichen Inkrafttreten des BGB die Formulierung des§ 828 II ("Einsicht in die Verantwortlichkeit") in der Judikatur auf3°.
II. Die geschichtliche Entwicklung des Begriffs "der zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderlichen Einsicht" Der Begriff der zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderlichen Einsicht ist strafrechtlichen Ursprungs. Die Vorschrift des§ 828 II BGB ist dem früheren § 56 StGB a. F. nachgebildet, der die Zurechnungsfähigkeit Minderjähriger vom Vorhandensein der "zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderlichen Einsicht" abhängig machte. Die Verfasser des BGB waren der Auffassung, daß der "Erkenntnis der Strafbarkeit" im Sinne der §§ 56, 58 StGB a. F. auf zivilrechtlicher Seite "die Erkenntnis der Verantwortlichkeit" entspreche31• In ihren historischen Wurzeln reicht die Formulierung freilich viel weiter zurück. Vielfach wird die Meinung vertreten, in der Fassung des 11 SaviQn1J, System, Bd. 3 § 107 (S. 38); ebenso: Regelsberger, Pandekten, § 131 II A. 17 Dernburg, Pandekten, § 53, 1c. Nach Dernburg hätte das römische Strafrecht seit Hadrian denselben Standpunkt eingenommen wie das deutsche RStGB 1871 (§56 a. F.). 18 RG Urt. v. 16. 3. 1896 RGZ 37, 155 (158) = SeuffA Bd. 22 Nr. 5. 18 Vgl. OAG München, Erkenntnis v. 9. 3. 1850, SeuffBl. Bd. 15, 187 ("Erkennen der Rechte und Beurteilung der Folgen einer Handlung"); OAG München, Erkenntnis v. 8. 10. 1864, SeuffA, Bd. 18 Nr. 247 ("Bewußtsein der Rechtswidrigkeit der Handlung"); BayObLG Urt. v. 2. 10. 1880, Sammlung v. Entscheidungen des BayObLG Bd. 8 (1881), S. 532 ("notwendige Einsicht zur Verurteilung des Erfolges seiner Handlung"; "Beurteilung der Rechtswidrigkeit und Gefährlichkeit einer Handlung"); BayObLG Urt. v . 13. 5. 1898 SeuffA Bd. 23 Nr. 222 = SeuffBl. 1898, S. 440 ("hinreichende körperliche und geistige Entwicklung, um ein fahrlässiges Verschulden zurechnen zu können"). ao Vgl. BayObLG Urt. v. 4. 11. 1898 SeuffA Bd. 24 Nr. 138. 11 So: Protokolle, Bd. II, S. 582 f.; vgl. auch Motive II, 733; Planck-Siber, §828Anm.2.
1. Das "discernement" des Code Penal1791
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§ 828 II BGB komme noch einmal das "discernement" des Rechts der französischen Aufklärung zum Vorscheina2 • Diese Ansicht ist zutreffend. Sie erfaßt jedoch nur einen Teil der historischen Entwicklung. Die Frage, weshalb aus dem "discernement" des französischen gerade "die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht" des deutschen bürgerlichen Rechts wurde, kann ohne Berücksichtigung des gemeinen deutschen Strafrechts nicht beantwortet werden. Erst aus dem Zusammenwirken dieser beiden Elemente - des französischen Strafrechts der Aufklärung und des gemeinen deutschen Strafrechts -läßt sich die Entstehung des§ 828 II BGB erklären. 1. Das "discernement" des Code Penal 1791
a) Die Entwicklung des "discernement" in der französischen Rechtslehre des 18. Jahrhunderts Im Strafgesetzbuch der französischen Revolution33, dem Code Penal von 1791, wird die Bestrafung eines Jugendlichen unter 16 Jahren von der Entscheidung der Frage abhängig gemacht: Le coupable a-t-il commis le crime avec ou sans discernement34? Die Herkunft dieses Begriffes "discernement" ist zweifelhaft. Allgemein wird die Ansicht vertreten, es handele sich um eine eigenständige Schöpfung der "Assemblee constituante", die sich von allen bisherigen Lösungen dieses Problems grundlegend unterscheide35• Das dürfte sich allerdings mehr darauf beziehen, 32 Vgl. etwa Liszt, Deliktsobligationen, S. 52; Witts, Analoge Anwendung des § 829 BGB, in : VersR 63, 1098 (1099); Staudinger-Schäfer, § 828 BGB, RZ 2. 33
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Vgl. dazu : Remy, Les principes generaux du code penal de 1791, S. 135 ff. Code Penal (Donne a Paris le 6 octobre 1791; Decret du 25 Septembre 1791)
1re partie.
Des condamnations tit. 5. De l'influence de l'äge des condamnes sur la nature et la duree des peines. Art.1er Lorsqu'un accuse, declare coupable par le jure, aura commis le crime pour lequel il est poursuivi avant l'äge de 16 ans accomplis, les jures decidedmt dans les fotmes ordinaires de leur deiiberation la question suivante: Le coupable a-t-il commis le crime avec ou sans discernement? Art. 21em Si les jures decident que le coupable a commis le crime sans discernement, il sera acquitte du crime, ... Art. 3iem Si les jures decident que le coupable a commis le crime avec discernement, il sera condamne. 35 So: Garcon, Code Penal, § 66 n. 5: " ... le systeme inaugure par le Code de 1791 avait a cette epoque marque sur ce point un progres considerable." Ortolan, Elements Du Droit Penal, Bd. 1, Nr. 279: "L'Assemblee constituante dans son Code Penal de 1791 se separa de tous ces precedents"; ebenso: Donne-
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1. Kap., II. Geschtl. Entwicklung der Verantwortlichkeitseinsicht
daß der Code Penal 1791 generell die Bestrafung Jugendlicher bis zu 16 Jahren von der Frage des "discenement" abhängig machte, was in der Tat gegenüber dem bisherigen Rechtszustand eine wesentliche Vereinfachung und ein Herausstellen des maßgebenden Gesichtspunktes brachte38• Die Frage nach dem "discernement" selbst ist keineswegs "l'oeuvre originale de la Revolution" 37• Schon das französische Strafrecht der Zeit vor der Revolution verlangte für die Bestrafung Minderjähriger, wenn auch nur im Alter von 91/! bzw. 101/2 bis 12 bzw. 14 Jahren eine ähnliche geistige Reife wie der Code Penal 1791 mit dem" discernement". Das Strafrecht des Ancien Regime folgte dem durch die italienischen Rechtsgelehrten (insbesondere Julius Clarus und Prosper Farinacius) überlieferten Lehren des römischen Rechts. Wie im römischen Recht, so galt auch im französischen Recht vor der großen Revolution für Kinder unter sieben Jahren "la presomption d'irresponsabilite absoluee" 38• Die "infantiae proximi" wurden ebenfalls als völlig deliktsunfähig angesehen31• Die "pubertati proximi"40 galten dann als zurechnungsfähig, wenn sie eine genügende geistige Reife, "l'usage de raison" 41 , erlangt hatten. Ihre verstandesmäßige Einsicht mußte die Annahme zulassen, daß sie mit "animum deliquendi" gehandelt hatten42 • Dasselbe Maß intellektueller Entwicklung dürfte gemeint dieu de Vabres, S. 161 ; Garraud, Traite, S. 720 f.; Höhn, Die Stellung des Strafrichters in den Gesetzen der französischen Revolutionszeit, S. 56, 57. ·ae Ortolan, Elements, Nr. 279: "Elle introduisit le systeme encore en vigueur chez nous aujourd'hui: une limite unique, celle de seize ans accomplie, d'ou seulement deux periodes: l'une au-dessous, l'autre au-dessus cet äge." Als Vorzüge dieser Regelung nennt Ortolan, a.a.O., Nr. 279: "son extreme simplicite et le merite en n'etablissant qu'une seule limite d'y rattacher du moins la periode la plus utile, la plus necessaire a organiser dans la Iegislation penale: je veux dire la periode du doute, celle ou le juge, sous une question de discemement, exigee a peine de nullite doit decider de la culpabilite ou de la nonculpabilite penale". 37 Garraud, Traite, S. 720 f.: (La question de discernement est) . .. "l'ceuvre originale de la Revolution". 38 Donnedieu de Vabres, Traite, p. 161; vgl. Encyclopedie, Bd. 8, "Impuberes": " ... les impuberes etant encore en enfance ou proehe de l'enfance ne soient par soumis aux peines etablies par les lois, parce qu'on presume qu'ils sont encore incapable de dol". Ebenso Encyclopedie, Bd. 8, "Imputation": "Les actions de ceux qui n'ont pas l'usage de raison ne doivent point leur etre imputees. Vgl. auch: Muyart De Vouglans, Institut, p. 74. 39 Encyclopedie, Bd. 8, "Impuberes"; Donnedieu de Vabres, Traite, S. 161. 40 Zu den "pubertati proximi" rechnete das französische Recht, entsprechend der Lehre der Glossatoren, die Knaben von 101/2 bis 14 Jahren und die Mädchen von 91/2 bis 12 Jahren; vgl. Muyart de Vouglans, a.a.O., S. 74; Chauveau et Faustin Helie, Theorie, Bd. 2, S. 152. 41 D . Jousse, Nouveau Commentaire Sur l'Ordonnance Criminelle, Bd. 1, p. XX, XXI, "A l'egard de enfants qui n'ont point encore l'usage de raison, ils ne peuvent etre poursuivi ...". 41 Encyclopedie, Bd. 4, "Crime".
1. Das "discernement" des Code Plmal1791
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sein, wenn in Übersetzung des lateinischen Ausdrucks verlangt wird, der Minderjährige müsse "capable de dol" 43 gewesen sein, oder, wie auch gesagt wird, erkannt haben, "qu'il faut mal""· Ähnlich schreibt auch Jousse: ... il n'y a que la volonte et la connaissance du mal qu'on fait qui meritent une punition: or ... un enfant qui n'a point l'usage de raison, ne sait ce qu'il fait4 G. Nach Muyart De Vouglans ist Voraussetzung für die Deliktsfähigkeit des Unmündigen schließlich "qu'il est dans une äge, qu'illui permet de discerner le bien et le mal " 41 • Diese Formulierungen der französischen Strafrechtslehrer des 18. Jahrhunderts weisen unmittelbar auf das "discernement" des Code Penal 1791 hin; denn wer erkennen soll, "qu'il faut mal" oder wer "la connaissance du mal" haben soll, muß notwendig zunächst die Fähigkeit besitzen, "de discerner le bien et le mal". Und Muyart De Vouglans nennt dieses Vermögen ausdrücklich als Voraussetzung der Deliktsfähigkeit47 • Das "discernement" ist demnach nicht ein Begriff, den der Gesetzgeber von 1791 sozusagen "per inspirationem" aus dem Nichts geschaffen hat. Er hat sein Vorbild in der französischen Rechtslehre des 18. Jahrhunderts, die ihrerseits römische Gedanken fortentwickelt hat48 • 43 Vgl. Encyclopedie, Bd. 8, "Impuberes"; vgl. auch Encyclopedie, Bd. 5, "Dol mauvais" (... le terme de dol n'annonce rien que de mauvais ...). 44 Du Rousseaud De La Combe, Traite, p. 13 (n. 38). 45 D. Jousse, a.a.O., p. XXi. Bemerkenswert ist, daß auch die deutsche Strafrechtswissenschaft im 18. Jahrhundert zu ähnlichen Ergebnissen gelangt. Vgl. Böhmer, Meditationes in Constitutionem Criminalem Carolinam (1774), Art. 179 § 2: "et circa infantes quidem expeditum est, eos quia bonum a malo distinguere nequeunt, et nec doli, nec culpae capaces sunt, ab omni vilidicta publica propter actionem illicitam absolui, et parentum tutorumque domesticae coercitioni commendari, non per modurn poena, sed ut hac admonitione impositum ab eius modi actionibus annocetur". "Alia ratio pubertati proximorum, quorum iudicium pedentim maturescit, ut bonum a malo distinguere et facilius improbitatis monurnenturn edere possint." 48 Muyart De Vouglans, Institut, p. 74. c1 Muyart De Vouglans, a.a.O., p. 74. 48 Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Lehrbuch des Grafen Soden. Graf Soden (J. F. v. Soden, Geist der teutschen Criminal-Gesetze, 1. Aufl. 1782) geht von der Erkenntnis aus, daß der "junge Verbrecher" wegen "des Mangels der vollkommenen Entwicklung der Geisteskräfte", der ihn hindert, "Recht von Unrecht, Gutes vom Bösen zu unterscheiden" und ihm damit die Entscheidung für das Recht bzw. das Gute unmöglich macht, straflos ist (J. F. v. Soden, a.a:o.; § 33, S. 53 f.). Da die Entwicklung dieser Kenntnis individuell verschieden: ist, "da also die Gesetze keine Gränzlinie der straflosen Kindheit ziehen können" (auf eine Altersspanne absoluter Unzurechnungsfähigkeit wird, wie im französischen Recht, verzichtet), kommt Graf Soden zu dem Schluß, daß es "bey jedem Einzelnen erst auf Untersuchung ankomme, wie viel, oder wenig, wie stark oder schwach seine Geisteskraft und die Erkenntnis des Rechts oder Unrechts sey; und daß nach diesem Maaßstab auch die Grade der Zurechnung und nach dieser die Strafe oder Straflosigkeit differire" (J. F. v. Soden, a.a.O., § 33,
s. 54).
Diese Ansicht, in der das "discernement" des Code Penal der französischen Revolution bereits vorweggenommen ist, hat Graf Soden im Jahre 1782 ge-
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1. Kap., II. Geschtl. Entwicklung der Verantwortlichkeitseinsicht
Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Betrachtungsweise des römischen Rechts, das die Frage der Zurechnungsfähigkeit ausschließlich von der verstandesmäßigen Entwicklung, der intellektuellen Reife, abhängig machte, der Denkart der Rechtslehrer der französischen Aufklärung sehr entgegenkam und sich mit deren Auffassung von der maßgebenden Rolle des Verstandes vortrefflich vereinbaren ließ. Der Fortschritt, den der Code Plmal von 1791 gegenüber dem bestehenden Rechtszustand gebracht hat41, ist demnach vor allem darin zu erblicken, daß es hier ein Gesetzgeber unternommen hat, eine allgemeine Bestimmung des Begriffs der Deliktsfähigkeit von Minderjährigen bis zu 16 Jahren zu geben. Es war von diesem Standpunkt aus nur folgerichtig, wenn im Code P{mal jede Vermutung für oder gegen die Zurechnungsfähigkeit Minderjähriger, wie es sie im römischen und auch im Recht des Ancien Regime für bestimmte Altersgruppen gegeben hatte, beseitigt wurde. Das "discernement" bildete das einzige Kriterium der Zurechnungsfähigkeit des Jugendlichen, dessen Fehlen oder Vorhandensein in jedem Falle eigens zu prÜfen war. Diese neue Betrachtungsweise ist ein Ergebnis der Vertiefung und Systematisierung der der Lehre von der Zurechnung, die der französischen Rechtswissenschaft im 18. Jahrhundert gelungen war. Für die Lehren des römischen Rechts war ausschlaggebend die Tatsache, an der keine Rechtsordnung vorübergehen kann, sobald sie über primitive Anfänge hinaus zu einer gewissen Höhe der Entwicklung gelangt ist50, daß sich die Einsicht in die Bedeutung von Handlungen, das Bewußtsein der Pflichten, beim Menschen nur ganz allmählich entwikkeln, daß der menschliche Verstand zu seiner Entfaltung und Reife eine geraume Weile benötigt. Für die französische Jurisprudenz der Aufklärung treten nun daneben auch schon dogmatische Erwägungen. Den Ausgangspunkt bildet dabei der Begriff der Zurechnung: l'imputation51. Die "Encyclopedie"51 bestimmt die Zurechnung als "un jugement, äußert. In der zweiten Auflage seines Werks (J. F. v. Soden, Geist der peinlichen Gesetzgebung Teutschlands, 2. Aufl. 1792), die im Jahre 1792, also kurze Zeit nach dem Code Penal von 1791 erschienen ist, drückt Soden sich noch bestimmter aus. Der Einfluß des französischen Rechts wird dabei bis in den Wortlaut hinein bemerkbar, wenn es heißt: "der Mangel der vollkommenen Entwicklung der Geisteskräfte vernichtet .oder beschränkt das Unterscheidungsvermögen des Rechts vom Unrecht, des Guten vom Bösen und also die Wahl des ersten ...". Deshalb muß bei jedem Kind oder Unmündigen geprüft werden, ob bereits eine hinlängliche "Geisteskraft" bzw. "das Erkenntniß-Vermögen des Rechts oder Unrechts" vorhanden sei (J. F. v. Soden, a.a.O., Bd. 1, § 27, S. 44). n Abgesehen von der humaneren Behandlung der Minderjährigen durch Ausschluß und Milderung von Strafen; vgl. Baumert, Zurechnungsfähigkeit, S.34.
Vgl. dazu: Rümelin, Das Verschulden in Straf- und Zivilrecht, 1909, S. 7 f. Vgl. Encyclopedie, Bd. 8, "Imputation". " Aus redaktionellen Gründen läßt sich nicht genau feststellen, ob der Ar50
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1. Das "discernement" des Code Penal1791
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par lequel on declare que quelqu'un etant l'auteur ou la cause morale d'une action commandee ou defendue par les lois, les effets bons ou mauvais qui s'ensuivent, doivent actuellement lui etre attribues; qu'en consequence il en est responsable, et qu'il doit en etre loue ou blame, rescompense ou puni". Daraus folgt, "que l'on impute avec raison a quelqu'un toute action ou omission, dont il est l'auteur ou la cause, et qu'il pouvoit et davoit faire ou omettre". Über die Voraussetzungen der Zurechnung heißt es an der gleichen Stelle: "le jugement d'imputation, aussi bien que celui de la conscience, se fait en appliquant la loi a l'action dont il s'agit, en comparant l'une avec l'autre, pour prononcer ensuite sur le merite du fait, et faire ressentir en consequence a celui qui en est l'auteur, le bien ou le mal, la peine ou la recompense que la loi y a attache". Deshalb kann eine Handlung subjektiv nur zugerechnet werden, wenn der Handelnde die Folgen seiner Handlung erkennen und sie als gesetzmäßige oder gesetzwidrige einordnen konnte, denn nur wer in der Lage ist, bewußt etwas Böses zu tun, verdient Strafe53• "Les actions de ceux qui n'ont pas l'usage de la raison ne doivent point leur etre imputees. Car ces personnes n'etant pas en etat ce qu'elles faut, ni de le comparer avec les lois, leurs actions ne sont pas proprement des actions humaines et n'ont point de moralite" 54• "L'usage de la raison" und die daraus fließende Fähigkeit des "discerner le bien et le mal" sind deshalb unerläßlich, wenn man jemanden seine Tat zum Vorwurf machen und ihn dafür zur Rechenschaft ziehen will. Das Gesetz selbst hat den Begriff "discernement" nicht näher bestimmt und damit die Auslegung der Wissenschaft und der Praxis überlassen. So konnte es nicht ausbleiben, daß sich recht unterschiedliche Meinungen über den Inhalt des "discernement" bildeten55• Das "discernement" ist zunächst keineswegs ein juristisch-technische r Begriff, sondern ein allgemein gebräuchlicher Begriff der französischen Sprache58• Nach der Wortbedeutung handelt es sich dabei um die Fähigtikel "Imputation" von Diderot oder von Jancourt verfaßt worden ist. Beide, Diderot wie Jancourt, waren jedoch den Gedanken der Aufklärung verpflichtet; vgl. Overbeck, Das Strafrecht der französischen Encyclopedie, S. 6, 9 f., 49 Fußri. 9. 63 D. Jousse, Nouveau Commentaire, Bd. 1, S. XXI: "En effet il n'y a que la volonte et la connaissance du mal qu'on fait, qui meritentune punition." 54 Encyclopedie, Bd. 8 "Imputation". 55 Vgl. Donnedieu de Vabres, Traite, S. 184; Fuchs, Das Problem der Strafmündigkeit und die deutsche Gesetzgebung, S. 17 ff.; Fitzner, Die Entwicklung des französischen Jugendstrafrechts, S. 32 f. 58 Vgl. Dictionnaire de l'Academie Fran!;aise, 8. Aufl. 1931: Faculte de l'esprit a distinguer les choses, a separer les questions, a en juger sainement, a apprecier la valeur intellectuelle et morale de gens." Thibaut, Wörterbuch der französischen und deutschen Sprache, Teil 1: "discernement" - Unterscheidung, Unterscheidungsvermögen.
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1. Kap., !I. Geschtl. Entwicklung der Verantwortlichkeitseinsicht
keit, sachgerecht zu differenzieren oder auf das moralische bzw. rechtliche bezogen Gut und Böse, Recht und Unrecht zu unterscheiden, d. h. die Bedeutung dieses Gegensatzes zu verstehen67 • Man ist sich darüber einig, daß es sich beim "discernement" allein um die Fähigkeit des Verstandes handelt, daß einzig entscheidend ist: la faculte d'intelligence, la raison morale58, während die Reife des Willens, die Selbstbeherrschung, keine Rolle spielen. Das ergibt sich schon aus der Wortbedeutung des "discernement", und entspricht auch den rationalistischen Vorstellungen der Zeit, in welcher der Code Penal von 1791 geschaffen wurde59• Die Aufklärer nahmen ja an, daß der Mensch, habe er nur einmal das Richtige und Gute erkannt, dann ohne weiteres in der Lage sei, sich für das Gute und gegen das Böse zu entscheiden. Die Fähigkeit des "discerner le bien et le mal" schloß nach dem Menschenbild der Aufklärung auch die Fähigkeit ein, entsprechend dem als gut Erkannten zu handeln80 • Dagegen bestanden über den weiteren Inhalt des Begriffs "discernement" weitgehend Meinungsverschiedenheiten. Ein Teil der Rechtslehre erachtet es, entsprechend dem Sinn des Wortes "discernement", welches die Fähigkeit bezeichnet, Recht und Unrecht zu unterscheiden, als ausreichend für die Strafmündigkeit, wenn der Minderjährige reif genug ist, um das Sittenwidrige eines bestimmten Verhaltens einzusehen81 • Es wird aber auch die Ansicht vertreten, das "discernement" umfasse, über die Entscheidung von Gut und Böse hinaus, auch noch das Bewußtsein des Minderjährigen, daß er einer rechtlichen Anordnung zuwiderhandle, die Erkenntnis, daß er eine unerlaubte bzw. strafbare Handlung begehe82, also das Bewußtsein der Normwidrigkeit. So Binding, Normen, II, S. 218. Vgl. Ortolan, Elements, chap. 289, 264. 58 Vgl. Wilts, Analoge Anwendung des§ 829 BGB, in: VersR 63, 1098 (1099); Schmidt, Die Einsicht in die Strafbarkeit, S. 81. 80 Vgl. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 329 ff. (332). 81 "Un certain developpement des facultes mentales qui permet ä l'agent de sentir l'immoralite de sa conduite (Donnedieu De Vabres, Traite, S. 184), vgl. auch: Ortolan, Elements Du Droit Penal, § 289: "ce qu'il faut pour constituer la culpabilite c'est la conception du juste et de l'injuste dans le fait particulier"; Garcon, Code Penal, § 66 n. 5: "la faculte de distinguer le bien et le mal", ebenso: Tissot, Le Droit Penal, S. 28. et "Le discernement est la connaissance, par l'enfant qu'il contrevient a une disposition de la loi penale, la conscience qu'il accomplit un acte illicite (Donnedieu De Vabres; Traite, S. 184); vgl. auch: Rauter, Traite, S. 161, 162: "Par discernement on entend la faculte d'entrevoir la penalite de l'action selon la loi positive"; Chauveau et Faustin Helie, Theorie I, § 223 und Garraud, Traite, § 198: "Par intelligence ou discernement j'entends la faculte de discerner l'illegalite au point de vue penale de l'acte qu'il s'agit d'imputer." Lecons: "La 11 58
1. Das "discernement" des Code Penal1791
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Daran schließt sich eine weitere Streitfrage an: Muß sich der Minderjährige der Tragweite seiner Handlung bewußt sein, muß er in concreto erkannt haben, daß er etwas Böses oder Strafbares tue oder reicht es aus, wenn er die altersmäßige Reife hatte, um das Sittenwidrige oder Strafgesetzwidrige seiner Handlung erkennen zu können? Boitard83 und Chaveau64 verlangten, daß der Minderjährige das Unrecht bzw. die Strafbarkeit wirklich erkannt hat. Das "discernement" soll deshalb erst ausgeschlossen sein, wenn sich der Minderjährige des Unrechts bzw. der Strafbarkeit seiner Handlung im Einzelfall nicht bewußt war. Demgegenüber bedeutet nach Ansicht von Ortolan65 und Garraud66 das "discernement" nicht eine bestimmte, tatsächlich erlangte Erkenntnis, sondern vielmehr "une faculte", "une conception", also eine Fähigkeit, ein Vermögen, und zwar das Vermögen, zwischen Recht und Unrecht unterscheiden bzw. die Strafbarkeit der Handlung zu erkennen. Das unter Napoleon entstandene französische Strafgesetzbuch von 1810 übernahm, trotz der Unsicherheit über den Begriff des "discernement", die Regelung des Code Penal von 179167 und dehnte sie auch auf die "delits" aus (art 69 Code Penal1810)88• Die Praxis der französischen Gerichte hat sich jedoch schon bald von der Frage des "discernement" freigemacht und ist, um die vielfachen Schwierigkeiten der Auslegung und Anwendung zu vermeiden, dazu übergegangen, bei der Prüfung der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit Minderjähriger darauf abzustellen, ob es im Einzelfall zweckmäßiger ist, über das Kind eine echte kriminelle Strafe zu verhängen oder ob nicht doch noch erzieherische Maßregeln am Platze sind88 • Mit der Streiquestion (a-t-il agi avec discernement) a ce sens: cet accuse, mineur de seize ans, qui a agi sentant qu'il faisait mal, comprenait il bien la portee, l'etendue du mal qu'il faisait, savait-il s'exposerait a·une plmalite grave et serieuse" (S. 201 n. 188). 83 Boitard, Le!;ons (S. 201, n. 188: ... cet accuse comprenait-il bien la portee ... , savait-il qu'il s'exposait a une penalite ...). " Chauveau et Faustin HeHe, Theorie I, § 223: ... que cet accuse a connu toute la portee ... 85 a.a.O., § 289. 88 a.a.O., § 189. 87 Code Penal du 12. 2. 1810, art. 66, 67; vgl. dazu: Car!;on, Code Penal Annote, § 66 n. 5; Ortolan, Elements, chap. 283. 66. Vgl. Ortolan, a.a.O., chap. 283. 88 Vgl. Donnedieu De Vabres, Traite, S. 184: "La difficulte de penetrer la psychologie du mineur a fait prevaloir dans la pratique une methode independante de ces interpretations. Depuis longtemps, les juges et les jures s'affranchissent de la notion de discernement. Ils se demandent d'une point de vue utilitaire, s'il vaut mieux, dans le cas concret, frapper l'enfant d'une peine ou le soumettre a des mesures d'education."
