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German Pages 637 [638] Year 2007
JUS PRIVATUM Beiträge zum Privatrecht Band 123
Mohr-Siebeck, Fr. Trispel »Fischer:Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht«
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Christian Fischer
Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht
Mohr Siebeck
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Christian Fischer, Studium der Rechtswissenschaften, Politologie, Philosophie und Psychologie; mehrjährige Tätigkeit als Rechtsanwalt; 1997 Promotion; 2006 Habilitation.
e-ISBN PDF 978-3-16-151200-1 ISBN 978-3-16-149272-3 ISSN 0940-9610 (Jus Privatum) Die Deutsche Nationalbliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2007 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Satzpunkt Ewert in Bayreuth aus der Garamond-Antiqua gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
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»Wir werden am letzten den ältesten Bestand von Metaphysik loswerden, gesetzt daß wir ihn loswerden können – jenen Bestand, welcher in der Sprache und den grammatischen Kategorien sich einverleibt und dermaaßen unentbehrlich gemacht hat, daß es scheinen möchte, wir würden aufhören, denken zu können, wenn wir auf diese Metaphysik Verzicht leisteten.« F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Sommer 1886 – Frühjahr 1887, 6 (13), in: Colli/Montinari (Hrsg.), Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Band 12, München 1980, S. 237.
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Vorwort Im Grundsatz herrscht heute Einigkeit darüber, dass die Rechtsfortbildung zu den legitimen Aufgaben der Zivilrechtsprechung zählt („Soraya“). Der Paradigmenwechsel in der Theorie der Rechtsfindung hat indes keine grundlegende Veränderung der Begründungspraxis deutscher Zivilgerichte zur Folge gehabt. Zwar wird das Gesetzesrecht nach wie vor auf breiter Front fortgebildet. Hierzu bedient man sich aber regelmäßig überkommener Begründungsfiguren („Topoi“), welche die Illusion erzeugen, die Gesetze würden lediglich ausgelegt und angewendet. Der Mythos des bloßen Gesetzesvollzugs wird aufrechterhalten, indem erforderliche Rechtsfortbildungen verdeckt werden. „Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter“ – diese Klassikerworte kennzeichnen eine Problematik von unverminderter Aktualität, die hier in einer Gesamtschau aus der Perspektive des Zivilprozessrechts und der juristischen Methodenlehre untersucht wird. Die Arbeit lag der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth im Sommersemester 2006 als Habilitationsschrift vor. Herr Professor Dr. Karl-Georg Loritz hat die Habilitation betreut. Ihm danke ich besonders herzlich. Herrn Professor Dr. Wolfgang Brehm bin ich für die überaus rasche Anfertigung des Zweitgutachtens sehr verbunden. Ohne Angela Zatsch, ohne Bernd Rüthers und ohne Karl-Georg Loritz wäre dieses Buch nicht geschrieben worden. Angela widme ich die Schrift. Bayreuth und Jena, im November 2006
Christian Fischer
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Inhaltsübersicht § 1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
1. Teil: Thema und Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 § 2 Topik und Topoikataloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 § 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 § 4 Die Facetten von »Rechtsfortbildung« und der Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 § 5 Terminologische Ergänzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
2. Teil: Verdeckte Rechtsfortbildungen als tatsächliche Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 §6 §7 §8 §9 § 10 § 11
Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung heute . . . . . . . . . Paradigmenwechsel bei der Rechtsfindung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paradigmenwechsel und Begründungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Streiflichter der Geschichte verdeckter Rechtsfortbildungen . . . . . . . . . . Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . Verdeckte Rechtsfortbildungen – Für und Wider . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
129 137 221 273 295 423
3. Teil: Rechtsfragen verdeckter Rechtsfortbildungen . . . . . . . . . . . . . 439 § 12 Überblick zur rechtlichen Problematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 § 13 Normative Vorgaben des begründeten Entscheidens . . . . . . . . . . . . . . . . 486 § 14 Rechtliche Konsequenzen verdeckter Rechtsfortbildungen . . . . . . . . . . . 510
4. Teil: Einzelne Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen . . . . . . . . . . . 535 § 15 Arten juristischer Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 § 16 Ein Verzeichnis von Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen . . . . . . . . . . 546 § 17 Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen als Leerformeln . . . . . . . . . . . . . . 552
5. Teil: Ausblick zum juristischen Entscheiden und Fazit . . . . . . . . . . 557 § 18 Folgerungen für ein rationaleres Modell begründeten Entscheidens . . . . 558 § 19 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595
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Inhaltsverzeichnis § 1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I.
Vorbemerkungen zum Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Terminologische Probleme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Unterschiedliche Rechtsfortbildungsverständnisse . . . . . . . . . . b. Der unklare Toposbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erste Umschreibung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . 3. Die verdrängte prozessuale Seite der Problematik . . . . . . . . . . . . . 4. Ziele der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zur Themenwahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Problem- und Materialfülle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II.
1 1 2 2 3 4 5 7
Die Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
III. Die Einzelschritte der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
1. Teil:
Thema und Terminologie § 2 Topik und Topoikataloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 I.
Verschiedene Topikverständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1. Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Die traditionelle juristische Topik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Eine Begriffsrenaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II.
14 15 15 16
Viehwegs Sichtweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
III. Ciceros Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 IV.
Topoikataloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
V.
Der Wert von Topoikatalogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1. Ihre Problemferne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ordnungs- und Materialisierungstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Systematische Verzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Fachspezifische Sammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zu inhaltlich-fachlichen Topoikatalogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Juristische Kommentare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a. Suchanweisungen für Argumente? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 b. Keine Begründungsverzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 c. Autorität als Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 d. Praktizierbare inhaltliche Topoiverzeichnisse? . . . . . . . . . . . . . 29 5. Negative Topoikataloge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 VI.
Der Wandel des Toposbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1. Suchanweisung und Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2. Topos als Klischee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
VII. Das hier zugrunde gelegte Toposverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 VIII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 I.
Erster Befund zum heutigen Sprachgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1. Ein nicht erläuterungsbedürftiger Begriff? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2. Die Festschrift »Richterliche Rechtsfortbildung«. . . . . . . . . . . . . . 35 3. Kein feststehender Terminus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
II.
»Rechtsfortbildung« im (rechtsmethodischen) Schrifttum . . . . . . . . . 38 1. Negative Umschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 a. Gegenbegriff »Auslegung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 b. Gegenbegriff »Rechtsanwendung«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 c. Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2. Positive Erläuterungsansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 a. Die Haltung des Interpreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 b Rechtlich legitimierte richterliche Normsetzung . . . . . . . . . . . 43 c. Eine Frage der Zulässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 d. Normfortbildendes Richterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 e. Gesetzesgebundenes und sonstiges lückenfüllendes Richterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 f. Rechtsfortbildung durch Auslegung und zulässige Lückenschließung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 g. Das vom Gesetzgeber Gesagte und Gewollte . . . . . . . . . . . . . . 45 h. Abändernde und ergänzende Rechtsfortbildungen . . . . . . . . . 46 i. Vereinigungsformeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 j. Das noch nicht Vorentschiedene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 k. Neue Rechtssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 l. Methodik versus Rechtstheorie und Prozess. . . . . . . . . . . . . . . 48 m. Analogie und teleologische Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 n. Eigenständige Begriffsbestimmungen in Teilrechtsgebieten . . 53 3. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
III. Die Rechtsprechung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 1. Der Sprachgebrauch der Zivilgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2. Das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
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Inhaltsverzeichnis
XIII
a. Zur Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die »Soraya«-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Der Beschluss vom 12.11.1997. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Europäische Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.
Fortbildung des Rechts als Gesetzesbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1. Die Grundsatzvorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Auslegungsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Ursachensuche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rechtsmittelzulassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Das Begriffsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Unterschiedliche Interessenlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Ein neues Rechtsfortbildungsverständnis des Gesetzgebers? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V.
62 62 63 65 65 65 66 67
Begriffsgeschichtlicher Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 1. Zur Herkunft des Wortes »Rechtsfortbildung« . . . . . . . . . . . . . . a. Rechtsgeschichtliche Äußerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die Fortbildung des Rechts bei Friedrich Carl von Savigny . c. Justizpolitische Diskussionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Die Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch . . . . . . . . . . . . e. Die Terminologie im frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . f. § 137 GVG und das »Volksgesetzbuch« . . . . . . . . . . . . . . . . . . g. Der Wandel des Fachsprachgebrauchs in der Nachkriegszeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Drei-Ebenen-Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Das klassische Modell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Moderne Abwandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VI.
58 59 60 61 61
68 68 68 75 75 78 79 83 86 87 87 88 89 89
Der Begriff »Richterrecht«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 1. Einzelne Begriffsverständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2. Die geeignetere Bezeichnung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
VII. Zusammenfassende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
§ 4 Die Facetten von »Rechtsfortbildung« und der Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 I.
Notwendigkeit einer Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 1. Vor- und Nachteile vager Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 2. Das Schlagwort »Rechtsfortbildung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Mohr-Siebeck, Fr. Trispel »Fischer:Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht«
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46
XIV 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46
II.
Inhaltsverzeichnis
Die einzelnen Facetten von »Rechtsfortbildung« . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
III. Zum »richtigen« Sprachgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 IV.
Objektiver und subjektiver Rechtsfortbildungsbegriff . . . . . . . . . . . . 99
V.
Recht als das Objekt der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 1. Fortbildung der Gesetze oder der Rechtsordnung? . . . . . . . . . . . 101 2. Rechtsfortbildung und Rechtsquellenfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 a. Naturrecht und Positivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 b. Positive Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3. Recht – untersuchungsbezogen bestimmt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 a. Die üblichen Fortbildungsobjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 b. Taugliche Fortbildungsobjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 c. Eine pragmatische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 4. Zu den einzelnen Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 a. Rechtswissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 b. Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 c. Rechtsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 d. Richterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 e. Rechtsgeschäftliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 f. Das Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 5. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
VI.
Recht als das Mittel der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
VII. Recht als das Ergebnis der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 VIII. Begriff und Zulässigkeit der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 IX. Zusammenfassende Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
§ 5 Terminologische Ergänzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 I.
»Verdeckte« Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 1. Umschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 2. Das Begriffsverständnis von Larenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 3. Hintergrund und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
II.
Auslegung, Rechtsfindung und Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . 121 1. 2. 3. 4. 5.
Der Sprachgebrauch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Zur Begriffsauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Auslegung i.e.S. und i.w.S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Rechtsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
III. Entscheidungsgründe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 IV.
Ein Begriffsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
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Inhaltsverzeichnis
XV
2.Teil:
Verdeckte Rechtsfortbildungen als tatsächliche Problematik § 6 Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung heute . . 129 I.
Erkenntnisquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 1. 2. 3. 4.
II.
Übliche Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anleitungs- und Ausbildungsliteratur für die Praxis . . . . . . . . . Praxis und Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodenlehren der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
129 129 130 130
Der Syllogismus als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
III. Wandel des Entscheidungs(findungs)bildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 IV.
Die Bildung von Tatbestand und Entscheidungsnorm . . . . . . . . . . . 133
V.
Zur heutigen Vorstellung von Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . 133 1. Die vernachlässigte Sachverhaltsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 2. Das Rechtsfindungsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
§ 7 Paradigmenwechsel bei der Rechtsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 I.
Zum Wechsel von Paradigmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 1. Der Begriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2. Kuhns lineares Phasenmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 3. Ein Abbild der Geistes- und Sozialwissenschaften? . . . . . . . . . . 138
II.
Revolution in der Rechtswissenschaft?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 1. Konkurrierende Paradigmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2. Die Phase der Krise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 3. Ein »partieller Paradigmenwechsel« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
III. Abschied vom klassischen Auslegungsverständnis . . . . . . . . . . . . . . 140 IV.
Beharrungstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 1. Die Auslegung als Normalfall der Rechtsfindung . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsbindung statt Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bedrohte juristische Weltbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Die Rolle der Gesetze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Politikfreie Rechtsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V.
142 144 144 145 146 147 148
Richterliche Zivilrechtsfortbildungen im 20. Jahrhundert . . . . . . . 149 1. Zur Auswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Instanz- und Revisionsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Teilrechtsgebiete und Epochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kaiserreich und Weimar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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149 149 151 151
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XVI 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46
Inhaltsverzeichnis
3.
4. 5.
6.
VI.
a. Kodifikation als Fortbildungssperre? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 b. Unter der neuen Herrschaft des Bürgerlichen Gesetzbuches 152 c. Die Aufwertungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 aa. Der Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 bb. Richter als Gesetzesverfasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 cc. Das Aufwertungsurteil des Reichsgerichts . . . . . . . . . . . 157 dd. Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 ee. Ankündigung richterlichen Widerstands . . . . . . . . . . . . . 158 ff. Die Antwort des Reichjustizministers . . . . . . . . . . . . . . . 158 gg. Goldschmidts Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 hh. Einlenken des Reichsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 ii. »Gesetzesdämmerung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 d. Aus dem Alltagsgeschäft des Reichsgerichts . . . . . . . . . . . . . 160 NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 a. »Normale« Rechtsfortbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 b. »Ideologienahe« Rechtsfortbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Nachkriegsjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 a. »Klassische« Fortbildungen des Bürgerlichen Rechts . . . . . . 167 b. Rechtsfortbildungen durch »Begriffsanwendung« . . . . . . . . . 170 c. Richterrechtliche Derogation von Gesetzesrecht . . . . . . . . . . 172 d. Einige »moderne« Fortbildungen des Bürgerlichen Rechts. . 173 e. Überholte Rechtsfortbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 f. Rechtsfortbildungen in den sog. Nebengebieten . . . . . . . . . . 178 aa. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 bb.Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 cc. Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 dd. Kodifizierte Rechtsfortbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 ee. Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Würdigung und Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 a. Ein Jahrhundert der Rechtsfortbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . 209 b. Verdrängungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 c. Die Rolle des Richterrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 d. Zur Klassifikation der angeführten Entscheidungen . . . . . . . 211 e. Ein Akzeptanzproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 f. Verdrängungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 g. Theoretische Anerkennung der Rechtsfortbildung . . . . . . . . 213
Der »Soraya«-Beschluss als Epochenschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 1. Wechsel des Richterbildes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 a. Für und Wider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 b. Bewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 c. Die Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 2. Kontinuitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 3. Abschluss einer Epoche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
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Inhaltsverzeichnis
XVII
§ 8 Paradigmenwechsel und Begründungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 I.
Rationale Argumentation und verdeckte Rechtsfortbildungen . . . . 221
II.
Das Gebot offener Rechtsfortbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
III. Zur heutigen Begründungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 1. Allgemeine Veränderungen des Begründungsstils . . . . . . . . . . . . 2. Offene Argumentation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Bejahende Einschätzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Skeptische Äußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Eine differenzierende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verdeckte Rechtsfortbildungen heute. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Abweichende Bewertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. »Rechtsfortbildung« in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Das Vorkommen des Begriffs »Rechtsfortbildung« . . . . . . . b. Die zeitliche Verteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Der Vergleichsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Eine erste Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e. Verschiedene Gruppen von Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . f. Ein spezielles Begriffsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g. »Bloßes Beiwerk« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h. Ein Sonderfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j. »Abgelehnte Rechtsfortbildungen«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . k. Einordnung älterer Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l. Zweifelsfälle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . m. Offene Rechtsfortbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . n. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Verdeckte Rechtsfortbildungen – ein Kontinuum . . . . . . . . . . . .
222 222 222 223 223 225 226 227 227 228 229 230 231 231 233 235 235 235 238 240 245 269 272
§ 9 Streiflichter der Geschichte verdeckter Rechtsfortbildungen . . . 273 I.
Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 1. Zur frühen Rechtsprechung des Reichsgerichts. . . . . . . . . . . . . . 2. Das Gesetz unter der Herrschaft totalitärer Ideologien . . . . . . . a. NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. DDR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfassungsrechtliche Billigung und praktische Übung in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II.
273 273 273 278 283
Der europäische Rechtskreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
III. Alte Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 1. Römisches Recht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 2. Die arabische hijal-Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 3. König Salomos Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
Mohr-Siebeck, Fr. Trispel »Fischer:Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht«
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46
XVIII 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46
IV.
Inhaltsverzeichnis
Voraussetzungen verdeckter Rechtsfortbildungen . . . . . . . . . . . . . . . 287 1. Normanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 2. Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
V.
Der Mythos der Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
VI.
Magische Rechtsoffenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Entmythologisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Die Anwendung der Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Neue Mythen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Die Rolle der Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen . . . . . . . . . 292 Leerformeln und Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Kontinuitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen . . . . . . . . . . 295 I.
Abwälzen von Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 1. Literaturstimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 2. Autorität und Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
II.
Richterlicher Selbstschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 1. Schrifttumsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 2. Immunisierungsbestrebungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 a. Schutz vor Rechtsmitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 b. Verminderung des Kassationsrisikos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 c. Reaktionen der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 d. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
III. Arbeitserleichterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 IV.
Erschleichen von Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 1. Bewusste Manipulationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 2. Keine Bekenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 a. Offizielle Verlautbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 b. Die schriftlichen und die wirklichen Gründe . . . . . . . . . . . . . 306 c. Keine »Selbstdemontage« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 3. Andeutungen im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 a. Richterliche Äußerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 b. Stimmen der Wissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 4. Abschließende Vermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
V.
Der »horror vacui«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310
VI.
Bequemlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
VII. Elitäres Selbstverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 1. »Unwissende Parteien« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 2. »Unfähiger Gesetzgeber« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314
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XIX
VIII. Methodische Vorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 1. Bestandsaufnahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Psychologisch-methodische Entstehungsfaktoren . . . . . . . . b. Ein rechtssoziologischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Rechtsphilosophie als Ursache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Methodische Defizite in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e. Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zwei Grundformen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Das normtextbezogene Rechtsfindungsbild. . . . . . . . . . . . . . b. Das fallbezogene Rechtsfindungsverständnis. . . . . . . . . . . . . c. Unterschiedliche Ursachen für verdeckte Rechtsfortbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Abschließende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grenzprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
315 315 316 316 318 320 321 321 321 322 323 323 323
IX. Die Juristenausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Zweiteilung der Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Äußerungen im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Reformvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Das Verhältnis von Universitätsstudium und Vorbereitungsdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Zwischenzeitliche Annäherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e. »Theorie« und »Praxis« in der heutigen Juristenausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f. Fortbestehende Defizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g. Abschließende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Einzelfallunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Bestandsaufnahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Zur Grundsatzkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Übertreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Zwischenergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Anspruchsdenken im Zivilrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Großfelds Plädoyer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Ältere Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Stürners Einschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Würdigung der Kritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e. Zwischenergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Relationstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Frühe Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Der sog. Relationsstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Der Begriff »Relationstechnik« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Rechtswissenschaftliche Stellungnahmen . . . . . . . . . . . . . . . e. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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324 325 325 326 327 327 329 330 331 332 332 333 334 336 338 339 340 340 342 342 346 347 347 347 352 354 357
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46
XX 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46
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6.
7.
8.
9. X.
f. Zur Geschichte der Relation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 g. Ausdruck eines überholten Richterbildes? . . . . . . . . . . . . . . . 376 h. Die prozessrechtsadäquate Arbeitsmethode? . . . . . . . . . . . . . 380 i. Relationstechnik und verdeckte Rechtsfortbildungen . . . . . . 386 Der deutsche Urteilsbegründungsstil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 a. Kritische Stimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 b. Die beiden Zielrichtungen der Kritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 c. Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 d. Das Gebot zweifelsfreier Entscheidungsgründe . . . . . . . . . . . 394 e. Der deduktive Urteilsstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 f. Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Die Grundlagenkrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 a. Erscheinungsformen und Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 b. Die vernachlässigten Grundfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 c. Die verdrängte Disziplin- und Methodengeschichte . . . . . . . 399 d. Zwischenergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 Defizite der Grundlagenfächer und der Ausbildung . . . . . . . . . . 402 a. Die Geschichte der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 b. Der Zustand der juristischen Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . 403 c. Allgemeine Defizite des Universitätsunterrichts. . . . . . . . . . . 407 d. Zum Vorbereitungsdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 e. Zwischenergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412
§ 310 ZPO. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416
XI. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418
§ 11 Verdeckte Rechtsfortbildungen – Für und Wider . . . . . . . . . . . . . . 423 I.
Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 1. Befürwortende Stimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 a. Erträge der Ursachensuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 b. Weitere Bekenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 2. Ablehnende Äußerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 a. »Überzeugungskraft« und »Praxisbedürfnisse« . . . . . . . . . . . 427 b. Haverkates Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 c. Das »Wahrheitsprinzip« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 d. Ein »Gebot der Rationalität« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 e. »Ehrlichkeit« und »Wahrhaftigkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 3. »Aufklärung« versus »Pragmatik« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432
II.
Parallelen zum historischen Streit über Entscheidungsgründe . . . . . 432 1. 2. 3. 4.
»Würde« und »Überlastung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Widerlegung durch Brinkmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Aufklärung und Publizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434
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XXI
III. Bewertung der weiteren Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 1. Schutz vor Lobbyisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Im Kreuzfeuer der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Spezifische Risiken verdeckter Rechtsfortbildungen . . . . . . c. Zum »Ideologieschutz« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vermeidung untragbarer gesetzlicher Folgen . . . . . . . . . . . . . . .
435 435 436 436 436
IV.
Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
V.
Eine reine Frage der Ethik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438
3. Teil:
Rechtsfragen verdeckter Rechtsfortbildungen § 12 Überblick zur rechtlichen Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 I.
Zum Diskussionsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 1. Tatsächliche und rechtliche Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 2. Verdeckte Rechtsfortbildungen als »Grenzthema« . . . . . . . . . . . 440
II.
Begründetes Entscheiden in Rechtswissenschaft und Praxis . . . . . . 441 1. Die herkömmliche Aufteilung des Stoffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Urteilen als begründetes Entscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die traditionelle »Entscheidungsfindungsmethodik« . . . . . . . . . a. Einzelne Entscheidungsfindungslehren . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die verbundenen Begründungskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . 4. Stimmen aus der Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. »Zeugnisse praktischer Juristen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Theoretische Rechtfertigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Moderne Argumentationstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Neuere Untersuchungen zur Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Eine verselbständigte Begründungsmethodik . . . . . . . . . . . . b. Eine formelle Begründungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
441 442 444 444 445 446 446 449 451 451 452 452 453 455
III. Die Entzweiung von Entscheidung und Begründung – ein wissenschaftstheoretisches Gebot? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 1. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang . . . . . . . . . . . . a. Frühformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Reichenbachs Differenzierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Poppers Ausführungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Kritische Stimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. »Juristische Entdeckungen«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Missverständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Begründung als Teil der juristischen Entscheidung . . . . . . . . . . .
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457 457 457 458 459 460 460 461
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46
XXII 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46
Inhaltsverzeichnis
5. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 IV.
Rechtsfragen der Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 1. 2. 3. 4.
V.
Rechts- und Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 Das Fehlen einer ausgearbeiteten Rechtsfortbildungsmethode . . 462 Gesetzesbindung und Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Die Erkennbarkeit verdeckter Rechtsfortbildungen. . . . . . . . . . . 465
Rechtsfragen der Entscheidungsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 1. Offenlegungsforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 2. Verfassungsrechtliche Diskussion und verdeckte Rechtsfortbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 a. Überblick zur Begründungsdiskussion im Verfassungsrecht . . 466 b. Unterschiedlichen Fragestellungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 c. Art. 103 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 d. Das Willkürverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 e. Art. 20 Abs. 3 GG und das »Ob« der Begründung . . . . . . . . 481 f. Eine neue Frage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 3. Art. 20 Abs. 3 GG als Grundlage konkreter Begründungsregeln. . 482 a. Generelle Gesetzesbindung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . 482 b. Einfachgesetzliche Begründungspflicht und Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 c. Begründungsfehler und Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . 483 4. Zivilprozessgesetzliche Begründungsvorschriften . . . . . . . . . . . . 484 a. Ein vernachlässigtes Forschungsgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 b. Überblick zu den einschlägigen ZPO-Vorschriften . . . . . . . . 485
VI.
Verdeckte Rechtsfortbildungen als justitiable Rechtsfragen . . . . . . . 485
§ 13 Normative Vorgaben des begründeten Entscheidens . . . . . . . . . . 486 I.
Zur Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 1. Normative Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 2. Gängige Umschreibungen des Regelungsgehalts . . . . . . . . . . . . . 487 3. Die bedingte Inhaltsbindung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 a. Bindung an die gesetzgeberische Interessenbewertung . . . . . 487 b. Keine Ergebnisgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 c. Wegfall der Inhaltsbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 d. Konsequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 4. Prozedurale Berücksichtigungsgebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 a. Die Pflicht zur Kenntnisnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 b. Das Darlegungsgebot. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 5. Elemente der Gesetzesbindung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
II.
Die Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 1. Allgemeine Rechtsfindungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 a. Inhaltsbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491
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Inhaltsverzeichnis
XXIII
b. Berücksichtigungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Zur Entscheidungsfindung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsfortbildungsgebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Vorherige Ermittlung des historischen Regelungszwecks. . . b. Die möglichst gesetzesnahe Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . 3. Die zwei Schritte der gesetzesgebundenen Rechtsfindung . . . .
492 492 492 492 493 494
III. Verfassungsrechtliche Begründungsgebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 1. Allgemeine Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 2. Spezielle Anforderungen für Rechtsfortbildungen . . . . . . . . . . . 495 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496 IV.
Zivilprozessrechtliche Begründungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . 496 1. Zu den einschlägigen Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. § 313 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Die revisionsrechtliche Perspektive der Prozessrechtspraxis und -wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Rudimentäre Erläuterungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Kernsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. § 540 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Neuerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Offene Rechtsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Antworten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Beschlussbegründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V.
497 497 497 499 500 501 501 501 503 507
Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508
§ 14 Rechtliche Konsequenzen verdeckter Rechtsfortbildungen . . . 510 I.
Klassifizierung der Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 1. Rechtswidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 2. Fehlerhaftigkeit und Unrichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 3. Wirksamkeit und Vernichtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
II.
Zivilprozessuale und verfassungsrechtliche Folgen. . . . . . . . . . . . . . 511
III. Rechtsfragen des Rechtsmittelrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 1. Berufungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 2. Revisionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 IV.
Ein Grundproblem der Rechtsfehlerkontrolle. . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 1. Die unbeachtete Rechtsfortbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anpassungs- und Fortbildungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . a. Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Ansatzpunkte für die Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verdeckte Rechtsfortbildungen und die §§ 546, 513 Abs. 1 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V.
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Die Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 1. Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 2. Zulässigkeitsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 a. Erreichen der Berufungssumme oder Zulassung . . . . . . . . . . 515 b. Berufungsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 3. Möglichkeit der Zurückweisung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 4. Möglichkeit der Zurückverweisung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 5. Begründetheit der Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 a. Grundsätzliche Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 b. Verletzung der verfahrensrechtlichen Begründungsvorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 c. Verletzung des verdeckt fortgebildeten Gesetzes . . . . . . . . . . 522
VI.
Die Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 1. Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 2. Zulässigkeitsfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 a. Die Revisionszulassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 b. Die Revisionsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 3. Zurückweisungsmöglichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 4. Begründetheit der Revision. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 a. Grundsätzliche Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 b. § 557 Abs. 3 S. 2 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 c. § 547 Nr. 6 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 d. Verletzung der verfahrensrechtlichen Begründungsvorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 e. Verletzung der verdeckt fortgebildeten Gesetzesvorschrift. . 530
VII. Zwischenbilanz zu den zivilprozessualen Rechtsmitteln . . . . . . . . . . 531 VIII. Verfassungsrechtliche Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532 1. Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Willkürverbots . . . . 532 2. Verletzung von Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG . . . . 532 IX. Resümee zu den Rechtsfolgen verdeckter Rechtsfortbildungen . . . . 533
4.Teil:
Einzelne Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen § 15 Arten juristischer Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 I.
Gebräuchliche Differenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 1. Positive Verzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 a. Frühe Formen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 b. Der Auslegungskanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 c. Topikrenaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 d. Argumentationstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539
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XXV
e. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fehlerhafte Argumente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Breitenuntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verwendbarkeit der Unterscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.
540 540 540 541 542
Ein Begründungskatalog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Autoritätsargumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ontologische Argumente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffliche Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dogmatische Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Logische Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Folgenorientierte Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
543 544 544 544 545 545 545
§ 16 Ein Verzeichnis von Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen . . . 546 I.
Zu Autoritätsargumenten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546
II.
Ontologische Topoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546
III. Begriffliche Topoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 IV.
Dogmatische Topoi. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547
V.
Logik als Topos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549
VI.
Methodische Topoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 1. Die einzelnen Auslegungselemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 2. Vorrangregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 3. Rechtsgeschäftsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550
VII. Folgenorientierte Topoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 VIII. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551
§ 17 Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen als Leerformeln . . . . . . . 552 I.
Zum Begriff der Leerformel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552 1. Topitsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552 2. Rechtswissenschaftliche Begriffsverwendungen . . . . . . . . . . . . . 553 3. Leerformel und Funktion der Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . 553
II.
Arten von Leerformeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554 1. Echte Leerformeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554 2. Leerformelhafte Verwendung juristischer Argumente . . . . . . . . 555
III. Konsequenzen von Leerformeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 IV.
Resümee zu den Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen . . . . . . . . . 555
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Inhaltsverzeichnis
5. Teil:
Ausblick zum juristischen Entscheiden und Fazit § 18 Folgerungen für ein rationaleres Modell begründeten Entscheidens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 I.
Entscheidung und Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558
II.
Auslegung und Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558
III. Auslegung von Gesetzen und Begriffen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 IV.
Zwei Stufen der Rechtsfindung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559
V.
Die vernachlässigten Präjudizien und der Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560
VI.
Begründetes Entscheiden als Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560
§ 19 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595
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§ 1 Einführung Diese Arbeit behandelt Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht. Titel und Gegenstand der Untersuchung erfordern einige einleitende Bemerkungen zum Thema der Arbeit und zur Vorgehensweise.
I. Vorbemerkungen zum Thema Der Zugang zum Untersuchungsstoff wird zunächst dadurch erschwert, dass eine ausgearbeitete Terminologie fehlt. Hinzu kommt die Fülle erörterungswerter Einzelaspekte.
1. Terminologische Probleme Mit den Worten »Topos« und »Rechtsfortbildung« werden sehr verschiedene Vorstellungen verbunden. Es handelt sich nicht um feststehende Termini. Sie haben im fachlichen oder im allgemeinen Sprachgebrauch keinen bestimmten, definitorisch vorgegebenen oder durchgängig akzeptierten Begriffsinhalt. Eine verbindliche Nomenklatur, die für die Zwecke dieser Untersuchung herangezogen werden könnte, existiert nicht. Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht lassen sich indes nur erörtern, wenn über die Ausdrücke, die den Untersuchungsgegenstand bestimmen, Klarheit besteht. Die Bezeichnungen »Rechtsfortbildung« und »Topos« sind also erläuterungsbedürftig. Beide haben ein breites Bedeutungsspektrum. a. Unterschiedliche Rechtsfortbildungsverständnisse Das Wort Rechtsfortbildung wird in der juristischen Fachsprache häufig verwendet. Beschäftigt man sich eingehend mit den einschlägigen Äußerungen, dann fällt auf, dass der Begriff von den einzelnen Autoren oft mit einem ganz unterschiedlichen Sinn benutzt wird. Das überrascht zunächst, weil die Bedeutungsvarianten der gebräuchlichen Bezeichnung Rechtsfortbildung in der Rechtswissenschaft kein Thema sind. Bislang sind die verschiedenen Rechtsfortbildungsverständnisse nicht untersucht worden. Ein erstes Anliegen der Arbeit ist es, diese Lücke zu schließen und die einzelnen Facetten des Ausdrucks Rechtsfortbildung deutlich hervortreten zu lassen. Ist der Fachsprachgebrauch analysiert, dann kann »Rechtsfortbildung« auch für die Zwecke dieser Untersuchung näher bestimmt werden. Ohne derartige begriffliche Vorarbeiten ist eine Studie über To-
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§ 1 Einführung
poi verdeckter Rechtsfortbildungen wegen des schillernden Rechtsfortbildungsbegriffs weitgehend sinn- und wertlos. b. Der unklare Toposbegriff Gegenstand der Untersuchung sind nicht die einzelnen Rechtsfortbildungen, sondern die Topoi, mit denen diese verdeckt werden. Topos und Topik sind ebenfalls Worte mit einer großen Bandbreite üblicher Bedeutungen. Topoi lassen sich als die Orte umschreiben, von denen die Begründungen hergeholt werden1, als die Stellen, an denen Argumente abrufbar bereit stehen2. Der ambivalente Begriff bezeichnet aber auch die Argumente selbst3. Argument wird hier formal im Sinne eines Begründungselements bzw. eines einzelnen Begründungsschritts verstanden, ohne dass damit ein Urteil über den Gehalt oder die inhaltliche Richtigkeit des angeführten Grundes verbunden wäre4.
2. Erste Umschreibung des Untersuchungsgegenstandes Objekte der vorliegenden Untersuchung sind daher letztlich bestimmte sprachliche Figuren, mit denen das Recht – regelmäßig im Gewand der scheinbaren Anwendung der ausgelegten Gesetze – verdeckt fortgebildet wird. Solche (Schein-) Begründungen sollen aufgezeigt, gesammelt und geordnet werden. Beabsichtigt ist, bestimmte immer wiederkehrende Argumentationsmuster, mit denen Rechtsfortbildungen bewusst oder unbewusst verschleiert werden, heraus zu arbeiten, ihren rechtsfortbildenden Charakter unübersehbar zu machen, ihre inhaltliche Bedeutung und Berechtigung zu erörtern und die Orte zu nennen, an denen solche Rechtsfortbildungsfiguren gefunden werden. Ein Ziel der Arbeit ist ein Topoiverzeichnis, in dem einzelne rechtsfortbildende Argumente nach Arten systematisiert sind, und zwar nicht nur im Hinblick auf die im Vordergrund stehenden sog. Rechtsfragen5, sondern auch hinsichtlich der Rechtsregeln, die für die Ermittlung des Sachverhalts in der streitigen ordentlichen Zivilgerichtsbarkeit gelten6. Ein abschließender Topoikatalog wird freilich nicht zu erreichen sein. Zu zahlreich sind die Mittel, mit denen Rechtsfortbildungen verdeckt werden kön1 Cicero, Topica, II 7: » ... sedes, e quibus argumenta promuntur ...«; II 8: » ... locum esse argumenti sedem ...« und » ... locis in quibus argumenta inclusa sunt ... «. Cicero spricht hier allerdings nicht von topos, sondern – in der lateinischen Form – von locus. Zu Ciceros Topik und zu »modernen« Begriffsverständnissen sogleich unter § 2. 2 Bei Zekl, Cicero, Topik, 1983, II 8, ist von Stellen, auf denen die Argumente abholbar angesiedelt sind, die Rede. 3 Vgl. zunächst nur Gethmann, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 4, 1996, Stichwort »Topos«. 4 Vgl. zur Trennung zwischen dem Argument und seiner Schlüssigkeit etwa Thiel, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 1, 1980, Stichwort »Argumentation«. 5 Zur Unterscheidung zwischen Rechts- und Tatfrage zunächst nur Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 307 ff.; Wenzel, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 2, 2. Aufl. 2000, § 550 Rn. 1 ff.; Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 5, Teilband 1, 21. Aufl. 1994, §§ 549, 550 Rn. 21 ff. 6 Freiwillige Gerichtsbarkeit und Arbeitsgerichtsbarkeit werden nicht separat untersucht.
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I. Vorbemerkungen zum Thema
3
nen und verdeckt werden. Angeführt werden gängige Scheinbegründungen für verschleierte Rechtsfortbildungen. Verdeckte Rechtsfortbildungen sind durch rechtliche Betrachtungen charakterisiert, die den normativen Vorgaben der Entscheidungsfindung entgegen dem vermittelten Eindruck nicht zu entnehmen sind. Die Erwägungen, auf denen die jeweilige rechtsfortbildende Entscheidung in rechtlicher Hinsicht wirklich beruht7, werden in den Entscheidungsgründen bzw. in der Begründung8 nicht genannt. Stattdessen schaffen vielseitig verwendbare Floskeln und leerformelhafte Begründungsfiguren die Illusion, es würden nur die ausgelegten Gesetze angewendet. Verdeckte Rechtsfortbildungen sind Ausdruck eines vordergründig autoritativen Denkens, welches die Gesetzesbindung des Rechtsanwenders rein formal und nicht materiell versteht. Gesetze sind indes nicht bloße Legitimationsmittel für beliebige Ergebnisse, sondern inhaltlich bindende Entscheidungsvorgaben, weshalb der Richter begründen muss, warum sein jeweiliges Einzelfallurteil in der Sache mit den Gesetzen vereinbar ist. Verdeckte Rechtsfortbildungen betreffen also die Entscheidungsfindung und die Entscheidungsbegründung. Sie sind außerdem nicht allein eine Frage des materiellen Rechts, sondern gleichermaßen eine prozessuale Problematik. Das wird meist übersehen.
3. Die verdrängte prozessuale Seite der Problematik Die »Vernachlässigung des Zivilprozeßrechts auf den Universitäten«, der »Verfall der Lehrstühle«, die drastische »Verkürzung der Prozessvorlesungen«, die Trennung von Zivil- und Zivilprozessrecht sowie die »Verdrängung des Zivilprozeßrechts aus dem ersten Examen« sind von Rosenberg bereits 1925 besorgt geschildert worden9. Heute ist Rechtswissenschaft in Deutschland vor allem die Dogmatik der sachlich-rechtlichen Einzeldisziplinen, welche ihre Lehren anhand feststehender Sachverhalte demonstrieren. Die traditionelle Methodenlehre, die sich als Theorie der Rechtsfindung versteht, ist ebenfalls auf die konkretisierende Anwendung des materiellen Rechts fixiert. Die Sachverhaltsarbeit findet in ihr nicht statt. Zwar fehlt in keinem »modernen« Methodenlehrbuch der Hinweis auf das »Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Lebenssachverhalt und Rechtsnorm (Engisch)«, welches das generell kennzeichnende Merkmal der Rechtsanwendung sein soll10. In tatsächlicher Hinsicht trifft der sog. Pendelblick im akademischen Methodenschrifttum und im dogmatischen Universitätsunterricht aber anders als im realen Prozess auf einen bereits fertig vorliegenden Sachverhalt, der aus einer überschaubaren Anzahl von Sätzen besteht. Dieser papierne »Lebenssachverhalt« wird im Hinblick auf Normen des materiellen Rechts konstruiert, welche auch die Auswahl der relevanten sakrosankten Tatsachenangaben bestimmen. Die sachlichrechtlichen Entscheidungsnormen dominieren daher das Geschehen umfassend. 7
Vgl. § 313 Abs. 3 ZPO. Verdeckte Rechtsfortbildungen können nicht nur in Entscheidungsgründen im Sinne von § 313 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 3 ZPO, sondern auch in anderen Gründen gerichtlicher Entscheidungen sowie in den Begründungen rechtswissenschaftlicher Entscheidungsvorschläge enthalten sein. 9 Rosenberg, DJZ 1925, Sp. 623 ff., insb. bis Sp. 626. 10 So etwa Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 660. 8
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§ 1 Einführung
Verdeckte Rechtsfortbildungen drehen sich indes nicht nur um den jeweiligen materiellrechtlichen Beurteilungsmaßstab. Vielmehr haben sie als Problem der Rechtspraxis ebenso die prozessrechtlichen Regeln für die Bildung des zu beurteilenden Sachverhalts11, über die Tatsachenfeststellungen der Gerichte zum Gegenstand. Diese verfahrensmäßige Seite des (zivil-)rechtlichen Entscheidens wird an den Universitäten fast vollständig vernachlässigt. Auch die prozessrechtlichen Begründungspflichten – für verdeckte Rechtsfortbildungen offensichtlich von Interesse – spielen in der herkömmlichen Methodendiskussion keine nennenswerte Rolle. Das akademische prozessrechtliche Schrifttum behandelt gleichfalls nur Einzelfragen der Thematik. Für die Grundsätze der Rechtsfindung verweist es auf die juristische Methodenlehre. Die Arbeit am Sachverhalt und die konkreten Regeln für die Entscheidungsbegründung überlässt die deutsche Prozessrechtswissenschaft weitgehend der von erfahrenen Richtern verfassten Referendarausbildungs- und Praktikeranleitungsliteratur, welche bei ihren Empfehlungen zur Abfassung von Entscheidungen – wie das prozessuale Schrifttum – ein bereits feststehendes Ergebnis voraussetzt. Zwar wird das sog. Relationsschrifttum von der Wissenschaft gelegentlich kritisiert12 und oft belächelt13; Alternativen für das richterliche Tagesgeschäft werden aber nicht aufgezeigt. Wie zivilrechtliche Entscheidungen zu finden und zu begründen sind, beantworten also drei unterschiedliche Disziplinen jeweils nur in Teilbereichen. Deshalb werden die verdeckten Rechtsfortbildungen zum Anlass genommen, das Thema der Findung begründeter Entscheidungen einmal in einer Gesamtschau aus der Perspektive der Methodenlehre und des Prozessrechts zu betrachten.
4. Ziele der Arbeit Durchgeführt werden Vorstudien zu einem Entscheidungsmodell, welches die Entscheidungsfindung und die Entscheidungsbegründung behandelt und dabei die Fragen der richterlichen Sachverhaltsbildung und Sachverhaltsdarstellung einbezieht. Zugleich soll, um einen von Bultmann geprägten anschaulichen Erfolgsbegriff aufzugreifen, durch die »Entmythologisierung« von Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen zu einer rationaleren juristischen Argumentation beigetragen werden14. Verschleiernde Rechtsfortbildungsfiguren sollen entmystifi11 Der manche Prozessualisten möglicherweise befremdende Begriff »Bildung des Sachverhalts« findet sich beispielsweise bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 278 und 304. Die Bedeutung des Prozessrechts für die Feststellung des Sachverhalts deutet Larenz in insgesamt 12 kurzen, ausgesprochen allgemein gehaltenen Sätzen bestenfalls an, s. a.a.O., S. 304 f. 12 Zum sog. Relationsstreit der siebziger Jahre Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 15 ff. 13 Es gilt als nicht zitierfähig, vgl. etwa Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 20; vgl. auch Gottwald, ZZP 98 (1985), 113 f. 14 Der Ausdruck ist von dem evangelischen Theologen Rudolf Bultmann erstmals in einem 1941 in Alpirsbach gehaltenen Vortrag verwendet worden, der noch im selben Jahr veröffentlicht wurde. Er stand ursprünglich für das heftig umstrittene Programm, die auf mythischen Vorstellungen basierenden Aussagen des Neuen Testaments mit dem Ziel zu interpretieren, das in ihnen enthaltene Kerygma, also die urchristliche Botschaft, frei zu legen und in die Sprache
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I. Vorbemerkungen zum Thema
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ziert, sollen entzaubert werden. Zersetzt man Scheinargumente und Leerformeln durch rechtswissenschaftliche Kritik, so zwingt man ihre Verwender dazu, die realen Wertungsgesichtspunkte offen zu legen und damit der Diskussion zugänglich zu machen15. Die Untersuchung erschöpft sich indes nicht im Negativen. Sie zeigt konkrete rechtliche Orientierungspunkte für Rechtsanwender und Rechtsfortbilder auf und versucht, einen Weg zu einem rationaleren Modell begründeten Entscheidens zu weisen.
5. Zur Themenwahl Gerade bei Grundlagenthemen kann es sinnvoll sein, die Gründe zu nennen, die zur Wahl eines bestimmten Themas geführt haben16. Es gibt eine juristische Sozialisation, deren mitbestimmende Wirkung für wissenschaftliche Untersuchungen häufig unterschätzt wird17. Überspitzt kann man von juristischen »Kindheitsmustern« sprechen18. Standardisierte Rechtfertigungsformeln für inhaltlich weitgehend beliebige »herrschende« Auffassungen spielen schon in der Vorbereitung auf die juristischen Staatsprüfungen faktisch eine zentrale Rolle. Entsprechendes gilt im rechtlichen Berufsalltag. Man verwendet Standardargumente und wird mit ihnen konfrontiert, und zwar auch im Zusammenhang mit Rechtsfortbildungen. Wer oft und über mehrere Jahre vor Instanzgerichten in der Zivil- und Arbeitsgerichtsbarkeit forensisch tätig war, der hat bei hinreichender Aufmerksamkeit praktisch automatisch gelernt, wie kreativ manche Richter den konkreten Entscheidungssatz bilden und wie eigenwillig sie den zu beurteilenden Sachverhalt herstellen, wenn sie der Meinung sind, eine »unangemessene« gesetzliche oder rechtsge-
und Vorstellungswelt der Gegenwart zu übersetzen. Später wurde der Begriff allgemeiner und radikaler verwendet. Er bezeichnete und bezeichnet das Bestreben, mythische und metaphysische Bestandteile in Wörtern, Aussagen und in Begründungs- und Rechtsfertigungszusammenhängen von Institutionen zu beseitigen; einführend hierzu Bultmann, in: Bartsch (Hrsg.), Kerygma und Mythos I, 5. Aufl. 1967, S. 15 ff., insb. S. 20, 40 ff.; Bartsch, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, 1972, Stichwort »Entmythologisierung«, Sp. 539 f.; Bonato, in: Prechtl/Burkard (Hrsg.), Metzler Philosophie Lexikon, 2. Aufl. 1999, Stichwort »Entmythologisierung«; Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 9. Aufl., Band 7, 1973, Stichwort »Entmythologisierung«; weiterführende Nachweise und Beiträge bei Bartsch (Hrsg.), Kerygma und Mythos I, 5. Aufl. 1967 mit ausführlicher Bibliographie auf S. 318 ff. und bei Bornkamm, Theologische Rundschau 29 (1963), S. 33 ff.; zu philosophisch-hermeneutischen Aspekten der Entmythologisierung Jaspers/Bultmann, Die Frage der Entmythologisierung, 1954. 15 In diesem Sinne zu den politischen Elementen der Rechtsanwendung bereits Rüthers, »Institutionelles Rechtsdenken« im Wandel der Verfassungsepochen, 1970, S. 59 f.; ders., Wir denken die Rechtsbegriffe um …, 1987, S. 94; im Hinblick auf sog. Leerformeln schon Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, 1958, S. 311, der davon ausgeht, dass sie psychologisch unwirksam und politisch-pragmatisch unbrauchbar würden, wenn ihr wahrer Charakter und damit ihre sachliche Unhaltbarkeit bewusst gemacht werde. 16 Vgl. statt vieler etwa Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. 7 ff. 17 Zur Bedeutung sog. Sozialisationskohorten und den Ursachen ihres Entstehens Rüthers, Geschönte Geschichten – Geschonte Biographien, 2001, S. 3 ff., 21 ff. 18 Vgl. auch Rüthers, Ideologie und Recht im Systemwechsel, 1992, S. 29 f., der den Begriff bei Christa Wolf entliehen hat.
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schäftliche Entscheidungsvorgabe sei an die konkreten Erfordernisse »anzupassen«. Entgegen einer verbreiteten Einschätzung bilden nicht ausschließlich oder vornehmlich die sog. Obergerichte Recht fort19, sondern ebenso – und der Zahl nach sogar vor allem – die Amts- und Landgerichte20. Seit der umfangreichen Prozessrechtsreform des Jahres 2001 ist die rechtsfortbildende Funktion der Instanzgerichte auch dem Text der Zivilprozessrechtsordnung zu entnehmen21. Sie werden bei ihren Rechtsfortbildungen von der sog. praktischen Rechtswissenschaft unterstützt, welche den Gerichten aus dogmatischer oder auch individuellberuflicher Perspektive konkrete Entscheidungsvorschläge für problematische oder problematisch gemachte Rechtsfragen unterbreitet. In weiten Teilen der Gerichtsbarkeit und der sie vorbereitenden und kommentierenden Theoretiker- und Praktikerliteratur herrscht bekanntlich eine pragmatische Methodenbeliebigkeit. Mal bedient man sich dieser, mal jener »Auslegungsmethoden«. Gewisse Konstruktionen und begründungsersetzende Leerformeln wiederholen sich dabei in der gerichtlichen Praxis ständig, ohne dass die jeweils erzielten Ergebnisse deshalb vorhergesehen werden könnten. Selbst wer als Parteivertreter im Prozess seine jeweilige Methode am Begehren des Mandanten ausrichtet, die rechtlichen Vorgaben final interpretiert und »an sich« um die Austauschbarkeit vieler juristischer Argumente weiß, kann bei dieser Art von »Entscheidungsfindungsalchemie« von einem zunehmenden Unbehagen befallen werden. Das gilt jedenfalls dann, wenn Richter das Recht mit leerformelartigen Begründungen und ornamentalen Floskeln fortbilden. Verdeckte Rechtsfortbildungen der Gerichte werden in der Praxis, wenn sie denn erkannt werden, als unwürdiger Taschenspielertrick, als charakterlose Unredlichkeit, ja geradezu als Sakrileg empfunden. Ursächlich dürfte das tief verwurzelte Idealbild vom »gerechten« Richter sein, der sich nach den Vorstellungen der jüngeren Neuzeit zunächst einmal dadurch auszeichnet, dass er die Gesetze beachtet, daher nicht ohne gute Gründe von diesen abweichen und klammheimlich ihn bindende normative Vorgaben manipulieren darf. Man kann vermuten, dass die verbreitete und teilweise sehr emotionale Ablehnung verdeckter richterlicher Rechtsfortbildungen trotz zwischenzeitlicher Veränderungen des Richterbilds mit dem Mythos des überparteilichen, gesetzesgebundenen Richters und der Idee der Gerechtigkeit (»Rechtsanwendungsgleichheit«) zusammenhängt, also mit nach wie vor wirksamen rechtstheoretischen bzw. rechtsphilosophischen Vorstellungen22. 19 So aber etwa Seiter, FS Baur, 1981, S. 573, 575: »Rechtsfortbildungen sind normalerweise eine Domäne der Revisionsgerichte«. Dem entspricht ein verbreiteter Sprachgebrauch, nach dem Richterrecht nur durch eine höchstrichterliche Rechtsprechung oder zumindest durch Entscheidungen der Obergerichte bzw. der letzten Instanzen begründet werden soll. U. Huber, JZ 2003, 1, 15 führt das geflügelte Wort, »das Amtsgericht ist zur Rechtsfortbildung nicht berufen«, an. 20 Das Bewusstsein des rechtfortbildenden Charakters der eigenen Judikate mag bei den Revisionsrichtern freilich oft ausgeprägter sein. 21 Vgl. §§ 511 Abs. 4 Nr. 1, 522 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO. 22 Hier wird ein weites Verständnis von Rechtstheorie zugrunde gelegt, welches Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre umfasst. Es geht um die sog. drei Grundfragen der Rechtswissenschaft: Was ist Recht? Warum gilt Recht? Wie wird Recht zutreffend gefunden, angewendet und fortgebildet? – Vgl. hierzu Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 3 und 26; Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 1 bis 3 m.w.N.
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I. Vorbemerkungen zum Thema
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6. Die Problem- und Materialfülle Die Materie »Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht« zwingt dazu, eine Vielzahl rechtstheoretischer, materiellrechtlicher und zivilprozessualer Probleme zu erörtern. Von den einschlägigen sog. Grundfragen der Rechtsfindung sollen an dieser Stelle nur einige beispielhaft genannt werden: Welche rechtstheoretischen und sonstigen Vorgaben sind bei der richterlichen Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung zu beachten? Welches Verhältnis besteht zwischen dem Finden und dem Begründen einer Entscheidung? Was unterscheidet Auslegung und Rechtsfortbildung? Was bedeutet Auslegung, was ist ihr Ziel und mit welchen Mitteln darf es angestrebt werden? Was ist eigentlich Recht bei der Rechtsfortbildung? Diese und andere Themen werden in der Untersuchung angesprochen. Autoren, die sich solchen elementaren Fragen der Rechtspraxis und Rechtswissenschaft zuwenden, betonen schon seit Jahrzehnten stets ausdrücklich, die einschlägigen Veröffentlichungen seien unüberschaubar23. Ihre Zahl steigt dennoch beständig. In den letzten Jahren scheinen auch Vertreter vieler Teilrechtsgebiete ihr Heil in der seit Jahrzehnten beklagten Ausbildungs- und Grundlagenkrise der Jurisprudenz24 wieder einmal in der Methodik zu suchen25. Allein der zum Thema gehörige rechtstheoretische Stoff reicht problemlos für zahlreiche wissenschaftliche Einzeluntersuchungen. Es ist weder vom Umfang her möglich26, noch von der Sache her geboten, im Rahmen dieser Arbeit nach Vollständigkeit zu streben. Angesichts der Material- und Problemfülle war eine Auswahl zu treffen. Die für das weitere Vorgehen unverzichtbaren rechtstheoretischen Eckdaten werden eingehend behandelt. Im Übrigen beschränkt sich die Darstellung rechtstheoretischer Positionen auf einen Überblick. Das Augenmerk wird vor allem auf Methodenlehren gerichtet, die auch außerhalb reiner Fachzirkel zur Kenntnis genommen worden sind und Eingang in die zivilrechtliche Standardliteratur und in die Rechtsprechung gefunden haben. Zu nennen sind insbesondere die Interessenjurisprudenz und verschiedene Formen der Wertungsjurisprudenz, mit gewissen Einschränkungen auch die Freirechtslehre, die topische Jurisprudenz, die mit den Namen Larenz und Esser verbundene »moderne« juristische Hermeneutik und neuere Argumentationstheorien. Die Rezeption einer Lehre durch die Praxis ist zwar nicht zwangsläufig ein Gütesiegel, zumal die dogmatische Jurisprudenz und die Gerichte besonders gerne solche Rechtstheorien übernehmen, die schon bislang praktizierte Verhaltensweisen wissenschaftlich »absegnen« und ihren Anwendern große Entscheidungsspielräume lassen. Hier werden aber die Begrün23 Stellvertretend für viele Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 21. 24 Einführend hierzu Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 36. 25 Insbesondere in eher unstrukturierten, von gesetzgeberischer Hektik gekennzeichneten Gebieten wie dem Sozial-, Arbeits- und Steuerrecht, anschaulich etwa Cirsovius, Die Sozialversicherung 2003, 90 ff.; Fromm, ZTR 2002, 216 ff. 26 Vgl. insoweit bereits Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, Vorwort; Stern, Der Staat des Grundgesetzes, 1992, S. 152, 159.
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dungspraxis der Gerichte und des sie anleitenden Schrifttums untersucht und Verbesserungsvorschläge unterbreitet. Für eine an der Praxis ausgerichtete und auf die praktische Anwendung zielende Studie haben die »Theorien der Praxis« besonderes Gewicht. Das im Laufe der Untersuchung zu entwickelnde Konzept juristischen Entscheidens ist an den Maßstäben der Plausibilität und der Praktikabilität zu messen. Die Ausführungen erheben nicht den Anspruch, die vorhandene Literatur zu einzelnen Rechtsfragen vollständig wiederzugeben. Es geht nicht darum, Einzelprobleme neu zu lösen, sondern bestimmte juristische Argumente und Methoden zu untersuchen und »Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht« in einer Gesamtschau aus methodischer und prozessrechtlicher Perspektive zu betrachten. Festzuhalten ist: Vollständigkeit wird weder bei den rechtstheoretischen Lehren noch bei den Rechtsprechungs- und Literaturangaben und schon gar nicht bei den Rechtsfortbildungsbeispielen aus dem materiellen Zivilrecht und dem Zivilprozessrecht erstrebt. Der Versuch, alle oder auch nur die meisten Rechtsfortbildungen zu sammeln, wäre angesichts ihrer Vielzahl selbst für den Bereich des Bürgerlichen Rechts aussichtslos. Vor allem wäre ein solches Unterfangen aber sinnlos. Rechtsfortbildungen sind im Zivilrecht entgegen einer immer noch verbreiteten Auffassung im Grundsatz etwas Normales. Die Rechtsfortbildung lässt sich nicht mehr als ein pathologischer Fall der Rechtsfindung begreifen, den man dann in wenigen Grundsatzentscheidungen isolieren kann27. Auch interessieren Ergebnisse, zu denen die Gerichte und Autoren bei den Einzelproblemen kommen, hier nur am Rande. Es geht vielmehr um die Mittel, mit denen Rechtsfortbildungen jeweils objektiv verschleiert werden, also um die Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen. Durchgeführt werden Vorstudien zu einer realistischen und praktizierbaren juristischen Entscheidungsfindungs- und Begründungslehre, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
II. Die Methode Das Thema »Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht« wird aus dem Blickwinkel der Methodenlehre und des Zivilprozessrechts betrachtet. Das tatsächliche Phänomen verdeckter Rechtsfortbildungen soll beschrieben, erklärt, bewertet, als rechtliche Problematik thematisiert, analysiert und rechtlich begründeten Lösungen zugeführt werden. Die Arbeit hat deskriptive bzw. empirische Teile28. Beispielsweise wird, um eine eingeführte Bewertung der Begrün-
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Lames, Rechtsfortbildung als Prozesszweck, 1993, S. 135. Deskriptiv soll eine Untersuchung sein, welche ermittelt, wie sich die Spruchpraxis tatsächlich vollzieht. Die – zu stark vereinfachende und polarisierende – Unterscheidung zwischen deskriptiven und normativen Ansätzen in der deutschen Methodenlehre findet sich etwa bei Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 18 f., 21 f. m.w.N. Daneben wird zwischen empirischen, analytischen und normativen Betrachtungsweisen differenziert, die sich in der traditionellen juristischen Methodenlehre vermengten, was aber 28
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II. Die Methode
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dungspraxis deutscher Gerichte zu überprüfen, der rechtstatsächlichen Frage nachgegangen, wie oft und in welchen Kontexten der Bundesgerichtshof den Begriff »Rechtsfortbildung« in seinen Entscheidungen in Zivilsachen verwendet. Auch wird versucht, anhand einschlägiger Äußerungen im Schrifttum mögliche Gründe für verdeckte Rechtsfortbildungen zu ermitteln. Der Ausgangspunkt der Untersuchung, ihre grundlegenden Betrachtungsweisen und ihr Schwerpunkt sind allerdings normativ. Sie will nicht die tatsächliche Spruchpraxis der Gerichte möglichst exakt schildern, sondern rechtliche Maßstäbe aufzeigen und entwickeln, an denen gebräuchliche verschleiernde Rechtsfortbildungsfiguren und begründungsersetzende Versatzstücke zu messen sind. Die Aufmerksamkeit wird dabei auf die normativen Vorgaben begründeten Entscheidens und die Rechtsfolgen verdeckter Rechtsfortbildungen gerichtet. Die gewählte Vorgehensweise oder Methode ist daher im traditionellen Sinne juristisch29 bzw. rechtstheoretisch. Freilich weist der Untersuchungsgegenstand gewisse Berührungspunkte mit rechts- bzw. justizsoziologischen, richterpsychologischen, entscheidungstheoretischen und sprachwissenschaftlichen Fragestellungen auf. Erkenntnisse der genannten Disziplinen sind einzubeziehen, wenn und soweit sie für die hier behandelte Thematik weiterhelfen. Hervorzuheben ist insofern die allgemeine Texthermeneutik, deren Einsichten auch für die Interpretation von Rechtstexten gelten. Trotz oder vielleicht auch wegen der juristischen Hermeneutikrezeption des zwanzigsten Jahrhunderts sind diese Erkenntnisse in der Rechtswissenschaft und Rechtspraxis immer noch nicht in vollem Umfang bekannt. Die gängigen Bilder der Juristen von der Rechts- und Entscheidungsfindung haben sie kaum geprägt. Generell ist allerdings zu berücksichtigen, dass Ergebnisse anderer Wissenschaftszweige nicht unbesehen für rechtswissenschaftliche Untersuchungen übernommen werden dürfen. Stets müssen die unterschiedlichen Fragestellungen der verschiedenen Disziplinen beachtet werden. So versuchen entscheidungstheoretische Konzeptionen30 das richterliche Entscheidungsverhalten auf einer Abstraktionshöhe zu erfassen, die keinen (konkreten) Erkenntnisgewinn ver-
»nicht nur ein Mangel« sei, s. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, S. 32 f. Empirisch sei eine Betrachtungsweise, wenn in ihr beispielsweise die Häufigkeit bestimmter Argumente oder die Motivation zu ihrer Verwendung usw. beschrieben und erklärt würden. Alexys Begriffsbildung ist im hier interessierenden Zusammenhang übernommen worden von Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 20 ff. 29 Vgl. insoweit etwa C. Schmitt, Gesetz und Urteil, 1912, S. 1, der seine Untersuchung eine juristische nennt, weil sie danach frage, wann eine in der Rechtspraxis ergangene Entscheidung als juristisch richtig anzusehen sei, nicht aber danach, wie heute faktisch entschieden werde. 30 Einführend hierzu Hild, in: Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie, Band 1, 1999, Stichwort »Entscheidungstheorie«; Ganslandt, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 1, 1980, Stichwort »Entscheidungstheorie«; Wöhler, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, 1972, Stichwort »Entscheidungstheorie«, Sp. 544 ff.
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spricht31. Justizsoziologie und Richterpsychologie liefern gleichfalls keine Maßstäbe, um Begründungen von Rechts wegen zu bewerten. Carl Schmitt hat das für die Richterpsychologie bereits 1912 (über-)deutlich zum Ausdruck gebracht: »Welche psychischen Faktoren im Richter wirksam sind, ist ein Problem, das den Psychologen angeht; ein Kriterium der Richtigkeit kann keine psychologische Analyse liefern«32. Etwas moderater hat einige Jahrzehnte später Wieacker formuliert: »So wichtig eine methodische Untersuchung der psychologischen Urteilsbedingungen für die Selbstkontrolle der Justiz sein mag, sie wird niemals objektivierbare Prinzipien methodischer Urteilsfindung ausgeben können«33. Auch Argumentationstheoretiker betonen, dass psychologische Untersuchungen nichts über den Wert verschiedener Argumentationen aussagen können34. Entsprechendes gilt für justizsoziologische Forschungsergebnisse. Fakten sind keine rechtlichen Gebote. Rechtssoziologische Arbeiten sind zu dem Ergebnis gekommen, die offenen Urteilsgründe würden häufig nicht die tatsächlichen Motive, sozialpolitischen und moralischen Einstellungen wiedergeben, die zur Entscheidung geführt haben35. Ob die festgestellte Praxis gegen normative Vorgaben verstößt und deshalb aus juristischer Perspektive zu beanstanden ist, kann eine justizsoziologische Studie indessen nicht beantworten. Hierzu bedarf es einer im engeren Sinne rechtswissenschaftlichen Analyse, die sich mit den Rechtsregeln für das Finden und Begründen juristischer Entscheidungen befasst.
III. Die Einzelschritte der Untersuchung Die Untersuchung will auf zwei Weisen zu einer rationaleren juristischen Argumentation beitragen. Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen sollen als Rechtsproblem erkannt und dadurch entmythologisiert werden, dass ihr jeweiliger Aussagegehalt ermittelt wird. Zugleich ist beabsichtigt, rechtliche Orientierungspunkte für ein praktikables Modell begründeten Entscheidens aufzuzeigen. Diese beiden Ziele werden in fünf Schritten angegangen. Letztere spiegeln sich in der Gliederung der Arbeit in fünf Teile wider.
31 So M. Rehbinder, Rechtssoziologie, 5. Aufl. 2003, Rn. 165, zu einem konkreten Modell; allgemein zur Schwäche entscheidungstheoretischer Ansätze auch Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, S. 175 m.w.N. in Fn. 421; Schlink, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band II (1972), S. 322 ff., insb. 340 ff.; aus neuerer Zeit J. Schneider, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl. 2004, S. 348 ff. Dem sog. Subsumtionsmodell sind soziologische Entscheidungsmodelle, welche den Entscheidungsvorgang in mehrere Abschnitte zerlegen, freilich überlegen, s. hierzu E. Schmidt, in: Alternativkommentar zur Zivilprozessordnung, 1987, Einl. Rn. 98. 32 C. Schmitt, Gesetz und Urteil, 1912, S. 99, in Auseinandersetzung mit der Freirechtslehre. Ebenso bereits a.a.O. auf S. 17: »Durch die Auseinandersetzung des psychologischen Entstehens einer Entscheidung läßt sich kein Kriterium für ihre Richtigkeit gewinnen«. 33 Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1958, S. 9. 34 Perelman/Olbrechts-Tyteca, The New Rhetoric, 1969, S. 12; hierzu Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, S. 198 f. 35 Lautmann, Justiz – die stille Gewalt, 1972, S. 18, 133, 178 ff.
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III. Die Einzelschritte der Untersuchung
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Im ersten Teil werden das Thema näher umschrieben und die begrifflichen Grundlagen der Untersuchung gelegt. Es ist eingangs erwähnt worden, dass »Topos« und »Rechtsfortbildung« keine feststehenden Termini sind und zahlreiche unterschiedliche Bedeutungen haben. Die titelgebenden Begriffe bestimmen den Untersuchungsgegenstand. Deshalb werden die Ausdrücke Topik und Topos erläutert. Der heutige Gebrauch des Begriffs Rechtsfortbildung im Schrifttum, in der Rechtsprechung und in Gesetzen, seine Herkunft und seine einzelnen Bedeutungsfacetten werden eingehend untersucht. Im Anschluss an die Analyse des Fachsprachgebrauchs wird »Rechtsfortbildung« für die Zwecke dieser Arbeit näher bestimmt. Um mögliche Missverständnisse von vornherein zu vermeiden, werden auch die Bezeichnungen verdeckte Rechtsfortbildung, Auslegung, Rechtsfindung, Entscheidungsfindung und Entscheidungsgründe klargelegt. Der zweite und umfangreichste Teil der Untersuchung hat die verdeckten Rechtsfortbildungen als tatsächliche Problematik zum Gegenstand. Verdeckte Rechtsfortbildungen scheinen in der Praxis trotz des Paradigmenwechsels bei der Rechtsfindung, welcher durch einen detaillierten Überblick über richterliche Zivilrechtsfortbildungen im 20. Jahrhundert veranschaulicht wird, immer noch gerne verschleiert zu werden. Die Anerkennung der schöpferischen Rechtsfortbildung als legitime Aufgabe der Richter hat nicht zu der für eine rationale Argumentation geforderten Unterscheidung von Auslegung und Rechtsfortbildung in Gerichtsentscheidungen geführt. Diese These steht im Gegensatz zu geläufigen Bewertungen im Schrifttum36. Sie wird anhand einer eingehenden Analyse des Sprachgebrauchs des Bundesgerichtshofs in den ersten 154 Bänden der amtlichen Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichthofes in Zivilsachen überprüft. Anschließend werden Streiflichter der Geschichte verdeckter Rechtsfortbildungen geschildert und mögliche Gründe für verdeckte Rechtsfortbildungen sowie ihr Für und Wider diskutiert. Das Schrifttum bewertet verdeckte Rechtsfortbildungen durchaus unterschiedlich, wobei die jeweiligen Positionen vornehmlich mit ethischen oder pragmatisch-tatsächlichen Erwägungen begründet werden. Verdeckte Rechtsfortbildungen werfen indessen auch zahlreiche Rechtsfragen auf, welche bislang kaum erwähnt und noch nicht im Zusammenhang betrachtet und erörtert worden sind. Vor allem die zivilprozessualen Vorgaben der Entscheidungsbegründung sind in der Diskussion über verdeckte Rechtsfortbildungen und Scheinbegründungen bislang vollständig vernachlässigt worden. Die Rechtsfragen verdeckter Rechtsfortbildungen werden im dritten Teil erörtert. Da verdeckte Rechtsfortbildungen die Entscheidungsfindung und die Entscheidungsbegründung betreffen, wird zunächst das Verhältnis von Entscheidung und Begründung vertiefend behandelt. Gebräuchliche Vorstellungen über das Urteilen in der Theorie und in der Praxis werden vorgestellt und kritisch beleuchtet. Ein erster Schwerpunkt liegt in der Auseinandersetzung mit der im rechtswissenschaftlichen Schrifttum im Anschluss an Reichenbach und Popper 36 Aus neuerer Zeit beispielweise Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 144, der den Schluss zieht, in den Entscheidungen deutscher Gerichte sei häufig von Rechtsfortbildung, Rechtsfortbildung praeter legem, Rechtsfortbildung contra legem usw. die Rede.
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§ 1 Einführung
(»context of discovery« und »context of justification«) zunehmend postulierten Spaltung von »Entscheidung« und »Begründung«. Anschließend werden die normativen Vorgaben des begründeten Entscheidens geschildert. Es geht um die Gesetzesbindung, um deren Bedeutung für die Entscheidungsfindung und die Entscheidungsbegründung sowie um die in der Zivilprozessordnung enthaltenen einzelnen Begründungsvorschriften. Verdeckte Rechtsfortbildungen widersprechen diesen normativen Vorgaben des begründeten Entscheidens, weshalb dann die Rechtsfolgen verdeckter Rechtsfortbildungen untersucht werden, wobei zwischen zivilprozessrechtlichen und verfassungsrechtlichen Konsequenzen getrennt wird. Besondere Aufmerksamkeit findet dabei die bislang vernachlässigte und ungeklärte Frage, welche Möglichkeiten das zivilprozessuale Rechtsmittelrecht eröffnet, verdeckten Rechtsfortbildungen und den sie verschleiernden Topoi zu begegnen. Im vierten Teil, der mit »Einzelne Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen« betitelt ist, werden einzelne Instrumente aufgezeigt, mit denen Rechtsfortbildungen verdeckt werden. Hier soll, aufbauend auf einer Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten juristischer Argumente, ein grobes Topoiverzeichnis verdeckter Rechtsfortbildungen erstellt werden. Dieser Teil schließt mit einem Abschnitt über »Juristische Topoi als Leerformeln«. Im fünften Teil wird ein kurzer Ausblick zum juristischen Entscheiden gegeben. Die Untersuchung über verdeckte Rechtsfortbildungen legt gewisse weitergehende Folgerungen für den Weg zu einem rationaleren Modell begründeten Entscheidens nahe.
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1. Teil
Thema und Terminologie Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht können erst untersucht werden, wenn die titelgebenden Begriffe geklärt sind. Die zugrunde gelegten Ausdrücke bestimmen über den Gegenstand einer Untersuchung. Die Bezeichnungen »Topos« und »Rechtsfortbildung« haben zahlreiche Bedeutungsvarianten, die analysiert werden müssen, um die Grundbegriffe für die Zwecke der Arbeit näher zu konturieren. Ohne eine klare Terminologie ist eine Studie über Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen weitgehend sinn- und wertlos.
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§ 2 Topik und Topoikataloge Wenn von Topik und Topos gesprochen wird und ein Topoikatalog aufgestellt werden soll, müssen zunächst mögliche Missverständnisse ausgeräumt werden. Topik und Topos sind facettenreiche Benennungen, die in der Philosophie und in der Rechtswissenschaft im Laufe der Zeit ganz unterschiedlich verwendet worden sind.
I. Verschiedene Topikverständnisse 1. Philosophie Die Topik, auch Lehre von den »Örtern« oder »Gemeinplätzen« genannt, bezeichnet nach dem in Lexika dokumentierten Sprachgebrauch die von der griechischen und römischen Rhetorik gepflegte systematische Darstellung allgemein anerkannter Begriffe und Sätze, die beim Ausarbeiten von Reden zum Auffinden und zur Wahl von geeigneten Schlüssen und Argumenten dienen sollten1. Dass diese Umschreibungen der Bedeutungsfülle und dem Bedeutungswandel der Topik und des Toposbegriffs über die Jahrhunderte und Jahrtausende nicht annähernd gerecht werden, zeigt bereits der kurze Blick in ein philosophisches Fachlexikon2. Topik wird dort definiert als Kunstlehre der argumentativen Gesprächsführung in Bezug auf allgemein anerkannte bzw. konsensfähige Meinungen sowie als derjenige Teil der Argumentationslehre, der sich mit situativen Argumentationsschemata (Topoi) befasst. Manche erläutern Topik (wieder) als Lehre vom Meinungswissen3 oder als Lehre von den Gesichtspunkten, die unsere Erwägungen leiten4. Andere meinen, der seit jeher bedeutungsreiche Begriff To-
1 Vgl. etwa Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 9. Aufl., Band 23, 1978, Stichwort »Topik«; s. auch Brockhaus, 20. Aufl., Band 22, 1999, Stichwort »Topik«, wo außer dem philosophischen noch das literaturwissenschaftliche und das sprachwissenschaftliche Begriffsverständnis aufgeführt sind. 2 Vgl. nur Gethmann, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 4, 1996, Stichwort »Topik«, mit einem lesenswerten philosophiegeschichtlichen Überblick. – Detailliertere Informationen zu den vielfältigen Bedeutungen von Topik und Topos in der Philosophie der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit finden sich in den Beiträgen von Primavesi, Kann und Goldmann, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, 1998, Stichwort »Topik; Topos«, Sp. 1263 bis 1288. Verschiedene Topikbegriffe in Literaturwissenschaft, Politologie und Soziologie werden vorgestellt von Rehbock, Topik und Recht, 1988, S. 6 bis 11. 3 Breuer/Schanze, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 9, in Anlehnung an Aristoteles. 4 Pöggeler, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 97, 106.
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I. Verschiedene Topikverständnisse
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pik sei im Zuge seiner Reaktualisierung gegenwärtig in Gefahr, jegliche Trennschärfe zu verlieren5. Nach Gethmann ist einer der Gründe für die ungeheure Produktivität der Topik in der Geschichte der abendländischen Wissenschaften gerade die Unschärfe des Begriffs Topik6. Festzuhalten ist, dass in der Philosophie jedenfalls keine überzeitliche Sichtweise der Topik existiert. Den einen, für alle Zeiten geltenden philosophischen Topikbegriff gibt es nicht.
2. Rechtswissenschaft Hier interessiert jedoch zunächst das rechtswissenschaftliche Verständnis von Topik. Fraglich ist insoweit bereits, ob es überhaupt einen spezifisch rechtswissenschaftlichen Begriff der Topik gibt. a. Die traditionelle juristische Topik Zwar soll die Topik schon immer ein Bestandstück der Jurisprudenz gewesen und dann im 16. Jahrhundert gar als deren methodische Grundlage angesehen worden sein; Everardus, Cantiuncula und Oldendorp hätten im Anschluss an Agricola eine juristische Topik entwickelt, die durch die Aufstellung und das Zergliedern der Loci der Beweisführung Methode, Sicherheit und Reichtum geben sollte7. Den Praktikern und Theoretikern des Rechts dürften diese Zusammenhänge aber schon seit vielen Jahrzehnten regelmäßig nicht (mehr) geläufig sein. So wird die traditionelle juristische Topik selbst in Wieackers breit angelegter Privatrechtsgeschichte der Neuzeit nur ganz am Rande erwähnt8. Die ursprüngliche Rolle der Topik in der Jurisprudenz war im allgemeinen juristischen Bewusstsein in Deutschland lange Zeit in Vergessenheit geraten. Erst in den letzten Jahren 5
C. Wiedemann, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 233. Stichwort »Topos«, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 4, 1996. Horn spricht in Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 57, 63 – im Hinblick auf die Rechtstheorie – von der kreativen Unschärfe der Begriffe Topos und Topik; hierzu auch H.-G. Schumann, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 191, 192, der auf die Unschärfe der Toposkonzeption schon bei Aristoteles verweist. 7 So Goldmann, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, 1998, Stichwort »Topik; Topos«, Sp. 1280; eingehender zu den Loci bzw. Topoi in der rechtswissenschaftlichen Methode bis zum 17. Jahrhundert Stintzing, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, Erste Abtheilung, 1880, S. 114 ff., der neben den Sichtweisen der von Goldmann genannten Autoren noch die von Gribaldus, Hegendorfinus, Ossa und Gammarus skizziert und die topischen Schriften auf S. 121 als den Rest einer absterbenden (scholastischen, Anm. des Verf.) Schultradition bezeichnet, sowie Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 75 f., der davon spricht, dass die sog. juristische Topikliteratur zwar in die Zeit des Humanismus gefallen sei, aber weitgehend mittelalterlichen Geist enthalten habe; eingehende zusammenfassende Darstellung der juristischen Topikliteratur des 16. bis. 18. Jahrhunderts jetzt bei J. Schröder, Recht als Wissenschaft, 2001, S. 25 ff., 121 ff., m.w.N. zur Sekundärliteratur in Fn. 97 auf S. 23. – Vgl. zum mittelalterlichen mos italicus und seiner topischen Struktur Viehweg, a.a.O., S. 62 ff.; Stintzing, a.a.O., S. 102 ff., 106 ff.; Koschaker, Europa und das römische Recht, 1947, S. 87 ff.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 32 ff. 8 Vgl. insb. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 165, 289; noch knapper in der 1. Aufl. von 1952, S. 85, 167. 6
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§ 2 Topik und Topoikataloge
sind wieder einige Untersuchungen zum Thema erschienen9, unter denen die Monographie »Recht als Wissenschaft« von Jan Schröder besonders zu erwähnen ist, weil sie ausführlich über die Bedeutung der Topik für die Rechtswissenschaft vom 16. bis frühen 19. Jahrhundert informiert10. b. Eine Begriffsrenaissance Das Wort Topik war allerdings bereits Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wieder in aller Munde. Den Anstoß hatte ein 1954 erschienenes Buch über »Topik und Jurisprudenz«11 gegeben, das einen ungewöhnlich breiten Widerhall im In- und Ausland gefunden hatte12. Topik konnte 1967 als »Modebegriff der Rechtswissenschaft und nicht nur der Rechtswissenschaft«13 bezeichnet werden. Moden kommen und gehen. Gegenwärtig scheint ein einheitliches Verständnis von Topik in der Rechtssprache nicht zu existieren. Fragt man jüngere Juristen danach, was sie mit dem Begriff Topik verbinden, werden heute, sofern denn überhaupt noch etwas assoziiert wird, vor allem die Namen Viehweg und Cicero genannt.
II. Viehwegs Sichtweise Theodor Viehweg (1907–1988) hat mit seiner in fünf Auflagen erschienenen Habilitationsschrift »Topik und Jurisprudenz« eine breite Grundlagendiskussion über die Bedeutung von Fall und System, von Induktion und Deduktion in der Jurisprudenz angestoßen14. Das vorläufige Ergebnis der gut zwei Jahrzehnte
9 J. Schröder, in: Simon (Hrsg.), Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages, 1987, S. 353 ff.; Raisch, Juristische Methoden, 1995, S. 50 ff.; s. zu verschiedenen Einzelaspekten auch die Beiträge von MacLean, Schott und Otte in J. Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie, 2001, bzw. in J. Schröder (Hrsg.), Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, 1998. – Vgl. aber auch bereits Otte, Dialektik und Jurisprudenz, 1971 (zur Methode der Glossatoren); Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 62 ff., insb. S. 75 f.; Fikentscher, Methoden des Rechts, Band I, 1975, S. 381 und 385 (zur Scholastik und zu den Glossatoren); Coing, Europäisches Privatrecht, Band I, 1985, S. 23 ff., 129 f. (zum älteren gemeinen Recht zwischen 1500 und 1800); w. N. jetzt bei J. Schröder, Recht als Wissenschaft, 2001, S. 23 Fn. 97. 10 J. Schröder, Recht als Wissenschaft, 2001, insb. S. 23 ff., 119 ff., 209 f. 11 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, 1. Aufl. 1954. 12 Vgl. das Vorwort zur zweiten Auflage, abgedruckt bei Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 7. 13 Zippelius, NJW 1967, 2229. 14 Zu Viehwegs Topiklehre Bokeloh, Der Beitrag der Topik zur Rechtsgewinnung, 1973, S. 6 ff., 63 f.; Coing, ARSP 41 (1954/55), 436 ff.; Engisch, ZStW 69 (1957), 596 ff.; Horn, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 57 ff.; Rehbock, Topik und Recht, 1988, S. 17 ff.; Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, 1969, S. 26; weiterführend zum Streit über Topik und System in der Jurisprudenz Bokeloh, a.a.O., S. 67 ff.; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 135 ff.; Coing, ARSP 41 (1954/55), 436, 443 f.; Diederichsen, NJW 1966, 697 ff.; Engisch, ZStW 69 (1957), 596, 600 f.; Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956, insb. S. 47, 221 ff.; ders., Vorverständnis
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II. Viehwegs Sichtweise
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währenden Debatte lässt sich so zusammenfassen: Juristisches Denken ist sowohl systematisch als auch topisch, ohne dass damit die entscheidende Frage beantwortet wäre, wann topisch und wann systematisch gedacht werden kann und muss, welches Gewicht also dem System und dem Problem im juristischen Denken jeweils zukommt. Selbst diese Bestandsaufnahme suggeriert aber noch mehr Übereinstimmung als tatsächlich bestand oder besteht. Der Ertrag der historischen Diskussion über Topik und Systemdenken im Recht wird dadurch gemindert, dass in ihr unterschiedliche, meist nicht klar artikulierte System- und Toposvorstellungen aufeinander prallten und außerdem noch die Begriffe »systematisch« und »System« undifferenziert vermengt wurden15. Unter Topik verstand Viehweg eine von der Rhetorik entwickelte Techne16 des Problemdenkens, ein besonderes Verfahren der Problemerörterung17, welches er dem Systemdenken in der Rechtswissenschaft entgegensetzte. Zwar war die Frage nach dem Verhältnis von Problemdenken und Systemdenken in der Philosophie des 20. Jahrhunderts bereits vor Viehweg gestellt und beantwortet worden18. Auch hatten Juristen schon früher als er19 und zeitgleich mit ihm20 ein am Problemzusammenhang ausgerichtetes Denken gefordert. Der Boden für diese Saat
und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1972, S. 154 ff.; Horak, Rationes decidendi, I. Band, 1969, S. 45 ff.; Horn, NJW 1967, 601 ff.; Kramer, RabelsZ 33 (1969), 1, 2 f.; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 119 ff., insb. S. 123 f.; F. Müller, Normstruktur und Normativität, 1966, S. 56 ff.; Otte, Rechtstheorie 1970, 183, 189 ff.; H. Otto, ARSP 55 (1969), 493 ff., insbesondere S. 505 ff.; Raiser, NJW 1964, 1201, 1203 f.; Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, 1969, S. 24 ff.; Wieacker, FS Zepos, 1. Band, 1973, S. 391 ff.; ders., FS W. Weber, 1974, S. 421, 433 ff.; Würtenberger, MDR 1969, 626 ff.; Zippelius, NJW 1967, 2229, 2230 ff.; explizit aus Sicht der »Praxis« E. Schneider, MDR 1967, 6 ff.; mit größerer zeitlicher Distanz Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, S. 39 ff.; Ballweg, in: Ballweg/Seibert (Hrsg.), Rhetorische Rechtstheorie, 1982, S. 27, 34 f., 45 f. – Heute scheint man topisches und systematisches Denken ganz überwiegend nicht mehr als Gegensatz anzusehen, vgl. nur Rehbock, Topik und Recht, 1988, S. 12 f., 180 m.w.N. 15 Vgl. zum Unterschied zwischen System und systematisch im allgemeinen Sprachgebrauch etwa Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 9. Aufl., Band 23, 1978, Stichworte »System« und »systematisch«; zur Differenzierung in der Philosophie, insbesondere bei N. Hartmann und Jaspers, aber auch bereits bei dem französischen Aufklärer D`Alembert, nach dem der Naturforscher zwar systematischen Geist besitzen, aber niemals Systeme aufstellen sollte, einführend Strub, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, 1998, Stichwort »System; Systematik; systematisch«, Sp. 834 und 850. 16 Der griechische Begriff lässt sich mit Kunstfertigkeit übersetzen. Viehweg spricht von einem Denkstil, vgl. etwa Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 31. 17 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 14, 31 ff. 18 Vgl. N. Hartmann, in: Kant-Studien, 29. Band (1924), S. 160, 163 ff. 19 Salomon, Grundlegung zur Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1925, insb. S. 54 ff. (1. Aufl. 1919); s. auch v. Hippel, Zur Gesetzmäßigkeit juristischer Systembildung, 1930, insb. S. 6 bis 9; Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 149 f. – Engisch verweist für das Strafrecht auf die Arbeiten von Zimmerl und Bemerkungen von Radbruch, s. ZStW 69 (1957), 596, 600; ausführlich hierzu Engisch, Studium Generale 10 (1957), 173, 177 ff. 20 Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, 1950/51, insb. S. 5, 12 f., 17, 22; vgl. konkret zur Schadenshaftung bereits Wilburg, Die Elemente des Schadensrechts, 1941, S. 26 ff., allerdings noch ohne das spätere theoretische Fundament. – Viehweg stuft Wilburgs bewegliches System der Schadenshaftung, dessen Grundsätze tatsächlich Topoi seien, als differenzierten Topoikatalog ein, s. Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 109 f.
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§ 2 Topik und Topoikataloge
war bereits von der Interessenjurisprudenz21, der soziologischen Rechtsschule und der Freirechtslehre vorbereitet worden. Zudem ist die Debatte, die sich an Viehwegs Buch angeschlossen hat, inhaltlich auch stark durch die Konfrontation der deutschen Rechtswissenschaft mit dem ausgesprochen problemorientierten Denkstil des angelsächsischen Rechts22 geprägt worden, und zwar insbesondere durch die Schriften von Esser23. Viehweg war aber derjenige, der den Begriff der Topik wieder in die Rechtswissenschaft einführte, ihn mit Leben und Substanz füllte und so der Grundlagenforschung ein immens wirkungsvolles Schlagwort zur Verfügung stellte. Als Topik erster Stufe bezeichnete Viehweg ein Verfahren der Problembehandlung, das mehr oder weniger zufällige Gesichtspunkte in beliebiger Auswahl versuchsweise aufgreift; ein Verfahren, das Topoikataloge nutzt, die ein stets bereites Repertoire von Gesichtspunkten bieten, nannte er Topik zweiter Stufe24. Viehweg beschäftigte sich mit der sog. formalen Topik, die er von der inhaltlichen Topik unterschied25. Eine parallele Differenzierung zwischen der formalen Anleitung zum Aufsuchen von Prämissen bzw. Argumenten und dem materialen bzw. materiellen Argument findet sich schon bei Aristoteles26. Auch wird zwischen der theoretischen (Verfahrens-)Topik und der praktischen oder materiellen Topik differenziert27. Viehwegs Thema war also nicht die am jeweiligen Gegenstand ausgerichtete, konkrete Argumentationspraxis, sondern eine am Problem orientierte Argumentationstheorie, insbesondere ein von der Deduktivsystematik abweichendes, problembezogenes Verfahren der Prämissensuche28. Bei den »Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen« geht es nicht um Topik im Sinne von Viehweg. Untersuchungsgegenstand ist kein besonderes Verfahren der Problemerörterung, sondern eine bestimmte Begründungspraxis. Die Fragestellung betrifft nicht die formale, sondern die inhaltliche Topik. Das Vorhaben, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen zu sammeln und zu analysieren, weist nur entfernte Berührungspunkte mit Viehwegs Konzept auf. Eher knüpft sie an Vorstellungen Ciceros an, der das Fertigen eines praxisbezogenen Topoikataloges in den Mittelpunkt seines Interesses stellte.
III. Ciceros Ansatz Cicero hat seine Topik auf Bitten des Trebatius verfaßt29. Dieser war in der Bibliothek von Ciceros Villa in Tusculum zufällig auf die Topik des Aristoteles gesto21 H. Otto, ARSP 55 (1969), 493, 495 weist darauf hin, dass Methode und System für die Interessenjurisprudenz (aber noch) als Einheit galten. 22 Zippelius, NJW 1967, 2229. 23 Hier ist zuvorderst Essers Monographie über Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts aus dem Jahre 1956 zu nennen. 24 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 35. 25 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 9, 111. 26 S. hierzu Schirren, in: Schirren/Ueding (Hrsg.), Topik und Rhetorik, 2000, S. XI, XXII f. 27 Vgl. etwa Plett, in: Schirren/Ueding (Hrsg.), Topik und Rhetorik, 2000, S. 223, 224. 28 Vgl. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 39, wo die Topik in Anlehnung an Cicero als prämissensuchendes Verfahren gekennzeichnet wird. 29 Vgl. Cicero, Topica, I; s. auch Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 26.
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IV. Topoikataloge
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ßen. Vom Hausherrn erfuhr er, dass das Buch die Disputierkunst und Argumentationsgesichtspunkte behandle, die bei allen Erörterungen für und gegen eine Meinung stets verwendbar seien30. Trebatius war Jurist. Das Thema faszinierte ihn. Seinen Wunsch nach einem immer und jederzeit benutzbaren Topoikatalog scheint die philosophische, vornehmlich theoretische, auf hohem Abstraktionsniveau geschriebene Abhandlung des Aristoteles nicht erfüllt zu haben. Die Ausdrucksweise war ihm zu schwierig. Trebatius bat Cicero um Hilfe, der »eine Art Rezeptbuch«31 zur Praxis der Argumentation erstellte. Es wies einen umfangreichen, für die praktische Anwendung gedachten Topoikatalog auf. Als Topoi bzw. Loci bezeichnete Cicero, der sich insoweit auf Aristoteles berief, die Orte oder Plätze, von denen die Argumente hergeholt werden32. Topoikataloge lassen sich daher als Suchanweisungen für Argumente kennzeichnen.
IV. Topoikataloge Derartige Hilfsmittel sind über lange Zeit sehr gebräuchlich gewesen. Schon die sophistischen Rhetoren des 5. Jahrhunderts a.d. hatten ihr technisches Repertoire zum Bilden und Beeinflussen von Meinungen in die Form schematischer Anweisungen gebracht33. Aristoteles kritisierte ihre zum Auswendiglernen bestimmten Sammlungen fertiger Begründungselemente in seinen Sophistischen Widerlegungen anschaulich mit der sog. Schuhparabel34. Die hier interessierende Passage lautet in der Übersetzung von Rolfes35: »Die einen ließen rhetorische, die anderen 30 Aristoteles selbst umschrieb das Thema seiner Topik – in der Übersetzung von Rolfes – mit »der Aufgabe, eine Methode zu finden, nach der wir über jedes aufgestellte Problem aus wahrscheinlichen Sätzen Schlüsse bilden können und, wenn wir selbst Rede stehen sollen, in keine Widersprüche geraten«, s. Topik, S. 1 (100 a 18). Viehweg skizziert die Topik des Aristoteles dergestalt, dass sie Schlüsse aus Prämissen zum Gegenstand habe, die nach angesehener Meinung wahr scheinen, s. Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 22. Kriele merkt an, dass es in der Topik des Aristoteles tatsächlich um die Methode gehe, nicht erweisliche Sätze plausibel zu machen, s. Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 134. Bei Schirren heißt es in Schirren/Ueding (Hrsg.), Topik und Rhetorik, 2000, auf S. XXI f., das in der Topik des Aristoteles umrissene Verfahren habe zunächst den Zweck, in der via inventionis den Dialektiker für ein ihm vorgelegtes Problem die Argumente (meist als Prämissen) auffinden zu lassen, um diese dann in der Exposition dem Gegenüber als Syllogismus vorzutragen; ähnlich Pöggeler, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 95, 97: »Lehre von den Gesichtspunkten, die zum Finden von Prämissen dienen«. 31 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 26. 32 Vgl. Cicero, Topica, II 7 und 8, s. bereits Fn. 1; Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 27 übersetzt »argumenta« als »Stoffe zur Nachweisung«. Gröschner umschreibt Ciceros Topos als »Sitz von Argumenten« und betont im Übrigen die Unterscheidung zwischen »topoi« und »logoi«, s. Gröschner, Dialogik und Jurisprudenz, 1982, S. 195, 192 ff. 33 Zekl, Aristoteles, Topik, 1983, S. VII; Schirren, in: Schirren/Ueding (Hrsg.), Topik und Rhetorik, 2000, S. XI f., XXI; Krapinger, Aristoteles, Rhetorik, 1999, S. 246 f.; Kemper, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 17, 23 m.w.N. 34 Aristoteles, Sophistische Widerlegungen, S. 68 (183 b, 184 a). – Im heutigen rechtsphilosophischen Schrifttum werden die Sophisten äußerst unterschiedlich bewertet und etikettiert, vgl. den Überblick von Kirste, in: Kirste/Waechter/Walter (Hrsg.), Die Sophistik, 2002, S. 7 ff. 35 Vgl. zu dem berühmten Schuh- oder Sandalenbeispiel auch Schirren, in: Schirren/Ueding (Hrsg.), Topik und Rhetorik, 2000, S. XIII, XXI mit einer im Detail abweichenden Übersetzung; s. auch Krapinger, Aristoteles, Rhetorik, 1999, S. 249; Kemper, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 17, 24.
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§ 2 Topik und Topoikataloge
erotetische Reden auswendig lernen, die nach ihrer Meinung auf die meisten Reden für und wider eine Sache passten. So war der Unterricht für ihre Schüler zwar kurz, aber ohne die Unterlage einer wissenschaftlichen Theorie. Sie wähnten zu unterweisen, da sie doch keine Theorie, sondern nur deren Leistungen vorlegten. So machten sie es ähnlich wie ein Mann, der jene Kunst zu lehren verspräche, die dafür sorgt, dass den Leuten die Füße nicht weh tun, der dann aber nicht die Schusterei lehrte und die Mittel und Wege zeigte, um dabei den gedachten Zweck zu sichern, sondern eine reiche Auswahl aller möglichen Schuhe zur Verfügung stellte: auf diese Weise hätte er ja freilich dem Bedürfnis abgeholfen, aber keine Kunst gelehrt.« Der Unterweisungspraxis der Sophisten stellte Aristoteles in seiner Topica eine Techne entgegen, also ein Verfahren, das dazu dienen sollte, Argumente für beliebige Meinungen zu finden. Seine primär formale Topik enthielt nur einen eher losen, nicht klar geordneten36 Topoikatalog mit hohem Abstraktionsgrad. Wirkungsgeschichtlich bedeutender war die spezifische Umdeutung der Topik des Aristoteles durch Cicero37, dessen ausführlicher schematisierter Topoikatalog als Vorbild für die im Mittelalter geläufigen gelehrten Kommentare38 diente und letztlich zu den ausufernden Kompendien des Barockzeitalters beigetragen hat, in denen der kompilatorische Eifer des ciceronianischen Renaissance-Humanismus kulminierte39. Auch der Katalog der 1816 erschienenen Topik von Christian A. Kästner40 ist noch »im wesentlichen ciceronisch«41. Außer den allgemeinen, fachübergreifenden Topoiverzeichnissen gab es auch spezialisierte für bestimmte Disziplinen42. Viele Schriften enthielten nicht nur Suchanweisungen für Begründungen, sondern zählten auch oder sogar vornehmlich Argumente bzw. fertige Versatzstücke auf. Mehr oder weniger materielle To-
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Dazu C. Wiedemann, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 233, 242. Gethmann, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 4, 1996, Stichwort »Topik«; Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 25, 29, 35 f.; Kann, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, 1998, Stichwort »Topik; Topos«, Sp. 1269 ff., der die besondere Mittlerrolle von Boethius betont. 38 Schirren, in: Schirren/Ueding (Hrsg.), Topik und Rhetorik, 2000, S. XIII, XIV; Kann, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, 1998, Stichwort »Topik; Topos«, Sp. 1276; weiterführend Goldmann, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, 1998, Stichwort »Topik; Topos«, Sp. 1279 f.; v. Moos, Geschichte als Topik, 1988, S. 544 ff. 39 So wörtlich zu den barocken Verzeichnissen Gethmann, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 4, 1996, Stichwort »Topik«; vgl. zu den Locikatalogen der Theologen etwa Pöggeler, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 97, 104 f.; zu den barocken Topoisammlungen z. B. C. Wiedemann, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 233, 245 f. 40 Topik, oder Erfindungswissenschaft, 1816, S. 23 ff. 41 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 36. 42 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 36 f.; s. zu klassischen juristischen Topoikatalogen etwa Otte, Rechtstheorie 1970, 183, 186; ders., in: J. Schröder (Hrsg.), Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, 1998, S. 17, 18 ff.; J. Schröder, Recht als Wissenschaft, 2001, S. 29 ff., mit eingehender Darstellung einzelner Topoi in einem ausführlichen, an Cantiuncula und Hegendorphinus orientierten Topoikatalog. 37
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V. Der Wert von Topoikatalogen
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poikataloge waren also bis ins 19. Jahrhundert weit verbreitet. Die fachspezifischen Sammlungen hielten sich länger als die übergreifenden, deren letztes Reservat die Schulrhetorik gewesen war. Das wissenschaftliche Interesse an der Topik und an Topoikatalogen hatte allerdings infolge des Siegeszugs des Cartesianismus bereits im 18. Jahrhundert stark nachgelassen43. Kant sprach von der » ... logische(n) Topik des Aristoteles, deren sich Schullehrer und Redner bedienen konnten, um unter gewissen Titeln des Denkens nachzusehen, was sich am besten für seine vorliegende Materie schickte, und darüber, mit einem Schein von Gründlichkeit zu vernünfteln, oder wortreich zu schwatzen«44.
V. Der Wert von Topoikatalogen 1. Ihre Problemferne Die in diesem Zitat anklingende Skepsis gegenüber Topoikatalogen45 hat ihren Grund. Die Topik, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine bemerkenswerte fachübergreifende Wiedergeburt erlebte46, wird von ihren modernen Vertretern als eine Techne des Problemdenkens, als ein Verfahren begriffen, welches das Problem in den Mittelpunkt stellt47. Bei Viehweg ist von der Herrschaft des Problems die Rede48. Dementsprechend wird die zwangsläufige Orientierung der Topoi am Problem stets betont49. Der notwendige Problembezug der Topoi geht allerdings verloren, sobald sie vom Problem gelöst und in einem Verzeichnis gesammelt werden. Dort degenerieren sie zu problemfernen inhaltsentleerten 43 Die schon im 16. Jahrhundert einsetzende Topikkritik wird anschaulich geschildert von Goldmann, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, 1998, Stichwort »Topik; Topos«, Sp. 1280 ff.; s. insoweit auch Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 64 f. m.w.N. Eine schöne Zusammenstellung einschlägiger kritischer Zitate findet sich bei Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 115 f. Siehe zum »Zusammenbruch der Topik« in Philosophie und Rechtswissenschaft jetzt eingehend J. Schröder, Recht als Wissenschaft, 2001, S. 119 ff.; speziell zur Rechtswissenschaft, in der die Topik länger als in der allgemeinen Logik beibehalten wurde und in der sich der Bruch mit der Topik erst im 19. Jahrhundert vollzogen haben soll: J. Schröder, in: Simon (Hrsg.), Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages, 1987, S. 253, 264 ff. 44 Kritik der reinen Vernunft, 1781, S. 269 f.; 2. Aufl. 1787, S. 324 f. – Ihr stellte Kant die transzendentale Topik, die Ortsbestimmung eines Begriffs nach Regeln, die seine Stellung in der Sinnlichkeit oder im reinen Verstand je nach der Verschiedenheit seines Gebrauchs ermitteln, gegenüber. 45 Vgl. insoweit aus neuerer Zeit nur C. Wiedemann, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 233, 251 m.w.N. 46 Einführend hierzu Gethmann, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 4, 1996, Stichwort »Topik«, der als Vertreter der »Neuen Topik« neben Viehweg noch Perelman und Toulmin nennt, deren Untersuchungen zur Theorie philosophischen Argumentierens Kataloge von Argumentationsschemata enthalten, vgl. Perelman/Olbrechts-Tyteca, The New Rhetoric, 1969, S. 185 ff.; Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten, 1975, S. 88 ff. 47 Vgl. vorstehend II. 48 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 42. 49 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 39, 97 und öfters.
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§ 2 Topik und Topoikataloge
Formeln. Wozu sind Topoikataloge aber gut, wenn der Topos zur Leerformel wird, sobald der Problembezug verloren geht – im Katalog?
2. Ordnungs- und Materialisierungstendenzen Allgemeine Topoikataloge, die im Sinne einer formalen Topik Suchanweisungen für Argumente enthalten, sind tendenziell hochabstrakt, wirklichkeits- und problemfern, ausufernd, ungeordnet und deshalb in der Praxis – bei konkreten Fragen – schwer zu handhaben. Schon in der Rhetorik des Aristoteles heißt es50: » … diese allgemeinen Topoi werden in keinem Bereich Vernünftiges vermitteln, ihnen fehlt nämlich jede (fachspezifische, Anm. des Verf.) Grundlage«. Mit anderen Worten ausgedrückt: »Und jene allgemeinen Topoi machen wohl niemanden über irgendein Wissensgebiet klüger. Sie beziehen sich nämlich auf kein ihnen zugrundeliegendes (materiales) Gebiet«51. Sollen die Topoikataloge keine praktisch bedeutungslosen Sammelsurien sein, in denen eine Vielzahl von Fragen und Einzelgesichtspunkten unüberschaubar aneinandergereiht sind, so muss eine von zwei möglichen Vorgehensweisen gewählt werden, die auch miteinander kombiniert werden können. a. Systematische Verzeichnisse Die erste Möglichkeit besteht darin, dass man die Topoi ordnet, Topoi einer höheren Abstraktionsstufe konstruiert und die Einzelgesichtspunkte dann bestimmten Grundtopoi zuweist, also einen systematischen Topoikatalog erstellt. Eine Systematisierung der Topoi soll sich nach Viehweg aber verbieten, weil ihr Problembezug dann vollständig aufgelöst würde52. Die Herrschaft des Problems erfordere nichtsystematisierte Topoikataloge; Topik setze voraus, dass kein (Ableitungs-)System existiere53. aa. Für »topische Systeme« spricht sich demgegenüber Horn54 aus, der im Bereich des Rechts jeden rechtlich anerkannten Entscheidungsgesichtspunkt als Topos klassifiziert und deren Ordnung in Systemen zur Bewältigung der Stoffmasse für unentbehrlich hält. Diese Formulierungen deuten noch auf einen äußeren Systembegriff hin, der im folgenden indes mit einem inneren Systembegriff ver50 Aristoteles, Rhetorik, S. 18 (I 2), in der Übersetzung von Krapinger. – Hoffnungsvoll demgegenüber Cicero im Zusammenhang mit dem Topos der Ursache, Topica, XVII 66: »Licebit igitur diligenter argumentorum cognitis locis non modo oratoribus et philosophis, sed iuris etiam perotis copiose de consultationibus suis disputare«. Zekl, Cicero, Topik, 1983, XVII 66, übersetzt: »Wenn also die Gesichtspunkte der Argumente sorgfältig erkannt sind, wird es möglich sein nicht nur Rednern und Philosophen, sondern auch Rechtskundigen, ihre Beratungen ausführlich zu erörtern«. 51 Übersetzung von Schirren, in: Schirren /Ueding (Hrsg.), Topik und Rhetorik, 2000, S. XI–II, XXII. 52 Vgl. insoweit Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 39, 41 f., 44 f.; C. Wiedemann, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 233, 242; Würtenberger, MDR 1969, 626, 627. 53 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 44. 54 Horn, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 57, 59 f.
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V. Der Wert von Topoikatalogen
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woben zu werden scheint, wenn es heißt: »Die Masse dieser rechtlichen Topoi ist teils zum bloßen Zweck der technischen Beherrschbarkeit der Stoffmassen, teils aber auch zum Zweck der wissenschaftlichen Durchdringung und Ordnung der Probleme, problemorientiert in »topischen Systemen« geordnet.« Zu beachten ist, dass Horn im Unterschied zu Viehweg kein formales, sondern ein materielles Topikverständnis zugrunde legt. Das erklärt den Widerspruch zu den vorstehend genannten Sätzen Viehwegs. bb. Ob diese Sätze Viehwegs Position zum System treffend wiedergeben, ist allerdings umstritten55. So führt Ballweg den »Streit um Topizität oder Systematizität des juristischen Denkens« auf ein Lektüremissverständnis zurück, definiert topisches System als eine Ordnung einschlägiger dogmatischer Gesichtspunkte nach Problemkreisen und begreift Gesetze als nach Problemkreisen geordnete und dogmatisierte Topoikataloge, die getreulich herrschende topische Systeme ihrer Zeit wiedergäben56. Bei der Bewertung von Viehwegs Bemerkungen zum System ist zunächst zu berücksichtigen, dass sich der Schwerpunkt der rechtswissenschaftlichen Diskussion von der formalen zur materiellen bzw. inhaltlichen Topik verschoben und Viehweg seine Äußerungen im Hinblick auf die an ihnen geübte Kritik später modifiziert hat57. Seine Ausführungen beanspruchten wohl nur für inhaltliche und nicht für formale Topoi uneingeschränkte Geltung. Sie zielen jedenfalls auf deduktiv-axiomatische und damit auf innere und geschlossene Systeme, die Viehweg von didaktischen (äußeren) Systemen unterschied, welche er als Vorstufe deduktiver Systeme, aber noch nicht als mit der Topik unvereinbar ansah58. Diese »Beschränkung des Systembegriffs« durch Viehweg wird als Grund seiner Abneigung gegen das System angesehen und als überholt kritisiert59. Es bestehe heute völlige Einmütigkeit darüber, dass die Jurisprudenz kein axiomatisches System schaffen könne60. Dennoch hat Viehweg keinen »Kampf gegen Windmühlenflügel«61 geführt oder offene Türen eingerannt. Zum einen gibt es vereinzelt immer 55 Weiterführend zum Verhältnis von Topik und System Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 119 ff., 145, 150; Pöggeler, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 97, 109 f.; Rehbock, Topik und Recht, 1988, S. 181 ff.; Rodingen, in: Ballweg/Seibert (Hrsg.), Rhetorische Rechtstheorie, 1982, S. 181, 181 f., 186 f.; Schmidt-Biggemann, Topica universalis, 1983, S. XV, XVIII, 31 ff. und passim; ders., in: J. Schröder (Hrsg.), Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, 1998, S. 27, 42 ff.; C. Wiedemann, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 233, 242 f. Zusätzliche Nachweise aus dem rechtswissenschaftlichen Schrifttum finden sich oben in der ersten Fußnote zu II. 56 Ballweg, in: Ballweg/Seibert (Hrsg.), Rhetorische Rechtstheorie, 1982, S. 27, 45 f. 57 Vgl. Viehweg, in: Diemer (Hrsg.), System und Klassifikation in Wissenschaft und Dokumentation, 1968, S. 96, 102 ff. 58 Vgl. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 44 f., 82 ff.; s. zu dem Unterschied zwischen äußerem und innerem System etwa Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 750 f.; Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 414 ff.; grundlegend Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 139 ff., 142 ff. 59 S. etwa Sobota, Sachlichkeit, Rhetorische Kunst der Juristen, 1990, S. 85 Fn. 16; ausführlicher Diederichsen, NJW 1966, 697, 700; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 10, 148 m.w.N. 60 Otte, Rechtstheorie 1970, 183, 185. 61 Diederichsen, NJW 1966, 697, 700.
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wieder juristische Autoren, die ausdrücklich ein axiomatisches System anstreben62. Zum anderen – und das ist wichtiger – handelt(e) es sich bei dem deduktivaxiomatischen System um »ein im Stillen gehegtes Idealbild«63 der praktischen Jurisprudenz, um eine zwar nicht artikulierte, aber dennoch wirkende Vorstellung, der man anhängt, um Bedenken gegen den Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz64 und die Kalkulierbarkeit richterlichen Entscheidens im Ansatz zu zerstreuen. Bei Viehweg findet sich die Formulierung, der Aufbau eines Rechtssystems im logischen (axiomatischen) Sinne sei zwar nie erfolgt, seine Existenz werde aber gleichwohl in unserem juristischen Denken gewöhnlich vorausgesetzt65. Das sog. Systemdenken glaube daran, dass immer ein vorgegebenes Prinzip gefunden werden könne, aus dem sich die Antwort auf eine bestimmte Frage folgern lasse; es sei »axiomatisch orientiert«66. cc. Der Streit über die Berechtigung der Kritik von Viehweg und sein Verhältnis zum System kann und muss hier nicht entschieden werden. Er betrifft die Systematisierbarkeit inhaltlicher bzw. materieller Topoi. An dieser Stelle geht es demgegenüber zunächst um die Möglichkeit, formale Topoi zu ordnen. Das ist eine andere Fragestellung. Die Geschichte der Topik seit Aristoteles zeigt freilich, dass eine Systematisierung formaler Topoi bislang allenfalls ansatzweise gelungen ist. Zu vielfältig und unterschiedlich sind die denkbaren Suchanweisungen für Argumente. Formale Topoi werden in Verzeichnissen regelmäßig dadurch »geordnet«, dass man sie aneinander reiht. Ihrer Systematisierung sind offenbar enge Grenzen gesetzt. b. Fachspezifische Sammlungen Die zweite Möglichkeit ist, dass man andere Topoi in den Blick nimmt, weg vom allgemeinen Verfahren der Prämissensuche, hin zu speziellen Problemen und konkreten materiellen Argumenten. Mit dem zunehmenden Interesse an Topik und Topoikatalogen geht daher der Trend von der formalen zur inhaltlichen Topik und der von allgemeinen zu spezialisierten, zu fachlichen Topoikatalogen einher67. Man kann insoweit von einer Materialisierung der Topik sprechen68, 62 So H. Otto, ARSP 55 (1969), 493, 500, in der Auseinandersetzung mit Diederichsen über Klugs Juristische Logik, die letztmalig 1982 in 4. Auflage erschienen ist. 63 Würtenberger, MDR 1969, 626. 64 Vgl. zu der Furcht, mit dem System zugleich den Anspruch der Jurisprudenz auf Wissenschaftlichkeit preiszugeben: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 439. 65 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 84 m.w.N. 66 So A. Arndt, NJW 1963, 1273, 1277. 67 Wieacker verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass der Bereich allgemein verfügbarer und akzeptierter Gemeinwahrheiten in einer zunehmend arbeitsteiligen Welt immer erschreckender zusammenschmelze; sie reduzierten sich, wie Werbung, Reportage und Wahlagitation zeigten, auf immer ärmere Slogans, s. Wieacker, FS W. Weber, 1974, S. 421, 437. 68 S. insoweit zur Neuinterpretation der Topik und zur Wissensinventarisierung in den unterschiedlichen Disziplinen durch die späthumanistische Enzyklopädik Schmidt-Biggemann, in: J. Schröder (Hrsg.), Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, 1998, S. 27, 43 ff.; ausführlicher und grundlegend ders., Topica universalis, 1983.
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vielleicht auch von ihrer Banalisierung, weil die formale, »erkenntnistheoretische« Topik hierbei oft ganz in den Hintergrund tritt. Das hat schon Aristoteles gesehen69: »Was die spezifischen Topoi anlangt, so wird jemand, je besser er die Grundaussagen wählt, unbewusst ein von der Dialektik und Rhetorik verschiedenes Wissen vermitteln. Wenn er nämlich auf Prinzipien stößt, so hat er es nicht mehr mit der Dialektik oder Rhetorik zu tun, sondern mit der Wissensdisziplin, deren Prinzipien er vor sich hat«. Sind erst einmal Topoikataloge für bestimmte Spezialgebiete vorhanden, so heißt es bei Viehweg, dann bieten sie für eine systematisch denkende Epoche hinreichend Anreiz, sie zum deduktiven System umzugestalten70. Hier liegt der tiefere Grund für die behauptete Unvereinbarkeit von Topik und System71. Bei fachspezifischen Topoikatalogen übernimmt die jeweilige Materie schnell die Führung. Die jeweiligen Sachgesichtspunkte entscheiden über die Eignung und Ordnung der Argumente. Die Topik ist dann weitgehend verabschiedet.
3. Zu inhaltlich-fachlichen Topoikatalogen Selbst solche Topoikataloge, die sowohl inhaltlich als auch fachspezifisch sind, liefern freilich regelmäßig nicht mehr als begründungsersetzende Gemeinplätze und ornamentale Floskeln. Das kann anhand einer rechtsmethodischen Untersuchung aus den späten sechziger Jahren72 beispielhaft gezeigt werden. Viehweg glaubte, wegen der gehaltvollen Arbeit von Struck auf eine Darstellung der inhaltlichen Topik verzichten zu können73. Der in diesem immer noch lesenswerten Werk aufgestellte ausführliche Topoikatalog hinterlässt beim Leser jedoch bestenfalls einen gemischten Eindruck. Struck versteht Topos im Sinne von juristischem Standardargument74, also inhaltlich und fachspezifisch. Er listet 64 mehr oder weniger, teilweise auch gar nicht erläuterte Topoi auf75, wobei der Reihenfolge keine Bedeutung zukommen soll76. Anschaulich scheinen die Ausführungen dort zu sein, wo der jeweilige Topos anhand konkreter Beispiele erläutert wird. Allerdings ist der Bezug der behandelten Probleme zum übergeordneten Topos häufig recht lose77. Ob die in den Einzelfällen tatsächlich ausschlaggebenden Wertungsgesichtspunkte wirklich zum jeweiligen Topos verallgemeinert werden können, erscheint zweifelhaft. Damit bleibt letztlich auch der Anwen69 Aristoteles, Rhetorik, S. 18 (I 2), zitiert in der Übersetzung von Krapinger; vgl. auch Schirren, in: Schirren/Ueding (Hrsg.), Topik und Rhetorik, 2000, S. XIII, XXII. 70 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 44. 71 Vorstehend bb. 72 Struck, Topische Jurisprudenz, 1971. 73 In dem 1973 geschriebenen Nachwort zu Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, heißt es auf S. 120 unter Verweis auf Struck, »die inhaltliche Topik, die mittlerweile anderweit eine dankenswerte Darstellung gefunden hat«, werde beiseite gelassen; hierzu und zu Struck auch Gröschner, Dialogik und Jurisprudenz, 1982, S. 206 ff. 74 Struck, Topische Jurisprudenz, 1971, S. 20. 75 Struck, Topische Jurisprudenz, 1971, S. 20 bis 34. 76 Struck, Topische Jurisprudenz, 1971, S. 20. 77 Vgl. etwa die Topoi Nr. 13, 44, 46, 48, 49, 50, 51, 55 und 61 bei Struck, Topische Jurisprudenz, 1971, S. 22, 31 bis 34.
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dungsbereich des Topos unklar. In noch stärkerem Maße gilt das für diejenigen Topoi, die nicht mit Beispielen verdeutlicht werden. Sie wirken inhaltsarm bis inhaltsleer, ihre mögliche Reichweite bleibt offen. Aufgrund ihrer Problemferne können sie allenfalls als blasse Schlagworte dienen. Hinzu kommt, dass das bloße Aneinanderreihen der Topoi dem Katalog einen unsystematischen Charakter verleiht, ihn zu einem »Begründungssteinbruch« von zweifelhaftem Wert macht. Obwohl der Katalog von Struck also inhaltlich, fachbezogen und damit (relativ) konkret ist, bleiben seine Topoi meist vage und blass, weil sie entweder nicht anhand konkreter Probleme erläutert werden, oder weil sie als mehrfach erläuterte Topoi höherer Abstraktionsstufe losgelöst sind von den einzelnen Problemen. Inhaltliche Topoikataloge bieten daher nur eingeschränkt positive Argumentationsanweisungen, weil der notwendige Problembezug durch Aufnahme des Topos in den Katalog verloren geht.
4. Juristische Kommentare Mit dem Hinweis auf den topischen Charakter juristischer Lehrbücher und Kommentare78 sind diese Bedenken gegen praktizierbare inhaltliche Topoikataloge nicht zu entkräften. a. Suchanweisungen für Argumente? In juristischen Lehrbüchern wird der jeweilige Rechtsstoff unter didaktischen Gesichtspunkten zum Zwecke der Wissensvermittlung geordnet. Sie könnten daher allenfalls als systematische Topoikataloge begriffen werden, was nach verbreitetem modernem Topikverständnis schon einen Widerspruch in sich darstellen soll79. Entscheidend ist freilich etwas anderes. Das äußere System juristischer Lehrbücher ist nicht an Topoi ausgerichtet. Ihr Aufbau folgt didaktischen Geboten und den Eigengesetzlichkeiten des jeweiligen Teilrechtsgebiets. Es geht in juristischen Lehrbüchern nicht um einzelne problementscheidende Gesichtspunkte und deren Systematisierung, ja nicht einmal primär um die Einzelprobleme und deren Lösung. Die enthaltenen Beispiele dienen vornehmlich der Veranschaulichung des vermittelten materiellen Stoffes. Deutlich stärker unter der Herrschaft der Probleme stehen die juristischen Kommentare und hier insbesondere die sog.
78 Vgl. Viehweg, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 65, 67; Rodingen, in: Breuer/ Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 70, 77; Garrn, in: Schirren/Ueding (Hrsg.), Topik und Rhetorik, 2000, S. 499, 503. Demgegenüber meint Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1972, S. 157, dass wir uns nicht mehr mit Topoikatalogen beschäftigen und uns diese eher skurril erscheinen. Nach Otte, Rechtstheorie 1970, 183, 187 sind Kataloge materieller Topoi nicht mehr in Gebrauch; grundsätzlich zustimmend Bokeloh, Der Beitrag der Topik zur Rechtsgewinnung, 1973, S. 28. Differenzierend E. Schneider, MDR 1967, 6, 11 und 13, der Topoikataloge vermisst, insbesondere in der Lehrbuchliteratur, aber auch davon spricht, dass die Gesetzeskommentare die Aufgabe von Topoikatalogen mit übernehmen müssen. – Diese widerstreitenden Bewertungen haben ihren Grund in unterschiedlichen, nicht offen gelegten Topoiverständnissen. 79 Vgl. vorstehend 2.a.
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Praktikerkommentare. Zwar werden auch in ihnen Einzelprobleme nach Fallgruppen systematisiert und auf andere Weise geordnet. Das Auflisten der Präjudizien und einzelner möglicher Anwendungsfälle steht jedoch deutlich im Vordergrund. Bei hinreichend weitem Toposverständnis kann man diese Kommentierungen als Topoi, als Suchanweisungen für Begründungen kennzeichnen. b. Keine Begründungsverzeichnisse Die Argumente selbst, die zur Lösung des konkret zu entscheidenden Falles benötigt werden, findet man in den Kommentaren allerdings regelmäßig noch nicht. Kommentare enthalten fachsprachliche Begriffsverwendungsbeispiele mit Nachweisen, fallgruppenbildende und fallgruppenstrukturierende Begriffe mit Erläuterungen sowie Hinweise auf bereits beurteilte Sachverhaltskonstellationen mit Belegstellen. Bei der Rechtsfindung müssen die Kurzbezeichnungen und abstrakten Ausführungen im Hinblick auf den zu beurteilenden Einzelfall konkretisiert werden, wobei dieser auch wertend mit bereits entschiedenen Fällen verglichen wird. Identisch sind der bereits entschiedene und der jetzt zu beurteilende Fall nie80. »Kein Fall ist einem anderen in jeder Hinsicht gleich«81. Wieacker spricht von der unausschöpfbaren Individualität mitmenschlicher Konfliktsituationen; Leibniz’ Urerfahrung an den Blättern des Baums im Garten von Herrenhausen, dass keine Individualität mit einer anderen identisch ist, gelte auch für juristische Einzelfälle82. Ob der bereits entschiedene und der jetzt zu beurteilende Fall rechtlich gleich zu behandeln sind oder nicht, kann sich aus dem Kommentar nicht ergeben. Hierzu bedarf es eines Wertungsmaßstabes, den der bereits entschiedene Fall als solcher nicht zu liefern vermag83. Hinzu kommt, dass ein Präjudiz nur so gut ist wie die Gründe, die es tragen. Diese werden in den Praktikerkommentaren nur schlagwortartig umrissen, sofern sie denn überhaupt Erwähnung finden. Es bedarf mithin stets des Zugriffs auf andere Erkenntnisquellen, die in den Kommentaren nicht enthalten sind. Der Rechtsanwender muss sich mit den Präjudizien und den sie tragenden Gründen beschäftigen. Die Lösung der Probleme und ihre Begründung findet er also nicht in den Kommentaren, sondern über sie.
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In diesem Sinne auch Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, S. 366. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 256; ähnlich Zitelmann, Lücken im Recht, 1903, S. 30; Heck, AcP 112 (1914), 1, 102; Horak, Rationes decidendi, I. Band, 1969, S. 32 m.w.N. 82 Wieacker, in: Bubner/Cramer/Wiehl (Hrsg.), Hermeneutik und Dialektik, 1970, S. 311, 331. 83 Nur scheinbar anders für verbindliche Präzedenzfälle, die eine generelle Norm schaffen: Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 256. Wertungsmaßstab ist hier aber nicht der Präzedenzfall, sondern die verselbständigte generelle Norm. 81
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§ 2 Topik und Topoikataloge
c. Autorität als Argument Eine abweichende Bewertung wäre nur dann geboten, wenn man es als inhaltliche Begründung im Sinne der materiellen Topik ansähe, dass eine Rechtsfrage von jemandem in einer bestimmten Weise beantwortet worden ist. Derartige, im Mittelalter praktizierte »Autoritätenbeweise« erscheinen schon angesichts der heutigen argumentativen Begründungspraxis, die sich als Ausdruck einer aus der Vernunft abgeleiteten Autorität begreifen lässt, außerhalb des engen Bereichs gesetzlich vorgeschriebener Präjudizienbindung84 anachronistisch. In modernen Gesellschaften sind Argumente nicht mehr durch Autorität (auctoritas iurisconsultorum, ratio scripta) oder Lehrtradition (communis opinio doctorum), sondern durch die Überzeugungskraft des Räsonnements und der angebotenen Ergebnisse begründet85. Hattenhauer bezeichnet die unreflektierte Berufung auf Vorentscheidungen und juristisches Schrifttum als error fundamentalis:86 Dieser Weg der Wahrheitsfindung sei mit der Aufgabe der scholastischen Methode illegitim geworden; wahr sei seitdem nur noch, was vor dem Forum der Vernunft Bestand habe. Zwar wird im Schrifttum auch betont, dass die Bezugnahme auf die Begründungskompetenz anderer wie jedes andere Argument diskutierbar sei und als Begründung angesehen werden könne87. Letzteres dürfte sich von selbst verstehen. Im Grundsatz ist die Bezugnahme auf die Begründungskompetenz anderer auch wie jedes andere (Sach-)Argument diskutierbar, aber eben nicht ohne Kenntnis der von der Autorität gegebenen inhaltlichen Begründung oder einen anderen inhaltlichen Maßstab. Autoritätsgründe sollen im Unterschied zu Sachgründen gerade dadurch gekennzeichnet sein, dass ihre rechtfertigende Kraft nicht auf ihrem Inhalt, sondern auf anderen Gründen beruht88. Diese Umschreibung lässt sich dahingehend präzisieren, dass es bei Autoritätsgründen nicht um die sachlich-inhaltliche Qualität der Begründung, sondern um ihre Herkunft von einem bestimmten Entscheidungsträger geht. »Echte« bzw. »reine« Autoritätsargumente sind daher nur eingeschränkt diskutierbar: Es darf lediglich über ihre Authentizität, über die Urheberschaft der Autorität, aber nicht über die inhaltliche Berechtigung des Arguments gestritten werden. Materielle Argumente sind solche »echten« Autoritätsgründe also nicht. Dass eine Autorität eine Rechtsfrage bejaht oder verneint, stellt folglich keine inhaltliche Begründung im Sinne der materiellen Topik dar. Sähe man Vorentscheidungen und rechtswissenschaftliche Entscheidungsvorschläge bereits als inhaltliche Topoi an, so würde außerdem der zentrale Wertungsakt vernachlässigt, der in der Zuordnung von Sachverhalt und
84
Z. B. § 31 Abs. 2 BVerfGG, § 563 Abs. 2 ZPO. So Wieacker, in: Bubner/Cramer/Wiehl (Hrsg.), Hermeneutik und Dialektik, 1970, S. 311, 321, für dogmatische Argumente. 86 Hattenhauer, Die Kritik des Zivilurteils, 1970, S. 95. 87 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, S. 238. 88 Peczenik, Grundlagen der juristischen Argumentation, 1983, S. 58; U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 101. 85
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V. Der Wert von Topoikatalogen
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Präjudiz liegt. Die Kommentare liefern also nicht die im Einzelfall entscheidenden Argumente89, sondern Suchanweisungen für diese90. d. Praktizierbare inhaltliche Topoiverzeichnisse? Der Kommentar als Suchanweisung für Argumente, das entspricht allerdings nicht dem materialen, sondern dem formalen Topikbegriff. Versteht man die Kommentare demgegenüber als Sammlungen von inhaltlichen Argumenten, dann gelten die aufgezeigten Bedenken gegen praktizierbare inhaltliche Topoikataloge auch für sie. Werden die Einzelgesichtspunkte in den Kommentaren systematisiert, so führt das zu übergeordneten Topoi, bei denen der Bezug zum jeweiligen Problem verloren geht. Werden die Probleme nur aneinandergereiht, so verliert sich die Darstellung im Detail und der jeweilige Einzelgesichtspunkt im Repertoire. Die Ansammlung der Einzelfälle sprengt den Katalog. Derartige unstrukturierte Sammlungen helfen bei der praktischen Arbeit kaum.
5. Negative Topoikataloge Für das hier angestrebte Verzeichnis gelten die geschilderten Bedenken gegen den Sinn von Topoikatalogen nicht. Zwar ist der Bereich der materialen oder inhaltlichen Topik betroffen, weil auch die Argumente selbst behandelt werden und nicht nur Suchanweisungen für diese. Dass der materiale Topos durch Aufnahme in den Katalog vom Problem gelöst wird und zur Leerformel werden kann, ist angesichts des Untersuchungsgegenstandes aber unerheblich. Behandelt werden Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen. Es geht letztlich um bestimmte sprachliche Figuren, mit denen das Recht im Gewand seiner scheinba-
89 Nur auf den ersten Blick scheint das bei teilrechtsgebietsbezogenen Spezialkommentaren, ausufernden Großkommentaren und detaillierten Praktikerhandbüchern anders zu sein, welche die Präjudizien nach Fallgruppen ordnen und sie bestimmten Schlagworten und Grundsätzen zuordnen. Das zentrale Problem, ob der neue Fall dem aufgestellten allgemeinen Grundsatz zuzuordnen oder von ihm auszunehmen ist, lösen sie aber nicht. Auch hier stellt sich also stets die Frage, ob der bereits behandelte und der zu entscheidende Fall in allen rechtlich relevanten Punkten übereinstimmen, ob eine Gleich- oder Ungleichbehandlung geboten ist. Diese Frage kann der Kommentar nicht beantworten. 90 Gleiches lässt sich im Übrigen für die Kanones der Auslegungselemente oder auch für das zivilrechtliche Anspruchsschema sagen. Noch offensichtlicher ist die Verwandtschaft der fünf »W’s« der Zivilrechtler (»Wer will was von wem woraus?«) mit klassischen formalen Topoikatalogen (»quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando«). Zippelius, NJW 1967, 2229, 2231 nennt als geläufige Beispiele aus der juristischen Praxis die Schemata zur Prüfung der Zulässigkeit und Begründetheit einer Klage. Otte, Rechtstheorie 1970, 183, 187 erwähnt formale Topoi in der Methodenlehre und führt die Regeln für Gesetzeskonkurrenzen und die einzelnen Auslegungselemente an; vgl. zum Topoicharakter der canones auch Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, S. 300 f. m.w.N. Bokeloh, Der Beitrag der Topik zur Rechtsgewinnung, 1973, S. 28 spricht im Hinblick auf die Schlussformen der juristischen Logik, die Konkretisierungen von Treu und Glauben und die Strafzumessungsgründe von Topoikatalogen. S. zudem noch Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 145 und 151. – Auch hier wäre das jeweils zugrundeliegende Toposverständnis einer näheren Untersuchung wert, vgl. insofern bereits vorstehend die erste Fußnote zu 4.
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§ 2 Topik und Topoikataloge
ren Anwendung weiterentwickelt und damit verändert wird91. Die Topoi dienen dazu, die Rechtsfortbildungen als etwas auszugeben, was diese tatsächlich nicht sind. Bestimmte Argumentationsmuster, mit denen Rechtsfortbildungen bewusst oder unbewusst verschleiert zu werden pflegen, sollen aufgezeigt und auf ihre sachliche Berechtigung überprüft werden, um ihren rechtsfortbildenden Charakter unübersehbar zu machen. Der Katalog der Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen enthält Scheinbegründungen und begründungsersetzende Versatzstücke. Er ist kein positiver, sondern ein Negativkatalog. In ihm werden Begründungsmuster aufgewiesen, die entweder stets oder wegen der konkreten Art ihrer Verwendung abzulehnen sind. Teils verbietet sich ihr Einsatz also generell. Teils dürfen sie zwar angewendet werden, aber nur mit Vorsicht unter Beachtung ihrer möglichen Wirkungen. Gäbe es einen Giftschrank für Argumente, so würden die Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen in diesen gehören. Bei derartigen Topoi schadet es nicht, dass die Aufnahme in den Katalog und die Systematisierung der Topoi den Problembezug zerstören kann. Wenn gesagt wird, Topoi würden sich wegen ihrer zwangsläufigen Problemgebundenheit einer Systematisierung entziehen, dann bedeutet das, dass positive Topoi nicht zu einem Wertungssystem verbunden werden können. Dies ist beim Aufstellen positiver Topoikataloge zu berücksichtigen und begrenzt ihren Wert. Einer ordnenden Darstellung negativer Topoi steht dieser Aspekt nicht entgegen. Es geht nicht darum, ein inneres System zu bilden. In dem negativen Topoikatalog sollen lediglich gebräuchliche Begründungsmuster, die per se abzulehnen oder zumindest zweifelhaft sind, aufgelistet werden.
VI. Der Wandel des Toposbegriffs Der erwähnte Wandel des Topikverständnisses92 hat auch zu einer Veränderung des Inhalts des Toposbegriffs geführt. In ihm spiegeln sich sowohl die Materialisierungstendenzen in der Topik als auch die grundsätzlichen Bedenken gegen diese Disziplin.
1. Suchanweisung und Argument In der Topik des Aristoteles ist die Rede von Örtern, die uns helfen können, in bezug auf jedes Problem dialektische Schlüsse zu ziehen93. In der Rhetorik des Aristoteles bezeichnet Topos einen allgemeinen Gesichtspunkt und ein Element eines rhetorischen Syllogismus94. Cicero sprach von den Orten, von denen die Begrün91
Vgl. insoweit bereits § 1 I.2. Vorstehend I. und V.2. 93 Aristoteles, Topik, S. 172 (155 a), Übersetzung Rolfes. 94 Aristoteles, Rhetorik, S. 18 (I 2), S. 131 (II 22); zu dessen Toposverständnis auch Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, 1969, S. 22 f.; eingehend zum »typisch unscharfen« Begriff des Topos bei Aristoteles Kemper, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 17, 19 ff. m.w.N.; s. auch H.-G. Schumann, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 191, 192 mit dem Hinweis, Aristoteles definiere im formalen Sinne nicht, was eigentlich Topik und Topos sind. 92
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VI. Der Wandel des Toposbegriffs
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dungen hergeholt werden, von Stellen, an denen die Argumente abrufbar bereit stehen95. Topos bzw. Locus soll ursprünglich allein für ein Instrument zum Auffinden von Argumenten, nicht aber für das Argument selbst gestanden haben96. Später sind dann auch – bzw. nur – die Argumente Topoi oder Loci genannt worden97. Das korrespondiert mit dem Trend von der formalen zur materialen Topik98. Nach Kriele steht Topos in der nacharistotelischen Topik einerseits für die Klasse oder Kategorie, zu der ein Argument gehört, für das Stichwort im Nachschlagewerk, für die Kapitelüberschrift im Topoi-Katalog, andererseits aber auch für das redensartlich geprägte Argument selbst99. Topos als Argument, dieses Verständnis liegt auch neueren rechtswissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema zugrunde100. Es wird nach wie vor darüber gestritten, ob das ambivalente Verständnis von Topos als Suchanweisung und Argument nicht schon bei den Klassikern zu finden ist101, wofür vieles spricht102. Dennoch lag der Schwerpunkt bei Aristoteles und Cicero auf der Suchanweisung und nicht beim Argument. Der Inhalt des Ausdrucks Topos ist also im Laufe der Zeit je nach Betrachtungsweise ausgetauscht, erweitert oder in seinem Schwerpunkt verändert worden. Der Begriff war allerdings unverändert positiv besetzt.
95 Vgl. Cicero, Topica, II 7: »... sedes, e quibus argumenta promuntur ...«; II 8: »... locum esse argumenti sedem ...« und »... locis in quibus argumenta inclusa sunt ...«; ähnlich Quintilian, Institutiones oratoriae – Ausbildung des Redners, S. 554 (V 10 20): »locus appello ... sedes argumentorum, in quibus latent, ex quibus sunt petenda«, S. 555: »... Stellen, wo die Beweise ihren Sitz haben, wo sie sich verbergen und wo man sie suchen muss«. Schirren übersetzt diese Passage in Schirren/Ueding (Hrsg.), Topik und Rhetorik, 2000, auf S. XXVII: »Loci nenne ich ... die Örter der Argumente, in denen verborgen ist, was man aus diesen herausholen muss.« S. zur Terminologie aber auch Kemper, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 17, 27 f., 29. 96 So etwa Gethmann, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 4, 1996, Stichwort »Topos«; Ballweg, in: Ballweg/Seibert (Hrsg.), Rhetorische Rechtstheorie, 1982, S. 27, 42: »Suchformeln zum Auffinden von Gesichtspunkten«. 97 Vgl. Kemper, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 17, 27 und 29 zu Seneca, Quintilian und der wahrscheinlich von Cornificius verfassten Rhetorica ad Herennium. 98 Hierzu vorstehend V.2. 99 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 142. 100 Vgl. etwa Struck, Topische Jurisprudenz, 1971, S. 20: Topos als juristisches Standardargument; Horn, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 57, 60, der im Bereich des Rechts »jeden Grund-Satz, der zulässigerweise (d.h. als rechtlicher anerkannt) zur Findung und Begründung einer rechtlichen Entscheidung herangezogen wird« als Topos begreifen und damit »sowohl einzelne Rechtssätze als auch verallgemeinernde rechtliche Gesichtspunkte und Regeln wie schließlich auch formale Regeln (z.B. Schlußformen)« erfassen will; ähnlich Rehbock, Topik und Recht, 1988, S. 28. Kriele bezeichnet in seiner Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, auf S. 151 die Schlussverfahren der juristischen Logik, die Elemente der juristischen Auslegung und die sog. Rechtsprinzipien als Topoi, worunter er zur Diskussion stehende Problemlösungsvorschläge versteht. Von leitenden Gesichtspunkten spricht auch Pöggeler, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 95, 102 ff. 101 S. zu der Kontroverse über das antike Toposverständnis Schirren, in: Schirren/Ueding (Hrsg.), Topik und Rhetorik, 2000, S. XIII, XVII und XXII f. (zu Aristoteles); Kemper, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 17 ff., insbesondere S. 24 (zu Aristoteles), 27 f. (zu Cicero), 28 f.; H.-G. Schumann, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 191, 192; jeweils m.w.N. 102 Vgl. etwa Cicero, Topica, IV 25, X 41, XXI 79, wo von Grundbausteinen, um bei allen Diskussionen Argumente zur Verfügung zu stellen, die Rede ist, aber auch von Grundbausteinen und Gesichtspunkten des Argumentierens.
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§ 2 Topik und Topoikataloge
2. Topos als Klischee Demgegenüber steht Topos heute im Anschluss an literaturwissenschaftliche Untersuchungen von Curtius103 – zumindest auch – für ein festes Klischee, für eine formelhafte Wendung104. Auch in der Rechtswissenschaft, die nach Kelsen »dem Fortschritt nur langsam nachzuhumpeln pflegt«105, zeigen sich bereits erste Ansätze eines entsprechenden Bedeutungswandels. Rödig unterscheidet bei seiner Bewertung der Topik zwischen dem oberflächlichen, im schlechten Sinne »rhetorischen« Allgemeinplatz und dem positiv bewerteten problemorientierten Gesichtspunkt106. Kriele verweist darauf, dass Topos schon seit dem Niedergang der rhetorischen Tradition im 18. Jahrhundert als redensartliches Argument verstanden und mit einem negativen Akzent versehen worden sei107. Hier deutet sich eine bemerkenswerte Veränderung des Begriffsverständnisses von Topos an: weg vom Ort, an dem oder über den man Argumente, also Begründungen und Beweise findet, hin zur begründungsersetzenden Phrase, zur inhaltslosen stereotypen Leerformel, zum reinen Stilmittel.
VII. Das hier zugrunde gelegte Toposverständnis Wenn hier von Topos und Topoi gesprochen wird, so geht es nicht primär um Topik im Sinne von Viehweg oder um die Grundlagendebatte über topisches versus systematisches Denken in der Rechtswissenschaft. Das klassische positive Toposverständnis wird nicht einfach übernommen. Topos steht vielmehr zunächst für eine formelhafte Wendung, für ein begründungsersetzendes Versatzstück, für einen Gemeinplatz und damit für die jeweilige Begründung. Topos bedeutet aber mehr als »Argument«108. Der Begriff bezeichnet auch die schlagwortartig umschriebenen Stellen, über die Begründungen hergeholt werden, mit anderen Wor103 Europäische Literatur und europäisches Mittelalter, Bern 1948; einführend zu dessen materialer Topik und der an ihr geäußerten Kritik Schirren, in: Schirren/Ueding (Hrsg.), Topik und Rhetorik, 2000, S. XIII, XV ff. m.w.N.; Pöggeler, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 95, 103 f.; H-G. Schumann, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 191, 192 f.; C. Wiedemann, in: Breuer/Schanze (Hrsg.), Topik, 1981, S. 233, 235 ff.; positiv Plett, in: Schirren/Ueding (Hrsg.), Topik und Rhetorik, 2000, S. 223, 224 f. m.w.N.; vgl. zu Vorläuferschriften und zur angeblich parallelen Arbeit von Auerbach Goldmann, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, 1998, Stichwort »Topik; Topos«, Sp. 1285; demgegenüber verweist Rehbock, Topik und Recht, 1988, S. 7 auf den grundlegenden Aufsatz von Curtius mit dem Titel »Begriff einer historischen Topik« aus dem Jahre 1938. 104 Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 9. Aufl., Band 23, 1978, Stichwort »Topos«; Brockhaus, 20. Aufl., Band 22, 1999, Stichwort »Topos«. 105 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. IV (Vorwort zur 1. Aufl. von 1934). 106 Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, 1969, S. 25 f. 107 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 146 m.w.N. 108 Dass der Begriff Argument hier formal im Sinne eines Begründungselements bzw. eines einzelnen Begründungsschritts verstanden wird, ohne dass damit ein Urteil über den Gehalt oder die inhaltliche Richtigkeit des Arguments verbunden wäre, ist bereits erwähnt worden. Vgl. zur Trennung zwischen dem Argument und seiner Schlüssigkeit etwa Thiel, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 1, 1980, Stichwort »Argumentation«.
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VIII. Zusammenfassung
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ten Suchanweisungen für Argumente. Topos meint also einerseits Leerformeln und schlagwortartige Kurzbezeichnungen, die selbst als Begründung dienen, wobei diese geronnenen oder verdinglichten Gedanken selbstverständlich – je nach Formulierung – ebenso in Satzform auftreten können. Andererseits steht der Ausdruck aber auch für Merksätze und Überleitungsbegriffe, welche erst den Zugang zu einem Bündel von Einzelgesichtspunkten eröffnen, die als mögliche Begründung in Betracht kommen. Dieses ambivalente Begriffsverständnis von Topos wird auch für die Systematisierung der Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im angestrebten negativen Topoikatalog von Bedeutung sein.
VIII. Zusammenfassung Unter »Topik« wurde im Laufe der Jahrhunderte in Philosophie und Rechtswissenschaft sehr Unterschiedliches verstanden. Die traditionelle Rolle der juristischen Topik ist in Deutschland weitgehend in Vergessenheit geraten. Der Begriff erlebte in der Rechtswissenschaft ab den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Anschluss an Viehwegs Buch »Topik und Jurisprudenz« eine erstaunliche Renaissance und prägte die breite Grundlagendiskussion über die Bedeutung von Fall und System in der Jurisprudenz bis in die siebziger Jahre. Die Geschichte der Topik ist seit jeher auch eine Geschichte der Topoikataloge. Schon Aristoteles und Cicero haben einzelne Topoi aufgelistet. Außer den allgemeinen, fachübergreifenden Topoiverzeichnissen sind spezialisierte für Problemlösungen in bestimmten Disziplinen erstellt worden. Der Wert von Topoikatalogen wurde seit dem 18. Jahrhundert zunehmend bezweifelt. Im Verzeichnis verliert der Topos den notwendigen Bezug zum Problem und wird tendenziell zu einem inhaltsentleerten Gemeinplatz. Die gegen praktizierbare Topoikataloge grundsätzlich bestehenden Bedenken gelten indes nicht für ein Verzeichnis von Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen, welches Begründungsmuster enthält, die entweder stets oder wegen der konkreten Art ihrer Verwendung abzulehnen sind. Bei derartigen Topoi schadet es nicht, dass die Aufnahme in den Katalog und die Systematisierung der Topoi den Problembezug zerstört. Topoi lassen sich mit Cicero als die Orte umschreiben, von denen die Begründungen hergeholt werden, als die Stellen, an denen Argumente abrufbar bereit stehen. Der mehrdeutige Begriff bezeichnet freilich auch die Argumente selbst. Gemeinsam ist diesen beiden traditionellen Begriffsvarianten, dass sie positiv besetzt sind. Aufgrund eines gewandelten Topikverständnisses hat das Wort »Topos« zwischenzeitlich eine weitere Bedeutung erhalten. Topos steht heute auch für ein festes Klischee, für eine begründungsersetzende Phrase, für eine stereotype Leerformel. In dieser Untersuchung bezeichnet »Topos« eine leerformelhafte Begründung und damit das jeweilige Argument, aber auch Überleitungsbegriffe, welche erst den Zugang zu Bündeln von Einzelgesichtspunkten eröffnen, die als mögliche Begründung in Betracht kommen, also Suchformeln für Argumente.
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff Der Begriff »Rechtsfortbildung« ist vielleicht noch facettenreicher als der Ausdruck Topos. Fikentscher hat schon vor Jahrzehnten eine verwirrend uneinheitliche Terminologie konstatiert, die auf den sehr unsicheren methodischen Gehalt der Rechtsfortbildung schließen lasse, welche seit Jahrhunderten das streitigste und zugleich bedeutsamste Gebiet der juristischen Methodenlehre sei1.
I. Erster Befund zum heutigen Sprachgebrauch Wesentlich klarer ist die Lage in der Zwischenzeit nicht geworden. Ein Terminus im traditionellen Sinne, also ein inhaltlich abgegrenzter, festumrissener Begriff ist Rechtsfortbildung nicht. Das mag zunächst verwundern, weil der Ausdruck von Theoretikern und Praktikern des (Zivil-)Rechts in wissenschaftlichen Beiträgen und Festreden ständig ohne Erklärung verwendet wird2.
1. Ein nicht erläuterungsbedürftiger Begriff? In allgemeinen Lexika und Wörterbüchern findet sich das Stichwort Rechtsfortbildung nicht3. Auch in der Fachliteratur sucht man ausdrückliche Definitionen von Rechtsfortbildung interessanterweise meist vergeblich4. Eine Ausnahme stellt das Deutsche Rechts-Lexikon von Tilch/Arloth dar, das immerhin eine rudimentäre Definition von Rechtsfortbildung enthält: »Rechtsfortbildung durch das Gericht« wird dort umschrieben mit »ist die Befugnis des Gerichts, bei unvollständiger oder fehlender gesetzlicher Regelung (Gesetzeslücke) eine rechtliche Wertung selbst zu finden und der Entscheidung zugrunde zu legen«5. In allen 1
Fikentscher, Methoden des Rechts, Band III, 1976, S. 701 f. Im Strafrecht soll demgegenüber geradezu eine Scheu vor der Verwendung von Begriffen wie »Rechtsfortbildung«, »Rechtsschöpfung« oder »Richterrecht« herrschen, so Küper, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 451. Rechtsfortbildung durch Richterspruch gelte auch sonst vielfach als Domäne des Zivilrechts oder des öffentlichen Rechts, vgl. Küper, a.a.O., S. 451, 452 m. N. 3 Vgl. etwa Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 9. Aufl., Band 19, 1977; Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Band 5, 1980; Grimm, Deutsches Wörterbuch, Achter Band, 1893. 4 Vgl. zunächst nur Creifelds/Weber (Hrsg.), Rechtswörterbuch, 18. Aufl. 2004, Stichwort »Rechtsfortbildung«; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 366 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Studienausgabe), 3. Aufl. 1995, S. 187 ff. 5 Tilch/Arloth (Hrsg.), Deutsches Rechts-Lexikon, Band 3, 3. Aufl. 2001, Stichwort »Rechtsfortbildung durch das Gericht«. 2
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I. Erster Befund zum heutigen Sprachgebrauch
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Teildisziplinen der Rechtswissenschaft gibt es zahlreiche Untersuchungen zu Einzelfragen der Rechtsfortbildung, die den Ausdruck benutzen, als wenn er selbstverständlich wäre, ihn also nicht erläutern. Das gilt für monographische Untersuchungen6 sowie für Sammelbände zum Thema7 , etwa auch für nahezu alle Beiträge in einer kürzlich erschienenen (schweizerischen) Ehrengabe mit dem Titel »Richterliche Rechtsfortbildung in Theorie und Praxis«8.
2. Die Festschrift »Richterliche Rechtsfortbildung« In konzentrierter Form und daher besonders anschaulich wird diese Feststellung durch die Festschrift der Juristischen Fakultät zur Sechshundertjahrfeier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg bestätigt. Trotz des übergreifenden, titelgebenden und in den Einzelbeiträgen aufgenommenen Themas »Richterliche Rechtsfortbildung« enthält keiner der neunundzwanzig Beiträge zu den einzelnen Rechtsmaterien eine präzise Definition des Begriffs »Rechtsfortbildung«. Nur vereinzelt bemühen sich die Verfasser überhaupt darum, ihr jeweiliges Begriffsverständnis zu benennen oder doch zumindest vorsichtig anzudeuten. Überwiegend scheint der Begriff Richterrecht bevorzugt zu werden, der aber, außer bei Friedrich Müller9, auch nicht erläutert wird. Einige wenige weitere Beiträge sind noch zu erwähnen. Lackner verweist auf die drei Stufen richterlicher Rechtsfindung secundum, praeter und contra legem10, die von der schlichten Gesetzesauslegung über die gesetzesergänzende Lückenausfüllung zur offenen Gesetzesberichtigung aufsteigen, vertieft diese Unterscheidung aber nicht, weil im Geltungsbereich des Gesetzlichkeitsprinzips (Art. 103 Abs. 2 GG) Entscheidungen zum Nachteil des Betroffenen nur im Wege der Auslegung, also durch Rechtsfindung secundum legem, getroffen werden dürfen11. Von Hoyningen-Huene legt seiner Darstellung der richterlichen Rechtsfortbildung ausdrücklich die Unterteilung der Rechtsanwendung in mehrere Bereiche zugrunde, wobei er den auch von Lackner genannten Formen als
6 Vgl. statt vieler die Arbeit von Mittmann zur Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften aus dem Jahr 2000, die direkt mit Beispielsfällen beginnt und erst auf S. 232 en passant kurz etwas zum Begriff der Rechtsfortbildung sagt. 7 Vgl. etwa die einzelnen Beiträge in: Gesellschaft junger Zivilrechtswissenschaftler (Hrsg.), Rechtsfortbildung jenseits klassischer Methodik, Privatautonomie zwischen Status und Kontrakt, Privatrecht und Europa 1992, 1992. 8 Festschrift für Hans Peter Walter, 2005, vgl. insbesondere die Beiträge von Nyffeler, Schluep und Schwander, a.a.O., S. 99 ff., 199 ff., 525 ff., die explizit Fragen der Rechtsfortbildung diskutieren, ohne den Begriff zu erklären. Allein ein Autor, der die Rechtsfortbildung im Arbeitsrecht behandelt, unterscheidet zwischen drei Bereichen des Richterrechts bzw. der Rechtsfortbildung, welche er (negativ) als dasjenige definiert, was nicht mehr Auslegung ist, s. Portmann, a.a.O., S. 167 ff., 168, 181, 187. 9 F. Müller, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 65 ff.; hierzu in der Sache gleich unter VI. 10 S. zu diesem klassischen Drei-Stufen- bzw. Drei-Ebenen-Modell der Rechtsfindung C. Fischer, ZfA 2002, 215, 228 f. m.w.N. 11 Lackner, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Heidelberg, 1986, S. 39, 51.
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
vierte noch die Rechtsfindung extra legem zur Seite stellt12, was für einen Arbeitsrechtler angesichts der bekannten Rechtsgebietslücke Arbeitskampfrecht nicht ungewöhnlich ist13. Er scheidet die Rechtsfortbildung, die in Übereinstimmung mit der Gesamtrechtsordnung erfolgen müsse, von der Rechtsanwendung secundum legem, die er als Auslegung in den Grenzen des möglichen Wortsinns umschreibt14. Jayme betont, dass Rechtsfortbildung Recht voraussetze, das fortgebildet werden könne, und nennt als taugliche Objekte einer Rechtsfortbildung das geschriebene (Gesetzes-)Recht und die Änderung von Rechtsprechungsgrundsätzen (Richterrecht)15. Torsten Stein versteht Rechtsfortbildung demgegenüber als »Rechtsneuschöpfung«16, beurteilt ihr Vorliegen also anhand des Ergebnisses des Richterspruchs, das neues Recht darstellen muss. Drei weitere Autoren äußern sich noch am Rande zur Rechtsfortbildung. Serick spricht von richterlicher Rechtsfortbildung durch Auslegung, verweist aber auch darauf, dass eine richterliche Rechtsfortbildung herkömmlicherweise erst dort beginne, wo die Auslegung überschritten werden müsse, weil das Gesetz lückenhaft sei17. Ähnlich ambivalent drückt sich Miehe aus: Das traditionelle Feld der Rechtsfortbildung beginne da, wo die gesetzliche Regelung ende, womit vor allem die Rechtsschöpfung praeter legem im Wege der Analogie angesprochen sei18; auch innerhalb des möglichen umgangssprachlichen Wortsinns, der im Strafrecht die Grenze der Gesetzesanwendung bilde, sei aber Rechtsfortbildung möglich19. Von Gamm umreißt die Problematik der richterlichen Rechtsfortbildung mit der Frage nach einem Ausgleich zwischen der überkommenen Norm und den neuen Rechtsbedürfnissen der Gegenwart20. Die eigentliche Problematik finde sich in der Abgrenzung der verfassungsrechtlich zulässigen und gebotenen richterlichen Rechtsfortbildung, deren typischer Bereich in der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, in der Konkretisierung offener Normen und in der Lückenausfüllung liege21. Damit schließt sich schon der kleine Reigen der einschlägigen Äußerungen, die erheblich voneinander abweichen und dennoch regelmäßig vage
12 v. Hoyningen-Huene, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 353, 354 f. 13 Vgl. insoweit C. Fischer, ZfA 2002, 215, 233 ff. 14 v. Hoyningen-Huene, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 353, 355. 15 Vgl. Jayme, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 593. 16 T. Stein, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 619. 17 Serick, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 261, 273. 18 Miehe, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 481, 485. 19 Miehe, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 481, 486. 20 v. Gamm, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 323. 21 v. Gamm, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 323, 324.