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1. Kap., Il. Geschtl. Entwicklung der Verantwortlichkeitseinsicht
chung des "discernement" aus dem Code Penal hat der Gesetzgeber im Jahre 1945 die Folgerung aus dieser Entwicklung gezogen70. Nunmehr wird auf die Umstände und die Persönlichkeit des Jugendlichen abgestellt71. b) Der Einfluß des "discernement" auf die deutsche Gesetzgebung im 19. Jahrhundert
Der Code Penal von 1810 hat einen bedeutenden Einfluß vor allem auf die deutsche Partikularstrafgesetzgebung des 19. Jahrhunderts ausgeübt72 und hat, soweit er nicht ohnehin während der napoleonischen Zeit in den französisch besetzten Gebieten unmittelbare gesetzliche Geltung erlangte73, die Anlage und Systematik der im Verlaufe des 19. Jahrhunderts zahlreich geschaffenen Kodifikationen74 wesentlich mitbestimmt75. Nach dem Vorbild des Code Pimal wurden allenthalben in die Strafgesetzbücher besondere Bestimmungen aufgenommen, welche die Bestrafung des Jugendlichen während einer Periode relativer Strafmündigkeit von dem Vorhandensein des "discernement" oder einem ähnlichen Kriterium der Zurechnungsfähigkeit abhängig machen78• Verschiedentlich waren die Gesetzgeber, teils wegen der unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten, teils auch unter dem Einflußneuerer gemeinrechtlicher Vorstellungen, wie sie besonders im bayerischen StGB von 1813 70 Donnedieu De Vabres, a.a.O., S. 184: "En decidant que ... cette question ne se poserait pas, le legislateur de 1945 a donc consacre un etait de fait." 71 Art. 66 n. F.: "Si, en raisondes circonstances et de la personnaHte du delin.,. quant, il est decide qu'un mineur age de plus de treize ans doit faire l'objet d'une condamnation penale, les peines seront prononcees ainsi qu'il suit ..." 72 Vgl. Riviere, in: Strafgesetzgebung der Gegenwart in rechtsvergleichender Darstellung, Bd. 1, S. 435; Günther, Die Idee der Wiedervergeltung, Abt. III, 1. Hälfte, S. 110. 73 So in der preußischen Rheinprovinz bis 1851, in Rheinhessen bis 1841, in der bayerischen Pfalz bis 1861; vgl. Günther, Wiedervergeltung, S . 110, Fußn. 250; v. Bar, Handbuch des dt. Strafrechts, Bd. 1, S. 165; Eb. Schmidt, Einführung, § 246 (S. 259). 74 Dazu gehören vor allem: die bayerischen Strafgesetzbücher von 1813 und 1861 (vgl. Binding, Handbuch I, S. 46; H. Mayer, Lehrbuch, 5. Aufl., S. 83); die hessischen Entwürfe von 1824 und (teils auch) von 1831 (Berner StGG, Bd. 2, S. 181); das badische StGB von 1845, namentlich aber das preußische StGB von 1851 und die Kodifikationen von Anhalt-Bernburg 1852, Waldeck und Pyrmont 1855, Oldenburg 1858, Lübeck 1863 und Bayern 1861. Vgl. darüber: Seuffert in StGG, Bd. 1, S. 6, 7. 75 überblick bei Geib, Strafrecht, Bd. 1, § 67; Berner, Dt. Strafrecht, S. 78; Eb. Schmidt, Einführung, § 282 f. (S. 321 ff.). 78 Vgl. Fuchs, Das Problem der Strafmündigkeit und die deutsche Strafgesetzgebung, S. 12 f.; v. Bar, Handbuch, Bd. 1, S. 168; C. F. Müller, Das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten, S. 201 ff.
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ihren Niederschlag gefunden hatten77, bestrebt, den Begriff des "discernement" schärfer zu fassen. Württemberg78, Baden und Bayern78 verlangen die Feststellung der "zur Unterscheidung der Strafbarkeit erforderlichen Ausbildung", Hessen und Nassau80 setzen "hinlängliche Unterscheidungskraft" voraus. Lübeck81 begnügt sich mit dem "Unterscheidungsvermögen". Eine ähnliche Bestimmung enthält das sächsische Strafgesetzbuch 1868, indem es auf "die Geisteskräfte, welche dazu gehören, um das Rechte von dem Unrechte unterscheiden zu können" 82, abstellt.
c) Insbesondere die preußische Rechtsentwicklung aa) Das "Unterscheidungsvermögen" Von entscheidender Bedeutung für die weitere Rechtsentwicklung in Deutschland wurde die Übernahme der Vorschriften des Code Plmal in das preußische Strafrecht, weil die preußische Strafgesetzgebung infolge der politischen Stellung Preußens im 19. Jahrhundert zum Vorbild für das Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches wurde. Das preußische allgemeine Landrecht enthielt bezüglich der Jugendlichen nur die Bestimmung: Unmündige- also unter 14 Jahre alte Personen (§ 25 Tit. 1 Teil I ALR) - und schwachsinnige Personen können zwar zur Verhütung fernerer Vergehen gezüchtigt, niemals aber nach der Strenge des Gesetzes gestraft werden83 • Die Zurechnungsfähigkeit des Jugendlichen wurde nach dem für Erwachsene geltenden allgemeinen Grundsatz beurteilt: Wer frei zu handeln unvermögend ist, bei dem findet kein Verbrechen, also auch keine Strafe statt84• Mit dem vollendeten 14. Lebensjahr war der Jugendliche voll strafmündig85• 77 Vgl. v. Bar, Handbuch, Bd. 1, S. 178; Berner, Dt. Strafrecht, S. 78; über den Einfluß des BayStGB vgl. Fischl, Der Einfluß der Aufklärungsphilosophie auf die Entwicklung des Strafrechts ... , S. 218. Das BayStGB 1813 wird als "mater constitutionum criminalium recentiorum", als "Chorführerin aller neueren Kodiflkationen" bezeichnet (vgl. Geib, Dt. Strafrecht, Bd. 1, S. 326; Eb. Schmidt, Einführung,§ 282 (S. 321). 78 StGB von 1839, Art. 95, 96. 71 Baden StGB v. 1845/1851 § 79; Bayern StGB 1861 § 76; ebenso: Bremen, Entw. v. 1868, § 93; Zürich, Entw. v. 1866 § 41; Schweden, StGB 1864, Kap. 5 Art. 2; Dänemark, StGB 1866, § 36. 80 StGB v. 1841, Art. 115. 81 StGB 1863, § 42; auch Belgien, Cade Penal v. 8. 6. 1867, Art. 72, 73 (discernement) und Italien, Entwurf v. 1868 Art. 51 (discernimento) verlangen das Unterscheidungsvermögen. 81 Sachsen, StGB v. 1868 Art. 87 (vgl. dazu Wächter, Das königlich-sächsische und das thüringische Strafrecht, S. 329). 83 § 15 Tit. 20, Teil II ALR. 84 § 16 Tit. 20, Teil II ALR. 85 Die Carolina bezeichnete die "Jugent" als einen allgemeinen Gruild der
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1. Kap., II. Geschtl. Entwicklung der Verantwortlichkeitseinsicht
Dem Richter blieb es demnach überlassen, im Einzelfall zu entscheiden, ob der Unmündige "frei zu handeln" vermochte. Die Praxis legte den § 17 keineswegs dahin aus, daß gegen einen Jugendlichen unter 14 Jahren nur auf eine körperliche Züchtigung erkannt werden dürfe, sondern verstand unter Züchtigung nur eine mildere Bestrafung, als sie ein Erwachsener bei Begehung derselben Straftat zu gewärtigen gehabt hätte88 • Die Regelung des ALR wurde bald als unzureichend und reformbedürftig empfunden87 • Die Mängel wurden vor allem darin erblickt, daß eine Altersgrenze, bis zu der der Jugendliche absolut strafunmündig war, gänzlich fehlte und daß die obere Grenze, bis zu der Strafmilderung eintreten sollte, mit 14 Jahren viel zu niedrig bemessen schien88• Die zahlreichen Entwürfe zu einem preußischen Strafgesetzbuch, die von 1826 an ausgearbeitet wurden, versuchten, Abhilfe zu schaffen88 • Über die Forderung an den Richter, die Frage der Zurechnungsfähigkeit eigens zu prüfen, kamen sie jedoch nicht hinaus80• Die Frage, welche Eigenschaften der Jugendlicll.e haben müsse, um zurechnungsfähig zu sein, beantworteten sie nicht81 • Einen entscheidenden Schritt vorwärts in dieser Beziehung brachte der letzte Entwurf vom Jahre 1850, der die Regelung des Code Penal in allen Einzelheiten übernahm82 und die Bestrafung Jugendlicher davon abhängig machte, ob er mit "Unterscheidungsvermögen" gehandelt habe. Diese Bestimmungen des Entwurfs sind unverändert als§§ 42, 43 in das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten vom 14. April 1851 aufgenommen worden. Strafausschließung, begrenzt jedoch die Jugend außer beim Diebstahl nicht auf eine bestimmte Altersgrenze (vgl. Art. 179, 164 CCC). 88 Vgl. Fuchs, Das Problem der Strafmündigkeit und die deutsche Gesetzgebung, S. 6; BTuck, Zurechnungsfähigkeit, S. 69 Fußn. 59; BaumeTt, Zurechnungsfähigkeit, S. 32; GeTtTud Lange, Die Behandlung Jugendlicher, S. 34~ 87 Fuchs, a.a.O., S. 6; WächteT, Das Königlich-Sächsische und Thüringische Strafrecht, S. 3. 88 GeTtTud Lange, Die Behandlung Jugendlicher, S. 34. 8 ' Vgl. die übersieht bei GoltdammeT, Materialien, Bd. I, S. 355 ff.; Fuchs, a.a.O., S. 6 ff.; Eb. Schmidt, Einführung, §§ 276 ff. (S. 314 ff.). Die Reformversuche setzten bereits im Jahre 1801 ein und führten in den Jahren 1804/05 zu einem ersten Entwurf. 80 Vgl. Entwurf 1843, § 112: Hat der Verbrecher zur Zeit, als er die Tat beging, zwar das 12. aber noch nicht das 16. Lebensjahr vollendet, so ist vom Richter zu ermessen, ob derselbe bereits für zurechnungsfähig zu erachten ist oder nicht ... "; vgl. GeTtTud Lange, Die Behandlung Jugendlicher, S. 34 ff. " Die Revision des Entwurfs 1843 verwandte den Begriff "Beurteilungsvermögen" (vgl. Abegg, GA Bd. 12, S. 725 Fußn. 4). Noch im Jahre 1848 Wurde ein Antrag rheinischer Juristen auf Einführung des "discernement" abgelehnt (vgl. GoltdammeT, Materialien, Bd. I, S. 359). •• Die §§ 42, 43 des PrStGB 1851 sind (wörtliche) übersetzungen der Art. 66, 67 Code Penal; vgl. v. BaT, Handbuch I, S. 185; Eb. Schmidt, Einführung, § 281
(S. 319).
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Der Begriff des "Unterscheidungsvermögens" erwies sich für die preußische Lehre und Praxis als nicht weniger spröde und zweideutig, als sich das "discernement" auf französischer Seite gezeigt hatte. Der Mangel an notwendiger Klarheit über den Willen des Gesetzgebers, der das Unterscheidungsvermögen einführte, insbesondere auch Zweifel darüber, worauf die Unterscheidungskraft sich zu beziehen habe, führten zu sehr verschiedener Auslegung 83 • Nach Goltdammer, der sich auf die Erläuterung des "discernement" bei Rauter8 ' und auf Bauer85 beruft, ist unter dem Unterscheidungsvermögen "hauptsächlich" die Fähigkeit zu verstehen, die gesetzliche Strafbarkeit der Handlung und ihre Folgen einzusehen86 • Diese Meinung war jedoch im Schrifttum umstritten87 und fand auch zunächst in der Rechtsprechung keinen Anklang. Das Obertribunal Berlin vertrat in einer Entscheidung die Ansicht, "daß das zur Strafbarkeit eines noch nicht über 16 Jahre alten Menschen vorausgesetzte Unterscheidungsvermögen im allgemeinen nichts anderes ist, als derjenige Grad der Verstandesreife, welcher das Individuum befähigt, seine Verpflichtungen im äußeren Leben zu erkennen". Dazu gehört nach Auffassung des Gerichts aber keineswegs die bestimmte Vorstellung oder Überzeugung von der bürgerlichen Straffälligkeit eines bestimmten Verhaltens, da diese ohnehin nach den preußischen Strafgesetzen kein regelmäßiges Erfordernis der Straffälligkeit darstelle98 • Der Angeklagte wird aber verurteilt, "weil ihm das Vermögen beigewohnt habe, die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit der von ihm verübten Handlung zu unterscheiden". Genau den entgegengesetzten Standpunkt nimmt dasselbe Gericht dann in einer Entscheidung aus dem Jahre 1870 ein. Dort heißt es, die Vorderrichter hätten den Begriff des im § 42 des StGB geforderten Unterscheidungsvermögens nicht verkannt, "denn sie haben sich nicht begnügt, bloß festzustellen, daß der Angeklagte in geistiger Beziehung so weit entwickelt gewesen sei, um im Allgemeinen Recht und Unrecht zu unterscheiden, sondern sie haben sich ausdrücklich auch mit der Frage beschäftigt, ob " Vgl. Mittermaier, Das Preußische Strafgesetzbuch, in: GA Bd. 7 (1859), S. 163, 176; Baumert, Zurechnungsfähigkeit, S. 37. 14 Traite De Droit Criminel I, 263. 15 Anmerkungen zum Entwurf StGB für Hannover. " Goltdammer, Materialien I, S. 426 (Nr. 2). ' 7 Vgl. einerseits Temme, Lehrbuch des preußischen Strafrechts,§ 36 (S. 168): "Die Unzurechnungsfähigkeit wegen jugendlichen Alters ist nur dann da, wenn der jugendliche Täter wegen geistiger Unreife noch keine Vorstellung davon hatte, daß er durch sein Tun oder Lassen das Strafgesetz übertrete"; andererseits Wallmann, Das preußische Strafgesetzbuch, § 42 Anm. 2: "Keineswegs gehört zum Unterscheidungsvermögen die bestimmte Vorstellung oder Oberzeugung von der bürgerlichen Straffälligkeit eines bestimmten Verhalten." " Vgl. Ober-Tribunal Berlin, Erk. v. 6. 2. 1858 GA Bd. 6 (1858), S. 257 f. Jahrbuch der Dt. Rechtswissenschaft, 1859, S. 134.
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derselbe sich bewußt gewesen, daß die ihm speziell zur Last gelegte Handlung etwas Unrechtes in sich begreife, und dies haben sie dahin festgestellt, daß er sich im Besonderen der Strafbarkeit der inkriminierten Handlungen bewußt gewesen sei, daß er also die zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einsicht gehabt habe99 ". Die gleiche Ansicht findet sich im Erkenntnis vom 9. Oktober 1863100. Das Unterscheidungsvermögen wird verneint, weil der Angeklagte zwar das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit gehabt habe, sich aber der Strafbarkeit seiner Handlung nicht in dem Umfange bewußt gewesen sei, um ihn mit einer Strafe belegen zu können. bb) Die zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einsicht Dem Preußischen StGB von 1851 war keine lange Wirksamkeit beschieden. Die seit langem, vom Jahre 1860 an besonders durch den Deutschen Juristentag101 geförderten Bestrebungen zur Schaffung eines gemeinsamen deutschen Rechts, erhielten durch die Ereignisse des Jahres 1866, insbesondere die Gründung des Norddeutschen Bundes, neuen Auftrieb102. Der Entwurf des neuen Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund103 beruhte, wie es der Natur der politischen Verhältnisse entsprach, auf der Grundlage des preußischen Rechts, also des Strafgesetzbuches von 18511°4 • Trotz der schon erwähnten mannigfachen Widersprüche und Unklarheiten, zu denen das "discernement" im § 43 des PrStGB Anlaß gegeben hatte, hielt der Entwurf I am "Unterscheidungsver mögen" fest105. In den Motiven zu den §§ 50, 51 des Entwurfes I ist aufgeführt, es genüge zur Annahme des Unterscheidungsv~mögens nicht, wenn im allgemeinen der Täter Recht von Unrecht, Gutes vom Bösen, Erlaubtes von Unerlaubtem zu unterscheiden vermöge; vielmehr sei noch derjenige Grad der Verstandesentwicklu ng nötig, "welcher zur Vornahme jener Unterscheidung rücksichtlich der konkret begangenen Handlung oa Vgl. Ober-Tribunal Berlin, Erk. v. 26. 10. 1870, GA Bd. 18 (187(}), S. 848 f. 100 Vgl. Ober-Tribunal Berlin, Erk. v. 9. 10. 1863, in: Oppenhoff, Die Rechtsprechung des König!. Ober-Tribunals in Strafsachen, Bd. 4 (1864), S. 102. 101 Antrag v. Groß und v. Kräwel betr. Einführung einer gemeinsamen deutschen Strafgesetzgebung auf dem 1. Deut::;chen Juristentag: vgl. Verhandlungen, S. 58. 1°2 v. Bar, Handbuch, Bd. 1, S. 188 f. 103 Zur Entstehungsgeschichte vgl. auch: v. Wächter, Beitrag zur Geschichte und Kritik der Entwürfe eines StGB für den Norddeutschen Bund; Eb. Schmidt, Einführung, § 297 (S. 343 f.). 104 v. Bar, Handbuch, Bd. 1, S. 188; Motive I (1869), S. 1 f.; v . Wächter, Beitrag zur Geschichte usw., S. 10. lO$ §§ 50 51 d. Entwurfes I (1869).
2. Feuerbachs Theorie vom psychologischen Zwang
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und der sie als eine strafbare charakterisierenden Merkmale erforderlich ist" 106• Vor allem auf Drängen der Wissenschaft107 entschloß sich die vom Bundesrat eingesetzte Kommission, die mit der Überarbeitung des Entwurfes I beauftragt war, den Begriff des "Unterscheidungsvermögens" fallen zu lassen, und an seine Stelle die Worte: "die zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einsicht" zu setzen. Die Motive zum Entwurf II betonen ausdrücklich, daß dieser Wechsel des Ausdrucks keine materielle Änderung bezwecke; es sei lediglich die Absicht verfolgt worden, den verschiedener Auslegung fähigen und auch verschieden ausgelegten Begriff des Unterscheidungsvermögens durch eine eindeutige Umschreibung klarzustellen108• Gleichzeitig war man aber, wie die Motive hervorheben, auch bestrebt, durch die neue Formulierung von den im Preußischen StGB 1851 übernommenen Grundsätzen des französischen Rechts wieder abzurücken und Anschluß an die Lehren des gemeinen deutschen Strafrechts zu finden 109, "welches", wie es ohne irgendwelche näheren Angaben heißt, "gleichfalls die volle Zurechnung der That bei dem jugendlicher Verbrecher von dem ,plenus intellectus' 110 in Bezug auf die Strafbarkeit der That abhängig gemacht habe". 2. Feuerbachs Theorie vom psydlologlsdlen Zwang
Mit diesem vagen Hinweis auf die überlieferten Lehren des gemeinen deutschen Strafrechts ist das zweite, und zwar das entscheidende Element angesprochen, auf welches die gegenwärtige Regelung des § 828 II BGB zurückgeht. Für den Begriff des "discernement" war es, ebenso wie für das "Unterscheidungsvermögen" des StGB von 1851, stets umstritten, ob die Fähigkeit, das Unrecht der Tat zu erkennen, ausreichend sei oder ob darüber hinaus auch noch die Fähigkeit zur Erkenntnis der Strafbarkeit vorhanden sein müsse. Diese Zweifelsfrage wurde nun gelöst, indem man mit der "Einsicht in die Strafbarkeit" die Auslegung wählte, welche den "Lehren des gemeinen deutschen Strafrechts" entsprach. Motive I, s. 105. Vgl. v. Bar, Handbuch, Bd. 1, S. 190. 108 Motive II, S. 58; Olshausen, Kommentar zum StGB, 10. Aufl. 1916, §56, Anm.l. 108 Vgl. Motive II, S. 58; v. Bar, Handbuch, Bd. 1, S. 190. Ein Zugeständnis also an die Verfechter des "vaterländischen Rechts"; vgl. dazu v. Kräwel, Die französischen Elemente im Preußischen Strafgesetzbuch, in: GA Bd. 1 (1853), 101
107
s. 461.
110 Vgl. die ähnliche, auf Heigius zurückgehende Umschreibung der mangelnden Zurechnungsfähigkeit: " ... qui non plane intellectu carent, sed quibus obtusior et stupidior aliquando mens existit ...", zitiert bei Lubbers, Die Geschichte der Zurechnungsfähigkeit von Carpzov bis zur Gegenwart, S. 43.
3 Walbel
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1. Kap., II. Geschtl. Entwicklung der Verantwortlichkeitseinsicht
Freilich geben die Motive keinen näheren Aufschluß über die nähere Beschaffenheit der Lehren des gemeinen deutschen Strafrechts, an welche der Anschluß hergestellt werden sollte.
a) Die Lehre von der Zurechnungsfähigkeit im älteren gemeinen Strafrecht Das ältere gemeine Recht (letzte Vertreter: Engan, die beiden Meister, Koch und Quistorp) machte jedenfalls die Zurechnungsfähigkeit nicht von der Einsicht in die Strafbarkeit abhängig. Ebenso wie das französische Strafrecht des Ancien Regime, übernahmen auch die ältere gemeinrechtliche Doktrin und Praxis in der Frage der Strafbarkeit der Minderjährigen ganz die durch die italienische Rechtsschule und das kanonische Recht vermittelten Lehren der Römer111• Auffallend ist dabei, daß das gemeine Recht, beim Problem der Zurechnungsfähigkeit, im Gegensatz zu fast allen anderen Gebieten, im Verlauf seiner immerhin zweihundert Jahre umfassenden Entwicklung nennenswerte Fortschritte nicht zu verzeichnen hatm. Die Ansichten über die Fälle der Unzurechnungsfähigkeit sind am Ende dieser Entwicklung, also etwa bei Böhmer, Meister und Quistorp noch ziemlich dieselben, wie sie es etwa bei Clarus, Farinacius und Carpzov warenm. Erst unter dem Einfluß der Ideen der Aufklärung hat sich hier eine Wende angebahnt. Das ältere gemeine Recht hielt an der herkömmlichen Einteilung in dtei Altersgruppen, die "infantes" (bis zum 7. Lebensjahr), die "impuberes" (vom 7. bis zum 14. Lebensjahr) und die "minores" (vom 14. bis zum 25. Lebensjahr) fest. Die "infantes" wurden als nicht 1,doli capaces" angesehen114 und sollten deshalb von jeder Strafe verschont bleiben. "Die gesetzlichen Handlungen, die sie begehen, können ihnen nicht zugerechnet werden, da man bey ihnen nicht den richtigen Gebrauch des Verstandes und Willens und daher so wenig den Vorsatz als eine wirk.: liehe Nachlässigkeit zum voraus setzen kann116." 111 Vgl. zum ganzen: Lubbers, Die Geschichte der Zurechnungsfähigkeit, S. 43 ff.; Schaffstein, Die allgemeinen Lehren vom Verbrechen in ihrer Entwicldung durch die Wissenschaft des gemeinen Strafrechts, S. 98. 111 Schaffstein, a.a.O., S. 98; Lubbers, a.a.O., S. 4; Bekker, Theorie des heutigen Deutschen Strafrechts, 1857, S. 358. 111 Schaffstein, a.a.O., S. 98. uc Vgl. Carpzov, Practica, S. 143 n. 12; Böhmer, Meditationes Art. 179 § 2; Kreß, Commentatio Art.179 § 2. 111 Qutstorp, Grundsätze des teutschen peinlichen Rechts, 2. Aufl. § 50; vgl. Pufendorf, De offlcio Hominis et Civis, L. C. I § 25 ("... eorum qui rationes usu destituuntur actiones non imputantur").
2. Feuerbachs Theorie vom psychologischen Zwang
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Die "impuberes" unterschied man wie üblich nach "infantiae proximi" oder "pubertati proximi". Mit den Kindern, die "infantiae proximi" waren, "pflegte man nach dem Gerichtsgebrauch ebenso, als mit den eigentlichen Kindern zu verfahren", da man "bey solchen jungen Leuten eine genugsame Überlegung nicht zum Grunde setzen kann" 118• Anders bei den "impuberes pubertati proximi". Diese sind grundsätzlich "doli capax", jedoch ist (so Carpzov) ihr ,iudicium' noch "infirmius propter naturae infirmitatem, ut ita minor perversitas in hoc, quam in maiore appareat" 117• Für die Grenzziehung zwischen "impuberes infantiae proximi" und "impuberes pubertati proximi" hatte der Richter auf den Entwicklungsstand und die Einsicht des Jugendlichen abzustellen118• Nach der vielgebrauchten Formel der Carolina (Art. 164) war insbesondere darauf z\1 achten, ob "die bosheyt das alter erfüllen möcht" 119 • Der ältere Meister erläuterte diese Formel näher dahin, daß eine das Alter erfüllende Bosheit dann vorhanden sei, "wenn der Verbrecher nach seinem Alter im Stande gewesen sei, die missethat in ihren Folgen deutlich einzusehen und auch würklich eingesehen hat, dennoch aber die Bewegungsgründe, die ihn davon hätten abhalten können, muthwillig aus den Augen gesetzt. hat; imgleichen, wenn er das Verbrechen mit einer solchen Schlauigkeit und Arglist, die einen geübten Verstand und eine bedachtsame Überlung zum voraus setzt, ausgeführt hat" 120• Diese Umschreibung fand allgemeine Anerkennung121 • Die "minores" waren nach herrschender Auffassung in der Regel mit der "poena ordinaria" zu bestrafen122• Doch konnte der Richter in besonders gelagerten Fällen, so insbesondere, wenn "cum aetate magna stupiditas concurrit" (Kress) 123, oder die Grenze der "pubertas" nur wenig überschritten war, "die Minderjährigkeitbey Bestimmung der Strafe als eine Ursache der Milderung in Betracht ziehen" 124• So: Quistorp, Grundsätze, § 51; Böhmer, Meditationes, Art. 164, § 1. Carpzov, Practica, Q. 143 n. 23. 118 Vgl. Schaffstein, a.a.O., S. 100; mit Nachweisen; abweichend Kreß, der den festen Altersgrenzen der Glossatoren (Accursius) folgt; vgl. dazu: Lubbers, a.a.o., s. 50 f . m Kreß, Commentatio, Art. 164 § 1; Quistorp, Grundsätze, § 52; vgl. auch: Boldt, J. S. F . v. Böhmer, S. 506. uo Meister, Recht!. Erkenntnisse in peinlichen Fällen, III. Decisio, S. 20 n. 21. 121 Vgl. Quistorp, Grundsätze, § 51 (insbes. Anm. e); vgl. Lubbers, a.a.O., 118
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8.82.
m Carpzov, Practica, Q.
143, n. 68, n. 64. Commentatio, Art. 179 § 2 u. 3. 124 So Quistorp; Grundsätze,§ 52; vgl. Kreß, Commentatio, Art. 179 § 2 u. 3; Carpzov, Practica, Q.143 n. 59 ff. 123
a•
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1. Kap., li. Geschtl. Entwicklung der Verantwortlichkeitsein sicht b) Die "Einsicht in die Strafbarkeit" im älteren gemeinen Recht
Die Frage nach der Einsicht in die Strafbarkeit einer bestimmten Handlung spielt im älteren gemeinen Recht nur - und auch das ist umstritten - 125 beim "dolus" eine Rolle. Man ist sich darüber einig, daß das ältere gemeine Recht, ebenso wie schon das römische 126 und das italienische Recht, den Begriff des "dolus" nicht allein psychologisch als das Wollen einer Handlung oder eines Erfolges, sondern normativ als den bösen Willen, den "dolus malus", als "malitia" auffaßte127 • Böhmer beispielsweise definiert in den "Elementa" den "dolus" als das "propositum certurn aliquod delictum committendi"128 und bezeichnet als Bestandteile des Vorsatzes "scientia et voluntas aegre faciendi immo certurn aliquod delictum perpetrandi" 129 bzw. "voluntas per neglectam legum observantiam aegre faciendi" 130. Allerdings war es zunächst noch äußerst zweifelhaft, worauf sich die "mala fides" beim "dolus" bezogen haben muß. Den Umschreibungen des "dolus" läßt sich dazu nichts Genaues entnehmen. Einen gewissen Aufschluß in dieser Hinsicht vermag dagegen die Lehre vom Rechtsirrtum zu geben. So ist etwa für Böhmer131 eine "ignorantia iuris" in doppelter Weise denkbar. Es kann sich- vom Irrenden aus gesehen- einmal um die Frage handeln: "an factum in reatum incidat"?, wozu auch die zu rechnen sind, "qui, quantum in ipsis est, bona fide credunt, casum sub lege non contineri", und zum anderen die Frage: "quae poena immineat"? Beim Irrtum der ersten Art wird weiter unterschieden danach, ob es sich um "delicta legibus communibus comprehensa" oder um "delicta legibus positivis particularibus determinata" handelt1 32 , ob also das Verbot, dessen sich der Täter nicht bewußt ist, dem gemeinen oder lediglich dem positiven bzw. partikulären Recht angehört. Der "error generis poena" ist ohne Einfluß auf die Bestrafung 133 • Dem Einwand, daß der Täter vielleicht nicht gehandelt hätte, wenn er 125 Vgl. dazu: Binding, Normen, Bd. 3 §§ 152 ff.; Engelmann, Die Schuldlehre der Postglossatoren, S. 41 ff.; derselbe, in: Gerichtssaal, Bd. 86, S. 161 ff.; Liepmann, ZStW Bd. 38, S. 21 ff.; Bd. 39, S. 115 ff., 379 ff., 525 ff.; Schaffstein, a.a.O., S. 134 ff.; Boldt, a.a.O., S. 541. 12 6 Vgl. Osenbruggen, Die rechtswidrige Absicht, deren Objektivierung und Verwirklichung, S. 2. 127 Vgl. Lubbers, a.a.O., S. 6; Binding, Normen, Bd. 3, § 149 f .; Marezoll, Das gemeine deutsche Criminalrecht, § 26 (S. 71). 128 Eiementa S. I C li § 43; ähnlich: Meister, Principia (1798), § 21; "Dolus est proposi turn deliquendi". m Observationes 1 q. 18 P. I (S. 31 Sp. 1); Eiementa S. li C. 16 § 202. 130 Observationes 2 q 1 P. I (S. 1 Sp. 1). 131 Meditationes Art. 179 § 12 (S. 659). 132 Meditationes Art. 179 § 12 (S. 659); ebenso: Meister, Principia, § 119. m Vgl. Schaffstein, a.a.O., S. 144; Boldt, a.a.O., S. 556.
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gewußt hätte, wie schwer die Tat bestraft würde, hält Kreß13' entgegen, daß es genüge, wenn der Täter "propositum laedendi rei publicae in genere" gehabt habe, weil er nicht das "genus poenae", sondern "legis iussum" scheuen mußte135• Diese Ansicht von Kreß gibt die Meinung der gemeinrechtlichen Lehre wieder, welche die Kenntnis über die Art und Höhe der Bestrafung für den Vorsatz nicht erforderte, und deshalb auch dem Irrtum in der Frage "quae poena immineat" keine strafausschließenden Wirkung beimaß. Beim Irrtum über die Frage: "an factum in reatum indicat" lehrt das gemeine Recht, daß der Richter die Behauptung des Täters, er habe im "error iuris" gehandelt, regelmäßig nicht zu beachten brauche, soweit gemeinrechtliche Verbotsgesetze136 oder wie auch gesagt wird: "delictis iuris naturalis" 137, in Rede standen. Der Grund dafür ist, wie Meister sagt, daß bei Delikten, wie etwa der Sodomie, dem Inzest oder dem Glücksspiel "die Inquisiten solche Missetbaten begangen haben, welche wider die klärsten und allen Menschen bekannten Pflichten laufen, und deren Abscheulichkeit einem jeden, auch in der größten Unwissenheit der Positivgesetze aufgezogenen, in die Augen leuchtet" 138• Das erklärt sich aus der Überzeugung jener Zeit, das weltliche Gesetz, soweit es natürliches oder göttliches Recht zum Inhalt habe, sei durch die bloße Vernunft, ohne weitere Belehrung, für jedermann erkennbar139• Nach dieser Anschauung schloß demnach die Kenntnis des Verstoßes gegen das göttliche Recht zugleich das Bewußtsein der bürgerlichen Strafbarkeit mit ein. Dagegen verdient ein Irrtum, der sich auf partikuläre Verbotsgesetze, "delictis iuris mere positivus", bezieht, deshalb eher Beachtung, da "praeterea his saepe prohebitur, de quo ne somniando quidum quis cogitavit" 140• Auch die Strafgesetzgebung jener Zeit vertrat diesen Standpunkt. Der Kreittmayrsche Codex Juris Bavarici criminalis von 1751, der als erster 134 Commentatio Art. 177 Reg. I und II; vgl. BoZdt, a.a.O., S. 556; Schaffstein, a.a.O., S. 143. 135 Das war auch praktisch nicht möglich, weil die Strafe vielfach ins Ermessen des Richters gestellt war, der "mit Entdeckung aller Umstände bey den Rechtsverständigen und an den Orten und Enden Raths pflegen und sich darnach halten" sollte; vgl. Jarcke, Handbuch des gemeinen deutschen Strafrechts (1827), Bd. 1, S. 139; vgl. auch die Anmerkungen zur Vorrede des Codex Maximilianeus Bavaricus criminalis, S. 3. 138 "delicta legibus communibus comprehensa" vgl. Böhmer, Meditationes, Art. 179, § 12. 137 Meister, Principia, § 119. 138 Meister, Recht!. Erkenntnisse V. Dec. S. 16 u. 12; ebenso: Quistorp, Grundsätze, § 47; vgl. auch Jarcke, Handbuch des gemeinen deutschen Rechts, Bd. 1, S.159. 131 So: Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis, Erster Teil, 2. Kapitel § 4; vgl. auch Jarcke, Handbuch, Bd. 1, S. 139 f. 140 Böhmer, Meditationes, Art. 179 §XII.
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in der Reihe der deutschen Strafgesetzgebungswerke Stellung zum Problem des Rechtsirrtums nimmt, sagt in§ 31 141 : "Es ist aber hierzu (gemeint ist: "die Unwissenheit in Sachen, welche von Rechts wegen zu ignorieren erlaubt ist") nicht nötig, die besondere Gattung derselben Straff zu erkennen, sondern es ist genug, daß die innerliche Boß- und Straffmäßigkeit der Tat nicht unbekannt seye, oder seyn könne 142." Die Anmerkungen143 führen dazu kurz aus, die "ignorantia iuris" könne "in Sachen, welche iure naturae verbothen seyen" niemals, im übrigen aber nur von jenen vorgeschützt werden, "quibus ius ignorare licet". Als Gewährsmann für die Ansicht wird Kreß 144 ausdrücklich genannt und daneben auf die Anmerkungen Kreittmayrs über den Codicem Maximilianeum Bavaricus Civilem verwiesen, wo ausgeführt ist: "Der Wille muß frei und der Verstand so reif sein, daß man den Befehl des Gesetzgebers erkennen und begreifen kann14 5 ."
Im weiteren Verlauf der Entwicklung des älteren gemeinen Rechts wurde der Strafvorschrift eine immer größere Bedeutung zugemessen. Das beruht auf der geschichtlichen Entwicklung des Strafrechts und dem Zustand der Strafrechtspflege im 18. Jahrhundert in Deutschland. Die von der Aufklärung beeinflußten Kriminalisten bemühten sich nicht mehr, wie es etwa J. S. F. Böhmerund Chr. Fr. G. Meister getan hatten, aus dem als veraltet und barbarisch angesehenen positiven Gesetzesrecht141 das herauszulesen, was dem Geist der Zeit entsprach, was Naturrecht und Aufklärung forderten. Das Naturrecht wird vielmehr selbst zur Quelle, aus welcher man rechtliche Erkenntnisse unmittelbar sehöpftem. Das hatte aber andererseits zur Folge eine schrankenlose richterliche Freiheit, eine Unsicherheit der praktischen Rechtsanwendung bis über die Grenze der Willkür hinaus, die den Ruf nach einer neuen 141 Codex Th. I Cap. 1; vgl. dazu: v. Hippel, Dt. Strafrecht, Bd. 1, S. 257; Binding, Normen, Bd. 3, § 183 (S. 248). 141 In der Theresiana von 1768 heißt es, daß "in Sachen, die eine innerliche
Bosheit und Strafmäßigkeit auf sich tragen" kein Bedacht darauf zu nehmen sei, ob der Täter das eigentliche Gesetz, "welches eine gewisse Strafe ausrnesset gewußt habe, oder nicht; genug, daß ihm die Unzulässigkeit der Tat nicht unbekannt sein könne" (Art. XI § 9). 143 Anmerkungen über den Codicem Juris Bavarici Criminalis (anonym erschienen, Verfasser ist Kreittmayr; vgl. v. Hippel, Dt. Strafrecht, Bd. 1, S. 257, Fußn. 2) zu Theil I Cap. 1 § 31. 14 ' Commentatio Art. 177 Reg. I (S. 649). 145 W. X. A. Frh. v. Kreittmayr, Anmerkungen über den Codicem Maximllianeus Bavaricum Civilem, Theil I, Cap. 1 § 5. 141 Vgl. Feuerbach, Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs zu einem peinlichen Gesetzbuch für die kurpfalzbaierischen Staaten, Vorwort VII/IX: Die bestehenden Gesetze sind "durch Barbarey empörend, durch Unbestimmtheit verwirrend, durch Alter entnervt, durch den Geist der Zeit verspottet". 147 Vgl. Eb. Schmidt, Einführung, §§ 215, 216 (S. 222 ff.); R. v. Hippel, Dt. Strafrecht, Bd. 1, § 17 (S. 286).
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positiven Gesetzgebung, nach festumrissenen, den Richter eng in seine Schranken weisenden Vorschriften, laut werden ließ 148 • Von dieser zwiespältigen Lage her ist es zu verstehen, wenn von der Wissenschaft das Strafgesetz, die Kenntnis der Strafvorschriften, freilich nicht der alten, überlebten, sondern der neuen, im Sinne der Aufklärung und des Natur;. rechts reformierten, die zu schaffen man sich anschickte, in den Mittel· punktder Betrachtung gestellt wird1". Für das ,;delictum" ist nunmehr stets erforderlich eine "lex poenalis", d. h. eine "lex civilis, quae factum aliquod sub poena prohibet, aut praecipit", und "sine sanctione poemili omni delictum in statu civili non intelligetur" 15o. Deshalb vertritt Quistorp im Jahre 1776, also am Ausgang der älteren gemeinrechtlichen Periode, die Meinung, "daß die Strafe, welche das Gesetz auf ein begangenes Verbrechen anordnet, anwendlieh werde", sei erforderlich, daß "der Urheber derselben deutliche Begriffe von der nachhin begangenen Missethat gehabt habe und solche mit Vorsatz vollbracht habe" 151 • Der Verbrecher muß demnach "die Missethat vorher als eine unerlaubte und strafwürdige" erkannt haben151 • Wie die sich anschließenden Ausführungen zur Irrtumslehre153 ergeben, meint Quistorp mit den Worten "unerlaubt und strafwürdig" die Strafbarkeit der Tat nach dem positiven Gesetz. Die Erkenntnis der Strafgesetzwidrigkeit, der Strafbarkeit der Handlung ist also ein Bestandteil des "dolus". Für den heutigen Betrachter ist es erstaunlich, daß Quistorp, genau wie die anderen Kriminalisten des älteren gemeinen Rechts, aus seinen Anschauungen über die Begriffe des Vorsatzes und der Zurechnung der Verbrechen im allgemeinen, keine Folgerungen für dieLehre von der Zurechnungsfähigkeit bei Minderjährigen gezogen hat und in diesem Bereich ganz den überlieferten Ansichten des älteren Rechts verhaftet geblieben ist154 • Wenn Quistorp erklärt, "die Verbrechen (delicta), das sind: diejenigen freyen Handlungen, welche nicht allein dem positiven 148 Vgl. Eb. Schmidt, Einführung§ 216 (S. 225); Grilnhut, Anselm v. Feuerbach, S. 166; R.v. Hippel, Dt. Strafrecht, Bd. 1, § 16 (S. 258). 14' Vgl. Geib, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, Bd. 1, S. 331m. w. Nachw.; Binding, Normen, Bd. 3, S. 104; Grünhut, Anselm v. Feuerbach, S. 11 f. 150 So: Meister, Principia, § 19; vgl. auch Steltzer, Lehrbuch des teutschen Criminalrechts (1793), § 130; Kleinschrod, Systematische Entwicklung, Teil I § 4 (m. w. Nachweisen aus der älteren Lehre); Binding, Normen, Bd. 3, § 156 (S.l04). m Quistorp, Grundsätze, S. 34. m Quistorp, Grundsätze, § 47; vgl. auch Koelte, Grundsätze des gemeinen deutschen und preußischen Criminalrechts (1797), § 13; ähnlich: Klein, Grundsätze des gemeinen deutschen und preußischen Rechts (1796), § 122; vgl. auch Binding, Normen, Bd. 3, § 154 (S. 87), Fußn. 24. 163 Quistorp,Grundsätze, Theil I,§§ 47, 48. 164 Ebenso wie z. B. Koelle, a.a.O., §§ 3, 19; Klein, a.a.O., §§ 120, 132.
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Gesetz zuwider, sondern auch zugleich straffällig sind" 155 , hatten "entweder in dem Vorsatz oder in der Nachlässigkeit ihren Grund" 158 und für die Bestrafung des Verbrechens vorausgesetzt, daß "der Urheber desselben deutliche Begriffe von der begangenen Missethat" 157 gehabt haben müsse, indem er sie "als eine unerlaubte und strafwürdige Handlung erkannt habe"1 58 , so wäre es wohl naheliegend gewesen, wenigstens bei der Strafmündigkeit der "impuberes pubertati proximi" die Frage nach der "doli capacitas" dahin zu stellen, ob der Unmündige "seine Handlung als eine unerlaubte und strafwürdige erkannt habe oder doch erkennen konnte". Diesen Schritt haben Kriminalisten der älteren gemeinrechtlichen Schule am Ausgang des 18. Jahrhunderts noch nicht vollzogen151. c) Die "Einsicht in die Strafbarkeit" als Bestandteil der Zurechnungsfähigkeit bei Kleinschrod Die Lehre des älteren gemeinen Rechts, wonach das Bewußtsein der Strafbarkeit zum "dolus" gehöre, wird von Kleinschrod aufgenommen und ausgebaut. Kleinschrod selbst steht völlig im Banne der Ideen des Naturrechts und der Aufklärung180• Deutlich ist bei ihm bereits der Einfluß Kants bemerkbar. Sein Werk stellt den Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert her und bahnt in vielen Teilen Feuerbach den Weg. Der Dolus ist, wie Kleinschrod in der im Jahre 1799 erschienenen zweiten Auflage 181 seiner "Systematischen Entwicklung" sagt, "der Entschluß zu einer Handlung, deren Gesetzwidrigkeit man vollkommen und deutlich einsieht" 182 • Ja, "das Bewußtsein, daß die Handlung "gesetzwidrig und strafbar sey", macht "das Hauptkennzeichen des "dolus" aus" 163 • Dem Strafgesetz wird damit, wie später bei Feuerbach, eine zentrale Rolle zugewiesen. Kleinschrod versucht im Anschluß an Gedanken m Grundsätze, Theil I § 25. 151 Grundsätze, Theil I § 25. 157 Grundsätze, Theil I § 34. 1sa Grundsätze, Theil I§ 47. 15t Vgl. Lubbers, Geschichte,§ 77 f. 1" Das läßt sich bereits dem Titel seines Lehrbuches entnehmen: Systematische Entwicklung der Grundbegriffe und Grundwahrheiten des peinlichen Rechts nach der Natur der Sache und der positiven Gesetzgebung; vgl. auch: Eb. Schmidt, Einführung, § 216 (S. 224). 1e1 Systematische Entwicklung, § 11. 111 Systematische Entwicklung, I. Theil, 2. Kap. § 14; vgl. auch Kleinschrod, Entwurf eines peinlichen Gesetzbuches für die kurpfalzbaierischen Staaten, § 25. ns Systematische Entwicklung, a.a.O., § 15 ff. (insbesondere S. 37); auch Grü.nhut, Anselm v. Feuerbach, S. 153 f.
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Kants164 von einem systematischen Ausgangspunkt her seine Ansichten zu begründen: "Der Verbrecher sucht eine Befriedigung seiner Sinnlichkeit, dies ist sein Endzweck. Er sieht, daß ihm zur Erreichung dieses Endzwecks ein Strafgesetz im Wege stehe. Aber er achtet dessen Drohung nicht, sein böser Wille behält die Oberhand." Die Überschreitung des Strafgesetzes ist nach Ansicht Kleinschrods ein Mittel, das der Verbrecher absichtlich wählt, um sich Nutzen oder Vergnügen zu verschaffen165 • Aus seinem scharf umrissenen Begriff des Dolus zieht Kleinschrod nun die Folgerungen für die Lehre von der Zurechnung. Den Grund aller Zurechnung erblickt er "in der Eigenschaft der Handlung, daß si~ nicht nur mit Freyheit unternommen ward, sondern auch einem Gesetz widerstrebte, und in dem "dolus" oder der "culpa" ihres Urhebers gegründet ist" 166• Deshalb kommt es bei der "Beurteilung freyer Handlungen" vor allem auf die Einsicht des Handelnden an107, die "sowohl auf die Handlung selbst, als auch auf ihre Folgen geht" 188• Das Maß der Einsicht hängt ab von der Art des Verbotes. "Das natürlich Unerlaubte kann und muß von jedem gesunden Menschenversta nd dafür erkannt werden189.'' "Gewöhnliche Einsicht" muß jeden lehren, daß eine solche Tat nicht nur an sich verboten ist, sondern auch von den positiven Gesetzen bestraft werde. Die Strafbarkeit von "Verbrechen des positiven Rechts" hingegen, also von Taten, "die nach der Natur der Sache erlaubt", aber "nach positiven Grundsätzen" zu den Verbrechen gezählt werden, ist nicht so einleuchtend, vielmehr "wird Belehrung vorausgesetzt, um die Kenntniß dieser Strafbarkeit zu erlangen" 170• Wo keine Kenntnis des Strafverbotes vorhanden ist, fehlt es am "dolus" und mithin auch an der Möglichkeit der Zurechnung171• Diese grundsätzlichen Erkenntnisse über die Zurechnungsleh re gewinnt Kleinschrod nicht aus der "positiven Gesetzgebung", sondern aus der "Natur der Sache". Das bedeutet für ihn, daß sie schlechthin gültig sind, weil aus ihnen ein allgemeines Prinzip spricht. Folgerichtig sucht 184 KleinschTod verweist ausdrücklich auf Kant, Die Metaphysik 1. Theil, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre.
der Sitten,
&s Systematische Entwicklung, a.a.O., § 14 (S. 37). Systematische Entwicklung, a.a.O., § 46; vgl. auch Entwurf eines peinlichen Gesetzbuches für die kurpfalzbaierischen Staaten, § 28. 187 Systematische Entwicklung, a.a.O., S. 48. 1&B Systematische Entwicklung, a.a.O., § 49. 188 Entwurf eines peinlichen Gesetzbuches usw., § 277; vgl. GTünhut, Anselm v. Feuerbach, S. 158. 170 Systematische Entwicklung, a.a.O., § 49. 171 Systematische Entwicklung, a.a.O., §§ 122, 133. 1
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Kleinschrod deshalb das Problem der Zurechnungsfähigkeit der Kinder und Minderjährigen ebenfalls von diesem Ansatzpunkt her zu lösen, weil auch für die Unmündigen "die allgemeinen Wahrheiten des natürlichen Rechts" von der Fähigkeit und Unfähigkeit des Menschen gelten, seinen moralischen, genauer gesagt: gesetzlichen Verbindlichkeiten, nachzukommen. Diese Fähigkeit hängt aber zugleich weniger von den durch die positiven Gesetze ·bestimmten Altersgrenzen als vielmehr "von dem Umfang der Kenntnisse und den Graden der Aufklärung" des einzelnen Minderjährigen abm. Da Voraussetzung der Zurechnung Einsicht in die Strafbarkeit der Handlung ist 173 , muß der Richter im Verfahren gegen Minderjährige "bey natürlich unerlaubten Handlungen" darauf sehen, "ob die Stimme der Natur stark genug war, um einen hinlänglichen Abrathungsgrund zu geben" 174 und "bey positiven Verbrechen" dahin sein Augenmerk richten, "ob das Verbot dem Verbrecher deutlich genug war". Erst wenn diese Fragen bejaht sind, ist "Wahre Zurechnung" überhaupt möglich175 • In seinem Entwurf eines peinlichen Gesetzbuches für die kurpfalzbaierischen Staaten171 bringt Kleinschrod dies auf die Formel: "Wenn der Verbrecher über sieben Jahre alt, aber noch unmündig ist: so soll der Richter vor allem sehen, ob er die dazugehörige Kenntniß habe, daß er die Strafbarkeit der begangenen Tat, ehe er sie beging, hätte einsehen können." Mit dieser Lehre, die dem Strafgesetz eine zentrale Bedeutung zuwies, wurde Kleinschrod zum Wegbereiter Feuerbachs. d) Die "Einsicht in die Strafbarkeit" als Bestandteil der Zurechnungsfähigkeit bei Feuerbach Als echter Aufklärer und Naturrechtler177 suchte Feuerbach, wie auch schon Kleinschrod, die Grundbegriffe des Strafrechts als einzig denkmögliche, aus endgültigen Einsichten in das Wesen menschlicher Vernunft zu gewinnen und diese Begriffe ganz ohne jede Verwendung des m Systematische Entwicklung, a.a.O., § 79; ähnlich: Ernst Karl Wieland, Geist der peinlichen Gesetze, Theil I § 270 (S. 358 f.). 173 Systematische Entwicklung, a.a.O., §§ 80, 82. 114 Diesen "Abrathungsgrund" erblickt Kleinschrod .i n der festgegründeten Kenntnis von Recht und Unrecht, dem Bewußtsein der Strafbarkeit der Handlung" (a.a.O., § 82). 175 Ahnlieh auch v. Grolman, "über die Begriffe von Dolus und Culpa", in: Bibliothek für die peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzeskunde, Bd. 1 Theil1, Stück 1, S. 37. 178 München 1802, § 217. 177 Vgl. Eb. Schmidt, Einführung,§ 227 (S. 237).
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vorhandenen positiven Rechts nach freien philosophischen Gesichtspunkten herauszuarbeiten178• Zweck des Staates ist nach der von Kant übernommenen Auffassung Feuerbachsm die Errichtung und Sicherung eines der Forderung der praktischen Vernunft entsprechenden Zustandes WechselseitigerFreiheit unter allgemeinen Gesetzen180, oder, wie Feuerbach es in seinem Lehrbuch ausdrückt: Sein (d. i. des Staates) Zweck ist die Errichtung des rechtlichen Zustandes, d. h. das Zusammenleben der Menschen nach den Gesetzen des Rechts181• Aus diesem Zwecke ergeben sich das Recht und die Pflicht des Staates, zu strafen. Da Verletzungen von Recht und Freiheit im Widerspruch zum Zweck des Staates stehen, "ist es schlechthin notwendig, daß im Staate gar keine Rechtsverletzungen geschehen" 182• Damit erwächst dem Staat die wesentliche Aufgabe, ein Mittel ausfindig zu machen, durch welches alle Verbrechen überhaupt verhütet werden183 • Der Staat kann dieses Ziel nach Meinung Feuerbachs auf zwei Wegen zu erreichen suchen: durch physische oder durch psychische Einwirkung auf den Täter1B4. Die Anwendung physischen Zwanges, ganz gleich ob präventiver oder repressiver Art, scheitert schon aus praktischen Gründen; denn jeder Mensch kann einmal zum Rechtsbrecher werden, aber der "Staat kann doch nicht etwa die Bürger an Ketten legen, um sie dadurch als rechtliche Bürger zu besitzen"tss. Dem Staat bleibt deshalb, um den notwendigen Erfolg zu erreichen, .nur das Mittel, alle möglichen Täter durch psychologische Beeinflussung von vornherein von ihrer Tat abzuhalten. So gelangt Feuerbach zu seiner berühmten Theorie vom psychologischen Zwang. Der Mensch, der den Forderungen der Vernunft streng Folge leistet, kann niemals gegen ein Gesetz verstoßen. Der verbrecherische.Entschluß beruht deshalb allein auf der Wirkung der - wie man damals sagte Sinnlichkeit188• "Ein Bedürfnis und die Unlust darüber, daß das Bedürfnis 178 Vgl. Eb. Schmidt, Einführung, § 227 (S. 237). Auf der anderen Seite war Feuerbach jedoch der Ansicht, seine so gewonnenen Ansichten stünden im Einklang mit dem positiven Recht. 171 Vgl. dazu v. Hippel, Dt. Strafrecht, Bd. 1 § 17 (S. 288 ff., 293 f .); Henke, Grundriß einer Geschichte des deutschen peinlichen Rechts, 2. Teil, S. 357 ff. 18 0 Revision, Bd. 1, S. 39. 181 FeueTbach, Lehrbuch des gemeinen, in Deutschland gültigen Rechts. 1. Auf!. §§ 8, 15, 17; Revision, Bd. 1, S. 26; vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, AlL A. Bd. 6, S. 230. 182 Lehrbuch, § 9; Revision, Bd. 1, S. 39. 18' Lehrbuch,§ 9; Revision, Bd. 1, S. 40. 184 Lehrbuch, § 10. 185 Revision, Bd. 1, S. 40. 18e Revision, Bd. 1, S. 43.