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I. Erster Befund zum heutigen Sprachgebrauch
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bleiben. Die überwältigende Mehrheit der insgesamt neunundzwanzig Hochschullehrer erklärt in ihren Beiträgen zum Generalthema nicht, was sie unter Rechtsfortbildung versteht.
3. Kein feststehender Terminus Das ist bemerkenswert, weil es kein allgemein oder auch nur überwiegend anerkanntes fachsprachliches Begriffsverständnis von Rechtsfortbildung gibt. Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum wird diese Tatsache so gut wie nie thematisiert. Die vorstehende Analyse hat Seltenheitswert. Immerhin hat auch Wank konstatiert, dass eine einheitliche, allgemein anerkannte Definition von Rechtsfortbildung weder im deutschen Recht noch auf europäischer Ebene existiere22. Außerdem merkt Brehm an, der Ausdruck Rechtsfortbildung sei so vielfältig wie der Rechtsbegriff selbst23. Richter sollen nach gelegentlichen richterlichen Bekundungen durchgehend einen engeren Begriffsinhalt verwenden als das von einer funktionalen Sichtweise geprägte Schrifttum24. Dessen Rechtsfortbildungsbegriffe sind indes alles andere als gleichförmig. Weitgehend unbestritten scheint lediglich zu sein, dass jedenfalls das Füllen von Gesetzes- oder Rechtslücken eine rechtsfortbildende Tätigkeit darstellt25. Diese Umschreibung bietet nach heute ganz überwiegend vertretener Auffassung jedoch keine erschöpfende Definition der Rechtsfortbildung. Im Übrigen beantwortet sie die Frage, was Recht bei der Rechtsfortbildung ist, nicht. Sie verschiebt das Problem lediglich zu dem schillernden, überaus facettenreichen Lückenbegriff. Bei der Lücke sind das Bezugsobjekt26 und der Beurteilungsmaßstab27 aber ebenso unklar wie bei der Rechtsfortbildung. Selbst die Lehrbücher der juristischen Methodenlehre, welche doch die Fachbücher der Auslegungs- und Rechtsfortbildungslehre sein sollten und sein wollen28, enthalten kaum konkrete und schon gar nicht übereinstimmende Erklärun-
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Wank, FS Stahlhacke, 1995, S. 633, 634. Brehm, FS Schumann, 2001, S. 57; vgl. noch Harry Westermann, FS Larenz, 1983, S. 723 f., der auf den engen Zusammenhang von Begriffsbestimmung bzw. Anwendungsart der richterlichen Rechtsfortbildung und der von dem jeweiligen Autor vertretenen Normtheorie sowie auf die Unterschiedlichkeit der Rechtsgebiete verweist. 24 In diesem Sinne Berkemann, KritV 1988, 29, 3; vgl. auch Oppenheimer, KritV 1988, 57. 25 Vgl. nochmals Tilch/Arloth (Hrsg.), Deutsches Rechts-Lexikon, Band 3, 3. Aufl. 2001, Stichwort »Rechtsfortbildung durch das Gericht«, sowie Creifelds/Weber (Hrsg.), Rechtswörterbuch, 18. Aufl. 2004, Stichwort »Rechtsfortbildung«, wo das Ausfüllen von Gesetzeslücken als erste Fallgruppe des sog. Richterrechts genannt wird. Nach Reinhart, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 599, 603 ist unbestritten heute nur die Zulässigkeit der Rechtsfortbildung durch lückenschließendes Richterrecht. S. zur abweichenden Terminologie in Teilen des staatsrechtlichen Schrifttums sogleich unter II.2.n.cc. 26 Geht es um eine Lücke des Gesetzes oder um eine Lücke der Rechtsordnung? 27 Sind der Plan des Gesetzgebers oder die Wertvorstellungen der Gesamtrechtsordnung entscheidend? 28 Vgl. insoweit etwa den Text auf der Rückseite der 3. Auflage der Studienausgabe der Methodenlehre von Larenz/Canaris aus dem Jahr 1995. 23
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
gen von Rechtsfortbildung. Das Begriffsverständnis des einzelnen Autors lässt sich meist nur mittelbar den jeweiligen Ausführungen über die anerkannten Methoden oder Fallgruppen der Rechtsfortbildung entnehmen. Dieser erste Befund zum Fachsprachgebrauch überrascht. Er soll anhand von Beispielen belegt und verdeutlicht werden.
II. »Rechtsfortbildung« im (rechtsmethodischen) Schrifttum 1. Negative Umschreibungen Als relativ gesichert konnte freilich lange Zeit gelten, dass Rechtsfortbildung jedenfalls nicht Auslegung bzw. Anwendung der Gesetze bzw. des Rechts ist. So sieht Fikentscher den gemeinsamen Kern der von ihm geschilderten unterschiedlichen Positionen und Ausdrücke in dem Gegensatz zur Anwendung des – gegebenenfalls ausgelegten – Gesetzes- oder Gewohnheitsrechts29. Rechtsfortbildung wurde und wird zudem verbreitet als derjenige Bereich der Rechtsgewinnung erläutert, welcher über die klassischen Regeln der Auslegung hinausgeht30. Der Rechtsanwender betreibe Rechtsfortbildung, wenn der Rechtsfall nach dem bereits interpretierten Gesetz nicht beurteilt werden könne, jedoch rechtlich einer Beurteilung im Sinne der Festlegung von Rechtsfolgen bedürfe31. Die Rechtsanwendung überschreite die Grenze zur Rechtsfortbildung, wenn (nach der Auslegung) eine Norm fehle, die zu sachgerechten Ergebnissen führe32. Diese Definitionen der Rechtsfortbildung sind wie jeder negative Abgrenzungsversuch schon deshalb problematisch, weil es selten gelingt, all das anzugeben, was ein Ausdruck nicht bedeutet. a. Gegenbegriff »Auslegung« Das Wort Auslegung ist alles andere als präzise33. Er wird nicht nur im Sinne von Gesetzesinterpretation, sondern auch im Sinne von Rechtsfindung oder Rechtsgewinnung verwendet und bezieht dann die Rechtsfortbildung mit ein34.
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Fikentscher, Methoden des Rechts, Band III, 1976, S. 701. Vgl. statt vieler Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, 1999, S. 575. 31 Mit diesen Worten umschreibt Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auf. 1991, auf S. 473 unter Berufung auf § 7 ABGB die ergänzende Rechtsfindung (praeter legem); Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, 1999, zitiert sie auf S. 291, um Rechtsfortbildung zu definieren. 32 v. Hoyningen-Huene, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 353, 355. 33 Vgl. zur strafrechtlichen Perspektive Lackner, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 39, 51. 34 Vgl. insoweit nur BVerfGE 96, 375, 393 f.; s. dort auch S. 396, wo Auslegung unter II. sowohl als die Rechtfortbildung umfassender als auch von ihr zu unterscheidender Begriff verwendet wird. Im Schrifttum findet sich ein die Rechtsfortbildung einbeziehendes Auslegungsverständnis beispielweise bei Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 15 Fn. 4. 30
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II. »Rechtsfortbildung« im (rechtsmethodischen) Schrifttum
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aa. Vor allem aber hat die negative Definition von Rechtsfortbildung an Trennschärfe verloren, seit verbreitet kein prinzipieller Unterschied zwischen gesetzesanwendender Auslegung und Rechtsfortbildung mehr gesehen wird35, sondern nur eine flüssige Grenze36. So wird in dem gegenwärtigen Standardwerk der deutschen juristischen Methodenlehre von Larenz die Wesensidentität von Gesetzesauslegung und richterlicher Rechtsfortbildung betont; er bezeichnet sie als verschiedene Stufen desselben gedanklichen Verfahrens37. Schon die einfache Auslegung des Gesetzes durch ein Gericht stelle, sofern sie erstmalig sei oder von einer früheren Auslegung abweiche, eine Rechtsfortbildung dar. Jede Konkretisierung eines ausfüllungsbedürftigen Maßstabes durch die Rechtsprechung in der Beurteilung eines Einzelfalls bedeute eine Rechtsfortbildung38. Die erstmalige Auslegung einer Gesetzesbestimmung durch die Gerichte sei insofern bereits eine «Fortbildung« der Gesetzesnorm, als sie eine unter mehreren dem Wortsinn nach möglichen Bedeutungen als die konkret zutreffende kennzeichne. Die hier aneinandergereihten Ausführungen stehen zwar in einem gewissen Widerspruch zu der von Larenz vertretenen Position zum Rechtsquellencharakter von Richterrecht39 sowie zu seiner Auffassung, der äußerste sprachlich mögliche Wortsinn bilde die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung40. Sie zeigen aber, wie stark die Trennungslinie zwischen Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung zwischenzeitlich verwischt worden ist. bb. Dementsprechend unscharf und facettenreich ist auch die überwiegend vertretene Wortsinngrenze der Auslegung41, nach der die Deutung den äußersten möglichen Wortsinn des Gesetzes nicht überschreiten darf. In wechselnden Kombinationen und mit unterschiedlichen Modifikationen wird auf das umgangssprachliche, das fachsprachliche, das entstehungszeitliche oder das gegenwärtige usw. Begriffsverständnis abgestellt, obwohl es keinen vom Kontext und von der Sprechabsicht unabhängigen Wortsinn gibt42. Konsequenz ist: Die Ge35 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956, S. 255. 36 Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1958, S. 6. 37 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 366 f.; ebenso Larenz/ Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Studienausgabe), 3. Aufl. 1995, S. 187 f.; vgl. bereits Larenz, NJW 1965, 1. 38 Ähnlich, aber klarer Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1958, S. 7: Jedes »gesetzesanwendende« Urteil ist zugleich auch ein Stück »punktueller Rechtsfortbildung«; ebenso H.-P. Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, 1969, S. 26: Jede richterliche Rechtsfindung enthält in der Aktualisierung und Konkretisierung von Normen auch ein Stück punktueller Rechtsfortbildung; ihm zustimmend Meier-Hayoz, JZ 1981, 417, 419. 39 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 432. 40 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 322 f. 41 Jüngst Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, 2004, insb. S. 40 ff., 235 ff. 42 Wer auf den Umgangssprachgebrauch abstellt, vernachlässigt, dass gesetzliche Begriffe stets normative Tatbestandsmerkmale sind, deren Bedeutung sich nach dem historischen Regelungszweck bestimmt. Für einen verselbständigten Vertrauensschutz durch eine am Umgangssprachgebrauch ausgerichtete Begriffssinngrenze besteht jedenfalls im Zivilrecht kein Bedürfnis. Hält man demgegenüber bei gesetzlichen Begriffen den Fachsprachgebrauch für entscheidend, so wäre auch jede neue, den Begriffsgebrauch verändernde Auslegung eines gesetzlichen Begriffs eine Rechtsfortbildung. Es ist festzuhalten, dass sich der juristische Wortsinn im Zivilrecht nicht
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
richte selbst entscheiden darüber, wo sie die Grenzen des Wortsinns ziehen wollen43. Auch die Gegenposition, nach der die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung nicht durch den Wortsinn, sondern durch die gesetzgeberische Interessenbewertung gezogen wird, lässt durchaus Spielräume für einen flexiblen Umgang mit dem »Gesetzgeberwillen«, der stets fiktiv ist und final instrumentalisiert und inszeniert werden kann. cc. Die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung wird zudem durch die sog. objektive, objektiv-teleologische oder geltungszeitliche Auslegung verschoben, die eine Fortbildung des Gesetzesrechts im Gewand seiner (scheinbaren) Anwendung ermöglicht44. Auch werden Figuren wie die verfassungskonforme und die europarechtskonforme Auslegung, mit denen das abweichende Gesetzesrecht auf höherrangige Rechtsquellen hin passend gemacht wird, als Anwendungsfälle einer systematischen »Auslegung« der Gesetze behandelt45. Dass generell eine enge Verknüpfung zwischen Argumenten aus einem angenommenen inneren System und einer gesetzesrechtsfortbildenden »Auslegung« besteht, zeigt sich anschaulich bei Canaris, der die systematische Auslegung charakterisiert als eine besondere Form einer (objektiv-)teleologischen Begründung46. dd. Im heutigen deutschen juristischen Sprachgebrauch werden Auslegung und Rechtsfortbildung also nicht klar voneinander unterschieden. Die Übergänge sind fließend. Auslegung wird zudem als ein die Rechtsfortbildung einschließender Oberbegriff verwendet. Die Frage, ob Auslegung und Rechtsfortbildung voneinander getrennt werden können und wegen ihrer sachlichen Unterschiede auch terminologisch auseinandergehalten werden sollten oder sogar müssen, ist damit selbstverständlich noch nicht beantwortet. Fest steht nur, dass Rechtsfortbildung nicht anschaulich umschrieben werden kann als das, was keine Auslegung der Gesetze ist. Eine solche Begriffserläuterung bleibt wegen des vielfältigen Auslegungsbegriffs weitgehend unklar und schemenhaft.
nach einem allgemeinen Sprachgebrauch richtet, sondern stets vom Kontext und von der Sprechabsicht des Verwenders abhängt; hierzu etwa Wank, Die juristische Begriffsbildung, 1985, S. 27 ff.; zusammenfassend Kamanabrou, Die Auslegung und Fortbildung des normativen Teils von Tarifverträgen, 1997, S. 38 bis 41. – Der Titel des letztgenannten Buches muss den Leser nicht irritieren. Tatsächlich handelt es sich um eine primär allgemein-methodische Arbeit. 43 So Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 621. 44 Einführend hierzu Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 806 ff.; C. Fischer, ZfA 2002, 215, 231 ff. 45 Sogar von Autoren, die die Notwendigkeit einer klaren Trennung von Auslegung und Rechtsfortbildung sonst stets betonen, vgl. Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 763 ff. einerseits und Rn. 821, 720 ff. andererseits. 46 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 88, zum Systemargument.
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II. »Rechtsfortbildung« im (rechtsmethodischen) Schrifttum
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b. Gegenbegriff »Rechtsanwendung« Rechtsanwendung47
Auch der Gegenbegriff ist nicht geeignet, Rechtsfortbildung plastisch zu erläutern. Die Begriffe unterscheiden sich zwar sprachlich insoweit, als beim Anwenden des Rechts etwas Fertiges vorgefunden wird, während beim Fortbilden des Rechts der Entscheidungsmaßstab erst geschaffen wird. Die sog. Rechtsanwendung, Rechtsfindung oder Rechtsgewinnung erschöpft sich aber nicht darin, den sog. Sachverhalt anhand vorgegebener, fix bereitstehender und sich nicht verändernder normativer Maßstäbe zu messen und ihn bei Übereinstimmung unter diese zu subsumieren. Der konkrete Entscheidungssatz, der die Entscheidung trägt, ist – nach der berühmten Formulierung von Engisch – durch ein Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Lebenssachverhalt und Rechtsnorm erst zu bilden, wobei Präjudizien berücksichtigt werden. Die Rechtsanwendung ist daher immer ein produktiver, ein schöpferischer Vorgang48. Im Übrigen ist auch der Begriff Rechtsanwendung mehrdeutig. Recht kann hier für Gesetzesrecht stehen. Der Ausdruck kann aber daneben ein außer- bzw. übergesetzliches Recht einbeziehen. Bei diesem Begriffsverständnis kann die Rechtsanwendung dann auch durch Gesetzesrechtsfortbildung erfolgen. Schließlich lassen sich die Begriffe noch deshalb nicht klar voneinander scheiden, weil auch das fortgebildete Recht nicht ipso iure wirkt, sondern auf den konkret zu beurteilenden Sachverhalt angewendet werden muss. c. Zwischenergebnis Festzuhalten ist: Die Versuche, den Begriff Rechtsfortbildung negativ zu definieren, müssen vor dem Hintergrund der wechselnden und mannigfaltigen Begriffsverständnisse von Auslegung und Rechtsanwendung als gescheitert angesehen werden.
2. Positive Erläuterungsansätze Zwar existieren keine ausdrücklichen positiven Definitionen von Rechtsfortbildung, mit denen das Objekt vollständig und trennscharf umschrieben wird. Es gibt aber eine unüberschaubare Vielzahl von Äußerungen zum Thema, denen sich des Öfteren – wie bereits erwähnt49 – mittelbar das jeweilige Begriffsverständnis des Autors und gelegentlich sogar ein mehr oder weniger entwickelter Erläuterungsansatz entnehmen lässt.
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Fikentscher, Methoden des Rechts, Band III, 1976, S. 701. Statt vieler zunächst nur C. Fischer, ZfA 2002, 215, 217 f. m.w.N. S. oben unter I.
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
a. Die Haltung des Interpreten Nach Larenz liegt der – wenn auch nur graduelle – Unterschied zwischen Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung in der Haltung des Interpreten50. Dessen Intention gehe bei der Gesetzesauslegung nicht darauf, die Norm fortzubilden, sondern nur darauf, diejenige Bedeutung zu erkennen und auszusprechen, die im Text beschlossen liege. Demgegenüber komme die Rechtsfortbildung dem Subjekt als solche zum Bewusstsein. Was die Rechtsfortbildung eigentlich ausmacht, wird hier nicht deutlich. Das Bewusstsein der Rechtsfortbildung als Definiens von Rechtsfortbildung – so lässt sich der Begriff nicht erklären. Was ist mit einer Inhaltsbestimmung erreicht, in welcher der zu bestimmende Begriff erneut auftaucht? Wer beim Definieren gegen das Zirkularitätsverbot verstößt, dreht sich im Kreise und konkretisiert den zu bestimmenden Begriff nicht oder zumindest nicht nennenswert51. Aussagekräftiger sind die von Larenz genannten Fallgruppen. Er unterscheidet zwei Arten der Rechtsfortbildung52, und zwar die »Ausfüllung von Gesetzeslücken«, auch gesetzesimmanente Rechtsfortbildung genannt, und die »gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung«, über den ursprünglichen Plan des Gesetzes hinaus, aber im Einklang mit den leitenden Prinzipien der Gesamtrechtsordnung. Das legt die Frage nahe, ob eine Entscheidung, welche die Grenzen der Rechtsfortbildung überschreitet, also beispielsweise ein Gesetz in einer Weise modifiziert, die den »leitenden Prinzipien der Gesamtrechtsordnung« widerspricht, keine rechtsfortbildende Entscheidung ist. Anders formuliert: Soll die Zulässigkeit der Rechtsfortbildung begriffliche Voraussetzung der Rechtsfortbildung sein? Dafür kann man auch die an anderer Stelle zu findende Formulierung anführen, das Ergebnis der Rechtsfortbildung müsse sich als »Recht« im Sinne der geltenden Rechtsordnung rechtfertigen lassen53. Vor diesem Hintergrund könnte man Rechtsfortbildung als diejenige Lückenergänzung und Gesetzeskorrektur definieren, die Recht im Sinne der geltenden Rechtsordnung darstellt. Damit würde letztlich der Rechtsbegriff darüber entscheiden, was Rechtsfortbildung ist. Ob die Deutung von Rechtsfortbildung als vom Recht geforderter oder zumindest erlaubter Lückenergänzung und Gesetzeskorrektur zutrifft, lässt sich wegen des Fehlens einer ausdrücklichen Definition bei Larenz allerdings nicht mit Sicherheit sagen.
50 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 367; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Studienausgabe), 3. Aufl. 1995, S. 188; ebenso schon Larenz, NJW 1965, 1, 2. Die besondere Wichtigkeit des psychologischen Moments betont auch H. J. Hirsch, JR 1966, 334, 338; vgl. hierzu bereits Zitelmann, Lücken im Recht, 1903, S. 25. 51 Bekanntlich lautet eine der anerkannten formalen Definitionsregeln, dass das Definiendum im Definiens seiner eigenen Definition nicht vorkommen darf, s. etwa Wank, Die juristische Begriffsbildung, 1985, S. 59. 52 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 366, 370 ff., 413 ff. – In den ersten Auflagen seiner Methodenlehre hatte Larenz noch anders differenziert, vgl. hierzu nur Fikentscher, Methoden des Rechts, Band III, 1976, S. 725. 53 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 369; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Studienausgabe), 3. Aufl. 1995, S. 190.
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b. Rechtlich legitimierte richterliche Normsetzung Pawlowski definiert in seinem Methodenlehrbuch lediglich »Aufgabe der Rechtsfortbildung«, und zwar als die Aufgabe, das Recht dem Wandel und dem Fortschritt der Verhältnisse und Erkenntnisse anzupassen54. Was Recht in diesem Kontext meint, bleibt unklar. Pawlowski verweist zur Rechtsfortbildung auf seine Einführung in die juristische Methodenlehre55. Dort findet sich keine Erläuterung von Rechtsfortbildung, sondern eine von Richterrecht. Dieses wird als richterliche Normsetzung umschrieben, die als Recht (richtig) legitimiert werden, also auf etwas zurückgeführt werden müsse, was als Recht oder als Quelle des Rechts anerkannt sei56. Die Ausgangslage bestehe darin, dass der Rechtsanwender für den ihm vorgetragenen Sachverhalt keine (angemessene) gesetzliche Norm finde. Auch hier zeigt sich die verwirrende begriffliche Gemengelage aus Richterrecht, Gesetzeslücke und Fortbildung der bzw. mittels der Gesamtrechtsordnung, welche eine fassbare Erläuterung von Rechtsfortbildung erschwert. c. Eine Frage der Zulässigkeit Bydlinski trennt zwischen Auslegung und ergänzender Rechtsfortbildung, welcher er auch die Fälle zulässiger Rechtsfortbildung contra legem zuordnet57. Die Möglichkeit der Interpretation ende beim weitesten nach dem Sprachgebrauch noch möglichen Wortsinn der gesetzlichen Normen58. Eine unzulässige Rechtsfortbildung contra legem sei kein rechtlich-methodologisch zu begreifender Vorgang, sondern Rechtsbruch59. Hiernach findet Rechtsfortbildung im Bereich zwischen dem äußersten Wortsinn der Gesetze und der gesetzesderogierenden »Revolution«60 statt. Eine unzulässige Rechtsfortbildung soll also gar keine Rechtsfortbildung sein. Ansonsten lässt sich den Ausführungen lediglich entnehmen, dass die Auslegung keine Rechtsfortbildung ist. d. Normfortbildendes Richterrecht Kramer spricht von Richterrecht, welches er mit richterlicher Rechtsfortbildung gleichsetzt61. Den Bereich des Richterrechts grenzt er anhand des noch möglichen Wortsinns der Norm von der eigentlichen Interpretation ab. Die Interpretation »intra verba legis« wird von der zu Richterrecht führenden Interpretation »praeter verba legis« und »contra verba legis« unterschieden. Die Übergänge seien aber fließend, was etwa die Konkretisierung von Generalklauseln zeige, die
54
Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. 1999, Rn. 454a. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. 1999, Rn. 4b. 56 Pawlowski, Einführung in die juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2000, Rn. 109. 57 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 428 ff., 472 ff., 496 ff. 58 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 467 f. 59 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 500. 60 Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 500. 61 Kramer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2005, S. 47. 55
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
sich im Rahmen des Wortsinns bewege und deshalb formal betrachtet Auslegung sei, tatsächlich aber zu eigentlichem Richterrecht führe62. Das Recht bei der Rechtsfortbildung scheint hier, ohne dass dies explizit gesagt wird, im Sinne von gesetzlicher Norm verstanden zu werden. Überschreitet die Interpretation die Wortsinngrenze des Gesetzestextes, so liegt eine von Kramer als Richterrecht bezeichnete Rechtsfortbildung vor. Kramer kennt aber auch Rechtsfortbildungen, die sich innerhalb des Wortsinns des Gesetzes bewegen. e. Gesetzesgebundenes und sonstiges lückenfüllendes Richterrecht Auch Rüthers bevorzugt den Begriff des Richterrechts und bezeichnet damit »alle Entscheidungsnormen (Wertmaßstäbe), die ohne wertende, gebotsbildende Akte des Richters dem Gesetz nicht entnommen werden können«63. In seinem Drei-Bereiche-Modell der Rechtsprechung reserviert er die Bezeichnung Rechtsfortbildung für diejenige Lückenausfüllung, bei welcher der Richter Anhaltspunkte im positiven Recht findet64. Er unterscheidet die Rechtsfortbildung vom Richterrecht contra legem, bei dem die Gerichte gesetzliche Wertungen durch richterliche Eigenwertungen ersetzen und dem Gesetz den Gehorsam verweigern65. Den gesamten Bereich des Richterrechts trennt Rüthers von demjenigen der Gesetzesauslegung, deren Ziel es sei, im ersten Schritt der Rechtsfindung die zugrundeliegende Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers zu ermitteln66. Rüthers verwendet den Begriff Rechtsfortbildung allerdings nicht ausschließlich im Sinne einer gesetzesgebundenen Lückenausfüllung. Rechtsfortbildung etikettiert auch den gesamten Bereich der lückenausfüllenden Gesetzesergänzung67 und wird als Synonym für Richterrecht gebraucht68. f. Rechtsfortbildung durch Auslegung und zulässige Lückenschließung Wank verwendet den Ausdruck Rechtsfortbildung in seiner Untersuchung über die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung »im weitesten Sinne« und mit gleicher Bedeutung wie die ebenfalls im weitesten Sinne gebrauchten Termini Richterrecht und Auslegung69. Anders benutzt er das Wort in seiner für Studienanfänger konzipierten Einführung in die Methodenlehre. Zwar wird Rechtsfortbildung dort nicht definiert. 62 Kramer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2005, S. 49. Dementsprechend ordnet er die Lückenfüllung intra legem dem gesetzesübersteigenden Richterrecht zu, welches er dem gebundenen bzw. gesetzesimmanenten Richterrecht zur Seite stellt, s. Kramer, a.a.O., S. 155 ff., 240 ff. 63 Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 235; ders., Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 458 ff. 64 Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 828. – Fehle es an solchen Anhaltspunkten, so gehe es bei der Lückenfüllung um Rechtsneubildung. 65 Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 826, 828. 66 Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 720 ff. 67 Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 831. 68 So etwa in der Überschrift vor Rn. 796 oder im Stichwortverzeichnis der Rechtstheorie von Rüthers. 69 Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 15.
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Eine Gesamtschau der Ausführungen ergibt aber drei Voraussetzungen für eine Rechtsfortbildung70. Wank spricht von Rechtsfortbildung, wenn sich das gewünschte Ergebnis nicht schon im Wege der Auslegung erreichen lässt, eine Gesetzeslücke vorliegt und die – dort nicht näher ausgeführten – Grenzen der Rechtsfortbildung eingehalten werden. Rechtsfortbildung steht also für das Füllen von Gesetzeslücken im Rahmen verfassungsrechtlicher Vorgaben. Dass Wank hierbei dem Lückenbegriff (genauer: den Lückenbegriffen) entscheidendes Gewicht zukommen lässt, dürfte allerdings vornehmlich durch didaktische Erwägungen bedingt sein. Hierfür spricht auch sein Kommentar zu den Gründen, die nach Larenz/Canaris eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung rechtfertigen sollen. Wank meint, dass es dann eher um rechtspolitische Forderungen als um echte Lücken gehen dürfte, dieser Bereich der Rechtsfortbildung aber für die Ausbildung (der Studienanfänger) außer Betracht gelassen werden könne71. Die aufgeführten Äußerungen von Wank dürfen nicht als Beiträge zur abschließenden Begriffsbildung missverstanden werden. Einen solchen Versuch hat er an anderer Stelle unternommen und der herrschenden Auffassung von der Wortsinngrenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung seine im Anschluss an Heck und Meier-Hayoz vertretene Gesetzessinntheorie entgegengesetzt72. Die beiden vorstehend genannten Begriffsverständnisse zeigen aber exemplarisch, dass Rechtsfortbildung sogar bei ein und demselben Autor ganz Unterschiedliches bezeichnen kann. Entscheidend ist – wie immer – der Kontext. Der jeweilige Untersuchungsgegenstand bestimmt die Terminologie. Ein weites Rechtsfortbildungsverständnis, das traditionell der Auslegung zugeordnete Bereiche mit erfasst, macht Sinn bei einer Untersuchung über die (Außen-)Grenzen der Rechtsfortbildung. Für diese ist ohne Bedeutung, wo die Binnengrenzen der Rechtsfortbildung zur unproblematisch zulässigen Auslegung der Gesetze genau verlaufen. Das gleiche weite Rechtsfortbildungsverständnis würde demgegenüber in einer Anleitung für Studienanfänger über »Die Auslegung von Gesetzen« als Aufforderung zur »unbegrenzten Auslegung« wirken, weil es die Unterschiede zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung nivelliert. In einem solchen Rahmen wird der Begriff Rechtsfortbildung daher regelmäßig enger und konkreter gefasst werden. g. Das vom Gesetzgeber Gesagte und Gewollte Koch und Rüßmann sehen den Rechtsanwender an das vom Gesetzgeber Gesagte und das vom Gesetzgeber Gewollte gebunden und versuchen, den Begriff der Rechtsfortbildung mit Hilfe einer Matrix zu verdeutlichen, aus der sich neun mögliche Kombinationen ablesen lassen, je nachdem, ob das vom Gesetzgeber Gesagte und/oder vom Gesetzgeber Gewollte eine Entscheidung gebietet, ver70
Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 3. Aufl. 2005, S. 113 ff. Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 3. Aufl. 2005, S. 117. 72 Wank, RdA 1987, 129, 132; ders., ZGR 1988, 314, 317 f. Rechtsfortbildung wird dort negativ als das umschrieben, was nicht Auslegung im Sinne von Wank ist, vgl. insoweit bereits 1.a.bb. Ein eher pragmatisches Verständnis von Rechtsfortbildung findet sich demgegenüber bei Wank, FS Stahlhacke, 1995, S. 633, 635. 71
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
bietet oder freistellt73. Übersetzt man die verwendeten Kürzel in vollständige Begriffe zurück, so ergibt sich bei gründlicher Lektüre, dass die genannten Autoren von Rechtsfortbildung reden wollen, wenn eine Entscheidung durch das vom Gesetzgeber Gesagte verboten ist, und zwar unabhängig davon, ob die Entscheidung durch das vom Gesetzgeber Gewollte geboten, verboten oder freigestellt wird. Zwei weitere Fälle eindeutiger Rechtsfortbildungen seien gegeben, wenn das vom Gesetzgeber Gesagte eine Entscheidung freistelle, diese aber durch das vom Gesetzgeber Gewollte verboten oder freigestellt sei74. Schließlich heißt es, man könnte es für unzweckmäßig halten, auch dann von einer Rechtsfortbildung zu sprechen, wenn das vom Gesetzgeber Gesagte eine Entscheidung freistelle, die durch das vom Gesetzgeber Gewollte geboten sei75. Koch und Rüßmann gehören zu den wenigen Autoren, die sich ausdrücklich um einen exakten Begriff der Rechtsfortbildung bemühen. Auch aufgrund der gewählten Darstellungsweise bleibt dennoch einiges unklar. h. Abändernde und ergänzende Rechtsfortbildungen Looschelders und W. Roth vertreten ein gesetzestextfixiertes Rechtsanwendungsmodell76, in welchem den Gerichten nicht die Kompetenz zusteht, die Entscheidungsmaßstäbe zu setzen; diese werden dem Richter durch die Gesetze von der Legislative vorgegeben77. Die beiden Autoren stellen die Auslegung in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen und sehen den Wortlaut des Gesetzes als Grenze der Auslegung, die nicht überschritten werden dürfe78. Den Begriff Rechtsfortbildung definieren sie in ihrem »Beitrag zu den verfassungsrechtlichen Grenzen von Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung«79 nicht. Sie unterscheiden aber zwei Arten der Rechtsfortbildung, die abändernde und die ergänzende. Objekt der Fortbildung ist in beiden Fällen das ausgelegte Gesetz. Die abändernde Rechtsfortbildung wird als Korrektur von Gesetzen80, die ergänzende als Ergänzung des Gesetzes81 umschrieben. Infolge ihres gesetzeszentrierten Rechtsanwendungsverständnisses scheinen sie also Recht bei der Rechtsfortbildung im Sinne von Gesetzesrecht zu verstehen. i. Vereinigungsformeln Prütting meint, bei richterlicher Rechtsfortbildung »im weitesten Sinn« gehe es um die Aufstellung abstrakter Obersätze durch den Richter, die in dieser Weise
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Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 248. Vgl. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 249. 75 Vgl. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 249. 76 Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung, 1996, S. 3 und 21 ff. 77 Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung, 1996, S. 5. 78 Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung, 1996, S. 66. 79 Vgl. den Untertitel ihres Buches. 80 Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung, 1996, S. 222. 81 Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung, 1996, S. 280. 74
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II. »Rechtsfortbildung« im (rechtsmethodischen) Schrifttum
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im geschriebenen Gesetz und im Gewohnheitsrecht nicht vorhanden sind82. Diese Definition legt zunächst die Frage nahe, ob die Anwendung bereits aufgestellter, aber noch nicht gewohnheitsrechtlich geltender abstrakter Obersätze hiernach eine Rechtsfortbildung darstellt oder nicht, wie also solche abstrakten Obersätze des Richters zu qualifizieren und im Prozess der Rechtsfindung zu behandeln sind, die noch kein Gewohnheitsrecht darstellen. Prütting beantwortet sie nicht. Er bietet jedoch noch eine alternative Begriffserläuterung, nach welcher Rechtsfortbildung im weitesten Sinn für jeden Richterspruch steht, der einen Fall entscheide, ohne seine Entscheidungsgrundlage aus einer Wortlautinterpretation des Gesetzes ableiten zu können83. Zusätzlich verweist er auf drei über die Auslegung hinausgehende Stufen des Richterrechts84 bzw. der richterrechtlichen Fortbildungen85, nämlich auf die gesetzesimmanente Rechtsfortbildung (Rechtsanwendung praeter legem), die gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung (Rechtsanwendung extra legem, aber intra jus) und die Rechtsfortbildung contra legem, die im allgemeinen für unzulässig angesehen werde. Rechtsfortbildung bezeichnet hiernach also auch ein richterliches Handeln, das den rechtlichen Vorgaben nicht entspricht. Ob der Rechtsfortbildung contra legem nach diesem Modell angesichts der Weite des Begriffs »jus« überhaupt noch ein relevanter Anwendungsbereich verbleibt, erscheint allerdings zweifelhaft. Festzuhalten ist jedenfalls, dass Prütting insgesamt drei erheblich voneinander abweichende Rechtsfortbildungsbegriffe zur Verfügung und damit zur Auswahl stellt. Zur Begriffsklärung tragen seine Konkretisierungsbemühungen deshalb letztlich nur bedingt bei. j. Das noch nicht Vorentschiedene Biaggini bezeichnet in seiner bemerkenswerten Basler Dissertation all das als richterliche Rechtsfortbildung, was über das von Legislative und Judikative bereits Vorentschiedene hinausgeht86. Richterliche Rechtsfortbildung bedeute Urteilen gemäß Regeln, welche nicht im bisherigen Bestand an gesetzgeberischen oder richterlichen Normen enthalten sind. Erfasst würden insbesondere das Ausfüllen von durch den Gesetzgeber offengelassenen Entscheidspielräumen, das Weiterbilden von Präjudizien sowie das Hinausgehen über den entstehungszeitlichen Sinn einer Norm des gesetzten Rechts87, und zwar auch dann, wenn die Rechtsfortbildung unzulässig sei88.
82 Prütting, FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 305, 307 f.; ähnlich ders., in: Wieczorek/Schütze, Zivilprozessordnung und Nebengesetze, Erster Band, 3. Aufl. 1994, Einl Rn. 120. 83 Prütting, FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 305, 308. 84 So Prütting, FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 305, 308. 85 So Prütting, in: Wieczorek/Schütze, Zivilprozessordnung und Nebengesetze, Erster Band, 3. Aufl. 1994, Einl Rn. 121. 86 Biaggini, Verfassung und Richterrecht, 1991, S. 59. 87 Biaggini, Verfassung und Richterrecht, 1991, S. 60. 88 Biaggini, Verfassung und Richterrecht, 1991, S. 61.
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
Biaggini legt also einen weiten, nicht auf die Zulässigkeit abstellenden Rechtsfortbildungsbegriff zugrunde, der am Ergebnis der konkreten richterlichen Entscheidung ausgerichtet ist und sogar die Beurteilung neu gelagerter Fälle und Rechtsprechungsänderungen umfasst. Sein Thema sind die verfassungsrechtlichen Grenzen der Rechtsfortbildung. Hier wird, wie bereits bei Wank, der enge Zusammenhang zwischen der Terminologie und dem jeweiligen Untersuchungsgegenstand deutlich89. k. Neue Rechtssätze Des Weiteren wird unter Rechtsfortbildung auch noch die Entwicklung bisher nicht allgemein anerkannter Grundsätze90, das Aufstellen von Regeln, die im gesetzten Recht noch nicht oder nicht ausdrücklich enthalten sind91 oder auch die Gestaltung und Ergänzung des geltenden Rechts über den Einzelfall hinaus92 verstanden. Der Rechtsfortbildung sollen jedenfalls solche Fälle zugerechnet werden können, bei denen es um die Entwicklung neuer, im geltenden Recht nicht oder erst in Ansätzen enthaltener Rechtssätze gehe93. Gegenstand der Rechtsfortbildung sei ein neuer normativer Satz, weshalb man nur dann von Rechtsfortbildung sprechen solle, wenn zur korrekten deduktiven Begründung einer Entscheidung ein normativer Satz erforderlich sei, der vom Rechtsanwender gesetzt werden müsse94. Das Gemeinsame dieser unterschiedlichen Äußerungen besteht darin, dass eine Rechtsfortbildung nur dann vorliegen soll, wenn das Ergebnis der gerichtlichen Entscheidung eine über den Einzelfall hinausreichende Qualität oder Bedeutung hat, wobei die hierfür jeweils zu erfüllenden Voraussetzungen allerdings regelmäßig vage bleiben. l. Methodik versus Rechtstheorie und Prozess Hergenröder hat die vielfältige Terminologie noch um eine neue Differenzierung bereichert: Die Unterscheidung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung könne einmal methodisch, also nach der Art der Rechtsfindung erfolgen, zum anderen aber auch rechtstheoretisch im Hinblick auf die Setzung von neuem Recht
89 Er wird von Biaggini sogar ausdrücklich betont, s. Verfassung und Richterrecht, 1991, S. 58 f.: Es sei sinnvoll, die Begriffe richterliche Rechtsfortbildung und Richterrecht in einem sehr weiten Sinne zu fassen, um nicht Gefahr zu laufen, auf terminologischem Wege Sachverhalte aus der Untersuchung auszuklammern, die von Interesse für das Ziel der Arbeit sein könnten. 90 Dieterich, RdA 1993, 67, der dies als weitesten Wortsinn bezeichnet. 91 Seiter, FS Baur, 1981, S. 573, 575 f., der auf S. 582 noch eine »Rechtsfortbildung im eigentlichen Sinne« nennt, die in der Gesamtheit der richterlichen Tätigkeit einen verhältnismäßig engen Raum einnehme. 92 Lames, Rechtsfortbildung als Prozesszweck, 1993, S. 3, der auf S. 26 ausführt, die Rechtsfortbildung umfasse nahezu den gesamten Bereich der Rechtsfindung, weil die richterliche Entscheidung in aller Regel nicht vollständig von den gesetzlichen Normen vorherbestimmt sei. 93 Wank, FS Stahlhacke, 1995, S. 633, 635. 94 A. Birk, Das Prinzip des unverfälschten Wettbewerbs und seine Bedeutung im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S. 173.
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bzw. Ausspruch bereits erkannten Rechts durch den Richter95. Methodisch gesehen bedeutet Rechtsfortbildung danach diejenige Rechtsfindung, die keine Auslegung ist96. Von ihr soll die Rechtsfortbildung im rechtstheoretischen Sinne geschieden werden, bei der neues Recht gesetzt wird, was auch bei der erstmaligen Auslegung einer Norm sowie einer vom bisherigen Verständnis abweichenden Deutung einer Bestimmung der Fall sei. Die Rechtsfortbildung im rechtstheoretischen Sinne bezeichnet Hergenröder auch als prozessual relevante Deutung der Rechtsfortbildung; er spricht vom prozessualen Rechtsfortbildungsbegriff97. m. Analogie und teleologische Reduktion Der Begriff Rechtsfortbildung wird heute auch im dogmatischen Zivilrechtsunterricht benutzt, wenngleich zwischen einzelnen Materien und Lehrenden durchaus Unterschiede bestehen. Zur Studienzeit des Verf. wurde er vor allem gebraucht, um kritisierte Judikate als unzulässig zu qualifizieren oder positiv bewertete Urteile als besonders spektakulär herauszuheben, wobei im letzteren Fall häufig ergänzend angemerkt wurde, diese Rechtsprechung gelte zwischenzeitlich jedenfalls gewohnheitsrechtlich. Erklärt wurde und wird der Begriff Rechtsfortbildung im dogmatischen Vorlesungsbetrieb regelmäßig nicht. Allenfalls erwähnt man die angebliche Wortlautgrenze der Auslegung98. Wenn Rechtsfortbildung überhaupt positiv definiert wird, dann geschieht das, indem auf ihre beiden »anerkannten Anwendungsfälle« verwiesen wird, auf Analogie und teleologische Reduktion99. Aber auch ohne entsprechende ausdrückliche Hinweise vermittelt der dogmatische Rechtsunterricht in den Kerngebieten des Zivilrechts aufgrund der behandelten klassischen Beispiele richterlicher Fortbildung des Gesetzesrechts meist den Eindruck, Rechtsfortbildung sei vor allem Analogie und teleologische Reduktion. Selbst wenn man davon absieht, dass hier wichtige Bereiche der Rechtsfortbildung wie das Füllen von Rechtsgebietslücken und die Rechtsfortbildung contra legem unberücksichtigt bleiben, lässt die Erläuterung der Rechtsfortbildung als Summe von Analogie und teleologischer Reduktion vieles im Unklaren. aa. Die teleologische Reduktion ist eine relativ neue sprachliche Schöpfung mit zweifelhafter Reichweite und Berechtigung. Das Phänomen ist altbekannt: Der Wortlaut einer Vorschrift ist, gemessen an ihrer ratio, zu weit geraten und wird 95 Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 138; zustimmend Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, 1999, S. 377. 96 S. zu dieser negativen Definition von Rechtsfortbildung bereits 1.a. 97 Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 145. Ein entsprechendes prozessuales Rechtsfortbildungsverständnis findet sich bereits bei Lames, Rechtsfortbildung als Prozesszweck, 1993, S. 26 f.; vgl. auch E. Schumann, in: Stein-Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Erster Band, 20. Aufl. 1984, Einleitung Rn. 92. 98 Hierzu bereits 1.a.bb. 99 Entsprechende Hinweise finden sich auch bei Bundesrichtern, s. Pehle, in: Pehle/Stimpel, Richterliche Rechtsfortbildung, 1969, S. 1, 4. Teilweise wird außerdem noch der Umkehrschluss genannt, vgl. aus dem Schrifttum etwa Prütting, in: Wieczorek/Schütze, Zivilprozessordnung und Nebengesetze, Erster Band, 3. Aufl. 1994, Einl Rn. 122; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl. 2004, § 7 Rn. 16.
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
eingeschränkt. Dieser Vorgang ist im Laufe der Jahrhunderte als einschränkende Auslegung, als Gesetzeseinschränkung, als restriktive Interpretation, als wertende Gebotsberichtigung oder auch als Restriktion bezeichnet worden100. (1) Den Begriff »teleologische Reduktion« hat erst Larenz in die Methodenlehre eingeführt101. Er fand schnell Eingang in den allgemeinen juristischen Sprachgebrauch, in dem er allerdings abweichend verwendet wird. Auf die Frage, was denn als Telos für eine teleologische Reduktion in Betracht komme, werden die meisten Juristen antworten, dass es um den Normzweck derjenigen Vorschrift gehe, die nicht angewendet wird. Diese Sichtweise kann man als traditionell bezeichnen, weil sie treffend die klassischen, der Methodengeschichte entnommenen Anwendungsbeispiele für Wortlauteinschränkungen102 kennzeichnet. Weitgehend unbekannt ist aber, dass die teleologische Reduktion nach Larenz nicht nur durch den Sinn und Zweck der einzuschränkenden Norm selbst, sondern angeblich auch durch den Zweck einer anderen Norm, durch die »Natur der Sache« oder durch ein vorrangiges Prinzip103 geboten sein kann. Bei diesen zusätzlichen Fallgruppen geht es nicht um die bloße Korrektur des zu weit geratenen Wortlauts einer Norm. Vielmehr wird bei ihnen zugleich die ratio legis derjenigen Vorschrift modifiziert, die man mit einem einschränkenden Tatbestandsmerkmal versieht. »Berichtigt« wird nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihre gesetzgeberische Interessenbewertung, ihr Normzweck. Larenz hat in seiner teleologischen Reduktion an einen anerkannten Fall der Wortlautberichtigung drei neue Fälle angehängt, bei denen der Bereich der Gesetzeszweckkorrektur betroffen ist. Letzteres wird durch die Zusammenfassung in einer Rechtsfigur, deren Bild immer noch durch die traditionellen Anwendungsbeispiele für Wortlauteinschränkungen geprägt ist, verdeckt. (2) Im schweizerischen Schrifttum hat man dies104 und auch die Gefahren einer solchen teleologischen Reduktion klarer als bei uns erkannt. So betont MayerMaly im Basler Kommentar, dass die teleologische Reduktion nur zur Rückführung des Normtextes auf die ratio legis, nicht aber zum Abschütteln unwillkommener Regelungen eingesetzt werden dürfe105. Wie besonders die Rechtspre-
100 Eingehende Darstellung mit zahlreichen Nachweisen bei Brandenburger, Die teleologische Reduktion, 1983, S. 7 ff. 101 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1960, S. 296 ff.; hierzu Brandenburger, Die teleologische Reduktion, 1983, S. 29 ff. Mittlerweile ist der Begriff auch in der österreichischen und der schweizerischen Doktrin etabliert, hierzu Jaun, Die teleologische Reduktion im schweizerischen Recht, 2001, S. 3 ff. 102 Vgl. nochmals Brandenburger, Die teleologische Reduktion, 1983, S. 7 ff. 103 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1960, S. 296 und 299; leicht modifiziert: ders., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 392; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Studienausgabe), 3. Aufl. 1995, S. 211. 104 Vgl. Jaun, Die teleologische Reduktion im schweizerischen Recht, 2001, S. 141 und 255: Bei der teleologischen Reduktion handele es sich entgegen dem ersten vordergründigen Eindruck nicht nur um eine contra verba erfolgende Rechtsfindung secundum rationem legis, sondern auch um eine solche secundum rationem iuris; s. hierzu noch a.a.O., S. 130 f. 105 Mayer-Maly, in: Honsell/Vogt/Geiser (Hrsg.), Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Schweizerisches Zivilgesetzbuch I, 1996, Art. 1 Rn. 19; zustimmend Kramer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2005, S. 203; trotz übereinstimmenden Ausgangspunktes insgesamt großzügiger H. Honsell, in: Honsell/Vogt/Geiser (Hrsg.), Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch I, 3. Aufl. 2006, Art. 1 Rn. 16 f.
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chung des deutschen Bundesarbeitsgerichts zeige, komme es bei der Lückenfeststellung durch teleologische Reduktion allzu leicht zur Verdrängung des vorgeschriebenen Resultats durch ein gewünschtes106. Böckli spricht im Unterschied zur Auslegung pointiert von einer »Weglegung« des Gesetzes107. (3) Erkennt man eine teleologische Reduktion wegen des Zwecks einer anderen Norm, der Natur der Sache oder eines vorrangigen Prinzips an, so lässt sich in der Tat jede einschränkende, zusätzliche Tatbestandsvoraussetzungen aufstellende Fortbildung eines Gesetzes als dessen »bloße« teleologische Reduktion begreifen. Man verfügt dann über eine methodische Allzweckwaffe, mit der sich konkrete gesetzgeberische Interessenbewertungen problemlos überspielen lassen. Die teleologische Reduktion vermittelt die Illusion einer vorgefundenen, alles beantwortenden über- bzw. außergesetzlichen Rechtsordnung. Wenn man »weiß«, welche Lösung »die richtige« ist, dann findet sich immer eine Natur der Sache, eine widersprechende Norm oder ein vorrangiges Prinzip, welche man nach Larenz benötigt, um die interpretierte Norm zu reduzieren. Deren ratio kann angesichts dieser »objektiv-teleologischen« Kriterien getrost vernachlässigt werden. Das Gesetz wird »weggelegt«. (4) Larenz hat mit der teleologischen Reduktion also nicht nur einen neuen Begriff in die Methodenlehre eingeführt. Er hat eine Figur, die der Durchsetzung des Normzwecks einer Vorschrift gegenüber ihrem zu weit geratenen Wortlaut diente, unter der Hand zu einem Instrument erweitert, mit welchem der Normzweck einer Vorschrift (partiell) außer Kraft gesetzt werden kann. Normzweckkorrekturen sollte man aber unter dem Aspekt der gesetzesberichtigenden Rechtsfindung anhand der für diese geltenden besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen108 diskutieren und nicht unter dem verwaschenen Etikett der teleologischen Reduktion verkaufen. (5) Was nun den rechtsfortbildenden Charakter der klassischen Anwendungsfälle der restriktiven Interpretation bzw. der teleologischen Reduktion betrifft, so ist zu differenzieren. Die methodische Selbständigkeit der teleologischen Reduktion setzt die Anerkennung einer echten, durch den Wortlaut gegebenen Sinngrenze einer Norm zwingend voraus109. Eine teleologische Reduktion, mit welcher der Zweck einer Norm gegenüber ihrem zu weit geratenen Wortlaut durchgesetzt wird, stellt nur dann zwangsläufig eine Rechtsfortbildung dar, wenn man die Grenze zur Auslegung beim äußersten möglichen Wortsinn zieht und diese im konkreten Fall als überschritten ansieht. Hält man demgegenüber die gesetzgeberische Interessenbewertung für das maßgebende Abgrenzungsmerkmal110, so stellen traditionelle Beispielsfälle der teleologischen Reduktion wie diejenige
106 Mayer-Maly, in: Honsell/Vogt/Geiser (Hrsg.), Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Schweizerisches Zivilgesetzbuch I, 1996, Art. 1 Rn. 32. 107 Böckli, FS Cagianut, 1990, S. 289, 306 f., zur Rechtsfindung contra legis verbum; bei der teleologischen Reduktion als »geistreicher Wortwitz« zustimmend angeführt von Kramer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2005, S. 203. 108 Einführend etwa C. Fischer, ZfA 2002, 215, 235 m.w.N. 109 In diesem Sinne Brandenburger, Die teleologische Reduktion, 1983, S. 2. 110 Zum Streit zwischen Wort- und Gesetzessinngrenze bereits 1.a.bb. und 2.f.
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
des § 181 BGB bei lediglich rechtlich vorteilhaften Geschäften gar keine Rechtsfortbildungen, sondern einschränkende Auslegungen dar. bb. Entsprechendes gilt für die Analogie, wenn man diese dergestalt definiert, dass der Anwendungsbereich einer Norm auf einen Fall erstreckt wird, den ihr Wortlaut nicht erfasst111. (1) Hiernach handelt es sich bei der Analogie nur dann zwingend um eine Rechtsfortbildung, wenn man die Grenze zur Auslegung an derselben Stelle festlegt, was angesichts des facettenreichen Wortlautbegriffs112 selbst für die Vertreter einer Wortsinngrenze keineswegs selbstverständlich ist. Auf der Grundlage einer rein subjektiven Auslegungstheorie ist eine Analogie demgegenüber nur dann eine Rechtsfortbildung, wenn sie im Widerspruch zum »Gesetzgeberwillen« steht. Zieht man die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung beim historischen Gesetzessinn, dann handelt es sich beispielsweise bei einem der Standardfälle der Analogie, nämlich der entsprechenden Anwendung des § 463 S. 2 BGB a. F.113 auf das arglistige Vorspiegeln einer nicht vorhandenen Eigenschaft, um eine Auslegung. (2) Der rechtsfortbildende Charakter der Analogie ist aber nicht nur wegen des Streits über das Auslegungsziel und die hiermit verbundene unterschiedliche Grenzziehung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung im Einzelfall fraglich. Es gibt sogar immer noch Autoren, die den Analogieschluss mit einer früher sehr verbreiteten Auffassung114 zum Bereich der Auslegung zählen115, die Analogie also generell als Gesetzesanwendung und nicht als Rechtsfortbildung verstehen116. cc. Entgegen dem im dogmatischen Zivilrechtsunterricht vermittelten Eindruck ist es also nicht so, dass Analogien und teleologische Reduktionen als solche stets und unproblematisch Rechtsfortbildungen darstellen. Mit den »anerkannten
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So etwa BVerfGE 82, 6, 12. S. bereits 1.a.bb. 113 § 463 BGB lautete in seiner bis Ende 2001 geltenden Fassung: »Fehlt der verkauften Sache zur Zeit des Kaufes eine zugesicherte Eigenschaft, so kann der Käufer statt der Wandelung oder der Minderung Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangen. Das gleiche gilt, wenn der Verkäufer einen Fehler arglistig verschwiegen hat.« 114 Vgl. auch v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 291 f., der die – einzelne Lücken ausfüllende – Analogie als »eine Art reinen Auslegung« bezeichnete, welche er von der Analogie zur Fortbildung des Rechts bzw. der Rechtsinstitute unterschied; hierzu U. Huber, JZ 2003, 1, 10 f.; Bühler, in: J. Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie, 2001, S. 329, 336 f. 115 Vgl. zunächst nur Kramer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2005, S. 174 und 191, mit zahlreichen Nachweisen aus dem schweizerischen Schrifttum in Fn. 516; zur Verselbständigung der Analogie gegenüber der Interpretation aus rechtsgeschichtlicher Perspektive J. Schröder, Recht als Wissenschaft, 2001, S. 253 ff. 116 Hierzu nur folgender erklärender Hinweis: Stellt man auf den zu beurteilenden Fall ab, so besteht bei der Analogie jedenfalls auf erste Sicht (Wortlaut) eine Regelungslücke, die ggfs. fortbildend zu schließen ist. Nimmt man demgegenüber das zur Lückenfüllung verwendete Gesetz in den Blick, so liegt eine Gesetzesanwendung vor. 112
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II. »Rechtsfortbildung« im (rechtsmethodischen) Schrifttum
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Rechtsfortbildungsfiguren« Analogie und teleologische Reduktion lässt sich der Begriff Rechtsfortbildung daher auch nicht plastisch umschreiben. n. Eigenständige Begriffsbestimmungen in Teilrechtsgebieten In den einzelnen Disziplinen der Rechtswissenschaft wird Rechtsfortbildung einmal mit diesem, einmal mit jenem und meist mit unklarem Bedeutungsgehalt verwendet. Eigenständige Versuche, den Begriff zu bestimmen, sind vereinzelt im zivilprozessualen117 und im öffentlichrechtlichen Schrifttum unternommen worden. aa. So unterscheidet Schumann, der die Experimente, eine eigenständige prozessuale Methode zu entwickeln, für gescheitert erklärt118, bei seinen detaillierten Ausführungen über die Anwendung des Zivilprozessrechts zwischen Auslegung, Lückenfüllung und Rechtsfortbildung119. Er reserviert den Begriff für die Korrektur einer solchen »unzutreffende(n) gesetzliche(n) Regelung«, die nicht im Wege der Lückenfüllung durch Analogie oder Restriktion geändert werden könne, also für die Rechtsfortbildung contra legem120. Im Unterschied hierzu nimmt er beim Beschreiben der Prozesszwecke auf ein weites Rechtsfortbildungsverständnis Bezug, welches die »Verfeinerung des Rechts, Schließung seiner Lücken und Weiterentwicklung« umfassen soll121. bb. Demgegenüber spricht Brehm richterlichen Entscheidungen generell und unabhängig vom Umfang der bestehenden Gestaltungsspielräume einen rechtsfortbildenden Charakter ab, weil die vom Richter gefundene Lösung auf den entschiedenen Fall beschränkt bleibe und andere Gerichte nicht binde122. Unter Berufung auf das Stufenmodell von Kelsen123 heißt es, die durch Rechtsanwendung erzeugte 117 Es ist bereits erwähnt worden, dass die gängige Umschreibung der Rechtsfortbildung als grundsätzlicher, über den Einzelfall hinausreichender Rechtsfindung im zivilprozessualen Schrifttum als prozessualer Rechtfortbildungsbegriff bezeichnet wird, s. vorstehend l. 118 E. Schumann, in: Stein-Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Erster Band, 20. Aufl. 1984, Einleitung Rn. 40. 119 E. Schumann, in: Stein-Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Erster Band, 20. Aufl. 1984, Einleitung Rn. 92. 120 E. Schumann, in: Stein-Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Erster Band, 20. Aufl. 1984, Einleitung Rn. 94. 121 E. Schumann, in: Stein-Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Erster Band, 20. Aufl. 1984, Einleitung Rn. 92. 122 Brehm, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 22. Aufl. 2003, vor § 1 Rn. 24; ähnlicher Ansatz bei Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halbband, 15. Aufl. 1959, S. 344 m.w.N. aus dem älteren Schrifttum; a. A. Kruse, Das Richterrecht als Rechtsquelle des innerstaatlichen Rechts, 1971, S. 12, der ausdrücklich zwischen Rechtskraftwirkung und Rechtsnormgehalt des Richterspruchs unterscheidet. 123 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 228 ff., insb. S. 238 f. zu Kelsens Verständnis von »Recht« sowie S. 255 ff. und 352 zur Erzeugung genereller Rechtsnormen durch Gerichte. Brehm zitiert S. 240, auf der sich die Formulierung findet: »In Anwendung der Verfassung erfolgt die Erzeugung der generellen Rechtsnormen durch Gesetzgebung und Gewohnheit; und in Anwendung dieser generellen Normen erfolgt die Erzeugung der individuellen Normen durch richterliche Entscheidungen und Verwaltungsbescheide«.
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
konkrete Regelung sei nicht Bestandteil des generell verbindlichen Normengefüges der Rechtsordnung; sie stehe als individuelle Norm auf der gleichen Stufe wie vertragliche Regelungen oder Einzelfallregelungen eines Verwaltungsaktes124. Von Rechtsfortbildung kann man nach dieser Sichtweise nur bei einem Ergebnis sprechen, das eine normativ bindende Rechtsquelle bzw. eine generelle Norm darstellt. Hiernach gibt es gar keine richterliche Rechtsfortbildung in der Zivilgerichtsbarkeit, sofern man mit der gängigen Auffassung davon ausgeht, dass den Präjudizien im Zivilprozess nur eine faktische (Bindungs-)Wirkung zukommt. Brehm bejaht allerdings eine Ermessensbindung des Richters an eine bisherige Spruchpraxis125 und klassifiziert eine bestehende Gerichtspraxis als Rechtsquelle eigener Art126. cc. Im staatsrechtlichen Schrifttum steht an dem einen Ende der breiten Meinungsskala die Ansicht, von Rechtsfortbildung könne man terminologisch richtig nur sprechen, wenn sie außerhalb des gesetzten Rechts, auch des Verfassungsrechts stattfinde, was schlechthin rechtswidrig sei127. Rechtsfortbildung bezeichnet hier also etwas Verbotenes, etwas, was es von Rechts wegen nicht geben darf128. Allerdings spiegeln sich in der staatsrechtlichen Literatur größtenteils die im methodischen Schrifttum vertretenen Positionen, wenn auch mit gewissen Modifikationen. Beispielsweise erläutert Ebsen Rechtsfortbildung als »Abweichung vom Gesetz aufgrund von außen herangetragener Wertungen«, weist aber ausdrücklich darauf hin, dass die richterliche Rechtsfindung bei Regelungslücken nicht sein Thema sei129. H.-P. Schneider greift das bereits mehrfach erwähnte sog. Drei-Ebenen-Modell der Rechtsfindung auf und unterscheidet zwischen Gesetzesanwendung, Gesetzesergänzung (Rechtsfortbildung praeter legem) und Gesetzeskorrektur (Rechtsfortbildung contra legem), die auf ebenso einmütige wie entschiedene Ablehnung stoße, wobei allerdings schon unklar sei, was man eigentlich unter einer »lex« verstehen wolle130. Ipsen, Ossenbühl und Stern bevorzugen den Begriff des Richterrechts und unterscheiden vier Arten, und zwar das lückenfüllende, das gesetzesvertretende, das gesetzeskonkretisierende und das für die Fachgerichte unzulässige gesetzeskorrigierende Richterrecht131 bzw. das 124 Brehm, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 22. Aufl. 2003, vor § 1 Rn. 24; distanzierter ders., FS Schumann, 2001, S. 57. 125 Brehm, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 22. Aufl. 2003, vor § 1 Rn. 21; ausführlich ders., FS Schumann, 2001, S. 57, 64 f. 126 Brehm, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 22. Aufl. 2003, vor § 1 Rn. 23; ders., FS Schumann, 2001, S. 57, 65. 127 Vgl. insoweit nur Oppenheimer, KritV 1988, 57 m.w.N. 128 In der Tendenz auch Hillgruber, JZ 1996, 118, 119 ff. und 125, unter Berufung auf das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG sowie den Vorbehalt des Gesetzes; ebenso mit zusätzlichen Einzelargumenten Hillgruber, Journal für Rechtspolitik 9 (2001), 281 ff. 129 Ebsen, Gesetzesbindung und »Richtigkeit« der Entscheidung, 1974, S. 27. 130 H.-P. Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, 1969, S. 16 ff., insb. S. 19. Es ist zu berücksichtigen, dass diese Äußerung aus der Zeit vor Erlass des Soraya-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts stammt, hierzu sogleich unter III.2.b. 131 Ossenbühl, Richterrecht im demokratischen Rechtsstaat, 1988, S. 7 ff. und 18; Stern, Der Staat des Grundgesetzes, 1992, S. 152, 159 f.; leicht abweichend ders., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band II, 1980, § 37 II 2 e (S. 581 ff., insb. S. 583 f.).
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II. »Rechtsfortbildung« im (rechtsmethodischen) Schrifttum
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verfassungsrechtlich regelmäßig unbedenkliche gesetzeskonkretisierende, das mit Einschränkungen zulässige gesetzesvertretende, das prinzipiell unzulässige gesetzeskorrigierende und das verfassungswidrige gesetzeskonkurrierende Richterrecht132. Abweichend vom methodologischen Sprachgebrauch scheint dabei unter Konkretisierung jedoch nur das Füllen von Generalklauseln und von sog. unbestimmten Rechtsbegriffen verstanden zu werden133. dd. Im europarechtlichen Schrifttum wird seit etwa zehn Jahren134 eine mittlerweile recht breite Methodendiskussion geführt135. Soweit Probleme der Rechtsfortbildung behandelt werden, finden sich größtenteils136 die schon im methodischen Schrifttum festgestellten unterschiedlichen und unklaren Erläuterungsansätze von Rechtsfortbildung, was daran liegen dürfte, dass sich sowohl in der Methodenlehre als auch im Gemeinschaftsrecht vor allem deutsche und deutschsprachige Autoren zu diesem konkreten Thema äußern. So bezieht sich auch Ukrow, der die richterliche Rechtsfortbildung durch den Europäischen Gerichtshof untersucht hat, in seinem Methodenkapitel auf das sog. Drei-Ebenen-Modell der Rechtsfindung und unterscheidet nach dem Grad der Entfernung zum geschriebenen Recht die gesetzesimmanente Rechtsfortbildung (ergänzende Rechtsfindung praeter legem), die gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung (abändernde Rechtsfindung extra legem aber intra jus) und die Rechtsfortbildung contra legem und contra jus im Falle eines Rechtsnotstandes137. Ob für die Ebene der Rechtsfortbildung contra jus angesichts einer verbreiteten diffusen Prinzipien-, Verfassungs- und Höchstwertejurisprudenz überhaupt noch ein eigenständiger Anwendungsbereich verbleibt, erscheint zweifelhaft und hängt letztlich davon ab, was unter jus verstanden wird. Jedenfalls ist der Konkretisierungsgewinn hier wie auch sonst bei Verwendung des Ebenen- oder Stufen-Modells begrenzt. Als Beispiel können etwa die Ausführungen von Gruber zu Beginn des Rechtsfortbildungskapitels in seiner Untersuchung über Methoden des internationalen Einheitsrechts dienen138. Mehr als einen Ausgangspunkt für weiterführende Betrachtungen kann das Drei-Ebenen-Modell nicht bieten139. Seinen Benutzern gelingt es regelmäßig nicht, den Gegenstand sowie die einzelnen Stufen und Arten der 132
Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 61 ff. Vgl. Ossenbühl, Richterrecht im demokratischen Rechtsstaat, 1988, S. 10 f.; Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 72 f.; hierzu bereits C. Fischer, ZfA 2002, 215, 234 Fn. 65. 134 S. aber auch bereits Everling, RabelsZ 1986, 193 ff.; T. Stein, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 619 ff., jeweils m.w.N. aus dem vereinzelten älteren Schrifttum. 135 Zusammenfassend Schulze/Seif, in: Schulze/Seif (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Rechtsgemeinschaft, 2003, S. 1 ff. m.w.N. Zu »Rechtsfortbildung« in der Rechtsprechung des EuGH und zu deren Bewertung im Schrifttum sogleich unter III.3. 136 Allerdings gibt es etwa im Europäischen Privatrecht auch geradezu revolutionäre Methoden- und Rechtfortbildungskonzeptionen, s. hierzu C. Fischer, Europäisierung der nationalen Zivilrechte – Renaissance des institutionellen Rechtsdenkens?, 2002, S. 4 ff., 20 f. 137 Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1995, S. 70; s. zu einem ähnlichen Differenzierungsversuch im älteren europarechtlichen Schrifttum a.a.O. Fn. 10 a. E. 138 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 276 f. 139 So letztlich wohl auch Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 278. 133
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
Rechtsfortbildung klar voneinander und von der Auslegung abzugrenzen140. Das erkennt im Grundsatz auch Ukrow an141. Was unter Rechtsfortbildung zu verstehen ist und konkret verstanden wird, bleibt mithin auch bei Verwendung des Drei-Ebenen-Modells weitgehend offen. Das gilt für die Ausführungen von Ukrow und Gruber ebenso wie für die entsprechenden Konkretisierungsversuche in der Rechtstheorie oder im Staatsrecht. Meist ist der Begriff der Rechtsfortbildung im europarechtlichen Schrifttum aus verschiedenen Gründen freilich noch unklarer als in der rechtsmethodischen und zivilrechtlichen Literatur142.
3. Bewertung Ausdrückliche Definitionen von Rechtsfortbildung fehlen im rechtswissenschaftlichen Schrifttum weitgehend. Viele Autoren bemühen sich gar nicht um eine auch nur halbwegs klare Begrifflichkeit. Wenn das jeweilige Verständnis von Rechtsfortbildung überhaupt benannt wird, so variiert sein Inhalt je nach Untersuchungsgegenstand erheblich. Das Spektrum der meist nur aus dem jeweiligen Zusammenhang zu erschließenden Begriffsverständnisse von Rechtsfortbildung ist groß. Mehr als erste Erläuterungsansätze werden im Schrifttum allerdings regelmäßig nicht geboten. Als Rechtsfortbildung wird zunächst das bezeichnet, was nicht Auslegung und Anwendung des Rechts oder der Gesetze ist. Die verbreiteten negativen Umschreibungen von Rechtsfortbildung bleiben jedoch blass. Die Gegenbegriffe Auslegung und Anwendung sind unscharf. Ihr Bezugsobjekt ist unklar. Die Trennungslinie zur Rechtsfortbildung ist schemenhaft. Die vielfältigen Ansätze, Rechtsfortbildung positiv zu bestimmen, reichen von der Rechtsfindung contra legem oder von der gesetzesergänzenden Lückenfüllung nach gesetzlichen Maßstäben über den gesamten Bereich der lückenfüllenden Rechtsfindung praeter legem und über die Rechtsfortbildung praeter und contra legem bis hin zur Rechtsfindung bzw. Rechtsanwendung überhaupt, welche dann auch noch die »schlichte« Gesetzesauslegung einschließt. Ein solch weiter Rechtsfortbildungsbegriff wird unter anderem im zivilprozessualen Schrifttum vertreten. Hinzu kommt, dass die Zulässigkeit der jeweils bezeichneten richterlichen Tätigkeit häufig zur begrifflichen Voraussetzung von Rechtsfortbildung erhoben wird. Rechtsfortbildung wird als dasjenige Rechtsfindungsergebnis erläutert, das Recht im Sinne der geltenden Rechtsordnung darstelle, als die auf Recht rückführbare, rechtlich zulässige richterliche Normsetzung. Der Begriff bezeichnet teilweise den Gegenstand, teilweise das Mittel, teilweise das Ergebnis der Bemühungen des Rechtsfortbildenden. Zudem wird das Bewusstsein der
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S. hierzu bereits C. Fischer, ZfA 2002, 215, 228 ff. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1995, S. 71. Gruber weist gleichfalls auf die Abgrenzungsschwierigkeiten hin, s. Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, 2004, S. 276. 142 Vgl. insoweit zunächst nur Schulze/Seif, in: Schulze/Seif (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Rechtsgemeinschaft, 2003, S. 2 ff.; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1995, S. 69. 141
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III. Die Rechtsprechung
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Fortbildung des Rechts als das konstitutive Merkmal einer Rechtsfortbildung angesehen. Die im Zivilrechtsunterricht gebräuchliche Umschreibung der Rechtsfortbildung als Summe ihrer »anerkannten Anwendungsfälle« Analogie und teleologische Reduktion ist nicht nur fragmentarisch, sondern auch in der Sache bedenklich. Zwar hat Larenz mit der teleologischen Reduktion eine Figur, die der Durchsetzung des Normzwecks einer Vorschrift gegenüber ihrem zu weit geratenen Wortlaut diente, zu einem Instrument erweitert, mit welchem der Normzweck einer Vorschrift (partiell) außer Kraft gesetzt werden kann. Das ist freilich bislang kaum registriert worden. Die klassischen Anwendungsfälle dieser Figur, die der Jurist regelmäßig allein mit dem Begriff teleologische Reduktion verbindet, stellen aber nur dann Rechtsfortbildungen dar, wenn man die »Grenze« zur Auslegung beim äußersten möglichen Wortsinn zieht und diese fiktive Trennlinie im konkreten Fall als überschritten ansieht. Hält man demgegenüber die gesetzgeberische Interessenbewertung für das maßgebende Abgrenzungsmerkmal, so liegt in diesen Fällen eine einschränkende Auslegung vor. Entsprechendes gilt für die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung bei der Analogie. Schließlich steht richterliche Rechtsfortbildung nach vereinzeltem Verständnis noch für etwas per se rechtlich Unzulässiges oder für etwas Unmögliches. Nach alledem kann auf keinen überwiegend anerkannten konturierten Rechtsfortbildungsbegriff im rechtsmethodischen oder sonstigen rechtswissenschaftlichen Schrifttum zurückgegriffen werden.
III. Die Rechtsprechung Angesichts des terminologischen Wirrwarrs im Fachschrifttum ist von der Rechtsprechung ernsthaft keine Hilfe zu erwarten. Es ist nicht ihre Aufgabe, über den Inhalt von Begriffen zu entscheiden, die keine gesetzlichen Tatbestandsmerkmale sind. Ein Gesetzesbegriff ist Rechtsfortbildung, wenn man vom Ausdruck »Fortbildung des Rechts« in bestimmten Verfahrensgesetzen absieht143, aber nicht.
1. Der Sprachgebrauch der Zivilgerichte Außergesetzliche fachsprachliche Begriffe werden von der Rechtsprechung regelmäßig nicht definiert, sondern aus der vor allem durch die Rechtswissenschaft geprägten Fachsprache übernommen. Ist deren Terminologie mehrdeutig, so gilt das auch für die Sprache der Urteile. Mit diesen allgemeinen Erwägungen ist der Sprachgebrauch der Rechtsprechung in Zivilsachen allerdings noch nicht treffend gekennzeichnet. Beim Begriff Rechtsfortbildung kommt zusätzlich etwas anderes, Spezifisches hinzu. Das Wort wird von Richtern auf Tagungen und auch im außergerichtlichen Fachge-
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Dazu sogleich unter IV.
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
spräch häufig im Munde geführt. Wenn Richter Recht sprechen, scheint es geradezu gemieden zu werden144. In Urteilen der Instanzgerichte findet es sich so gut wie gar nicht. Selbst in höchstrichterlichen Entscheidungen ist eher selten von Rechtsfortbildung die Rede. Das ergibt sich bereits aus den Registerbänden von BGHZ 1 bis 150, in denen der Ausdruck Rechtsfortbildung kaum auftaucht145. Im systematischen Register weist er auf ganze fünf Entscheidungen146 und im Stichwortregister auf insgesamt sechs Judikate147 hin. Lieber bedient man sich einer weiten Auslegung. Notfalls greift man zu – mehr oder weniger – anerkannten Rechtsfortbildungsfiguren, deren Voraussetzungen sich konkret und unabhängig von der zugrundeliegenden grundsätzlichen Frage der Rechtsfortbildung thematisieren lassen. Im Zweifel wird allerdings eher ein Präjudiz auf eine bislang nicht erfasste Konstellation ausgedehnt. Der kreative Umgang mit gerichtlichen Vorentscheidungen erspart eine Festlegung in methodischen Fragen. Die Zivilgerichte äußern sich nach alledem kaum zum Begriff Rechtsfortbildung. Ob die Richter (untereinander) durchgehend einen engeren Begriffsinhalt benutzen, als es der funktionalen Sicht des Schrifttums entspricht148, vermag ein Außenstehender nicht zu beurteilen. Sicher ist, dass sich im breiten Spektrum der Literatur auch »engere« Verständnisse von Rechtsfortbildung finden. Ein eigenständiges Begriffsverständnis ist in den veröffentlichten Entscheidungen der Zivilgerichte nicht erkennbar.
2. Das Bundesverfassungsgericht Das Bundesverfassungsgericht hat sich in zahlreichen Entscheidungen ausdrücklich mit Fragen der Rechtsfortbildung befasst149. a. Zur Terminologie Eine klare und einheitliche Terminologie lässt sich allerdings auch beim Bundesverfassungsgericht nicht feststellen150. So wird in seiner Grundsatzentscheidung zur Rechtsfortbildung durch die Zivilgerichte bedeutungsgleich von schöpferischer Rechtsfindung, von schöpferischer Fortbildung des Rechts und von Auslegung gesprochen151. Auch in späteren Entscheidungen gebraucht das Bundesver144
Vgl. insoweit auch Berkemann, KritV 1988, 29, 32. BGHZ, Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen auf CD-Rom, Grundwerk, Band 1 – 154, 2004. 146 Bei den fünf Entscheidungen, die insgesamt neunmal genannt werden, handelt es sich um BGHZ 65, 325, 328; 90, 145, 153; 100, 157, 163; 116, 319; 134, 392, 400. 147 An vier Stellen finden sich folgende Verweise: BGHZ 90, 153; 100, 136, 145; 108, 309; 116, 325; 138, 329; 146, 96. 148 So Berkemann, KritV 1988, 29, 33; vgl. bereits oben I.3. 149 Vgl. etwa BVerfGE 3, 225, 242 ff.; 13, 153, 164; 25, 167, 178 ff.; 34, 269, 280 ff.; 37, 67, 81 f.; 49, 286, 303; 49, 304, 318 ff.; 54, 100, 111 f.; 54, 277, 279 ff.; 59, 330, 334; 65, 182, 190 ff.; 66, 116, 138; 67, 245, 250; 69, 188, 203 ff.; 69, 315, 371 f.; 71, 108, 115; 71, 354, 362; 75, 223, 243 f.; 82, 6, 11 ff.; 84, 212, 226 f.; 87, 273, 280; 88, 103, 115 f.; 88, 145, 166 ff.; 96, 375, 393 ff.; NJW 1998, 3557, 3558; NJW 2000, 3635, 3636; NJW 2006, 3409, 3409 f. 150 Wank, ZGR 1988, 314, 325 f. mit Beispielen. 151 BVerfGE 34, 269, 287 f. 145
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III. Die Rechtsprechung
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fassungsgericht Auslegung als Synonym für Rechtsfindung, also als einen Ausdruck, der die Rechtsfortbildung mit abdeckt152. Wank hat darauf hingewiesen, dass der vom Bundesverfassungsgericht gerne verwendete Ausdruck »Interpretation« in ein und derselben Entscheidung einmal nur die Auslegung, dann nur die Rechtsfortbildung und schließlich auch Auslegung und Rechtsfortbildung zusammen bezeichne153. Trotz dieses wechselnden Sprachgebrauchs lohnt ein Blick in die erste wichtige und eine bedeutsame jüngere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsfortbildung im Zivilrecht. b. Die »Soraya«-Entscheidung Der Ausgangspunkt des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts in seiner grundlegenden Entscheidung vom 14. Februar 1973 lautet, dass das Recht nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch sei154. Gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt könne unter Umständen, so heißt es, ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag. Die Aufgabe der Rechtsprechung könne es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in Entscheidungen zu realisieren. Dabei müsse einsichtig gemacht werden können, dass das geschriebene Recht seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfülle. Die richterliche Entscheidung schließe dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft. Legt man die hier leicht verkürzt wiedergegebenen Worte des Bundesverfassungsgerichts zugrunde, so werden bei der Rechtsfortbildung zwei Objekte miteinander verglichen. Die Gesetzesordnung der geschriebenen Gesetze wird an einer fiktiven »Rechts«-Ordnung gemessen, die aus einer verfassungsmäßigen Wertordnung »als einem Sinnganzen« gespeist wird155. Ergibt der Vergleich, dass das geschriebene Gesetz ein Rechtsproblem nicht »gerecht« löst, so besteht eine Lücke, welche die richterliche Entscheidung nach den allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen schließt. Das Finden und das Füllen einer Lücke fallen hier – wie fast immer – zusammen. Zwar bleibt die vergeistigte verfassungsmäßige Rechtsordnung und damit der Maßstab, der an das geschriebene Gesetz angelegt wird, inhaltlich unklar. Deutlich wird aber, dass das Recht, welches hier fortgebildet wird, das Gesetzesrecht bzw. die Gesamtheit der geschriebenen Gesetze ist156. 152
S. nur BVerfGE 96, 375, 393 f. Wank, ZGR 1988, 314, 325. 154 BVerfGE 34, 269, 287, auch zum Folgenden. 155 Pointierte und berechtigte Kritik dieses Vorgehens etwa bei Ossenbühl, Richterrecht im demokratischen Rechtsstaat, 1988, S. 14. 156 Entsprechendes gilt für BVerfGE 37, 67, 81, wo auch eine vorkonstitutionelle Norm an verfassungsrechtlichen Vorgaben gemessen wurde, allerdings mit weniger Pathos als in der »Soraya«-Entscheidung und unter besonderen Betonung des Gebots zur Lückenschließung unter möglichst enger Anlehnung an das geltende (Gesetzes-)Recht. 153
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
Andererseits wird in der »Soraya«-Entscheidung aber auch das Ergebnis der »schöpferischen Fortbildung des Rechts« als Recht bezeichnet: »Dieses Ergebnis ist »Recht« im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG – nicht im Gegensatz, sondern als Ergänzung und Weiterführung des geschriebenen Gesetzes«157. Die einheitsstiftende, gegensatzaufhebende Formulierung des Bundesverfassungsgerichts ändert allerdings nichts daran, dass das Ergebnis einer richterlichen Rechtsfortbildung eines sicher nicht ist, nämlich Gesetzesrecht. Die bereits festgestellte Doppeldeutigkeit des Ausdrucks Rechtsfortbildung zeigt sich also auch in den Gründen der »Soraya«-Entscheidung, wenngleich er hier primär im Sinne von Gesetzesrechtsfortbildung verwendet wird. c. Der Beschluss vom 12.11.1997 Die gegenwärtigen Grundaussagen des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsfortbildung durch die Zivilgerichte dürften am besten dargestellt sein in dem Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts über die Rechtsprechung zur Arzthaftung bei fehlgeschlagener Sterilisation und bei fehlerhafter genetischer Beratung vor Zeugung eines Kindes158. Die entsprechenden Formulierungen scheinen bewusst als Grundsätze für zukünftige Fälle entworfen worden zu sein159. Die hier interessierenden Passagen lauten sinngemäß160: Art. 20 Abs. 2 und Abs. 3 GG verböten es dem Richter nicht, das Recht fortzuentwickeln. Die Anpassung des geltenden Rechts an veränderte Verhältnisse gehöre im Gegenteil zu den Aufgaben der dritten Gewalt. Dabei dürfe sich der Richter allerdings nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Seine Aufgabe beschränke sich darauf, diesen unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen, insbesondere durch die Ausweitung des Anwendungsfelds einer bereits geläufigen Auslegung, welche die Zwecksetzungsprärogative des Gesetzgebers regelmäßig nicht berühre. Da auch die Rechtsfortbildung das einfache Recht betreffe161, obliege die Beantwortung der Frage, ob und in welchem Umfang gewandelte Verhältnisse neue rechtliche Antworten erfordern, ebenfalls den Fachgerichten. Die Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts beschränke sich unter dem Gesichtspunkt von Art. 20 GG darauf, ob das Fachgericht bei der Rechtsfortbildung die gesetzgeberischen Grundentscheidungen respektiert habe und den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung gefolgt sei. Die Unterschiede zur »Soraya«-Entscheidung sind offensichtlich. Die klare Zweiteilung zwischen Recht und Gesetz findet sich in den geschilderten Ausfüh157
BVerfGE 34, 269, 291. BVerfGE 96, 375 ff. 159 Sie finden sich weitgehend wortgleich in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28.8.2000, s. NJW 2000, 3635, 3636 (Kammerbeschluss); vgl. auch BVerfG, NJW 2006, 3409. 160 BVerfGE 96, 375, 394 f. 161 Genauer insoweit BVerfG NJW 2000, 3635, 3636: »… wenn die Rechtsfortbildung das einfache Recht betrifft …«. 158
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III. Die Rechtsprechung
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rungen ebenso wenig wie der Rekurs auf eine verfassungsmäßige Wertordnung und allgemeine Gerechtigkeitsvorstellungen. Die verfassungsrechtliche Rechtsfortbildungseuphorie ist einer eher pragmatischen Betrachtungsweise gewichen, welche die Rechtsfortbildung als normale Aufgabe der Rechtsprechung begreift, dabei aber das Zwecksetzungsvorrecht des Gesetzgebers in den Mittelpunkt stellt. Die Rechtsfortbildung betreffe – so heißt es – das einfache Recht. Rechtsfortbildung scheint hier also als Fortbildung des Gesetzesrechts verstanden zu werden.
3. Der Europäische Gerichtshof Erwähnung verdient noch, dass der Europäische Gerichtshof seit jeher die Quellen des Europarechts fortbildet, aber selbst eindeutige Rechtsfortbildungen stets als Auslegung bezeichnet162. Die Urteile, in denen der Gerichtshof sein Verhältnis zum Gemeinschaftsgesetzgeber und die Verteilung ihrer Zuständigkeiten behandelt, zeigten zwar, dass er in der Sache zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung unterscheide163. Im Gegensatz zur deutschen und entsprechend der französischen Doktrin trennt der Gerichtshof aber begrifflich gar nicht zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung. Teleologische am effet utile orientierte Auslegung und Rechtsfortbildung verschwimmen im Luxemburger Sprachgebrauch in dem Begriff »interprétation«164. Deshalb ergibt sich aus den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs nichts zum Ausdruck Rechtsfortbildung. Die Überprüfung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs führt zu keinen Erkenntnissen für die hier interessierende methodische Frage des deutschen Zivilrechts.
4. Zusammenfassung Auch die Rechtsprechung verfügt über keinen klaren Begriff von Rechtsfortbildung, der für diese Untersuchung übernommen werden könnte. Die Zivilgerichte verwenden den Ausdruck selten und dann entsprechend dem methodischen
162 S. zur Praxis des Europäischen Gerichtshofs zunächst nur Wank, FS Stahlhacke, 1995, S. 633, 635 ff.; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, 1999, S. 358, 575; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 535; Pirrung (Richter am Gericht Erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften), FS Sonnenberger, 2004, S. 865, 870; weiterführend A. Birk, Das Prinzip des unverfälschten Wettbewerbs und seine Bedeutung im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S. 198 ff.; Joussen, Die Auslegung europäischen (Arbeits-)Rechts aus deutsch-italienischer Perspektive, 2000, S. 51 ff.; Schulze/Seif, in: Schulze/Seif (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Rechtsgemeinschaft, 2003, S. 1 f. mit zahlreichen Rechtsprechungs- und Literaturnachweisen; T. Stein, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 619 ff., insb. S. 633 ff.; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 394 ff.; vgl. auch G. Hirsch, ZGR 2002, 1, 10 f., der als ehemaliger Richter am Europäischen Gerichtshof die Rechtfertigung einer systematischen Unterscheidung zwischen Gesetzesauslegung und richterlicher Rechtsfortbildung unter Berufung auf Larenz für fraglich hält, aber auch davon spricht, dass die Rechtsfortbildung im Gemeinschaftsrecht (noch) der »Normalfall« sei; vgl. zur (früheren?) Sichtweise am EuGH noch die Anekdote von D. Neumann, FS Wiedemann, 2002, S. 367, 376. 163 So Wank, FS Stahlhacke, 1995, S. 633, 635 m. N. 164 So Schulze/Seif, in: Schulze/Seif (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Rechtsgemeinschaft, 2003, S. 1, 3 m.w.N.
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
Schrifttum mit unterschiedlichem Inhalt. Der Europäische Gerichtshof benutzt ihn gar nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zwar in zahlreichen Entscheidungen ausdrücklich mit Rechtsfortbildungen befasst, verfügt jedoch über keine klare und einheitliche Terminologie. In den grundlegenden Entscheidungen zur hier interessierenden Thematik scheint es unter Rechtsfortbildung vornehmlich die Fortbildung des Gesetzesrechts zu verstehen, bezeichnet mit dem Ausdruck aber auch das Ergebnis der schöpferischen Fortbildung des Rechts.
IV. Fortbildung des Rechts als Gesetzesbegriff Fortbildung des Rechts ist auch ein gesetzlicher Begriff. Alle Verfahrensgesetze der fünf Zweige der deutschen Gerichtsbarkeit nennen ihn als Voraussetzung der sog. Grundsatzvorlage. Zudem findet er sich im Zusammenhang mit der Rechtsmittelzulassung in verschiedenen Prozessgesetzen.
1. Die Grundsatzvorlage In den einzelnen Verfahrensordnungen ermöglicht das Erfordernis der Fortbildung des Rechts dem erkennenden Senat des jeweiligen Bundesgerichts die Vorlage einer Frage von grundsätzlicher Bedeutung an den Großen Senat165. Der Inhalt dieses Tatbestandsmerkmals ist unklar, seine Bedeutung umstritten. a. Auslegungsdefizite Teilweise wird vertreten, die »Fortbildung des Rechts« und die »Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung« seien gar keine zusätzlichen Vorlageerfordernisse neben der »grundsätzlichen Bedeutung«166. Auf eine Erläuterung der bedeutungslosen Ausdrücke wird verzichtet167. Überwiegend wird die Fortbildung des Rechts aber als eine eigenständige Vorlagevoraussetzung angesehen168. Der Wortbedeutung dieses gesetzlichen Begriffs 165 §§ 132 Abs. 4 GVG, 45 Abs. 4 ArbGG, 11 Abs. 4 FGO, 11 Abs. 4 VwGO, 41 Abs. 4 SGG. – Allerdings gilt der Vorrang der Divergenzvorlage, s. BGH, NJW 2000, 1185, 1186; Prütting, in: Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge, Arbeitsgerichtsgesetz, 5. Aufl. 2004, § 45 Rn. 33; jeweils m.w.N. 166 Prütting, in: Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge, Arbeitsgerichtsgesetz, 5. Aufl. 2004, § 45 Rn. 31 f.; zustimmend Bakker, Grenzen der Richtermacht, 1994, S. 228; zweifelnd Groß/Pamp, ZZP 113 (2000), 467, 479 Fn. 64; vgl. auch Meyer, Die Sicherung der Einheitlichkeit höchstrichterlicher Rechtsprechung durch Divergenz- und Grundsatzvorlage, 1994, S. 104, 108. 167 Prütting, in: Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge, Arbeitsgerichtsgesetz, 5. Aufl. 2004, § 45 Rn. 31 f.; vgl. aber auch Rn. 30, wo es heißt, dass als Kriterien für eine mögliche Grundsatzbedeutung im Hinblick auf die Rechtsfortbildung in Betracht kommen die Aufdeckung einer noch nicht richterrechtlich geschlossenen Gesetzeslücke oder die Feststellung einer Rechtslage, die ein Einschreiten des Gesetzgebers (sic!) erforderlich macht. Kritisch hierzu Bakker, Grenzen der Richtermacht, 1994, S. 122. 168 Kissel/Mayer, Gerichtsverfassungsgesetz, 4. Aufl. 2005, § 132 Rn. 37 f.; Wolf, in: Lüke/ Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 3, 2. Aufl. 2001, § 132 GVG Rn. 26.
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IV. Fortbildung des Rechts als Gesetzesbegriff
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wird dennoch keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Kissel, der in früheren Auflagen einen weiten Rechtsfortbildungsbegriff vertreten hatte, welcher auch traditionell der Auslegung zugeordnete Fragen erfasste169, definiert heute gar nicht mehr und schreibt stattdessen ausführlich und grundsätzlich über die Befugnis aller Gerichte zur Rechtsfortbildung170. Wolf beginnt ähnlich, differenziert bei der Fortbildung des Rechts dann zwischen gesetzesimmanenter und gesetzesübersteigender Rechtsfortbildung und beschränkt schließlich – etwas überraschend – die Rechtsfortbildungsvorlage ausdrücklich auf die Ausnahmefälle einer gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung171. Wegen der Rechtssicherheit und des Prinzips des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG seien die Vorlagevoraussetzungen erst erfüllt, wenn deutlich jenseits der Teleologie eines Einzelgesetzes Recht auf überpositiver Grundlage gesprochen werde. Ein vergleichsweise weites Rechtsfortbildungsverständnis findet sich demgegenüber wieder bei Bakker172. Nach Grunsky lässt die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des Großen Senats »insbesondere dann angebracht erscheinen, wenn eine Frage sehr umstritten ist«173. b. Ursachensuche Insgesamt bleiben Sinn und Inhalt des Tatbestandsmerkmals unklar und verschwommen. Für »Fortbildung des Rechts« scheint der Kommentar eines Bundesrichters zur Grundsatzvorlage aus den sechziger Jahren unverändert Gültigkeit beanspruchen zu können174: »Ein Nebelmeer von Begriffen ohne bestimmbaren Gehalt!«. Normzweck und Anwendungsbereich der Grundsatzvorlage sollen bis heute in diesem Nebelmeer verborgen liegen175. Der ungeklärte Zweck der Grundsatzvorlage176 dürfte der tiefere Grund für die geschilderten terminologischen Unklarheiten bei der »Fortbildung des Rechts« sein. 169 Kissel, Gerichtsverfassungsgesetz, 1. Aufl. 1981, § 137 Rn. 7, wo neben der rechtsschöpferischen Ausfüllung von Gesetzeslücken auch das Aufstellen von Leitsätzen für die Auslegung des materiellen Rechts oder des Verfahrensrechts und die Abkehr von einer allgemein anerkannten oder doch ständigen Rechtsprechung genannt sind. 170 Kissel, Gerichtsverfassungsgesetz, 3. Aufl. 2001, § 132 Rn. 37; ebenso Kissel/Mayer, Gerichtsverfassungsgesetz, 4. Aufl. 2005, § 132 Rn. 37. 171 Wolf, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 3, 2. Aufl. 2001, § 132 GVG Rn. 25 f.; kritisch hierzu Bakker, Grenzen der Richtermacht, 1994, S. 121. Für eine restriktive Handhabung der Grundsatzvorlage wegen der besonderen Sachkompetenz der erkennenden Senate hat sich auch ausgesprochen Meyer, Die Sicherung der Einheitlichkeit höchstrichterlicher Rechtsprechung durch Divergenz- und Grundsatzvorlage, 1994, S. 122 ff. 172 Bakker, Grenzen der Richtermacht, 1994, S. 229 ff., wo der Versuch unternommen wird, die Rechtsfortbildungsvorlage teleologisch durch Fallgruppenbildung zu konkretisieren; s. auch S. 130 einerseits und S. 228 andererseits. 173 Grunsky, Arbeitsgerichtsgesetz, 7. Aufl. 1995, § 45 Rn. 7. 174 Maetzel, MDR 1966, 453, 454. 175 So Bakker, Grenzen der Richtermacht, 1994, S. 119. 176 Vgl. zur ursprünglichen nationalsozialistischen Zielsetzung des damaligen § 137 GVG aus dem Jahre 1935 Hanack, Der Ausgleich divergierender Entscheidungen in der oberen Gerichtsbarkeit, 1962, S. 31 ff.; Bakker, Grenzen der Richtermacht, 1994, S. 28 ff.; Meyer, Die Sicherung der Einheitlichkeit höchstrichterlicher Rechtsprechung durch Divergenz- und Grundsatzvorlage, 1994, S. 87 ff.; s. zu heutigen Bestimmungen des Normzwecks BGH, NJW
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
Die unmittelbare Ursache für die Vernachlässigung des Tatbestandsmerkmals liegt darin, dass die gesetzlichen Regelungen die Vorlage in das Ermessen des erkennenden Senats zu stellen scheinen (»kann … vorlegen«) und darauf abstellen, ob die Vorlage nach seiner Auffassung zur Fortbildung des Rechts erforderlich ist. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Definitionsbemühungen und Vorlageermessen. Was unter Fortbildung des Rechts zu verstehen ist, kann letztlich dahinstehen, wenn der erkennende Senat frei und unkontrolliert über diese Vorlagevoraussetzung entscheidet. Verneint er ihr Vorliegen, so urteilt er selbst in der Sache. Dass dabei unter Umständen gegen den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) verstoßen werden kann177, ist dann von eher theoretischem Interesse. Bejaht der erkennende Senat das Erfordernis der Fortbildung des Rechts oder der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung und legt er vor, so soll der Große Senat nicht mehr zu überprüfen haben, ob seine Entscheidung aus diesen Gründen erforderlich ist178. Im Schrifttum geht man trotz gewichtiger Gegenstimmen179 immer noch mehrheitlich davon aus, dass die Entscheidung, ob die Rechtsfrage dem Großen Senat vorgelegt werden soll, bei der Grundsatzvorlage generell im Ermessen des erkennenden Senats steht180. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass man sich nicht um eine Konkretisierung des Merkmals Fortbildung des Rechts bemüht. Selbst die Kritiker eines Vorlageermessens der Fachsenate erläutern den Begriff nicht181, geben keine Begründung für ihr angedeutetes und widersprüchliches Rechtsfortbildungsver-
2000, 1185, 1186; Gummer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 132 GVG Rn. 6; Wolf, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 3, 2. Aufl. 2001, § 132 GVG Rn. 21. 177 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann die Garantie des gesetzlichen Richters verletzt sein, wenn ein Gericht der Verpflichtung zur Vorlage an ein anderes Gericht nicht nachkommt. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG soll aber nur gegen Willkür und nicht gegen jede fehlerhafte Anwendung einer Prozessordnung und insbesondere nicht gegen einen bloßen error in procedendo schützen; grundlegend BVerfGE 3, 359, 364 f. im Anschluss an Kern; aus neuerer Zeit BVerfGE 67, 90, 95; 87, 282, 284; 101, 331, 359 f.; jeweils m.w.N. 178 Ständige Rechtsprechung des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts, s. BAGE 6, 149, 150; 8, 285, 290; 8, 314, 316 f.; 10, 65, 67; 12, 15, 17; 48, 122, 129; 69, 134, 145. In den folgenden 31 Bänden findet sich keine einschlägige Entscheidung. 179 Für eine zwingende Vorlagepflicht wegen des Justizgrundrechts auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG Prütting, ZZP 92 (1979), 271, 278 f.; ders., in: Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge, Arbeitsgerichtsgesetz, 5. Aufl. 2004, § 45 Rn. 34; zustimmend Bakker, Grenzen der Richtermacht, 1994, S. 224 ff.; Wolf, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 3, 2. Aufl. 2001, § 132 GVG Rn. 27; kritisch hierzu Meyer, Die Sicherung der Einheitlichkeit höchstrichterlicher Rechtsprechung durch Divergenz- und Grundsatzvorlage, 1994, S. 116 ff. 180 Albers, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 132 GVG Rn. 7; Grunsky, Arbeitsgerichtsgesetz, 7. Aufl. 1995, § 45 Rn. 6; Kissel/Mayer, Gerichtsverfassungsgesetz, 4. Aufl. 2005, § 132 Rn. 38; Meyer, Die Sicherung der Einheitlichkeit höchstrichterlicher Rechtsprechung durch Divergenz- und Grundsatzvorlage, 1994, S. 103; Groß/Pamp, ZZP 113 (2000), 467, 479 m.w.N. 181 Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass vertreten wird, die Fortbildung des Rechts sei gar keine eigenständige Vorlagevoraussetzung, s. Prütting, in: Germelmann/Matthes/ Prütting/Müller-Glöge, Arbeitsgerichtsgesetz, 5. Aufl. 2004, § 45 Rn. 31 f.; zustimmend Bakker, Grenzen der Richtermacht, 1994, S. 228.
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IV. Fortbildung des Rechts als Gesetzesbegriff
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verständnis182 oder verlieren sich beim Bilden beschränkt einsichtiger Fallgruppen im Detail183. Auch sie haben keinen einheitlichen Sprachgebrauch. Obwohl die Verfahrensgesetze die Fortbildung des Rechts als Vorlagevoraussetzung nennen, existiert also kein Verständnis dieses Gesetzesbegriffs, welches für die Zwecke der hier anzustellenden Untersuchung übernommen werden könnte.
2. Die Rechtsmittelzulassung Spezielle Verfahrensregelungen sehen seit längerem die Zulassung eines Rechtsmittels vor, sofern die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs bzw. des Oberlandesgerichts als Beschwerdegericht erfordert184. a. Das Begriffsverständnis Nach diesen Bestimmungen ist das Rechtsmittel zur Fortbildung des Rechts zuzulassen, wenn der Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen oder des Verfahrensrechts aufzustellen oder Gesetzeslücken auszufüllen185. Auf diesen Sprachgebrauch konnte bei der Zivilprozessrechtsreform zurückgegriffen werden186, als man die Formel von der Fortbildung des Rechts in die Zivilprozessordnung einführte187. Mittlerweile liegen die ersten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zum Merkmal Fortbildung des Rechts in §§ 574 Abs. 2, 543 Abs. 2 ZPO vor. Es soll erfüllt sein, wenn der Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen oder formellen Rechts aufzustellen oder Gesetzeslücken auszufüllen188. Hier existiert also ein bis ins Detail einheitlicher Sprachgebrauch von Fortbildung des Rechts. b. Unterschiedliche Interessenlagen Der Zweck der genannten gesetzlichen Regelungen weicht freilich grundlegend vom Anliegen dieser Untersuchung ab. Die Zulassung von Rechtsmitteln zur Fortbildung des Rechts dient dazu, in offenen Rechtsfragen im Interesse der Rechtssicherheit unabhängig von der Höhe des jeweiligen Streitwerts eine schnelle Klä182 Wolf, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 3, 2. Aufl. 2001, § 132 GVG Rn. 25 f. 183 Bakker, Grenzen der Richtermacht, 1994, S. 229 ff. 184 §§ 74 Abs. 2 Nr. 2 GWB, 83 Abs. 2 Nr. 2 MarkenG, 100 Abs. 2 Nr. 2 PatG, 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG. 185 So BT-Drucks. 14/4722, S. 104 unter Berufung auf BGHSt 24, 15, 21. 186 BT-Drucks. 14/4722, S. 67, 104. 187 §§ 511 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 (ab 1.9.2004: § 511 Abs. 4 S. 1 Nr. 1), 522 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, 566 Abs. 4 S. 1 Nr. 2, 574 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 S. 1 ZPO. 188 BGHZ 151, 221, 225 = BGH, NJW 2002, 3029, 3030; NJW-RR 2003, 132; NJW 2003, 437 (alle zu § 574 Abs. 2 Nr. 2 1. Alt. ZPO); BGHZ 154, 288, 292 = BGH, NJW 2003, 1943, 1945 (zu § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 1. Alt ZPO). – Unter diesen Voraussetzungen wird allerdings bereits der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache erfüllt sein; ebenso Prütting, in: Wieczorek/Schütze, Zivilprozessordnung und Nebengesetze, Dritter Band, 1. Teilband, 3. Aufl. 2005, § 543 Rn. 27; s. hierzu auch Seiler/Wunsch, NJW 2003, 1840, 1844 mit einem von der zitierten Rechtsprechung abweichenden Interpretationsvorschlag; vgl. zum Verhältnis der Zulassungsgründe auch BT-Drucks. 14/4722, S. 67.
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
rung durch die Obergerichte zu erreichen, damit diese ihre auf Wahrung der Rechtseinheit gerichtete Funktion erfüllen können; in ungeklärten Rechtsfragen soll der Gefahr einer Zersplitterung der Präjudizien durch eine Leitentscheidung der obergerichtlichen und der höchstrichterlichen Rechtsprechung begegnet, aber auch eine Rechtserstarrung ausgeschlossen werden189. Entscheidend ist, ob die Rechtsfrage offen und ungeklärt ist. Ob sie durch Auslegung oder im Wege der Rechtsfortbildung zu beantworten ist, spielt dafür keine Rolle. Deshalb kann die Fortbildung des Rechts auch im Wege der Auslegung im engeren Sinne erfolgen190. Den Präsidenten des Bundesgerichtshofs »macht die Zuweisung der Aufgabe [in der Gesetzesbegründung, Anm. des Verf.], Leitsätze für die Auslegung des Gesetzes aufzustellen, und deren Zuweisung in die Kategorie »Rechtsfortbildung«, etwas perplex«.191 Dafür besteht angesichts des geschilderten Zwecks der gesetzlichen Regeln über die Rechtsmittelzulassung kein Anlass. Weil die »Fortbildung des Rechts« allein eine offene Rechtsfrage voraussetzt, welche der Klärung durch das jeweilige Obergericht192 bedarf, sind Rechtsfortbildung und Auslegung in diesem Kontext keine Gegenbegriffe. Anders ist die Interessenlage bei der hier in Angriff genommenen Arbeit. Es geht darum, Topoi aufzuzeigen, mit denen das Recht verdeckt fortgebildet wird. Meist geschieht das im Gewand einer scheinbaren Anwendung der Gesetze. Das Thema setzt also voraus, dass Auslegung und Rechtsfortbildung voneinander unterschieden werden. Das weite, die Auslegung umfassende Rechtsfortbildungsverständnis der Verfahrensgesetze und der entsprechende prozessrechtliche Sprachgebrauch können für die Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen mithin nicht übernommen werden. c. Ein neues Rechtsfortbildungsverständnis des Gesetzgebers? Aus aktuellem Anlass ist am Rande noch darauf hinzuweisen, dass aus dem in der Gesetzesbegründung formulierten Verständnis von »Fortbildung des Rechts« keine weitreichenden Folgerungen für den Begriff »Rechtsfortbildung« und die grundsätzliche Reichweite von Rechtsfortbildungen gezogen werden können. Es trifft nicht zu, dass die Auffassung des Gesetzgebers den Anwendungsbereich der Rechtsfortbildung als Methode der Rechtsfindung in den Bereich der Auslegung hinein ausdehnt193. Die amtliche Begründung enthält keine Festlegung in 189 Vgl. zu diesem Motivbündel BT-Drucks. 14/4722, S. 59, 66 f., 93, 104. Der Bundesgerichtshof hat angemerkt, dass ein Anlass für die Entwicklung höchstrichterlicher Leitsätze dann bestehe, wenn es für die rechtliche Beurteilung typischer oder verallgemeinerungsfähiger Lebenssachverhalte an einer richtungsweisenden Orientierungshilfe ganz oder teilweise fehle, s. BGHZ 154, 288, 292 m.w.N. 190 Vgl. insoweit auch Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 145, wo zum prozessualen Rechtsfortbildungsbegriff ausgeführt wird, jegliche neue Erkenntnis des geltenden Rechts stelle eine »Fortbildung« desselben dar. 191 G. Hirsch, Rechtsanwendung, Rechtsfindung, Rechtsschöpfung, 2003, S. 16. 192 Wie schon § 511 Abs. 4 ZPO zeigt, ist die Fortbildung des Rechts entgegen den Ausführungen von Hirsch nicht allein eine Aufgabe der Revisionsgerichte, vgl. demgegenüber G. Hirsch, Rechtsanwendung, Rechtsfindung, Rechtsschöpfung, 2003, S. 12 und 15 f. 193 So aber G. Hirsch, Rechtsanwendung, Rechtsfindung, Rechtsschöpfung, 2003, S. 16.
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V. Begriffsgeschichtlicher Exkurs
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Methodenfragen, sondern nennt lediglich die sich aus der konkreten Interessenlage ergebenden Voraussetzungen eines Tatbestandsmerkmals zivilprozessualer Normen. Hier ist entgegen Hirsch auch kein neues Verständnis von Rechtsfortbildung artikuliert worden, vor dessen Hintergrund die Frage nach den Voraussetzungen und Methoden der Rechtsfortbildung neue Bedeutung erlangt194. Wie die Begründung klar ausweist195, ist lediglich der gefestigte Sprachgebrauch der Gerichte zu dem Tatbestandsmerkmal »Fortbildung des Rechts« in den speziellen Verfahrensregelungen, die bei der Zivilprozessrechtsreform als Vorbild dienten, übernommen worden. Im Übrigen findet sich auch im zivilprozessrechtlichen Schrifttum ein weiter, die Auslegung einbeziehender prozessualer Rechtsfortbildungsbegriff196, der aufgrund der unterschiedlichen Fragestellungen sogar ausdrücklich vom allgemeinen Rechtsfortbildungsbegriff der juristischen Methodenlehre unterschieden wird. Die Ausführungen in der Gesetzesbegründung sind also weder neu noch revolutionär. Sie betreffen überhaupt nicht Begriff, Voraussetzungen und Methode der Rechtsfortbildung im traditionellen, von Hirsch erörterten Sinne. Es geht vielmehr allein um die nach prozessualen Wertungsgesichtspunkten zu beantwortende Frage, wann die Fortbildung des Rechts eine Zulassung des Rechtsmittels erfordert. Wenn man die Terminologie des neueren zivilprozessualen Schrifttums übernimmt und den Rechtsfortbildungsbegriff der juristischen Methodenlehre von einem prozessualen Rechtsfortbildungsbegriff unterscheidet, dann kann man sagen, dass Hirsch bei seiner Deutung diese beiden Rechtsfortbildungsbegriffe verwechselt hat.
3. Zwischenergebnis Die Gesetzesbegriffe Fortbildung des Rechts und ihre Interpretation helfen hier also nicht weiter. Das gilt sowohl für die Vorschriften über die Rechtsmittelzulassung als auch für die Normen über die Voraussetzungen der Vorlage einer Rechtsfrage an den Großen Senat des jeweiligen Bundesgerichts.
V. Begriffsgeschichtlicher Exkurs Bei terminologischen Problemen lohnt es sich gelegentlich, zurückzuschauen. Die Geschichte des Rechts ist immer auch eine Geschichte der Begriffe. Die Vergangenheit hält ein reichhaltiges Arsenal von juristischen Begriffsverwendungsbeispielen und Begriffserläuterungen bereit. Manchmal hat ein relativ klarer Ausdruck erst im Laufe der Zeit seine Konturen verloren. Dann kann unter Umständen – bei hinreichend ähnlichen Problemlagen – auf ein früheres Begriffsverständnis zurückgegrif-
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S. G. Hirsch, Rechtsanwendung, Rechtsfindung, Rechtsschöpfung, 2003, S. 16. BT-Drucks. 14/4722, S. 67, 104. 196 S. Lames, Rechtsfortbildung als Prozesszweck, 1993, S. 26 f.; Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 145; E. Schumann, in: Stein-Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Erster Band, 20. Aufl. 1984, Einleitung Rn. 92; zu Schumanns ambivalentem Rechtsfortbildungsbegriff bereits II.2.n.aa. 195
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
fen werden. Vor diesem Hintergrund wird die Geschichte der Bezeichnung Rechtsfortbildung kurz untersucht.
1. Zur Herkunft des Wortes »Rechtsfortbildung« a. Rechtsgeschichtliche Äußerungen Im jüngeren rechtsgeschichtlichen Schrifttum gilt Savigny als Vater des Ausdrucks Rechtsfortbildung. Diese Leistung sei in der Literatur bislang allerdings nicht in angemessener Weise zur Kenntnis genommen und noch nicht hinreichend gewürdigt worden197. Die Kategorie der Rechtsfortbildung gehöre seit Savignys Lehre von der »Fortbildung des Rechts« zum Gedankengut der Juristen198. Nach Vogenauer ist 1840 das Geburtsjahr des Begriffs Rechtsfortbildung: In seinem System des heutigen römischen Rechts habe Savigny erstmals von einer »von der Auslegung verschiedenen Fortbildung des Rechts« gesprochen199. Bühler betont, dass Savigny der Sache nach bereits in seinen Vorlesungen zur Juristischen Methodenlehre oder Methodologie aus den Jahren 1802 und 1803 zwischen Rechtsauslegung und Rechtsfortbildung getrennt habe200; expressis verbis habe er dann später im System des heutigen Römischen Rechts zwischen der Auslegung des Rechts und der Fortbildung des Rechts unterschieden: Rechtsauslegung habe es – im Fall von Gesetzen – damit zu tun, den Gedanken zu identifizieren, den Gesetzgeber mit der Formulierung eines Gesetzes verbinden; Rechtsfortbildung sei dagegen eine Rechtsabänderung, die von den Gedanken des Gesetzgebers abweiche201. b. Die Fortbildung des Rechts bei Friedrich Carl von Savigny So klar wie in Bühlers Charakterisierung des Konzepts ist die Unterscheidung von Auslegung und Rechtsfortbildung in Savignys System des römischen Rechts indes nicht durchgeführt.
197 Bühler, in: J. Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie, 2001, S. 329 und 330. 198 Otte, in: J. Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie, 2001, S. 191, 195. 199 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 606; s. auch J. Schröder, Recht als Wissenschaft, 2001, S. 221 f. 200 Bühler, in: J. Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie, 2001, S. 329, ausgeführt auf S. 331 und 333. Demgegenüber verweist Otte darauf, dass Savignys Lehre von der »Fortbildung des Rechts« der Sache nach schon in seiner berühmten Streitschrift »Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Wissenschaft« aus dem Jahr 1814 auf den Seiten 11 ff. zu finden sei, s. Otte, in: J. Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie, 2001, S. 191, 195. 201 Bühler, in: J. Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie, 2001, S. 329 und 332.
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V. Begriffsgeschichtlicher Exkurs
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aa. Festzuhalten ist zunächst, dass Savigny das heute gebräuchliche Wort »Rechtsfortbildung« überhaupt nicht verwendet. Vielmehr spricht er stets von der »Fortbildung des Rechts«202, welche er gelegentlich noch mit den nicht erklärten Adjektiven »wahre«, »wirkliche« oder »eigentliche« versieht203. Ausdrücklich definiert Savigny den Begriff »Fortbildung des Rechts« nicht. Er benutzt ihn an zahlreichen Stellen in unterschiedlichen Zusammenhängen. So referiert er ohne Erläuterung des Begriffs über die Fortbildung des (vorhandenen) Rechts durch den Volksgeist204 und durch die neuere Gesetzgebung205, über die Fortbildung des Rechts durch die »Rescripte« der römischen Kaiser206 und durch »Edicte der Obrigkeiten«207 und erörtert die Frage, ob die römischen Rechtsquellenbestimmungen als Maßstab der Fortbildung des Rechts vor und nach der Rezeption dienen208. Er erwähnt die Art, wie die römischen Juristen auf die Fortbildung des Rechts einwirkten209 und deutet dabei erstmals (s)ein Verständnis von Fortbildung des Rechts an: »nicht … bloße Erkenntniß desselben«210. Dass er die Fortbildung des Rechts von der »eigentlichen«, »wahren« und »reinen« Auslegung scheiden will, lässt seine Schilderung der Praxis der römischen Juristen erkennen, zu der er sagt, sie gehe »oft weit über die Gränzen wahrer Auslegung hinaus, und nimmt den Charakter einer wahren Fortbildung des Rechts an«211. Was Savigny nicht als Fortbildung des Rechts ansieht, wird dort deutlich, wo er sich zu konkreten Fragen der Auslegung der Gesetze in seiner Zeit äußert. Anders als beim »speciellen Gesetzgrund«212 lehnt er es ab, den (unrichtigen) Ausdruck wegen des generellen Grundes eines Gesetzes zu berichtigen213: »Denn diese Behandlung trägt schon ganz den Charakter einer von der Auslegung verschiedenen Fortbildung des Rechts an sich, da wir nicht fragen, was in dem Gedanken des Gesetzes enthalten ist, sondern was in denselben consequenterweise 202 S. etwa v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 17, 18, 84, 102, 136, 139, 162, 205, 238, 239, 240, 253, 254, 284, 291, 294, 296, 297, 298, 299, 300, 322, 323, 326, 329, 330. 203 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 284, 297, 322, 329; hierzu auch U. Huber, JZ 2003, 1, 13, der wie die vorgenannten Autoren »Fortbildung des Rechts« und »Rechtsfortbildung« unbesehen gleichsetzt, obwohl er im weiteren Verlauf seines Beitrags auf S. 15 vermutet, der frühere § 137 und jetzige § 132 Abs. 4 GVG gehe unmittelbar auf Ausführungen Savignys zurück. Dass das in den Verfahrensgesetzen enthaltene Tatbestandsmerkmal »Fortbildung des Rechts« auch die Auslegung umfasst, ist unter IV.1. und 2.b. dargelegt worden. 204 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 17 f. 205 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 102, 291. 206 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 136, 139, 253, 284. 207 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 299. 208 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 162, 211. 209 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 84, 254, 298, 326. 210 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 84. 211 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 297; s. noch S. 239, 294, 296, 298 und 300 zur Vermischung von reiner Auslegung mit der Fortbildung des Rechts bei den Römern. 212 Hierzu v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 233 ff., 240. 213 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 238.
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
hätte aufgenommen werden müssen, wenn sich der Gesetzgeber dieses klar gemacht hätte«. Auch der »innere Werth des Resultats« dürfe zur Verbesserung des Ausdrucks niemals angewendet werden, weil darin immer eine versuchte Verbesserung des Gedankens selbst enthalten sein würde214: »Dieses kann als Fortbildung des Rechts heilsam seyn, von einer Auslegung kann es nur den Namen an sich tragen«. Zur logischen Auslegung nach dem schon bei Christian Thomasius zu findenden215 und zu Savignys Zeiten herrschenden Grammatik-Logik-Schema216 merkt er an, hier werde »eine Berichtigung des wirklichen Gedankens selbst versucht durch Zurückführung auf denjenigen Gedanken, den das Gesetz hätte enthalten sollen«217. Indem »der Ausleger nicht den bloßen Buchstaben, also den Schein des Gesetzes, sondern den wirklichen Inhalt desselben zu verbessern unternimmt, stellt er sich über den Gesetzgeber, und verkennt also die Gränzen des eigenen Berufs; es ist nicht mehr Auslegung, die er übt, sondern wirkliche Fortbildung des Rechts«218. In der Sache erfolgt die Unterscheidung zwischen Fortbildung des Rechts und Auslegung bei Savigny also, soweit sie denn überhaupt erfolgt, über den Begriff der Auslegung. In dem Kapitel über »Auslegung der Gesetze« werden keine anderen Rechtsquellen erörtert219. Fortbildung des Rechts steht hier, ohne dass das ausdrücklich gesagt würde, für die Fortbildung der Gesetze. Fortbildung des Rechts ist mithin diejenige Interpretation, die nicht mehr als Auslegung der Gesetze bezeichnet werden kann, wobei Auslegung von Savigny als »die Reconstruction des dem Gesetze inwohnenden Gedankens« bestimmt wird220: Eine sichere und vollständige Einsicht in den Inhalt des Gesetzes könne nur erlangen, wer sich in Gedanken auf den Standpunkt des Gesetzgebers versetze, und dessen Tätigkeit in sich künstlich wiederhole, also das Gesetz in seinem Denken von Neuem entstehen lasse. bb. Theoretisch lässt sich hiernach scharf zwischen Auslegung der Gesetze und Fortbildung des Rechts trennen. Auslegung ist die Ermittlung des im Gesetz enthaltenen »wirklichen« Gedankens des Gesetzgebers, Fortbildung des Rechts die Verbesserung oder Berichtigung dieses Gedankens. Praktisch und konkret bereitet die Abgrenzung zwischen Auslegung und Fortbildung des Rechts Savigny aber 214
v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 240. J. Schröder, Recht als Wissenschaft, 2001, S. 134 f. m.w.N., auch zur Gegenauffassung, die Justus Henning Böhmer als Begründer der Zweiteilung bezeichnet. 216 Die Auslegung war hiernach zweigeteilt in grammatische und logische. »Logische Auslegung« stand dabei für jede Auslegung mit Hilfsmitteln, die über die bloße Deutung der Worte hinausgingen. Zur Erforschung des Gesetzessinns mittels logischer Auslegung dienten u. a. die Regelungsabsichten und Beweggründe des Gesetzgebers, »objektive« Gesetzeszwecke und die Gebote der jeweiligen Anwendungssituation sowie folgenorientierte und naturrechtliche Interpretationsansätze, s. hierzu Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 31 ff.; Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 1986, S. 108 ff., insb. S. 147 f.; J. Schröder, Recht als Wissenschaft, 2001, S. 141 ff. 217 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 321. 218 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 322. 219 Gewohnheitsrecht und wissenschaftliches Recht werden lediglich am Rande erwähnt, s. v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 207 f., 262 f. 220 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 213. 215
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Schwierigkeiten. Das zeigt sich zunächst an den Adjektiven, die er den Begriffen hinzufügt, um sie näher zu kennzeichnen. Savigny spricht von »eigentlicher«221, »reiner«222 und »wahrer«223 Auslegung sowie von »wirklicher«224, »wahrer«225 und »eigentlicher«226 Fortbildung des Rechts. Zur Veranschaulichung der Unterschiede zwischen Auslegung und Fortbildung des Rechts tragen die verwendeten Eigenschaftswörter aufgrund ihrer Vielzahl und wegen ihrer lediglich bekräftigenden Natur allerdings nur begrenzt bei. Weiterhin weist Savigny sogar ausdrücklich darauf hin, dass »im Einzelnen die Gränze zwischen reiner Auslegung und eigentlicher Fortbildung des Rechts oft sehr zweifelhaft seyn kann«227. Durch die mancherlei allmählichen Übergänge zwischen den speziellen und den generellen Gesetzesgründen werde die Möglichkeit wahrer Auslegung oft zweifelhaft, und die Unterscheidung derselben von Fortbildung des Rechts schwierig werden228. cc. Die Gründe für die fehlende Trennschärfe der Begriffe Auslegung und Fortbildung des Rechts bei Savigny liegen aus heutiger Sicht im Sprachgebrauch seiner Zeit (1), in der unbestimmten Rolle der Fortbildung des Rechts (2) und in einem unklaren oder unrealistischen Auslegungsziel (3). (1) Savigny wendet sich gegen »die das ganze Gebiet beherrschende Eintheilung der Auslegung in grammatische und logische«229. Er greift vor allem die sog. logische Auslegung nach dem Grammatik-Logik-Schema an, die sich nicht geringe Freiheiten herausnehme, und die man daher sehr unter Aufsicht halten müsse230, weil mit ihr Fortbildung des Rechts im Namen der Auslegung betrieben werde. Die herrschende Zweiteilung der Auslegung will Savigny mit seinen vier Auslegungselementen und der Unterscheidung von Auslegung und Fortbildung aufbrechen. Dabei bedient er sich der Sprache seiner Zeit, in der Auslegung aber auch und vor allem die Rechtsfindung oder Interpretation als Ganze bezeichnet und das einbezieht, was Savigny Fortbildung des Rechts nennt. Da er begrifflich nicht zwischen der »Reconstruction des dem Gesetze inwohnenden Gedankens« und der Interpretation bzw. Rechtsfindung als solcher unterscheidet, verwendet er den Begriff Auslegung mit doppelter Bedeutung. Auslegung steht für die Ermittlung des »wirklichen« Gedankens des Gesetzes, was des Öfteren durch die bereits erwähnten Adjektive verdeutlicht wird. Der Begriff wird aber auch weitergehend, dem Verständnis der Zeitgenossen entsprechend, im Sinne von Rechtsfindung benutzt und umfasst dann in der Sache auch Savignys Fortbildung des Rechts231. 221
v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 298. v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 294, 300, 329. 223 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 240, 297, 299, 323, 329, 330. 224 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 284, 322. 225 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 297. 226 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 329. 227 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 329 f. 228 So v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 240. 229 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 319 f. 230 So v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 320. 231 Vgl. etwa v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 299: »… von einer Auslegung kann es nur den Namen an sich tragen«, S. 322: »…diese Art der Auslegung …«. 222
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(2) Savigny behandelt nur die Auslegung der Gesetze. Die Erkenntnis des Gewohnheitsrechts und des wissenschaftlichen Rechts werden ebenso wie die Tatsachenfeststellung als Element des richterlichen Urteils zwar kurz angesprochen, aber in dem Kapitel über »Auslegung der Gesetze« nicht untersucht232. Entscheidungsfindung erscheint so als Rechtsfindung, und Rechtsfindung als Auslegung der Gesetze233. Die Rolle der Fortbildung des Rechts in Savignys Konzeption bleibt unklar. Seine Äußerungen zur Fortbildung des Rechts sind widersprüchlich. Zum Teil haben sie einen rein beschreibenden Charakter. Wenn die Vermengung von Auslegung und Fortbildung des Rechts bei den römischen Juristen konstatiert wird, bekommen sie manchmal einen kritischen Unterton. Bemerkenswert ambivalent ist die Bewertung der Fortbildung des Rechts im Zusammenhang mit der Auslegung der Gesetze. Savigny lehnt es ab, den Gedanken des Gesetzes im Hinblick auf den inneren Wert des Resultats durch Auslegung zu verbessern und merkt dann an: »Dieses kann als Fortbildung des Rechts heilsam seyn …«234. Demgegenüber wird die im Namen der logischen Auslegung der Gesetze tatsächlich geübte »wirkliche Fortbildung des Rechts« vehement kritisiert: »Eine solche Gränzverwirrung zwischen wesentlich verschiedenen Tätigkeiten ist ein hinreichender formeller Grund, diese Art der Auslegung gänzlich zu verwerfen …«235. Im Anschluss an die Schilderung zweier sachlicher Bedenken heißt es dann aber: »Nur wo diese materielle Bedenken durch gründliche Forschung gehoben werden können, darf eine solche Ausdehnung oder Einschränkung nach dem Grunde des Gesetzes als consequente Fortbildung des Rechts (nicht als Auslegung) für zulässig und räthlich gehalten werden«236. Wenige Seiten später wird dann unter dem Titel »Aussprüche der neueren Gesetzbücher über die Auslegung« wieder ein anderer (rechtspolitischer) Rat gegeben237: »Fragen wir endlich, was in unsrer Lage und für unser Bedürfniß räthlich sey, so erscheint es als unbedenklich, jedem Richter die wahre Auslegung frey zu geben, dasjenige aber, was nur aus Misverständniß für Auslegung gehalten worden ist, in der Regel zu versagen«. Da jedoch im Einzelnen die Grenze zwischen reiner Auslegung und eigentlicher Fortbildung des Rechts oft sehr zweifelhaft sein könne, wünscht Savigny sich, »daß irgendeine hochstehende Gewalt vorhanden sey, in welcher beide Befugnisse vereinigt angetroffen werden, und deren Thätigkeit daher durch die Zweifel über jene Gränze nicht gehemmt seyn möge«238. Ihm schwebt eine »zur Fortbildung des Rechts überhaupt angeordnete Behörde«239 oder ein dem französischen Kassationshof ähnlicher Gerichtshof 232 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 207 f.; besonders betont bei der Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen auf S. 262 f. 233 Dass dieser Eindruck nicht Savignys Vorstellungen entsprach, steht auf einem anderen Blatt, hierzu auch Rückert, in: Rückert (Hrsg.), Fälle und Fallen in der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny, 1997, S. 23, 47. 234 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 240. 235 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 322. 236 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 323. 237 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 329. 238 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 329 f. 239 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 330, detailliert hierzu S. 204 f.
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vor, dem »diejenige ausdehnende und einschränkende Auslegung besonders verliehen wäre, welche oben als ein dem reinen Richteramt nicht zukommendes Verfahren aus dem Gebiete wahrer Auslegung verwiesen werden mußte«240. Das klingt nun wieder ganz so, als wenn der Richter das Recht nicht fortbilden dürfe. Wegen der widersprüchlichen Äußerungen Savignys bleibt letztlich offen, ob der Fortbildung des Rechts bei der Interpretation überhaupt eine legitime Aufgabe zukommt. Eine klare Rolle hat Savigny der Fortbildung des Rechts in seinem methodischen Konzept der »Auslegung der Gesetze« jedenfalls nicht zugeteilt. (3) Als Ziel der Auslegung nennt Savigny die »Reconstruction des dem Gesetze inwohnenden Gedankens«. Im Schrifttum wird er deshalb als »konsequenter Intentionalist« gekennzeichnet, dem es darum gegangen sei, die wirklichen Gedanken des Gesetzgebers herauszufinden241. Sollte sein Auslegungsziel tatsächlich die Feststellung der wirklichen Vorstellungen des Gesetzgebers gewesen sein, so wäre es unrealistisch. Die wirklichen Gedanken sind kaum zu ermitteln. Außerdem kann sich die Rechtsfindung nie in der bloßen Reproduktion eines fremden Willens erschöpfen, sondern muss diesen zwangsläufig fallbezogen weiter- und fortbilden. Gegen ein auf den wirklichen Willen des Gesetzgebers zielendes Auslegungsverständnis lassen sich aber Savignys Äußerungen zum systematischen Element der Auslegung anführen242, die durchaus Spielräume für einen kreativen Umgang mit dem Denken des Gesetzgebers erkennen lassen. Das systematische Element beziehe sich auf den inneren Zusammenhang, welcher alle Rechtsinstitute und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verknüpfe243: »Dieser Zusammenhang, so gut als der historische, hat dem Gesetzgeber gleichfalls vorgeschwebt, und wir werden also seinen Gedanken nur dann vollständig erkennen, wenn wir uns klar machen, in welchem Verhältniß dieses Gesetz zu dem ganzen Rechtssystem steht, und wie es in das System wirksam eingreifen soll …«. Hier klingt schon für die Auslegung der mangelfreien Gesetze244 die rechtserzeugende und rechtsfortbildende Kraft der Rechtswissenschaft an, die in der historischen Rechtsschule hinter den »still wirkenden Kräften« des »Volksgeistes« stand245. Noch deutlicher 240
v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 330. So Bühler, in: J. Schröder (Hrsg.), Theorie in der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie, 2001, S. 329, 335 f., mit der wiedergegebenen Hervorhebung. 242 Hierzu auch Bühler, in: J. Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie, 2001, S. 329, 337, der den Widerspruch zu seiner intentionalistischen Deutung Savignys mit dem Hinweis auf eine zu positive Einschätzung der intellektuellen Fähigkeiten des Gesetzgebers bei Savigny (scheinbar) auflöst. 243 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 214; s. auch S. 215, wo die Bedeutung des »historisch-dogmatischen Ganzen« für das Verständnis des Gesetzes nochmals betont wird. 244 Zur Unterscheidung zwischen der Auslegung »gesunder« und »mangelhafter« Gesetze v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 222. 245 Einführend hierzu Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 451 ff.; zu Savignys juristischer Methode Rückert, in: Rückert (Hrsg.), Fälle und Fallen in der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny, 1997, S. 23 ff.; s. zu Gesetzesauslegung und organischer Rechtsfortbildung bei Savigny auch Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 68 ff. 241
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wird die »organisch bildende Kraft der Rechtswissenschaft« dann in den Abschnitten über die Auslegung der Rechtsquellen im Ganzen in Fällen des Widerspruchs246 und bei Lücken247. In Savignys Ausführungen über das Ziel der Auslegung haben diese Vorstellungen hingegen keinen Niederschlag gefunden. Je nach Sichtweise hat er dort daher ein unrealistisches oder ein unklares Auslegungsziel vertreten. dd. Danach ergibt sich: Savigny hat das Problem der von der Auslegung der Gesetze verschiedenen Fortbildung des Rechts klar erkannt und an zahlreichen Stellen angesprochen. Angesichts seiner rechtsquellentheoretischen Positionen wäre es aus heutiger Sicht nicht überraschend gewesen, wenn er für die organische Fortbildung des Gesetzes- und Gewohnheitsrechts durch die Rechtswissenschaft eingetreten wäre. Ein klares Bekenntnis für die Fortbildung des Rechts hat Savigny jedoch nicht abgelegt248. Im Gegenteil: Die Fortbildung wird aus der Auslegung der Gesetze verbannt, ohne dass ihr an einer anderen Stelle im Prozess der Rechtsfindung eine legitime Aufgabe zugewiesen würde. Weil die Grenze zwischen reiner Auslegung und eigentlicher Fortbildung des Rechts oft sehr zweifelhaft sein könne, propagiert Savigny für die Zukunft eine institutionelle Lösung durch eine (auch) zur Fortbildung des Rechts angeordnete Behörde oder einen Gerichtshof mit entsprechenden Befugnissen249. Wie der Richter bis dahin zwischen zulässiger wahrer Auslegung und der ihm wohl in der Regel zu versagenden Fortbildung des Rechts abgrenzen soll, bleibt aus den geschilderten terminologischen und konzeptionellen Gründen offen. ee. Savignys Trennung zwischen Auslegung und Fortbildung des Rechts hat sich im 19. Jahrhundert nicht durchgesetzt250. Überspitzt kann man sagen, dass die Zeitgenossen nicht auf die Einrichtung einer Rechtsfortbildungsbehörde warten konnten. Sie hielten bei der Rechtsfindung am Grammatik-Logik-Schema fest, wobei die logische Auslegung den Bereich der Fortbildung der Rechtsquellen mit abdeckte251. Seit etwa 1885 drang dann die sog. objektive Auslegung
246 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 262 ff., insb. S. 274 ff. zur systematischen und historischen Vereinigung. 247 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 290 ff. 248 Mögliche Ursachen für die »Polemik« v. Savignys gegen die Fortbildung des Rechts bei den (Landes-)Gesetzen nennt Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 72 ff. 249 Ähnliche rechtspolitische Vorschläge sind auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gemacht worden, s. Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1932 (1. Aufl. 1912), S. 40 ff.; ders., AcP 112 (1914), 1, 302 ff.; jeweils m.w.N. So hat Heck angeregt, eine Behörde einzurichten, die das Privatrecht im Wege der parlamentarisch kontrollierten Rechtsverordnung fortbilden sollte und als Vorbild die römische Einrichtung des prätorischen Edikts und die englische Praxis genannt, s. Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1932, S. 41 f. 250 Ähnlich Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 606, der feststellt, dass sich »Savignys Trennung von Interpretation und Fortbildung des Gesetzes« erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts durchgesetzt habe. 251 Vgl. vorstehend unter cc.(1).
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vor252, die den Willen des Gesetzgebers für unbeachtlich erklärte und die Fortbildung des Rechts im Gewand der Auslegung der Gesetze zusätzlich erleichterte. c. Justizpolitische Diskussionen Der Aspekt der Fortbildung des Rechts spielte auch in den justizpolitischen Diskussionen des 19. Jahrhunderts eine Rolle253. 1806 waren mit dem Heiligen Römischen Reich seine beiden höchsten Gerichte, das Reichskammergericht und der Reichshofrat, untergegangen. Nachdem sich die deutschen Staaten 1847 zur Annahme eines gleichen Gesetzbuchs über Handels- und Wechselrecht geeinigt hatten, trat wieder das Bedürfnis nach einem höchsten Bundesgericht hervor, das die Einheitlichkeit der Rechtsprechung auf diesen Gebieten wahren und das Recht fortentwickeln sollte254. Entsprechende Forderungen wurden 1860 auf dem ersten Deutschen Juristentag und dann 1861 auf dem Allgemeinen Deutschen Handelstag erhoben. Es wurde angeregt, dass »durch Vereinbarungen der Deutschen Regierungen und Stände zur Erhaltung der Einheit und gemeinsamen Fortbildung des deutschen Handelsrechtes baldmöglichst ein gemeinsamer Gerichtshof ins Leben treten« möge. Schon hier wurde die Fortbildung des Rechts als gleichwertige Aufgabe des erwünschten Gerichts neben die Wahrung der Einheitlichkeit gesetzt255. Freilich ist der Begriff der Fortbildung des Rechts in den justizpolitischen Diskussionen des 19. Jahrhunderts nicht als Gegenbegriff zur Auslegung verwendet worden. Entsprechend dem heutigen prozessualen Sprachgebrauch256 stand er allgemein für neue richtungsweisende Entscheidungen des Obergerichts. d. Die Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch In den veröffentlichten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch findet sich, soweit ersichtlich, der Ausdruck Rechtsfortbildung nicht und »Fortbildung des Rechts« nur ganz am Rande. Die Entwürfe enthielten keine Vorschriften über die Auslegung und die analoge Anwendung der Gesetze. Einzelne Aspekte der Problematik wurden in den Entwurfsbegründungen unter der Überschrift »Rechtsnormen« angesprochen. Die einschlägigen Ausführungen nehmen in den Motiven der ersten Kommission einen geringen und in den Protokollen der zweiten Kommission fast keinen Raum ein257. Vornehmlich begründen sie, warum in den
252 Hierzu Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 1986, S. 158 ff., insb. S. 166 f.; J. Schröder, Gesetzesauslegung und Gesetzesumgehung, 1985, S. 34 ff. 253 Zum Folgenden Lobe, in: Lobe (Hrsg.), Fünfzig Jahre Reichsgericht, 1929, S. 1 ff. 254 Lobe, in: Lobe (Hrsg.), Fünfzig Jahre Reichsgericht, 1929, S. 1, 3. 255 Besonders hervorgehoben von Lobe, in: Lobe (Hrsg.), Fünfzig Jahre Reichsgericht, 1929, S. 1, 3, der außerdem auf der folgenden Seite darauf hinweist, dass der Präsident des Bundesoberhandelsgerichts bei dessen Eröffnung im Sommer 1870 in Leipzig die Fortentwicklung des Rechts als Aufgabe des Gerichtshofs betont habe. 256 Dazu II.2.l. und IV.2. 257 Motive, S. 14 bis 17; Protokolle, S. 13 f. (ein Satz); s. Mugdan, Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 365 f. und 568.
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Entwürfen keine Methodenfragen entschieden wurden. Man kann insoweit von einer Methodenabstinenz sprechen. aa. Die gängige Bewertung, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hätten der strengste Positivismus und das Dogma von der Lückenlosigkeit der Gesetze geherrscht258, wird durch die Materialien freilich nicht bestätigt. Zu Regeln »für die logische Thätigkeit der Auslegung« schrieb Gebhard, der Redaktor des Allgemeinen Teils, in den Motiven: »Im Entw. ist von jeder einschlagenden Vorschrift Abstand genommen, eine Bestimmung, welche mehr nicht bezwecken würde, als anzuerkennen, daß der Auslegende nicht an dem Worte haften dürfe, ist überflüssig, weil selbstverständlich. Besondere Bestimmungen … können nur leitende Gesichtspunkte zum Ausdrucke bringen, deren Erforschung und Darlegung der Theorie angehört. … Auch die Entscheidung über Meinungsverschiedenheiten, welche die Grenze erlaubter und gebotener Auslegung betreffen, muß der durch keine positive Vorschrift gehemmten Jurisprudenz überlassen bleiben«259. Zur Analogie heißt es unter anderem: »Kein Gesetz kann in dem Sinne vollständig sein, daß es für jedes denkbare, in den Rahmen des von ihm behandelten Rechtsstoffes fallende Verhältniß eine unmittelbar anwendbare Vorschrift an die Hand giebt. … Die ihnen zu Grunde liegenden Prinzipien tragen den Keim weiteren Ausbaues in sich. Dieser Ausbau vollzieht sich im Wege der Analogie. …Läßt sich mittels der Gesetzesanalogie zu keinem Ergebnisse gelangen, so ist die Entscheidung aus dem Geiste des gesammten, als ein Ganzes aufgefassten Rechtes abzuleiten (Rechtsanalogie). … Bilden im Laufe der Zeit sich neue Verhältnisse, oder ändern sich im Flusse des Lebens bestehende Verhältnisse dergestalt, daß die Voraussetzung hinwegfallen sollte, unter welcher eine im Gesetze ausgesprochene Norm auf sie anwendbar war, so reicht auch in Ansehung solcher Verhältnisse, sofern nicht schon die Gesetzesanalogie zutrifft, die Rechtsanalogie aus. Die Berücksichtigung der sog. Natur der Sache ist dabei nicht ausgeschlossen, aber die Entscheidung darf nicht aus Momenten genommen werden, welche außerhalb des positiven Rechtes liegen; die faktische Natur des betr. Verhältnisses muß ergründet und letzteres derjenigen Norm unterstellt werden, welche sich aus den allgemeinen, dem positiven Rechte zu Grunde liegenden Prinzipien und der in ihrer Eigenart erkannten thatsächlichen Gestaltung mit logischer Konsequenz ergiebt«260. In den
258 So fasst Coing die früher auch von ihm vertretene herrschende (rechtsgeschichtliche) Ansicht zusammen, s. Coing, in: J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 13. Bearbeitung 1995, Einl zum BGB Rn. 204; ebenso Coing/Honsell, in: J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Neubearbeitung 2004, Einl zum BGB Rn. 204. 259 Motive, S. 15, abgedruckt bei Mugdan, Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 365. 260 Motive, S. 16 f., abgedruckt bei Mugdan, Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 365 f.; s. auch Motive, S. 8, abgedruckt bei Mugdan, a.a.O., S. 363, im Zusammenhang mit dem Gewohnheitsrecht: »Handelt es sich um Verhältnisse, welche in keinem der im Gesetze ausgesprochenen Rechtssätze ihre Regelung finden, so hat der Richter an der Hand der Gesetzes- oder Rechtsanalogie die Norm zu suchen, welche auf das nach Wesen und Zweck, nach seiner inneren Natur richtig gewürdigte Verhältniß gemäß dem Geiste des positiven Rechts anzuwenden ist«.
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Protokollen ist die Rede davon, dass »Analogie und Auslegung im engsten Zusammenhange mit einander stünden«261. bb. Die Ausdrücke »Fortbildung des Rechtes« und »fortbildende Tätigkeit des Richters« fielen im Zusammenhang mit dem Gewohnheitsrecht, welches in den Motiven und Protokollen auf breiterem Raum erörtert wurde als die Gesetzesauslegung. Zur angeblichen Unentbehrlichkeit des Gewohnheitsrechts wegen eines untätigen Gesetzgebers wurde in den Motiven angemerkt: »Andererseits tritt in Ermangelung eines solchen gesetzgeberischen Einschreitens die Jurisprudenz in ihre Rechte. Der Einfluß, welchen die in theoretischer und praktischer Arbeit sich bethätigende Wissenschaft auf die Fortbildung des Rechts zu üben vermag, muß unumwunden und rückhaltslos als ein vollberechtigter anerkannt werden. … Die wohlthätigen Wirkungen der Kodifikation sind durch die freie wissenschaftliche Behandlung des Rechtsstoffes bedingt«262. In den Protokollen hielt man als Auffassung der Mehrheit der Kommissionsmitglieder zum Gewohnheitsrecht neben anderem fest: »Immerhin werde sich auf manchen Gebieten, namentlich durch die einheitliche Rechtsprechung und die dadurch beeinflußte Anschauung der betheiligten Berufskreise, einheitliches Gewohnheitsrecht bilden. Rechtssätze, die sich in der Judikatur unter dem Namen der Analogie, der einschränkenden oder ausdehnenden Auslegung, der feststehenden Praxis und dergl. herausbildeten, seien in Wahrheit nichts als Gewohnheitsrecht, und dieses mit Fug und Recht ein Produkt der fortbildenden Thätigkeit des Richters«263. cc. Festzuhalten ist: Regeln über Auslegung und analoge Anwendung der Gesetze enthielten weder die beiden Entwürfe noch das spätere Bürgerliche Gesetzbuch. In den Motiven und den Protokollen ist, soweit ersichtlich, nicht von Rechtsfortbildung und lediglich an jeweils einer Stelle von Fortbildung des Rechts bzw. von der fortbildenden Tätigkeit des Richters die Rede. Der Begründung des ersten Entwurfs, der sich in § 2 (noch) gegen das Gewohnheitsrecht erklärt hatte264, ist die Vorstellung zu entnehmen, dass das Gesetzesrecht durch Gesetzes- oder Rechtsanalogie fortzubilden sei. In den Protokollen ist das Objekt der fortbildenden Tätigkeit unklar, weil nun Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht als Rechtsquellen anerkannt wurden und sich in ihnen ansonsten nichts zum Thema findet. Die Fortbildung des (Gesetzes-)Rechts war also bei der Abfassung der Entwürfe bekannt, wurde aber nicht in diese aufgenommen. In den Motiven wurde sie nur nebenbei angesprochen. Die Protokolle enthalten insofern allenfalls Andeutungen. 261 Protokolle, S. 14, abgedruckt bei Mugdan, Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 568. 262 Motive, S. 7, s. Mugdan, Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 362. 263 Protokolle, S. 8774, s. Mugdan, Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 570. »Fortbildende Thätigkeit« kann sich hier auf Gewohnheitsrecht und/oder Gesetzesrecht beziehen. 264 So Motive, S. 6, abgedruckt bei Mugdan, Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 362.
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e. Die Terminologie im frühen 20. Jahrhundert Enneccerus sprach 1909 in seinem Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts unter anderem auch von der Fortentwicklung bzw. Fortbildung des Inhalts des Gesetzes und von Fortbildung des (Gesetzes-)Rechts265. Als Gegenbegriff zur Auslegung, deren Ziel er in der Ermittlung des im Gesetz zum Ausdruck gekommenen Willens des Gesetzgebers sah, wählte er jedoch »Rechtsfindung«266, worunter er die Ausdehnung und Restriktion des Gesetzes und die abändernde Ausgestaltung des gesetzgeberischen Gedankens sowie das Finden der Entscheidungsnorm durch freies richterliches Ermessen zum Ausfüllen von (Gesetzes-)Lücken fasste267. Heck verwendete in einem 1912 gehaltenen Vortrag verschiedentlich »Fortbildung des Rechts«268 und an einer Stelle den Ausdruck Rechtsfortbildung269. In seinem grundlegendem, 318 Seiten langem Aufsatz über Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz aus dem Jahre 1914 ist dann an verschiedenen Stellen von Fortbildung des Rechts270, von Gebotsfortbildung271, schlicht von Fortbildung272 und auch von Rechtsfortbildung273 die Rede. Meist wird hiermit die Fortbildung der gesetzgeberischen Interessenbewertung, teils die Fortbildung der Gesetzesworte bezeichnet. Heck schreibt zudem von freier Auslegung274. Zentrale Formulierung ist freilich die allenthalben verwendete (richterliche) Gebotsbildung275. Auch in anderen Werken aus dieser Zeit findet sich der Begriff »Rechtsfortbildung«, etwa bei Radbruch, der Savignys Ansichten über die »Rechtsfortbildung« skizziert276. Es ist möglich, dass Savignys »Fortbildung des Rechts« schon früher gelegentlich zu »Rechtsfortbildung« verkürzt worden ist. Rechtsfortbildung war damals freilich kein klar konturierter oder gar ein die Diskussion beherrschender Begriff. Selbst im Register von Hecks »Begriffsbildung« sucht man die Worte Rechtsfortbildung oder Fortbildung des Rechts vergeblich277. Rechtsschöpfung, Richterrecht278, richterliche Lückenfüllung279, soziolo265 Enneccerus, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Allgemeiner Teil, 4. u. 5. Aufl. 1909, S. 106 f., 114. 266 Enneccerus, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Allgemeiner Teil, 4. u. 5. Aufl. 1909, S. 106, womit er ausdrücklich von seiner bisherigen Terminologie abwich. 267 Enneccerus, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Allgemeiner Teil, 4. u. 5. Aufl. 1909, S. 113 ff. 268 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1932, S. 10, 32, 38, 40, 41, 45. 269 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1932, S. 45, wo im Zusammenhang mit der von Heck vorgeschlagenen Fortbildung des Rechts im Wege der Rechtsverordnung von einem »leichteren Weg der Rechtsfortbildung« geschrieben wird. 270 Heck, AcP 112 (1914), 1, 88, 96, 181, 189, 246, 302, 303. 271 Heck, AcP 112 (1914), 1, 53. 272 Heck, AcP 112 (1914), 1, 53, 54, 65, 101, 182, 238, 241, 259, 273, 304, 305, 306. 273 Heck, AcP 112 (1914), 1, 6, 103, 104, 105, 119, 179, 193, 230, 247, 284, 302, 303, 305, 306. 274 Heck, AcP 112 (1914), 1, 232. Zu beachten ist, dass Heck – wie Savigny – auch die Rechtsfindung als Ganze »Auslegung« nennt, vgl. etwa a.a.O., S. 263 zum Ziel der richterlichen Auslegung und S. 276 zur Auslegungslehre Kohlers. 275 Heck, AcP 112 (1914), 1 ff. 276 Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 5. u. 6. Aufl. 1925, S. 43 f. 277 Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 225 und 227. Im Text findet man Fortbildung des Rechts dort auf S. 107 f. 278 Danz, Richterrecht, 1912, insb. S. 20. 279 Zitelmann, Lücken im Recht, 1903.
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gische280 und vor allem »Freie Rechtsfindung«281 waren in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Schlagworte282, welche die methodischen Auseinandersetzungen beherrschten. Im Titel eines Beitrages findet sich der Begriff »Rechtsfortbildung«, soweit ersichtlich, erstmals im Jahr 1929. Ernst Fuchs gab seiner Kritik der von ihm so genannten falschen Formalbegründung vom eindeutigen Wortlaut die Überschrift »Rechtsfortbildung trotz klaren Wortlauts«283. Der zentrale Terminus seines Aufsatzes war freilich nicht Rechtsfortbildung284, sondern »soziologische Rechtsfindung = soz. Rf.«285. f. § 137 GVG und das »Volksgesetzbuch« 1935 wurde »Fortbildung des Rechts« zu einem Gesetzesbegriff. Der 1942 vorgelegte Entwurf des ersten Teilstücks für das »Volksgesetzbuch der Deutschen« enthielt dann sogar das Wort »Rechtsfortbildung«. aa. Artikel 3 des Gesetzes vom 28.6.1935 reformierte das Vorlageverfahren beim Reichsgericht286. Es wurden ein Großer Senat für Zivilsachen und ein Großer Senat für Strafsachen gebildet. Neben die Divergenzvorlage stellte man die in § 137 Abs. 1 GVG neu geschaffene Grundsatzvorlage. Die Vorschrift lautete: »Der erkennende Senat kann in einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung die Entscheidung des Großen Senats herbeiführen, wenn nach seiner Auffassung Fortbildung des Rechts oder Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung es erfordern«. Damit war »Fortbildung des Rechts« zu einem gesetzlichen Tatbestandsmerkmal geworden. Erklärtes Ziel der Reform war es, die Rechtsprechung mit den zum Durchbruch strebenden neuen Grundanschauungen des Nationalsozialismus im Einklang zu halten287. Was sich der Gesetzgeber von den Änderungen versprach, zeigen auch die Ausführungen zu Artikel 2 des Gesetzes vom 28.6.1935, welcher das Reichsgericht von Bindungen an alte Urteile befreite, indem er bestimmte, dass das Reichsgericht bei der Entscheidung über eine Rechtsfrage von einer Entscheidung abweichen konnte, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen war. Zur Begründung dieser Regelung, welche auch und vor allem die Pflicht zur 280
Wüstendörfer, AcP 110 (1913), 219. Ehrlich, Freie Rechtfindung und freie Rechtswissenschaft, 1903. 282 Vgl. außer den bereits genannten noch die Titel der Nachweise aus der Literatur bis 1912 im Anhang bei Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1932, S. 47 f. 283 Fuchs, LZ 1929, Sp. 286 ff. = Fuchs, in: Foulkes (Hrsg.), Ernst Fuchs, Gesammelte Schriften über Freirecht und Rechtsreform, Band 3, 1975, S. 168 ff. 284 Der Begriff wird, soweit ersichtlich, im Text nur zweimal verwendet und davon einmal als Rechtsfortbildung gegen den Wortlaut näher erläutert, s. Fuchs, LZ 1929, Sp. 286, 292 und 306 = Fuchs, in: Foulkes (Hrsg.), Ernst Fuchs, Gesammelte Schriften über Freirecht und Rechtsreform, Band 3, 1975, S. 168, 169 und 176. 285 Fuchs, LZ 1929, Sp. 286 und allenthalben = Fuchs, in: Foulkes (Hrsg.), Ernst Fuchs, Gesammelte Schriften über Freirecht und Rechtsreform, Band 3, 1975, S. 168 ff. 286 RGBl. I, 844, 845 f. 287 So Bakker, Grenzen der Richtermacht, 1994, S. 28, unter Berufung auf zeitgenössische Stellungnahmen. 281
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
Divergenzvorlage einschränkte, wurde unter anderem ausgeführt288: »Das Reichsgericht als höchster deutscher Gerichtshof ist berufen, darauf hinzuwirken, daß bei der Auslegung des Gesetzes dem durch die Staatserneuerung eingetretenen Wandel der Lebens- und Rechtsanschauung Rechnung getragen wird«. Im Schrifttum heißt es, dass mit der Einführung der Grundsatzvorlage durch den nationalsozialistischen Gesetzgeber erstmals im deutschen Recht die Aufgabe der Richter zur Rechtsfortbildung ausdrücklich normiert worden sei, um die völkische Umdeutung der Rechtsordnung durch die Rechtsprechung gezielt zu ermöglichen und zu fördern289. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass in § 137 Abs. 1 GVG nicht von Rechtsfortbildung, sondern von Fortbildung des Rechts die Rede war. Wie die spätere Entwicklung zeigte, muss Fortbildung des Rechts nicht als Rechtsfortbildung im methodischen Sinne und damit als Gegenbegriff zur Auslegung verstanden werden: Im Prozessrecht kann es sinnvoll sein, jede neue Erkenntnis des geltenden Rechts als »Fortbildung« desselben zu bezeichnen290, so dass die Fortbildung des Rechts nicht nur im Wege der Rechtsfortbildung, sondern auch durch Auslegung erfolgen kann291. Angesichts der konkreten Regelungsumstände des § 137 Abs. 1 GVG von 1935 liegt es nahe, ein weites Verständnis von Fortbildung des Rechts zu unterstellen, welches die Auslegung in offenen Grundsatzfragen einbezieht. Der Begriff der Fortbildung des Rechts soll durch das Reichsgericht nicht näher konkretisiert worden sein292. Das wird im Schrifttum darauf zurückgeführt, dass die Fachsenate des Reichsgerichts von der Vorlagemöglichkeit nach § 137 GVG nur äußerst selten Gebrauch gemacht und die völkische Rechtserneuerung in den meisten Rechtsgebieten vorauseilend selbst betrieben hätten293. Wichtiger dürfte aber der Gesichtspunkt des Vorlageermessens sein. Nach § 137 Abs. 1 GVG in der Fassung aus dem Jahr 1935 »kann« der erkennende Senat die Entscheidung des Großen Senats herbeiführen, wenn »nach seiner Auffassung« die Fortbildung des Rechts es erfordert. Dass bei der Grundsatzvorlage auch heute noch ein enger Zusammenhang zwischen Vorlageermessen und Definitionsbemühungen besteht, ist bereits ausgeführt worden294: Was unter Fortbildung des Rechts zu verstehen ist, kann letztlich dahinstehen, wenn der erkennende Senat frei und unkontrolliert über diese Vorlagevoraussetzungen entscheidet. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass der Begriff der Fortbildung des Rechts nicht mit Inhalt gefüllt wurde und leer blieb.