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noch unbefriedigt ist, treiben zur Tat187.'' Der Staat muß nun versuchen, "durch die Sinnlichkeit selbst auf die Sinnlichkeit zu wirken und die Neigung durch entgegengesetz te Neigung, die sinnliche Triebfeder zur Tat durch eine andere sinnliche Triebfeder aufzuheben" 188. Das Mittel, den sinnlichen Antrieb zur Handlung aufzuheben, bildet die Strafdrohung, durch die dem zum Verbrechen entschlossenen Menschen vor Augen gestellt wird, auf seine Tat werde unausbleiblich ein Übel folgen, welches größer ist, als die Unlust, die aus dem nicht befriedigten Antrieb zur Tat entspringt189. Die Androhung der Strafe erfolgt durch das Gesetz190. "Das Gesetz ist allgemein und nothwendig: es spricht zu allen Bürgern, droht jedem, der sich des Verbrechens schuldig macht, die Strafe, und stellt diese Strafe, eben weil es ein Gesetz ist, als eine rechtlich-nothwendig e Folge des Verbrechens dar191 ." Die Theorie vom psychologischen Zwang dient Feuerbach- und daran ist ihm ganz besonders gelegen192 - als Grundlage für eine rechtsstaatlich gesicherte Lehre von der strafrechtlichen Zurechnung, oder wie er sagt, von den "subjektiven Gründen der Strafbarkeit" 193. Für Feuerbach sind die "subjektiven Gründe der Strafbarkeit" ausschließlich durch die Natur des Strafgesetzes bestimmt. Es können nur Umstände sein, die das Strafgesetz seinem Wesen nach "in der Person, welche es mit Strafe bedroht, Lehrbuch, § 13. Revision, Bd. 1, S. 39, 43. 189 Vorausgesetzt wird damit- und hier zeigt sich der ganze rationalistische Optimismus des Aufklärers Feuerbach - ein Menschentypus, der jederzeit in der Lage ist, mit kühl rechnender Vernunft das Für und Wider der Tat abzuwägen (vgl. auch Eb. Schmidt, Einführung, § 229 (S. 238)). Da nach der Theorie vom psychologischen Zwang der wesentliche Zweck des Strafgesetzes ist, "mittels Einwirkung auf das Begehrungsverm ögen Rechtsverletzung en zu verhindern" (Feuerbach, Lehrbuch, 11. Aufl. 1832, § 84), alle Strafbarkeit demnach bedingt ist, "durch eine Gesetzwidrigkeit des Willens als Ursache des Verbrechens" (Feuerbach, Lehrbuch, a.a.O., § 88; ebenso Bauer, Lehrbuch, § 126), so ist die Zurechnungsfähi gkeit auch ausgeschlossen "durch das Daseyn eines Zustandes der Person, in welchem für sie die Möglichkeit aufgehoben war, entweder überhaupt nach Willkühr zu handeln oder ihre Willkühr den Strafgesetzen gemäß zu bestimmen" (Feuerbach, Lehrbuch, § 88; ebenso: Marezoll, Criminalrecht, § 25; Bauer, Lehrbuch,§ 127). Neben das intellektuelle Moment: das Bewußtsein der Strafbarkeit, in der Form der Kenntnis des Strafgesetzes, tritt ein voluntatives Element: die Fähigkeit, der gewonnenen Erkenntnis gemäß zu handeln. Mie Möglichkeit, sich dem einmal erkannten Strafgesetz gemäß zu verhalten, konnte nach den Vorstellungen Feuerbachs aber nur in den Fällen äußerster Not oder äußeren Zwanges aufgehoben sein (Feuerbach, Lehrbuch, § 91; Bauer, Lehrbuch, § 129). Ein "Hemmungsverm ögen" im heutigen Sinn ist mit der voluntativen Komponente der Zurechnungsfähi gkeit nicht gemeint. uo Revision, Bd. 1, S. 48. m Revision, Bd. 1, S. 49; Anti-Hobbes, S. 213 ff.; Lehrbuch,§ 73. m Vgl. Eb . Schmidt, Einführung,§ 234 (S. 244). 1es Vgl. Revision, Bd. 2, S. 37. 187
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nothwendig voraussetzen muß" 194. Da Zweck des Strafgesetzes und "der in demselben enthaltenen Drohung Abschreckung von der mit dem Übel bedingten That" ist195, kann "jedes vorhandene Strafgesetz nur für den Fall gegeben seyn, wo es als Strafgesetz wirksam seyn kann, wo die physische Möglichkeit seiner Wirksamkeit zur Verhinderung der That begründet ist" 196. Aus dieser Erkenntnis leitet Feuerbach ein doppeltes ab1t7: "1. positiv: Diejenigen Eigenschaften der Person, als Ursache der strafbaren Handlung, durch welche die physische Möglichkeit der Wirksamkeit des Strafgesetzes begründet ist, sind die ausschließenden Bedingungen der Möglichkeit der Zufügung einer Strafe, und: 2. negativ: Diejenigen Eigenschaften der Person, durch welche die physische Unmöglichkeit der Wirksamkeit des Strafgesetzes begründet ist, sind die Gründe der Unmöglichkeit der Zufügung einer Strafe." Damit identifiziert Feuerbach die Zurechnungsfäh igkeit mit der Abschreckbarkeit durch die Strafdrohung. Strafbarkeit ist nach seiner Ansicht nur möglich, wo ein Abschreckungse ffekt überhaupt erwartet werden kann. Daher setzt "jedes Gesetz und jede Strafe als Bedingung in der Person des Handelnden voraus" 198, einmal das Bewußtsein und die Kenntnis des Strafgesetzes, also das Bewußtsein der Strafbarkeit, und zum anderen die Möglichkeit des Einflusses der Vorstellung von der Strafbarkeit auf die Unterlassung der Tat189. Zum Bewußtsein der Strafbarkeit gehört "die Vorstellung des Strafgesetzes in dem Momente der Willensbestimm ung und die richtige Subsumtion der Handlung unter das Gesetz" 200. Deshalb schließt jeder "unverschuldet e Gemüthszustan d" 201, welcher das Bewußtsein der Strafbarkeit der Tat unmöglich macht, die Zurechnungsfäh igkeit aus2°2. 194 Revision, Bd. 2, S. 37. 195 Revision, Bd. 1, S. 49. 198 Revision, Bd. 2, S. 40; Lehrbuch, § 84; vgl. auch Klein, Grundsätze des gemeinen deutschen und preußischen peinlichen Rechts, § 129. 197 Revision, Bd. 2, S. 41 f.; Lehrbuch, 1. Aufl. § 92. 188 Revision, Bd. 2, S. 43; in seinem Lehrbuch spricht Feuerbach von den Bedingungen der lmputativität (1. Aufl. § 93); in späteren Auflagen von der Zurechnungsfähigkeit. 199 Lehrbuch, 1. Aufl. § 93; Revision, Bd. 2, S. 43 ff. 100 Lehrbuch, 1. Aufl. § 93. 101 Feuerbach begnügt sich also im Widerspruch zu seiner Theorie vom psychologischen Zwang - mit der bloßen Möglichkeit des Bewußtseins der Strafbarkeit und verlangt nicht, daß der Täter die Handlung wirklich unter das Strafgesetz subsummiert hat; vgl. Feuerbach, Lehrbuch, 11. Aufl. § 90; Oetker, Kleinschrod und Feuerbach in ihren strafrechtlichen Grundanschauungen, S. 345; Binding, Normen, Bd. 3 § 156 (S.106). 201 Lehrbuch, 1. Aufl. § 96; vgl. auch Grünhut, A. v. Feuerbach, S. 204; Lubbers, Geschichte, S. 124.
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1. Kap., II. Geschtl. Entwicklung der Verantwortlichkeitseinsicht
Feuerbach kommt also auf Grund seiner Theorie vom psychologischen Zwang für die Frage der Zurechnungsfähigkeit zum selben Ergebnis wie Kleinschrod. Diese Übereinstimmung drückt sich auch in seinem Lehr• buch des peinlichen Rechts aus, wo Feuerbach darauf verzichtet, die Lehre von der Strafbarkeit der Unmündigen selbst zu entwickeln und abzuhan• deln und stattdessen, bei der Darlegung dieses "Grundes absoluter Strafbarkeit" kurzerhand auf die entsprechenden Ausführungen Kleinschrods in dessen "Systematischer Entwicklung", Theil I§ 85 verweist203 • Das Verdienst Feuerbachs bleibt es jedoch, mit seinem geschlossenen System des psychologischen Zwanges Kleinschrods Lehre von der Einsicht in die Strafbarkeit als dem wesentlichen Element der Zurechnungsfähigkeit der Unmündigen näher begründet und ihr durch seine Autorität zum Durchbruch verholfen zu haben. e) Der Einfluß Feuerbachs auf die Lehre von der Zurechnungsfähigkeit im jüngeren gemeinen Strafrecht
Trotz ihrer bald gerügten Einseitigkeit erlangten Feuerbachs Theorie und Ansichten, sicher auch wegen der Schärfe und der überlegenen Meisterschaft, mit der sie ihr Urheber zu vertreten wußte204 , zu einer wahren Alleinherrschaft205 in Deutschland. Feuerbachs strafrechtliche Anschauungen genossen bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein206 "eine ebenso zweifellose und fast unangetastete Autorität, wie man sie während des 17. Jahrhunderts den Ansichten Carpzovs eingeräumt hatte" 207 , und noch im Jahre 1868 bezeichnet Berner ihn als den "Kant der Strafrechtswissenschaften" und als deren "erstes und glänzendstes Licht" 208 • Zur weiteren Stärkung seines Ansehens trug die maßgebliche Rolle bei, die er an der Abfassung des bayerischen Strafgesetz-" buches von 1813 hatte. Dieses Gesetzbuch, ausgezeichnet durch eine streng systematische Ordnung und durch die Schärfe der darin aufgestellten Begriffe209 , ist in allen Teilen von Feuerbachs Geist geprägt210 und hat Lehrbuch, 1. Aufl. § 96 Anm. X; ebenso: 3. Aufl. § 88 Anm. a). Vgl. Geib, Lehrbuch des Dt. Strafrechts, Bd. 1, S. 319. 2o5 Vgt Geib, Lehrbuch, S. 319. 201 Vgl. Eb. Schmidt, Einführung, § 234 (S. 245); A. F. Berner, Lehrbuch des Dt. Strafrechts, 1. Aufl. § 55 (S. 71); Binding, Normen, Bd. III, S. 184 ff. (Exkurs III). 201 Geib, Lehrbuch, S. 319; vgl. auch KöstZin, Neue Revision, Vorerinnerung~ s. 2ff. zos A. F. Berner, Lehrbuch des Dt. Strafrechts, 4. Aufl., S. 73. 20t R. v. Hippel, Dt. Strafrecht, Bd. 1, S. 300. 210 Vgl. Liszt-Schmidt, Lehrbuch des Dt. Strafrechts, 23. Aufl. § 12 (S. 53); Eb. Schmidt, Einführung, § 248 (S. 263); Berner, Strafgesetzgebung, Bd. 1, S. 91; Fischl, Der Einfluß der Aufklärungsphilosophie, S. 216. 20 3
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2. Feuerbachs Theorie vom psychologischen Zwang
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in der partikularen Strafgesetzgebung Deutschlands im 19. Jahrhundert, im Wettstreit mit dem französischen Code Penal, vielfach als Vorbild gedient211 • Die beherrschende Stellung Feuerbachs spiegelt sich in der strafrechtlichen Literatur des 19. Jahrhunderts wider. Gerade seine Lehre von der Zurechnung, die sich zwingend aus der Theorie vom psychologischen Zwang ergibt, wird von den meisten Kriminalisten jener Zeit übernommen212. Allerdings mehrten sich im Laufe der Zeit die Stimmen, welche die Meinung, zum Vorsatz und damit zur Zurechnung sei die Kenntnis des positiven Strafgesetzes erforderlich, als zu weitgehend bemängelten und sich um eine gemäßigtere Linie bemühten. Selbst als, etwa vom Jahre 1840 an, der Einfluß der Hegeischen Philosophie die Wirkung des Werkes von Feuerbach etwas zurückdrängte, bleiben noch die Lehren von Zurechnung und Dolus unangetastet213 •. Mit großem Nachdruck vertrat Hegels schwäbischer Landsmann Ch. R. Köstlin die Meinung, daß der Übertreter eines Strafgesetzes, um verbrecherische Schuld auf sich zu laden, keineswegs das spezielle Gesetz gekannt haben müsse. Erforderlich sei lediglich, daß er "auf diejenige Stufe der Bildung vorgerückt sei, auf welcher das Bewußtsein entsteht. daß das objektiv Sittliche überhaupt in einem Kreis von objektiven Institutionen und Gesetzen sich fixiert habe, daß hiermit eine Entgegensetzung dagegen nicht bloß einen beschränkten subjektiven Pflichtenkreis, sondern einen Kreis objektiver, d. h. nöthigenfalls mit Zwang zu realisierender Verbindlichkeiten verletzte" 214 • Den Grund dafür sieht Köstlin darin, daß das "gesetzte Recht" nur von einem Willen verletzt werden kann, "für welchen es als solches da ist" 215 • Was darunter zu verstehen ist, sagt Haeberlin218 etwas deutlicher: Die mangelnde Kenntnis 111 Vgl. dazu Grünhut, A. v. Feuerbach, S. 178; Fischl, Der Einfluß der Aufklärungsphilosophie, S. 218, Fußn. 3; Liszt-Schmidt, Lehrbuch, 23. Auf!. § 12 (S. 56); R. v. Hippel, Dt. Strafrecht, Bd.1 § 17 (S. 300). nz Vgl. etwa: Bauer, Lehrbuch des Strafrechts, 1833, § 125 (S. 181); § 126 (S ..183), § 128 (S. 185 f.); D. Martin, Lehrbuch des Teutschen gemeinen CriminalRechts, 1825, § 30 (S. 62 f.); aber auch: C. A. Tittmann, Handbuch der Strafrechtswissenschaft und der deutschen Strafgesetzkunde, 2. Auf!. 1822, Bd. 1 § 83 (S. 158); Henke, Handbuch des Criminalrechts und der Criminalpolitik, 1. Teil, 1823, § 47 (S. 305); Marezoll, Das gemeine deutsche Criminalrecht als Grundlage der neueren deutschen Strafgesetzgebungen, 1841, § 25 (S. 69), § 27 (S. 75); Roßhirt, Lehrbuch des Criminalrechts nach den Quellen des gemeinen deutschen Rechts, 1821, § 16 (S. 36, Fußn. 3), §§ 23, 24 (S. 50 f.). 111 Vgl. Köstlin, Neue Revision der Grundbegriffe des Criminalrechts, § 107 (S. 255). '" Köstlin, Neue Revision,§ 179 (S. 668). 115 Köstlin, Neue Revision,§ 179 (S. 669, 672). 118 C. F. W. J. Haebertin, Grundsätze des Criminalrechts nach den neuen deutschen Strafgesetzbüchern, Bd. 1 § 13 (S. 28).
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1. Kap., !I. Geschtl. Entwicklung der Verantwortlichkeitseinsicht
des Strafgesetzes schließt die Zurechnung nicht aus217• Dagegen ist Voraussetzung der Zurechnungsfähigke it das Vermögen, "die bürgerliche Strafbarkeit einer gewissen Handlung zu erkennen". Ganz ähnlich verlangt Jarcke218 die Einsicht in das "eigentliche rechtswidrige und durch die strafrechtliche Norm verpönte". Am klarsten spricht wohl Berner218, dessen Lehrbuch am Ende der gemeinrechtlichen Entwicklung steht, aus, was unter Zurechnungsfähigke it im Hinblick auf die altersmäßige Reife. zu verstehen ist. Für ihn erschöpft sich die Zurechnungsfähigke it nicht in dem bloßen Bewußtsein der Unerlaubtheit der Handlung, der Unterscheidung von Recht und Unrecht. Die strafrechtliche Zurechnungsfähigke it ist nach seiner Ansicht erst dann vorhanden, wenn der Mensch in der Lage ist, darüber hinaus auch den kriminellen Charakter seiner Handlung zu begreifen. Das macht aber weder bei Verbrechen noch bei bloßen Polizeiübertretungen die Kenntnis des positiven Strafgesetzes erforderlich; denn die Einsicht in die Strafbarkeit der Handlung ergibt sich bereits aus der Einsicht in deren kriminelle Naturt2o, Auf diese von Kleinschrod und Feuerbach begründete und von deutschen Kriminalisten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wenn auch unter Abschwächung übernommene Auffassung, wonach die Einsicht in die Strafbarkeit Voraussetzung der Zurechnungsfähigke it ist, beziehen sich die Motive zum Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund, wenn sie bei der Fassung der§§ 50, 51 des Entwurfes II den Anschluß an die "Lehren des gemeinen deutschen Strafrechts" zu finden trachteten. 3. Die Auslegung des § 56 RStGB
Die Rechtsprechung hat sich bei der Auslegung des § 56 StGB streng an den Wortlaut gehalten. Die Formulierung "die zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderlichen Einsicht" erschien so eindeutig, daß sie jeden Versuch anderweitiger Interpretation ausschloß221 • Das Reichsgericht vertrat den Standpunkt, es genüge nicht für die zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einsicht, wenn der Strafunmündige im allgemeinen Gutes von Bösem, Recht von Unrecht, Er217 Ebenso: Tittmann, Handbuch, a.a.O., § 83 (S. 158); vgl. auch Köstlin, Neue Revision, § 107 (S. 255). 218 C. E. Jarcke, Handbuch des gemeinen deutschen Strafrechts, Bd. 1 § 27 (S. 187 ff.); Marezoll, a.a.O., S. 75. 211 A. F. Berner, Lehrbuch des Dt. Strafrechts, 4. Aufl. 1868, § 77 (S. 115). 22o Berner, a.a.O., § 125 (S. 211). 221 Olshausen, Kommentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 10. Aufl. 1916, §56 Anm. 4.
3. Die Auslegung des § 56 RStGB
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laubtes von Unerlaubtem zu unterscheiden vermögel22• Andererseits handele es sich dabei aber nicht um die Kenntnis der einschlägigen Bestimmungen der positiven, die Strafandrohung enthaltenden Vorschriften des Gesetzes223 • Vielmehr sei darunter derjenige Grad der Verstandesentwicklung zu verstehen, welcher nötig sei, um die Strafbarkeit der konkret begangenen Handlung und der sie als eine strafbare charakterisierenden Merkmale zu erkennen2:u. Das Gesetz verlange nicht, daß der Jugendliche die Strafbarkeit der von ihm begangenen Tat im Augenblick der Begehung wirklich erfaßt habe225 • Gefragt sei lediglich, ob seine geistige Entwicklung soweit vorgeschritten war, daß er die Strafbarkeit, d. h. die Bedeutung der Tat als Verletzung gewisser durch das StJ:"afgesetz geschützter Rechtsgüter sich so weit klarmachen konnte, wie es einem Erwachsenen im allgemeinen möglich ist221 • Die Möglichkeit der Erkenntnis der Strafbarkeit muß sich deshalb auf die vorliegende Tat beziehen227 und ist dann vorhanden, wenn - wie die aus den Motivenzzs übernommene und in der Rechtsprechung 228 ständig wiederkehrende Formel lautet - "der Täter imstande gewesen ist, zu erkennen, daß seine Pflicht die Unterlassung jener speziellen Handlung fordere und er durch Begehung der letzteren sich einer Kriminalstrafe aussetze" 130• Nach dem Wortlaut des Gesetzes kommt es nur auf die Einsicht, also die dem Täter innewohnende, ihn zu eigener Erkenntnis befähigende Verstandesreife an, welche es ihm ermöglicht, die kriminelle Strafbarkeit 121 Gerade das mac;:he den Unterschied zum bloßen Unterscheidungsvermögen aus, vgl. Kgl. Obertribunal Berlin, Erk. v. 19. 3. 1874, Oppenhoffs Rechtsprechung, Bd. 15 (1874), S. 160; RG Urt. v. 14. 12.1886 RG St. 15, 97; RG Urt. v. 28. 4. 1918, JW 1918, 622; Rubo, Kommentar zum RStGB § 56 Anm. 4; Oppenhoff, StGB § 56 Anm. 3; v. Schwarze, Commentar zum StGB, § 56, Anm. 2. 123 Oder gar die Höhe der angedrohten Strafe; vgl. RG Urt. v. 18. 1. 1882 RGSt 5, 394 = RG Rspr. 1882, S. 50; RG Urt. v. 10.7.1883 JW 83, 217 = RG Rspr. 1883 S. 582; RG Urt. v.27. 5. 1907 SeuffBl. 1907, 886. m So Motive, S. 74; RG Urt. v. 28. 4. 1918, JW 1918, 622; Rubo, Kommentar zum RStGB, §56 Anm. 4. 115 RG Urt. v. 9. 6. 1887 JW 1887, 401 = RG Rspr. 1887, S. 367; RG Urt. v. 27. 5. 1907, SeuffBl. 1907, 886; Olshausen, Kommentar zum StGB, §56 Anm. 6. 121 RG Urt. v. 7.10.1913 RGSt 47, 385 (387); RG Urt. v. 1. 2. 1900 RGSt 33, 108 = JW 1900, 360 = DJZ 1900, 362 Nr. 48; RG Urt. v. 1. 12. 1893, JW 1893, 2~4; vgl. Frank, StGB §56 Anm. Il, Oppenhoff, RStGB §56 Anm. 3. 127 RG Urt. v. 1. 2. 1900 RGSt 33, 108; RG Urt. v. 28. 4. 1918 JW 1918, 622; RG Urt. v. 18. 1.1882 RGSt 5, 394; RG Urt. v. 21. 11.1893 RGSt 24, 411 (414); Dishausen, Kommentar zum StGB, §56 Anm. 5. na Vgl. Motive zu§ 54 des Entwurfs (S. 74). ue Vgl. z. B. RGSt 5, 394. 130 Besonders klar auch Frank, StGB, §56 Anm. II: ., ... Immer aber ist die Prüfung auf die konkrete Handlung hin anzustellen, d. h. es fragt sich nicht, ob der Täter z. B. die Strafbarkeit des Diebstahls im allgemeinen, sondern es fragt sich, ob er die Strafbarkeit dieses von ihm begangenen Diebstahls zu erkennen vermochte.
f Walbel
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1. Kap., II. Geschtl. Entwicklung der Verantwortlichkeitseinsicht
des konkreten Tuns zu erkennen, nicht aber auf die moralische Reife, auf dasjenige Maß sittlicher Bildung an, welches erforderlich ist, um das persönliche Verhalten nach dem als Recht erkannten einzurichtenu1• Der Begriff der "zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderlichen Einsicht" war, trotz der entschiedenen und gleichförmigen Auslegung durch die Rechtsprechung, in der Literatur bald heftig umstrittenm. Die Einwände gegen den § 56 StGB laufen dahin hinaus, daß dessen Formulierung weder wissenschaftlich begründet, noch praktisch brauchbar seim. Ein wesentlicher Mangel des §"56 StGB wird einmal darin gesehen, daß mit dem Erfordernis der Einsicht in die Strafbarkeit einseitig nur auf die Intelligenz, die Fähigkeiten des Verstandes, abgestellt werde, während die Reife des Willens, die als ebenso wichtiges Element der Gesamtentwicklung der Person anzusehen sei (und in der strafrechtlichen Literatur ~chon vor dem Jahre 1870 als solches erkannt war), keine Berücksichtigung ftnde%34• · Weiter wird gefordert, den Begriff der Zurechnungsfähigkeit der Jugendlichen dem der Erwachsenen anzugleichen, da ganz allgemein die subjektive Fähigkeit, ein Delikt zu begehen, beim Jugendlichen wie beim ErwaChsenen das Wesen der Zurechnungsfähigkeit ausmaehe%35• Der allgemeine Begriff der Zurechnungsfähigkeit setze jedoeh lediglich voraus die Fähigkeit des Täters, das Unrecht, die Rechtswidrigkeit der Handlung zu erkennenm, keineswegs aber ein darüber hinausgehendes Vermögen, auch die ReChtsfolge in Form der Strafbarkeit der Tat einzu~ sehen117• Daneben wird vom Standpunkt der Praxis aus geltend gemacht, das verwickelte moderne Recht habe zahlreiche Tatbestände geschaffen, 01 RG Urt. v. 14. 12. 1886 RGSt 15, 97; RG Urt. v. 15. 2. 1869 JW 1889, 188; vgl. Frank, StGB § 56 Anm. II. ua Nachweise bei: Lilienthal, Bd. 5, S. 110 ff.; Verhandlungen des 27. DJT, Bd. 1, S. 97 ff. (107 ff.); Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, Begründung, Allg. Teil 1909, S. 257 f.; v. Bar, Gesetz und Schuld im Strafrecht, 1907 Bd. II S. 69 ff.; Olshausen, Kommentar zum StGB § 56 Anm. 4. 111 So die Begründung zum Entwurf .eines neuen StGB aus dem Jahre 1909, sog. Vorentwurf, S. 257. m Vgl. v. Bar, Gesetz und Schuld, Bd. II, S. 72 f. (insbes. Fußn. 156 b); Vorentwurf, Begründung, S. 257; Oppenhoff, Das StGB für das Dt. Reich, 11. Aufl. 1888, § 56 Anm. 3; v. Schwarze, Kommentar zum StGB, § 56 Anm. 2; Klein, Verhandlungen des 27. DJT, Bd. 1, S. 101, 108 f. m. Nachw., 110. 111 Vorentwurf, Begründung, S. 258; zum dogmatischen Hintergrund dieser Streitfrage vgl. Olshausen, Kommentar zum StGB, §56 Anm. 4; Frank, StGB § 56 Anm. III. 111 v. Bar,.Gesetz und Schuld, Bd. II, S. 71 !.; Binding, Normen, Bd. II, § 72 (S. 220!.). 117 So wenig wie der Dolus; vgl. RG Urt. v. 12. 1. 1881 RG Rspr. Bd. 2 S. 714; a. A. noch Ortmann, GS 29, 243; Bruck, Zur Lehre von der kriminalistischen Zurechnungsfähigkeit, 1878, S. 59 f.
3. Die Auslegung des§ 56 RStGB
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deren Strafbarkeit allein durch irgendeinen Grad der Verstandesentwicklung überhaupt nicht erfaßt werden könne 238• Die Einsicht in die Strafbarkeit sei hier nur bei Kenntnis des positiven Gesetzes möglich. Die Schwierigkeit festzustellen, ob die Einsicht in die Strafbarkeit im konkreten Einzelfall tatsächlich vorhanden sein konnte, stellte die Gerichte, gerade auch wegen der strengen Wortauslegung der höchstrichterlichen Rechtsprechung, vor große und kaum zu überwindende Zweifelsfragenm. Das hatte andererseits aber zur Folge, daß die Praxis, wie es ähnlich schon im französischen Recht bei Art. 66 des Code Penal zu beobachten war, sich überfordert sah und zu einer recht äußerlichen und schematischen Handhabung des § 56 StGB neigte. So wurde, abgesehen von den Fällen, in welchen der Beschuldigte noch nicht vierzehn Jahre alt war oder seine Zurechnungsfähigkeit aus anderen Gründen gemindert schien, in der Rechtsprechung die Einsicht in die Strafbarkeit ohne eingehende Prüfung fast immer bejaht240• Deshalb hat bereits der erste Entwurf zu einem neuen Strafgesetzbuch, der sog. Vorentwurf aus dem Jahre 1909, die Folgerungen aus dieser Fehlentwicklung gezogen und auf das Erfordernis der Strafbarkeitseinsicht verzichtet. Die Verfasser des Vorentwurfs beschränkten sich d11rauf, für Jugendliche vom vierzehnten bis zum achtzehnten Lebensjahr eine Milderung der Strafe nach Versuchsgrundsätzen anzuordnen24 ~. Das bedeutete, daß die Feststellung der Zurechnungsfähigkeit bei Jugendlichen dieser Altersperiode ganz dem Richter überlassen war, der .dabei den allgemeinen Begriff der Zurechnungsfähigkeit, wie er auch für Erwachsene galt, anzuwenden hatte 242 • Der Gegenentwurf von 1911 verzichtete ebenfalls auf die Strafbarkeitseinsicht243• Der Entwurf zu einem Strafgesetzbuch aus dem Jahre 1913 schloß die Zurechnungsfähigkeit dann aus, wenn es ihm an der Fähigkeit fehlte, "das Ungesetzliche seiner 188 Vorentwurf, Begründung, S. 258; Klein, Verhandl. d. 27. DJT Bd.l S. 97, 100 f.; Binding, Normen, Bd. li 1 § 72 (S. 222), Fußn. 21. tat Vgl. v. Bar, Gesetz und Schuld, Bd. II, S. 71 Fußn. 162 a. uo Vorentwurf, Begründung, S. 258; vgl. auch Klein, Verhandlungen des 27. DJT Bd. 1 S. 111. 141 Vorentwurf § 69. 141 Vorentwurf § 63. Dies entsprach der preußischen Rechtstradition vom Allgemeinen Landrecht bis zum Entwurf eines PreußStGB von 1850 hin (vgl. Gertrud Lange, Die Behandlung Jugendlicher, S. 34 ff.; Olshausen, Kommentar zum StGB § 56 Anm. 1). 141 Gegenentwurf zum Vorentwurf eines deutschen Strafgesetzbuches, 1911, § 16. Dagegen soll es nunmehr beim Erwachsenen auf die Fähigkeit ankommen, die Strafbarkeit seiner Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäß zu handeln (§ 13 I). Der Kommissionsentwurf von 1913 kehrt zur Regelung des § 56 a. F. StGB zurück. In diesem Schwanken spiegelt sich die ganze Unsicherheit des Gesetzgebers über den Begriff der Zurechnungsfähigkeit (vgl. v. Liszt, Lehrbuch, 22. Auf!. § 38 (S. 161).
1. Kap., li. Geschtl. Entwicklung der Verantwortlichkeitseinsicht
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Tat einzusehen oder seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen"244. Die Worte "das Ungesetzliche" sollten klarstellen, daß es für die Frage der Zurechnungsfähigkeit nicht darauf ankomme, ob der Täter das Sittenwidrige und schon gar nicht die Strafbarkeit der Tat einsehen konnte, sondern daß allein entscheidend sei, die Fähigkeit, die Tat als rechtlich mißbilligt zu erkennen245, nach heutigem Sprachgebrauch also: das Unrecht der Handlung zu erfassen248. Die Zweiteilung des psychologischen Elements der Schuldfähigkeit in die Fähigkeit, das Ungesetzliche der Tat einzusehen (intellektueller Faktor) und in die Fähigkeit, seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen (voluntativer Faktor), bedeutete gegenüber den bisherigen Entwürfen etwas grundlegend Neues. Damit wurde den Ergebnissen der psychologischen und psychiatrischen Forschung Rechnung getragen, welche die Steuerungsfähigkeit als ein gleichwertig neben der Einsichtsfähigkeit stehendes Element erkannt hatte247 • Diese Zweiteilung sollte auch der Neuregelung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Jugendlichen zugrunde gelegt werden248 und die Regelung des§ 56 a. F. StGB ablösen, die lediglich auf die Verstandesentwicklung abgestellt war24a, andererseits aber die über das Unrecht der Handlung hinausgehende Strafbarkeit zum Gegenstand der Einsichtsfähigkeit machte. Der Entwurf ging davon aus, daß, ebenso wie beim Erwachsenen bestimmte krankhafte Zustände, beim Jugendlichen ein Mangel an ausreichender geistiger und sittlicher Reife, dazu führen könne, daß er das Unrecht seiner Handlung nicht zu erkennen vermag. Sehr häufig, so betont die Begründung250 , werde aber die geistige oder sittliche Unreife oder eine verzögerte Entwicklung gerade darin ihren Ausdruck finden daß der Jugendliche, obwohl er wisse, daß er Unrecht tue, doch dem Anreiz zu diesem Tun nicht widerstehen könne 251 • Aus diesem Grund wird, wie schon bei den Erwachsenen, das psychologische § 20 Abs. 1 des Entwurfes; ebenso§ 18 Abs. 1 des Entwurfes 1919. Entwurf 1919 Begründung zu § 18 (S. 30). 141 Vgl. Begründung des Entwurfes 1962 § 24 (S. 140). 147 Vgl. A. Hoche, Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie, Berlin 1901, S. 52 ff.; Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, 9. Aufl. 1909, S. 924 ff. tn Vgl. Entwurf 1919, Begründung zu§ 18 (S. 30); Entwurf 1925, Begründung § 17 (S.17). 141 Entwurf 1919 § 130. 160 Vgl. Stutte (ZBlJR 1951, 144), der dies als Relikt einer veralteten, einseitig rationalistisch orientierten Psychologie betrachtet, die den Triebfedern menschlichen Handeins nicht Rechnung trage. 151 Vgl. auch Entwurf 1925, Begründung zu§ 18 (S. 18) und den Entwurf 192'i, Begründung zu§ 14 (S. 15). 144
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3. Die Auslegung des § 56 RStGB
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Merkmal der Zurechnungsfähigke it in zwei Elemente, das Einsichts- und das Steuerungsvermögen , aufgespalten252 • Dieser zweigliedrige Begriff der Zurechnungsfähigke it, bestehend aus dem Vermögen, das Unrecht der Handlung zu erkennen, und der Fähigkeit, dieser Einsicht gemäß sich zu verhalten, wird in der .Folgezeit in allen Strafgesetzentwürfe n der Regelung der Schuldfähigkeit zugrundegelegtm. Auch die Reformarbeiten nach dem Kriege haben sich an diesen Begriff gehalten25 4 • In der Begründung des § 24 des Entwurfes 1962 wird ausgeführt155, daß die Aufgliederung der inneren Funktionsfähigkeit in die Einsichtsund die Steuerungsfähigkeit auch nach dem heutigen Stand von Psychologie und Psychiatrie wissenschaftlich haltbar sei und überwiegend bejaht werde258• Der Gesetzgeber hat mit der Bestimmung des § 3 JGG von 1923 eine erste Folgerung aus den Erkenntnissen gezogen, die in den Entwürfen zu einem neuen Strafgesetzbuch zum ~usdruck gekommen waren. Der Entwurf des Jugendgerichtsgesetz es beruhte zu einem wesentlichen Teil unmittelbar auf dem 15. Abschnitt (§§ 129 ff.) des StGB-Entwurfes von 1919257 • Der § 130 dieses Entwurfes insbesondere kehrt im Jugendgerichtsgesetz als§ 3 wieder. Seit der Änderung des Jugendgerichtsgesetz es 152 Vgl. Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, 1909, S. 924 f.; bezeichnet es schon damals als Mangel des Gesetzes, daß § 56 auf das Selbstbeherrschungsvermög en des Jugendlichen keine Rücksicht nehme. Ebenso Hoche, Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie, 1901, S. 52 f. 253 Vgl. Entwurf 1925 §§ 17, 18; Entwurf 1927 §§ 13, 14. m Vgl. Entwurf des Allgemeinen Teils eines StGB 1958 § 23; Entwurf 1960 § 24; Entwurf 1962 § 24. 255 a.a.O., S. 140. m Vgl. dazu: Mezger in: Niederschriften über die Sitzungen der großen Strafrechtskommission 4. Band, S. 132; Skott, ebendort S. 136; außerdem: Gutachten und Stellungnahmen zu Fragen der Strafrechtsreform mit ärztlichem Einschlag, Bonn 1958, S. 5, 7, 48, 68, 117, 25 f. Bemerkenswert ist,·daß sich ein Gutachten für die Wiederverwendung des Ausdrucks "freie Willensbestltnmung" an Stelle des Hemmungsvermögens ausgesproChen hat (S. 18 f., Gutachten Ziehen); Stutte, Zur Deliktsfähigkeit Jugendlicher im Sinne des § 828 BGB, in: ZBlJR 1951, S. 141 ff.; Langelii.ddeke, Gerichtliche Psychiatrie, 2. Aufl. 1959, S. 237 f.; Koebel, Billigkeitshaftung von Kindern und Jugendlichen, in: NJW 1956,969 Fußn. 8. Zweifel an der gegenwärtigen Formulierung des § 3 JGG äußern Haddenbrock "Die juristisch-psychiatrisc he Kompetenzgrenze bei der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit im Lichte der neueren Rechtsprechung", in: ZStW Bd. 75 (1963), S. 460 ff.; Bresser, "Jugendzurechnungsfä higkeit oder Strafmündigkeit", in: ZStW Bd. 74 (1962), S. 579 ff. (592 f.); Spranger, Psychologie des Jugendalters, 20. Aufl., 1949, S. 184 f.; Schneider, Die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit , 3. Aufl. 1956, S. 19 f. 257 Entwurf 1919 BegründungS. 113 Fußn. 1.
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1. Kap., II. Geschtl. Entwicklung der Verantwortlichkeitseinsicht
im Jahre 1943 ist die Vorschrift positiv gefaßtm. Die Neufassung des JGG von 1953 hat lediglich das Wort "ungesetzlich" durch "unrechtmäßig" ersetzt251, so daß der Jugendliche nunmehr dann strafrechtlich verantwortlich ist, wenn er "zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug war, das Unrecht der Tat einzusehen und sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten. Im Jahre 1933280 wurde schließlich auch der § 51 StGB den Reformentwürfen angepaßt und das Merkmal der "freien Willensbestimmung" durch die Worte "das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln" ersetzt. Hinter dieser Reform der Regeln über die strafrechtliche Verantwortlichkeit stehen, neben den neuen psychologischen Forschungsergebnissen, auch dogmatische Wandlungen in den Ansichten über das Wesen der Zurechnungsfähigkeit. Die Erkenntnis setzte sich durch, daß unter der Zurechnungsfähigkeit nicht, wie Feuerbach geglaubt hatte, die geistigen Voraussetzungen für eine Beeinflussung durch die Strafdrohung, oder, wie die Verfasser des Strafgesetzbuches von 1871 und noch des BGB gemeint hatten, die Fähigkeit, vorsätzlich oder fahrlässig den Tatbestand eines Delikts zu verwirklichen, zu verstehen sei. Man gelangte zu der Auffassung, daß die Zurechnungsfähigkeit als Bestandteil eines auf dem Schuldprinzip fußenden Strafrechts nur als Verschuldensfähigkeit verstanden werden könne281 , d. h. als Normierung derjenigen seelischen und geistigen Voraussetzungen, die vorhanden sein müssen, damit dem Täter aus seiner Handlung ein persönlicher Vorwurf gemacht werden kann. Infolgedessen wird das Erfordernis einer Einsicht in die Rechtsfolge der Handlung, das nach der Feuerbachsehen Lehre notwendig ein Merkmal der Zurechnungsfähigkeit war, überflüssig, weil das Verschulden nicht auf die Erkenntnis der rechtlichen Sanktion, sondern auf die der Rechtswidrigkeit der Handlung bezogen isttet.
Vgl. Kümmerlin, DJ 1943, S. 532. Vgl. dazu: Dallinger- Lackner JGG, 2. Aufl., § 3 Anm. 4; 0. Lange, Von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Jugendlichen, in: DJZ 1949,398 ff. "' Gesetz v. 24. 11. 1933 RG BI. I S. 995 (Gewohnheitsverbrechergesetz). tll Vgl. datu: Mezger, Lehrbuch, S. 265 ff.; Mezger, in: LK §51 Anm. 1; Kuhl, Das Verhältnis von Verschulden, Verantwortlichkeit und Bösgläubigkeit Minderjähriger auf Grund des § 828 BGB, S. 1. tu Vgl. BGH Gr. Sen. Beschl. v. 18. 3. 1952 BGH St 2, 194 (202): "Bewußtsein der Rechtswidrigkeit bedeutet überall weder die Kenntnis der Strafbarkeit noch die Kenntnis der das Verbot enthaltenden Vorschrift. Andererseits genügt es auch nicht, daß der Täter sich bewußt ist, daß sein Tun sittlich verwerflich ist. Vielmehr muß er, zwar nicht in rechtstechnischer Beurteilung, aber doch in einer seiner Gedankenwelt entsprechenden allgemeinen Wertung das Unrechtmäßige der Tat erkennen oder bei gehöriger Gewissensanspannung erkennen können"; vgl. auch: Niederschriften über die Sitzungen der großen Strafrechtskommission Bd. 4 (Allg. Teil) AnhangS. 481 (486 f.). 118
11'
Zweites Kapitel
Die Konstruktion und Auslegung des § 828 II BGB I. Der allgemeine Begriff der Unzurechnungsfähigkeit und § 828 ll BG8 Die Formulierung des § 828 Abs. 2 BGB geht, wie bereits erwähnt1 , auf das strafrechtliche Modell, nämlich die so heftig umstrittene Vorschrüt des § 56 StGB, zurückt. Die ObereinStimmung des § 828 Abs. 2 BGB mit dem § 56 reicht bis in die Formulierung hinein. Lediglich an Stelle der zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderlichen Einsicht wurde für das BGB die Fassung "die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht" gewählt, weil man für das bürgerliche Recht der Ansicht war, "der Erkenntniß der Strafbarkeit im Sinne des StGB §§ 56, 58 entspreche die Erkenntniß der Verantwortlichkeit"3 • In den Materialien zum BGB findet sich nirgends ein Hinweis darauf, daß sich der Gesetzgeber der grundsätzlichen Schwierigkeiten, die mit der Obernahme der Regelung des § 56 StGB aus dem Strafrecht verbunden waren, Gedanken gemacht hat. Allem Anschein nach ist ihm die Fragwürdigkeit dieses Schrittes überhaupt nicht zum Bewußtsein gekommen. Die noch aus dem römischen Recht geläufige Einheitlichkeit des Begriffs der Deliktsfähigkeit für das Zivilrecht und das Strafrecht'; und das Bestreben, den Begriff der Zurechnungsfähigkeit für beide Rechtsgebiete auch einheitlich zu erhalten, führten zu dieser Lösung5 • Die Frage, wie der Begriff der Deliktsfähigkeit im bürgerlichen Recht zu verstehen sei und ob er mit einem strafrechtlichen Gegenstück in allen 1 Vgl. oben S. 20; zur Entstehungsgeschichte vgl. auch: Staudinger-Schli,fer §828RZ7. 1 Motive Bd. II, S. 733 = Mugdan Mat. Bd. 2 S. 409; Protokolle Bd. 2 S. 582; vgl. auch Linckelmann, Die Schadensersatzpflicht aus unerlaubten Handlungen, 1898, s. 108 f . . s So: Protokolle Bd. 2, S. 582 f.; vgl. auch RGZ 53, 157 (158), Kuhl, Das Ver• hältnis von Verschulden, Verantwortlichkeit und Bösgläubigkeit Minderjähriger auf Grund des§ 828 BGB, S. 9 f. • Vgl. zu dieser Frage: Wendt, Lehrbuch der Pandekten,§ 23 (S. 46 ff.). ' Man war z. B. bestrebt, durch die Obernahme des §51 StGB als§ 827 Satz 1 BGB die reiche strafrechtliche Literatur zu jener Vorschrift für das Zivilrecht fruchtbar zu machen (vgl. Planck-Siber, Kommentar z. BGB § 828 Anm. 2).
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2. Kap., I. Allg. Begriff d. Unzurechnungsfähigkeit u. § 828 II BGB
Punkten übereinstimmen müsse, hätte gerade angesichts des Unterfangens, die als Strafbarkeitseinsicht verstandene Zurechnungsfähigkeit in das bürgerliche Recht zu übernehmen, eine nähere Untersuchung erforderlich gemacht. Bei einem Einblick in die geschichtliche Entwicklung des § 56 StGB wäre deutlich geworden, daß in dieser Vorschrift weniger das unbestimmte und deshalb für neue Erkenntnisse Platz bietende "discernement" des französischen Rechts, als vielmehr die Feuerbachsehen Ansichten in ihrer ganzen Einseitigkeit zum Ausdruck kamen. Der Begriff der Einsicht in die Strafbarkeit beruhe, wie oben dargelegt, auf der Theorie vom psychologischen Zwang, welche die Zurechnungsfähigkeit mit der Abschreckbarkeit gleichsetzt. Eine Verwendung dieses Begriffs im bürgerlichen Recht, das es in der Hauptsache ja nicht mit Verbrechen und anderen kriminellen Taten, sondern mit der Nachlässigkeit, dem Leichtsinn des Alltagsmenschen zu tun hat', und das bei der Schadensersatzpflicht weniger auf poenale Gesichtspunkte, um so mehr aber auf einen billigen Ausgleich der Interessen abhebt7, mußte noch zweifelhafter erscheinen als im Strafrecht8 • Der Regelung des § 828 Abs. 2 BGB liegt zwar die richtige Erkenntnis zugrunde, daß sich die geistigen und seelischen Fähigkeiten nur allmählich entfalten und daß eine Zurechnung zum Verschulden erst von einem bestimmten Grad der Reife an möglich ist'. Deshalb wurden Kinder bis zum siebten Lebensjahr als völlig deliktsunfähig bezeichnet10, während bei den Minderjährigen, weil ihre geistige Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist11, im Einzelfall die Zurechnungsfähigkeit zweifelhaft erscheint und jeweils eigens geprüft werden muß. Mit der Vorschrift des§ 828 Abs. 2 BGB wollte man eine Umschreibung derjenigen psychischen Voraussetzungen geben, die es erlaubten, einen Minderjährigen für sein Tun deliktsrechtlich zur Verantwortung zu ziehen12. 'Vgl. dazu: Bockelmann, Wie würde sich ein konsequentes Täterstrafrecht auf ein neues Strafgesetzbuch auswirken, in: Materialien zur Strafrechtsrefonn, Bd. 1 S. 29 ff. (33) = Strafrechtliche Untersuchungen S. 10 f.; ArthuT Kaufmann, Das Schuldprinzip, 1961, S. 140 f. 7 Vgl. Larenz, Schuldrecht, Bd. 1 § 14, I; Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen bürgerlichen Rechts, § 6 I (S. 71). 8 Vgl. dazu zutreffend: Dittenberger, Der Schutz des Kindes gegen die Folgen eigener Handlungen, 1903, S. 70 ff.; Rümelin, Das Verschulden in Straf- und Zivilrecht, 1909, S. 37 f. 1 Vgl. auch: Kuhl, Das Verhältnis von Verschulden, Verantwortlichkeit und Bösgläubigkeit Minderjähriger auf Grund des§ 828 BGB, S.l. 1.o So:.Motive Bd. II, S. 732. 11 Motive, Bd. II, S. 733. 11 Motive, Bd. li, S. 733. Das Gesetz folgt der sog. biologisch-psychologischen oder gemischten Methode. Unzurechnungsfähigkeit liegt nur dann vor, wenn jugendliches Alter (biologischer Faktor) die Erkenntnis der Verantwortlichkeit (psychologischer Faktor) ausschließt.
1. Auslegung des § 828 Abs. 2 BGB
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Dieses Ziel wurde jedoch gründlich verfehlt. Mit dem Begriff der zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderlichen Einsicht als dem zivilrechtliehen Gegenstück zur Strafbarkeitseinsicht gab das Gesetz in Wahrheit weder eine Bestimmung über die deliktsrechtliche Handlungsfähigkeit noch über die Verschuldensfähigkeit13, denn nach dem Gesetz muß die Reife des Jugendlichen lediglich im Hinblick auf sein Vermögen, die Rechtsfolge seiner Handlung zu erkennen, vorhanden sein. Das entspricht ganz den Vorstellungen Feuerbachs, der mit der Einsicht in die Strafbarkeit die Zurechnungsfähigkeit des Menschen nicht auf die Handlung oder das Verschulden, sondern allein auf die Motivierbarkeit durch die Strafdrohung bezogen wissen wollte14• Diese Lehre Feuerbachs, daß die Zurechnungsfähigkeit mit der Abschreckbarkeit gleichzusetzen sei, war wie schon dargelegt zur Zeit der Schaffung des BGB im Strafrecht bereits überholt. Deshalb stand die Vorschrift des § 56 StGB, in welcher diese Auffassung zum Ausdruck kam, im Mittelpunkt lebhafter Auseinandersetzungen, bei denen es um die Frage ging, inwieweit dieEinsieht in die Strafbarkeit überhaupt ein Bestandteil des allgemeinen Begriffs der Zurechnungsfähigkeit sei. Da der Wortlaut des § 56 StGB insoweit völlig eindeutig war, wurde die Frage dahingehend gestellt, ob das Erfordernis der Einsicht in die Strafbarkeit lediglich ein prozessuales Privilegium sei, oder ob der Gesetzgeber dem Jugendlichen bis zu 18 Jahren damit auch eine "materielle" Sonderstellung einräumen wolle, indem er bei ihnen zur Bestrafung ein gegenüber der Unrechtseinsicht des erwachsenen Täters zusätzliches · Element voraussetzte15• Nach der Entstehungsgeschichte des Reichsstrafgesetzbuches ist anzunehmen, daß die Absicht des Gesetzgebers lediglich dahin ging, den Richter durch eine positive Vorschrift zu nötigen, bei jugendlichen Personen die Frage der Zurechnungsfähigkeit in jedem Falle einer besonderen Prüfung zu unterziehen. Den Minderjährigen zwischen 14 und 18 Jahren sollte demnach nur ein "prozessuales Privilegium" erteilt werden18• Dabei hielt man es jedoch seit dem Entwurf zu einem preußischen Strafgesetzbuch von 1850 für zweckmäßig, die Feststellung in konkreter Weise ausdrücklich nur auf dasjenige Moment der Zurechnungsfähigkeit zu richten, dessen Vorliegen bei jugendlichen Personen besonders zweifelhaft sein konnte. Als solches wurde im preußischen 13 So auch: Oertmann, Verschuldungsfähigkeit, in: LZ 1924, S. 241 ff. (243 ff.); Weyl, System der Verschuldensbegriffe, S. 584. 1' Mezger, in: LK § 51 Anm. 1; vgl. oben S. 44 f. 15 Vgl. Olshausen, Kommentar zum StGB, §56 Anm. 4; Frank, Kommentar zum StGB, § 56 Anm. III; Klein, Verhandlungen des 27. DJT S. 107 ff. (der allerdings die Begriffe "prozessual" und "materiell" verwechselt); Binding, Normen, Bd. II, 1, § 72 (S. 218 ff.). 18 Olshausen, Kommentar zum StGB, §56 Anm. 4.