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RGBl. I, 845. Bakker, Grenzen der Richtermacht, 1994, S. 34. 290 So Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 145; s. auch bereits Lames, Rechtsfortbildung als Prozesszweck, 1993, S. 26 f. 291 S. im Einzelnen vorstehend IV.2.b. 292 Zwischen 1935 und 1945 seien keinerlei Grundsätze zur inhaltlichen Konkretisierung der »Rechtsfortbildungsvorlage« herausgebildet worden, so Bakker, Grenzen der Richtermacht, 1994, S. 34. 293 Bakker, Grenzen der Richtermacht, 1994, S. 33 f., der auf S. 30 f. von insgesamt neun Vorlagen an den Großen Senat für Zivilsachen berichtet, von denen zwei Divergenz- und sieben Grundsatzvorlagen waren. 294 S. im Einzelnen unter IV.1.b. 289
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bb. Der Begriff »Rechtsfortbildung« findet sich in dem von der Akademie für Deutsches Recht vorgelegten erläuterten Entwurf des ersten Teilstücks für das »Volksgesetzbuch der Deutschen«295, welches das ungeliebte »liberale« Bürgerliche Gesetzbuch ersetzen sollte296. Das »große Werk des Volksgesetzbuches« sollte durch 25, in drei Stücke gegliederte, von den Zivilrechtsprofessoren Hedemann, Lehmann und Siebert erarbeitete297 Grundregeln eröffnet werden, die als Bestandteil des Gesetzes selbst geltende Rechtssätze sein sollten298. Hedemann hat bei seiner allgemeinen Erläuterung der Grundregeln betont, dass diese das Leben unmittelbar erfassen wollten und die Fundamente des völkischen Daseins darbieten, sich andererseits aber fern von einer künstlichen Neuerungssucht halten würden und als Beleg unter anderem ausgeführt: » ... sie kommen auch ihrerseits auf die »Auslegung« der Gesetze zu sprechen …«299. Der Rechtsfindung wurde ein relativ großer Teil der Grundregeln gewidmet. (1) Der Grundregeln »Zweites Stück« trägt die Überschrift »Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung« und enthält fünf ausführliche Bestimmungen300. Nach Grundregel 19 ist das höchste Ziel aller deutschen Rechtswahrer »das Recht im Dienst der Volksgemeinschaft zu sichern und zu entfalten«. Grundregel 20 enthält unter anderem Hinweise zur Entscheidung des Richters: »Er spricht Recht nach freier, aus dem gesamten Sachstand geschöpften Überzeugung und nach der von der nationalsozialistischen Weltanschauung getragenen Rechtsauslegung.« Die beiden folgenden Grundregeln lauten vollständig so: »21. Die Auslegung der Gesetze ist nicht an ihren Wortlaut gebunden, sondern hat stets den sie rechtfertigenden Zweck zu berücksichtigen. Alle Begriffe und Vorschriften sind so auszulegen und zu handhaben, daß sie einen möglichst hohen Lebenswert für die deutsche Volksgemeinschaft ergeben. 22. Zur Verwirklichung des Gesetzeszweckes kann eine Rechtsvorschrift auf ähnliche, gleich zu behandelnde Lebensvorgänge erstreckt werden (entsprechende Anwendung) oder so eingeschränkt werden, daß ihre Anwendung auf Lebensvorgänge vermieden wird, die durch sie unangemessen geregelt würden (einschränkende Anwendung). Kann dem Gesetz eine ausreichende Vorschrift nicht entnommen werden und läßt sich auch aus dem Gewohnheitsrecht kein Rechts295 Hedemann/Lehmann/Siebert, Volksgesetzbuch, Grundregeln und Buch I, Entwurf und Erläuterungen, 1942. 296 Zu diesem nicht realisierten zentralen nationalsozialistischen Gesetzgebungsvorhaben geben nähere Auskunft die zeitgenössischen Berichte des Mitglieds der Akademie für Deutsches Recht Hedemann, DR 1941, 1913 ff.; ders., Das Volksgesetzbuch der Deutschen, 1941, insb. S. 3 ff. 297 Hedemann, in: Hedemann/Lehmann/Siebert, Volksgesetzbuch, Grundregeln und Buch I, Entwurf und Erläuterungen, 1942, S. 3. 298 Hedemann, in: Hedemann/Lehmann/Siebert, Volksgesetzbuch, Grundregeln und Buch I, Entwurf und Erläuterungen, 1942, S. 37, mit bemerkenswertem Pathos; zu den Grundregeln bereits Hedemann, Das Volksgesetzbuch der Deutschen, 1941, S. 28 ff., wo es auf S. 30 heißt: »Ein Volk, das mitten in der Rechtserneuerung steht, braucht einen solchen, weithin sichtbaren Platz, wo sein juristisches Glaubensbekenntnis niedergelegt ist«. 299 Hedemann, in: Hedemann/Lehmann/Siebert, Volksgesetzbuch, Grundregeln und Buch I, Entwurf und Erläuterungen, 1942, S. 39. 300 Hedemann/Lehmann/Siebert, Volksgesetzbuch, Grundregeln und Buch I, Entwurf und Erläuterungen, 1942, S. 13 f.
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satz gewinnen, so ist die Entscheidung aus den Leitgedanken dieser Grundregeln zu treffen.« Grundregel 23 bestimmt, dass die Erklärungen der Volksgenossen im Rechtsverkehr nach den gleichen Grundsätzen auszulegen sind. (2) Schon in seinem Bericht über die Arbeit am Volksgesetzbuch hatte Hedemann mitgeteilt, dass das Wirken des Richters in den Grundregeln mit einigen markanten Sätzen darzustellen sei: »Dies gilt über die gewöhnliche »Auslegungs«-Tätigkeit hinweg bis zu jener Wirksamkeit, wo der Richter gestaltend und fortbildend in das Rechtsleben eingreift«301. Nun machte Hedemann kurze Einzelbemerkungen zu manchen der 25 Grundregeln302. Zu Grundregel 21 heißt es, dass der zweite Satz der Auslegung neue zukunftswertige Bahnen weise. Grundregel 22 fasse die Fortbildung des Rechts ins Auge, denn man sage »richtig, ein gutes Gesetz soll selbst seine Weiterentwicklung legalisieren«. Zudem wird die hohe Bedeutung des Schlussstückes der Grundregel 22 von Hedemann an zwei Stellen der Erläuterungen der Grundregeln angesprochen303. (3) Betrachtet man die Überschrift des Rechtsfindungsabschnitts und die einzelnen Grundregeln in dem Entwurf für das Volksgesetzbuch sowie die Erläuterungen von Hedemann in einer Gesamtschau, dann drängt sich der Eindruck auf, dass die Rechtsfortbildung bzw. Fortbildung des Rechts im Jahre 1942 nicht mehr als ein Rechts- und Entscheidungsfindungsinstrument betrachtet wurde, das besonders zu legitimieren sei. Es ist zu vermuten, dass sich hier die methodischen Folgen von neun Jahren nationalsozialistischer (Un-)Rechtswirklichkeit zeigten. Freisler hatte den Richter im Nationalsozialismus schon 1940 als »Bruder des Gesetzgebers« bezeichnet304, der das Recht aus dem gesunden Volksempfinden zu schöpfen und das Gesetz so auszulegen habe, dass das Ergebnis der Rechtsfindung der von der Führung erstrebten Gemeinschaftsordnung entspreche305. Die Erneuerung des Zivilrechts im Sinne der neuen Führung war vornehmlich von der Rechtsprechung und einer sie methodisch und inhaltlich anleitenden Rechtswissenschaft geleistet worden306. Auch wenn das überkommene Gesetzesrecht nur zum Teil offen fortgebildet wurde, war die Umwertung aller Werte im Ergebnis nicht zu übersehen. Vor diesem Hintergrund mag die Rechtsfortbildung als etwas mittlerweile Alltägliches angesehen worden sein. Mit dem Schlagwort von der unbegrenzten Auslegung ist freilich noch ein weiterer Aspekt angesprochen. Die Grenzen zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung verschwimmen in dem in den Grundregeln 20 bis 22 dokumentierten Rechtsfindungsmodell: Die Entscheidung des Richters und seine Rechtsausle-
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Hedemann, Das Volksgesetzbuch der Deutschen, 1941, S. 31 f. Zu den Grundregeln 21 und 22 finden sie sich auf S. 45, s. Hedemann, in: Hedemann/ Lehmann/Siebert, Volksgesetzbuch, Grundregeln und Buch I, Entwurf und Erläuterungen, 1942. 303 Hedemann, in: Hedemann/Lehmann/Siebert, Volksgesetzbuch, Grundregeln und Buch I, Entwurf und Erläuterungen, 1942, S. 41 und 45. 304 Freisler, DGWR 1940, 265, 266 und 268, unter Abwandlung der alten Formel vom Richter als dem Diener des Gesetzgebers. 305 Freisler, DGWR 1940, 265, 270. 306 Grundlegend Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005. 302
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gung werden von der nationalsozialistischen Weltanschauung getragen. Die Auslegung der Gesetze wird ausdrücklich nicht an deren Wortlaut gebunden. Die Gesetze sind vielmehr zweckbezogen so auszulegen, dass sie einen möglichst hohen Lebenswert für die deutsche Volksgemeinschaft ergeben. Zur Verwirklichung dieser Gesetzeszwecke kann eine Rechtsvorschrift entsprechend oder einschränkend angewendet werden. Lücken sind notfalls aus den Leitgedanken der Grundregeln zu schließen, also im Interesse der Volksgemeinschaft und zum Wohl des deutschen Volkes entsprechend der nationalsozialistischen Weltanschauung. Da die Basisideologie alle »Rechtsfindungstypen« beherrscht, ist es bedeutungslos, ob man von Auslegung oder Rechtsfortbildung spricht. Die Anerkennung der Fortbildung des Rechts als richterliche Aufgabe und die Aufnahme des Begriffs der Rechtsfortbildung in den Entwurf eines Volksgesetzbuches brachte keinen nennenswerten Rationalitätsgewinn, weil bereits die Auslegung der Gesetze unbegrenzt für ideologische Zwecke geöffnet worden war. g. Der Wandel des Fachsprachgebrauchs in der Nachkriegszeit Der Begriff Rechtsfortbildung setzte sich im deutschen juristischen Sprachgebrauch in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg allmählich durch. aa. Im Titel eines Beitrags ist das Wort im Jahre 1948 von Betti verwendet worden307. Er hatte den Ausdruck von Heck übernommen308. Die Bezeichnung ist auch in Essers Werk über Grundsatz und Norm in der Fortbildung des Privatrechts309 enthalten, allerdings nicht an zentraler Stelle und seltener als das vom Autor bevorzugte »Richterrecht«, das auch allein im Schlagwortverzeichnis genannt wird310. bb. Im ausführlichen Stichwortverzeichnis der 14. Auflage des umfangreichen Nipperdeyschen Standardlehrbuchs zum Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Rechts von 1955 sucht man »Rechtsfortbildung« gleichfalls noch vergeblich311. Der Text der zehn Paragraphen zum Unterabschnitt »Ermittlung und Anwendung des Rechts« enthält den Begriff, soweit ersichtlich, lediglich einmal versteckt in einer Fußnote, wo »abändernde Rechtsfortbildung« zur Charakterisierung eines Gedankens der Tübinger Schule der Interessenjurisprudenz verwendet wird312. 307 Betti, Ergänzende Fortbildung als Aufgabe der richterlichen Gesetzesauslegung, FS Raape, 1948, S. 379 ff. 308 S. Betti, FS Raape, 1948, S. 379, 397. 309 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956, S. 242 f. (im Zusammenhang mit § 137 GVG) und 259. 310 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956, S. 393. 311 Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Zweiter Halbband, 14. Aufl. 1955, S. 1152. 312 Sowie als Synonym für abändernde Rechtsfindung, s. Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halbband, 14. Aufl. 1952, S. 213. Am Rande gebraucht Nipperdey an jeweils zwei Stellen außerdem die Begriffe Fortbildung des Rechts und Fortentwicklung des Rechts, vgl. a.a.O., S. 210 und 216 Fn. 10 bzw. S. 214 Fn. 5 und 216 f.
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»Rechtsfortbildung« findet hier also praktisch nicht statt. Demgegenüber ist der Begriff in der 1959 bzw. 1960 erschienenen 15. Auflage des Lehrbuches dann sowohl im Sachregister313 als auch an zahlreichen Stellen in dem Text über die Ermittlung und Anwendung des Rechts vertreten. Zwar gab Nipperdey die von Enneccerus übernommene Unterscheidung zwischen Auslegung einerseits und ergänzender und abändernder Rechtsfindung andererseits nicht auf. An den Stellen, an denen Veränderungen vorgenommen wurden, benutzte er Rechtsfortbildung jetzt aber als Oberbegriff für ergänzende und abändernde Rechtsfindung314 bzw. als Synonym für Rechtsfindung315 sowie als Gegenbegriff zur Auslegung316 und zur Rechts- und Gesetzesanwendung317. Das deutet auf einen Wandel des juristischen Sprachgebrauchs hin, der sich auch bei anderen Autoren abzeichnet. cc. So hatte Larenz noch 1958 von richterlicher Rechtsschöpfung und von richterlicher Rechtsfindung gesprochen318. Seine 1960 erschienene Methodenlehre der Rechtswissenschaft enthielt dann im systematischen Teil ein Kapitel mit dem Titel »Die (offene) Fortbildung des Rechts durch Rechtswissenschaft und Rechtsprechung«. Als viertes von insgesamt fünf Kapiteln schloss es sich unmittelbar an dasjenige über »Die Auslegung der Gesetze« an und begann mit einem ausführlichen ersten Abschnitt über »Die (offene) Rechtsfortbildung als Fortsetzung der Auslegung«, in dem die Wesensähnlichkeit von Interpretation und wissenschaftlicher Rechtsfortbildung betont wurde, die zwei Stufen eines gedanklichen Verfahrens seien319. Zur Erläuterung heißt es unter anderem320: »Die methodisch geleitete Rechtsfortbildung ist nur die Fortsetzung der »eigentlichen« Auslegung über deren immanente Grenze, den möglichen Wortsinn, hinaus. Das aber wäre nicht möglich, wäre nicht umgekehrt schon die einfache Auslegung »an sich«, wenn auch nicht für das Bewusstsein des Auslegenden selbst, der Beginn einer Rechtsfortbildung. Sie ist es, weil und sofern sie eine zuvor bestehende Unbestimmtheit des Ausdrucks in Bestimmtheit verwandelt, unter mehreren dem Wortsinn nach möglichen Bedeutungen eine als die »zutreffende« und damit von nun an als maßgeblich angesehene fixiert. … So ist schon die Gesetzesauslegung durch die Gerichte, ebenso wie die »Konkretisierung« eines »unbestimmten« Maßstabes in seiner Anwendung, vom Ergebnis her gesehen – wenn auch nicht ihrer Absicht nach – eine (verdeckte) Rechtsfortbildung. Die Auslegung kann sich daher auch gleichsam bruchlos in der offenen Rechtsfortbildung 313 Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Zweiter Halbband, 15. Aufl. 1960, S. 1636 mit Verweisen auf zwei ganze Paragraphen und vier weitere Textstellen. 314 Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halbband, 15. Aufl. 1959, S. 319 f., 328, 346 Fn. 6. 315 Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halbband, 15. Aufl. 1959, S. 342 Fn. 32, 344 Fn. 42, 345 Fn. 2, 346. 316 Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halbband, 15. Aufl. 1959, S. 328, 334 Fn. 8. 317 Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halbband, 15. Aufl. 1959, S. 328, 328 Fn. 16 318 Larenz, Wegweiser zu richterlicher Rechtsschöpfung, FS Nikisch, 1958, S. 275, 276, 281. 319 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1960, S. 273. 320 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1960, S. 273 und 274.
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fortsetzen«. In den beiden weiteren Abschnitten des Kapitels wurden dann zwei Arten von Rechtsfortbildungen unterschieden, und zwar »Die Ausfüllung von Gesetzeslücken« und »Die Umbildung der gesetzlichen Regelung und die Ausbildung neuer Rechtsinstitute«321. Die Grundstruktur des Rechtsfortbildungskapitels blieb trotz terminologischer und inhaltlicher Korrekturen und verschiedener Ergänzungen in den fünf weiteren Auflagen der Methodenlehre unverändert322. dd. Der Begriff Rechtsfortbildung wurde in der Folgezeit von Larenz323 und anderen Autoren324 in Aufsätzen und Vorträgen regelmäßig verwendet. Ab Mitte der sechziger Jahre trugen dann auch Monographien »Rechtsfortbildung« im Titel325. Ihre Zahl stieg in der Folgezeit kontinuierlich, wenngleich die Bezeichnung Richterrecht mindestens genauso beliebt war326. Längst ging es nicht mehr allein um rechtstheoretische Methodenuntersuchungen327, sondern auch und zunehmend um Arbeiten zu dogmatischen Fragen aus den einzelnen Teilrechtsgebieten328. Schon 1968 fand zwischen Richtern der fünf obersten Gerichtshöfe eine dreitägige Aussprache über »die richterliche Rechtsfortbildung« statt, in welcher »die teilnehmenden Richter der 5 obersten Gerichte sich gegenseitig darüber unterrichteten, welche Bedeutung die richterliche Rechtsfortbildung in der Rechtsprechung jedes dieser Gerichte hat und wo etwa kritische Grenzen dieser 321
Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1960, S. 279 ff., 303 ff. Insoweit gilt das zur 6. Auflage Ausgeführte entsprechend, s. oben II.1.a. und 2.a. 323 Larenz, Über das Verhältnis von Interpretation und richterlicher Rechtsfortbildung, FS Olivecrona, 1964, S. 384 ff.; ders., Richterliche Rechtsfortbildung als methodisches Problem, NJW 1965, 1 ff.; ders., Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965. 324 Vgl. etwa Ramm, Auslegung und gesetzesändernde Rechtsfortbildung, ArbuR 1962, 353 ff.; E. Stein, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Rechtsfortbildung durch die Rechtsprechung, NJW 1964, 1745 ff.; Zippelius, Zum Problem der Rechtsfortbildung, NJW 1964, 1981 ff. 325 S. Achtmann, Möglichkeiten und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung auf der Grundlage des Bonner Grundgesetzes, 1964/65. Im Untertitel findet sich der Begriff etwa bei Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz – Eine methodologische Studie über Voraussetzungen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung praeter legem, 2. Aufl. 1983 (1. Aufl. 1964) und bei Lieb, Die Ehegattenmitarbeit im Spannungsfeld zwischen Rechtsgeschäft, Bereicherungsausgleich und gesetzlichem Güterstand – zugleich ein Beitrag zur Rechtsfortbildung im Familienrecht, 1970. 326 Eine repräsentative Auswahl einschlägiger Publikationen bis Mitte der siebziger Jahre findet sich bei E. Schumann, in: Stein-Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Erster Band, 20. Aufl. 1984, Einleitung Rn. 24 Fn. 50. 327 Insb. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978; s. auch Gropp, Die Rechtsfortbildung contra legem, 1975; H. Zimmermann, Rechtsanwendung als Rechtsfortbildung, 1977. 328 Zunächst handelte es sich hierbei um Vorträge, vgl. aus dem Jahr 1966 Galperin, Rechtsfortbildung im Arbeitsrecht, 1968; 1968 referierten die Bundesrichter Pehle und Stimpel vor der Juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe über Richterliche Rechtsfortbildung im gewerblichen Rechtsschutz bzw. im Personenhandelsgesellschaftsrecht, s. Pehle/Stimpel, Richterliche Rechtsfortbildung, 1969, S. 1 ff., 15 ff.; zudem ist zu nennen der Vortrag von Biedenkopf, Die Betriebsrisikolehre als Beispiel richterlicher Rechtsfortbildung, 1970. Dann erschienen auch Monographien, vgl. aus dem Schrifttum bis Ende der siebziger Jahre neben der bereits genannten Habilitationsschrift von Lieb insb. Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung, 1969; Rauscher, Richterliche 322
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
Rechtsfortbildung berührt werden«329. 1972 wählte der Deutsche Sozialgerichtsverband die »Rechtsfortbildung durch die sozialgerichtliche Rechtsprechung« als Thema des Ersten Deutschen Sozialgerichtstages in Kassel330. ee. Dass der Begriff »Rechtsfortbildung« bereits Anfang der sechziger Jahre auch außerhalb des Wissenschaftsbetriebs ständig gebraucht worden und fester Bestandteil des allgemeinen juristischen Sprachgebrauchs gewesen sei, wird hier nicht behauptet. Man wird Rechtsfortbildung nach dem Gesagten immerhin etwa ab dieser Zeit als einen eingeführten Begriff der rechtswissenschaftlichen Fachsprache bezeichnen können. Wie die vorstehend zitierten Ausführungen von Larenz über das Verhältnis von Auslegung und Rechtsfortbildung beispielhaft zeigen, ist der Ausdruck freilich schon seitdem mit all den Unklarheiten behaftet, die in dem Abschnitt über »Rechtsfortbildung« im rechtsmethodischen Schrifttum detailliert geschildert worden sind331. h. Zwischenergebnis Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Blick in die Geschichte des jungen Begriffs Rechtsfortbildung kein früheres Begriffsverständnis gezeigt hat, auf das ohne weiteres für die Zwecke dieser Untersuchung zurückgegriffen werden könnte. Savignys »Fortbildung des Rechts«, deren Bedeutung für die Interpretation der Gesetze offen bleibt und die nur durch den Gegensatz zur »Auslegung der Gesetze« bestimmt wird, hat keine klaren Konturen, weil Auslegungsbegriff und Auslegungsziel bei Savigny entgegen dem ersten Eindruck nicht eindeutig sind. Die Ausführungen im Abschnitt über Auslegung und Analogie in den Motiven zum Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs lassen im Unterschied zu den Protokollen erkennen, dass das Gesetzesrecht nach den Vorstellungen von Gebhard durch Gesetzesanalogie und Rechtsanalogie fortgebildet werden sollte. »Fortbildung des Rechtes« findet sich in den Motiven, soweit ersichtlich, lediglich einmal im Abschnitt über die Entstehung der Rechtsnormen und wird dort nicht erklärt. Die Ausdrücke »Fortbildung des Rechts« in § 137 Abs. 1 GVG von 1935 und »Rechtsfortbildung« im Entwurf für das Volksgesetzbuch der Deutschen von 1942 sind nicht erläutert worden. Die Übergänge zur Auslegung scheinen fließend. »Fortbildung des Rechts« in § 137 Abs. 1 GVG von 1935 blieb vor allem wegen des Vorlageermessens des erkennenden Senats eine leere Worthülse. Das Wort Rechtsfortbildung, das in der breiten methodologischen Diskussion
Rechtsfortbildung im Arbeitsvertragsrecht, 1974; Westhoff, Die Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen – Rechtsanwendung, Rechtsfortbildung oder Rechtspolitik?, 1975; Marotzke, Das Anwartschaftsrecht – ein Beispiel sinnvoller Rechtsfortbildung?, 1977; Koller, Die Risikozurechnung bei Vertragsstörungen: eine Untersuchung zur Rechtsfortbildung auf dem Gebiet der materiellen Leistungserschwerung, Zweckstörung sowie Schadensersatzhaftung bei Sach- und Dienstleistungen, 1979. 329 Heusinger, in: Pehle/Stimpel, Richterliche Rechtsfortbildung, 1969, vor S. 1. 330 Deutscher Sozialgerichtsverband (Hrsg.), Rechtsfortbildung durch die sozialgerichtliche Rechtsprechung, 1973. 331 Oben unter II.
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der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts nur am Rande benutzt wurde, ist seit etwa Anfang der sechziger Jahre ein fester Bestandteil der rechtswissenschaftlichen Fachsprache. Seit jeher ist Rechtsfortbildung freilich ein »weicher« Begriff, der regelmäßig ohne nähere Erklärung und mit unterschiedlichen Bedeutungen gebraucht wird.
2. Die Drei-Ebenen-Modelle Der Sache nach ist die Unterscheidung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung allerdings viel älter, als die vorstehend geschilderten Äußerungen aus dem 19. und 20. Jahrhundert vermuten lassen könnten. Sie findet sich bereits in dem schon mehrmals angesprochenen332 sog. Drei-Ebenen-Modell der Rechtsfindung. Es ist zwischen dem klassischen Drei-Ebenen-Modell und modernen Abwandlungen zu unterscheiden. a. Das klassische Modell Das klassische Drei-Ebenen-Modell der Rechtsfindung333 soll bis zu Papinian zurückverfolgt werden können. Hiernach sind die Rechtsfindung secundum legem, die Rechtsfindung praeter legem und die grundsätzlich unzulässige Rechtsfindung contra legem zu unterscheiden. Die Rechtsfindung praeter legem, also nach bzw. infolge des Gesetzes, wird meist Auslegung genannt. Die Rechtsfindung praeter legem, m. a. W. diejenige neben dem Gesetz, steht für die Lückenfüllung. Die grundsätzlich unzulässige Rechtsfindung contra legem erfolgt gegen das Gesetz und wird auch als Gesetzesberichtigung bezeichnet. Der Begriff der Lücke, die herkömmlicherweise als planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes umschrieben wird, ist von zentraler Bedeutung für das klassische Modell334. Er grenzt die lückenfüllende Rechtsfindung praeter legem von der »schlichten«, das lückenlose Gesetz vollziehenden Rechtsfindung secundum legem einerseits und der das nicht lückenhafte Gesetz korrigierenden Rechtsfindung contra legem andererseits ab. Da der Begriff der Lücke unscharf und facettenreich ist335, sind die Grenzlinien zwischen den einzelnen Ebenen letztlich vage. Das zeigt sich etwa bei der Rechtsfindung intra legem, also innerhalb des Gesetzes. Dieser Terminus bezeichnet das Füllen sog. Delegationslücken, d. h. von Generalklauseln und besonders unbestimmten, generalklauselartigen Rechtsbegriffen. Die Rechtsfindung intra legem wird teils der ersten und teils der zweiten Ebene der Rechtsfindung zugeordnet. Außerdem bleibt die Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung, hier verstanden als Oberbegriff für die Rechtsfindung praeter und contra legem, beim Drei-Ebenen-Modell allgemein 332
Vorstehend unter I. und II. Hierzu Rhinow, Rechtsetzung und Methodik, 1979, S. 32 ff., 124 ff.; Biaggini, Verfassung und Richterrecht, 1991, S. 14, 68; jeweils m.w.N. 334 Hierzu und zum Folgenden bereits C. Fischer, ZfA 2002, 215, 228 ff. 335 Auf wessen Plan kommt es an? Meint Gesetz die geschriebene Vorschrift oder die gesamte Gesetzes- bzw. Rechtsordnung? – S. zum Lückenbegriff und den zahlreichen unterschiedlichen Arten von Lücken einführend Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 832 ff. 333
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
problematisch, weil es den Streit zwischen der »Theorie der Wortsinngrenze« und der »Gesetzessinntheorie«336 nicht lösen kann. Der Lückenbegriff erlaubt auch keine klare Grenzziehung zur Rechtsfindung contra legem, wie die Figur der nachträglichen oder sekundären Lücke anschaulich belegt. Hierunter versteht man solche Lücken, die erst nach dem Erlass des ursprünglich lückenlosen Gesetzes entstanden sind337. Wenn der Rechtsanwender eine nachträgliche Lücke bejaht, korrigiert er stets den Willen des damaligen Gesetzgebers und damit das Gesetz. Betroffen ist also nicht nur der Bereich der Lückenfüllung, sondern auch derjenige der Normberichtigung, also der Rechtsfindung contra legem. Im klassischen Drei-Ebenen-Modell scheint der Begriff des Gesetzes im Mittelpunkt zu stehen. Tatsächlich entscheidet aber der vage Lückenbegriff über die Zuordnung zu den einzelnen Stufen der Rechtsfindung, deren Übergänge fließend sind. Eine klare Bestimmung des Begriffs Rechtsfortbildung ist daher mit Hilfe dieses Modells nicht zu erreichen. b. Moderne Abwandlungen Die zahlreichen unterschiedlichen modernen Abwandlungen des Drei-EbenenModells lassen den Gegenstand der Rechtsfortbildung, ihre einzelnen Arten und die Abgrenzung zur Auslegung nicht zwangsläufig klarer hervortreten338. Das soll anhand des bekanntesten neueren Drei-Ebenen-Modells beispielhaft gezeigt werden. Auch Larenz unterscheidet drei Ebenen der Rechtsfindung: Die Auslegung, die gesetzesimmanente Rechtsfortbildung oder Lückenfüllung und die gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung, auch Rechtsfortbildung über den Plan des Gesetzes hinaus genannt339. Grenze der Auslegung sei der nach allgemeinem Sprachgebrauch noch mögliche äußerste Wortsinn des Gesetzes; was jenseits des sprachlich möglichen Wortsinns liege, sei Rechtsfortbildung340. Die gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung soll nur unter besonderen Voraussetzungen erlaubt sein, welche dahingegen faktisch derart gering sind341, dass die so genannte Grenze der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung zur einzig relevanten Voraussetzung wird: Die Grenze der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung liege dort, wo die geforderte Entscheidung nicht mehr allein mit rechtlichen Erwägun-
336 So Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 3. Aufl. 2005, S. 64; zum Streit über das Ziel der Auslegung bereits II.1.a.bb. 337 Vgl. Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 861. 338 Hierzu bereits II.2.n.dd. 339 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 366, 312 ff., 370 ff., 413 ff. Ursprünglich hatte er in seiner Methodenlehre anders differenziert, s. vorstehend 1.f.cc. sowie Fikentscher, Methoden des Rechts, Band III, 1976, S. 725. 340 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 322. – Gegen die Wortsinngrenze zu Recht Wank, Die juristische Begriffsbildung, 1985, S. 24 ff.; Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, 1988; s. auch Heck, AcP 112 (1914), 1, 121 und 156; Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 737. 341 Vgl. bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 426.
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gen begründet werden könne, sondern eine an Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten orientierte politische Entscheidung verlange342. Versucht man diese Konzeption zu bewerten, so ist zu berücksichtigen, dass Larenz die scheinbar klare Trennung zwischen den einzelnen Ebenen der Rechtsfindung tatsächlich nicht durchhält. Mit Hilfe der von ihm vertretenen objektivteleologischen Kriterien lässt sich das geltende geschriebene Recht unter dem Deckmantel der Gesetzesauslegung fortbilden. Die eher zufällige, sachlich nicht gerechtfertigte Wortsinngrenze stellt kein taugliches Instrument dar, um die Rechtsfortbildung im Gewand der Auslegung zu begrenzen. Mit der Natur der Sache, der aus seinen konkret-allgemeinen Begriffen hervorgegangenen Lehre von »Typen und Typenreihen«, den »rechtssatzförmigen Prinzipien« und seinen funktionsbestimmten Rechtsbegriffen verfügt Larenz außerdem über Instrumente, um außergesetzliche Einflussfaktoren im Rahmen einer zu weit verstandenen geltenden Rechtsordnung als »rechtliche Erwägungen« auf allen Ebenen der Rechtsfindung einfließen zu lassen. In praxi gehen hier Auslegung, Rechtsfortbildung und Rechtspolitik ineinander über. c. Bewertung Auch das Drei-Ebenen-Modell bietet also keine trennscharfe Umschreibung von Rechtsfortbildung. Das Modell hilft nicht weiter, weil seine klassische Variante auf dem vagen Lückenbegriff beruht und es bei all seinen Abwandlungen regelmäßig nicht gelingt, das Objekt »lex« präzise zu bestimmen und die einzelnen Stufen und Arten der Rechtsfortbildung voneinander und von der Auslegung abzugrenzen.
3. Zusammenfassung Rechtsfortbildung ist ein junger Begriff, dessen Vorgänger Savignys »Fortbildung des Rechts« war. Savigny unterschied in seinem 1840 veröffentlichten System des heutigen römischen Rechts ausdrücklich zwischen Auslegung und Fortbildung des Rechts, verbannte letztere aber aus der Auslegung der Gesetze, ohne ihr in seinem methodischen Konzept eine klare Rolle zuzuweisen. Die Grenzen zwischen »wahrer Auslegung« und »eigentlicher Fortbildung des Rechts« bleiben bei Savigny aus terminologischen und konzeptionellen Gründen offen343. Seine Unterscheidung setzte sich im 19. Jahrhundert nicht durch. Man hielt an der Rechtsfindung nach dem Grammatik-Logik-Schema fest. In justizpolitischen Diskussionen fiel der Terminus »Fortbildung des Rechts«, allerdings nicht als Gegenbegriff zur Auslegung. In den Motiven zum allgemeinen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuch aus dem Jahre 1881 wurde zwischen Auslegung und gesetzesrechtsfortbildender Analogie unterschieden; »Fortbildung des Rechtes« wird einmal an einer eher ent342 S. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 427 f. Solche Entscheidungen müsse der Gesetzgeber treffen. Den Gerichten fehle, abgesehen von den Fällen eines echten Rechtsnotstandes, die Kompetenz, Sozialgestaltung zu betreiben. 343 Kurze Zusammenfassung bereits unter 1.b.dd.
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legenen Stelle ohne Erläuterung verwendet344. Das Wort »Rechtsfortbildung« wurde von Heck und anderen in der breiten methodologischen Diskussion der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts am Rande gelegentlich statt »Fortbildung des Rechts« benutzt, freilich gleichfalls ohne Erklärungen. 1935 wurde »Fortbildung des Rechts« zu einem Gesetzesbegriff (§ 137 Abs. 1 GVG)345. »Rechtsfortbildung« findet sich in den für Volksgenossen und Rechtswahrer konzipierten zentralen Grundregeln des 1942 veröffentlichten Teilentwurfs für das große nationalsozialistische Gesetzgebungsvorhaben »Volksgesetzbuch der Deutschen«. Beide Begriffe sind nicht definiert worden. Die einschlägigen Bestimmungen des Volksgesetzbuchs und die Erläuterungen der Grundregeln sprechen dafür, dass die Rechtsfortbildung nach der vornehmlich durch die Rechtsprechung und einer sie anleitenden Rechtswissenschaft geleisteten Umdeutung der Zivilrechtsordnung als etwas mittlerweile Alltägliches angesehen wurde. Die Grenzen zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung waren wegen der den gesamten Rechtsfindungsvorgang beherrschenden nationalsozialistischen Weltanschauung bedeutungslos. Der Ausdruck Rechtsfortbildung, den man in dem Standardlehrbuch von Nipperdey Mitte der fünfziger Jahre noch vergeblich suchte, kann etwa ab Anfang der sechziger Jahre als eingeführter Fachbegriff der Rechtswissenschaft bezeichnet werden. Schon damals wies er im Grundsatz die Unklarheiten auf, die sich bei der Analyse des Fachsprachgebrauchs im Detail gezeigt haben. Rechtsfortbildung ist ein »weicher« Begriff, der regelmäßig ohne nähere Erklärung und mit unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird. Auch in den Drei-EbenenModellen der Rechtsfindung wird Rechtsfortbildung nicht trennscharf bestimmt346. Der Ausflug in die Begriffsgeschichte hat daher keinen für die Zwecke dieser Untersuchung geeigneten Begriff der Rechtsfortbildung hervortreten lassen.
VI. Der Begriff »Richterrecht« Zunehmend wird im Schrifttum der Begriff Richterrecht gegenüber dem der Rechtsfortbildung bevorzugt347. Ein Grund für die terminologische Verschiebung dürfte die Überzeugung von der Wesensidentität von Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung sein348. Weil auch die Auslegung ein produktives Verfahren mit erheblichen Eigenwertungen ist, soll sie sich als rechtsetzende Tätigkeit von der Rechtsfortbildung nicht nennenswert unterscheiden. Die überkomme-
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Hierzu bereits das Resümee unter 1.d.cc. und 1.h. Vgl. insoweit das Zwischenergebnis unter 1.h. 346 Zusammenfassende Bewertung vorstehend unter c. 347 Vgl. außer den unter II. zitierten Autoren Rüthers, Pawlowski, Kramer, Ipsen, Ossenbühl und Stern etwa noch Kruse, Das Richterrecht als Rechtsquelle des innerstaatlichen Rechts, 1971; F. Müller, Richterrecht, 1986; Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996; s. auch die ganz überwiegende Mehrzahl der Beiträge in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986; hierzu bereits I.2. – Zahlreiche Synonyma sind aufgelistet bei Fikentscher, Methoden des Rechts, Band III, 1976, S. 701. 348 Vgl. insoweit bereits vorstehend II.1.a. 345
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VI. Der Begriff »Richterrecht«
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nen Begriffe Auslegung und Rechtsfortbildung werden durch den des Richterrechts ersetzt. Richterrecht ist jedoch gleichfalls kein fest umrissener Begriff mit klarer Bedeutung.
1. Einzelne Begriffsverständnisse Rüthers hat in den sechziger Jahren vier verschiedene Inhalte des Ausdrucks aufgezeigt349: Im Schrifttum werde unter Richterrecht verstanden der verbotene Aufstand der Rechtsprechung gegen das Gesetz, die lückenfüllende Rechtsfortbildung, die überwiegend wertende Rechtsfindung, zu welcher neben der Rechtsfindung praeter legem auch die Anwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln gezählt wurde, sowie alle Entscheidungsnormen, die nicht als fertiger Wertmaßstab dem Gesetz entnommen werden, also auch die richterliche Auslegung mehrdeutiger Gesetzesbegriffe. Diese Begriffsverständnisse gibt es immer noch. Teilweise wird das Wort indes für verfahrensbeendende Gerichtsentscheidungen bestimmter Instanzen reserviert. Verbreitet bezeichnet man solche Rechtssätze als Richterrecht, die in höchstrichterlichen oder letztinstanzlichen Entscheidungen verwendet werden, aber in der gesetzlichen oder gewohnheitsrechtlichen Rechtsordnung nicht enthalten sind350. Coing definiert Richterrecht ohne diese Beschränkung als die Summe derjenigen Rechtssätze, die von den Gerichten in Auslegung und Fortbildung des Gesetzes entwickelt und als Entscheidungsgrundlage verwendet oder aus Anlass von Entscheidungen ausgesprochen werden351. Man spricht auch von verallgemeinerungsfähigen Rechtsansichten, die in einer Reihe gleichgelagerter Fälle die Urteilsbegründung getragen haben352. Rüthers versteht unter Richterrecht die Gesamtheit der richterlichen Entscheidungsnormen bzw. Wertmaßstäbe, die ohne wertende, gebotsbildende Akte des Richters dem Gesetz nicht entnommen werden können353. Bezeichnet man das Ergebnis eines wertenden richterlichen Handelns als Richterrecht, so stellt freilich praktisch jede richterliche Entscheidung Richterrecht dar. Die Rechtsfindung ist immer auch ein produktiver, wertender Vorgang354. Andere wenden sich deshalb heute ausdrücklich gegen ein Begriffsverständnis, das jedes schöpferische Handeln des Richters als Richterrecht bezeichnet. Christensen reserviert den Begriff für gesetzesfreies richterliches Handeln355. Seine Erläuterungen müssen im Gedankengebäude der sog. strukturierenden 349
Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 458 f. So wird das übliche Begriffverständnis skizziert von Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 235. Ein erster Überblick zu den vertretenen inhaltlichen Erfordernissen für Richterrecht findet sich bei Fikentscher, Methoden des Rechts, Band III, 1976, S. 729 f. 351 Coing, in: J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 13. Bearbeitung 1995, Einl zum BGB Rn. 218; ähnlich im Ergebnis Coing/Honsell, in: J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Neubearbeitung 2004, Einl zum BGB Rn. 218. 352 Diedrich, Präjudizien im Zivilrecht, 2004, S. 33 m.w.N. 353 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 460; ders., Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 235. 354 Hierzu bereits II.1.b. 355 Christensen, NJW 1989, 3194, 3197. 350
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
Rechtslehre von Friedrich Müller gesehen werden. Hiernach wird dort richterrechtlich entschieden, wo die Entscheidungsnorm und die Rechtsnorm nicht bestimmten Normtexten aus der Normtextmenge des geltenden Rechts methodisch zugerechnet werden können, wenn sich der Richter also jenseits von Gesetz und Analogie frei ein Recht findet, was generell unzulässig sein soll356. Was als Richterrecht bezeichnet werde, sei im Bereich des Grundgesetzes nie zugleich etwas eigenes und zulässig357: Wo es gerechtfertigt werden könne, sei es Bestandteil normaler Rechtsarbeit. Wo es dagegen ohne Rückführbarkeit auf Normtexte des geltenden Rechts, also eigenständig auftrete, könne es nicht gerechtfertigt werden358. Demgegenüber nennt Kruse nur solche Rechtsnormen Richterrecht, welche die Gerichte intra legem gebildet haben, und will so alle Fälle der Konkretisierung von Gesetzesbegriffen erfassen, nicht aber das Recht contra legem359. Richterrecht wird weiterhin noch verbreitet als Synonym für Rechtsfortbildung verwendet360.
2. Die geeignetere Bezeichnung? Der Begriff Richterrecht ist nach alledem noch weniger trennscharf als derjenige der Rechtsfortbildung. Nach verbreitetem Verständnis erfasst er unter anderem das sog. Konkretisieren von gesetzlichen Begriffen und damit etwas, was traditionell und auch heute noch überwiegend als Auslegung oder Gesetzesinterpretation und eben nicht als Rechtsfortbildung bezeichnet wird. Zwar soll zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung nach einer gängigen Auffassung kein prinzipieller Unterschied bestehen361. Eine Grenze wird aber immerhin – wenn auch an unterschiedlichen Stellen – gezogen. Für die Zwecke dieser Untersuchung ist der Begriff der Rechtsfortbildung deshalb immer noch geeigneter als derjenige des Richterrechts. Rechtsfortbildung bezieht sich zumindest auch auf ein Objekt der Rechtsfindung. Richterrecht bezeichnet demgegenüber das Ergebnis eines richterlichen Entscheidungsaktes. Wenn praktisch jede gesetzesauslegende (höchst-) richterliche Entscheidung Richterrecht begründet, dann kann es keine Topoi verdeckten Richterrechts geben.
356 Vgl. F. Müller, Richterrecht, 1986, S. 26, 79 f., 126; ders., in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 65 ff. – Eine kurze Zusammenfassung der Position der strukturierenden Rechtslehre findet sich bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 133 f. und bei Lames, Rechtsfortbildung als Prozesszweck, 1993, S. 15 ff. 357 F. Müller, Richterrecht, 1986, S. 126; ders., in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 65, 84. 358 Berechtigte praxisbezogene Kritik dieser Terminologie bei Sendler, NJW 1987. 3240. 359 Kruse, Das Richterrecht als Rechtsquelle des innerstaatlichen Rechts, 1971, S. 10. 360 So etwa Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, S. 1 und passim, die in Fn. 1 auf S. 3 ausführt, dass Richterrecht weit verstanden werde und sowohl die Analogie und die teleologische Reduktion einer Norm umfasse, als auch die Rechtsfindung praeter legem. 361 Vorstehend II.1.a.aa.
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VII. Zusammenfassende Betrachtung
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VII. Zusammenfassende Betrachtung Rechtswissenschaftler und Richter sprechen häufig von und über Rechtsfortbildungen. In zivilrechtlichen Entscheidungen der Zivilgerichte findet sich der Ausdruck hingegen kaum und speziell bei Instanzgerichten so gut wie gar nicht. Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum wird der Begriff zwar regelmäßig verwendet. Ausdrückliche Definitionen von Rechtsfortbildung sucht man jedoch auch hier meist vergeblich. Rechtsfortbildung ist ein rein fachsprachlicher Begriff ohne klare Konturen. Er wird im (Zivil-)Recht verwendet, als wenn er selbstverständlich wäre, also nicht erläutert. Das jeweilige Verständnis von Rechtsfortbildung ergibt sich regelmäßig nur aus dem konkreten Zusammenhang und wandelt sich mit diesem. Dass es kein allgemein oder auch nur überwiegend anerkanntes fachsprachliches Verständnis von Rechtsfortbildung gibt, wird in der Rechtswissenschaft so gut wie nie thematisiert. Die Analyse des Fachsprachgebrauchs im einschlägigen Schrifttum zeigt, dass die terminologische Übereinstimmung täuschend ist und die Begriffsverständnisse je nach Untersuchungsgegenstand variieren. Nach Wittgenstein ist die Bedeutung eines Worts sein Gebrauch in der Sprache362. Legt man diese Erläuterung zugrunde, so ist Rechtsfortbildung ein ungewöhnlich bedeutungsreicher fachsprachlicher Begriff. Die in der Umgangssprache kaum geläufige Bezeichnung dient im Schrifttum zur Umschreibung unterschiedlichster und teilweise gegensätzlicher Sachverhalte. Die Bandbreite der Begriffsverwendungen ist erstaunlich. Das breite Spektrum reicht von etwas schlechthin Verbotenem oder rechtlich Unmöglichem über die Rechtsfindung contra legem, die Rechtsfortbildung praeter und contra legem, die lückenfüllende Rechtsfindung praeter legem, die gesetzesergänzende Lückenfüllung nach gesetzlichen Maßstäben und über verschiedene Zwischenformen einer gesetzesunabhängigen und gesetzesderogierenden »freien« Rechtsgewinnung bis zur Rechtsfindung als solcher, also unter Einschluss der »einfachen« Gesetzesauslegung. Ein weiter, neue Auslegungen einbeziehender Rechtsfortbildungsbegriff wird etwa im zivilprozessualen Schrifttum vertreten. Der an sich schon facettenreiche Sprachgebrauch wird zusätzlich dadurch bereichert, dass zahlreiche Autoren nur solche der im Einzelnen variierenden richterlichen Tätigkeiten als Rechtsfortbildung bezeichnen, die unterschiedliche methodische und/oder verfassungsrechtliche Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllen. Außerdem wird noch vertreten, dass das Bewusstsein der Rechtsfortbildung diese zu einer solchen mache. Andere meinen, man könne nur dann von Rechtsfortbildung sprechen, wenn im Ergebnis neues Recht geschaffen werde, oder wenn sich das Fortbildungsmittel als Recht darstelle. Ein kleinster gemeinsamer Nenner bzw. ein von allen akzeptierter Begriffskern von Rechtsfortbildung ist daher nicht feststellbar. Mehrheitlich dürfte im Schrifttum davon ausgegangen werden, dass unter Rechtsfortbildung jedenfalls das Füllen von Lücken und jedenfalls nicht die Auslegung und Rechtsanwen362 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Teil I Nr. 23, in: Ludwig Wittgenstein, Schriften 1, 1969, S. 311.
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§ 3 Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff
dung fällt. Die beiden erkennbar rudimentären Umschreibungen bringen indes keine begriffliche Klarheit. Beim schillernden Lückenbegriff sind das Bezugsobjekt und der Beurteilungsmaßstab gleichermaßen unklar wie bei der Rechtsfortbildung. Der Gegenbegriff Rechtsanwendung ist blass, weil auch die Anwendung einen produktiven Vorgang darstellt und ihr Gegenstand unklar bleibt. Der Gegenbegriff Auslegung ist ausgesprochen mehrdeutig. Die jeweiligen Trennlinien zur Rechtsfortbildung sind in der Sache trotz einer weitgehenden verbalen Übereinstimmung meist schemenhaft. Das gilt insbesondere für die trügerische und zufällige sog. Wortsinngrenze, bei der entgegen dem ersten Eindruck in wechselnden Kombinationen auf unterschiedliche Begriffsverständnisse abgestellt wird. Die außerdem gebräuchliche Erläuterung von Rechtsfortbildung als Summe ihrer »anerkannten Anwendungsfälle« Analogie und teleologische Reduktion ist fragmentarisch und setzt voraus, dass man die »Grenze« zur Auslegung beim äußersten möglichen Wortlaut zieht und diese fiktive Trennlinie im konkreten Fall als überschritten ansieht. Auch die Rechtsprechung kennt keinen klaren Begriff von Rechtsfortbildung, der für diese Untersuchung übernommen werden könnte. Die Zivilgerichte verwenden den Ausdruck selten und dann wie im methodischen Schrifttum mit unterschiedlichem Inhalt. Der Europäische Gerichtshof benutzt ihn gar nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zwar in zahlreichen Entscheidungen ausdrücklich mit Rechtsfortbildungen befasst, verfügt jedoch über keine klare und einheitliche Terminologie. In den Grundsatzentscheidungen zur Rechtsfortbildung im Zivilrecht scheint es unter Rechtsfortbildung vornehmlich die Fortbildung des Gesetzesrechts zu verstehen, bezeichnet mit dem Ausdruck aber auch das Ergebnis der schöpferischen Fortbildung des Rechts. Der Begriff »Fortbildung des Rechts« findet sich in den Verfahrensgesetzen als Voraussetzung der sog. Grundsatzvorlage und der Rechtsmittelzulassung. Bei der Grundsatzvorlage wird der Inhalt des Tatbestandsmerkmals, das teilweise ausdrücklich als bedeutungslos eingestuft wird, nicht näher bestimmt, weil man überwiegend von einem Vorlageermessen des erkennenden Senats ausgeht. Ein zivilprozessuales Rechtsmittel soll zur Fortbildung des Rechts zuzulassen sein, wenn der Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des formellen und materiellen Rechts aufzustellen oder Gesetzeslücken auszufüllen. Weil die »Fortbildung des Rechts« nach der prozessualen Interessenlage allein eine offene Rechtsfrage voraussetzt, welche der Klärung durch das jeweilige Obergericht bedarf, sind Rechtsfortbildung und Auslegung in diesem Kontext keine Gegenbegriffe. Man kann von einem prozessualen Rechtsfortbildungsbegriff sprechen, der aufgrund der unterschiedlichen Fragestellungen aber nicht an die Stelle des materiellen oder methodischen Rechtsfortbildungsbegriffs gesetzt werden darf. Auch der Blick in die Geschichte des jungen Begriffs Rechtsfortbildung hat nicht weitergeholfen363. Savignys »Fortbildung des Rechts« hat keine klaren Konturen. Entsprechendes gilt für die in den Motiven zum Entwurf für das Bür-
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VII. Zusammenfassende Betrachtung
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gerliche Gesetzbuch einmal verwendete »Fortbildung des Rechtes« sowie für die Bezeichnungen »Fortbildung des Rechts« bzw. »Rechtsfortbildung« in den geschilderten Gesetzen bzw. Gesetzesentwürfen des Dritten Reichs. Der Begriff Rechtsfortbildung, der in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts von einzelnen Autoren statt »Fortbildung des Rechts« verwendet wurde, und der etwa seit Anfang der sechziger Jahre ein fester Bestandteil der rechtswissenschaftlichen Fachsprache ist, wird seit jeher mit unterschiedlichen Bedeutungen und ohne nähere Erläuterung benutzt. Auch das Drei-Ebenen-Modell liefert keine trennscharfe Umschreibung von Rechtsfortbildung364. Der zunehmend bevorzugte Terminus Richterrecht bietet keine begriffliche Alternative, weil er ebenfalls zahlreiche verschiedene Bedeutungen hat, nach verbreitetem Verständnis neben der Rechtsfortbildung auch noch Teilbereiche der »schlichten« Auslegung erfasst und nicht auf das Objekt der Rechtsfindung, sondern auf das Ergebnis eines richterlichen Entscheidungsaktes zielt. Es kann also auf keinen eingeführten fachlichen Sprachgebrauch von Rechtsfortbildung zurückgegriffen werden. Rechtsfortbildung ist ein schillernder Begriff mit zahlreichen Facetten. Die Sprachgebrauchsanalyse hat gezeigt, dass Rechtsfortbildung selbst bei ein und demselben Autor je nach Untersuchungsgegenstand ganz Unterschiedliches bezeichnen kann365. Die konkrete Bedeutung unscharfer und vielfältiger Begriffe ergibt sich immer erst aus dem Kontext der jeweiligen Verwendung. Deshalb muss der Begriff Rechtsfortbildung für die Zwecke dieser Untersuchung bestimmt bzw. konkretisiert werden.
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Kurze Zusammenfassung hierzu unter V.2.c. S. oben I. und II.
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§ 4 Die Facetten von »Rechtsfortbildung« und der Untersuchungsgegenstand Es fällt freilich auf, dass sich viele Autoren gar nicht um eine auch nur halbwegs klare Begrifflichkeit bemühen. Vor diesem Hintergrund mag man zweifeln, ob der Versuch, Rechtsfortbildung näher zu bestimmen, überhaupt die Mühe lohnt.
I. Notwendigkeit einer Begriffsbestimmung 1. Vor- und Nachteile vager Begriffe Pragmatisch betrachtet können die fehlende Trennschärfe und das breite Bedeutungsspektrum einer Bezeichnung durchaus von Vorteil sein. Grundlegende Begriffe stecken das Forschungsfeld ab und begrenzen immer auch den jeweiligen Untersuchungsgegenstand. Ein deutlicher Ausdruck und ein erläutertes Begriffsverständnis können den Zugang zu interessanten Forschungsgebieten versperren. Selten wird das allerdings so klar artikuliert wie bei Arrow, der einmal zum Institutionenbegriff bemerkt hat: «Da die Forschung auf diesem Gebiet noch in ihren Anfängen steckt, ist ein Zuviel an Genauigkeit zu vermeiden«1. Ob diese Maxime in (rechts-)wissenschaftlichen Untersuchungen wirklich akzeptabel ist, kann hier dahinstehen. Jedenfalls ist die Fortbildung des Rechts alles andere als ein der Rechtswissenschaft unbekanntes Land. Ein taugliches Objekt für Pionierstudien, bei denen eine unkonturierte und weite Begrifflichkeit unter Umständen angezeigt sein mag, stellt sie nicht dar. Die richterliche Rechtsfortbildung wird zu Recht als Ewigkeitsproblematik und Dauerbrenner etikettiert, ja sogar als ausgelaugtes Thema bezeichnet2. Bei derart breit diskutierten Grundlagenfragen besteht kaum die Gefahr, dass wegen einer Begriffserläuterung bislang unentdeckte Aspekte weiter übersehen werden. Es geht weniger darum, vorsichtig tastend alle zum Thema gehörenden Einzelgesichtspunkte zu ermitteln. Vielmehr muss das vorgefundene Großthema begrenzt, der jeweilige Untersuchungsgegenstand klar herausgearbeitet werden.
1 Arrow, Essays in the theory of risk-bearing, 1970, S. 224; hierzu bereits C. Fischer, Europäisierung der nationalen Zivilrechte – Renaissance des institutionellen Rechtsdenkens?, 2002, S. 7. 2 Statt vieler Sendler, DVBl. 1988, 828; zustimmend Dieterich, RdA 1993, 67; vgl. auch Prütting, FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 305, 305 f. Zöllner spricht von einem der unbewältigten Phänomene, die jede Zeit neu angehen müsse und hält es für Wunschdenken, Richterrecht als ausgelaugtes Thema zu bezeichnen, s. Zöllner, FS 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 1395, 1396.
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II. Die einzelnen Facetten von »Rechtsfortbildung«
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Die terminologischen Risiken sind dabei ganz anderer Art. Verwendet man bedeutungsreiche, vage und nicht erläuterte Sammelbezeichnungen, dann erschwert das die inhaltliche Auseinandersetzung erheblich. Wird derselbe Ausdruck in der Diskussion unterschiedlich verwendet, so ist stets zu befürchten, dass die Diskutierenden vom eigenen Begriffsverständnis ausgehend abweichende Positionen falsch interpretieren und schlicht aneinander vorbei reden. Außerdem besteht bei mehrdeutigen Begriffen die Gefahr, unbewusst einmal mit dieser und einmal mit jener Bedeutung zu operieren, wenn man seinen Sprachgebrauch nicht ausdrücklich festlegt. Zudem bestimmt das jeweilige Begriffsverständnis bei grundlegenden Begriffen immer auch den Untersuchungsgegenstand. Schon deshalb sollte es vom Autor frühzeitig benannt werden. Will man fragwürdige rechtliche Wertungen vermeiden und eine sachbezogene Erörterung ermöglichen, so bedarf es also zunächst einer klaren Terminologie.
2. Das Schlagwort »Rechtsfortbildung« Die Bestandsaufnahme zum Sprachgebrauch hat gezeigt, dass Rechtsfortbildung eine Sammelbezeichnung für ganz unterschiedliche Sachverhalte mit voneinander zu trennenden rechtlichen Fragestellungen ist. Rechtsfortbildung lässt sich als Gemeinplatz, als Topos, als Modebegriff oder auch als Schlagwort kennzeichnen. Schlagworte sind vereinfachende Kurzbezeichnungen für Sachverhalte und Sachverhaltskomplexe, welche sie als Stich- und Merkworte zwangsläufig inhaltlich verkürzt wiedergeben. Wird mit den vom zugrundeliegenden Sachverhalt losgelösten plakativen Kurzbezeichnungen argumentiert, dann sind auch inhaltliche Verkürzungen vorgezeichnet. Gerade besonders eingängige Schlagworte können sich schnell verselbständigen und dann ein juristisches Eigenleben führen3. Sie können zur Parole, zum Slogan oder gar zur Leerformel werden, die dann mit unterschiedlichsten Inhalten gefüllt werden kann. Zumindest tendenziell ist das auch bei dem Begriff Rechtsfortbildung der Fall. Hinter dem Ausdruck verbergen sich zahlreiche verschiedene Begriffsverständnisse. Das Schlagwort ist so für eine Untersuchung über Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen nicht verwendbar. Es wird daher versucht, sich einem für die Zwecke dieser Untersuchung geeigneten Begriff von Rechtsfortbildung in fünf Schritten zu nähern, welche den unterschiedlichen Bedeutungen und Differenzierungskriterien Rechnung tragen und diese veranschaulichen sollen.
II. Die einzelnen Facetten von »Rechtsfortbildung« Damit wird juristisches Neuland betreten. Bisher hat man sich mit dem Begriff »Rechtsfortbildung« nicht eingehend beschäftigt. Daher sind auch die einzelnen Facetten des Rechtsfortbildungsbegriffs im Schrifttum noch nicht betrachtet und
3
C. Fischer, Die tarifwidrigen Betriebsvereinbarungen, 1998, S. 72 f.
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§ 4 Die Facetten von »Rechtsfortbildung« und der Untersuchungsgegenstand
analysiert worden. Schon die vorstehend durchgeführte Untersuchung des Fachsprachgebrauchs lässt aber erkennen, dass beim Begriff Rechtsfortbildung fünf verschiedene Aspekte unterschieden werden müssen. Zunächst kann der Ausdruck nach der Haltung des Rechtsanwenders oder nach solchen Kriterien bestimmt werden, die von der Person des Interpreten unabhängig sind. Das erste Verständnis wird im Folgenden als subjektiver, das zweite als objektiver Rechtsfortbildungsbegriff bezeichnet. Dann ist zu überlegen, was bei der Rechtsfortbildung eigentlich fortgebildet wird. Es geht um das Bezugsobjekt, um den Gegenstand der Fortbildung. Steht »Recht« bei der Rechtsfortbildung für Gesetzesrecht oder für ein außergesetzliches oder übergesetzliches Recht? Eng zusammen mit diesem zentralen Problem hängen zwei weitere Fragen. Bezeichnet Recht bei der Rechtsfortbildung neben dem Objekt auch das Mittel der Fortbildung? Steht der Begriff auch für das Ergebnis der Rechtsfortbildung? Schließlich stellt sich die Frage, ob Begriff und Zulässigkeit bei der Rechtsfortbildung zu trennen sind oder ob nur eine rechtlich zulässige Fortbildung als Rechtsfortbildung zu bezeichnen ist.
III. Zum »richtigen« Sprachgebrauch Um Missverständnissen vorzubeugen: Hier soll nicht etwa der zutreffende Sprachgebrauch von Rechtsfortbildung fest- und vorgeschrieben werden. Darüber, ob ein sprachlicher Ausdrucks isoliert betrachtet richtig oder falsch ist, kann man nicht ernsthaft streiten. Die Bedeutung eines Worts ist sein Gebrauch in der Sprache4. Jedes der eben angedeuteten Begriffverständnisse von Rechtsfortbildung findet sich im reichhaltigen Schrifttum zum Thema und ist daher gleichermaßen »richtig«. Abstrakt lassen sich auf die vorstehend gestellten Fragen also gar keine Antworten geben. Wie immer kommt es auf den Kontext an, in dem ein Begriff verwendet wird. Dabei geht es nicht darum, welches Begriffsverständnis richtig ist, sondern allein um seine Zweckmäßigkeit im jeweiligen Zusammenhang. Abelson hat darauf hingewiesen, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, den Gebrauch eines Wortes korrekt zu definieren, weil es verschiedene Textbzw. Redemöglichkeiten mit verschiedenen Zwecken gibt; Definitionen haben die Regeln anzugeben, nach denen ein Wort verwendet werden muss, wenn der Zweck des Textes, in dem es vorkommt, erreicht werden soll5. Die gestellten Fragen nach dem gebotenen Verständnis von Rechtsfortbildung lassen sich daher nur im Hinblick auf die Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen beantworten. Richtschnüre für die nähere Begriffsbestimmung sind daher der Gegenstand und der Zweck dieser Untersuchung. An ihnen werden die einzelnen Facetten des schillernden Begriffs Rechtsfortbildung im Folgenden gemessen. 4 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Teil I Nr. 23, in: Ludwig Wittgenstein, Schriften 1, 1969, S. 311. 5 Hierzu Gabriel, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, 1972, Stichwort »Definition«, Sp. 41; zur Geschichte des Definitionsproblems a.a.O., Sp. 39 ff.
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IV. Objektiver und subjektiver Rechtsfortbildungsbegriff
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IV. Objektiver und subjektiver Rechtsfortbildungsbegriff Als subjektives Rechtsfortbildungsverständnis wird hier die Ansicht bezeichnet, nach welcher der Unterschied zwischen Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung in der Haltung des Interpreten liegt6. Der sog. subjektive Rechtsfortbildungsbegriff wird insbesondere von Larenz und damit von einem Vertreter der sog. objektiven Auslegungslehre vertreten. Das spricht jedoch nicht gegen die hier gewählte Bezeichnung. Es ist zu berücksichtigen, dass die Vertreter der sog. objektiven Auslegungstheorie dasjenige, was sie selbst subjektiv für objektiv geboten halten, als Normzweck ausgeben und an die Stelle der gesetzgeberischen Interessenbewertung setzen7. Die objektive Theorie verführt zu subjektiver Auslegungsakrobatik8 und ist sehr viel subjektiver als die subjektive Theorie9. Die Vertreter der sog. objektiven Auslegungstheorie werden zu Recht als die wahren Subjektivisten bezeichnet. Die tatsächlich subjektive, auf den Willen des Interpretierenden abstellende sog. objektive Auslegungslehre korrespondiert daher durchaus mit einem am Interpreten ausgerichteten subjektiven Rechtsfortbildungsbegriff. Dieser subjektive Rechtsfortbildungsbegriff lässt sich folgendermaßen skizzieren: Während der Interpret bei der Gesetzesauslegung nur diejenige Bedeutung erkennen und aussprechen will, die im Text beschlossen liegt, kommt ihm die Rechtsfortbildung als solche zum Bewusstsein10. Für eine Untersuchung über Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen ist dieser subjektive Rechtsfortbildungsbegriff nicht geeignet, weil es hiernach keine irrtümlichen und unbewussten Rechtsfortbildungen geben kann. Was gemeint ist, lässt sich anhand Zitelmanns berühmter Bonner Rede über Lücken im Recht verdeutlichen11: Der Richter, der durch Analogie oder sonst wie einen neuen Satz finde oder erfinde, schaffe, so heißt es, kein neues Recht, weil er nicht neues Recht schaffen könne und wolle, sondern nur die Entscheidung eines konkreten Falles geben wolle, und zwar mit dem Anspruch, dass sie vorhandenem Recht entspreche, dem Recht, das er durch seine Gedankenoperationen als bereits vorhandenes wenn auch vielleicht unbekanntes Recht erkannt habe; an der Vorstellung, dass der vom Richter angewandte Satz (stets) bereits Recht sei, auf welcher die Tätigkeit des Richters beruhe, »müssen wir festhalten«. Auf der Grundlage eines subjektiven Rechtsfortbildungsbegriffs werden Fälle, in denen der Interpret gutgläubig oder gedankenlos das vorher Untergelegte12 oder Eingelegte13 »aus6
S. zu dieser Ansicht bereits oben § 3 II.2.a. Vgl. hierzu bereits C. Fischer, ZfA 2002, 215, 232; ähnliche Formulierung bei Wesel, Juristische Weltkunde, 8. Aufl. 2000, S. 182. 8 So Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halbband, 15. Aufl. 1959, S. 329. 9 So Wesel, Juristische Weltkunde, 8. Aufl. 2000, S. 182. 10 S. nochmals Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 367; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Studienausgabe), 3. Aufl. 1995, S. 188; ebenso schon Larenz, NJW 1965, 1, 2; vgl. auch H. J. Hirsch, JR 1966, 334, 338. 11 Zitelmann, Lücken im Recht, 1903, S. 25. 12 Frei nach dem klassischen Zitat »Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter«, s. Goethe, Zahme Xenien, 2. Buch. 13 Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 35. 7
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§ 4 Die Facetten von »Rechtsfortbildung« und der Untersuchungsgegenstand
legt«, nicht erfasst. Solange der »Ausleger« fälschlicherweise glaubt, das »richtig verstandene« Gesetz anzuwenden, scheidet eine Rechtsfortbildung aus. Das Gleiche gilt wegen des herrschenden auslegungszentrierten Rechtsfindungsideals, nach dem die Auslegung der Gesetze der Normalfall der Rechtsanwendung sein soll, wenn sich der Interpret gar keine Gedanken macht. Besonders effektive Figuren zur verdeckten Fortbildung des Gesetzesrechts und zur objektiven Verschleierung des vom »Rechtsanwender« gesetzten Rechts, die als scheinbar unbedenklich verinnerlicht sind und bei denen dem »Auslegenden« nicht einmal mehr bewusst wird, dass sie problematisch sind, bleiben außen vor. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass erfahrene Praktiker der Meinung sind, der vor neue Fragen gestellte Richter wisse in der Regel nicht und brauche auch nicht zu wissen, ob das Problem durch Auslegung oder durch Rechtsfortbildung zu lösen ist14. Legt man bei verdeckten Rechtsfortbildungen einen subjektiven Rechtsfortbildungsbegriff zugrunde, so sind Selbst- und Fremdtäuschungen vorgezeichnet. Man vergegenwärtige sich etwa, dass die Vertreter der sog. objektiven Auslegungslehre dasjenige, was sie subjektiv für objektiv richtig halten, an die Stelle der Überlegungen des Gesetzgebers setzen und diese neue Botschaft als objektives Auslegungsergebnis – oft gutgläubig – dem Gesetzestext entnehmen. Will man Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen untersuchen, dann muss man Rechtsfortbildung nach Kriterien bestimmen, die von der Person des Interpreten unabhängig sind. Für die Zwecke dieser Untersuchung ist deshalb ein objektiver Rechtsfortbildungsbegriff geboten. Hierfür ist weiter zu überlegen, was bei der Rechtsfortbildung eigentlich fortgebildet wird.
V. Recht als das Objekt der Rechtsfortbildung Rechtsfortbildung bedeutet zuerst einmal Fortbildung des Rechts. Diese Feststellung scheint banal. Sie ist aber notwendig, weil nicht nur das Objekt, sondern auch das Mittel und das Ergebnis der Fortbildung genannt werden, wenn das Recht im Begriff Rechtsfortbildung näher umschrieben bzw. angedeutet wird15. Die Frage nach dem Gegenstand der Rechtsfortbildung kann mit verschiedenen Intentionen gestellt werden. Es kann zunächst um das gehen, was bei der Rechtsfortbildung üblicherweise fortgebildet wird. Die Frage kann weiterhin auf die tauglichen Objekte einer Rechtsfortbildung zielen, also auf all das, was theoretisch überhaupt als Gegenstand einer Fortbildung in Betracht kommt. Schließlich lässt sich im Hinblick auf ein konkretes Untersuchungsziel fragen, bei welchen Objekten der Rechtsfortbildung es sinnvoll ist, sie zu erörtern. Diese drei unterschiedlichen Fragestellungen16 lassen sich als faktische, theoretische oder pragmatische Betrachtungsweise bezeichnen.
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So Heinrichs, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 65. Aufl. 2006, Einleitung Rn. 56. Vgl. im Einzelnen die Nachweise aus dem Schrifttum in § 3 I.2. und II.2. 16 In einem Satz: Was ist das übliche, was ist ein taugliches und was ist das zu untersuchende Objekt der Rechtsfortbildung? 15
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V. Recht als das Objekt der Rechtsfortbildung
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1. Fortbildung der Gesetze oder der Rechtsordnung? Regelmäßig wird bei der Rechtsfortbildung nicht ein außer- oder übergesetzliches Recht, sondern das einfache Gesetzesrecht fortgebildet. Rechtsfortbildung als Gesetzesrechtsfortbildung, diese am »Normalfall« orientierte Betrachtungsweise liegt unausgesprochen manchem Erläuterungsansatz im Schrifttum zugrunde17. Auch in der »Soraya«-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist das Objekt der Rechtsfortbildung die »Gesamtheit der geschriebenen Gesetze«18. Begreift man Rechtsfortbildung demgegenüber als Fortbildung der Rechtsordnung, dann bekommt der Rechtsbegriff entscheidendes Gewicht. Begriffsbestimmung und Anwendungsart der Rechtsfortbildung hängen eng mit der vom jeweiligen Autor vertretenen Normtheorie zusammen19. Die Frage nach dem Recht bei der Rechtsfortbildung ist mit der Rechtsquellenfrage verknüpft.
2. Rechtsfortbildung und Rechtsquellenfrage Als taugliches Objekt einer Rechtsfortbildung kommt allenfalls das in Betracht, was jeweils als Rechtsquelle angesehen wird. Die Rechtsquellenfrage ist immer noch ungeklärt20. Der Dauerstreit über die anzuerkennenden Rechtsquellen findet in der Normallage auf hohem Abstraktionsniveau und weitgehend losgelöst vom juristischen Alltagsgeschäft statt. Wie bei allen Glaubensfragen ist bei der Rechtsquellenfrage in dieser Welt keine abschließende und dauerhafte Lösung zu erwarten. Soweit es das Objekt der Rechtsfortbildung betrifft, muss zwischen zwei Aspekten der Rechtsquellenfrage unterschieden werden, und zwar zwischen der Grundsatzdebatte über Recht (a.) und dem, was im juristischen Alltag als Recht bezeichnet wird (b.). a. Naturrecht und Positivismus Über das, was Recht ist, geht zunächst der ewige Streit zwischen Naturrecht und Positivismus, wobei diese Schlagworte nur die beiden Extrempositionen etikettieren und die zahlreichen Abstufungen und Mischformen nicht berücksichtigen. Für die praktische Arbeit des Rechtsanwenders spielt diese Fragestellung außerhalb von Systemwechseln und großen Rechtskrisen regelmäßig keine Rolle. Das Naturrecht wird bekanntlich als die Rechtstheorie der Ausnahmelage bezeichnet21. In der Normallage herrsche ein gemäßigter Gesetzespositivismus. So ist die Naturrechtsrenaissance, welche die Rechtspraxis in der frühen Bundesrepublik
17
S. § 3 I.2. und II.2.; hierzu auch bereits C. Fischer, ZfA 2002, 215, 233. BVerfGE 34, 269, 287; dazu § 3 III.2.b. 19 Harry Westermann, FS Larenz, 1983, S. 723, 724; hierzu auch Brehm, FS Schumann, 2001, S. 57: »Der Ausdruck Rechtsfortbildung ist so vieldeutig wie der Rechtsbegriff selbst«. 20 Einführend hierzu Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 48 ff., 217 ff., 411 ff.; s. auch Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 513 ff.; Merten, Jura 1981, 169 ff., 236 ff.; Diedrich, Präjudizien im Zivilrecht, 2004, S. 23 ff. 21 Etwa von Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 267. 18
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geprägt haben soll, schon seit Jahrzehnten abgeklungen. Die Passagen in Entscheidungen und gutachtlichen Stellungnahmen aus den ersten Jahren des Bundesgerichtshofs, in denen aus einem christlichen Naturrecht und einem für alle geltenden Sittengesetz konkrete Rechtsfolgen abgeleitet wurden22, dienen heute nur noch als Beleg dafür, dass das angeblich unveränderliche Naturrecht mit dem jeweiligen Zeitgeist lebt und stirbt. Schon Jean Paul hat gespottet, jede Messe und jeder Krieg lieferten neue Naturrechte23. Die in der frühen Bundesrepublik möglicherweise noch vorhandenen gemeinsamen Glaubensgrundlagen sind zwischenzeitlich sicher entfallen. Daraus sollte man freilich nicht folgern, dass heute nicht mehr naturrechtlich argumentiert wird. Die naturrechtlichen Argumente haben lediglich andere Heimstätten gefunden. Zu denken ist etwa an die Grundrechte, die sich auch als kodifiziertes Naturrecht begreifen lassen. Der Streit darüber, ob der Staat oder eine wie auch immer verstandene vorgegebene Natur die Quelle allen Rechts ist, ob es neben oder über dem staatlich gesetzten Recht fundamentalere überzeitliche Rechte gibt, kann hier vernachlässigt werden. Ein vages Gewohnheitsrechtsverständnis, diffuse Prinzipien und die Instrumentalisierung des Verfassungsrechts machen es in der Gegenwart für Juristen weitgehend überflüssig, sich auf ein Naturrecht zu berufen. Der juristisch geschulte »Gedrückte« muss nicht mehr nach den Sternen greifen, wenn er »nirgends Recht kann finden«24. Der Blick ins »recht verstandene« Grundgesetz tut es auch. Naturrecht begegnet uns heute im Prozess der Rechtsgewinnung daher regelmäßig in positivistischem Gewand. b. Positive Rechtsquellen Damit verschiebt sich das Problem zu der Frage, welche nichtnaturrechtlichen, positiven Rechtsquellen im juristischen Alltag anerkannt werden.
22 Besonders deutlich BGHZ 11 Anhang, S. 34, 65 f., zum Letztentscheidungsrecht des Mannes in ehelichen Angelegenheiten, dagegen aber auch a.a.O., S. 60 ff.; BGHZ 18, 13, 17, zur wesensmäßigen Unauflöslichkeit der Ehe und 20 f. zur Empfängnisverhütung als Verstoß gegen die naturgegebene Ordnung und als sittliches Versagen; BGHSt 6, 46, 53 ff., zur Unzucht bei Geschlechtsverkehr unter Verlobten; 6, 147, 153 (»Selbstmord«); vgl. auch BGHZ 8, 243, 247 (»Lues«); 9, 83, 89; 11 Anhang, S. 81, 84 f.; 13, 265, 297 f.; 16, 350, 353. Weiteres Anschauungsmaterial findet sich bei Weinkauff, NJW 1960, 1689 ff. Weiterführend zur Renaissance des christlichen Naturrechts Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 430 ff.; ders., Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 424 ff.; Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1958, S. 5, 9 f., 13.; Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1997, S. 31 f. m.w.N. aus dem neueren Schrifttum; besonders anschauliche Beispiele zur Wandelbarkeit verkündeter Naturrechtsgehalte bei Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 434 ff. 23 Hierauf weist hin Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1997, S. 31. 24 Schiller, Wilhelm Tell, 2. Aufzug, 2. Szene: »Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, wenn unerträglich wird die Last – greift er Hinauf getrosten Mutes in den Himmel Und holt herunter seine ew’gen Rechte, Die droben hangen unveräußerlich, Und unzerbrechlich, wie die Sterne selbst – «.
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V. Recht als das Objekt der Rechtsfortbildung
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aa. Die traditionelle Auffassung nennt zwei, nämlich das regelmäßig staatlich gesetzte Gesetzesrecht und das auf einer tatsächlichen Übung beruhende Gewohnheitsrecht25. Weitere Rechtsquellen sollen »nach neuerer Auffassung die jeder Rechtsordnung zugrunde liegenden allgemeinen Rechtsgedanken« bzw. Rechtsprinzipien sein26, während andere stattdessen auf das Fallrecht, das auch Präjudizien- oder Richterrecht genannt werde, verweisen27. Vorzudringen scheint eine Ansicht, die am Rechtsquellendualismus festhalten, aber das Gewohnheitsrecht durch das Richterrecht ersetzen will28, wobei regelmäßig ein weites Verständnis von Richterrecht zugrunde gelegt wird29. Schon Max Weber hat darauf hingewiesen, dass alles »Gewohnheitsrecht« in Wahrheit Juristenrecht war und ist30. Der »vom Historismus geschaffene, halb mystische Begriff des Gewohnheitsrechts«31 erhält seinen aktuellen Gehalt nahezu ausschließlich durch die Gerichte, die darüber entscheiden, ob die Voraussetzungen der Gewohnheitsrechtsbildung gegeben sind und sich dabei regelmäßig auf Präjudizien stützen32. Es spricht vieles dafür, dass Gewohnheitsrecht nur das ist, was die (letzten) Instanzen als Gewohnheitsrecht anerkannt haben, also verkapptes Richterrecht33. Eher selten wird als Rechtsquelle noch die Rechtswissenschaft bzw. die Dogma-
25 Stellvertretend für viele Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halbband, 15. Aufl. 1959, §§ 35, 38; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 432; Fikentscher bezeichnet diese Position, die vom BGB anerkannt worden sei, als herrschende Meinung in Lehre und Rechtsprechung, s. Fikentscher, Methoden des Rechts, Band III, 1976, S. 703, 718. Schon in den Motiven ist sie auf S. 3 als herrschende Ansicht eingestuft worden, s. Mugdan, Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 360. 26 Creifelds/Weber (Hrsg.), Rechtswörterbuch, 18. Aufl. 2004, Stichwort »Recht«; Larenz scheint die von ihm besonders betonten Rechtsprinzipien teilweise dem Gesetzesrecht und überwiegend dem Gewohnheitsrecht zuzuordnen, s. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 474 und 421; gegen die Rechtsquelleneigenschaft von allgemeinen Rechtsgrundsätzen etwa Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halbband, 15. Aufl. 1959, S. 206 f. Fn. 9. Diese lässt sich jedenfalls nicht auf S. 16 f. der Motive zum Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich stützen, vgl. Mugdan, Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, 1899, S. 365 f. Die dort angesprochenen Prinzipien sind keine außer- oder übergesetzlichen, sondern die Strukturprinzipien des positiven Rechts, konkret der Normen des Bürgerlichen Gesetzbuchs. 27 So Tilch/Arloth (Hrsg.), Deutsches Rechts-Lexikon, Band 3, 3. Aufl. 2001, Stichwort »Recht«, zu D. 28 Vgl. etwa Coing, in: J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 13. Bearbeitung 1995, Einl zum BGB, Rn. 114, 218 ff., insb. 233 und 242; Coing/Honsell, in: J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Neubearbeitung 2004, Einl zum BGB Rn. 116, 218 ff., 233, 242; Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 232 ff., 235 ff.; ders., Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 464 m.w.N.; ablehnend z. B. Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halbband, 15. Aufl. 1959, S. 274 f. m.w.N. 29 Vgl. zu den unterschiedlichen Sichtweisen von Richterrecht § 3 VI. 30 Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967, S. 337. 31 Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967, S. 337. 32 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 464; so auf der Grundlage der traditionellen Auffassung im Ergebnis auch Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halbband, 15. Aufl. 1959, S. 267. 33 C. Fischer, Die tarifwidrigen Betriebsvereinbarungen, 1998, S. 18.
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§ 4 Die Facetten von »Rechtsfortbildung« und der Untersuchungsgegenstand
tik genannt34. Im und für das Zivilrecht wird häufiger betont, dass Rechtsgeschäft und Vertrag als privatautonom gesetztes Recht ebenfalls Rechtsquellen seien bzw. normative Kraft hätten35. Kelsen, der den Terminus Rechtsquelle wegen seiner Vieldeutigkeit als »recht unbrauchbar« ansah, fasste unter »Recht« bekanntlich nicht nur die generellen Normen (Gesetzes- und Gewohnheitsrecht), sondern auch individuelle Rechtsnormen36, zu denen er richterliche Entscheidungen37 und rechtsgeschäftliche Regelungen38 zählte. bb. Allgemein anerkannt ist lediglich, dass das staatlich gesetzte Gesetzesrecht eine Rechtsquelle darstellt. Die Rechtsquelleneigenschaft aller anderen genannten Faktoren ist umstritten. Diese werden in wechselnden Kombinationen als Rechtsquellen anerkannt oder auch nicht. Die breite Diskussion, die hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden kann, leidet daran, dass häufig nicht hinreichend zwischen einem soziologisch-psychologischen und einem normativen Rechtsquellenverständnis getrennt wird. Was eine gebräuchliche Rechtserkenntnisquelle ist, muss noch keine normativ bindende Entscheidungsvorgabe sein39. Hinzu kommt, dass die Rechtsquellenfrage aus zwei unterschiedlichen Perspektiven diskutiert wird, und zwar aus der externen Perspektive der Rechtsunterworfenen (einschließlich der Rechtswissenschaftler)40 und aus der internen Perspektive des Richters41 bzw. des Rechtsanwenders42, der eine rechtlich begründete Entscheidung treffen soll. Was den (Zivil-) Richter bindet, muss aber nicht zwangsläufig alle Bürger verpflichten, wie bereits das Beispiel des Vertrages zeigt. Thematisiert werden diese Unterschiede in den Sichtweisen nicht. Wohl auch deshalb kann es geschehen, dass bei der Erörterung einzelner Rechtsquellen unausgesprochen ein Perspektivenwechsel stattfindet43. 34 Etwa von Coing, in: J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 13. Bearbeitung 1995, Einl zum BGB, Rn. 114; Coing/Honsell, in: J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Neubearbeitung 2004, Einl zum BGB Rn. 116; zur Rechtsquelleneigenschaft der Rechtswissenschaft eingehend Säcker, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 1, 4. Aufl. 2001, Einleitung Rn. 87 m.w.N. 35 In diesem Sinne etwa Mestmäcker, JZ 1964, 441, 442; zustimmend Ehricke, RabelsZ 60 (1996), 661, 665 m.w.N.; Großfeld, JZ 1992, 22, 26: »Der Vertrag ist das erste Gesetz zwischen den Parteien«; P. Kirchhof, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 11, 32; vgl. auch Herzog, FS Sendler, 1991, S. 17, 18. Ablehnend Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 1991, S. 531; Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halbband, 15. Aufl. 1959, S. 299; zum Streitstand m.w.N. Merten, Jura 1981, 169, 170 Fn. 8 und 236, 244. 36 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 238 ff. 37 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 242 ff. 38 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 261 ff. 39 Vgl. zu diesem Unterschied etwa Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 218 f., der den Terminus »Rechtserkenntnishilfe« bevorzugt. Es wird auch vom soziologischen und vom juristischen Rechtsquellenbegriff gesprochen, s. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 513 f. Bezeichnet werden damit zum einen alle Ursachen einer juristischen Entscheidung bzw. Rechtsnorm und zum anderen die Regeln, aus denen der Rechtsstab seine Entscheidungen ableiten soll. 40 Beispielsweise von Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halbband, 15. Aufl. 1959, S. 240 ff. 41 So Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 513, dem es um diejenigen Regeln geht, nach denen staatliche Gerichte ihr Entscheidungsverhalten ausrichten. 42 Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 219. 43 Dazu sogleich unter 4.
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3. Recht – untersuchungsbezogen bestimmt Eine Untersuchung über Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen muss die Frage, welche Rechtsquellen aus rechtstheoretischer Perspektive im Einzelnen anzuerkennen sind, nicht entscheiden. Es führt kaum weiter, wenn das breite Spektrum der Ansichten um eine weitere bereichert oder aus der Vielzahl der vertretenen grundsätzlichen Positionen eine herausgepickt wird. Bei einem solchen Vorgehen verliert man sich entweder im Grundsätzlichen oder erschöpft sich im Beliebigen, ohne der konkreten Thematik verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht viel näher zu kommen. Hier interessiert weniger, welche Rechtsquellen es in der Theorie insgesamt gibt. Es geht vielmehr darum, welche Rechtsquellen in der Zivilrechtpraxis (üblicherweise) fortgebildet werden. Deshalb kann man sich auf die praktisch wichtigsten Fortbildungsobjekte konzentrieren. Außerdem darf vom »technischen« Rechtsquellenbegriff abgewichen werden, soweit das der Zweck der Untersuchung gebietet. Es wird daher ein pragmatischer, am Untersuchungsgegenstand ausgerichteter Ausgangspunkt gewählt, um die Objekte der Rechtsfortbildung näher zu bestimmen. a. Die üblichen Fortbildungsobjekte aa. Wichtig ist zunächst, dass bei der Rechtsfortbildung in der Praxis regelmäßig nicht ein außer- oder übergesetzliches Recht, sondern das einfache Gesetzesrecht fortgebildet wird44. Das muss besonders betont werden, weil einzelne der geschilderten Ansichten zur Rechtsquellenfrage geeignet sind, den klassischen Anwendungsfall der Gesetzesrechtsfortbildung verschwinden zu lassen. Wenn man Rechtsfortbildung als Fortbildung der Rechtsordnung begreift und mit einer verbreiteten Auffassung auch allgemeine Rechtsgrundsätze bzw. Rechtsprinzipien als bindende Rechtsquellen anerkennt, so kann das Gesetzesrecht unter dem Etikett der interpretierenden Anwendung des übergeordneten Prinzips umgeformt werden. Eine Fortbildung des (Gesetzes-)Rechts gibt es dann nicht mehr. Das alles beherrschende Rechtsprinzip muss nur richtig erkannt werden. Die Rechtsordnung bleibt (scheinbar) unverändert. Es ist häufiger zu beobachten, dass der (gesetzes-)rechtsfortbildende Charakter einer Entscheidung verneint wird, wenn höherrangige Rechtsquellen im Spiel sind. Zu denken ist an Fälle der europarechtskonformen oder der verfassungskonformen »Auslegung« einfacher Gesetze oder auch an den spektakulären »Burda II«-Beschluss des Bundesarbeitsgerichts45. Das Gericht räumte den Gewerkschaften überraschend einen auf Art. 9 Abs. 3 GG gestützten Unterlassungsanspruch gegen tarifwidrige betriebliche Regelungen ein. Obwohl ein »klarer rechtsfortbildender richterlicher Akt«46 vorlag, las man im rechtswissenschaftli44
Hierzu vorstehend 1. BAG, 20.4.1999, EzA Art. 9 GG Nr. 65. Es dürfte sich um die arbeitsgerichtliche Entscheidung mit der größten Resonanz aus den letzten Jahren handeln; s. zu ersten Reaktionen C. Fischer, Anm. zu EzA Art. 9 GG Nr. 65, zu A.I. (S. 26 ff.). 46 So Buchner, NZA 1999, 897; eingehend zum rechtsfortbildenden Charakter des Beschlusses C. Fischer, Anm. zu EzA Art. 9 GG Nr. 65, zu C.IV. (S. 40 f.). 45
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§ 4 Die Facetten von »Rechtsfortbildung« und der Untersuchungsgegenstand
chen Schrifttum, es handle sich gar nicht um eine Rechtsfortbildung, weil die Gewerkschaften – bisher unerkannt – ein solches Recht schon vor der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts gehabt hätten47. Es sei nicht mehr und nicht weniger als ein verfassungskonformer Zustand hergestellt und der Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG richtig definiert worden48. Auf diese Weise49 lässt sich jede rechtsfortbildende Entscheidung als richtige Definition des bisher verkannten geltenden höherrangigen Rechts und damit als Auslegung bewerten. Die geschilderte Vorgehensweise ist bei sonstigen übergeordneten rechtlichen Prinzipien ebenso möglich wie beim Verfassungsrecht. Jedes Gesetz lässt sich letztlich auf bestimmte allgemeine (Rechts-)Grundsätze zurückführen50 und kann durch deren »Interpretation« umgebildet werden. Deshalb ist hervorzuheben, dass bei der Rechtsfortbildung regelmäßig die Gesetze fortgebildet werden. bb. Um die üblichen Objekte der Rechtsfortbildung im Rahmen dieser Arbeit näher zu bestimmen, muss man sich den Untersuchungsgegenstand vergegenwärtigen. Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen sind Figuren, mit denen der Rechtsanwender ihn bindende Entscheidungsvorgaben verborgen fortbildet. Im Zivilrecht muss der Richter neben dem Gesetzesrecht vor allem auch das von den Parteien gesetzte rechtsgeschäftliche Recht (pars pro toto: Vertragsrecht51) zugrunde legen. Als wichtige bindende Entscheidungsvorgaben können noch Präjudizien sowie – im Anwendungsbereich des Beibringungsgrundsatzes und im hiesigen Kontext meist übersehen – der Tatsachenvortrag der Parteien genannt werden. Da die Regeln über den maßgebenden Sachverhalt aus den Zivilrechtsgesetzbüchern (Darlegungs- und Beweislast) und ergänzend aus den Prozessrechtsgesetzen zu entnehmen sind, lassen sich diese tatsächlichen Vorgaben der Parteien freilich noch dem Gesetzesrecht zuordnen. Für viele Präjudizien gilt Entsprechendes, weil sie als Konkretisierungen des Gesetzesrechts begriffen werden können. Gegenstand der Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen sind im Zivilrecht daher vor allem das Gesetzesrecht und das rechtsgeschäftliche Recht. Das Schwergewicht liegt freilich beim Gesetzesrecht. Die heute praktizierte Anspruchsmethode52 mit den in ihrem Gefolge aufgetretenen detaillierten Schemata53 führt 47 Vgl. Hromadka, AuA 2000, 13, 14, und ZTR 2000, 253, 254, wo dies als Meinung des Bundesarbeitsgerichts dargestellt wird. 48 Wohlfarth, NZA 1999, 962. Dieser Autor war freilich Prozessvertreter der Gewerkschaft vor dem Bundesarbeitsgericht. 49 Kritik bei C. Fischer, Anm. zu EzA Art. 9 GG Nr. 65, zu C.IV. (S. 40 f.). 50 Diese bedürfen dann allerdings stets der Abwägung mit konkurrierenden Rechtsprinzipien, welche von den Protagonisten einer prinzipienkonformen »Auslegung« der Gesetze häufig »vergessen« wird. 51 Besonders betont bei Herzog, FS Sendler, 1991, S. 17, 18: Der Zivilrechtler »vollzieht« im Allgemeinen nicht Gesetze, sondern Verträge. 52 Hierzu statt vieler zunächst nur Medicus, Bürgerliches Recht, 20. Aufl. 2004, Rn. 1 ff.; Brox, Allgemeiner Teil des BGB, 29. Aufl. 2005, Rn. 836 ff. 53 Vgl. beispielsweise Möllers, Juristische Arbeitstechnik und wissenschaftliches Arbeiten, 3. Aufl. 2005, S. 40 f. Repetitorskripten und die sie kopierenden Teile der »universitären« Ausbildungsliteratur enthalten teilweise noch detailliertere Auflistungen gesetzlich verorteter Prüfungspunkte.
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den Rechtsanwender im Zivilrecht sicher zu Anspruchsgrundlagen und sonstigen Entscheidungsnormen, die im Gesetz geregelt, anerkannt oder doch zumindest vorausgesetzt sind. Auch zivilrechtlich tätige Juristen suchen aufgrund ihrer Ausbildung immer nach gesetzlichen Ausgangspunkten für ihre Erörterungen. Selbst bei vertraglichen Primäransprüchen werden heute verbreitet dispositive schuldrechtliche Vorschriften als angebliche Anspruchsgrundlagen angeführt54. Das stete Streben nach einer gesetzlichen Legitimierung der Argumentation bestimmt die Rechtsfortbildungsobjekte selbst im Zivilrecht. Übliche Objekte der Fortbildung sind auch hier grundsätzlich die Gesetze. b. Taugliche Fortbildungsobjekte Als taugliche Objekte einer Rechtsfortbildung kommen sämtliche vom Recht aufgestellten oder anerkannten Vorgaben in Betracht, die der Zivilrichter bei seiner Entscheidung einhalten muss. Rechtsfortbildung ist als die Fortbildung der Entscheidungsvorgaben zu verstehen, die den Zivilrichter binden. Der Zivilrichter muss insbesondere das Gesetzesrecht und das rechtsgeschäftliche Recht beachten. Als weitere relevante Eckdaten seiner Entscheidung kommen die in der Rechtsquellendiskussion angeführten Faktoren Rechtswissenschaft, Gewohnheitsrecht, Prinzipien und Richterrecht in Betracht, deren Rechtsquelleneigenschaft freilich jeweils umstritten und deren normative Wirkung zweifelhaft ist. Nur normative Rechtsquellen sind indes bindende Entscheidungsvorgaben im hier interessierenden Sinne. c. Eine pragmatische Perspektive Eine andere Frage ist, welche der tauglichen Objekte der Rechtsfortbildung in dieser Arbeit behandelt werden müssen. Darüber entscheidet nicht ihre rechtstheoretische Einstufung. Maßgebend sind vielmehr der Zweck und der Gegenstand einer Untersuchung über Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen. Für die einzelnen im Schrifttum diskutierten Rechtsquellen ergibt sich aufgrund dieses Ausgangspunktes das Folgende.
4. Zu den einzelnen Rechtsquellen a. Rechtswissenschaft Die Rechtswissenschaft ist von der historischen Rechtsschule als Rechtsquelle angesehen55 und in den Motiven zum Allgemeinen Teil als die »lebendige Macht, welche mit stets verjüngter Kraft die Fülle des Rechtes erschließt« charakteri-
54 Statt vieler Möllers, Juristische Arbeitstechnik und wissenschaftliches Arbeiten, 3. Aufl. 2005, S. 40 f. Zur Problematik am Rande Medicus, Bürgerliches Recht, 20. Aufl. 2004, Rn. 14. 55 Einführend Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 259, 451 ff.
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§ 4 Die Facetten von »Rechtsfortbildung« und der Untersuchungsgegenstand
siert56 worden. Nach Coing tritt die Rechtswissenschaft als materielle Quelle des Rechts zu Gesetz und Richterrecht als formellen Rechtsquellen57. Die praktische Bedeutung der Rechtswissenschaft für die richterliche Tätigkeit steht außer Frage. Richter bedienen sich insbesondere dann rechtswissenschaftlicher Entscheidungsvorschläge und Argumente, wenn (ober-)gerichtliche Präjudizien fehlen oder einander widersprechen, wenn also eine Rechtsfrage in der Rechtsprechung offen oder umstritten ist. Die in der wissenschaftlichen Diskussion angebotenen Lösungen werden als rechtspolitische Empfehlungen an die zur Entscheidung zuständigen Organe bezeichnet58. Eine beschränkte Bindungswirkung »herrschender Meinungen«, die für die Fallbearbeitung im Studium vertreten wird59, gibt es in der Rechtspraxis nicht. Zwar werden »herrschende Lehren« nicht nur in der Rechtswissenschaft, sondern auch in Gerichtsurteilen gelegentlich konstruiert, um durch angebliche Autoritäten zu überzeugen. Da die Rechtswissenschaft nicht als normativ bindende Rechtsquelle angesehen wird60, sind aber keine eigenen Topoi der verdeckten Fortbildung rechtswissenschaftlichen Rechts entwickelt worden. Im Übrigen kommen Rechtswissenschaft und Dogmatik als Objekte einer Fortbildung des Rechts nicht in Betracht, weil sie reine Rechtserkenntnisquellen61 sind. Als solche werden sie in den Entscheidungsgründen nicht verdeckt fortgebildet, sondern allenfalls nicht genannt62. b. Gewohnheitsrecht Das Gewohnheitsrecht, gegen dessen Existenz und Rechtsquelleneigenschaft grundsätzliche Bedenken bestehen63, ist in dieser Untersuchung schon aus rein pragmatischen Gründen auszublenden. Wer ein Gewohnheitsrecht geltend macht, muss sich auf eine entsprechende allgemeine bzw. konstante tatsächliche Übung berufen64. Eine verdeckte Fortbildung des Gewohnheitsrechts scheint da56 Ein gewohnheitsrechtliches Juristenrecht wurde auf S. 7 der Motive wegen des § 2 des Entwurfes, der das Gewohnheitsrecht (noch) ausschloss, freilich abgelehnt, s. Mugdan, Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Band I, 1899, S. 362 f. 57 Coing, in: J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 13. Bearbeitung 1995, Einl zum BGB, Rn. 114; ebenso Coing/Honsell, in: J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Neubearbeitung 2004, Einl zum BGB Rn. 116. 58 Säcker, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 1, 4. Aufl. 2001, Einleitung Rn. 87; Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 260. 59 Das Motto lautet: Sog. h. M. muss man zwar nicht folgen. Wenn man ihnen nicht folgt, muss man sich mit ihren Argumenten aber inhaltlich auseinandersetzen. 60 Säcker, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 1, 4. Aufl. 2001, Einleitung Rn. 86 f.; Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 260 f. 61 Zu diesem Begriff vorstehend 2.b.bb. 62 Zu denken ist insbesondere an Erkenntnisse aus einer Literatur, die von ihrem Verwender als nicht »zitierfähig« eingestuft wird, beispielsweise aus Repetitorskripten, der Tagespresse oder aus dem Internet. Insoweit gilt der Grundsatz: Was zugrunde gelegt wurde, muss zitiert werden können oder darf nicht berücksichtigt werden. 63 Vorstehend 2.b.aa. 64 Zu diesem Erfordernis Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 215; Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halbband, 15. Aufl. 1959, S. 265 f.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 433.
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her kaum möglich. Eine andere Frage ist, ob die behauptete tatsächliche Übung wirklich existiert. Solche Übungen können selbstverständlich auch inszeniert werden. Das geschieht gelegentlich, um missliebige Gesetzesvorschriften für außer Kraft gesetzt zu erklären, und zwar durch »gewohnheitsrechtliche Derogation«65. Diese stellt aber keine verdeckte Fortbildung des Gewohnheitsrechts, sondern eine verdeckte Fortbildung des Gesetzesrechts unter Berufung auf ein angebliches Gewohnheitsrecht dar. c. Rechtsprinzipien Entsprechendes gilt für Prinzipien bzw. allgemeine Rechtsgrundsätze. Wird eine gesetzliche Regelung im Hinblick auf ein allgemeines Rechtsprinzip modifiziert, dann liegt immer eine Fortbildung des Gesetzes vor. Die Umdeutung der Gesetze im Gewand ihrer prinzipiendeterminierten »Auslegung« ist ein geradezu klassischer Topos verdeckter Rechtsfortbildungen. Übergeordnete Rechtsgrundsätze stellen ein gebräuchliches Mittel dar, um gesetzliche Vorgaben zu »überspielen«. Als Objekt verdeckter Rechtsfortbildungen sind allgemeine Rechtsgrundsätze aber uninteressant. Nach heutiger rechtstheoretischer Betrachtungsweise sind Rechtsprinzipien anders als Regeln nicht subsumtionsfähig, gelten von vornherein nur als Grundsatz, der auf Ausnahmen angelegt ist und führen stets in die Abwägung mit widerstreitenden Rechtsprinzipien66. Räumt man einem der widerstreitenden Prinzipien in einer bislang nicht diskutierten Frage konkret den Vorrang ein, so liegt stets eine Prinzipienfortbildung vor. Beruft man sich demgegenüber auf die anerkannte Ausprägung eines vorrangigen Prinzips, dann mag dabei ein Gesetz verdeckt fortgebildet werden, aber nicht das Prinzip. d. Richterrecht Die grundsätzliche rechtstheoretische Frage nach dem Rechtsquellencharakter des Richterrechts67 kann für die vorliegende Untersuchung vernachlässigt werden. Das Richterrecht, sei es nun Rechtsquelle oder nicht, steht weitestgehend zur Disposition seiner Schöpfer. Zwar sind die Gerichte auch beim Richterrecht um scheinbare Kontinuitäten bemüht. Rechtsprechungsänderungen werden ger-
65 Vgl. hierzu und zur angeblichen gewohnheitsrechtlichen Derogation der rechtspolitisch sehr umstrittenen §§ 59 BetrVG 1952, 77 Abs. 3 BetrVG C. Fischer, Die tarifwidrigen Betriebsvereinbarungen, 1998, S. 10 ff., 17 f. 66 Zum Begriff Rechtsprinzip und den Lehren von Dworkin und Alexy einführend Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 251 ff.; s. auch Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 52 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 421 ff., 474 ff. 67 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 503 ff.; ders., FS 50 Jahre Bundesgerichtshof, Band I, 2000, S. 3 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, 429 ff.; Ohly, Richterrecht und Generalklausel im Recht des unlauteren Wettbewerbs, 1997, S. 253 ff.; Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 235 ff.; vgl. auch Fikentscher, Methoden des Rechts, Band III, 1976, S. 729 ff.; Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 544 f.; Diedrich, Präjudizien im Zivilrecht, 2004, S. 64 ff. – Der Streit spiegelt sich auch im vielfältigen Sprachgebrauch von Richterrecht wider, vgl. § 3 VI.
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§ 4 Die Facetten von »Rechtsfortbildung« und der Untersuchungsgegenstand
ne als Klarstellung und Ausräumen von Missverständnissen im Schrifttum etikettiert. Im Grundsatz besteht aber weitgehende Einigkeit darüber, dass bessere sachliche Gründe ausreichen, um einen Wandel der Rechtsprechung zu rechtfertigen. Das Bedürfnis, Fortbildungen zu verdecken, besteht beim Richterrecht also nicht oder zumindest nicht so stark wie beim Gesetzesrecht. Es geht nicht um einen richterlichen Aufstand gegen den Gesetzgeber, sondern um die Frage eines begrenzten Vertrauensschutzes. Hinzu kommt, dass die Fortbildung des Richterrechts unter dem Stichwort »Rechtsprechungsänderung« im juristischen Schrifttum bereits recht eingehend behandelt worden ist68. e. Rechtsgeschäftliches Recht aa. Das rechtsgeschäftliche Recht ist keine Rechtsquelle, wenn man die Bindungsfrage aus der Perspektive der Rechtsunterworfenen stellt69 oder nur das begrifflich erfasst, was für den Rechtsanwender verbindliche Rechtssätze im Sinne der Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG erzeugt70. Stellt man demgegenüber auf die den Zivilrichter bindenden Entscheidungsvorgaben ab, wie es hier wegen des Untersuchungsgegenstandes geboten ist, dann lassen sich auch der Vertrag und das sonstige rechtsgeschäftliche Recht als normative Rechtsquellen bezeichnen. Zwar handelt es sich bei ihnen um keine abstrakt-generellen Regeln. Das beeinträchtigt ihre Verbindlichkeit zwischen den Beteiligten und für den Richter indes nicht. Wer Rechtsquellen als diejenigen Regeln definiert, nach denen staatliche Gerichte ihr Entscheidungsverhalten ausrichten71, muss sich daher fragen lassen, ob es folgerichtig ist, die Rechtsquelleneigenschaft des Vertrages wegen fehlender Allgemeinheit abzulehnen72. Nach der hier maßgebenden internen Perspektive des Rechtsanwenders stellt das rechtsgeschäftliche Recht ein taugliches Objekt für eine Fortbildung des Rechts dar. bb. Zwischen der verdeckten Fortbildung des rechtsgeschäftlichen Rechts (stellvertretend: Vertragsrecht) und der verdeckten Fortbildung des Gesetzesrechts besteht allerdings ein für diese Untersuchung grundlegender Unterschied. 68 H.-W. Arndt, Probleme rückwirkender Rechtsprechungsänderung, 1974; Viets, Rechtsprechungsänderung und Vertrauensschutz, 1976; Rüberg, Vertrauensschutz gegenüber rückwirkender Rechtsprechungsänderung, 1977; Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, 1996; Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, S. 105 ff.; zuletzt Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, 2004. Einführend zur Rückwirkung der Rechtsprechung im Zivilrecht Heinrichs, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 65. Aufl. 2006, Einl v § 241 Rn. 15; Medicus, NJW 1995, 2577 ff.; ders., WM 1997, 2333 ff. 69 S. zu der Unterscheidung zwischen der externen Perspektive der Rechtsunterworfenen und der internen Perspektive des Richters und Rechtsanwenders vorstehend 2.b.bb. 70 In diesem Sinne Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 217 a und 219; noch deutlicher in der Voraufl. von 1999, Rn. 217 und 219. 71 Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 513. 72 So Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 531, unter Berufung auf das von ihm auf S. 515 aufgestellte Allgemeinheitspostulat. Hier findet ein Wechsel von der internen Perspektive des Entscheiders zu der externen Perspektive eines Dritten statt, vgl. insoweit bereits vorstehend 2.b.bb. am Ende.
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V. Recht als das Objekt der Rechtsfortbildung
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Die verdeckte Fortbildung des Vertragsrechts bleibt grundsätzlich einzelfallbezogen. Anders als die Gesetzesrechtsfortbildung entfaltet die Fortbildung des Vertragsrechts außerhalb des konkret beurteilten Rechtsverhältnisses keine Steuerungswirkung. Die Auslegung eines Gesetzes kann nur einheitlich erfolgen, weshalb Vorentscheidungen von (Ober-)Gerichten zu berücksichtigen sind oder zumindest tatsächlich berücksichtigt werden. Demgegenüber spielt es bei der Vertragsauslegung keine Rolle, wie die Bedingungen eines anderen Vertrages ausgelegt worden sind73. cc. Über den Einzelfall hinaus wirkt die verdeckte Fortbildung des Vertragsrechts nur in zwei Ausnahmefällen, und zwar beim Aufstellen von Auslegungsregeln und bei sog. typischen Erklärungen. Bei der Fortbildung des Vertragsrechts durch spezielle Auslegungsgrundsätze werden aber nicht nur die rechtsgeschäftlichen Vorgaben, sondern zugleich die gesetzlichen Auslegungsregeln (insb. §§ 133, 157 BGB) fortgebildet. Hier ist also der Bereich der Fortbildung des Gesetzesrechts betroffen. Ob es abgesehen von speziellen Auslegungsregeln noch weitere Topoi der verdeckten Fortbildung von standardisierten Verträgen und sonstigen typischen Erklärungen gibt, erscheint zweifelhaft. Jedenfalls sind die typischen Erklärungen und insbesondere die Allgemeinen Geschäftsbedingungen eine spezielle und eigenständige rechtliche Problematik (»das AGB-Recht«). Sie allein rechtfertigt es in einer allgemeinen Arbeit über Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen nicht, die Fortbildung des rechtsgeschäftlichen Rechts als eigenständige Fallgruppe der Fortbildung des Rechts zu untersuchen. Die Fortbildung des rechtsgeschäftlichen Rechts durch spezielle Auslegungsregeln stellt mithin einen Fall der Fortbildung des Gesetzesrechts dar und muss als solcher erörtert werden. Im Übrigen wird die Fortbildung des rechtsgeschäftlichen Rechts nicht behandelt, weil sie grundsätzlich nicht über den Einzelfall hinaus wirkt und außer den rechtsgeschäftlichen Auslegungsregeln keine speziellen Topoi verdeckter Fortbildungen des rechtsgeschäftlichen Rechts erkennbar sind. dd. Das rechtsgeschäftliche Recht ist nach der hier vertretenen Ansicht zwar ein taugliches Objekt einer Fortbildung durch den Zivilrichter. Es ist jedoch kein geeigneter Gegenstand einer Untersuchung, die einzelne Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen analysieren will. f. Das Gesetzesrecht Die Rechtsquelleneigenschaft des Gesetzesrechts ist unstreitig74. Offensichtlich stellen Gesetze für den Richter bindende Entscheidungsvorgaben dar (vgl. nur Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG, §§ 1 GVG, 25 DRiG). Bei der Rechtsfortbildung wird regelmäßig das Gesetzesrecht fortgebildet75. Das Gesetz ist also ein geeignetes und das praktisch wichtigste Objekt der Rechtsfortbildung. Topoi verdeckter 73 74 75
Hierzu Fischer/Oestreich, SAE 2004, 151, 152. Oben 2.b. S. 1. und 3.a.
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§ 4 Die Facetten von »Rechtsfortbildung« und der Untersuchungsgegenstand
Rechtsfortbildungen sind – zumindest im Zivilrecht – Topoi verdeckter Fortbildungen des Gesetzesrechts. Drei ergänzende Hinweise sind angezeigt. aa. Gesetz bedeutet dabei mehr als die Abfolge von Buchstaben, Zeichen und Zwischenräumen im Normtext, mehr als der bloße Gesetzeswortlaut. Kein Richterspruch verändert den Gesetzestext. Das, was modifiziert werden kann, ist vielmehr die Bedeutung der gesetzlichen Begriffe, also deren Wortsinn. Der Texthermeneutik verdanken wir die Erkenntnis, dass es einen reinen, objektiven, von den Umständen der Abgabe und des Empfanges unabhängigen Textsinn nicht gibt76. Wortsinn kann einerseits einen (allgemeinen) Sprachgebrauch und andererseits die konkret mit einem Wort verbundene Vorstellung bezeichnen. (1) Die Bedeutung eines Worts ist nach Wittgenstein sein Gebrauch in der Sprache77. Wenn ein Gesetzesbegriff anhand noch nicht beurteilter Fallkonstellationen und neuer Fallgruppen »konkretisiert« wird, wandelt sich der Fachsprachgebrauch. Eine bislang unbekannte Facette variiert die Bedeutung des Begriffs. Die ergänzende Deutung gesetzlicher Tatbestandsmerkmale verändert den Begriffsgebrauch in der Fachsprache und damit die Wortbedeutung bzw. den Wortsinn. Würde man Gesetz bei der Gesetzesrechtsfortbildung als Wortsinn verstehen, wäre jede neue Auslegung eines gesetzlichen Begriffs eine Rechtsfortbildung78. (2) Es gilt die hermeneutische Grunderkenntnis, dass die in einem Text enthaltene Nachricht nur verstanden werden kann, wenn man die Frage oder die Problemlage kennt, auf die der Text eine Antwort ist oder war79. Mit Gesetzen wollen die gesetzgebenden Instanzen ihre rechtspolitischen Vorstellungen zu bestimmten Regelungsfragen umsetzen. Die zutreffende Anwendung eines Gesetzes und der in ihm enthaltenen Begriffe setzt daher notwendig voraus, dass der Anwender die Frage oder Problemlage verstanden hat, die das Gesetz bei seiner Entstehung regeln sollte. Hier begegnet die allgemeine Hermeneutik der Wertungs- und Interessenjurisprudenz in ihrer von Harry Westermann, G. und D. Reinicke, Brox und anderen im Anschluss an Philipp Heck vertretenen Ausprägung80, die im Privatrecht »heute nahezu unbestritten« und »besonders in der
76 Einführend zum hermeneutischen Hintergrund juristischer Interpretation Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 156 ff.; C. Fischer, ZfA 2002, 215, 231 ff.; weiterführend aus linguistischer Sicht Busse, in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 93 ff.; ders., in: Haß-Zumkehr (Hrsg.), Sprache und Recht, 2002, S. 136 ff.; s. auch Amstutz/ Niggli, FS Walter, 2005, S. 9 ff. 77 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Teil I Nr. 23, in: Ludwig Wittgenstein, Schriften 1, 1969, S. 311. 78 So weit wollen freilich auch die Vertreter einer angeblichen Wortsinngrenze der Auslegung nicht gehen. Sie stellen in wechselnden Varianten auf einen »äußersten möglichen Wortsinn« ab, den es als feste Größe indes nicht gibt, weil er stets vom Kontext und von der Sprechabsicht abhängig ist, s. hierzu § 3 II.1.a.bb. 79 Rüthers, Rechtstheorie, 2.Aufl. 2005, Rn. 158 und 787, jeweils m.w.N. 80 Vgl. zunächst nur Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 36 ff., 104 ff.; Harry Westermann, Wesen und Grenzen der richterlichen Streitentscheidung im Zivilrecht, 1955, S. 14 ff.; Germann, Probleme und Methoden der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1967; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 119 ff.; Pawlowski, Einführung
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V. Recht als das Objekt der Rechtsfortbildung
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Rechtsprechung anerkannt« sein soll81. Diese Wertungsjurisprudenz begreift die Gesetze als begrifflich gefasste Wertungen und fragt zunächst danach, wie der Gesetzgeber die zugrunde liegenden Interessen in der jeweiligen Norm bewertet hat. Gesetze sind hiernach als Ausdruck gesetzgeberischer Interessenbewertungen zu verstehen. Wenn von der Fortbildung des Gesetzesrechts gesprochen wird, ist also nicht die bloße Fortbildung des Gesetzeswortsinns gemeint, sondern die Fortbildung des Gesetzessinns, also des erkennbaren historischen Regelungszwecks82. Eine Fortbildung des Gesetzeszwecks liegt vor, wenn der Rechtsanwender eine Interessenbewertung vornimmt, die von der Bewertung der berücksichtigten Interessen durch die gesetzgebenden Instanzen abweicht. Rechtsfortbildung steht mithin insbesondere für die Fortbildung der Normzwecke, für die Fortbildung der gesetzgeberischen Interessenbewertungen. Wenn von der Fortbildung des Gesetzesrechts gesprochen wird, meint Gesetz also nicht den bisherigen Fachsprachgebrauch, sondern die auf einer Interessenbewertung beruhende Regelungsentscheidung des Gesetzgebers, m. a. W. den Gesetzeszweck. bb. Gesetz umfasst nicht nur die materiellrechtlichen Normen bzw. Sachentscheidungsmaßstäbe im engeren Sinne, sondern auch die gesetzlichen Auslegungsregeln und die materiellrechtlichen und prozessrechtlichen Vorgaben für die Bildung des Sachverhalts durch den Richter. Letzteres ist besonders zu betonen, weil die Sachverhaltsermittlung, manche bevorzugen »Konstruktion des Sachverhalts« und »Herstellung des Falles«83, ein von der Rechtswissenschaft vernachlässigter Themenkomplex ist84. Bydlinski spricht davon, dass sich die Aufmerksamkeit auf die Gewinnung des »juristischen Obersatzes« konzentriere, während die Feststellung des Sachverhalts meist als »unjuristische« Aufgabe reiner Faktenermittlung erscheine85. cc. Gesetz bedeutet hier Parlamentsgesetz. Gemeint ist nicht abstrakt-generelle Regelung oder Rechtsnorm im Sinne von Art. 2 EGBGB oder § 12 EGZPO, was sich schon daraus ergibt, dass der Begriff der Rechtsnorm nach gängiger Betrachtungsweise das Gewohnheitsrecht einbezieht. Gesetz wird im juristischen Sprach-
in die Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2000, Rn. 171 ff., 176 ff.; Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 524 ff. zu Heck, Rn. 532 zu der von Rüthers in JZ 2006, 53 so genannten »Münsteraner Schule der Wertungsjurisprudenz«; eingehend zur Wiederbelebung der Interessenjurisprudenz nach dem Zweiten Weltkrieg durch die »Münsteraner Schule« Schoppmeyer, Juristische Methode als Lebensaufgabe, 2001, S. 221 ff. 81 So Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 120; zwischen verschiedenen Ansätzen der Wertungsjurisprudenz differenzierend Pawlowski, Einführung in die Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2000, Rn. 176 ff. 82 Mit diesem Begriff umschreibt Rüthers das Programm der historischen Interessenforschung von Heck, vgl. insoweit Heck, AcP 112 (1914), 8 f., 62, 111; ders., Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, 40 f., 106; Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 790. 83 Grasnick, Jura 2003, 663, 664. 84 So Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 2 und 9. 85 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 417.
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§ 4 Die Facetten von »Rechtsfortbildung« und der Untersuchungsgegenstand
gebrauch freilich außerdem als Sammelbegriff verwendet86 für die den Richter bindenden supra- und internationalen Regelungen, für das Verfassungsrecht, für das Parlamentsgesetz, für Rechtsverordnungen und Satzungen sowie für die kollektiven Normenverträge des Arbeitsrechts87 und des Sozialversicherungsrechts88, also für staatliche Setzung oder Anerkennung. Zwar bieten Verfassungsrecht und Europarecht auch und gerade dort, wo der Richter durch sie im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG gebunden wird, ein weites Feld für Untersuchungen über Rechtsfortbildungen. Bei den Grundrechten und Verfassungsprinzipien ist die Situation in etwa wie bei den allgemeinen Rechtsgrundsätzen89. Im Gemeinschaftsrecht soll die Rechtsfortbildung nach Einschätzung profunder Sachkenner (noch) der »Normalfall« sein90. Im Rahmen dieser Untersuchung interessiert jedoch nicht die Fortbildung des Verfassungs- oder Europarechts, sondern die Fortbildung des Zivilrechts. Die speziellen Topoi, mit denen man die Fortbildung zivilrechtlicher Gesetze durch verfassungsrechtliche und europarechtliche Vorgaben verdeckt, werden behandelt. Die Fortbildung des Verfassungsrechts, des Europarechts, von Satzungen und von Verordnungen ist indessen kein spezifisches Problem des Zivilrechts; die Fortbildung der kollektiven Normenverträge des Arbeits- und Sozialrechts ist ein eigenes Thema. Deshalb wird Gesetz hier im formellen Sinne verstanden als das förmliche Gesetz, welches in einem verfassungsmäßigen Verfahren zustande gekommen ist, also als Parlamentsgesetz.
5. Resümee Rechtsfortbildung bedeutet zunächst einmal Fortbildung des Rechts. Recht bezeichnet hierbei das Objekt der Fortbildung. Regelmäßig wird bei der Rechtsfortbildung das Gesetzesrecht fortgebildet. Was überhaupt als taugliches Objekt einer Rechtsfortbildung in Betracht kommt, wird abstrakt von der Rechtsquellenlehre beantwortet. Welche möglichen Objekte konkret zu behandeln sind, ist anhand des Untersuchungsgegenstandes der verdeckten Rechtsfortbildungen und des Untersuchungszweckes zu beurteilen. Es geht um die im Zivilrecht vom Rechtsanwender zwingend einzuhaltenden Entscheidungsvorgaben. Der Zivilrichter ist an das Gesetzesrecht, an den Tatsachenvortrag der Parteien, an das rechtsgeschäftliche Recht und an die weiteren im Schrifttum angeführten Rechtsquellen gebunden, sofern man diese denn als normativ wirkende Faktoren einstuft. Rechtswissenschaft und Dogmatik binden den Richter nicht normativ und sind deshalb keine tauglichen Objekte einer Rechtsfortbildung. Beim Gewohnheitsrecht und bei übergeordneten allgemeinen Rechtsgrundsätzen und Prinzipi86 Etwa bei Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 517 f.; vgl. auch Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 217 a, 220 ff. 87 §§ 1, 4 TVG, 77 BetrVG. 88 Erste Hinweise bei Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 533. 89 Hierzu vorstehend c. 90 So der ehemalige Richter am Europäischen Gerichtshof G. Hirsch, ZGR 2002, 1, 11; ähnlich bereits T. Stein, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 619: tägliches Brot.
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VI. Recht als das Mittel der Rechtsfortbildung
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en handelt es sich um beliebte Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen. Als Gegenstand verdeckter Fortbildungen sind sie aber uninteressant, weil sie entweder offensichtlich oder gar nicht fortgebildet werden. Die Fortbildung des Richterrechts wird im Schrifttum unter dem Stichwort »Rechtsprechungsänderung« eingehend behandelt und kann hier unberücksichtigt bleiben. Das rechtsgeschäftliche Recht ist kein geeigneter Gegenstand für eine Untersuchung über einzelne Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen, weil die Fortbildung des rechtsgeschäftlichen Rechts grundsätzlich nicht über den Einzelfall hinauswirkt, und außer speziellen Auslegungsregeln, die zugleich einen Fall der Fortbildung des Gesetzesrechts darstellen, keine spezifischen Topoi der verdeckten Fortbildung des rechtsgeschäftlichen Rechts erkennbar sind. Damit bleibt als Rechtsquelle, die als Objekt der Fortbildung in dieser Untersuchung zu behandeln ist, nur das Gesetz im formellen Sinne übrig. Aufgrund des Untersuchungszwecks ist es angezeigt, Rechtsfortbildung als Fortbildung des Gesetzesrechts zu verstehen. Das entspricht im Übrigen einer am Normalfall ausgerichteten Betrachtungsweise91. Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen sind im Zivilrecht Topoi verdeckter Fortbildungen des Gesetzesrechts. Gesetz steht dabei für das einfache nationale Gesetzesrecht. Erfasst werden damit nicht nur die Sachentscheidungsmaßstäbe i.e.S., sondern auch die gesetzlichen Auslegungsregeln sowie die materiellrechtlichen und prozessrechtlichen Vorgaben der richterlichen Sachverhaltsarbeit. Gesetzesrechtsfortbildung meint nicht die mit jeder neuen Interpretation verbundene Fortbildung des bisherigen Fachsprachgebrauchs, sondern die Fortbildung des Gesetzessinns, also der jeweiligen gesetzgeberischen Interessenbewertung.
VI. Recht als das Mittel der Rechtsfortbildung Die Sprachgebrauchsanalyse hat ergeben, dass manche Autoren nur dann von einer Rechtsfortbildung sprechen wollen, wenn das Mittel der Fortbildung Recht darstellt92. So heißt es etwa bei Pawlowski, der Richter müsse seine Normen als Recht (richtig) legitimieren, sie auf etwas zurückführen, was als Recht oder Quelle des Rechts anerkannt sei93. Die Forderung, das Mittel der Fortbildung müsse Recht sein, steht in engem Zusammenhang mit der Frage, ob nur eine zulässige Rechtsfortbildung als solche zu bezeichnen ist94. Möglicherweise ist die Ansicht auch durch die Sorge bedingt, Gesetzeslücken könnten mit »rechtsfremden« Wertungen gefüllt werden. Aus sprachlicher Perspektive ist die Deutung von Rechtsfortbildung als »Fortbildung mittels des Rechts« ungewöhnlich. In einer Untersuchung über verdeckte Rechtsfortbildungen ist es nicht geboten, den Begriff Rechtsfortbildung für Fortbildungen zu reservieren, die mittels 91 92 93 94
Vorstehend 1. und 3.a. § 3 I.2. und II. Pawlowski, Einführung in die juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2000, Rn. 109. Dazu sogleich unter VIII.
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§ 4 Die Facetten von »Rechtsfortbildung« und der Untersuchungsgegenstand
des Rechts erfolgen und »richtig« legitimiert werden. Gerade besonders bedenkliche Rechtsfortbildungen würden dann außen vor bleiben.
VII. Recht als das Ergebnis der Rechtsfortbildung Verbreitet wird für eine Rechtsfortbildung gefordert, dass das Ergebnis der jeweiligen Fortbildung Recht ist95. Diese Position ist nur scheinbar eindeutig und einheitlich. Wenn es heißt, das Ergebnis der Rechtsfortbildung müsse sich als Recht im Sinne der geltenden Rechtsordnung rechtfertigen lassen96, dann dürfte damit lediglich zum Ausdruck gebracht werden, dass die Rechtsfortbildung rechtlich legitimiert, dass sie zulässig sein muss97. Andere meinen wohl nur, dass der Vergleich der Rechtslage vor und nach der Rechtsfortbildung etwas Neues ergeben muss98. Mehrere Autoren wollen freilich tatsächlich allein dann von Rechtsfortbildung sprechen, wenn das Ergebnis eine gewisse Qualität aufweist. Manche verlangen eine normativ bindende Rechtsquelle oder eine generelle Norm99. Meist geht es dann um die Frage, ob das Richterrecht eine eigene Rechtsquelle ist. Häufiger begnügt man sich damit, dass das Ergebnis der richterlichen Entscheidung eine über den Einzelfall hinausreichende, grundsätzliche Bedeutung hat100. Für eine Untersuchung, die sich mit Rechtsfortbildungsfiguren befasst, ist entscheidend, ob etwas – und ggfs. was – fortgebildet wird. Wie das Ergebnis der Fortbildung zu klassifizieren ist, ob es sich um ein bloßes Einzelfallurteil oder um Recht im Sinne der Rechtsquellenlehre handelt, ist insoweit bedeutungslos.
VIII. Begriff und Zulässigkeit der Rechtsfortbildung Nach einer gängigen Betrachtungsweise soll eine unzulässige Rechtsfortbildung gar keine Rechtsfortbildung sein101. Bezeichnet man nur zulässige Rechtsfortbildungen als solche, so wird das Wort zwangsläufig mit methodologischen und verfassungsrechtlichen Wertungsgesichtspunkten überfrachtet. Ursächlich für diese »Aufrüstung« des Rechtsfortbildungsbegriffs dürfte ein überkommenes, rechtsanwendungsfixiertes und auslegungszentriertes Rechtsfindungsverständnis sein, in dem die Fortbildung der Gesetze so atypisch und regelwidrig ist, dass
95
S. § 3 I.2., II. und III.2.b. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 369; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Studienausgabe), 3. Aufl. 1995, S. 190; hierzu bereits § 3 II.2.a. 97 Dazu sogleich unter VIII. 98 Vgl. T. Stein, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 619. 99 Vgl. § 3 II.2.n.bb. 100 Vgl. im Einzelnen oben § 3 II.2.k. 101 S. § 3 I.2. und II. 96
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IX. Zusammenfassende Erwägungen
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die besondere Rechtfertigungsbedürftigkeit der Rechtsfortbildung schon im Begriff Niederschlag finden muss. Eine Untersuchung, die sich mit Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen beschäftigt, darf Begriff und Zulässigkeit der Rechtsfortbildung nicht in Eins setzen. Sie beschäftigt sich mit Argumentationsfiguren, die entweder per se abzulehnen sind oder aber zumindest mit Sensibilität eingesetzt werden müssen, weil sie geeignet sind, die Fortbildung der Gesetze objektiv zu verschleiern. Es besteht keine Notwendigkeit, unzulässige Figuren bereits über den Begriff der Rechtsfortbildung auszuscheiden. Im Gegenteil: Wichtige Aspekte würden ausgeblendet. Wenn man nur zulässige Rechtsfortbildungen als solche bezeichnet, bleibt von dem Thema verdeckte Rechtsfortbildungen nicht mehr viel übrig.
IX. Zusammenfassende Erwägungen Rechtsfortbildung ist ein schillernder, facettenreicher Ausdruck. Das Schlagwort verdeckt zahlreiche unterschiedliche Rechtsfortbildungsverständnisse. Eine klare Terminologie ist indes für eine sachbezogene Diskussion von Rechtsproblemen unverzichtbar. Die Bedeutung von »Rechtsfortbildung« muss festgelegt werden, um Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen untersuchen zu können. Die Bedeutung eines Worts ist sein Gebrauch in der Sprache102. Die Sprachgebrauchsanalyse hat gezeigt, dass Rechtsfortbildung ganz Verschiedenes bezeichnen kann. Es lassen sich fünf Facetten des Rechtsfortbildungsbegriffs unterscheiden: Nach dem subjektiven Rechtsfortbildungsbegriff entscheidet die innere Einstellung des Interpreten darüber, ob eine Rechtsfortbildung vorliegt. Außerdem kann »Recht« in Rechtsfortbildung den Gegenstand, das Mittel oder das Ergebnis der rechtsfortbildenden Tätigkeit bezeichnen. Schließlich wird das Vorliegen einer Rechtsfortbildung verbreitet von deren Zulässigkeit abhängig gemacht. Jede dieser Begriffsvarianten ist für sich betrachtet gleichermaßen »richtig«. Ob sie zweckmäßig ist, entscheidet der Kontext der jeweiligen Verwendung, welcher unscharfen und vielfältigen Begriffen erst ihre konkrete Bedeutung gibt. Begriffe sind »richtig« gewählt, wenn der Zweck des Textes, in dem sie vorkommen, erreicht wird. Deshalb mussten die Facetten des Rechtsfortbildungsbegriffs anhand des Gegenstands dieser Untersuchung beurteilt werden, um »Rechtsfortbildung« näher zu bestimmen. Die einzelnen Facetten des Rechtsfortbildungsbegriffs sind mehrheitlich für die Zwecke dieser Untersuchung nicht geeignet. Um Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen zu diskutieren, muss man Rechtsfortbildung nach objektiven, von der Person des Interpreten unabhängigen Kriterien bestimmen. Deshalb kann der sog. subjektive Rechtsfortbildungsbegriff, der auf das Bewusstsein des »Auslegenden« abstellt, nicht maßgebend sein. Spricht man nur dann von Rechtsfortbildung, wenn das Mittel der Fortbildung Recht darstellt, wenn die Rechtsfortbildung als Recht »richtig« legitimiert ist, so 102 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Teil I Nr. 23, in: Ludwig Wittgenstein, Schriften 1, 1969, S. 311.
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§ 4 Die Facetten von »Rechtsfortbildung« und der Untersuchungsgegenstand
werden gerade besonders bedenkliche Rechtsfortbildungen nicht berücksichtigt. Wird für eine Rechtsfortbildung gefordert, dass ihr Ergebnis Recht ist, so sind alle Rechtsfortbildungen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, unbeachtlich. Erhebt man die Zulässigkeit der Rechtsfortbildung zu ihrer begrifflichen Voraussetzung, so bleiben unzulässige Fortbildungen außen vor. Den genannten objektiven Erläuterungsansätzen ist gemein, dass sachliche Voraussetzungen für Rechtsfortbildungen in den Begriff verlagert werden. Fälle einer unrechtmäßigen bzw. unzulässigen Fortbildung des Rechts werden begrifflich stigmatisiert, indem man ihnen selbst die Bezeichnung Rechtsfortbildung verweigert. Besonders anschaulich wird das bei Bydlinski, wenn es zur abändernden Rechtsfortbildung heißt: »Über das Gesagte hinausgehenden ›Rechtsfindung contra legem‹ ist kein rechtlich-methodologisch zu begreifender Vorgang, sondern Rechtsbruch im Sinne einer mindestens ›kleinen Revolution‹«103. Für eine Arbeit über Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen verbietet es sich, über den Begriff Rechtsfortbildung unzulässige und von Rechts wegen zweifelhafte Fortbildungen auszuschließen. Diese sind der Gegenstand der Untersuchung. Deshalb darf man keinen Rechtsfortbildungsbegriff verwenden, der einschränkende materielle Wertungskriterien enthält, will man nicht den Zugang zu wichtigen Untersuchungsgegenständen verschließen. Das am Objekt der Fortbildung ausgerichtete »wertneutrale« Rechtsfortbildungsverständnis ist daher die einzige für die Zwecke dieser Untersuchung geeignete Facette des Rechtsfortbildungsbegriffs. Rechtsfortbildung muss somit als Fortbildung des Rechts verstanden werden. Der Gegenstand der Rechtsfortbildung kann faktisch, theoretisch und pragmatisch bestimmt werden. Üblicherweise wird bei der Rechtsfortbildung das Gesetzesrecht fortgebildet. Was theoretisch als Objekt einer Rechtsfortbildung in Betracht kommt, entscheidet abstrakt die Rechtsquellenlehre. Welche möglichen Fortbildungsobjekte konkret zu erörtern sind, beurteilt sich nach dem Untersuchungsgegenstand Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht. Taugliche Objekte von zivilrechtlichen Rechtsfortbildungen sind die den Zivilrichter bindenden Entscheidungsvorgaben. Hierzu zählen außer dem Gesetzesrecht (einschließlich der Regeln über den maßgeblichen Sachverhalt) noch das rechtsgeschäftliche Recht und die weiteren im Schrifttum angeführten Rechtsquellen, sofern diese denn normativ wirken. Das ist bei Rechtswissenschaft und Dogmatik nicht der Fall. Gewohnheitsrecht und übergeordnete Rechtsprinzipien scheiden aus pragmatischen Gründen als Objekte verdeckter Fortbildungen aus, weil sie entweder offensichtlich oder gar nicht fortgebildet werden. Die Fortbildung des Richterrechts kann vernachlässigt werden, weil die »Rechtsprechungsänderung« im Schrifttum eingehend behandelt wird. Das rechtsgeschäftliche Recht ist zwar ein taugliches Objekt einer Rechtsfortbildung, aber kein geeigneter Gegenstand einer Untersuchung von Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen, weil die Fortbildung des rechtsgeschäftlichen Rechts grundsätzlich nicht über den entschiedenen Fall hinaus wirkt und außer der Fortbildung der (gesetzli-
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Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 500.
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IX. Zusammenfassende Erwägungen
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chen) Auslegungsregeln keine spezifischen Topoi der verdeckten Fortbildung des rechtsgeschäftlichen Rechts erkennbar sind. Aufgrund des Untersuchungsgegenstandes macht allein eine Behandlung des auch praktisch bedeutsamsten Gesetzesrechts Sinn. Gesetz steht dabei nicht für den bisherigen Fachsprachgebrauch, sondern für die auf einer Interessenbewertung beruhende Regelungsentscheidung des Gesetzgebers, m. a. W. für den Normzweck. Gesetz ist das einfache nationale Zivilrechtsgesetz und erfasst nicht nur die Sachentscheidungsmaßstäbe im engeren Sinne, sondern auch die Vorgaben für die Bildung des Sachverhalts durch den Richter. Rechtsfortbildung im Sinne dieser Untersuchung ist mithin die Fortbildung des Gesetzesrechts bzw. die Gesetzesrechtsfortbildung. Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen sind im Zivilrecht Topoi verdeckter Fortbildungen des Gesetzesrechts.
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§ 5 Terminologische Ergänzungen Außer den grundlegenden Begriffen »Rechtsfortbildung« und »Topos« gibt es noch einige weitere, in der Untersuchung häufig verwendete Bezeichnungen, deren Inhalt umstritten oder aus anderen Gründen unklar ist. Um mögliche Missverständnisse von vornherein zu vermeiden, sind noch die Ausdrücke »verdeckte Rechtsfortbildung«, »Auslegung«, »Rechtsfindung«, »Entscheidungsfindung« und »Entscheidungsgründe« zu erläutern.
I. »Verdeckte« Rechtsfortbildung 1. Umschreibungen Verdeckt ist etwas, wenn es so bedeckt worden ist, dass es nicht mehr gesehen werden kann, wenn also die freie Sicht auf ein Objekt verhindert wird. Eine Rechtsfortbildung wird verdeckt, wenn ihr rechtsfortbildender Charakter verborgen und versteckt, sie als eine »Nicht-Rechtsfortbildung« ausgegeben wird, also in einem falschen Gewand erscheint. Regelmäßig erfolgt eine verdeckte Rechtsfortbildung im Mantel oder Schleier der Auslegung bzw. der Anwendung der (ausgelegten) Gesetze. Das müsste nicht extra gesagt werden, wäre der Begriff der verdeckten Rechtsfortbildung von Larenz nicht schon anders verwendet worden1.
2. Das Begriffsverständnis von Larenz Er hat damit die Auslegung und die Konkretisierung auslegungsbedürftiger Rechtsbegriffe bezeichnet, bei welcher der Richter nur das erkennen und in seinem Urteil zur Geltung bringen wolle, was die Norm nach ihrem eigenen Sinne besage, dem Gesetz aber nichts hinzufügen möchte. Ihr hat er die offene Rechtsfortbildung gegenübergestellt, bei welcher sich der lückenfüllende Richter im Allgemeinen bewusst sei, dass er selbst eine Regel aufstellt, die er dem Gesetz nicht unmittelbar entnommen hat.
3. Hintergrund und Bewertung Es ist bereits erwähnt worden, dass nach Larenz der Unterschied zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung letztlich ausschließlich in der Haltung bzw. Ein1
Larenz, NJW 1965, 1, 2.
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II. Auslegung, Rechtsfindung, Entscheidungsfindung
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stellung des Interpreten liegt2. Hinzu kommt ein nahezu alle richterlichen Entscheidungen umfassendes Rechtsfortbildungsverständnis3. Sieht man jede Konkretisierung eines ausfüllungsbedürftigen Maßstabes in der Beurteilung eines Einzelfalles und jede neue Auslegung des Gesetzes als Rechtsfortbildung, dann mag man die Einstellung desjenigen, der eine Norm nur interpretieren und anwenden und ihr nichts hinzufügen will, als (Selbst-)Täuschung und verdeckte Rechtsfortbildung bezeichnen. Verdeckte Rechtsfortbildungen sind dann solche, bei denen der praktisch jeder Rechtsfindung innewohnende rechtsfortbildende Charakter vom Interpreten verkannt wird. Dieses subjektive Begriffsverständnis ist, wie bereits dargelegt wurde4, ungeeignet, wenn Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen untersucht werden. Hierfür muss nach objektiven, von der Sichtweise des Interpreten unabhängigen Kriterien zwischen der Auslegung und der Fortbildung der Gesetze unterschieden werden. Verdeckte Rechtsfortbildungen sind daher solche, bei denen die Fortbildung des Gesetzesrechts objektiv verborgen wird. Ob die Interpreten die Gesetze dabei (subjektiv) auslegen bzw. anwenden wollten, spielt keine Rolle.
II. Auslegung, Rechtsfindung und Entscheidungsfindung Die in Diskussionen über Methodenfragen ständig gebrauchten Ausdrücke Entscheidungsfindung, Rechtsfindung und Auslegung wurden und werden mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet.
1. Der Sprachgebrauch So bezeichnet Rechtsfindung im Lehr- und Handbuch der Pandekten von Regelsberger die interpretatio juris, welche die Auslegung des Gesetzes, die interpretatio legis, und die Analogie umfasst, während andere Zeitgenossen die Analogie unter die Auslegung stellten5. Enneccerus unterschied kurz nach der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert Auslegung und Rechtsfindung, wobei er unter Auslegung (meist) die Klarstellung des maßgebenden Sinnes eines Rechtssatzes, konkret die Ermittlung des im Gesetz zum Ausdruck gelangten Willens des Gesetzgebers, und unter Rechtsfindung die Fortbildung des Inhalts des Gesetzes verstand6. Diese Differenzierung zwischen Auslegung einerseits und (ergänzender und abändernder) Rechtsfindung7 andererseits behielt Nipperdey bis zur letzten Auflage des klassischen Großlehrbuchs zum Allgemeinen Teil des Bürgerli2
§ 3 II.2.a. § 3 II.1.a.aa. 4 § 4 IV. 5 Regelsberger, Pandekten, Erster Band, 1893, S. 141. 6 Enneccerus, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Allgemeiner Teil, 4. u. 5. Aufl. 1909, S. 106 f. sowie S. 105 ff., 113 ff. 7 In späteren Auflagen hat Enneccerus die Rechtsfindung dann auch in der Gliederung des Textes klar in ergänzende und abändernde unterteilt, s. Enneccerus, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Allgemeiner Teil, 25. bis 29. Aufl. 1926, S. 115 ff. (§§ 53 f.) 3
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§ 5 Terminologische Ergänzungen
chen Rechts bei8. Heute wird meist der gesamte Vorgang der rechtlichen Fallbeurteilung oder das Bilden des konkreten Entscheidungssatzes mit Rechtsfindung9 oder Rechtgewinnung10 bezeichnet. Es ist aber auch von Entscheidungsfindung, Entscheidungsgewinnung, Urteilsfindung, Rechtssetzung, Rechtsanwendung oder schlicht von Auslegung die Rede. Der Begriff Auslegung steht sowohl für die Interpretation des Gesetzestextes als auch für die Rechtsfindung als solche, also für die Gesetzesinterpretation und die Fortbildung des (Gesetzes-)Rechts11. Das Verständnis der genannten Begriffe variiert von Autor zu Autor.
2. Zur Begriffsauswahl Angesichts der uneinheitlichen Terminologie müssen Begriffe ausgewählt und definiert werden. In dieser Untersuchung werden die Ausdrücke Entscheidungsfindung, Rechtsfindung und Auslegung bevorzugt. Zuzugeben ist, dass sich gegen jeden dieser Begriffe grundsätzliche Bedenken vorbringen lassen. »Rechtsfindung« suggeriert, dass die konkrete Entscheidungsnorm bereits fertig sei und nur gefunden werden müsse. Der produktive Charakter der schon bei der »schlichten« Auslegung erforderlichen Konkretisierung wird nicht hinreichend deutlich. Im Schrifttum kritisiert man vor allem, dass der »Rechtsfindende« bei der Rechtsfortbildung tatsächlich Rechtssetzung oder Rechtsschöpfung betreibe12. Demgegenüber soll beim Begriff Entscheidungsfindung unklar bleiben, dass es nicht um psychologische oder sonstige Gründe der Entscheidung, sondern um rechtliche Entscheidungsdeterminanten gehe. Die maßgebenden Rechtsnormen seien zu ermitteln und im Einzelfall anzuwenden. Nicht irgendeine (Sach-)Entscheidung habe der Richter zu treffen, sondern ein Rechtsurteil. Dass schließlich die doppelte Bedeutung von Auslegung das Verständnis des jeweils Gemeinten erschweren kann, liegt auf der Hand. Dennoch werden die Begriffe Auslegung, Rechtsfindung und Entscheidungsfindung hier benutzt. Es handelt sich um eingeführte Termini, deren Bedeutung immer noch klarer ist als die der sonst vorgeschlagenen Ausdrücke. Die gegen sie
8 Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halbband, 15. Aufl. 1959, §§ 53 f., 58 f. 9 Vgl. etwa Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1972, insb. S. 17; ders., Juristisches Argumentieren im Wandel des Rechtsfindungskonzepts unseres Jahrhunderts, 1979; G. Hirsch, Rechtsanwendung, Rechtsfindung, Rechtsschöpfung, 2003; Nordhues/Trinczek, Technik der Rechtsfindung, 6. Aufl. 1994; Würtenberger, MDR 1969, 626 ff.; C. Fischer, ZfA 2002, 215 ff. Sirp verwendet »Rechtsfindung« ausdrücklich für den gesamten Prozess, der mit dem Rechtsschutzgesuch eingeleitet und durch das Urteil abgeschlossen wird, s. Sattelmacher/Sirp, Bericht, Gutachten und Urteil, 29. Aufl. 1983, S. 7. Die in dem weiten, durch die Zuordnung von Sachverhalt und Norm bestimmten Begriff der Rechtsfindung enthaltenen Vorgänge ließen sich in zwei Gruppen zusammenfassen: Die Arbeit am Sachverhalt und die Arbeit an der Norm, s. a.a.O., S. 12. 10 So steht Rechtsgewinnung bei Kriele als Oberbegriff zu Auslegung und Rechtsergänzung, s. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 1 m.w.N. 11 § 3 II.1.a. 12 Kramer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2005, S. 43 f.; Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 824 f.
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II. Auslegung, Rechtsfindung, Entscheidungsfindung
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vorgebrachten Bedenken lassen sich durch einige klarstellende Worte zu ihrer Verwendung im Rahmen dieser Untersuchung weitgehend zerstreuen.
3. Auslegung i.e.S. und i.w.S. Von der Auslegung i.e.S. kann man sprechen, wenn es um die Ermittlung der Bedeutung einer gesetzlichen Vorschrift bzw. der in ihr enthaltenen Begriffe geht. Sie ist von der Auslegung i.w.S. zu unterscheiden, welche die Rechtsfindung als Ganze, also einschließlich etwaiger Fortbildungen des Gesetzesrechts bezeichnet. Wenn Auslegung im Folgenden ohne Zusatz verwendet wird, ist im Zweifel die Auslegung i.e.S., also die »schlichte« Interpretation des Gesetzes gemeint.
4. Rechtsfindung Der Begriff Rechtsfindung wird als Oberbegriff für die Auslegung i.e.S. und die Rechtsfortbildung gebraucht. Er benennt den (produktiven) Vorgang, an dessen Ende die konkrete Entscheidungsnorm steht. Dass die Rechtsfindung sich nicht in der isolierten Interpretation der einfachen Gesetze und der sonstiger rechtlicher Vorgaben erschöpft, sondern immer auch den zu beurteilenden Fall berücksichtigt, ist allgemein bekannt. Diese Erkenntnis hat in der mittlerweile sprichwörtlichen Formulierung vom Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Lebenssachverhalt und Rechtsnorm durch Engisch einen bleibenden Ausdruck gefunden. Die Rechtsfindung erfolgt also nicht abstrakt, sondern immer fallbezogen durch rechtliche Beurteilung eines Sachverhalts. Sie beinhaltet nach dem hier zugrunde gelegten Begriffsverständnis hingegen nicht die beispielweise von Larenz so genannte Bildung des Sachverhalts13.
5. Entscheidungsfindung »Innovationsleistungen zivilrechtlicher Sachverhaltsarbeit«14 werden in dieser Untersuchung unter dem Begriff der Entscheidungsfindung behandelt. Er steht für die Rechtsfindung und die Sachverhaltsbildung. Im Unterschied zum allgemeinen Ausdruck der Rechtsfindung zielt »Entscheidungsfindung« auf die Tätigkeit des Richters. Der Richter bildet den konkreten Entscheidungssatz und den zu beurteilenden Tatbestand. Seine faktische Sachverhalts- und Verfahrensherrschaft eröffnet ihm zusätzliche Gestaltungsmöglichkeit beim Entscheiden. Auch das wird durch die Unterscheidung zwischen Rechts- und Entscheidungsfindung verdeutlicht. Dass die Entscheidung des Richters die einschlägigen rechtlichen Vorgaben beachten muss, sollte sich von selbst verstehen und spricht nicht gegen den Begriff Entscheidungsfindung, der zudem verdeutlicht, dass sich richterliches Urteilen nicht in der Anwendung rechtlicher Vorgaben erschöpft. Zu berücksichtigen ist bei der Bezeichnung Entscheidungsfindung, dass Entscheidung nicht nur den – bis zum Erlass des 13
Vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 278. So lautet der anschauliche Titel des Beitrags von Hartwieg, in: Harenburg/Podlech/ Schlink (Hrsg.), Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, 1980, S. 339 ff. 14
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§ 5 Terminologische Ergänzungen
Urteils immer nur vorläufigen – Abschluss des Prozesses der Meinungsbildung benennt. Der Begriff steht auch für die mit Gründen versehene schriftliche Fassung der Entscheidung, also für das in vollständiger Form abgefasste Urteil und den mit Gründen versehenen Beschluss. Entscheidungsfindung bezieht insoweit, anders als Rechtsfindung, die Begründung ein.
III. Entscheidungsgründe Im zivilprozessualen Schrifttum sind Unstimmigkeiten über die Verwendung der Bezeichnung »Entscheidungsgründe« aufgetreten15. Ursächlich sind insbesondere die seit 2002 geltende Fassung des § 540 ZPO und das ungeklärte Verhältnis dieser Vorschrift zu § 313 ZPO16. Nach § 313 Abs. 1 Nr. 6 ZPO enthält das Urteil »die Entscheidungsgründe«. § 313 a Abs. 1 S. 2 Alt. 2 ZPO sieht vor, dass es bei nicht rechtsmittelfähigen Stuhlurteilen (§ 310 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 ZPO) keiner Entscheidungsgründe bedarf, wenn ihr wesentlicher Inhalt in das Protokoll aufgenommen worden ist. § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO leitet die Angaben zum Inhalt des Berufungsurteils mit den Worten ein: »Anstelle von Tatbestand und Entscheidungsgründen enthält das Urteil …«. § 540 Abs. 1 S. 2 ZPO eröffnet dem Berufungsgericht bei Stuhlurteilen die Möglichkeit, die Begründung in das Protokoll aufzunehmen. Aufgrund dieser Ausgangslage wird folgende Terminologie zugrunde gelegt: Die »normalen« Entscheidungsgründe werden in § 313 ZPO erläutert. Als Entscheidungsgründe i.e.S. bilden sie gemeinsam mit den Protokollgründen (§ 313 a Abs. 1 S. 2 ZPO) und den Gründen des Berufungsurteils (§ 540 Abs. 1 S. 1 ZPO), die nach § 540 Abs. 1 S. 2 ZPO auch als Protokollgründe ergehen können, die Entscheidungsgründe i.w.S. Mit dieser begrifflichen Differenzierung ist weder über das Verhältnis der §§ 313, 540 ZPO entschieden noch eine Festlegung in der umstrittenen und vom Bundesgerichtshof für § 540 Abs. 1 S. 2 ZPO verneinten Frage verbunden, ob mit den bei Stuhlurteilen möglichen Protokollgründen die Begründungsanforderungen abgesenkt werden17. 15 Vgl. zunächst nur P. Hartmann, NJW 2001, 2584, 2586 und 2592, der zwischen »Entscheidungsgründen«, »Protokollgründen« nach § 313 a Abs. 1 S. 2 Alt. 2 ZPO, »Gründen« gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO und »Protokolldarlegungen« bzw. »Protokollgründen« nach § 540 Abs. 1 S. 2 ZPO unterscheidet; Seitz, NJW 2003, 566, 567, wo vom Verbot der Entscheidungsgründe durch § 540 Abs. 1 Nr. 2 ZPO die Rede ist; Fellner, MDR 2004, 981 f.: »keine Entscheidungsgründe mehr«; Fellner berichtet auch davon, dass die Umsetzung des § 540 Abs. 1 ZPO in der Praxis allerdings in unterschiedlicher Weise erfolge. Von Entscheidungsgründen sprechen demgegenüber auch bei § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO etwa Reichold, in: Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 27. Aufl. 2005, § 540 Rn. 3; Zimmermann/Schneider, Zivilprozessordnung, 7. Aufl. 2006, § 540 Rn. 12; Burgermeister, ZZP 116 (2003), 165, 172. 16 Eine eingehende Untersuchung des Verhältnisses der Normen kommt entgegen einer landläufigen Einschätzung zu dem Ergebnis, dass § 313 ZPO auch im Berufungsverfahren gilt, s. Burgermeister, ZZP 116 (2003), 165, 167 f. und 171 f. 17 BGHZ 158, 37, 42; 158, 60, 62; BGH, NJW 2005, 830, 831; auch für § 313 a Abs. 1 S. 2 ZPO verneint von Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 313 a Rn. 4; a. A. P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 313 a Rn. 12.