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2. Kap., I. Allg. Begriff d. Unzurechnungsfähigkeit u. § 828 II BGB
Strafgesetzbuch von 1850 und im Entwurf I des RStGB das "Unterscheidungsvermögen" angesehen, das dann im Entwurf II und im RStGB selbst durch "die zur Erkenntnis der Strafbarkeit der begangenen Handlung erforderliche Einsicht" ersetzt wurde. Faßt man die Zurechnungsfähigkeit, wie es die herrschende Meinung damals tat, als strafrechtliche Handlungsfähigkeit auf, d. h. als die Beziehung der Tat auf den schuldhaften Willen des Täters17, so kann die Möglichkeit der Strafbarkeitseinsicht nur dann ein Bestandteil der Zurechnungsfähigkeit sein, wenn sie zunächst ein Merkmal schuldhaften Handeins überhaupt darstellt. Den Motiven zum StGB läßt sich, wie bereits ausgeführt18, entnehmen, daß die Verfasser des Strafgesetzbuches von der Vorstellung ausgingen, die Einsicht in die Strafbarkeit sei ein Element des Dolus und damit der Zurechnungsfähigkeit. Anders kann auch die Heranziehung der gemeinrechtlichen Doktrin, die von dieser Vorstellung ausging, nicht erklärt werden. Diese Ansicht wurde vielfach auch noch nach Erlaß des Strafgesetzbuches vertreten1' . Dagegen setzte sich immer mehr die Meinung durch, in dem Erfordernis des Unterscheidungsvermögens20 sei eine eigenartige Privilegierung der Jugendlichen zu erblicken, die nicht zum Begriff der Zurechnungsfähigkeit gehöre, sondern lediglich die Bedeutung eines Strafausschließungsgrundes habe21 • Dieser Sinneswandel geht vor allem auf die Lehren Bindings zurück22• Binding bemängelte an der Regelung des § 56 StGB insbesondere die dieser Vorschrift zugrunde liegende gemeinrechtliche, von Kleinschrod und Feuerbach entwickelte, Vorstellung vom Verbrechen als einer Übertretung des Strafgesetzes, derzufolge zur "imputatio iuris" stets die zur Erkenntnis der Zuwiderhandlung gegen ein Strafgesetz, also: der Strafbarkeit der Handlung, erforderliche Einsicht gehört23• Den Grund für die fehlerhafte Formulierung erblickte er darin, daß das Strafgesetzbuch den Gegensatz von Norm und Strafgesetz, von Delikt und Verbrechen nicht beachtet hat14• Für Binding 17 So: Olshausen, Kommentar zum StGB, vor § 51 Anm. 5; vgl. die Nachweise bei Mezger, Lehrbuch des Strafrechts, 3. Aufl. 1949, S. 267 Fußn. 3. 18 Vgl. oben S. 32 f. 1' Vgl. Ortmann, GS 29, S. 243; Bruck, Zurechnungsfähigkeit, S. 59 f.; Ortloff, Strafbarkeltserkenntnis als Schuldvoraussetzung, 1891, insbesondere S. 91. 10 In der Literatur wird mit Vorliebe der Ausdruck "Unterscheidungsvermögen" gebraucht, und damit der Einfluß des Code Penal hervorgehoben, obwohl der Begriff der "Einsicht in die Strafbarkeit", der an Stelle des "discemement" trat, aus dem gemeinen deutschen Recht stammt. 11 So: Frank, Kommentar zum StGB, §56 Anm. III. n Vgl. Olshausen, Kommentar zum StGB, §56 Anm. 4. n Vgl. oben S. 41 f., S. 44 f. 14 Binding, Normen, Bd. II, 1 § 72 (S. 222); Olshausen, Kommentar zum StGB, § 56 Anm. 4.
1. Auslegung des§ 828 Abs. 2 BGB
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besteht der Unterschied von Delikt und Verbrechen bekanntlich darin, daß das Delikt die verbotene Handlung (also die "Norm") als solche, das Verbrechen aber einen Tatbestand bezeichnet, an welchen Straffolgen geknüpft sind (also das Strafgesetz), mit anderen Worten: "der Unterschied zwischen Delikt und Verbrechen ist des letzteren Strafbarkeit" 26• Der Vorsatz bezieht sich nun nach Ansicht Bindings allein auf das Delikt. Er definiert ihn deshalb als "den Willen eines Handlungsfähigen, gerichtet auf Setzung eines konkreten Deliktstatbestandes in Kenntnis aller seiner Deliktsmerkmale, besonders im Bewußtsein der Rechtswidrigkeit dieser konkreten Handlung26 • Daraus folgert er, daß das allen Verbrechen gemeinsame Merkmal der Strafbarkeit der begangenen Handlung nicht vom Vorsatz umfaßt zu werden braucht; denn "ein besonderer Vorsatz, enthaltend das bewußte Wollen der strafbaren Handlung in allen ihren Verbrechensmerkmalen besteht nicht". Es gibt keinen besonderen "Verbrechens-Vorsatz", welcher "der strafbaren Handlung als solcher in allen ihren Arten wesentlich wäre" 27 • Der strafrechtlich allein in Betracht kommende Vorsatz erschöpft sich für Binding in der Beziehung "des bewußten Willens zu der begangenen Handlung", ohne daß er sich auf deren Rechtsfolgen miterstreckte28• Die Deliktsfähigkeit ist allein das Vermögen, die eigene Tat im Verhältnis zur Norm zu erkennen und im Einklange mit ihr zu erhalten29• Geht man mit Binding davon aus, daß der Vorsatz bei strafbaren Handlungen kein "Verbrechensvorsatz" sondern·nur ein "Deliktsvorsatz" ist, daß mithin die Erkenntnis der Strafbarkeit kein Bestandteil des allgemeinen Begriffs der Zurechnungsfähigkeit ist, dann kommt man zu dem Ergebnis, daß das Strafgesetzbuch - gegen die Absicht seiner Verfasser - in § 56 mit der Strafbarkeitseinsicht ein gegenüber der Zurechnungsfähigkeit zusätzliches Erfordernis aufstellt, die Jugendlichen dieser Altersstufe also "materiell privilegiert"30• Aus denselben Gründen, die für die "Einsicht in die Strafbarkeit" gelten, kann nun auch im bürgerlichen Recht die "Einsicht in die Verantwortlichkeit" nicht als Element der Zurechnungsfähigkeit angesehen werden, weil der allgemeine Begriff der Zurechnungsfähigkeit eben lediglich die Fähigkeit de:;; Handelnden voraussetzt, das Unrecht seines Tuns einzusehen, nicht aber die darauf gesetzte Sanktion, die 25 Binding, Normen, Bd. II, 2, § 121 (S. 914 f.); vgl. auch: A. Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, 1954, S. 30. 18 Binding, Die Schuld im deutschen Strafrecht, S. 41. 17 Binding, Normen, Bd. II, 2, § 121 (S. 925). ts Binding, Normen, Bd. II, 2, § 121 (S. 925). 18 Binding, Normen, Bd. II, 1, § 69 (S. 170). 110 Olshausen, Kommentar zum StGB, §56 Anm. 4; Frank, Kommentar zum StGB, §56 Anm. III.
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2. Kap., I. Allg. Begriff d. Unzurechnungsfähigkeit u. § 828 II BGB
Verantwortlichkeit, hier in Form der bürgerlichen Haftung, zu erkennen31. Der Gesetzgeber hätte allerdings die Freiheit gehabt, außer der Zurechnungsfähigkeit auch die Fähigkeit der Einsicht in die Rechtsfolgen zu verlangen 32 • Ein Vergleich des§ 827 BGB mit§ 51 StGB zeigt jedoch, daß eine solche Einengung dieses Begriffes nicht beabsichtigt war. Die Verfasser des BGB hatten vielmehr die Absicht, den allgemeinen Begriff der Zurechnungsfähigkeit, wie sie ihn im § 51 StGB vorfanden, ohne irgendeine materielle Änderung, in das bürgerliche Recht zu übernehmen und ihn den Regeln über die Geschäftsfähigkeit und die Deliktsfähigkeit zugrundezulegen33 • Ebensowenig ist die Annahme be:.. rechtigt, das gesetzgeberische Motiv des Schutzes der Minderjährigen habe dazu geführt, im BGB den Jugendlichen insofern eine Sonderstellung einzuräumen, als bei diesen neben der Zurechnungsfähigkeit des§ 827 BGB eigens noch die Einsicht in die "Haftbarkeit" 34 zur Voraussetzung gemacht wurde. Den Materialien zum BGB kann ein Bestreben, die Minderjährigen zwischen sieben und achtzehn Jahren insoweit "materiell zu privilegieren" nicht entnommen werden. Man war sich klar darüber, daß ein Kind, auch wenn es das siebente Lebensjahr zurückgelegt hat, nicht "immer gerade so wie der Erwachsene als deliktsfähig angesehen werden müßte" 35 • Um diese "nicht zu rechtfertigende unbillige Behandlung der noch nicht zur vollen Verstandesreife gelangten Unerwachsenen" zu vermeiden, sollte, entsprechend den §§ 55 ff. StGB, die Deliktsfähigkeit davon abhängen, ob der Minderjährige die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Reife besaß. Die in den Materialien für die Begründung des § 828 II BGB gemachten Ausführungen lassen nur den Schluß zu, daß die Schöpfer des BGB, ebenso wie die Verfasser des StGB 1871 sich über den Begriff der Zurechnungsfähigkeit keineswegs im klaren waren31 •
a• Vgl. Binding, Normen, Bd. II, 1, § 72 (S. 222 f.). a: Vgl. Binding, Normen, Bd. II, 1, § 72 (S. 220).
33 Vgl. Motive, Bd. II, S. 731 f.; Protokolle, Bd. II, S. 584; Planck-Siber, BGB, § 827 Anm. 1; v. Liszt, Deliktsobligationen, S. 47 f.; Dölle, Gutachten zum
34. DJT, Bd. 1, S. 99. u Geilen, FamRZ 1965, 402. as Motive, Bd. II, S. 733. 38 So schon: v. Liszt, Die Grenzgebiete zwischen Privatrecht und Strafrecht, 1889, S. 42 ff.; vgl. Motive, Bd. II, S. 732, wo die Unzurechnungsfähigkeit beim Erwachsenen mit der Handlungsunfähigkeit gleichgesetzt wird; der gleichen Ansicht war lange Zeit die Rechtsprechung des Reichsgerichts (vgl. Nachweise bei Mezger, LK §51 Anm. 1).
1. Auslegung des§ 828 Abs. 2 BGB
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II. Die Anwendung des § 828 II BGB in der Rechtsprechung 1. Die Auslegung des Bell'iffs der zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderlidlen Einsteilt
a) Die Definition der "zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderlichen Einsicht" Bereits ganz am Anfang der reichsgerichtliehen Rechtsprechung zu § 828 Abs. 2 BGB steht eine für die weitere Auslegung grundlegende Entscheidung37 • In diesem Urteil gibt das Reichsgericht die bis auf den heutigen Tag in der Praxis der Gerichte ständig wiederkehrende Begriffsbestimmung der zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderlichen Einsicht. Es definiert diesen Begriff als "diejenige geistige Entwicklung, die den Handelnden in den Stand setzt, das Unrecht seiner Handlung gegenüber dem Mitmenschen und zugleich die Verpflichtung zu erkennen, in irgendeiner Weise für die Folgen seiner Handlung selbst einstehen zu müssen" 38• Das Reichsgericht betont ausdrücklich, die Erkenntnis der Verantwortlichkeit "erschöpfe sich nicht in dem Bewußtsein des Unrechts, des widerrechtlichen Eingreifens in eine fremde Rechtssphäre"; sie erfordere vielmehr auch "ein Verständnis der Pflicht, für die Folgen der Handlung einzustehen". Mit dieser Definition ging das Gericht über die in seinem ersten zu § 828 Abs. 2 BGB veröffentlichten Erkenntnisse gemachten Ausführungen um einen bedeutsamen Schritt hinaus. Dort war es als ausreichend angesehen worden, wenn der minderjährige Schädiger "Einsicht genug hatte, um zu erkennen, daß er seine Mitmenschen nicht der Gefahr körperlicher Verletzungen aussetzen dürfe, und daß er ein Unrecht begehe, wenn er es trotzdem tue" 40 • Dieselbe Ansicht vertraten die Oberlandesgerichte. Auch für sie war der entscheidende Gesichtspunkt die geistige Reife des Minderjährigen, die erforderlich war, um einsehen zu können, daß er widerrechtlich handele41 • Diese Auslegung ließ sich durchaus mit den Gesetzgebungsmaterialien vereinbaren42 • Die Protokolle RG Urt. v. 8. (5.) 12. 1902 RGZ 53, 157 = JW 03, Beil. 25 = DJZ 03, 127. RGZ 53, 157, 159. 39 RG Urt. v. 3. 2. 1902 RGZ 51, 30 = JW 02, Beil. 200 = SächsA Bd. 12 S. 89. 40 RGZ 51, 30, 32. 41 So: OLG Zweibrücken, Urteil v. 9. 4.1902 SeuffA Bd. 57 Nr. 214 (S. 398); OLG Dresden, Urteil v. 20. 9. 1901 OLGE 3, 287 = WarnJ Bd. 1 § 828 Nr. 1 = SoergRspr. 1901/02 S. 88 (Revisionsentscheidung dazu: RGZ 51, 30). Nach dem Urteil RGZ 53, 157 noch: OLG Zweibrücken, Urteil v. 25. 2. 1908 SeuffA Bd. IY.i Nr. 114 (S. 191 f.); OLG Hamm, angeführt im RG Urteil v. 17. 11. 1904 JW 05, 48 = Gruchot Bd. 49, 1025 (insoweit vom RG nicht beanstandet). 41 Vgl. dazu: Dittenberger, Der Schutz des Kindes gegen die Folgen eigener Handlungen, 1903, S. 89. 17
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2. Kap., II. Anwendung des§ 828 Abs. 2 BGB in der Rechtsprechung
bezeichnen die Einsicht in die Verantwortlichkeit ganz allgemein und unbestimmt als "die Erkenntnis der Pflichten, welche das Zusammenleben der Menschen im Staate dem Einzelnen auferlege" 43, und führen zur näheren Erläuterung lediglich aus, es komme nicht darauf an, "ob der Thäter den angerichteten Schaden vorausgesehen habe, sondern darauf, ob er sich bewußt gewesen sei, daß er widerrechtlich in eine fremde Interessensphäre eingreife". Das Reichsgericht hat jedoch in der Entscheidung RGZ 53, 157, gerade aus dieser Stelle der Materialien geschlossen, daß neben der Erkenntnis der Widerrechtlichkeit auch ein Verständnis der Pflicht, für die Folgen der Handlung einzustehen, vorhanden sein müsse'', und hat damit, im Vergleich zu RGZ 51, 30 und den erwähnten Urteilen der Oberlandesgerichte, eine Rückkehr zu strenger Wortauslegung und enger Anlehnung an die höchstrichterliche Rechtsprechung zu § 56 StGB45 voll2ogen. Ein Fortschritt ist lediglich insoweit zu vermerken, als sich die ReChtsprechung zu § 828 II BGB gegenüber der Frage der Rechtsfolgeeinsicht viel elastisCher verhielt als die Rechtsprechung zu§ 56 StGB40• Während, wie schon erwähnt47, für die Strafbarkeitseinsich t des § 56 StGB derjenige Grad der Verstandesentwicklu ng verlangt wurde, welcher nötig ist, um die Strafbarkeit der konkret begangenen Handlung und der sie als eine strafbare charakterisierenden Merkmale zu erkennen48, und der Jugendliche in der Lage sein mußte, zu begreifen, daß seine Pflicht die Unterlassung jener speziellen Handlung fordere und er durch Begehung der letzteren sich einer Kriminalstrafe aussetze40, hält sich die Auslegung des § 828 II BGB "mit ihren Ausdrücken in der größten Allgemeinheit"50. Vor allem wird- im Gegensatz zumStrafrecht51 -nicht 43 Protokolle, Bd. II, S. 583. " Vgl. RGZ 53, 157, 158. 45 Das RG sagt unter Berufung auf RGSt 5, 395 ausdrücklich: Wie die Erkenntnis der Strafbarkeit die beiden Momente umfaßt, daß der Täter sich der Pflicht bewußt ist, die bestimmte Handlung, die er begeht, zu unterlassen, und daß er zugleich erkennt, daß er sich durch ihre Begehung einer Kriminalstrafe aussetzt, so erschöpft sich auch die Erkenntnis der Verantwortlichkeit ... nicht des Bewußtseins des Unrechts, .. . sie erfordert vielmehr auch ein Verständnis der Pflicht, für die Folgen der Handlung einzustehen. " Vgl. dazu: Binding, Normen, Bd. II, 1, § 72 (S. 223), insbes. Fußn. 22. n Vgl. oben S. 49. 48 Motive zu einem Strafgesetzbuch für den Nordd. Bund, 1869, S. 74; RG JW 1918, 622. n Motive, S. 74, RGSt 5, 394. 10 Binding, Normen, Bd. II, 1, § 72 (S. 223) Fußn. 22. 11 Vgl. RGR-Komm. § 828 Anm. 3, wo schon von der 1. Auflage (1910) an betont wird, bei der zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderlichen Einsicht sei nicht "gegensätzlich zur Erkenntnis der Strafbarkeit an eine Erkennt-
1. Auslegung des § 828 Abs. 2 BGB
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die Fähigkeit zur Erkenntnis einer bestimmten Art von Verantwortlichkeit, die Einsicht in die konkrete Verbindlichkeit, verlangt. Der Minderjährige braucht keine bestimmte Vorstellung zu haben, in welcher Weise die Vergeltung von ihm verlangt und erzwungen werden könne51 , insbesondere auch nicht die Fähigkeit, die strafrechtliche und die zivilrechtliche Vergeltung zu unterscheiden, "sofern nur ein Verständnis für die Pflicht der Vergeltung überhaupt angenommen werden kann" 53 •
Im Gegensatz zu den Materialien betrachtet die Rechtsprechung die Einsicht in die Verantwortlichkeit nicht entsprechend der Erkenntnis der Strafbarkeit als Erkenntnis· der zivilrechtliehen "Vergeltungspflicht" 6'. Ausreichend soll sein die Fähigkeit zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit in dem Sinne, daß der Jugendliche sich dessen bewußt sein muß65 , in irgendeiner Weise für die Folgen seiner Handlung selbst einstehen zu müssen50, da seine Handlung in irgendeiner Weise Verantwortung begründen kann67 • Andererseits ist aber nicht mehr recht ersichtlich, welches Maß von Rechtsfolgeeinsicht dann überhaupt noch vorhanden sein muß. Diese Judikatur zeigt deutlich das Unbehagen der Praxis an der über die Erkenntnis des Unrechts hinausgehenden "Haftbarkeitseinsicht. Die eben genannten ersten Urteile des Reichsgerichts und der Oberlandesgerichte zu § 828 BGB, welche die Einsicht in das Unrecht der Handlung als ausreichend ansehen, sind deshalb als Versuch zu werten, die mißglückte Vorschrift des Gesetzes in Einklang zu bringen mit dem für die Erwachsenen geltenden und von der neuen Lehre als dogmatisch richtig bezeichneten Begriff der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit. Das Urteil des Reichsgerichts vom 5. 12. 1902 bedeutet demgegenüber wieder einen Schritt zurück. Wie schon bei der Auslegung nis der zivilrechtliehen Vergeltungspflichten zu denken". Der Begriff sei weiter zu erfassen, wie sich schon daraus ergebe, daß die dazu erforderliche Einsicht im Zweifel allen Personen beigelegt werde, die das 7. Lebensjahr vollendet haben. Das übersieht das LG Frankfurt, Urt. v. 20. 1. 1954 VersR 54,
245.
RG Urt. v. 8. 12. 1902, RGZ 53, 157, 160. RGZ 53, 157, 160; RG Urt. v. 13. 7. 1905 JW 05, 531 11 = RGZ 61, 239. 114 RGR-Kommentar z. BGB, 1. Aufl. 1910, § 828 Anm. 3. 66 "muß" ist hier ungenau; es kommt lediglich auf die Reife, die Möglichkeit der Einsicht, an (so schon: RGZ 53, 157, 159). 11 RGZ 53, 157, 159; RG Urt. v. 10. 2.1904, JW 04, 202; OLG Braunschweig, Urt. v. 18. 9. 1903, WarnJ 05, S. 95 Nr. 2. 67 RG Urt. v. 1. 7.1935 SeuffA Bd. 90 Nr. 24 (S. 50 ff.); ebenso die ständige Rechtsprechung des BGH (vgl. die Nachweise bei Staudinger-Schäfer § 828 RZ 11). Die Erkenntnis des Risikos einer Schulstrafe soll jedoch noch nicht die Erkenntnis der Vergeltungspflicht erweisen (RG JW 04, 202, 283; RGZ 53, 157, 160). So auch schon für das Strafrecht: RG Urt. v. 1. 10. 1900 RGSt 33, 108, 11 = JW 1900, 360. 61
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2. Kap., II. Anwendung des § 828 Abs. 2 BGB in der Rechtsprechung
des § 56 StGB konnte das Gericht sich auch bei der Interpretation des § 828 Abs. 2 BGB nicht entschließen, angesichts des eindeutigen Wortlautes der Vorschrift und der Parallele zum § 56 StGB, sich über die Formulierung des Gesetzes hinwegzusetzen. Hier liegt einer der Ansatzpunkte dafür, daß die Entwicklung des Begriffs der Deliktsfähigkeit der Minderjährigen dogmatisch in eine Sackgasse geriet und den Anschluß an die Fortschritte der Lehre von der Zurechnungsfähigkeit völlig verlor, ja, daß schließlich in der Rechtsprechung und der Lehre der Zusammenhang der Verantwortlichkeitseinsicht mit dem allgemeinen Begriff der Zurechnungsfähigkeit überhaupt nicht mehr gesehen wurde. Auch der Gesetzgeber konnte sich nicht entschließen, wie von Liszt im Jahre 1898 gehofft hatte58, bei Einführung des neuen Jugendgerichtsgesetzes59 den § 828 II der modernen Entwicklung anzupassen. b) Die Berücksichtigung der Willensfähigkeit Im§ 823 Abs. 2 BGB ist nur von der zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderlichen Einsicht die Rede. Wie schon beim "discernement" des französischen Rechts und der "Einsicht in die Strafbarkeit" des deutschen Strafrechts, ja wie in der ganzen geschichtlichen Entwicklung, angefangen vom römischen Recht, genügt also auch hier ein bestimmter Grad intellektueller Reife. Das psychologische Gegenstück, die Fähigkeit des Jugendlichen, nach seiner Einsicht zu handeln, wird vom Wortlaut der Vorschrift nicht erfaßt60• Die Rechtsprechung hat sich bei der Auslegung des § 828 Abs. 2 insoweit auch strikt an die Formulierung des Gesetzes gehalten. Schon das Reichsgericht hat in einem Urteil 68 v. Liszt, Deliktsobligationen, S. 53; dazu auch: Staudinger-Schäfer § 828 RZ9. 68 Vgl. JGG 1923, § 3, wo die Zurechnungsfähigkeit Minderjähriger den neuen Erkenntnissen gemäß umschrieben wurde. 80 v. Liszt, Deliktsobligationen, 1898, S. 52; Wilts, Analoge Anwendung des § 829, in: VersR 63, 1098, 1099; vgl. Geilen, FamRZ 65, 401; Zeuner bei SoergelSiebert § 828 RZ 2; Staudinger-Schäfer § 828 RZ 7 f., 10. Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung schadensersatzrechtlicher Vorschriften, Begründung, S. 71 ff.; schon v. Liszt, a.a.O., rügt, daß die sittliche Reife, die Widerstandskraft gegenüber den von außen herandrängenden Reizen, nicht berücksichtigt wurde. Dagegen behauptet Leonhard, die Vorschriften über den Ausschluß der Verantwortl!chkeit seien notwendig gewesen, "weil sie es ermöglichen, auch die Schwäche de3 Willens zu berücksichtigen ("Fahrlässigkeit und Unfähigkeit", in: Festgaben für Enneccerus, 1913, S. 74). Der Mangel an geistigen und körperlichen Kräften begründe die Unverantwortlichkeit nicht, sondern werde erst bei der Frage nach der Fahrlässigkeit berücksichtigt (Leonhard, a.a.O., S. 75). Nipperdey (Enneccerus-Nipperdey, Allg. Teil, S. 1327, 1317 ff.) scheint der Ansicht zu ::ein, daß § 828 Abs. 2 BGB auch die Willensunfähigkeit berücksichtige; eben!:o: LG Hildesheim, Urt. v. 8. 1. 1954 VersR 54, 261 (Der Beklagte hatte "die nach § 828 Abs. 2 BGB erforderliche Einsicht ... , dieser Erkenntnis gemäß zu handeln").
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vom 29.4.193111 die Annahme des OLG Hamm, die geringe Willenskraft des Kl. rechtfertige den Schluß, daß er nicht die zur Erkenntnis seiner Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht besessen habe, als irrig beanstandet. Das Gericht hat demgegenüber klargestellt, daß nach § 828 Abs. 2 BGB die Einsicht entscheidend sei, die den Jugendlichen befähige, die Gefahr bzw. die Verantwortlichkeit zu erkennen, während es auf eine dieser Einsicht entsprechende Willenskraft nicht ankomme. Der Bundesgerichtshof ist dieser Ansicht gefolgt. Auch er vertritt die Meinung, der Umstand, daß der Schädiger nach dem Stande seiner Entwicklung aus Willensschwäche nicht in der Lage gewesen sei, sein Verhalten gemäß der ihm bewußten Gefährlichkeit seines Tuns einzurichten, sei für die Einsicht in die Verantwortlichkeit unerheblich11• Die Willensschwäche des Minderjährigen gegenüber einer Verlockung, das Handeln aus kindlichem Nachahmungs- und Spieltrieb, können nach dieser Judikatur die Zurechnungsfähigkeit im Sinne des § 828 Abs. 2 BGB nicht ausschließenu. aa) Die Berücksichtigung der Willensfähigkeit mittels der Rechtsprechung über den Einfluß äußerer Umstände auf das Maß der erforderlichen Sorgfalt Dennoch konnte die Rechtsprechung die Willensmängel der Jugendlichen im Ergebnis nicht unbeachtet lassen, weil sie, wie die Praxis zeigt, in vielen Fällen das Verhalten des Minderjährigen kennzeichnen. Der Bundesgerichtshof hebt sogar hervor, daß hinter der Einsicht in die Verantwortlichkeit die Fähigkeit, den Handlungswillen entsprechend dem verkehrsgemäßen Sollen zu bestimmen, bei Jugendlichen in einer für bestimmte Altersgruppen geradezu typischen Weise zurückbleiben könne14• Da im Rahmen des § 828 Abs. 2 BGB für das fehlende Hemmungsvermögen kein Platz ist, suchte man die Lösung auf einem an11 HRR 1931 Nr. 1845 (am Ende) = JW 1931, 25622 (mit Anm. Naß), ebenso schon: RG Urt. v. 10. 2. 1916 SoergRspr. 1916 § 828 Nr. 1 (S. 281): Aus der Tatsache, daß möglicherweise das Verhalten des Verletzten auf einen jugendlichen Mangel an Besonnenheit zurückzuführen ist, karui nicht die Folgerung gezogen werden, es habe an der zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderlichen Einsicht gefehlt. 11 BGH Urt. v. 17.12.1957 VersR 58, 177; ebenso BGH Urt. v. 23.10.1952 VersR 53, 28 ("Tomatenschlacht"). Eine Ausnahme bildet lediglich das Urteil des OLG Nürnberg v. 7. 10. 1966 (OLGZ 1967, 143), das sich für eine Berücksichtigung auch der Willensfähigkeit im Rahmen des § 828 Abs. 2 BGB ausspricht. 11 RG Urt. v. 29. 4. 1931 HRR, a.a.O. " BGH Urt. v. 21. 5. 1963 JZ 64, 99 = BGHZ 39, 281 = VersR 63, 953 = MDR 1963, 752 = LM § 829 Nr. 5 = NJW 1962, 1609 = FamRZ 65, 435 ("Ritterspiel").