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IV. Ein Begriffsverzeichnis
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IV. Ein Begriffsverzeichnis Als Abschluss des ersten Teils werden die wichtigsten Begriffe, die für diese Untersuchung benötigt werden, in Satzform zusammengefasst: Unter Rechtsfortbildung wird hier die Fortbildung des einfachen nationalen Zivilgesetzes verstanden, wobei Gesetz nicht für den bisherigen Fachsprachgebrauch, sondern für die auf einer Interessenbewertung beruhende Regelungsentscheidung des Gesetzgebers steht, m. a. W. für den Normzweck. Verdeckt wird eine Rechtsfortbildung, wenn ihr gesetzesrechtsfortbildender Charakter verborgen oder versteckt, wenn sie als eine »Nicht-Rechtsfortbildung« ausgegeben wird. Topos bezeichnet in dieser Untersuchung eine leerformelartige Begründung bzw. stereotype Phrase und damit das jeweilige Argument, meint aber auch Überleitungsbegriffe, welche erst den Zugang zu Bündeln von Einzelgesichtspunkten eröffnen, die als mögliche Begründung in Betracht kommen, also Suchformeln für Argumente. Von Auslegung wird gesprochen, wenn es um die Ermittlung der Bedeutung einer gesetzlichen Vorschrift bzw. der in ihr enthaltenen Begriffe geht. Diese Auslegung i.e.S. ist von der Auslegung i.w.S. zu unterscheiden, welche die Rechtsfindung als Ganze, also einschließlich etwaiger Fortbildungen des Gesetzesrechts bezeichnet. Der Begriff Rechtsfindung wird als Oberbegriff für die Auslegung i.e.S. und die Rechtsfortbildung gebraucht und benennt den (produktiven) Vorgang, an dessen Ende die konkrete Entscheidungsnorm steht. Entscheidungsfindung zielt auf die Tätigkeit des Richters, meint die Rechtsfindung und die Sachverhaltsbildung und bezieht sich auch auf die begründete Gerichtsentscheidung. Entscheidungsgründe sind i.e.S. diejenigen des § 313 ZPO, welche gemeinsam mit den Protokollgründen (§ 313 a Abs. 1 S. 2 ZPO) und den Gründen des Berufungsurteils (§ 540 Abs. 1 S. 1 ZPO), die nach § 540 Abs. 1 S. 2 ZPO auch als Protokollgründe ergehen können, die Entscheidungsgründe i.w.S. bilden.
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2. Teil
Verdeckte Rechtsfortbildungen als tatsächliche Problematik »Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter«. Goethe, Zahme Xenien, 2. Buch.
Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Sinne dieser Untersuchung sind sprachliche Figuren, mit denen das Gesetzesrecht im Gewand seiner scheinbaren Auslegung und Anwendung fortgebildet wird1. Verdeckte Rechtsfortbildungen sind durch rechtliche Betrachtungen gekennzeichnet, die den normativen Vorgaben der Entscheidungsfindung entgegen dem vermittelten Eindruck nicht zu entnehmen sind. Die Erwägungen, auf denen die jeweilige rechtsfortbildende Entscheidung in rechtlicher Hinsicht wirklich beruht2, werden in den Entscheidungsgründen bzw. in der Begründung nicht genannt. Stattdessen schaffen vielseitig verwendbare Floskeln und leerformelhafte Begründungsfiguren die Illusion, es würden nur die ausgelegten Gesetze angewendet3. Gesetze sind keine Legitimationsmittel für beliebige Ergebnisse, sondern inhaltlich bindende Entscheidungsvorgaben, weshalb der Richter begründen muss, warum sein jeweiliges Einzelurteil in der Sache mit den Gesetzen vereinbar ist. Verdeckte Rechtsfortbildungen betreffen daher die Entscheidungsfindung und die Entscheidungsbegründung. Meist wird eine Begründung gegeben, die den materiellrechtlichen gesetzlichen Vorgaben der Entscheidungsfindung nicht gerecht wird. In der Praxis werden freilich auch die in der Theorie vernachlässigten prozessrechtlichen Regeln für die Bildung des zu beurteilenden Sachverhalts verdeckt fortgebildet4. Weiterhin können verdeckte Rechtsfortbildungen gegen die im hier interessierenden Zusammenhang bislang nicht erörterten (zivilprozess-)rechtlichen Gebote der Entscheidungsbegründung verstoßen. Sie werfen deshalb konkrete materiellrechtlich-methodische und zivilprozessuale Rechtsfragen auf5. Verdeckte Rechtsfortbildungen stellen indes zunächst einmal ein tatsächliches Phänomen mit verschiedenen und wechselnden Erscheinungsformen und Ursachen dar. Im Schrifttum werden verdeckte Rechtsfortbildungen durchaus unterschiedlich bewertet, wobei die jeweiligen Positionen nicht mit rechtlichen, sondern 1 2 3 4 5
§ 1 I.2. Vgl. § 313 Abs. 3 ZPO. Vgl. bereits § 1 I.2. Hierzu § 1 I.3. § 1 III.
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2. Teil: Verdeckte Rechtsfortbildungen als tatsächliche Problematik
mit ethischen und pragmatisch-tatsächlichen Argumenten begründet werden. Die Problematik der verdeckten Rechtsfortbildungen weist neben unerörterten rechtlichen Seiten vor allem rechtliche Aspekte auf. Wenn hier von tatsächlichen Aspekten der Problematik gesprochen wird, dann soll damit betont werden, dass verdeckte Rechtsfortbildungen reale Erscheinungen darstellen und dass sie in der Literatur mit außerrechtlichen Erwägungen beurteilt werden. Verdeckte Rechtsfortbildungen treten selbstverständlich nicht im rechtsfreien Raum auf. Der tatsächliche Hintergrund, der im Folgenden geschildert wird, ist ein rechtlich determinierter Hintergrund. Das Problemfeld von Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung, auf dem verdeckte Rechtsfortbildungen stattfinden, ist normativ begrenzt. Das Meinungsbild zu verdeckten Rechtsfortbildungen wird jedoch nicht durch gesetzliche Regelungen geprägt. Wenn verdeckte Rechtsfortbildungen überhaupt thematisiert werden, wird kaum mit Normen argumentiert. Es geht vielmehr vornehmlich um mehr oder weniger reflektierte Vorstellungen darüber, wie »richtig« entschieden und begründet werden müsse. Dabei ist festzustellen, dass sich die Anschauungen richterlichen Entscheidens im Laufe der Zeit deutlich gewandelt haben.
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§ 6 Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung heute Man kann verschiedene Hilfsmittel benutzen, um die unterschiedlichen Sichtweisen richterlichen Entscheidens zu ermitteln und zu belegen6.
I. Erkenntnisquellen 1. Übliche Materialien Häufig wird in Methodenuntersuchungen allein das rechtstheoretische Schrifttum berücksichtigt7. Daneben ist vor allem an die Begründungen einschlägiger Gerichtsentscheidungen zu denken8, welche für eine an der Praxis ausgerichtete und auf die praktische Anwendung zielende Studie9 besonderes Gewicht haben. Gerne wird noch auf die verbreiteten außergerichtlichen Äußerungen ehemaliger Gerichtspräsidenten und anderer erfahrener (Ober-)Richter zu Methodenfragen zurückgegriffen10.
2. Anleitungs- und Ausbildungsliteratur für die Praxis Aussagekräftiger als Letztere sind freilich gelegentlich die Referendarausbildungsliteratur und Anleitungsbücher für Praktiker. Diese Bewertung mag ungewöhnlich und erläuterungsbedürftig erscheinen11. Die genannte Literaturgattung wird von der Wissenschaft bekanntlich wenig beachtet und schon gar nicht geachtet. Die juristische Alltagstheorie spiegelt sich in den Anleitungsbüchern für die Praxis indes eher wider als im rechtstheoretischen Schrifttum, und zwar auch und gerade bei methodischen Fragen.
6 Hierzu auch Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 19 f. 7 Stellvertretend für viele etwa Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 21 f., 81 ff. 8 Einzeluntersuchungen zu Spruchpraxen verschiedener Gerichte sind beispielsweise zusammengestellt bei Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 22 f., der insoweit von einer deskriptiven Betrachtungsweise spricht, welcher er eine normative entgegensetzt; kritisch zu dieser Differenzierung § 1 II. 9 § 1 I.7. 10 Vgl. zum Beispiel Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 20. 11 Eine aufschlussreiche Randbemerkung zur Funktion und zur Bedeutung der von ihm so genannten »Sattelmacher«-ähnlichen Kompendien »mit riesigen Auflagen« findet sich bei D. Simon, in: Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre, 1986, S. 229, 234 f.
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§ 6 Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung heute
3. Praxis und Methodenlehre Die Methodenskepsis und Methodikaversion vieler Praktiker ist fast schon sprichwörtlich. Abgehoben bis unverständlich (»kapier ich nicht«) oder banal und selbstverständlich (»bringt mir nichts«), so lauten die beiden geläufigen Begründungen für das Ignorieren methodologischer Veröffentlichungen. Schon vor Jahrzehnten wurde eine Entfremdung zwischen Rechtstheorie und Rechtspraxis konstatiert, die in Deutschland eine bedenklich lange Tradition habe12. Die Methodenlehre sei mittlerweile zu einer Spezialwissenschaft geworden, und der »gemeine« Jurist wage es nur noch selten, in Methodenfragen seine Meinung zu äußern13. Untersuchungen über die juristische Methode der Praxis kamen zu dem Ergebnis, dass »unsere akademische Methodenlehre dem Richter weder Hilfe noch Kontrolle bedeutet«14. Die Rede ist vom »Tohuwabohu der gängigen Auslegungsmethoden«15. Ein »Methodensynkretismus«16 bzw. »Methodenpluralismus«17 kennzeichne die Praxis. Die überkommene juristische Methodenlehre habe versagt18. Diese Einschätzung hat Folgen für die richterliche Tätigkeit. Der Praktiker mache sich meist wenig Gedanken über die anzuwendende Methode19. Aufgrund der in der Praxis verbreiteten Abneigung gegen die »moderne« Methodenlehre lässt das einschlägige rechtstheoretische Schrifttum nur bedingt Rückschlüsse auf die Vorstellungswelt des deutschen Rechtsanwenders zu.
4. Methodenlehren der Praxis Soweit die von Praktikern für (angehende) Praktiker verfasste Anleitungsliteratur denn Äußerungen zur Methode des Entscheidens enthält, geben diese das methodische Bewusstsein des »Normaljuristen« im Zweifel treffender wieder als spezielle methodische bzw. rechtstheoretische Publikationen. Solche Praktikerbücher sind dann zudem aufschlussreicher als die Bekundungen langgedienter Revisionsrichter einschließlich der Bundesrichter in Festreden und Aufsätzen20. 12
Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 159. Hattenhauer, Die Kritik des Zivilurteils, 1970, S. 10. 14 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1972, S. 7. 15 Grasnick, Jura 2003, 663, 666. 16 Haverkate, Gewissheitsverluste im juristischen Denken, 1977, S. 149. 17 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1972, S. 124 ff. 18 Grasnick, JR 1998, 179. 19 Kischel, Die Begründung, 2003, S. 6; vgl. beispielsweise Heinrichs, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 65. Aufl. 2006, Einleitung Rn. 56: »Der vor neue Fragen gestellte Richter weiß idR nicht u braucht auch nicht zu wissen, ob das Problem dch Auslegg od dch Rfortbildg zu lösen ist«. – Anders als heute hat man die Methodenabstinenz selbst in der Wissenschaft früher durchaus positiv gesehen, vgl. etwa Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 5. u. 6. Aufl. 1925, S. 194: »Wie Menschen, die sich durch Selbstbeobachtung quälen, meist kranke Menschen sind, so pflegen aber Wissenschaften die sich mit ihrer eigenen Methodenlehre zu beschäftigen Anlaß haben, kranke Wissenschaften zu sein; der gesunde Mensch und die gesunde Wissenschaft pflegt nicht viel von sich selbst zu wissen«. 20 Diesen misst besonderes Gewicht zu Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 20; trotz eines abweichenden Untersuchungsansatzes auch Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 20 Fn. 49 und passim. 13
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II. Der Syllogismus als Ausgangspunkt
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Erfahrene Altmeister praktizieren ihr Handwerk eher intuitiv und zeichnen sich durch einen souveränen, pragmatischen Umgang mit den nur für Lehrlinge und Gesellen ausnahmslos geltenden Regeln der Zunft aus. Auch in der Rechtspraxis haben »Altmeister« oft eine recht eigene Sicht ihres Metiers21.
II. Der Syllogismus als Ausgangspunkt In einer älteren Auflage des klassischen Anleitungsbuches für die zivilrechtliche Praxis heißt es zur Entscheidungsfindung und zur Entscheidungsbegründung: »Das richterliche Urteil … beruht auf einem logischen Schluß, dessen Obersatz die Kenntnis des Rechts, dessen Untersatz die Kenntnis der Tatsachen bildet. Der Schlußsatz (die Konklusion) ist der unmittelbar die Entscheidung gebende Akt«22. Der Begründung des Urteils fällt »die entscheidende Konklusio, die deduktivische Seite zu. Der Richter hat hier in einer Reihe von logischen Schlüssen die tatsächlichen Feststellungen zu treffen, das Gesetz auszulegen und dessen Anwendung zu erörtern, um schließlich die erhobenen Rechtsansprüche anzuerkennen und zur Geltung zu bringen, oder für nicht vorhanden zu erklären«23. »Das Gebiet der Begründung ist der logische Schluß …«24.
III. Wandel des Entscheidungs(findungs)bildes Entscheidungsfindung als reiner logisch-syllogistischer Erkenntnisakt, Entscheidungsbegründung als bloße Abfolge logischer Schlüsse – so wie Sattelmacher im Jahr 1934 wird heute kaum jemand mehr die streitentscheidende Tätigkeit des Zivilrichters beschreiben25. 21
Quod licet Iovi, non licet bovi. Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 14. Aufl. 1934, S. 1. 23 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 14. Aufl. 1934, S. 244. 24 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 14. Aufl. 1934, S. 262. 25 Es ist bemerkenswert, dass die genannten Formulierungen, die Sattelmacher aus den Vorauflagen von Daubenspeck übernommen hatte, in den folgenden Auflagen zunächst zum Teil und später dann ganz entfallen sind, s. Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 15. Aufl. 1937, S. 9, 248, 265; Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 18. Aufl. 1944, S. 1, 257, 270; wie in der 14. Aufl. demgegenüber Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 5. Aufl. 1894, S. 1, 139, 151; ders., Referat, Votum und Urteil, 11. Aufl. 1911, S. 1, 203 f., 220. In der Ausgabe von 1937 wurden lediglich die markanten Sätze über das richterliche Urteil auf der ersten Seite der Einleitung gestrichen, die Passagen im hinteren Teil des Buches über die Begründung des Urteils blieben weitestgehend erhalten; ebenso in der folgenden Auflage, s. Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 16. Aufl. 1938, S. 1, 248, 265. In der nächsten überprüften Auflage aus dem Jahre 1944 findet sich dann auch bei den Entscheidungsgründen nichts mehr über logische Schlüsse. Möglicherweise lag der Grund für die geschilderten Modifikationen darin, dass der Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus vor allem durch unbegrenzte Auslegungen vollzogen worden war. Schon im Vorwort zur vierzehnten Auflage hatte Sattelmacher das Bekenntnis abgelegt, die nationalsozialistische Ideenwelt erfülle auch die Rechtsprechung mit frischem Geist und zeige dem Richter neue Wege und neue Ziele für eine volksnahe, deutschem Denken und Fühlen entspringende Rechtsfindung, aber auch betont, dass sich sein Buch hiermit allenfalls am Rande befassen könne, weil es nur die eine Seite der Kunst der Rechtsfin22
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§ 6 Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung heute
Das liegt nicht an einer geänderten Funktion der Entscheidungsbegründung. Ihr wird nach wie vor meist die Aufgabe zugeschrieben, die Gründe zu nennen, die für die konkrete Entscheidung ausschlaggebend gewesen sind26. Ursächlich ist vielmehr ein grundlegender Wandel des gängigen Bildes von der richterlichen Entscheidungsfindung. Zwar sind die Konturen des neuen Entscheidungsfindungsbildes unklar und umstritten. Soviel scheint aber immerhin sicher: Das reine Subsumtionsdenken, das eine vollständige Kodifikation voraussetzt und im Richter nur den Mund des Gesetzgebers sieht, ist wissenschaftlich erledigt. Allmählich scheint sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass das Subsumtionsdenken zu allen Zeiten eine wirklichkeitsferne Illusion war27. Selbst in heutigen Praxisbüchern wird die Entscheidungsfindung nirgendwo mehr als reiner logisch-syllogistischer Erkenntnisakt bezeichnet28. Zwar scheint die Bedeutung der Gesetzestexte und des Subsumierens für die Rechtsfindung im »Sattelmacher« konkret immer noch (etwas) überschätzt zu werden, wenn zwischen der Anwendung nicht auslegungsbedürftiger »klarer« Normen und den
dung, die Technik methodischer Rechtsfindung, zum Gegenstand habe, vgl. Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 14. Aufl. 1934, S. V f. Im Vorwort zur fünfzehnten Auflage hieß es dann, dass (auch) die Beachtung und Einarbeitung der von einem neuen, frischen Geist erfüllten Rechtsprechung und des Schrifttums der letzten drei Jahre eine durchgreifende Umarbeitung des Buches erforderlich gemacht habe, vgl. Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 15. Aufl. 1937, S. 3. Die Vermutung, dass die im Anschluss an die Machtübergabe und -ergreifung geführte breite Methodendiskussion und ihre Umsetzung in der Praxis ursächlich für die Streichung der ursprünglichen Charakterisierung des richterlichen Urteils (»logischer Schluss«) waren, liegt nahe. 26 Vgl. außer dem Wortlaut der §§ 313 Abs. 3, 286 Abs. 1 S. 2 ZPO etwa Leipold, in: Stein/ Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 4, Teilband 1, 21. Aufl. 1998, § 313 Rn. 59 a: »Die Entscheidungsgründe (Nr. 6 sowie Abs. 3) sollen diejenige tatsächliche und rechtliche Würdigung des Parteivorbringens und der Beweisaufnahmen zur Darstellung bringen, aufgrund deren das Gericht zu seinem Urteil gelangt ist.«; Musielak, in: Musielak (Hrsg.), Kommentar zur Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 313 Rn. 2: »In jedem Fall müssen die für die Entscheidung maßgebenden Gründe den Parteien nachvollziehbar mitgeteilt werden«; ders., in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 2000, § 313 Rn. 14 f.: »Die Parteien … haben einen verfassungsrechtlich fundierten Anspruch darauf, über die den Spruch des Richters tragenden Gründe in einer Weise unterrichtet zu werden, die es ihnen ermöglicht, die maßgebenden Erwägungen zu verstehen und nachvollziehen zu können«; stellvertretend für die »Praktikerausbildungsliteratur« Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 374: »Die Entscheidungsgründe zeichnen den Weg der juristischen Subsumtion nach«. 27 In diesem Sinne bereits Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, 1959, S. 8; Rüthers, Entartetes Recht, 2. Aufl. 1989, S. 182; Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 1986, S. 39 ff., 368 f. zu den Richterbildern im 19. Jahrhundert; s. auch Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1958, S. 6: »Es versteht sich von selbst, dass das Subsumptionsdogma jedenfalls im Zivilrecht niemals unbedingte Geltung beansprucht hat«; vgl. zu den in der zivilrechtlichen Judikatur des Reichsgerichts bereits vor Inkrafttreten des BGB herrschenden Vorstellungen noch Mertens, AcP 174 (1974), 333, 342 f.; weiterführend zur erstaunlichen Karriere des Subsumtionsmodells Ogorek, FS Lüderssen, 2002, S. 127 ff. 28 Die Anleitungsbücher für die Praxis beschäftigen sich freilich meist gar nicht mehr mit Fragen der Rechtsfindung, vgl. etwa Anders/Gehle, Das Assessorexamen im Zivilrecht, 8. Aufl. 2005; Furtner, Das Urteil im Zivilprozess, 5. Aufl. 1985; U. Gottwald, Das Zivilurteil, 1999; M. Huber, Das Zivilurteil, 2. Aufl. 2003; Knöringer, Die Assessorklausur im Zivilprozess, 11. Aufl. 2005; Nordhues/Trinczek, Technik der Rechtsfindung, 6. Aufl. 1994; Siegburg, Einführung in die Urteilstechnik, 5. Aufl. 2003; W. Zimmermann, Klage, Gutachten und Urteil, 18. Aufl. 2003.
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V. Zur heutigen Vorstellung von Entscheidungsfindung
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drei Zweifelsfällen unklarer, unbestimmter und unvollständiger Normen unterschieden und der Kritik an der Alleinstellung der Subsumtionskunst zugestimmt wird29. Schuschkes grundsätzliche Stellungnahme lässt aber an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig30: »Natürlich erschöpft sich Rechtsfindung nicht allein in der kühlen und logischen Subsumtion eines nach emotionsfreien Regeln ermittelten Lebenssachverhalts unter die Tatbestandselemente einer Norm«. Der Rechtsanwender ist eben kein Subsumtionsautomat, der lediglich wertfrei ermittelt, ob Gesetz und Sachverhalt übereinstimmen, und dann zwangsläufig das eine allein gesetzeskonforme Urteil auswirft. Vertretbar ist vieles und die richtige Entscheidung gab und gibt es nur in seltenen Fällen. Urteilen ist also mehr, als ein fertiges Gesetz auf einen feststehenden Lebenssachverhalt anzuwenden und das Ergebnis dieses Abgleichs zweier Schablonen dann schriftlich zu fixieren.
IV. Die Bildung von Tatbestand und Entscheidungsnorm Der zu beurteilende Tatbestand muss aus der Vielzahl der vorgetragenen Tatsachen unter Berücksichtigung der Darlegungs- und Beweislast und unter Würdigung erhobener Beweise erst gebildet werden31. Gleiches gilt für den konkreten Entscheidungssatz. Hierunter wird das im jeweiligen Streitfall angewandte Recht verstanden, das die Entscheidung trägt. Obergerichtlichen Entscheidungen wird es häufig als Leitsatz formuliert vorangestellt. Der konkrete Entscheidungssatz ist nicht etwas bereits fertig Vorhandenes, das nur gesucht und gefunden werden muss. Er ergibt sich aufgrund des Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Lebenssachverhalt und Rechtsnorm bzw. Präjudiz. Wird ein Einzelfallurteil aus dem Gesetz begründet, so ist das immer auch ein produktiver, ein schöpferischer Vorgang32. Noch größer ist der Anteil der richterlichen Eigenwertungen im Bereich der Rechtsfortbildung33, welche nach heute so gut wie allgemeiner rechtstheoretischer Auffassung im Grundsatz zu den legitimen Aufgaben der Rechtsprechung zählt.
V. Zur heutigen Vorstellung von Entscheidungsfindung Zwei Aspekte kennzeichnen heute die gängige Sichtweise der Entscheidungsfindung, und zwar die Dominanz der Rechtsfindung und die grundsätzliche Anerkennung der Rechtsfortbildung in der Theorie des Rechts. 29 Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 151, 163, 178 (im Original nicht hervorgehoben). 30 Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 178. 31 Manchem praktisch tätigen Juristen mag das Bilden des Tatbestandes zu kreativ klingen. »Bildung des Sachverhalts« ist aber ein eingeführter Terminus der Methodenlehre, vgl. nur die Kapitelüberschrift bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 278. 32 Vgl. zunächst nur Bülow, Gesetz und Richteramt, 1885, S. 2, 28 ff., insb. S. 32 und 46; Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, 1903, insb. S. VI, 29; Rumpf, Gesetz und Richter, 1906, S. 36 ff., 91 f.; stellvertretend für das heutige Schrifttum Herzog, FS H. Simon, 1987, S. 103, 104. 33 Vgl. im Einzelnen C. Fischer, ZfA 2002, 215, 218 f., 233 ff., mit einer die unterschiedlichen Spielräume verdeutlichenden Unterscheidung nach verschiedenen Bereichen der Rechtsfortbildung.
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§ 6 Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung heute
1. Die vernachlässigte Sachverhaltsarbeit Entscheidungsfindung wird vor allem als Rechtsfindung begriffen. Die verfahrensmäßige Seite des zivilrechtlichen Entscheidens spielt an den Universitäten keine nennenswerte Rolle: Die Sachverhaltsarbeit findet weder im dogmatischen Zivilund Zivilprozessrechtsunterricht noch in der universitären Methodenlehre statt34. Nach Bydlinski konzentriert sich die Aufmerksamkeit der juristischen Methodenlehre auf die Gewinnung des »juristischen Obersatzes«, während die Feststellung des Sachverhalts meist als eigentlich »unjuristische« Aufgabe reiner Faktenermittlung erscheine35. Amtspflicht des Richters ist gemäß traditioneller Betrachtungsweise die Kenntnis des Rechts, während ihm die Kenntnis der Tatsachen von den Parteien verschafft werden muss (Verhandlungsmaxime), denen die Prozessordnung die Regeln und Formen vorgibt, wie das tatsächliche Material dem Richter vorzuführen ist36. Koch und Rüßmann bezeichnen die Sachverhaltsermittlung als stark vernachlässigten, sehr stiefmütterlich behandelten Themenkomplex, der zwar in der juristischen Berufsausübung eine ganz wichtige Rolle spiele, in der Rechtswissenschaft aber nur geringes Interesse gefunden habe37. Grasnick bevorzugt den Begriff »Konstruktion« des Sachverhalts und spricht nicht von Feststellung, sondern von der Herstellung des Falles, die in den Arbeiten zur juristischen Methode, wenn sie überhaupt vorkomme, viel zu kurz komme38. Wer sich näher mit der einschlägigen Literatur beschäftigt, sieht diese Einschätzungen bestätigt. Selbst in Büchern mit so viel versprechenden Titeln wie »Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung« findet man wenig bis gar nichts zur Sachverhaltsbildung im gerichtlichen Verfahren39. Entscheidungsfindung erscheint hier als bloße Rechtsfindung.
2. Das Rechtsfindungsbild In zwei Sätzen lässt sich die Vorstellung von Rechtsfindung in der heutigen Theorie des Rechts vielleicht so umschreiben: Das Gesetz determiniert die stets schöpferische gerichtliche Entscheidung nie vollständig. Die immer noch so genannte Rechtsfindung umfasst die Auslegung und die Rechtsfortbildung. Allerdings werden diese beiden Sätze nur bei denjenigen uneingeschränkte Zustimmung finden, die sich schon näher mit den Grundlagen und Grundfragen der 34
S. bereits § 1 I.3. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 417. 36 So Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 5. Aufl. 1894, S. 1. 37 Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 2 und 9; vgl. auch Esser, Juristisches Argumentieren im Wandel des Rechtsfindungskonzepts unseres Jahrhunderts, 1979, S. 30, der die Darstellung der Sachverhaltswürdigung bemängelt, bei der ungeprüfte Alltagstheorien eine starke Rolle spielten. 38 Grasnick, Jura 2003, 663, 664; ders., JR 1998, 179, 180, wo es heißt, bis heute stehe eines freilich noch aus, »nämlich die umfassende Neukonzentration dessen, was Richter eigentlich tun, wenn sie am Sachverhalt »arbeiten« und dessen juristischer Bewältigung im übrigen« (Hervorhebungen im Original). 39 Vgl. Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung, 1996. 35
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V. Zur heutigen Vorstellung von Entscheidungsfindung
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Rechtsfindung beschäftigt haben. Das ist in der juristischen Ausbildung immer noch nicht selbstverständlich. Zwar dürfte der wertende Charakter der richterlichen Tätigkeit in der Fachgemeinschaft mittlerweile unbestritten sein. Kaum ein Zivilrechtler hält die Entscheidungsfindung oder selbst die Rechtsfindung heute noch für eine reine oder auch nur für eine primäre Frage der (formalen) Logik. Dass die Gesetze nur eine begrenzte Aussagekraft haben, dass sie die Entscheidungsfindung nie und die Rechtsfindung selten vollständig vorherbestimmen, wird aber erstaunlicherweise immer noch verbreitet in Abrede gestellt. Gerade jüngere Juristen überschätzen die Steuerungswirkung der Gesetze. Sie betrachten eine fremde Wertungen nachvollziehende Auslegung der Gesetze als den Normalfall richterlicher Tätigkeit und die Rechtsfortbildung als seltene Ausnahme. Die übliche Ausgestaltung des Rechtsunterrichts an den Universitäten mit dem Schwerpunkt in der »Lösung« von papiernen Fällen aus detailliert kodifizierten Rechtsbereichen kann diese Fehlvorstellungen fördern. Der am Bürgerlichen Gesetzbuch geschulte Jurist ist durch die Perfektion der Gesetzgebung verwöhnt40. Verbleibende Unklarheiten werden aus dem Arsenal der dogmatischen Rechtswissenschaft mit Hilfe begrifflich verankerter »herrschender Meinungen« beseitigt. Eine Technik oder Methode der Fortbildung des Gesetzesrechts wird so wenig gelehrt wie das eigenständige Beurteilen realer alltäglicher Konfliktsituationen. Entscheiden müssen sich die Studierenden regelmäßig lediglich zwischen den verschiedenen Lösungsmöglichkeiten, die im Schrifttum für ihren Fall angeboten werden. Gesetz und Dogmatik determinieren scheinbar die Entscheidungsfindung, die im Studium ausschließlich Rechtsfindung ist. Das verkürzte Referendariat trägt nicht mehr zwangsläufig zu einer realistischeren Sichtweise des Urteilens bei. Die Stationsausbildung als »Schule des echten juristischen Lebens« verliert nach verbreiteter Einschätzung gegenüber den »theoretischen Einführungen in die Praxis« in Arbeitsgemeinschaften immer mehr an Gewicht. Letztere beschränken sich regelmäßig auf handwerklich-technische Fragen der Sachverhaltsaufbereitung (»Relationstechnik«) und auf Form und Einzelaspekte der schriftlichen Abfassung der Entscheidungen. Das Zusammenspiel von Lebenssachverhalt und Rechtsnorm bei der Entscheidungsfindung wird angeblich nur noch selten thematisiert. Das Recht wird als bereits gefunden vorausgesetzt. Es ist bemerkenswert, dass auch in der Referendarausbildungsliteratur kaum noch auf die Rechtsfindung eingegangen wird41. Insoweit knüpft man im Referendariat an die Universitätsausbildung an, allerdings mit der Maßgabe, dass die »herrschende Meinung« durch die obergerichtliche Rechtsprechung zu ersetzen sei. Gesetz und Präjudiz sind nun die bestimmenden Faktoren. 40
So Ecker, JZ 1967, 265, 270. Vgl. nochmals Anders/Gehle, Das Assessorexamen im Zivilrecht, 8. Aufl. 2005; Furtner, Das Urteil im Zivilprozess, 5. Aufl. 1985; U. Gottwald, Das Zivilurteil, 1999; M. Huber, Das Zivilurteil, 2. Aufl. 2003; Knöringer, Die Assessorklausur im Zivilprozess, 11. Aufl. 2005; Nordhues/Trinczek, Technik der Rechtsfindung, 6. Aufl. 1994; Siegburg, Einführung in die Urteilstechnik, 5. Aufl. 2003; W. Zimmermann, Klage, Gutachten und Urteil, 18. Aufl. 2003; über die Methode(n) der Rechtsfindung berichtet in der ausgewerteten einschlägigen Ausbildungsliteratur allein Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 137 ff., insb. Rn. 151 ff. 41
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§ 6 Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung heute
Autoritätenkult statt eigener Verantwortung, so lässt sich das gemeinsame Rechtsfindungsmotto der beiden juristischen Ausbildungsabschnitte polemisch umschreiben. So kann es geschehen, dass heute selbst Assessoren irritiert reagieren, wenn der kreative Charakter gerichtlicher Entscheidungen bzw. deren manchmal nur sehr begrenzte Vorherbestimmung durch die Gesetze betont und die Rechtsfortbildung als normale Aufgabe der Rechtsprechung bezeichnet wird.
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§ 7 Paradigmenwechsel bei der Rechtsfindung Dennoch kann man im Hinblick auf die vorstehend in zwei Sätzen umrissene heutige Vorstellung von Rechtsfindung durchaus vom Zusammenbruch der traditionellen Rechtsanwendungsdoktrin1 oder auch von einem Paradigmenwechsel2 sprechen. Allerdings verwendet man den anschaulichen Begriff Paradigmenwechsel, der auch auf wissenschaftlich tätige Juristen eine ungebrochene Faszination auszuüben scheint3, dann anders als sein Schöpfer.
I. Zum Wechsel von Paradigmen 1. Der Begriff Kuhn hat den Terminus Paradigma4 in die Wissenschaftstheorie eingeführt, um diejenigen Auffassungen zu bezeichnen, die eine Wissenschaft in einer Periode prägen, also die Theorien, methodologischen Regeln und Schemata, aber auch intuitive Grundeinstellungen und unmittelbare Erfahrungen5. Wird ein Paradigma durch ein nicht mit ihm zu vereinbarendes neues ersetzt, so redet Kuhn von einer wissenschaftlichen Revolution oder auch von einem »Paradigmawechsel«6. Revolutionen bezeichnet er als Wandlungen des wissenschaftlichen Weltbildes; der Begriff Paradigmawechsel wird als Synonym für den zentralen Terminus der wissenschaftlichen Revolution verwendet, aber auch konkret umschrieben: Er veranlasse die Wissenschaftler, die Welt ihres Forschungsbereichs anders zu sehen7.
1
D. Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, 1975, S. 79; Böhlk/Unterseher, JuS 1980, 323. Vgl. Krawietz, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), 113, insb. 133 ff., der den Topos allerdings vornehmlich verwendet, um den Schritt von der Begriffsjurisprudenz zur Interessen- und Wertungsjurisprudenz zu kennzeichnen. 3 Vgl. stellvertretend für viele etwa Eidenmüller, JZ 1999, 53 ff. 4 Anknüpfend an die Begriffsverständnisse von Lichtenberg und Wittgenstein, s. hierzu Rentsch, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 7, 1989, Stichwort »Paradigma«, Sp. 77 ff. 5 Vgl. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. 25, 37, 57, 60, 92, 116, 122, 135, 139, 186 f., 189 f. (Originalausgabe 1962). 6 Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. 27, 103 f., 123. 7 Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. 123. 2
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§ 7 Paradigmenwechsel bei der Rechtsfindung
2. Kuhns lineares Phasenmodell Kuhns Theorie des wissenschaftlichen Fortschritts durch revolutionäre Prozesse8 lässt sich als lineares Phasenmodell charakterisieren: Das Paradigma prägt seine Epoche, gerät aufgrund offensichtlich nicht erklärbarer Anomalien in die Krise, eine neue Theorie mit besseren Problemlösungen wird verkündet, diese setzt sich allmählich durch und beendet schließlich mit einem Paradigmawechsel die Krise (des alten Paradigmas). Außerhalb der Phase der Krise sind miteinander konkurrierende Paradigmen in diesem Modell nicht vorgesehen: In dem Prozess, in dem die zweite Theorie rezipiert wird, muss sie die erste verdrängen (»Paradigmazerstörung«)9. Revolutionen enden mit einem vollkommenen Sieg eines der beiden gegnerischen Lager10.
3. Ein Abbild der Geistes- und Sozialwissenschaften? Man kann durchaus zweifeln, ob Kuhns an naturwissenschaftlichen Entdeckungen und Erklärungen entwickelte Analyse für die Geistes- und Sozialwissenschaften überhaupt passt und Geltung beansprucht. Kuhn, der Wissenschaft in seiner Studie offenbar zunächst im Sinne von Naturwissenschaft verstand und sie von Philosophie und Sozialwissenschaften abgrenzte11, hat selbst angemerkt, dass es in »nichtwissenschaftliche(n) Gebiete(n)« wie der Philosophie immer konkurrierende Schulen gebe12 und Studierende nichtnaturwissenschaftlicher Disziplinen ständig eine Anzahl von konkurrierenden und inkommensurablen Lösungen von Problemen vor Augen hätten13. Die in diesen Beschreibungen anklingende Paradigmenkonkurrenz im geistes- und sozialwissenschaftlichen Sektor scheint mit dem geschilderten Modell unvereinbar. Später hat Kuhn dann allerdings den Aspekt des Gruppenparadigmas stärker betont14 und Paradigmata 8 S. zu Kuhns Betrachtungsweise, zu der Anschlussdiskussion in Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte sowie zu der »außergewöhnlichen Wirkungsgeschichte des Begriffs« Paradigma einführend Rentsch, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 7, 1989, Stichwort »Paradigma«, Sp. 79 f.; Gethmann, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 3, 1995, Stichwort »Paradigma«; Hoyningen-Huene, in: Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie, Band 2, 1999, Stichwort »Paradigma«; ders., in: M. Fischer/Hoyningen-Huene (Hrsg.), Paradigmen: Facetten einer Begriffskarriere, 1997, S. 129 ff.; zu Kuhns »spätem« Paradigmaverständnis Steinbacher, in: Sandkühler (Hrsg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Band 4, 1990, Stichwort »scientific community«; weiterführend zum Ganzen Hoyningen-Huene, Die Wissenschaftsphilosophie Thomas S. Kuhns, 1989. 9 So Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. 110. 10 Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. 178. 11 Vgl. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. 171 f., 174, 176. Die Kuhnsche Theorie der Paradigmenwechsel soll sich »eigentlich nur auf reife naturwissenschaftliche Grundlagendisziplinen« beziehen, so Hoyningen-Huene, in: M. Fischer/HoyningenHuene (Hrsg.), Paradigmen: Facetten einer Begriffskarriere, 1997, S. 129, 130. 12 Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. 174. 13 Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. 176, unter ausdrücklicher Nennung von Geschichtswissenschaft, Philosophie und Sozialwissenschaften. 14 In seinem 1969 geschriebenen Postskriptum, s. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. 186 ff.; vgl. aber auch bereits a.a.O., S. 26, wo von spezialisierten Paradigma die Rede ist.
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II. Revolution in der Rechtswissenschaft?
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als Konstellationen von Gruppenpositionen betitelt15. Ein Paradigma sei das, was den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft16 oder einer Gruppe, die wissenschaftliche Erkenntnisse erzeuge und prüfe17, gemeinsam sei. Dieses Verständnis dürfte eher mit den pluralistischen Gegebenheiten in den Geistes- und Sozialwissenschaften vereinbar sein. Hier liegt eine mögliche Erklärung für die Erfolgsgeschichte des Begriffs Paradigmenwechsel im deutschen Sprachgebrauch. Es ist bemerkenswert, dass nicht der die Untersuchung Kuhns betitelnde Terminus der wissenschaftlichen Revolution, sondern der des Paradigmenwechsels übernommen worden ist, und dieser auch nicht im bei Kuhn zu findenden Singular (»Paradigmawechsel«18), sondern im Plural.
II. Revolution in der Rechtswissenschaft? Eine wissenschaftliche Revolution der geschilderten Art, also eine die gesamte Disziplin erfassende Umwälzung der Grundanschauungen, hat in der Rechtswissenschaft in Deutschland nicht stattgefunden.
1. Konkurrierende Paradigmen Zwar ist das Weltbild voll gesetzesdeterminierten Entscheidens ins Wanken geraten. Mit gewissen Modifikationen wird es aber offiziell noch aufrechterhalten. Die Anwendung der ausgelegten Gesetze wird verbreitet als der Normal- und Regelfall der Rechtsfindung angesehen19. Paradigmen sind zählebig. Solange die von einem Paradigma gelieferten Hilfsmittel noch fähig sind, die meisten anstehenden Probleme zu lösen, und sei es auch nur scheinbar, behilft man sich mit Detailkorrekturen an den Hilfsmitteln; gefordert wird deren »bessere« und überzeugtere Anwendung, am überkommenen Paradigma wird aber unbeirrt und mit stärkeren Glaubensbekenntnissen festgehalten. »Wie bei der Fabrikation, so auch in der Wissenschaft – ein Wechsel der Ausrüstung ist eine Extravaganz, die auf die unbedingt notwendigen Fälle beschränkt bleiben soll«20. Ein vollständiger Paradigmenwechsel im Sinne von Kuhn ist in der deutschen Rechtswissenschaft noch nicht erfolgt. Sie wird verbreitet immer noch unter dem Paradigma einer (Gesetzes-)Rechtsanwendungswissenschaft betrieben21. Dieses Paradigma ist 15
Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. 193. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. 187, wobei eine wissenschaftliche Gemeinschaft aus den Fachleuten eines wissenschaftlichen Spezialgebiets bestehe. 17 Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. 189 f. 18 So durchgehend in der deutschen Ausgabe seines Buches. 19 Vgl. zunächst nur Prütting, FS der rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 305, 308, wo von der fast allgemeinen Auffassung, dass der Richter im Normalfall das Recht nur anwendet, die Rede ist. 20 Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. 89. 21 Vgl. hierzu und zu den Möglichkeiten, Rechtswissenschaft realwissenschaftlich zu betreiben Eidenmüller, JZ 1999, 53 ff.; s. auch Albert, Rechtswissenschaft als Realwissenschaft, 1993, S. 7 ff.; ders., Ars interpretandi 2. 1997 (1998), S. 237 ff. 16
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§ 7 Paradigmenwechsel bei der Rechtsfindung
nicht mehr unangefochten, sofern es das denn jemals war, und befindet sich im Wettstreit mit konkurrierenden und es ergänzenden Paradigmen.
2. Die Phase der Krise Wendet man das Phasenmodell von Kuhn trotz der genannten Bedenken auf die Rechtswissenschaft an, dann befindet sich diese noch in der Phase der Krise, die einem anstehenden Paradigmawechsel voraus geht und ihn ankündigt22. Dass diese Krise seit langem besteht, schadet nichts. Nach Kuhn bedarf es selbst in der exakteren Naturwissenschaft manchmal einer ganzen Generation, bis ein Paradigmawechsel vollzogen ist23. Man kann sich insoweit auch auf Max Planck berufen: »Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, daß die Gegner allmählich aussterben und daß die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist«24.
3. Ein »partieller Paradigmenwechsel« Von einem Paradigmenwechsel lässt sich daher nur sprechen, wenn man nicht auf die gesamte Rechtswissenschaft mit all ihren primär dogmatisch betriebenen Einzeldisziplinen, sondern auf bestimmte Teilgebiete abstellt und für diese jeweils den Begriff des Gruppenparadigmas verwendet. In der die »Grundlagenforschung« betreibenden Rechtstheorie und in Teilbereichen der Rechtspraxis haben sich die Betrachtungsweisen tatsächlich nachhaltig gewandelt. Das lässt sich mit dem Begriff Paradigmenwechsel plastisch veranschaulichen. Ansonsten geht es eher um einen »Paradigmenwechsel« durch alternative, vordringende Auffassungen, durch konkurrierende Grundeinstellungen. Die begrenzte Gesetzesdeterminiertheit der Entscheidungsfindung stellt einen, wenn man so will, »partiellen Paradigmenwechsel« dar. Dieser lässt sich mit dem Schlagwort »Abschied vom klassischen Auslegungsverständnis« treffend charakterisieren.
III. Abschied vom klassischen Auslegungsverständnis Die Rechtsfindung erschöpft sich nicht in der Interpretation der Gesetze. Das Subsumtionsdenken ist tot. Es wird heute allenfalls noch in Teilbereichen des dogmatischen Rechtsunterrichts und in bestimmten juristischen Falllösungsbüchern künstlich am Leben gehalten. Als Modell der Entscheidungsfindung hat das Subsumtionsdogma des Justizsyllogismus ausgedient25. Die Fiktion, der 22
Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. 88. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. 163. 24 M. Planck, Wissenschaftliche Selbstbiographie, 1990, S. 15 (Erstausgabe posthum 1948). 25 Davon zu trennen ist die in den letzten Jahren häufiger gestellte Frage, ob das Subsumtionsmodell als Muster der Darstellung von Rechtsanwendungen dienen kann; hierzu eingehend im 3. Teil. 23
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III. Abschied vom klassischen Auslegungsverständnis
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Richter könne die soziale Wirklichkeit zweifelsfrei erkennen und unter Gesetze subsumieren, von denen er geleitet werde »wie der Soldat vom friderizianischen Exerzierregiment«, ist zerbrochen26. Der damalige Präsident des Bundesgerichthofs Robert Fischer hat bereits bei der Feier des zehnjährigen Bestehens des Gerichts zu den Aufgaben der Rechtsprechung ausgeführt: » … zur Richterrechtsbildung der heutigen Zeit. »Das nomokratische Ideal der Gesetzesexekution« ist heute längst verblaßt, die Gesetzesanwendung ist nicht mehr allein Vollzug des Gesetzes, sondern zugleich eigene Entscheidung, »Wertverwirklichung«, »die Wahl zwischen mehreren Bewertungen – an welchen Prinzipien auch immer diese Wahl sich orientiert««27. Die Erkenntnis, dass das geltende und angewendete Recht auch in Gesetzesstaaten kontinentaleuropäischer Prägung stets ein Konglomerat aus Gesetzesund Richterrecht ist28, ist mittlerweile recht alt. Sie wurde breiteren Juristenkreisen vor kurzem durch die Diskussion über Sinn und Unsinn der Schuldrechtsreform noch einmal ins Bewusstsein gerufen. Diese hat gezeigt, wie weit sich das tatsächlich wirksame Recht längst von dem im Bürgerlichen Gesetzbuch niedergeschriebenen gelöst hatte, genauer: durch die Rechtsprechung und das sie vorbereitende Schrifttum unter Mithilfe der Kautelarjurisprudenz gelöst worden war. So meinte etwa Stürner, die Kluft zwischen gelebtem und kodifiziertem Recht sei im Leistungsstörungs- und Verjährungsrecht so groß geworden, dass die Kodifikation ihren Sinn nicht mehr erfülle29. Zentrale Figuren des geltenden Bürgerlichen Rechts wie die culpa in contrahendo, der Vertrag mit Schutzwirkungen für Dritte, die positive Forderungsverletzung oder der Wegfall der Geschäftsgrundlage waren im bürgerlichen Gesetzbuch nicht geregelt. Wer das Schuldrecht seiner Zeit suchte, fand es bekanntlich im Text der §§ 241 bis 853 BGB kaum30. Diederichsen merkte an, man hätte sich mit dem BGB als Stadtplan in der Rechtsordnung überhaupt nicht mehr zu Recht gefunden, weil man das Stadtbild unseres Zivilrechts bei einem Vergleich mit Fotos der Jahrhundertwende nicht wiedererkennen würde31. Das war schon seit Jahrzehnten so. Nach Wieacker konnte das wirklich geltende Privatrecht bereits vor 1933 nicht mehr aus dem Gesetzestext abgelesen werden32. Das Bürgerliche Gesetzbuch ist alt gewor26
Böhlk/Unterseher, JuS 1980, 323. R. Fischer, Die Rechtsprechung des Bundesgerichthofes, 1960, S. 14 f.; hierzu Flume, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band II, 1967, S. K 5, K 10. 28 S. etwa die Ausführungen im Jahresbericht 1966 für den Bundesgerichtshof, NJW 1967, 816; vgl. auch bereits BGHZ 11 Anhang, S. 34, 52 ff. 29 Stürner, JZ 1996, 741, 744. 30 Frei nach Gernhuber, in: Lange, Handbuch des Schuldrechts, Band 1, Schadensersatz, 1979, S. V (Vorwort des Herausgebers). 31 Diederichsen, FS Wieacker, 1978, S. 325, 326 mit ausführlichen metaphorischen Erläuterungen seines Sprachbildes. 32 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 514 f., mit besonderer Betonung der allgemeinen Lehren und des Schuldrechts; anders noch Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1. Aufl. 1952, S. 370 f., wo es ohne den Zusatz »bereits vor 1933« heißt, dass »das heute geltende Privatrecht, insbesondere seine Allgemeinen Lehren und das Schuldrecht, aus dem Gesetzbuch nicht mehr abgelesen werden können …«; ebenso allgemein für das BGB v. Caemmerer, in: Pehle/Stimpel, Richterliche Rechtsfortbildung, 1969, S. 29, 30; ders., in: Ansprachen aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Bundesgerichtshofes am 3. Oktober 1975, S. 21, 24. 27
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den; Richterrecht hat in oft ungebändigter Vielfalt die Normen überwuchert33 und außerdem große Bereiche abgedeckt, die im ursprünglichen Regelungsplan noch nicht vorgesehen waren.
IV. Beharrungstendenzen Trotzdem scheinen sich viele Juristen immer noch schwer damit zu tun, dass die juristische Entscheidungsfindung nur teilweise gesetzlich determiniert ist34 und unser geltendes Recht aus Gesetzesrecht und gesetzesrechtsfortbildendem Richterrecht besteht. Interessanterweise wird »die fast allgemeine Auffassung, dass der Richter im Normalfall das Recht nur anwendet und nicht selbst »schöpft««, damit legitimiert, dass richterliche Rechtsfortbildung nur auf dieser Grundlage als eine besondere Situation, als die Abweichung vom Gesetzesrecht diskutiert werden könne35.
1. Die Auslegung als Normalfall der Rechtsfindung Rechtsfortbildung gilt auch unter Richtern als Ausnahme36. Herzog spricht von den »ganz normalen Richter(n), die gelernt haben, daß ihres Amtes die redliche Anwendung des Gesetzes ist«37. Beim Präsidenten des Bundesgerichtshofs Günter Hirsch heißt es: »Dreh- und Angelpunkt der Rechtsfindung ist die Auslegung des Gesetzes«38. Die Auslegung wird mithin als Regel- und Idealfall der Rechtsfindung angesehen. Das zeigt sich zudem daran, dass der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes die von Rüthers geltend gemachte rasante Zunahme des Richterrechts auf die schwindende Qualität der Gesetze zurückführt, durch die auch sog. Lücken entstünden, die im Wege der ergänzenden Auslegung ausgefüllt werden müssten; im Rahmen ihrer Gesetzesauslegung hielten sich die Richter aber selbstverständ-
33 So Gernhuber, in: Lange, Handbuch des Schuldrechts, Band 1, Schadensersatz, 1979, S. V (Vorwort des Herausgebers). 34 Sogar der »an sich« unstreitige wertende Charakter der Rechtsfindung wird in Praktikerkommentaren für Fälle »einfacher Subsumtion« noch verneint, s. Heinrichs, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 65. Aufl. 2006, Einleitung Rn. 39: »Hier kann, weil es keinerlei BeurteilgsAlt gibt, von einer Wertg nicht gesprochen w«; bemerkenswert auch C. Seiler, Auslegung als Normkonkretisierung, 2000, S. 70, der ausführt, die Grundannahme der klassischen Methodik, das auslegungsbedürftige Gesetz habe den konkreten Fall bereits vorab entschieden, sei eine »Fiktion, die aber gerechtfertigt werden kann und muß, sofern man am Postulat der Gesetzesbindung festhalten will«. C. Seiler möchte die traditionelle Methodik beibehalten und die Auslegung i.w.S. – trotz besseren Wissens – weiter als Sinndeutung »denken«, indem er die »zugleich ergänzende Funktion der Interpretation« als Normkonkretisierung beschreibt. 35 Prütting, FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 305, 308. 36 So für seine Berufsgruppe Berkemann, KritV 1988, 29, 33, der auch mögliche Gründe nennt. 37 Herzog, FS Sendler, 1991, S. 17, 23. 38 G. Hirsch, ZIP 2002, 501, 502 = MedR 2001, 599, 600. Der zweite Halbsatz lautet: », ihr angestrebtes Ziel ist die Gerechtigkeit«.
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IV. Beharrungstendenzen
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lich an die Intention des Gesetzes, weshalb der Ausdruck »Ersatzgesetzgeber« falsch sei39. Auch und gerade praktisch tätige Juristen versuchen, möglichst große Teile schöpferischer richterlicher Tätigkeit der Auslegung der Gesetze zuzuordnen, indem sie, angeleitet durch Teile des methodischen Schrifttums, eine äußerste mögliche Bedeutung eines Wortes in der Umgangssprache zur Auslegungsgrenze erklären40. Weil es keine feste und kontextunabhängige Bedeutung der Begriffe gibt und ein »sämtliche (oder die vorwiegenden) Verwendungsmöglichkeiten sprachlicher Zeichen zusammenfassender Bedeutungsbegriff ein idealisierendes Konstrukt ist«41, lässt sich so fast alles als Auslegung der Gesetzesbegriffe ausgeben. Nicht wenige Juristen weigern sich standhaft, die gar nicht mehr so neuen sprachwissenschaftlichen Erkenntnisse über die Bedeutung von Ausdrücken zur Kenntnis zu nehmen und halten die fiktive äußerste mögliche Bedeutung eines Wortes irrig für eine real existierende sprachliche Barriere. Dass Rechtsfortbildungen durch bloße »Begriffserläuterungen« möglich sind, können aber auch sie wegen der zahlreichen Generalklauseln und sog. unbestimmten Rechtsbegriffe im Zivilrecht nicht ernsthaft in Abrede stellen. Es ist eine »Binsenwahrheit«, also für jeden Juristen erkennbar, dass Generalklauseln der Rechtsfortbildung jedenfalls keine begrifflichen Schranken setzen42. Propagiert man die äußerste mögliche Bedeutung eines Wortes als »Auslegungsgrenze«, so wird die Rechtsfortbildung praktisch auf gesetzlich nicht geregelte Bereiche beschränkt. Ansonsten lässt sich die Rechtsgewinnung so gut wie immer als Interpretation gesetzlicher Begriffe darstellen43. Dass tatsächlich nicht die Gesetzesbegriffe, sondern deren aus Präjudizien und dem zu beurteilenden Sachverhalt entwickelten »Konkretisierungen« angewendet werden, wird dabei erfolgreich verdrängt. Die Auslegung der Gesetze erscheint dann als Regelfall richterlicher Rechtsfindung. Gefördert wird die Dominanz der Auslegung durch Maximen, die praktisch als Anleitungen zur verdeckten Fortbildung des Gesetzesrechts wirken; in dem bürgerlichrechtlichen Praktikerkommentar heißt es: Der vor neue Fragen gestellte Richter weiß in der Regel nicht und braucht auch nicht zu wissen, ob das Problem durch Auslegung oder durch Rechtsfortbildung zu lösen ist44. Auch der feststellbare Trend, lieber von Richterrecht als von Rechtsfortbildung zu sprechen45, ist vor dem geschilderten Hintergrund zu sehen. Der Begriff Richterrecht erfasst nach verbreitetem Verständnis mit der sog. Konkretisierung 39
Arenhövel, ZRP-Rechtsgespräch, ZRP 2005, 69. Hierzu kritisch bereits § 3 II.1.a.bb., § 4 V.4.f.aa. 41 Aus linguistischer Perspektive Busse, in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 93, 119. 42 So Diederichsen, FS Wieacker, 1978, S. 325, 326. 43 Vgl. insoweit auch Küper, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 451, 455, der für den Bereich des Strafrechts anmerkt, bei Begründung und Fortführung von Richterrecht handle es sich für die Rechtsprechung selbst fast immer zumindest verbal um einen normalen Vorgang der »Auslegung«, mit entsprechender Ausrichtung der Entscheidungsbegründung. 44 So Heinrichs, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 65. Aufl. 2006, Einleitung Rn. 56. 45 S. § 3 VI. 40
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von Gesetzesbegriffen auch traditionell der Auslegung zugeordnete Tätigkeiten46 und erscheint aus Sicht eines gesetzestextfixierten Rechtsfindungsverständnisses weniger anormal als derjenige der Rechtsfortbildung.
2. Rechtsbindung statt Gesetzesbindung Im wissenschaftlichen Schrifttum wird auf verschiedenen Wegen versucht, die Illusion einer vollständigen oder doch zumindest nahezu vollständigen Determination der richterlichen Entscheidung durch das (Gesetzes-)Recht aufrecht zu erhalten. Zwar gibt es Regelungsprobleme, die selbst bei einem weiten, gesetzesrechtsfortbildendem Auslegungsverständnis nicht mehr durch eine erläuternde Interpretation der gesetzlichen Begriffe entschieden werden können. Man behilft sich dann aber seit langem mit zusätzlichen Rechtsquellen, welche die gesetzlichen Lücken füllen müssen. Gewohnheitsrecht, Natur der Sache, Rechtsprinzipien, Richterrecht und dogmatische Rechtswissenschaft sind die verbreitetsten Instrumente, welche alternativ, teilweise aber auch kumulativ angeboten werden, um die begrenzte Steuerungswirkung der Gesetze zu überspielen. Der Topos, mit dem diese Verlagerung von gesetzlichen zu außer- und übergesetzlichen Gestaltungsfaktoren üblicherweise legitimiert wird, ist der Hinweis auf die Unterscheidung von Gesetz und Recht in Art. 20 Abs. 3 GG47. Praktiker operieren meist schlicht mit einer sog. objektiven bzw. teleologischen Auslegung, bei welcher die »ratio legis« mehr oder weniger offen durch allgemeine Zweckmäßigkeits- und Gerechtigkeitserwägungen sowie den »Gesamtzusammenhang der Rechtsordnung« bestimmt wird48. Die Gesetzesbindung ist also faktisch längst durch eine Rechtsbindung ersetzt.
3. Bedrohte juristische Weltbilder Dennoch reagieren Vertreter einer traditionellen Methodik empfindlich auf Äußerungen, welche die Grenzen der Steuerungskraft von Gesetzen betonen. Das gilt jedenfalls dann, wenn ihr Urheber eine (auch) außerrechtliche Folgenbetrachtung propagiert.
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S. § 3 VI.1. Vgl. etwa G. Hirsch, ZIP 2002, 501, 504; ders., Rechtsanwendung, Rechtsfindung, Rechtsschöpfung, 2003, S. 5; besonders anschaulich Griebeling, in: Nutzinger (Hrsg.), Die Entstehung des Arbeitsrechts in Deutschland, 1998, S. 253, 255: »Gesetze regeln nicht alles. Sie sind nur Teil der Rechtsordnung. Das wußte auch der Verfassungsgeber. Deshalb hat er in Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes die Ausübung jeder staatlichen Gewalt an »Gesetz und Recht« gebunden. Das Recht geht vor. Was aber Recht im Einzelfall ist, entscheidet der Richter«. S. demgegenüber zu den bei der Entstehung des Grundgesetzartikels herrschenden Vorstellungen Maihofer, in: Annales Universitatis Saraviensis – Jur. Fac. 1960, S. 5, 10 ff. sowie JöR 1 (1951), 200; zum (materiellen) Gesetzesbegriff bei Art. 97 Abs. 1 GG JöR 1 (1951), 717; B. Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, 2003, S. 51 ff. 48 Anschaulich Heinrichs, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 65. Aufl. 2006, Einleitung Rn. 46; vgl. insoweit auch den beeindruckenden Erfahrungsbericht eines an ein Oberlandesgericht abgeordneten Praktikers bei Rüthers, JZ 2006, 53, 54. 47
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a. Die Rolle der Gesetze Kriele hat einmal gesagt, dass das Bürgerliche Gesetzbuch mehr Probleme offen lässt als löst49. Von Wieacker ist er für sein »vorzügliches Aperçu« gelobt worden50: »In Wahrheit bezeichnet diese Sentenz treffend das Problem jeder Kodifikation (mit Einschluß des Corpus iuris); die dogmatische Literatur und die Judikatur zu den großen Kodifikationen ist fast nichts als eine einzige Predigt über diesen Text!«. Demgegenüber hat Canaris die »Behauptung« Krieles vehement »als geradezu abenteuerlich« zurückgewiesen51. Es sei eine maßlos übertriebene Behauptung52, dass das Vorhandensein eines Rechtssatzes, der durch bloßes Verstehen subsumtionsgeeignet wird, ein Grenzfall ist53. Es gebe eine Unzahl völlig unmissverständlich (vom Gesetzgeber, Anm. des Verf.) geregelter Fragen54. Canaris heftige Reaktion55 deutet darauf hin, dass es hier um Fundamentales geht. Die verbreitete sog. Prinzipienjurisprudenz geht bekanntlich von einer Sinneinheit der Gesamtrechtsordnung aus. Sie begreift die Einzelnormen als Ausdruck übergeordneter allgemeiner Rechtsgrundsätze und Rechtsprinzipien, welche letztlich über den Inhalt der Gesetze bestimmen. Die Prinzipienjurisprudenz erhebt den Anspruch, auf alle auftretenden Fragen eine rechtliche Antwort geben zu können56. Das ist ihr theoretisch möglich, weil sie notfalls, also wenn eine »adäquate« gesetzliche Regelung fehlt, auf die übergeordneten Rechtsgrundsätze zurückgreifen und aus diesen eine Lösung entwickeln kann. Prinzipien kommen aber nie allein57. Sie führen jedenfalls im Zivilrecht immer in eine Abwägung mit widerstreitenden Rechtsprinzipien, deren Ergebnis selten evident und die stets mit Unwägbarkeiten behaftet ist. Ein klares rechtliches Kriterium, das darüber entscheidet, welches der gegensätzlichen Prinzipien sich letztlich durchsetzt, existiert nicht58. Sofern die Prinzipienkollisionen denn thematisiert werden, muss die Prinzipienjurisprudenz daher zu deren Auflösung faktisch auf außerrechtliche Wertungen zurückgreifen. Alle Versuche, die Fiktion der einen, einzig richti-
49 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 209; ähnlich bereits Gnaeus Flavius (Kantorowicz), Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906, S. 15: im Gesetz seien »nicht weniger Lücken als Worte«; hierzu Kruse, Das Richterrecht als Rechtsquelle des innerstaatlichen Rechts, 1971, S. 9 f., der unter anderem auf in dieselbe Richtung zielende Äußerungen von Otto Bähr aus dem Jahre 1864 hinweist und noch Zitelmann nennt, dessen Position er aber klarer darstellt, als sie tatsächlich war, vgl. Zitelmann, Lücken im Recht, 1903, S. 27 und 29 ff. Der berühmte Wiener Rechtslehrer Adolf Merkl wird mit einer Äußerung aus dem Jahre 1922 zitiert, im Gesetzesrechtssystem sei »Richterrecht nicht Ausnahme, sondern ausnahmslose Regel«, s. H.-P. Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, 1969, S. 27. 50 Wieacker, Rechtstheorie 1970, 107, 117. 51 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 147. 52 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 147. 53 So Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 196, ebenso S. 202, dort aber beschränkt auf das öffentliche Recht. 54 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 147. 55 Wieacker, Rechtstheorie 1970, 107, 117 spricht von einer entschieden einseitigen Polemik. 56 Hierzu C. Fischer, ZfA 2002, 215, 224 ff. 57 Frei nach Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 255. 58 Hierzu C. Fischer, ZfA 2002, 215, 224 f.
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gen rechtlichen Lösung aufrechtzuerhalten59 und außerrechtliche Argumente generell aus der Rechtsfindung zu verbannen, scheitern an diesem Grundproblem der Prinzipienjurisprudenz. Wer den Rechtsanwender auch dort, wo das geltende Recht keine Antwort gibt, an das Recht bindet, vertritt entweder einen vom geltenden Recht abweichenden Begriff von »Recht« oder »bindet« den Rechtsanwender an nicht existierende Vorgaben und führt ihn damit zwangsläufig in die Irre60. Vor diesem Hintergrund sind die Äußerungen von Canaris zu sehen. Je geringer der Anteil der Gesetze an der aus geschriebenen und ungeschriebenen Elementen bestehenden »Gesamtrechtsordnung« der Prinzipienjurisprudenz ist, desto größer sind die Schwierigkeiten, das konkret gewählte Ergebnis im Gesetzesstaat kontinentaleuropäischer Prägung als das von Rechts wegen gebotene zu legitimieren. b. Politikfreie Rechtsfindung
Der (gesetzes-)rechtlich ungebundene Entscheider bedroht auch das juristische Weltbild mancher Dogmatiker, die den Stoff der einzelnen Teilrechtsgebiete beherrschen, ihn systematisieren und fortbilden61. Ausgangspunkt konkreter dogmatischer Betrachtungen ist im deutschen Zivilrecht schon aus Darstellungsgründen – auch aufgrund des Anspruchsdenkens bzw. der gesetzesfixierten Anspruchsschemata62 – regelmäßig das Gesetz. Einzelne Rechtsfragen werden ebenso wie Präjudizien als Konkretisierungen von Tatbestandsmerkmalen diskutiert. Die Gesetze und die in ihnen enthaltenen Begriffe leiten über zu den Lehrsätzen, Grundregeln und Prinzipien des jeweiligen Teilrechtsgebietes. Der gesetzesfreie Raum erscheint daher schnell als rechtsfreier Raum, als immer noch verbreitet tabuisierter Bereich des Politischen. Nach Flume hat sich der Richter grundsätzlich aller Entscheidungen zu enthalten, die nicht rechtlich determiniert sind, darf keine Sachziele verfolgen und keine politischen Entscheidungen treffen63. Auch Larenz zieht die Grenze der Rechtsfindung durch die Gerichte in der Theorie grundsätzlich dort, wo die geforderte Entscheidung nicht mehr allein mit rechtlichen Erwägungen begründet werden kann, sondern eine an Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten orientierte politische Entscheidung verlangt; sie zu treffen, sei Sache des Gesetzgebers64. 59 Aus neuerer Zeit insbesondere Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, S. 30 ff., welche Dworkins »one right answer thesis« als »regulative Idee« versteht; gegen diese Konzeption C. Fischer, ZfA 2002, 215, 226 f. 60 C. Fischer, ZfA 2002, 215, 227. 61 Zu einzelnen Funktionen der Rechtsdogmatik Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 321 ff. 62 Vgl. bereits § 4 V.3.a.bb. (2. Abs). 63 Flume, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band II, 1967, S. K 5, K 26; s. auch S. K 12 und K 18. Anders soll das nur bei einer entsprechenden besonderen gesetzlichen Ermächtigung und beim Bundesverfassungsgericht sein, zu letzterem a.a.O., S. K 26 ff. 64 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 427 f.; hierzu § 3 V.2.b., wo bereits angemerkt wurde, dass Larenz mit der objektiv-teleologischen Auslegung, der Natur der Sache, der Lehre von »Typen und Typenreihen«, den »rechtssatzförmigen Prinzipien« und seinen funktionsbestimmten Rechtsbegriffen über effektive Instrumente verfügt, um außergesetzliche Einflussfaktoren als »rechtliche Erwägungen« auf allen Ebenen der Rechtsfindung einfließen zu lassen. In praxi gehen in seiner Methodenlehre Auslegung, Rechtsfortbildung und Rechtspolitik ineinander über.
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IV. Beharrungstendenzen
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Flumes Fazit zum Verhältnis Richter und Recht lautet: »Der Richter hat nicht Recht zu setzen. Der Richter ist kein Gesetzgeber. … Der Richter »findet« das Recht, er hat es aber nicht zu »erfinden«. Das Recht ist ihm aufgegeben. Allerdings nicht nur durch das positivierte Gesetz, sondern durch den gesamten Rechtsstoff, wie dieser in Wissenschaft und Rechtsprechung existiert«65. Im modernen Gesetzesstaat sei die Bindung des Richters an das Recht vornehmlich eine solche an das Gesetz, an die Fülle der positiv gesetzten Einzelnormen, von denen jede jedoch verbindlich nur im Rahmen der Gesamtrechtsordnung sei, aus der sie gegebenenfalls ergänzt oder abgeändert werden müsse66. Das Gemeinte veranschaulicht Flume am Beispiel der (ersten) Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Parteifähigkeit der Gewerkschaften67, die er im Unterschied zu der von ihm abgelehnten Herrenreiterentscheidung68 für vorbildlich hält. Es gewähre nicht der Bundesgerichtshof der Gewerkschaft die aktive Parteifähigkeit kraft Richterrechts; er erkenne vielmehr nur die aktive Parteifähigkeit an, die sich für ihn zwingend aus der Änderung der materiellrechtlichen Stellung der Gewerkschaften ergebe69: »Die Folgerung ist dem BGH vorgegeben. Er braucht hinsichtlich der Parteifähigkeit nur festzustellen: ius est.« c. Bewertung Die beispielhaft angeführten Autoren verstehen Rechtsfindung als die Anwendung des Rechts, welches dem Richter bzw. Rechtsanwender durch die Gesamtrechtsordnung vorgegeben wird. Zwar betonen Canaris und Flume die zentrale Bedeutung der Gesetze, deren Anwendung als Regelfall der Rechtsfindung dargestellt wird. Tatsächlich dienen die regelmäßig angewendeten gesetzlichen Begriffe in ihren Rechtsfindungsmodellen aber als bloße Überleitungen zu den – wie auch immer aussehenden – Tiefenstrukturen des Rechts, zu der sog. Gesamtrechtsordnung, aus der die gesetzlichen Einzelnormen gegebenenfalls ergänzt und abgeändert werden müssen (Flume). Der Rechtsanwender ist hiernach an die Gesetze gebunden, über deren Inhalt indes Prinzipien, richterrechtliche Präjudizien und vor allem die rechtswissenschaftlichen Dogmatiker entscheiden. Sie verstehen die Prinzipien, bewerten die Präjudizien und beurteilen ex cathedra, was der richtige Inhalt der Gesetze ist. Das »Recht«, das über die Bedeutung der Gesetze bestimmt, ist also entgegen dem von Flume vermittelten Eindruck nichts fertig Vorhandenes, das nur erkannt 65
Flume, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band II, 1967, S. K 5, K 25. Flume, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band II, 1967, S. K 5, K 25. 67 BGHZ 42, 210; weiterentwickelt zur allgemeinen aktiven Parteifähigkeit vor den Zivilgerichten durch BGHZ 50, 325 ff. 68 BGHZ 26, 349; hierzu Flume, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band II, 1967, S. K 5, K. 8 ff.; anders dann BVerfGE 34, 269, 292, wo es heißt, der Bundesgerichtshof und die ihm folgenden Gerichte hätten keinen eigenen rechtspolitischen Willen zur Geltung gebracht, sondern lediglich Grundgedanken der von der Verfassung geprägten Rechtsordnung mit systemimmanenten Mitteln weiterentwickelt. Wie man das Gesetzesrecht durch Weiterentwicklung von Grundgedanken ohne eigenen rechtspolitischen Willen fortbilden kann, wird in der »Soraya«-Entscheidung allerdings nicht gesagt. 69 So Flume, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band II, 1967, S. K 5, K 26. 66
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werden muss. Vielmehr handelt es sich stets um das Ergebnis einer eigenen, nicht gesetzesrechtlich determinierten Bewertung des Rechtsanwenders oder desjenigen, der ihn anleitet. Diese gesetzesfreie Eigenwertung, die eine als »politisch« tabuisierte Zweckmäßigkeitsentscheidung sein kann, lässt sich verdecken, wenn man die Gesetzesbindung durch eine Rechtsbindung ersetzt und »Recht« weit versteht. So können die Gesetzesbegriffe mit außergesetzlichen Inhalten gefüllt werden, die auf den ersten Blick unbedenklich erscheinen, weil die jeweiligen außergesetzlichen Faktoren auch und – als »übergeordnete« Rechtsquellen – sogar in besonderem Maße »Recht« sind. Der Gesetzestext selbst und die in ihm enthaltenen, durch ein »objektives« Wortlautverständnis inhaltsentleerten und entgrenzten Begriffe werden bei dem geschilderten Vorgehen meist nicht angetastet. Es kann daher mit dem Etikett der (Gesetzes-)Rechtsauslegung versehen werden. Formal bleibt die Gesetzesbindung gewahrt. Deshalb reagiert man empfindlich auf Kritiker, welche die gesetzlichen Begriffe als Ausdruck einer konkreten gesetzgeberischen Interessenbewertung begreifen oder auf andere Weise die praktisch grenzenlose »objektive« Deutbarkeit der Gesetze beschneiden. Die vollständig (gesetzes-)rechtlich vorherbestimmte richterliche Entscheidung wird als Trugbild erkennbar, wenn der begrenzte Aussagegehalt der Gesetze zum Ausdruck gebracht wird. Noch stärker wird die heile Welt der vornehmlich gesetzesvollziehenden Rechtsanwendung durch außerrechtliche Folgenbetrachtungen bedroht. Sie stellen sich als Frontalangriff auf ein juristisches Weltbild dar, in dem die Entscheidungen des Rechtsanwenders stets rechtlich determiniert sein müssen und im Regelfall gesetzesrechtlich determiniert sein sollen.
4. Zwischenergebnis In der Rechtstheorie und in Teilen der Praxis hat man heute im Grundsatz akzeptiert, dass Gesetze die stets schöpferische richterliche Entscheidung nie vollständig determinieren und dass die Rechtsfindung die Auslegung und die Rechtsfortbildung umfasst. Dennoch wird praktische Jurisprudenz und dogmatische Rechtswissenschaft heute noch verbreitet unter dem überkommenen Paradigma der (Gesetzes-)Rechtsanwendung betrieben. Man bedient sich verschiedener Hilfsmittel, um die Illusion der (nahezu) vollständig (gesetzes-)rechtlich vorherbestimmten Gerichtsentscheidung aufrecht zu erhalten. So wird die Auslegung als der Normalfall der Rechtsfindung eingestuft, und die Rechtsfortbildung als seltene Aufgabe des Rechtsanwenders. Ermöglicht wird diese Sichtweise durch ein weites Auslegungsverständnis, mit dem sich fast alles als Auslegung der Gesetzesbegriffe ausgeben lässt. Eine fiktive Wortsinngrenze erlaubt die Auslegung des vorher Eingelegten. Scheinbar werden gesetzliche Begriffe interpretiert, während tatsächlich »Konkretisierungen« angewendet werden, gebildet aus Präjudizien bzw. sonstigen außergesetzlichen Vorgaben einerseits und dem jeweiligen Sachverhalt andererseits. Außergesetzliche Kriterien und Rechtsquellen überlagern und modifizieren die Gesetze. Die Gesetzesbindung ist durch eine Rechtsbindung ersetzt worden.
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V. Richterliche Zivilrechtsfortbildungen im 20. Jahrhundert
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An die Stelle der »offiziell« immer noch herrschenden Gesetzesanwendung ist tatsächlich längst die Rechtsanwendung getreten. Dadurch verschwimmen Auslegung und Rechtsfortbildung. Rechtsfindung wird im Schrifttum klassifiziert als bloße Anwendung des dem Richter vorgegebenen Rechts, welches im modernen Gesetzesstaat vornehmlich aus Gesetzen bestehe (Flume). Der Richter muss primär die Gesetze anwenden, dabei freilich die Gesamtrechtsordnung vollziehen, aus der die Gesetze gegebenenfalls zu ergänzen und abzuändern sind. Die Fortbildung des Gesetzesrechts erfolgt hier durch dessen »Auslegung«. Dass jede Rechtsfortbildung zwangsläufig eine eigene Wertentscheidung des Fortbildenden voraussetzt, wird ignoriert. Das überkommene Paradigma wird nicht verabschiedet, sondern mit stärkeren, polarisierenden Glaubensbekenntnissen gestützt, seine überzeugtere Anwendung gefordert70. Der Richter müsse sich jeder Entscheidung enthalten, die nicht rechtlich determiniert sei, und dürfe keine »politische« Zweckmäßigkeitsentscheidung treffen. Die Rechtsfortbildung scheint als eher seltene Aufgabe angesehen zu werden, die vom Richter zudem nicht eigenständig zu bewältigen, sondern aus der ihm vorgegebenen Gesamtrechtsordnung, aus dem »Recht« zu entnehmen ist. Hier besteht ein Widerspruch zu dem vorstehend behaupteten partiellen Paradigmenwechsel. Das klassische Auslegungsverständnis ist modifiziert, aber noch nicht endgültig verabschiedet worden. Die (Gesetzes-)Rechtsfortbildung erfolgt durch Rechtsanwendung, die sich als Gesetzesanwendung geriert. Angesichts der angedeuteten Beharrungstendenzen und der skizzierten Einschätzungen im wissenschaftlichen Schrifttum ist es angezeigt, sich durch einen historischen Abriss anhand von Beispielen zu vergegenwärtigen, welchen Stellenwert Rechtsfortbildungen im geltenden Recht tatsächlich haben.
V. Richterliche Zivilrechtsfortbildungen im 20. Jahrhundert 1. Zur Auswahl Wegen der Fülle der Entscheidungen, die herangezogen werden könnten, ist eine Beschränkung nötig. a. Instanz- und Revisionsgerichte Auf Entscheidungen der Instanzgerichte wird weitestgehend verzichtet, obwohl auch sie reichhaltiges Anschauungsmaterial liefern. Das zeigt bereits ein Blick in den Rechtsprechungsteil juristischer Praktikerzeitschriften jeweils in den ersten Jahren nach den zahlreichen Systemwechseln des letzten Jahrhunderts in Deutschland. Die Rechtsfortbildungs- und Umdeutungsstrategien treten in den instanzgerichtlichen Entscheidungen mitunter sehr klar hervor, weil die Tatsachengerichte »näher am Fall« und nicht so routiniert im Überspielen individuel70
Zu diesem Phänomen, das bei Paradigmen in der Krise auftritt, vorstehend II.1.
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ler Lebensumstände sind71. Auch hat es Fortbildungen des Gesetzesrechts gegeben, die weitgehend ohne Beteiligung der Revisionsgerichte erfolgt sind. Als der Gesetzgeber seiner ihm durch Art. 109 der Weimarer Reichsverfassung auferlegten Verpflichtung, das Eherecht neu zu ordnen, nicht nachkam, »bemühte sich die Rechtsprechung, Unbilligkeiten, die sich aus der familienrechtlichen Regelung des BGB ergaben, durch rechtsschöpferische Entscheidungen – teilweise contra legem – zu mildern«72. Es waren vor allem die Instanzgerichte, welche die Entscheidungsgewalt des Ehemannes73 und des Vaters74 einschränkten, indem sie den Missbrauchsbegriff in den §§ 1354 Abs. 2 und 1666 BGB ausweiteten; sie erkannten zudem – entgegen der in § 1356 Abs. 2 BGB vorgesehenen Pflicht der Ehefrau zur unentgeltlichen Mitarbeit75 – unter bestimmten Voraussetzungen einen Verdienstanteil der im Geschäft oder Betrieb des Ehemannes mittätigen Ehefrau an76. Beispiele für Fortbildungen des Gesetzesrechts durch die Tatsacheninstanzen gibt es in Hülle und Fülle. Entgegen einer verbreiteten Einschätzung bilden auch – und der Anzahl nach sogar vor allem – die Instanzgerichte das Gesetzesrecht fort77. Abgesehen von »Sensationsentscheidungen« werden die Judikate der Instanzgerichte außerhalb ihres jeweiligen Gerichtsbezirks indes kaum zur Kenntnis genommen78. Der Rechts- und Geschäftsverkehr orientiert sich grundsätzlich nicht an ihnen, sondern an Entscheidungen, die einen Verfahrenszug rechtskräftig beenden. Die Steuerungswirkung einzelner instanzgerichtlicher Entscheidungen bleibt weit hinter derjenigen höchstrichterlicher Urteile und Beschlüsse zurück. 71 Vgl. etwa die geradezu beispielhaften nationalsozialistischen »Alltagsurteile« AG Schöneberg, JW 1938, 3045 und AG Nürnberg, JW 1938, 3243 und deren methodische Analyse bei Wesel, Juristische Weltkunde, 8. Aufl. 2000, S. 147 ff. 72 So BGHZ 11 Anhang, S. 34, 69. 73 § 1354 BGB a. F. lautete: (1) Dem Manne steht die Entscheidung in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten zu; er bestimmt insbesondere Wohnort und Wohnung. (2) Die Frau ist nicht verpflichtet, der Entscheidung des Mannes Folge zu leisten, wenn sich die Entscheidung als Missbrauch seines Rechtes darstellt. 74 Vgl. § 1627 BGB a. F.: »Der Vater hat kraft der elterlichen Gewalt das Recht und die Pflicht, für die Person und das Vermögen des Kindes zu sorgen.« 75 § 1356 Abs. 2 BGB a. F. lautete: Zu Arbeiten im Hauswesen und im Geschäfte des Mannes ist die Frau verpflichtet, soweit eine solche Tätigkeit nach den Verhältnissen, in denen die Ehegatten leben, üblich ist. 76 Vgl. beispielsweise KG, JW 1921, 635; DJZ 1941, 830 und die Nachweise bei Hallamik, in: RGRK, IV. Band, 8. Aufl. 1935, § 1354 Anm. 4 und § 1356 Anm. 5 sowie bei Sayn, a.a.O., § 1666 Anm. 2, wobei zu berücksichtigen ist, dass Entscheidungen der Oberlandesgerichte ausweislich des noch der achten Auflage vorangestellten Vorworts zur ersten Auflage des RGRK nur ausnahmsweise bei grundlegender Bedeutung herangezogen worden sind, s. RGRK, I. Band, 8. Aufl. 1934, S. III; zur restriktiveren, auf § 1356 Abs. 2 BGB gestützten Rechtsprechung des Reichsgerichts auch BGHZ 8, 249, 251; vgl. zum Ganzen noch BGHZ 11 Anhang, S. 34, 69. 77 § 1 I.5. – Nach U. Huber gibt es ungeachtet des geflügelten Worts »das Amtsgericht ist zur Rechtsfortbildung nicht berufen« doch auch eindrucksvolle Beispiele dafür, dass der Anstoß zur Rechtsfortbildung von den Untergerichten ausgegangen ist, die mit dem Fall und den Parteien unmittelbar konfrontiert sind und manchmal eher erkennen als die Revisionsinstanz, dass Abhilfe nottut, so U. Huber, JZ 2001, 1, 15 f. 78 Erst in den letzten Jahren ist das aufgrund hochspezialisierter »elektronischer« Fachdatenbanken und eines diversifizierten juristischen Zeitschriftenmarktes in Ansätzen anders geworden.
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Um zu veranschaulichen, wie groß die Bedeutung von Rechtsfortbildungen im »gelebten Recht«79 wirklich ist, muss folglich im Zivilrecht in erster Linie die Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs betrachtet werden. b. Teilrechtsgebiete und Epochen Die höchsten deutschen Zivilgerichte haben eine Vielzahl gesetzesrechtsfortbildender Entscheidungen gefällt. Es ist erforderlich, eine Auswahl zu treffen. Im Folgenden wird ein grober, vorwiegend chronologisch geordneter Überblick über Rechtsfortbildungen der höchsten deutschen Zivilgerichte seit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches gegeben. Der Schwerpunkt wird auf das vom Bürgerlichen Gesetzbuch geregelte Gebiet gelegt, wobei die Rechtsprechung des Reichsgerichts besonders berücksichtigt wird. Das hat zwei Gründe. Zum einen soll das Reichsgericht nach gängiger Betrachtungsweise unter strenger, unbedingter Bindung an die Gesetze entschieden haben80. Im Vergleich mit dem Bundesgerichtshof habe es ein grundlegend anderes Verhältnis zum Gesetz gehabt und grundsätzlich an Gesetzestreue festgehalten81. Ob diese übliche Einschätzung tatsächlich zutrifft, wird freilich erst die nähere Analyse der Rechtsprechung des Reichsgerichts zeigen. Zum anderen entfalten junge Kodifikationen eine stärkere Steuerungswirkung. Sie werden von den Interpreten meist ernster genommen als Gesetze, die bereits von einer dicken Schicht obergerichtlicher Präjudizien und herrschender Meinungen überkrustet sind. Außerdem handelt es sich bei dem Bürgerlichen Gesetzbuch um ein über viele Jahre (22!) sorgfältig vorbereitetes Gesetz. Es lässt sich daher von geradezu idealen Voraussetzungen für eine auf die Auslegung der Gesetze beschränkte Rechtsfindung sprechen.
2. Kaiserreich und Weimar a. Kodifikation als Fortbildungssperre? Da die Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Bürgerlichen Gesetzbuch »in einer Blütezeit des Gesetzespositivismus unter dem Eindruck des frischen Prestiges des BGB und der scheinbar unangefochtenen Herrschaft seines Wertsystems«82 begann, könnte man zunächst vermuten, dass Rechtsfortbildungen über lange Zeit ausgeblieben wären. Auch vom Gesetzgeber ist das Bürgerliche Gesetzbuch ja bekanntlich bis 1933 nur in zwei Punkten geändert worden83, und zwar 1908 bei der Tierhalterhaftung und 1919 beim Erbbaurecht. Die Annahme, auch richterliche 79
Stürner, JZ 1996, 741, 744. So Mertens, AcP 174 (1974), 333, 340 und 343, mit Rechtsprechungsnachweisen. 81 So Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 530. 82 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 531. 83 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 532 f., der darauf verweist, dass spezielle Gesetze im Grundstücksverkehrs-, Mieterschutz-, Arbeits- und Aufwertungsrecht bereits viel tiefere Eingriffe in die Substanz des bürgerlichen Rechts vollzogen hatten. 80
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Rechtsfortbildungen wären zunächst ausgeblieben, trifft jedoch nicht zu. Zwar hat das Reichsgericht keinen offen rechtsfortbildenden Stil gepflegt und oft zu Umwegen und Hilfskonstruktionen gegriffen, um den Schein der Gesetzestreue zu wahren84. In der Sache hat es aber von Anfang an das Gesetzesrecht fortgebildet. b. Unter der neuen Herrschaft des Bürgerlichen Gesetzbuches aa. Nicht einmal eineinhalb Jahre nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches schuf das Reichsgericht die vorbeugende (deliktische) Unterlassungsklage85, »gewiß ein Beispiel kühner Rechtsschöpfung«86. bb. In bewusster und betonter Abkehr vom gemeinen Recht konstituierte es Verkehrssicherungspflichten des Eigentümers einer Sache87. cc. Publizitätslose Sicherungsübereignung88 und stille Sicherungszession89 wurden entgegen der Konzeption des Gesetzgebers anerkannt sowie die Grundlagen für die Ausgestaltung der Treuhand gelegt90. dd. Es folgten die positive Vertragsverletzung91, die Gleichsetzung von Unzumutbarkeit und Unmöglichkeit92 und das Verschulden bei Vertragsschluss93.
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In diesem Sinne auch Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 530 f. RGZ 48, 114, 118 ff., gestützt auf § 826 BGB. 86 Rumpf, Gesetz und Richter, 1906, S. 63. 87 RGZ 52, 373, 376 ff. (»Umfallender Baum«); RGZ 89, 120, 122 (»Eisengitter«). 88 Hierzu RGZ 57, 175, 179; 59, 146, 147 f. Die von der Kautelarjurisprudenz geschaffene Sicherungsübereignung war bereits vor Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs vom Reichsgericht gebilligt worden, vgl. etwa RGZ 26, 180, 182. Ob es sich bei der Rechtsprechung zur Sicherungsübereignung unter der Geltung des Bürgerlichen Gesetzbuchs um eine Rechtsfortbildung contra legem bzw. über den Plan des Gesetzes hinaus gehandelt hat, ist umstritten. Die Frage wird beispielsweise bejaht von Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Studienausgabe), 3. Aufl. 1995, S. 233 ff. Auf der Grundlage einer subjektiven, auf den Gesetzgeberwillen abstellenden Auslegung ist sie zu verneinen, vgl. etwa Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung, 1996, S. 290 f.; Henssler, in: Soergel, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 14, 13. Aufl. 2002, Anh § 930 Rn. 2. Immer noch lesenswert hierzu und grundsätzlich zur Sicherungsübereignung Boehmer, Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung II/2, 1952, S. 141 ff. 89 Vgl. insoweit RGZ 59, 190, 191 f.; zahlreiche weitere Nachweise aus der Rechtsprechung des Reichsgerichts in RGZ 133, 234, 242; 142, 139, 141 f. 90 So v. Caemmerer, in: Ansprachen aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Bundesgerichtshofes am 3. Oktober 1975, S. 21, 23. – Ob seine Bewertung für die Sicherungsübereignung zutrifft, ist – wie bereits erwähnt – zweifelhaft, muss hier aber nicht entschieden werden, da das Recht nicht nur contra legem, sondern auch praeter legem fortgebildet werden kann. 91 RGZ 54, 98, 102, im Anschluss an Staub; schon von Rumpf, Gesetz und Richter, 1906, S. 77 als reine Rechtsschöpfung eingestuft. 92 RGZ 57, 116, 118 f. (»Mühlenbrandfall«), gestützt auf § 242 BGB, nach Ecker ein klassisches Beispiel folgenorientierter Rechtsfindung, s. Ecker, JZ 1967, 265, 268; zum (zweiten) Mühlenbrandfall mit methodisch-kritischer Analyse auch Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 16 ff. 93 RGZ 78, 239 (»Linoleumrolle«). 85
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ee. Im Fall einer unberechtigten Schutzrechtsverwarnung erkannte das Reichsgericht ein Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb als sonstiges Recht im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB an94. ff. Es wendete die Formvorschrift des § 766 BGB auf sog. Garantieversprechen nicht an95. gg. Aus § 826 BGB wurde bei Monopolstellungen eine Pflicht zum Vertragsschluss hergeleitet96 und einzelnen Persönlichkeitsrechten Schutz zugebilligt97. hh. Den Anwendungsbereich der Tierhalterhaftung, die Anfang des 20. Jahrhunderts besondere Aufmerksamkeit fand, engte das Reichsgericht durch das ungeschriebene Merkmal der eigentlichen oder spezifischen Tiergefahr auf »selbsttätiges willkürliches Verhalten« ein, so dass eine Haftung nach § 833 BGB entfiel, wenn das Tier dem Willen eines Menschen folgte98 oder durch Beschnüffeln und Ausscheidungen Sachen beschädigte99. ii. Das Reichsgericht hat der Sache nach die Duldungsvollmacht anerkannt100 und soll später auch die Anscheinsvollmacht zugelassen haben101. Der rechtsfortbildende Charakter der reichsgerichtlichen Rechtsprechung zur heute so genannten Duldungsvollmacht ist freilich umstritten102. Die Termini Duldungs- und Anscheinsvollmacht waren damals noch nicht geläufig103. Sieht man die im älteren Schrifttum zitierten reichsgerichtlichen Entscheidungen durch, zeigt sich, dass die Übergänge zwischen den beiden noch nicht so genannten Figuren und
94 RGZ 58, 24, 29; eingehende Darstellung der weiteren Rechtsprechung des Reichsgerichts in BGHZ 29, 65, 67 ff. 95 RGZ 61, 157, 160; s. auch bereits RGZ 50, 160 zum Kreditauftrag, mit obiter dicta zum Garantievertrag und zur Schuldübernahme auf S. 162. 96 RGZ 48, 114, 127; 133, 388, 392. 97 RGZ 72, 175; 115, 416. 98 RGZ 50, 108, 109; 65, 103, 106. 99 RGZ 80, 237, 239; 141, 406, 407. 100 Vgl. RGZ 65, 292, 295; 76, 202, 203 f.; 81, 257, 260 f.; 100, 48, 49; 117, 164, 165 f.; RG, JW 1927, 1089 Nr. 8; zunächst auf den kaufmännischen Verkehr beschränkt; detaillierte Schilderung der Entwicklung der Rechtsprechung des Reichsgerichts bei Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II, 4. Aufl. 1992, § 49 3. und 4. (S. 828 ff.); Fikentscher, AcP 154 (1955), 1 ff.; Krause, Schweigen im Rechtsverkehr, 1933, 23 ff.; kurzer rechtsgeschichtlicher Überblick unter der Überschrift »Rechtsscheinvollmachten« bei Schmoeckel, in: Schmoeckel/Rückert/Zimmermann (Hrsg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Band I, 2003, §§ 164–181, Rn. 20 ff. m.w.N. 101 Dazu sogleich unter 3.a.ee. 102 Vgl. etwa Schramm, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 1, 4. Aufl. 2001, § 167 Rn. 49: »richterrechtlich geschaffenen Rechtsfigur«; gegen die Klassifizierung der Duldungsvollmacht als »Schöpfung der Rechtsprechung« Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II, 4. Aufl. 1992, § 49 3. (S. 829). 103 Vgl. auch Schmoeckel, in: Schmoeckel/Rückert/Zimmermann (Hrsg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Band I, 2003, §§ 164–181, Rn. 21 ff.
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§ 7 Paradigmenwechsel bei der Rechtsfindung
zur stillschweigenden Vollmachtserteilung in der Rechtsprechung des Reichsgerichts seit jeher104 fließend waren. jj. Zusätzlich wird noch auf die Statuierung der Revisibilität von allgemeinen Geschäftsbedingungen verwiesen105. Diese kontrollierte das Reichsgericht nach § 138 BGB auf ihre Angemessenheit, sofern der Unternehmer sie dem Kunden unter Ausnützung einer Monopolstellung aufgezwungen hatte106. Später dehnte das Reichsgericht seine Rechtsprechung auf wirtschaftliche Machtstellungen aus107. kk. Das Reichsgericht stellte das Vorspiegeln einer nicht vorhandenen Eigenschaft der Kaufsache dem arglistigen Verschweigen eines Fehlers der Sache in § 463 S. 2 BGB a. F. gleich108. ll. Den Irrtum über die Eigenschaft eines Rechts erklärte es zum mittelbaren Irrtum über die Eigenschaft einer Sache, um § 119 Abs. 2 BGB trotz der Legaldefinition der Sache in § 90 BGB zur Anwendung zu bringen109. mm. In Großbetrieben ließ das Reichsgericht bei § 831 BGB den dezentralisierten Entlastungsbeweis zu110. Andererseits bejahte es bei sog. Organisationsmängeln eine Haftung der juristischen Person ohne Exkulpationsmöglichkeit nach §§ 823, 31 BGB111. nn. Das Reichsgericht erstreckte den Anwendungsbereich des § 817 S. 2 BGB auf alle Leistungskondiktionen112 und auf den einseitigen Gesetzes- oder Sittenverstoß des Leistenden113. oo. Die in der »wichtigste(n) … Vorschrift des Rechts der Leistungsstörungen«114 (§ 326 BGB a. F.) bei gegenseitigen Verträgen im Falle des Verzugs vorge-
104 Vgl. bereits RGZ 1, 8 f., ebenso schon das Reichsoberhandelsgericht; zahlreiche Nachweise aus der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Reichsoberhandelsgerichts bei Krause, Schweigen im Rechtsverkehr, 1933, S. 23. 105 v. Caemmerer, in: Ansprachen aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Bundesgerichtshofes am 3. Oktober 1975, S. 21, 26. 106 RGZ 62, 264, 266. 107 RGZ 103, 82, 83; 115, 218, 220. 108 RGZ 63, 110, 113; 66, 335, 337 f.; 103, 154, 160; wegen »Gleichheit des Rechtsgrundes«. 109 Nachweise und Kritik bei Oegg, in: RGRK, I. Band, 8. Aufl. 1934, § 119 Anm. 5 (S. 161). 110 RGZ 78, 107, 110 f. 111 RGZ 89, 136. 112 RGZ 63, 346, 354 f. (»Bordellinventar«); ablehnend und immer noch lesenswert Heck, AcP 124 (1925), 1 ff., insb. S. 53 f., 62 f. 113 RG, LZ 1922, 648, 649. 114 So Emmerich, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 2, 3. Aufl. 1994, § 326 Rn. 3; ähnlich Heinrichs, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 61. Aufl. 2002, § 326 Rn. 1; in der Folgeauflage des Münchener Kommentars zum »alten« Schuldrecht findet sich diese Formulierung nicht mehr, s. Emmerich, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 2, 4. Aufl. 2001, § 326 Rn. 1 ff.
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sehene Möglichkeit einer Fristsetzung mit Ablehnungsandrohung wurde an die zusätzliche ungeschriebene Voraussetzung der eigenen Vertragstreue des Gläubigers geknüpft115. pp. Das Reichsgericht bezog Dritte durch ergänzende Vertragsauslegung und unter Berufung auf § 328 BGB in die Schutzwirkung von Verträgen ein116. (1) So wurde Familienangehörigen und Hausangestellten eines Mieters, die durch ein Verschulden eines Handwerkers, der vom Hauseigentümer und Vermieter mit einer Reparatur an dem Haus betraut worden war, einen Schaden erlitten hatten, im Rahmen des Werkvertrages ein vertraglicher Schadensersatzanspruch zugestanden117. (2) Bei Personenbeförderungsverträgen räumte das Reichsgericht auch beförderten Personen, die den Beförderungsvertrag nicht selbst abgeschlossen hatten, vertragliche Schadensersatzansprüche ein118. (3) Es bejahte die vertragliche Haftung eines Zahnarztes aus § 328 BGB für den einem Kind bei der Behandlung zugefügten Schaden119 und gestand einem anderen Kind, das in ein Säuglingsheim zur Pflege gegeben worden war, einen unmittelbaren vertraglichen Anspruch auf sachgemäße Pflege und Schutz vor Gesundheitsgefahren und damit einen Schadensersatzanspruch zu120. Damit wich es von einem wenige Jahre zuvor getroffenen Urteil ab, in dem bei einem vom Vater geschlossenen, auf die ärztliche Behandlung eines Kindes gerichteten Vertrag ein Schadensersatzanspruch des Kindes verneint worden war121 Die Gründe für die Abweichung von der Vorentscheidung waren eher fadenscheinig122: Der Vater habe sein Kind dem Heim völlig anvertraut, das alle Fürsorgepflichten übernommen habe und von dem das Wohl und die Gesundheit seiner hilflosen Tochter abgehangen habe. Der Vater habe sich jedes Aufsichtsrechts und jedes Einflusses auf die Pflegemaßregeln begeben. In den dann folgenden Sätzen wird der finale Charakter der Auslegung des Reichsgerichts deutlich: »Bei einer solchen Sachlage wird man nach allgemeiner Verkehrsauffassung in der Regel jedem Vater die daher auch dem anderen Vertragsteile erkennbare Absicht unterstellen müssen, daß er die Interessen seines Kindes in weitestem Maße, und soweit es das Gesetz irgend gestatte, wahren und ihm namentlich die rechtliche 115 RGZ 67, 313, 319; RG, JW 1925, 606; 152, 119, 123; s. zu der »allgemein gültigen Rechtsregel …, dass bei einem gegenseitigen Vertrag der vertragsuntreue Teil aus einer später eingetretenen Vertragsuntreue des andern keine diesem ungünstigen Rechtsfolgen ableiten darf« RGZ 120, 193, 196; 123, 238, 241; 149, 401, 405; hierzu noch Ballhaus, in: RGRK, Band II, 1. Teil, 12. Aufl. 1976, § 326 Rn. 25 ff.; Emmerich, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 2, 4. Aufl. 2001, § 325 Rn. 17 ff., § 326 Rn. 32 ff. 116 RGZ 91, 21, 24; 98, 210, 212 f.; 102, 231; 127, 218, 222: »in Fortbildung der früheren Rechtsprechung«; anders teilweise die frühe Rechtsprechung des Reichsgerichts, vgl. die ausführlichen Rechtsprechungsnachweise bei RGZ 127, 218, 222 ff. 117 RGZ 102, 231 ff.; 127, 218, 222. 118 Hierzu RGZ 87, 64, 65; 87, 289, 292. 119 RG, WarnRspr. 1918 Nr. 113 (obiter dictum). 120 RG, JW 1919, S. 38 Nr. 4. 121 RGZ 85, 183 f.; w. N. aus der widersprüchlichen Rechtsprechung bei RGZ 127, 218, 223. 122 Vgl. RG, JW 1919, 38 Nr. 4.
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Möglichkeit verschaffen wolle, wegen etwaiger Gesundheitsschädigungen durch die erfahrungsgemäß mehr oder weniger unbemittelten Pflegepersonen sich, ohne den Beschränkungen des § 831 BGB unterworfen zu sein, an dem voraussichtlich zahlungsfähigen Säuglingspflegeheim schadlos zu halten. Das ist im Rahmen der §§ 328, 278 BGB zu erreichen.« qq. Bei der Gattungsschuld verneinte das Reichsgericht trotz § 279 BGB a. F., wonach der Schuldner sein Unvermögen auch ohne Verschulden zu vertreten hatte, eine Garantiehaftung des Schuldners bei unvorhersehbaren Leistungshindernissen bzw. -erschwerungen wegen § 242 BGB123. Konkret ging es um die Einstellung des Zivilfrachtverkehrs wegen Kriegsunruhen und um die feindliche Besetzung der Heimat des Verkäufers. rr. Das Reichsgericht erfand den »Vertrag für den, den es angeht«124, um das Tatbestandsmerkmal »im Namen des Vertretenen« in § 164 Abs. 1 S. 1 BGB zu eliminieren125. ss. Es wendete § 167 Abs. 2 BGB nicht an, wenn die Erteilung der Vollmacht für ein nach § 313 (jetzt § 311 b Abs. 1) BGB formbedürftiges Rechtsgeschäft bereits eine rechtliche oder tatsächliche Bindung zur Veräußerung des Grundstücks begründete126. c. Die Aufwertungsfrage Geradezu dramatisch waren die inflationsbedingten Rechtsfortbildungen der Zivilgerichte, die im spektakulären Aufwertungsurteil des Reichsgerichts127 und der Aufsehen erregenden Eingabe des Vorstandes des Richtervereins des Reichsgerichts128 ihren Höhepunkt fanden129. aa. Der Hintergrund. Nach dem Grundsatz »Mark gleich Mark« konnten Goldmarkschulden durch Papiermarkzahlungen getilgt werden. Aufgrund der rapide ansteigenden Inflation befreiten sich die Geldschuldner mit der Leistung von Nennwertbeträgen, die einen immer kleineren Bruchteil des ursprünglichen
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RGZ 99, 1 (»Galizische Eier«). RGZ 100, 190. 125 So die Formulierung von Diederichsen, FS Wieacker, 1978, S. 325, 330. 126 RGZ 76, 182, 183 f.: Bevollmächtigung eines Angestellten (des Vertragspartners) ohne Entscheidungsspielraum; RGZ 79, 212, 215 f.: unwiderrufliche Bevollmächtigung eines Dritten; ebenso RGZ 110, 319, 320; ablehnend noch RGZ 54, 75, 79; 62, 335, 336; für eine widerrufliche Vollmacht auch RGZ 104, 236, 237 f.; vgl. in diesem Zusammenhang auch bereits RGZ 50, 163, 165 ff.: »Vollmacht als Teil eines einheitlichen Rechtsgeschäfts, welches der durch § 313 vorgeschriebenen Form bedarf«. 127 RGZ 107, 78 ff.; hierzu eingehend Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, §§ 8, 9. 128 Abgedruckt in DRiZ 1924, Sp. 7 f. und JW 1924, 90. 129 Zur Vorgeschichte Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, § 7. 124
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Goldmarkwertes ausmachten130. Praktisch wurden die Geldgläubiger so zugunsten ihrer Schuldner »enteignet«. Im zeitgenössischen Schrifttum sprach man in der Tat von einer »Enteignung der Obligationäre«131. Der Staat, der sich billig von Kriegschuldlasten und Kriegsanleihen befreien konnte, griff trotz verschiedener Regelungsvorschläge nicht ein. Es wurde von einem Justizminister berichtet, der die Entschuldung des Grundbesitzes und der Industrie als gute Folge der Inflation bezeichnete132. bb. Richter als Gesetzesverfasser. Der Richterverein beim Reichsgericht sah sich veranlasst, im Sommer 1923 selbst einen Gesetzesentwurf mit Begründung auszuarbeiten und zu veröffentlichen133. Der Gesetzgeber reagierte nicht. cc. Das Aufwertungsurteil des Reichsgerichts. In seinem Aufwertungsurteil vom 28. November 1923 gab das Reichsgericht dann die Regel »Mark gleich Mark« auf134. Es sprach im Grundsatz dem Schuldner die Befugnis ab, »eine in besserem Geld begründete Schuld in entwerteter Papiermark abzutragen …«135. Das Reichsgericht entschied, dass der Gläubiger einer vor dem Weltkrieg begründeten Darlehenshypothek bei Zahlung des bloßen Nennwerts in Papiermark die Löschungsbewilligung verweigern dürfe136. Außerdem erkannte es die richterliche Befugnis an, Hypothekenforderungen nach Treu und Glauben aufzuwerten137. Dieses direkt aus § 242 BGB hergeleitete Ergebnis138 stützte es zusätzlich auf die Argumentationsfigur der ergänzenden Vertragsauslegung139. dd. Reaktionen. Die Entscheidung schlug trotz der »zurückhaltende(n) Art« ihrer Begründung140 nach dem Urteil von Zeitgenossen ein »wie eine Bombe«141 und löste eine Flut von Stellungnahmen aus142. Als die Reichsregierung nun Zeitungsberichten zufolge in Erwägung zog, die Aufwertungsfrage gesetzlich und abweichend von der Rechtsprechung des Reichsgerichts zu lösen, kam es zum Eklat.
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So Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 67. Goldschmidt, JW 1924, 245, 246. 132 Goldschmidt, JW 1924, 245, 246. 133 Abgedruckt in DJZ 1923, 441 ff. 134 RGZ 107, 78, 87 ff.; entgegengesetzt noch RGZ 101, 141, 145. 135 Mit diesen Worten wurde der Inhalt der Entscheidung einige Wochen später in der Eingabe des Vorstands des Richtervereins des Reichsgerichts an die Reichsregierung pointiert dargestellt, s. DRiZ 1924, Sp. 7; JW 1924, 90. 136 RGZ 107, 78, 93. 137 RGZ 107, 78, 87 und 92. 138 RGZ 107, 78, 87 ff. 139 RGZ 107, 78, 92. 140 So die Bewertung in der Eingabe des Vorstands des Richtervereins des Reichsgerichts an die Reichsregierung vom 8.1.1924, s. DRiZ 1924, Sp. 7 und JW 1924, 90, wo es weiter heißt, diese sei ein Zeugnis davon, wie sehr sich der Senat seiner Verantwortung angesichts der Tragweite der Entscheidung bewusst gewesen sei. 141 Mügel, Deutsche Rechtswissenschaft 5 (1940), 44, 47. 142 Vgl. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S 66 f. mit Nachweisen. 131
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ee. Ankündigung richterlichen Widerstands. Die Richter des höchsten deutschen Gerichts stellten in einem in der Fachpresse veröffentlichen Schreiben an den Reichskanzler in Aussicht, einem Gesetz, das die im Recht begründete Aufwertung auch nur zum Teil verbieten sollte, die Gefolgschaft zu versagen143: Wenn der höchste Gerichtshof des Reiches nach sorgfältiger Erwägung des Für und Wider zu einer Entscheidung für die Aufwertung gelangt sei, so glaube er von der Reichsregierung erwarten zu dürfen, dass die von ihm vertretene Auffassung nicht durch einen Machtspruch des Gesetzgebers umgestoßen werde. Gestützt sei die Entscheidung auf den großen Gedanken von Treu und Glauben, der unser Rechtsleben beherrsche und außerhalb des einzelnen Gesetzes, außerhalb einer einzelnen positiv-rechtlichen Bestimmung stehe. Keine Rechtsordnung, die diesen Ehrennamen verdiene, könne ohne jenen Grundsatz bestehen. Darum dürfe der Gesetzgeber nicht ein Ergebnis, das Treu und Glauben gebieterisch fordern, durch sein Machtwort vereiteln. Es sei dem Vorstand des Richtervereins eine ernste Sorge, die Reichsregierung möchte starken Einflüssen eigensüchtiger Art nachgebend eine Rechtslage herbeiführen, die gegen Treu und Glauben verstieße. Es wäre ein schwerer Stoß nicht nur für das Ansehen der Regierung, sondern für das Rechtsgefühl im Volke und für den Glauben an das Recht, wenn es dazu kommen müsste, dass jemand, der sich im Rechtsstreit auf die neue gesetzliche Vorschrift beriefe, damit von den Gerichten mit der Begründung abgewiesen würde, seine Berufung auf die Vorschrift verstoße gegen Treu und Glauben. Schon sei in der Öffentlichkeit mehrfach und eindringlich die Frage erörtert worden, ob nicht »der geplante Eingriff selbst als ein Verstoß gegen Treu und Glauben, als unsittlich seiner unsittlichen Folgen wegen, als eine verfassungswidrige Enteignung, oder als eine dem verfassungsmäßig gewährleisteten Grundsatz der Allgemeinheit der Besteuerung Hohn sprechende Steuer rechtsunwirksam wäre. Die ernste Gefahr einer solchen oder ähnlichen richterlichen Beurteilung der geplanten Maßnahme – auch durch das höchste Gericht – besteht, und sie besteht auch dann, wenn die Regierung … die im Recht begründete Aufwertung nur zum Teil verbieten sollte«144. ff. Die Antwort des Reichsjustizministers. Der Reichsjustizminister antwortete vergleichsweise moderat in einem offenen Schreiben an den Richterverein des Reichsgerichts145: Nach dem Wesen des Richterspruchs liege die Bedeutung des Aufwertungsurteils des Reichsgerichts darin, mit der Autorität des höchsten Gerichtshofes die gegenwärtige Rechtslage festzustellen und damit eine zweifelsfreie Grundlage für die künftige Gesetzgebung zu geben. Diese Bedeutung würde verkannt, wollte man in der Abänderung eines vom Reichsgericht maßgebend aus143 Eingabe des Vorstands des Richtervereins des Reichsgerichts, gezeichnet von Senatspräsident Lobe, abgedruckt in DRiZ 24, Sp. 7 f.; JW 1924, 90; zum Verfasser und zur Motivation der Richter des Reichsgerichts Hattenhauer, Die Kritik des Zivilurteils, 1970, S. 127; Zeiler, Meine Mitarbeit, 1939, S. 156 ff. 144 DRiZ 24, Sp. 8; JW 1924, 90. 145 Unter der Überschrift »Der Reichsjustizminister zur Hypothekenaufwertung« wiedergegeben in DRiZ 1924, Sp. 40 f.
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gelegten Gesetzes eine Umstoßung der Auffassung des Reichsgerichts durch Machtspruch des Gesetzgebers finden. Dann wurde der Reichsjustizminister deutlicher: Es würde »zur Auflösung der Rechtsordnung und zu einer unheilvollen Erschütterung des Staatsgefüges führen, wollte ein Gericht für sich das Recht in Anspruch nehmen, ein verfassungsmäßig zustande gekommenes Gesetz nicht anzuwenden, weil es nach der Ansicht der Mehrheit seiner Mitglieder mit dem allgemeinen Sittengesetz nicht im Einklang stehe«146. gg. Goldschmidts Analyse. Der bekannte Prozessualist James Goldschmidt147 hat angemerkt, eine Prüfung der Gesetze auf ihre Übereinstimmung mit dem allgemeinen Rechtsbewusstsein laufe auf eine Prüfung ihrer inhaltlichen Verfassungsmäßigkeit hinaus, insbesondere am Maßstab der »Grundrechte«148. Das Gesetz könne danach nicht mehr den Anspruch erheben, den Richter unbedingt zu binden. Die Kundgebung des Richtervereins des Reichsgerichts erlange wegen der in ihr in Anspruch genommenen Freiheit des Richters gegenüber einem Machtspruch des Gesetzgebers die Bedeutung eines Ereignisses in der Entwicklungsgeschichte des Rechts149. hh. Einlenken des Reichsgerichts. Das Reichsgericht hat den angekündigten Aufstand gegen das Gesetz150 dann doch nicht gewagt151. Gewisse Konzessionen des Gesetzgebers erleichterten sein Einlenken152. Den Friedensschluss mit dem Gesetzgeber besiegelte das Reichsgericht mit einem Bekenntnis zur Gesetzesbindung des Richters153. ii. »Gesetzesdämmerung«. Goldschmidt hat die vorstehend geschilderten Vorgänge mit dem Titel »Gesetzesdämmerung« plastisch auf den Punkt gebracht154. Das spätere Abrücken des Reichsgerichts von dem in der Kundgebung seines Richtervereins vertretenen Standpunkt änderte nach Goldschmidt nichts an seiner Bewertung: Das Problem der Identität von Recht und Gesetz, konkret der Stellung des Richters gegenüber einem Parlamentsabsolutismus sei einmal ge-
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DRiZ 1924, Sp. 40 f. (Die kursiv gesetzten Wörter sind im Original gesperrt). Professor für Straf- und Zivilprozessrecht in Berlin, s. Sellert, in: Heinrichs/Franzki/ Schmalz/Stolleis (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 595, 596. 148 Goldschmidt, JW 1924, 245, 249. 149 Goldschmidt, JW 1924, 245, 249. 150 Überblick über die gesetzlichen Regelungen der Aufwertungsfrage bei Rüthers, die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 81 f. 151 Hierzu Goldschmidt, JW 1924, 343; Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 83 f., mit Rechtsprechungsnachweisen. 152 Vgl. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 82 f. 153 So Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 84, unter Hinweis auf RGZ 121, 169, 172. Dort heißt es: »Allein einmal ist, zumal bei dem vielfach zu Härten führenden Aufwertungsgesetz, nicht die Rechtsprechung, sondern die Gesetzgebung berufen, Unbilligkeiten zu beseitigen. Denn auch das etwa für fehlerhaft zu erachtende Gesetz ist Gesetz und als solches verbindlich«. 154 Goldschmidt, JW 1924, 245. 147
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§ 7 Paradigmenwechsel bei der Rechtsfindung
stellt und werde so bald nicht mehr zur Ruhe kommen; das Reichsgericht werde die Geister, die es rief, nicht wieder loswerden155. d. Aus dem Alltagsgeschäft des Reichsgerichts Durch das späte Bekenntnis des Reichsgerichts zur Gesetzesbindung in der Aufwertungsfrage schien der Frieden mit dem Gesetzgeber äußerlich wiederhergestellt156. Freilich finden sich in der »normalen« Rechtsprechung des Reichsgerichts weiterhin allenthalben Rechtsfortbildungen. aa. Die §§ 242, 826 BGB wurden richterrechtlich in bislang nicht gekanntem Ausmaß angereichert. Schlagworte wie Geschäftsgrundlagenlehre157, Treue- und Schutzpflichten, Verwirkung, widersprüchliches Verhalten und Arglisteinrede kennzeichnen diese Epoche des Richterrechts. bb. Für bestimmte Betriebsstörungen entwickelte das Reichsgericht in seiner berühmten Entscheidung zum Teilstreik bei der Kieler Straßenbahn »aus den tatsächlichen sozialen Verhältnissen« eine bewusst und ausdrücklich von den §§ 323 ff., 615 BGB abweichende Risikoverteilung158, die man später als Sphärentheorie bezeichnete159. Man dürfe, so hieß es in der Begründung, um zu einer befriedigenden Lösung des Streites zu gelangen, überhaupt nicht von den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs ausgehen, müsse vielmehr die sozialen Verhältnisse ins Auge fassen, wie sie sich seither entwickelt und in der Gesetzgebung der neuesten Zeit auch ausdrückliche Anerkennung gefunden hätten. Die Lösung ergebe sich, kurz gesagt160, aus dem Gedanken der sozialen Arbeits- und Betriebsgemeinschaft: Weil der einzelne Arbeiter ein Glied der Arbeiterschaft und der zwischen dieser und dem Unternehmer bestehenden, die Grundlage des Betriebes bildenden Arbeitsgemeinschaft sei, verstehe es sich von selbst, dass, wenn infolge von Handlungen der Arbeiterschaft der Betrieb stillgelegt werde und die Betriebseinnahmen versiegten, es dem Unternehmer nicht zugemutet werden könne, für die Lohnzahlungen aus anderen Mitteln zu sorgen. Dieses aus den sozialen Verhältnissen gewonnene Ergeb-
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Goldschmidt, JW 1924, 343. In diesem Sinne Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 84. 157 Erstmals RGZ 103, 328, 332 im Anschluss an Oertmann; hierzu Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, § 6. 158 RGZ 106, 272, 275 f.; weitergeführt von RAG, ARS 3, 116, 120 ff. 159 Zur Entscheidung des Reichsgerichts und der weiteren Entwicklung Boehmer, Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung II/2, 1952, S. 186 ff.; aus dem gegenwärtigen arbeitsrechtlichen Schrifttum statt vieler Boewer, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 1, 2. Aufl. 2000, § 79 Rn. 11 f., 29 ff.; Kissel, Arbeitskampfrecht, 2002, § 33 Rn. 5 ff. (S. 388 ff.); Hj. Otto, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 3, 2. Aufl. 2000, § 290 Rn. 6 ff., 29; straffer Überblick über die Rechtsprechung zum Betriebs- und Arbeitskampfrisiko bei Fischer/ Rüthers, Anm. zu EzA Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 115, zu C.II.1. (S. 24-28). 160 Die entsprechenden Erwägungen nehmen in den Urteilsgründen breiten Raum ein, s. RGZ 106, 272, 275 f. 156
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nis lasse sich, und damit enden die hier interessierenden Ausführungen, auch ohne Schwierigkeiten den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches einfügen. cc. In der Folgezeit bildete das Reichsgericht die Gesetze in zahlreichen weiteren Fällen fort. Beispielsweise bejahte es für einen Sonderfall (»procurator in rem suam«) die Eigenhaftung des Vertreters wegen Verschuldens bei Vertragsverhandlungen161.
3. NS-Zeit a. »Normale« Rechtsfortbildungen Auch im sog. Dritten Reich gab es eine Vielzahl »normaler«, nicht spezifisch nationalsozialistischer Rechtsfortbildungen. aa. So ließ das Reichsgericht unter ausdrücklicher Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung trotz des in § 873 Abs. 1 BGB »begriffsnotwendig« vorausgesetzten »Vorhandensein(s) von zwei verschiedenen Personen«162 »in Fortentwicklung der bisherigen Rechtsauffassung« die Eigentümergrunddienstbarkeit zu163, obwohl diese in den Motiven zum Bürgerlichen Gesetzbuch abgelehnt worden war, weil »die Möglichkeit eines Vertrages mit sich selbst in diesem Fall nicht anzunehmen sei« und »die Zulassung eines gleichwirksamen Stiftungsakts … durch ein praktisches Bedürfnis nicht erfordert« werde164. Die in den Motiven ausgesprochene Meinung sei nicht maßgebend, so hieß es, weil das Gesetz selbst eine andere, die Begründung einer Eigentümergrunddienstbarkeit zulassende Auslegung gestatte, und diese andere Auslegung sowohl den Erfordernissen des Geschäftsverkehrs als auch der Sonderart einer subjektiv dinglichen Dienstbarkeit entspreche165. Die Ansicht, es bestehe kein praktisches Bedürfnis für die Begründung von Eigentümerdienstbarkeiten, treffe jedenfalls für die gegenwärtigen wirtschaftlichen Verhältnisse nicht mehr zu166. bb. Das Reichsgericht legte sich auch in anderen umstrittenen Rechtsfragen fest. Es entschied, § 119 Abs. 2 BGB sei »auf Geschäfte über andere Dinge als körperliche Gegenstände« anzuwenden167. Damit wich es von der Legaldefinition des § 90 BGB und von seiner älteren Rechtsprechung ab, die nur körperliche Gegenstände als Sachen im Sinne des § 119 Abs. 2 BGB angesehen und auch eine entsprechende Anwendung der Vorschrift für nicht angängig erklärt hatte168. 161
RGZ 120, 249, 252 f. RGZ 142, 231, 236. 163 RGZ 142, 231, 239. 164 Vgl. RGZ 142, 231, 236. 165 RGZ 142, 231, 236. 166 RGZ 142, 231, 238. 167 So RGZ 149, 235, 238: Grundschuld als »Sache« (obiter dictum); RGZ 158, 50, 52 f.: Nachlass als »Sache« gemäß § 119 Abs. 2 BGB. 168 Zu dieser Rechtsprechung RGZ 158, 50, 52 f. mit zahlreichen Nachweisen. 162
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Schon früher hatte sich das Reichsgericht für eine »freiere, den Verkehrsbedürfnissen entsprechende sinngemäße Anwendung« des § 119 Abs. 2 BGB auf unkörperliche Gegenstände ausgesprochen169, die Frage indes auf sich beruhen lassen170. cc. Des Weiteren führte das Reichsgericht seine bereits angesprochene Rechtsprechung zu § 817 S. 2 BGB171 fort und wendete die Norm auf alle Leistungskondiktionen und auch in Fällen an, in denen nur dem Leistenden ein Gesetzesoder Sittenverstoß zur Last fiel172, etwa bei Wucherdarlehen, hier allerdings mit der Maßgabe, dass der Kondiktionsausschluss nur für den – unwirksam – vereinbarten Zeitraum der Kapitalüberlassung ausgeschlossen war173. Noch drei Jahre zuvor hatte das Reichsgericht es zwar als »durchaus unbefriedigend« angesehen, dass »auf diese Weise dem Bewucherten ein Gewinn zufällt, auf den er weder sittlich noch rechtlich einen Anspruch hat«; der Richter sei aber an das Gesetz gebunden174. dd. Das Reichsgericht bezog Dritte weiterhin nach § 328 BGB und durch ergänzende Vertragsauslegung in den Schutzbereich von Verträgen ein175 und ließ jetzt ein Kind, für das die Eltern eine ärztliche Behandlung vereinbart hatten, bei Behandlungsfehlern selbst und unmittelbar den Schadensersatzanspruch aus dem Vertrag geltend machen176. ee. Hatte jemand den Eindruck entstehen lassen, ein anderer sei befugt, ihn zu vertreten, so sprach das Reichsgericht nun anders als in seiner früheren, die Unterschiede zur stillschweigenden Bevollmächtigung verwischenden Rechtsprechung177 eindeutig von Vertretungsmacht kraft Rechtsscheins178. Im heutigen Schrifttum wird dieses Urteil als die grundlegende Entscheidung zur Anscheinsvollmacht angesehen179, was Flume für einen Irrtum hält, weil sich das Reichsgericht auf Vorentscheidungen stütze, die mit der Problematik nichts zu tun hätten180. In der Entscheidung zur Rechtsscheinvollmacht hatte das Reichsgericht das angefochtene Urteil aus anderen Gründen aufgehoben und angesichts der unklaren Ausführungen des Vordergerichts einige ergänzende Hinweise für die neue Verhandlung gegeben, in denen sich die hier interessierende kurze Passage findet: 169
RGZ 149, 235, 238 m. N. in Fn. 1. So RGZ 158, 50, 53. 171 Vorstehend 2.b.nn. 172 RGZ 151, 70, 72; 161, 52, 55 (GS). 173 RGZ 161, 52, 56 ff. (GS). 174 RGZ 151, 70, 74. 175 Etwa RGZ 160, 153, 155; s. bereits 2.b.pp. 176 RGZ 152, 175, 176 f.; ablehnend noch RGZ 85, 183 f.; w. N. aus der widersprüchlichen Rechtsprechung bei RGZ 127, 218, 223; hierzu bereits 2.b.pp.(3). 177 Hierzu oben 2.b.ii. 178 RGZ 170, 281, 284 (»Rechtsscheinvollmacht«). 179 Ohne nähere Begründung etwa Steffen, in: RGRK, Band I, 12. Aufl. 1982, § 167 Rn. 12. 180 Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II, 4. Aufl. 1992, § 49 4. (S. 833). 170
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»Unter den Tatbestandsmerkmalen des Rechtsscheins (vgl. RGZ. Bd. 138 S. 265 [269], Bd. 145 S. 155 [158, 159]) wäre aus dem Handeln eines Nichtbevollmächtigten die Folge herzuleiten, daß dieselben Wirkungen ausgelöst werden wie von der Rechtswirksamkeit …«. Der Terminus Anscheinsvollmacht, der damals noch nicht üblich war181, wird vom Reichsgericht nicht verwendet. Bei dem zitierten Satz handelte sich um ein obiter dictum, um einen Hinweis am Rande, welcher nicht »der Aufhebung zugrunde gelegt ist« und deshalb das Berufungsgericht nicht nach § 563 Abs. 2 ZPO bindet182 und nach dem wortgleichen § 565 Abs. 2 ZPO a. F. nicht gebunden hat183. Hinzu kommt, dass die beiden Vorentscheidungen, auf die das Reichsgericht verwies, Fälle einer rechtsgeschäftlichen Bevollmächtigung betrafen184. Hier zeigt sich wieder die Vermischung der damals noch nicht so genannten Duldungs- und Anscheinsvollmachten und der stillschweigenden Vollmachterteilung in der Rechtsprechung des Reichsgerichts185. ff. In einer Grundsatzentscheidung wendete das Reichsgericht die §§ 912 ff. BGB in betonter Abkehr von seiner entgegenstehenden früheren Rechtsprechung auf den Eigengrenzüberbau analog an und ordnete den Überbau eigentumsrechtlich dem Stammgrundstück zu186. gg. Ein weiteres Beispiel für die zahlreichen »systemneutralen« Rechtsfortbildungen dieser Zeit ist die grundlegende Entscheidung zur Abgrenzung von kaufrechtlichem Gewährleistungsrecht und Ansprüchen aus positiver Vertragsverletzung mit ihrer Trennung zwischen unmittelbaren und mittelbaren Schäden187. b. »Ideologienahe« Rechtsfortbildungen Rechtsfortbildungen hatten im nationalsozialistischen Staat aber noch eine andere Dimension. Die Gerichte deuteten unter Anleitung des Schrifttums die ideologisch wichtigen Teile der Zivilrechtsordnung im Wege der »unbegrenzten Auslegung« um188.
181 Nipperdey hat ihn selbst 1960 noch nicht verwendet, s. Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Zweiter Halbband, 15. Aufl. 1960, S. 1133 ff.; vgl. auch bereits 2.b.ii. 182 Vgl. nur Gummer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 563 Rn. 3a. 183 Eingehend Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 5, Teilband 1, 21. Aufl. 1994, Rn. 10 f.; vgl. für das Schrifttum aus der Zeit vor der hier erörterten Reichsgerichtsentscheidung etwa Stein/Jonas, Die Zivilprozessordnung für das Deutsche Reich, Zweiter Band, 14. Aufl. 1929, § 565 Anm. II.2. (vorletzter Absatz). 184 Vgl. RGZ 138, 265, 269 (»Lagerschein«); 145, 155, 158 f. (»Haftung aus Geschäften einer nichtigen oHG«); Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II, 4. Aufl. 1992, § 49 4. (S. 833). 185 Vgl. bereits 2.b.ii. 186 RGZ 160, 166, 177 ff. 187 RG, DR 1941, 637, 638 (»Bongossi-Holz«). 188 Grundlegend hierzu Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005. Zahlreiche Rechtsprechungsbeispiele finden sich dort insbesondere in § 19.
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aa. Die Übergänge zwischen »normalen« Rechtsfortbildungen und solchen, mit denen die NS-Ideologie verwirklicht wurde, sind zum Teil fließend und schwer auszumachen, zumal sich in einschlägigen Urteilen manchmal bloße Lippenbekenntnisse zum Nationalsozialismus finden. Die Wichtigkeit von Deutschtum, Gemeinschaftsdenken und -leben, Treu und Glauben im Verkehr und der Billigkeit für das Bürgerliche Recht ist nicht allein im Dritten Reich189, sondern schon früher und teilweise auch später betont worden. bb. Eindeutig nationalsozialistische Rechtsfortbildungen wie etwa die Beschränkung der Rechtsfähigkeit von Staatsfeinden, Rassefremden und artfremden Ausländern entgegen § 1 BGB und die hieraus gezogenen Folgerungen in den einzelnen Teilgebieten des Zivilrechts (Miet-, Arbeits-, Gesellschafts-, Kaufrecht usw.) und im Zivilprozessrecht190 wurden nach 1945 nicht mehr fortgeführt. cc. Bestand hatten das methodische Umdeutungsinstrumentarium191 und solche »ideologienahen« Fortbildungen, die keine offensichtlich bzw. zwingend nationalsozialistische Wertungsgrundlage aufwiesen. (1) Anzuführen sind beispielsweise aus dem Bereich der stets betonten Gemeinschaftsbindung das nachbarschaftliche Gemeinschaftsverhältnis192, die Innentheorie beim Rechtsmissbrauch193, die Eingliederungstheorie, die konkrete Ordnung des Betriebes und das personenrechtliche Gemeinschaftsverhältnis im individuellen und das Ordnungsprinzip im kollektiven Arbeitsrecht194 sowie zahlreiche Folgerungen aus Gemeinschaftsbindung und Treuepflichten im Arbeits- und Gesellschaftsrecht, etwa der Ausschluss der gesetzlichen Nichtigkeitsfolgen für die Vergangenheit bei vollzogenen Gesellschaftsverträgen195 oder die Einschränkung der actio pro socio aus dem Treugedanken196. (2) Die Rechtsprechung begrenzte bei sog. schadensgeneigter Arbeit in einer »Entscheidung … von hoher rechtsschöpferischer Bedeutung«197 entgegen den allgemeinen bürgerlichrechtlichen Regeln unter bestimmten Voraussetzungen die 189 Vgl. das Vorwort zur achten Auflage des RGRK, I. Band, 1934, S. III f., wo mit diesen Schlagworten »das Streben nach Neugestaltung unseres Rechtes« charakterisiert wird. 190 Einige drastische instanzgerichtliche Entscheidungen sind genannt bei Brehm, in: Stein/ Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 22. Aufl., Band 1, vor § 1 Rn. 181 Fn. 363; ausführlicher E. Schumann, in: Stein-Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 20. Aufl. 1984, Erster Band, Einleitung Rn. 139 Fn. 41. 191 Das ist eindrucksvoll am Beispiel der Rechtsprechung zum Wesen der Ehe demonstriert worden von Rüthers, Wir denken die Rechtsbegriffe um …, 1987, S. 45 ff.; ders., »Institutionelles Rechtsdenken« im Wandel der Verfassungsepochen, 1970, S. 19 ff.; ders., Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 400 ff.; s. hierzu auch C. Fischer, Europäisierung der nationalen Zivilrechte – Renaissance des institutionellen Rechtsdenkens?, 2002, S. 14 ff. 192 RGZ 154, 161, 165 (»Gute-Hoffnungshütte«); hierzu Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 358 ff. 193 Im Anschluss an Siebert, vgl. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 345 f. 194 Vgl. insoweit etwa C. Fischer, Die tarifwidrigen Betriebsvereinbarungen, 1998, S. 129 ff. 195 RG, JW 1935, 2617; RGZ 165, 193, 204 f.; unter besonderer Betonung des tatsächlich bestehenden Gemeinschaftsverhältnisses. 196 RGZ 171, 51 ff. 197 Volkmar, ARS 30, 10.
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Haftung des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber in Fällen leichter Fahrlässigkeit198. Das Reichsarbeitsgericht, das kein organisatorisch verselbständigtes Gericht, sondern ein besonderer Senat des Reichsgerichts war199, stützte seine Entscheidung schlicht auf Treu und Glauben200. Demgegenüber hieß es in der Anmerkung von Volkmar, das Reichsarbeitsgericht habe in den Mittelpunkt der Lösung die wechselseitige Treupflicht gestellt, die neben den positiven Gesetzesvorschriften bei der Abmessung der Rechte und Pflichten von Unternehmer und Beschäftigten nie außer Acht gelassen werden könne, was sich ja schon bei der Verteilung des sog. Betriebsrisikos »abseits von der schematischen gesetzgeberischen Regelung« gezeigt habe201 (3) Die bislang auf Sondergebiete beschränkte Verwirkung wurde 1938 zu einem allgemeinen Grundsatz des Bürgerlichen Rechts erhoben202. (4) Das Reichsgericht wendete den für Dienstverträge geltenden § 618 Abs. 1 und 3 BGB auf einen Kaufvertrag mit werkvertraglichem Einschlag entsprechend an und gestand den Angehörigen eines Unternehmers, der zur Erfüllung der ihm obliegenden Verpflichtungen die Räume des Bestellers betreten musste und dabei infolge ihrer Beschaffenheit tödlich verunglückte, Schadensersatzansprüche zu203. dd. H.-P. Schneider hat noch auf ein Urteil aus dem Dezember 1939 aufmerksam gemacht, das er mit der Neufassung des § 137 Abs. 1 GVG im Jahre 1935 verbindet204: In dieser Entscheidung wurde die (Ausnahme-)Vorschrift des § 356 Abs. 1 HGB vom Reichsgericht analog angewendet auf das Konkursvorrecht des Versicherungsnehmers nach § 80 des Gesetzes über die Beaufsichtigung der privaten Versicherungsunternehmen und Bausparkassen aus dem Jahre 1931. Die Begründung dieser »systemneutralen« Rechtsfortbildung enthält bemerkenswerte Passagen zum richterlichen Selbstverständnis205. Mehr und mehr und neuerdings im steigenden Maße, so heißt es unter Hinweis auf § 2 StGB in der Fassung des Gesetzes vom 28. Juni 1935206, sei »die Aufgabe des Richters erkannt und anerkannt worden, als rechtschöpfendes Organ 198
RAG, ARS 30, 1, 6 f. §§ 40 f. ArbGG 1926. 200 RAG, ARS 30, 1, 6. 201 Volkmar, ARS 30, 10. 202 RGZ 158, 100, 107; anders noch RGZ 144, 22, 24. 203 RGZ 159, 268, 270 f.(»Treppenfall«). 204 H.-P. Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, 1969, S. 13 f.: Nachdem die »Fortbildung des Rechts« ausdrücklich in die höchstrichterlichen Funktionen einbezogen war, sprach bald darauf das Reichsgericht sogar ganz allgemein von der »Aufgabe des Richters, … als rechtsschöpfendes Organ des Staates … neben den geschriebenen Rechtssatz … einen entsprechenden ungeschriebenen Rechtssatz zu setzen«. 205 Insb. RGZ 162, 244, 247. 206 RGBl. I, S. 839. Unter der Artikelüberschrift »Rechtsschöpfung durch entsprechende Anwendung der Strafgesetze« war § 2 StGB folgendermaßen gefasst worden: »Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft.« 199
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des Staates neben den geschriebenen Rechtssatz … einen entsprechenden ungeschriebenen Rechtssatz zu setzen, dessen Anwendbarkeit als dem Geiste des Gesetzes entsprechend und in ihm enthalten geboten ist und mindestens dann unbedenklich anerkannt werden muß, wenn es gilt, aufbauwidrige Lücken oder Unvollkommenheiten der gesetzlichen Regelung zu schließen oder zu umgehen«. Dasselbe müsse dann gelten, wenn es sich um einen Tatbestand handle, den der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes nicht berücksichtigen konnte oder tatsächlich nicht berücksichtigt hat, etwa weil er außerhalb seines Gesichtskreises lag. Gestützt wurde die Rechtsfindung durch Analogie mit der »heute herrschenden geläuterten Rechtsauffassung, wo es darauf ankommt, die Ordnung der Gemeinschaft des Volkes und die Einordnung des einzelnen Gliedes in diese Gemeinschaft in Einklang zu bringen mit dem im Volke herrschenden Richtigkeitsempfinden«207. »Was dem Volke frommt und auch einleuchtet, ist eine lebensnahe und blutvolle Rechtsanwendung … unter völliger Berücksichtigung und Wahrung der Grundgedanken des Gesetzgebers, wie sie im Gesetze selbst zum Ausdruck gebracht sind. … Im Rahmen des ebenmäßigen Aufbaues des Rechts als eines einheitlichen Ganzen gilt es, den in den Einzelvorschriften, wenn auch nicht immer deutlich erkennbar, ausgedrückten allgemeinen Rechtsgedanken zu erforschen und zu erfassen und ihm die Rechtsanwendung unter Wahrung aller berechtigten Belange und unter Beachtung gesunden Volksempfindens (§ 2 StGB) anzupassen«208. Neben der Formulierung vom Richter als rechtschöpfendem Organ und der Anleihe beim Analogiegebot des § 2 StGB fällt auch der erhebliche argumentative Aufwand auf, der betrieben wurde, um die analoge Anwendung des § 356 Abs. 1 HGB zu rechtfertigen. Eine »freie« Rechtsschöpfung war das nicht.
4. Nachkriegsjahre Die zahlreichen Rechtsfortbildungen der ersten Nachkriegsjahre hatten vor allem Gesetze aus dem Dritten Reich und durch deren Unanwendbarkeit entstandene Gesetzes- und Rechtslücken sowie sonstige aufgrund des Systemwechsels auftretende Regelungsprobleme zum Gegenstand209. Auch wegen der Zersplitterung der Gerichtsbarkeiten sind sie heute weitgehend vergessen. Boehmer verdanken wir eine profunde Analyse der methodisch besonders interessanten Nachkriegsjudikatur zur postmortalen Eheschließung (»Leichentrauung für Kriegerbräute«), die aufgrund eines vertraulichen Runderlasses des Reichsminister des Inneren Himmler vom Sommer 1943 bis ins Frühjahr 1946 hinein in erheblichem Umfang praktiziert worden war210.
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RGZ 162, 244, 248. RGZ 162, 244, 253. 209 In diesem Sinne auch R. Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, 1971, S. 14; ders., Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, 1960, S. 7 f. 210 Vgl. Boehmer, Grundlagen der Bürgerlichen Rechtsordnung II/2, 1952, S. 196 ff.; s. zum korrespondierenden, aber andere Rechtsfragen aufwerfenden Institut der nachträglichen Ehescheidung Boehmer, a.a.O., S. 210 ff. mit Rechtsprechungsnachweisen. 208
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Selbstverständlich lassen sich auch aus heutiger Sicht weniger kurios erscheinende Rechtsfortbildungsbeispiele anführen, etwa die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone zur Unbeachtlichkeit von Formmängeln trotz § 125 S. 1 BGB bei schlechthin untragbaren Ergebnissen211. Diese Formel wurde später vom 1950 geschaffenen Bundesgerichtshof übernommen212, der im vielzitierten Hofübergabefall aus dem Jahre 1954213 sogar zu gewagten Vertragskonstruktionen griff, um ein auch nach Maßgabe des § 125 BGB nicht bestehendes Recht doch zu gewähren214.
5. Bundesrepublik Deutschland Der Bundesgerichtshof führte zahlreiche Rechtsfortbildungen des Reichsgerichts fort und gestaltete sie weiter aus. Er setzte aber auch ganz eigene Akzente. a. »Klassische« Fortbildungen des Bürgerlichen Rechts aa. Aus der rechtsfortbildenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in den ersten Jahren seines Bestehens ist der zivilrechtliche Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts besonders hervorzuheben215. Der »Herrenreiter« ist zum Sinnbild für den kühnen Sprung geworden, mit dem der Bundesgerichtshof die Hürde des § 253 BGB a. F. überwunden hat216. bb. Daneben sind aus der frühen höchstrichterlichen Rechtsprechung in Zivilsachen die Inhaltskontrolle allgemeiner Geschäftsbedingungen217 und die Risikohaftung zu nennen, bei letzterer konkret die Verkehrssicherungspflichten, das Organisationsverschulden und die deliktsrechtliche Produkthaftung nebst Beweislastumkehr für Betriebsinterna und Verschuldensvermutung für Produktfehler218. Mit dem Abstand eines Jahrzehnts hat der Präsident des Bundesgerichtshofs Pfeiffer im Hinblick auf die »Hühnerpest«-Entscheidung davon gesprochen, der Bundesgerichtshof habe die Herstellerhaftung für mangelhafte Industrieprodukte »außerhalb des Gesetzes« verschärft219. Die Organhaftung nach § 31 BGB wurde 211 OGHZ 1, 217, 219, in Anknüpfung an die späte, seine ursprüngliche Position modifizierende Rechtsprechung des Reichsgerichts. 212 BGHZ 23, 249, 255; 29, 6, 10. 213 BGHZ 12, 286, 302 ff. 214 In diesem Sinne G. Roth, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 2, 3. Aufl. 1994, § 242 Rn. 256. In der Folgeauflage findet sich diese Formulierung nicht mehr. 215 BGHZ 13, 334, 338 (»Schachtbrief«); 26, 349, 355 ff. (»Herrenreiter«). 216 Frei nach Bötticher, MDR 1963, 353, der zu dem »sprichwörtlich gewordenen Herrenreiter-Urteil« anmerkte: »Der Kavalier, dessen Bild zu Reklamezwecken missbraucht wurde, ist fast zum Symbol für den kühnen Sprung geworden, mit dem der Bundesgerichtshof die Hürde des § 253 BGB genommen hat, um Schmerzensgeld auch für Ehrverletzungen zuzubilligen«. E. Ulmer hat später ähnlich formuliert; kritisch hierzu Flume, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band II, 1967, S. K 5, K 9. 217 BGHZ 22, 90, 97 ff.; 41, 151, 154 f.; 60, 377, 380; prägnanter Überblick zur Entwicklung der Rechtsprechung bei Kötz, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 1, 4. Aufl. 2001, AGBG, Einl. Rn. 8 f. 218 BGHZ 51, 91, 104 ff. (»Hühnerpest«).
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vom Bundesgerichtshof durch eine extensive Interpretation des verfassungsmäßigen Vertreters und des Organisationsverschuldens weiter ausgebaut220. cc. Das Gericht bejahte für die Selbstaufopferung eines Kraftfahrers im Straßenverkehr die Voraussetzungen der Geschäftsführung ohne Auftrag und trug den Besonderheiten des »erst in der Rechtsprechung entwickelte(n) Ersatzanspruch(s) des Geschäftsführers in solchen Rettungsfällen«221 mit einer »richterliche(n) Rechtsfortbildung bei der Bemessung des Schadensersatzes«222 dergestalt Rechnung, dass er entgegen § 670 BGB die Möglichkeit einer anteiligen Kürzung des Aufwendungsersatzanspruches nach Gefahrenbeiträgen einführte (»Billigkeitsausgleich«)223. dd. Die Grundsätze der culpa in contrahendo wurden mit denen des Vertrags mit Schutzwirkungen für Dritte kombiniert, um einem Kind, das seine Mutter zum Einkauf in einen Selbstbedienungsladen begleitet hatte, einen (eigenen) Anspruch gegen den Ladeninhaber zu verschaffen224. Deliktsansprüche waren in dem zu beurteilenden Fall nach § 852 BGB a. F. bereits verjährt. ee. Der Differenzschadensbegriff ist durch die Rechtsprechung zur Vorteilsanrechnung bzw. -ausgleichung225 und zu entgangenen Gebrauchsvorteilen (»Nutzungsentgang bzw. -ausfall«)226 verändert, vielleicht sogar völlig umgewälzt227 worden. ff. Das Haftungsrecht und das Deliktsrecht sind rechtsfortbildend verwandelt worden228. Die klare Trennung des Bürgerlichen Gesetzbuchs zwischen rechtsgeschäftlich und gesetzlich begründeten Schuldverhältnissen ist aufgegeben, Vertrag und Delikt sind einander angenähert worden229. gg. Der Bundesgerichtshof hat eigenständig Rechtsgrundsätze für den finanzierten Kauf entwickelt und das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb weiter ausgebaut230.
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Pfeiffer, Die Bedeutung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, 1979, S. 15. Vgl. zur Entwicklung der Rechtsprechung Hadding, in: Soergel, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 1, 13. Aufl. 2000, § 31 Rn. 10, 15 ff., § 30 Rn. 1 ff.; Reuter, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 1, 4. Aufl. 2001, § 31 Rn. 4 f. 221 BGHZ 38, 270, 277. 222 BGHZ 38, 270, 279. 223 BGHZ 38, 270, 277 ff. 224 BGHZ 66, 51, 55 ff. (»Gemüseblatt«). 225 BGHZ 8, 325, 329; 10, 107; 91, 206, 210. 226 BGHZ 40, 345, 348 ff.; 45, 212, 215 ff.; BGHZ (GS) 98, 212 ff.; hierzu Wiethölter, KritV 1988, 1, 16: ein bahnbrechendes Stück Rechtsfortbildung. 227 So Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 522, 528 f. 228 v. Caemmerer, Wandlungen des Deliktsrechts, FS 100 Jahre Deutscher Juristentag, Band II, S. 49 ff.; zu den Hintergründen dieser Entwicklung Mansel, FS Henrich, 2000, S. 425 ff. 229 Vgl. etwa Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 459 f. mit einer Zusammenstellung der einzelnen Rechtsfortbildungen. 230 BGHZ 3, 270, 279 f. (»Constanze«); 29, 65, 69; 45, 296, 307 f. (»Höllenfeuer«); 69, 128, 139 (»Fluglotsenstreik«); BGH, NJW 1963, 484. 220
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hh. Für einen Sonderfall stellte er die rechtsgrundlose der unentgeltlichen Verfügung gleich und billigte in entsprechender Anwendung des § 816 Abs. 1 S. 2 BGB dem früheren Eigentümer einer Sache einen direkten Anspruch gegen einen Dritten zu, der diese gutgläubig, aber ohne rechtlichen Grund vom Nichtberechtigten erworben hatte231. ii. Auch in anderen Bereichen ist die Rechtsprechung anknüpfend an Rechtsfortbildungen des Reichsgerichts weit über diese hinausgegangen, etwa im Rahmen von § 242 BGB232. jj. Sie hat eine Durchbrechung der Rechtskraft zugelassen, indem sie aus § 826 BGB einen Anspruch auf Unterlassen der Zwangsvollstreckung, Herausgabe des Titels und Schadensersatz wegen Urteilsmissbrauchs herleitete233. kk. Die Rechtsprechung bemühte sich, das geltende Güterrecht zu Gunsten der im Geschäft des Mannes mitarbeitenden Ehefrau dadurch abzuschwächen, dass ihr ein Verdienstanteil zugebilligt wurde, wenn sie über das gesetzlich erforderliche Maß hinaus tätig geworden war234. Konfrontiert mit einem faktisch gemeinsam betriebenen Gastwirtsbetrieb löste der Bundesgerichtshof235 in bewusster Abwendung von der auf § 1356 Abs. 2 BGB a. F. gestützten Rechtsprechung des Reichsgerichts diese »ehewirtschaftliche Frage … durch die Annahme einer stillschweigend abgeschlossenen Innengesellschaft im Sinne der Gleichberechtigung«236. ll. Die Gerichte füllten sogar über Jahre eine ganze Rechts- bzw. Rechtsgebietslücke237, nachdem das gleichberechtigungswidrige Ehe- und Familienrecht wegen Art. 117 GG im Jahr 1953 außer Kraft getreten war238.
231 BGHZ 37, 363, 368 ff., (»Spielbank I«), allerdings nur unter der bei der Kritik dieser Entscheidung häufig vernachlässigten Voraussetzung, dass der Dritte keine Leistung von Vermögenswert erbracht hatte. Vgl. zu dieser Entscheidung noch BGHZ 47, 393, 395 f. (»Spielbank II«) und Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, § 69 II 2.b. (S. 184). 232 Z. B. im Hinblick auf die Unbeachtlichkeit von Formmängeln, s. BGHZ 12, 286, 303 f.; 23, 249, 254 f.; 29, 6, 10. 233 BGHZ 13, 71, 72; 26, 391, 396 ff. 234 So wird die einschlägige Rechtsprechung in BGHZ 11 Anhang, S. 34, 73 charakterisiert. 235 BGHZ 8, 249. 236 So BGHZ 11 Anhang, S. 34, 73. 237 Zum Terminologie Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, S. 137, der das Fehlen von Normenkomplexen als Gebietslücke bezeichnet; Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 855 ff., der von Rechtslücke bzw. Gebietslücke spricht; s. zu Rechtslücken außerdem noch Engisch, Einführung in das juristische Denken, 8. Aufl. 1983, S. 138 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Studienausgabe), 3. Aufl. 1995, S. 196 ff. 238 Grundlegend BGHZ 10, 266; ausführliche Schilderung der Rechtsprechung während des Gesetzesvakuums von 1953 bis 1958 bei Kropholler, Gleichberechtigung durch Richterrecht, 1975, S. 12 ff., mit einer methodischen Auswertung auf den S. 63 bis 80; zum Gang des Gesetzgebungsverfahrens Bosch, NJW 1987, 2617, 2618 f.
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mm. Auch sah die Rechtsprechung sich genötigt, die familien- und erbrechtlichen Beziehungen zwischen den Menschen in den beiden Teilen Deutschlands zu regeln239. Beispielsweise bestimmte der Bundesgerichtshof die für die Erteilung von Erbscheinen nach Erblassern in der DDR örtlich zuständigen bundesrepublikanischen Gerichte in Analogie zu § 73 Abs. 3 FGG240 oder zu § 72 Abs. 2 FGG241. b. Rechtsfortbildungen durch »Begriffsanwendung« Die Rechtsfortbildungen waren keineswegs auf Bereiche beschränkt, die gesetzlich nicht oder in Generalklauseln allenfalls ansatzweise geregelt waren. Auch im Gewand scheinbarer Begriffsanwendung ist das Gesetzesrecht fortgebildet worden. aa. Zu denken ist beispielsweise an die Tatbestandsmerkmale des § 812 BGB, insbesondere an das der Leistung und dessen »geradezu begriffsjuristisch anmutende Übersteigerung«242. Der Bundesgerichtshof hat die Trennungsthese Wilburgs und von Caemmerers243 übernommen244, unterscheidet klar zwischen den Leistungskondiktionen und den Nichtleistungs- bzw. (pars pro toto) Eingriffskondiktionen und stellt dabei in einer nach Lieb »inzwischen fast formelhaft erstarrten Rechtsprechung«245 entscheidend auf den sog. modernen Leistungsbegriff ab, und zwar auch und gerade bei Mehrpersonenverhältnissen. (1) Aus der Definition der Leistung als bewusster und zweckgerichteter Mehrung fremden Vermögens hat man vielfach die Lösung bereicherungsrechtlicher Fragen ableiten wollen246. So gewährt der Bundesgerichtshof dem Angewiesenen in ständiger Rechtsprechung einen unmittelbaren Anspruch gegen den Anweisungsempfänger, wenn dieser weiß, dass es an einer wirksamen Anweisung fehlt, weil die Zahlung des
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R. Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, 1971, S. 15. BGHZ 52, 123, 138. 241 BGHZ 65, 311, 316 ff. 242 Lieb, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 5, 4. Aufl. 2004, § 812 Rn. 5. 243 Zur Dogmengeschichte der Einheits- und Trennungslehren Reuter/Martinek, Handbuch des Schuldrechts, Band 5, Ungerechtfertigte Bereicherung, 1983, S. 22 ff., 35 ff.; straffe Darstellung bei Emmerich, BGB-Schuldrecht Besonderer Teil, 10. Aufl. 2003, § 16 Rn. 3 ff.; vgl. auch Wesel, NJW 1994, 2594 f. 244 Vgl. aus der vom Reichsgericht abweichenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs etwa BGHZ 40, 272, 277 f.; 58, 184, 188; 68, 276, 277; 72, 246, 248 f.; 82, 28, 30; weiterführend zur Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (und des Reichsgerichts) Mühl, in: De iustitia et iure, Festgabe von Lübtow, 1980, S. 547, 553 ff.; sehr lesenswert auch Wesel, NJW 1994, 2594 f.; kurzer Überblick zur Rechtsprechung bei Reuter/Martinek, Handbuch des Schuldrechts, Band 5, Ungerechtfertigte Bereicherung, 1983, S. 34 f. 245 Lieb, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 5, 4. Aufl. 2004, § 812 Rn. 26. 246 So zusammenfassend Medicus, Bürgerliches Recht, 20. Aufl. 2004, Rn. 666. 240
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Angewiesenen dann aus der Sicht des Leistungsempfängers nicht als Leistung des Anweisenden erscheine247. Auch ist der Bundesgerichtshof zeitweise in obiter dicta wiederholt davon ausgegangen, dass der Bereicherungsausgleich bei einer von Anfang an fehlenden Anweisung dann im Deckungsverhältnis zwischen Kontoinhaber und Bank zu erfolgen habe, wenn der Zuwendungsempfänger das Fehlen einer Anweisung nicht kannte, weil sich die Zahlung dann aus seiner Sicht gemäß §§ 133, 157 BGB (analog) als eine Leistung des Überweisenden im Sinne des § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB darstelle248. In Fällen widerrufener Anweisungen ist ein Bereicherungsanspruch des Angewiesenen gegen den gutgläubigen Empfänger mit der Begründung abgelehnt worden, der Empfänger, auf dessen Sicht es ankomme, gehe davon aus, dass der Angewiesene eine Leistung an den Anweisenden erbringen wolle249. Emmerich fasst die Kritik am modernen Leistungsbegriff dahingehend zusammen, dass seine Anhänger einer extremen Begriffsjurisprudenz huldigten250. Der Leistungsbegriff ist nach Lieb in einer kaum noch erträglichen Weise begrifflich verabsolutiert und zur Prämisse bereicherungsrechtlicher Lösungsvorschläge gemacht worden, die er aus sich selbst heraus schwerlich zu rechtfertigen vermochte251. (2) Die Zweckkomponente der Leistung bestimmt auch den Inhalt des Merkmals »ohne rechtlichen Grund« und führt dazu, dass die Voraussetzung »auf Kosten« ebenso wie das aus ihr abgeleitete Erfordernis einer Unmittelbarkeit der Vermögensverschiebung bei Leistungskondiktionen praktisch ohne Bedeutung ist. Je nach Kondiktionstyp werden die genannten Tatbestandsmerkmale also von der Rechtsprechung ganz unterschiedlich gefüllt. Es ergibt sich: Auf der Grundlage eines neuen Konzepts ist der Regelungsgehalt des § 812 BGB durch bloße Begriffserläuterungen weitgehend verändert worden. 247 BGHZ 66, 362, 364 f.; 66, 372, 374 f.; 67, 75, 78; 87, 393, 397 f.; 88, 232, 236; zusammenfassende Darstellung in BGHZ 111, 382, 386. – Die Begründung wird heute abweichend formuliert, weil die Rechtsprechung seit der letztgenannten Entscheidung einen unmittelbaren Bereicherungsanspruch des vermeintlich Angewiesenen gegen den Empfänger immer schon bei Fehlen einer gültigen Anweisung und unabhängig vom Empfängerhorizont bzw. von der Kenntnis des Empfängers zulässt, vgl. BGH NJW 2003, 582, 583; BGHZ 147, 145, 151. S. jetzt etwa BGHZ 147, 269, 274: »So entspricht es gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass dem Angewiesenen jedenfalls dann ein unmittelbarer Bereicherungsanspruch gegen den Anweisungsempfänger zusteht, wenn es an einer wirksamen Anweisung fehlt und dem Anweisungsempfänger dieser Umstand bei Empfang des Leistungsgegenstandes bekannt ist. Denn ohne eine gültige Anweisung kann die Zahlung dem vermeintlich Anweisenden nicht als seine Leistung zugerechnet werden, und der Empfänger kann die Zahlung aus seiner Sicht aufgrund seiner Kenntnis vom Fehlen einer Anweisung auch nicht als Leistung des vermeintlich Anweisenden ansehen«. 248 Etwa in BGHZ 66, 362, 365; BGH, NJW 1994, 2357 f.; dagegen BGHZ 147, 145, 151 m.w.N. 249 So BGHZ 61, 289, 293; 87, 246, 249; s. auch BGHZ 89, 376, 380; 147, 145, 150 f. 250 Emmerich, BGB-Schuldrecht Besonderer Teil, 10. Aufl. 2003, § 16 Rn. 15, mit einer differenzierenden Stellungnahme in Rn. 16. 251 Lieb, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 5, 4. Aufl. 2004, § 812 Rn. 27.
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bb. Den Anwendungsbereich der Geschäftsführung ohne Auftrag hat die Rechtsprechung kontinuierlich ausgebaut252, und zwar vor allem dadurch, dass die Anforderungen an das Merkmal »für einen anderen« in § 677 BGB stetig reduziert wurden. Dem objektiv fremden Geschäft wurden das subjektiv fremde sowie das auch fremde Geschäft zur Seite gestellt, bei welchem der Geschäftsführer auch oder sogar vornehmlich eigene Interessen verfolgt. Das subjektive Element des Handelns für einen anderen, begrifflich zum sog. Fremdgeschäftsführungswillen verselbständigt, soll bei objektiv fremden und sogar bei auch fremden Geschäften zu vermuten sein253. Selbst die gegenüber einem Dritten bestehende Pflicht zur Vornahme der Handlung soll der Geschäftsführung für einen anderen nicht entgegenstehen254. Nach dem Bundesgerichthof ist die Geschäftsführung ohne Auftrag zudem bei nichtigen Verträgen anwendbar255, obwohl hier doch solvendi causa geleistet wird. Weil nach den §§ 683, 670 BGB auch nutzlose Aufwendungen zu ersetzen sind, hat die Rechtsprechung die Geschäftsführung ohne Auftrag nach verbreiteter Auffassung »zu einem gefährlich weiten Mittel des Lastenausgleichs aus Billigkeitsgründen« gemacht256. Diese Rechtsfortbildungen erfolgten und erfolgen durch scheinbare Begriffanwendungen. Dass man sich hierbei weit vom Gesetz entfernt hat, ist allerdings offensichtlicher als beim Leistungsbegriff in § 812 Abs. 1 BGB. Bei der Geschäftsführung ohne Auftrag geht die Begriffsinhaltsvertauschung erkennbar mit einer (partiellen) Begriffsersetzung einher. c. Richterrechtliche Derogation von Gesetzesrecht Zudem sind einzelne Normen des Bürgerlichen Gesetzbuches für bestimmte Konstellationen durch die Rechtsprechung faktisch außer Kraft gesetzt. aa. In Anlehnung an den Terminus »gewohnheitsrechtliche Derogation«257 lässt sich von der »richterrechtlichen Derogation des Gesetzesrechts« sprechen. Von der rechtsfortbildenden Modifikation der Gesetze unterscheidet sich die rechtsfortbildende Derogation dadurch, dass eine derogierte, also (teilweise) aufgehobene Norm (für gewisse Fallgruppen) gar nicht mehr angewendet wird.
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Vgl. nur BGHZ 16, 12, 13; 37, 258 ff.; 38, 270 ff.; 40, 28 ff.; 52, 393, 399. BGHZ 40, 28, 31; 65, 354, 357. 254 BGHZ 16, 12, 16; 39, 261, 265. 255 BGHZ 37, 258, 262 f. 256 So Medicus, Bürgerliches Recht, 20. Aufl. 2004, Rn. 412; s. auch Emmerich, BGBSchuldrecht Besonderer Teil, 10. Aufl. 2003, § 13 Rn. 2: bequemer Weg zur Konstruktion von Regressansprüchen. 257 Vgl. etwa Röhl, Allgemeine Rechtlehre, 2. Aufl. 2001, S. 526; ausführlich zum Begriff »gewohnheitsrechtliche Derogation« C. Fischer, Die tarifwidrigen Betriebsvereinbarungen, 1998, S. 17 ff. m.w.N. 253
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bb. Einige wenige Beispiele für »klassische« richterrechtliche Derogationen von Gesetzesrecht müssen hier genügen. Die Rechtsprechung wendet § 400 BGB beim Rückgriff für erbrachte Versorgungsleistungen seit langem nicht mehr an258. § 840 Abs. 2 BGB, der den Rückgriff des für seinen Gehilfen haftenden Geschäftsherrn vorsieht, wird im Arbeitsrecht durch die Grundsätze des innerbetrieblichen Schadensausgleichs ausgeschaltet259. § 142 Abs. 1 BGB ist im Gesellschafts- und Arbeitsrecht bei vollzogenen Vertragsverhältnissen weitgehend bedeutungslos; auch andere Nichtigkeitsvorschriften wirken hier grundsätzlich ex nunc260. Zum »Garantieversprechen« wird angemerkt, dass die Schriftform nach § 766 BGB entbehrlich werde, wenn man den Vertrag nicht mehr als Bürgschaft, sondern als Forderungsgarantie bezeichnet261. d. Einige »moderne« Fortbildungen des Bürgerlichen Rechts Neben den bislang geschilderten »klassischen« Rechtsfortbildungen des Bundesgerichtshofs lassen sich noch weitere aus jüngerer Zeit anführen. aa. Das »Neuland des Leasing«, das Gebiet des Factoring und das Arzthaftungsrecht werden nach Einschätzung maßgebender Richter »ausschließlich im Wege der Rechtsfortbildung … bestellt«; auch sei der Bundesgerichthof im Bereich des Franchising und bei typisierten Automatenaufstellungsverträgen rechtsfortbildend tätig262. bb. Zudem hat der Bundesgerichtshof aus dem Rechtsinstitut der culpa in contrahendo die Haftung wegen unrichtiger Angaben in Prospekten bei Kapitalanlagen entwickelt263. cc. Er entschied, dass die Tatsache der Geschlechtsumwandlung in entsprechender Anwendung des § 47 PStG auf richterliche Anordnung im Geburtenbuch 258
BGHZ 4, 153. v. Caemmerer, in: Ansprachen aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Bundesgerichtshofes am 3. Oktober 1975, S. 21, 44. 260 Das Gesellschaftsrecht war insoweit Vorreiter, s. die bereits vorstehend unter 3.b.cc. erwähnten Entscheidungen RG, JW 1935, 2617; RGZ 165, 193, 204 f.; im Ergebnis bestätigt durch BGHZ 3, 285, 288; Nachweise zu Beiträgen über die Entwicklung dieser Rechtsprechung bei Ulmer, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 389, 292 Fn. 12; übernommen durch BAGE 5, 58, 65; 14, 180, 186 f. m.w.N. Das Reichsarbeitsgericht hatte die Rückwirkung der Anfechtung von Arbeitsverträgen auch nach 1933 mehrfach ohne nähere Begründung bejaht und die umstrittene Frage in einer späteren Entscheidung offen gelassen, s. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 398; w. N. zur Entwicklung der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs bei P. Ulmer, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 389, 392 Fn. 12. 261 Diederichsen, FS Wieacker, 1978, S. 325, 331 und 337 zu BGH WM 1964, 62; s. zur Frage der entsprechenden Anwendung der §§ 401, 771, 774, 776 BGB auf die Garantie Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts II/2, 13. Aufl. 1994, § 64 III 3. b. und c. (S. 77 f.). 262 So der damalige Präsident des Bundesgerichtshofs Pfeiffer, Rechtsfortbildung durch den Bundesgerichtshof unter Berücksichtigung des Arztrechts, 1986, S. 4 f., S. 9 ff. zum Arztrecht. 263 BGHZ 71, 284 ff.; 72, 382 ff.; 77, 172 ff. (»Prospekthaftung des Rechtsanwalts«); 79, 337 ff.; 111, 314 ff.; 115, 213 ff. 259
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§ 7 Paradigmenwechsel bei der Rechtsfindung
beizuschreiben sei264: Zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht die erste Transsexuellen-Entscheidung des Bundesgerichtshofs aufgehoben265, in der eine Änderung des Geburtseintrags im Wege der Rechtsfortbildung noch als nur dem Gesetzgeber zustehend abgelehnt worden war266. dd. Der Bundesgerichtshof erklärte den Inhaber eines dinglichen Wohnungsrechtes für befugt, seine unverheiratete Partnerin in die Wohnung aufzunehmen, obwohl § 1093 Abs. 2 BGB von Familie spricht267. Der Mann bewohnte das Haus mit seiner früheren Ehefrau, welcher von den gemeinsamen Kindern gleichfalls ein Wohnrecht – im ersten Stock und im Obergeschoss – eingeräumt worden war. ee. Entgegen § 2332 Abs. 1 BGB verneinte der Bundesgerichtshof eine Verjährung des Pflichtteilsanspruchs trotz Kenntnis von der enterbenden Verfügung, wenn diese durch eine kurz darauf entdeckte weitere Verfügung scheinbar aufgehoben wurde268. ff. Die Ertragswertberechnung für Landgüter nach § 2312 Abs. 1 S. 1 BGB ließ er rechtsfortbildend insoweit nicht mehr eingreifen, als es um einzelne Grundstücke ging, die praktisch baureif waren und sich aus dem Hof ohne Gefahr für dessen dauernde Lebensfähigkeit herauslösen ließen269. gg. Der Bundesgerichtshof wendete § 656 BGB entsprechend an auf Eheanbahnungsdienstverträge270 und später auch auf Partnerschaftsvermittlungsverträge271. hh. Die für Reiseverträge geltenden § 651 a ff. BGB sind durch Analogie auf Verträge über die bloße Bereitstellung von Ferienunterkünften erstreckt worden272. ii. Zum Ausgleich zwischen Bürge und Grundschuldbesteller entschied der Bundesgerichtshof, dass zwischen mehreren auf gleicher Stufe stehenden Sicherungsgebern, die keine besondere Vereinbarung getroffen haben, eine Ausgleichsverpflichtung entsprechend den Regeln über die Gesamtschuld entsteht273. jj. Seit Anfang der neunziger Jahre haben dann der Schutz der Persönlichkeitsrechte vor Presseberichterstattung und unbefugter postmortaler kommerzieller
264 265 266 267 268 269 270 271 272 273
BGHZ 70, 20. BVerfGE 49, 286 ff. BGHZ 57, 63, 69 f. BGHZ 84, 36. BGHZ 95, 76, 78 ff. BGHZ 98, 382, 388. BGHZ 87, 309, 313; s. auch bereits BGHZ 25, 124, 126. BGHZ 112, 122, 124 ff. BGHZ 119, 152, 163 f. BGHZ 108, 179, 183 ff.
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Verwertung274, die Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit der Bürgschaften von Angehörigen und sonstigen sog. Nahbereichspersonen275 und Einzelfragen der Prospekt- und der Sachwalterhaftung276 besondere Aufmerksamkeit gefunden. kk. Die Gerichte begründen eine Haftung für erteilte Informationen, indem sie stillschweigend geschlossene Auskunftsverträge bejahen, denen teilweise noch eine Schutzwirkung zugunsten vertragsfremder Dritter zuerkannt wird277. ll. Bei revolvierenden Globalsicherungen räumte der Bundesgerichtshof dem Sicherungsgeber im Fall einer nicht nur vorübergehenden nachträglichen Übersicherung einen ermessensunabhängigen Freigabeanspruch ein, stellte eine auf den realisierbaren Wert der Sicherungsgegenstände bezogene Deckungsgrenze von 110 % auf und setzte die regelmäßige Grenze für das Entstehen eines Freigabeanspruchs (»Übersicherungsgrenze«) entsprechend § 237 S. 1 BGB auf 150 % des maßgeblichen Schätzwertes fest278. Die Globalsicherung ist hiernach bei einer nachträglichen Übersicherung279 auch dann wirksam, wenn es an einer ausdrücklichen Freigabevereinbarung fehlt, keine Deckungsgrenze festgelegt und keine Bewertungsvereinbarung getroffen wurde. mm. Im ausbildungsrelevanten Bereich der sog. Anweisungsfälle erkannte der Bundesgerichtshof dem vermeintlich Angewiesenen bei fehlender Anweisung auch dann einen unmittelbaren bereicherungsrechtlichen Anspruch gegen den Zahlungsempfänger zu, wenn letzterer keine Kenntnis vom Fehlen einer wirksamen Anweisung hatte280. nn. Zu erwähnen ist daneben noch die analoge Anwendung des § 569 a BGB a. F. auf den Partner einer auf Dauer angelegten, heterosexuellen nichtehelichen Lebensgemeinschaft281.
274 BGHZ 128, 1 (»Caroline von Monaco«); 132, 13; 143, 214 (»Marlene Dietrich«); BGH, NJW 1996, 985; hierzu auch BVerfG, NJW 2000, 2187; NJW 2006, 3409. 275 BVerfGE 89, 214, 233 f.; BGHZ 120, 272; 125, 206, 210, 213 ff.; 128, 230; 132, 328; 134, 42; 135, 66; 136, 347; 137, 329; 146, 37, 41 ff.; 151, 34; 151, 316; 152, 147, 149 f.; BGH, NJW 2001, 2466; NJW 2002, 746; NJW 2002, 2228, 2230, 2705; ZIP 2003, 796; nach BGHZ 152, 147 grundsätzlich nicht übertragbar auf die Bestellung einer Sicherungsgrundschuld; zur Anwendung auf Gesellschafterbürgschaften BGHZ 137, 329; BGH, NJW 2002, 956, 1337; NJW 2003, 967; zur Sittenwidrigkeit einer Arbeitnehmerbürgschaft BGH, NJW 2004, 161. 276 Zur Prospekthaftung BGHZ 123, 106; 126, 166; 145, 121; 145, 187 (»Wirtschaftsprüfer«); 145, 121 (»Bauträgermodell«); zur Sachwalterhaftung aus neuerer Zeit BGHZ 127, 378, 380 f.(»Dritthaftung des Sachverständigen«); 129, 136, 170 f. (»Stimmrechtsbevollmächtigter«); 137, 257, 260 f. (»Dritthaftung des Abschlussprüfers«). 277 S. etwa BGHZ 140, 111 ff. 278 BGHZ 137, 212 ff. 279 Zur Sittenwidrigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB bei einer anfänglichen Übersicherung BGH, NJW 1998, 2047 f. 280 BGHZ 111, 382, 386 f.; 147, 145, 1515; BGH NJW 2003, 582, 583; hierzu bereits 5.b.aa.(1). 281 BGHZ 121, 116; hierzu in der Sache auch BVerfGE 82, 6, 11 ff.
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oo. Ins juristische Kuriositätenkabinett gehört die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, in der im Fall der Vernichtung konservierten Spermas aufgrund einer »weiten Auslegung« des Begriffs der Körperverletzung nach §§ 823 Abs. 1, 847 a. F. BGB Schmerzensgeld zugesprochen wurde282. Der Senat legte einen stark »vergeistigten« Begriff der Körperverletzung zugrunde283 und zog eine gewagte Parallele zum Fall der Beschädigung einer zur späteren Reimplantation bestimmten Eizelle284, bei dem es freilich gleichfalls überzeugender wäre, direkt auf das Persönlichkeitsrecht als sonstiges Recht im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB abzustellen. pp. Das Recht der Gesellschaft Bürgerlichen Rechts ist in den letzten Jahren vom Zweiten Senat des Bundesgerichtshofs285 in einer der »spektakulärsten richterlichen Rechtsfortbildungen seit Inkrafttreten des BGB«286 grundlegend umgestaltet worden. qq. Große praktische Bedeutung hat auch die Änderung der Anrechnungsmethoden für den nachehelichen Unterhalt durch die höchstrichterliche Rechtsprechung287. rr. Aus neuester Zeit ist noch die viel beachtete Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Bindungswirkung einer sog. Patientenverfügung und zur vormundschaftsgerichtlichen Genehmigungsbedürftigkeit von Betreuerhandeln in Sterbehilfefällen zu nennen (»Sterbehilfe-Beschluss des BGH«)288. Sie enthält 282
BGHZ 124, 52, 54 ff. BGHZ 124, 52, 54: Schutzgut der Körperverletzung sei nicht die Materie, sondern das Seins- und Bestimmungsfeld der Persönlichkeit, das in der körperlichen Befindlichkeit materialisiert sei. – Man kann insoweit von einer »persönlichkeitsrechtsdeterminierten« Begriffsbestimmung sprechen. 284 BGHZ 124, 52, 56. Ganz scheint der Senat von seiner »Auslegung« selbst nicht überzeugt gewesen zu sein, s. die anschließende Passage in BGHZ 124, 52, 56: »Sollte gleichwohl das konservierte Sperma selbst in Fällen wie diesem allein deshalb, weil es nicht in den Körper des Rechtsträgers zurückkehrt, tatbestandlich in dem Schutzgut der körperlichen Integrität nach Maßgabe dieser Vorschriften nicht erfasst sein, so sind diese jedenfalls unter den genannten Voraussetzungen entsprechend anzuwenden. Zu solcher die §§ 823 Abs. 1, 847 Abs. 1 BGB erweiternden Rechtsanwendung auch in diesem Fall legitimiert das Persönlichkeitsrecht des Rechtsträgers, das durch die Vernichtung der Spermakonserve nicht anders und nicht geringer betroffen ist als das Persönlichkeitsrecht der Frau durch die Vernichtung einer ihrem Körper entnommenen und zur Reimplantation bestimmten Eizelle«. – Es fragt sich, warum der Senat dann nicht unmittelbar auf das Persönlichkeitsrecht abstellt. 285 BGHZ 146, 341 (Rechtsfähigkeit der Außen-GbR); 154, 88 (Haftung der GbR für deliktisches Handeln der Gesellschafter); 154, 370 (Haftung des eintretenden GbR-Gesellschafters für Altverbindlichkeiten). 286 Canaris, ZGR 2004, 69, 69 f., der diese Bewertung noch mit dem Zusatz »ohne Zweifel« unterstreicht. 287 Übergang von der sog. Anrechnungsmethode zu der für den Unterhaltsberechtigten günstigeren Additions- bzw. Differenzmethode, grundlegend BGHZ 148, 105, 120 ff. 288 BGHZ 154, 205 ff.; vgl. zu den Reaktionen im Schrifttum stellvertretend für die mehr als 60 Anmerkungen und Besprechungsaufsätze, die bis November 2006 erschienen waren, etwa Deutsch, NJW 2003, 1567 f.; Hufen ZRP 2003, 2438 ff.; Spickhoff, JZ 2003, 739 ff.; Stackmann, NJW 2003, 1568 f. 283
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zahlreiche obiter dicta. Der Senat hätte nur darauf antworten müssen, ob das Vormundschaftsgericht zu entscheiden hat, wenn der Betreuer entsprechend einer Patientenverfügung die Einwilligung in eine ärztlicherseits angebotene lebensverlängernde Maßnahme verweigert. e. Überholte Rechtsfortbildungen Es gibt eine Vielzahl richterlicher Rechtsfortbildungen, die nicht mehr aktuell sind. Manche entsprechen einfach nicht mehr dem gegenwärtigen Stand der Rechtsprechung. Andere begegnen uns mittlerweile in anderem Gewand, da sie vom Gesetzgeber aufgegriffen und gesetzlich fixiert worden sind. Nach heutiger Rechtslage stellen solche »alten« Rechtsfortbildungen keine Fortbildungen des Gesetzesrechts mehr dar. Sie können allenfalls noch als Auslegungshilfen bei der Gesetzesinterpretation dienen. aa. Zahlreiche richterliche Rechtsfortbildungen sind zwischenzeitlich in Gesetzesrecht überführt, sind »legalisiert« worden. Der damalige Präsident des Bundesgerichtshofs Pfeiffer hat von der »Rezeption richterlicher Rechtsfortbildung als Gesetzesrecht« und von Gesetzeswerken gesprochen, in denen die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes fast vollständig aufgenommen worden sei289. Neben bereits genannten Bereichen wie dem Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen und der deliktsrechtlichen Produkthaftung ist hier etwa noch das Reisevertragsrecht oder auch die Ausdehnung des Aufopferungsanspruchs auf Impfschäden zu erwähnen290. bb. Manche Rechtsfortbildung des Bundesgerichtshofs hat nur noch rechtsgeschichtliche Bedeutung, weil der eingeschlagene Weg wieder verlassen oder zumindest nicht weiter gegangen wurde. Das gilt etwa für die »gequälte Analogie«291 zu § 847 BGB in der Herrenreiterentscheidung292, für das Institut der Aushöhlungsnichtigkeit von Rechtsgeschäften unter Lebenden bei Erbverträgen und gemeinschaftlichen wechselbezüglichen Testamenten293 oder für die Rechtsprechung zu den »faktischen Vertragsverhältnissen«294, welche die Rechtswissenschaft allerdings unter den Stichworten »Rechts-
289 Pfeiffer, Rechtsfortbildung durch den Bundesgerichtshof unter Berücksichtigung des Arztrechts, 1986, S. 4. 290 BGHZ 18, 286 entgegen RGZ 156, 305 (GS); hierzu Diederichsen, Die Flucht des Gesetzgebers aus der politischen Verantwortung im Zivilrecht, 1974, S. 55 f. 291 So die bekannte Formulierung von Kötz, s. Kötz/Wagner, Deliktsrecht, 10. Aufl. 2006, Rn. 423. 292 BGHZ 26, 349, 355 f.: »Freiheitsberaubung im Geistigen«. 293 Aufgegeben durch BGHZ 59, 343. 294 BGHZ 21, 319 (»Hamburger Parkplatzfall«); 23, 175 (»Schwarzstrom«); 23, 249, 261 (»Hofübergabe«); hierzu insb. Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II, 4. Aufl. 1992, § 8 (S. 95 ff.); Medicus, Bürgerliches Recht, 20. Aufl. 2004, Rn. 189 ff.
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geschäfte ohne Willenserklärung«295 und »Vertragsabschluß durch sozialtypisches Verhalten«296 immer noch nachhaltig beschäftigen. Das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb hat wegen der vom Bundesgerichtshof geforderten Betriebsbezogenheit des Eingriffs297 und vor allem wegen des von ihm aufgestellten Subsidiaritätsdogmas298 und des mittlerweile weitgespannten Unternehmensschutzes in anderen Normen299 erheblich an Bedeutung verloren. Der Anwendungsbereich des Unternehmensschutzes über § 823 Abs. 1 BGB ist heute nur noch schmal300. Nach vordringender Auffassung besteht »in Wahrheit gar kein Bedürfnis« für das Recht am Gewerbebetrieb301. Canaris spricht gar von der »Notwendigkeit eines Verzichts« auf dieses »Produkt freier richterlicher Rechtsfortbildung«302. Es gibt auch überholte Rechtsfortbildungen aus neuerer Zeit. Beispielsweise hat der Bundesgerichtshof kürzlich seine noch junge Rechtsprechung aufgegeben303, nach der die Verjährung von Ansprüchen auf Zinsen aus Sicherungsgrundschulden bis zum Eintritt des Sicherungsfalles entsprechend § 202 Abs. 1 BGB a. F. gehemmt war304. f. Rechtsfortbildungen in den sog. Nebengebieten Die Aufzählung von Rechtsfortbildungen aus dem Bereich des Bürgerlichen Gesetzbuches ließe sich fast beliebig verlängern. Dabei gibt es andere Teilrechtsgebiete mit deutlich geringerer gesetzlicher Regelungsdichte und größeren Anteilen an eigenständigem Richterrecht. aa. Überblick. Zu denken ist zunächst an das Gesellschaftsrecht und an das Arbeitsrecht, aber auch an das Privatversicherungsrecht305, an das Wettbewerbsrecht mit seinem viel diskutierten § 1 UWG von 1909 und an das Urheberrecht, 295 Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, 8. Aufl. 2002, Rn. 244 ff.; ders., Bürgerliches Recht, 20. Aufl. 2004, vor Rn. 188: »Vertragsansprüche ohne Vertrag« m.w.N. 296 Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 9. Aufl. 2004, § 30 Rn. 21 ff (S. 578 ff.). 297 BGHZ 29, 65, 74. 298 BGHZ 36, 252, 256 f.; 38, 200, 204. – Der Begriff »Subsidiaritätsdogma« stammt von Canaris, s. Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts II/2, 13. Aufl. 1994, § 81 I.4.a. (S. 543). 299 Emmerich, BGB-Schuldrecht Besonderer Teil, 10. Aufl. 2003, § 22 Rn. 10. 300 So Emmerich, BGB-Schuldrecht Besonderer Teil, 10. Aufl. 2003, § 22 Rn. 10; s. zudem Medicus, Bürgerliches Recht, 20. Aufl. 2004, Rn. 611: Der Schutz des Rechts wird »jetzt mit Recht stark eingeschränkt«. Eine »rückläufige Tendenz bei dem Bejahen eines Anspruchs« konstatiert auch Teichmann, in: Jauernig (Hrsg.); Bürgerliches Gesetzbuch, 11. Aufl. 2004, § 823 Rn. 95 a. E.; vgl. bereits Steffen, in: RGRK, Band II, 5. Teil, 12. Aufl. 1989, § 823 Rn. 36: »Gegenwärtig sucht der BGH den Schutz für das Unternehmen auf das sachlich Unumgängliche einzuschränken«. 301 Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts II/2, 13. Aufl. 1994, § 81 IV.1.a. (S. 560); ebenso im Ergebnis Medicus, Bürgerliches Recht, 20. Aufl. 2004, Rn. 614 m.w.N. 302 Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts II/2, 13. Aufl. 1994, § 81 IV. und IV.1.a. (S. 560 f.). 303 BGHZ 142, 332, 335 ff. 304 So noch BGH, ZIP 1993, 257, 258; NJW 1996, 253, 256. 305 Vgl. R. Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, 1971, S. 17 f.
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in dem Reichsgericht und Bundesgerichtshof neuen technischen Möglichkeiten durch eine »besonders weitreichende Rechtsfortbildung«306 Rechnung tragen mussten307. Es ist freilich bemerkenswert, dass sich in keiner der angeführten rechtsfortbildenden Entscheidungen zum Urheberrecht der Ausdruck »Rechtsfortbildung« findet. Lediglich in einer der Entscheidungen ist von der Fortbildung des Rechts die Rede, freilich nur am Rande und im Zusammenhang mit einer »Auslegung«308: Die Bindung des Richters an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 2 GG) gestatte dem Richter nicht nur, das Recht im Sinne seiner Weiterentwicklung durch Auslegung des gesetzten Rechts fortzubilden, sondern verpflichte ihn sogar dazu, wenn die Findung einer gerechten Entscheidung dies erfordere. Auch gegenüber einem sprachlich eindeutigen Wortlaut müsse eine Auslegung nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes Platz greifen, wenn der zur Entscheidung stehende Interessenkonflikt bei Erlass des Gesetzes noch nicht ins Auge gefasst werden konnte, weil er erst durch die Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse nach diesem Zeitpunkt in Erscheinung getreten sei309. Höher als der Wortlaut des Gesetzes stehe sein Sinn und Zweck. Dass diese Rechtsprechung noch unter den Begriff der Auslegung falle, wie die Entscheidung selbst meine, wird selbst von Bundesrichtern bezweifelt310. Auch im Urheberrecht gibt es zahlreiche überholte Rechtsfortbildungen311. Das Urheberrechtsgesetz von 1965 soll die einschlägigen richterlichen Rechtsfortbildungen beinahe vollständig rezipiert haben312. bb. Gesellschaftsrecht. Gerade im Gesellschaftsrecht kommt der Rechtsfortbildung nach dem Urteil der Fachwissenschaftler seit alters her eine besonders herausragende Rolle zu313. Die Fortbildung des Rechts durch Praxis und Lehre habe auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts, so heißt es ein wenig martialisch, besondere Schlagkraft erlangt314. Die Gründe lägen in der spezifischen Rechtsmaterie, die sich dank Kautelarjurisprudenz und wirtschaftlicher Entwicklungen in ständigem Fluss befinde, daneben auch in der jeweiligen Zusammensetzung der Richterbank im Zweiten Zivilsenat des Bundesgerichtshofs und in der Persönlichkeit
306
So Pehle, in: Pehle/Stimpel, Richterliche Rechtsfortbildung, 1969, S. 1, 8. RGZ 113, 413 (Rundfunk); 153, 1 (Schallplatte); BGHZ 8, 88 (Überspielen von Schallplatten auf Magnettonbänder); 11, 135 (öffentliche Schallplattenaufführung); 17, 266 (Magnettonbandaufnahme); 18, 44 (Fotomechanische Vervielfältigung); 33, 1 (Öffentliches Schallplattenkonzert und Künstlerlizenz); 37, 1; 38, 356 (Fernsehsendungen in Kinos und Gaststätten). 308 BGHZ 17, 266, 275 f. 309 Ebenso BGHZ 33, 1, 6 m.w.N. 310 S. Pehle, in: Pehle/Stimpel, Richterliche Rechtsfortbildung, 1969, S. 1, 9. 311 Zum Begriff vorstehend e. 312 So Pfeiffer, Rechtsfortbildung durch den Bundesgerichtshof unter Berücksichtigung des Arztrechts, 1986, S. 4; ähnlich schon Pehle, in: Pehle/Stimpel, Richterliche Rechtsfortbildung, 1969, S. 1, 8: Die Ergebnisse der gesamten Rechtsprechung auf diesem Gebiet seien in das (damals) neue Urheberrechtsgesetz übernommen worden. 313 So vor kurzem P. Ulmer, ZHR 169 (2005), 1 m.w.N.; nach Bereichen des Gesellschaftsrechts differenzierend H. Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Band I, 1980, § 1 III.1.b. (S. 44). 314 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 2 I.2.a. (S. 32). 307
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seines Vorsitzenden315. Andere betonen das Fehlen einer allgemeinen Kodifikation des Gesellschaftsrechts, weshalb Rechtswissenschaft und Rechtspraxis die vornehme Aufgabe hätten, einen Beitrag zur Einheit der Rechtsordnung zu leisten und dem Gesellschaftsrecht durch die Herausbildung allgemeiner Lehren zu einer kodifikationsgerechten Geschlossenheit zu verhelfen316. Diese Anliegen sind hier nicht zu bewerten. Entscheidend ist, dass im Gesellschaftsrecht zentrale rechtliche Rahmenbedingungen durch richterliche Rechtsfortbildungen gesetzt wurden – und dies im Grundsatz allgemein akzeptiert wird. Eine solche Sichtweise verwundert schon angesichts der Vielzahl richterlicher Rechtsfortbildungen im Gesellschaftsrecht nicht. (1) Im Recht der Personengesellschaften ist beispielsweise auf die Entwicklung der Treuepflichten und die Rechtsprechung zur fehlerhaften Gesellschaft hinzuweisen317, oder auch auf die Gesellschafterklage318, bei Personengesellschaften actio pro socio genannt, sowie auf die Übertragbarkeit von Personengesellschaftsanteilen einschließlich der sachgerechten Behandlung ihrer Haftungsfolgen319. Auch begrenzte der Bundesgerichtshof die Haftung des ausscheidenden Gesellschafters für Verpflichtungen aus Dauerschuldverhältnissen zeitlich bis zum ersten auf das Ausscheiden folgenden Kündigungstermin320 und bei Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit einer Kündigung auf maximal fünf Jahre nach der Eintragung des Ausscheidens des Gesellschafters im Handelsregister321. Nachdem in § 160 Abs. 1 S. 1 HGB eine fünfjährige Nachhaftung gesetzlich geregelt worden war322, gab der Bundesgerichtshof die sog. Kündigungstheorie im Jahre 1999 auf, da für dieses Korrektiv keine Veranlassung mehr bestehe323. Dass das Recht der Gesellschaft Bürgerlichen Rechts in den letzten Jahren durch den Zweiten Senat des Bundesgerichtshofs grundlegend umgestaltet wurde, ist bereits erwähnt worden324. Die Rechtsprechung hat Lösungen für Erbfälle in Gesellschaftsunternehmen entwickelt325 und das unklare Verhältnis von Gesellschafts- und Erbrecht näher
315 P. Ulmer, ZHR 169 (2005), 1; zur Bedeutung der Kautelarjurisprudenz auch v. Caemmerer, in: Ansprachen aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Bundesgerichtshofes am 3. Oktober 1975, S. 21, 32; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 3 (S. 34 ff.). 316 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 2 I.2.a. (S. 32 f.). 317 Vgl. v. Caemmerer, in: Ansprachen aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Bundesgerichtshofes am 3. Oktober 1975, S. 21, 32; s. zur fehlerhaften Gesellschaft insb. RGZ 165, 193, 204 f. und BGHZ 3, 285, 288; hierzu bereits oben unter 3.b.cc.(1). und 5.c.bb. m.w.N. 318 Grundlegend war eine Entscheidung des Reichsoberhandelsgerichts aus dem Jahre 1872, s. ROHGE 5, 386, 390; weitere Hinweise bei RGZ 171, 51 ff., wo die actio pro socio wegen des Treugedankens eingeschränkt wurde; rückgängig gemacht durch BGHZ 25, 47, 49 f. 319 RG (GS), 30.9.1944, WM 1964, 1130 ff.; P. Ulmer, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 389, 392 m.w.N. aus Rechtsprechung und Literatur. 320 BGHZ 70, 132, 136. 321 BGHZ 87, 286, 292. 322 Durch das Nachhaftungsbegrenzungsgesetz vom 18.3.1994, BGBl. I, S. 560. 323 BGHZ 142, 324, 330 f. 324 Vorstehend e.pp. 325 BGHZ 22, 186 und BGHZ 68, 225 zur Vererbung von Gesellschaftsanteilen bei der oHG bzw. KG, insb. zu sog. erbrechtlichen Nachfolgeklauseln.
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bestimmt. Sie hat trotz fehlender gesellschaftsvertraglicher Regelungen verhindert, dass bedeutende Unternehmen beim Tod eines persönlich haftenden Gesellschafters zur Auflösung gebracht werden mussten326. Für die GmbH & Co. KG hatte das Reichsgericht327 bereits 1922 die entscheidenden Weichen gestellt328. Wiedemann bezeichnet die Zulassung der GmbH & Co. KG, mit welcher die Rechtsprechung den gesetzlichen numerus clausus der Gesellschaftstypen durchbrochen habe, als das herausragende Beispiel rechtsfortbildenden Richterrechts im Verbandsrecht329. Der Bundesgerichtshof hat das wegen der Haftungslage problematische Richterrecht des Reichsgerichts gründlich reformiert330, indem er die Offenlegung der Rechtsform anordnete331 und Finanzierungsgrundsätze des GmbH-Rechts bzw. GmbH-Außenrechts auf die GmbH & Co. KG übertrug332. Die GmbH-Novelle von 1980 hat dann verschiedene Rechtsfragen dieser Gesellschaftsform gesetzlich geregelt333. (2) Seit etwa 1973334 hat der Bundesgerichtshof in immer stärkerem Maße ein Sonderrecht der Massen- bzw. Publikumspersonengesellschaften entwickelt, das mit dem im Handelsgesetzbuch geregelten Recht der Personengesellschaften nur noch wenig Gemeinsames hat335; solche Gesellschaften werden vielmehr durch analoge Anwendung von Normen des GmbH- oder Aktienrechts in die Nähe der Kapitalgesellschaften gerückt336. Der Zweite Senat des Bundesgerichtshofs führte in seiner Entscheidung zum Wiederaufleben der Kommanditistenhaftung am Rande aus, er habe auf die Publikums-Kommanditgesellschaft im Wege der Rechtsfortbildung wiederholt Rechtsgrundsätze angewendet, die im Recht der Kapitalgesellschaften Geltung beanspruchen337. Im Schrifttum spricht man von der Zwitterstellung und von einem Sonderrecht der Publikumsgesellschaft, dessen Sonderregeln wegen der körperschaftlichen Struktur von Publikumsgesellschaften oft dem Recht der Kapitalgesellschaften angenähert seien338. 326
R. Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, 1971, S. 29. RGZ 105, 101. 328 v. Caemmerer, in: Ansprachen aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Bundesgerichtshofes am 3. Oktober 1975, S. 21, 33. 329 H. Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Band I, 1980, § 1 III.1.b.(1). (S. 44). 330 H. Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Band I, 1980, § 1 III.1.b.(1). (S. 45). 331 BGHZ 62, 216, 226 f.; 71, 354, 355 f. 332 BGHZ 60, 324, 328 ff.; 69, 274, 279 ff.; 110, 342, 346. 333 Vgl. im HGB § 19 Abs. 2 (Firmierung), §§ 125a, 177a (Angabe der Rechtsform auf Geschäftsbriefen), §§ 130a, 130b, 177a (Antragspflicht bei Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung), § 172 Abs. 6 (Leistung der Kommanditeinlage durch Einbringung des GmbH-Anteils), §§ 129a, 172a (Anwendung des GmbHG bei Rückgewähr von Darlehen). 334 Als grundlegend wird das Urteil vom 14.12.1972 (NJW 1973, 1604 ff.) angesehen, vgl. aus dem Schrifttum nur Hopt, in: Baumbach/Hopt, Handelsgesetzbuch, 32. Aufl. 2006, Anh § 177a Rn. 53. 335 Pfeiffer, Rechtsfortbildung durch den Bundesgerichtshof unter Berücksichtigung des Arztrechts, 1986, S. 5. 336 Pfeiffer, Rechtsfortbildung durch den Bundesgerichtshof unter Berücksichtigung des Arztrechts, 1986, S. 5, unter Hinweis auf BGH, NJW 1979, 1503 (= BGHZ 73, 294 ff.); NJW 1980, 233 (= BGHZ 75, 178 ff.); NJW 1980, 569 (= BGHZ 75, 321 ff.); DB 1980, 71, 75 und zwei Beiträge aus dem Schrifttum. 337 So BGHZ 84, 383, 386. 338 Vgl. etwa Hopt, in: Baumbach/Hopt, Handelsgesetzbuch, 32. Aufl. 2006, Anh § 177a Rn. 53. 327
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(3) Die Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs hat den nicht rechtsfähigen Verein, den der BGB-Gesetzgeber aus politischen Erwägungen bewusst einer ungeeigneten Organisationsform mit drastischen Haftungsfolgen für die Mitglieder unterworfen hatte339, entgegen § 54 S. 1 BGB im Ergebnis weitgehend dem rechtsfähigen Verein gleichgestellt. Die Haftung der Mitglieder für Vereinsschulden wurde praktisch auf das Vereinsvermögen beschränkt340. Mit dem Vereinscharakter unverträgliche Vorschriften über die Gesellschaft galten frühzeitig als stillschweigend außer Kraft gesetzt341. Der Bundesgerichtshof gestand Gewerkschaften, die nicht rechtsfähige Vereine waren, die aktive Parteifähigkeit im Zivilprozess zu342. (4) Im Kapitalgesellschaftsrecht haben die Gerichte etwa im GmbH-Recht343 mit den Entscheidungen zur Strohmanngründung344 und zur Behandlung von Gesellschafterdarlehen345 die Kapitalaufbringung gesichert, mit der Annahme von Treuepflichten346 eine personalistische Ausgestaltung der GmbH ermöglicht, den Gesellschaftern Auskunfts- und Kontrollrechte347, Austrittsrechte und Ausschließungsklagen348 eingeräumt und die aktienrechtlichen Regeln über die Nichtigkeit und Anfechtbarkeit von Gesellschafterbeschlüssen bezüglich ihrer Grundsätze entsprechend angewendet349. Besondere Erwähnung verdienen die »Vorgesellschaften«, die als Kapitalgesellschaften im Gründungsstadium zwischen Satzungsfeststellung und Eintragung im Handelsregister nach Ansicht des Bundesgerichtshofs keine Gesellschaften Bürgerlichen Rechts sind, sondern Vereinigungen sui generis, auf die weitgehend das Recht der zu gründenden juristischen Personen Anwendung findet350. Sie sind von sog. Vorgründungsgesellschaften zu unterscheiden351, die durch einen auf die Gründung einer Kapitalgesellschaft gerichteten Vorvertrag entstehen, bis zu deren notarieller Beurkundung existieren und Gesellschaften Bürgerlichen Rechts sind, sofern nicht die §§ 105 ff. HGB eingreifen.
339 H. Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Band I, 1980, § 1 III.1.b.(2). (S. 45 f.); eingehend zum gesetzlich gewollten Rechtszustand und der »Gesetzeskorrektur durch richterliche Rechtsschöpfung« des Reichsgerichts Boehmer, Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung II/2, 1952, S. 167 ff. 340 RGZ 63, 62, 65; 74, 371, 374; 90, 273, 276. 341 Vgl. Sayn, in: RGRK, I. Band, 8. Aufl. 1934, § 54 Anm. 1 (S. 68); s. etwa RGZ 113, 125, 135 zu §§ 738 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 BGB; RGZ 143, 212, 215 zu § 708 BGB. 342 BGHZ 42, 210, 216 f.; 50, 325, 333 ff. 343 Zusammenstellung bei v. Caemmerer, in: Ansprachen aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Bundesgerichtshofes am 3. Oktober 1975, S. 21, 32 f.; hierzu auch R. Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, 1971, S. 16 f. 344 BGHZ 31, 258, 263 f. 345 BGHZ 31, 258, 268 ff. 346 BGHZ 9, 157, 163 f., anknüpfend an die bereits erwähnte Rechtsprechung des Reichsgerichts; BGHZ 14, 25, 38. 347 Grundlegend BGHZ 14, 53 ff. 348 Die Grundsatzentscheidung ist BGHZ 9, 157 ff. 349 BGHZ 11, 231, 235; ebenso bereits das Reichsgericht, s. RGZ 166, 129, 131 f., mit einer Darstellung der Rechtsprechungsentwicklung. 350 BGHZ 20, 281, 285; 21, 242, 246; 80, 212, 214; 143, 314, 319 m.w.N. 351 BGHZ 91, 148, 150 f.
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Zu nennen ist noch die lebhaft erörterte Rechtsprechung zum Verlustausgleich des herrschenden Unternehmens im qualifizierten faktischen GmbH-Konzern352, die mittlerweile durch eine als »Klarstellung« bezeichnete Änderung der Rechtsprechung durch den Zweiten Zivilsenat des Bundesgerichtshofs353 wieder beendet wurde354. Das Erfordernis, in der abhängigen GmbH ohne Minderheitsgesellschafter für Gläubigerschutz zu sorgen, wird jetzt – wenn auch ohne ausdrücklichen Konzernbezug – durch die Rechtsprechung zur Gesellschafterhaftung wegen existenzgefährdenden Eingriffs355 erfüllt356. Auch im Aktienrecht, dem noch 1980 eine – im Vergleich zum Bereich der Idealvereine, Personengesellschaften und GmbH – spärliche Dichte an Richterrecht bescheinigt wurde357, hat es in der Zwischenzeit viele Rechtsfortbildungen gegeben, wobei im Schrifttum ausdrücklich nicht deren Zahl, sondern ihr Gewicht betont wird358. Zu nennen sind vor allem zwei Entscheidungen aus dem Jahr 1982. Das »Holzmüller«-Urteil schuf ungeschriebene Mitwirkungsbefugnisse der Hauptversammlung im Recht der verbundenen Unternehmen, abgesichert durch die Möglichkeit von Aktionärsklagen359. Im »Holzmann«-Urteil stellte der Zweite Senat besondere Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Ermächtigung des Vorstands zum Bezugsrechtsausschluss beim genehmigten Kapital auf360. Die sog. »Holzmann«-Doktrin wurde 1997 aufgegeben361. Der Bundesgerichtshof bestimmte die Voraussetzungen, unter denen von dem genehmigten Kapital mit Bezugsrechtsausschluss oder der Ermächtigung des Vorstandes dazu für die Kapitalerhöhung mit Sacheinlagen Gebrauch gemacht werden darf, neu362. Die Grundsätze der »Holzmüller«-Entscheidung sind vor kurzem deutlich eingeschränkt worden363. Über viele Jahre haben die beiden aktienrechtlichen »Paukenschläge«364 des Bundesgerichtshofs freilich die einschlägigen Fachdiskussionen bestimmt. Es gab auch zahlreiche weniger spektakuläre Rechtsfortbildungen im Aktienrecht, etwa das Urteil des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs zur aktienrechtlichen Abfindung bei der Eingliederung in eine bereits innerhalb eines mehrstufigen Konzerns eingegliederte Hauptgesellschaft365.
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BGHZ 95, 330, 341 ff. (»Autokran«); 107, 7, 18 (»Tiefbau«); 115, 187, 194 (»Video«). BGHZ 122, 123, 129 ff. (»TBB«). 354 Statt vieler P. Ulmer, ZHR 169 (2005), 1, 2. Den Schlusspunkt setzte BGHZ 149, 10 ff. (»Bremer Vulkan«). 355 BGHZ 149, 10, 16 ff. (»Bremer Vulkan«); 151, 181, 186 ff. (»KBV«). 356 S. etwa P. Ulmer, ZHR 169 (2005), 1, 2. 357 H. Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Band I, 1980, § 1 III.1.b. (S. 44). 358 Vgl. beispielsweise P. Ulmer, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 389, 391 f. 359 BGHZ 83, 122, 136 ff., insb. S. 139. 360 BGHZ 83, 319, 325 f. 361 BGHZ 136, 133, 136 ff. (»Siemens/Nold«). 362 So ausdrücklich BGHZ 136, 133, 138 f. 363 BGHZ 159, 30 ff. (»Gelatine«), wonach ungeschriebene Mitwirkungsbefugnisse der Hauptversammlung bei Maßnahmen, die das Gesetz dem Vorstand als Leitungsaufgabe zuweist, nur ausnahmsweise und in engen Grenzen anzuerkennen sind; ebenso BGH, NZG 2004, 575 ff. 364 P. Ulmer, ZHR 169 (2005), 1, 2. 365 BGHZ 138, 224 ff. 353
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(5) Neben den beispielhaft angeführten Judikaten existieren noch zahlreiche weitere in der Literatur erörterte Fortbildungen des Gesellschaftsrechts366. cc. Arbeitsrecht. Arbeitsrechtler sind sich sicher: »Kein anderes Rechtsgebiet wird so von der Rechtsprechung beherrscht wie das Arbeitsrecht«367. Das Arbeitskampfrecht, klassisches Beispiel einer Rechtsgebietslücke, ist bekanntlich sogar reines Richterrecht. Die richterrechtliche Prägung des Arbeitsrechts ist fast schon sprichwörtlich: »Das Richterrecht ist unser Schicksal« – so lautet der geläufigste Stoßseufzer der Arbeitsrechtler. Gamillschegs viel und meist ungenau zitierter, an einen Ausspruch Walther Rathenaus angelehnter Aphorismus »Das Richterrecht bleibt unser Schicksal«368 wird inzwischen auch außerhalb des Arbeitsrechts verwendet, um die wahre Machtverteilung zwischen Gesetzgeber und Richter plastisch zu veranschaulichen369. Obwohl es keine spezifisch arbeitsrechtliche Theorie der Rechtsfindung gibt370, sind selbst Wissenschaftler, die auch im ebenfalls besonders stark durch Rechtsfortbildungen geformten Gesellschaftsrecht tätig sind, der Ansicht, dass de facto im Arbeitsrecht der Umgang mit dem Normtext freier und das Ausmaß der Rechtsfortbildung erheblich größer sei als in anderen zivilrechtlichen Rechtsbereichen371.
366 Vgl. etwa die Darstellung von Rechtsfortbildungen im Gesellschaftsrecht aus den Jahren 1971 bis 1985 bei P. Ulmer, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 389 ff; Überblick über 50 Jahre Rechtsfortbildung im Unternehmens- und Gesellschaftsrecht durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei K. Schmidt, NJW 2000, 2927 ff.; zum Personengesellschaftsrecht H. P. Westermann, FS 50 Jahre Bundesgerichtshof, Band II, 2000, S. 245 ff.; zum Recht der GmbH und GmbH & Co. P. Ulmer, FS 50 Jahre Bundesgerichtshof, Band II, 2000, S. 273 ff.; zum Aktienrecht Lutter, FS 50 Jahre Bundesgerichtshof, Band II, 2000, S. 321 ff.; zum Konzernrecht Wiedemann/Hirte, FS 50 Jahre Bundesgerichtshof, Band II, 2000, S. 337 ff. – Zu einzelnen Rechtsfortbildungen können aus neuerer Zeit statt vieler beispielhaft genannt werden: zur Entwicklung eines neuen Gläubigerschutzkonzeptes in der GmbH Altmeppen, ZIP 2002, 1553 ff.; zur verdeckten Sacheinlage Schöpflin, GmbHR 2003, 57 ff.; zur Vorrats- oder Mantelgründung Altmeppen, DB 2003, 2050 ff.; zum Recht der Kapitalaufbringung Wilhelm, ZHR 167 (2003), 520 ff.; zu den durch das europäische Gemeinschaftsrecht bedingten Änderungen der in ständiger Rechtsprechung vertretenen Sitztheorie insbesondere durch BGHZ 154, 185 etwa Noack, LMK 2003, 107 f.; Leible/Hoffmann, ZIP 2003, 925 ff.; Eidenmüller, JZ 2003, 526 ff. 367 Richardi, FS Zöllner, Band II, 1998, S. 935; Brox/Rüthers/Henssler, Arbeitsrecht, 16. Aufl. 2004, Rn. 124: »herausragende Rolle« des Richterrechts. Die besondere Bedeutung rechtsfortbildenden Richterrechts im Arbeitsrecht betonen auch prominente Arbeitsrichter, vgl. stellvertretend für viele etwa die Äußerung der damaligen Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts G. Müller, JuS 1980, 627, 635; Kissel, in: Blüm/Zacher (Hrsg.), 40 Jahre Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland, 1989, S. 459, 474 f. 368 Gamillscheg, AcP 164 (1964), 385, 445; hierzu vor Kurzem Gamillscheg, RdA 2005, 79, 80 f. 369 Vgl. insoweit etwa Zöllner, FS 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 1395, wo es heißt, die – ein wenig pathetische – Sentenz Franz Gamillschegs habe man mittlerweile mit sehr viel Grund auf andere Rechtsbereiche übertragen. 370 Zu Rechtsfindungsmethoden im Arbeitsrecht Reuter, FS Hilger/Stumpf, 1983, S. 573 ff.; ders., RdA 1985, 321 ff.; Schlachter, Auslegungsmethoden im Arbeitsrecht, 1987; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, 5. Aufl. 1998, § 6 V.2. (S. 80) m.w.N. 371 So Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, 5. Aufl. 1998, § 6 V.2. (S. 80).
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Ursächlich hierfür soll der ständige und schnelle Wandel des Arbeitslebens, die kontinuierliche Veränderung seiner technischen, wirtschaftlichen und sozialen Fakten und Strukturen sein372. Aber auch die Gesetzeszersplitterung im Arbeitsrecht und das Fehlen gesetzgeberischer Wertententscheidungen werden häufig als wesentlicher Grund für die hohe Rechtsfortbildungsdichte genannt373. Wichtige Bereiche des Arbeitsrechts sind überhaupt nicht oder nur punktuell gesetzlich geregelt. Ein einheitliches Arbeitsgesetzbuch existiert nicht. In bestimmten arbeitsrechtlichen Grundfragen scheint der Gesetzgeber dauerhaft regelungsunfähig oder regelungsunwillig zu sein. In anderen Bereichen ist er ausgesprochen aktiv. Die Gesetzeslage ist unübersichtlich. Die arbeitsrechtlichen Normen stammen aus verschiedenen, von unterschiedlichen Wertvorstellungen und Basisideologien getragenen Epochen. Jede Staatsverfassung prägt die ihr zugehörige Arbeitsverfassung374, jede Zeit ihre konkrete Arbeitsrechtsordnung. »Alte«, seit vielen Jahrzehnten weitestgehend unveränderte Gesetze wie das Tarifvertragsgesetz stehen unverbunden neben »modernen«, nicht auf den bisherigen Normenbestand abgestimmten Gelegenheits- bzw. Maßnahmegesetzen, gelegentlich auch neben »Verlegenheitsgesetzen«, mit denen kurzfristig europarechtlichen Umsetzungsverpflichtungen oder auch nur politischen Opportunitätserwägungen publikumswirksam Rechnung getragen wird. Angesichts der Verwerfungen der Arbeitsrechtsordnung mag sich mancher Richter berufen fühlen, mit helfender Hand zu glätten. Damit ist ein letzter, oft angeführter Aspekt arbeitsrechtlicher Rechtsfortbildungen angesprochen, und zwar das berufliche Selbstverständnis der Arbeitsrichter. Sie sollen machtbewusst und regelungsfreudig sein375 und ihre Rolle darin sehen, den Hort sozialer Gerechtigkeit zu bilden376. Nach Zöllner hatte das Richterrecht beim Bundesarbeitsgericht wegen seiner Präsidenten von Anfang an Konjunktur, wobei er den Gestaltungswillen von Nipperdey, Gerhard Müller und Dieterich ausdrücklich hervorhebt377 und eine kurze, nach Präsidenten unterteilte Rechtsfortbildungschronologie erstellt378. Derartige Zusammenhänge zwischen den Entscheidern und ihren Entscheidungen werden im Schrifttum wohl nicht zu Unrecht gesehen. Selbst ein Richter des Bundesarbeitsgerichts betont, Richterrecht hänge von der jeweiligen Richterpersönlichkeit ab379 und merkt zu Änderungen der Rechtsprechung an: » … die ich oft auf Änderung in der Senatsbesetzung zurückführen kann«380. 372 Vgl. Weitnauer, FS 25 Jahre Bundesgerichtshof, 1979, S. 617, 632; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, 5. Aufl. 1998, § 6 V.2. (S. 80); Brox/Rüthers/Henssler, Arbeitsrecht, 16. Aufl. 2004, Rn. 125. 373 Vgl. Richardi, FS Zöllner, Band II, 1998, S. 935; D. Neumann, FS Wiedemann, 2002, S. 367, 368; Schlachter, Auslegungsmethoden im Arbeitsrecht, 1987, S. 116, 118; Brox/Rüthers/ Henssler, Arbeitsrecht, 16. Aufl. 2004, Rn. 124; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, 5. Aufl. 1998, § 6 V.2. (S. 81). 374 So die Formulierung von Rüthers, s. Brox/Rüthers/Henssler, Arbeitsrecht, 16. Aufl. 2004, Rn. 6. 375 Brox/Rüthers/Henssler, Arbeitsrecht, 16. Aufl. 2004, Rn. 125, für die Richterkollegien der obersten Gerichte. 376 Zöllner, FS 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 1395, 1403. 377 Hierzu Gamillscheg, RdA 2005, 79, 81. 378 Zöllner, FS 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 1395, 1404 ff. 379 So D. Neumann, FS Wiedemann, 2002, S. 367, 381. 380 D. Neumann, FS Wiedemann, 2002, S. 367, 377.
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Ein repräsentativer Überblick über die zahlreichen Rechtsfortbildungen in den verschiedenen Teilbereichen des Arbeitsrechts würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Dennoch sollen zumindest einige wichtige Judikate aus dem Arbeitsvertragsrecht, dem Koalitionsrecht, dem Tarifrecht, dem Arbeitskampfrecht und dem Betriebsverfassungsrecht erwähnt werden. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass einzelne Materien des Arbeitsrechts nicht durch spektakuläre Grundsatzentscheidungen, sondern durch eine Vielzahl von Urteilen mit – isoliert betrachtet – begrenzter Reichweite fortgebildet worden sind. (1) Aus dem Bereich des Individualarbeitsrechts lassen sich Rechtsfortbildungsbeispiele nennen, welche die Begründung und die Befristung des Arbeitsverhältnisses, die Herleitung arbeitvertraglicher »Nebenpflichten« aus Treu und Glauben, die Arbeitnehmerhaftung, Aufwendungs- und Schadensersatzansprüche des Arbeitnehmers, das Kündigungsschutzrecht und das Ruhestandsverhältnis betreffen. (a) Die Rechtsprechung zum sog. fehlerhaften Arbeitsverhältnis381 hat die Geltendmachung von Willensmängeln und Gesetzesverstößen beim Arbeitsvertrag rechtsfortbildend382 eingeschränkt. Wenn ein Arbeitsverhältnis in Vollzug gesetzt worden ist, kann seine Nichtigkeit grundsätzlich nicht mehr mit rückwirkender Kraft geltend gemacht werden383. Auch die Anfechtung wirkt regelmäßig nur für die Zukunft384. Im umstrittenen Anwendungsbereich der Rechtsfigur »fehlerhaftes Arbeitsverhältnis« werden die gesetzlichen Unwirksamkeitstatbestände faktisch wie Gründe zur fristlosen Kündigung behandelt, freilich ohne dass kündigungsrechtliche Erfordernisse und Ausübungsmodalitäten zu beachten wären385. Das Bereicherungsrecht ist insoweit außer Kraft gesetzt. (b) Den gesetzlichen Wertungswiderspruch zwischen § 620 BGB (uneingeschränkte Befristungsmöglichkeit) und den bestandssichernden Normen des Kündigungsschutzrechtes löste der Große Senat 1960 rechtsfortbildend386 dergestalt auf, dass eine Befristung wegen objektiver Gesetzesumgehung dann unwirksam ist, wenn zwingende Kündigungsschutzvorschriften ausgeschaltet werden und für die Befristung kein sachlicher Grund vorliegt387. (c) Das »Erfinden« neuer Nebenpflichten ist auch im Arbeitsrecht ein beliebtes Instrument, um das Recht fortzubilden. Wegen des angeblich personenrechtlichen Charakters des Arbeitsverhältnisses hat es hier sogar eine besondere Tradition, die mit den Schlagworten »Treue- und Fürsorgepflicht« verbunden ist. 381
Hierzu bereits c.bb. Vgl. nur Richardi, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 1, 2. Aufl. 2000, § 46 Rn. 58 ff., insb. Rn. 63. 383 Grundlegend BAG, 15.11.1957, AP Nr. 2 zu § 125 BGB; 19.6.1959, AP Nr. 1 zu § 611 BGB Doppelarbeitsverhältnis. 384 BAG, 5.12.1957, AP Nr. 2 zu § 123 BGB; eingeschränkt insb. durch BAG, 3.12.1998, AP Nr. 49 zu § 123 BGB. 385 Zu Letzterem Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, 5. Aufl. 1998, § 11 II.1.b. (S. 152) 386 Vgl. D. Neumann, FS Wiedemann, 2002, S. 367, 375; aus methodologischer Perspektive Wank, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 2, 2. Aufl. 2000, § 116 Rn. 11. 387 BAG (GS), 12.10.1960, AP Nr. 16 zu § 620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag. § 1 des BeschfG 1985 erklärte demgegenüber eine Befristung (auf maximal zwei Jahre) auch ohne Vorliegen eines besonderen Grundes für zulässig; s. jetzt § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG. 382
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(aa) Der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts hat frühzeitig einen allgemeinen Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers anerkannt, den er auf die Treuepflicht des Arbeitgebers, die sich aus dem die ganze Person des Arbeitnehmers erfassenden personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis ergebe, und »vor allem auch« auf die »jedermann aus Art. 1 Abs. 2 und Art. 2 GG obliegende Verpflichtung« stützte, alles zu unterlassen, was die Würde des Arbeitnehmers und die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit beeinträchtigen könne388. Der Große Senat hat die einschlägige, ausführlich als Rechtsfortbildung klassifizierte Rechtsprechung, welche insbesondere dem Interesse des Arbeitnehmers an der Entfaltung und Verwirklichung seiner Persönlichkeit im Arbeitsleben durch eine Erweiterung der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers Rechnung trage, drei Jahrzehnte später bestätigt und den allgemeinen Beschäftigungsanspruch »unmittelbar« abgeleitet aus »der sich für den Arbeitgeber aus § 242 BGB unter Berücksichtigung der verfassungsrechtl. Wertentscheidungen der Art. 1 und 2 GG über den Persönlichkeitsrechtsschutz ergebenden arbeitsvertragl. Förderungspflicht der Beschäftigungsinteressen des Arbeitnehmers«389. (bb) Anknüpfend an diesen allgemeinen Beschäftigungsanspruch erkannte der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts im Grundsatz bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsprozesses einen allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers an, welcher als situative Ausprägung des allgemeinen Beschäftigungsanspruchs verstanden und gleichfalls auf Treu und Glauben gestützt wurde390. (cc) Wegen Verstoßes gegen die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers und aus dem Gesichtspunkt der objektiven Gesetzesumgehung sah der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts bei Gratifikationen für den Fall des Ausscheidens des Arbeitnehmers aufgestellte Rückzahlungsklauseln als nichtig an, wenn sie für eine unangemessen lange Zeit vereinbart worden waren391. Er vermutete zunächst im konkreten Fall392 und später generell393, dass der Arbeitgeber bei Kenntnis der Nichtigkeit der Rückzahlungsvereinbarung die Gratifikation ohne Vorbehalt bzw. – sofern möglich – mit einem angemessenen Rückzahlungsvorbehalt erbracht hätte. Das Bundesarbeitsgericht stellte rechtsfortbildend394 eine nach ei388
BAG, 10.11.1955, AP Nr. 2 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht, zu II. der Gründe. BAG (GS), 27.2.1985, AP Nr. 14 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht, zu C.I.2.a. und b. sowie 3. der Gründe. 390 BAG (GS), 27.2.1985, AP Nr. 14 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht, zu C.II. der Gründe. Der Zweite Senat hatte einen allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch während des Kündigungsprozesses aufgrund eines Umkehrschlusses aus § 102 Abs. 5 BetrVG noch abgelehnt, s. BAG, 26.5.1977, AP Nr. 5 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht. 391 BAG, 10.5.1962, AP Nr. 22 zu § 611 BGB Gratifikation, Leitsatz 2 sowie zu 3. der Gründe. 392 BAG, 10.5.1962, AP Nr. 22 zu § 611 BGB Gratifikation, zu 5. der Gründe. 393 BAG, 12.12.1963, AP Nr. 25 zu § 611 BGB Gratifikation, zu III. der Gründe ohne inhaltliche Begründung; BAG, 3.10.1963, AP Nr. 27 zu § 611 BGB Gratifikation, zu II.2.b. der Gründe unter Berufung auf die Rechtsprechung zum faktischen Arbeitsverhältnis; BAG, 3.10.1963, AP Nr. 1 zu § 611 BGB Urlaub und Gratifikation, zu 4.d. der Gründe. 394 Der rechtsfortbildende Charakter dieser Rechtsprechung ist heute, soweit ersichtlich, unstreitig, vgl. etwa Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 6. Aufl. 2006, § 611 BGB Rn. 687. 389
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nem Sockelbetrag, der Höhe der Gratifikation im Verhältnis zum Bruttomonatsgehalt und teilweise nach der Zahl der Kündigungsmöglichkeiten klar gestaffelte, insgesamt vier Bereiche aufweisende Tabelle zur Beurteilung der Wirksamkeit von Rückzahlungsklauseln auf395, obwohl es nur über einen Sachverhalt aus dem ersten Bereich entscheiden musste. Diese frei geschaffene, detaillierte Fortbildung des Rechts erregte Aufsehen396 und wurde von Teilen des zeitgenössischen Schrifttums scharf kritisiert397. Wieacker machte »schwere Bedenken« gegen Art und Ausmaß der überraschend detaillierten »Positivierung des Rechts der Treueprämie« geltend398. Es gehe hier um nichts Geringeres als um die Frage nach der Aufgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung überhaupt399. Als Gesetzesentwurf oder als Äußerung de lege ferenda seien die Leitsätze und ihre Begründung durchaus diskutabel; in einem Urteil würden sie aber die in der Sache selbst gelegenen Grenzen des Richterrechts überschreiten, indem sie eine dem Gesetzgeber vorbehaltene Positivierung nach Zahl und Termin beanspruchen400, und zwar für Tatbestände, die gar nicht zur Entscheidung standen401. Das Bundesarbeitsgericht ging in seiner Entscheidung zur Wirksamkeit von Rückzahlungsklauseln bewusst und offenkundig weit über die Entscheidung des konkreten Streitfalles hinaus und übernahm in der Sache die Rolle eines Gesetzgebers402. In der Folgezeit ist die ursprüngliche Rückzahlungstabelle um zwei weitere Fallgruppen erweitert worden403, so dass sich nun insgesamt sechs Bereiche unterscheiden lassen404. 1982 verdoppelte das Bundesarbeitsgericht den ursprünglichen Sockelbetrag dann rückwirkend ab 1978, weil die Lebenshaltungskosten seit dem Jahr, in dem die seiner Grundsatzentscheidung zugrunde liegende Gratifikation erbracht worden war, um 100 Prozent gestiegen waren405. Für 395 BAG, 10.5.1962, AP Nr. 22 zu § 611 BGB Gratifikation, Leitsatz 3 sowie zu 4. der Gründe, wobei der fünfte Bereich (mehr als ein Monatsgehalt) bereits genannt, aber als atypisch eingestuft und nicht behandelt wurde. 396 Vgl. Weitnauer, FS 25 Jahre Bundesarbeitsgericht, 1979, S. 617, 631. 397 Isele, SAE 1963, 12: Die Art und Weise, wie der Senat ohne konkreten Anlass einen Katalog – an anderer Stelle ist von einer »Art Preisliste« die Rede – für die Beurteilung anderer Fälle aufstelle, müsse verwundern; ausführlichere Grundsatzkritik bei Wieacker, JZ 1963, 175 f.; Entgegnung des Bundesarbeitsgerichts in BAG, 3.10.1963, AP Nr. 1 zu § 611 BGB Urlaub und Gratifikation. 398 So Wieacker, JZ 1963, 175. 399 Wieacker, JZ 1963, 175, 176. 400 Hierzu noch Wieacker, JZ 1963, 175, 176: Es sei einfach nicht vom Sternenhimmel der Rechtsidee zu holen, dass die Stichzahl der Relation von Höhe der Treuprämie im Verhältnis zum Lohn und der Dauer der zulässigen Bindung 1:12 und die Stichzeit der 31. März sein solle. 401 Wieacker, JZ 1963, 175, 176. 402 So Weitnauer, FS 25 Jahre Bundesarbeitsgericht, 1979, S. 617, 631; Wieacker sprach von einer Kodifizierung von Fragen, die gar nicht zur Entscheidung standen und von einer Art Gesetzgebungsanspruch des Urteils, s. Wieacker, JZ 1963, 175, 176. 403 BAG, 13.11.1969, AP Nr. 66 zu § 611 BGB Gratifikation: zwei Monatsverdienste; BAG, 27.10.1978, AP Nr. 99 zu § 611 BGB Gratifikation: zwischen ein und zwei Bruttomonatsgehältern. 404 Fasst man die in der Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 1962 unterschiedenen beiden Konstellationen mit jeweils einem Monatsgehalt zu einem Bereich zusammen, so weist die Tabelle insgesamt fünf Bereiche auf, so etwa bei P. Hanau, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 1, 2. Aufl. 2000, § 69 Rn. 46 bis 51. 405 BAG, 17.3.1982, AP Nr. 108 und 110 zu § 611 BGB Gratifikation, jeweils zu I.2.a. der Gründe.
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die Zukunft kündigte es an, dass die nächste Erhöhung des Sockelbetrages eine wesentliche Veränderung der Lebenshaltungskosten seit 1978 voraussetze, welche bei einer weiteren Verteuerung um 50 Prozent angenommen werden könne406. (dd) Auch bei vom Arbeitgeber übernommenen Fortbildungskosten beurteilt das Bundesarbeitsgericht die Wirksamkeit der Bindung durch Rückzahlungsklauseln anhand einer von ihm seit Mitte der siebziger Jahre frei aufgestellten Tabelle, die nach der Ausbildungsdauer gestaffelte »richterrechtlich entwickelte Regelwerte«407 für Bindungshöchstfristen enthält408. (ee) Eine Pflicht, Wettbewerb zu unterlassen, war ursprünglich allein in § 60 HGB für kaufmännische Angestellte angeordnet. Das Bundesarbeitsgericht leitete aus Treu und Glauben eine Verpflichtung aller Arbeitnehmer ab, ihrem Arbeitgeber in dessen Geschäftszweig keine Konkurrenz zu machen409. Die handelsrechtlichen Regeln, mit denen nachvertragliche Wettbewerbsverbote für kaufmännische Angestellte an besondere Wirksamkeitsvoraussetzungen gebunden werden, wendete das Bundesarbeitsgericht entsprechend für andere Arbeitnehmer an410. Seit 1.1.2003 gelten die §§ 74 ff. HGB auch kraft Gesetzes für sämtliche Arbeitnehmer (§ 110 S. 2 GewO). Einzelne der vorkonstitutionellen Vorschriften über nachvertragliche Wettbewerbsverbote erklärte das Bundesarbeitsgericht wegen Verstoßes gegen Verfassungsbestimmungen für nichtig411. (ff) Aus der auf Treu und Glauben gestützten vertraglichen Rücksichtnahmepflicht des Arbeitnehmers hat das Bundesarbeitsgericht vor kurzem das kündigungsrechtlich bewehrte Gebot abgeleitet, Strafanzeigen gegen den Arbeitgeber oder dessen Repräsentanten zu unterlassen, wenn sich diese als eine »unverhältnismäßige Reaktion« auf deren Verhalten darstellen, wobei der Motivation des Arbeitnehmers besonderes Gewicht zukommen soll412. (gg) Frühzeitig hat das Bundesarbeitsgericht Nachwirkungen eines beendeten Arbeitsvertrages anerkannt und aus einer nachvertraglichen Fürsorgepflicht des 406 BAG, 17.3.1982, AP Nr. 108 und 110 zu § 611 BGB Gratifikation, jeweils zu I.2.c. der Gründe. 407 BAG, 5.12.2003, AP Nr. 32 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe, zu 3. der Gründe. 408 Folgende Bindungshöchstfristen sind grundsätzlich zulässig: 6 Monate bei einer Lehrgangsdauer von bis zu einem Monat (BAG, 5.12.2003, AP Nr. 32 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe); 1 Jahr bei einer Lehrgangsdauer von bis zu 2 Monaten (BAG, 15.12.1993, AP Nr. 17 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe; s. auch BAG, 19.2.2004, AP Nr. 33 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe: 3 Jahre bei besonders teurer, für die Berufsausübung zwingend erforderlicher Ausbildung); 3 Jahre bei einer Lehrgangsdauer von 6 Monaten oder länger (BAG, 23.2.1983, AP Nr. 6 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe; 11.4.1984, AP Nr. 8 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe); 5 Jahre bei einer mehr als zweijährigen Ausbildungsdauer, z.B. Studium (BAG, 19.6.1974, AP Nr. 1 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe; 12.12.1979, AP Nr. 4 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe). 409 BAG, 16.6.1976, AP Nr. 8 zu § 611 BGB Treuepflicht, zu II.1. der Gründe; zur entsprechenden Treuepflicht BAG, 17.10.1969, AP Nr. 7 zu § 611 BGB Treuepflicht, zu III.3.a. der Gründe. 410 BAG, 16.5.1969, AP Nr. 23 zu § 133f GewO; 13.9.1969, AP Nr. 24 zu § 611 BGB Konkurrenzklausel; 2.5.1970, AP Nr. 26 zu § 74 HGB; 16.7.1971, AP Nr. 25 zu § 611 BGB Konkurrenzklausel, mit Darstellung der Rechtsprechungsentwicklung. 411 BAG, 5.12.1969, AP Nr. 10 zu § 75 b HGB (zu § 75 b S. 2 HGB a. F.); 23.2.1977, AP Nr. 6 zu § 75 HGB (zu § 75 Abs. 3 HGB). 412 BAG, 3.7.2003, AP Nr. 45 zu § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung.
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Arbeitgebers dessen im Grundsatz bestehende Verpflichtung abgeleitet, den wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung wirksam gekündigten Arbeitnehmer wieder einzustellen, wenn der Verdacht nach Aufhebung des Vertrages ausgeräumt wird413. (hh) Die in der jüngeren Rechtsprechung mit unterschiedlichen Begründungen bejahten Wiedereinstellungsansprüche bei betriebsbedingten Kündigungen414, die freilich grundsätzlich mit Ablauf der Kündigungsfrist entfallen sollen415, werden unter anderem mit den »letztlich auf § 242 BGB beruhenden vertraglichen Nebenpflichten« aus dem noch fortbestehenden Arbeitsverhältnis begründet, zu denen auch die Pflicht gehöre, auf die berechtigten Interessen des Vertragspartners Rücksicht zu nehmen416. (d) Ein »Paradebeispiel für das Richterrecht«417 ist die Rechtsprechung zur Arbeitnehmerhaftung, genauer zur Milderung der Haftung des Arbeitnehmers für von ihm verschuldete Schäden. Die Entwicklung ging beim Bundesarbeitsgericht von der gefahr- bzw. schadensgeneigten Arbeit zur betrieblich veranlassten Tätigkeit. Die ursprünglich mit der gegenseitigen Treue- und Fürsorgepflicht sowie dem »Betriebsrisiko« begründeten Haftungseinschränkungen werden heute vornehmlich verfassungsrechtlich legitimiert. Damit ist die wechselvolle Rechtsprechungsgeschichte aber nur grob angedeutet. Nach Zöllner sind die Pirouetten der Rechtsprechung in der Frage der Veränderung der Haftungsvoraussetzungen mittlerweile kaum mehr nachvollziehbar418. Von der drei- zur zweistufigen Haftung und zurück, dann zur mindestens vierstufigen Haftung, von der leichten zur »leichtesten« Fahrlässigkeit, so lassen sich die auffälligsten Kehrtwendungen des Bundesarbeitsgerichts umschreiben. Die schwankende Rechtsprechung zeigt bei-
413 BAG, 13.7.1956, AP § 611 BGB Fürsorgepflicht Nr. 2; 14.12.1956, AP § 611 BGB Fürsorgepflicht Nr. 3; zustimmend BAG, 4.6.1964, AP Nr. 13 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung. 414 Überblick zu den vertretenen Grundlagen dieses Anspruchs bei Hergenröder, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 4, 4. Aufl. 2005, KSchG § 1 Rn. 87; Hj. Otto, Anm. zu AP Nr. 6 zu § 1 KSchG 1969 Wiedereinstellung, zu II. 415 BAG, 6.8.1997, AP Nr. 2 zu § 1 KSchG 1969 Wiedereinstellung; 28.6.2000, AP Nr. 6 zu § 1 KSchG 1969 Wiedereinstellung; aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen beim Betriebsübergang ausnahmsweise bejaht von BAG, 13.11.1997, AP Nr. 169 zu § 613 a BGB; BAG, 12.11.1998, AP Nr. 6 zu § 1 KSchG Wiedereinstellung. 416 BAG, 28.6.2000, AP Nr. 6 zu § 1 KSchG 1969 Wiedereinstellung, zu II.B.2. der Gründe; 6.8.1997, AP Nr. 2 zu § 1 KSchG 1969 Wiedereinstellung, zu II.1.b. der Gründe. 417 D. Neumann, FS Wiedemann, 2002, S. 367, 373. 418 Zöllner, FS 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 1395, 1406. Die wichtigsten Drehpunkte markieren folgende Judikate: BAG (GS), 25.9.1957, AP Nr. 4 zu §§ 898, 899 RVO, konkretisiert durch BAG, 19.3.1959, AP Nr. 8 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers; BAG, 23.3.1983, AP Nr. 82 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers; BAG, 24.11.1987, AP Nr. 92 und 93 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers; BAG (GS), 12.6.1992, AP Nr. 101 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers; BAG (GS), 27.9.1994, AP Nr. 103 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers; BAG, 25.9.1997, AP Nr. 111 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers; BAG, 12.11.1998, AP Nr. 117 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers; BAG, 18.4.2002, AP Nr. 122 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers; Überblick zu den einander widersprechenden Leitentscheidungen bei Blomeyer, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 1, 2. Aufl. 2000, § 59 Rn. 24 ff., dort auch zur Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts, sowie bei D. Neumann, FS Wiedemann, 2002, S. 367, 373 f.
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spielhaft die rechtsstaatlichen Risiken und Grenzen eines allzu innovationsfreudigen Richterrechts419. (e) In analoger Anwendung von § 670 BGB hat das Bundesarbeitsgericht den Arbeitnehmern einen Anspruch auf Ersatz erforderlicher, nicht durch die Arbeitsvergütung abgegoltener Aufwendungen gewährt420 und ihnen außerdem einen verschuldensunabhängigen Anspruch auf Ersatz von außergewöhnlichen, »arbeitsinadäquaten« Sachschäden des Arbeitnehmers eingeräumt421, auf welchen das Bundesarbeitsgericht in der Folgezeit die Grundsätze der gefahrgeneigten Arbeit422 und später dann die Grundsätze über den innerbetrieblichen Schadensausgleich423 entsprechend angewendet hat. (f) Der arbeitsrechtliche Kündigungsschutz ist durch die Rechtsprechung in einer nicht mehr überschaubaren Anzahl von Entscheidungen über Jahrzehnte in vielerlei Hinsicht stark ausgebaut worden. Der Umfang der aktuellen Großkommentare zum Kündigungsschutzrecht demonstriert anschaulich, wie eng die Maschen des arbeitsrechtlichen Netzes in diesem speziellen Bereich mittlerweile sind. Geknüpft wurden sie nicht durch einige »Sensationsentscheidungen«, sondern durch eine Vielzahl »kleiner« Rechtsfortbildungen in konkreten Einzelfragen424. So werden die Voraussetzungen, unter denen eine Kündigung nach § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG personenbedingt, verhaltensbedingt oder betriebsbedingt ist, im Gesetz ebenso wenig genannt wie die des wichtigen Grundes in § 626 BGB. Die weiten, besonders unbestimmten Rechtsbegriffe, die offen nach einer eigenen wertenden Entscheidung des Anwenders verlangen, also den Bereich der gesetzes- bzw. normergänzenden Rechtsfindung betreffen425, sind von der Rechtsprechung häufig entgegen der gesetzgeberischen Interessenbewertung des Kündigungsschutzgesetzes rechtsfortbildend gefüllt worden. Teile der Arbeitsgerichtsbarkeit haben aus einem falsch verstandenen und zu Unrecht absolut gesetzten Arbeitnehmerschutzgedanken mit Hilfe gesetzesfremder »Rechtsprinzipien« ein Bestandsschutzsystem geschaffen, das von der gesetzgeberischen Interessenbewertung, in welcher der Gesichtspunkt der Willkürkontrolle beherrschend war und berechtigte Arbeitgeberinteressen berücksichtigt wurden, kaum noch gedeckt wird426. Freilich gibt es auch im Kündigungsschutzrecht eine Vielzahl »unbedenklicher« Fortbildungen des Gesetzesrechts. So hat die Rechtsprechung etwa dem Arbeitgeber richterrechtlich427 die Regelverpflichtung auferlegt, den Arbeitneh419
So Brox/Rüthers/Henssler, Arbeitsrecht, 16. Aufl. 2004, Rn. 254. BAG, 1.2.1963, AP Nr. 10 zu § 670 BGB. 421 BAG (GS), 10.11.1961, AP Nr. 2 zu § 611 BGB Gefährdungshaftung des Arbeitgebers, wo das Gericht vorab eine »Strapazierung der Fürsorgepflicht« ablehnt. 422 BAG, 8.5.1980, AP Nr. 6 zu § 611 BGB Gefährdungshaftung des Arbeitgebers. 423 BAG, 17.7.1997, AP Nr. 14 zu § 611 BGB Gefährdungshaftung des Arbeitgebers. 424 In diesem Sinne auch Zöllner, FS 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 1395, 1407. 425 Zur Klassifizierung der Rechtsfindung im Rahmen des § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG C. Fischer, ZfA 2002, 215, 240 f.; zu den einzelnen Bereichen der Rechtsfindung C. Fischer, a.a.O., S. 234 f. 426 Vgl. hierzu bereits C. Fischer, ZfA 2002, 215, 240 m.w.N. 427 Hierzu D. Neumann, FS Wiedemann, 2002, S. 367, 377, der sich die Frage stellt, ob das nun Auslegung oder Richterrecht sei und sie im letzteren Sinne beantwortet. 420
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mer wegen eines pflichtwidrigen Verhaltens abzumahnen, bevor er ihm aus diesem Grund kündigt428. Auch entschied das Bundesarbeitsgericht beispielsweise, dass die Kündigung in Fällen des § 1 Abs. 2 Nr. 1 KSchG entgegen dem Wortlaut der Norm auch dann sozial ungerechtfertigt sein könne, wenn der Betriebsrat der Kündigung nicht widersprochen hat429. Zur weiteren Illustration genügt es, nur einige Rechtsfiguren und Einzelbereiche des Kündigungsschutzrechtes zu nennen, mit denen bzw. in denen das Gesetzesrecht bevorzugt fortgebildet wird. Die Schlagworte lauten ultima-ratioGrundsatz, Prognoseprinzip, Verdachtskündigung, Druckkündigung, krankheitsbedingte Kündigung mit unterschiedlichen Voraussetzungen bei Langzeiterkrankungen und häufigen Kurzerkrankungen, freie Unternehmerentscheidung, anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit und Sozialauswahl bei der betriebsbedingten Kündigung, »Orlando«-Kündigung bzw. außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist, Änderungskündigung, Weiterbeschäftigungsanspruch, Wiedereinstellungsansprüche, insbesondere bei betriebsbedingten Kündigungen, Ausgestaltung des Kündigungsschutzes außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes usw. (g) Aus dem Recht der Ruhestandsverhältnisse ist hinzuweisen auf das »besonders gesetzesferne«430 Urteil zur Unverfallbarkeit von Betriebrenten431 mit seiner bemerkenswerten Eingangsformulierung des zweiten Leitsatzes. Sie lautet: »Wegen der mit dieser Rechtsansicht432 verbundenen sozialen Härten und Unbilligkeiten stellt der Senat im Wege der Rechtsfortbildung folgenden Rechtssatz auf«. In den Gründen konstatierte das Bundesarbeitsgericht eine »nachträgliche Regelungslücke im Bereich der arbeitsrechtlichen Schutzgesetzgebung«, die zu schließen »wegen der gegebenen Rechtsnot Aufgabe und Pflicht der Gerichte im Rahmen der ihnen obliegenden Rechtsfortbildung« sei433. Die Entscheidung verdient indes nicht allein wegen ihres klar offen gelegten rechtsfortbildenden Charakters besondere Erwähnung. In ihr wurden – soweit ersichtlich – erstmals neue Sätze des Richterrechts mit selbstgeschaffenen Übergangsregeln verbunden434. Weit-
428 BAG, 28.9.1961, AP Nr. 1 zu § 1 KSchG Personenbedingte Kündigung, zu III.4. der Gründe; 8.8.1968, AP Nr. 57 zu § 626 BGB, zu II.6. der Gründe; 29.7.1976, Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 9, zu 4.c. der Gründe; zur Entbehrlichkeit der Abnahme bei Störungen im Vertrauensbereich grundlegend BAG, 4.4.1974, AP Nr. 1 zu § 626 BGB Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, zu V.2. der Gründe. – Das Erfordernis der Abmahnung, das vom Bundesarbeitsgericht bei Störungen im Leistungsbereich ursprünglich auf eine Analogie zu § 326 BGB a. F. gestützt wurde, ist seit der Schuldrechtsreform für Dauerschuldverhältnisse in § 314 Abs. 2 BGB gesetzlich geregelt. 429 BAG, 13.9.1973, AP Nr. 2 zu § 1 KSchG 1969. 430 Zöllner, FS 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 1395, 1405. 431 BAG, 10.3.1972, AP Nr. 156 zu § 242 BGB Ruhegehalt. 432 Zöllner weist zu Recht darauf hin, dass es bei dem Verfall der Versorgungsanwartschaft in Fällen des Ausscheidens des Arbeitnehmers vor dem 65. Lebensjahr aufgrund vertraglicher Regelungen nicht um eine bloße »Rechtsansicht«, sondern um die vom Bundesarbeitsgericht ermittelte Rechtslage ging, s. Zöllner, FS 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 1395, 1405 f. 433 BAG, 10.3.1972, AP Nr. 156 zu § 242 BGB Ruhegehalt, zu III.5. der Gründe. 434 Weitnauer, FS 25 Jahre Bundesarbeitsgericht, 1979, S. 617, 624 f.; vgl. BAG, 10.3.1972, AP Nr. 156 zu § 242 BGB Ruhegehalt, Leitsatz 2.b.
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nauer sah eine neue Stufe der Rechtsfortbildung durch Richterrecht erreicht und sprach von einer bis dahin unerhörten Form richterlicher Rechtsschöpfung435. (2) Das Koalitionsrecht wird insbesondere durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geprägt. Das Bundesarbeitsgericht hat insoweit vornehmlich eine konkretisierende und ausführende Funktion. Eine eigenständige Rechtsfortbildung des Bundesarbeitsgerichts war etwa das sog. koalitionsrechtliche Zutrittsrecht externer Gewerkschaftsfunktionäre zum Betrieb zwecks Werbung und Information einschließlich des Anbringens von Schriftgut auf Bekanntmachungstafeln des Betriebes436. Diese Entscheidung wurde freilich vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben437. Die herausragende rechtsfortbildende Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts im Recht der Koalitionen aus den letzten Jahren ist der »Burda II«-Beschluss von 1999, in welchem einer betroffenen Gewerkschaft überraschend ein aus Art. 9 Abs. 3 GG hergeleiteter Unterlassungsanspruch gegen tarifwidrige betriebliche Regelungen gewährt wurde438. (3) Das noch vor dem Grundgesetz in Kraft getretene Tarifvertragsgesetz knüpfte an das Weimarer Tarifrecht an, welches auf der Grundlage der bereits 1918 vom Rat der Volksbeauftragten erlassenen rudimentären Tarifvertragsverordnung durch Lehre und Rechtsprechung herausgebildet worden war. Der Text der zentralen Normen des Tarifvertragsgesetzes ist seit 1949 nicht bzw. nicht nennenswert verändert worden. Die »starke Entwicklung des Tarifvertragsrechts«439 wurde durch Rechtsfortbildungen vollzogen. Wenige Beispiele müssen genügen. (a) Das Bundesarbeitsgericht betrachtet seit 1968 in ständiger Rechtsprechung nur solche Arbeitnehmervereinigungen als Gewerkschaften im Sinne des § 2 Abs. 1 TVG, die eine gewisse »soziale Mächtigkeit« besitzen440. Da das Bundesarbeitsgericht einen »einheitlichen Gewerkschaftsbegriff« vertritt, stellt sich die Frage, ob die Arbeitnehmerkoalition hinreichend Druck auf den sozialen Gegenspieler ausüben kann, nicht nur im Tarifrecht, sondern immer dann, wenn ein arbeitrechtliches Gesetz das Tatbestandsmerkmal Gewerkschaft enthält441. Das im Wege der Rechtsfortbildung aufgestellte Erfordernis der sozialen Mächtigkeit behindert »kleine« Gewerkschaften. (b) Entsprechendes lässt sich über die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Tarifverdrängung bei Tarifpluralität442 sagen. Wenn der Arbeitgeber an 435 436 437
Weitnauer, FS 25 Jahre Bundesarbeitsgericht, 1979, S. 617, 624 f. BAG, 14.2.1978, AP Nr. 26 zu Art. 9 GG. BVerfGE 57, 220, 241 ff., wegen Verstoßes gegen Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3
WRV. 438 BAG, 20.4.1999, AP Nr. 89 zu Art. 9 GG; hierzu etwa Buchner, NZA 1999, 897 ff.; C. Fischer, Anm. zu EzA Art. 9 GG Nr. 65, S. 25 ff.; s. bereits § 4 V.3.a.aa. 439 Vgl. nur Wiedemann/Oetker/Wank, in: Wiedemann (Hrsg.), Tarifvertragsgesetz, 6. Aufl. 1999, Vorwort. 440 Grundlegend BAG, 9.7.1968, AP Nr. 25 zu § 2 TVG; 23.4.1971, AP Nr. 2 zu § 97 ArbGG 1953, zu 1. der Gründe. 441 Z. B. §§ 2 BetrVG, 10 f. ArbGG. 442 BAG, 29.3.1957, AP Nr. 4 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz, im Anschluss an Hueck/Nipperdey; 24.9.1975, Nr. 11 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; 14.6.1989, AP Nr. 16 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; 24.1.1990, AP Nr. 126 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; 20.3.1991, AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; 4.12.2002, AP Nr. 28 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz.
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§ 7 Paradigmenwechsel bei der Rechtsfindung
mehrere Tarifverträge gebunden ist, die nicht für dieselben Arbeitsverhältnisse gelten, kommt nach dem Bundesarbeitsgericht wegen des Grundsatzes der Tarifeinheit nur einer der beiden »konkurrierenden« Tarifverträge im Betrieb zur Anwendung, wobei sich von zwei räumlich und fachlich in gleicher Weise einschlägigen Tarifverträgen derjenige durchsetzen soll, der mehr Arbeitsverhältnisse normativ erfasst. Nach herrschender Lehre handelt es sich bei dieser Rechtsprechung um eine unzulässige Rechtsfortbildung443. (c) Die »Rechtsnormen über betriebliche Fragen« (§ 1 Abs. 1 TVG), häufig auch Betriebsnormen genannt444, liefern anschauliche tarifrechtliche Beispiele dafür, wie das Recht fortgebildet werden kann, indem man den Inhalt eines gesetzlichen Begriffs verändert. Betriebliche Normen gelten nach § 3 Abs. 2 TVG schon dann, wenn lediglich der Arbeitgeber tarifgebunden ist und ermöglichen dadurch die Einbeziehung der sog. Außenseiter, also von Arbeitnehmern, die nicht an die Individualnormen des Tarifvertrages gebunden sind. Ersten zeitgenössischen Einschätzungen zufolge soll der Gesetzgeber des Tarifvertragsgesetzes bei dem Ausdruck »Rechtsnormen über betriebliche Fragen«, der als recht allgemein gehalten und wenig klar empfunden wurde, an die sog. Solidarnormen gedacht haben, worunter man Normen verstand, welche dem Schutz oder der Wohlfahrt der Arbeitnehmerschaft des Betriebs dienten und dem einzelnen Arbeitnehmer nur als Mitglied der Belegschaft zugute kamen, ihm also keinen Erfüllungsanspruch gegen den Arbeitgeber gaben445. Im Anschluss an Nikisch setzte sich dann die Auffassung durch, dass zu den betrieblichen Normen auch die sog. Ordnungsvorschriften zu rechnen seien, die vor allem die sog. formellen Arbeitsbedingungen betreffen sollten446. Durch die Einbeziehung der Ordnungsvorschriften in die betrieblichen Normen waren bei bloßer Tarifgebundenheit des Arbeitgebers tarifliche Regelungen möglich, welche die Arbeitnehmer belasteten, was im Hinblick auf die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter verfassungsrechtlich bedenklich ist. Es soll lange Zeit Einigkeit darüber bestanden haben, dass das Gesetz hinsichtlich der betrieblichen Normen eng auszulegen sei447. Mittlerweile hat der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts den Begriff und den Anwendungsbereich der betrieblichen Tarifnormen höchstrichterlich neu bestimmt448: Mit der bisherigen typologischen Methode sei es nicht gelungen, für die Solidar- und Ordnungsnormen einen präzisen Inhalt herauszuarbeiten. Die 443
Wank, in: Wiedemann (Hrsg.), Tarifvertragsgesetz, 6. Aufl. 1999, § 4 Rn. 277 m.w.N. Zur besseren Abgrenzung von den ebenfalls auf den Betrieb zielenden Rechtsnormen über betriebsverfassungsrechtliche Fragen kann man die Rechtsnormen über betriebliche Fragen als betriebliche Normen bezeichnen und »Betriebsnorm« als Oberbegriff für betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Tarifnormen verwenden, s. zur Terminologie C. Fischer, Die tarifwidrigen Betriebsvereinbarungen, 1998, S. 31. 445 C. Fischer, Die tarifwidrigen Betriebsvereinbarungen, 1998, S. 148 mit Nachweisen aus dem zeitgenössischen Schrifttum; H. Wiedemann, in: Wiedemann (Hrsg.), Tarifvertragsgesetz, 6. Aufl. 1999, § 1 Rn. 555 ff. m.w.N. 446 Darstellung der Entwicklung mit Schrifttumsnachweisen bei C. Fischer, Die tarifwidrigen Betriebsvereinbarungen, 1998, S. 149 f. 447 So H. Wiedemann, in: Wiedemann (Hrsg.), Tarifvertragsgesetz, 6. Aufl. 1998, § 1 Rn. 560. 448 BAG, 26.4.1990, AP Nr. 57 zu Art. 9 GG; kurze Würdigung bei C. Fischer, Die tarifwidrigen Betriebsvereinbarungen, 1998, S. 159; eingehendere Kritik bei Loritz, SAE 1991, 245 ff.; H. Hanau, RdA 1996, 158, 168 ff. 444
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Einbeziehung der Außenseiter lasse sich allein rechtfertigen, wenn die entsprechenden Bestimmungen in der sozialen Wirklichkeit aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nur einheitlich gelten könnten. Da sich theoretisch fast jede Materie als Arbeitsbedingung im Arbeitsvertrag regeln lasse, müsse es für die Annahme einer betrieblichen Tarifnorm indes ausreichen, wenn eine individualvertragliche Regelung wegen evident sachlogischer Unzweckmäßigkeit ausscheide und eine einheitliche Regelung auf betrieblicher Ebene erforderlich werde. Die vom Ersten Senat aufgestellten Voraussetzungen begrenzen den Begriff und den gegenständlichen Anwendungsbereich der betrieblichen Tarifnormen nicht. Aufgrund der zahlreichen besonders unbestimmten, wertausfüllungsbedürftigen Elemente (»evident sachlogische Unzweckmäßigkeit«, »soziale Wirklichkeit«, »erforderlich«) bringt die Begriffserläuterung keinen nennenswerten Konkretisierungsgewinn. Mit diesen leerformelhaften Umschreibungen ließen sich problematische tarifliche Regelungen wie qualitative Besetzungsregeln in der Druckindustrie449, das allgemeine Schließen von Geschäftsstellen an bestimmten Tagen450 und die Festlegung einer Höchstquote für individualrechtliche Arbeitszeitvereinbarungen, mit denen von der tariflichen Regelwochenarbeitszeit von 35 auf 40 Stunden abgewichen werden durfte451, ohne Probleme und ohne eine tiefergehende inhaltliche Auseinandersetzung als zulässige Rechtsnormen über betriebliche Fragen klassifizieren. (d) Mit § 4 Abs. 5 TVG wollte der Gesetzgeber des Tarifvertragsgesetzes den Streit über das Ob der Nachwirkung entscheiden452 und ordnete deshalb an, dass nach Ablauf des Tarifvertrages seine Rechtsnormen weiter gelten. Das Bundesarbeitsgericht hat diese Norm in den letzten Jahren zu einer umfassenden Auffangregelung für alle Fälle ausgebaut, in denen die zwingende Geltung eines Tarifvertrages entfällt bzw. – so das Bundesarbeitsgericht – die Tarifbindung wegfällt453, aus welchen Gründen auch immer454. (e) Indes sind die Anwendungsfelder tariflicher Regelungen durch die Rechtsprechung nicht nur erweitert, sondern auch verengt worden. Ab Mitte der achtziger Jahre wurde die sog. Betriebsautonomie bei unveränderter Gesetzeslage zu Lasten der Tarifautonomie gestärkt. Hervorzuheben sind einige Judikate des Ers449
BAG, 26.4.1990, AP Nr. 57 zu Art. 9 GG. BAG, 7.11.1995, AP Nr. 1 zu § 3 TVG Betriebsnormen mit krit. Anm. von H. Hanau. 451 BAG, 17.6.1997, AP Nr. 2 zu § 3 TVG Betriebsnormen; grundsätzliche Kritik m.w.N. aus der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bei Löwisch/Rieble, Tarifvertragsgesetz, 2. Aufl. 2004, § 1 Rn. 111 ff. 452 Wank, in: Wiedemann (Hrsg.), Tarifvertragsgesetz, 6. Aufl. 1999, § 4 Rn. 321 f.; C. Fischer, Die tarifwidrigen Betriebsvereinbarungen, 1998, S. 155 f. 453 BAG, 18.3.1997, AP Nr. 13 zu § 3 TVG. 454 So für den Wegfall einer Tarifvertragspartei wegen Verbandsauflösung BAG, 15.10.1986, AP Nr. 4 zu § 3 TVG; 28.5.1997, AP Nr. 26 und 27 zu § 4 TVG Nachwirkung; für das Ende der Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG BAG, 18.3.1992, AP Nr. 13 zu § 3 TVG; 15.10.2003, AP Nr. 41 zu § 4 TVG Nachwirkung m.w.N.; für das Herauswachsen aus dem Geltungsbereich des Tarifvertrages BAG, 10.12.1997, AP Nr. 20 und 21 zu § 3 TVG; für den Wegfall der Tarifbindung aufgrund einer im Einigungsvertrag angeordneten Gesamtrechtsnachfolge BAG, 13.7.1994, AP Nr. 14 zu § 3 TVG Verbandszugehörigkeit. – Das Bundesarbeitsgericht scheint in den genannten Fallgruppen teilweise von einer unmittelbaren, überwiegend freilich von einer analogen Anwendung des § 4 Abs. 5 TVG auszugehen. 450
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ten Senats aus dem Jahr 1987. Das Bundesarbeitsgericht billigte in seiner Entscheidung zu den Metalltarifverträgen von 1984, welche auf dem sog. LeberRüthers-Kompromiss beruhten, die mit einer Erweiterung der betrieblichen Mitbestimmung einhergehende Verlagerung traditioneller tariflicher Regelungsfragen in die Betriebe sowie die Indienstnahme der Betriebsparteien und ihres kollektiven Normenvertrages für tarifliche Zwecke, obwohl die tariflichen Rahmenvorgaben über die sie ausfüllenden Betriebsvereinbarungen zwangsläufig auch die sog. Außenseiter, also die nicht oder anders organisierten Arbeitnehmer erfassten455. Außerdem schränkte das Bundesarbeitsgericht den seit jeher fast ausschließlich betriebsverfassungsrechtlich begründeten »Vorrang des Tarifvertrages«456 ein, indem es sich im Streit um die »beiden Schlüsselnormen«457 für das Verhältnis von Tarif- und Betriebsautonomie überraschend für den Vorrang des § 87 Abs. 1 Eingangssatz gegenüber § 77 Abs. 3 BetrVG entschied458. Das Bundesarbeitsgericht beseitigte zudem die Rechtsschutzmöglichkeiten der Tarifvertragsparteien gegen sog. tarifwidrige Betriebsvereinbarungen, indem es den Antrag einer Gewerkschaft, die Unwirksamkeit einer Betriebsvereinbarung festzustellen, aufgrund fehlender Antragsbefugnis für unzulässig erklärte459. Dabei brach es, wohl ohne dies zu bemerken, mit einer fast sechzigjährigen Rechtsprechungstradition460. (f) In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre zeigten sich gewisse Gegentendenzen in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, welches dann sogar in der aufsehenserregenden »Burda II«-Entscheidung einer Gewerkschaft unerwartet den bereits erwähnten Unterlassungsanspruch gegen nicht normativ wirkende tarifwidrige betriebliche Regelungen einräumte und den verbreitet propagierten Versuchen, die zwingende Geltung des Tarifvertrages durch eine Umdeutung der tarifrechtlichen Günstigkeit einzuschränken461, die Zustimmung verweigerte462. Durch die am selben Tag ergangene unerwartete Entscheidung zu rückwirkenden Tariföffnungsklauseln zeigte der Senat zugleich eine von ihm geschaffene rechtliche Möglichkeit auf, wie schwierige wirtschaftliche Situationen durch vom Tarifvertrag abweichende Regelungen unter Beteiligung von Tarifvertragsparteien be-
455 BAG, 18.8.1987 – 1 ABR 30/86, AP Nr. 23 zu § 77 BetrVG 1972; 18.8.1987 – 1 ABR 80/ 85, DB 1987, 2263 f.; kurze Zusammenfassung der einschlägigen Diskussion bei C. Fischer, Die tarifwidrigen Betriebsvereinbarungen, 1998, S. 4, 151 f. 456 Ausführlich zur historischen Entwicklung der Diskussion von tarifvertraglicher und betrieblicher Normsetzungsmacht C. Fischer, Die tarifwidrigen Betriebsvereinbarungen, 1998, S. 37 ff. 457 Hierzu C. Fischer, Die tarifwidrigen Betriebsvereinbarungen, 1998, S. 57 f., 159 ff. 458 Grundlegend BAG, 24.2.1987, AP Nr. 21 zu § 77 BetrVG 1972. 459 BAG, 18.8.1987 – 1 ABR 65/86, AP Nr. 6 zu § 81 ArbGG 1979; 18.8.1987 – 1 ABR 80/ 85, DB 1987, 2263. 460 Hierzu C. Fischer, Die tarifwidrigen Betriebsvereinbarungen, 1998, S. 1 ff., auch zu der vom Ersten Senat 1991 angesichts des im Schrifttum beklagten Rechtsschutzdilemmas für die Gewerkschaften eröffneten Möglichkeit, gegen gewisse tarifwidrige Betriebsvereinbarungen nach § 23 BetrVG vorzugehen. 461 Nachweise zu dem im Anschluss an Adomeit vertretenen »neuen« Günstigkeitsverständnis bei C. Fischer, Anm. zu EzA Art. 9 GG Nr. 65, zu D.I.3. (S. 48). 462 BAG, 20.4.1999 – 1 ABR 72/98, AP Nr. 89 zu Art. 9 GG.
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wältigt werden können463. Das »Kontrastprogramm« wurde durch zeitgleich erscheinende Pressemitteilungen veranschaulicht464. (4) Der Arbeitskampf ist von einem Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts einmal als weites Feld bezeichnet worden, das der Gesetzgeber ausgespart und der »Richter besetzt« habe465. (a) Schon im ersten Jahr nach Gründung des Bundesarbeitsgerichts stufte dessen Großer Senat unter dem Vorsitz seines Präsidenten Nipperdey den Arbeitskampf als einheitlich zu behandelndes kollektives Geschehen ein und legte fest, dass Streik und Aussperrung nunmehr ohne vorherige Kündigung des Arbeitsverhältnisses möglich seien466. Der Große Senat begnügte sich nicht damit, die ihm gestellten Vorlagefragen zu beantworten. Er postulierte die Arbeitskampffreiheit, verstanden als Streik- und Aussperrungsfreiheit, erkannte Arbeitskämpfe als ultima ratio sowie die Freiheit der Kampfmittelwahl an, gestand den Arbeitgebern – auch einzeln – die suspendierende und die lösende Aussperrung zu, betonte das Gebot der Kampfparität und stellte den Grundsatz auf, dass jede Seite ihr Risiko des Arbeitskampfes tragen müsse. Damit legte der Senat die tragenden Prinzipien des Arbeitskampfrechts »sozusagen für die Zukunft fest, eine Aufgabe, die im Grunde dem Gesetzgeber oblag und obliegt«467. Der Große Senat sei bewusst als Ersatzgesetzgeber tätig geworden468. Kissel hat die Entscheidung des Großen Senats zum Arbeitskampf aus dem Jahr 1955 den »wohl weitreichendsten Akt richterlicher Rechtsfortbildung im Arbeitsrecht überhaupt« genannt469. Aus der damaligen gesamten politischen und gesamtgesellschaftlichen Aufbausituation heraus sei sie allerdings, anders als etwa die Entscheidungen »Herrenreiter« und »Soraya«, kaum unter dem Aspekt der Grenzen rechtsprechender Gewalt problematisiert worden470. (b) Im zweiten grundlegenden Beschluss des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts zum Arbeitskampfrecht, in dem dieser 1971 das Paritätsprinzip weiter ausbaute, das Gebot der Verhältnismäßigkeit hervorhob und bewusst »ein volles Arbeitskampfsystem« entwarf471, hieß es, dass »auf dem Gebiet des Arbeitskampfrechts die Rechtsprechung an die Stelle des untätigen Gesetzgebers getreten ist«472. Einige Rechtsgrundsätze der Entscheidung des Großen Senats
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BAG, 20.4.1999 – 1 AZR 631/98, § 77 BetrVG Tarifvorbehalt Nr. 12. Hierzu C. Fischer, Anm. zu EzA Art. 9 GG Nr. 65, zu A.IV. (S. 30). 465 G. Müller, ArbuR 1977, 129, 131. 466 BAG (GS), 28.1.1955, AP Nr. 1 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; interessante anekdotische Hintergrundinformationen bei D. Neumann, FS Wiedemann, 2002, S. 367, 370. 467 Kissel, Arbeitskampfrecht, 2002, § 3 Rn. 37 (S. 19). 468 Weitnauer, FS 25 Jahre Bundesarbeitsgericht, 1979, S. 617, 622. 469 Kissel, in: Blüm/Zacher (Hrsg.), 40 Jahre Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland, 1989, S. 459 ff., 461; eingehend zur Bedeutung der Entscheidung Kissel, Arbeitskampfrecht, 2002, § 3 Rn. 36 f. (S. 18 f.): »entscheidende Wende«, »Befreiungsschlag«; § 23 Rn. 14 ff. (S. 209 ff.): »völlige Umgestaltung« usw. 470 So Kissel, Arbeitskampfrecht, 2002, § 23 Rn. 42. 471 Weitnauer, FS 25 Jahre Bundesarbeitsgericht, 1979, S. 617, 622; vgl. insoweit BAG (GS), 21.4.1971, AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, zu Teil II A. a. E. 472 BAG (GS), 21.4.1971, AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, zu Teil III F., im Zusammenhang mit der Rückwirkung gerichtlicher Entscheidungen. 464
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vom 28.1.1955 wurden »abgeändert und fortentwickelt«473. Die im ersten Beschluss im Anschluss an Nipperdey mit Nachdruck vertretene These474, die Abwehrausperrung müsse notwendig das Arbeitsverhältnis lösen, wurde zugunsten einer regelmäßig nur suspendierenden Wirkung aufgegeben. (c) Obwohl der Große Senat den Grundsatz aufgestellt hatte, dass der Arbeitskampf immer das letzte Mittel (ultima ratio) sein müsse und Arbeitskampfmaßnahmen erst nach Ausschöpfung aller Verständigungsmöglichkeiten einschließlich eines Schlichtungsverfahrens ergriffen werden dürften475, ließ der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts in einer wechselvollen Rechtsprechung sog. Warnstreiks während der Verhandlungsphase zu. (aa) Das erste Warnstreikurteil betraf die Teilnahme an einer zweistündigen gewerkschaftlichen Demonstration bei der Eröffnung der Diamant- und Edelsteinbörse in Idar-Oberstein im Jahre 1974, auf die der Arbeitgeber mit fristlosen Kündigungen (über-)reagiert hatte. Das Bundesarbeitsgericht nahm den Fall zum Anlass, einen zu Demonstrationszwecken durchgeführten kurzen und befristeten Streik für zulässig zu erklären476. Ein punktueller, demonstrativer Warnstreik, mit dem »milder« Druck auf die Arbeitgeberseite ausgeübt werde, könne das Ausbrechen eines unbefristeten Erzwingungsstreiks verhindern und stelle diesem gegenüber nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz das mildere Mittel dar. Der Grundsatz, dass Kampfmaßnahmen erst nach Ausschöpfung aller Verständigungsmöglichkeiten ergriffen werden dürften, gelte nur für längerfristige oder zeitlich unbegrenzte Streiks. (bb) Gewerkschaften erkannten die in dieser Rechtsprechung liegenden strategischen Chancen und schufen ein verhandlungsbegleitendes, flächendeckendes Arbeitskampfmittel, mit dem wechselnde Unternehmen im Tarifgebiet kurzfristig bestreikt wurden. Trotz des grundlegenden Unterschiedes zwischen einer einmaligen punktuellen Arbeitsniederlegung und einem Flächenkampfmittel billigte das Bundesarbeitsgericht die »Neue Beweglichkeit« in seinem zweiten Warnstreikurteil477. Es trennte zwischen dem Warnstreik und dem Erzwingungsstreik. Nur für letzteren gelte das ultima-ratio-Prinzip uneingeschränkt. (cc) Nach massiver Kritik im Schrifttum gab der Erste Senat im dritten Warnstreikurteil diese Unterscheidung auf und bekannte sich formal zur Geltung des ultima-ratio-Prinzips für alle Streiks478. Materiell liquidierte er indes das Prinzip für die Verhandlungsphase, indem er die Anforderungen an das Scheitern der Verhandlung reduzierte. Die Tarifverhandlungen müssten nicht (länger) förmlich für gescheitert erklärt werden. In der Einleitung von Arbeitskampfmaßnahmen liege
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BAG (GS), 21.4.1971, AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, Leitsatz 4, s. auch Teil II
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So Weitnauer, FS 25 Jahre Bundesarbeitsgericht, 1979, S. 617, 622. BAG (GS), 21.4.1971, AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, zu Teil III A.2.a. der Gründe, im Anschluss an BAG (GS), 28.1.1955, AP Nr. 1 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, zu II.1. der Gründe: »im äußersten Fall«. 476 BAG, 17.12.1976, AP Nr. 51 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 477 BAG, 12.9.1984, AP Nr. 81 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, zu B.II.2.d. der Gründe; Ausgangspunkt bestätigt durch BAG, 29.1.1985 AP Nr. 83 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 478 BAG, 21.6.1988, AP Nr. 108 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 475
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vielmehr die freie und nicht nachprüfbare Entscheidung, dass die Verhandlungsmöglichkeiten ohne begleitende Arbeitskampfmaßnahmen als erschöpft angesehen würden. Die Kampfmaßnahme wird dadurch zu ihrer eigenen Rechtmäßigkeitsvoraussetzung. Sie ist nicht länger ultima ratio. Trotz seines Lippenbekenntnisses zum ultima-ratio-Prinzip hat der Erste Senat also auch in der dritten Warnstreikentscheidung die vom Großen Senat aufgestellten Grundsätze fortgebildet, ohne diesem nach § 45 ArbGG die Rechtsfrage zur Entscheidung vorzulegen. (dd) Die Besonderheit der Warnstreikrechtsprechung besteht darin, dass hier nicht vom Gesetzesrecht, sondern vom gesetzesvertretenden Richterrecht des Großen Senats abgewichen worden ist. Freilich bildet sowohl in gesetzlich geregelten als auch in gesetzlich nicht geregelten Bereichen jede (Gerichts-)Entscheidung, die auf einer eigenständigen Interessenbewertung beruht, das Gesetzesrecht fort. Das gilt auch und gerade für das Arbeitskampfrecht, das als ganzes Rechtsgebiet gesetzlich nicht geregelt ist und daher keine gesetzgeberischen Interessenbewertungen enthält. (d) Das Arbeitskampfmittel der Abwehraussperrung wurde 1980 auf das jeweilige Tarifgebiet begrenzt und durch feste Aussperrungsquoten beschränkt479. Das Bundesarbeitsgericht legte drei, nach Prozentsätzen der zum Streik aufgerufenen Arbeitnehmer unterschiedene Stufen fest, denen es ebenfalls in Prozenten ausgedrückte maximale Aussperrungszahlen zuordnete. Ob diese Quotenrechtsprechung noch geltendes Recht darstellt, ist zweifelhaft. Der Erste Senat hat in der Folgezeit nicht mehr entscheidend auf das Zahlenverhältnis abgestellt480 und dann sogar Bedenken geäußert, ob an den Maßstäben von 1980 festgehalten werden könne481. In den meisten (Lehr-)Büchern wird die bislang nicht ausdrücklich aufgegebene Quotenrechtsprechung als geltendes Recht geschildert482. Andere gehen davon aus, dass die Aussperrungsarithmetik endgültig überholt sein dürfte483 oder weisen daraufhin, es kündige sich möglicherweise eine Rechtsprechungsänderung an484, was wegen der rückwirkenden »Inkraftsetzung« neuen Richterrechts auf dasselbe hinauslaufen würde. Hier zeigt sich das grundsätzliche Geltungsproblem von Richterrecht. Sollte das Bundesarbeitsgericht in Zukunft seine Quotenrechtsprechung (mit Wirkung für die Vergangenheit) aufgeben bzw. ändern, so wäre das bis dahin noch nicht verworfene, »geltende« Richterrecht rückwirkend außer Kraft gesetzt, hätte also als normativer Entscheidungsmaßstab doch gar nicht gegolten, obwohl sich die beteiligten Verkehrskreise regelmäßig am bisher »geltenden« Richterrecht orientieren mussten.
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BAG, 10.6.1980, AP Nr. 64 und 65 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. BAG, 12.3.1985, AP Nr. 84 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 481 BAG, 7.6.1988, AP Nr. 107 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, zu II.1. der Gründe. 482 Vgl. beispielsweise Brox/Rüthers/Henssler, Arbeitsrecht, 16. Aufl. 2004, Rn. 805; Ga– millscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Band I, 1997, S. 1143 ff.; Rüthers, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 2, 2. Aufl. 2000, § 201 Rn. 118 f.; ebenso bei Kissel, Arbeitskampfrecht, 2002, § 53 Rn. 4 ff. (S. 794 ff.), der die seitherige Rechtsprechung in Rn. 11 eingehend schildert und anschließend die Quotenrechtsprechung ausführlich kritisiert. 483 Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, 5. Aufl. 1998, § 40 IX.1.(2). (S. 469). 484 So ausdrücklich Hj. Otto, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 3, 1. Aufl. 1993, § 278 Rn. 179; ebenso in der Sache – aber ohne diese Formulierung – ders., in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 3, 2. Aufl. 2000, Rn. 182 ff. 480
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(e) Das sog. Betriebsrisiko im Arbeitskampf stellt ein geradezu klassisches Gebiet arbeitsrechtlicher Rechtsfortbildungen dar. Gamillscheg spricht in diesem Zusammenhang von »Richterrecht reinsten Wassers«485. Schon das Reichsgericht hatte im »Kieler Straßenbahn«-Urteil für den Fall eines Teilstreiks »aus den tatsächlichen sozialen Verhältnissen« eine bewusst und ausdrücklich von den §§ 323 ff., 615 BGB a. F. abweichende Verteilung des Lohnrisikos im Arbeitskampf vorgenommen486, die das Reichsarbeitsgericht zu einer »Sphärentheorie« ausbaute487, nach welcher der Lohnanspruch entfiel, wenn die Unmöglichkeit der Beschäftigung auf Verhältnisse der Arbeitnehmerseite zurückging488. Im Anschluss an diese Rechtsprechung hat der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts 1957 die sog. traditionellen Betriebsrisikogrundsätze im Wege der Rechtsfortbildung aufgestellt und dabei betont, dass die Betriebsrisikofrage nicht aufgrund der §§ 323, 615 BGB entschieden werden könne, weil eine Lücke im Gesetz bestehe489. Die wechselvolle weitere Rechtsprechungsentwicklung ist durch zahlreiche ausdrückliche und stillschweigende Modifikationen früherer Positionen gekennzeichnet490: Das Bundesarbeitsgericht wechselte die Begründung aus, indem es »Arbeitnehmersolidarität« durch »Kampfparität« ersetzte, stellte die wirtschaftliche Unzumutbarkeit der technischen Unmöglichkeit der Beschäftigung gleich, ersetzte (zeitweise) die Unzumutbarkeit der Beschäftigung durch die »kollektivistische« Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Betriebes und verselbständigte das Arbeitskampfrisiko auch terminologisch gegenüber dem Betriebsrisiko. (f) Große Beachtung fand im arbeitsrechtlichen Schrifttum ein Beschluss des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahre 1994, in welchem dem bestreikten Arbeitgeber das unbekannte, bis dahin nicht einmal erwogene Recht eingeräumt wurde, seinen Betrieb im Umfang des gewerkschaftlichen Streikaufrufes mit der Folge stillzulegen, dass arbeitswillige Arbeitnehmer trotz »an sich« bestehender Beschäftigungsmöglichkeiten ihren Lohnanspruch verlieren491. Es handelte sich um den ersten großen Paukenschlag des Ersten Senats in der Ägide Dieterich492. 485
Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Band I, 1997, S. 1263. RGZ 106, 272, 275 f.; hierzu bereits 2.d.bb. 487 RAG, ARS 3, 116, 120 ff. 488 Vgl. Boehmer, Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung II/2, 1952, S. 186 ff. 489 BAG, 28.2.1957, AP Nr. 2 zu § 615 BGB Betriebsrisiko. 490 Vgl. insb. BAG, AP Nr. 4 zu § 615 BGB Betriebsrisiko; 1975, AP Nr. 30 zu § 615 BGB Betriebrisiko; 10.6.1980, AP Nr. 64 und Nr. 65 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, jeweils zu A.V.3.b. der Gründe; 22.12.1980, AP Nr. 70 und 71 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; zu C.I.2.; die sich anschließende neue Rechtsprechung zum Stilllegungsrecht des Arbeitgebers im Arbeitskampf und zum Arbeitskampfrisiko bei »Wellenstreiks« wird sogleich unter (f). und (g). behandelt. Ein straffer, die Unterschiede betonender Überblick zur Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bis 1994 findet sich bei Fischer/Rüthers, Anm. zu EzA Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 115, zu C.II.1. (S. 24-28); s. ergänzend zu einzelnen Judikaten Boewer, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 1, 2. Aufl. 2000, § 79 Rn. 11 f., 30 ff.; Kissel, Arbeitskampfrecht, 2002, § 33 Rn. 8 ff.; Hj. Otto, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 3, 2. Aufl. 2000, § 290 Rn. 13. 491 BAG, 22.3.1994, AP Nr. 129 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; detaillierte Kritik bei Fischer/ Rüthers, Anm. zu EzA Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 115; eingehende Darstellung der Problematik und des mittlerweile erreichten Diskussionstandes mit zahlreichen Nachweisen bei Kissel, Arbeitskampfrecht, 2002, § 33 Rn. 104 ff. (S. 416 ff.). 492 In diesem Sinne rückblickend G. Thüsing, DB 1999, 1552, der die »Burda II«-Entscheidung als den letzten großen Paukenschlag bezeichnet, mit dem sich »der neue erste Senat« nach 486
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Bereits die äußeren Umstände waren bemerkenswert. Der Erste Senat wich mit der Stilllegungsentscheidung von seiner gerade drei Monate alten, bei Erlass der zweiten Entscheidung noch nicht einmal veröffentlichten Vorentscheidung ab, in der er noch entgegengesetzt geurteilt hatte493. Manchen drängte sich die Frage auf, ob beim Bundesarbeitsgericht die »Schnappschusstheorie« Einzug gehalten habe, da der frischgebackene Präsident des Bundesarbeitsgerichts und neue Vorsitzende des Ersten Senats anlässlich seiner wenige Wochen zurückliegenden Amtseinführung geäußert hatte, Entscheidungen über Arbeitskämpfe seien im Grunde nur juristische Schnappschüsse, beim nächsten Mal sei alles anders494. In rechtlicher Hinsicht waren die beiden vom Ersten Senat zu beurteilenden Sachverhalte identisch; geändert hatte sich zwischen den beiden Urteilen »nur« die Besetzung des Senats. Von den fünf Richtern, welche die erste Entscheidung gefällt hatten, wirkte an der zweiten lediglich noch einer mit. Die bereits mehrmals erwähnte personale Komponente des Richterrechts wird bei der Stilllegungsentscheidung besonders deutlich495. (g) Das Bundesarbeitsgericht beschäftigte sich des Weiteren mit »Wellenstreiks«496 und bereicherte dabei die sog. Arbeitskampfrisikolehre um eine neue Fallgruppe497. Aus jüngster Zeit verdienen noch die Urteile über die Bestreikbarkeit eines verbandsangehörigen Arbeitgebers mit dem Ziel eines ergänzenden Firmentarifvertrages498 und die Einbeziehung nicht verbandsangehöriger Arbeitgeber in einen Verbandsarbeitskampf499 Erwähnung. (5) Im Betriebsverfassungsrecht bilden einen Schwerpunkt der Rechtsfortbildungen die praktisch besonders wichtigen Mitbestimmungstatbestände. (a) Es ist bereits angedeutet worden, dass das Bundesarbeitsgericht im Jahr 1987 das Verhältnis zwischen § 77 Abs. 3 und § 87 BetrVG neu geordnet und sich für die sog. Vorrang- und gegen die sog. Zwei-Schranken-Theorie entschieden
Unterlassungsanspruch des Betriebsrats und Betriebsstilllegung im Arbeitskampf von der Ägide Dieterich verabschiede; vgl. auch Zöllner, FS 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 1395, 1407. 493 BAG, 15.12.1993, AP Nr. 129 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 494 Hierzu Fischer/Rüthers, Anm. zu EzA Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 115, S. 9 ff. 495 Sie zeigt sich des Weiteren bei Dieterich, RdA 2005, 55, wenn dieser zu seinem Nachfolger im Präsidentenamt und im Vorsitz des Ersten Senats schreibt: »Diesem Senat gehörte er allerdings im Gegensatz zu seinen Vorgängern schon zuvor viele Jahre an … . Er fand also in seinem neuen Amt eine Rechtsprechung vor, die er selbst mitgeprägt hatte. So erklärt sich, dass die umfangreiche und facettenreiche Rechtsprechung des Ersten Senats zum Betriebsverfassungsrecht in den letzten fünf Jahren den bekannten und anerkannten Kurs fortgesetzt hat. Das Gleiche gilt …«. 496 BAG, 12.11.1996, AP Nr. 147 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; 17.2.1998, AP Nr. 152 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; 15.12.1998, AP Nr. 154 und 155 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. In der arbeitsrechtlichen Standardliteratur fand man den Begriff »Wellenstreik« vor diesen Entscheidungen nicht. 497 Hierzu C. Fischer, RdA 1999, 406 ff. 498 BAG, 10.12.2002, AP Nr. 162 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. Die Frage nach der Zulässigkeit solcher Arbeitskämpfe stellte sich in den letzten Jahren vor allem im Zusammenhang mit Forderungen nach Standort- und Beschäftigungssicherungstarifverträgen. 499 BAG, 18.2.2003, AP Nr. 163 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; gerechtfertigt bei (faktischer) Partizipation des »Außenseiter«-Arbeitgebers am Ergebnis der Verbandsauseinandersetzung; dazu auch BVerfG (K), 10.9.2004, AP Nr. 167 zu Art. 9 GG Arbeitskampf.
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hat500. Hierdurch sind, trotz aller Unklarheiten über die Reichweite dieser Rechtsprechung, jedenfalls die Möglichkeiten zum Abschluss betrieblicher Vereinbarungen erweitert worden501. (b) Die einzelnen Mitbestimmungstatbestände wurden nicht durch große, »spektakuläre« Entscheidungen, sondern vornehmlich durch eine Vielzahl begrenzteren Problemen zugewandte Judikate502 ausgeweitet. Beispielsweise wendete das Bundesarbeitsgericht § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG auf freiwillige soziale Leistungen des Arbeitgebers an503. Zöllner spricht von weittragendem, folgenreichem Richterrecht504. Weniger bedeutsam, aber bezeichnend für die schleichende Erweiterung von Mitbestimmungsrechten des Betriebsrats ist die rechtsfortbildende505 Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, nach welcher die Regelung der »Art der Auszahlung der Arbeitsentgelte« nach § 87 Abs. 1 Nr. 4 BetrVG als Annex die Kosten bargeldloser Gehaltszahlungen erfasst und insoweit eine Pauschalierung zulässig ist506. Ursprünglich nur auf solche Kontogebühren bezogen, die gerade durch die Überweisung des Arbeitsentgelts anfallen, ist das richterrechtliche Kostenmitbestimmungsrecht im weiteren Verlauf unter der Hand und ohne sachliche Begründung auf den Zeitaufwand (»Kontostunde«) und die Wegekosten des Arbeitnehmers ausgedehnt worden507. In der sog. Kaufhausentscheidung gestand das Bundesarbeitsgericht dem Betriebsrat einer Kaufhausfiliale ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG nicht nur bei der Verteilung der Arbeitszeiten, sondern im Ergebnis auch bei der Festlegung der Ladenöffnungszeiten zu508. Der Arbeitgeber wurde gezwungen, Öffnungszeiten zu akzeptieren, die noch unterhalb desjenigen lagen, was nach dem in damaliger Fassung ohnehin rigiden Ladenschlussgesetz erlaubt war, obwohl man im Gesetzgebungsverfahren doch mehrfach betont hatte, dass die durch das Betriebsverfassungsgesetz von 1972 erweiterten erzwingbaren Mitbestimmungsrechte »nicht in die eigentlichen unternehmerischen Entscheidungen auf wirtschaftlichem Gebiet« eingreifen sollten509.
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BAG, 18.8.1987, AP Nr. 21 zu § 77 BetrVG 1972; s. vorstehend (3)(e). Ausführliche Analyse bei C. Fischer, Die tarifwidrigen Betriebsvereinbarungen, 1998, S. 159 ff. 502 So Zöllner, FS 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 1395, 1407; eingehend hierzu Schlachter, Auslegungsmethoden im Arbeitsrecht, 1987, S. 7 ff., 114. 503 BAG, 12.6.1975, AP Nr. 1 und 2 zu § 87 BetrVG 1972 Altersversorgung; BAG (GS), 3.12.1991, AP Nr. 51 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung. 504 Zöllner, FS 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 1395, 1406, wo die Rolle des VizePräsidenten des Bundesarbeitsgerichts Hermann Stumpf betont wird. 505 Vgl. zur Klassifikation dieser Rechtsprechung G. Müller, JuS 1980, 627, 631, der sie unter dem Titel »Richterliche Rechtsfortbildung des Arbeitsrechts« behandelt; aus methodischen Perspektiven C. Fischer, RdA 2003, 114, 118. 506 Grundlegend BAG, 8.3.1977, AP Nr. 1 zu § 87 BetrVG 1972 Auszahlung. 507 Darstellung der Rechtsprechungsentwicklung und Grundsatzkritik bei C. Fischer, RdA 2003, 114, 117 f. 508 BAG, 31.8.1982, AP Nr. 8 zu § 87 BetrVG 1972 Arbeitszeit. 509 BR-Drucks. 715/70, S. 31; w. N. bei Wiese, Das Initiativrecht nach dem Betriebsverfassungsgesetz, 1977, S. 37 ff. 501
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(c) Zum Schutz der erzwingbaren Mitbestimmungsrechte in sozialen Angelegenheiten hat die Rechtsprechung schon frühzeitig Initiativrechte des Betriebsrats anerkannt510 und die sog. Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung, auch Theorie der notwendigen Mitbestimmung genannt, vertreten511, nach der (belastende) Maßnahmen des Arbeitgebers in Angelegenheiten des § 87 BetrVG ohne Zustimmung des Betriebsrats individualrechtlich nicht wirksam sind. (d) Von großer praktischer Bedeutung ist die Frage, ob der Betriebsrat vom Arbeitgeber unabhängig von den Voraussetzungen des § 23 Abs. 3 BetrVG verlangen kann, eine beteiligungspflichtige Maßnahme bis zum Abschluss des Beteiligungsverfahrens zu unterlassen. Der Erste Senat hatte einen solchen allgemeinen betriebsverfassungsrechtlichen Unterlassungsanspruch ursprünglich abgelehnt, weil er § 23 Abs. 3 BetrVG als abschließende gesetzliche Regelung ansah512. Nachdem der Präsident des Bundesarbeitsgerichts gewechselt hatte, der traditionell dem Ersten Senat vorsitzt, bejahte er in einer vielbeachteten Grundsatzentscheidung einen Unterlassungsanspruch des Betriebsrats bei Verstößen gegen § 87 Abs. 1 BetrVG, den er unmittelbar dieser Norm entnahm513. (e) Weiterhin erkannte der Siebte Senat im Jahr 2000514 »durch richterliche Rechtsfortbildung«515 ein betriebsverfassungsrechtliches Übergangsmandat des Betriebsrats für Fälle an, in denen aufgrund einer Änderung der betrieblichen Organisation die bisherige betriebsverfassungsrechtliche Repräsentation verloren geht und eine neue betriebsratsfähige Einheit entsteht, für die noch kein Betriebsrat gebildet ist. Die Dauer des richterrechtlichen Übergangsmandats legte das Bundesarbeitsgericht »eigenwillig«516 auf drei Monate fest. Bei dem Beschluss handelt es sich um eine in methodischer Hinsicht besonders bemerkenswerte Entscheidung, die aber aufgrund der im Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung absehbaren Reform des Betriebsverfassungsgesetzes, welche eine gesetzliche Regelung des Übergangsmandats zum Juli 2001 brachte, keine große Resonanz mehr gefunden hat. Der Senat betonte mehrfach den rechtsfortbildenden Charakter seiner Entscheidung517, sprach die methodischen Probleme der nachträglichen sowie der
510 BAG, 14.11.1974, AP Nr. 1 zu § 87 BetrVG 1972; 4.3.1986, AP Nr. 3 zu § 87 BetrVG 1972 Kurzarbeit; 8.8.1989, AP Nr. 3 zu § 87 BetrVG 1972 Initiativrecht; Nachweise aus der Rechtsprechung zum Betriebsverfassungsgesetz von 1952 bei Wiese, Das Initiativrecht nach dem Betriebsverfassungsgesetz, 1977, S. 25 Fn. 82. 511 BAG, 7.9.1956, AP Nr. 2 zu § 56 BetrVG 1952; 1.2.1957, AP Nr. 4 zu § 56 BetrVG 1952; 25.10.1957, AP Nr. 6 zu § 56 BetrVG 1952; 16.12.1960, AP Nr. 22 zu § 56 BetrVG 1952; 13.7.1977, AP Nr. 2 zu § 87 BetrVG 1972 Kurzarbeit, zu 10. der Gründe; BAG (GS), 3.12.1991, AP Nr. 51 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung. 512 BAG, 22.2.1983, AP Nr. 2 zu § 23 BetrVG 1972. 513 BAG, 3.5.1994, AP Nr. 23 zu § 23 BetrVG 1972. 514 BAG, 31.5.2000, AP Nr. 12 zu § 1 BetrVG 1972 Gemeinsamer Betrieb. 515 BAG, 31.5.2000, AP Nr. 12 zu § 1 BetrVG 1972 Gemeinsamer Betrieb, 2. Leitsatz. 516 Kreutz, in: Wiese/Kreutz/Oetker/Raab/Weber/Franzen, Gemeinschaftskommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, Band I, 8. Aufl. 2005, § 21 a Rn. 4: Die wichtigste gesetzliche Regelung des Übergangsmandats, § 321 UmwG a. F., hatte dieses auf sechs Monate beschränkt. 517 BAG, 31.5.2000, AP Nr. 12 zu § 1 BetrVG 1972 Gemeinsamer Betrieb, 2. Leitsatz; s. auch zu B.IV.3.c. der Gründe: »im Wege der Rechtsfortbildung«, »Gesetz durch Richterrecht fortzuentwickeln«; zu B.IV.3.d. der Gründe: »im Wege richterlicher Gesetzesfortbildung«; zu B.IV.4.der Gründe: »im Wege der Rechtsfortbildung«.
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planmäßigen Lücke518 an und ließ die Frage, ob der Gesetzgeber bewusst kein allgemeines betriebsverfassungsrechtliches Übergangsmandat geschaffen habe, mit einem rechtsmethodischen Kunstgriff dahinstehen519: Bei der Frage, ob das Gesetz durch Richterrecht fortzuentwickeln ist, seien »nicht nur die Absichten und bewusst getroffenen Entscheidungen des Gesetzgebers zu berücksichtigen, sondern auch solche objektiven Rechtsprinzipien, die in das Gesetz Eingang gefunden haben«. Jedem Gesetz wohne das Prinzip der Gleichbehandlung des Gleichartigen inne. Das »gesetzesimmanente Prinzip der Gleichbehandlung« beseitigt das Einschätzungsvorrecht des Gesetzgebers in Regelungsfragen, welches durch die Gesetzesbindung des Richters geschützt wird. Mit diesem Ansatz lässt sich jedes Spezialgesetz zu einer Regel mit umfassendem Anwendungsbereich verallgemeinern. (f) Der Große Senat entschied, dass der Günstigkeitsgedanke auch ohne eine entsprechende Anordnung im Betriebsverfassungsgesetz für das Verhältnis einzelvertraglicher Vereinbarungen zu den Regelungen einer Betriebsvereinbarung gelte, schränkte diesen Ausgangspunkt indes sogleich ein, indem er den sog. kollektiven Günstigkeitsvergleich schuf520. Hiernach sollen einheitsvertragliche Regelungen über Sozialleistungen stets durch eine Betriebsvereinbarung abgelöst werden können, wenn die Neureglung insgesamt gesehen bei kollektiver Betrachtung für die Belegschaft nicht ungünstiger ist. Im Schrifttum ist von einer »frei erfundenen Version des Günstigkeitsprinzips« die Rede521. Zöllner spricht von gesetzeskonträrem Richterrecht, das textlich, historisch und teleologisch nicht fundierbar sei522. (g) Es existieren keine gesetzlichen Regelungen darüber, ob und gegebenenfalls wie sich Arbeitskämpfe auf die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats auswirken. Das Bundesarbeitsgericht hat festgelegt, dass die Beteiligungsrechte des Betriebsrats bei arbeitskampfbedingten Maßnahmen des Arbeitgebers in einem vom Arbeitskampf unmittelbar betroffenen Betrieb einzuschränken sind, wenn und soweit die Beteiligung des Betriebsrats die Kampfparität beeinträchtigt523. (h) Große Aufmerksamkeit hat die Rechtsfortbildung des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts zu Sozialplanansprüchen im Konkurs524 gefunden, die 518 BAG, 31.5.2000, AP Nr. 12 zu § 1 BetrVG 1972 Gemeinsamer Betrieb, zu B.IV.2.d. und 3.b. der Gründe. 519 BAG, 31.5.2000, AP Nr. 12 zu § 1 BetrVG 1972 Gemeinsamer Betrieb, zu B.IV.3.c. der Gründe. 520 BAG (GS), 16.9.1986, AP Nr. 17 zu § 77 BetrVG 1972; gegen die Anwendung des Günstigkeitsgedankens im Verhältnis von Arbeitsvertrag und Betriebsvereinbarung noch BAG, 12.8.1982, AP Nr. 4 zu § 77 BetrVG 1972. 521 Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, 5. Aufl. 1998, § 6a II.2.b. (S. 87). 522 Zöllner, FS 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 1395, 1407. 523 BAG, 26.10.1971, AP Nr. 44 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; 14.2.1978, AP Nr. 58 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; 6.3.1979, AP Nr. 20 zu § 102 BetrVG 1972; 24.4.1979, AP Nr. 63 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; 22.12.1980, AP Nr. 70, 71 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; 10.12.2002, AP Nr. 59 zu § 80 BetrVG 1972, mit einer kurzen Darstellung der Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts unter B.II.2. und 3. der Gründe; vgl. insoweit ergänzend LAG Köln, DB 1993, 838. 524 BAG (GS), 13.12.1978, AP Nr. 6 zu § 112 BetrVG 1972; umgesetzt durch BAG, 19.12.1979, AP Nr. 10 zu § 112 BetrVG 1972.
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vom Bundesverfassungsgericht »kassiert« wurde, weil sie die Grenzen, welche der richterlichen Rechtsfortbildung durch Art. 20 Abs. 3 GG gezogen seien, eindeutig überschritten habe525. Die Entscheidung des Großen Senats erging im Anschluss an eine ausgesprochen intensiv geführte wissenschaftliche Diskussion526, in der eine Vielzahl divergierender Auffassungen zum gesetzlich nicht geregelten Verhältnis zwischen den §§ 111 bis 113 BetrVG und den (Rang-)Vorschriften der Konkursordnung vorgebracht worden waren527. Im breiten Spektrum der Meinungen vertrat der Große Senat eher eine mittlere Linie. Er entschied, dass die genannten Vorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes auch im Konkurs des Unternehmens gelten, lehnte es ab, Sozialplanansprüche als Masseschulden nach § 59 KO zu behandeln, verneinte ihre Klassifikation als sonstige Konkursforderungen letzten Ranges nach § 61 Abs. 1 Nr. 6 KO und stufte sie als bevorrechtigte Konkursforderungen im Sinne des § 61 KO ein, wobei er den Sozialplanabfindungen wegen ihrer existentiellen Bedeutung den Vorrang gegenüber den sonstigen bevorrechtigten Konkursforderungen einräumte und sie im Rang »als Nr. 0« vor Nr. 1 des § 61 Abs. 1 KO einordnete528. Der Präsident des Bundesarbeitsgerichts und Vorsitzende des Großen Senats hat sich in der Folgezeit zu der viel beachteten Entscheidung geäußert529: Es müsse offen ausgesprochen werden, dass das Bundesarbeitsgericht bei seiner Aufgabe, die Lücke der konkursrechtlichen Behandlung der betriebsverfassungsrechtlichen Abfindungen im Wege der Rechtsfortbildung aufzufüllen, an der Grenze des richterrechtlich Möglichen gestanden habe; das dezisionistische Element des Beschlusses sei erheblich. Dem Bundesverfassungsgericht war es teilweise zu groß. Es entschied, dass die Einordnung von Sozialplanabfindungen kraft Richterrecht als Konkursforderungen im Range vor § 61 Abs. 1 KO mit Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbar sei530. Die gesetzliche Ordnung des Konkursrechts biete keinen Anhaltspunkt, um zu dem vom Bundesarbeitsgericht gefundenen Ergebnis zu gelangen531. Das Bundesverfassungsgericht betonte die Unentbehrlichkeit von Rechtsfortbildungen und wies ausdrücklich darauf hin, dass nicht zu entscheiden sei, ob Ansprüche aus einem Sozialplan etwa aus Gründen der Rechtsähnlichkeit in eine der bevorrechtigten Rangstellen des § 61 Abs. 1 KO eingeordnet werden könnten532. Es sprach sich also entgegen dem in richterlichen Stellungnahmen vermittelten Ein525
BVerfGE 65, 182 = BVerfG, 19.10.1983, AP Nr. 22 zu § 112 BetrVG 1972. Vgl. etwa Weitnauer, FS 25 Jahre Bundesarbeitsgericht, 1979, S. 617, der davon spricht, dass das Problem »eine ganze Literatur« ausgelöst habe. 527 Zusammenfassende Darstellung des Meinungsstandes bei BAG (GS), 13.12.1978, AP Nr. 6 zu § 112 BetrVG 1972, zu Teil II A., Teil III B.1, C.1 und D.2. der Gründe. 528 BAG (GS), 13.12.1978, AP Nr. 6 zu § 112 BetrVG 1972, zu Teil II B., Teil III B.2., C.2, D.3, E. und Teil IV. 529 G. Müller, JuS 1980, 627, 633; ders., DB 1981, 93, 96. 530 BVerfGE 65, 182 = BVerfG, 19.10.1983, AP Nr. 22 zu § 112 BetrVG 1972. 531 BVerfGE 65, 182 = BVerfG, 19.10.1983, AP Nr. 22 zu § 112 BetrVG 1972, mit ausführlicher Begründung zu B.I.2. der Gründe. 532 BVerfGE 65, 182 = BVerfG, 19.10.1983, AP Nr. 22 zu § 112 BetrVG 1972, zu B.II.1. und 2.d. der Gründe. 526
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druck533 nicht gegen eine rechtsfortbildende Lösung der Problematik aus, sondern wandte sich nur gegen die konkret vorgenommene Rechtsfortbildung des Bundesarbeitsgerichts, die dem auch in der »Soraya«-Entscheidung betonten Gebot möglichst gesetzesnaher Rechtsfortbildung534 nicht Rechnung getragen hatte. Anfang 1985 sind die – in der Höhe und im Gesamtvolumen begrenzten – Sozialplanansprüche dann vom Gesetzgeber im Rang des § 61 Abs. 1 Nr. 1 KO eingeordnet worden535. (6) Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Richter des Bundesarbeitsgerichts gelten in der Arbeitsrechtswissenschaft – wiederum in Anlehnung an eine Formulierung von Gamillscheg536 – allgemein als die wahren Herren des Arbeitsrechts537. Sie nehmen diese Rolle selbstbewusst und »souverän« wahr. Zum Erscheinen des hundertsten Bandes der Entscheidungssammlung »BAGE« hat der Präsident des Bundesarbeitsgerichts angemerkt, in ihr spiegele sich deutlich die rechts(fort)bildende Tätigkeit des Bundesarbeitsgerichts wider; das gelte keineswegs nur für das Arbeitskampfrecht, sondern auch für weite Teile des Individualarbeitsrechts. Immer wieder müsse das Bundesarbeitsgericht Spuren dogmatischer Anbindungen an vorhandene gesetzliche Vorschriften zum Erkenntnisgewinn nutzbar machen538. Unverblümt rechtfertigt der aus der ordentlichen Gerichtsbarkeit stammende Vorsitzende Richter am Bundesarbeitsgericht Griebeling die Fortbildung der Gesetze damit, dass der Richter eine gewisse Ellenbogenfreiheit brauche; er müsse, bei allem dem Gesetzgeber geschuldeten Respekt, sagen dürfen: »Das kann doch wohl nicht wahr sein«539. Zwar beklagt ein Teil des arbeitsrechtlichen Schrifttums bei konkreten rechtsfortbildenden Entscheidungen regelmäßig die fehlende Gesetzestreue des Bundesarbeitsgerichts, wenn dieses einen von der eigenen Position abweichenden Rechtsfortbildungsvorschlag übernimmt oder sich gar ohne Anleitungen aus der Literatur »frei« sein Recht findet. Das folgt schon aus dem sog. Lagerdenken, das im Arbeitsrecht bekanntlich recht verbreitet ist. Dass das Bundesarbeitsgericht grundsätzlich zur Fortbildung des Rechts berufen ist, wird aber von keinem Arbeitsrechtler und auch in keinem der arbeitsrechtlichen »Lager« in Abrede gestellt. Das Fachpublikum hat sich weitgehend mit dem besonderen Stellenwert rechtsfortbildenden Richterrechts im Arbeitsrecht abgefunden, der sich ja auch als Chance zur gestal533 Vgl. etwa Kissel, Arbeitskampfrecht, 2002, § 21 Rn. 7 (S. 189), wo es heißt, die »Konkursrang«-Entscheidung sei mit der »Soraya«-Entscheidung kaum vereinbar, inzwischen gehe das Bundesverfassungsgericht aber (wieder) von der Zulässigkeit, ja Pflicht zur richterlichen Rechtsfortbildung aus. 534 BVerfGE 34, 269, 292; hierzu C. Fischer, ZfA 2002, 215, 223 f. – Entgegen Kissel sind die beiden Entscheidungen also durchaus miteinander vereinbar. 535 Durch § 4 des Gesetzes über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren vom 20.2.1985, BGBl. I, S. 369. – Seit 1.1.1999 sind die §§ 123, 124 InsO maßgeblich. 536 S. bereits cc. am Anfang: »Das Richterrecht bleibt unser Schicksal«. 537 Vgl. Gamillscheg, AcP 164 (1964), 385, 388: »Der Richter ist der eigentliche Herr des Arbeitsrechts. Er wertet selbst, und er prüft die Wertungen des Normgebers. Seine Entscheidungen – namentlich die der Revisionsinstanz – sind fast immer Leitentscheidungen für eine Vielzahl ähnlicher Fälle«. 538 Wißmann, BB 2003, Heft 34, S. I. 539 Griebeling, in: Nutzinger (Hrsg.), Die Entstehung des Arbeitsrechts in Deutschland, 1998, S. 253, 257.