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deren Weg: man wich in die Verschuldensprüfun g aus66 • Die mangelnde Willensfähigkeit wurde zum Entschuldigungsgrun d. Als Anknüpfungspunkt diente dem Reichsgericht dabei die feststehende Rechtsprechung über den Einfluß der besonderen Umstände des Einzelfalles auf das Maß der verkehrserforderlich en Sorgfalt". Nach Ansicht des Reichsgerichts steht es außer Zweifel, daß das BGB mit der Begriffsbestimmung in § 276 Abs. 1 Satz 2 für die Fahrlässigkeit einen abstrakten Maßstab aufgestellt hat, welcher dem Verhalten der Allgemeinheit, nicht demjenigen bestimmter Einzelpersonen entnommen ist. Unter der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt versteht die Rechtsprechung die von dem normalen, ordentlichen und gewissenhaften Menschen in dem betreffenden Verhältnisse des Verkehrs anzuwendende Sorgfalt. Deshalb kommt es grundsätzlich nicht auf das Wissen und die subjektive Veranlagung der handelnden Person an87 • Der abstrakte Fahrlässigkeitsmaßs tab soll nach dieser Meinung aber nicht ausschließen, daß im Einzelfalle die besonderen Umstände, unter denen die Handlung oder Unterlassung erfolgte, in den Kreis der Betrachtung einzubeziehen sind. Genau genommen ist also die Frage nach dem Maß der verkehrserforderlich en Sorgfalt dahin zu stellen, wie sich unter gleichen Umständen in gleicher Lage ein verständiger, gewissenhafter Mensch benommen hätte88 • Diese Präzisierung ist erforderlich, weil, wie das Reichsgericht sagt, "Lebenslagen denkbar sind, in welchen auch der verständige, ordentliche Mensch nach dem Maße der durchschnittlichen Erkenntnisfähigkeit, Geschicklichkeit und Kaltblütigkeit bemessen, durch die Umstände daran gehindert sein kann, allseitig seiner Pflicht sich bewußt zu bleiben und auf deren Erfüllung bedacht zu sein". Das Reichsgericht denkt dabei einmal an Fälle, in denen die Sorge um Leib und Leben eines nahen Angehörigen jedem, auch dem gewissenhaften, normalen Menschen, zeitweilig die Fähigkeit benimmt, sich seiner Sorgfaltspflicht Dritten gegenüber bewußt zu bleiben und seine Handlungsweise ruhig zu überlegen. Insbesondere hat es jedoch solche außerordentliche Lebenslagen im Auge, in welchen 85 Vgl. Referentenentwurf zur Änderung und Ergänzung schadensrechtlicher Vorschriften, Teil II (Begründung), S. 72. 88 Vgl. dazu: Sattler, Schrecksekunde und zivilrechtliche Fahrlässigkeit, in: NJW 1967, S. 422 ff.: Erman, BGB § 276 Anm. 4 c; RGR-Komm. § 823 Anm. 7 m. weiteren Nachweisen. 17 Planck, Kommentar zum BGB Bd. I, VorbemerkUngen, ::S. Aufl. S. 40 ff.; vgl. die Nachweise bei: RGR-Komm. z. BGB § 276 Anm. 33; Erman, BGB § 276 Anm. 4b; Palandt-Danckelmann -Heinrichs § 276 Anm. 4 b; Weyl, System der Verschuldensbegriffe, § 31 Nr. 8 (S. 111 ff.). 66 Vgl. Reimer Schmidt bei Soergel-Siebert § 276 RZ 14; Larenz, Schuldrecht I § 19 III (S. 220 f.); RGR-Kommentar z; BGB § 276 Anm. 33; Dernburg, Das bürgerliche Recht, Bd. II, 1, § 63 II, 2 b (S. 147).
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eine drohende unmittelbare Gefahr bei notwendigem raschen Entschlusse die Besonnenheit des normal veranlagten Menschen beeinträchtigt und deswegen, trotz sachwidrigen Handelns, der Vorwurf der Fahrlässigkeit ausgeschlossen ist68• Demnach sind es, wie das Reichsgericht be"tont, nicht die lediglich in der Individualität des Betreffenden gelegenen Umstände, sondern die objektiv gegebene Sachlage und die allgemein menschliche Natur, welche für den Ausschluß der Fahrlässigkeit in Betracht kommen7o. Diese Grundsätze werden nun von der Rechtsprechung auf Minderjährige angewandt, um trotzdes objektivsachwidrigen Hand~lns das Verschulden wegen "eines auf drohender, erheblicher Gefahr beruhenden Mangels besonnener Überlegung" auszuschließen. Die genannten Urteile des Reichsgerichts betreffen allerdings nur Fälle des Mitverschuldens nach§ 254 BGB, bei denen das Kind Geschädigter, nicht Schädiger ist. Insofern mag ein Unterschied in der Interessenlage vorliegen, der auf das Ergebnis der Entscheidung nicht ohne Einßuß geblieben ist. Immerhin geht jedoch das Reichsgericht so weit, daß es den äußeren Umständen nicht bloß schuldmindernde, sondern auch schuldausschließende Wirkung beimißt71. Das Reichsgericht hat in seiner Entscheidung vom 25. 1. 1908 sogar den Versuch gemacht, das sorgfaltswidrige Verhalten des Minderjährigen in einer besonderen Gefahrenlage nicht bloß zu entschuldigen, sondern dem Kind die Möglichkeit der Einsicht in die Gefahr überhaupt abzusprechen72. Das Gericht meint, das Verhalten der Klägerin verstoße objektiv gegen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt und müßte mithin als schuldhaft gelten, wenn es nicht durch den Nachweis besonderer Umstände entschuldigt wäre. Die Klägerin sei durch die Bedrohung und Verfolgung seitens des Knaben derart in Furcht und Schrecken versetzt worden, daß 11 RG Urt. v. 14. 11. 1901 JW 02, 3128 ; RG Urt. v. 9. 1.1902 JW 02, 13662 ; RG Urt. v. 25. 1. 1906 JW 06, 160; RG Urt. v. 7. 2. 1924 Recht 1924 Nr. 800; der BGH hat diese Rechtsprechung übernommen, vgl. BGH Urt. v. 25.10.1951 NJW 1952, 217}; Geigel, Haftpftichtrecht, S. 20 f.; OLG München Urt. v. 9. 7. 1957 VersR 58, 630, 631; vgl. auch: RGR-Kommentar z. BGB § 276 Anm. 25; Dernburg, Das bürgerliche Recht, Bd. II, 1, § 63 II Fußn. 11. 70 Vgl. RG Urt. v. 24. 6. 1920, Gruchot Beitr. Bd. 65 Nr. 5 (S. 76). 71 Vgl. dazu die Parallele zum Strafrecht, wo derartige Umstände als Schuldminderungsgrund bei der Strafzumessung auftauchen (Schönke-Schröder StGB §51 Vorbem. 82). 71 RG Urt. v. 25. 1. 1908 WarnRspr. 1908 Nr. 314 = JW 08, 210u = WarnJ 1908 § 828 Nr. 2 = EisenbahnE Bd. 24, 390. Der Sachverhalt war kurz folgender: Die Klägerin war durch die "Belästigung und Verfolgung seitens des Knaben in große Angst versetzt worden". "Bei der Persönlichkeit dieses Knaben sei es völlig erklärlich gewesen, daß sie vor dessen drohendem Angriff in Furcht und Schrecken geraten sei und völlig eingeschüchtert, sich auf das Trottoir der anderen Straßenseite zu retten versucht habe" - ohne auf die heranfahrende Straßenbahn zu achten.
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sie nicht mehr fähig war, die ihr von der Straßenbahn drohende Gefahr zu erkennen und abzuwägen. "Unter diesen Umständen war", so heißt es in der Entscheidung, "das Berufungsgericht nicht gehindert, dem Geschlecht und dem jugendlichen Alter der verletzten Person Rechnung zu tragen, und ein Verschulden wegen der Beeinträchtigung der Überlegungs- und Willensfähigkeit des Mädchens zu verneinen." Die Feststellung des Gerichts, die Klägerin sei wegen der Bedrohung "zur Erkenntnis und Abwägung der ihr von der Straßenbahn drohenden Gefahr unfähig gewesen" steht allerdings im Gegensatz zu der anderen vom Berufungsgericht getroffenen und vom RG aus prozessualen Gründen nicht beanstandeten Feststellung, die Beklagte habe die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht besessen, weil sie die von der Straßenbahn drohende Gefahr erkennen konnte. Das Berufungsgericht hatte diesen Widerspruch vermieden. Es nahm die Voraussetzungen des § 828 Abs. 2 BGB für die Verantwortlichkeit an sich als gegeben an, schloß aber ein Verschulden der Klägerin aus, weil sie aus Furcht vor dem sie verfolgenden Knaben "jeden Gedanken an andere Gefahren, insbesondere diejenige der elektrischen Straßenbahn, für einen Augenblick verloren habe". Mit anderen Worten: die Klägerin wartrotz der Verfolgung grundsätzlich fähig, die ihr von der Straßenbahn drohende Gefahr zu erkennen; es fehlte ihr wegen des Schreckens, aus Furcht des Augenblicks, jedoch an der Möglichkeit, diese Einsicht zu realisieren und das Verhalten danach einzurichten73• Auch in der sonstigen Rechtsprechung des Reichsgerichts wurde nicht die Einsicht in die Verantwortlichkeit als ausgeschlossen angesehen. Die Entscheidungen beschränken sich darauf, wegen der besonderen Gegebenheiten das Verschulden des Minderjährigen zu verneinen7'. So hat das Gericht in einem Urteil vom 24.6.192076 "das plötzliche Ausbleiben 11 Deutlicher wird das im Urteil des RG vom 14.12.1922 JW 24, 51'1 ausgesprochen: Das Verschulden des Kl. kann auch dann ausgeschlossen sein, wenn dieser zwar zur Erkenntnis der Gefährlichkeit die erforderliche Einsicht besaß, aber "sie unter dem lähmenden Einfluß des Schreckens nicht zur Überlegung und Beschlußfassung zu gebrauchen vermochte". 74 RG Urt. v. 30. 4. 1903 JW 03 Beil. 76 = Gruchot Beitr. Bd. 47, 920; RG Urt. v. 15. 10. 1908 Recht 08 Nr. 3750; 3792; RG Urt. v. 6. 11. JW 1911, 707 =WarnRspr. 1912 Nr. 13; RG Urt. v. 27. 11. 1911 Recht 1912 Nr. 297; RG Urt. v. 14. 12. 1922 JW 24, 5111 (m. Anm. Seligsohn); RG Urt. v. 21. 1. 1931 JW 31, 3319 (3321) = JRPV 1931, 72 = RGZ 131, 190. Nur in dieser Bedeutung ist das Urteil RG WarnRspr 1908 Nr. 314 später auch angeführt worden; vgl. RG Gruchot Bd. 65 Nr. 5 (S. 77). 75 RG Gruchot Beitr. Bd. 65 Nr. 5 (S. 77). Der Sachverhalt war folgender: Ein &jähriger Knabe will an einer Bedarfshaltestelle der Straßenbahn aussteigen, begibt sich zu diesem Zweck auf die hintere Plattform und betritt kurz vor der Haltestelle das Trittbrett. Entgegen seinen Erwartungen hält der Wagen an dieser Station nicht, sondern fährt mit voller Fahrt durch. Der Junge springt daraufhin vom Trittbrett ab und gerät mit dem Bein unter den Anhängewagen; vgl. auch OLG Stuttgart, Beschl. v. 7.10.1953 VersR 53, 437 (Abwehrbewegung gegen anspringende Dogge).
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des erwarteten Haltens, das unerwartete Weiterfahren des Wagens, als jähe Überraschung für das zum Aussteigen bereite Kind" gewertet und wegen dieser Einwirkung besonderer objektiver Umstände auf die Überlegungs- und Entschlußfähigkeit, das an und für sich fahrlässige Verhalten des Minderjährigen als entschuldigt betrachtet. bb) Die Berücksichtigung der Willensfähigkeit innerhalb des Verschuldeoserfordernisses der Zumutbarkeit Der Bundesgerichtshof faßt diese Rechtsprechung des Reichsgerichts über die Einwirkung besonderer objektiver Umstände auf das Maß der zu fordernden Sorgfalt unter dem Begriff der Zumutbarkeit zusammen. Nach seiner Auffassung erschöpft sich der Vorwurf der Fahrlässigkeit nicht im Erkennen oder Erkennenmüssen der Gefährlichkeit der Handlung. Zu der Einsicht in die Gefahr muß noch der Umstand hinzutreten, daß dem Schädiger ein die Gefahr vermeidendes Verhalten im gegebenen Fall zuzumuten war71• Die Zumutbarkeit entfällt insbesondere dann, wenn der Schädiger angesichts einer nicht verschuldeten und nicht voraussehbaren Gefahrenlage kopflos wird und sich unsachgemäß verhält77• Der Bundesgerichtshof ist jedoch in zweifacher Hinsicht über die Rechtsprechung des Reichsgerichts hinausgegangen. Einmal hat er die Berücksichtigung der fehlenden Willensfähigkeit nicht auf die Fälle des Mitverschuldeos beschränkt, weil er die Zumutbarkeit als ein allgemeines Fahrlässigkeitsregulativ betrachtet. Im Gegensatz zum Reichsgericht läßt der BGH schließlich auch das Erfordernis ungewöhnlicher äußerer Umstände bei der Zumutbarkeit fallen und berücksichtigt innerhalb dieses Begriffs jede Beeinträchtigung der Überlegungs- und Willensfähigkeit. Das im Vergleich zum erwachsenen Menschen geringe Hemmungsvermögen des Minderjährigen kann demnach im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung ganz generell als schuldausschließend bzw. beim mitwirkenden Verschulden, als schuldmindernd gewertet werden. Im Vordergrund stehen bei den von der Praxis entschiedenen Fällen die in der Natur des Jugendlichen begründete, triebmäßige Neigung, Angriffe mit denselben Mitteln abzuwehren bzw. zu erwidern78 , der kind71
Vgl. Zusammenfassung bei: RGR-Komm. z. BGB § 276 Anm. 26; Stau-
dinger-SchäleT§ 828 RZ 10; BGH Urt. v. 3. 6. 1966 VersR 66,831 (833).
11 Vgl. BGH Urt. v. 25. 10. 1951 LM § 286 ZPO Nr. 2 (A) m. w. Nachweisen; RGR-Komm. z. BGB § 276 Anm. 25; Erman § 276 Anm. 4 b, c. 78 BGH Urt. v. 23. 10.1952 VersR 53, 28; Urt. v. 17. 12.1963 VersR 64, 385; OLG München Urt. v. 29. 3. 1960 VersR 60, 633; LG Aurich Urt. v. 2. 12. 1954 VersR 55, 271.
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liehe Erprobungs- und Betätigungsdrang78, überhaupt der Spieltrieb in den verschiedensten Ausprägungen80, der, wie häufig betont wird81, geeignet ist, bei Jugendlichen alle vernünftigen Erwägungen hinwegzuspülen. cc) Würdigung dieser Rechtsprechung
Die Rechtsprechung hat versucht, mit Hilfe des Erfordernisses der Zumutbarkeit einen wesentlichen Mangel des § 828 II BGB durch zweckmäßige Ergänzung der Verschuldensprüfung auszugleichen. Freilich läßt sich nicht leugnen, daß diese Konstruktion nicht in jeder Hinsicht zu befriedigen vermag. Deshalb wurden gegen diese Judikatur auch Bedenken laut, deren Berechtigung nicht zu bestreiten ist81 • Es liegt auf der Hand, daß diese Rechtsprechung die Willensmängel des Jugendlichen, eben weil sie erst beim Verschulden geprüft werden und damit an den objektivierten Maßstab des§ 276 BGB gebunden sind, nicht wie § 828 II BGB die intellektuellen Reüemängel individuell nach der Entwicklung des einzelnen, sondern nur typisiert als Mängel, die einer ganzen Altersgruppe eigen sind, in Betracht ziehen kann83• Die dadurch entstehende Lücke ist jedoch praktisch ohne Bedeutung, da es sich bei den hauptsächlichen Willensmängeln des Jugendlichen84 regelmäßig um alterstypische Erscheinungen handeln wird. Ein wesentlicher Einwand richtet sich jedoch gegen die höchst vagen und ungewissen Grenzen des Begriffs der Zumutbarkeit, welche dem richterlichen Ermessen allzuviel Spielraum lassen85• Tatsächlich reicht die 78 BGH Urt. v. 19. 12. 1961 VersR 62, 255; KG Urt. v. 31. 3. 1955 VersR 55, 296; OLG Celle Urt. v. 29. 11. 1963 VersR 64, 174 = MDR 64, 174 (LS). 80 BGH Urt. v. 26. 10. 1955 VersR 55, 762; Urt. v. 4. 6. 1957 VersR 57, 572; Urt. v. 5. 10. 1965 VersR 65, 1155. BGH Urt. v. 2. 4. 1963 VersR 63, 726; BGH Urt. v. 16.5.1963 VersR 63, 947 (950); BGH Urt. v. 22. 1. 1966 VersR 1967, 158 (159) = FamRZ 1967, 214 (LS); OLG Schleswig Urt. v. 29. 7. 1966 VersR 67, 91 (92); OLG Oldenburg Urt. v. 15. 6. 1956 VersR 57, 572; OLG Braunschweig Urt. v. 25. 1. 1955 VersR 55, 356; OLG Karlsruhe Urt. v. 14. 2. 1958 VersR 58, 199; OLG Hamm Urt. v. 20.5.1958 VersR 59, 540; OLG Celle Urt. v. 15.12.1958 VersR 59, 540; OLG Celle Urt. v. 15. 12. 1960 VersR 61, 924 (927); OLG Köln Urt. v. 29. 3. 1962 VersR 63, 51. 81 BGH Urt. v. 23. 10. 1952 VersR 53, 28; OLG Hatrun Urt. v. 13. 10. 1953 VersR 54, 460; OLG Düsseldorf Urt. v. 12. 12. 1961 VersR 62, 607. 81 Vgl. Böhmer, MDR 64, 278 (279); Mertens, Der Referentenentwurf zur Änderung des Schadensersatzrechts, in: FamRZ 68, 130, 134. 83 Vgl. dazu: BGH Urt. v. 17.12.1957 VersR 58, 177; Geilen, JZ 64, 10 und FamRZ 65, 401; Zeuner bei Soergel-Siebert § 828 RZ 2. 114 Vgl. Remplein, Die seelische Entwicklung, S. 446. 85 Vgl. die Urteile OLG Köln v. 29. 3. 1962 VersR 63, 51 und OLG Celle v. 29.11.1963 VersR 64, 174. In beiden Fällen hatte ein etwa 8 Jahre alter Junge einem ausdrücklichen Verbot zuwider in der Nähe einen mit Stroh gefüllten
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Skala der Entscheidungen von der pauschalen Verneinung der Willensfähigkeit, wenn der Jugendliche aus Spieltrieb gehandelt hat88, bis hin zu der skeptischen Frage, ob der Spieltrieb für sich überhaupt geeignet sei, das Verschulden des Jugendlichen auszuschließen87• Eine weitere Unzulänglichkeit des Zumutbarkeitbegriffs besteht darin, daß er nur für die Fälle fahrlässigen Verschuldeos gilt. Eine Anwendung auch bei vorsätzlichen Beschädigungen hat schon das Reichsgericht ausdrücklich abgelehnt. Es ist deshalb schwierig, in den, wenn auch im Verhältnis nicht sehr häufigen Fällen vorsätzlicher Schadenszufügung, eine gerechte Lösung zu finden. Das OLG Köln hatte die Klage gegen einen fast 8 Jahre alten Jungen, der einen Spielkameraden, welcher ihn durch Steinwürfe und andere Belästigungen reizte, mit einem Steinwurf schwer am Auge verletzt hatte, abgewiesen88• Es nahm zwar an, daß der beklagte Junge die nach § 828 Abs. 2 BGB erforderliche Sorgfalt besessen habe, da er nach seiner geistigen Reife die Gefährlichkeit und Verbotswidrigkeit des Steinwerfens einzusehen imstande gewesen sei. Ein Verschulden falle dem Beklagten in Anbetracht seines jugendlichen Alters· jedoch nicht zur Last. Der Beklagte sei durch die ständigen Belästigungen und Steinwürfe des jüngeren und schwächeren Gegners in Ärger und Erregung versetzt worden. Wenn er daher "triebmäßig mit denselben Waffen, mit denen er angegriffen wurde", zurückgeschlagen habe, so bedeute dies keine Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Das Reichsgericht billigt diese Ansicht nicht. Es räumt, im Anschluß an RGJW 11, 44610, ein, daß das Maß der Sorgfaltspflicht je nach der Auffassung des in Betracht kommenden Personenkreises rechtlich verschieden zu beurteilen sein mag, und deswegen auch die Jugendlichkeit des Handelnden bei der Beurteilung der Frage des Verschuldeos zu berücksichtigen sei. Nach Ansicht des Gerichts kommen Erwägungen dieser Art hier jedoch nicht in Betracht; denn, da der jugendliche Schädiger die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit für seine Handlung erforScheune ein Feuerehen entzündet, wobei das Feuer wegen des herrschenden Windes auf das Gebäude übergriff. Das OLG Köln verneint das Verschulden, weil der Junge der Anziehungskraft des Feuers erlegen sei und der Spieltrieb alle vernünftigen 'Oberlegungen ausgeschaltet habe. Das OLG Celle bejaht das Verschulden des Knaben,. weil ihm zuzumuten gewesen sei, sich seiner Erkenntnis gemäß zu verhalten und von dem Anstecken des Papierfetzens abzusehen. 81 Vgl. BGH Urt. v. 23. 10. 1952 VersR 53, 28 ("Tomatenschlacht"). 87 OLG Bremen Urt. v. 14.5.1959 VersR 59, 815 (817); vergleichsweise hohe Anforderungen an die Willensfähigkeit stellen beispielsweise: BGH Urt. v. 17.12.1963 VersR 64, 385; OLG Celle, Urt. v. 29.11.1963 VersR 64, 174 (auch schon Urt. v. 15. 12. 1960 VersR 61, 924), AG . Linz/Rhein, Urt. v. 31. 8. 1955 VersR 55, 640; OLG Oldenburg, Urt. v. 14. 11. 1956 VersR 57, 306. 88 Vgl. RG Urt. v. 7. 3. 1935 WarnRspr. 1935 Nr. 67 (S. 139).
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derliehe Einsicht besaß und die Absicht hatte, den Kläger mit dem Steinwurf zu treffen, sei seine Ersatzpflicht ohne weiteres gegeben. Der Beklagte hatte nach den Feststellungen des Gerichts also vorsätzlich gehandelt. Für die Schuldform des Vorsatzes ist, abgesehen vom Bewußtsein der Rechtswidrigkeit, lediglich erforderlich, daß der Handelnde wußte oder damit rechnete, sein Verhalten werde den schädlichen Erfolg herbeüühren8'. Eine Prüfung in der Richtung, wie sich unter gleichen Umständen, in gleicher Lage ein verständiger, gewissenhafter Mensch benommen hätte, erübrigt sich damit von selbst80• Die vorsätzliche Verletzung eines der in § 823 BGB genannten Rechtsgüter durch einen deliktsfähigen Minderjährigen begründet ohne weiteres dessen Haftung. Die überwiegende Meinung lehnt es deshalb auch ab, das Erfordernis der "Zumutbarkeit" auf das vorsätzliche Verschulden zu übertragen. Damit ist dem Bundesgerichtshof der Weg versperrt, mittels der Zumutbarkeit dem mangelnden Hemmungsvermögen eines Jugendlichen im Falle vorsätzlicher Beschädigung Rechnung zu tragen. Die Rechtsprechung behilft sich, um eine ungleiche Behandlung gleichliegender Tatbestände zu vermeiden, damit, daß sie auf die Feststellung des Vorsatzes verzichtet und mit Hilfe des Begriffs der "Gefährlichkeit der Handlung" stillschweigend auf die Fahrlässigkeit ausweicht". Der Vorsatz verlangt bekanntlich nicht, daß der Handelnde den Unfall in allen Einzelheiten voraussieht. Es genügt das Bewußtsein der schadenstiftenden Wirkung der widerrechtlichen Handlung11• Ninimt der Täter diesen Ersterfolg, also beispielsweise bei der Beschädigung des Körpers und der Gesundheit die Zufügung eines nicht ganz unerheblichen körperlichen Schmerzes zumindest billigend in Kauf, so handelt er vorsätzlich'3 • Eine solche vorsätzliche Beschädigung des Körpers bzw. der Gesundheit ist deshalb anzunehmen, wenn ein Junge mit rechteckigen, spitzen Holzstücken gezielt nach seinem Spielkameraden wirft14, und ihm bewußt ist, daß Werfen solcher Gegenstände zu Verletzungen führen kann. Dasselbe gilt, wenn ein Mädchen einen Angriff auf einen 8' Vgl. RGR-Komm. z. BGB § 276 Anm. 16 ff., § 823 Anm. 3 f.; Ennan § 276 Anm.3. " Auf den Beweggrund für die Handlungsweise kommt es nicht an (RGRKommentar z. BGB § 276 Anm. 17; Ennan § 276 Anm. 3); a. A. DöUe, Verhandlungen d. 34. DJT Bd. 1 (Gutachten) S. 97 ff. (114 f.). ' 1 Darauf hat schon Geilen aufmerksam gemacht (vgl. JZ 64, 6, 10). tt Vgl. RGR-Kommentar z. BGB § 823 Anm. 3 a; Anm. 7; § 276 Anm. 11. ta Vgl. Geilen, Strafrechtliches Verschulden im Zivilrecht? JZ 64, 6, Fußn. 40; RGR-Kommentar § 823 Anm. 3; AG Linz/Rhein, Urt. v. 31. 8. 1955 VersR 55, 460; BGH Urt. v. 30. 4. 1952 VersR 52, 223. H OLG Düsseldorf Urt. v. 12.12.1961 VersR 62, 607 (6o8); vgl. auch: OLG Karlsruhe Urt. v. 14. 2. 1958 VersR 58, 109 (Blasrohrschuß mit spitzer Nadel auf Mitspieler).