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tenden Einflussnahme auf die Rechtsentwicklung begreifen lässt. So trägt die von Wissenschaftlern herausgegebene Festschrift für einen scheidenden Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts den offenbar ehrenden Titel »Richterliches Arbeitsrecht«540. In besonders dynamischen und veränderlichen Teilrechtsgebieten wie dem Arbeitsrecht oder auch dem Gesellschaftsrecht scheint man sich mit der Existenz umfänglicher Rechtsfortbildungen541 tendenziell leichter zu tun als in den detaillierter normierten und stärker dogmatisierten Kernbereichen des Bürgerlichen Rechts. Das ungewöhnliche Selbstverständnis der Richter am Bundesarbeitsgericht und die von anderen Rechtsgebieten abweichende Sicht der Rolle des (auch rechtsfortbildenden) Richterrechts im Arbeitsrecht finden mittlerweile ihren sichtbaren Ausdruck in einem »Entscheidungsvorspann«, den man von anderen Zivilgerichten nicht kennt. Seit etwa 2002 stehen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts bzw. ihren Leitsätzen voran »Orientierungssätze der Richterinnen und Richter des BAG«, außerdem teilweise sehr detaillierte Angaben zum »Verhältnis zu bisheriger Rechtsprechung« (Fortführung, Bestätigung, Anknüpfung, Ergänzung, Klarstellung, Aufgabe usw.) und noch schlagwortartige »weiterführende Hinweise«. Die Orientierungssätze sind regelmäßig deutlich umfangreicher und zahlreicher als die heute ohnehin oft recht ausführlichen Leitsätze des Bundesarbeitsgerichts. Der Aussagegehalt von Orientierungssätzen, die »Randfragen« der Entscheidungsgegenstände betreffen, geht über denjenigen »klassischer« obiter dicta oft weit hinaus. Welche Richter die Orientierungssätze nach was für Grundsätzen abfassen, ist für Außenstehende nicht erkennbar. Gelegentlich hat man den Eindruck, dass das Bundesarbeitsgericht das neue Medium kreiert hat, um endlich Antworten auf Fragen geben zu können, die ihm leider noch nicht gestellt wurden542. Man kann die Orientierungssätze, um ihre Bedeutung zu veranschaulichen, als »kleine Leitsätze« oder als »große obiter dicta« kennzeichnen543. Noch Rolf Dietz soll obiter dicta mit »also falsch« übersetzt haben544. Das Aufkommen der neuen Orientierungssätze macht daher deutlich, wie sehr sich die Einstellungen zu Richterrecht und richterlichen Rechtsfortbildungen im Arbeitsrecht zwischenzeitlich gewandelt haben. dd. Kodifizierte Rechtsfortbildungen. Auch im Gesellschafts- und Arbeitsrecht sind zahlreiche Rechtsfortbildungen in Gesetzesform gegossen worden. Im Gesellschaftsrecht hat der Gesetzgeber eine Reihe höchstrichterlicher Rechtssätze, insbesondere über die Anforderungen an die Firmierung der GmbH & Co. KG und über die Behandlung eigenkapitalersetzender Gesellschafterdarlehen, zum Anlass für entsprechende Novellierungen des Handelsgesetzbuchs und des GmbH-Gesetzes genommen545; im Fall der Publikums-KG hat er im Ver540
FS Dieterich, 1999. Nicht zwangsläufig mit deren Voraussetzungen und Grenzen. 542 C. Fischer, RdA 2003, 114, 115 Fn. 8; zu leitsatzmodifizierenden Orientierungssätzen Fischer/Oestreich, SAE 2004, 151, 157. 543 Vgl. C. Fischer, RdA 2003, 114, 115 Fn. 8. 544 Das berichtet Richardi, NZA 1995, 8. 545 Vgl. §§ 19 Abs. 2 HGB; §§ 32a, 32b GmbHG, §§ 129a, 172a HGB; hierzu und zu weiteren gesetzlichen Regelungen, mit denen richterliche Rechtsfortbildungen übernommen wurden, vorstehend bb.(1). am Ende. 541
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trauen auf das neue Richterrecht entgegen den ursprünglichen Plänen ganz auf eine Normierung verzichtet546. Im Arbeitsrecht ist etwa das Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung zu nennen, das die durch richterliche Rechtsfortbildung geschaffene547 Unverfallbarkeit von Versorgungsanwartschaften »aufgenommen und verallgemeinert«548, freilich gewisse Fragen bewusst offen gelassen hat549. In den §§ 14 Abs. 1, 15 f. TzBfG finden sich Grundsätze des Befristungsrechts des Bundesarbeitsgerichts wieder. Auch bei der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 2001 wurden zahlreiche Figuren des Richterrechts wie der gemeinsame Betrieb mehrerer Unternehmen oder das Übergangs- und Restmandat des Betriebsrats in Gesetzesrecht überführt550. Man neigt dazu, Rechtsfortbildungen immer schon dann als gelungen anzusehen, wenn der Gesetzgeber sie später übernimmt. Zöllner hat im Hinblick auf die als »gutes« Richterrecht gelobte Entscheidung zur Unverfallbarkeit der Betriebsrenten zu Recht angemerkt, dass niemand genau wisse, »ob der Gesetzgeber wirklich eine so weitgehende Regelung getroffen hätte wie mit dem BetrAVG von 1974, wenn nicht die Rechtsprechung in so rigoroser Weise vorangegangen wäre«551. Damit ist das Problem der Prädestination des Gesetzgebers durch richterliche Rechtsfortbildungen angesprochen. In vielen Rechtsbereichen fällt es der Legislative schwer, Rechtsfortbildungen rückgängig zu machen. ee. Zivilprozessrecht. Schließlich gibt es auch in Gebieten mit einer vergleichsweise weniger dynamischen Rechtsprechung wie dem Zivilprozessrecht »eine große Zahl von Beispielen«552 für richterliche Rechtsfortbildungen. Die Durchbrechung der materiellen Rechtskraft gemäß § 826 BGB ist bereits erwähnt worden553. Es handelt sich um eine gerade aus prozessualer Sicht höchst problematische Rechtsfortbildung, weil sie außerhalb des Systems der Zivilprozessordnung erfolgte und eine mögliche Analogie zum Wiederaufnahmerecht abgelehnt wurde554. Die gewillkürte Prozessstandschaft, die Parteiänderung und die einseitige Erledigungserklärung sind praeter legem555 entwickelt worden. Zudem können die verschiedenen Fallgruppen genannt werden, in denen eine Um-
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So Ulmer, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986,
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BAG, 10.3.1972, AP Nr. 156 zu § 242 BGB Ruhegehalt; hierzu cc.(1)(g). So Förster/Rühmann, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 1, 2. Aufl. 2000, § 107 Rn. 2. 549 Hierzu Griebeling, in: Nutzinger (Hrsg.), Die Entstehung des Arbeitsrechts in Deutschland, 1998, S. 253, 256. 550 Vgl. §§ 1 Abs. 2, 21 a, 21 b BetrVG. 551 Zöllner, FS 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 1395, 1406. 552 Prütting, in: Wieczorek/Schütze, Zivilprozessordnung und Nebengesetze, Erster Band, 3. Aufl. 1994, Einl Rn. 123. 553 Oben a.jj. 554 Prütting, in: Wieczorek/Schütze, Zivilprozessordnung und Nebengesetze, Erster Band, 3. Aufl. 1994, Einl Rn. 123. 555 So Prütting, in: Wieczorek/Schütze, Zivilprozessordnung und Nebengesetze, Erster Band, 3. Aufl. 1994, Einl Rn. 123. 548
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kehr der Beweislast angenommen wird556. Auch hat der Bundesgerichtshof bekanntlich entgegen § 50 ZPO die aktive Parteifähigkeit der Gewerkschaften bejaht557. Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes führte zu § 565 Abs. 2 ZPO a. F. (jetzt § 563 Abs. 2 ZPO) aus, dass die Vorinstanz dann nicht mehr an die der Zurückweisung zugrunde liegende Rechtsauffassung gebunden sei, wenn das Revisionsgericht zwischenzeitlich selbst seine Rechtsprechung geändert habe558. Der Große Senat für Zivilsachen entschied, dass trotz der Verweisung in § 323 Abs. 4 ZPO die Präklusionsvorschriften der Absätze 2 und 3 keine Anwendung fänden und ließ bei Prozessvergleichen über künftig fällig werdende wiederkehrende Leistungen eine Abänderung auch für die Zeit vor Erhebung der Abänderungsklage zu559. Zahlreiche weitere Fortbildungen des Zivilprozessrechts hat Schumann zusammengefasst560. Aus jüngster Zeit verdient noch die von der bis dahin herrschenden Betrachtungsweise abweichende Entscheidung des Bundesgerichtshofs Erwähnung, in welcher die Änderung einer gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung als eine die Abänderungsklage begründende Veränderung im Sinne von § 323 Abs. 1 ZPO betrachtet wurde561.
6. Würdigung und Resümee Man könnte noch eine Vielzahl von Beispielen richterlicher Rechtsetzung aus unterschiedlichsten Teilrechtsgebieten des Zivilrechts anführen. Es ist indes schon jetzt deutlich geworden, welchen Stellenwert Rechtsfortbildungen im »gelebten Recht«562 tatsächlich haben. a. Ein Jahrhundert der Rechtsfortbildungen Die Rechtsfortbildung ist kein seltener Ausnahmefall, den man im Rechtsfindungsmodell wegen der alles dominierenden, einen fremden Imperativ vollziehenden Auslegung der Gesetze vernachlässigen darf. In der Zivilrechtsprechung des 20. Jahrhunderts ist die Fortbildung des Gesetzesrechts aus heutiger Perspektive etwas Normales. Die Zeitgenossen mögen das und auch die einzelnen Rechtsfortbildungen anders empfunden haben. Trotz feststellbarer Unterschiede beim Begründungsstil führt die Bestandsaufnahme für das Kaiserreich, die Weimarer Republik, das Dritte Reich, die Nachkriegszeit und die Bundesrepublik aber zu einem überein-
556 Vgl. zunächst nur Prütting, in: Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 2000, § 286 Rn. 121 ff.; P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, Anh § 286 Rn. 27 ff. 557 BGHZ 42, 210, 215 ff.; 50, 325, 328 f. 558 BGHZ 60 Anhang, 392, 397. 559 BGHZ 85, 64, 73 f.; in diesem Sinne bereits BGH, NJW 1963, 2076, 2078 f. 560 E. Schumann, in: Stein-Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 20. Aufl. 1984, Erster Band, Einleitung Rn. 93 f.; vgl. auch die Angaben bei Brehm, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 22. Aufl. 2003, vor § 1 Rn. 61 und 93. 561 BGHZ 153, 372, 383 f.; für Prozessvergleiche bereits BGHZ 148, 368, 377 f. 562 Stürner, JZ 1996, 741, 744.
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stimmenden Ergebnis: Das Gesetzesrecht ist im untersuchten Zeitraum seit jeher auf breiter Front fortgebildet worden. Auch wenn die einzelnen Judikate überwiegend bekannt sein dürften, verdeutlicht doch erst der auf die verschiedenen Epochen und Gebiete erstreckte Überblick, welche Dimensionen die zivilrechtliche Rechtsfortbildung im Untersuchungszeitraum erreicht und wie nachhaltig sie das Gesetzesrecht verändert hat563. »Gesetzesdämmerung«564 und »Rechtsfindung aus den sozialen Verhältnissen«565 stehen nicht – zumindest nicht nur – für richterliche Exzesse der »wilden« zwanziger Jahre. Die Schlagworte kennzeichnen vielmehr ein ganzes Jahrhundert der Auslegung und Fortbildung der Gesetze. Rechtsprechung bildet immer auch die Gesetze fort. Der gesetzesrechtsfortbildende Charakter der Rechtsprechung ist nicht auf spektakuläre Entscheidungen wie das Aufwertungsurteil566 oder das »Kieler Straßenbahn«-Urteil567 des Reichsgerichts beschränkt. An solchen »Sensationsentscheidungen« zeigt sich ein allgemeines Phänomen nur besonders deutlich. b. Verdrängungen Zeitweise ließ es sich verleugnen, indem man die offensichtlich rechtsfortbildenden Entscheidungen als Sonderfälle abtat. Spätestens seit der Umdeutung der Zivilrechtsordnung durch die Rechtsprechung im Nationalsozialismus und der Revision dieses Richterrechts in der Nachkriegszeit war die Steuerungs- und Breitenwirkung von Rechtsfortbildungen freilich deutlich erkennbar. Das noch frische Trauma der »Perversion der Rechtsordnung«568 scheint jedoch bei Vielen zunächst eine realistische Betrachtung verhindert zu haben. Die Rechtserneuerung im Nationalsozialismus wurde als einmaliger Betriebsunfall in der (Rechts-)Geschichte angesehen, und als in jeder Hinsicht unvergleichbar eingestuft. Man erklärte den Positivismus zum methodischen Sündenbock569, was den nationalsozialistischen Gesetzgeber zum allein Verantwortlichen machte und die Richter weitestgehend entlastete. Die zentrale Rolle der Rechtsprechung bei der nationalsozialistischen Zivilrechtserneuerung konnte so lange erfolgreich verdrängt werden, teilweise sogar bis in die achtziger Jahre und darüber hinaus. Nicht die zu einer Neuorientierung zwingenden schmerzhaften Erfahrungen der damals jüngsten Vergangenheit prägten die in den fünfziger Jahren einsetzende Diskussion über die richterliche Rechtsfindung und ein zeitgemäßes Richter563 Sehr frei nach P. Ulmer, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 389, 415, dort konkret zum Gesellschaftsrecht. 564 Goldschmidt, JW 1924, 245; hierzu 2.c.cc. 565 RGZ 106, 272, 275: »Man darf aber, um zu einer befriedigenden Lösung des Streites zu gelangen, überhaupt nicht von den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs ausgehen, muß vielmehr die sozialen Verhältnisse ins Auge fassen … «; hierzu 2.d.bb. 566 RGZ 107, 78. 567 RGZ 106, 272. 568 v. Hippel, Die Perversion von Rechtsordnungen, 1955; ders., Vorbedingungen einer Wiedergesundung heutigen Rechtsdenkens, 1947; Püschel, Der Niedergang des Rechts im Dritten Reich, 1947. 569 Hierzu Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 483.
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bild, sondern Viehwegs Anleihen in der weit zurückliegenden Philosophie- und Rechtsgeschichte und Essers Vergleich mit dem problemorientierten Denkstil anderer Rechtsordnungen570. Der Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus durch unbegrenzte Auslegung wurde erst in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre thematisiert571. Noch später setzte sich dann allmählich mit zunehmender zeitlicher Distanz die Erkenntnis durch, dass die fortbildende Anpassung überkommener Gesetze kein spezifisches Problem des Nationalsozialismus, sondern methodisch gesehen eine juristische Daueraufgabe darstellt. An diesem Punkt traf die methodische Analyse der Rolle der Rechtsprechung im Nationalsozialismus mit der weitgehend unabhängig von ihr geführten rechtstheoretischen Diskussion über richterliches Entscheiden zusammen. Die Fortbildung des Gesetzesrechts zählte aus beiden Perspektiven zu den Aufgaben des Richters. c. Die Rolle des Richterrechts Im bereits erwähnten Jahresbericht 1966 für den Bundesgerichtshof hieß es zu der im Schrifttum erhobenen Forderung, man möge zurückhaltender im Richterrecht sein und sich enger an das Gesetz halten572: »Darüber ist jedenfalls unter Juristen kein Zweifel möglich, daß in allen übersehbaren Zeiträumen das verwirklichte Recht eine Mischung von Gesetzesrecht und Richterrecht gewesen ist und daß dasjenige Recht, das sich in den Erkenntnissen der Gerichte verwirklicht hat, sich niemals in allem mit demjenigen Recht gedeckt hat, das der Gesetzgeber gesetzt hatte. Zur Erörterung steht immer nur das Maß, nicht das Ob eines Richterrechts«. Man mag darüber diskutieren, ob das rechtsfortbildende Richterrecht eine normative Rechtsquelle ist oder nicht573. Dass die vorstehend geschilderten Rechtsfortbildungen praktiziert, dass sie von Rechtsprechung, wissenschaftlichem Schrifttum und Kautelarjurisprudenz beachtet und bis auf weiteres als faktisch bindend betrachtet werden, ist unstreitig. Das »gelebte« oder »verwirklichte« Recht beruht, wie der Überblick über Rechtsfortbildungen des 20. Jahrhunderts gezeigt hat, zu einem erheblichen Teil nicht auf gesetzgeberischen Wertentscheidungen, sondern auf richterlichen Interessenbewertungen. d. Zur Klassifikation der angeführten Entscheidungen Zuzugeben ist, dass es zweifelhaft erscheint, ob jede einzelne der genannten Entscheidungen des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs eine Rechtsfortbildung im Sinne dieser Untersuchung darstellt.
570 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974; Esser, Grundsatz und Norm in der Fortbildung des Privatrechts, 1956; zum Ganzen bereits § 2 II. 571 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 1. Aufl. 1968. 572 NJW 1967, 816. 573 Einführend hierzu § 4 V.2.b. und 4.d.
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Dabei geht es nicht darum, dass die Gerichte ihre Fortbildungen des Gesetzesrechts gerne und häufig als Auslegungen ausgeben. Falsche Auszeichnungen ändern den etikettierten Gegenstand nicht. Ob man ein Urteil als Rechtsfortbildung einstuft, hängt jedoch entscheidend vom zugrunde gelegten Rechtsfortbildungsverständnis ab. Es kommt also darauf an, ob man unter Rechtsfortbildung alle neuen richterlichen Entscheidungen574 oder nur solche fasst, welche die Grenze der Auslegung überschreiten, wobei dann weiter zu unterscheiden ist, ob diese beim Wortlaut oder beim historischen Gesetzessinn gezogen wird575. Es ist bereits erwähnt worden, dass die traditionellen Fälle der teleologischen Reduktion, bei denen der Wortlaut einer Norm wegen ihres Zweckes eingeschränkt wird, auf der Grundlage der Gesetzessinntheorie keine Rechtsfortbildungen, sondern einschränkende Auslegungen sind576. Neben der Nichtanwendung des § 181 BGB bei rechtlich vorteilhaften Geschäften577 ist beispielsweise die Rechtsprechung des Reichsgerichts zu nennen, die den Schutz des guten Glaubens nach § 892 BGB auf solche Rechtgeschäfte beschränkte, die sog. Verkehrsgeschäfte waren578. Bejaht man demgegenüber eine Wortlautgrenze579, dann sind normzweckbedingte Veränderungen eines wie auch immer bestimmten Wortverständnisses Rechtsfortbildungen. Die gesetzgeberische Interessenbewertung kann indessen beliebig im Wege der Auslegung »korrigiert« werden, solange das Ergebnis mit dem »Wortsinn« noch vereinbar ist, während dies nach der Gesetzessinngrenze eine Rechtsfortbildung darstellt. Je nach Sichtweise sind also neben einer großen Zahl übereinstimmend eingestufter Rechtsfortbildungen jeweils andere Entscheidungen als rechtsfortbildende zu klassifizieren. Die Gesamtzahl der Rechtsfortbildungen verringert sich dadurch nicht nennenswert. Die Frage, ob jedes der angeführten Judikate eine Rechtsfortbildung darstellt, muss hier folglich nicht entschieden werden. e. Ein Akzeptanzproblem Trotz der vielen und umfangreichen juristischen Kommentare und der zahlreichen Entscheidungssammlungen scheint man sich seit jeher schwer getan zu haben, das Ausmaß der Fortbildungen des Gesetzesrechts zu akzeptieren. Das kommt selbst bei einem Autor zum Ausdruck, der sich eingehend mit Rechtsfortbildungen befasst und die fundamentalen Unterschiede zwischen dem Bürgerlichen Gesetzbuch der Entstehungszeit und seiner Zeit mit breit angelegten Sprachbildern veranschaulicht580. So fährt Diederichsen im Anschluss an den von 574 Ein solcher, vor allem auch im Prozessrecht zu findender Rechtsfortbildungsbegriff ist für die Zwecke der hier durchgeführten Untersuchung ungeeignet, s. zu ihm oben § 3 II.2.k. und IV.2. 575 Einführend hierzu § 3 II.1.a.bb. 576 § 3 II.2.m.aa.(5). 577 BGHZ 59, 236, 240 f.; a. A. noch RGZ 157, 24, 31 m.w.N. 578 RGZ 130, 390, 392; 126, 46, 48; 119, 126, 129 ff.; 117, 265; als richterliche Rechtsfortbildung klassifiziert etwa von Diederichsen, FS Wieacker, 1978, S. 325, 333. 579 Gegen diese fiktive Grenze § 3 II.1.a.bb. und § 4 V.4.f.aa. 580 Vgl. nochmals die bereits unter III. grob skizzierten Umschreibungen von Diederichsen, FS Wieacker, 1978, S. 325, 326.
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ihm konstatierten grundlegenden und weitreichenden Wandel unseres Bürgerlichen Rechts fast resignierend fort: »Und wir müssen uns eingestehen, daß an dieser Veränderung der Richter zu einem maßgeblichen Teil mitgewirkt hat«581. f. Verdrängungsinstrumente Im juristischen Tagesgeschäft kann der Umfang des richterrechtlichen Anteils am tatsächlich geltenden Recht erfolgreich verdrängt werden, weil die Präjudizien, die im Prozess der Rechtsfindung längst die Funktion der Gesetze übernommen haben, immer noch als Konkretisierungen der Gesetze, als deren Ausführungsakte begriffen werden. Existiert einmal kein Präjudiz, das sich ausdehnend bzw. entsprechend anwenden oder wenigstens zu einem »Rechtsgedanken« verallgemeinern lässt, dann kann fast immer auf Begriffsverwendungsbeispiele der sog. Dogmatik zurückgegriffen werden. Das richtig interpretierte Gesetz beantwortet nach Meinung vieler wissenschaftlich tätiger Juristen alle Fragen. Dass dabei häufig nur das vorher Eingelegte ausgelegt wird, tritt kaum ins Bewusstsein. Durch Begriffserläuterung kann dann das Gesetzesrecht nahezu beliebig fortgebildet werden. Die »Grenze des möglichen Wortsinns« ist keine Grenze, wenn man den historischen Kontext der Verwendung ausblendet582. Die kaum begrenzte Freiheit, die der »mögliche Wortsinn« der Rechtsfortbildung durch Begriffsveränderung lässt, wird selbst von Autoren betont, die offiziell an der (angeblichen) Wortlautgrenze festhalten583. g. Theoretische Anerkennung der Rechtsfortbildung Trotz dieser Verdrängungsstrategien ist die Fortbildung des Gesetzesrechts mittlerweile im Prinzip als Aufgabe der Rechtsprechung anerkannt. Bei konkreten Rechtsfragen wird der rechtsfortbildende Charakter einer Lösung zwar meist ignoriert oder tabuisiert. Die abstrakte Frage, ob Rechtsfortbildungen im Zivilrecht grundsätzlich zulässig sind, wird aber allgemein bejaht. Mit verfassungsrechtlichen Grundsatzentscheidungen vertraute Juristen verweisen insofern auf den »Soraya«-Beschluss584. Seit der grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsfortbildung im Zivilrecht ist die Mitverantwortung der Rechtsprechung für die Rechtsentwicklung »an sich« juristisches Allgemeingut585.
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Diederichsen, FS Wieacker, 1978, S. 325, 326. Nochmals § 3 II.1.a.bb. und § 4 V.4.f.aa. 583 Etwa von Diederichsen, FS Wieacker, 1978, S. 325, 337 und 338. 584 BVerfGE 34, 269 ff. 585 In diesem Sinne auch May, Die Revision, 2. Aufl. 1997, VI. Rn. 222 (S. 397), der unter Berufung auf die »Soraya«-Entscheidung konstatiert, die Berechtigung zur Schaffung von Richterrecht sei inzwischen in Rechtslehre und Rechtsprechung allgemein anerkannt. Nach Kissel setzte das Bundesverfassungsgericht mit der »Soraya«-Entscheidung einen »ersten Markstein« für die Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung, s. Kissel, Arbeitskampfrecht, 2002, § 21 Rn. 6 f. (S. 188 f.). 582
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§ 7 Paradigmenwechsel bei der Rechtsfindung
VI. Der »Soraya«-Beschluss als Epochenschnitt Der »Soraya«-Beschluss vom 14. Februar 1973 war, wenn man den Berichten von Zeitgenossen Glauben schenken darf, für das allgemeine juristische Rechtsfindungsverständnis in Deutschland von geradezu epochaler Bedeutung. Kübler sprach vom Abschluss eines exemplarischen Kapitels zeitgenössischer Rechtsentwicklung586. Der Beschluss demonstriere besonders eindrücklich, wie weit sich unsere Rechtsordnung auch und gerade in den Kernbereichen des Privatrechts von den Kodifikationsidealen des bürgerlichen Liberalismus fort- und auf ein legislatorisch ferngesteuertes case law system hinentwickelt habe587. Struck meinte, jetzt werde sich auch der konservative Jurist dem Thema Wertungen und Argumentation nicht mehr entziehen können; der »Soraya«-Entscheidung komme Belegwirkung zu, weil gerade die Rechtsprechung zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht für die mit der Rechtsfortbildung zusammenhängenden Fragen das immer und immer wieder diskutierte exemplum abgegeben habe588. Mit dem Abstand mehrerer Jahrzehnte wird man differenzieren müssen, wenn man die Tragweite und den Neuigkeitswert dieser Grundsatzentscheidung beurteilt.
1. Wechsel des Richterbildes? »Epochale Bedeutung« – das klingt zunächst so, als wenn das Selbstverständnis des deutschen Richters seit »ewigen« Zeiten unverändert gewesen wäre und Anfang der siebziger Jahre immer noch die überkommene traditionelle Vorstellung vom gesetzesvollziehenden juristischen Entscheiden geherrscht habe. a. Für und Wider aa. Dass diese in damaligen Reaktionen auf die »Soraya«-Entscheidung anklingende Einschätzung realistisch war, ist aus heutiger Sicht schwer vorstellbar. Dann hätten die Freirechtslehre, die Interessenjurisprudenz, die spektakuläre Aufwertungsentscheidung des Reichsgerichts589, die zahlreichen durch die Rechtsprechung (mit-)gestalteten Systemwechsel in Deutschland, insbesondere die richterlichen Erfahrungen im Dritten Reich und in der noch nicht so lange zurückliegenden Nachkriegszeit590, sowie die mit den Schlagworten Topik und Hermeneutik etikettierte jüngere Methodenlehre das traditionelle Eigenbild des 586 Kübler, JZ 1973, 667; s. zudem etwa Haverkate, ZRP 1973, 281; Rauscher, Richterliche Rechtsfortbildung im Arbeitsvertragsrecht, 1974, S. 200; Struck, Zur Theorie juristischer Argumentation, 1977, S. 16; vgl. auch Kriele, DRiZ 1984, 226, 229, der Passagen aus der »Soraya«Entscheidung zitiert, um das Scheitern der klassischen Methodenlehren zu belegen, sowie Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 824. 587 Kübler, JZ 1973, 667, 668. 588 Struck, Zur Theorie juristischer Argumentation, 1977, S. 16. 589 RGZ 107, 78 ff.; hierzu eingehend oben V.2.c. m.w.N. 590 Vgl. insoweit etwa Oppenheimer, KritV 1988, 57, 58 und 60 ff., der aus seiner Tätigkeit als Verwaltungsrichter in den frühen fünfziger Jahren berichtet. Die Aufgabe, das Recht fortzubilden, habe sich häufig gestellt. Einen Widerspruch zur Bindung an das Gesetz habe man dabei nicht empfunden.
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deutschen Richters nicht oder doch zumindest nicht nennenswert verändert. Auch ist zu berücksichtigen, dass sich bereits in der Reichsabgabenordnung von 1919 der »bahnbrechende Satz des § 4«591 fand, dass bei der Auslegung der Steuergesetze ihr Zweck, ihre wirtschaftliche Bedeutung und die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen sind. bb. Freilich zeigen bereits die bisherigen Untersuchungen, dass die Anerkennung des wertenden Charakters der Rechtsfindung nicht notwendig mit einem Bekenntnis zur eigenwertenden Rechtsfortbildung einhergeht. Die Beharrungstendenzen im Schrifttum sind schon dargestellt worden592: Die Illusion einer weitestgehend gesetzlich determinierten richterlichen Entscheidung lässt sich dadurch aufrechterhalten, dass man durch die fortbildende »Interpretation« gesetzlicher Begriffe fast alles als Auslegung des Gesetzes ausgeben kann, welche dann als Normalfall der Rechtsfindung erscheint. Des Weiteren sind rechtsfortbildende Auslegungen deshalb möglich, weil die Anwendung der Gesetze faktisch längst durch die Anwendung des Rechts ersetzt worden ist. Auch wurde bereits erwähnt, dass der Umfang des richterrechtlichen Anteils am tatsächlich geltenden Recht in der Rechtspraxis verdrängt werden kann, weil die Präjudizien im Prozess der Rechtsfindung weitgehend die Funktion der Gesetze übernommen haben593. cc. Dennoch sprechen für die Zivilgerichtsbarkeit schon die zahlreichen rechtsfortbildenden Entscheidungen des Reichgerichts und des Bundesgerichtshofs594 – auch in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens – gegen die Idee, Rechtsfortbildungen hätten bis zur «Soraya«-Entscheidung im (Selbst-)Bild des deutschen (Zivil-)Richters keinen Platz gehabt. dd. Andererseits lässt die Praxis der Revisionsgerichte nicht zwangsläufig Rückschlüsse auf die Sichtweisen der Richter in den Tatsacheninstanzen zu. So hat Heusinger, der vor seiner Tätigkeit als Präsident des Bundesgerichtshofs mehrere Jahrzehnte Zivilrichter an Land- und Oberlandesgerichten war, betont, die Jahre im Bundesgerichtshof hätten ihm gerade zu den Fragen der richterlichen Rechtsfindung und Rechtsfortbildung eine unvergleichliche Erweiterung und Vertiefung der Erfahrung geschenkt595. Zwar seien ihm die Schwierigkeiten 591
C. Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, S. 61. S. IV. 593 V.6.f. 594 Eingehend hierzu vorstehend V.; vgl. auch den immer noch lesenswerten kurzen Überblick bei v. Caemmerer, in: Ansprachen aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Bundesgerichtshofes am 3. Oktober 1975, S. 21, 23 ff., sowie Diederichsen, Die Flucht des Gesetzgebers aus der politischen Verantwortung im Zivilrecht, 1974, S. 27 ff., 41 ff.; s. ergänzend noch Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 146 ff.; detailliertere Darstellung bei Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 516 bis 532; vertiefende Behandlung ausgewählter Rechtsfortbildungen bei Boehmer, Grundlagen der Bürgerlichen Rechtsordnung II/2, 1952, S. 1 ff. 595 Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrungen, 1975, S. 3. 592
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richterlicher Rechtsfindung schon im Anfang seiner Tätigkeit als Instanzrichter nachhaltig bewusst geworden596; die Alltagssachen wären aber im Wesentlichen ohne weiteres mit der altbewährten Subsumtion zu bewältigen gewesen597. Erst die Mitwirkung an der richtungsweisenden oberstgerichtlichen Rechtsprechung habe besonders nachhaltig dazu genötigt, sich mit der Frage auseinander zu setzen, wie denn eigentlich der Richter den Weg finde, der so oft recht schmal zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, zwischen Treue zum Alten (Gesetzestreue) und Anpassung an Neues (Rechtsfortbildung) gesucht werden müsse598. Auch heute dürften sich die Instanzrichter eher selten mit grundlegenden Fragen der Rechtsfindung beschäftigen, und dann mehr aus persönlicher Neigung denn aus beruflichen Gründen. Das durchaus vorhandene Bewusstsein der nur beschränkten Aussagekraft der Gesetze muss nicht unbedingt zu einem Nachdenken über die Grenzen der Auslegung und zu einer Beschäftigung mit den grundsätzlichen Fragen der Rechtsfortbildung führen. Vielmehr herrscht bei den Instanzrichtern, die ihre Lösung überhaupt in normativen Vorgaben und nicht im jeweiligen Fall bzw. im eigenen Judiz suchen, ein ausgeprägter »Präjudizienkult«599. Konkrete Vorentscheidungen, insbesondere diejenigen der im Instanzenzug übergeordneten Spruchkörper, treten meist an die Stelle der allgemeinen und damit weniger aussagekräftigen Gesetze. Auch die von der jüngeren Methodenlehre aufgezeigten Lücken in der Gesetzesordnung werden in den Tatsacheninstanzen regelmäßig nicht durch eine (offene) Fortbildung der Gesetze, sondern durch die Anwendung und Ausdehnung obergerichtlicher Präjudizien und notfalls dadurch geschlossen, dass »herrschende« Schrifttumspositionen übernommen werden. Falls diese Vorgehensweise ausnahmsweise nicht möglich ist, kann noch ein fixes übergeordnetes (Verfassungs-)Prinzip die Rolle des »deus ex machina« übernehmen. Ob die Neuregelung des Rechtsmittelzulassungsrechts in der Zivilprozessreform 2002 das Interesse der Tatsacheninstanzen auf Grundfragen der Rechtsfortbildung lenken wird, wovon in der Gesetzesbegründung ausgegangen wurde600, bleibt abzuwarten, erscheint freilich eher unwahrscheinlich. Den zivilprozessualen Rechtsmittelzulassungsvorschriften liegt ein weiter Begriff von Rechtsfortbildung zugrunde, der auch die klassische Auslegung in noch nicht von der obergerichtlichen Rechtsprechung entschiedenen Rechtsfragen erfasst601. Entscheidend ist, ob die Rechtsfrage offen und ungeklärt ist. Ob sie durch Auslegung oder im Wege der Rechtsfortbildung beantwortet werden muss, spielt keine Rolle. Deshalb kann die Fortbildung des Rechts auch im Wege der Auslegung i.e.S. erfol596 Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrungen, 1975, S. 1 f., unter Hinweis auf Aufwertungs- und Kirchensachen. 597 Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrungen, 1975, S. 2. 598 Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrungen, 1975, S. 3. 599 Vgl. bereits V.6.f. 600 Vgl. BT-Drucks. 14/4722, S. 66, 93. 601 S. § 3 IV.2.
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gen. Dieser zivilprozessuale Fortbildungsbegriff zwingt also zu keiner Abgrenzung zwischen den beiden Formen der Rechtsfindung und zu keinem Umdenken in den Tatsacheninstanzen. Zudem ist die Vorschrift des § 511 Abs. 4 ZPO, die den Richter der ersten Instanz ursprünglich dazu nötigte, sich unabhängig von der Höhe des Streitwerts stets zu überlegen, ob die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hatte oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erforderte602, zwischenzeitlich geändert worden; das Gericht lässt die Berufung jetzt allenfalls noch dann zu, wenn die Partei durch das Urteil mit nicht mehr als sechshundert Euro beschwert ist603. Nur in sog. Bagatellsachen muss sich der erstinstanzliche Richter also noch Gedanken darüber machen, ob die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert. b. Bewertung Alles in allem erscheint es trotz der methodischen Erkenntnisfortschritte des 20. Jahrhunderts durchaus denkbar, dass zahlreiche Richter die Rechtsfortbildung, zumal die »schöpferische«, vor der »Soraya«-Entscheidung des Jahres 1973 als dem (Instanz-)Richter »eigentlich« nicht zustehende Aufgabe ansahen. Entsprechende Äußerungen finden sich schließlich sogar noch heute selbst bei ehemaligen Bundesrichtern604. Dass das Denken in zwingenden Ableitungszusammenhängen ein im Stillen gehegtes Idealbild der praktischen Jurisprudenz (gewesen) sein soll, ist bereits erwähnt worden605. Außerdem hätte eine vertiefende Beschäftigung mit zivilrechtlichen Rechtsfortbildungen in den fünfziger und sechziger Jahren fast unabwendbar dazu führen müssen, die tabuisierte zentrale Rolle der Rechtsprechung bei der nationalsozialistischen Zivilrechtserneuerung zu thematisieren606. Das Bild vom gesetzesvollziehenden Richter kann vor diesem Hintergrund als ein Instrument zum (Selbst-)Schutz des deutschen Juristen und als Korrelat der damaligen Positivismuskritik gedeutet werden, mit welcher dem nationalsozialistischen Gesetzgeber die alleinige Verantwortung für die Perversion der Rechtsordnung im Nationalsozialismus zugeschoben wurde. Dass nicht die eine Neuorientierung gebietende richterliche Umdeutung der Zivilrechtsordnung im Nationalsozialismus und die richterrechtliche Revision dieses Richterrechts in der Nachkriegszeit die Diskussion bestimmten, die in den fünfziger Jahren über die Rechtsfindung und ein zeitgemäßes richterliches Rollenverständnis einsetzte, sondern Viehwegs Rück-
602 Hierzu C. Fischer, NJW 2002, 1551, 1553; dagegen Jauernig, NJW 2003, 465, 467 f. mit dem verwegenen Versuch einer »nebeneinander bestehenden wortlautgetreuen und berichtigenden Auslegung« des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, obwohl es doch um den Abs. 4 dieser Vorschrift ging. 603 § 511 Abs. 4 ZPO in der seit dem 1.9.2004 geltenden Fassung. 604 D. Neumann, FS Dieterich, 1999, S. 415, 421, wo es zur Rechtsfortbildung und zum Schaffen gesetzesvertretenden Rechts heißt: »Auch wer gegen solche dem Richter eigentlich nicht zukommenden Aufgaben ist, muß zugeben …«. 605 S. § 2 V.2.a.bb. 606 Zu diesem Aspekt bereits V.6.b.
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griff auf die traditionelle Topik und Essers Vergleich mit dem problemorientierten Denkstil fremder Rechtsordnungen, wurde bereits festgestellt. Erst in den siebziger Jahren scheint man dann in größeren Teilen der deutschen Rechtswissenschaft und Rechtspraxis in der Lage bzw. bereit gewesen zu sein, die Steuerungs- und Breitenwirkung von Rechtsfortbildungen im Allgemeinen und während des NS-Staates im Besonderen in den Blick zu nehmen. Dass eine schöpferische, eigenwertende Rechtsfortbildung bis zur »Soraya«Entscheidung verbreitet abgelehnt wurde, lässt sich außerdem noch mit der häufig und seit langem beklagten Entfremdung zwischen Rechtstheorie und Rechtspraxis erklären, die zu einer gewissen Aversion gegen Methodenfragen und zu einem gelegentlich geradezu trotzig bekundeten Desinteresse an grundlegenden rechtstheoretischen Fragestellungen bei praktisch tätigen Juristen geführt hat607. Diese »Methodenverweigerung«, die zu einer Rechtsfortbildungsscheu führen kann, ist im methodischen Schrifttum der frühen siebziger Jahre immer wieder hervorgehoben worden608. c. Die Autorität Dann aber sprach im Februar 1973 das Bundesverfassungsgericht. Es billigte die Rechtsprechung der Zivilgerichte zum Geldersatz bei Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, welche aus Sicht der klassischen Methodenlehre contra legem erging609. Das Bundesverfassungsgericht sagte deutlich, dass die richterliche Tätigkeit sich nicht darauf beschränken könne, die Entscheidungen des Gesetzgebers zu erkennen und auf den Einzelfall anzuwenden610. Der Richter sei zur schöpferischen Fortbildung des Rechts berufen und befugt611 und dürfe das geschriebene Gesetz ergänzen und weiterführen612. Damit wurde methodischen Altvorstellungen, die jedenfalls in den fünfziger Jahren noch durchaus lebendig gewesen sein sollen613, eine klare Absage erteilt. Man kann daher von einem Wechsel des Richterbildes sprechen.
2. Kontinuitäten Die »Soraya«-Entscheidung mit dem in ihr abgelegten Bekenntnis zu schöpferischer Rechtsfindung ging manchen, insbesondere dogmatisch tätigen Juristen zu weit614. Anderen geht sie nicht weit genug.
607
S. hierzu bereits § 6 I.3. Vgl. etwa Adomeit, ZRP 1970, 176; Hattenhauer, Die Kritik des Zivilurteils, 1970, S. 10; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 159 (1. Aufl. 1967). 609 So Diederichsen, Die Flucht des Gesetzgebers aus der politischen Verantwortung im Zivilrecht, 1974, S. 13 f., unter Hinweis auf § 253 BGB a. F. 610 Vgl. BVerfGE 34, 269, 287 unter Hinweis darauf, dass die Rechtsordnung nicht lückenlos sei. 611 BVerfGE 34, 269, 287 f. 612 BVerfGE 34, 269, 291. 613 So Zöllner, AcP 188 (1988), 85, 88 Fn. 11. 614 Vgl. bereits oben IV. 608
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Der vom Bundesverfassungsgericht verwendete Begriff der »schöpferischen Rechtsfindung« vereine unvereinbare Gegensätze und verdecke den wesentlichen Kern der richterlichen Normsetzung; das Dilemma des Richters bestehe bei der Rechtsfortbildung gerade darin, dass er eine anwendbare gesetzliche Wertung nicht finden könne und deshalb selbst eine Norm setzen, also eine rechtspolitische Entscheidung treffen müsse615. Nun kann zwar durchaus etwas gefunden werden, was vorher nicht da war und sich erst beim Suchen ergibt, etwa Freunde, Kompromisse oder dasjenige, was in sog. Findungskommissionen erreicht werden soll616. Man spricht des Weiteren von Urteilsfindung, obwohl das Urteil vorher nicht existiert. Findung steht in der Sprache also auch für das (angestrebte) Ergebnis einer schöpferischen Suche. Richtig ist aber, dass die »Soraya«-Entscheidung einige Passagen enthält, die zumindest aus heutiger Sicht antiquiert wirken und auf ein überkommenes Richterbild hindeuten. So heißt es zur Rechtsprechung der Zivilgerichte, die bei schweren Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Ersatz in Geld auch für immaterielle Schäden zugesprochen hatten: »Der Bundesgerichtshof und die ihm folgenden Gerichte haben … keinen eigenen rechtspolitischen Willen zur Geltung gebracht, sondern lediglich Grundgedanken der von der Verfassung geprägten Rechtsordnung mit systemimmanenten Mitteln weiterentwickelt«617. Wie man das Gesetzesrecht durch Weiterentwicklung von Grundgedanken ohne eigenen rechtspolitischen Willen fortbilden kann, teilt das Bundesverfassungsgericht allerdings nicht mit. Hier scheint die verbreitete Vorstellung anzuklingen, dass die richterliche Entscheidung wenn nicht durch das Gesetz, so doch durch das Recht determiniert wird618; der Richter tritt als unpolitischer Anwender vorgegebener (Verfassungs-)Rechtsgrundsätze auf. Dass die Herstellung »praktischer Konkordanz« zwischen widerstreitenden (Verfassungs-)Rechtsprinzipien im bislang noch nicht beurteilten Einzelfall immer auch eine rechtspolitische Entscheidung ist, wird vernachlässigt. Der rechtsetzende Charakter des rechtsfortbildenden Entscheidens wird zudem eher verschleiert als verdeutlicht, wenn man von einem »Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen«619, spricht. Schließlich finden sich noch Formulierungen, die den Schluss zulassen, dass die Rechtsfortbildung in der »Soraya«-Entscheidung als seltener Sonder- oder Ausnahmefall der Rechtsfindung angesehen wird. So heißt es, dass »sich Gesetz und Recht zwar faktisch im allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken«620. »Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers«621. 615 616 617 618 619 620 621
Rüthers, JZ 2002, 365, 366. S. zu gegen den Begriff Rechtsfindung erhobenen Bedenken bereits § 5.II.2. BVerfGE 34, 269, 292. Zur Ersetzung der Gesetzesbindung des Richters durch eine »Rechtsbindung« bereits IV.2. BVerfGE 34, 269, 287. BVerfGE 34, 269, 286 f. BVerfGE 34, 269, 287.
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Zwar kann man spekulieren, ob die geschilderten Formulierungen wirklich einer Überzeugung der Verfassungsrichter entsprachen oder lediglich ein Zugeständnis an den damaligen juristischen Zeitgeist, der noch nicht so weit war, enthielten. In der Entscheidung finden sich daneben »fortschrittlichere«, weniger gesetzesfixierte Abschnitte622. Im Mittelpunkt steht freilich auch bei ihnen die Auslegung der Gesetze als Ausgangspunkt und Normalfall der Rechtsfindung. Eine »revolutionäre« Entscheidung war der »Soraya«-Beschluss daher nicht. Rechtsfindung ist nach ihm zunächst einmal und vornehmlich Auslegung der Gesetze und nicht Rechtsfortbildung. Das Bundesverfassungsgericht legte jedoch ein klares Bekenntnis zur schöpferischen Fortbildung des Rechts als einer legitimen Aufgabe des Richters ab. Schon das ließ die Entscheidung im Urteil der Zeitgenossen bahnbrechend erscheinen.
3. Abschluss einer Epoche Die »Soraya«-Entscheidung steht mehr für den Abschied vom Alten als für die Begrüßung des Neuen. Sie läutete nicht das Zeitalter freier Rechtsfortbildung ein, sondern die Totenglocken für die als bloße Gesetzesanwendung verstandene Rechtsfindung. Was danach kommen würde, blieb weitgehend offen. Hier wurde kein neues Paradigma verkündet, sondern lediglich endgültig Abschied von einem schon lange theoretisch widerlegten und praktisch überholten Paradigma genommen. Der »Soraya«-Beschluss bezeichnet das Ende einer Epoche, bildet den definitiven Abschluss einer Zeit, in welcher die Entscheidungsfindung noch als reine Gesetzesanwendung idealisiert wurde und werden konnte. Die Rechtswirklichkeit und methodische Stellungnahmen im Schrifttum ließen sich ignorieren. Äußerungen der Obergerichte623 konnten als auf deren Tätigkeitsfeld beschränkt betrachtet werden. Am Bundesverfassungsgericht kam jedoch kein (Instanz-)Richter und kein anderer Rechtsanwender mehr vorbei. Es hatte die schöpferische Rechtsfortbildung im Grundsatz als normale Aufgabe der Rechtsprechung bezeichnet. Jetzt war die »Gesetzesdämmerung«624 für jeden Juristen offensichtlich und nicht mehr zu verleugnen.
622
BVerfGE 34, 269, 288 f., zu 2. Außer den genannten Entscheidungen des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs zu einzelnen Rechtsfragen ist insbesondere noch BGHZ 3, 308, 315 zu erwähnen. 624 Goldschmidt, JW 1924, 245. 623
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§ 8 Paradigmenwechsel und Begründungspraxis Haverkate hat die Mitverantwortung der Richter für die Entwicklung des Rechts als den allgemeingültigen Kern der »Soraya«-Entscheidung bezeichnet und Konsequenzen für die Darstellung der richterlichen Wertung bei kontroversen Rechtsfragen gefordert1. Zu untersuchen ist, ob der (partielle) Paradigmenwechsel bei der Entscheidungsfindung die Begründungspraxis »revolutioniert« hat.
I. Rationale Argumentation und verdeckte Rechtsfortbildungen In der »Soraya«-Entscheidung ist ausdrücklich betont worden, dass die bewertende, auch willentliche Elemente beinhaltende rechtsfortbildende Entscheidung des Richters auf rationaler Argumentation beruhen müsse2. Es müsse einsichtig gemacht werden können, dass das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfülle. Damit ist die Frage angesprochen, wie die Entscheidungsgründe rechtsfortbildender Entscheidungen abzufassen sind. Der Bezug zum Thema »verdeckte Rechtsfortbildungen« ist offensichtlich. Bei ihnen wird eine eigene Wertentscheidung dem Gesetz untergeschoben. Die eingesetzten Topoi verschleiern, dass das Gesetz das zu beurteilende Rechtsproblem nicht in der vom Interpreten behaupteten Weise löst. Verdeckte Rechtsfortbildungen stellen daher keine »rationale Argumentation« im Sinne der »Soraya«Entscheidung dar.
II. Das Gebot offener Rechtsfortbildungen Vor dem Hintergrund der gerade zitierten Passagen der »Soraya«-Entscheidung ist die Hoffnung geäußert worden, die Gerichte würden nun in Urteilen offen argumentieren, also einen freieren und zugleich rationaleren Argumentationsstil zeigen, der die richterliche Rechtschöpfung nicht mehr in das graue Gewand bloßer Gesetzesauslegung zu verhüllen suche3. Nach der Erkenntnis des notwendigen wertenden Elements jeder Rechtsgewinnung könne es nur noch darum gehen, ob der Richter seine Wertungen offen legen oder sie hinter dem Gesetz verstecken und die Ableitungslogik als Fiktion aufrechterhalten solle4. Immer noch erweckten unsere 1 2 3
Haverkate, ZRP 1973, 281. BVerfGE 34, 269, 287. Haverkate, ZRP 1973, 281.
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§ 8 Paradigmenwechsel und Begründungspraxis
Urteile weithin den Eindruck, als habe sich die getroffene Entscheidung zwingend aus dem Gesetz ergeben; die Urteilsbegründung wisse in der Regel nichts mehr von den in der internen Beratung des Gerichts diskutierten Fragen5. Die demokratische Legitimität des Richterrechts hänge aber letztlich von der Transparenz des Rechtsgewinnungsprozesses ab; formaljuristische, verdeckte Argumentationen könnten den Eindruck entstehen lassen, dass mit dem Richterspruch Zwecke verfolgt und Interessen begünstigt würden, die eine Offenlegung scheuen müssen6. Der Wunsch nach einer offenen Argumentation, nach Urteilsbegründungen, welche die Fiktion einer allein aus dem Gesetz abgeleiteten Entscheidung aufgeben und das wertende Element der Urteilsfindung offen aussprechen7, hat sich – aufs Ganze gesehen – nicht erfüllt.
III. Zur heutigen Begründungspraxis 1. Allgemeine Veränderungen des Begründungsstils Zivilrechtliche Entscheidungen werden heute allerdings zum Teil anders begründet als vor drei Jahrzehnten. Selbst Instanzgerichte operieren mittlerweile in den in juristischen Zeitschriften veröffentlichten – insofern für sie atypischen – Entscheidungen »souverän« mit Grundrechten, dem sonstigen Verfassungsrecht und dem Europarecht oder betreiben eine ausgeprägte Prinzipienjurisprudenz8. Außerdem scheint die Bedeutung von Vorentscheidungen noch stärker gestiegen zu sein: Obwohl gesetzliche Normen aufgrund des zivilrechtlichen Anspruchsdenkens immer noch den Ausgangspunkt deutscher Zivilurteile bilden9, ist die Rolle der gesetzlichen Begriffe in den Begründungen (weiter) zunehmend von den Präjudizien übernommen worden, die deutend interpretiert werden10.
2. Offene Argumentation? a. Bejahende Einschätzungen Auch wird in der Literatur teilweise vertreten, Änderungen der Rechtsprechung der oberen Bundesgerichte würden heute ganz überwiegend mit Folgenerwägungen begründet, was als Beleg dafür angeführt wird, dass sich die geforderte Entwicklung von einer verdeckten zu einer offenen richterlichen Argumentation in ei-
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Haverkate, ZRP 1973, 281, 287. Haverkate, ZRP 1973, 281, 282. 6 Haverkate, ZRP 1973, 281, 287. 7 Haverkate, ZRP 1973, 281, 282. 8 Vgl. zum Stilwandel in richterlichen Entscheidungen in Deutschland Lashöfer, Zum Stilwandel in richterlichen Entscheidungen, 1992, S. 88 ff. 9 Hierzu § 4 V.3.a.bb., wo ausgeführt wurde, dass die sog. Anspruchsmethode den Rechtsanwender im Zivilrecht sicher zu Anspruchsgrundlagen und sonstigen Entscheidungsnormen führt, die im Gesetz geregelt, anerkannt oder doch zumindest vorausgesetzt sind. 10 Vgl. beispielsweise BGH, NJW-RR 1996, 1113; NJW 2002, 2232, 2233; NJW 2002, 3106 ff.; NJW 2005, 1192, 1193. 5
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nem erstaunlich weiten Ausmaß schon vollzogen habe11. Die von Kriele empfohlene Offenlegung der eigentlich bestimmenden Urteilsgründe werde, so heißt es, als Postulat der Begründungsehrlichkeit immer mehr von der Rechtsprechung rezipiert12. In einem gewissen Widerspruch zu dieser Bewertung steht es allerdings, dass derselbe Autor zu der seine Analyse stützenden Entscheidung anmerkt, das Bundesarbeitsgericht verdiene hier insofern besonderes Lob, weil es nicht versucht habe, die methodologischen Schwierigkeiten seines Vorgehens zu verdecken13. Wäre es allgemein üblich und selbstverständlich gewesen, die »eigentlich bestimmenden Urteilsgründe« offen zu legen, hätte dies keine besondere Auszeichnung verdient. b. Skeptische Äußerungen Andere teilen die vorgenannten Einschätzungen nicht. Sie meinen, der Gebrauch von Leerformeln und konsensfingierenden Werturteilen überwiege bei den Urteilsargumenten immer noch14. Struck ist der Ansicht, inhaltlich transparente, offen argumentierende und emphatische Urteile seien völlig vereinzelt und würden als gewissermaßen nicht standesgemäß gelten15. Lashöfer kommt bei ihren Untersuchungen zum Stilwandel juristischer Entscheidungen zu dem Ergebnis, tiefgreifende Veränderungen des Stils deutscher Entscheidungen seien im 20. Jahrhundert ausgeblieben; allerdings sei die stilistische Streubreite größer geworden16. Folgenbetrachtungen seien in der heutigen deutschen Rechtsprechungspraxis »möglich, wenn auch nicht häufig«17. Sog. außerrechtliche Erwägungen kämen in Entscheidungen der Zivilgerichte durchaus vor, würden die stets tragenden deduktiven Denkschritte aber nur ergänzen18. Der Bundesgerichtshof neige bei ihnen zu Vorsicht und Zurückhaltung19. c. Eine differenzierende Betrachtung Wie weit der Wandel des Entscheidungsbegründungsstils reicht, ist also umstritten. Man wird nach verschiedenen Teilrechtsgebieten, Entscheidungsgegenständen und Gerichtsinstanzen20 unterscheiden müssen. Zur Verdeutlichung: Amts11
U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 117. So Diederichsen, Die Flucht des Gesetzgebers aus der politischen Verantwortung im Zivilrecht, 1974, S. 44 Fn. 93, unter Hinweis auf zwei Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts, von denen eine vom Großen Senat stammt. 13 So Diederichsen, Die Flucht des Gesetzgebers aus der politischen Verantwortung im Zivilrecht, 1974, S. 44. 14 Esser, Juristisches Argumentieren im Wandel des Rechtsfindungskonzepts unseres Jahrhunderts, 1979, S. 30. 15 So Struck, in: Ballweg/Seibert (Hrsg.), Rhetorische Rechtstheorie, 1982, S. 367, 368. 16 Lashöfer, Zum Stilwandel juristischer Entscheidungen, 1992, S. 88. 17 Lashöfer, Zum Stilwandel juristischer Entscheidungen, 1992, S. 103. 18 Lashöfer, Zum Stilwandel juristischer Entscheidungen, 1992, S. 103. 19 Lashöfer, Zum Stilwandel juristischer Entscheidungen, 1992, S. 99. 20 Stilunterschiede zwischen den Entscheidungen der Obergerichte und der Instanzgerichte erwähnen etwa Daubenspeck, Die Sprache in den gerichtlichen Entscheidungen, 1893, S. 9; Hattenhauer, Die Kritik des Zivilurteils, 1970, S. 135 f.; Esser, Motivation und Begründung, 1978, S. 137, 158; Lashöfer, Zum Stilwandel in richterlichen Entscheidungen, 1992, S. 8. 12
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gerichtliche Urteile zu »alltäglichen« Streitfällen werden seit jeher anders abgefasst als Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts oder gar seines Großen Senats in offenen Grundsatzfragen. Die gesetzliche Regelungsdichte des jeweiligen Rechtsbereichs und die Stellung des entscheidenden Gerichts im Instanzenzug21 prägen den Begründungsstil und den Umgang mit fehlenden gesetzlichen Vorgaben. Was im Gesellschaftsrecht und Arbeitsrecht üblich ist, würde im Sachenrecht, dem vermeintlich letzten Hort der Begriffsjurisprudenz, auf vehementen Widerspruch stoßen. Was bei Bundesrichtern akzeptiert wird, würde bei Amtsrichtern als Selbstherrlichkeit und Aufstand gegen das Gesetz empfunden. Den Begründungsstil der Rechtsprechung gibt es nicht. aa. Im »typischen« Fall des nicht für die Fachzeitschriften bestimmten Instanzurteils gelten Essers Ausführungen aus dem Jahr 1976 auch heute noch: »In den unteren Instanzen wird meist mit einem Rekurs auf Zitate aus der »Vulgärliteratur« der kleinen oder Handkommentare und der dort zitierten höchstrichterlichen Entscheidungen vorlieb genommen«22. Dass solche Entscheidungen gelesen werden, dürfe man, so meint Esser, außerhalb von Rechtsmittelverfahren nicht erwarten. Der Rechtsfindungsvorgang beschränke sich praktisch auf Zitate der publizierten Stellen, Leitsätze und Stichworte. Man müsse im Auge behalten, dass wir den Stil unserer Judikatur publizistisch nur an den abgedruckten Entscheidungen der obersten Gerichte, also insbesondere des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs verfolgen können; dieser Stil unterscheide sich im Hinblick auf seine Adressaten oder das Auditorium eben wesentlich von dem, was in der Routine-Judikatur der unteren Instanzen gepflegt werde23. Der erste Teil dieses Satzes, der für Bewertungen aus jener Zeit nach wie vor zu berücksichtigen ist, trifft wegen der zwischenzeitlichen Expansion des juristischen Zeitschriftenmarktes und der Verbreitung von elektronischen Medien und Datenbanken heute so nicht mehr zu. Dass die genannten Stilunterschiede immer noch bestehen, zeigt sich bereits dann, wenn man in der NJW solche instanzgerichtlichen Entscheidungen betrachtet, die nicht von den Richtern für die Veröffentlichung konzipiert und dann eingeschickt24, sondern von Rechtsanwälten mitgeteilt worden sind. bb. Was nun die Begründungspraxis der Obergerichte und vor allem des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen betrifft, so sind seit Anfang der siebziger Jahre sicherlich Veränderungen feststellbar, etwa die zunehmende Bedeutung des Topos »Verbraucherschutz« und europarechtlicher Argumente. Auch ähneln »wichtige« Entscheidungen in umstrittenen Grundsatzfragen mittlerweile gelegentlich wissenschaftlichen Abhandlungen25 und durch Überschriften gegliederten Gut21
Hierzu Hattenhauer, Die Kritik des Zivilurteils, 1970, S. 66. Esser, Motivation und Begründung, 1978, S. 137, 154. 23 Esser, Motivation und Begründung, 1978, S. 137, 158. 24 Derartige Entscheidungen sind bereits selektiert und weisen regelmäßig eine umfangreichere rechtliche Begründung auf als der Durchschnitt aller Urteile, so Lashöfer, Zum Stilwandel in richterlichen Entscheidungen, 1992, S. 8. 25 Hierzu Lashöfer, Zum Stilwandel juristischer Entscheidungen, 1992, S. 110. 22
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achten26. Zudem fällt auf, dass Vorentscheidungen von den Revisionsgerichten heute des öfteren so eingehend wie Gesetze ausgelegt werden, ja teilweise sogar gründlicher als diese27. Alles in allem unterscheiden sich die aktuellen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in ihrer Art der Begründung indes nicht grundlegend von denjenigen aus der Zeit vor der »Soraya«-Entscheidung. Die Abweichungen zwischen letzteren und den Entscheidungen des Reichsgerichts28 sind viel deutlicher29. cc. Entscheidend für die hier interessierende Fragestellung ist: Die für eine rationale Argumentation geforderte Unterscheidung von Auslegung und Rechtsfortbildung scheinen die Veränderungen des Begründungsstils jedenfalls insgesamt nicht sonderlich begünstigt zu haben.
3. Verdeckte Rechtsfortbildungen heute Zwar gibt es mittlerweile mehr (ober-)gerichtliche Entscheidungen mit erkennbar rechtsfortbildendem Charakter als früher. Das Wort »Rechtsfortbildung« wird in ihnen aber immer noch tunlichst vermieden30. Selbst die Tatsache, dass das Gesetz bestimmte Rechtsfragen nicht beantwortet, wird selten offen bekannt. Ausnahmen gelten für ganz neue Vorschriften sowie für »große«, spektakuläre Rechtsfortbildungen der Obergerichte im Anschluss an eine entsprechende literarische Diskussion31. Ansonsten dehnen die Richter lieber ein Präjudiz auf eine bislang nicht erfasste Konstellation aus, um den Schein von Auslegungskontinuität zu wahren. Der verbreitete Präjudizienkult bestimmt den Begründungsstil. Konsequent und isoliert betrieben macht er die Unterscheidung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung (scheinbar) überflüssig. Die Frage nach der Fortbildung des Gesetzesrechts kann ausgeblendet werden, wenn man allein das Präjudiz in den Blick nimmt und den konkret zu beurteilenden Sachverhalt 26 Aus der instanzgerichtlichen Rechtsprechung etwa OLG Düsseldorf, NJW 2002, 971, 972 f.; s. auch Lashöfer, Zum Stilwandel juristischer Entscheidungen, 1992, S. 91, mit Beispielen aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. 27 Vgl. etwa BGH, NJW-RR 1996, 1113; NJW 2002, 2232, 2233; NJW 2002, 3106 ff.; NJW 2005, 1192, 1193. 28 Besonders klar wird das im Vergleich mit den frühen zivilrechtlichen Urteilen des Reichsgerichts, vgl. zu deren Stil und Umfang Mertens, AcP 174 (1974), 333, 337 f. 29 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Anekdote aus der Anfangszeit des Bundesarbeitsgerichts von D. Neumann, FS Dieterich, 1999, S. 415, 417: Der frühere Reichsgerichtsrat und spätere Bundesrichter Denecke vertrat vehement die Auffassung, ein Bundesgericht zitiere nur sich selbst und mache kurze Urteile. Demgegenüber meinte der damalige Präsident und Universitätsprofessor Nipperdey, man könne doch die Auffassungen der lieben Kollegen Professoren nicht unerwähnt lassen. Der Präsident setzte sich durch. Wegen des veränderten Begründungsstils soll der Pensenschlüssel pro Monat und Richter von zehn Sachen beim Reichsarbeitsgericht auf drei bis vier beim Bundesarbeitsgericht gesunken sein. 30 So auch Berkemann, KritV 1988, 29, 32; vgl. hierzu bereits § 3 III.1. – Das Bundesarbeitsgericht nimmt insoweit eine gewisse Sonderstellung ein, vgl. im Einzelnen die Nachweise unter § 7 V.5.f.cc. 31 S. beispielsweise BGHZ 83, 122, 136 ff. (»Holzmüller«); aus jüngerer Zeit etwa die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Rechtsfähigkeit der (Außen-)GBR vom 29.1.2001, BGHZ 146, 341, 343 ff. = NJW 2001, 1056, zu A.I.1. und 2. der Gründe.
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nicht am Gesetz, sondern an eben diesem Präjudiz misst. Dabei werden gelegentlich gewagte Parallelen gezogen und Entscheidungen produziert, die weder mit dem Gesetz noch mit der Vorentscheidung nennenswerte Gemeinsamkeiten haben32. Auch heute werden in zahlreichen richterlichen Entscheidungen und in wissenschaftlichen Entscheidungsvorschlägen33 also das Gesetzesrecht und auch das Vertragsrecht fortgebildet, ohne dass dies offen gelegt wird.
4. Abweichende Bewertungen Im Schrifttum wird das manchmal anders gesehen34. Vor kurzem hat sich Vogenauer recht eingehend mit richterlichen Rechtsfortbildungen in Deutschland befasst. Seine Einschätzung, Rechtsfortbildungen würden nicht immer offen als solche bezeichnet35, erscheint – vorsichtig ausgedrückt – stark untertrieben. Übertrieben ist demgegenüber die Bewertung, in Gerichtsentscheidungen sei häufig von Rechtsfortbildung oder Fortbildung des Rechts die Rede36. Sie wird auf Fremdanalysen der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, drei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, eine des Bundesarbeitsgerichts, zwei Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivil- und eine in Strafsachen sowie auf ein Gutachten des Bundesgerichtshofs für das Bundesverfassungsgericht gestützt. Diese ausschließlich bundesgerichtlichen Judikate bieten keinen repräsentativen Querschnitt der deutschen Gerichtsbarkeit und lassen schon deshalb keinen Schluss auf »den Sprachgebrauch der Gerichte« zu. Im Rahmen dieser Untersuchung interessiert allein die zivilrechtliche Rechtsprechung. Den Zivilrichtern am Bundesgerichtshof wird bekanntlich ein – gemessen an der strafrechtlichen und finanzrechtlichen höchstrichterlichen Rechtsprechung – »entspannteres« Verhältnis zur Gesetzesbindung nachgesagt. Dennoch erscheint die Ansicht Vogenauers, es sei häufig von Rechtsfortbildungen die Rede, selbst für die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen deutlich überzogen. Bei »häufig« handelt es sich um einen ausgesprochen relativen Begriff, der insbesondere dann breite Verwendungsmöglichkeiten eröffnet, wenn kein Vergleichsmaßstab angegeben wird. Für die gebotene nähere Analyse bietet sich die amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen an, in welche die grundlegenden, für die Fortentwicklung und Fortbildung des Rechts besonders bedeutsamen Judikate aufgenommen werden. Zwar 32 Vgl. insoweit Brehm, FS Schumann, 2001, S. 57, 68, mit einem anschaulichen Beispiel und einem Plädoyer gegen den verbreiteten Leitsatzpositivismus. 33 Entgegen den Ausführungen von Larenz, FS Nikisch, 1958, S. 275, 280 finden sich Scheinbegründungen nicht nur in der Rechtsprechung. 34 Vgl. bereits III.2.a.; s. ergänzend noch Lashöfer, Zum Stilwandel juristischer Entscheidungen, 1992, S. 107, 119 ff., wo auf die Bedeutung von Rechtsfortbildungen für die Veränderungen des Begründungsstils deutscher Richter hingewiesen wird. Diese Veränderungen werden indes insgesamt als nicht tiefgreifend eingestuft, s. a.a.O., S. 88. 35 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 144; anders dann in der Zusammenfassung auf S. 1280, wo es ohne Nachweise überraschenderweise heißt, die deutschen Gericht würden häufig behaupten, eine Vorschrift zu interpretieren, wenn sie tatsächlich das Gesetzesrecht fortbilden. 36 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 144.
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ist es denkbar, dass diese ausgewählten Entscheidungen nicht repräsentativ für alle zivilrechtlichen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und den Sprachgebrauch der höchsten Zivilrichter sind. Gerade wegen ihres besonderen Stellenwerts, der durch die Aufnahme in die amtliche Sammlung dokumentiert wird, kann bei ihnen aber am ehesten mit der Verwendung des Begriffs Rechtsfortbildung gerechnet werden.
5. »Rechtsfortbildung« in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Dass der Ausdruck Rechtsfortbildung in den Registerbänden von BGHZ 1 bis 150 kaum auftaucht und nur auf insgesamt fünf37 bzw. sechs38 Entscheidungen hinweist, ist bereits erwähnt worden39. Auch in den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen, die in der amtlichen Sammlung veröffentlicht worden sind, findet sich der Begriff – gemessen an deren Gesamtzahl – selten. Nachweise für diese Bewertung sind schwer zu erbringen, weil eine hierauf bezogene Arbeit zum Sprachgebrauch deutscher Bundesrichter fehlt. Außer allgemeinen Beiträgen zum Begründungsstil deutscher (Bundes-)Gerichte existiert lediglich eine Untersuchung zu höchstrichterlichen Entscheidungsbegründungen und Methoden im Zivilrecht, die indes allein die einzelnen Auslegungskriterien anhand einiger ausgewählter Entscheidungen des Bundesgerichtshofs behandelt40. Wie der Bundesgerichtshof den Begriff »Rechtsfortbildung« in den Gründen zivilrechtlicher Entscheidungen im Einzelnen verwendet, ist bislang weder allgemein noch für die in die amtliche Sammlung aufgenommenen Judikate untersucht worden. a. Das Vorkommen des Begriffs »Rechtsfortbildung« Der Verfasser der gerade genannten Methodenuntersuchung betonte zu Anfang der neunziger Jahre, es sei auch dann, wenn man sich auf die amtliche Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen beschränke, (faktisch) unmöglich, alle in ihr enthaltenen Entscheidungen auf einschlägige Äußerungen hin zu überprüfen41. Das ist heute anders. Die erweiterte Suche in den ersten 154 Bänden von BGHZ – Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen auf CD-ROM, Grundwerk, 2004 – weist insgesamt 140 Treffer für »Rechtsfortbildung« auf. Zum Vergleich: Der Suchbegriff »Auslegung« ergibt 5106 Treffer. Auch die Suche nach anderen, willkürlich 37
Systematisches Register. Stichwortregister. 39 S. § 3 III.1. 40 W. Seiler, Höchstrichterliche Entscheidungsbegründungen und Methode im Zivilrecht, 1992, S. 27 ff., 169 ff. (zu den Auslegungskriterien), S. 55 ff., insb. S. 60 (zur Auswahl der Entscheidungen). 41 W. Seiler, Höchstrichterliche Entscheidungsbegründungen und Methode im Zivilrecht, 1992, S. 56. Die von ihm ausgewerteten Entscheidungen stammten aus den ersten 98 Bänden, vgl. a.a.O., S. 224 ff. 38
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gewählten Termini führt zu mehr Nachweisen als »Rechtsfortbildung«. So finden sich beispielsweise für »Anfechtung« 1712 Nennungen, für »Testament« 793, für »Erbvertrag« 363 und für »Vermächtnis« 208 Treffer. Einzelne Entscheidungen, in denen der gesuchte Begriff auf verschiedenen Seiten steht, werden auf der Trefferliste mehrmals ausgewiesen42. Bereinigt man die 140 Treffer für »Rechtsfortbildung« um Mehrfachzählungen, so ergibt sich, dass 105 der in den ersten 154 Bänden von BGHZ veröffentlichten Entscheidungen den Begriff Rechtsfortbildung enthalten43. Eine dieser Entscheidungen stammt vom Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes44. Mithin gibt es in den Bänden 1 bis 154 der amtlichen zivilrechtlichen Sammlung insgesamt 104 Entscheidungen des Bundesgerichtshofs, in denen sich der Ausdruck Rechtsfortbildung findet. b. Die zeitliche Verteilung Auffällig ist zunächst, wie unterschiedlich diese Entscheidungen auf die einzelnen Zeiträume seit der Gründung des Bundesgerichtshofs im Jahre 1950 verteilt sind. Die Bände 1 bis 50 enthalten insgesamt 14 Entscheidungen45, welche das Wort Rechtsfortbildung aufweisen, während 31 Entscheidungen46 auf die Bände
42 Für »Rechtsfortbildung« sind insbesondere zu nennen BGHZ 108, 305 (sechs Treffer), BGHZ 57, 63 (fünf Treffer) und mit jeweils vier Treffern BGHZ 50, 325; 116, 319; 154, 205. 43 S. BGHZ 2, 396, 398 und 400; 4, 153, 158; 7, 62, 63; 9, 357, 358; 11, 66, 74; 19, 185, 194; 25, 231, 235; 29, 280, 283 und 285; 34, 99, 103; 38, 270, 279; 44, 346, 354; 46, 60, 64; 50, 56, 61; 50, 325, 334; 57, 63, 69 f.; 57, 245, 248; 59, 286, 292; 60, 392, 398; 64, 101, 107; 65, 311, 316; 65, 325, 328; 66, 51, 57; 67, 138, 148 und 151; 68, 225, 230 und 233; 68, 331, 335; 72, 85, 88 ff.; 73, 315, 316; 74, 20, 23; 80, 153, 159; 83, 122, 139; 84, 383, 386 f.; 85, 64, 67 f. und 74; 87, 286, 295; 88, 102, 106; 88, 191, 194; 89, 33, 40; 90, 381, 385; 92, 62, 68 f.; 92, 280, 290; 93, 383, 386 f.; 95, 76, 79 f.; 98, 196, 205; 98, 382, 387; 99, 358, 362; 100, 19, 23; 100, 157, 163; 101, 18, 23; 102, 95, 100; 102, 163, 165; 102, 350, 356; 103, 160, 163; 103, 338, 348; 104, 197, 203; 105, 222, 229; 105, 346, 352; 106, 54, 64; 106, 113, 118; 108, 179, 186; 108, 305, 309 ff.; 109, 15, 19; 109, 55, 59; 109, 368, 377; 112, 9, 23 ff.; 113, 48, 51; 114, 161, 164; 115, 157, 159 f.; 115, 162, 168; 116, 136, 147; 116, 233, 239 ff.; 116, 319, 325 ff.; 117, 70, 82; 121, 116, 122; 122, 23, 26 f.; 123, 37, 43; 123, 394, 396 f.; 124, 1, 8; 126, 181, 190; 127, 168, 174; 127, 320, 323; 132, 278, 289 f.; 133, 168, 172; 134, 116, 125; 134, 392, 400; 135, 116, 119; 135, 292, 296; 136, 182, 186; 138, 55, 61; 138, 224, 227; 138, 321, 329; 140, 223, 234; 141, 214, 220; 142, 332, 335; 143, 314, 318 f.; 143, 332, 337 f.; 144, 78, 84; 146, 94, 96; 149, 165, 173 f.; 149, 337, 345; 151, 42, 44; 151, 221, 225; 152, 181, 185; 153, 254, 257; 154, 200, 202; 154, 205, 221 ff.; 154, 336, 341. 44 BGHZ 60, 392, 398 (»Selbstbindung des Revisionsgerichts«). Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes bezeichnet dort das Aufgeben einer höchstrichterlichen Rechtsprechung entsprechend einem prozessualen Sprachgebrauch (hierzu § 3.II.2.k. und l. sowie § 3.IV.2.) am Rande als Rechtsfortbildung. Die abstrakten Ausführungen beziehen sich auf keine konkrete Rechtsprechungsänderung, sondern sind allgemeiner Natur. 45 BGHZ 2, 396, 398 und 400; 4, 153, 158; 7, 62, 63; 9, 357, 358; 11, 66, 74; 19, 185, 194; 25, 231, 235; 29, 280, 283 und 285; 34, 99, 103; 38, 270, 279; 44, 346, 354; 46, 60, 64; 50, 56, 61; 50, 325, 334. 46 BGHZ 57, 63, 69 f.; 57, 245, 248; 59, 286, 292; 64, 101, 107; 65, 311, 316; 65, 325, 328; 66, 51, 57; 67, 138, 148 und 151; 68, 225, 230 und 233; 68, 331, 335; 72, 85, 88 ff.; 73, 315, 316; 74, 20, 23; 80, 153, 159; 83, 122, 139; 84, 383, 386 f.; 85, 64, 67 f. und 74; 87, 286, 295; 88, 102, 106; 88, 191, 194; 89, 33, 40; 90, 381, 385; 92, 62, 68 f.; 92, 280, 290; 93, 383, 386 f.; 95, 76, 79 f.; 98, 196, 205; 98, 382, 387; 99, 358, 362; 100, 19, 23; 100, 157, 163.
Mohr-Siebeck, Fr. Trispel »Fischer:Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht«
III. Zur heutigen Begründungspraxis
229
51 bis 100 und 52 Entscheidungen47 auf die Bände 101 bis 150 entfallen. In den Jahren 1950 bis 1970 sind es 1448 und in der Zeit von 1971 bis 1990 insgesamt 49 Entscheidungen49. Auf den ersten Blick scheinen diese Zahlen für eine nur auf bescheidenem Niveau bestehende, aber immerhin kontinuierlich zunehmende Neigung des Bundesgerichtshofs zu sprechen, den Begriff Rechtsfortbildung zu verwenden. Dieser Eindruck wird aber relativiert, wenn man nach Jahrzehnten unterteilt. Auf die Zeit von der Gründung des Bundesgerichtshofs bis zum Jahr 1960 einschließlich entfallen dann 950, auf die Jahre von 1961 bis 1970 nur 551, auf 1971 bis 1980 ganze 1352, auf 1981 bis 1990 insgesamt 3653 und auf 1991 bis 2000 noch 32 Entscheidungen54. c. Der Vergleichsmaßstab Um einen aussagekräftigen Vergleichsmaßstab zu erhalten, ist die Gesamtzahl der in den Bänden 1 bis 154 veröffentlichten Entscheidungen zu ermitteln. Das Zählen wird dadurch erleichtert, dass die Entscheidungen in den einzelnen Bänden nummeriert sind. Erschwert wird die exakte Bestandsaufnahme zum Sprach-
47 BGHZ 101, 18, 23; 102, 95, 100; 102, 163, 165; 102, 350, 356; 103, 160, 163; 103, 338, 348; 104, 197, 203; 105, 222, 229; 105, 346, 352; 106, 54, 64; 106, 113, 118; 108, 179, 186; 108, 305, 309 ff.; 109, 15, 19; 109, 55, 59; 109, 368, 377; 112, 9, 23 ff.; 113, 48, 51; 114, 161, 164; 115, 157, 159 f.; 115, 162, 168; 116, 136, 147; 116, 233, 239 ff.; 116, 319, 325 ff.; 117, 70, 82; 121, 116, 122; 122, 23, 26 f.; 123, 37, 43; 123, 394, 396 f.; 124, 1, 8; 126, 181, 190; 127, 168, 174; 127, 320, 323; 132, 278, 289 f.; 133, 168, 172; 134, 116, 125; 134, 392, 400; 135, 116, 119; 135, 292, 296; 136, 182, 186; 138, 55, 61; 138, 224, 227; 138, 321, 329; 140, 223, 234; 141, 214, 220; 142, 332, 335; 143, 314, 318 f.; 143, 332, 337 f.; 144, 78, 84; 146, 94, 96; 149, 165, 173 f.; 149, 337, 345. 48 BGHZ 2, 396, 398 und 400; 4, 153, 158; 7, 62, 63; 9, 357, 358; 11, 66, 74; 19, 185, 194; 25, 231, 235; 29, 280, 283 und 285; 34, 99, 103; 38, 270, 279; 44, 346, 354; 46, 60, 64; 50, 56, 61; 50, 325, 334. 49 BGHZ 57, 63, 69 f.; 57, 245, 248; 59, 286, 292; 64, 101, 107; 65, 311, 316; 65, 325, 328; 66, 51, 57; 67, 138, 148 und 151; 68, 225, 230 und 233; 68, 331, 335; 72, 85, 88 ff.; 73, 315, 316; 74, 20, 23; 80, 153, 159; 83, 122, 139; 84, 383, 386 f.; 85, 64, 67 f. und 74; 87, 286, 295; 88, 102, 106; 88, 191, 194; 89, 33, 40; 90, 381, 385; 92, 62, 68 f.; 92, 280, 290; 93, 383, 386 f.; 95, 76, 79 f.; 98, 196, 205; 98, 382, 387; 99, 358, 362; 100, 19, 23; 100, 157, 163; 101, 18, 23; 102, 95, 100; 102, 163, 165; 102, 350, 356; 103, 160, 163; 103, 338, 348; 104, 197, 203; 105, 222, 229; 105, 346, 352; 106, 54, 64; 106, 113, 118; 108, 179, 186; 108, 305, 309 ff.; 109, 15, 19; 109, 55, 59; 109, 368, 377; 112, 9, 23 ff.; 113, 48, 51. 50 BGHZ 2, 396, 398 und 400; 4, 153, 158; 7, 62, 63; 9, 357, 358; 11, 66, 74; 19, 185, 194; 25, 231, 235; 29, 280, 283 und 285; 34, 99, 103. 51 BGHZ 38, 270, 279; 44, 346, 354; 46, 60, 64; 50, 56, 61; 50, 325, 334. 52 BGHZ 57, 63, 69 f.; 57, 245, 248; 59, 286, 292; 64, 101, 107; 65, 311, 316; 65, 325, 328; 66, 51, 57; 67, 138, 148 und 151; 68, 225, 230 und 233; 68, 331, 335; 72, 85, 88 ff.; 73, 315, 316; 74, 20, 23. 53 BGHZ 80, 153, 159; 83, 122, 139; 84, 383, 386 f.; 85, 64, 67 f. und 74; 87, 286, 295; 88, 102, 106; 88, 191, 194; 89, 33, 40; 90, 381, 385; 92, 62, 68 f.; 92, 280, 290; 93, 383, 386 f.; 95, 76, 79 f.; 98, 196, 205; 98, 382, 387; 99, 358, 362; 100, 19, 23; 100, 157, 163; 101, 18, 23; 102, 95, 100; 102, 163, 165; 102, 350, 356; 103, 160, 163; 103, 338, 348; 104, 197, 203; 105, 222, 229; 105, 346, 352; 106, 54, 64; 106, 113, 118; 108, 179, 186; 108, 305, 309 ff.; 109, 15, 19; 109, 55, 59; 109, 368, 377; 112, 9, 23 ff.; 113, 48, 51. 54 BGHZ 114, 161, 164; 115, 157, 159 f.; 115, 162, 168; 116, 136, 147; 116, 233, 239 ff.; 116, 319, 325 ff.; 117, 70, 82; 121, 116, 122; 122, 23, 26 f.; 123, 37, 43; 123, 394, 396 f.; 124, 1, 8; 126, 181, 190; 127, 168, 174; 127, 320, 323; 132, 278, 289 f.; 133, 168, 172; 134, 116, 125; 134, 392, 400; 135, 116, 119; 135, 292, 296; 136, 182, 186; 138, 55, 61; 138, 224, 227; 138, 321, 329; 140, 223, 234; 141, 214, 220; 142, 332, 335; 143, 314, 318 f.; 143, 332, 337 f.; 144, 78, 84; 146, 94, 96.
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§ 8 Paradigmenwechsel und Begründungspraxis
gebrauch der höchsten Zivilrichter dadurch, dass die gelegentlich in BGHZ abgedruckten Entscheidungen des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes nach Band 60 nicht mehr gesondert im Anhang, sondern zwischen den zivilrechtlichen Entscheidungen der Einzelsenate und des Großen Senats für Zivilsachen wiedergegeben werden. Entsprechendes gilt für die Beschlüsse der Vereinigten Großen Senate. In den ersten 154 Bänden sind insgesamt 7825 Entscheidungen und fünf ausführliche gutachtliche Stellungnahmen des Ersten Zivilsenats des Bundesgerichtshofs für das Bundesverfassungsgericht55 aus den Jahren 1952 und 1953 enthalten. Diese Stellungnahmen sind, wie im Anhang zu BGHZ 11, 303 besonders betont wird, keine Entscheidungen des Bundesgerichtshofes im Sinne der Gesetze. Das spricht freilich nicht dagegen, sie in einer Untersuchung über den Sprachgebrauch des Bundesgerichthofs in Zivilsachen mitzuzählen. Daher ist zunächst von 7830 Entscheidungen auszugehen. Von diesen 7830 Entscheidungen stammen, soweit ersichtlich, 14 vom Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes56 und drei von den Vereinigten Großen Senaten57. Die Entscheidungen des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes lassen keine Rückschlüsse auf den Sprachgebrauch des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen zu und sind daher abzuziehen. Auch die Beschlüsse der Vereinigten Großen Senate des Bundesgerichtshofs, bei denen es sich um einen Spruchkörper handelt, der sich aus dem Großen Senat für Zivilsachen und dem Großen Senat für Strafsachen zusammensetzt58, werden nicht mitgezählt, um dem möglichen Einwand zu begegnen, es handle sich um kein Zivilgericht. Damit bleiben 7813 Entscheidungen übrig. Von diesen 7813 zu berücksichtigenden Entscheidungen aus den Bänden 1 bis 154 der Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen enthalten 104 den Begriff Rechtsfortbildung. Das entspricht 1,33 Prozent. d. Eine erste Bewertung Die genannten Zahlen lassen den Schluss zu, dass der Bundesgerichtshof den Begriff Rechtsfortbildung in seinen zivilrechtlichen Entscheidungen – gemessen an deren Gesamtzahl oder auch am Vorkommen des Wortes Auslegung – nur sehr selten verwendet. Eine nach Jahrzehnten trennende Langzeitbetrachtung zeigt, dass der Begriff ab den achtziger Jahren etwa dreimal häufiger als in den fünfziger Jahren und sechs- bis siebenmal häufiger als in den sechziger Jahren benutzt wurde. Hier bestehen durchaus Parallelen zur endgültigen Durchsetzung der Bezeichnung Rechtsfortbildung im dogmatischen Schrifttum Ende der siebziger Jahre59. Auch eine frühere Zäsur lässt sich begründen. Vor der »Soraya«-Entscheidung des Bun55
BGHZ 9, 390, Anhang; 11, 303, Anhang A bis D. BGHZ 56, 395 ff., Anhang; 58, 399 ff., Anhang; 59, 396 ff., Anhang; 60, 392 ff., Anhang; 67, 355 ff.; 75, 340 ff.; 88, 353 ff.; 91, 111 ff.; 97, 312 ff.; 100, 277 ff.; 102, 280 ff.; 108, 284 ff.; 119, 42 ff.; 144, 160 ff. 57 BGHZ 14, 232 ff.; 35, 400 ff.; 126, 63 ff. 58 Vgl. § 132 Abs. 1 GVG. 59 Hierzu § 3 V.1.g.dd. 56
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III. Zur heutigen Begründungspraxis
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desverfassungsgerichts vom 14. Februar 197360 waren ganze 17 Entscheidungen der zivilrechtlichen Senate des Bundesgerichtshofs ergangen, die den Ausdruck Rechtsfortbildung enthielten61. In der hier untersuchten Folgezeit waren es dann immerhin 8762. Aufs Ganze gesehen blieb die Anzahl derartiger Entscheidungen freilich nach wie vor gering. Weiterreichende Folgerungen über das Verhältnis der zivilrechtlich tätigen Bundesrichter zur Rechtsfortbildung erlauben die reinen Zahlen schon deshalb nicht, weil Stellenwert und Funktion des Wortes Rechtsfortbildung in den einzelnen Entscheidungen teilweise erheblich voneinander abweichen. e. Verschiedene Gruppen von Entscheidungen Zur Verdeutlichung dieser Einschätzung werden die 104 einschlägigen Entscheidungen unterschiedlichen Gruppen zugeordnet. Es lassen sich sieben Arten von Entscheidungen unterscheiden. Der Begriff Rechtsfortbildung kann Ausdruck eines speziellen (prozessrechtlichen) Sprachgebrauchs (f.) oder bloßes Beiwerk ohne Bezug zum konkreten Entscheidungsgegenstand (g.) oder als Sonderfall für die hier behandelte Problematik bedeutungslos (h.) sein, aber auch eine abzulehnende Lösung (j.), eine ältere Entscheidung (k.), Zweifelsfälle (l.) und offene Rechtsfortbildungen (m.) bezeichnen. f. Ein spezielles Begriffsverständnis In insgesamt 12 der 104 Entscheidungen wird Rechtsfortbildung nicht als Gegenbegriff zur Auslegung, sondern als Sammelbezeichnung für neue Entscheidungen in offenen oder bislang anders beurteilten Rechtsfragen verwendet. Dieses weite Begriffsverständnis ist in dieser Untersuchung als prozessualer Sprachgebrauch bezeichnet und vom traditionellen methodischen Rechtsfortbildungsbegriff unterschieden worden63. Es existiert insbesondere im prozessrechtlichen Schrifttum64 und liegt auch dem in verschiedenen Gesetzen zu findenden Merkmal
60
BVerfGE 34, 269 ff. BGHZ 2, 396, 398 und 400; 4, 153, 158; 7, 62, 63; 9, 357, 358; 11, 66, 74; 19, 185, 194; 25, 231, 235; 29, 280, 283 und 285; 34, 99, 103; 38, 270, 279; 44, 346, 354; 46, 60, 64; 50, 56, 61; 50, 325, 334; 57, 63, 69 f.; 57, 245, 248; 59, 286, 292. 62 BGHZ 64, 101, 107; 65, 311, 316; 65, 325, 328; 66, 51, 57; 67, 138, 148 und 151; 68, 225, 230 und 233; 68, 331, 335; 72, 85, 88 ff.; 73, 315, 316; 74, 20, 23; 80, 153, 159; 83, 122, 139; 84, 383, 386 f.; 85, 64, 67 f. und 74; 87, 286, 295; 88, 102, 106; 88, 191, 194; 89, 33, 40; 90, 381, 385; 92, 62, 68 f.; 92, 280, 290; 93, 383, 386 f.; 95, 76, 79 f.; 98, 196, 205; 98, 382, 387; 99, 358, 362; 100, 19, 23; 100, 157, 163; 101, 18, 23; 102, 95, 100; 102, 163, 165; 102, 350, 356; 103, 160, 163; 103, 338, 348; 104, 197, 203; 105, 222, 229; 105, 346, 352; 106, 54, 64; 106, 113, 118; 108, 179, 186; 108, 305, 309 ff.; 109, 15, 19; 109, 55, 59; 109, 368, 377; 112, 9, 23 ff.; 113, 48, 51; 114, 161, 164; 115, 157, 159 f.; 115, 162, 168; 116, 136, 147; 116, 233, 239 ff.; 116, 319, 325 ff.; 117, 70, 82; 121, 116, 122; 122, 23, 26 f.; 123, 37, 43; 123, 394, 396 f.; 124, 1, 8; 126, 181, 190; 127, 168, 174; 127, 320, 323; 132, 278, 289 f.; 133, 168, 172; 134, 116, 125; 134, 392, 400; 135, 116, 119; 135, 292, 296; 136, 182, 186; 138, 55, 61; 138, 224, 227; 138, 321, 329; 140, 223, 234; 141, 214, 220; 142, 332, 335; 143, 314, 318 f.; 143, 332, 337 f.; 144, 78, 84; 146, 94, 96; 149, 165, 173 f.; 149, 337, 345; 151, 42, 44; 151, 221, 225; 152, 181, 185; 153, 254, 257; 154, 200, 202; 154, 205, 221 ff.; 154, 336, 341. 63 S. § 3.II.2.k. und l. sowie § 3.IV.2. 64 Vgl. § 3 II.2.k. und l. 61
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§ 8 Paradigmenwechsel und Begründungspraxis
»Fortbildung des Rechts« zugrunde65. Von Rechtsfortbildung wird hiernach gesprochen, wenn neue Grundsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen aufgestellt oder Gesetzeslücken gefüllt werden. Dieses prozessrechtliche, nicht zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung im methodischen Sinne trennende Begriffsverständnis findet sich auch beim Bundesgerichtshof. aa. So dient »Rechtsfortbildung« in mehreren Entscheidungen dazu, die Aufgaben der Revisionsgerichte allgemein zu beschreiben66 oder eine Rechtsprechungsänderung zu bezeichnen67. Zudem wird mit dem Begriff das gesetzliche Tatbestandsmerkmal »Fortbildung des Rechts« verkürzt wiedergegeben68 oder dasjenige der »grundsätzlichen Bedeutung« erläutert69. bb. Auch die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zur Einschränkung der Ertragswertberechnung bei einem Landgut nach §§ 2312 Abs. 1, 2049 BGB für Bauund Bauerwartungsland70 und zur vergleichenden Werbung71 lassen sich der Fallgruppe »prozessualer Sprachgebrauch« zuordnen. Im erstgenannten Urteil spricht der Senat im Anschluss an eine Bundesverfassungsgerichtsentscheidung am Rande von richterlicher Rechtsfortbildung, ohne seine Entscheidung zu klassifizieren; er umschreibt »seine Aufgaben« folgendermaßen: » … dem Bundesgerichtshof obliegt es vielmehr in erster Linie, den Inhalt des einfachen Rechtes (hier § 2312 BGB) – unter Berücksichtigung der Bedeutung der Gebote der Verfassung – gegebenenfalls mit den Mitteln der richterlichen Rechtsfortbildung - unterhalb der genannten äußersten verfassungsrechtlichen Grenze festzulegen«. Entsprechendes gilt für die zweite genannte Entscheidung, welche die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist im Rahmen des § 1 UWG zum Gegenstand hatte. Auch hier fällt der (weit verstandene) Begriff der Rechtsfortbildung nur bei den abstrakten Ausführungen zu den Anpassungsmöglichkeiten, die § 1 UWG eröffnet72: 65
S. § 3 IV.2. BGHZ 2, 396, 398 und 400 (»Unwirksame Zulassung der Revision«); 7, 62, 63 (»Beschränkte Zulassung der Revision«); 9, 357, 358 (»Umfassende Prüfung bei beschränkter Revisionszulassung«); 88, 191, 194 (»Beschränkung der Zulassung der Revision nur bei unzweideutiger Aussprache«); vgl. zudem noch BGHZ (GS) 85, 64, 68 (»Abänderungsklage bei Prozessvergleich über wiederkehrende Leistung«); diese Entscheidung wird wegen ihres abweichenden Schwerpunktes in einer anderen Gruppe mitgezählt. 67 BGHZ 142, 332, 335 (»Verjährung von Grundschuldzinsen«): Wiedergabe einer Äußerung eines anderen Senats; ebenso am Rande BGHZ (GmS OGB) 60, 392, 398 (»Selbstbindung des Revisionsgerichts«). Die Entscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichthöfe des Bundes wird hier nicht mitgezählt, vgl. vorstehend a. 68 BGHZ 151, 42, 44 (»Rechtsbeschwerde bei Versagung der Wiedereinsetzung«); 151, 221, 225 (»Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde«); jeweils zu § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. 69 So ganz am Rande zu § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO BGHZ 152, 181, 185 (»Nichtzulassungsbeschwerde«); 153, 254, 257 (»Grundlage der Entscheidung über Nichtzulassungsbeschwerde«): Rechtsprechungszitat zu § 546 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 ZPO a. F.; 154, 200, 202 (»Rechtsbeschwerdezulassung durch Einzelrichter«): verkürzte Umschreibung der gesetzlichen Zulassungsfälle der Fortbildung des Rechts im Rahmen der Erläuterung des Begriffs der grundsätzlichen Bedeutung in § 568 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. 70 BGHZ 98, 382, 387. 71 BGHZ 138, 55, 61. 72 BGHZ 138, 55, 61. 66
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III. Zur heutigen Begründungspraxis
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»Die Generalklausel des § 1 UWG ermöglicht eine Änderung des deutschen (Richter-)Rechts (vgl. …). Sie verweist für die Beurteilung wettbewerblicher Verhaltensweisen auf den Wertmaßstab der guten Sitten. Damit eröffnet sie die Möglichkeit zu richterlicher Rechtsfortbildung und zu einer Rechtsanwendung, die der Entwicklung des Wirtschaftslebens und einem Wandel der Verkehrsauffassung sowie auch langfristigen Änderungen der Auffassung der Allgemeinheit Rechnung tragen kann (vgl. …).« Konkret legte sich der Senat nicht fest, obwohl er das Erfordernis einer Auslegung bei der Kompetenzfrage mehrfach betonte73 und über eine sog. Rechtfindung intra legem zu entscheiden war, die verbreitet nicht als Auslegung, sondern als Rechtsfortbildung bewertet wird74. Seine von der bisherigen Rechtsprechung abweichende Entscheidung für die Zulässigkeit vergleichender Werbung stufte er weder als Auslegung noch als Rechtsfortbildung ein. Sein prozessrechtlicher, nicht zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung im »technischen« Sinne unterscheidender Gebrauch des Wortes Rechtsfortbildung lässt insoweit keine Rückschlüsse zu. Den in der Gruppe »spezielles Begriffsverständnis« zusammengefassten 12 Entscheidungen ist zweierlei gemein. Ihnen liegt ein weites, die Auslegung in neuen Rechtsfragen umfassendes Fortbildungsverständnis zugrunde. Die konkrete Entscheidung wird nicht den Kategorien Auslegung oder Rechtsfortbildung zugewiesen. g. »Bloßes Beiwerk« Mit »bloßes Beiwerk ohne Bezug zum konkreten Entscheidungsgegenstand« werden hier insgesamt 12 Entscheidungen umschrieben, in denen sich das Wort Rechtsfortbildung lediglich im Titel angeführter Bücher75, in einer ornamentalen Floskel oder in einem »reinen« Zitat findet, welches sich der jeweilige Senat nicht zu Eigen macht. aa. Bloßer Zierat ist etwa die Formulierung in der (überholten) Entscheidung des Bundesgerichtshofs, in der dem Syndikus eines Arbeitgeber- oder Arbeitneh73 BGHZ 138, 55, 59 f. und 62 f.: »Läßt sich Richtlinienkonformität mittels einfacher Auslegung im nationalen Recht herstellen, so ist der Richter jedenfalls nach deutschem Rechtsverständnis befugt, sein bisheriges Auslegungsergebnis zu korrigieren und den geänderten rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen Rechnung zu tragen (vgl. …). … Die Bedenken, eine richtlinienkonforme Auslegung der nationalen Gesetze durch die Gerichte vor Ablauf der Umsetzungsfrist greife in die Kompetenzen des Gesetzgebers ein (so …), sind unbegründet, solange sich die Konformität mittels Auslegung im nationalen Recht – hier der Generalklausel des § 1 UWG – herstellen läßt und soweit dem Gesetzgeber ohnehin kein Spielraum bei der Umsetzung bleibt.« 74 Unter der Rechtsfindung intra legem versteht man das Füllen sog. Delegationsnormen, also von Generalklauseln und besonders unbestimmten, generalklauselartigen Rechtsbegriffen. Diese Rechtsfindung innerhalb des Gesetzes wird teils der Rechtsfindung secundum legem (Auslegung i.e.S.) und teils der Rechtsfindung praeter legem (Lückenfüllung) zugeordnet; einführend hierzu C. Fischer, ZfA 2002, 215, 228; Kramer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2005, S. 166 f. 75 BGHZ 92, 280, 290; 116, 136, 147; vgl. auch den zweiten Treffer zu Rechtsfortbildung in BGHZ 134, 116, 125. Die zuletzt genannte Entscheidung wird wegen ihres abweichenden Schwerpunktes aber in einer anderen Fallgruppe mitgezählt.
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merverbandes aus »standesrechtlichen Gesichtspunkten« die Zulassung zur Anwaltschaft versagt wurde76: »Die Rechtsfortbildung und besonders auch die Entwicklung standesrechtlicher Grundsätze sind stets im Flusse«. Auch eine abstrakte bzw. allgemeine Definition eines Tatbestandsmerkmals stellt, soweit sie über den zu entscheidenden Sachverhalt hinausgeht, lediglich eine schmückende Zugabe dar. So heißt es in einer Entscheidung des Siebten Senats zu Allgemeinen Geschäftsbedingungen für Reiseverträge, »gesetzliche Regelung« im Sinne des § 9 Abs. 2 Nr. 1 AGBG77 umfasse alle Rechtssätze, welche durch Auslegung, Analogie und Rechtsfortbildung aus den gesetzlichen Vorschriften hergeleitet werden78. Konkret ging es um gesetzliche Vorleistungsregeln. Eine ornamentale Floskel liegt schließlich noch vor, wenn ein Gericht eine verdeckte Regelungslücke zwar für möglich erklärt, die Frage, wie diese Lücke von der Rechtsprechung zu schließen gewesen wäre, dann aber dahingestellt lässt, weil sich eine richterliche Rechtsfortbildung erledigt habe79. Der Gesetzgeber hatte die Lücke, wie der Fünfte Senat dann mitteilte, zwischenzeitlich geschlossen. bb. Unter »reinen« Zitaten sind zunächst Belegstellen zu verstehen, die kommentarlos mitgeteilt werden, zu denen also gar keine Stellung genommen wird80. In einem weiteren Sinne zählen zu ihnen freilich auch Fremdäußerungen über (angebliche) Rechtsfortbildungen, die sich das Gericht nicht zu Eigen macht, oder auch Bewertungen, die das Gericht ablehnt, ohne seine konkrete Entscheidung zu klassifizieren81. Besonders zu erwähnen ist aus der Gruppe der »reinen« Zitate die sehr kontrovers diskutierte Entscheidung des Bundesgerichtshofs für den Eintritt des überlebenden Partners einer eheähnlichen Gemeinschaft in den Mietvertrag des verstorbenen Mieters82 entsprechend § 569 a Abs. 2 S. 1 BGB a. F.83. Der Senat ließ erkennen, 76
BGHZ 46, 60, 64. Jetzt § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB. 78 BGHZ 100, 157, 163. 79 BGHZ 140, 223, 234 (»Erbfolge nach Bodenreform«). 80 Vgl. BGHZ 59, 286, 292 (»Doppelte Tarifgebühr bei ungenehmigter Musikwiedergabe«); 66, 51, 57 (»Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter«). 81 BGHZ 90, 381, 385 (»Kapitalersetzendes Aktionärsdarlehen – beherrschender Einfluss als Kreditgeber«), wo die Auffassung des Berufungsgerichts, Rechtsfortbildungen seien in der konkret zu beurteilenden Frage grundsätzlich verboten, abgelehnt wird; 93, 383, 386 f. (»Kürzung insolvenzgesicherter Versorgungszahlungen«), wo das von der Revision angeführte Bundesverfassungsgericht zitiert wird, dessen Entscheidung aber nicht einschlägig sei; 117, 70, 82 (»Zugewinnausgleich bei Direktversicherung«): für die neue Verhandlung durch das Berufungsgericht wird eine unkommentierte Schrifttumsmeinung als eine denkbare Lösungsmöglichkeit wiedergegeben. – Einen Grenzfall stellt dar BGHZ 105, 222, 229 (»Rücknahmefiktion bei Gebrauchsmusteranmeldung«), wo angemerkt wurde, dass die vorgenommene einschränkende Auslegung entgegen der Vorinstanz nichts mit einer Rechtsfortbildung zu tun habe. Hier besteht immerhin ein (negativer) Bezug zwischen den Ausführungen über Rechtsfortbildung und der konkreten Entscheidung. 82 BGHZ 121, 116 ff. 83 Der Satz lautete: »Wird in dem Wohnraum ein gemeinsamer Hausstand mit einem oder mehreren Familienangehörigen geführt, so treten diese mit dem Tode des Mieters in das Mietverhältnis ein.« 77
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III. Zur heutigen Begründungspraxis
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dass sein Beschluss dem Wortlaut und der Interessenbewertung des historischen Gesetzgebers widerspreche und rechtfertigte ihn mit einer grundlegenden Veränderung der Fakten- und Rechtslage84. Er ging also davon aus, dass seine Rechtsfindung die beiden in der Methodenlehre vertretenen Grenzen der Auslegung überschreite85 und nahm faktisch eine Prüfung vor, wie sie im methodischen Schrifttum für die Zulässigkeit einer korrigierenden Gesetzesrechtsfortbildung gefordert wird86. Dennoch findet sich das Wort Rechtsfortbildung in der Entscheidung nur an einer einzigen und eher versteckten Stelle. Um zu belegen, dass der Konfliktstoff regelungsbedürftig sei, wird eine fremde Äußerung wiedergegeben87: »Beachtung verdient, daß in diesem Zusammenhang auf dem 57. Deutschen Juristentag nicht an ein Eingreifen des Gesetzgebers, sondern an richterliche Rechtsfortbildung gedacht worden ist«. h. Ein Sonderfall Einen Sonderfall stellt schließlich die Entscheidung des Bundesgerichtshofs dar, in der ein subjektives Recht unfallgeschädigter (Straf-)Gefangener auf Gewährung der Unfallfürsorge begründet worden ist88. Es ging um eine öffentlichrechtliche Frage in sog. Sonderrechtsverhältnissen, die für Rechtsfortbildungen im Zivilrecht ohne Bedeutung ist. i. Zwischenbilanz In den bislang genannten Entscheidungen steht Rechtsfortbildung für eine allgemeine Aufgabe der Zivilgerichte oder ist bloßes Beiwerk. Ein innerer Bezug zwischen dem Begriff und der jeweiligen Entscheidung besteht nicht. Zieht man die bisher erwähnten 25 Entscheidungen von der Gesamtzahl 104 ab, so verbleiben 79 Entscheidungen. In ihnen bezeichnet Rechtsfortbildung eine gerichtliche Entscheidung oder eine diskutierte Lösungsmöglichkeit im Zusammenhang mit dem jeweiligen Entscheidungsgegenstand. In einer von hundert89 der insgesamt 7813 zu berücksichtigenden Entscheidungen aus den Bänden 1 bis 154 der amtlichen Sammlung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen benennt Rechtsfortbildung also eine konkrete juristische Lösung. j. »Abgelehnte Rechtsfortbildungen« aa. In der ganz überwiegenden Mehrzahl dieser Entscheidungen wird eine Lösung erwähnt, als Rechtsfortbildung bezeichnet und als unzulässig verworfen.
84
BGHZ 121, 116, 119 ff. Vgl. zur Wortlaut- und zur Gesetzessinngrenze § 3 II.1.a.bb. und 2.f. 86 Vgl. etwa Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 952 ff.; C. Fischer, ZfA 2002, 215, 235 f. m.w.N. 87 BGHZ 121, 116, 122. 88 BGHZ 25, 231, 235. 89 Exakter: 1,01 Prozent. 85
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51 der 79 Treffer entfallen auf derartige »abgelehnte Rechtsfortbildungen«90. Die Begründungen, mit denen die von der Revision geforderten, vom Berufungsgericht erwogenen bzw. vorgenommenen, im Schrifttum vertretenen oder auch nur vom Bundesgerichtshof in Betracht gezogenen Rechtsfortbildungen verweigert werden, variieren. Gängige Argumente sind die ratio legis, die eindeutige gesetzliche Regelung, das Fehlen einer Lücke, das Monopol, die Kompetenz und die Aufgabe des Gesetzgebers, die Rechts- und Gesetzesbindung des Richters sowie die Grenzen der Rechtsfortbildung. Teilweise scheint es zu genügen, eine Position als Rechtsfortbildung zu bezeichnen, um sie auszuscheiden. Detailliert begründet wird die Zurückweisung einer Rechtsfortbildung ganz selten. bb. Drei der abgelehnten 51 Rechtsfortbildungen sind wegen ihrer beispielhaften und bemerkenswerten Begründungen hervorzuheben. (1) Der Zweite Senat des Bundesgerichtshofs entschied, dass ehemalige Gesellschafter für solche Ansprüche aus Dauerschuldverhältnissen der Gesellschaft nicht haften, die erst fünf Jahre nach der Handelsregistereintragung ihres Ausscheidens aus der Gesellschaft fällig werden91. Eine als weitergehende Ansicht bezeichnete abweichende Position im Schrifttum lehnte er ab, weil »eine solche Lösung mit den Mitteln richterlicher Rechtsfortbildung nicht zu vertreten wäre«92. Die vom Senat festgelegte zeitliche Begrenzung der Haftung eines ausscheidenden Gesellschafters für Verpflichtungen aus Dauerschuldverhältnissen auf maximal fünf Jahre »verdiente« die Bezeichnung Rechtsfortbildung offenbar nicht. (2) In seiner Entscheidung zur Eintragung einer Verschmelzung trotz Anfechtungsklage eines Aktionärs hieß es zu der für unbegründete Anfechtungsklagen und in Fällen überwiegender Interessen der beteiligten Unternehmen geforderten Korrektur des § 345 Abs. 2 S. 1 AktG a. F.93, diese »wäre als Auslegungsergebnis nicht vertretbar und müßte als richterliche Rechtsfortbildung gegen den eindeutig erklärten Willen des Gesetzgebers auf erhebliche Bedenken verfassungsrechtlicher Natur stoßen …«94. Der Senat lehnte die vorgeschlagene Lösung als »eindeutig unzulässige Gesetzesrechtsfortbildung contra legem« ab. Stattdessen vertrat er dann für Fälle des Rechtsmissbrauchs, der niemals unter dem Schutz des Gesetzes stehe, »das Gesetz einschränkend dahin auszulegen, daß Klagen, die zweifelsfrei ohne Erfolgsaussicht sind, die Eintragung nicht hindern, so daß das Registergericht in solchen Fällen eintragen kann, wenn es dies insbesondere auch 90 BGHZ 11, 66, 74; 29, 280, 285; 50, 56, 61; 57, 63, 69 f.; 64, 101, 107; 68, 331, 335; 72, 85, 88 ff.; 73, 315, 316; 80, 153, 159; 84, 383, 386 f.; 87, 286, 295; 88, 102, 106; 89, 33, 40; 92, 62, 68 f.; 99, 358, 362; 100, 19, 23; 101, 18, 23; 102, 95, 100; 102, 163, 165; 102, 350, 356; 103, 338, 348; 104, 197, 203; 106, 54, 64; 106, 113, 118; 108, 305, 309 ff.; 109, 15, 19; 109, 368, 377; 112, 9, 23; 113, 48, 51; 115, 162, 168; 116, 233, 241; 116, 319, 319 (Leitsatz) und 325 f. ; 122, 23, 26 f.; 123, 37, 43; 123, 394, 396 f.; 124, 1, 8; 126, 181, 190; 127, 168, 174; 127, 320, 323; 132, 278, 289; 134, 116, 125; 134, 392, 400; 135, 116, 119; 136, 182, 186; 138, 321, 329; 141, 214, 220; 143, 314, 318 f.; 144, 78, 84 f.; 149, 165, 173 f.; 149, 337, 345; 154, 336, 341. 91 BGHZ 87, 286 ff.; s. bereits § 7 V.5.f.bb.(1). 92 BGHZ 87, 286, 295. 93 S. jetzt § 16 Abs. 2 und Abs. 3 UmwG. 94 BGHZ 112, 9, 23.
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unter Berücksichtigung der mit einem weiteren Aufschub verbundenen Folgen für geboten erachtet«95. Die Unterschiede zwischen der »eindeutig unzulässigen Gesetzesrechtsfortbildung« und der vom Senat vorgenommenen unbedenklichen96 »einschränkenden Auslegung« sind vornehmlich konstruktiv-terminologischer Natur. (3) Der Neunte Senat urteilte zur Vergütung des Konkursverwalters im massearmen Konkurs: »Vergütung und Auslagen des Konkursverwalters für die Durchführung der Liquidation, die auf den Zeitraum ab Feststellung der Masseunzulänglichkeit entfallen, sind vor den übrigen Masseverbindlichkeiten zu berichtigen«97. Eine generelle Herauslösung des Anspruchs des Konkursverwalters lehnte der Senat ab, weil diese Lösung auf eine dem Richter verschlossene Gesetzeskorrektur hinauslaufen und folglich die Grenzen der ihm möglichen Rechtsfortbildung überschreiten würde98. Demgegenüber überschreite die vom Senat vorgenommene einschränkende und verfassungskonforme Auslegung des § 60 KO nicht die Grenzen, die der richterlichen Rechtsfortbildung durch die Bindung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) gezogen seien99. Zwar habe der Gesetzgeber des Jahres 1877 keine Verfahrensregeln für die Abwicklung des massearmen Konkurses getroffen. Gerade bei einem großen zeitlichen Abstand zwischen der Kodifikation und dem Zeitpunkt der richterlichen Entscheidung würden aber, so heißt es unter Berufung auf die »Soraya«-Entscheidung100 und einen weiteren Beschluss des Bundesverfassungsgerichts101, die seither eingetretenen rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen, die für die Anwendung der Norm von Bedeutung sind, für deren Auslegung, insbesondere im Licht der nunmehr durch die Verfassung vorgegebenen Wertordnung, erhebliche Bedeutung gewinnen102. Da das Problem der Konkursverwaltervergütung bei Abwicklung massearmer Konkurse, wie es sich nunmehr in der Rechtswirklichkeit stelle, für den historischen Gesetzgeber nicht erkennbar gewesen sei und demgemäss keine ausdrückliche Erwähnung gefunden habe, sei es gerechtfertigt, diesen Anspruch in restriktiver Auslegung des Wortlauts der Norm nicht dem § 60 KO zuzuordnen, sondern insoweit einen Anspruch auf Befriedigung vor den dort aufgeführten Verbindlichkeiten zu gewähren103. Auch hier hat der Bundesgerichtshof (s)eine Entscheidung, die dem Gesetzeswortlaut und der Interessenbewertung des historischen Gesetzgebers widersprach und daher nach allen in der Methodenlehre vertretenen (theoretischen) »Grenzkriterien« eine Rechtsfortbildung war, als einschränkende Auslegung bezeichnet. Der Begriff Rechtsfortbildung wird vom Senat für Lösungen reserviert, die er ablehnt.
95
BGHZ 112, 9, 23 f. BGHZ 112, 9, 23: »Es steht mithin nichts entgegen …«. 97 BGHZ 116, 233 (2. Leitsatz). 98 So BGHZ 116, 233, 241. 99 BGHZ 116, 233, 239. 100 BVerfGE 34, 269. 101 BVerfGE 82, 6, zur analogen Anwendung des § 569 a BGB a. F. auf einen nichtehelichen Lebenspartner. 102 BGHZ 116, 233, 240. 103 BGHZ 116, 233, 240. 96
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k. Einordnung älterer Entscheidungen In acht weiteren Entscheidungen des Bundesgerichtshofs wird Rechtsfortbildung nur für frühere zivilrechtliche Entscheidungen verwendet104. Der Begriff dient nicht zur Klassifikation der Entscheidung, in welcher er enthalten ist. Vielmehr stuft man mit ihm andere, meist länger zurückliegende Entscheidungen als Rechtsfortbildungen ein. aa. So wurde die Rechtsprechung zum Widerrufsanspruch auf dem Gebiet des privatrechtlichen Rechtsgüterschutzes im Allgemeinen und des Ehrenschutzes im Besonderen als Rechtsfortbildung bezeichnet105. Außerdem klassifizierte der Bundesgerichtshof als Bundespatentgericht die von seinem Ersten Zivilsenat vorgenommene Festlegung eines Stichtages für das Außerkrafttreten früheren Gewohnheitsrechts106 unter Berufung auf Dietrich Reinicke107 als einen echten Akt der Rechtsfortbildung und sprach von einer seit Jahren praktizierten Rechtsfortbildung108: »In Wirklichkeit handelt es sich nämlich bei der Festlegung dieses … Stichtages um einen Akt nicht der rein kognitiven Rechtsfindung, sondern der wertenden Rechtsschöpfung, der mangels einer gesetzlichen Regelung von der Rechtsprechung vorzunehmen war«. Zudem umschrieb der Sechste Senat die ständige Rechtsprechung zum eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb als »im Wege der Rechtsfortbildung im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB geschaffene(n) Erweiterung dieser Norm«109. Mit dem Abstand von 46 Entscheidungsbänden stufte man auch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, welche dem Ehemann der Mutter wegen der Kosten, die ihm durch einen Ehelichkeitsanfechtungsprozess entstanden waren, einen familienrechtlichen Ausgleichsanspruch gegen den Erzeuger des Kindes eingeräumt hatte110, als Rechtsfortbildung ein111. Die grundlegende »Produkthaftpflichtentscheidung« des Bundesgerichtshofs112 wurde 54 Bände später Rechtsfortbildung genannt113. 1991 charakterisierte der Fünfte Senat die Anerkennung des Anwartschaftsrechts als sonstiges Recht im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB als Rechtsfortbildung114. Im »Nitrierofen«-Fall fass104 BGHZ (GS) 34, 99, 103; BGHZ 44, 346, 354; 65, 325, 328; BGHZ (GS) 85, 64, 67 f., 74; BGHZ 103, 160, 163; 105, 346, 352; 114, 161, 164 f.; 133, 168, 172; vgl. auch BGHZ 84, 383, 386. – Die letztgenannte Entscheidung wird nicht hier, sondern in der Fallgruppe »abgelehnte Rechtsfortbildungen« mitgezählt. 105 BGHZ (GS) 34, 99, 103 (»Amtshaftung und Ehrschutz«). Es handelt sich um einen Grenzfall zum »reinen« Zitat, weil die charakterisierte Rechtsprechung nicht entscheidungserheblich war. 106 BGHZ 18, 81 (»Neuheitsschädlichkeit ausgelegter Patentanmeldungen«). 107 D. Reinicke, JuS 1964, 421, 428 f. 108 BGHZ 44, 346, 354 (»Übergangsregelung für Neuheitsschädlichkeit eigenen Gebrauchsmusters«). 109 BGHZ 65, 325, 328 (»Haftung für Warentest«). 110 BGHZ 57, 229. 111 BGHZ 103, 160, 163 (»Verjährung des Kostenersatzanspruches bei Ehelichkeitsanfechtung«). 112 BGHZ 51, 91 (»Hühnerpest«). 113 BGHZ 105, 346, 352 (»Produzentenhaftung für Fischfutter«). 114 BGHZ 114, 161, 164 f. (»Ersatzanspruch des Anwartschaftsberechtigten wegen Substanzschadens«).
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III. Zur heutigen Begründungspraxis
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te der Zehnte Senat die bisherige, überwiegend lange zurückliegende Rechtsprechung über Schutzpflichten zugunsten Dritter als »letztlich richterliche(n) Rechtsfortbildung« zusammen115. Schon 14 Jahre früher hatte der Zweite Senat davon gesprochen, dass er auf die Publikums-Kommanditgesellschaft im Wege der Rechtsfortbildung wiederholt Rechtsgrundsätze angewandt habe, die im Recht der Kapitalgesellschaften Geltung beanspruchen116. bb. Aus der Gruppe der Entscheidungen, in denen andere, länger zurückliegende Judikate als Rechtsfortbildungen etikettiert werden, ist der Beschluss des Großen Senats zur Abänderungsklage bei einem Prozessvergleich über künftig fällig werdende wiederkehrende Leistungen117 aufgrund seiner Begründung besonders hervorzuheben. Es ging um die umstrittene Frage, ob ein solcher Vergleich auch für die Zeit bis zur Erhebung der Klage abgeändert werden kann118. § 323 Abs. 3 ZPO bestand damals nur aus dem jetzigen Satz 1. § 323 Abs. 4 ZPO a. F. enthielt für die Schuldtitel des § 794 Abs. 1 Nr. 1 und 5 ZPO eine mit der gegenwärtigen Fassung inhaltlich übereinstimmende Regelung und ordnete an, die vorstehenden Vorschriften entsprechend anzuwenden, soweit in den erfassten Schuldtiteln »Leistungen der im Absatz 1 bezeichneten Art übernommen worden sind«. In seiner Begründung bezeichnete der Große Senat die grundlegende Entscheidung des Reichsgerichts zum gestaltenden Eingriff des Richters in bestehende Verträge119 und die Rechtsprechung zur Nichtanwendung von § 767 Abs. 2 ZPO bei Vollstreckungsabwehrklagen gegen gerichtliche Vergleiche als richterliche Rechtsfortbildungen120. Zudem verwendete er den Begriff, um die allgemeinen Aufgaben der (Revisions-)Gerichte zu skizzieren121. Methodisch bemerkenswert ist indes vor allem die »verdrehte« Argumentation des Großen Senats122. Er macht nicht die gesetzliche Regelung, sondern eine gefestigte Rechtsprechung zum Ausgangspunkt seiner Betrachtungen. Als Ansatz wählt er eine Formulierung der »Soraya«-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts123: Der Richter sei nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden. Dies gelte im Besonderen – so der Große Senat – für die Auslegung älterer Gesetzesbestimmungen, die im Laufe der Zeit durch eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung ausgeformt worden seien. Ein Abgehen von der Kontinuität der Rechtsprechung könne nur ausnahmsweise hingenommen werden, wenn deutlich überwiegende oder sogar schlechthin zwingen115
BGHZ 133, 168, 172 (»Nitrierofen«). So BGHZ 84, 383, 386 (»Wiederaufleben der Kommanditistenhaftung«); hierzu § 7 V.5.f.bb.(2). 117 BGHZ (GS) 85, 64 ff. 118 Hierzu Leipold, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 4, Teilband 1, 21. Aufl. 1998, § 323 Rn. 58; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl. 2004, § 129 Rn. 63, § 157 Rn. 38 f. 119 RGZ 100, 129, 131 f.; hierzu Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 32 ff. 120 BGHZ (GS) 85, 64, 67 und 74. 121 BGHZ (GS) 85, 64, 68. 122 Vgl. BGHZ (GS) 85, 64, 66 ff. 123 BVerfGE 34, 269, 287. 116
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de Gründe dafür sprächen. Solche Gründe für die Abkehr von der gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung, nach der die Abänderbarkeit gerichtlicher Vergleiche durch § 323 Abs. 3 ZPO nicht eingeschränkt werde, seien nicht ersichtlich. Durch die Entwicklung der Lehre vom Fortfall der Geschäftsgrundlage habe sich die unmittelbar vor Schaffung des § 323 Abs. 4 ZPO vorhandene Rechtslage (»Normsituation«) insofern wesentlich geändert, als sich die entsprechende Anwendung der Absätze 1 bis 3 auf die Fälle des § 323 Abs. 4 ZPO nicht mehr – wie beabsichtigt – als Erweiterung der materiellrechtlichen Abänderungsmöglichkeiten, sondern gerade umgekehrt als deren Einschränkung ausgewirkt hätte. Bei einem so tief greifenden Wandel der Verhältnisse – seien sie technischer, sozialer, wirtschaftlicher oder (wie hier) rechtlicher Natur – lockere sich die Bindung des Richters an das Gesetz, weil ungewiss bleibe, welche Regelung »der Gesetzgeber« bei Kenntnis der späteren Verhältnisse getroffen hätte und weil nicht mit einer ständigen Anpassung der Gesetze an veränderte Verhältnisse gerechnet werden könne. Angesichts der gewandelten Normsituation könnten daher weder der Wortlaut noch die Entstehungsgeschichte des § 323 Abs. 4 ZPO (in Verbindung mit Abs. 3) als hinreichender Grund für die Abkehr von der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Vorlagefrage angesehen werden. Die hier wiedergegebenen Passagen finden sich nahezu wörtlich in der Begründung des Großen Senats. Auffallend und nachdenkenswert ist, dass die Auslegung und die Bindung des Gesetzes unter dem Gesichtspunkt erörtert werden, ob Gründe für die Abkehr von einer gefestigten Rechtsprechung bestehen. Das »normale« Verhältnis von primärer Gesetzesauslegung und sekundärer Rechtsfortbildung, von Gesetzesrecht und Richterrecht, ist umgekehrt. Die Rechtsprechung hat die Führung übernommen. Das Gesetz verliert seine zentrale Rolle im Rechtsfindungsprozess und wird zu einem von mehreren Faktoren, welche die Abkehr von einer (rechtsfortbildenden) Rechtsprechung rechtfertigen können. l. Zweifelsfälle Ebenfalls acht Entscheidungen des Bundesgerichtshofs sind als Zweifelsfälle einzustufen124. Bei ihnen ist aufgrund unklarer und widersprüchlicher Bezeichnungen offen, ob der jeweilige Senat von einer Rechtsfortbildung ausgeht oder seine Entscheidung noch für eine »bloße« Auslegung hält. aa. So urteilte der Vierte Zivilsenat im Jahr 1955, dass ein geschiedener Ehegatte von dem anderen die Herausgabe eines Kindes nicht nach § 1632 BGB125 durch Klage bei dem Prozessgericht, sondern nur durch Anrufung des Vormundschaftsgerichts erreichen könne126. Die Herausgabeklage des Personensorgebe-
124 BGHZ 19, 185, 194; 50, 325, 334; 57, 245, 248; 65, 311, 316; 68, 225, 230; 74, 20, 23; 98, 196, 205; 109, 55, 59. 125 § 1632 BGB a. F. lautete: »Die Sorge für die Person des Kindes umfaßt das Recht, die Herausgabe des Kindes von jedem zu verlangen, der es dem Vater widerrechtlich vorenthält«. 126 BGHZ 19, 185 und 194.
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rechtigten vor einem Gericht der streitigen Gerichtsbarkeit sei unzulässig, weil es bei einer solchen Auseinandersetzung zwischen geschiedenen Ehegatten an der Zulässigkeit des Rechtswegs fehle127. Die bereits vom Reichsgericht vertretene, von den Oberlandesgerichten fortgeführte und von der herrschenden Meinung im Schrifttum bejahte »sachlich wohl begründete Rechtsmeinung« sei, so heißt es am Rande, »im Zuge einer gesunden Rechtsfortbildung zur Herrschaft gelangt«128. Der Senat spricht aber auch von einer entsprechenden Auslegung des Gesetzes129, von einer ausdehnenden Auslegung des die Zuteilung des Sorgerechts bei Ehescheidungen regelnden § 74 EheG130, von der gebotenen ergänzenden Gesetzesauslegung131 und von der ergänzenden Auslegung des § 74 EheG132. Das deutet darauf hin, dass er Rechtsfortbildung nicht als Gegenbegriff zur Auslegung, sondern entsprechend dem zivilprozessualen Sprachgebrauch weit und im Sinne von Rechtsfindung versteht. bb. Das Urteil des Bundesgerichtshofs zur allgemeinen aktiven Parteifähigkeit der Gewerkschaften im Zivilprozess133 wird heute noch als Beispiel für eine gelungene Rechtsfortbildung wegen einer seit Erlass des Gesetzes eingetretenen grundlegenden Veränderung der Sichtweisen und der Rechtslage angeführt134. In der Entscheidung selbst ist nur »negativ« von Rechtsfortbildung die Rede. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts135 liege keine Rechtsfortbildung contra legem vor136: »Um eine Rechtsfortbildung »contra legem« handelt es sich nämlich hier keinesfalls, wenn man, wie es geschehen muß, unter »lex« nicht nur isoliert die Vorschrift des § 50 ZPO, sondern die gesamte gesetzlich geordnete Rechtsstellung der Gewerkschaften in Betracht zieht. … Vielmehr wird die jetzt 127
BGHZ 19, 185, 194 f. BGHZ 19, 185, 194; s. auch S. 189 (»Ergänzung des Gesetzes«) sowie S. 190 und 191, wo jeweils vom Schließen einer Gesetzeslücke die Rede ist. 129 BGHZ 19, 185, 189. 130 BGHZ 19, 185, 191. – Der durch das Gleichberechtigungsgesetz zum 1.7.1958 außer Kraft gesetzte § 74 des Ehegesetzes von 1946 lautete auszugsweise: 128
§ 74 Sorge für die Person des Kindes (1) Ist die Ehe geschieden, so bestimmt das Vormundschaftsgericht, falls eine Einigung der Ehegatten nicht zustande gekommen ist, welchem von ihnen die Sorge für die Person des oder der gemeinsamen Kinder zustehen soll. Die Einigung der Ehegatten ist in einem schriftlichen Vorschlag binnen einer Frist von zwei Wochen nach Rechtskraft des Scheidungsurteils dem Vormundschaftsgericht zur Genehmigung vorzulegen. (2) Ist der Vorschlag innerhalb der in Abs. 1 bestimmten Frist nicht vorgelegt worden oder findet er nicht die Billigung des Vormundschaftsgerichts, so hat dasselbe diejenige Regelung zu treffen, die dem wohlverstandenen Interesse des oder der Kinder unter Berücksichtigung der gesamten Verhältnisse am besten entspricht. … … (6) Das Vormundschaftsgericht kann die Regelung jederzeit ändern, wenn es dies im Interesse des Wohls des oder der Kinder für angezeigt hält. 131 BGHZ 19, 185, 193. 132 BGHZ 19, 185, 193. 133 BGHZ 50, 325 ff. 134 Etwa von Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 942; vgl. auch bereits § 7 IV.3.b. 135 Zusammengefasst in BGHZ 50, 325, 326 f. 136 BGHZ 50, 325, 334 f.
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vom Senat getroffene Entscheidung von der in bezug auf die Gewerkschaften vom Gesetzgeber geschaffenen Gesamtrechtsordnung unumgänglich gefordert und steht daher mit ihr im Einklang«. Ein klares Bekenntnis zu seiner Rechtsfortbildung legt das Gericht nicht ab. Seine Willensentscheidung ist als bloße Erkenntnis und Umsetzung gesetzlicher Vorgaben gewandet: »Es ergibt sich somit, daß der bisher von der Rechtsprechung auch bei Gewerkschaften gezogene Umkehrschluß aus § 50 ZPO (keine aktive Parteifähigkeit) infolge einer materiellen Derogation durch den Gesetzgeber, die in der gesamten gewerkschaftsrechtlichen Gesetzgebung zu sehen ist, heute nicht mehr gezogen werden darf« 137. cc. Zum Miteigentum der beiden Grundstückseigentümer an der gemeinsamen Giebelmauer zwischen ihren zwei Häusern urteilte der Fünfte Senat, dass sich auch bei einem freiwilligen Abbruch des einen Hauses durch den Eigentümer jedenfalls dann nichts ändere, wenn damit der Zweck verbunden sei, alsbald an Stelle des abgebrochenen Hauses ein neues an die Giebelmauer anzubauen138. Die hier interessierende Passage der Begründung ist ausgesprochen allgemein gehalten139: »Die Zweifelsfragen um die Eigentumsverhältnisse bei Grenzüberbau im allgemeinen und bei zum beiderseitigen Hausanbau auf der Grundstücksgrenze errichteten Mauern (Kommunmauern) im besonderen sind weder im Bundesbaugesetz von 1960 noch in den Landesnachbarrechtsgesetzen näher geregelt worden; ihre Beantwortung ist nach wie vor der Auslegung allgemeiner Vorschriften und der Rechtsfortbildung durch die Rechtsprechung überlassen«. Im weiteren Verlauf der Begründung orientiert sich der Senat an seiner bisherigen Rechtsprechung und der dem § 953 BGB zugrundeliegenden Wertentscheidung. Seine veröffentlichten Äußerungen sprechen daher eher gegen die Deutung, er halte seine konkrete Entscheidung für eine Rechtsfortbildung und nicht für eine Auslegung. dd. In einem Beschluss aus dem Jahre 1975 war über die Zuständigkeit für die Erteilung eines Erbscheins nach einem mit letztem Wohnsitz im Gebiet der DDR verstorbenen deutschen Erblasser zu entscheiden, wenn sich im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland keine Nachlassgegenstände befanden und der Erbschein zur Geltendmachung von Lastenausgleichsansprüchen begehrt wurde140. Es ging zum einen um die Frage nach der interlokalen Zuständigkeit, d. h. nach der Zuständigkeit westdeutscher Nachlassgerichte im Verhältnis zu den Nachlassbehörden der DDR, und zum anderen um die Frage der örtlichen Zuständigkeit141. Der Vierte Senat begann mit einer Feststellung: Die interlokale Zuständigkeit sei gesetzlich nicht geregelt; ihre Bestimmung obliege der Rechtsprechung142. Da die Nachlassbehörden der DDR aufgrund einer zentralen Anweisung gehalten waren, Erbscheine, die als Unterlage für Lastenausgleichsansprü137 138 139 140 141 142
BGHZ 50, 325, 334 (Hervorhebungen im Original). BGHZ 57, 245 ff. BGHZ 57, 245, 248. BGHZ 65, 311. So BGHZ 65, 311, 314. BGHZ 65, 311, 314.
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che dienen sollten, nicht zu erteilen, bejahte der Senat für diesen Fall die interlokale Zuständigkeit westdeutscher Nachlassgerichte kraft Fürsorgebedürfnisses bzw. Notzuständigkeit143. Eine ausdrückliche Rechtsfortbildung liegt insoweit nicht vor. Sei die interlokale Zuständigkeit westdeutscher Nachlassgerichte gegeben, so heißt es im weiteren Verlauf der Begründung, dann müsse die örtliche Zuständigkeit, wenn sie sich dem Gesetz nicht entnehmen lasse, »in analoger Anwendung der gesetzlichen Vorschriften oder durch Rechtsfortbildung bestimmt werden«144. Keine der Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit könne unmittelbar angewendet werden145. Letztlich146 bejahte der Bundesgerichtshof »in Anwendung des Rechtsgedankens« des § 73 Abs. 2 FGG die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Schöneberg in Berlin-Schöneberg147. Diese Lösung bezeichnete er nicht als Rechtsfortbildung. Dass er die analoge Anwendung des § 73 Abs. 2 FGG dennoch als Rechtsfortbildung betrachtete, erscheint wegen seiner ausdrücklichen Unterscheidung zwischen der analogen Anwendung gesetzlicher Vorschriften einerseits und der Rechtsfortbildung andererseits unwahrscheinlich. Auch in weiteren Entscheidungen hat der Bundesgerichtshof zwischen Auslegung, Analogie und Rechtsfortbildung differenziert148. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die analoge Anwendung der Gesetze keineswegs zwingend und stets eine Rechtsfortbildung darstellt149. Es wird immer noch vertreten, der Analogieschluss sei generell als Anwendung der Gesetze und nicht als Rechtsfortbildung zu begreifen150. ee. In einem Urteil des Zweiten Senats zur Auslegung einer gesellschaftsvertraglichen Nachfolgeregelung heißt es zu den gegen sog. erbrechtliche Nachfolgeklauseln erhobenen Bedenken, diese hätten ganz offenbar ihren wesentlichen Grund darin, dass der Konflikt zwischen dem auf dem Prinzip der Gesamtrechtsnachfolge aufbauenden Erbrecht und dem auf der persönlichen Verbundenheit der Gesellschafter beruhenden Gesellschaftsrecht im Gesetz ungelöst geblieben sei; gerade das neuere wissenschaftliche Schrifttum habe aber deutlich gezeigt, dass jener Konflikt mit den Mitteln richterlicher Rechtsfortbildung zu bewältigen sei und praktikable Ergebnisse erzielt werden könnten, die trotz Anerkennung grundlegender gesellschaftsrechtlicher Notwendigkeiten alle beteiligten Interessen in der vom Erbrecht geforderten Weise zu berücksichtigen vermöchten151. Zu den von Teilen des Schrifttums alternativ propagierten sog. rechtsgeschäftlichen Nachfolgeklauseln wird angemerkt, sie liefen darauf hinaus, die in jedem Falle für die gesellschaftsrechtlichen Nachfolgeklauseln notwendige 143
BGHZ 65, 311, 315. BGHZ 65, 311, 316. 145 BGHZ 65, 311, 316 m.w.N. 146 Die eingehende Begründung findet sich in BGHZ 65, 311, 316 bis 320. 147 BGHZ 65, 318 und 320. Ergänzend stützte er sich auf § 7 Abs. 1 ZustErgG. 148 Vgl. etwa BGHZ 100, 157, 163; dazu oben g.aa. 149 S. § 3 II.2.m.bb.(1). 150 Vgl. zunächst nur Kramer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2005, S. 174 und 191, mit zahlreichen Nachweisen aus dem schweizerischen Schrifttum in Fn. 516; hierzu § 3 II.2.m.bb.(2). 151 BGHZ 68, 225, 230; hierzu bereits § 7 V.5.f.bb.(1). 144
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§ 8 Paradigmenwechsel und Begründungspraxis
Rechtsfortbildung vorzugsweise bei den §§ 328 ff. BGB anzusetzen, um mit deren Erweiterung ebenfalls zu brauchbaren Lösungen zu kommen152. Ob der Senat seine konkrete Lösung bzw. die aufgestellten Auslegungsvorgaben für eine Rechtsfortbildung hielt, blieb demgegenüber offen. ff. In seiner zweiten Entscheidung zu Geschlechtsumwandlung und Personenstand entschied der Vierte Zivilsenat, dass die Tatsache der Geschlechtsumwandlung in entsprechender Anwendung des § 47 PStG auf richterliche Anordnung im Geburtenbuch beizuschreiben sei153. Zuvor war seine erste Entscheidung, in der eine Änderung des Geburtseintrags im Wege der Rechtsfortbildung noch als nur dem Gesetzgeber zustehend abgelehnt worden war154, vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben worden155. In der zweiten Entscheidung zitierte der Vierte Zivilsenat zunächst das Bundesverfassungsgericht156: Solange der Gesetzgeber die personenstandsrechtlichen Fragen einer Geschlechtsumwandlung und deren Auswirkungen noch nicht geregelt habe, müsse das Gericht die Frage – ähnlich wie etwa im Fall der Gleichberechtigung von Mann und Frau vor Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgesetzes – durch richterliche Rechtsfortbildung lösen. Für den Senat stelle sich demnach nur noch die Frage, in welcher Weise das nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts bestehende Verfassungsgebot rechtstechnisch zu verwirklichen sei157. Hierfür müsse auf die Vorschrift des § 47 PStG zurückgegriffen werden. Diese Gesetzesbestimmung sehe die Änderung einer von Anfang an unrichtigen Eintragung aufgrund gerichtlicher Anordnung vor; sie treffe demnach auf den Fall der Geschlechtsumwandlung unmittelbar nicht zu. Eine entsprechende Anwendung des § 47 PStG sei jedoch geboten. Daraus folge, dass die Tatsache der Geschlechtsumwandlung zunächst vom Richter in einem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit festzustellen und erst aufgrund gerichtlicher Anordnung die Eintragung im Personenstandsbuch vorzunehmen sei158. Wegen der merklich distanzierten Ausführungen des Senats und der ungewöhnlich oberflächlichen Erörterung des § 47 PStG kann man vermuten, er habe sich über die Klassifizierung seiner Entscheidung keine näheren Gedanken gemacht und auf eine halbwegs einschlägige gesetzliche Norm zurückgegriffen, um die bindenden Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts – wohl oder übel – umzusetzen. Möglicherweise ging der Senat aber auch davon aus, der rechtsfortbildende Charakter seiner Lösung sei offensichtlich. Die entsprechende Anwendung einer Vorschrift stellt freilich, wie bereits gesagt, nicht zwingend eine Rechtsfortbildung dar159.
152 153 154 155 156 157 158 159
BGHZ 68, 225, 232. BGHZ 70, 20. BGHZ 57, 63, 69 f. BVerfGE 49, 286 ff. BGHZ 74, 20, 23. BGHZ 74, 20, 24. BGHZ 74, 20, 24. Vorstehend dd. a. E. m.w.N.
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gg. In seiner Entscheidung zu Ausscheidung und Teilung von Patentanmeldungen gibt der Zehnte Zivilsenat als Bundespatentgericht am Rande den nicht ausgeführten Hinweis, »da das Gesetz für diesen Fall keine Regelung enthält, ist eine solche im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung in Anlehnung an die Vorschriften der §§ 35 Abs. 3 Satz 1, 57 Abs. 1 Satz 4 PatG zu treffen«160. Diese Passage ließe sich u. U. auch der Gruppe »bloßes Beiwerk« zuordnen. Ob Rechtsfortbildung hier wirklich als Gegenbegriff zur Auslegung verwendet wird, lässt sich aufgrund der knappen Andeutungen des Senats nicht abschließend feststellen. hh. Das Urteil des Zweiten Senats zur Gebrauchsüberlassung als Eigenkapitalersatz im Sinne von § 32 a GmbHG161 stellt gleichfalls einen Grenzfall dar. In einem obiter dictum führte der Senat unter Berufung auf Ulmer sinngemäß aus, sofern die Rechtsfolgen der gesetzlichen Regelung über Gesellschafterdarlehen für die Gebrauchsüberlassung nicht passen sollten, müssten sie durch Rechtsfortbildung passend gemacht werden162. Die Frage nach einer solchen Rechtsfortbildung konnte konkret aber offen bleiben, weil die Parteien nicht über den Substanzwert des genutzten Grundstücks oder den Substanzwert dieser Nutzungen, sondern ausschließlich über den Mietzins stritten163. Ob das Wort Rechtsfortbildung im engeren methodischen oder im weiteren prozessualen Sinne benutzt wurde, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. ii. In den beiden zuletzt genannten Judikaten sind die den Ausdruck Rechtsfortbildung enthaltenden Passagen obiter dicta. Schon deshalb bleibt die genaue Begriffsbedeutung offen. Auch in weiteren der geschilderten Entscheidungen ist der Bezug der hier interessierenden Äußerungen zum konkreten Entscheidungsgegenstand eher lose. Mehrere Entscheidungen enthalten einander widersprechende Bezeichnungen. Bei allen acht hier »Zweifelsfälle« genannten Entscheidungen ist wegen der vagen Begründung unklar, ob der jeweilige Senat im Einzelfall von einer Fortbildung des Gesetzesrechts ausging oder seinen Ausspruch noch für eine Auslegung des Gesetzes hielt. m. Offene Rechtsfortbildungen Damit verbleiben für die Gruppe der offenen Rechtsfortbildungen insgesamt 12 Fälle164. Die angeführten Entscheidungen werden von den erkennenden Senaten selbst als Rechtsfortbildungen etikettiert. Definiert man »offene Rechtsfortbildung« als Vornahme einer Rechtsfortbildung, die als solche bezeichnet wird, dann handelt es sich freilich bei der Hälfte der 12 Entscheidungen um Grenzfälle, bei denen man zweifeln kann, ob tatsächlich überhaupt eine Rechtsfortbildung 160
BGHZ 98, 196, 205. BGHZ 109, 55 ff. 162 BGHZ 109, 55, 59. 163 Vgl. BGHZ 109, 55, 65 f. 164 BGHZ 4, 153, 158; 38, 270, 279; 67, 138, 148 und 151; 83, 122, 139; 95, 76, 79 f.; 108, 179, 186; 115, 157, 160; 135, 292, 296; 138, 224, 227; 143, 332, 337 f.; 146, 94, 96; 154, 205, 221 ff. 161
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vorliegt. Lediglich die anderen sechs Entscheidungen stellen »klare« offene Rechtsfortbildungen dar. aa. Eindeutige offene Rechtsfortbildungen enthalten die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zur Kürzung des Aufwendungsersatzanspruchs eines Kraftfahrers wegen Selbstaufopferung im Straßenverkehr165, zum Ausschluss des Rückgriffs eines Sozialversicherungsträgers im »LKW«-Fall166, das »Holzmüller«-Urteil167, das Urteil zum Ausgleich zwischen Bürge und Grundschuldbesteller168 sowie der kürzlich ergangene »Sterbehilfe«-Beschluss169. Hinzu kommt noch das nicht ganz so klare Urteil zur aktienrechtlichen Abfindung bei der Eingliederung in eine konzernierte Hauptgesellschaft170. (1) In einer Entscheidung zur Selbstaufopferung eines Kraftfahrers im Straßenverkehr führte der Sechste Zivilsenat die Möglichkeit ein, den in den sog. Rettungsfällen nach §§ 683 S. 1, 670 BGB bestehenden Ersatzanspruch wegen Mitverursachung zu kürzen171. Bei der Prüfung, in welchem Umfang der Gerettete Ersatz zu leisten habe, dürfe nicht verkannt werden, dass der erst in der Rechtsprechung entwickelte Ersatzanspruch des Geschäftsführers in solchen Rettungsfällen gegenüber dem im Gesetz ausdrücklich geregelten Ersatz für vermögensrechtliche Aufwendungen Besonderheiten zeige, denen ein voller Schadenersatz nicht immer gerecht werde; das gelte insbesondere, wenn beide Beteiligte schuldlos in eine Gefahrenlage geraten seien172. Bei dem Aufwendungsersatzanspruch handle es sich um keinen echten Schadensersatzanspruch; dem Retter sei vielmehr nur eine angemessene Entschädigung zu gewähren, bei deren Bemessung die verschiedenartigen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt werden müssten173. Die Eigenart dieser Fälle lasse es nicht zu, den Grundsatz der »Totalreparation«, der sonst unser Schadensrecht beherrsche, und das Prinzip des vollen Ersatzes aller sachgemäßen Aufwendungen, das im Auftragsrecht gelte, folgerichtig durchzuführen174: Vielmehr müsse dem Richter eine gewisse Freiheit bei der Bemessung des Ersatzanspruchs eingeräumt werden, damit er so der gemeinsamen Gefahrlage der Beteiligten und dem vom Kraftfahrer mitgesetzten Beitrag zum Entstehen der Gefahr Rechnung tragen könne. Da der Anspruch des Retters auf Ersatz von Körperschäden gegen den Begünstigten erst in der Rechtsprechung entwickelt und näher ausgestaltet worden sei, verstoße es nach Ansicht des Senats auch nicht gegen den Grundsatz der Bindung des Richters an das Gesetz, wenn die richterliche Rechtsfortbildung bei der Bemessung des Schadensersatzes
165 166 167 168 169 170 171 172 173 174
BGHZ 38, 270 ff. BGHZ 67, 138 ff. BGHZ 83, 122 ff. BGHZ 108, 179 ff. BGHZ 154, 205 ff. BGHZ 138, 224 ff. BGHZ 38, 270, 277 ff. BGHZ 38, 270, 277. BGHZ 38, 270, 279. BGHZ 38, 270, 279.
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den Besonderheiten Rechnung trage, die der Gesetzgeber bei der Regelung des Aufwendungsersatzes offenbar nicht erwogen habe175. Im Schrifttum wird demgegenüber bekanntlich verbreitet die Anerkennung eines eigenständigen, auf richterlicher Rechtsfortbildung beruhenden Schadensersatzanspruches bevorzugt, und zwar auch und gerade deshalb, weil die Anwendung des § 254 BGB in Fällen einer Schadensmitverantwortung des Geschäftsführers dogmatisch sauber nur bei einem Schadensersatzanspruch, nicht dagegen bei einem Aufwendungsersatzanspruch, begründet werden könne176. Die vom Senat gegebene Begründung ist angreifbar und in Teilen widersprüchlich und unklar. Dass es sich um eine rechtsfortbildende Entscheidung handelt, ist indes offensichtlich. (2) Im »LKW«-Fall entschied der Vierte Senat, dass ein Sozialversicherungsträger, der ein bei ihm versichertes Unfallopfer entschädigt, aber gegen den KfzHaftpflichtversicherer nach den §§ 3 Nr. 6 PflVG, 158 c Abs. 4 VVG keinen Anspruch auf Schadensersatz hat (»krankes« Versicherungsverhältnis), wegen seines Anspruchs aus § 1542 RVO177 gegen den am Unfall beteiligten, mitversicherten Fahrer unter den Voraussetzungen des § 158 i VVG keinen Rückgriff nehmen kann. Der Senat versagte also »im Wege der rechtsfortbildenden Lückenfüllung nach dem Vorbild des § 158 i VVG«178 den an sich bestehenden Rückgriffsanspruch des Sozialversicherers gegen den mitversicherten Fahrer eines Kraftfahrzeugs, der wegen einer nur vom Versicherungsnehmer (Kraftfahrzeughalter) verschuldeten Obliegenheitsverletzung den Versicherungsschutz gegenüber dem Haftpflichtversicherer verloren hatte. Infolge der gesetzlichen Konstruktion des § 158 i VVG weise der Versicherungsschutz des Fahrers eine empfindliche Lücke auf, weil der Sozialversicherungsträger, der den Haftpflichtversicherer wegen § 158 Abs. 4 VVG nicht in Anspruch nehmen könne, neben dem Halter auch den Fahrer aus übergegangenem Recht nach § 1542 RVO belangen werde, der den Schaden bei einer Insolvenz des im Innenverhältnis letztlich allein haftpflichtigen Versicherungsnehmers (Halters) dann endgültig tragen müsse179. Diese Lücke laufe dem gesetzgeberischen Plan beim Erlass des Pflichtversicherungsgesetzes von 1965, das die Kraftfahrzeugfahrer von Schadensersatzverpflichtungen freistellen wollte, zuwider180. Das Problem des Rückgriffs des Sozialversicherungsträgers beim mitversicherten Fahrer habe der Gesetzgeber übersehen181. Es wäre mit dem Charakter einer Pflichtversicherung und mit dem vom Gesetzgeber im Pflichtversicherungsänderungsgesetz von 1965 maßgeblich mitverfolgten Zweck eines Sozialschutzes für
175
BGHZ 38, 270, 279. Vgl. Canaris, RdA 1966, 41, 42 ff.; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts II/1, 13. Aufl. 1986, § 56 III (S. 418 f.); H. Seiler, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 4, 4. Aufl. 2005, § 670 Rn. 14; Sprau, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 65. Aufl. 2006, § 670 Rn. 9 ff. 177 Jetzt § 116 SGB X. 178 BGHZ 67, 138, 148 (Zusammenfassung des Ergebnisses). 179 BGHZ 67, 138, 147. 180 Vgl. im Einzelnen BGHZ 67, 138, 147 f. 181 BGHZ 67, 138, 148. 176
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den Kraftfahrzeugfahrer unvereinbar, wenn es die Rechtsprechung bei dieser Gesetzeslücke belassen und § 1542 RVO uneingeschränkt zu Lasten des mitversicherten Fahrers anwenden würde; ein solches Ergebnis könne nicht hingenommen werden182: »Vielmehr ist es die Aufgabe der Rechtsprechung, die systemwidrige Gesetzeslücke durch Rechtsfortbildung zu schließen«. Eine dem Zweck des Pflichtversicherungsgesetzes entsprechende Lückenfüllung lasse kein anderes Ergebnis offen als die Reduktion des Anwendungsbereichs des § 1542 RVO, also einen Ausschluss des Sozialversicherungsregresses gegenüber dem mitversicherten Fahrer eines Kraftfahrzeugs183. Nach alledem sei es gerechtfertigt, dem Sozialversicherer einen auf § 1542 RVO gestützten Rückgriffsanspruch gegen den mitversicherten Fahrer »im Wege der rechtsfortbildenden Lückenfüllung« nach dem Vorbild des § 158 i VVG zu versagen, sofern der Fahrer wegen einer nur vom Versicherungsnehmer (Kraftfahrzeughalter) verschuldeten Obliegenheitsverletzung den Versicherungsschutz gegenüber dem Haftpflichtversicherer verloren habe184. Hier wird nicht versucht, eine gesetzesrechtsfortbildende Lösung als Auslegung zu verkaufen. Die Darlegungen des Senats über seine Rechtsfortbildung lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. (3) Im »Holzmüller«-Urteil des Zweiten Zivilsenats185 findet sich der Begriff Rechtsfortbildung im Zusammenhang mit der Frage, welche Rechte den Aktionären zustehen, wenn der Vorstand einer Aktiengesellschaft den zur Zeit substanz- und ertragsmäßig bei weitem wertvolleren Teil des Betriebsvermögens auf eine zu diesem Zweck errichtete, zu 100% beherrschte Tochtergesellschaft übertragen hat und zu befürchten ist, Rechtsakte in der Tochtergesellschaft könnten sich auf die Mitgliedschafts- und Vermögensrechte der Aktionäre in der Obergesellschaft nachteilig auswirken186. Im Anschluss an eine breite wissenschaftliche Diskussion über ungeschriebene Mitwirkungsbefugnisse im Recht der verbundenen Unternehmen, in welcher ausgearbeitete Modelle für eine »konzernspezifische Binnenordnung« unterbreitet worden waren187, sprach der Senat aus, dass jedenfalls in der von ihm zu beurteilenden Konstellation ein Schutz der Aktionäre vor der Gefahr, dass der Vorstand die von ihm geschaffene Lage kraft seiner Vertretungsbefugnis dazu ausnutze, durch grundlegende Entscheidungen in der Tochtergesellschaft die ohnehin schon durch die Ausgliederung verkürzten Aktionärsrechte mittelbar noch weiter zu schmälern, unabweisbar geboten sei188: Sonst könnte die Verwaltung durch eine Betriebsverlagerung das gesetzlich gesicherte Recht der Aktionäre auf Mitwirkung in bestimmten wichtigen Angelegenheiten einfach ausschalten. Hier weise das Aktiengesetz in der Tat eine Lücke auf, die es in Anlehnung an seine Systematik und seine Wertungen zu schließen gelte. 182 183 184 185 186 187 188
BGHZ 67, 138, 148. BGHZ 67, 138, 148 f. BGHZ 67, 138, 151. Hierzu bereits § 7 V.5.f.bb.(4). BGHZ 83, 122, 136 ff., insb. S. 139. Nachweise in BGHZ 83, 122, 137 f. BGHZ 83, 122, 139.
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Die betroffenen Aktionäre auf künftige Gesetzesänderungen oder eine weitere rechtswissenschaftliche Abklärung zu verweisen, wie es das Berufungsgericht im Ergebnis für richtig halte, würde nicht nur einer notwendigen Rechtsfortbildung zu enge Grenzen ziehen. Es widerspräche vor allem der Tendenz des geltenden Aktienrechts, welches Minderheitsaktionäre auf mannigfache Weise vor einer Entwertung ihrer Mitgliedschaft durch unmittelbare oder mittelbare Eingriffe der Mehrheit und einer von ihr beeinflussten Verwaltung, gerade auch im Konzernverband, zu schützen suche. Der somit schon im geltenden Recht angelegte Schutz der Aktionäre lasse sich bei dem vorliegenden Sachverhalt sinnvoll und wirksam in der Weise erreichen, dass die Aktionäre der Obergesellschaft, wie im Schrifttum vorgeschlagen, Anspruch darauf haben, bei grundlegenden, für ihre Rechtsstellung bedeutsamen Entscheidungen in der Tochtergesellschaft über ihre Hauptversammlung so beteiligt zu werden, wie wenn es sich um eine Angelegenheit der Obergesellschaft selbst handelte189. Die wiedergegebenen Passagen der Begründung des »Holzmüller«-Urteils lassen deutlich erkennen, dass es sich um eine Rechtsfortbildung handelt. Erwähnenswert ist, dass die Entscheidung nach einer breiten Diskussion im rechtswissenschaftlichen Schrifttum erging, in welcher bei den angebotenen Lösungsmöglichkeiten auch die Frage nach dem Vorliegen einer Rechtsfortbildung gestellt und bejahend beantwortet worden war190. (4) Ebenfalls im Anschluss an eine ausführliche Erörterung in der Fachliteratur191 entschied der Neunte Senat, zwischen mehreren auf gleicher Stufe stehenden Sicherungsgebern bestehe bei Fehlen einer zwischen ihnen getroffenen besonderen Vereinbarung eine Ausgleichsverpflichtung entsprechend den Regeln über die Gesamtschuld192. Hier gebiete es der Grundsatz ausgleichender Gerechtigkeit, auf das Verhältnis von Bürge und Grundschuldbesteller den hinter § 426 Abs. 1 BGB stehenden allgemeinen Rechtsgedanken einer anteiligen Haftung anzuwenden; ohne eine besondere Vereinbarung unter Sicherungsgebern, die, ohne selbst Hauptschuldner zu sein, unabhängig voneinander und gleichrangig dasselbe Risiko abdecken, entspreche allein die anteilige Haftung der Billigkeit (§ 242 BGB)193. Die Begründung lautete im Einzelnen: Das Gesetz habe die Ausgleichsansprüche zwischen Mitsicherern nur lückenhaft geregelt; eine am Wortlaut haftende Auslegung führe zu Zufallsergebnissen, die vom Gesetzgeber nicht gesehen worden und nicht gewollt gewesen seien194. Die frühere oder spätere Inanspruchnahme von Mitsicherern sei kein sachgerechter Gesichtspunkt, den Ausfall im Verhältnis zueinander zu bestimmen, weil sie ebenso wie die lückenhafte gesetzliche Regelung dem Grundsatz ausgleichender Gerechtigkeit widerspreche195. Weiter heißt es in den Gründen196: »Der Senat hält es daher zur Vermeidung von Zu189 190 191 192 193 194 195 196
BGHZ 83, 122, 140. Vgl. die Nachweise in BGHZ 83, 122, 138. Vgl. nur die Nachweise in BGHZ 108, 179, 182. BGHZ 108, 179 ff. BGHZ 108, 179, 183. BGHZ 108, 179, 183 f. BGHZ 108, 179,186. BGHZ 108, 179, 186.
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fallsergebnissen für geboten, für den Besteller einer Grundschuld im Wege der Rechtsfortbildung den allgemeinen Rechtsgedanken anzuwenden, dass mehrere auf gleicher Stufe stehende Sicherungsgeber ohne eine zwischen ihnen getroffene Vereinbarung untereinander entsprechend den Gesamtschuldregeln (§ 426 Abs. 1 BGB) zur Ausgleichung verpflichtet sind«. Er verweist auf die §§ 774, 1143, 1225 BGB, die immerhin zeigten, dass dem Gesetz Ausgleichsansprüche zwischen Mitsicherern nicht fremd seien197. Dann fährt er fort198: »Vor dem Hintergrund dieser Vorschriften leitet der Senat die Ausgleichspflicht aus den schuldrechtlichen Sicherungsverträgen zwischen dem Gläubiger und den Sicherungsgebern über § 242 BGB her. Ungeachtet des unterschiedlichen Inhalts der Verträge, insbesondere der vielfältigen Sicherungsmittel, die vereinbart werden können, verfolgen sämtliche Sicherungsgeber, die gleichrangige Sicherheiten gewähren, den gemeinsamen Zweck, die Hauptschuld des Gläubigers zu sichern«. Diese Ausführungen scheinen auf eine Gesetzesrechtsfortbildung hinzudeuten, die mit einer Fortbildung des Vertragsrechts kombiniert ist, zumindest aber durch Letztere ergänzt wird. Jedenfalls legt der Senat seine Rechtsfortbildung offen. Auch hier war die zu beurteilende Fallkonstellation vorab im Schrifttum ausführlich erörtert worden. (5) Der spektakuläre »Sterbehilfe«-Beschluss des Zwölften Zivilsenats199 erging gleichfalls im Anschluss an eine über Jahre geführte, eingehende wissenschaftliche Diskussion. Die Entscheidung zur Bindungswirkung einer sog. Patientenverfügung und zur vormundschaftsgerichtlichen Genehmigungsbedürftigkeit von Betreuerhandeln in Sterbehilfefällen enthält zahlreiche obiter dicta. (a) Anlass für den Beschluss des Bundesgerichtshofs war eine Vorlage nach § 28 Abs. 2 FGG. Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht hatte die Sache dem Bundesgerichthof vorgelegt, weil es der Auffassung war, bei nicht einwilligungsfähigen Patienten sei für den Behandlungsabbruch die Einwilligung des Betreuers erforderlich und ausreichend; für eine vormundschaftsgerichtliche Genehmigung dieser Einwilligung fehle es an einer rechtlichen Grundlage200. Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht wollte von den Beschlüssen anderer Oberlandesgerichte abweichen, in denen ausgesprochen worden war, dass die Einwilligung des Betreuers eines nicht mehr entscheidungsfähigen, irreversibel hirngeschädigten Betroffenen in den Abbruch der Ernährung mittels einer PEGMagensonde analog § 1904 BGB der vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung bedürfe201. (b) Der Bundesgerichtshof entschied, dass sich die Entscheidungszuständigkeit des Vormundschaftsgerichts nicht aus einer analogen Anwendung des § 1904 BGB, 197 BGHZ 108, 179, 186: Diesen Vorschriften stehe allerdings § 1173 Abs. 1 BGB gegenüber, der nur das dingliche Recht betreffe und deshalb nach § 1192 Abs. 1 BGB auch für die Gesamtgrundschuld gelte. Die regresslose Ausgestaltung der Gesamthypothek sei jedoch, so heißt es unter Berufung auf die Motive, als Ausnahmeregelung zu sehen, die auf andere Fälle nicht ausgedehnt werden könne. 198 BGHZ 108, 179, 186. 199 BGHZ 154, 205 ff.; hierzu bereits § 7 V.5.d.rr. 200 Vgl. BGHZ 154, 205, 207 f. 201 OLG Frankfurt, FamRZ 1998, 1137; OLG Karlsruhe, FamRZ 2002, 575.
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sondern aus einem unabweisbaren Bedürfnis des Betreuungsrechts ergebe202. Zwar könnten die §§ 1904 bis 1907 BGB nicht analog herangezogen werden, um eine vormundschaftsgerichtliche Überprüfung des Verlangens des Beteiligten, die künstliche Ernährung des Betroffenen einzustellen, zu begründen203. Das schließe freilich die Befugnis des Senats nicht aus, für die verweigerte Einwilligung des Betreuers in eine lebensverlängernde oder -erhaltende Behandlung oder Weiterbehandlung eines nicht einwilligungsfähigen Betroffenen »im Wege einer Fortbildung des Betreuungsrechts« eine vormundschaftsgerichtliche Prüfungszuständigkeit zu eröffnen204: »Die Fortbildung des Rechts … ergibt sich vorliegend aus einer Gesamtschau des Betreuungsrechts und dem unabweisbaren Bedürfnis, mit den Instrumenten dieses Rechts auch auf Fragen im Grenzbereich menschlichen Lebens und Sterbens für alle Beteiligten rechtlich verantwortbare Antworten zu finden«. (c) Auch in seinen näheren Ausführungen bezeichnet der Senat seine Lösung mehrfach als Rechtsfortbildung. Die einzelnen, hier aus dem Zusammenhang gerissenen Sätze lauten: Der Vorrang des Gesetzes hindere »eine solche Rechtsfortbildung« nicht205. Es lasse sich nicht auf ein beredtes Schweigen des Gesetzes schließen, das es verbieten könnte, »im Wege der Rechtsfortbildung« die unterlassene Einwilligung des Betreuers in lebensverlängernde oder -erhaltende Maßnahmen einer vormundschaftsgerichtlichen Kontrolle zu unterwerfen206. Der Gesetzesvorbehalt stehe »einer solchen Rechtsfortbildung« nicht entgegen207. Eine im Wege der »Fortbildung des Betreuungsrechts« zu begründende Prüfungszuständigkeit des Vormundschaftsgerichts finde ihre natürliche Grenze dort, wo der Regelungsbereich des Betreuungsrechts ende208. Ein Unterlassen der Einwilligung in die angebotene Behandlung werde – nach der »im Wege der Rechtsfortbildung« gewonnenen Auffassung des Senats – nur mit Zustimmung des Vormundschaftsgerichts wirksam209. (d) Die für die vormundschaftsgerichtliche Prüfungszuständigkeit gegebene Begründung ist in zweifacher Hinsicht ungewöhnlich. Zum einen hat der Senat »methodisch einsam einen vorher von niemandem beschrittenen Sonderweg eingeschlagen«210. Nicht die analoge Anwendung gesetzlicher Vorschriften, sondern ein unabweisbares Bedürfnis des Betreuungsrechts soll seine Rechtsfortbildung rechtfertigen. Nach Hufen liegt darin ein handgreiflicher Zirkelschluss: Rechtsfortbildung werde betrieben und damit begründet, dass ein Bedürfnis nach Rechtsfortbildung bestehe; das sei methodisch nicht haltbar211. Der Senat hat dem Gebot möglichst gesetzesnaher Rechtsfortbildung212, nach dem sich der 202 BGHZ 154, 205, 206 (letzter Satz des zweiten Leitsatzes bzw. – genauer – des zweiten Absatzes der Leitsätze). 203 Eingehende, in der Sache nicht überzeugende Begründung in BGHZ 154, 205, 219 ff. 204 So BGHZ 154, 205, 221. 205 BGHZ 154, 205, 221. 206 BGHZ 154, 205, 222. 207 BGHZ 154, 205, 223. 208 BGHZ 154, 205, 223. 209 BGHZ 154, 205, 225. 210 Spickhoff, JZ 2003, 739, 740. 211 Hufen, ZRP 2003, 248, 249. 212 S. zu dem Gebot möglichst gesetzesnaher Rechtsfindung und Rechtsfortbildung, das eine Ausprägung der Gesetzesbindung ist, C. Fischer, ZfA 2002, 215, 223 f.
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Richter vom geschriebenen Gesetz nur in dem zur Rechtsverwirklichung im konkreten Fall unerlässlichen Maße entfernen darf213, nicht hinreichend Rechnung getragen. Zum anderen fällt die Begründung des Senats aus dem Rahmen des bislang Üblichen, weil er seine Lösung insgesamt viermal ausdrücklich Rechtsfortbildung nennt und sie zudem noch dreimal als Fortbildung des (Betreuungs-)Rechts kennzeichnet. (e) Man mag daher über die methodische Vertretbarkeit des gewählten Lösungsweges streiten. Die in der Methodenlehre verbreitet erhobene Forderung, Rechtsfortbildungen offen zu legen, hat der Senat freilich geradezu mustergültig erfüllt. (6) Nicht ganz so eindeutig wie die bislang geschilderten offenen Rechtsfortbildungen ist das Urteil zur aktienrechtlichen Abfindung bei der Eingliederung in eine konzertierte Hauptgesellschaft aus dem Jahr 1998214. Der Zweite Senat entschied, bei der Mehrheitseingliederung einer (Enkel-)Gesellschaft in eine bereits innerhalb eines mehrstufigen Konzerns eingegliederte Hauptgesellschaft seien den ausgeschiedenen Aktionären alternativ zu einer angemessenen Barabfindung nicht eigene Aktien der Hauptgesellschaft, sondern entsprechend § 320 b Abs. 1 S. 3 AktG solche der Konzernspitzengesellschaft zu gewähren215. (a) Teile der Begründung könnten auf den ersten Blick aus methodischer Perspektive dafür sprechen, die Entscheidung zumindest im Grenzbereich zur Auslegung oder sogar als Auslegung einzuordnen. In einem bereits bestehenden mehrstufigen Eingliederungskonzern, bei dem die Eingliederungen von »oben nach unten« erfolgt seien, würde, so heißt es, die wörtliche Anwendung des § 320 b Abs. 1 S. 3 AktG wegen § 327 Abs. 1 Nr. 3 AktG zu einem komplizierten Verfahren der Aus- und Wiedereingliederung zwingen, an dessen Durchführung niemand ein vernünftiges, schützenswertes Interesse haben könne216. Bei dieser Konstellation sei nach Ansicht des Senats – in Übereinstimmung mit der nahezu einhelligen Meinung im Schrifttum – eine direkte Abfindung in Aktien der Spitzengesellschaft als »Hauptgesellschaft der obersten Konzernstufe« geboten, um den Aufbau eines mehrstufigen Eingliederungskonzerns »von oben nach unten« zu ermöglichen217. Die sinngemäße Anwendung des § 320 b Abs. 1 S. 3 AktG auf die Konzernspitzengesellschaft im Falle der Eingliederung einer (Enkel-)Gesellschaft in eine bereits eingegliederte Tochtergesellschaft stehe in Einklang mit der Zielvorstellung des Gesetzgebers, die Eingliederung nicht daran scheitern zu lassen, dass sich noch eine kleine Minderheit von Aktien in den Händen bekannter oder unbekannter Aktionäre befinde, und die ausgeschiedenen Minderheitsaktionäre durch volle wirtschaftliche Entschädigung für den Verlust ihrer Rechtsposition abzufinden; die Analogie halte sich in den Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung, weil der Gesetzgeber des Aktiengesetzes 1965 eine besondere Regelung für den
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BVerfGE 34, 269, 292; 96, 375, 394 f. BGHZ 138, 224 ff.; s. bereits § 7 V.f.bb.(4). BGHZ 138, 224 (Leitsatz). BGHZ 138, 224, 226, mit eingehender Darstellung der praktischen Schwierigkeiten. BGHZ 138, 224, 226.
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ersichtlich nicht bedachten Sonderfall der mehrstufigen Konzernbildung »von oben«, für den die allgemeine Regelung nicht angemessen sei, offenbar versehentlich nicht getroffen habe und durch die Analogie nur die mutmaßliche Vorstellung des Gesetzgebers zur Geltung gebracht werde218. Weil diese Problematik im Gesetzgebungsverfahren einfach übersehen wurde, sei davon auszugehen, dass der Gesetzgeber eine Regelung treffen wollte, die den Belangen aller Beteiligten gerecht werde und deshalb vernünftig sei; im Falle einer eingegliederten Hauptgesellschaft sei das allein eine Abfindung in Aktien der Konzernspitzengesellschaft219. (b) Der Senat operiert hier »souverän« mit dem »Willen des Gesetzgebers«, wenn er dessen »mutmaßliche Vorstellung«220 dergestalt beschreibt, dass dieser eine vernünftige Regelung habe treffen wollen und die konkret gefundene Lösung so mit der Aura der gesetzgeberischen Billigung versieht. Würde man die Ausführungen zur »Zielvorstellung des Gesetzgebers« und zu seiner mutmaßlichen Vorstellung so verstehen, dass der Senat mit ihnen den historischen Gesetzeszweck des § 320 b Abs. 1 S. 3 AktG bzw. seiner Vorgängerbestimmung bestimmen wollte, so wäre das konkrete Ergebnis des Senats noch von diesem (sehr weiten) Gesetzessinn gedeckt. Nach der Gesetzessinngrenze läge dann noch eine Auslegung vor221. Die Wortsinngrenze scheint gleichfalls zunächst zu keiner Rechtsfortbildung zu zwingen. Der Senat bezeichnet die Spitzengesellschaft selbst als »Hauptgesellschaft der obersten Konzernstufe«. Eine solche Auslegung des Begriffs Hauptgesellschaft in § 320 b Abs. 1 AktG wird durch die Wortsinngrenze jedenfalls dann nicht verboten, wenn man mit der Mehrzahl ihrer Vertreter auf die äußerste mögliche Bedeutung eines Wortes in der Umgangssprache abstellt222. Die entscheidungserhebliche Frage, ob den ausgeschiedenen Aktionären bei der Eingliederung ihrer Gesellschaft in eine bereits innerhalb eines mehrstufigen Konzerns eingegliederte Hauptgesellschaft als Abfindung Aktien der Konzernspitzengesellschaft gewährt werden dürfen, hätte dann also durch eine Auslegung des § 320 b Abs. 1 S. 2 AktG beantwortet werden können223. (c) Ein solches, vordergründig mögliches Verständnis wird der Entscheidung des Senats bei genauerer Betrachtung nicht gerecht. Es wird hinreichend deutlich, dass das Urteil das Gesetzesrecht fortbildet. Aus gesellschaftsrechtlicher Perspektive mag man geneigt sein, den rechtsfortbildenden Charakter der Entschei218
BGHZ 138, 224, 227, mit Nachweisen aus der Gesetzesbegründung. BGHZ 138, 224, 228, mit einer Bewertung der betroffenen Interessen. 220 Die »mutmaßliche Vorstellung« ist ein Widerspruch in sich. Gemeint ist der Wille, den der Gesetzgeber mutmaßlich gehabt haben würde, wenn er sich das nicht gesehene tatsächliche Problem vorgestellt hätte. 221 Vgl. zur Gesetzessinn- und zur Wortlautgrenze § 3 II.1.a.bb. und 2.f 222 Vgl. stellvertretend für viele Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 322 ff. 223 Diese Interpretation hätte allerdings bedenkliche Konsequenzen. Wenn man die »Hauptgesellschaft der obersten Konzernspitze« nicht nur als Hauptgesellschaft im Sinne von S. 2, sondern auch als Hauptgesellschaft im Sinne von S. 3 ansehen würde, käme keine Barabfindung in Betracht, weil die Konzernspitzengesellschaft keine abhängige Gesellschaft ist. Für die Wortlautgrenze kommt es aber zunächst nur darauf an, ob die jeweilige Lösung nach dem Gesetz sprachlich möglich ist. 219
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dung schon deshalb zu bejahen, weil die Frage der Abfindung bei einer Eingliederung »von oben nach unten« im mehrstufigen Konzern seit jeher als Problem der lückenfüllenden Analogie behandelt worden zu sein scheint224. Eingehend entwickelt wurde diese Position freilich nicht225. Indes stellt die Entscheidung des Senats auch aus methodischem Blickwinkel eine Rechtsfortbildung dar. Wie der Senat ausführt, hat der Gesetzgeber des Aktiengesetzes 1965 eine besondere Regelung für den ersichtlich nicht bedachten Sonderfall der mehrstufigen Konzernbildung »von oben«, für den die allgemeine Regelung nicht angemessen ist, offenbar versehentlich nicht getroffen226. Die konkrete gesetzgeberische Interessenbewertung, die den Sätzen 2 und 3 des früheren § 320 Abs. 5 und jetzigen § 320 b Abs. 1 AktG zugrunde liegt227, hilft daher nicht weiter. Vor diesem Hintergrund sind die missverständlichen Passagen in der Begründung des Senats zu sehen. Tatsächlich wollte der Senat mit ihnen nicht den Normzweck des § 320 b Abs. 1 S. 3 AktG umschreiben. Seine (zu) eng an § 320 b Abs. 1 S. 3 AktG angelehnte Argumentation und die überflüssige Formulierung vom gerechten und vernünftigen Regelungswillen des Gesetzgebers sollten vielmehr lediglich verdeutlichen, dass seine Rechtsfortbildung nicht contra ratio legem erfolgte. Eine konkrete gesetzgeberische Interessenbewertung, die der Senat hätte vollziehen können, existierte nicht. Seine Entscheidung überschritt daher die Gesetzessinngrenze. Sie ist auch nicht deshalb eine Auslegung, weil sie sich innerhalb der Grenze des möglichen Wortlauts bewegt. Zwar ist auch die Hauptgesellschaft der obersten Konzernstufe eine Hauptgesellschaft im sprachlichen Sinne. Die vorstehenden Erwägungen belegen aber einmal mehr, dass die äußerste mögliche Bedeutung eines Wortes in der Umgangssprache zufällig und kein taugliches Merkmal zur Abgrenzung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung im Zivilrecht ist228. Entscheidend ist wie immer der Kontext des Begriffes. In der Grundnorm der aktienrechtlichen Eingliederung, in § 319 Abs. 1 AktG, wird der Begriff der Hauptgesellschaft ausschließlich zur Kennzeichnung der unmittelbar an dem Eingliederungsvorgang beteiligten Obergesellschaft verwendet. Hierdurch ist auch die Grenze selbst für eine extensive Wortinterpretation abgesteckt229. (d) Die im Anschluss an zahlreiche literarische Vorarbeiten ergangene Entscheidung des Senats zur aktienrechtlichen Abfindung bei der Eingliederung »von oben nach unten« im mehrstufigen Konzern stellt mithin eine Fortbildung des Gesetzesrechts dar. Die rein konstruktive Frage, ob statt der entsprechenden 224
Insoweit grundlegend E. Rehbinder, ZGR 1977, 581, 615. Eine vereinzelt gebliebene Gegenansicht, nach der aufgrund einer »systematischen Auslegung« der identischen Vorgängerbestimmung des § 320 Abs. 5 S. 3 AktG a. F. neben der Barabfindung stets Aktien der die Hauptgesellschaft beherrschenden oder an ihr mit Mehrheit beteiligten Gesellschaft anzubieten sind, ist deutlich ausführlicher begründet worden, s. Kamprad/ Römer, AG 1990, 486 ff. Die hier interessierenden methodischen Ausführungen bleiben auch dort an der Oberfläche. 226 Eingehend BGHZ 138, 224, 228; s. ergänzend noch Bernhardt, BB 1966, 257, 260. 227 Hierzu Habersack, in: Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 4. Aufl. 2005, § 320 b AktG Rn. 9; Hüffer, Aktiengesetz, 7. Aufl. 2006, § 320 b Rn. 5. 228 Vgl. bereits § 3 II.1.a.bb., § 4 V.4.f.aa. und § 7 IV.1. 229 So Sonnenschein, BB 1975, 1088, 1092. 225
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III. Zur heutigen Begründungspraxis
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Anwendung des § 320 b Abs. 1 S. 3 AktG nicht eher die analoge Anwendung des § 305 Abs. 2 Nr. 2 AktG angezeigt gewesen wäre, kann demgegenüber vernachlässigt werden. Der rechtsfortbildende Charakter der Entscheidung ist auch bei der Anknüpfung an § 320 b Abs. 1 S. 3 AktG entgegen dem ersten Eindruck klar. (7) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass den wenigen »klaren« offen rechtsfortbildenden Entscheidungen des Bundesgerichtshofs ganz überwiegend eine breite Diskussion im rechtswissenschaftlichen Schrifttum vorausging, in welcher auch die Frage nach dem Vorliegen einer Rechtsfortbildung gestellt und bejahend beantwortet worden war. Verglichen mit den vielen durch das Schrifttum gründlich aufbereiteten Rechtsfortbildungsfragen ist die Zahl der offen rechtsfortbildenden Entscheidungen des Bundesgerichtshofs indes verschwindend gering. Auch eine breite wissenschaftliche Diskussion über eine mögliche Rechtsfortbildung hat also nicht zwangsläufig zur Folge, dass der rechtsfortbildende Charakter der sie vornehmenden Rechtsprechung offen gelegt wird. bb. Sechs der 12 offenen Rechtsfortbildungen sind – wie bereits gesagt – Grenzfälle230. Zwar werden die Entscheidungen von den erkennenden Senaten als Rechtsfortbildungen etikettiert. Man kann aber zweifeln, ob tatsächlich überhaupt eine Fortbildung des Gesetzesrechts vorliegt. Im Einzelnen handelt es sich um den Beschluss des Großen Senats zur Abtretung unpfändbarer Rentenansprüche231, ein Urteil zur Verjährung des Pflichtteilsanspruchs bei Wegfall der Kenntnis von einer beeinträchtigenden Verfügung232, drei Entscheidungen zu Abfindungsergänzungsansprüchen nach § 13 HöfeO233 sowie ein Urteil zur Anfechtung von Gläubigerhandlungen nach der Gesamtvollstreckungsordnung234. (1) Bereits im Jahr 1951 entschied der Große Senat für Zivilsachen, dass unpfändbare Unfallrentenansprüche an denjenigen abgetreten werden können, der dem Rentenberechtigten ohne Rechtspflicht laufend Bezüge zum jeweiligen Fälligkeitstermin in Höhe der jeweils fällig gewordenen abgetretenen Ansprüche gewährt, wenn der Rentenberechtigte vorher den vollen Gegenwert erhalten hat oder wenn die Abtretung durch die jeweils termingemäß zu leistenden Zahlungen bedingt ist235. (a) Die Frage, ob unpfändbare Unfallrentenansprüche gegen den Schädiger trotz des in § 400 BGB geregelten Abtretungsverbots auf einen Dritten übergeleitet werden können, stellte sich insbesondere dann, wenn der Geschädigte oder seine Hinterbliebenen Leistungen aus Fürsorge- und Versorgungseinrichtungen eines privaten Arbeitgebers erhielten236. Ohne eine Abtretung der Ersatzansprüche konnte bei solchen freiwilligen Leistungen eines Dritten das – so der Senat –
230 BGHZ 4, 153, 158; 95, 76, 79 f.; 115, 157, 160; 135, 292, 296; 138, 224, 227; 143, 332, 337 f.; 146, 94, 96. 231 BGHZ 4, 153 ff. 232 BGHZ 95, 76 ff. 233 BGHZ 115, 157 ff.; 135, 292 ff.; 146, 94 ff. 234 BGHZ 146, 94 ff. 235 BGHZ 4, 153 (Erster Leitsatz). 236 Angedeutet in BGHZ 4, 153, 156 und 159 f.
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unerwünschte Ergebnis eintreten, dass der Schädiger frei ausgehe oder der Geschädigte eine Doppelzahlung erhalte237. (b) In den Gründen führte der Große Senat aus, das allgemein gefasste Verbot des § 400 BGB stehe »seinem Wortlaut nach der Abtretung einer unpfändbaren Rente auch dann entgegen, wenn derjenige, dem die Rente abgetreten werden soll, dem Rentenberechtigten ohne Rechtspflicht laufend Bezüge zum jeweiligen Fälligkeitstermin gewährt. Nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift ist jedoch eine Einschränkung des Abtretungsverbotes insoweit für zulässig und geboten zu erachten, als der Rentenberechtigte den vollen Gegenwert für die abgetretenen Rentenbeträge erhält«238. Ratio des § 400 BGB sei die Sicherung des nötigen Lebensunterhalts des Forderungsinhabers und das öffentliche Interesse daran, dass dieser nicht der öffentlichen Fürsorge zur Last falle239. Soweit der Rentenberechtigte von einem Dritten tatsächlich Zahlungen in Höhe seiner Ansprüche gegen den Schädiger erhalte, bestehe nach dem mit der Vorschrift des § 400 BGB verfolgten Zweck kein Bedenken mehr, bis zur Höhe der geleisteten Zahlungen die Abtretung der Rentenansprüche zuzulassen; denn in diesen Fällen werde der Rentenberechtigte durch die Abtretung niemals schlechter, sondern regelmäßig sogar besser gestellt, als wenn er nur auf die Geltendmachung seiner Rentenforderungen gegen den Schädiger angewiesen wäre240. Die sehr ausführliche Begründung für diese zentralen Grundsätze241 lautet auszugsweise242: »Werden Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen durch einen Unfall oder ein sonstiges schädigendes Ereignis hilfsbedürftig, so besteht immer schon dann ein sozialpolitisches Bedürfnis, für die in der Regel wirtschaftlich schwachen Geschädigten zu sorgen, solange etwaige Ersatzansprüche gegen den Schädiger noch streitig sind oder solange aus anderen Gründen von dem Ersatzpflichtigen keine Zahlungen zu erlangen sind. In diesen Fällen ist eine wirtschaftliche Unterstützung der Geschädigten, die sonst häufig auf die öffentliche Fürsorge angewiesen sein werden, dringend erwünscht. … Der Rentenberechtigte wird der häufig ungewissen, zeitraubenden, mit erheblichen Kosten verbundenen und auch aus sonstigen Gründen oft schwierigen Rechtsverfolgung gegen den Schädiger enthoben. Was nach dem Willen des Gesetzgebers für den Regelfall durch das Verbot der Abtretung nach § 400 BGB erreicht werden soll, nämlich die Sicherung des notwendigen Lebensunterhalts für den Rentenberechtigten, kann hier ausnahmsweise nur durch die Zulassung der Abtretung erreicht werden. Entgegen dem an sich eindeutigen Wortlaut des § 400 BGB ist diese Möglichkeit unter Beachtung aller Vorsicht, die eine solche abändernde, aber zweckgetreue Einschränkung einer Verbotsnorm erfordert, zu bejahen, weil sonst der vom Gesetz verfolgte Zweck, den Rentenberechtigten zu schützen, in sein Gegenteil verkehrt würde. … Ohne eine Abtretung der Ersatzansprüche 237
Vgl. BGHZ 4, 153, 158. BGHZ 4, 153, 154 (Hervorhebungen im Original). 239 BGHZ 4, 153, 154 f. 240 BGHZ 4, 153, 156. 241 Sie sind hier in einem – dem vorstehenden – Absatz zusammengefasst worden. Im Beschluss des Großen Senats erstrecken sie sich über insgesamt vier Seiten, s. BGHZ 4, 153 bis 156. 242 Vgl. im Einzelnen BGHZ 4, 153 bis 158. 238
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III. Zur heutigen Begründungspraxis
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wird ein an sich zur Hilfe bereiter Dritter häufig doch nicht geneigt sein, Zahlungen zu leisten. … Die Zulassung der Abtretung von Rentenansprüchen für den Fall der freiwilligen Zahlung führt also in jeder Hinsicht zu einem vernünftigen Ergebnis, das mit dem Sinn und Zweck des § 400 BGB voll in Einklang steht, indem es nicht nur dem wirtschaftlichen Interesse des Rentenberechtigten, sondern auch dem öffentlichen Interesse zu dienen geneigt ist, weil dem Rentenberechtigten auf diese Weise nicht selten die Inanspruchnahme der öffentlichen Fürsorge erspart bleibt. Für diese Fälle ist die Verneinung einer Abtretungsmöglichkeit als eine dem Sinn und Zweck des § 400 BGB widersprechende Wortinterpretation abzulehnen«. Im Folgenden legte der Senat noch dar, dass »die abändernde Einschränkung der Verbotsnorm des § 400 BGB als Akt der Rechtsfortbildung« im Einklang mit der zwischenzeitlichen Rechtsentwicklung stehe243. (c) Festzuhalten ist, dass der Große Senat nach seinen eigenen Worten einen Widerspruch zwischen dem »eindeutigen« Wortlaut und dem Zweck des § 400 BGB aufgelöst hat, indem er eine zweckwidrige »Wortinterpretation« ablehnte. Die ratio legis ist nicht fortgebildet, sondern umgesetzt worden. Die durch § 400 BGB geschützten Interessen des Forderungsinhabers und der Allgemeinheit erforderten eine »zweckgetreue Einschränkung einer Verbotsnorm«. Der Senat korrigierte den – gemessen am Normzweck – zu weit geratenen Wortlaut, indem er das Abtretungsverbot einschränkte und einen Ausnahmetatbestand schuf. Legt man die heutige übliche Terminologie244 zugrunde, so hat er den § 400 BGB teleologisch reduziert. Juristen verbinden mit dem Begriff teleologische Reduktion regelmäßig allein die klassischen Anwendungsfälle dieser Figur, bei denen – wie hier – der Zweck einer Norm gegenüber ihrem zu weit geratenen Wortlaut durchgesetzt wird. Eine derartige »teleologische Reduktion«, stellt aber, wie bereits dargelegt wurde245, nur dann zwangsläufig eine Rechtsfortbildung dar, wenn man die Grenze zur Auslegung beim äußersten möglichen Wortsinn zieht und diese fiktive Trennlinie im konkreten Fall als überschritten ansieht. Hält man demgegenüber die gesetzgeberische Interessenbewertung für das maßgebende Abgrenzungsmerkmal, so liegt bei einer normzweckbedingten Korrektur des Wortlauts keine Rechtsfortbildung, sondern eine einschränkende Auslegung vor. Weil die gesetzgeberische Interessenbewertung vom Großen Senat nicht modifiziert, sondern verwirklicht wurde, kann also trefflich darüber gestritten werden, ob die vorgenommene Einschränkung des § 400 BGB überhaupt eine Fortbildung des Gesetzesrechts darstellt. Bejaht man demgegenüber im Zivilrecht eine Wortlautgrenze der Auslegung246, dann handelt es sich bei der Entscheidung des Großen Senats jedenfalls um den unproblematisch zulässigen Fall einer »Wortlaut«-Fortbildung. (2) Im nächsten anzuführenden Urteil aus dem Jahre 1985 war über die Verjährung von Pflichtteilsansprüchen in einem Sonderfall zu entscheiden247: Der Pflicht-
243 244 245 246 247
BGHZ 4, 153, 160 bis 162. § 3 II.2.m.aa. § 3 II.2.m.aa.(5). Dagegen § 3 II.1.a.bb., § 4 V.4.f.aa. und § 7 IV.1. BGHZ 95, 76.
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teilsberechtigte hatte die ihn enterbende Verfügung von Todes wegen gekannt, aber kurze Zeit danach von einer späteren Erklärung des Erblassers erfahren, durch die allem Anschein nach die Enterbung wieder aufgehoben worden war. Damit falle – so der Senat – die frühere Kenntnis von der enterbenden Verfügung fort; auch der bis dahin bereits abgelaufene Teil der Verjährungsfrist sei als nicht abgelaufen anzusehen. (a) Die Begründung lautet248: Die Frist des § 2332 Abs. 1 BGB, nach welcher der Pflichtteilsberechtigte ab Kenntnis vom Eintritt des Erbfalls und von der ihn beeinträchtigenden Verfügung drei Jahre Zeit hat, um seinen Anspruch geltend zu machen, sei dem Gesetzgeber ausreichend erschienen, um die Interessen des Pflichtteilsberechtigten hinreichend zu wahren. Dabei sei allerdings nicht bedacht worden, was der Betreffende tun solle, wenn er zwar das ihn enterbende Testament kenne, kurze Zeit danach aber eine weitere letztwillige Verfügung des Erblassers entdeckt werde, durch die – allem Anschein nach – die Enterbung später wieder aufgehoben worden sei. In einer solchen Lage habe der Pflichtteilsberechtigte keinerlei Veranlassung mehr, den früher von ihm in Betracht gezogenen Pflichtteilsanspruch weiter zu verfolgen. Ihm von Gesetzes wegen dennoch zuzumuten, er solle den – aussichtslosen – Versuch unternehmen, den – jetzt unbegründet erscheinenden – Pflichtteilsanspruch vorsorglich neben seinem vermeintlichen Erbrecht durchzusetzen, wäre nicht sinnvoll. »Vielmehr muss die in § 2332 Abs. 1 BGB gelassene, hier aufgedeckte Lücke im Wege richterlicher Rechtsfortbildung geschlossen werden. Hier bietet sich die Lösung an, die der frühere IV. Zivilsenat bei der Lösung eines vergleichbaren Problems im Bereich des § 1594 BGB für die Anfechtung der Ehelichkeit gefunden hat«249. Der Senat gab anschließend eine über zwei Seiten reichende Passage dieser Entscheidung250 wörtlich wieder251, in der im Hinblick auf § 1594 Abs. 2 BGB a. F.252 zur Kenntnis von einem möglichen Ehebruch ausgeführt worden war, das Gesetz räume dem Mann einen Zeitraum von zwei Jahren ab Kenntnis ein, innerhalb dessen er sich überlegen solle, ob er die Anfechtungsklage erheben wolle oder nicht253. Weiter heißt es dort254: »Zu einer solchen Überlegung kann aber dann für den Mann kein Anlaß mehr bestehen, wenn ihm neue Umstände bekannt wurden, die ihm die Überzeugung gaben und bei verständiger Würdigung der Sachlage auch geben konnten, daß das, was er bisher erfahren und was für ihn die Kenntnis begründet hatte, unrichtig war. Auch in diesem Falle die Ausschlußfrist durchgreifen zu lassen, würde bedeuten, den Mann zur Erhebung einer Anfechtungsklage zu zwingen, die nicht nur er aus seiner Sicht, sondern auch jeder
248
BGHZ 95, 76, 78 ff. BGHZ 95, 76, 79. 250 BGHZ 61, 195 ff. 251 Vgl. BGHZ 95, 76, 79. 252 Von 1938 bis Anfang 1998 lautete § 1594 Abs. 2 S. 1 BGB mit geringen sprachlichen Veränderungen (»Nichtehelichkeit« statt »Unehelichkeit« durch NEhelG von 1969): »Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Mann Kenntnis von den Umständen erlangt hat, die für die Nichtehelichkeit des Kindes sprechen«. 253 BGHZ 61, 195, 199. 254 BGHZ 61, 195, 199. 249
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verständig Urteilende für aussichtslos halten mußte. ... In einem solchen Fall muß es deswegen so angesehen werden, daß mit dem Fortfall der früheren Kenntnis auch der schon begonnene Fristablauf wieder entfällt«. Diese überzeugenden Ausführungen seien, so fährt der Senat im Anschluss an sein wörtliches Zitat fort, geeignet, auch im Bereich des § 2332 Abs. 1 BGB brauchbare Ergebnisse zu ermöglichen, und könnten daher hierher übertragen werden255. (b) Trotz der entsprechenden Urteilsausführungen ist zweifelhaft, ob tatsächlich das Gesetzesrecht fortgebildet worden ist. In der Entscheidung zur Ehelichkeitsanfechtung, deren Argumentationsgang der Senat ausdrücklich auf den von ihm zu beurteilenden Fall überträgt, findet sich das Wort Rechtsfortbildung jedenfalls nicht. Dort scheint der Bundesgerichtshof eine Auslegungslösung vertreten zu haben. Jetzt sprach der Senat davon, dass die in § 2332 Abs. 1 BGB gelassene Lücke im Wege richterlicher Rechtsfortbildung geschlossen werden müsse256. Um was für eine Art von Rechtsfortbildung es sich konkret handeln sollte, blieb offen. Aus methodischer Perspektive erscheint allenfalls eine teleologische Reduktion wegen einer Ausnahmelücke257 diskutabel, bei der aber, wie gerade unter (1) nochmals dargelegt, stets fraglich ist, ob eine Rechtsfortbildung vorliegt. Sieht man den Sinn des § 2332 Abs. 1 BGB mit dem Senat darin, dem Pflichtteilsberechtigen einen dreijährigen Überlegungszeitraum einzuräumen, so kann sein Ergebnis jedenfalls dann unproblematisch durch Auslegung erzielt werden, wenn man die Gesetzessinngrenze vertritt. Aber auch der Wortlaut der Norm stellt letztlich keine unüberwindbare Schranke dar. So könnte man beispielsweise definieren: Eine Kenntnis im Sinne des § 2332 Abs. 1 BGB liegt nicht (mehr) vor, wenn der Pflichtteilsberechtigte von einer ihn enterbenden Verfügung erfährt, aber kurz darauf Mitteilung von einer weiteren Erklärung des Erblassers erhält, durch die allem Anschein nach die Enterbung später wieder aufgehoben worden ist258. Sprachlich wäre eine solche Auslegung des Tatbestandsmerkmals »Kenntnis« ohne weiteres möglich. (3) In seiner ersten Entscheidung zu § 13 HöfeO i. d. F. v. 29.3.1976259 hatte der Senat für Landwirtschaftssachen zu entscheiden, ob aus der Zahlung einer 255
BGHZ 95, 76, 80. BGHZ 95, 76, 79. 257 Hierunter wird das Fehlen einer durch den Zweck der interpretierten Norm gebotenen Ausnahmeregelung verstanden, vgl. nur Kramer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2005, S. 170 f.; Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 848. 258 Diese Begriffserläuterung lehnt sich an den Leitsatz der hier erörterten Entscheidung an. An die Stelle von »kurz darauf« könnte etwa auch »innerhalb des gesetzlichen Überlegungszeitraums« gesetzt werden. 259 Die hier interessierenden Passagen der Vorschrift lauten: 256
§ 13 Ergänzung der Abfindung wegen Wegfalls des höferechtlichen Zwecks (1) Veräußert der Hoferbe innerhalb von zwanzig Jahren nach dem Erbfall den Hof, so können die nach § 12 Berechtigten unter Anrechnung einer bereits empfangenen Abfindung die Herausgabe des Erlöses zu dem Teil verlangen, der ihrem nach dem allgemeinen Recht bemessenen Anteil am Nachlass oder an dessen Wert entspricht. Das gilt auch, wenn zum Hof gehörende Grundstücke einzeln oder nacheinander veräußert werden und die dadurch erzielten Erlöse insgesamt ein Zehntel des Hofeswertes (§ 12 Abs. 2) übersteigen, es sei denn, dass die Veräußerung zur Erhaltung des Hofes erforderlich war. … …
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§ 8 Paradigmenwechsel und Begründungspraxis
Brandversicherungssumme für Hofbestandteile ein Nachabfindungsanspruch folgen könne260. (a) Anders als das Beschwerdegericht ging er davon aus, dass § 13 Abs. 4 b) HöfeO auf Versicherungsleistungen für eine abgebrannte Scheune nicht anwendbar sei, weil es sich hierbei nicht um eine Nutzung im Sinne von § 100 BGB handle; jedoch könne in rechtsanaloger Anwendung von § 13 HöfeO auch aus der Zahlung einer Brandversicherungssumme für Hofbestandteile ein Nachabfindungsanspruch folgen261. Ein solcher Anspruch sei nicht auf die in § 13 Abs. 1 und Abs. 4 HöfeO ausdrücklich erwähnten Fälle beschränkt. Die Höfeordnung wolle die ungeteilte Erhaltung des Hofes im Erbgang sicherstellen, um den Hoferben die Fortführung der Bewirtschaftung zu ermöglichen. Der nachträgliche Wegfall dieses auch in der amtlichen Begründung zum Änderungsgesetz betonten höferechtlichen Zwecks könne sich vielfältig äußern. Auch bei der Neufassung der Höfeordnung sei erkannt worden, dass die Beschränkung der Abfindungsergänzungsansprüche auf den Fall der Veräußerung von Grund und Boden zu eng war262: Deshalb seien neben den Anspruchstatbeständen des § 13 Abs. 1 HöfeO in Abs. 4 der Vorschrift zwei weitere Fälle aufgeführt worden, deren Regelung – so die amtliche Begründung – das rechtspolitische Erfordernis nach einer Ausweitung des Anspruchstatbestandes »besonders angezeigt erscheinen« lasse. Vor diesem Hintergrund seien die im Gesetz genannten Fälle zwar typisch, aber nicht erschöpfend263; der Zweck der Vorschrift erfordere es vielmehr, über die genannten Einzeltatbestände »im Wege richterlicher Rechtsfortbildung« weitere Fälle mit einzubeziehen. Die auf den zu entscheidenden Fall bezogenen Ausführungen des Senats für Landwirtschaftssachen blieben bemerkenswert allgemein264: Mit dem Zweck von § 13 HöfeO wäre es nicht vereinbar, wenn der Hoferbe eine Brandversicherungssumme kassieren und nicht zum Wiederaufbau verwenden265 könnte, ohne grundsätzlich einem Abfindungsergänzungsanspruch ausgesetzt zu sein. Dieser Fall könne im Ergebnis nicht anders behandelt werden als die Veräußerung von Hofbestandteilen. Wenn nach § 13 Abs. 4 b) HöfeO schon erhebliche Gewinne aus einer Nutzungsänderung von Hofteilen ohne deren Substanzschmälerung eine Abfindungsergänzung rechtfertigten, so müsse dies grundsätzlich erst recht gelten, wenn
(4) Absatz 1 Satz 1 gilt entsprechend, wenn der Hoferbe innerhalb von zwanzig Jahren nach dem Erbfall a) wesentliche Teile des Hofzubehörs veräußert oder verwertet, es sei denn, dass dies im Rahmen einer ordnungsmäßigen Bewirtschaftung liegt, oder b) den Hof oder Teile davon auf andere Weise als land- oder forstwirtschaftlich nutzt und dadurch erhebliche Gewinne erzielt. 260 BGHZ 115, 157 ff. 261 BGHZ 115, 157, 159. 262 BGHZ 115, 157, 160. 263 BGHZ 115, 157, 160, unter Berufung auf Wöhrmann/Stöcker, Das Landwirtschaftserbrecht, 5. Aufl. 1988, § 13 HöfeO Rn. 21; OLG Celle, AgrarR 1984, 219 ff. 264 Vgl. BGHZ 115, 157, 160. 265 In einem obiter dictum wies der Senat darauf hin, dass der Hoferbe, der die Brandversicherungssumme zum Wiederaufbau verwende, entsprechend § 13 Abs. 2 HöfeO das sog. Reinvestitionsprivileg für sich in Anspruch nehmen könne, s. BGHZ 115, 157, 161.
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III. Zur heutigen Begründungspraxis
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der Hoferbe über eine brandbedingte Substanzschmälerung eine Versicherungsleistung erhalte und so der höferechtliche Zweck seiner Begünstigung entfalle. (b) In zwei späteren Entscheidungen zum Abfindungsergänzungsanspruch nach § 13 HöfeO übernahm der Senat für Landwirtschaftssachen die Terminologie des eben geschilderten Beschlusses. Die allgemeinen Rechtsausführungen in seiner Entscheidung zur Nachabfindungspflicht für den Erlös aus der Veräußerung eines Milchkontingents (»Milchquote«) stellen eine straffe Zusammenfassung der gerade auszugsweise wiedergegebenen Passagen dar und enden mit den Worten266: » … sind die im Gesetz genannten Fälle zwar typisch aber nicht erschöpfend. Der Zweck der Vorschrift erfordert es vielmehr, über die genannten Einzeltatbestände im Wege richterlicher Rechtsfortbildung weitere Fälle einzubeziehen … (vgl. Senatsbeschl. BGHZ 115, 157, 159 ff. …)«. Als der Senat für Landwirtschaftssachen einen Abfindungsergänzungsanspruch nach § 13 HöfeO bejahte, weil ein Hof außerhalb einer ordnungsgemäßen Bewirtschaftung mit Grundpfandrechten belastet worden war267, fiel der Begriff Rechtsfortbildung gleichfalls im Zusammenhang mit der grundlegenden Senatsentscheidung: Abfindungsansprüche seien nicht auf die in § 13 Abs. 1 und Abs. 4 HöfeO ausdrücklich geregelten Fälle beschränkt; vielmehr erfordere es der Zweck der Vorschrift, »über die genannten Einzeltatbestände im Wege richterlicher Rechtsfortbildung weitere Fälle einzubeziehen (Senat, BGHZ 115, 157, 159 ff.; 135, 292, 296 f.)«. (c) Indes ist durchaus fraglich, ob der Senat in seiner Grundsatzentscheidung zu § 13 HöfeO i. d. F. v. 29.3.1976 wirklich das Gesetzesrecht fortgebildet hat oder ob sich sein Ergebnis nicht bereits aufgrund einer Auslegung des § 13 Abs. 4 b) HöfeO ergibt268. (aa) Nach der Gesetzessinngrenze ist entscheidend, ob ein Widerspruch zum historischen Gesetzeszweck besteht, ob die gesetzgeberische Interessenbewertung verändert wird269. Der Senat für Landwirtschaftssachen hat den Zweck des § 13 HöfeO unter Berufung auf die amtliche Begründung des Änderungsgesetzes folgendermaßen umschrieben270: Die Privilegierung des Hoferben und das den weichenden Erben zugemutete Opfer sei gerechtfertigt, um die ungeteilte Erhaltung des Hofes im Erbgang sicherstellen und dem Hoferben die Fortführung der Bewirtschaftung zu ermöglichen; dieser höferechtliche Zweck könne nachträglich wegfallen271. § 13 Abs. 4 b) HöfeO ist eine unmittelbare Ausprägung des (Wegfalls des) höferechtlichen Zwecks272. Sieht man den Normzweck des § 13 HöfeO darin, sinnlos gewordene und nicht mehr zu rechtfertigende Sonderopfer auszugleichen und dem Berechtigten eine Abfindung zu gewähren, weil der Hof266
BGHZ 135, 292, 296. BGHZ 146, 94. 268 Aus grundsätzlichen Erwägungen zweifelnd auch Wöhrmann/Stöcker, Das Landwirtschaftserbrecht, 8. Aufl. 2004, § 13 HöfeO Rn. 20. 269 Vgl. § 3 II.1.a.bb. und 2.f. 270 BGHZ 115, 157, 159. 271 Vgl. insoweit auch die amtliche Überschrift zu § 13 HöfeO: » … Wegfall(s) des höferechtlichen Zwecks«; s. zur ratio des § 13 HöfeO noch Wöhrmann/Stöcker, Das Landwirtschaftserbrecht, 8. Aufl. 2004, § 13 HöfeO Rn. 3; OLG Celle, AgrarR 1984, 219: »agrarpolitische Zielsetzung«. 272 Wöhrmann/Stöcker, Das Landwirtschaftserbrecht, 8. Aufl. 2004, § 13 HöfeO Rn. 70. 267
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erbe Grundstücke, Hofteile oder wertvolles Hofeszubehör durch Um- bzw. Entwidmung aus dem Hofverband löst und außerhalb einer ordnungsmäßigen Bewirtschaftung »versilbert« oder dadurch erhebliche Gewinne erzielt, dass er den Hof oder Hofteile anders als land- und forstwirtschaftlich nutzt, dann steht die Entscheidung des Senats für Landwirtschaftssachen hierzu nicht im Widerspruch. Wird eine Brandversicherungssumme für untergegangene Hofbestandteile gezahlt und nicht zu deren Wiederaufbau, sondern zu hof- bzw. bewirtschaftungsfremden Zwecken verwendet, so fällt der Bestandteil praktisch endgültig aus dem Hofverbund und insoweit auch der Grund für die erbrechtliche Privilegierung des Landwirts weg. Der Zweck des § 13 HöfeO ist durch die Entscheidung des Senats für Landwirtschaftssachen daher nicht verändert, sondern entsprechend der gesetzgeberischen Interessenbewertung verwirklicht worden. Nach der Gesetzessinngrenze läge also eine Auslegung vor. (bb) Aber auch die Wortlautschranke zwingt zu keiner »Rechtsfortbildung«. § 13 HöfeO ist eine Norm, die beachtliche Auslegungsspielräume lässt273. Der Senat rückt die Modalitäten des § 13 Abs. 4 HöfeO selbst in die Nähe von Regelbeispielen, wenn er davon spricht, dass die im Gesetz genannten Fälle zwar typisch, aber nicht erschöpfend seien274. Vor diesem Hintergrund ist es schwer verständlich, dass er das Tatbestandsmerkmal »nutzt« in § 13 Abs. 4 b) HöfeO als »Nutzungen« gemäß § 100 BGB liest. Das vom Senat zitierte höferechtliche Schrifttum kannte diese Lesart nicht275. Es mutet im schlechten Sinne begriffsjuristisch an, wenn der Senat im Anschluss an eine frühere Entscheidung ohne inhaltliche Begründung276 den Satz aufstellt277: »Was als Nutzung des Hofes oder von Hofteilen gewertet werden kann, bestimmt sich nach der Legaldefinition des § 100 BGB (BGHZ 94, 306, 309), umfaßt mithin die Ziehung von Früchten (§ 99 BGB) und Gebrauchsvorteilen«. Demgegenüber knüpft § 13 Abs. 4 b) HöfeO daran an, dass der Hoferbe den Hof oder Teile davon »auf andere Weise als landoder forstwirtschaftlich nutzt«. Der Begriff »Nutzungen« oder »Nutzung« findet sich entgegen der Ausführungen des Senats in der Norm nicht. Der Kontext spricht dafür, das Verb im Sinne von »zu seinem Nutzen verwerten«, »benutzen«, »ausnutzen«, »gebrauchen« oder »verwenden« zu verstehen. Diese Deutung stimmt im Übrigen auch mit dem allgemeinen Sprachgebrauch überein278. 273 Vgl. insoweit auch Wöhrmann/Stöcker, Das Landwirtschaftserbrecht, 8. Aufl. 2004, § 13 HöfeO Rn. 20, wo § 13 Abs. 4 b) HöfeO als übergeordneter Nachabfindungstatbestand und als Auffangtatbestand für alle nicht ausdrücklich geregelten Tatbestände angesehen wird; s. auch Rn. 71 zum »grundsätzlichen Missverständnis« in der Rechtsprechung darüber, »wann und was im Rahmen des § 13 Abs. 4 b) nachabzufinden ist«. 274 BGHZ 115, 157, 160. 275 S. Wöhrmann/Stöcker, Das Landwirtschaftserbrecht, 5. Aufl. 1998, § 13 HöfeO Rn. 59 ff.; vgl. allerdings bereits OLG Celle, AgrarR 1984, 219 und 220, wo es im Anschluss an die erstinstanzliche Begründung hieß, die Veräußerung bzw. Substanzminderung eines Rechtes sei keine Nutzung, dann aber § 13 Abs. 4 b) HöfeO »erst recht« (entsprechend) angewendet wurde. 276 Sie findet sich auch nicht in der zitierten Vorentscheidung. Dort ging es um die vom Senat für Landwirtschaftssachen unter Berufung auf § 99 Abs. 2 BGB entgegen der Vorinstanz bejahte Frage, ob die Veräußerung eines Rechts sich als dessen Nutzung im Sinne der §§ 99 ff. BGB darstelle, vgl. BGHZ 94, 306, 309. 277 BGHZ 115, 157, 159. 278 Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Band 4, 1978, Stichwort »nutzen«.
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Wer den Wortlaut einer gesetzlichen Vorschrift künstlich verändert und auf ein angesichts des Regelungszusammenhanges fernliegendes, technisches Begriffsverständnis verkürzt, ist freilich fast zwangsläufig genötigt, die dann zu enge Wortlautgrenze durch eine »Rechtsfortbildung« zu durchbrechen. (4) Die »offene Rechtsfortbildung« zur Anfechtung von Gläubigerhandlungen nach der Gesamtvollstreckungsordnung279 liegt zumindest dann im Grenzbereich zur Auslegung, wenn man die Normzweckbetrachtungen des Neunten Zivilsenats zu § 10 GesO als zutreffend unterstellt. (a) Ausdrücklich war in der Gesamtvollstreckungsordnung nur die Anfechtung von Rechtshandlungen des Schuldners geregelt. Bei einer bloßen Wortlautauslegung des § 10 Abs. 1 GesO müsse – so der Senat – die Anfechtung von Gläubigerhandlungen ausscheiden280. Der Wortlaut des § 10 Abs. 1 GesO genüge jedoch nicht, um aus ihm den Willen des Gesetzgebers zu entnehmen, die Anfechtung von Rechtshandlungen eines Gläubigers solle schlechthin ausgeschlossen sein; vielmehr handele es sich bei der Vernachlässigung von Gläubigerhandlungen um eine ungewollte Regelungslücke, die nach dem Vorbild von Konkursund Insolvenzordnung auszufüllen sei281. Begründet wurde dieser Ausgangspunkt mit dem besonderen Charakter der Gesamtvollstreckungsordnung, welcher bei ihrer Auslegung berücksichtigt werden müsse282. (b) Die Gesamtvollstreckungsordnung, die von 1990 bis 1998 einschließlich in den Neuen Bundesländern und im Ostteil Berlins galt, war in der Tat ein Übergangsgesetz besonderer Art. Sie war noch vom Ministerrat der DDR zur Umsetzung eines Regelungsauftrages aus dem Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18.5.1990 als Gesamtvollstreckungsverordnung erlassen worden283. Im Einigungsvertrag wurde sie von einer Rechtsverordnung zum partiellen Bundesgesetz aufgewertet, in einigen Punkten geändert und mit ihrem endgültigen Namen Gesamtvollstreckungsordnung versehen284. Amtliche Gesetzesmaterialien gab es nicht. Die neue Gesamtvollstreckungsverordnung entstand in wenigen Tagen285. Ihre inhaltlichen Wurzeln lagen in verschiedenen Gebieten. Mit den Worten des Neunten Senats vereinte sie als »Mittelweg« zwischen der zur Zeit ihrer Schaffung seit langem als reformbedürftig erkannten 279
BGHZ 143, 332 ff. BGHZ 143, 332, 333. 281 BGHZ 143, 332, 334. 282 So BGHZ 143, 332, 334. 283 Hierzu Lübchen/Landfermann, ZIP 1990, 829 ff.; Schmidt-Räntsch, DTZ 1990, 199 ff.; Landfermann, FS Merz, 1992, S. 367, 368 f. und 380 ff.; straffe Darstellung der Entstehungsgeschichte bei G. Fischer, ZIP 1997, 717, 718 f., wo sich unter anderem der Hinweis findet, dass Lübchen und Landfermann als Ministerialbeamte unmittelbar an der Novellierung der alten DDR-Gesamtvollstreckungsverordnung im DDR-Justizministerium beteiligt gewesen seien. Landfermann leitete außerdem die Arbeitsgruppe Insolvenzrechtsreform im Bundesministerium der Justiz in Bonn, vgl. Lübchen/Landfermann, ZIP 1990, 829. 284 Vgl. insoweit Schmidt-Räntsch, DTZ 1990, 344 ff., mit einem Überblick zu den wenigen inhaltlichen Änderungen auf S. 345 f. 285 G. Fischer, ZIP 1997, 717, 719 m.w.N. 280
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Konkursordnung und der damals noch nicht ausdiskutierten Insolvenzrechtsreform drei unterschiedliche Normenbereiche286. Die Einzelregelungen beruhten auf Vorbildern aus der Gesamtvollstreckungsverordnung der DDR von 1975, aus der Konkursordnung von 1877 oder aus dem 1990 vorliegenden Referentenentwurf für ein Gesetz zur Reform des Insolvenzrechts287, der aber noch nicht als hinreichend ausgereift angesehen wurde, um insgesamt in Kraft gesetzt zu werden288. Die Gesamtvollstreckungsordnung sollte keine »auch nur einigermaßen vollständige Regelung der insolvenzrechtlichen Fragen« enthalten289. Über ihre Lückenhaftigkeit bestand Einigkeit290. Es handelte sich um ein »fragmentarisches Werk«291. Der Text der 23 Paragraphen enthaltenden Gesamtvollstreckungsordnung war – so der Senat – bewusst knapp gefasst292 und wies eine Vielzahl von Lücken auf293. Aus redaktionellen Gründen wurde bei umfangreichen Regelungen bzw. Normenkomplexen des bundesdeutschen Konkursrechts nur die jeweilige Grundnorm übertragen294. Die zuständigen Referenten waren der Auffassung, dass bei der Entscheidung von Einzelfragen die detaillierteren Regelungen der Konkursordnung zu berücksichtigen seien295. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands sollte die Gesamtvollstreckungsordnung zwar als eigenständige Regelung erhalten bleiben296, aber – so der Neunte Senat – mit dem Ziel einer weitgehenden Rechtsangleichung an das Insolvenzrecht der Bundesrepublik297. Deshalb soll nach dem Bundesgerichtshof zur 286
BGHZ 143, 332, 334. Vgl. BGHZ 143, 332, 334. 288 BGHZ 135, 30, 34 m.w.N.; eingehend hierzu Lübchen/Landfermann, ZIP 1990, 829, 830. 289 So BGHZ 135, 30, 34, unter Berufung auf Lübchen/Landfermann, ZIP 1990, 829, 830, wo es zur neuen Gesamtvollstreckungsverordnung heißt, dass die Lösung der Einzelfragen in weit größerem Maße als nach bundesdeutschem Recht der Rechtsprechung übertragen worden sei. 290 Vgl. BGHZ 135, 30, 34; Schmidt-Räntsch, DtZ 1990, 344, 346. 291 BGHZ 139, 319, 322; G. Fischer, ZIP 1997, 717, 719; ähnlich BGHZ 131, 189, 199. 292 Zur Anpassung der neuen Vorschriften der Gesamtvollstreckungsverordnung an die bisherige Verordnung, die aus 18 Paragraphen bestanden hatte, Lübchen/Landfermann, ZIP 1990, 829, 830. 293 BGHZ 143, 332, 334. 294 Lübchen/Landfermann, ZIP 1990, 829, 830, die in Fn. 9 als Beispiel für die gewählte Normierungstechnik den damaligen § 10 GesVVO und späteren § 10 GesO anführen, dessen zwei Absätze das Gegenstück zu den §§ 29 bis 42 KO bildeten. – Abweichender Erklärungsansatz bei Hess/Binz/Wienberg, Gesamtvollstreckungsordnung, 4. Aufl. 1998, Einleitung Rn. 44 m.w.N.: Die sog. Lücken des Gesetzes hätten auch darauf beruht, dass »am Gesetzgebungsverfahren beteiligte Personen gesetzgebungswidrig durch die Schaffung einer lückenhaften GesO versuchen wollten, den ins Stocken geratenen Prozeß zur Schaffung eines neuen Insolvenzrechts wieder zu beleben bzw. zu beschleunigen«. 295 Lübchen/Landfermann, NJ 1990, 396; dies., ZIP 1990, 829, 830 und 838; ebenso im Grundsatz Schmidt-Räntsch, DTZ 1990, 344, 346 f.; detailliert zur Auslegung der Gesamtvollstreckungsordnung dann Landfermann, FS Merz, 1992, S. 367, 380 ff. 296 Vgl. hierzu: Unterrichtung durch die Bundesregierung, Erläuterungen zu den Anlagen zum Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990 – Einigungsvertrag, BT-Drucks. 11/7817, S. 8, Zu Abschnitt I, Zu Nummern 1 bis 6 (Insolvenzrecht). 297 So BGHZ 135, 30, 34 unter Berufung auf Art. 4 des Vertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. Mai 1990, BGBl. II, S. 537 f. mit Anlage III Abschn. II Nr. 6, S. 554. An der zuerst genannten Stelle finden sich lediglich allgemeine Ausführungen über die erforderliche Rechtsanpassung. In der Anlage III mit der Überschrift »Von der 287
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Schließung von Lücken in der Gesamtvollstreckungsordnung auf die im Referentenentwurf vorgesehenen neuen insolvenzrechtlichen Bestimmungen wenigstens insoweit zurückgegriffen werden können, als die Vorschriften der Konkursordnung schon 1990 als reformbedürftig empfunden wurden und gerade die zur Abhilfe bestimmten Reformvorschläge inzwischen in die neue Insolvenzordnung übernommen worden sind298. (c) Vor diesem normativen Hintergrund299 ist die vom Senat Auslegung genannte Interpretation zu sehen, die im Ergebnis dem grundlegenden Beitrag des Bundesrichters Gero Fischer300 folgte: Die rudimentäre Regelung des Anfechtungsrechts in § 10 GesO spreche dafür, dass mit ihr Rechtshandlungen von Gläubigern und Dritten nicht von der Anfechtbarkeit ausgenommen werden sollten301. Ihr liege, ebenso wie den die Anfechtung von Gläubigerhandlungen vorsehenden Normen der Konkurs- und Insolvenzordnung, der Schutzzweck der Gläubigergleichbehandlung zugrunde, welcher das Kernstück jedes Insolvenzverfahrens bilde302. Wollte man Rechtshandlungen der Gläubiger von der Anfechtbarkeit nach § 10 Abs. 1 Nr. 4 GesO ausnehmen, entstünde eine Schutzlücke, die mit den allgemein anerkannten Gerechtigkeitsvorstellungen, die den vergleichbaren Vorschriften von Konkurs- und Insolvenzordnung zugrunde liegen, nicht zu vereinbaren wäre und auf andere Weise nicht hinlänglich geschlossen werden könnte303. Ein Wille des Gesetzgebers der Gesamtvollstreckungsordnung, sich ohne zureichende Sachgründe derart von der Systemgerechtigkeit des überkommenen und künftigen Insolvenzanfechtungsrechts zu entfernen, hätte deutlicher zum Ausdruck gebracht werden müssen; allein aus dem Wortlaut von § 10 Abs. 1 vor Nr. 1 und Nr. 4 GesO lasse sich ein solcher Wille nicht ableiten304: Deutschen Demokratischen Republik aufzuhebende oder zu ändernde Rechtsvorschriften« heißt es am angegebenen Ort: »Die Verordnung über die Gesamtvollstreckung vom 18. Dezember 1975 (GBl. I 1976 Nr. 1 S. 5) wird um Vorschriften für den Konkurs von Unternehmen ergänzt«. Es geht also um die »alte« Gesamtvollstreckungsverordnung der DDR. Den vom Neunten Senat gezogenen Schluss lassen die von ihm zum Beleg angeführten Stellen des Staatsvertrages folglich nicht zu. 298 BGHZ 135, 30, 34 f. m.w.N.; zur Auslegung der Gesamtvollstreckungsordnung auch BGHZ 139, 319, 322 f.; zuletzt BGHZ 143, 332, 334 f.: Rückgriff auf Vorschriften der KO, bei deren Reformbedürftigkeit auf die Insolvenzrechtsreform, ggfs. auf gemeinsame Rechtsprinzipien von KO und InsO; eingehend zu der sehr kontroversen Diskussion über die Auslegung der GesO im insolvenzrechtlichen Schrifttum Hess/Binz/Wienberg, Gesamtvollstreckungsordnung, 4. Aufl. 1998, Einleitung Rn. 62 ff. 299 In tatsächlicher Hinsicht ist noch erwähnenswert, dass Banken wegen des Fehlens einer einschlägigen ausdrücklichen Gläubigeranfechtungsvorschrift in großem Umfang versucht haben sollen, sich wegen ihrer Forderungen durch Gutschriften auf den Konten des Gemeinschuldners oder durch Aufrechnung gegenüber Auszahlungsansprüchen noch nach Zahlungseinstellung oder Eingang des Eröffnungsantrags zu befriedigen; hierzu G. Fischer, ZIP 1997, 717, 718 m.w.N. 300 Vgl. G. Fischer, ZIP 1997, 717 ff. Dieser 1996 bereits an anderer Stelle veröffentlichte Aufsatz wird vom Senat unter der II.3. der Gründe am Rande zitiert, s. BGHZ 143, 332, 337. 301 BGHZ 143, 332, 335. 302 BGHZ 143, 332, 335 f. 303 BGHZ 143, 332, 337. 304 BGHZ 143, 332, 337. – Anders wäre das nach Ansicht des Senats gewesen, wenn im Text des § 10 GesO gestanden hätte, dass der Verwalter »nur« Rechtshandlungen des Schuldners anfechten kann.
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»Vielmehr ist der Wortlaut nach dem Sinn und Zweck der Norm im Wege richterlicher Rechtsfortbildung dahin zu ergänzen, daß unter den weiteren Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Nr. 4 GesO auch Gläubigerhandlungen anfechtbar sind«. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts würden »mit dieser Auslegung« die Grenzen, die der richterlichen Rechtserkenntnis durch die Bindung des Richters an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) gezogen seien, nicht überschritten; anders als die Regelung des § 61 KO sei die Vorschrift des § 10 Abs. 1 Nr. 4 GesO keine nach Wortlaut, Systematik und Sinn abschließende Bestimmung, sondern stehe »der Rechtsfortbildung« offen305. (d) Hier fällt zunächst die bei den Grenzfällen »offener« Rechtsfortbildungen mittlerweile schon häufiger konstatierte Widersprüchlichkeit der Terminologie auf. Einmal wird die gewählte Lösung als Rechtsfortbildung bzw. Fortbildung des Wortlauts und ein anderes Mal als Auslegung bzw. als durch den Zweck der ausgelegten Norm geboten bezeichnet. Weiterhin ist bemerkenswert, dass die »Rechtsfortbildung« auch in der Entscheidung zur Anfechtbarkeit von Gläubigerhandlungen nach der Gesamtvollstreckungsordnung durch den Sinn und Zweck derjenigen Norm gerechtfertigt wird, deren Wortlaut ergänzt wird. Fortgebildet wird also laut dem Senat nicht der Sinn des Gesetzes, sondern nur dessen sprachliche Fassung. Damit wäre nach der Gesetzessinngrenze keine Rechtsfortbildung gegeben. Hinzu kommt eine Besonderheit, die in dieser Fallgruppe vergleichbar nur bei den Entscheidungen zu § 13 HöfeO besteht. § 10 GesO liegt kein geschlossenes Regelungskonzept zugrunde. Es handelt sich um eine fragmentarische, offene Regelung, um ein Stück rudimentärer Gesetzgebung, wie man es auch aus dem Bereich der Generalklauseln und der besonders unbestimmten Rechtsbegriffe kennt, die als Delegationsnormen an den Richter306 und als »Stück offengelassener Gesetzgebung«307 bezeichnet werden. Bei derartig unvollständigen, notwendig auf Ergänzung angelegten gesetzlichen Regelungen kann der Wortlaut, wie immer man ansonsten zu der Wortlautgrenze stehen mag, keine begrenzende Funktion erfüllen. Ansatzweise findet sich dieser Gedanke auch im insolvenzrechtlichen Schrifttum. Gerade in Anbetracht der bewusst »offen« gehaltenen Normierung erweise sich eine dem Wortlaut des § 10 Abs. 1 GesO verhaftete Betrachtungsweise als wenig tragfähig308. Bei solchermaßen fragmentarischen Regelungen ist die Fortbildung des Gesetzestextes nicht die ausführlich zu rechtfertigende Ausnahmesituation, sondern der Normalfall. Erst dann, wenn die gesetzgeberische Interessenbewertung fortgebildet wird, ist der problematische Bereich des richterlichen Verstoßes gegen die Gesetzesbindung betroffen309. Dass das ge305
BGHZ 143, 332, 338. Heck, Grundriß des Schuldrechts, 1929, S. 11. 307 Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln, 1933, S. 58. 308 So G. Fischer, ZIP 1997, 717, 719, unter 2.3. 309 Vgl. konkret zu § 10 GesO auch G. Fischer, ZIP 1997, 717, 720: Wenn der Gesetzgeber (aus redaktionellen Gründen) von der umfassenden Regelung eines Rechtsinstituts nur die Grundnorm übertragen habe, müsse es möglich sein, die Vorschriften der Konkursordnung ergänzend heranzuziehen, soweit die Gesamtvollstreckungsordnung keine ausdrückliche (positive oder negative) Regelung des auftretenden Einzelproblems enthalte. 306
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bräuchliche Abgrenzungsinstrumentarium von Wortlaut und Lücke in dieser Situation nicht weiterhilft, zeigt auch der grundlegende Satz, mit dem der Senat seine »Rechtsfortbildung« legitimiert. Die von ihm geltend gemachte »ungewollte Regelungslücke«310 liegt offensichtlich nicht vor, wenn, wie es an einer anderen Stelle der Begründung heißt, mit § 10 GesO Rechtshandlungen von Gläubigern und Dritten nicht von der Anfechtbarkeit ausgenommen werden sollten311, also eine bewusst unvollständige, ergänzungsbedürftige Regelung getroffen wurde. (e) Eine andere Frage ist, ob man den Normzweck des § 10 GesO im Allgemeinen und von Abs. 1 Nr. 4 im Besonderen so bestimmen darf, wie es der Senat getan hat. »Gebot der Gläubigergleichbehandlung« ist – vorsichtig ausgedrückt – ein eher allgemeiner Schutzzweck. Wie der Senat selbst anmerkt, handelt es sich bei diesem Gebot um ein »Kernstück jedes Insolvenzverfahrens«, welches daher zahlreichen – vielleicht sogar allen – insolvenzrechtlichen Vorschriften zugrunde liegt. Dass eine insolvenzrechtliche Norm dem Gebot der Gläubigergleichbehandlung Rechnung tragen soll, besagt daher für ihre Auslegung wenig. Maßgebend ist vielmehr, wie dieses allgemeine Gebot nach den Vorstellungen des Gesetzgebers in der einzelnen Norm konkret verwirklicht werden soll. Der entscheidenden Frage nach dem konkreten Zweck einer Norm darf der Rechtsanwender nicht ausweichen, indem er den Schutzzweck ganz allgemein bestimmt, um diesen dann nach seinen eigenen Vorstellungen näher zu konkretisieren. Aus dem Schutzzweck der Gläubigergleichbehandlung, der jedem Insolvenzverfahren und daher auch dem § 10 GesO zugrunde liege, und aus der ansonsten entstehenden Schutzlücke folgert der Senat, dass Rechtshandlungen des Gläubigers trotz des Wortlauts von § 10 Abs. 1 vor Nr. 1 und Nr. 4 GesO nicht von der Anfechtbarkeit ausgenommen werden sollten; vielmehr sei der Wortlaut nach dem Sinn und Zweck der Norm im Wege der Rechtsfortbildung entsprechend zu ergänzen. Hier wird § 10 GesO scheinbar »aus sich selbst heraus« vervollständigt. Tatsächlich wird das vorher Eingelegte ausgelegt. Dass dem § 10 GesO aufgrund des fragmentarischen Charakters der Gesamtvollstreckungsordnung nicht der Wille zu entnehmen ist, die Anfechtung von Gläubigerhandlungen auszuschließen, macht nicht die Anfechtbarkeit sämtlicher Rechtshandlungen zum Zweck dieser Vorschrift. Die rudimentäre Regelung des § 10 GesO beschränkte sich, wie der Senat selbst ausführte, darauf, die praktisch bedeutsamsten Haupttatbestände der Anfechtung zu formulieren312: »Den weitaus größten Teil anfechtbarer Rechtshandlungen machen Handlungen des Schuldners aus.« Die praktisch vergleichsweise unbedeutende Anfechtbarkeit von Rechtshandlungen ohne jede Mitwirkung des Schuldners313 wurde schlicht und einfach nicht geregelt. Der methodisch richtige Weg, um diese Regelungslücke zu füllen, bestand nicht darin, die gesetzgeberische Interessenbewertung der lückenhaften Norm durch allgemeine Schutzzweckbetrachtungen so »aufzurüsten«, dass sie auch ei310 311 312 313
BGHZ 143, 332, 334. So BGHZ 143, 332, 335. BGHZ 143, 332, 335; eingehend bereits G. Fischer, ZIP 1997, 717, 719 f. Vgl. BGHZ 143, 332, 335.
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nen nicht angeschauten Fall erfasste. Stattdessen wäre wegen der bewusst unvollständigen, offenen Regelung der Gesamtvollstreckungsordnung eine analoge Anwendung der einschlägigen Vorschriften der Konkurs- oder Insolvenzordnung, konkret also des § 30 KO, geboten gewesen314. Unterstellt man demgegenüber, der Senat habe den Normzweck des § 10 Abs. 1 Nr. 4 GesO mit »Gebot der Gläubigergleichbehandlung« zutreffend ermittelt, so ist sein Ergebnis freilich durch eine ergänzende Auslegung dieser bewusst und geplant unvollständigen Norm zu erzielen315. (5) In allen sechs Grenzfällen offener Rechtsfortbildungen ist zweifelhaft, ob die jeweilige, in den Gründen als Rechtsfortbildung bezeichnete Lösung wirklich eine Fortbildung des Gesetzesrechts darstellt. Die Ursachen für die möglichen Falschbezeichnungen liegen – abgesehen vom unklaren Rechtsfortbildungsbegriff – in der Ungewissheit über das maßgebende Abgrenzungskriterium zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung und in (zu) engen Wortverständnissen. Es handelt sich bei den Grenzfällen ausnahmslos um Entscheidungen, in denen der jeweilige Senat den Wortlaut der interpretierten Norm wegen ihres Zwecks fortgebildet hat. Der ermittelte Normzweck wurde gegenüber der sprachlichen Fassung der Vorschrift durchgesetzt, selbst aber in keinem der Fälle verändert316. Derartige, durch die gesetzgeberische Interessenbewertung geforderte »Begriffsund Wortlautfortbildungen« sind im Ergebnis unproblematisch zulässig. Ob sie überhaupt als Rechtsfortbildungen zu klassifizieren sind, hängt davon ab, wo man die Grenze zur Auslegung zieht317. Nur wer nicht auf den historischen Gesetzessinn, sondern auf einen angeblichen äußersten möglichen Wortlaut abstellt und diese diffuse Trennlinie konkret als überschritten ansieht, muss für eine Wortlautkorrektur das Gesetzesrecht »fortbilden«. Indes war in den meisten Grenzfällen nicht einmal der Wortlaut der maßgebenden Vorschrift zu berichtigen, um das vom jeweiligen Senat gewünschte Ergebnis zu erzielen. Lediglich in der Entscheidung des Großen Senats, in der das Abtretungsverbot des § 400 BGB für unpfändbare Unfallrentenansprüche eingeschränkt wurde, musste der Wortlaut des Gesetzes mit einem Ausnahmetatbestand versehen werden. Bei der großen Mehrzahl der Grenzfälle wurde nur deshalb eine Wortlautgrenze passiert, weil die Richter jeweils ein sehr enges statt eines möglichen weiteren Wortverständnisses zugrunde legten. Nach gängiger Betrachtungsweise soll die Wortlautgrenze demgegenüber durch die äußerste mögliche Bedeutung eines Ausdrucks in der Umgangssprache gezogen werden. Deshalb überschreiten die Entscheidungen zur Verjährung von Pflichtteilsan314 Angedacht auch bei G. Fischer, ZIP 1997, 717, 719: »Der bewusst unvollständige Charakter des § 10 GesO … drängt … die Überlegung auf, ob § 10 Abs. 1 Nr. 4 GesO in dem hier streitigen Punkt nicht durch eine sinnentsprechende Übernahme der dazu in § 30 KO enthaltenen Grundgedanken zu ergänzen ist«. 315 Vgl. auch Hess/Binz/Wienberg, Gesamtvollstreckungsordnung, 4. Aufl. 1998, § 10 Rn. 14 a: extensive Auslegung des § 10 Abs. 1 Nr. 4 GesO. 316 Ob der Normzweck in den geschilderten Fällen immer zutreffend bestimmt wurde, ist eine andere Frage, die nach der hier vertretenen Ansicht insbesondere bei der Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Anfechtung von Gläubigerhandlungen nach der Gesamtvollstreckungsordnung zu verneinen ist, s. vorstehend (4)(e). 317 Hierzu nochmals § 3 II.1.a.bb. und 2.f.; § 4 V.4.f.aa., § 7 IV.1.
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III. Zur heutigen Begründungspraxis
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sprüchen bei Fortfall der früheren Kenntnis von der enterbenden Verfügung318 und zu § 13 HöfeO319 nicht einmal die Wortlautgrenze zur Rechtsfortbildung. Nach der Gesetzessinngrenze sind alle Grenzfälle offener Rechtsfortbildungen sowieso »bloße« Auslegungen320. n. Resümee Die Zahlen sprechen für sich. Der Bundesgerichtshof benutzt den Begriff Rechtsfortbildung – gemessen an der Gesamtzahl seiner zivilrechtlichen Entscheidungen oder auch an der Verwendung des Wortes Auslegung – nur sehr selten. Die ersten 154 Bände der amtlichen Sammlung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen, die alles in allem 7813 zu berücksichtigende Entscheidungen umfassen, enthalten insgesamt 104 Entscheidungen, in denen sich das Wort Rechtsfortbildung findet. Damit weisen 1,33 Prozent der veröffentlichten Entscheidungen den Ausdruck Rechtsfortbildung auf. Die vergleichsweise geringe Gesamtzahl von 104 ist um die Fälle zu reduzieren, in denen Rechtsfortbildung entsprechend dem prozessualen Sprachgebrauch als ein die Auslegung umfassender Sammelbegriff für neue Grundsatzentscheidungen dazu dient, die Aufgaben der Revisionsgerichte allgemein zu beschreiben, oder bloßes »schmückendes« Beiwerk ohne näheren Bezug zum jeweiligen Entscheidungsgegenstand ist. Es verbleiben 79 einschlägige zivilrechtliche Entscheidungen, in denen Rechtsfortbildung verwendet wird, um eine konkrete juristische Lösung zu benennen. Das sind 1,01 Prozent der gesamten Entscheidungen. In 51 von diesen 79 Fällen wird die angesprochene »Rechtsfortbildung« als unzulässig verworfen oder schlicht abgelehnt. In ganzen 28 Entscheidungen fällt der Begriff im Zusammenhang mit einer positiv bewerteten juristischen Lösung. Achtmal geht es dabei um schon länger zurückliegende Entscheidungen und Entscheidungsreihen, die rückblickend als Rechtsfortbildungen eingestuft werden. Es verbleiben 20 Entscheidungen, in denen die gerade getroffene Rechtsfolgenbestimmung (auch) Rechtsfortbildung genannt wird. Das sind knapp 0,26 Prozent des Grundwerts. Von diesen 20 Entscheidungen sind acht aufgrund widersprüchlicher und unklarer Bezeichnungen als Zweifelsfälle einzustufen, weil man nicht erkennen kann, ob der jeweilige Senat von einer Fortbildung des Gesetzesrechts ausging oder seine Entscheidung noch für eine Auslegung hielt. Zwölf Rechtsfindungen werden vom Bundesgerichtshof eindeutig als Rechtsfortbildung tituliert. Das entspricht 0,15 Prozent. In ganzen Zahlen: Eine von etwa 651 in der amtlichen Sammlung des Bundesgerichtshofs veröffentlichten Entscheidungen wird in ihren Gründen offen als Rechtsfortbildung bezeichnet. Die Hälfte der offenen Rechtsfortbildungen sind Grenzfälle, weil fraglich ist, ob überhaupt eine Rechtsfortbildung vorliegt. Übrig bleiben sechs Fälle,
318
BGHZ 95, 76 ff; dazu oben (2). BGHZ 115, 157 ff.; bestätigt durch BGHZ 135, 192 ff.; 146, 94 ff.; hierzu (3). 320 Für die methodisch problematische Entscheidung zur Anfechtung von Gläubigerhandlungen nach der Gesamtvollstreckungsordnung gilt das – wie gesagt – nur dann, wenn man die nicht überzeugenden Normzweckbetrachtungen des Senats zu § 10 GesO teilt, vgl. (4). 319
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in denen der Bundesgerichtshof klare Fortbildungen des Gesetzesrechts offen vornimmt. Die nähere Untersuchung verschiedener Einzelentscheidungen des Bundesgerichtshofs bestätigt die Tendenz, den Begriff Rechtsfortbildung im Zusammenhang mit der aktuellen Rechtsfindung tunlichst zu meiden. Mit ihm werden die Aufgaben der Revisionsgerichte oder die durch Generalklauseln eröffneten Anpassungsmöglichkeiten abstrakt beschrieben, ohne dass die jeweils naheliegende Frage beantwortet wird, ob die getroffene Entscheidung als Rechtsfortbildung oder Auslegung zu klassifizieren ist321. In der seinerzeit aufsehenserregenden, sehr umstrittenen und rechtsfortbildenden Entscheidung des Bundesgerichtshofs für den Eintritt des überlebenden Partners einer eheähnlichen Gemeinschaft in den Mietvertrag des verstorbenen Mieters findet sich der Ausdruck lediglich in einem Zitat, mit dem belegt werden soll, dass der Konfliktstoff regelungsbedürftig ist322. Die mit Abstand größte Gruppe der »abgelehnten Rechtsfortbildungen« enthält unter anderem drei Entscheidungen, in denen weitergehende Lösungen als Rechtsfortbildungen »gebrandmarkt« und als unzulässig verworfen werden, während die vom Senat jeweils vorgenommene Fortbildung des Gesetzesrechts als einschränkende Auslegung ausgegeben323 oder gar nicht gekennzeichnet324 wird. In dem Beschluss des Großen Senats zur rückwirkenden Abänderbarkeit eines Prozessvergleichs über wiederkehrende Leistungen, in dem er lang zurückliegende Judikate als Rechtsfortbildungen einstufte und mit dem Begriff die Aufgaben der Revisionsgerichte skizzierte, war eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung, die nicht als Rechtsfortbildung bezeichnet wurde, der Dreh- und Angelpunkt der Begründung325. Gefragt wurde, ob ein Abgehen von der Kontinuität der Rechtsprechung ausnahmsweise hingenommen werden könne. Die den Gegenstand der Entscheidung bildende Norm wurde als ein möglicher Grund für die Abkehr von einer (rechtsfortbildenden) Rechtsprechung diskutiert und aus dieser Perspektive aus- und beiseitegelegt. Das Gesetz hat hier seine zentrale Rolle im Rechtsfindungsprozess verloren und tritt lediglich als eventueller »Rechtsprechungsänderungsgrund« in Erscheinung326. In den acht im Einzelnen geschilderten327 Zweifelsfällen wird der Begriff Rechtsfortbildung durch ihm widersprechende Bezeichnungen und vage Begründungen relativiert, so dass letztlich offen bleibt, ob die Richter ihre Entscheidung für eine Rechtsfortbildung hielten. Im wohl bekanntesten dieser Zweifelsfälle legte der Bundesgerichtshof zwar ausführlich dar, dass sein Urteil zur allgemeinen aktiven Parteifähigkeit der Gewerkschaften im Zivilprozess keine Rechtsfortbildung contra legem sei; er bekannte sich aber nicht zu seiner rechtsfortbil321 BGHZ 98, 382 ff. (»Einschränkung der Ertragswertberechnung für Landgut«); 138, 55 ff. (»Vergleichende Werbung«). 322 BGHZ 121, 116, 122. 323 BGHZ 112, 9, 23 f. (»Einschränkung einer Verschmelzung trotz Anfechtungsklage eines Aktionärs«); 116, 233, 240 (»Vergütung des Konkursverwalters im massearmen Konkurs«). 324 BGHZ 87, 286, 292 (»Haftung ehemaliger Gesellschafter für Pensionen«). 325 BGHZ (GS) 85, 64, 66 ff. 326 Eingehender hierzu k.bb. 327 S. l.
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denden Willensentscheidung, sondern verwies darauf, dass der von der früheren Rechtsprechung aus § 50 ZPO gezogene Umkehrschluss »infolge einer materiellen Derogation durch den Gesetzgeber« heute nicht mehr gezogen werden dürfe328. Wird der Begriff Rechtsfortbildung doch einmal »offen« für klare Fortbildungen des Gesetzesrechts verwendet329, so erfolgt die Korrektur der gesetzgeberischen Interessenbewertung (»Normzweck«) und des Wortlauts meist im Anschluss an eine breite wissenschaftliche Diskussion. Das belegen die Urteile des Bundesgerichtshofs zur Kürzung des Aufwendungsersatzanspruchs eines Kraftfahrers wegen Selbstaufopferung im Straßenverkehr330, zum Ausgleich zwischen Bürge und Grundschuldbesteller331, zur aktienrechtlichen Abfindung bei der Eingliederung in eine konzertierte Hauptgesellschaft332 sowie das »Holzmüller«Urteil333 und der kürzlich ergangene »Sterbehilfe«-Beschluss334. Im Vergleich mit der Gesamtzahl literarisch vorbereiteter Rechtsfortbildungen fallen die fünf genannten Entscheidungen freilich nicht ins Gewicht. In allen sechs Grenzfällen offener Rechtsfortbildungen sind nicht die Zwecke, sondern die sprachlichen Fassungen der Normen fortgebildet worden. Durch den Normzweck der interpretierten Vorschrift bedingte Wortlautveränderungen sind unproblematisch zulässig. Ob sie überhaupt Rechtsfortbildungen darstellen, ist umstritten und nach der Gesetzessinntheorie zu verneinen. In den meisten Grenzfällen war freilich selbst die Wortlautgrenze nur deshalb »überschritten«, weil der Senat statt eines möglichen weiteren Wortverständnisses ein sehr enges zugrunde legte. Die Grenzfälle lassen sich letztlich – wie schon die Zweifelsfälle – als Konsequenz des unklaren Rechtsfortbildungsbegriffs und der Ungewissheit über das maßgebende Abgrenzungskriterium zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung begreifen. Überspitzt kann man als Ergebnis der Analyse des Sprachgebrauchs in den ersten 154 Bänden der amtlichen Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Folgendes sagen: Der Bundesgerichtshof erfüllt seine abstrakt allgemein anerkannte Aufgabe der Rechtsfortbildung bzw. Fortbildung des Rechts konkret durch Auslegung der Gesetze. Demgegenüber ist Rechtsfortbildung in den Entscheidungsgründen des Bundesgerichtshofs vor allem das, was andere fordern, aber nicht bekommen. Gelegentlich wird mit dem Begriff noch bezeichnet, was man seit jeher so praktiziert. Nur ganz ausnahmsweise steht Rechtsfortbildung in der amtlichen Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen für das, was das Gericht gerade macht335.
328
BGHZ 50, 325, 334 f. Im Einzelnen m.aa. 330 BGHZ 38, 270 ff. 331 BGHZ 108, 179 ff. 332 BGHZ 138, 224 ff. 333 BGHZ 83, 122 ff. 334 BGHZ 154, 205 ff. 335 In knapp 0,26 Prozent der berücksichtigten Entscheidungen; zieht man die Zweifelsfälle ab, so sind es sogar nur 0,15 Prozent. 329
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6. Verdeckte Rechtsfortbildungen – ein Kontinuum Die eingehende Analyse des Sprachgebrauchs des Bundesgerichtshofs bestätigt die eingangs abgegebene Einschätzung336. Rechtsfortbildungen werden selten als solche bezeichnet. Der Begriff wird tunlichst gemieden. Rechtsfortbildungen werden meist verdeckt. Sie erscheinen regelmäßig im Gewand der Auslegung der Gesetze. Das war vor der »Soraya«-Entscheidung so und ist heute im Großen und Ganzen nicht anders. Haverkates Hoffnung, die Gerichte würden infolge der »Soraya«-Entscheidung zu einem freieren und zugleich rationaleren Argumentationsstil finden, der die richterliche Rechtschöpfung nicht mehr in das graue Gewand bloßer Gesetzesauslegung zu verhüllen suche337, hat sich trotz feststellbarer Veränderungen des Begründungsstils aufs Ganze gesehen nicht erfüllt. Der Paradigmenwechsel bei der Entscheidungsfindung hat nicht zu einem entsprechenden Paradigmenwechsel in der Begründungspraxis geführt. Rechtsfortbildungen werden in Theorie und Praxis also nach wie vor gerne verschleiert. Der vor und in Gerichten tätige Jurist kennt den »unter Richtern kursierenden Zynismus, es gebe drei Arten von Urteilsgründen: die mündlichen, die schriftlichen und die wirklichen«338. Die Gerichte neigen immer noch dazu, ihre rechtschöpfende Tätigkeit als klassische Rechtsanwendung auszugeben, sie als das Ergebnis logischer Subsumtion unter das vorgegebene Gesetz zu maskieren339. Wo immer es möglich ist, wird versucht, Wertentscheidungen als logische Operationen zu tarnen340. Die Interpreten stellen ihre Eigenwertungen als zwingende Auslegungsergebnisse dar und immunisieren so ihre Wertentscheidungen341. Der Subsumtionspositivismus, als theoretische Position längst widerlegt, wird im Bereich der Entscheidungsbegründung immer noch praktiziert. Dort wird oft so getan, »als ob« die Ergebnisse allesamt zwingend aus dem Gesetz abgeleitet seien342. Der Dezisions- und Normsetzungscharakter von Entscheidungen im Lückenbereich und bei richterlichen Gesetzesabweichungen wird in der Justiz und in Teilen der Wissenschaft weiterhin begrifflich verdrängt oder vernebelt343.
336
S. III.3. Haverkate, ZRP 1973, 281. 338 Adomeit, Rechtstheorie für Studenten, 4. Aufl. 1998, S. 93 f. 339 Rüthers, Wir denken die Rechtsbegriffe um …, 1987, S. 98. 340 Huhn, in: Rasehorn/Ostermeyer/Huhn/Hasse, Im Namen des Volkes?, 1968, S. 70, 78; Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 201. 341 Funk, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), 107, 111. 342 Haverkate, Normtext – Begriff – Telos, 1996, S. 25; Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 200; v. Mettenheim, Recht und Rationalität, 1984, S. 97. 343 So Rüthers, JZ 2002, 365, 366, unter Hinweis auf den in der »Soraya«-Entscheidung verwendeten Terminus »schöpferische Rechtsfindung« und die Argumentationsfiguren der objektiven Auslegung, der Natur der Sache und des Wesens. 337
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§ 9 Streiflichter der Geschichte verdeckter Rechtsfortbildungen Die vorstehende Einschätzung wird durch zivilrechtliche Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und des Reichsgerichts ab etwa 1900 gestützt1. Vor allem beruht sie auf einer eingehenden Analyse des Sprachgebrauchs des Bundesgerichtshofs in den Zivilsachen, die in der amtlichen Entscheidungssammlung zwischen 1950 und 2004 veröffentlicht worden sind2. Die bisherigen Ausführungen könnten daher vermuten lassen, verdeckte Rechtsfortbildungen seien ein deutsches Produkt der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit. Das trifft nicht zu. Verdeckte Rechtsfortbildungen gibt es innerhalb und außerhalb Deutschlands seit langem. Das soll anhand weniger charakteristischer Beispiele verdeutlicht werden.
I. Deutschland 1. Zur frühen Rechtsprechung des Reichsgerichts Schon vor Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches, also zu einer Zeit, als der Begriff der Rechtsfortbildung noch unüblich war3, zog das Reichsgericht die extensive Auslegung von Normen deren analoger Anwendung vor und betrieb Rechtsfortbildungen im Gewand der Gesetzesanwendung4.
2. Das Gesetz unter der Herrschaft totalitärer Ideologien a. NS-Zeit Im sog. Dritten Reich konnte in richterlichen Entscheidungen aufgrund neuer Rechtsquellen- und Rechtsfindungslehren unmittelbar auf die nationalsozialistische Weltanschauung durchgegriffen werden. In besonderem Maße galt das in Angelegenheiten, die »völkische« Belange betrafen.
1 Vgl. nochmals den Überblick über richterliche Zivilrechtsfortbildungen im 20. Jahrhundert, in dem sich zahlreiche Entscheidungen finden, deren nicht offen gelegter gesetzesrechtsfortbildender Charakter evident ist, s. § 7 V. 2 § 8 III.5. 3 Hierzu § 3 V.1. 4 Mertens, AcP 174 (1974), 333, 346; vgl. für das ausgehende 19. Jahrhundert noch Baden, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 369, 383 und 391, jeweils m.w.N. Eine anschauliche Zusammenstellung von Urteilen aus den ersten Jahren des Reichsgerichts findet sich bei Bähr, Urteile des Reichsgerichts mit Besprechungen, 1883.
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§ 9 Streiflichter der Geschichte verdeckter Rechtsfortbildungen
aa. Dennoch erzielte das Reichsgericht selbst im Sinne des herrschenden Antisemitismus gewünschte Ergebnisse lieber im Wege einer gesetzesrechtsfortbildenden »Auslegung« von (Sonder-)Gesetzen statt durch eine methodisch mögliche »freie« Rechtsschöpfung aus der »artbestimmten Volksgemeinschaft«, dem Führerwillen, dem Parteiprogramm des NSDAP usw.5. Die gesamte Umdeutung der überkommenen liberalen Zivilrechtsordnung wurde im Nationalsozialismus ganz überwiegend nicht mit dem offen erklärten Wertungskonflikt, der sog. Kampfklausel6, sondern mit scheinbar gesetzeskonformen Argumenten oder doch traditionell als zulässig angesehenen Operationen begründet; es bestand die unverkennbare Neigung, die jeweils neuen, geänderten Wertvorstellungen nicht als Gegensatz, sondern als Inhalt des Gesetzes zu interpretieren7. Heute spricht man von gesetzesimmanenten Umwertungsmitteln und dem Bedürfnis nach Scheinlegalität8. bb. Auffallend ist freilich der unterschiedliche Umgang mit Gesetzen aus der Zeit vor und solchen aus der Zeit nach der nationalsozialistischen Machtübernahme. Neue, spezifisch nationalsozialistische Gesetze wurden regelmäßig strikt angewendet9. Zudem haben die Gerichte ideologisch überholtes »Altrecht« im Laufe der NS-Herrschaft zunehmend offener umgedeutet. (1) In der Frühphase betonte das Reichsgericht gegenüber politischen Forderungen verschiedentlich die strenge Gesetzesbindung des Richters10, etwa im Hinblick auf das kritisierte »Doppelverdienertum«11. Auch lehnte es die freie Aufwertung von Lebensversicherungsansprüchen ab, da der Richter nach wie vor dem Gesetz unterworfen sei; wenn das Ergebnis des Aufwertungsverfahrens unbillig oder aus wirtschaftlichen oder sonstigen Gründen unerwünscht sein sollte, so könne nicht durch Richterspruch, sondern nur im Wege einer Gesetzesänderung Abhilfe geschaffen werden12. Äußerlich hielt das Reichsgericht sogar bei seiner gesetzesdero-
5 Vgl. etwa RGZ 168, 317 ff., zu Sonderbestimmungen für Grundstückgeschäfte mit Juden; hierzu Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 377; vgl. auch bereits § 7 V.3.b.dd. zu RGZ 162, 244 ff., wo ein erheblicher argumentativer Aufwand betrieben wurde, um eine Rechtsfrage dann in sehr enger Anlehnung an das geschriebene Recht zu beantworten. – Eine Zusammenstellung der wichtigsten, hier nur beispielhaft wiedergegebenen »neuen Rechtsquellen« im Nationalsozialismus findet sich etwa bei Rüthers, Entartetes Recht, 2. Aufl. 1989, S. 28. 6 Hierzu Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 145 ff. 7 So Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 174; zu den geringen Auswirkungen der Kontroversen über die richtige juristische Methode bei der völkischen Rechtserneuerung auf die Gerichtspraxis Rüthers, Entartetes Recht, 2. Aufl. 1989, S. 52 ff. 8 Haferkamp, Die heutige Rechtsmissbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens?, 1995, S. 264. 9 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 154 f. mit Rechtsprechungsnachweisen. 10 So die zusammenfassende Bewertung von Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 153 f.; teilweise abweichend die uneinheitliche Rechtsprechung der Instanzgerichte, hierzu Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 148 ff. 11 RGZ 143, 77, 83. 12 RGZ 144, 306, 310 f., unter Berufung auf § 1 GVG und den »ebenso … noch jetzt« geltenden § 336 StGB.
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gierenden Rechtsprechung zur Anfechtbarkeit sog. arisch-jüdischer Mischehen an der Gesetzesbindung fest13. Selbst Carl Schmitt, Professor, Staatsrat, Leiter der Reichsfachgruppe Hochschullehrer des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen und Vertreter des konkreten Ordnungsdenkens, räumte der Bindung an Recht und Gesetz in den 1933 in der Juristischen Wochenschrift veröffentlichten »Neue(n) Leitsätze(n) für die Rechtspraxis«14 den ersten Platz ein: »Die Unabhängigkeit der Richter beruht auf ihrer Bindung an das Recht und Gesetz des Staates, dessen Recht der Richter zu sprechen hat. Ohne diese Bindung ist die richterliche Unabhängigkeit Willkür, und zwar politische Willkür«15. Die nationalsozialistische Ministerialbürokratie forderte in den Jahren 1933/34 zunächst eine unbedingte Gesetzestreue16. Reichsjustizminister Gürtner betonte, der Richter solle Diener des Gesetzes sein, nicht sein Herr17. Er sei auch dann nicht berufen, dem Gesetze entgegen zu entscheiden, wenn er es für unvereinbar mit nationalsozialistischer Auffassung halte; denn der einzelne Richter – so Staatssekretär Freisler – könne nicht wissen, ob seine Auffassung die des Führers sei18. (2) Nachdem sich das NS-System stabilisiert hatte und die Justiz »gesäubert« und gleichgeschaltet worden war19, traute man im Reichsjustizministerium der Richterschaft wegen »unserer biologischen Auffassung vom Recht, die uns arteigen ist«, mehr zu20, warnte freilich gleichzeitig vor der Gefahr des Absturzes in die Anarchie21. Der Meinungsstreit über die Bindung des Richters an alte Geset13 Grundlegend RGZ 145, 1 ff., 8 ff.; hierzu Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 155 ff.; ergänzend Haferkamp, in: R. Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur in der DDR, Band 2, 2000, S. 15, 22 ff. 14 C. Schmitt, JW 1933, 2793, 2794; zudem veröffentlicht in DR 1933, 201 unter dem Titel »Fünf Leitsätze für die Rechtspraxis«. 15 Der zweite Leitsatz bestimmte ergänzend: »Die Entscheidung darüber, ob eine Angelegenheit unpolitisch ist, enthält immer eine politische Entscheidung«. Freilich wies Schmitt in den Leitsätzen drei und vier bereits den Weg, auf dem die nationalsozialistischen Anschauungen als »objektiver Maßstab« durch die Generalklauseln die totale Herrschaft über die Gesetzesordnung übernahmen. 16 Hierzu Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 138 f., der als Grund die Sicherung der eigenen dominierenden legislativen Machtstellung des Justizministeriums nennt. Haferkamp meint, man habe der Richterschaft 1933 eine derart politische Funktion offensichtlich nicht zugetraut, s. Haferkamp, in: R. Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur in der DDR, Band 2, 2000, S. 15, 21. 17 Gürtner, DJ 1934, 369, 370. 18 Freisler, DJ 1933, 694, 695. Andererseits merkte Freisler auch an, die Prüfung des Ergebnisses der Anwendung alter Gesetze anhand des »Gewissens der nationalsozialistischen deutschen Nation« mit dem Ziel der Korrektur etwaiger Irrtümer bei der Rechtsfindung sei Aufgabe des Richters, s. a.a.O., S. 696. Ein ähnliches Bekenntnis zur Gesetzesbindung, zum Rechtsänderungsvorrecht der Führung und zur Ausfüllung der Gesetzesworte im Geiste des Nationalsozialismus findet sich bei Freisler, JW 1934, 1333, 1335. 19 In diesem Kontext ist auch die Einführung der Grundsatzvorlage nach § 137 GVG a. F. im Juni 1935 zu sehen. Erklärtes Ziel der Reform war es, die Rechtsprechung mit den zum Durchbruch strebenden neuen Grundanschauungen des Nationalsozialismus im Einklang zu halten; das Reichsgericht habe, so hieß es im Reichsgesetzblatt, darauf hinzuwirken, dass bei der Auslegung des Gesetzes dem durch die Staatserneuerung eingetretenen Wandel der Lebens- und Rechtsanschauungen Rechnung getragen werde; s. hierzu § 3 V.1.f. 20 Freisler, DJ 1936, 153, 154. 21 Freisler, DJ 1936, 153, 155. Die vieldeutigen Wendungen, so Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 144, kommen im letzten Satz des Aufsatzes von Freisler in der DJ 1936 besonders deutlich zum Ausdruck.
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ze22 sollte durch die »Leitsätze über Stellung und Aufgaben des Richters« beendet werden, die im Auftrag des Reichsministers Frank von einem »kleinen Kreis junger Rechtslehrer« entworfen und nach Genehmigung des Ministers auf der Tagung der Gesamtvertretung der deutschen Richter, Staatsanwälte und Rechtspfleger im Januar 1936 feierlich verkündet wurden23. Leitsatz 2 erklärte die nationalsozialistische Weltanschauung zur Grundlage der Auslegung aller Rechtsquellen24. Der Leitsatz 4 lautete: »Gesetzliche Bestimmungen, die vor der nationalsozialistischen Revolution erlassen sind, dürfen nicht angewandt werden, wenn ihre Anwendung dem heutigen gesunden Volksempfinden ins Gesicht schlagen würde«25. Der offene Aufstand gegen »alte« Gesetze stellte in der Gerichtspraxis dennoch eine Ausnahme dar26. Äußerlich blieben die Urteile des Reichsgerichts trotz der zunehmend nationalsozialistisch ausgerichteten Terminologie in ihrer juristischen Argumentation versucht traditionell und »justizförmig«27. (3) Die nochmalige Verschärfung der Rassenpolitik im Jahre 1938 führte dazu, dass die Gerichte zahlreiche Schutzgesetze schlicht nicht mehr auf Juden anwendeten28. Selbst solche offensichtlichen richterlichen Gesetzesverletzungen wurden jedoch teilweise als »Auslegung nach der geläuterten Anschauung der Gegenwart«29 getarnt. Diese »rechtstechnisch am harmlosesten erscheinende Begründungsmethode«30 wurde von Freisler besonders gelobt und als »Durchbruchsschlacht im Kampf um die Methode der Rechtsfindung«31 gefeiert. Mit der – scheinbar – einfach den Worten der gesetzlichen Anordnung folgenden Problemstellung sei das Ei des Kolumbus gefunden32, denn das dergestalt gepriesene Reichsarbeitsgericht hatte zugleich ein Bekenntnis zum organischen Wachstum des Rechts auch bei gleichbleibender Wortfassung des Gesetzes abgelegt33 und eine ganzheitliche Schau des nationalsozialistischen Volkserlebens und Führungswillens vorgenommen34. Freisler bezeichnete den deutschen Richter jetzt nicht mehr als Diener, sondern als »Bruder des Gesetzgebers«35, der das Gesetz so auszulegen habe, dass das Ergebnis der Rechtsfindung dem gesunden Volks22 Vgl. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 138 ff.; zeitgenössische Bewertung etwa bei Eckhardt, DRW I (1936), 124. 23 Hierzu Eckhardt, DRW I (1936), 124, 125. 24 Dahm/Eckhardt/Höhn/Ritterbusch/Siebert, DRW I (1936), 123. 25 Dahm/Eckhardt/Höhn/Ritterbusch/Siebert, DRW I (1936), 123, 124; methodische Bewertung bei Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 146 f. 26 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 155 und passim. 27 So zusammenfassend Haferkamp, in: R. Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur in der DDR, Band 2, 2000, S. 15, 24. 28 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 166 ff. 29 RAG, JW 1940, 1852, 1853. 30 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 171. 31 Freisler, DGWR 1940, 265, 270. 32 Freisler, DGWR 1940, 265, 269 linke Sp. 33 Freisler, DGWR 1940, 265, 269 rechte Sp.; s. auch a.a.O., S. 268 f.: »Die Anerkennung und Beachtung des nationalsozialistischen Grundsatzes, daß Recht mit dem Leben wächst, daß es also dem gleichbleibenden Gesetz einen anderen Inhalt geben kann, half dem Richter als dem Bruder des Gesetzgebers zu der ihm übertragenen, hier notwendigen Rechtsschöpfung, ohne daß er deshalb rechtsuntreu wurde«. 34 So Freisler, DGWR 1940, 265, 270. 35 Freisler, DGWR 1940, 265, 266 und 268.
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empfinden und der von der Führung erstrebten Gemeinschaftsordnung entspreche36. (4) Nach Rüthers spiegelt die Scheu vor der in den Urteilsgründen offen erklärten Gesetzesablehnung in der NS-Zeit das traditionelle Bewusstsein der Bindung des Richters an die Gesetze wider37. Haferkamp erklärt die praktizierten Scheinargumentationen und verdeckten Rechtsfortbildungen ergänzend damit, dass die Justiz nach 1933 in der Defensive gewesen und es den meisten Richtern nicht ratsam erschienen sei, sich auf das glatte Parkett unsicherer politischer Stellungnahmen zu begeben38. Ob die »defensive« Erklärung der Methode als Abwehrstrategie gegenüber den insbesondere auch aus Nichtfachleuten bestehenden politisch gefährlichen Gegnern der Justiz39 angesichts der umfassenden Umdeutungsleistungen der deutschen Zivilgerichtsbarkeit im Dritten Reich plausibel ist, muss hier nicht entschieden werden. Dass das traditionelle Bewusstsein der Gesetzesbindung des Richters aufgrund der Umwertung aller Werte im Laufe der NS-Herrschaft allmählich verblasste, liegt auf der Hand. Bei der Arbeit am nicht realisierten Volksgesetzbuch scheint die Fortbildung der Gesetze als etwas mittlerweile Alltägliches angesehen worden zu sein40. Auslegung und Rechtsfortbildung gingen in dem ganz von der nationalsozialistischen Weltanschauung beherrschten Rechtsfindungsmodell, das den geschilderten Grundregeln des Teilentwurfs für das »Volksgesetzbuch der Deutschen« zugrunde lag, nahtlos ineinander über. Schon die Auslegung der Gesetze, die ausdrücklich nicht an den Wortlaut gebunden war, sollte so erfolgen, dass sich ein möglichst hoher Lebenswert für die deutsche Volksgemeinschaft ergab. Die totale Dominanz der Basisideologie beseitigte die Gesetzesbindung im Entwurf des Volksgesetzbuchs endgültig. Freilich war die Auslegung der Gesetze zu diesem Zeitpunkt in der Praxis schon lange unbegrenzt für ideologische Zwecke geöffnet worden. cc. Festzuhalten ist: Die »verschleiernde Nutzung juristischer Methode«41 kennzeichnet die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Zivilsachen zwischen 1933 und 1945. Dabei bediente man sich insbesondere der weit verstandenen Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffe42. Als »Kuckuckseier im liberalistischen Rechtssystem«43 dienten sie dazu, neue Rechtsinhalte in ein altes Nor36
Freisler, DGWR 1940, 265, 270. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 174; ähnlich auch Haferkamp, in: R. Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur in der DDR, Band 2, 2000, S. 15, 28 und 49, der auf die im Kaiserreich oder in Weimar erfolgte Ausbildung und auf das traditionelle beamtennahe Richterbild verweist. 38 Haferkamp, in: R. Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur in der DDR, Band 2, 2000, S. 15, 49. 39 Haferkamp, in: R. Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur in der DDR, Band 2, 2000, S. 15, 26 und 28. 40 Hierzu und zum Folgenden eingehend § 3 V.1.f.bb. 41 Haferkamp, in: R. Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur in der DDR, Band 2, 2000, S. 15, 24. 42 Zusammenfassung seiner Betrachtungen bei Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 261 ff., insb. S. 265. 43 H. Lange, Liberalismus, Nationalsozialismus und bürgerliches Recht, 1933, S. 5. 37
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mensystem zu transportieren und die überkommenen Gesetze zu »korrigieren«. Rüthers spricht von der fast unheimlichen Macht der Generalklauseln über alle Ansprüche und Berechtigungen aus Gesetz und Vertrag44: »Sie erscheinen wie magische Beschwörungsformeln zur Beseitigung unerwünschter, als inadäquat empfundener Ergebnisse«. Hinzu kamen andere traditionelle Umdeutungsinstrumente wie etwa eine betont geltungszeitliche Auslegung der gesetzlichen Begriffe. Verdeckte Rechtsfortbildungen hatten in der Zivilrechtsprechung des Dritten Reichs Hochkonjunktur. b. DDR Auch im Recht der DDR gab es verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts, und zwar selbst in der bis zum V. Parteitag der SED im Jahre 1958 dauernden Gründungs- und Aufbauphase45. aa. Das verdient besondere Erwähnung, weil das Recht in der DDR durchgängig eine der Politik untergeordnete Kategorie war, was die Schlagworte vom »Primat der Politik«, vom »Instrumentalcharakter des Rechts« und der »führenden Rolle der Partei« veranschaulichen46, und weil den vorsozialistischen Gesetzen in der Frühphase der DDR nach der offiziellen Doktrin keine nennenswerte Bindungswirkung zukam. Aufgrund der Wyschinski-Rezeption galt die Auslegung der Gesetze zunächst als »politische Tat« und war theoretisch unbegrenzt möglich47. Der Gesichtspunkt der Parteilichkeit, eines der beiden Elemente der »sozialistischen Gerechtigkeit«, stand in der Gründungs- und Aufbauphase ganz im Vordergrund48. Vor allem für Rechtsnormen, die vor längerer Zeit unter inzwischen veränderten politischen Bedingungen erlassen und »von der gesellschaftlichen Entwicklung überholt« worden waren, galt das Gebot der parteilichen Auslegung49. Die damalige Vizepräsidentin des Obersten Gerichts, Hilde 44
Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 263 f. Zu dieser Zäsur Brunner, Einführung in das Recht der DDR, 2. Aufl. 1979, S. 24. 46 Brunner, Einführung in das Recht der DDR, 2. Aufl. 1979, S. 1 f. 47 Hierzu Haferkamp, in: R. Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur in der DDR, Band 2, 2000, S. 15, 35; Althaus-Grewe, Methodenlehre in der DDR-Rechtswissenschaft, 2004, S. 126 ff.; im zeitgenössischen juristischen Schrifttum etwa Benjamin, NJ 1951, 150, 152, die auf S. 155 unter Berufung auf Melsheimer davon spricht, dass jedes Urteil eine politische Tat sei. 48 Vgl. Gitter, Die Methode der richterlichen Gesetzesauslegung als staatsrechtliches Problem, 1960, S. 180 ff. – Es ging um die Übereinstimmung mit den »objektiven Erfordernissen der gesellschaftlichen Entwicklung«, die allein von der Partei richtig erkannt werden konnten. Das andere Element der sog. sozialistischen bzw. demokratischen Gerechtigkeit war die »strikte Einhaltung der Gesetze und einzelnen Rechtsnormen«, m. a. W. die allgemeine Bindungswirkung des Rechts; s. zum Ganzen Brunner, Einführung in das Recht der DDR, 2. Aufl. 1979, S. 3, der darauf hinweist, dass man die beiden Elemente der sozialistischen Gerechtigkeit im Laufe der Entwicklung unterschiedlich akzentuiert habe. Zunächst sei die »Parteilichkeit« herrschend gewesen. Seit 1963 habe man der Bindungswirkung des Rechts zunehmende Beachtung geschenkt. – Es zeigt sich, dass die nie verzichtbare sog. Ordnungsfunktion des Rechts gerade in (stabilisierten) totalitären Systemen einen hohen Stellenwert hat. 49 Brunner, Einführung in das Recht der DDR, 2. Aufl. 1979, S. 5. Demgegenüber betonte das Oberste Gericht in einer Entscheidung mit der leitsatzartigen Überschrift »Über die Grenzen der Gesetzesauslegung in der Rechtsprechung« im Jahre 1957, welche die Auslegung einer 45
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Benjamin, ging davon aus, dass mit der Änderung der Staatsordnung die übernommenen Gesetze automatisch einen neuen Inhalt erhalten hätten50 und forderte eine Methode der »offensiven (Urteils-)Begründung«: Gesetze seien »nach unserer Ordnung, nach unseren Anschauungen« anzuwenden und auszulegen51. bb. In der im zeitgenössischen Schrifttum als »absolut bahnbrechend« bezeichneten52 Entscheidung des Obersten Gerichts zur Auslegung des § 48 EheG von 194653 hieß es54: »§ 48 des Ehegesetzes des Alliierten Kontrollrats ist ein Beispiel dafür, wie ein Gesetz gleichen Wortlauts verschiedenen Inhalt gewinnen kann, je nach der Staatsordnung der es zu dienen hat. … Es ist daher Aufgabe des Obersten Gerichts, nunmehr den Inhalt des Gesetzes zu ermitteln, der ihm heute zukommt«. Es sei ein wesentliches Prinzip der demokratischen Gesetzlichkeit, dass die Richter einerseits an die geltenden Gesetze gebunden sind, andererseits aber diese im Sinne der antifaschistisch-demokratischen Ordnung anzuwenden haben55. Man könne sich nicht mit formaler Wortinterpretation begnügen, wenn der »für uns heute gültige Inhalt eines Gesetzes festgestellt werden soll«. Die Lösung ergebe sich »aus dem Inhalt, den die Ehe in der Ordnung unseres Staates hat«56. Weil die Ehe nach der Verfassung die Grundlage des Gemeinschaftslebens bilde, gehöre es zum Wesen der Ehe, dass sie nicht nur eine individuelle Angelegenheit der Eheleute sei, sondern auch gesellschaftliche Ziele und Ideale zu fördern habe, wie etwa die Arbeitsfreude und die Freude an der Familie. Eine zer-
»nachkonstitutionellen« staatlichen Anordnung aus dem Jahre 1954 betraf, die Verpflichtung der (Instanz-)Gerichte, die Gesetze ihrem Wortlaut nach anzuwenden, s. OGZ 5, 88, 90. Das Kreisgericht hatte eine von ihm angenommene Lücke im Gesetz aufgrund teleologischer Erwägungen geschlossen. Das Oberste Gericht verwies auf die Gesetzesunterworfenheit des Richters nach § 5 des GVG von 1952, welche bedeute, dass »sie das Gesetz seinem Wortlaut nach anzuwenden haben. Eine Kontrolle darüber, ob die von unserem Staate erlassenen Gesetze richtig und vollständig sind«, stehe ihnen nicht zu. Sie dürften den Gesetzgeber nicht bevormunden und seien »nicht befugt, an Stelle des Gesetzgebers gesellschaftliche Verhältnisse, die das Gesetz nicht regelt, durch die Rechtsprechung zu ordnen«. Zwar müssten sie den Inhalt der anzuwendenden Normen durch eine Auslegung bestimmen, »die den Erfordernissen unserer dem Aufbau des Sozialismus zustrebenden gesellschaftlichen Ordnung gerecht wird. Das Gericht überschreitet aber die Grenzen dieser Auslegungspflicht, wenn es … dem juristischen Inhalt der für das Gericht verbindlichen Rechtsnorm Merkmale hinzufügt, welche die Norm selbst nicht enthält«. 50 Benjamin, NJ 1951, 150, 152. 51 Benjamin, NJ 1951, 150, 156. 52 Nathan, NJ 1951, 544, 547. 53 Gemäß § 48 Abs. 1 des EheG 1946 konnte nach dreijähriger Trennung der Ehegatten grundsätzlich die Scheidung verlangt werden, »wenn infolge einer tiefgreifenden unheilbaren Zerrüttung des Eheverhältnisses die Wiederherstellung einer dem Wesen der Ehe entsprechenden Lebensgemeinschaft nicht erwartet werden kann«. Nach Abs. 2 war ein zulässiger Widerspruch des anderen Ehegatten unbeachtlich, wenn »die Aufrechterhaltung der Ehe bei richtiger Würdigung ihres Wesens und des Gesamtverhaltens beider Ehegatten sittlich nicht gerechtfertigt« war. Zur Entstehung und zur wechselvollen Interpretation dieser Norm Rüthers, Wir denken die Rechtsbegriffe um …, 1987, S. 45 ff.; ders., Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 400 ff.; zusammenfassende Analyse bei C. Fischer, Europäisierung der nationalen Zivilrechte – Renaissance des institutionellen Rechtsdenkens, 2002, S. 14 ff. 54 OGZ 1, 72, 76. 55 OGZ 1, 72, 77. 56 OGZ 1, 72, 78.
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rüttete Ehe bedeute »für viele, und gerade in voller Leistungsfähigkeit stehende Menschen eine Zerstörung ihrer Lebensfreude und eine Hemmung ihres Arbeitsenthusiasmus«. Wegen dieser Bedeutung der Ehe im gesellschaftlichen Leben könne die Aufrechterhaltung einer unheilbar zerrütteten Ehe grundsätzlich nicht als sittlich gerechtfertigt angesehen werden57. Die Pflichten der Eheleute gegenüber der sozialistischen Gesellschaft wurden in der Folgezeit vom Obersten Gericht weiterhin in den Vordergrund gestellt58. So spielten volkswirtschaftliche Gesichtspunkte der Erwerbstätigkeit bei Entscheidungen über das Bestehen von Unterhaltsansprüchen geschiedener Ehefrauen eine zentrale Rolle: In der Deutschen Demokratischen Republik habe »wie jeder Mann, auch jede Frau ihre Arbeitskraft dem Aufbau, der Erfüllung des Wirtschaftsplanes zur Verfügung zu stellen«59. Auch in anderen Entscheidungen wurde offen politisch60 bzw. – in der damaligen Terminologie – »gesellschaftlich« argumentiert. So hieß es, dass die Frage, ob § 128 HGB weiterhin anwendbar sei, nur richtig zu klären sei, wenn man sie konkret gesellschaftlich stelle; bei solchen älteren gesetzlichen Bestimmungen müsse in jedem Fall untersucht werden, ob und wieweit sich ihr Inhalt in Übereinstimmung bringen lasse mit dem Inhalt und den gesellschaftlichen Zielen, deren Verwirklichung die seit der Staatsumwälzung erlassene einschlägige Gesetzgebung zu erreichen bestimmt sei61. Ähnliche »Kampf- und Anpassungsklauseln« finden sich in den Entscheidungen des Obersten Gerichts zu dem vom nationalsozialistischen Gesetzgeber aus rassepolitischen Gründen eingeführten § 1595 a BGB a. F.62, zu den §§ 1360, 1361 BGB63 und auch noch in den Urteilen 57
OGZ 1, 72, 78. Vgl. C. Fischer, Europäisierung der nationalen Zivilrechte – Renaissance des institutionellen Rechtsdenkens?, 2002, S. 16. 59 OGZ 3, 83, 85, wie in OGZ 2, 133, 135 unter Berufung auf den Gleichberechtigungsgrundsatz und mit dem zusätzlichen Hinweis, dass die Ehe ihren kapitalistischen Charakter als Versorgungsinstitut der Frau verloren habe; sehr ähnliche Argumentation bereits in OGZ 1, 65, 67: »Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß in der Deutschen Demokratischen Republik selbstverständlich jeder Mensch, auch jede Frau, ihre Arbeitskraft dem Aufbau, der Erfüllung des Wirtschaftsplanes zur Verfügung zu stellen hat. … Die Tatsache einer Ehescheidung … ist kein Freibrief für die geschiedene Frau, in der Spekulation auf die Unterhaltspflicht des Mannes ein Faulenzerleben zu führen«. Vgl. zum Ganzen auch Benjamin, NJ 1951, 150, 153, wo es zum ersten Urteil über den Unterhaltsanspruch der Ehefrau sowie zur Entscheidung zu § 48 EheG heißt: »Wir glauben, daß wir mit diesen beiden Entscheidungen im Sinne des Fünfjahrplanes dazu beigetragen haben, die Berufstätigkeit der Frau auf der einen Seite, auf der anderen Seite aber auch durch die Entlastung der Männer von unzeitgemäßen Unterhaltspflichten sicher in einer ganzen Reihe von Fällen die Arbeitsfreude unserer Aktivisten zu fördern«. 60 Haferkamp, in: R. Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur in der DDR, Band 2, 2000, S. 15, 45. 61 OGZ 1, 94, 98 f. 62 Hierzu OGZ 1, 68, 70: »Da ein Gesetz jeweils in Übereinstimmung mit der bestehenden Staatsordnung auszulegen ist, so erhalten auch die übernommenen Gesetze gegebenenfalls einen neuen Inhalt, der der neuen Ordnung entspricht. Das im § 1595 a BGB gegebene Recht, die Ehelichkeit eines Kindes anzufechten, ist aber sehr wohl geeignet, im Sinne unserer antifaschistischdemokratischen Ordnung angewandt zu werden«. 63 OGZ 2, 133, 136: Diese hatten aufgrund der Gleichberechtigung von Mann und Frau »einen neuen Inhalt erhalten. Es ist davon auszugehen, daß nicht nur der Mann für den Unterhalt der Frau zu sorgen hat, sondern daß beide Ehegatten einander gegenseitig zum Unterhalt verpflichtet sind«. 58
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zur Frage des gutgläubigen Erwerbs von Volkseigentum nach §§ 932 ff. BGB64. Je nach Übereinstimmung mit den jeweiligen gesellschaftlichen und staatspolitischen Erfordernissen wurden die überkommenen Normen zugrunde gelegt, oder als gesellschaftlich überholte Rechtsvorschriften für obsolet erklärt65 oder einfach nicht angewendet66. In Fällen, in denen die politische Zweckmäßigkeit auf dem Wege der Auslegung nicht zur Geltung gebracht werden konnte, weil der Wortlaut des Gesetzes eindeutige Schranken zog, kam es zu sog. offenen oder unverhohlenen Rechtsbrüchen67. cc. Dennoch gab es selbst in der Frühphase der DDR auch verdeckte Fortbildungen des überkommenen Gesetzesrechts. Zu nennen ist etwa die Rechtsprechung des Obersten Gerichts zu den Verfahrengrundsätzen nach der »alten« Zivilprozessordnung, welche – wie das Bürgerliche Gesetzbuch – bis Ende 1975 in der DDR fortgalt68. Die Rechtsprechung gestaltete die Grundsätze des Zivilverfahrens vollständig um. Das Oberste Gericht drängte die Verhandlungsmaxime dadurch zurück, dass es den §§ 139, 286 ZPO die richterliche Verpflichtung entnahm, das Vorbringen der Parteien erschöpfend zu berücksichtigen und Zweifelsfragen aufzuklären69. Es betonte die »Notwendigkeit, die objektive Wahrheit mit aller gebotenen Sorgfalt zu erforschen«70. § 139 ZPO enthalte – zusammen mit § 138 ZPO, der die Parteien zu wahrheitsgemäßen Erklärungen verpflichtete – einen »der wichtigsten Grundsätze des demokratischen Prozessverfahrens. Auch dem § 286 ZPO kommt die gleiche Bedeutung zu«71. Die Einführung des Untersuchungsgrundsatzes im Zivilprozess trieb das Oberste Gericht »teilweise contra legem« voran72, ohne dies offen zu legen. Sogar vom DDR-Gesetzgeber geschaffene Rechtsnormen wurden unter der Hand fortgebildet. So räumte das Oberste Gericht der Mitgliederversammlung einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) das generelle Recht ein, den »ohne gesellschaftlich anzuerkennenden Grund« erklärten Austritt eines Mitglieds zu verhindern, obwohl die geltende Regelung ein Zustimmungserfordernis der Mitgliederversammlung nur für den Fall des vorzeitigen Ausscheidens eines Mitglieds vorsah73. Begründet wurde dies mit der »Natur« der Mitgliedschaft in einer LPG und der »Berücksichtigung des gesellschaftlichen Erfordernisses der Festigung und Weiterentwicklung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften«. 64
OG, NJ 1957, 776 ff.; OGZ 6, 159, 163. Vgl. noch OG, NJ 1954, 573 f. zu § 839 BGB. 66 Hierzu und zur Technik der auswählenden Anwendung von Rechtsnormen zur Durchsetzung politischer Ziele Brunner, Einführung in das Recht der DDR, 2. Aufl. 1979, S. 4 f. 67 So Brunner, Einführung in das Recht der DDR, 2. Aufl. 1979, S. 6. 68 Hierzu Brunner, Einführung in das Recht der DDR, 2. Aufl. 1979, S. 39 f., 40, 178 f. 69 Grundlegend OGZ 1, 164, 165 f. 70 OGZ 4, 115, 117 m.w.N. 71 OGZ 4, 115, 117. 72 So Brunner, Einführung in das Recht der DDR, 2. Aufl. 1979, S. 184; zu entsprechenden Umdeutungen im zivilprozessrechtlichen Schrifttum der DDR Althaus-Grewe, Methodenlehre in der DDR-Rechtswissenschaft, 2004, S. 113 ff. 73 OGZ 9, 284, 292 f. 65
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dd. Für abschließende Bewertungen ist die Zeit heute noch nicht reif, weil die Entscheidungspraxis der Zivilgerichte in der DDR bislang nicht umfassend untersucht worden ist74. Die hier betrachteten Entscheidungen aus der Frühphase des Obersten Gerichts wurden überwiegend »offensiv« weltanschaulich begründet. Auffallend ist das vergleichsweise bescheidene methodische Instrumentarium des Obersten Gerichts, das sich weitgehend in institutionell bedingten neuen Begriffsinhalten, der Auswahl bestimmter Rechtsnormen und der schlichten Nichtanwendung überholten Altrechts erschöpfte. Methode wurde wie Recht insgesamt instrumentell verstanden und am Ergebnis der Urteile gemessen75. Angesichts der offen politischen Funktion der Rechtsprechung ist bemerkenswert, dass überhaupt und unschwer verdeckte Rechtsfortbildungen festgestellt werden konnten. In der untersuchten frühen Zivilrechtsprechung des Obersten Gerichts finden sich verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts vor allem in ideologiefernen, scheinbar unpolitisch-technischen Materien wie dem Zivilprozessrecht und in Fällen, in denen von DDR-Recht abgewichen wurde. Bei den Instanzgerichten, deren Rechtsprechung grundsätzlich nicht veröffentlicht wurde, sind verdeckte Rechtsfortbildungen vermutlich häufiger vorgekommen, da ihnen keine Spielräume bei der Rechtsfindung zugestanden wurden. Die Untergerichte wurden mit Skepsis betrachtet und staatlicherseits eng an die Gesetze sowie an die Entscheidungen und Weisungen des Obersten Gerichts gebunden76. Ihre Aufgabe sah man in erster Linie darin, den Tatbestand einwandfrei und nach allen Richtungen zu erforschen und festzustellen77. Es ist wahrscheinlich, dass die Zahl verdeckter Rechtsfortbildungen in der DDR trotz des Fehlens einer unabhängigen Justiz ab den sechziger Jahren zugenommen hat. Diese Einschätzung stützt sich darauf, dass die Bindungswirkung des Rechts gegenüber der Parteilichkeit der »sozialistischen Gerechtigkeit« seit etwa 1963 stärker betont wurde78. Die sechziger Jahre brachten eine Absage an den ursprünglichen Urteilsbegründungsstil des Obersten Gerichts. Seit der Justizreform von 1963 wurde laut Brunner fast ausschließlich vertreten, dass der Wortlaut eines Gesetzes stets die Grenze für die an sich begrüßte inhaltliche Wandelbarkeit der Rechtsnormen darstelle79. Diese Auffassung wurde im Jahre 1967 durch das Oberste Gericht der DDR offiziell bestätigt80. Sie hatte bis zum Ende der DDR Bestand. In dem vom Staatsverlag der DDR herausgegebenen Rechtslexikon aus dem Jahre 1988 heißt es zur Auslegung: »Die A. kann in bestimmtem Umfang der Tatsache Rechnung tragen, daß sich die vom Regelungs74 Haferkamp, in: R. Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur in der DDR, Band 2, 2000, S. 15, 29, konkret zum Obersten Gericht, m.w.N. zum Forschungsstand. Einige weitere Literaturnachweise zur Auslegungspraxis finden sich bei Althaus-Grewe, Methodenlehre in der DDRRechtswissenschaft, 2004, S. 2. 75 So Haferkamp, in: R. Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur in der DDR, Band 2, 2000, S. 15, 48. 76 Hierzu Haferkamp, in: R. Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur in der DDR, Band 2, 2000, S. 15, 40. 77 Benjamin, NJ 1951, 150, 156. 78 Brunner, Einführung in das Recht der DDR, 2. Aufl. 1979, S. 3. 79 Brunner, Einführung in das Recht der DDR, 2. Aufl. 1979, S. 6 m.w.N. 80 OG, NJ 1967, 583, 584, mit einer klaren Scheidung zwischen den Aufgaben der Gesetzgebung und der Rechtsprechung.
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II. Der europäische Rechtskreis
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umfang der Rechtsnorm erfaßten gesellschaftlichen Verhältnisse während deren zeitlicher Geltungsdauer mehr oder weniger stark verändern; jedoch findet die A. in der sozialistischen Rechtsordnung ihre absolute Grenze im Wortlaut des Gesetzes«81. Da Rechtsfortbildungen in der DDR tabuisiert waren82, mussten Fortbildungen des Gesetzesrechts im Gewand einer scheinbar vom Wortlaut gedeckten Auslegung der Gesetze erfolgen. Althaus-Grewe kommt bei ihrer Untersuchung der DDR-Methodenlehre zu dem Ergebnis, dass das eigentliche Paradoxon der Rechtsmethodologie in der DDR darin lag, dass auf der einen Seite die Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung geleugnet wurde, während sich auf der anderen Seite in der Praxis eine umfangreiche Änderung und Berichtigung von Gesetzen durch richterliche Entscheidungen vollzog83. ff. Festzuhalten ist, dass verdeckte Rechtsfortbildungen selbst in der DDR vorkamen, in welcher das Recht durchgängig eine der Politik untergeordnete Kategorie war. Verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts lassen sich sogar in der Frühphase der Rechtsprechung des Obersten Gerichts nachweisen, obwohl den (vorsozialistischen) Gesetzen zu diesen Zeit offiziell keine starke Bindungswirkung für die als »politische Tat« verstandene parteiliche Auslegung der Gesetze zukam und die Entscheidungen des Obersten Gerichts meist offen »gesellschaftlich« begründet wurden.
3. Verfassungsrechtliche Billigung und praktische Übung in der Bundesrepublik Spätestens seit der »Soraya«-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts war für jeden Juristen in der Bundesrepublik Deutschland erkennbar, dass der Zivilrichter zur schöpferischen Fortbildung des Gesetzesrechts berufen und befugt ist84. Wenngleich das Rechtsfortbildungsrecht der Zivilgerichte von den Verfassungsrichtern offiziell anerkannt worden ist, werden Gesetze nach wie vor vornehmlich verdeckt fortgebildet85.
II. Der europäische Rechtskreis Verdeckte Rechtsfortbildungen sind keine spezifisch deutsche Erscheinung. Entsprechendes wird trotz der Geltung des berühmten Art. 1 Abs. 2 ZGB86 aus der 81 Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik (Hrsg.), Rechtslexikon, 1988, Stichwort »Auslegung« (S. 45, Hervorhebungen im Original). 82 Vgl. Althaus-Grewe, Methodenlehre in der DDR-Rechtswissenschaft, 2004, S. 179, 181, 194, die auch darauf hinweist, dass selbst der Begriff so gut wie nicht benutzt wurde. 83 Althaus-Grewe, Methodenlehre in der DDR-Rechtswissenschaft, 2004, S. 215. 84 § 7 IV. 85 Vgl. im Einzelnen § 8. 86 Art. 1 Abs. 2 und Abs. 3 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches von 1907 lauten: »Kann dem Gesetze keine Vorschrift entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Er folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung«.
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§ 9 Streiflichter der Geschichte verdeckter Rechtsfortbildungen
schweizerischen Begründungspraxis berichtet87: Auch dort soll man sich scheuen, die eigenen Werturteile offen zu legen, Lücken als solche auszuweisen und die Legitimation von Art. 1 Abs. 2 ZGB zu beanspruchen. »Rechtsfortbildung und Contra-legem-Judikatur vollziehen sich unter dem Deckmantel teleologischer, sinnkonformer und zeitgemäßer Auslegung«. Der Sache nach sind verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts überdies in Rechtsordnungen und bei Gerichten bekannt, die nicht ausdrücklich zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung trennen, also etwa in Frankreich, in England oder beim Europäischen Gerichtshof88. Hier bemüht man sich ebenfalls darum, die Rechtsfindung möglichst gesetzesnah und gesetzesdeterminiert erscheinen zu lassen.
III. Alte Rechtsordnungen Verdeckte Fortbildungen des Rechts sind nicht auf den europäischen Rechtsraum oder auf hochentwickelte moderne Staaten mit komplexen und ausdifferenzierten Gesetzesnormen beschränkt. Sie finden sich auch und gerade in archaischen und ausnehmend strikten Rechtsordnungen. Nach Garrn sind insbesondere solche Rechtssysteme, die relativ geschlossen und durch ein hohes Maß an legalistischer Strenge gekennzeichnet sind, gezwungen, möglicherweise systemwidrige aber problemgerechte Entscheidungen durch betont systemkonforme Begründungen zu rechtfertigen, um die wirklichen Gründe zu verdecken89.
1. Römisches Recht Vom klassischen römischen Recht bis zum Recht der frühen Neuzeit können entsprechende Phänomene festgestellt werden. Einige Angaben aus dem Schrifttum mögen als Beleg genügen. Vico (1668 – 1744), dessen Hinweis auf die topische Struktur der antiken Geistigkeit Viehweg knapp 250 Jahre später mit seiner Arbeit über Topik und Jurisprudenz folgte90, verglich in der 1708 erschienenen Schrift »De nostri temporis studiorum ratione« auch die antike römische Jurisprudenz mit derjenigen seiner Zeit91: 87
Rhinow, Rechtsetzung und Methodik, 1979, S. 124 m.w.N. Zur Rechtsfindungspraxis französischer Gerichte Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 289 ff.; zur bahnbrechenden, einen allgemeinen Haftungstatbestand schaffenden Entscheidung des Kassationshofs aus dem Jahr 1930 v. Caemmerer, in: Pehle/Stimpel, Richterliche Rechtsfortbildung, 1969, S. 36, 37; zur Praxis englischer Gerichte Vogenauer, a.a.O., S. 1134 ff.; zum Europäischen Gerichtshof bereits § 3 III.3. sowie Wank, FS Stahlhacke, 1995, S. 633, 645; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, 1999, S. 576; Vogenauer, a.a.O., S. 394 ff.; jeweils m.w.N.; zusammenfassender Vergleich zu richterlichen Rechtsfortbildungen bei Vogenauer, a.a.O., S. 1280 ff. 89 Garrn, Rechtsproblem und Rechtssystem, 1973, S. 41 f. 90 So ausdrücklich Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 12 und 14; zu Viehwegs Werk § 2 II. 91 Vico, Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung, Lateinisch-deutsche Ausgabe, 1947, S. 99; eingehender zu Vico und der juristischen Methode Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 129 ff. 88
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III. Alte Rechtsordnungen
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Früher, so heißt es, seien die Gesetze durchaus fest geblieben. Die Rechtskundigen hätten sich mit juristischen Fiktionen und Erdichtungen gewisser Art beholfen, damit an dem Rechte nur ja nichts geändert würde. Die Rechtsfiktionen seien »nichts anderes … als Ergebnisse der alten Jurisprudenz und Ausnahmen von den Gesetzen, wodurch die alten Juristen nicht, wie die unsrigen, die Gesetze den Sachverhalten, sondern die Sachverhalte den Gesetzen anpaßten«. Durch die neue Arbeitsweise habe »die Heiligkeit der Gesetze … gelitten«92. Vico bevorzugte die alte Methode: »Denn die Strenge des Gesetzes bei einem einzelnen zur Anwendung bringen, bedeutet, den anderen Ehrfurcht vor den Gesetzen einflößen«93. Sein Plädoyer für verdeckte, sich hinter Fiktionen und gewaltsamen Sachverhaltsinterpretationen verbergende Rechtsfortbildungen94 stütze er darauf, dass »derjenige Staat … der glücklichste [sei], in dem die Bürger vor den Gesetzen, wie vor einem unbekannten Gotte, ehrfurchtsvolle Scheu empfinden«95. Savigny kritisierte die römischen Juristen, weil sie nicht scharf zwischen Auslegung und Fortbildung des Rechts unterschieden96 und beides miteinander vermischt hätten97. Die Praxis der alten Juristen »geht oft weit über die Gränzen wahrer Auslegung hinaus, und nimmt den Charakter einer wahren Fortbildung des Rechts an«98. Vogenauer berichtet, dass der Begriff der Interpretation im Mittelalter neben der »interpretatio declarativa« auch die »interpretatio extensiva« und die »interpretatio restrictiva« umfasste, mit deren Hilfe die Gesetzesanwender nach modernem Verständnis das Recht fortbildeten99. Dass ein qualitativer Unterschied zwischen diesen Arten der Rechtsfindung bestand, sei bereits den Glossatoren bewusst gewesen, die zwischen einer Interpretation im eigentlichen und weiteren Sinne unterschieden hätten100. Jan Schröder, der die juristische Methode des Schrifttums von 1500 bis 1850 untersucht hat, ist an zahlreichen Stellen auf ein Instrumentarium gestoßen, das rechtsfortbildende Gesetzesinterpretationen bzw. verdeckte Rechtsfortbildungen zulasse101.
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Vico, Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung, 1947, S. 115. Vico, Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung, 1947, S. 117. So die Analyse von Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 132. Vico, Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung, 1947, S. 97. v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 239, 294; s. auch
S. 299. 97
v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 296. v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 297; s. auch S. 300 zu einer römischen Regel über die Auslegung, bei der »offenbar nicht von reiner Auslegung, sondern von Fortbildung … des Rechts die Rede ist«; zu Savignys Verständnissen von Auslegung und Fortbildung des Rechts § 3 V.1.b. 99 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 607 m.w.N. 100 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 607 m.w.N. 101 J. Schröder, Recht als Wissenschaft, 2001, S. 78, 137, 141, 155, 161. 98
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2. Die arabische hijal-Literatur Garrn hat darauf hingewiesen, dass sich im religiös fundierten, traditional-legalistischen islamischen Rechtssystem sogar eine weitgehend anerkannte eigene Lehre von den sog. Rechtskniffen (hijal- bzw. hiyal-Literatur) entwickelt habe, mit deren Hilfe man die strengen und in der Rechtspraxis nicht durchzuhaltenden Regeln des göttlichen Gesetzes umgehen konnte, um so zu praktikablen Ergebnissen zu gelangen102.
3. König Salomos Urteil Selbst König Salomos Schiedsspruch im Streit zweier Frauen um ein Kind, das jede als das von ihr geborene beanspruchte103, lässt sich aus heutiger Sicht als eine verdeckte Fortbildung des Rechts klassifizieren104. Das ist bemerkenswert, weil König Salomos Urteil als das klassische Beispiel einer weisen richterlichen Entscheidung gilt105 und als »salomonisches« Urteil im allgemeinen (deutschen) Sprachgebrauch zur Redensart geworden ist 106. Zur Erinnerung: Zwei Frauen, die beide ein Kind zur Welt gebracht hatten, stritten darüber, wessen Sohn gestorben war und wer von ihnen den noch lebenden Säugling geboren hatte. Salomo sprach ihn derjenigen Frau zu, die angesichts des angedrohten Zerteilens des Kindes in zwei Hälften auf den von ihr erhobenen Anspruch verzichtete: »Diese ist seine Mutter«. Salomos Urteil ist – nach heutigem Verständnis – auch und vor allem ein Symbol für falsche Maßstäbe im Recht. Dabei geht es weniger darum, dass ein Richter, der die Kindestötung als psychologischen Schock und Test ankündigt, kein Richter ist, der diesen Namen verdient107. Wichtiger ist im hier interessierenden 102 Garrn, Rechtsproblem und Rechtssystem, 1973, S. 42; weiterführend zur arabischen hijalLiteratur Schacht, Der Islam XV (1926), 211 ff.; Nagel, Das Islamische Recht, 2001, S. 82 und 276 f.; Horii, Die gesetzlichen Umgehungen im islamischen Recht (hiyal), 2001, S. 5 ff., 83 f., 163 ff. 103 1 Könige 3, 16–28; hierzu aus spieltheoretischer Perspektive Schlink, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band II (1972), S. 322, 340. 104 Historisch ist diese Betrachtungsweise freilich angreifbar, weil Salomo nicht regelgeleitet und mit rationaler Begründung zu entscheiden hatte, sondern ein Richter der charismatischen Offenbarung war, vom Volk ehrfürchtig aufgrund der ihm von Gott gegebenen Stellung in seinen Entscheidungen anerkannt; vgl. 1 Könige 3, 28: »Und das Urteil erscholl vor dem ganzen Israel, das der König gefällt hatte, und sie fürchteten sich vor dem König; denn sie sahen, dass die Weisheit Gottes in ihm war, Gericht zu halten«; zur irrationalen, charismatischen Streitentscheidung in archaischen Gesellschaften Max Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967, S. 215 f., 218 f., 331; Wieacker, in: Bubner/Cramer/Wiehl (Hrsg.), Hermeneutik und Dialektik, 1970, S. 311, 317; konkret zu Salomo Wiethölter, Rechtswissenschaft, 1968, S. 15. 105 Ähnliche Legenden finden sich auch in anderen Kulturkreisen. In der chinesischen Literatur des 13. Jahrhunderts gibt es die Fabel vom »Kreidekreis«, die in Deutschland durch Klabunds Märchenspiel »Der Kreidekreis« von 1925 und Brechts stark verfremdende Bearbeitung im 1954 in deutscher Sprache uraufgeführten Stück »Der kaukasische Kreidekreis« bekannt geworden ist. 106 Vgl. etwa Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 9. Aufl., Band 20, 1977, Stichwort »salomonisches Urteil«. 107 Diesen Aspekt betont Wiethölter, Rechtswissenschaft, 1968, S. 16. Er weist außerdem darauf hin, dass Salomo den Rechtssachverhalt durch ein idealisiertes abstraktes Mutterbild trickreich so verfremdet habe, dass es gleichfalls von selbst die gewünschten Rechtsfolgen abwerfe. Die Möglichkeit, dass die Mutter lieblos ist, ihr Kind mit Freuden verliert, quält, gar tötet,
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IV. Voraussetzungen verdeckter Rechtsfortbildungen
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Kontext der heimliche Austausch der Beurteilungsnorm. Salomo hatte zu entscheiden, wer das Kind geboren hatte, wer also die biologische Mutter des Kindes war. Statt dieser Frage nachzugehen, wählte er eine am voraussichtlichen Kindswohl ausgerichtete Betrachtungsweise, die er aber nicht als solche offen legte. Salomo hat den Entscheidungsmaßstab »biologische Mutter« also verdeckt durch den der »sozialen Mutter« ersetzt. Man kann insoweit von einer Scheinbegründung und einer verdeckten Fortbildung des Rechts sprechen, wobei man Recht freilich nicht im Sinne des Gesetzesrechts verstehen darf.
IV. Voraussetzungen verdeckter Rechtsfortbildungen Recht scheint verdeckt fortgebildet worden zu sein, seit regelgeleitet entschieden wird. Verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts kommen vor, seit Gesetze existieren, deren Anwendung im Einzelfall zu begründen ist. Damit sind die beiden Voraussetzungen »Normanwendung« und »Begründung« angesprochen, die für verdeckte Rechtsfortbildungen elementar sind.
1. Normanwendung Fortbildungen des Rechts existieren, seit es Rechtsnormen gibt. Sobald sich das Recht vom Einzelfall löst108 und zu einer abstrakten normativen Regel erstarkt, stellt sich die Frage, wie diese richtig auf künftige Fälle anzuwenden ist. Anwendungsfragen werden in Streitfällen schnell zu Fortbildungsfragen. Ein klassisches Beispiel bietet die Haftung für vierfüßige Tiere nach dem Zwölftafelgesetz. Im Jahr 450 a.d. schrieb man das öffentliche und private römische (Gewohnheits-)Recht auf zwölf Tafeln nieder, die auf dem Forum aufgestellt wurden109. Auf der achten Tafel fand sich laut Ulpian für die Schadenszufügung durch ein vierfüßiges Tier die Regel, dass entweder das schädigende Tier zu übergeben oder die Schadenssumme anzubieten sei110. Nach den punischen Kriegen hielt der große Vogel Strauss in Italien Einzug und verursachte Schäden; die »Tierhalterhaftung« für Vierfüßler wurde mittels eines Analogieschlusses auf große Zweifüßler erstreckt111. Das Beispiel zeigt: Selbst bei einfachsten und konkreten Rechtsregeln mit scheinbar rein deskriptiven Voraussetzungen stellt sich stets die Frage nach ihrer Fortbildung, wenn neue Fallkonstellationen auf- oder nicht vorhergesehene Veränderungen eintreten.
während die Nicht-Mutter das fremde Kind wie das eigene, das sie gerade verloren hat, liebt und es deshalb ebenfalls lieber nicht gewinnt als zerhacken lässt, werde gar nicht erst in den Sachverhalt eingelassen, vgl. a.a.O., S. 15 und 17. 108 Hierzu Max Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967, S. 121, 215 f. 109 Düll, Das Zwölftafelgesetz, 3. Aufl. 1959, S. 6. 110 Vgl. Düll, Das Zwölftafelgesetz, 3. Aufl. 1959, S. 48 f. 111 Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 905. Ob dieser Schluss das Gesetzesrecht fortbildete, hängt aus heutiger Perspektive freilich davon ab, ob man eine Wortlaut- oder eine Gesetzessinngrenze vertritt und wo diese im konkreten Fall zu ziehen ist; hierzu § 3 II.1.a.bb. und § 4 V.4.f.aa.
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§ 9 Streiflichter der Geschichte verdeckter Rechtsfortbildungen
Unentwickelte Rechtsordnungen und Rechtsverständnisse klammern sich üblicherweise an den Wortlaut. Die Autorität der Begriffe ist indessen erkennbar brüchig, wenn die konkret zu beurteilende Fallkonstellation im Zeitpunkt der Normsetzung gar nicht in Betracht gezogen wurde. In dieser Situation wird dann regelmäßig zugleich eine meist fallvergleichende inhaltliche Begründung erforderlich112. An die Stelle des Autoritätsarguments tritt ein Sachargument113. Die nicht mit dem Wortlaut der Rechtsnorm zu legitimierende Einzelfallentscheidung muss anders gerechtfertigt werden.
2. Begründung Verdeckte Rechtsfortbildungen scheint es zu geben, seit Urteile mit Rechtsgründen versehen werden. Begründungen werden notwendig, wenn der Normsetzer und der Normanwender nicht identisch sind und die Übereinstimmung von Regel und Einzelfallentscheidung nicht ausnahmsweise evident ist, woran es in Streitfällen regelmäßig fehlen wird. Auf die Form der Urteilsbegründung kommt es für verdeckte Rechtsfortbildungen nicht an. Die relevanten Maßstäbe können auch mündlich fortgebildet werden. Freilich ist das gesprochene Wort flüchtig, während Niederschriften einer eingehenden Kontrolle unterzogen werden können. Insoweit bedarf es ausgefeilterer Verdeckungsstrategien. Durch das Erfordernis schriftlicher Begründungen haben verdeckte Rechtsfortbildungen daher an Bedeutung gewonnen. Die in dieser Untersuchung behandelten Fortbildungen des Gesetzesrechts kommen vor, seit es Gesetze gibt, deren Anwendung zu begründen ist. Sie finden sich in archaischen Rechtsordnungen, die durch eine Bindung an das meist auf einer Verkündigung beruhende und dann niedergeschriebene Wort gekennzeichnet sind. Sie treten in modernen Gesetzesstaaten mit umfangreichen und detaillierten (Zivilrechts-)Kodifikationen auf. Sie existieren selbst in Systemen, in denen – wie im Dritten Reich – eine Fortbildung der Gesetze durch unmittelbare Anwendung der Basisideologie grundsätzlich erlaubt ist oder sogar – wie im Recht der DDR – verbreitet praktiziert wird. Verdeckte Rechtsfortbildungen haben auch nicht dadurch nennenswert an Bedeutung verloren, dass die Rechtsfortbildung in Deutschland mittlerweile im Prinzip als legitime Aufgabe der Rechtsprechung in Zivilsachen anerkannt ist. Gerade die letzten beiden Aspekte deuten darauf hin, dass es sich bei der verdeckten Fortbildung des Gesetzesrechts um ein tief verwurzeltes, verinnerlichtes Verhaltensmuster der juristischen Entscheider handelt114.
112 Vgl. insoweit auch Max Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967, S. 341: »Das Rechtsdenken des »Laien« ist einerseits wortgebunden. Er pflegt vor allem ein Wortrabulist zu werden, wenn er »juristisch« zu argumentieren glaubt. Und daneben ist ihm das Schließen vom Einzelnen auf das Einzelne natürlich: die juristische Abstraktion des »Fachmanns« liegt ihm fern«. 113 Vgl. bereits § 2 V.4.c. 114 Richter bezeichnen die Suche nach einer möglichst weitgehenden normbestimmten Determination als »berufsspezifische Attitüde«, s. Berkemann, KritV 1988, 29, 32; Dieterich, RdA 1993, 67, 69.