1. Auslegung des§ 828 Abs. 2 BGB
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Spielkameraden mit einem Skistock führt, dessen Spitze sie nach vorne hält811• Schließlich liegt auch dann eine vorsätzliche Schmerzzufügung vor, wenn ein Kind mit einer flachgetretenen und daher spitzen Milchkonservendose auf ein anderes Kind wirft", wenn ein Knabe mit einem Astgabelkatapult, dessen g.r oßes Beschleunigungsvermögen ihm bekannt ist, eine Hagebutte auf ein Mädchen schießt87, oder wenn ein Junge ein Metallplättchen mit einer Gummischleuder gezielt auf einen in der Nähe stehenden Spielkameraden schießt88• In all diesen Fällen war zwar der wirklich eingetretene Erfolg, nämlich die Verletzung gerade des Auges, nicht gewollt. Darauf kommt es jedoch für die Frage, ob vorsätzliches Handeln vorliegt, nicht an; denn die besondere Gestaltung des schädlichen Erfolges braucht vom Vorsatz nicht umfaßt zu werden. Es ist ausreichend, wenn der Vorsatz die schädigende Einwirkung auf das geschützte Rechtsgut umfaßt, d. h. die Vorstellung, es werde überhaupt eine Körperverletzung eintreten, mag auch der aus der Verletzung des Rechtsgutes entstehende Schaden, der Verlust des Augenlichts, außerhalb der Vorstellung des Täters gelegen haben••. Insoweit handelt es sich lediglich um eine Frage des adäquaten Kausalverlaufes100. Die Rechtsprechung hat in den erwähnten Fällen gleichwohl davon abgesehen, eine vorsätzliche Schädigung durch den Minderjährigen anzunehmen. Die Entscheidungen begnügen sich jeweils mit der Feststellung, daß die Einsicht in die Gefährlichkeit des Tuns vorlag, untersuchen also lediglich die Frage der Fahrlässigkeit1°1. Auf diese Weise wird es möglich, im Rahmen der Fahrlässigkeitsprüfung auch Erwägungen darüber anzustellen, ob dem jugendlichen Schädiger ein normgemäßes Verhalten im konkreten Fall zurnutbar war, und damit die altersbedingte 01 BGH Urt. v. 29. 3. 1960 VersR 60, 633 (634); vgl. BGH Urt. v. 20. 8. 1961 VersR 61, 812 (Angriff mit Bieröffner auf Spielkameraden). " BGH Urt. v. 17.12.1957 VersR 58, 177; LG Ellwangen Urt. v. 20.2.1952 ZBlJugR 1953, 37 (gezieltes Werfen auf Spielkameraden). 87 BGH Urt. v. 17.12. 1963 VersR 64, 395; ähnlich: LG Aurich Urt. v. 2.12.1954 VersR 55, 271. 18 BGH Urt. v. 23. 12. 1953 VersR 54, 118 = JZ 54, 297 = LM § 828 Nr. 2; gleichliegender Sachverhalt in LG Aachen, Urt. v. 14./15. 10. 1965, OLG Köln, Beschl. v. 20. 12. 1965, abgedruckt in: VersR 67; 567. " Palandt-Thomas, BGB, § 823 Anm. 2; RGR-Komm. z. BGB § 823 Anm. 3 a. 1oo Vgl. dazu: Geilen, JZ 64, 6, 10 (Fußn. 40). 1o1 Geilen (JZ 64, 6, 10) spricht in diesem Zusammenhang ironisch von einer "geheimnisvollen juristischen Metamorphose": der Vorsatz des Minderjährigen werde "unter der Hand zur Fahrlässigkeit"; dagegen: Staudinger-Schäfer § 828 RZ12. .
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2. Kap., 11. Anwendung des§ 828 Abs. 2 BGB in der Rechtsprechung
Willensschwäche zu berücksichtigen102• Die praktische Notwendigkeit eines solchen Vorgehens läßt sichangesichtsder Mängel des§ 828 li BGB nicht bestreiten. Die Art, wie das angestrebte Ergebnis erzielt wird, ist allerdings bedenklich. Der Verschuldensausschluß wegen der Unzumutbarkeit eines die Gefahr vermeidenden Verhaltens war an sich nur für solche Fälle gedacht, in welchen sich jemand angesichts einer nicht verschuldeten und nicht voraussehbaren Gefahrenlage unsachgemäß verhalten hat, oder bei denen die Wahrscheinlichkeit eines rechtswidrigen Erfolges so gering war, daß die objektive Sorgfalt kein anderes Verhalten erforderlich machte103• Es waren demnach bestimmte äußere Umstände- die geringe Gefahr bzw. die überaschende Gefahrenlage, welche das Maß der von einem Durchschnittsmenschen objektiv zu fadernden Sorgfalt beeinftußten. Die Prüfung der Zumutbarkeit bei mangelnder Willensreife Minderjähriger bezieht sich jedoch nicht auf solche Eigenheiten der Handlung, sondern auf die Eigenheiten des Handelnden, nämlich seinen unzulänglich entwickelten Willen, der ihn daran hindert, sich der seinem Alter entsprechenden, durchschnittlich zu verlangenden Sorgfalt entsprechend zu verhalten. Genau genommen müßte man deshalb sagen, daß der Schuldausschließungsgrund der Unzumutbarkeit gefahrvermeidenden Verhaltens entsprechend auf das fehlende Hemmungsvermögen angewendet ist. Die Tatsache, daß die Reifemängel des Jugendlichen, die das Vermögen, sich seiner Einsicht gemäß zu verhalten beeinträchtigen, im Gegensatz zu den entsprechenden Mängeln der verstandesmäßigen Entwicklung nicht individuell, sondern lediglich im Rahmen der typischen Verschiedenheit ganzer Altersklassen und selbst dies nur beim fahrlässigen Verschulden berücksichtigt werden können, zeigt, daß die Konstruktion der Rechtsprechung nur ein Notbehelf ist, zu dem die unzulängliche, weil einseitig auf die Verstandesreife abstellende Regelung des § 828 Abs. 2 BGB gezwungen hat. 2. Das Verhältnis von Verantwortlidlkeitseinsldlt und Verschulden
Nach der Vorstellung des BGB gehören zu den Begriffsmerkmalen der unerlaubten Handlung sowohl die Schuld, d. h. die subjektive Beziehung des Täters zu dem eingetretenen Erfolg, als auch die Zurechnungs101 Vgl. BGH VersR 58, 177 (Willenschwäche); OLG Düsseldorf VersR 62, 607 (Spietrieb); BGH VersR 60, 633 (Überraschung und Bestürzung); BGH VersR 64, 385 (starker Aufforderungscharakter des Hagebuttenwurfes); LG Aurich VersR 55, 271 (Spieltrieb); BGH VersR 54, 118 (Spieltrieb). 103 Vgl. etwa: RGR-Komm. z. BGB § 276 Anm. 25.
2. Das Verhältnis von Verantwortlichkeitseinsicht und Verschulden
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fähigkeitdes Handelnden104 • Vorsatz und Fahrlässigkeit werden als die beiden Formen schuldhaften Handeins angesehen105• Im Gegensatz zum Strafrecht, wo die vorsätzliche Tat im Mittelpunkt der Erörterung steht, hat es das Zivilrecht jedoch vor allem mit fahrlässigen Rechtsverletzungen zu tun108• Die Übernahme der Regelung des § 56 StGB in das bürgerliche Recht stellte deshalb Lehre und Praxis vor die Aufgabe, einen Begriff, den das Strafrecht an Hand vorsätzlicher Taten, ausgehend von einem bewußt gegen das Strafrecht verstoßenden Täter, entwickelt hatte, auf fahrlässige Handlungen anv~•endbar zu machen107• Man erkannte dabei ganz richtig, daß die Fahrlässigkeit im Unterschied zu den Fällen des Vorsatzes, eine zusätzliche Schwierigkeit bot: der fahrlässig Handelnde überblickt den zum rechtsverletzenden führenden Kausalverlauf nicht. Gerade dies macht man ihm ja zum Vorwurf. Die Zurechnung zur Schuld setzt deshalb bei der Fahrlässigkeit die Fähigkeit des Täters voraus, den rechtsverletzenden Erfolg, genauer gesagt: die objektive Geeignetheit einer Handlung oder Unterlassung, den schädlichen Erfolg herbeizuführen, zu erkennen. Das machte es notwendig, neben der Einsicht in die Verantwortlichkeit, beim Minderjährigen auch zu prüfen, ob er nach dem Stande seiner Entwicklung die Möglichkeit des schädlichen Erfolges oder, wie man sagte: die Gefährlichkeit seiner Handlung erkennen konnte. Anfänglich herrschten in der Rechtsprechung und auch in der Lehre Unklarheit darüber, wo dieser Begriff der Einsicht in die Gefährlichkeit im Rahmen der Haftungsvoraussetzungen einzuordnen sei. Vom Standpunkt der Verfasser des BGB aus, welche die Deliktsfähigkeit ganz allgemein als juristische Handlungsfähigkeit verstanden, lag es nahe, die 104 Endemann, Lehrbuch, Bd. I,§ 130; Planck, Kommentar zum BGB, Bd. II, S. 610; Schollmeyer, Recht der einzel.I).en Schuldverhältnisse, S. 113; Dittenberger, Der Schutz des Kindes gegen die Folgen eigener Handlungen, 1903, S.69f. 105 Motive, Bd. I, S. 281; Türcke-Niedenführ-Winter, Das bürgerliche Recht, §276Anm.4. 101 Deshalb ist die Meinung Sibers (Planck-Siber, BGB § 828 Anm. 2), bei der Auslegung des§ 828 Abs. 2 BGB seien die auf dem Gebiete des Strafrechts gesammelten Erfahrungen zu verwerten, nur mit Vorbehalten aufzunehmen. 107 In der strafrechtlichen Literatur finden sich kaum Äußerungen über die Anwendung des§ 56 StGB auf fahrlässige Taten. Einzig v. Schwarze läßt sich in seinem Kommentar zu dieser Frage aus (§ 56 Anm. 4): "Die Erkenntnis der Strafbarkeit beschränkt sich nicht auf dolose Delikte, sondern geht auch auf culpose Handlungen ... Der intellectus trifft zwar mit den Voraussetzungen der Zurechnung zur culpa zusammen. Allein keineswegs geht er in ihnen völlig auf. Jedenfalls wird auch bei culposen Handlungen die Feststellung des § 57 zu verlautbaren sein." Der Sinn dieser Worte bleibt allerdings dunkel und läßt berechtigten Zweifeln Raum, ob Schwarze selbst sich über das Problem klar war. Vgl. auch die anfänglich auftauchende Frage, ob § 828 Abs. 2 BGB nur für absichtliche Beschädigungen gelte (RG Urt. v. 3. 6. 1910 JW 1910, 810 = RGZ 74, 143 = Recht 1910 Nr. 2997).
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2. Kap:, 11. Anwendung des§ 828 Abs. 2 BGB in der Rechtsprechung
Einsicht in die Gefährlichkeit als ein Element der Einsicht in die Verantwortlichkeit zu betrachten108. So führt das OLG Dresden in der ersten überhaupt zu § 828 Abs. 2 BGB veröffentlichten Entscheidung im Anschluß an Planck109 und Staudinger110 aus, für die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht genüge es nicht, wenn der Täter die zur Erkenntnis der Gefährlichkeit der Handlung erforderliche Einsicht besessen habe, während andererseits auch hier111 nicht die Voraussehbarkeit des Schadens gefordert werde111. Die Frage nach der Verantwortlichkeitseinsicht würde demnach auf eine mehr oder minder genaue Vorstellung über den Kausalverlauf zurückgeführt. Daß dies nicht die Absicht des Gesetzgebers war, läßt sich den Materialien eindeutig entnehmen. Der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs lag der Antrag vor, in dem damaligen § 709 des Entwurfs statt der "Verantwortlichkeit" die Worte zu setzen: "ihrer Gefährlichkeit", weil es "bei der Wissenschaft des Täters nicht darauf ankomme, ob derselbe sich verantwortlich mache, sondern darauf, ob die Handlung für den Anderen schädliche Folgen haben könne" 111. Diese Auffassung wurde von der Kommission als unzutreffend zurückgewiesen. Man war der Ansicht, die Erkenntnis der Verantwortlichkeit habe zum Inhalt das Erfassen rechtlicher Zusammenhänge; der Minderjährige müsse erkennen können, daß er widerrechtlich in einem fremden Rechtskreis eingreife. Nicht der Einsicht der Gefährlichkeit oder der Voraussehbarkeit des angerichteten Schadens entspreche die Erkenntnis der Verantwortlichkeit; entscheidend sei viel108 Vgl. Motive 11, 731; Motive I, 130; Rümelin, Die Geisteskranken im Rechtsgeschäftsverkehr, S. 10; dazu: Staudtnger-Schitfer § 828 RZ 14; vgl. auch die Diskussion um die Frage, ob auch das unzurechnungsfähige Kind einen objektiv rechtswidrigen Eingriff in die Rechtsgütersphäre eines anderen vorsätzlich oder fahrlässig vornehmen könne (Dittenberger, a.a.O., S. 66 ff.; Hoechster, Grenze der Haftung Unzurechnungsfähiger (§ 829 BGB) in: AcP Bd. 104 (1909), S. 427 ff.; Hetnsheimer, Die Haftung Unzurechnungsfähiger nach§ 829 BGB, in: AcP Bd. 95 (1904), S. 234 ff., 238 ff.; Pienitz, Schuld und Haftung bei Schadensfällen, an denen Minderjährige beteiligt sind, 1940, S. 12 f.; Oertmann, Privatrechtsschutz gegenüber Unzurechnungsfähigen, in: Seufml. Bd. 74 (1909), S. 573 ff. (583 ff.). 1" Planck-Siber, BGB § 828 Anm. 2 a. 111 Staudtnger-Engelmann, BGB § 828 Anm. 2 b. 111 Wie beim Erwachsenen. 111 OLG Dresden, Urt. v. 20. 9. 1901 OLGE 3, 287 f. = WarnJ Bd. 1 § 828 Nr. 2 = SoergRspr. 1901/1902, S. 88. · 111 So auch: OLG Stuttgart, Urt. v. 11. 4. 1912, Recht 1912 Nr. 1608: "Die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht ist nichts anderes.als das Verständnis dafür, daß die Handlung nachteilige Folge für andere haben könnte, also die Einsicht von der Gefährlichkeit der Handlung." Ebenso: v. ·Ltszt, Die Grenzgebiete zwischen Privatrecht und Strafrecht, 1889, S. 44; OLG Celle, Urt. v. 10. 2. 1954; Schitfer-Finnern, Rechtsprechung der Bauausführung Z. 4.13 BI. 51; LG Marburg Urt. v. 5. 2. 1957 VersR 57, 688.
2. Das Verhältnis von Verantwortlichkeitseinsicht und Verschulden
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mehr die Erkenntnis der Pflichten, welche das Zusammenleben der Menschen im Staate dem Einzelnen auferlege114 • Das Reichsgericht hat deshalb auch die Meinung des OLG Dresden nicht übernommen. Nach seiner Ansicht beruht die Fahrlässigkeit stets auf einem verschuldeten Irrtum über die schädlichen Folgen der Handlung116. Das Wesen der Fahrlässigkeit erblickt das Gericht darin, "daß der Handelnde die Gefährlichkeit der Handlung, die er erkennen konnte, schuldhafterweise sich nicht vorgestellt hat" 118• Die Möglichkeit, das Unrecht seines Tuns zu erkennen, setzt bei Fahrlässigkeitsdelikten stets die Möglichkeit voraus, der einer bestimmten Handlung innewohnenden Gefahr für fremde Rechte oder Rechtsgüter gewahr zu werden111• Wer sich der schädlichen Folgen seines Handeins nicht bewußt werden kann, ist nach Auffassung des RG auch nicht in der Lage, deren Rechtswidrigkeit zu erkennen, und die Erkenntnis des Unrechts ihrerseits ermöglicht erst den Gedanken an die Einstandspfticht, die Erkenntnis der Verantwortlichkeit. Darum deckt sich, wie das RG klarstellt, die Erkenntnis der Verantwortlichkeit nicht mit der Erkenntnis der Gefährlichkeit der Handlung, aber auch nicht mit der Erkenntnis des den Mitmenschen angefügten Unrechts, sondern geht über beide hinaus118 • Mit der Einführung des Elementes der "Einsicht in die Gefährlich., keit der Handlung" hat das Reichsgericht die "zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht" des § 828 Abs. 2 BGB in der für Fahrlässigkeitsdelikte gebotenen Weise ergänzt. Während bei vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlungen zur Deliktsfähigkeit des Minderjährigen die Fähigkeit, das Unrecht der Handlung und die Pflicht, in irgendeiner Weise dafür einzustehen, vorhanden sein mußten, setzt sich die Verantwortlichkeitseinsicht bei fahrlässigen Handlungen aus drei Bestandteilen zusammen, nämlich: der altersmäßigen Möglichkeit, die Gefährlichkeit der Handlung zu erkennen, der darauf aufbauenden Fähigkeit, das Unrecht der Tat zu erfassen, und schließlich der auf die Unrechtseinsicht gegründeten Möglichkeit der Erkenntnis irgendeiner Einstandspfticht. Die "Einsicht in die Gefährlichkeit" der Handlung ist nach dieser Rechtsprechung der Fahrlässigkeit und der Verantwortlichkeit gemein114 Vgl. Protokolle, Bd. II, S. 582 ff.; ebenso Linckelmann, Die Schadensersatzpfticht aus unerlaubten Handlungen, 1898, S. 108 f. 111 So: RGZ 53, 157 (159), unter Berufung auf Rehbein, Das BGB mit Erläuterungen, 1903, Bd. II, S. 102. 111 RGZ 53, 157 (159); ebenso: OLG Kiel Urt. v. 1. 7.1919 OLGE 39, 195. 117 Vgl. auch OLG Karlsruhe Urt. v. 14.7.1932 JRPV 1932, 279 (Nr. 5); OLG Darmstadt, Darmstädter Archiv Bd. 18, 177 (zit. bei WarnJ Bd. 1 § 828 Nr. 3); 118 RGZ 53, 157 (158); vgL dazu auch Heinsheime1', Die Haftung Unzurechnungsfähiger nach§ 829 BGB, in: AcP Bd. 95 (1904), S. 234 ff. (245 ff.).
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2. Kap., II. Anwendung des § 828 Abs. 2 BGB in der Rechtsprechung
sam111 • Die mögliche Erkenntnis der Gefährlichkeit begründet auf der einen Seite den Vorwurf fahrlässigen Verhaltens120 und gibt auf der anderen Seite die Grundlage für die Einsicht in die Verantwortlichkeit abttt.
Die Rechtsprechung hat daraus den Schluß gezogen, daß mit der Feststellung der zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderlichen Einsicht, eben weil diese auf der Einsicht in die Gefährlichkeit der Handlung beruht, regelmäßig auch die Frage der Fahrlässigkeit bejaht sePtt, während andererseits nicht schuldhaft handele, wer aus Gründen fehlender Altersreife nicht imstande sei, die Gefahr zu erkennen, und sie deshalb bei seinem Handeln außer acht lasse12a. An dieser Überschneidung wird deutlich, daß Zurechnungsfähigkeit und Verschulden nicht zwei voneinander unabhängige Voraussetzungen der Haftung sind. Die Rechtsprechung hat aber aus der Verknüpfung dieser beiden Begriffe, die sich schon am gemeinsamen Merkmal der Einsicht in die Gefährlichkeit zeigt, noch weitere Folgerungen abgeleitet. Insbesondere in den ersten Jahren der reichsgerichtliehen Judikatur wird fast durchweg die Auffassung vertreten, der § 828 Abs. 2 BGB sei nichts anderes als eine Regelung der subjektiven, genauer: der reifemäßigen Voraussetzungen schuldhaften Verhaltens. Damit wird diese Vorschrüt als Regelung der Schuldfähigkeit aufgefaßt. Die Rechtsprechung ist sich auch dessen bewußt. Ein Verschulden, so heißt es in einem Urteil des OLG Hamburg, kann nur dann festgestellt werden, · wenn der Handelnde überhaupt schuldfähig ist, und diese Schuldfähigkeit bemißt sich nach§ 828 Abs. 2 BGB1" . Das Reichsgericht is~ der Ansicht, einer Person zwischen sieben und achtzehn Jahren falle dann ein Verschulden zur Last, wenn sie die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer acht lasse, also nach der Legal111
Vgl. OLG Zweibrücken Urt. v. 25. 2. 1908 SeuffA Bd. 63, Nr. 114.
no Vgl. RGR-Kornm. § 828 Anm. 3.
111 Vgl. z. B.: RGZ 51, 30: Bekl. hat fahrlässig gehandelt, weil er bei gehöriger 'Oberlegung die Gefährlichkeit seines Vorgehens hätte erkennen können; er hat aber auch Einsicht genug gehabt, um zu wissen, daß er, wenn er seine Spielgenossen der Gefahr schwerer Verletzung aussetze, unrecht handele; vgl. auch: RG Urt. v. 6. 3. 1911 JW 1911, 44610 = WarnRspr. 1911 Nr. 269 = Gruchot Beitr. Bd. 55 Nr. 79; Zeuner bei Soergel-Siebert § 828 RZ 4. 1" RG Urt. v. 7. 3. 1935 WarnRspr. 1935 Nr. 67; RG Urt. v. 25. 1. 1908 WarnRspr. 1908 Nr. 314 (S. 228); RG Urt. v. 21.1.1931 JW 31, 3319 (3321); RG Urt. v. 14. 12.1922 :IW 24, 51; RG Urt. v. 18.10.1909 JW 10, 37 = Gruchot Beitr. 54, 619 DJZ 1910, 79 = WarnRspr. 1910 Nr. 19. us RG Urt. v. 18. (8.) 10. 1906 :IW 06, 747 = Recht 1907 Nr. 291 = WarnJ 1907, 117; RG Urt. v. 20. 3.1914, Recht 1914 Nr. 2070; AG Schwäbisch-Hall Urt. v. 8. 3. 1955 FamRZ 55, 180 (LS). m OLG Harnburg Urt. v.l7. 6.1925 HansGerZtg 1925 Beiblatt Nr. 102 (S. 153, 154).
2. Das Verhältnis von Verantwortlichkeitseinsicht und Verschulden
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definition des § 276 Abs. 1 Satz 2, fahrlässig handele, obwohl sie die Einsicht besitze, um ihr Verhalten als mit ihrer Sorgfaltspflicht in Widerspruch stehend erkennen zu können116• Fahrlässigkeit oder Vorsatz als Verschulden im rechtlichen Sinne des Wortes verlangen, wie das Gericht sagt, ein auch subjektiv schuldhaftes Verhalten, welches die Zurechnungsfähigkeit des Handelnden voraussetzt118• Beim Minderjährigen muß deshalb nach dessen Individualität geprüft werden, ob er bei seinem Verhalten diejenige Einsicht besessen hat, die es erlaubt, ihm seine Handlungsweise zum subjektiven Verschulden anzurechnen127• Das ist dann der Fall, wenn er persönlich so weit entwickelt war, daß er die erforderliche Einsicht besaß, um bei seinem Handeln die Vernachlässigung der ihm obliegenden Sorgfaltspflicht zu erkennen128• Diese Auslegung des§ 828 Abs. 2 BGB ist jedoch mit dem Wortlaut der Vorschrift nicht mehr vereinbar. Nach § 828 Abs. 2 BGB hängt die Deliktsfähigkeit letztlich nicht davon ab, ob der Minderjährige reü genug war, um zu erkennen, daß er gegen die von ihm geforderte Sorgfaltspflicht verstieß, sondern allein davon, ob er genügend Reife besaß, um zu erkennen, daß ihn für begangenes Unrecht eine Einstandspflicht treffe. Mit dem Begriff der zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderlichen Einsicht hat der Gesetzgeber, wie sich aus der Entstehungsgeschichte eindeutig ergibt, gerade keine Vorschrift über die Schuldfähigkeit gegeben12'. Diese unmißverständliche Wortfassung des§ 828 Abs. 2 BGB ist wohl auch der Grund, weshalb sich in der Rechtsprechung immer mehr die Auffassung durchsetzte, daß die Einsicht in die Verantwortlichkeit neben dem Verschulden eine eigenständige und darum gesondert zu prüfende Voraussetzung der Deliktshaftung darstelle. Schon in einer Entscheidung aus dem Jahr 1911'30 hat das Reichsgericht darauf hingewiesen, die Frage des Verschuldens sei rechtlich nicht identisch mit der Frage nach der 1" RG Urt. v. 30. 4. 1903 JW 03, Beil. 76; OLG Karlsruhe Urt .. v. 14. 6. 1934 RdK 35, 84 = JW 1935, 1451 = DAutoR 1934, 19 (Nr. 16). ue RG Urt. v. 12. 10. 1903 JW 03, Beil. 122 = SächsA Bd. 14, 364. Deshalb kann von einem Verschulden eines Kindes unter sieben Jahren keine Rede sein (RG Urt. v. 29. 1. 1906 JW 06, S. 1929 ; RG Urt. v. 11. 5. 1903 RGZ 54, 404 = JW 1903 Beil. 90; RG Urt. v. 1. 11. 1904 RGZ 59, 221 = JW 1905, 15; RG Urt. v. 7. 12. 1905 JW 06, 55; RG Urt. v. 7. 3.1935 Nr. 67). 127 RG Urt. v. 28. 5. 1903 JW 03 Beil. 101 = Recht 1903 Nr. 2235, 2543, 2630. 128 OLG Darmstadt, Urt. v. 30.4.1934 RdK 1935 S. 176; ähnlich RG Urt. v. 21. 6. 1915 Recht 1915 Nr. 2454. . tu Vgl. oben S. 57 f . 130 RG Urt. v. 6. 3. 1911 WarnRspr. 1911 Nr. 269 = JW 1911, 446 = Gruchot Beitr. Bd. 55 Nr. 79; zustimmend: Leonhard, Fahrlässigkeit und Unfähigkeit, in: Festgaben für Enneccerus, 1913, S. 12 ff., 74 ff.; vgl. auch: Zeuner bei Soergel-Siebert § 823 RZ 4.
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2. Kap;, II. Anwendung des§ 828 Abs. 2 BGB in der Rechtsprechung
Einsicht in die Verantwortlichkeit. In späteren Entscheidungen181 stellt sich das Gericht dann ausdrücklich auf den Standpunkt, daß grundsätzlich die Prüfung des Vorsatzes bzw. der Fahrlässigkeit bei jugendlichen Personen zwischen sieben und achtzehn Jahren von der Feststellung des Mangels der erforderlichen Einsicht streng zu trennen sei. Danach ist gesondert zu untersuchen, zunächst ob der Minderjährige, was er zu beweisen hat, bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis seiner Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht besessen hat (§ 828 Abs. 2 BGB), und ferner, ob er, falls er jene Einsicht hatte, den Schadenschuldhaft (§ 276 BGB) herbeigeführt hat. Eine- wenn auch recht dürftige- Begründung für die Notwendigkeit einer strikten Trennung von Verschulden und Verantwortlichkeit findet sich erst in einer Entscheidung aus dem Jahre 1937111• Das Reichsgericht verweist auf zwei in dem Urteil vom 13. 12. 1934133 angeführte, unveröffentlichte Ents