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V. Der Mythos der Gesetze
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V. Der Mythos der Gesetze Verdeckte Rechtsfortbildungen verändern den Inhalt der Gesetze, ohne deren Geltungsanspruch in Frage zu stellen. Sie schaffen die Illusion schlichten Gesetzesvollzugs. Der Mythos der unantastbaren Gesetze wird aufrechterhalten115. Vermutlich besteht ein Zusammenhang mit dem ursprünglich religiösen bzw. sakralen Charakter der Rechtsprechung116. Zwar haben sich die Art und die Funktion des Urteilens im Laufe der Zeit verändert. Ging es zunächst um einzelfallbezogene Entscheidungsakte kraft charismatischer Offenbarung117, wurden später sich allmählich herausbildende allgemeine Regeln und schließlich verkündete Gesetze angewendet. Das archaische Rechtsprechungsbild wirkt aber unterschwellig fort118. Rechtsprechen hat immer noch mystisch-sakrale Komponenten (»Gerechtigkeit«, »Rechtsgefühl«), welche von dem auf Rechtsvernunft getrimmten Fachpersonal freilich meist erfolgreich aus dem Bewusstsein verdrängt werden. Die rechtsunterworfenen »Laien« sehen häufig mehr: Die sonst nur abstrakte Gerechtigkeit realisiert sich im Einzelfallurteil. In der Entscheidung des Richters findet die »geheimnisvolle Einswerdung« (mystica)119 von konkretem Sachverhalt und Weltordnung statt. Sollen und Sein werden schon in dieser Welt in Einklang gebracht. Wohl auch deshalb finden bestimmte Gerichtsverfahren seit jeher das Interesse des Publikums. Rechtsprechen hat – jedenfalls in der Sicht der »Laien« – immer auch transzendentale, irrationale, mystische und mythische Elemente. Rechtsmythos und Rechtsideologie haben durch Jahrhunderte den Glauben an die Heiligkeit des irdischen Rechts getragen120. Ein Teil des sakralen, rituellen Mythos von Rechtsfindung und Rechtsprechung ist, um mit Vico zu sprechen121, die Heiligkeit der Gesetze. Auch heute noch soll die schlichte Gesetzesanwendung das Begründungsverfahren sein, welches die größte Aussicht auf breite Zustimmung der Bürger hat, weil die Anwendung eines allgemeinen Gesetzes »ohne Ansehn der Person« das am allgemeinsten anerkannte Element der Gerechtigkeit ist122. Der in diesen Äußerungen angedeutete Mythos der Gesetze lässt sich in Anlehnung an Max Webers Beschreibung der Entstehung von Rechtsnormen modellhaft näher charakterisieren123: 115 Zum tief verwurzelten Idealbild vom »gerechten« Richter und zum neuzeitlichen Mythos vom gesetzesgebundenen, der Rechtsanwendungsgleichheit verpflichteten Entscheider bereits § 1 I.5. 116 Zur festen Verankerung des Rechts im Religiösen in frühzeitlichen, archaischen Rechtsordnungen Herberger, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 8, 1992, Stichwort »Recht«, I., Sp. 221 f. 117 Vgl. nochmals III.3. zum Urteil Salomos. 118 Topitsch spricht von – weiterwirkenden – verblassten mythischen Urbildern, s. Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, 1958, S. 285. 119 Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 23. Aufl. 1999, Stichwort »Mystik«. 120 So Rüthers, Wir denken die Rechtsbegriffe um …, 1987, S. 94. 121 Vorstehend III.1. 122 So Wieacker, FS W. Weber, 1974, S. 421, 437. 123 Das im Folgenden geschilderte, stark vereinfachende Erklärungsmodell erhebt nicht den Anspruch, historisch »richtig« zu sein. Es geht allein darum, den Problembereich verdeckter Rechtsfortbildungen bildhaft zu verdeutlichen.
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1. Magische Rechtsoffenbarung Nach dem von Max Weber gezeichneten Bild steht am Anfang die »urwüchsige Entscheidung durch magische Mittel der Rechtsoffenbarung«124. Die kosmische Ordnung ist zwar nicht für alle verständlich, aber absolut heilig und aufgrund der Tradition unveränderlich125. Der Entscheider schafft die bereits vorhandenen Weltgesetze nicht, sondern muss sie nur richtig erkennen und interpretieren126. Die charismatischen »Rechtsweiser«, häufig Zauberer bzw. Priester, sind magisch Qualifizierte127, welche die Kunstregeln für den Verkehr mit den übersinnlichen Mächten kennen128. Ihnen offenbart sich das Recht, verstanden als die individuelle Entscheidung, was im konkreten Fall rechtens ist129. Durch die Magier und Rechtswissenden130 wird »mit Ansehen der Person« und der ganz konkreten Lage der Sache entschieden131. Neue Probleme werden gelöst, indem die Rechtspriester die übersinnliche Macht beschwören (»Orakel«).
2. Entmythologisierung Mit dem Vordringen des Vernunftrechts132 löst die Rationalität die Magie ab. Der Rechtsfindungsprozess wird – vordergründig – entmythologisiert. Freilich ist jede Entmythologisierung ein krisenhafter, ambivalenter Vorgang133: Die vermeintliche Entmythologisierung produziert nicht selten neue Mythen und Illusionen134. Im Zuge der Aufklärung ersetzt das Wissen den Glauben. Das Naturrecht erschließt sich aus der Vernunft. Das »dictatum rectae rationis«, das Gebot der wahren Vernunft, unveränderlich und ewig, ist die Basis und die Richtschnur jedes von Menschen gesetzten Rechts. Man leitet aus obersten Grundsätzen des Naturrechts ein vollständiges, alle Rechtsgebiete umfassendes, absolut gültiges System von Gesetzen ab135. Die Idee abschließender Kodifikationen, ein Kind von Aufklärung und Vernunftrecht136, wird geboren. In die Einzelnormen wird 124
Max Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967, S. 215; im Original: »urwüchsigen«. Max Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967, S. 218. 126 Max Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967, S. 218; s. auch a.a.O. S. 345, wo es heißt, es sei durchaus nichts spezifisch Modernes, sondern auch gerade den, objektiv betrachtet, am meisten »schöpferischen« Rechtspraktikern eigen gewesen, dass sie subjektiv sich nur als Mundstück geltender Normen, als deren Interpreten und Anwender, nicht aber als deren »Schöpfer«, fühlten. 127 Max Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967, S. 228. 128 Max Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967, S. 218. 129 Max Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967, S. 219. 130 Max Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967, S. 228. 131 Vgl. Max Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1967, S. 216. 132 Einführend Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 445 ff.; Kaufmann, in: Kaufmann/ Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl. 2004, S. 26, 47 ff.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 249 ff. 133 Rüthers, Wir denken die Rechtsbegriffe um …, 1987, S. 94. 134 Rüthers spricht von einer spezifischen Form des horror vacui, s. Rüthers, Wir denken die Rechtsbegriffe um …, 1987, S. 94. 135 Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 449; anschaulich zum Verhältnis Gesetzesrecht und Naturecht Brinkmann, Ueber die richterlichen Urtheilsgründe, 1826, S. 3 f. 136 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 322 zu den Naturrechtsgesetzbüchern, S. 312 ff. zum Verhältnis von Naturrecht und Aufklärung. 125
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V. Der Mythos der Gesetze
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das richtige, das vernünftige Recht gegossen. Auch das Rechtsfindungsmodell ändert sich.
3. Die Anwendung der Gesetze An die Stelle der übersinnlichen kosmischen Weltordnung tritt das Gesetz, also »das Gesetzte«137 bzw. die staatliche Satzung. Die Rechtsoffenbarung wird durch die Gesetzesanwendung ersetzt. Auslegungs- und Fortbildungsverbote für den Richter sollen die Herrschaft der vernünftigen Gesetze garantieren. Da auch die ausführlichsten Kodifikationen nie aus sich heraus vollzogen werden können, fallen die Interpretationsverbote über kurz oder lang. Umso nachdrücklicher wird die Gesetzesbindung des Richters betont. Wie bei der charismatischen Rechtsoffenbarung schafft der Entscheider die ihm vorgegebenen Gesetze nicht, sondern muss sie nur richtig erkennen und interpretieren. Die Mittlerfunktion des magisch befähigten Priesters wird dem juristisch qualifizierten Rechtsbeamten zugewiesen, der die Kunstregeln für die Auslegung der Gesetze kennt, an die er gebunden ist. Ihm offenbart sich das (Gesetzes-)Recht, verstanden als abstrakt-generelle Regelung, nach der ohne Ansehen der Person entschieden wird. Seine Kompetenz hat indes nichts Urwüchsiges mehr. Sie ist abgeleitet aus der Autorität der Gesetze. Beim Rechtsprechen kommt deshalb jetzt der Bindung an die Gesetze die zentrale Rolle zu. Wegen ihr und durch sie hat der Richter Teil an der objektiven gesetzlichen Vernunft und damit an der Autorität der Gesetze. Das Gesetz ist sakrosankt und allwissend. Neue Probleme sind zu lösen, indem der Jurist die vernünftigen, jede Frage beantwortenden Gesetze auslegt. Die rationale Interpretation der Gesetze übernimmt die Rolle, welche vorher der Beschwörung einer übersinnlichen Macht zukam.
4. Neue Mythen Die abschließende Rationalität der Gesetze und die unbedingte Kalkulierbarkeit des Urteilsspruches sind freilich gleichfalls Mythen. Sie beruhen auf idealisierenden, unrealistischen Bildern vom Gesetz und von der richterlichen Rechtsfindung. Eine reine Gesetzesanwendung ohne richterliche Eigenwertungen wäre nur möglich, wenn die zu beurteilenden Sachverhalte und die für sie maßgebenden gesetzlichen Beurteilungsnormen von vornherein feststehen würden und lediglich schablonenhaft abgeglichen werden müssten, was offensichtlich nicht der Fall ist. Der zu beurteilende Sachverhalt muss vom Richter erst gebildet werden. Die Gesetze können nicht aus sich heraus vollzogen werden, weil die gesetzlichen Begriffe stets sachverhalts- und normbezogen konkretisiert werden müssen. Vor allem sind die Kodifikationen aber weder stets lückenlos noch ausnahmslos verbindlich. Anfängliche Lücken und grundlegende Veränderungen der Rechtsoder Sachlage können Fortbildungen des Gesetzesrechts gebieten. Diese Situationen sind in einem Rechtsfindungsmodell, das die Gesetze als Ausdruck der wah137 Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 23. Aufl. 1999, Stichwort »Gesetz«.
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§ 9 Streiflichter der Geschichte verdeckter Rechtsfortbildungen
ren Vernunft versteht, nicht vorgesehen. Das Gesetz gibt keine Antworten auf die sich stellenden Fragen. Andere Erkenntnisquellen gibt es offiziell nicht. Der auf die rationale Gesetzesinterpretation beschränkte Richter ist faktisch gezwungen, die Gesetze zu »beschwören«. Um ihnen die »richtigen« Antworten zu entnehmen, hat er diese erst ein- bzw. unterzulegen. Er muss in sich gehen. Die Augenbinde der Justitia, ein Sinnbild für die neuzeitliche, rationale und unparteiische Entscheidungsfindung ohne Ansehen der Person138, lässt sich daher zugleich als Symbol für den fortbestehenden mystischen Charakter des Rechtsprechens verstehen139. Seine eigenständigen Interessenbewertungen darf der Richter aber nicht offen legen, sondern muss sie im Gewand einer auslegenden Anwendung der Gesetze vornehmen. Da ihm die Fortbildung des Gesetzesrechts verboten ist, sind verdeckte Fortbildungen der Gesetze unverzichtbar, um gesetzlich nicht geregelte Fragen zu beantworten und überkommene Normen an neue Gegebenheiten anzupassen. Dazu bedient sich der Richter bestimmter verschleiernder Topoi.
5. Die Rolle der Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen Die Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen ermöglichen es dem Richter, außergesetzliche Ordnungs- und Wertvorstellungen in die Gesetzesanwendung einfließen zu lassen. Als bloße, meist seit langem gebräuchliche Argumente berühren die Topoi den Bestand und die Geltung der Gesetzesordnung scheinbar nicht. Tatsächlich wird mit ihnen der Gesetzesordnung eine parallele außergesetzliche Ordnung zur Seite gestellt. Bei den Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen handelt es sich um Scheinargumente und Leerformeln, mit denen unterschiedlichste Inhalte als geltendes Gesetzesrecht ausgegeben und weitgehend beliebige Entscheidungsergebnisse erzielt werden können.
6. Leerformeln und Mythos Ernst Topitsch verweist darauf, »daß bestimmte sprachliche Formeln durch die Jahrhunderte als belangvolle Ansichten oder sogar als fundamentale Prinzipien des Seins, Erkennens und Wertens angesehen wurden und es heute noch werden – nicht obwohl, sondern gerade weil und insofern sie keinen näher angebbaren Sach- oder Normgehalt besitzen«140. Derartige Worthülsen und Beschwörungsphrasen seien deshalb so außerordentlich erfolgreich, weil sie »gerade infolge ihrer Inhaltslosigkeit psychologisch-politisch eine schlechthin universelle Verwendbarkeit besitzen« und jedem geben, was er wünscht141. Weil sie mit beliebigen Inhalten gefüllt werden können, bleiben sie durch lange Zeitabschnitte unverändert erhalten und erwecken so den Eindruck »ewiger«, dem geschichtli138 Zu den seit dem 16. Jahrhundert üblichen Darstellungen der Justitia mit verbundenen Augen Kissel, Die Justitia, 1984, S. 82 ff. 139 Mystik kommt von myo, schließen, nämlich die Augen, um in die Innenwelt sich zu versenken, s. Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 2. Aufl. 1904, Stichwort »Mystik«. 140 Topitsch, in: Probleme der Wissenschaftstheorie, FS Kraft, 1960, S. 233 f. 141 Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, 1958, S. 293; s. auch S. 291 f., konkret zu naturrechtlichen Denkformen.
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V. Der Mythos der Gesetze
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chen Wandel entzogener »Wahrheiten«142. Es geht um Überbleibsel eines archaischen, mystischen, symbolhaften und vorwissenschaftlichen Denkens143, welches sich pathetischer Kult- und Prestigeformeln und willkürlich verwendbarer Leerformeln bedient144. Topitsch spricht von »Restbeständen des Mythos«145 und der Metaphysik146. Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen lassen sich vor diesem Hintergrund als überkommene irrationale Elemente in einem scheinbar vollständig rationalen Rechtsfindungsbild klassifizieren. Als eine Art Überdruckventil ermöglichen sie ein Festhalten am Prinzip der abschließenden Vernünftigkeit der Kodifikationen. Die »Heiligkeit« der für den Richter unantastbaren Gesetze bleibt formal und öffentlich gewahrt.
7. Kontinuitäten Heute herrscht Einigkeit darüber, dass das vernunftrechtliche Gesetzes- und Richterbild überholt ist. Das allwissende, sämtliche Fragen beantwortende Gesetzeswerk hat sich als Illusion erwiesen. Die traditionelle Kodifikationsidee ist tot. Der Mythos des unantastbaren, sakralen Gesetzes und des gesetzesdeterminierten Rechtsanwenders leben fort. Auch im heutigen Rechtsfindungsverständnis hat die Gesetzesbindung eine beherrschende Stellung. Zwar hat sich das Rechtsfindungsbild gewandelt147. Ein »partieller Paradigmenwechsel« ist feststellbar148. Die Rechtsfortbildung wird mittlerweile im Grundsatz als legitime Aufgabe der Zivilrechtsprechung angesehen149. Dessen ungeachtet wird die fremde Wertungen nachvollziehende Auslegung immer noch als der Normal- und Regelfall der Rechtsfindung angesehen. Den Gesetzen wird die alles dominierende Rolle im Rechtsfindungsmodell zugewiesen150, obwohl die Gesetzesbindung faktisch längst durch eine Rechtsbindung ersetzt ist151 und Präjudizien weitgehend die Funktion der Gesetze übernommen haben152. Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen erfüllen weiterhin ihre herkömmliche Aufgabe, die Gesetzesordnung für Neues offen zu halten. Im Gewand der Anwendung der ausgelegten Gesetze öffnen sie die Schleusen zu außergesetzlichen Rechtsquellen. Ein zwingendes Bedürfnis besteht hierfür freilich nicht mehr, seit Rechtsfortbildungen im Zivilrecht im Prinzip erlaubt sind. Die lange und andauernde Erfolgsgeschichte der Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen ist wohl nur mit dem fortwirkenden Mythos der Gesetze und dem mythisch-symbolhaften Charakter der scheinbar bewährten 142
Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, 1958, S. 292. Topitsch, in: Probleme der Wissenschaftstheorie, FS Kraft, 1960, S. 233, 234 ff. 144 Topitsch, in: Probleme der Wissenschaftstheorie, FS Kraft, 1960, S. 233, 244. 145 Topitsch, in: Probleme der Wissenschaftstheorie, FS Kraft, 1960, S. 233, 264; zu Grundformen des Denkens im Mythos Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, 1958, S. 5 ff. 146 Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, 1958. 147 § 6 III. und V. 148 § 7 II.3. und III. 149 § 7 IV.1. 150 § 7 IV.3. 151 § 7 IV.2. 152 § 7 V.6.f. 143
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§ 9 Streiflichter der Geschichte verdeckter Rechtsfortbildungen
Leer- und Bekräftigungsformeln zu erklären, deren Entmythologisierung bislang noch weitgehend aussteht.
VI. Resümee Verdeckte Rechtsfortbildungen gibt es innerhalb und außerhalb Deutschlands schon lange. Das Recht scheint verdeckt fortgebildet zu werden, seit man Einzelfallurteile mit Rechtsgründen versieht. Die in dieser Untersuchung behandelten Fortbildungen des Gesetzesrechts kommen vor, seit Gesetze existieren, deren Anwendung zu begründen ist. Verdeckte Rechtsfortbildungen finden sich insbesondere in Rechtsordnungen mit enger Wortlautbindung. Es gibt sie in Staaten, in denen weitere Rechtsquellen anerkannt werden, solange den Gesetzen nur eine zentrale Rolle bei der Urteilsbegründung zukommt. Sie sind sogar in Rechtssystemen vorhanden, in denen Fortbildungen des Gesetzesrechts grundsätzlich erlaubt sind. Die verdeckte Fortbildung des Gesetzesrechts ist ein tief verwurzeltes Verhaltensmuster juristischer Entscheider, das vermutlich mit dem ursprünglich sakralen Charakter der Rechtsetzung und Rechtsprechung zusammenhängt. Verdeckte Rechtsfortbildungen verändern den Inhalt und die Geltung der Gesetze, ohne diese als solche anzutasten. Sie wahren den Mythos der abschließenden Vernunft der Gesetze und der rein rationalen, gesetzesdeterminierten richterlichen Entscheidung. Die vielseitig verwendbaren Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen stellen als leerformelhafte Worthülsen und Beschwörungsformeln nach Topitsch Überbleibsel eines archaischen, mystisch-vorwissenschaftlichen Denkens dar.
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen Über die konkreten Gründe für verdeckte Rechtsfortbildungen kann man nur spekulieren. An systematischen Untersuchungen fehlt es bislang1. Selbst »erste skizzierende Erwägungen«2 gibt es nur ganz vereinzelt. Die einschlägigen Äußerungen finden sich regelmäßig am Rande von Publikationen, deren Schwerpunkt bei anderen Fragestellungen liegt. Sie bleiben daher meist an der Oberfläche. Im Schrifttum werden als Erklärungsansätze verschiedene einzelne Gesichtspunkte angesprochen, die sich teilweise auch noch widersprechen. Es soll versucht werden, die angeführten Aspekte aufzulisten, zu vertiefen und zu ordnen. Dabei werden objektiv-funktionale Kausalfaktoren, subjektive Beweggründe (»Motive«) und tiefere Ursachen unterschieden. Es lassen sich vier objektiv-funktionale Gründe, drei subjektive Beweggründe und zwei tiefere Ursachen für verdeckte Rechtsfortbildungen nennen. Vordergründig geht es bei verdeckten Rechtsfortbildungen zunächst darum, den Entscheider zu entlasten, seine Beanspruchung zu mindern und ihm die Begründung seiner Entscheidung zu erleichtern. Diese Entlastungswirkung verdeckter Rechtsfortbildungen ist das gemeinsame Charakteristikum der ersten drei, miteinander zusammenhängenden Gründe: Durch verdeckte Rechtsfortbildungen wird Verantwortung auf den Gesetzgeber abgewälzt (I.). Die Entscheidung und der Entscheider werden so – auf den ersten Blick – unangreifbar gemacht (II.). Verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts vereinfachen die richterliche Arbeit; man erspart sich die Mühen einer eigenständigen Bewertung der widerstreitenden Interessen (III.). Diese drei Aspekte können unterschwellig wirken und müssen dem oder den Begründenden nicht zwangsläufig (voll) bewusst sein. Das unterscheidet sie vom vierten Grund für verdeckte Gesetzesrechtsfortbildungen: Gelegentlich wird die Autorität des Gesetzes durch eine vorgeschobene Begründung gerade gezielt erschlichen (IV.). Aus dem Kreis der subjektiven Beweggründe bzw. Motive für verdeckte Rechtsfortbildungen sind hervorzuheben der verbreitete »horror vacui« (V.), der profane Aspekt der Bequemlichkeit (VI.) und ein elitäres richterliches Selbstverständnis (VII.). Die tieferen Ursachen für verdeckte Rechtsfortbildungen liegen in bestimmten methodischen Vorstellungen (VIII.) und der Ausgestaltung der deutschen Juristenausbildung (IX.). Hinzu kommt ein konkreter zivilprozessgesetzlicher Grund für verdeckte Rechtsfortbildungen (X.).
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Berkemann, KritV 1988, 29, 30. Berkemann, KritV 1988, 29, 30.
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
I. Abwälzen von Verantwortung Die als Auslegung gewandete Rechtsfortbildung ermöglicht es dem Rechtsanwender, die Verantwortung für eine eigene, nicht durch die Gesetze determinierte und insoweit zweifelhafte und begründungsbedürftige Entscheidung dem Gesetzgeber aufzubürden. Statt materieller (Sach-)Argumente wird ein Autoritätsgrund gegeben3: An die Stelle der gebotenen sachlich-inhaltlichen Begründung wird die angebliche Autorität des Gesetzes gesetzt. So kann man sich und andere täuschen und Verantwortung abwälzen4. Das Bestreben, für jeden Rechtsfall, und zwar auch für den offensichtlich nicht geregelten, eine positive gesetzliche Bestimmung zu finden, ist im Schrifttum schon frühzeitig thematisiert worden.
1. Literaturstimmen Carl Schmitt hat in diesem Zusammenhang schon 1912 von der psychologischen Bedeutung der Abwälzung der eigenen Verantwortlichkeit auf das Gesetz gesprochen und eine Äußerung des Strafrechtlers Köstlin aus dem Jahre 1855 zitiert5: Die meisten finden es sehr bequem, »sich hinter die Schanzen des positiven Rechts zurückzuziehen, um keine eigene Meinung aussprechen zu müssen«. Auch Heck erklärte den bleibenden Erfolg der von der konstruktiven Begriffsjurisprudenz praktizierten Formelverwertung damit, dass der Richter sich bei dieser Vorgehensweise von jeder Verantwortung frei fühlen könne6. Im neueren Schrifttum wird der Aspekt der »fremden Verantwortlichkeit« gleichfalls genannt7. Die Praxis bemühe sich, die Frage nach der Entscheidungsverantwortung gar nicht erst aufkommen zu lassen; die Verantwortlichkeit werde entweder auf das Gesetz abgewälzt oder bleibe unerörtert8. Herzog betont den defensiven, Verantwortung verschiebenden Charakter der Berufung auf das Gesetz9, wobei die von ihm geschilderte Strategie hier vernachlässigt werden kann, weil sie dazu dient, eine Fortbildung des Gesetzesrechts zu verweigern. Erfahrene Berufsrichter bezeichnen die Annahme, es gebe ein zur rechtlichen Beurteilung ausreichendes Kalkül von Normen, als das Grundmuster richterli-
3
Zur Unterscheidung zwischen materiellen Argumenten und Autoritätsgründen § 2 V.4.c. In den Fällen der hier nicht separat behandelten verdeckten Fortbildung von rechtsgeschäftlichem Recht (s. § 4 V.4.e.) wird die Verantwortung dem oder den rechtsgeschäftlich Handelnden aufgebürdet, die etwas, an das sie nicht gedacht haben, von Rechts wegen gewollt haben müssen. 5 C. Schmitt, Gesetz und Urteil, 1912, S. 95. 6 Heck, Interessenjurisprudenz, 1933, S. 19. 7 Etwa von Berkemann, KritV 1988, 29, 32; Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 201 m.w.N. 8 So Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 201. 9 Herzog, FS Sendler, 1991, S. 17, 25: »Am bedenklichsten wird die Sache aber, wenn die Berufung auf das Gesetz dazu herhalten muß, die Verantwortung für eine Entscheidung vom Richter abzulenken und dem Gesetz aufzubürden. … Der Richter könnte sehr wohl so, wie er es angeblich für richtig hält, aber er wagt den dazu vielleicht notwendigen juristischen Schritt nicht und redet sich lieber auf »das Gesetz« hinaus«. 4
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I. Abwälzen von Verantwortung
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cher Arbeitsweise10: Der Richter suche nach rechtlicher Determination, weil er sonst die individuelle Verantwortung für die verlangte Sachgerechtigkeit übernehmen müsse. »Der konfliktentscheidende Einfluß des bestehenden Realitätsbereiches soll durch die Normanwendung zugunsten fremder Verantwortlichkeit gemindert, wenn möglich sogar ausgeschlossen werden«. Berkemann spricht von einer »generellen Konditionierungserwartung« und einem »präformierten Habitus« deutscher Richter11: »Sie haben die von ihnen erwartete Gesetzesbindung, die ihnen in ihrer Ausbildung … kontrollierend antrainiert wurde, internalisiert«. Auch wenn bei objektiver Betrachtung ein Normdefizit bestehe und funktional Rechtsergänzung betrieben werde, würden Richter deshalb regelmäßig vermeiden, »die Beseitigung normdefizitärer Rechtslagen ausdrücklich als Rechtsfortbildung zu bezeichnen«.
2. Autorität und Verantwortung Mit den genannten Äußerungen ist das Verhältnis von Autorität und Verantwortlichkeit in der richterlichen Entscheidung angesprochen. Die fremde Autorität des Gesetzes entbindet von eigener Verantwortung. Der Richter kann die Hände in den Schoß legen oder auch in Unschuld waschen und bedauernd auf die Gesetzesbindung verweisen. Eigene grundsätzliche Erwägungen sowie Folgebetrachtungen juristischer und vor allem außerjuristischer Art erübrigen sich dann. Außerjuristische Begründungen für richterliche Entscheidungen sind stets angreifbar12. Richter verwenden sie deshalb nur ungern. Die Abneigung der deutschen Juristen, ihre Disziplin in Theorie und Praxis realwissenschaftlich zu betreiben, ist tief verwurzelt13. Bundesrichter Dieterich betont, die Risiken von Rechtsfortbildungen seien schwer kalkulierbar, weil diese das Denken in Alternativen und das Abschätzen komplexer Folgewirkungen erfordern14. Nach Kaufmann möchten die meisten Juristen lieber an den »strengen, nackten Buchstaben des Gesetzes« gebunden und damit aller Eigenverantwortung ledig sein, als in einem wirklich offenen System zu diskutieren und zu argumentieren15: »Kein Risiko!, das ist das Motto«. Wird die entscheidungsbedürftige Rechtsfrage durch das Gesetzesrecht nicht beantwortet, so muss der Richter seine Entscheidung anderweitig legitimieren. Eine verdeckte Fortbildung des Gesetzesrechts beseitigt die Begründungsschwierigkeiten und versieht die getroffene Entscheidung zusätzlich mit dem Schein der gesetzgeberischen Billigung. So lassen sich die Autoritätsprobleme (scheinbar) elegant lösen. 10 Berkemann, KritV 1988, 29, 32. Berkemann war damals Richter am Bundesverwaltungsgericht. 11 Berkemann, KritV 1988, 29, 32. 12 Dieser Aspekt wird immer wieder betont, vgl. beispielsweise Haverkate, ZRP 1973, 281, 284: Das Urteil biete zusätzliche Angriffsflächen, wenn die Folgenabwägung offen gelegt werde. 13 Vgl. Albert, Rechtswissenschaft als Realwissenschaft, 1993, S. 7 ff.; ders., Ars interpretandi 2. 1997 (1998), S. 237 ff.; Eidenmüller, JZ 1999, 53 ff.; s. bereits § 7 II.1. 14 Dieterich, RdA 1993, 67, 69. 15 Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1997, S. 56.
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
Außer Autoritätsproblemen gibt es indes noch echte Autoritätskonflikte zwischen Richter und Gesetz. Sie treten auf, wenn das Gesetz die entscheidungsbedürftige Rechtsfrage anders beantwortet, als der Richter das will. Es geht um den Bereich der Rechtsfortbildung contra legem, der nach verbreiteter Auffassung bereits bei einer Rechtsfindung contra verba legis betroffen sein soll. Hier muss der Richter die fremde Autorität des Gesetzes abweisen und zugleich persönliche Verantwortung für den so entstandenen Leerraum und die darauf bezogene Rechtserzeugung übernehmen16. Das lässt sich vermeiden, wenn er das Gesetzesrecht durch wohlklingende Topoi verdeckt fortbildet. Mit verdeckten Rechtsfortbildungen kann der Rechtsanwender also seine Rechtsfindung als gesetzlich determiniert und legitimiert ausgeben. Er vermag sich und andere zu täuschen und die Verantwortung für seine Einzelfallentscheidung auf den Gesetzgeber abzuwälzen. Diese Entlastungswirkung ist ein wichtiger tatsächlicher Anlass für verdeckte Rechtsfortbildungen.
II. Richterlicher Selbstschutz Zugleich feien verdeckte Rechtsfortbildungen gegen Kritik. Wird die verdeckte Fortbildung des Gesetzesrechts vom Publikum nicht erkannt, so schützt sie die Entscheidung und den Entscheider vor Angriffen durch die Parteien, durch die Obergerichte und durch die Öffentlichkeit.
1. Schrifttumsnachweise Auch im Fachschrifttum wird dieser Gesichtspunkt gelegentlich angedeutet. Nach Adomeit »führt das natürliche Interesse von Judikatur und Doktrin, die jeweils für gerecht gehaltenen Lösungen möglichst unbehindert durchsetzen zu können, nach und nach zu einer so starken Ausweitung der Argumentationsformen, daß diese mehr und mehr ihre Abgrenzungskraft und Nachprüfbarkeit einbüßen« 17. Funk spricht von einem Interesse an der Immunisierung unpositivistischer rechtspolitischer Wertentscheidungen, die im Auslegungsbetrieb der Rechtswissenschaft ignoriert oder gar verschleiert würden18. Hattenhauer konstatiert eine »geradezu inflationäre Berufung der Gerichte auf Billigkeit, Zumutbarkeit, Treu und Glauben, Natur der Sache etc.«; diese »Flucht in die Irrationalität« habe in der Regel den Zweck, dem Richter weitere Begründungen und damit deren Kritik und rationale Kontrolle zu ersparen 19.
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So Berkemann, KritV 1988, 29, 36. Adomeit, Rechtsquellenfragen im Arbeitsrecht, 1969, S. 34. Als Beispiele nennt Adomeit die sog. objektive Theorie der Gesetzesauslegung, die Heranziehung von Generalklauseln und allgemeinen Rechtsprinzipien und die Berufung auf den »Willen des Gesetzes«. 18 Funk, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), 107, 111. 19 Hattenhauer, in: Hof/Schulte (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht III, 2001, S. 25, 29. Hattenhauer spricht von Techniken der Abfassung der Entscheidungsgründe, um deren rationale Kontrollierbarkeit zu verhindern. Insgesamt fehle eine gründliche rechtstatsächliche Untersuchung der Frage, in welchem Maße der Publikationspflicht heute offene oder verdeckte, vermeidbare oder unvermeidbare Hindernisse in den Weg gestellt seien. 17
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II. Richterlicher Selbstschutz
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Nach Seiter haben die Gerichte in manchen Bereichen eine Ordnung entwickelt, wie sie dem Gesetzgeber angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse nicht möglich gewesen wäre20: Dabei sei es ihnen zustatten gekommen, dass sie ihre Rechtsneubildung von Fall zu Fall, gleichsam auf leisen Sohlen, entwickeln konnten und damit dem Druck und Widerstand der Interessenverbände weitgehend entzogen waren. Kriele hat sein Plädoyer für (Schein-)Deduktionen aus dem Gesetz schon in den sechziger Jahren darauf gestützt, dass der Richter bei dem von der Freirechtsschule geforderten Verzicht auf Scheindeduktionen einem Trommelfeuer ideologischer Beeinflussungsversuche vor dem Urteil und heftiger Urteilsschelte nachher preisgegeben würde21. Später hat er deutlich distanzierter angemerkt, das Verschweigen der entscheidenden Erwägungen lasse sich unter Umständen pragmatisch rechtfertigen, weil es die Befriedungswirkung der Rechtsprechung erhöhen könne22.
2. Immunisierungbestrebungen Sarkastisch heißt es bei Esser: Das Fehlen einer konkreten Begründung ist oft der sicherste Garant gegen sachliche Kritik23. Vielleicht greift man deshalb gerne zu »anerkannten«, tatsächlich aber wenig bis nichts sagenden Beschwörungsformeln wie der Natur der Sache, dem Wesen der Dinge oder dem Willen des Gesetzes. Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen halten den Schein der Rechtsfindung durch Anwendung der Gesetze aufrecht. Sie können Entscheidung und Entscheider gegen Kritik der Parteien, der Obergerichte und der Öffentlichkeit immunisieren. a. Schutz vor Rechtsmitteln Die Parteien sollen durch offene Rechtsfortbildungen angeblich verunsichert werden24. Rechtsfortbildende Entscheidungen der Instanzgerichte würden von ihnen nicht akzeptiert25. Es gebe eine gesellschaftliche Erwartung, wonach die Justiz normgebunden entscheiden soll26. Die Autorität der Entscheidung werde gefährdet, wenn der Richter den angestammten Bereich spezifisch juristischer Begründung verlasse und offen pro und contra argumentiere27. Vom Bürger sei 20
Seiter, FS Baur, 1981, S. 573, 576. Kriele, FS Ritter, 1965, S. 99, 113. 22 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 171. 23 Esser, Motivation und Begründung, 1978, S. 137, 154; vgl. insoweit auch Dieterich, RdA 1993, 67, 69. 24 In diesem Sinne v. Caemmerer, in: Pehle/Stimpel, Richterliche Rechtsfortbildung, 1969, S. 36, 38: »Schon um der Prozeßparteien willen sollte die einzelne Entscheidung sich daher nicht als rechtsfortbildend bezeichnen … Die »kluge Fiktion«, daß es sich immer um Rechtsanwendung handele, enthält sicher viel psychologische Weisheit und zwar sowohl vom Richter wie von den Betroffenen aus gesehen«. 25 Vgl. etwa Böhlk/Unterseher, JuS 1980, 323, 325, die für die Folgendiskussion in den Entscheidungsgründen fragen, ob der Unterlegene die Mitteilung der persönlichen Ansicht des oder der Entscheidenden nicht gerade als Aufforderung dazu verstehen müsse, in der nächsten Instanz nach jemandem zu suchen, der ihm und seinen Problemen gewogen sei. 26 Lautmann, Justiz – Die stille Gewalt, 1972, S. 87. 27 Kritisch Haverkate, ZRP 1973, 281, 286. 21
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ein seinen Gerechtigkeitsvorstellungen widersprechendes Urteil schwerer hinzunehmen, wenn er »statt der eher voraussehbaren Positivität des Gesetzes nun die seinem Handeln nachfolgende Positivität des Richterspruchs (§§ 322 ff. ZPO) erdulden muß«28. Das richterliche Eingeständnis, die entscheidende Frage sei gesetzlich nicht geregelt, kann dazu führen, dass der Unterlegene sein Heil in der nächsten Instanz sucht. Demgegenüber soll er bereit sein, ein Urteil zu akzeptieren, das durch den Ableitungszusammenhang zum Gesetz an dessen Würde und Autorität teilhabe29. So stellt Horak gar ein Verbot problematischer und ein Gebot eindeutiger Entscheidungen auf, weil ein weniger apodiktischer Urteilsstil die Parteien frustriere und die Neigung zu Appellationen gewaltig vergrößere30. Die schlichte Gesetzesanwendung sei das Begründungsverfahren, welches die größte Aussicht auf breite Zustimmung der Bürger habe, weil die Anwendung eines allgemeinen Gesetzes »ohne Ansehn der Person« das am allgemeinsten anerkannte Element der Gerechtigkeit sei31. Deshalb wählt man es selbst dann, wenn die Entscheidung nicht durch das Gesetz determiniert wird. So wird die »Gesetzesbindung« formal eingehalten. b. Verminderung des Kassationsrisikos Da die Fortbildung der Gesetze traditionell als Domäne der Revisionsgerichte betrachtet32 und immer noch verbreitet als seltener Ausnahmefall der Rechtsfindung angesehen33 wird, weckt die offene Fortbildung des Gesetzesrechts durch ein Gericht der unteren Instanz die Aufmerksamkeit des Obergerichts. Rechtssoziologische Untersuchungen sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die Erwartung eines Rechtsmittels einen wichtigen Platz im Entscheidungskalkül der Instanzrichter einnimmt und diese die ihnen möglichen Vorkehrungen treffen, um eine Aufhebung durch das Revisionsgericht zu verhindern und Rechtsmittel zu vermeiden34. Offene Rechtsfortbildungen können Rechtsmittel »provozieren«35. Rechtsfortbildende Entscheidungen der Instanzgerichte werden von den Oberrichtern kritischer gelesen als »bloße« Auslegungen36. Der gebildete Jurist halte die Herbeiziehung irgendeiner beiläufigen Gesetzesstelle seit ehedem für ein wichtiges 28
Adomeit, Rechtsquellenfragen im Arbeitsrecht, 1969, S. 30. Vgl. Haverkate, ZRP 1973, 281, 286, mit Kritik dieser Ansicht. 30 Horak, in: Sprung/König (Hrsg.), Die Entscheidungsbegründung in europäischen Verfahrensrechten und im Verfahren vor internationalen Gerichten, 1974, S. 1, 21; s. auch bereits Horak, Rationes decidendi, I. Band, 1969, S. 38. 31 So Wieacker, FS W. Weber, 1974, S. 421, 437; anders C. Schmitt, Gesetz und Urteil, 1912, S. 84, der den gebildeten Juristen als Adressaten des Urteils sieht: Auf den Laien mache die Herbeiziehung irgendeiner beiläufigen Gesetzesstelle überhaupt keinen Eindruck. 32 Statt vieler Seiter, FS Baur, 1981, S. 573, 575. 33 Vgl. § 7 II. bis IV. 34 Lautmann, Justiz – die stille Gewalt, 1972, S. 166 ff. 35 Vorstehend a. 36 Vgl. auch Horak, Rationes decidendi, I. Band, 1969, S. 38, der davon spricht, dass ehrliche Eingeständnisse der Unsicherheit durch den Richter die Gefahr oberinstanzlicher Abänderung des Urteils vergrößern würden. 29
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II. Richterlicher Selbstschutz
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Argument, spottete bereits Carl Schmitt37. Verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts können die Gefahr verringern, dass die Entscheidung aufgehoben wird. Selbst für Revisionsgerichte ist die Fortbildung des Gesetzesrechts nicht ohne Risiken. Herzog spricht vom »Aufschrei, der einer Rechtsfortbildung auch durch höchste Gerichte regelmäßig folgt und sich nicht selten sogar in Verfassungsbeschwerden niederschlägt«38. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist einer Verfassungsbeschwerde gegen eine letztinstanzliche Gerichtsentscheidung stattzugeben, sofern sich der Richterspruch über die aus Art. 20 Abs. 3 GG folgende Gesetzbindung hinwegsetzt, was der Fall sein soll, wenn die Gründe der Entscheidung eindeutig erkennen lassen, dass das Gericht sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben hat39. Das bekannteste Beispiel für eine höchstrichterliche Rechtsfortbildung, die vom Bundesverfassungsgericht als unzulässig eingestuft wurde, ist die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, welche Sozialplanabfindungen als Konkursforderungen im Range vor § 61 Abs. 1 Nr. 1 KO einordnete40. Laut Berkemann ist die kontrollierende Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts den Revisionsrichtern inzwischen bewusst geworden; sie wüssten, dass richterliche Rechtsfortbildungen mit dem Risiko der verfassungsgerichtlichen Kassation behaftet seien41. Das lasse Revisionsrichter zögern, da die Toleranzgrenze des Bundesverfassungsgerichts nur schwer prognostiziert werden könne. Auch beim Bundesarbeitsgericht soll man sich wegen des wiederholten Widerspruchs des Bundesverfassungsgerichts zeitweise spürbar verunsichert gefühlt haben42. c. Reaktionen der Öffentlichkeit Rechtsfortbildungen fallen nicht nur innerhalb der Gerichtsbarkeit auf. Sie finden zudem das besondere Interesse der Öffentlichkeit. aa. Das gilt zunächst für die Fachpresse, die den auslegenden Gesetzesvollzug als Normalfall der Rechtsfindung betrachtet und daher offengelegte Rechtsfortbildungen aufmerksam registriert und kommentiert. Richter meinen, in der Wissenschaft herrsche der Eindruck vor, die Praxis der Gerichte – zumindest der oberen Bundesgerichte – werde mehr durch rechtspolitischen Ehrgeiz und Aktionismus als durch formale Disziplin bestimmt43. Missfällt ein Ergebnis, so wird in Urteilsanmerkungen und Besprechungsaufsätzen regelmäßig bemängelt, das Gericht – persönlicher: die oder der Richter – hätte gegen die Gesetzesbindung verstoßen und seine Kompetenz überschritten. 37
C. Schmitt, Gesetz und Urteil, 1912, S. 84. Herzog, FS Sendler, 1991, S. 17, 18. 39 So zusammenfassend BVerfGE 87, 273, 280 m.w.N. 40 Vgl. BVerfGE 65, 182 ff. = BVerfG, 19.10.1983, AP Nr. 22 zu § 112 BetrVG 1972; hierzu bereits § 7 V.5.f.cc.(5)(h). 41 Berkemann, KritV 1988, 29, 40. 42 So Griebeling, in: Nutzinger (Hrsg.), Die Entstehung des Arbeitsrechts in Deutschland, 1998, S. 253, 262. 43 So Dieterich, RdA 1993, 67, 68. 38
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Bei sozial- und wirtschaftspolitisch brisanten Rechtsfragen beteiligen sich Tendenzträger unterschiedlichster Interessenverbände offen und versteckt auf breiter Front am »fachlichen« Meinungskampf; zudem engagieren sich Rechtsanwälte nachdrücklich in Aufsätzen für die Sache ihrer aktuellen und potentiellen Mandanten44. Dabei wird nicht nur mit spitzer Feder, sondern auch mit dem Holzhammer und plakativen Schlagworten gearbeitet. Selbst im sog. neutralen Schrifttum hat man zuweilen – frei nach von Clausewitz – den Eindruck, dass die rechtliche Auseinandersetzung die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist; bei rechtspolitisch brisanten Fragen ist eine aggressive polemische Terminologie auch in der Rechtswissenschaft mittlerweile nicht mehr unüblich45. Gesellschaftspolitisch bedeutsame oder gar spektakuläre Rechtsfortbildungen werden darüber hinaus von den allgemeinen Medien beachtet, bewertet und unter Umständen regelrecht ausgeschlachtet46. Berkemann weist darauf hin, dass Rechtsfortbildungen von Obergerichten vor allem dann als scheinbarer Anwendungsfall der bisherigen Judikatur dargestellt würden, wenn das Kollegium mit politischen Reaktionen gesellschaftlicher Gruppen oder staatlicher Instanzen rechne47. In einer solchen Situation werde bei Rechtsfortbildungen häufig auf eine »schriftliche Akzentuierung dieses Vorganges«48 verzichtet und wegen der befürchteten Reaktionen versucht, die beabsichtigte Rechtsfortbildung in den Entwicklungszusammenhang der eigenen Rechtsprechung zu stellen49. Berkemann nennt Beispiele aus der Begründungspraxis des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, erwähnt aber auch Fälle, in denen die richterliche Kompetenz zur Rechtsfortbildung vom Bundesverfassungsgericht offen thematisiert wurde50. Wie die (Fach-)Öffentlichkeit auf ihre Grundsatzentscheidungen reagiert, registriert die verantwortungsbewusste Richterschaft aufmerksam. Erkannte mögliche Einwendungen werden bereits bei der Entscheidungsfindung antizipiert, weil bei einhelligem Widerstand oder bei der Unpraktikabilität neuer Rechtsgrundsätze die Autorität des Gerichts und die befriedende Wirkung seiner Rechtsprechung leidet51. Gelingt es, die Fortbildung des Gesetzesrechts zu verdecken, so kann die Entscheidung jedenfalls nicht wegen ihres rechtsfortbildenden Charakters kritisiert werden, der wegen der Gesetzesbindung regelmäßig als besonders problematisch empfunden wird. 44 Hierzu etwa P. Hanau, RdA 2000, 314 f.; C. Fischer, Anm. zu EzA Art. 9 GG Nr. 65, zu A.I. (S. 27 f.). 45 Vgl. dazu C. Fischer, Die tarifwidrigen Betriebsvereinbarungen, 1998, S. 3. 46 Der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes ist der Ansicht, dass die unsachliche, sogar persönlich herabsetzende Kritik an Urteilen und einzelnen Richtern und Staatsanwälten in den Medien zunehme, s. Arenhövel, ZRP 2004, 61; weiterhin Arenhövel, ZRP 2005, 69, 70, zu Fällen von Schmähkritik. 47 Berkemann, KritV 1988, 29, 55. 48 Berkemann, KritV 1988, 29, 55. 49 Berkemann, KritV 1988, 29, 55. 50 Berkemann, KritV 1988, 29, 55. 51 So Dieterich, RdA 1993, 67, 69, der aus der Perspektive des Revisionsrichters darauf schaut, wie eine Entscheidung von der Wissenschaft und von den Instanzgerichten aufgenommen wird.
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III. Arbeitserleichterung
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bb. Urteilskritik wird seit jeher schnell zur Richterschelte. Dann geht es nicht mehr allein um die Sache, sondern auch um die handelnden Personen, die aus der Anonymität des Gerichts in die Öffentlichkeit gezogen werden. Bei rechtspolitisch bedeutsamen Fragen kämpfen manche mit harten Bandagen. Nicht einmal persönliche Diffamierungen der beteiligten Richter sind immer auszuschließen. Das lässt sich etwa mit einigen Vorwürfen belegen, die den Richtern des Ersten Senats des Bundesarbeitsgerichts im Anschluss an den aufsehenserregenden »Burda II«-Beschluss von Rechtsanwälten, Verbandsvertretern und sogar von einem ehemaligen Präsidenten des Gerichts gemacht wurden52: Sie hätten in vorauseilendem Gehorsam einen Programmpunkt der rot-grünen Koalition erfüllt, den Ruf aus dem Gewerkschaftslager in vorauseilendem Gehorsam erhört bzw. die Absichten der Bundesregierung zur Stärkung der Gewerkschaftsrechte vorauseilend erfüllt. Der damalige Präsident des Bundesarbeitsgerichts und Vorsitzende des Ersten Senats empfand die – in der Sache fernliegenden53 – Anwürfe als hochverletzend und als das Schlimmste, was man einem Richter vorwerfen könne54. Derartig drastische Anfeindungen55 können die Bereitschaft der Richter, mit offenem Visier zu agieren und die volle Verantwortung für eine eigene, rechtsfortbildende Entscheidung zu übernehmen, im Keim ersticken. Sie fördern Scheinbegründungen. d. Zusammenfassung Damit ergibt sich: Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen dienen dem richterlichen Selbstschutz, weil sie die Illusion einer rechtlich determinierten Entscheidung hervorrufen. Solange die Irreführung nicht erkannt oder zumindest nicht thematisiert wird, sichern verdeckte Rechtsfortbildungen die Entscheidung und die Entscheider vor der Kritik der Parteien, der Obergerichte und der Öffentlichkeit.
III. Arbeitserleichterung Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen vereinfachen die richterliche Tätigkeit. Als fertige und wiederverwertbare Versatzstücke der Begründung werden sie anstelle der gebotenen sachlich-inhaltlichen Argumentation eingesetzt56. Sie ersparen eigene grundsätzliche Erwägungen sowie Folgebetrachtungen juristischer und vor al-
52 Vgl. die Nachweise bei C. Fischer, Anm. zu EzA Art. 9 GG Nr. 65, zu A.I. und F. II. (S. 26 f. und 65). 53 Hierzu C. Fischer, Anm. zu EzA Art. 9 GG Nr. 65, zu F.II. (S. 65 f.). 54 Vgl. den Nachweis bei C. Fischer, Anm. zu EzA Art. 9 GG Nr. 65, zu A.I. (S. 26 f.), hierzu in der Sache a.a.O., zu F.II. (S. 65). 55 Ein weiteres Beispiel einer »vorbeugenden Unterlassungsverleumdung«, die einen Richter als »Freiwild« betrachte, ist unter dem Untertitel »Dieterich und seine Kritiker« kommentiert worden von Gamillscheg, BB 1996, 212, 213 f. 56 Im Schrifttum ist von »Leerformeln« und von »routinierten und standardisierten Rechtfertigungsformeln« die Rede, s. Böhlk/Unterseher, JuS 1980, 323, 325.
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lem außerjuristischer Art57. Schellhammer weist darauf hin, dass es einfacher sei, die Parteien mit abgedroschenen juristischen Formeln zu traktieren, als sich klar auszudrücken58. Heck spricht von einer allgemein menschlichen Neigung zur Formelverwertung59. In der Jurisprudenz wird sie durch Kommentare und die immer stärker verbreiteten Formular- und Musterbücher regelrecht kultiviert. Damit ist der ebenso schlichte wie wichtige Gesichtspunkt der Arbeitserleichterung thematisiert. Die Arbeitsersparnis soll nach einer rechtssoziologischen Untersuchung ein dominierender Faktor richterlichen Berufshandelns sein60. Das überrascht nicht. Bei der Bewertung der Leistung einzelner Richter ist die Erledigungsquote ein entscheidender Maßstab61. Der Aspekt der Arbeitserleichterung schwingt bei den beiden vorstehend genannten möglichen Gründen für verdeckte Rechtsfortbildungen stets unterschwellig mit. Positiv gewendet wird er gerne unter dem Etikett »Effizienz« beworben. Manche Richter drücken das weniger hochtrabend aus: Rechtsfortbildungen führen zu einem zusätzlichen Rechtfertigungsdruck62 und belasten mit zusätzlicher Arbeit63. Des Weiteren sollen Richter regelmäßig der Ansicht zuneigen, man könne sich von einer nur interpretatorischen Rechtsfindung eher lösen als von einer als richterliche Rechtsfortbildung erklärten oder als solche erkennbaren Entscheidung64. Wer mit Leerformeln und Begriffshülsen arbeitet, kann immer etwas Neues und Überraschendes hervorzaubern. Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen halten die Rechtsprechung daher flexibel. Auch auf diese Weise erleichtern sie die richterliche Tätigkeit. Brehm erwähnt das Motiv der Arbeitsersparnis im Zusammenhang mit der gerichtlichen Praxis, ein Vorbringen der Parteien als unsubstantiiert zu übergehen65. Auch hierbei handelt es sich um einen Topos verdeckter Rechtsfortbildungen66.
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Vgl. bereits 1.b. Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 381 (S. 228). 59 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1932, S. 15. 60 Lautmann, Justiz – die stille Gewalt, 1972, S. 134, 136 f. 61 Vgl. auch Lautmann, Justiz – die stille Gewalt, 1972, S. 169. 62 Berkemann, KritV 1988, 29, 33. 63 Dieterich, RdA 1993, 67, 69; vgl. auch Herzog, FS Sendler, 1991, S. 17, 23 f., der als ein Motiv für »richterliche Gesetzestreue« die »selbstverständliche entlastende Wirkung jeder Norm« anführt. »Es ist gerade für den vielfach überlasteten Richter leichter, sich bei der Beurteilung eines ihm vorgelegten Falles den Vorentscheidungen des Gesetzes und der Obergerichte anzuschließen, als immer wieder aufs neue die einschlägigen Rechtsgrundsätze selbst zu ermitteln und selbst zu formulieren«. 64 So Berkemann, KritV 1988, 29, 33. 65 Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag und Grenzen freier Verhandlungswürdigung, 1982, S. 53, wo es heißt, die Argumentation mit der Substantiierungslast gehöre zu den Begründungen, die oft als unwahrhaftig empfunden würden, weil zu offensichtlich die eigentlichen Entscheidungsgründe verdeckt würden; s. auch S. 102, wo als (ein) leitender Gesichtspunkt für die schon vor dem ersten Weltkrieg erhobene Forderung nach Einschränkung der Parteiherrschaft und positivrechtlicher Normierung der Wahrheitspflicht das eher eigennützige Interesse vieler Richter, Zeit zu sparen, genannt wird. 66 Mit ihm wird freilich nicht das materielle Recht verdeckt fortgebildet, welches die einzelfallbezogenen Ausführungen zur fehlenden Substantiiertheit nicht anrühren, sondern das Verfahrensrecht, konkret die Regeln über die Feststellung des Sachverhalts, welcher der Entscheidung zugrunde zu legen ist. 58
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IV. Erschleichen von Autorität
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IV. Erschleichen von Autorität Die bislang angeführten möglichen Ursachen für verdeckte Rechtsfortbildungen müssen den Begründenden nicht zwingend bewusst sein. Das unterscheidet sie von finalen verdeckten Fortbildungen des Gesetzesrechts.
1. Bewusste Manipulationen Derartige verdeckte Rechtsfortbildungen dienen gerade dazu, sich für die eigene Beurteilung die Autorität und die Legitimation des Gesetzes zu erschleichen. Ihr Verwender weiß regelmäßig genau, was er tut. Eine Begründung wird gezielt vorgeschoben. Sowohl das Gesetz als auch die Adressaten der Entscheidung werden bewusst manipuliert.
2. Keine Bekenntnisse Es wäre überraschend, wenn sich ein Jurist in einem demokratischen Gesetzesstaat moderner Prägung öffentlich zu derartigen Strategien bekennen würde. Kriele bezeichnet die verdeckte Rechtsfortbildung, welche sich hinter Fiktionen und gewaltsamen Sachverhaltsinterpretationen verberge, als ein scheinrationales Verfahren primitiver Frühstufen des Rechts; es finde heute gewiss in keinem Lager der Methodendiskussion einen Anwalt67. a. Offizielle Verlautbarungen Das täuschende Erschwindeln der gesetzlichen Autorität wird gegenwärtig in der Tat von niemandem zur offiziellen methodischen Maxime der Entscheidungsbegründung erhoben. Wer das Gesetz und die Parteien »überlistet«, verstößt vorsätzlich gegen die Gesetzesbindung, welche in zahlreichen Vorschriften betont68 und auf verschiedene Weisen verfahrensmäßig abgesichert wird, verletzt seine Amtspflichten und beugt das Recht. Dieser institutionelle Rahmen richterlicher Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung wird im methodischen Schrifttum in der Theorie offiziell nicht angetastet. Faktisch wird er freilich durch zahlreiche methodische Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen, die gesetzesfremde Auslegungslehren und Rechtsquellen zur Verfügung stellen, durchbrochen. Auch außerhalb der Methodenlehre plädieren Richter und Wissenschaftler heute nicht bzw. zumindest nicht schriftlich dafür, sich durch eine vorgeschobene Begründung für eine gesetzesfremde Lösung die Legitimation des Gesetzes zu erschleichen. Solche Ratschläge werden allenfalls hinter vorgehaltener Hand mündlich gegeben. Das gesprochene Wort ist flüchtig. An Geschriebenem kann man festgenagelt werden.
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Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 132, zu Vicos Methodenkonzept. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 97 Abs. 1 GG, § 1 GVG, § 25 DRiG.
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b. Die schriftlichen und die wirklichen Gründe Die tatsächlich bestimmenden Gründe entsprechen freilich in der Praxis nicht immer den veröffentlichten69. Das weiß jeder, der als Referendar oder Richter einem Kollegialgericht oder gar dem Senat eines Revisionsgerichts zugewiesen war und bei den Beratungen über eine schwierige Entscheidung und deren Begründung dabei sein durfte. aa. Das häufig thematisierte Auseinanderfallen von Entscheidung und Begründung70 wird von ehemaligen Bundesrichtern unter dem Titel »Urteilskünste« sogar öffentlich als anzustrebendes Ideal gepriesen: Der »wirkliche Richter« sehe den Fall, überlege die Lösung und suche dann im Gesetz die passende Begründung71. Derartige Anschauungen negieren die Steuerungswirkungen von Gesetzen, sind selbstherrlich und mit der Gesetzesbindung des Richters unvereinbar72. Sie können verdeckte Rechtsfortbildungen begünstigen. Dennoch dürfen sie nicht mit Anleitungen für finale verdeckte Rechtsfortbildungen verwechselt werden. Dass die Gesetze als bloßes Begründungsarsenal angesehen werden, zwingt noch nicht zu Manipulationen des Materials. bb. Wichtiger erscheint im hier interessierenden Zusammenhang daher ein anderer Aspekt. Berkemann hat am Rande auf die fehlende Einigkeit im Kollegium und deren Auswirkung auf die Wahl der konkreten Begründung hingewiesen73. Die Besonderheiten von Kollegialentscheidungen werden in der Rechtswissenschaft im Allgemeinen und in der juristischen Methodenlehre im Besonderen so gut wie nie thematisiert. Der »Richter«, von dem allenthalben gesprochen wird, steht sowohl für den Einzelentscheider als auch für das Kollegialorgan. Berkemann betont treffend, dass richterliche Rechtsfortbildung74 eine Aufgabe und ein Verhalten im sozialen Kontext einer Kleingruppe sei und damit den entsprechenden sozialpsychologischen Bedingungen unterliege75. Wenn es im Kollegium kein einheitliches Meinungsbild über die Erforderlichkeit der Rechtsfortbildung gegeben habe, müssten die Entscheidungsgründe die verdeckte Leistung einer
69 Vgl. nochmals Adomeit, Rechtstheorie für Studenten, 4. Aufl. 1998, S. 93 f. mit dem Hinweis auf den »unter Richtern kursierenden Zynismus, es gebe drei Arten von Urteilsgründen: die mündlichen, die schriftlichen und die wirklichen«; hierzu bereits § 8 III.6. 70 Eingehend schon Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 60 ff., 154 ff. 71 So der frühere Vizepräsident des Bundesarbeitsgerichts D. Neumann, FS Dieterich, 1999, S. 415, 427 unter Berufung auf Heinrich Lehmann; w. N. bei Zöllner, AcP 188 (1988), 85, 88 Fn. 9; beeindruckende Zusammenstellung entsprechender Äußerungen aus den Jahrzehnten um 1900 bei Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 62 bis 65. 72 Kritisch zum »praktizierten Gesetzesnihilismus« C. Fischer, ZfA 2002, 215, 229 ff. 73 Berkemann, KritV 1988, 29, 54. 74 Richtigerweise müsste man an dieser Stelle wegen der Einzelrichter einfügen: auch. 75 Berkemann, KritV 1988, 29, 46, der auf die Spannungslage zwischen funktionsbezogener Arbeitsteilung und normativer Gesamtverantwortung im Kollegium verweist und im Folgenden drei Phasen des Prozesses der richterlichen Rechtsfindung unterscheidet, die erste Bedingungen für oder gegen eine richterliche Rechtsfortbildung begründeten, und zwar die Gutachtertätigkeit des Berichterstatters, die Beratung und Entscheidung im Kollegium sowie die abschließende Begründungsphase.
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IV. Erschleichen von Autorität
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Stabilisierung des Gruppenkonsenses übernehmen76. Die sich abzeichnende Mehrheit sei zugunsten der Kohäsion des Kollegiums vielfach von sich aus bereit, durch Begründungsvorbehalte die Tragweite der Rechtsfortbildung einzuschränken77. Die Konflikte innerhalb des Kollegiums über eine Rechtsfortbildung können dadurch reduziert werden, dass auf eine »schriftliche Akzentuierung dieses Vorganges«78 verzichtet wird. c. Keine »Selbstdemontage« Dass sich Richter und Wissenschaftler heute in Schriftform zu gesetzesderogierenden Interpretationsstrategien bekennen, ist nach dem Gesagten nicht zu erwarten. Ein Jurist, der offen erklärt, er nehme die normativen Entscheidungsvorgaben nicht ernst, untergräbt das materielle Fundament seiner Autorität und macht seine Entscheidungen und sich angreifbar. Selbst solche Richter, die mit einem ausgeprägten Sendungsbewusstsein ausgestattet und vom eigenen Charisma überzeugt sind, die Parteien für tendenziell unmündig und den Gesetzgeber für dumm oder unfähig halten, wissen, dass ein klares Bekenntnis der Sendungsideologie ihr Amt und damit ihren höheren Auftrag gefährdet.
3. Andeutungen im Schrifttum Vor diesem Hintergrund überrascht es fast, dass überhaupt einschlägige Äußerungen im Fachschrifttum existieren. Vereinzelt wird vorsichtig angedeutet oder augenzwinkernd eingestanden, das Gesetz und die ihm zugrunde liegende gesetzgeberische Wertentscheidung würden bei der Rechtsfindung schon einmal – oder auch öfter – überspielt. Häufiger wird in Abrede gestellt, dass der Gesetzgeber (»die Politik«) berufen und in der Lage sei, »wahres« bzw. »richtiges« Recht zu setzen. Auch diese Einstellung kann dazu veranlassen, die (Einzelfall-)Gerechtigkeit als graue Eminenz selbst in die Hand zu nehmen, ohne dies nach außen in Erscheinung treten zu lassen. Es gibt zahlreiche Belege für eine solche Gesetzes- und Parlamentsskepsis von Richtern. a. Richterliche Äußerungen So hat sich beispielsweise der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Zeidler in einem Vortrag anlässlich der 600-Jahr-Feier der Universität Heidelberg »Gedanken zur Rolle der dritten Gewalt im Verfassungssystem« gemacht und dabei insbesondere das Verhältnis zum Gesetzgeber näher beleuchtet79. Er betonte die qualitativen Probleme moderner Gesetzgebung80: Von einem gewissen 76
So Berkemann, KritV 1988, 29, 54. Berkemann, KritV 1988, 29, 54. 78 Berkemann, KritV 1988, 29, 55. 79 Zeidler, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 645 ff. 80 Zeidler, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 645, 646. 77
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
Schwierigkeitsgrad ab lasse sich bei manchen Materien der Eindruck nicht vermeiden, als hätten inzwischen so ziemlich alle Beteiligten den Überblick darüber verloren, was sie eigentlich wollen und was sie wirklich tun. Die politische Szene der gesetzgeberischen Arbeit werde von einem kurzatmigen Aktionismus bestimmt, indem man von einem Tagesproblem in das nächste stolpere81. Was an Maßstäben rechtlicher Ordnung benötigt, jedoch im Normenbestand nicht vorgefunden werde, müsse sich die dritte Gewalt selbst schaffen. Das Prinzip der Gewaltenteilung verändere sich in einem schleichenden Prozess von innen her. Die Angehörigen der dritten Gewalt seien sachlich und persönlich unabhängig und Gesetz und Recht verpflichtet, ohne in das Tagesgeschehen verstrickt und am Ergebnis interessiert zu sein. Demgegenüber sei der in Regierung und Parlament handelnde Politiker auf Machterwerb und Machterhalt orientiert. Seine Aufmerksamkeit sei vor allem darauf gerichtet, bei der nächsten Wahl erfolgreich abzuschneiden. Dazu brauche er die Zustimmung der öffentlichen Meinung, die in hohem Maße machbar und manipulierbar sei. Pseudoinformation und Emotionalisierung hätten zu einem Grad von Irrationalität in den öffentlichen Auseinandersetzungen geführt, der einer sorgfältig planenden und in der Sache verantwortbaren Gestaltung der Rechtsordnung durch die Organe der politischen Führung höchst abträglich sei. Es sei einer der erschreckendsten Eindrücke, wenn man beobachten müsse, wie bei politischen Entscheidungsprozessen die Entkoppelung von Sachwissen und politischem Willen erfolge82. Es liege auf der Hand, dass die Auslegung und Anwendung dergestalt geschaffenen Rechts für die Angehörigen der dritten Gewalt kategorial andere Fragen aufwerfe und Methoden erfordere als die Auslegung des Bürgerlichen Gesetzbuches vor 60 Jahren83. Weitere Richter unterscheiden in ähnlichem Sinne zwischen den Funktionen des Richters und denen des parlamentarischen Gesetzgebers84. Der Beruf der politischen Führungskräfte und so auch des Gesetzgebers sei nicht in erster Linie auf die Schaffung von – gerechtem – »Recht« ausgerichtet, sondern auf politische Entscheidungen85. Nach Oppenheimer wird Zeidlers »Skepsis gegen die Berufung der parlamentarischen Gesetzgeber zur Schaffung von wirklichem Recht« von vielen Richtern geteilt86. Bundesrichter Griebeling zeigt, wie die Rechtsprechung mit »gelegentlich törichten« Aussagen des Gesetzgebers und Gesetzen, die »offensichtlichen Un81 Zeidler, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 645, 647. 82 Zeidler, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 645, 648. 83 Zeidler, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 645, 648. – Ob diese Einschätzung tatsächlich zutrifft, erscheint angesichts der unter § 7 V. 2. und 3. geschilderten Rechtsprechung des Reichsgerichts, etwa in der Aufwertungsfrage oder im Anschluss an die nationalsozialistische Machtübernahme, zweifelhaft. Die Frage muss hier aber nicht entschieden werden. 84 Vgl. Oppenheimer, KritV 1988, 57, 59. 85 Oppenheimer, KritV 1988, 57, 59. 86 Oppenheimer, KritV 1988, 57, 60, wo es weiter heißt, diese Skepsis habe »sich bisher nicht in der Rechtsprechung … mit der Folge niedergeschlagen, daß die parlamentarischen Gesetze nicht voll zu respektieren, also nicht grundsätzlich bindend seien«.
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IV. Erschleichen von Autorität
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sinn« verbreiten, umgeht87. Der Richter, der eine gewisse Ellenbogenfreiheit brauche, müsse sagen dürfen: »Das kann doch wohl nicht wahr sein«; gelegentlich sei »auch eine Kadi-Justiz schlicht unvermeidlich, soll nicht aus Vernunft Unsinn und aus Wohltat Plage werden«88. Der (vermeintliche) Könner, der mit einem (vermeintlichen) Dilettanten zusammenarbeitet, lässt dessen Beitrag zum gemeinsamen Werk selten unverändert bestehen. Von dem Misstrauen in die Fähigkeiten des Gesetzgebers ist es daher kein weiter Weg zur gut gemeinten, gesetzgeberische »Versehen« korrigierenden Umdeutung der Gesetze. b. Stimmen der Wissenschaft Ungewöhnlich deutlich kommt der Aspekt der autoritätserschleichenden gesetzesrechtsfortbildenden Interpretation in einer Äußerung des österreichischen Rechtsgelehrten Wilburg zum Ausdruck89: »Es ist das Schicksal der Rechtswissenschaft, daß sie Geist und Mühe zum größten Teil auf die Kunst verschwenden muß, das Gesetz mit allen Mitteln auszulegen und, zur Vermeidung untragbarer Folgen bona mente zu »überlisten«.« Ähnlich hatte Wilburg bereits in einer älteren Rede im Hinblick auf den Richter bei »unannehmbaren Konsequenzen« des Gesetzes formuliert90: »Oft müssen Künste der Auslegung, die eine versteckte Korrektur des Gesetzes sind, oder Gewaltmittel der Sachverhaltsfeststellung … helfen«. Beim »frühen« Kriele heißt es, heute könne der kritische Wissenschaftler zur Rechtsfortbildung oft nur in der Weise beitragen, dass er eine konstruierte Scheindeduktion (aus dem Gesetz) mit einer noch schlaueren anderen schlage91. In dem Bereich, der der eigentlich rechtlichen Diskussion offen stehe92, handele der Jurist richtig, wenn er die Dezision des Gesetzgebers mit List überspiele93. Dass der Bereich, den der Gesetzgeber verbindlich entschieden hat, aufgrund der Gesetzesbindung grundsätzlich gerade nicht der »eigentlich rechtlichen Diskussion« offen steht, wird übersehen bzw. »dezisionistisch« vernachlässigt.
4. Abschließende Vermutung Das bewusste Erschleichen von Autorität wird heute zwar nur selten propagiert. Dennoch kann man davon ausgehen, dass es praktiziert wird. Wohlmeinende 87 So Griebeling, in: Nutzinger (Hrsg.), Die Entstehung des Arbeitsrechts in Deutschland, 1998, S. 253, 256 f. 88 Griebeling, in: Nutzinger (Hrsg.), Die Entstehung des Arbeitsrechts in Deutschland, 1998, S. 253, 257. 89 Wilburg, FS Larenz, 1973, S. 661, 670. 90 Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, 1950/51, S. 23. 91 So Kriele, FS Ritter, 1965, S. 99, 114 f. 92 Hierzu Kriele, FS Ritter, 1965, S. 99, 117. Nicht der eigentlich rechtlichen Diskussion offen stehen soll nach Kriele (allein, Anm. des Verf.) der eigentliche Bereich des Politischen, in dem ein Konsens weder bestehe noch erzielt werden könne und in dem das Gesetz entscheiden müsse: Ein solches Gesetz, das eine Diskussion abschneiden wolle, könne unbedingte Geltung beanspruchen und finde sie auch heute. 93 Kriele, FS Ritter, 1965, S. 99, 117.
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
Helfer, überzeugte Sozialingenieure, Heilsbringer, sonstige Überzeugungstäter und schlichte Besserwisser gibt es auch in der Jurisprudenz. Rechtsprechen kann paternalistische und emanzipatorische Betrachtungsweisen fördern.
V. Der »horror vacui« Der wichtigste subjektive Beweggrund für verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts scheint der »horror vacui«, also die Furcht bzw. das Grauen vor dem gesetzlich nicht geregelten Raum zu sein. Dieser Eindruck drängt sich zumindest auf, wenn man die verstreuten Äußerungen zusammenstellt, die Rückschlüsse auf die möglichen Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen zulassen. Er wird zudem durch soziologische Erhebungen gestützt, nach denen eine fehlende Programmierung bei Entscheidern Ängstlichkeit erzeugt94. Rechtsfortbildung und gesetzesvertretendes Richterrecht werden noch heute selbst von Bundesrichtern als dem Richter eigentlich nicht zukommende Aufgaben bezeichnet95. So kann es vorkommen, dass ausführliche »Reflexionen über das »Selbstverständliche«« beim richterlichen Urteil angestellt werden, die Rechtsfortbildung aber unerwähnt bleibt96. Das Wort »Rechtsfortbildung« weckt – auch bei Bundesrichtern – Gefühle97. Den einen soll es zu sehr nach Theorie klingen, den anderen zu sehr nach Politik98. Die vereinzelten veröffentlichten Berichte von Richtern über das Verhalten bei Rechtsfortbildungen99 lassen den Schluss zu, dass der »horror vacui«, also die Angst vor dem gesetzlich nicht geregelten Raum, weit verbreitet ist. Richter sollen aufgrund ihrer Ausbildung und beruflichen Sozialisation und des Stands ihrer methodischen Kenntnisse stets nach normbestimmter Determination suchen100. Diese »berufsspezifische Attitüde«101 müsse bei der richterlichen Rechtsfortbildung durchbrochen werden. Die Rechtsfortbildung gelte deshalb als Ausnahme102, als »abweichendes Verhalten« und als »gefährliches Gewässer«, das man nach Möglichkeit meide103. Prominente
94 Lautmann, Justiz – die stille Gewalt, 1972, S. 117 und 135 m.w.N. – Freilich soll es sich um eine ambivalente Situation für den Entscheider handeln, weil die fehlende Programmierung den Beruf andererseits stimulierender und zufriedenstellender mache. 95 Etwa vom ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesarbeitsgerichts D. Neumann, FS Dieterich, 1999, S. 415, 421. 96 Vgl. das Buch des Richters am Bundessozialgericht Baader, Vom richterlichen Urteil, 1989, das den Untertitel »Reflexionen über das »Selbstverständliche«« trägt. 97 Dieterich, RdA 1993, 67, wo der frühere Richter am Bundesarbeitsgericht, damalige Richter am Bundesverfassungsgericht und spätere Präsident des Bundesarbeitsgerichts formuliert: »Das Wort weckt Gefühle – sogar bei nüchternen Juristen.« 98 So Dieterich, RdA 1993, 67, bezogen auf die nüchternen Juristen. 99 Berkemann, KritV 1988, 29 ff.; Dieterich, RdA 1993, 67, 68 f. 100 Berkemann, KritV 1988, 29, 32; Dieterich, RdA 1993, 67, 69. 101 Berkemann, KritV 1988, 29, 32. 102 Berkemann, KritV 1988, 29, 32 103 Dieterich, RdA 1993, 67, 69; ähnlich Horak, Rationes decidendi, I. Band, 1969, S. 30: »offene See der freien Rechtsfindung«.
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VI. Bequemlichkeit
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Arbeitsrichter verwenden den Begriff »gefahrgeneigte Arbeit«104. Mit der Fortbildung des Rechts betrete man, so der Präsident des Bundesgerichtshofs, die verminte Grenzzone, welche die dritte Gewalt von der ersten trenne105. Auch wird anschaulich vom dunklen Wald der »contra legem«-Judikate gesprochen, in den sich die Richter wagen106 müssten. Der hier anklingende »horror vacui« dürfte in der Tat ein maßgebliches Motiv für bemerkenswerte Strategien sein, mit denen verdeckt wird, dass das Gesetz die konkrete Entscheidung nicht bzw. nicht vollständig determiniert. Er kann dazu verleiten, ungeeignete Erkenntnismittel zu benutzen und sich mit Erkenntnisillusionen und Scheinergebnissen zu begnügen107. Nach Kaufmann führt die Fiktion der ausschließlichen Unterworfenheit des Richters unter das Gesetz zu nichts weiterem als zu Scheinbegründungen richterlicher Urteile108. Heck fühlte sich bei manchen Entscheidungen versucht, von einer Sherlok-Holmes-Methode der Interpretation zu reden: Der Gesetzgeber werde behandelt wie ein verstockter Verbrecher, der die Entscheidung wohl gewusst, aber böswillig verschwiegen habe, bis dann der scharfsinnige Richter ihn auf einer unvorsichtigen Wendung ertappe und des verborgenen Entscheidungsgedankens überführe109. Es gibt freilich auch einfachere Mittel. Insbesondere weit verstandene »objektive« Normzwecke ermöglichen eine finale Fortbildung des Gesetzesrechts durch angebliche Auslegung des Textes110.
VI. Bequemlichkeit Neben dem »horror vacui« ist Bequemlichkeit ein weiteres Motiv für verdeckte Rechtsfortbildungen. Dieser banale Beweggrund wird im Schrifttum selten erwähnt. Über das Ersparen von Mühe und über Trägheit wird kaum geschrieben111. Richter weisen freilich darauf hin, dass Rechtsfortbildungen mit zusätzlicher Arbeit verbunden sind112. Verdeckte Rechtsfortbildungen erleichtern die richterliche Tätigkeit. Bequemlichkeit ist die subjektive Seite der Arbeitserleichterung.
104 Dieterich, RdA 1993, 67; s. auch Griebeling, in: Nutzinger (Hrsg.), Die Entstehung des Arbeitsrechts in Deutschland, 1998, S. 253, 262: »gefahrgeneigte Tätigkeit«. 105 G. Hirsch, ZIP 2002, 501, 502 = MedR 2001, 599, 601. In einer anderen Publikation wird »verminte Grenzzone« durch »Grauzone« ersetzt, s. G. Hirsch, Rechtsanwendung, Rechtsfindung, Rechtsschöpfung, 2003, S. 15. 106 Diederichsen, Die Flucht des Gesetzgebers aus der politischen Verantwortung im Zivilrecht, 1974, S. 41. 107 In diesem Sinne bereits Heck, AcP 112 (1914), 1, 98. 108 So Kaufmann, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl. 2004, S. 26, 122. 109 So Heck, AcP 112 (1914), 1, 98 Fn. 141. 110 Vgl. auch Berkemann, KritV 1988, 29, 33. 111 Vgl. aber Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 381 (S. 228), der darauf hinweist, dass es mühsamer sei, einfach zu schreiben, als die Parteien mit abgedroschenen juristischen Formeln zu traktieren. 112 Vorstehend III.
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
Sie ist außerdem die Ursache der von Heck angesprochenen allgemein menschlichen Neigung zur Formelverwertung113. Einfach gesagt: Was sich bewährt hat, verwendet man gerne wieder; was man schon einmal gemacht hat, das lässt sich meist schnell erledigen. Deshalb greifen Richter zu »anerkannten«, tatsächlich aber wenig bis nichts sagenden Beschwörungsformeln wie der Natur der Sache, dem Wesen der Dinge oder dem Willen des Gesetzes. Nach Schellhammer gilt es weithin noch immer als unschicklich, die juristischen Zauberformeln aufzulösen und die Dinge beim Namen zu nennen114. Früher ging es bei der Formelverwertung allein um Schlagworte und kurze Versatzstücke, deren man sich mit Vorliebe wieder bediente. Die moderne Textverarbeitung hat insoweit neue Möglichkeiten eröffnet. Textbausteine und fertige Begründungsvorlagen machen das Arbeiten auch für Richter einfacher. Muster für Rechtsfortbildungen gibt es – soweit ersichtlich – nicht. Wer sich der annehmlichen Schablonen und Vorlagen bedienen will, muss daher das Recht im Einzelfall durch (scheinbare) Interpretation des Gesetzes und der dieses konkretisierenden Präjudizien finden. Schon wegen des Trends zur bequemen Textbausteinjurisprudenz werden verdeckte Rechtsfortbildungen auch in Zukunft voraussichtlich nicht an Bedeutung verlieren.
VII. Elitäres Selbstverständnis Der dritte hier genannte subjektive Beweggrund für verdeckte Rechtsfortbildungen wird im traditionellen dogmatischen juristischen Schrifttum nicht thematisiert. Einschlägige Hinweise finden sich vereinzelt in der Praktikerliteratur115. Vermutlich würden große Teile der juristischen Funktionseliten den Vorwurf eines elitären Selbstverständnisses weit von sich weisen. Die nicht juristisch vorgebildeten Parteien eines streitigen Zivilprozesses artikulieren freilich des Öfteren ihr Unverständnis darüber, wie überheblich Richter mit ihren – in diesem Moment zentralen – Lebensfragen umgehen. Wer vor Instanzgerichten als Anwalt tätig ist oder war, weiß, dass die Mandanten häufig den Eindruck haben, vor Gericht werde von lebensfremden Funktionsträgern in unverständlich-technischer Weise über einen Sachverhalt entschieden, der mit ihren realen Problemen wenig zu tun hat. Das formalisierte, von äußerlichen und unverstandenen Förmlichkeiten geprägte Prozedere in einem streitigen Zivilverfahren erscheint ihnen oft als Mysterienspiel für Eingeweihte, zu denen sie selbst nicht gehören. Der Richter tritt als eine Art Hohepriester einer fragwürdigen und esoterischen Gerechtigkeit auf, welche selten die ihre ist. Ab und zu klingt ein elitäres Selbstverständnis allerdings auch in Beiträgen von Richtern zum Thema an. Als Auslese definiert sich Elite durch das, was sie von 113
Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1932, S. 15. Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 381 (S. 228); Vorauflage: »juristische Kultformeln«. 115 So führt Schellhammer das »vielgeschmähte Juristendeutsch« unter anderem auf Überheblichkeit zurück, s. Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 381 (S. 228). 114
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VII. Elitäres Selbstverständnis
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der Masse unterscheidet. Wer über Konflikte anderer Menschen urteilt, muss besser als diese wissen, welche Lösung richtig bzw. angemessen ist. Überlegenes Wissen kann zu Dünkel führen, der sich in Selbstüberschätzung und der Geringschätzung anderer dokumentiert. Die Abgrenzung hat beim hier gemeinten elitären richterlichen Selbstverständnis zwei Zielrichtungen, welche sich plakativ-polemisch mit den Schlagworten »unwissende Parteien« und »unfähiger Gesetzgeber« etikettieren lassen.
1. »Unwissende Parteien« Praktisch tätige Juristen sind Fachleute und werden schnell zu routinierten Spezialisten. Sie sind immer wieder mit bestimmten Wirklichkeitsausschnitten konfrontiert. Diese betrachten sie aus ihrem eingeschränkten beruflichen Blickwinkel. Mit den rechtlichen Beurteilungsmaßstäben sind sie vertraut. Sie kennen die (rechtlich) optimale Regelung und die Lösung der ihnen unterbreiteten »Sachverhalte«. Richter wissen besser als die Parteien, was für diese aus rechtlicher Perspektive gut ist oder gut gewesen wäre. Haben die Parteien wieder einmal alles falsch gemacht, dann muss ihnen im Rahmen des rechtlich Machbaren geholfen werden. Die faktische Herrschaft über den Sachverhalt und die Vieldeutigkeit von Parteierklärungen und Parteiverhalten eröffnen zahlreiche Möglichkeiten, den unwissenden Parteien beizuspringen. Mancher Richter mutiert quasi zum Betreuer, der mit einer erläuternden oder ergänzenden »Auslegung« den »wahren« Interessen der Parteien zum Durchbruch verhilft. Im Zweifel soll anzunehmen sein, dass die Parteien Vernünftiges gewollt haben116. Die gebräuchlichste Regel für die Interpretation von Verträgen ist mittlerweile der so genannte Grundsatz der beiderseits bzw. nach beiden Seiten hin interessengerechten Auslegung117. Was vernünftig und nach beiden Seiten interessengerecht ist, entscheidet letztlich der Richter. Bei der ergänzenden Vertragsauslegung wird sogar unmittelbar auf den »hypothetischen Parteiwillen« abgestellt118, der gerade nicht der Wille der Parteien, sondern ein Sprachkürzel für die nach der Interessenlage und objektiven Kriterien gebotene Regelung ist. Auch der hypothetische Wille wird in der Regel von der Erwägung abhängig gemacht, was vernünftige Leute in einem solchen Fall getan hätten, und bei vernünftigen Leuten denken die Richter, wie der frühere Bundesrichter und damalige Universitätsprofessor Dietrich Reinicke einmal gesagt hat, in erster Linie an sich selbst119. Neben der wohlmeinenden »Auslegung« existieren zahlreiche weitere, von Rechtswissenschaft und Praxis entwickelte Instrumente einer richterlichen Vertragshilfe, mit denen die Idee des richtigen bzw. optimalen Vertrages verfolgt und 116 Vgl. BGHZ 79, 16, 18 f.; Heinrichs, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 65. Aufl. 2006, § 133 Rn. 25 m.w.N., zur erläuternden Auslegung. 117 Vgl. etwa BGHZ 131, 136, 138; 137, 69, 72; 143, 175, 178; 146, 318, 326 f.; 149, 337, 353; 150, 32, 39; 151, 389, 394; 152, 153, 156. 118 Statt vieler BGHZ 9, 273, 277 ff.; 16, 71, 77; 84, 1, 7; 90, 69, 77; 127, 138, 142. 119 D. Reinicke, Rechtsfolgen formwidrig abgeschlossener Verträge, 1969, S. 116.
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»falsche« Verträge modifiziert oder beseitigt werden können. Dass die den unkundigen Parteien eigenmächtig gegebenen Hilfestellungen im Gewand der Gesetzesanwendung und des richtig verstandenen Parteiwillens erfolgen, mag man als Bescheidenheit des Wohltäters oder als zulässige Täuschung der glücklichen Unwissenden erklären, denen man nicht den Kinderglauben an die umfassende Steuerungswirkung der Gesetze und des Rechts nehmen möchte. Heinrich Lange hat vom Gesetz als »Kinderschreck« gesprochen120: »die Harmlosen glauben an seine Kraft, die Auguren lächeln«. Damit wird zugleich ein weiterer Aspekt angesprochen, der noch ausdrücklich zu nennen ist: Selbst von Bundesrichtern kann man gelegentlich hören, der Hinweis auf den rechtsfortbildenden Charakter einer Entscheidung schade eher, weil er die Parteien verunsichere, die Fachgemeinde erkenne ihn doch ohnehin121. Hier klingt eine archaische und mystische Vorstellung von Rechtsfindung an: Rechtsprechung als Mysterium, als Geheimkult für Erleuchtete, Bundesrichter als »Hohepriester« der Rechtspraxis, Rechtsfortbildungen als durch esoterische Scheingründe verdeckte Geheimnisse der Eingeweihten. Angesichts der prinzipiellen Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildungen erscheinen solche Trugbilder zur Irreführung der Parteien heute als Relikte aus einer dunklen, lange zurückliegenden und längst überwunden geglaubten Vorzeit.
2. »Unfähiger Gesetzgeber« Richter mit ausgeprägtem Standesbewusstsein wissen meist nicht nur besser als die Parteien, sondern auch besser als der Gesetzgeber, was die richtige rechtliche Lösung ist. Das liegt zunächst daran, dass abstrakt-generelle gesetzliche Regelungen den Besonderheiten des zu beurteilenden Einzelfalles nie umfassend Rechnung tragen können, dass stets ein Konflikt zwischen der allgemeinen Gerechtigkeit und der individuellen Billigkeit besteht und Richter sich, konfrontiert mit konkreten Lebenssachverhalten, oft mehr der Einzelfallgerechtigkeit verpflichtet fühlen. Hinzu kommt eine verbreitete Skepsis gegenüber dem Gesetzgeber im Allgemeinen und der Politik im Besonderen122. Viele Richter glauben nicht, dass 120
H. Lange, Vom alten zum neuen Schuldrecht, 1934, S. 48. In diesem Sinne haben sich mehrere Revisionsrichter dem Verf. gegenüber geäußert. Auch der ehemalige Präsident des Bundesarbeitsgerichts Dieterich hat in einem Brief an den Verf. zu der am »Burda II«-Beschluss geäußerten Kritik, es handle sich um eine verdeckte Rechtsfortbildung (s. C. Fischer, Anm. zu EzA Art. 9 GG Nr. 65, zu C.IV), entgegnet, es erscheine ihm nicht notwendig, dass ein Gericht besonders betone, seine Entscheidung sei als Rechtsfortbildung zu werten. Das sehe man ja. Diese Äußerung zielt offenbar auf das Fachpublikum. Im konkreten Fall müssen freilich selbst Eingeweihte Sehstörungen gehabt haben, da der rechtsfortbildende Charakter der »Burda II«-Entscheidung nicht immer erkannt wurde, vgl. nur Hromadka, AuA 2000, 13, 14 und ZTR 2000, 253, 254; hierzu bereits § 4 V.3.a.aa. – Das »Interesse der Prozessparteien« an der »klugen Fiktion«, dass es sich bei gerichtlichen Entscheidungen immer um Rechtsanwendung handle, wird auch im rechtswissenschaftlichen Schrifttum betont und teilweise mit dem ausdrücklichen Gebot verbunden, rechtsfortbildende Entscheidungen »um der Parteien willen« nicht als rechtsfortbildend zu bezeichnen, s. v. Caemmerer, in: Pehle/Stimpel, Richterliche Rechtsfortbildung, 1969, S. 36, 38; Böhlk/Unterseher, JuS 1980, 323, 325; vgl. hierzu bereits II.2. (Richterlicher Selbstschutz und Immunisierungsbestrebungen). 122 Hierzu eingehend oben IV.3.a. 121
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VIII. Methodische Vorstellungen
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der Gesetzgeber (»die Politik«) in der heutigen Zeit noch berufen und in der Lage sei, »richtiges« bzw. »wirkliches« Recht zu schaffen. Zahlreiche Rechtswissenschaftler scheinen diese Bedenken zu teilen. Manche erklären das »auslegende Überlisten« des Gesetzes gar zum Schicksal der Rechtswissenschaft123, also zu etwas Unausweichlichem, das zwangsläufig die Rechtsfindung dominiert. Gesetzliche Vorschriften werden im Zivilrecht insgesamt eher als Rohmasse, denn als zwingende Vorgaben der Entscheidungsfindung gesehen. Die gesetzgeberischen Interessenbewertungen sind nicht stets auf den ersten Blick erkennbar. Gesetze altern und werden im Laufe der Zeit mit einer immer dicker werdenden Schicht von Präjudizien und rechtswissenschaftlichen Entscheidungsvorschlägen überkrustet. Unmittelbar wird nicht unter die Gesetzesbegriffe, sondern unter »Konkretisierungen« subsumiert, die man mit Hilfe einschlägiger Präjudizien und wissenschaftlicher Erläuterungen im Hinblick auf den konkret zu beurteilenden Sachverhalt bildet. Zudem werden Gesetze verbreitet nicht als rechtspolitische Botschaften verstanden, sondern von ihren Urhebern losgelöst und als bloße Buchstaben- und Zeichenfolge »objektiv« ausgelegt. Daher sind die Richter und die sie anleitenden Rechtswissenschaftler die eigentlichen Herren der Gesetze124, was zu einem elitären, den Willen der Parteien und des Gesetzgebers ignorierenden richterlichen Selbstverständnis führen und so verdeckte Rechtsfortbildungen begünstigen kann.
VIII. Methodische Vorstellungen Die tieferen Ursachen für verdeckte Rechtsfortbildungen liegen in bestimmten methodischen und rechtstheoretischen Vorstellungen sowie in der Juristenausbildung. Dass zwischen verdeckten Rechtsfortbildungen und gewissen methodischen Sehweisen eine Beziehung besteht, wird auch im Schrifttum vertreten. Die Frage, wie dieser Bezug aussieht, wird freilich recht unterschiedlich beantwortet.
1. Bestandsaufnahme a. Psychologisch-methodische Entstehungsfaktoren Der horror vacui soll, wie bereits dargelegt125, ein bzw. der maßgebliche Grund für verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts sein. Andere führen die Abneigung gegen offene Rechtsfortbildungen zurück auf das Methodendesinteresse und die Methodenaversion großer Teile der Praxis, welche gleichfalls schon erwähnt wurden126. Die genannten Gesichtspunkte lassen sich als psychologischmethodische Entstehungsfaktoren verdeckter Rechtsfortbildungen bezeichnen.
123 Vgl. nochmals Wilburg, FS Larenz, 1973, S. 661, 670; Kriele, FS Ritter, 1965, S. 99, 117; wiedergegeben unter IV.3.b. 124 Frei nach Gamillscheg, AcP 164 (1964), 385, 388. 125 Vorstehend V. 126 § 6 I.3.
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b. Ein rechtssoziologischer Ansatz Kelsen schreibt von »berufsständischen Interessen des Juristen«, der begreiflicherweise nur ungern darauf verzichte, zu glauben und die anderen glauben zu machen, dass er mit seiner Wissenschaft die Antwort auf die Frage besitze, wie die Interessenkonflikte in der Gesellschaft »richtig« zu lösen seien127. Insoweit kann man von einem im weiteren Sinne rechtssoziologischen Erklärungsansatz sprechen. c. Rechtsphilosophie als Ursache Andere führen verdeckte Rechtsfortbildungen auf bestimmte rechtsphilosophische Vorstellungen zurück. aa. Funk erklärt das Interesse an der Immunisierung unpositivistischer rechtspolitischer Wertentscheidungen, die im Auslegungsbetrieb der Rechtswissenschaft ignoriert oder gar verschleiert würden, primär damit, dass eine Rationalisierung von Wertentscheidungen im Anschluss an Kelsen für unmöglich gehalten werde128. Ohne diese These abschließend bewerten zu wollen, wird man sagen können, dass sie die rechtstheoretischen Kenntnisse der meisten handelnden Personen überschätzen dürfte. Es geht insoweit wohl eher um ein diffuses Unbehagen, um eine Scheu gegenüber selbst zu verantwortenden Werturteilen. bb. Haverkate ist der Ansicht, bei der Abneigung gegen offenes Argumentieren handle es sich um ein Erbe der Freirechtsbewegung129. Ausgehend von der zeitgenössischen positivistischen Philosophie, in der rationale Wissenschaft und irrationale Wertung streng geschieden worden sei, habe die Freirechtsbewegung die bei der richterlichen Entscheidung unvermeidliche Wertung als irrational perhorresziert und sich konsequent auch gegen ihre Offenlegung in den Urteilsgründen gewandt130. Weil man in der Irrationalität der richterlichen Wertung den wahren Entstehungsgrund der Entscheidung gefunden zu haben meinte, sei die herkömmliche Begründung der Entscheidung aus Gesetz und Dogmatik als reine Scheinbegründung angesehen worden; diese freirechtliche Abwertung der traditionellen Begründungspraxis habe zu dem Argwohn der Rechtsprechung gegen eine offene Begründung geführt131. Auch gegen diesen Erklärungsansatz bestehen Bedenken. (1) Zunächst einmal waren und sind »Freirechtslehre« und »Freirechtsbewegung« Sammelbezeichnungen für unterschiedliche kritische Strömungen in der Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, deren gemeinsames Merkmal
127 Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, S. V; auch abgedruckt in der 2. Aufl. aus dem Jahr 1960 auf S. IV. 128 Funk, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), 107, 111. 129 Haverkate, ZRP 1973, 281, 282. 130 Haverkate, ZRP 1973, 281, 282 f. 131 Haverkate, ZRP 1973, 281, 283.
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vor allem die Ablehnung der sog. Begriffsjurisprudenz war132. Die Freirechtslehre gab es nicht. (2) Zudem erscheint die von Haverkate hergestellte Verknüpfung mit der positivistischen Philosophie gewagt. Die Freirechtsbewegung nahm dezidiert gegen jeglichen Gesetzes- und Rechtspositivismus Stellung133. Nach Larenz beruhte die Freirechtsbewegung auf dem philosophischen Voluntarismus, der insbesondere von Schopenhauer und Nietzsche vertreten wurde134. Andere bezeichnen die Freirechtler als »ausgesprochen philosophiefeindlich« und kritisieren ein »Versagen der Freirechtsjuristen auf philosophischer Ebene«135. Der philosophische Hintergrund der Freirechtsbewegung ist somit zumindest unklar. (3) Dass sich die sog. Freirechtslehre gegen die Offenlegung der (irrationalen) Wertung in den Urteilsgründen gewandt habe, ist in dieser Allgemeinheit ebenfalls nicht richtig136. Zwar wurde in der frühen Kampfschrift von Kantorowicz die Pflicht zur Entscheidungsbegründung generell in Frage gestellt137. Zu »unsern heutigen Begründungen« hieß es138: »Bei ius clarum in thesi verlangt sie keiner, bei zweifelhaftem Recht sind sie objektiv … nicht begründet, sondern nur erschlichen und subjektiv, psychologisch, sind sie es allenfalls für die obsiegende Partei, die aber auch ohne jede Begründung zufrieden wäre, die unterliegende aber hört aus allem nur das – nein«. Ganz anders äußerte sich aber beispielsweise der neben Hermann Kantorowicz und Eugen Ehrlich bekannteste Protagonist der deutschsprachigen Freirechtsbewegung Ernst Fuchs: »Der freirechtliche Jurist gräbt beim Auslegen und Fortbilden der Gesetze nach deren gesellschaftlichwirtschaftlichem Sinn, Zweck und Geist; er sucht so geradewegs das gerechte und verständige Ergebnis und begründet es offen als solches«139. Fuchs ging es entgegen der Einschätzung von Haverkate gerade um die »ehrliche Kundgebung und offene Verantwortung der wahren Entscheidungsgründe«140. »Der freirecht-
132 Vgl. etwa Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 60 Fn. 65; Krawietz, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, 1972, Stichwort »Freirechtslehre«, Sp. 1098. Beide Autoren betonen die Schwierigkeiten, die Freirechtsbewegung gegenüber der Interessenjurisprudenz und der soziologischen Rechtsfindungsmethode abzugrenzen. 133 So Krawietz, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, 1972, Stichwort »Freirechtslehre«, Sp. 1100. 134 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 59. 135 Kaufmann, JuS 1965, 1, 2 f.; dagegen Krawietz, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, 1972, Stichwort »Freirechtslehre«, Sp. 1100. 136 Hierzu insbesondere Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 105 ff., der insoweit »zwei grundverschiedene Ansichten innerhalb der Freirechtsbewegung« unterscheidet. 137 Gnaeus Flavius, Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906, S. 39: »Wenn die Theorie gefühlsmäßigen Werten Raum geben darf, können nicht mehr unbedingt begründete Urteile verlangt werden!«. 138 Gnaeus Flavius, Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906, S. 42. 139 Fuchs, Was will die Freirechtsschule?, 1929, S. 14 = Fuchs, in: Foulkes/Kaufmann (Hrsg.), Gerechtigkeitswissenschaft, 1965, S. 21, 26. 140 So Fuchs, Die Justiz 1927/28, 7, 24 = Fuchs, in: Foulkes/Kaufmann (Hrsg.), Gerechtigkeitswissenschaft, 1965, S. 193, 203.
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liche, also der gute Richter, dagegen legt offen seine nachprüfbaren Erwägungen dar …«141. (4) Schließlich ist noch die von Haverkate geschilderte Frontstellung der Freirechtsbewegung gegen die (zeitgenössische) Rechtspraxis zumindest nicht unumstritten. Die Freirechtsbewegung wurde auch und gerade von Praktikern getragen und als Lehre für die Praxis verstanden142. Laut Larenz hat es in der Gegenwart mitunter »den Anschein, als sei die Freirechtslehre, zu der sich freilich offen heute niemand mehr bekennt, insgeheim zum Glaubensbekenntnis eines großen Teils unserer Praktiker geworden«143. (5) Haverkates Annahme, die Abneigung gegen offenes Begründen sei eine Reaktion der Praxis auf die Freirechtsbewegung, fehlt nach alledem die tatsächliche Grundlage. Zwei weitere Aspekte kommen noch hinzu. Zum einen ist der von ihm verwendete Begriff der offenen Begründung mehrdeutig, weil er auf die tatsächlichen Motive bzw. inneren Beweggründe oder auf die rechtlich maßgebenden Kriterien zielen kann. Zum anderen gilt auch für Haverkates Erklärungsansatz, dass er die rechtstheoretischen Kenntnisse der Mehrzahl der deutschen Richter überschätzen dürfte. cc. Dass eine bestimmte positive oder negative rechtsphilosophische Vorstellung für verdeckte Rechtsfortbildungen verantwortlich ist, scheint eher unwahrscheinlich. In pluralistischen Gesellschaften gibt es eine einheitliche Rechtsphilosophie unter den Juristen genauso wenig wie eine einheitliche Philosophie oder Weltanschauung unter den Bürgern. Viele interessieren sich heute nicht einmal mehr für derartige Grundsatzfragen. d. Methodische Defizite in der Praxis Gerade erfahrene Richter berichten über methodische Defizite, die verdeckte Rechtsfortbildungen begünstigen. Dabei geht es um im engeren Sinne rechtsmethodische Vorstellungen. Juristische Methodenlehre meint im Rahmen dieser Untersuchung ja vor allem denjenigen Teilbereich der Rechtstheorie, welcher sich mit den Fragen beschäftigt, wie Recht zutreffend gefunden, angewendet und fortgebildet wird144.
141 Fuchs, Was will die Freirechtsschule?, 1929, S. 15 = Fuchs, in: Foulkes/Kaufmann (Hrsg.), Gerechtigkeitswissenschaft, 1965, S. 21, 27; ähnlich Fuchs, LZ 1929, Sp. 289, 292 = Fuchs, in: Foulkes (Hrsg.), Ernst Fuchs, Gesammelte Schriften über Freirecht und Rechtsreform, Band 3, 1975, S. 168, 169: Die soziologische Rechtsfindung »hält die Zwecke der Gesetze auch über die Wortlaute hinaus hoch und wird, auch wo der Gesetzgeber nicht daran gedacht hat, mit offener Begründung den fortschreitenden Lebens- und Rechtsbedingungen so gerecht, wie es dem wahren Willen aller Gesetzgebung entspricht«. 142 Vgl. etwa Gnaeus Flavius, Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906, S. 9: »Aber weit wichtiger noch als die Zustimmungen der Gelehrten erscheint die Tatsache, daß unter Richtern und Anwälten tausende der neuen Auffassung zugeneigt sind …«. 143 Larenz, JZ 1962, 105. 144 S. § 1.I.5. a. E.
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aa. Das methodische Allgemeinwissen der Richter soll sich nach richterlichen Bekundungen fast stets145 bzw. im Allgemeinen146 in der traditionellen, auf den Normtext fixierten Interpretatorik erschöpfen. Das schriftgebundene Erkenntnismodell der juristischen Hermeneutik, das der Richter mit den Namen Savigny und Larenz verbinde147, stelle den Nachvollzug eines fremden Imperativs in den Mittelpunkt der eigenen intellektuellen Leistung: Die Rechtsfrage gelte als bereits entschieden, nur die konkrete Antwort müsse erst noch gefunden werden148. Das Fehlen entscheidungstheoretisch formulierter Ansätze in dieser juristischen Methodenlehre führe den judiziellen Entscheider zu der irrigen Annahme, jedes Problem sei mehr oder minder ein Auslegungsproblem und aus diesem Grunde methodisch einwandfrei ausschließlich mit den Mitteln der Interpretatorik entscheidungsfähig149. Die Offenheit der sog. teleologischen Auslegung biete dafür allerdings auch hinreichend Raum150. bb. Auch Rechtswissenschaftler sehen die Auslegung als Regel- und Idealfall der Rechtsfindung151. So heißt es etwa bei Prütting ganz unkritisch, es entspreche fast allgemeiner Auffassung, dass der Richter im Normalfall das Recht nur anwendet und nicht selbst »schöpft«; nur auf dieser Grundlage könne richterliche Rechtsfortbildung als eine besondere Situation, als die Abweichung vom Gesetzesrecht diskutiert werden152. Das Denken in zwingenden gesetzlichen Ableitungszusammenhängen soll ein im Stillen gepflegtes Idealbild der praktischen Jurisprudenz sein153. Die Praxis wird nach Struck von einem überkommenen und tief internalisierten, aber wenig reflektierten Gesetzespositivismus beherrscht; die Auslegung des Gesetzeswortlauts determiniere die Entscheidung zwar nicht völlig, aber sehr weitreichend, so dass die hergebrachten Savignyschen Auslegungsgesichtspunkte Sicherheit schafften154. Dieses auslegungs- bzw. gesetzestextfixierte Rechtsfindungsverständnis ist bereits thematisiert worden155. Es klingt etwa an, wenn der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes die zunehmende Bedeutung des Richterrechts mit der schwindenden Qualität der Gesetze erklärt, durch die auch sog. Lücken entstünden, die im Wege der ergänzenden Auslegung ausgefüllt werden
145 Berkemann, KritV 1988, 29, 33: »Das methodische Allgemeinwissen aller Richter reduziert sich fast stets auf den Bereich der hermeneutischen Interpretatorik. Dies ist – mehr oder minder – das einzige Methodenarsenal, das als aktives Wissen selbst guten Revisionsrichtern zur Verfügung steht«. 146 Dieterich, RdA 1993, 67, 69. 147 Berkemann, KritV 1988, 29, 33; vgl. auch Struck, in: Ballweg/Seibert (Hrsg.), Rhetorische Rechtstheorie, 1982, S. 367, 368. 148 So Berkemann, FS Zeidler, 1987, S. 523. 149 So Berkemann, FS Zeidler, 1987, S. 523, 531. 150 Berkemann, KritV 1988, 29, 33. 151 § 7 IV. 152 Prütting, FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 305, 308. 153 § 2 V.2.a.cc. 154 Struck, in: Ballweg/Seibert (Hrsg.), Rhetorische Rechtstheorie, 1982, S. 367, 368. 155 § 7 IV.1.
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müssten, wobei die Richter sich aber selbstverständlich an die Intention des Gesetzes hielten, weshalb der Ausdruck »Ersatzgesetzgeber« falsch sei156. cc. Dass die Rechtsfortbildung immer noch von Richtern als ihnen eigentlich nicht zukommende Aufgabe bezeichnet wird und in den Gerichten anscheinend ein ausgesprochener »horror vacui« herrscht, ist bereits erwähnt worden157. Berkemann und Dieterich betonen, dass Richter aufgrund ihrer Ausbildung und beruflichen Sozialisation und des Stands ihrer methodischen Kenntnisse stets nach normbestimmter Determination suchten158. dd. Heck hat auf eine allgemein menschliche Neigung zur Formelverwertung159 und deren spezifisch juristische Bedeutung hingewiesen. Die Inversionsmethode der so genannten konstruktiven oder technischen Begriffsjurisprudenz war »Schlagwortverwertung, erhoben zur juristischen Methode«160. (1) Als Theorie ist die so genannte Begriffsjurisprudenz widerlegt161. Ihre Methode, aus Grund- und Allgemeinbegriffen konkrete Rechtsfolgen abzuleiten, wird in Einzelfragen freilich nach wie vor praktiziert. Das belegen etwa Teile der Rechtsprechung und Literatur zum Leistungsbegriff im Bereicherungsrecht anschaulich162. Mit einer einmal akzeptierten Formel produziert der Rechtsanwender ständig neue Lösungen. Über Begriffskonstruktionen, begriffliche Herleitungen und Begriffsverfeinerungen lassen sich Gebote ergänzen und Lücken füllen. Die Gesetze können durch Begriffserläuterungen verdeckt fortgebildet werden. (2) Dabei geht es indes nicht um bloße Nachwirkungen der Begriffsjurisprudenz. Vielmehr handelt es sich um ein überzeitliches Phänomen der Rechtsfindung. Die Auslegung der Gesetze erfolgt seit jeher durch Interpretation ihrer Begriffe. Begriffliche Argumentationen tendieren zur Verselbständigung. Fachsprachliche Begriffsverständnisse entwickeln eine Eigendynamik. Die gesetzgeberische Interessenbewertung tritt gegenüber den anerkannten Facetten des Begriffs zunehmend in den Hintergrund. Das Operieren mit Begriffen fördert und eröffnet daher spezifische Möglichkeiten der verdeckten Fortbildung des Gesetzesrechts. e. Zusammenfassung Im Schrifttum finden sich verschiedene methodische und rechtstheoretische Erklärungsansätze für die Scheu vor offenen Rechtsfortbildungen. Man kann zwischen psychologisch-methodischen, rechtssoziologischen, rechtsphilosophischen
156
Arenhövel, ZRP-Rechtsgespräch, ZRP 2005, 69. Vorstehend V. 158 Berkemann, KritV 1988, 29, 32; Dieterich, RdA 1993, 67, 69; s. bereits V. 159 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1932, S. 15; s. schon III. 160 Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1932, S. 11. 161 Einführend zu den von ihren Kritikern als Begriffsjurisprudenz bezeichneten methodischen Strömungen, die in den letzten Jahrzehnten wieder positiver gesehen werden, etwa Krawietz, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 1, 1971, Stichwort »Begriffsjurisprudenz«, Sp. 809 ff.; Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 458 ff. 162 Vgl. § 7 V.5.b.aa. 157
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und im engeren Sinne rechtsmethodischen Entstehungsfaktoren für verdeckte Rechtsfortbildungen differenzieren. Dass einzelne Rechtsphilosophien verdeckte Rechtsfortbildungen stärker fördern als andere, ist zu vermuten. Ausgeschlossen werden kann, dass eine bestimmte rechtsphilosophische Strömung für verdeckte Rechtsfortbildungen verantwortlich ist: Verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts sind weiter verbreitet als die jeweiligen unterschiedlichen, zahlreichen miteinander konkurrierenden Rechtsphilosophien. Weil verdeckte Rechtsfortbildungen ein übergreifendes Phänomen sind, kann die Frage nach ihren einzelnen rechtsphilosophischen Nährböden vernachlässigt werden. Sinnvoll ist es demgegenüber, die im engeren Sinne rechtsmethodischen Vorstellungen, welche verdeckte Fortbildungen begünstigen, näher zu beleuchten.
2. Zwei Grundformen Zur Verdeutlichung ist zwischen zwei gegensätzlichen methodischen Sehweisen zu unterscheiden. In der Wirklichkeit kommen sie so rein kaum vor, sondern werden mit weiteren Zusätzen versehen und gelegentlich sogar miteinander vermischt. a. Das normtextbezogene Rechtsfindungsbild Die eine kann man als normtextbezogenes oder deduktives Rechtsfindungsverständnis kennzeichnen. Rechtsfindung ist hiernach Interpretation der Gesetze. Für den »Normalfall" wird dieses grundsätzlich überholte Verständnis von Rechtsfindung immer noch verbreitet vertreten163. b. Das fallbezogene Rechtsfindungsverständnis Nach der anderen methodischen Grundauffassung trägt jeder Fall seine Lösung in sich. Die Gesetze dienen lediglich dazu, die induktiv und instinktiv gefundene Fallentscheidung nachträglich zu rechtfertigen164. Dieses Rechtsfindungsverständnis lässt sich deshalb als fallbezogen bezeichnen. Dabei sollte man sich freilich bewusst sein, dass das »Recht« bei einer solchen Betrachtungsweise tatsächlich nicht im Fall, sondern im Rechtsgefühl des Entscheiders gefunden wird165. Der Gehalt des vor allem bei altgedienten Berufsrichtern gebräuchlichen Ausspruchs »Jeder Fall trägt seine Lösung in sich«166 erschöpft sich darin, dass jeder Fall gelöst werden kann. Trotz allem Hin- und Herwanderns des Blickes zwischen Lebenssachverhalt und Rechtsnorm (Engisch) ist der »Fall« zunächst einmal das Bewertungsobjekt und nicht der Bewertungsmaßstab. Das Sein trägt sein Sollen nicht in sich.
163 164 165 166
§ 7 IV.1. Hierzu bereits IV.2.b.aa. Hierzu am Rande bereits C. Fischer, ZfA 2002, 215, 219 ff. m.w.N. Oben IV.2.b.aa. mit Nachweisen.
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Es bedarf stets einer externen Norm, nach der das tatsächliche Geschehen beurteilt wird. Nicht ohne Grund betonen die Autoren, welche das Recht aus dem Fall finden wollen, stets besonders die zentrale Rolle der entwickelten, reifen und echten Richterpersönlichkeit und ihres ausgeprägten Judizes bzw. Judiziums167. Maßstab der Entscheidung ist beim fallbezogenen Rechtsfindungsverständnis also nicht der Fall, sondern das ausgebildete Rechtsgefühl des jeweiligen Entscheiders, mit anderen Worten die Vorstellung des beurteilenden Richters von der rechtlich richtigen Lösung. Daher wäre es vielleicht treffender, vom richteroder entscheiderbezogenen Rechtsfindungsverständnis zu sprechen. Dieser etwas sperrige Begriff würde indes den Programmsatz des Modells vernachlässigen und entspräche vermutlich zudem nicht dem Selbstverständnis seiner Protagonisten. c. Unterschiedliche Ursachen für verdeckte Rechtsfortbildungen Es werden also das normtextbezogene und das fallbezogene Rechtsfindungsverständnis unterschieden. Jede dieser beiden »idealtypischen« Betrachtungsweisen fördert unterschiedliche Ursachen für verdeckte Rechtsfortbildungen. aa. Das Richterbild des normtextbezogenen Rechtsfindungsverständnisses ist der Gesetzesanwender. Rechtsfindung ist hiernach Auslegung der Gesetze. Entscheidungsfindung ist Anwendung der ausgelegten Gesetze. Die Fortbildung der Gesetze ist Aufgabe des Gesetzgebers. Weil der Richter Gesetzesanwender ist, reagiert er auf Situationen, in denen eine Rechtsfortbildung angezeigt ist, mit dem »horror vacui«. Die Fortbildung des Gesetzesrechts stellt sich als defensives Verhalten dar. Das tatsächliche Tun wird verdrängt. Die Verdeckungsmittel werden nicht oder kaum reflektiert. Rechtsfortbildungen werden hiernach tendenziell unbewusst verdeckt. Es geht (auch) um Selbsttäuschung. bb. Nach dem fallbezogenen Rechtsfindungsverständnis schafft der Richter das im konkreten Fall angewendete Recht. Das Richterbild dieses Modells ist der Rechtsschöpfer, der »Hohepriester der Rechtspraxis« oder – in der Terminologie der Freirechtsbewegung – der »Richterkönig«. Rechtsfindung ist hiernach (fallbezogene) Rechtsneuschöpfung. Entscheidungsfindung und Rechtsfindung fallen praktisch zusammen. Da in der Fallentscheidung stets neues Recht geschaffen wird, ist die Trennung zwischen Rechtsfortbildung und Auslegung künstlich und – im Zivilrecht – überflüssig. Weil der Richter der wahre Rechtsschöpfer ist, weiß er aufgrund seines hochentwickelten Rechtsgefühls besser als der Gesetzgeber und die Parteien, was richtig und gerecht ist. Das fallbezogene Rechtsfindungsmodell geht regelmäßig mit einem elitären Selbstverständnis einher. Das Gesetzesrecht wird verdeckt fortgebildet, um sich Autorität zu erschleichen. Das Gesetz und die Parteien 167 Vgl. etwa D. Neumann, FS Dieterich, 1999, S. 415, 427; Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 62 bis 65.
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werden »überlistet«. Rechtsfortbildungen werden hiernach bewusst und gezielt verdeckt. Es geht um die Täuschung Dritter. d. Abschließende Bewertung Dass die geschilderten methodischen Anschauungen in Reinform tatsächlich nicht oder kaum vertreten werden, ist bereits gesagt worden. Es handelt sich um zwei Extrempositionen und um die beiden Grundauffassungen, die den zahlreichen praktizierten Misch- und Zwischenformen zugrunde liegen. Ein normtextbezogenes Rechtsfindungsverständnis, das den Richter als Gesetzesanwender sieht, führt zum »horror vacui« sowie zu klammheimlichen und verdrängten Fortbildungen des Gesetzesrechts. Ein fallbezogenes Rechtsfindungsbild, nach dem der Richter das Recht schöpft oder schafft, geht meist mit einem elitären richterlichen Selbstverständnis einher; die Autorität des Gesetzes wird durch verdeckte Rechtsfortbildungen bewusst und gezielt erschlichen, um die Adressaten der Entscheidung wohlmeinend zu überlisten. Die beiden Grundformen des Rechtsfindungsverständnisses zeigen, dass ganz unterschiedliche, ja gegensätzliche methodische Positionen verdeckte Rechtsfortbildungen begünstigen können. Die sonstigen genannten möglichen Ursachen für verdeckte Rechtsfortbildungen sind beiden Grundformen gemein. Das Abwälzen von Verantwortung auf den Gesetzgeber, der Schutz der Entscheidung und des Entscheiders vor Kritik sowie die Arbeitserleichterung und ihre subjektive Kehrseite, die Bequemlichkeit, spielen stets eine Rolle.
3. Grenzprobleme Verdeckte Rechtsfortbildungen werden außerdem durch die Ungewissheit über die Grenzen zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung begünstigt. Die existierenden Abgrenzungsschwierigkeiten168 können freilich nicht plausibel erklären, weshalb es zahlreiche verdeckte Rechtsfortbildungen gibt, mit denen sowohl gegen den Wortlaut als auch gegen die ratio legis und damit gegen alle vertretenen Grenzen der Auslegung verstoßen wird. Hier geht es offenbar um die allgemeine Scheu, den Bereich der Auslegung zu verlassen und Rechtsfortbildungen zu thematisieren. Man wird die Abgrenzungsprobleme daher als einen Grund für den »horror vacui«, nicht aber als unmittelbare Ursache verdeckter Rechtsfortbildungen bezeichnen können.
4. Zusammenfassung Einzelne rechtsphilosophische Vorstellungen sind entgegen anderslautender Bewertungen im Schrifttum nicht für verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts verantwortlich169. Eine ihrer tieferen Ursachen besteht in bestimmten methodischen Vorstellungen. Nach richterlichen Mitteilungen soll das methodische All168 169
Vgl. insbesondere § 3 II.1.a.bb. und 2 f.; § 4 V.4.f.aa. Oben 1.c.
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gemeinwissen in der Justiz nicht über die traditionelle, auf den Normtext fixierte Interpretatorik hinausgehen und Rechtsfindung als Auslegung der Gesetze begriffen werden170. Im älteren Schrifttum wird zudem noch auf die Inversionsmethode der Begriffsjurisprudenz hingewiesen171. Beide Erklärungsversuche betonen wichtige Aspekte, greifen jedoch insgesamt zu kurz. Gesetze werden durch begriffliche Operationen verdeckt fortgebildet, weil die Auslegung der Gesetze seit jeher durch Interpretation ihrer Begriffe erfolgt, und nicht nur infolge von Nachwirkungen der Begriffsjurisprudenz. Das gesetzestextfixierte Rechtsfindungsverständnis ist zudem nur eine von mehreren methodischen Sichtweisen, die verdeckte Rechtsfortbildungen hervorbringen. Die unterschiedlichen Methodenvorstellungen in der Praxis lassen sich auf zwei gegensätzliche, idealtypische Grundpositionen zurückführen. Neben das gesetzestextfixierte Rechtsfindungsverständnis, das von Richtern ausdrücklich als Grund für die Angst vor und für das Verdecken von Rechtsfortbildungen angeführt wird, ist das von anderen Richtern in anderen Kontexten artikulierte fallbezogene Entscheidungsmodell zu setzen. Im normtextbezogenen Rechtsfindungsbild ist der Richter Gesetzesausleger und Gesetzesanwender; auf die dem Gesetzgeber obliegende Aufgabe der Fortbildung des Gesetzesrechts reagiert er mit dem »horror vacui« und verdrängten, nicht reflektierten verdeckten Rechtsfortbildungen. Nach dem fallbezogenen Rechtsfindungsverständnis schafft der Richter demgegenüber in der Fallentscheidung stets neues Recht. Die Fortbildung des Rechts ist kein Problem, sondern notwendiges Element jedes Urteils. Diese Sicht ist meist mit einem elitären Richterbild verbunden, nach dem der Richter berechtigt und berufen ist, im wohlverstandenen Interesse der Normunterworfenen die Autorität des Gesetzes durch verdeckte Rechtsfortbildungen bewusst und gezielt zu erschleichen.
IX. Die Juristenausbildung Verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts werden durch bestimmte Aspekte der deutschen Juristenausbildung unterstützt.
1. Überblick Die Ausbildung der Juristen in Deutschland wird seit Generationen kritisiert172. Rüthers bezeichnet die Diskussion über die Juristenausbildung in den juristischen Fakultäten als »Dauerbrenner«173. In den zahlreichen, in gewissen Abständen regelmäßig wieder auflebenden Reformdebatten sind viele Gesichtspunkte angesprochen worden. Teils geht es um konkrete, teils um grundsätzliche Fragen
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S. 1.d.aa. So Heck, vgl. 1.d.dd. 172 Zusammenstellung der Reformliteratur ab 1860 in: Arbeitskreis für Fragen der Juristenausbildung e. V., Die Ausbildung der deutschen Juristen, 1960, S. 166 bis 194. 173 Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 36. 171
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IX. Die Juristenausbildung
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der Juristenausbildung. Gängige, für die hier behandelte Thematik wichtige Angriffspunkte sind die Zweiteilung der deutschen Juristenausbildung (2.), der von der Falllösungstechnik beherrschte Universitätsunterricht (3.), die Anspruchsmethode im Zivilrecht (4.), die Relationstechnik (5.), der Urteilsbegründungsstil (6.) und die vernachlässigten Grundlagenfächer und Grundsatzfragen (7.). Hinzu kommen einige in der Diskussion über verdeckte Rechtsfortbildungen und Scheinbegründungen nicht thematisierte Defizite der Grundlagenfächer und gewisse (weitere) Mängel der praktischen Ausbildung (8.). 2. Die Zweiteilung der Ausbildung a. Äußerungen im Schrifttum
Die Verwendung von Leer- und Verschleierungsformeln, von standardisierten Begründungselementen, die in der Fachwelt und speziell in den juristischen Kommentaren »wie Versatzstücke mit pseudowissenschaftlichem Segen gehandelt werden«, wird im Schrifttum auf die traditionelle Zweiteilung der deutschen Juristenausbildung in Universitätsstudium und anschließenden Vorbereitungsdienst zurückgeführt174. aa. Die Juristenausbildung lasse ihre Zöglinge erst dann in der Referendarzeit auf die Praxis los, wenn sie schon hinreichend in eine Welt von isolierten Fällen ohne Folgen einsozialisiert worden seien; die reale Welt und ihre Zusammenhänge fänden in den Frühphasen juristischer Sozialisation nicht statt175. bb. Wieacker merkte in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts an, das mit dem rechtswissenschaftlichen Positivismus des 19. Jahrhunderts verbundene Programm fachlicher Juristenbildung sei trotz aller äußeren und inneren Justizund Juristenkrisen bis heute das gültige geblieben176: »Der angehende Jurist empfängt vor aller Praxis vom Hochschulkatheder, vorbereitet durch geschichtliche Vorlesungen, den Lehrstoff in systematischer Folge und strenger begrifflicher Durchbildung. Die Rechtsanwendung erprobt er sodann nicht an lebendigen Streitfällen oder wenigstens an Aktenstücken, sondern an tatbeständlich liquiden, erdachten Rechtsfällen, deren richtige Subsumption unter rechtliche Ansprüche (qualis sit actio) seine ausschließliche Aufgabe ist. Dieselben Ziele verfolgt der Aufbau der Ersten juristischen Staatsprüfung«. Wieacker sprach von einem oft beklagten, oft karikierten und erschreckend einseitigen Ausbildungsideal177. cc. Das unverbundene Neben- bzw. Nacheinander zweier separater Ausbildungsphasen mit unterschiedlichen Zuständigkeiten (Rechtsfakultäten bzw. Justizverwal-
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Böhlk/Unterseher, JuS 1980, 323, 325. So Böhlk/Unterseher, JuS 1980, 323, 325. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 438. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 438.
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tungen) und unterschiedlichen Ausbildern (Theoretikern bzw. Praktikern) ist seit jeher beanstandet worden178. b. Reformvorschläge An Versuchen, die Zweiteilung von wissenschaftlich-theoretischer und praktischer Ausbildung zu beseitigen, hat es nie gefehlt. So hat Dernburg bereits 1886 eine Ausbildungsreform angeregt, nach der Universitätsstudium und Vorbereitungsdienst in mehrere Blöcke aufgeteilt und abwechselnd erfolgen sollten179. Zitelmann entwarf 1909 einen ähnlichen Ausbildungsplan180. Auch in der Weimarer Zeit wurde des Öfteren vorgeschlagen, die theoretische und die praktische Juristenausbildung miteinander zu verbinden181, allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Im großen Stil dachte man ab Mitte der fünfziger Jahre182 und nochmals verstärkt am Ende der sechziger Jahre183 über eine grundlegende Neugestaltung des juristischen Studien- und Prüfungsprogramms nach. 1970 behandelte der 48. Deutsche Juristentag in einer eigenen Abteilung Juristenausbildung eingehend die Frage, in welcher Weise die Ausbildung der Juristen zu reformieren sei184. In den siebziger Jahren kam es dann zu partiellen und temporären Ausbildungsreformen, welche die Experimente der einstufigen bzw. einphasigen Juristenausbildung brachten. Sie sind zwischenzeitlich eingestellt worden. Studium und Vorbereitungsdienst sind wieder ausnahmslos und strikt voneinander getrennt185. Die überkommene Zweiteilung ist wiederhergestellt. Im Großen und Ganzen bewegt sich die Ausbildung der deutschen Juristen heute in den traditionellen Bahnen. Das Ausbleiben der seit 120 Jahren erstrebten Zusammenlegung von theoretischer und praktischer Ausbildung wird als »Hinweis auf tiefverwurzelte Hemmnisse« gesehen186.
178 S. nochmals die Zusammenstellung der Reformliteratur ab 1860 in: Arbeitskreis für Fragen der Juristenausbildung e. V., Die Ausbildung der deutschen Juristen, 1960, S. 166 ff. 179 Dernburg, Die Reform der juristischen Studienordnung, 1886, S. 22 ff. – Otto Bähr hielt den »Studienzwang für das juristische Studium überhaupt für einen Anachronismus« und setzte 1882 ganz auf die »praktische Schule« bei den Gerichten im Vorbereitungsdienst, s. Bähr, Gesammelte Aufsätze, Band I, 1895, S. 398, 401, 405 f. und 421. 180 Zitelmann, DJZ 1909, Sp. 505, 511 f. 181 Überblick in: Arbeitskreis für Fragen der Juristenausbildung e. V., Die Ausbildung der deutschen Juristen, 1960, S. 170 f. 182 Detaillierte Auflistung der zahlreichen Vorschläge zur juristischen Ausbildungsreform aus den fünfziger Jahren in: Arbeitskreis für Fragen der Juristenausbildung e. V., Die Ausbildung der deutschen Juristen, 1960, S. 180 ff. 183 Kurzer Überblick zur »kaum noch übersehbaren Fülle von Reformvorschlägen« der späten sechziger Jahre bei Rasehorn, NJW 1970, 1166. 184 Vgl. Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 48. Deutschen Juristentages, Band I, 1970, S. E 1 ff., F 1 ff. (Gutachten Oehler und Richter), Band II, 1970, S. P 6 ff. (Sitzungsberichte, mit Referaten von Rinken und Mühl). 185 §§ 5a, 5b DRiG. 186 Böhlk/Unterseher, JuS 1980, 323, 325.
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c. Das Verhältnis von Universitätsstudium und Vorbereitungsdienst Freilich standen Universitätsstudium und Vorbereitungsdienst in Deutschland nie vollständig unverbunden nebeneinander. Ihr Bindeglied war und ist die erste juristische Prüfung, in der ermittelt wird, ob die während der Studienzeit erworbenen Rechtskenntnisse für den Zugang zum Referendariat genügen. Diese ist seit ehedem keine universitätsinterne Prüfung, sondern ein Staatsexamen. Sie ist als staatliche Eingangsprüfung für die Zulassung zum juristischen Vorbereitungsdienst entstanden und hat diesen Charakter beibehalten, als sie später auch als Universitätsabschlussprüfung angesehen wurde187. Im Referendarexamen herrscht seit Jahrzehnten eine kasuistische Prüfungsmethode vor188. Auf diese bereiten sich die Studierenden der Rechtswissenschaft traditionell auch – nach verbreiteter Auffassung sogar vor allem189 – im außeruniversitären Fall- und Meinungsstreitunterricht vor, in dem aktuelle und grundsätzliche Entscheidungen der Bundesgerichte eine besondere Rolle spielen. Die auf allenfalls bescheidenem wissenschaftlichem Niveau arbeitenden Repetitorien sind ein nicht wegzudenkender Bestandteil der so genannten theoretischen Juristenausbildung. Faktisch liegt die Zuständigkeit für die Ausbildung der Studierenden also nicht nur bei den Rechtsfakultäten, sondern auch bei privaten Nachhilfelehrern, die meist Praktiker sind. Schon wegen des Staatsexamens und der Repetitorien standen die theoretische und die praktische Ausbildung also nie beziehungslos nebeneinander. d. Zwischenzeitliche Annäherungen Außerdem sind die Gegensätze zwischen der universitären theoretischen Schulung und der praktischen Ausbildung heute nicht mehr so groß, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, und wie es viele Praktiker den »frischen« Referendaren weis machen wollen. Seit dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert hat sich auch in der »amtlichen« Juristenausbildung trotz der beibehaltenen Zweiteilung von Studium und Vorbereitungsdienst vieles verändert. aa. Das Referendariat ist zunehmend »verwissenschaftlicht« worden. Im juristischen Vorbereitungsdienst des 19. Jahrhunderts wurde der Referendar in die Rechtspraxis eingeführt, indem er von Beginn an, nach Maßgabe seines juristischen Könnens und Wissens, anfallende Justizgeschäfte wahrzunehmen hatte. Der Vorbereitungsdienst wurde nicht als eine Fortsetzung des Rechtsunterrichts in anderer Form, sondern als eine Art Lehrlingszeit begriffen, in welcher der Referendar durch »unmittelbare Anschauung und Mittun in den Werkstätten prak-
187 Zur Geschichte des ersten Staatsexamens in der deutschen Juristenausbildung: Arbeitskreis für Fragen der Juristenausbildung e. V., Die Ausbildung der deutschen Juristen, 1960, S. 52 ff. 188 Vgl. Arbeitskreis für Fragen der Juristenausbildung e. V., Die Ausbildung der deutschen Juristen, 1960, S. 103; s. dort auch S. 57 f., 62, 66 und 70. 189 Vgl. bereits Zitelmann, DJZ 1909, Sp. 505 f.
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tischer Juristen«190 lernen sollte191; eine Schulung der Referendare in eigens zu diesem Zweck eingerichteten Unterrichtskursen spielte im damaligen Vorbereitungsdienst keine Rolle192. Heute nimmt der theoretische Unterricht in Arbeitsgemeinschaften immer größere Teile der insgesamt verkürzten Ausbildungszeit der Referendare in Anspruch, während die Stationsausbildung an Bedeutung verloren hat193. bb. Andererseits ist das gegenwärtige Universitätsstudium stärker auf praktische Entscheidungen des Richters ausgerichtet. Zitelmann sah 1909 in der Praxisferne der meisten Vorlesungen den Grund dafür, dass die Mehrzahl der Studierenden von den Lehrangeboten der Universität keinen oder nur mangelhaften Gebrauch machten und ihre juristische Bildung in staatlich nicht anerkannten, außerhalb der Universität stehenden und von Nichtangehörigen der Universität abgehaltenen Vorbereitungskursen suchten194. Die Zeiten, in denen Professoren die Rechtsprechung der obersten Gerichte als wissenschaftlich völlig irrelevant beiseite schoben195 und in den Lehrveranstaltungen schlichtweg ignorierten, sind indes endgültig vorbei. Der universitäre Rechtsunterricht besteht heute in erheblichen Teilen aus Rechtsprechungskunde, Rechtsprechungsanalyse und Rechtsprechungskritik. Wie groß die Unterschiede zum vorletzten Jahrhundert sind, wird augenscheinlich, wenn man den Fußnotenapparat heutiger Lehrbücher mit denen beliebiger Pandektenlehrbücher vergleicht. In Letztere schlich sich kaum einmal ein Zitat einer Gerichtsentscheidung ein; die Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts war ein Streitgespräch unter Professoren196. Etwa ab Beginn des 20. Jahrhunderts nahm der Gegenwarts- und Realitätsbezug des Universitätsunterrichts kontinuierlich zu197: Die historischen Fächer traten allmählich zurück, »moderne«, praktisch bedeutsame Rechtsgebiete wie das Arbeits- und das Ver190 Arbeitskreis für Fragen der Juristenausbildung e. V., Die Ausbildung der deutschen Juristen, 1960, S. 248. 191 Zum besseren Verständnis dieser Einschätzung: Die Lehrlingszeit war im 19. Jahrhundert im Unterschied zu Schule und Studium eine rein praktische Ausbildung. Berufsschulunterricht im heutigen Sinne gab es für Lehrlinge damals noch nicht; vgl. zur Geschichte der berufsspezifischen schulischen Ausbildung Pfahler, Humankapital und Effizienz, 2000, S. 202 ff. m.w.N. 192 So Arbeitskreis für Fragen der Juristenausbildung e. V., Die Ausbildung der deutschen Juristen, 1960, S. 248; s. aber auch a.a.O., S. 56, wo berichtet wird, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Preußen und Bayern praktische Übungskurse eingerichtet worden seien, um den Referendaren Gelegenheit zu geben, über ältere Zivilprozessakten schriftliche Relationen anzufertigen und diese frei vorzutragen. 1912 wurden in Preußen dann ausbildungsbegleitende Arbeitsgemeinschaften eingeführt, in denen durch Erörterung praktischer Fälle das Verständnis für die Anwendung des Rechts gefördert werden sollte, s. a.a.O., S. 56. Nach dem ersten Weltkrieg wurden derartige Arbeitsgemeinschaften und Fortbildungskurse für Referendare auch in Baden, Bayern, Hessen und Württemberg abgehalten, s. a.a.O., S. 62, 67, 68, 69. 193 Hierzu bereits § 6 V.2. a. E. 194 So Zitelmann, DJZ 1909, Sp. 505 und 506. 195 So L. Raiser, NJW 1964, 1201, 1205, über seine Studienzeit in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. 196 L. Raiser, NJW 1964, 1201, 1205. 197 Vgl. Arbeitskreis für Fragen der Juristenausbildung e. V., Die Ausbildung der deutschen Juristen, 1960, S. 247; identische Zäsur bei L. Raiser, NJW 1964, 1201, 1205.
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waltungsrecht kamen hinzu, die neueste Rechtsprechung spielte in den Darstellungen des geltenden Rechts eine zunehmend größere Rolle. Das Schwergewicht der Unterrichtsveranstaltungen verlagerte sich schrittweise von den systematischen Vorlesungen zu kasuistischen Darbietungen, zu praktischen Übungen, Konservatorien, Klausurenkursen und Examinatorien, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der das Referendarexamen beherrschenden fallbezogenen Prüfungsmethode198. e. »Theorie« und »Praxis« in der heutigen Juristenausbildung »Theorie« und »Praxis« haben sich einander zwischenzeitlich also angenähert. Das Begriffspaar steht in der gegenwärtigen Juristenausbildung – anders als im allgemeinen Sprachgebrauch – nicht für grundverschiedene bzw. unvereinbare Positionen. aa. Rechtswissenschaft wird heute (auch) als praktische Jurisprudenz begriffen und betrieben, welche Entscheidungsvorschläge für offene und umstrittene Rechtsfragen unterbreitet. Man kann von einer praxisbezogenen Theorie sprechen. Der immer noch so genannte dogmatische Unterricht in den Einzelbereichen dient kaum mehr dazu, das geltende Recht durch juristische Glaubenssätze zu erklären, es als (geschlossenes) inneres wissenschaftliches System zu konstruieren und darzustellen. Behandelt werden in der Lehre der Teilrechtsgebiete primär die Grundlagen des jeweiligen Gesetzes- und Richterrechts sowie umstrittene Rechtsfragen. Zumindest im Zivilrecht zielt die »Theorie« als praktizierte Interessenjurisprudenz ganz überwiegend auf die Anwendung der vermittelten rechtlichen Vorgaben in der Wirklichkeit. Manchen ist die Rechtswissenschaft gar zu stark auf konkrete praktische Entscheidungsfragen ausgerichtet, um noch als »echte« Wissenschaft angesehen zu werden199. bb. Auch die juristische »Praxis« steht in Deutschland nicht in Frontstellung zur rechtswissenschaftlichen »Theorie«. Sie ist im Großen und Ganzen weder theoriefeindlich noch theoriefern. Das Reichsgericht und die Bundesgerichte haben ihre Entscheidungen stets an wissenschaftlichen Lehrmeinungen gemessen und in offener Auseinandersetzung mit diesen begründet200 und so einen argumentativen Begründungsstil der deutschen Gerichte geprägt, der im internationalen Vergleich positiv hervorsticht. cc. Die Unterschiede zwischen der »Theorie« und der »Praxis« des Rechts werden in der Terminologie vieler, vor allem »praktisch« tätiger Juristen überschätzt. 198 Arbeitskreis für Fragen der Juristenausbildung e. V., Die Ausbildung der deutschen Juristen, 1960, S. 248. 199 Stellvertretend für viele Großfeld, NJW 1989, 875, 877, nach dem die Rechtsausbildung zur »Schule zum Fällelösen« geworden ist; ähnlich bereits Zitelmann, DJZ 1909, Sp. 505, 508: Fakultäten als »Elementar-Fachschulen zur Vorbereitung auf die erste juristische Prüfung«; einführend zu der grundsätzlichen Frage, ob die Jurisprudenz eine Wissenschaft ist, Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 280 ff. 200 L. Raiser, NJW 1964, 1201, 1205.
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Theorie ist von einem griechischen Wort für »schauen« abgeleitet und steht für das Betrachten oder Erkennen201. Theorie ist daher das Wahrnehmen von etwas, das sich durch unsere Betrachtung nicht ändert. Das griechische Wort prãxis meint demgegenüber das Handeln202, also das Verändern eines Sachverhalts durch unser Eingreifen, durch unsere Hand. Das Begriffspaar Theorie und Praxis entspricht dem Begriffspaar Erkennen und Handeln bzw. Verändern. In der Rechtsanwendung gibt es aber weder ein Erkennen ohne Verändern des Zustandes noch eine Zustandsveränderung ohne vorheriges Erkennen. Das gilt für das Studium und die juristische Berufstätigkeit gleichermaßen. Rechtsanwendung ist praktische Jurisprudenz, beinhaltet stets erkennende und verändernde Elemente. Die juristische »Theorie«, die in der Universitätsausbildung gelehrt wird, ist eine handlungsbezogene und wirklichkeitsverändernde, eine praktische Theorie. Die juristische »Praxis« ist eine erkenntnisgeleitete, theoretische Praxis. dd. Praxis und Theorie sind in der anwendungsbezogenen Rechtswissenschaft mithin keine echten Gegensätze. Zudem ergibt der Vergleich mit dem 19. und frühen 20. Jahrhundert: Der Rechtsunterricht an der Universität ist praktischer und der Vorbereitungsdienst theoretischer geworden203. f. Fortbestehende Defizite Freilich hat die Angleichung von theoretischer und praktischer Schulung dem Vorbereitungsdienst keinen echten Zuwachs an rechtstheoretischem Gehalt204 und den Studierenden keine wirkliche praktische Schulung gebracht. Die Ausbildung im Referendariat ist eine handwerkliche und keine wissenschaftliche. Das Studium gewährt immer noch keine unmittelbare Anschauung der Rechtswirklichkeit, wie sie von den Juristen verschiedener Berufssparten in Ausübung ihrer praktischen Tätigkeit erfahren wird205. Der praktische Fall nimmt, in den Hörsaal verpflanzt und pädagogisch zurechtgestutzt, einen lebensunwirklichen, eigentümlich statischen Charakter an206: Er wird aus dem Zusammenhang sozialer Phänomene, in dem er auftrat, herausgelöst und auf bestimmte juristisch relevante Fakten reduziert, während vielfach andere Aspekte, die dieser Tatbestand als Stück der Rechtswirklichkeit bietet, ignoriert werden.
201 Vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 23. Aufl. 1999, Stichwort »Theorie«. 202 Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 23. Aufl. 1999, Stichwort »Praxis«. 203 So Arbeitskreis für Fragen der Juristenausbildung e. V., Die Ausbildung der deutschen Juristen, 1960, S. 249, mit einer ablehnenden Bewertung des Trends der gegenseitigen Angleichung von theoretischer und praktischer Schulung auf S. 251 f. 204 Arbeitskreis für Fragen der Juristenausbildung e. V., Die Ausbildung der deutschen Juristen, 1960, S. 250. 205 So bereits Arbeitskreis für Fragen der Juristenausbildung e. V., Die Ausbildung der deutschen Juristen, 1960, S. 249. 206 So Arbeitskreis für Fragen der Juristenausbildung e. V., Die Ausbildung der deutschen Juristen, 1960, S. 249; vgl. bereits Zitelmann, DJZ 1909, Sp. 505, 508.
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Hierbei handelt es sich entgegen gängiger Betrachtung allerdings nicht um eine spezifische Erscheinung des Universitätsstudiums, sondern um ein allgemeines Problem juristischen Entscheidens. Auch in der gerichtlichen Praxis geht es nicht um die »unendlich mannigfaltige Wirklichkeit« in ihrer »volle(n) Anschaulichkeit«207. Beurteilt wird nicht das »pralle« Leben, sondern nur eine Facette, eine rechtlich determinierte »Verfahrenswirklichkeit«, also ein künstlich verengter Wirklichkeitsausschnitt, der durch Fiktionen ergänzt wird. Der »Sachverhalt« wird anhand materiellrechtlicher Vorgaben, die gemeinsam mit dem Prozessrecht über die zu berücksichtigenden Lebensausschnitte entscheiden, gemessen. Auch die vor Gericht beurteilte »Wirklichkeit« ist mithin konstruiert und künstlich. g. Abschließende Bewertung Abschließend wird man sagen können, dass die Unterschiede zwischen »Theorie« und »Praxis« in der juristischen (Zivilrechts-)Ausbildung nicht so grundlegend sind, wie es meist unterstellt wird. aa. Beide Ausbildungsabschnitte zielen darauf, das jeweils einschlägige Recht zu finden und auf einen Einzelfall anzuwenden. Das zeigen die Abschlussprüfungen deutlich. In Gutachten und Entscheidungsentwürfen wird ein fallbezogenes Urteil zur Rechtslage abgegeben. Auch im Bereich der Vertragsgestaltung und in Anwaltsklausuren sind konkrete rechtliche Entscheidungsprognosen und Hintergrundüberlegungen anzustellen. Studium und Referendariat dienen also vor allem dazu, den angehenden Juristen auf die »berufsgerechte« Entscheidung von Lebenssachverhalten nach normativen Vorgaben vorzubereiten. bb. Die gemeinsame Aufgabe, die Entscheidungsfindung zu lehren, ist freilich unterschiedlich auf die beiden Ausbildungsabschnitte verteilt. Der Begriff Entscheidungsfindung zielt auf die Tätigkeit des Richters208. Der Richter bildet den konkreten Entscheidungssatz und den zu beurteilenden Tatbestand. Seine bis zum Erlass des Urteils nur vorläufige Entscheidung muss er mit einer Begründung versehen. Der Begriff Entscheidung steht in der Rechtswissenschaft auch und vor allem für die mit Gründen versehene schriftliche Fassung. Bei der Entscheidungsfindung geht es also um die Rechtsfindung, um die Sachverhaltsbildung und darum, die getroffene Entscheidung zu begründen. Im Studium steht der Teilbereich der Rechtsfindung ganz im Vordergrund209. Vermittelt werden ein Konglomerat aus Gesetzesrecht, Präjudizien, literarischen Erläuterungen und
207 So aber Zitelmann, DJZ 1909, Sp. 505, 508, der auch davon spricht, dass nur die Praxis selbst die überzeugende und anfeuernde Kraft der Wirklichkeit habe und die Kenntnis des unendlich vielfältigen sozialen Lebens vermitteln könne; ähnlich bereits 1882 Bähr, Gesammelte Aufsätze, Band I, 1895, S. 398, 405 f., der außerdem auf das Wort von der »grauen Theorie« und dem »grünen Baum des Lebens« verwies. 208 Hierzu § 5 II.5. 209 Zu den Begriffen Entscheidungsfindung und Rechtsfindung § 5 II.4. und 5.
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Entscheidungsvorschlägen sowie dessen begründete Anwendung auf vorgegebene, tatbestandlich feststehende Einzelfälle. Demgegenüber geht es im Referendariat vor allem darum, den entscheidungserheblichen Sachverhalt unter Beachtung der verfahrensrechtlichen Vorgaben zu ermitteln und die Entscheidung ordnungsgemäß zu begründen, welche nach den an der Universität gelernten Regeln und unter besonderer Berücksichtigung der obergerichtlichen Rechtsprechung getroffen wird. Die Aufgabe, Entscheidungen zu fällen, wird in der deutschen Juristenausbildung also, vereinfacht gesagt, dergestalt erfüllt, dass im Studium die begründete Rechtsfindung und im Vorbereitungsdienst die Sachverhaltsbildung und die äußere Form der Entscheidungsbegründung gelehrt wird. cc. Sieht man von stilistischen Verschiedenheiten ab, so besteht der Unterschied zwischen »Theorie« und »Praxis« in der Jurisprudenz darin, dass der Student vorgegebene papierne Fälle löst, während der Referendar bzw. (Justiz-)Praktiker die von ihm zu beurteilenden Sachverhalte auf der Grundlage des Tatsachenvortrags der Parteien unter Beachtung verfahrensrechtlicher Vorgaben selbst herstellt. Dass man die »Wirklichkeit« nach langjähriger Schulung an blutleeren, meist auf die rechtlich relevanten Angaben reduzierten Fällen nur noch selektiv wahrnimmt, ist wahrscheinlich. Hierbei handelt es sich indes nicht um eine spezifische Erscheinung der universitären »Theorie«. Auch in der »Praxis« wird nicht die »unendlich mannigfaltige Wirklichkeit«, sondern lediglich eine gewisse Anzahl von ausgewählten Lebensbruchstücken zur Kenntnis genommen210. Juristen sind weder zu einer umfassenden Lebensbewertung berufen, noch zu ihr in der Lage. Sie urteilen stets aus rechtlicher Perspektive; die Tatsachenauswahl wird durch die materiellrechtlichen normativen Beurteilungsmaßstäbe notwendig beschränkt. Daran würden eine stärkere Verquickung von Studium und Vorbereitungsdienst oder das ebenfalls schon vorgeschlagene Vorziehen der praktischen Ausbildung nichts ändern. h. Zwischenergebnis Die These, dass Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen durch die traditionelle Zweiteilung der deutschen Juristenausbildung verursacht werden und mit deren Aufhebung entfallen würden, überzeugt nach alledem nicht. Entscheidend ist nicht die Aufteilung der Ausbildung. Maßgebend für den Umgang mit Rechtsfortbildungen sind vielmehr die in den jeweiligen Ausbildungsabschnitten vermittelten Inhalte und die ihnen zugrundeliegenden Rechts- und Entscheidungsfindungskonzepte einschließlich der Begründungsvorgaben.
3. Der Einzelfallunterricht An der gegenwärtigen universitären Juristenausbildung wird zunächst beanstandet, dass sie ganz von der Falllösungstechnik beherrscht sei.
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a. Bestandsaufnahme aa. In den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten hat sich vor allem Großfeld immer wieder gegen den heute herrschenden Lehrbetrieb gewandt und dabei neben der zivilrechtlichen Anspruchsmethode211 die Konzentration auf das »Fällelösen«212 sowie auf Einzelfälle213 und Einzelfragen214 bemängelt215. Die Rechtsausbildung sei praktisch vom ersten Semester an eine Schule zum Fällelösen; das von § 5 Abs. 1 DRiG verlangte »rechtswissenschaftliche« Studium werde heute im Ganzen nicht mehr erfüllt216. Zwar erziehe die Falllösungstechnik zu disziplinierter Normanwendung, doch gehe wegen ihrer Ausschließlichkeit der Blick auf die Ordnungskonzeption der Rechtsordnung als Ganzes verloren217. »Rechtswissenschaft« verliere ihre Eigenart, wenn sie sich in Rechtsanwendung und Falllösungstechnik erschöpfe, wenn sie zu bloßer Rechtstechnizität verkümmere218. Die Konzentration auf die Technik der Falllösung mit immer feiner entwickelten Modellen trage Mitschuld am Elend des Jurastudiums219. Der Universitätsunterricht ziele auf Einzelfragen, welche sich in Zahl und Schwierigkeit nun einmal nicht begrenzen ließen220. Die Examensanforderungen würden unkontrollierbar aufgebläht: Es gebe unendlich viele Fälle – aber nur relativ wenig methodische Ansätze, auf die es ankomme221. Das vergangenheitsorientierte Fällelösen werde einer zukunftsorientierten Rechtswissenschaft nicht gerecht, weil neue Fragen nicht aus früheren Einzelfragen heraus entschieden würden, sondern zuerst aus der Kenntnis des Rechtssystems und einem Gespür für geschichtlich-kulturellwirtschaftliche Zusammenhänge222. Wissenschaft sei Denken in aktuellen und historischen Zusammenhängen, sei Verknüpfung von Einzelfällen, sei Rechtsgestaltung, Überlegung de lege ferenda223. bb. Auch andere Autoren sehen den an Einzelfragen und Einzelfällen ausgerichteten Universitätsunterricht skeptisch. Stürner spricht vom Höhepunkt und Ende einer Ausbildungskultur und ist der Ansicht, das Denken in einem filigranen Geflecht widerstreitender Lehrmeinungen zur Lösung von »Problemfällen« überfrachte die deutsche akademische Ausbildung auf Dauer mit falscher Last224.
211
Hierzu sogleich unter 4. Großfeld, NJW 1989, 875, 877. 213 Großfeld, JZ 1992, 22. 214 Großfeld, JZ 1992, 22, 27. 215 Großfeld selbst trennt freilich nicht zwischen Anspruchsmethode und Einzelfallunterricht, sondern thematisiert die Vorbereitung an Einzelfällen als einen Teilaspekt seiner gegen das zivilrechtliche Anspruchsdenken gerichteten Polemik, vgl. etwa Großfeld, JZ 1992, 22 und passim. 216 Großfeld, NJW 1989, 875, 877. 217 Großfeld, NJW 1989, 875, 877. 218 Großfeld, NJW 1989, 875, 877. 219 Großfeld, JZ 1992, 22, 23, dort als rhetorische Frage formuliert. 220 Großfeld, JZ 1992, 22, 24, zur »Entgrenzung des Stoffes«. 221 Großfeld, NJW 1989, 875, 877. 222 Großfeld, JZ 1992, 22, 24. 223 Großfeld, NJW 1989, 875, 877. 224 Stürner, JZ 1996, 741, 752, zu dem Buch »Bürgerliches Recht« von Medicus. 212
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
cc. Nach Schapp treten Wissenschaft des Rechts und Technizität der Falllösung bei Großfeld in eine Antithese225. Schapp verweist auf »möglicherweise tiefgreifende Einstellungen im geisteswissenschaftlichen Bereich«226: Danach sei Wissenschaft durch das Allgemeine, durch Grundbegriffe und Prinzipien charakterisiert, während der einzelne zu entscheidende Fall nur das Besondere sei, auf das das Allgemeine lediglich angewendet werde, in dem es sich aber nicht repräsentiere. Rechtswissenschaft und Falllösung verhielten sich zueinander wie Theorie und Praxis. Dem entspreche auch die Kennzeichnung der Falllösung mit dem Begriff der Technik. b. Zur Grundsatzkritik In der Tat spricht niemand von »Falllösungswissenschaft«. Der fundamentale Vorwurf der Kritiker des universitären Einzelfallunterrichts, die Beschäftigung mit Einzelfällen und Einzelfragen der Rechtsfindung sei unwissenschaftlich, ist dennoch aus verschiedenen Gründen unangemessen. aa. Eine Rechtswissenschaft, die sich auf das Allgemeine beschränken und den Akt der Anwendung ihrer Erkenntnisse auf Einzelfälle und Lebenssachverhalte ausblenden würde, wäre eine wirklichkeitsferne und lebensfremde Angelegenheit, eine »kastrierte« Rechtswissenschaft. Sie wird, soweit ersichtlich, in Reinform gegenwärtig von niemandem propagiert. Rechtswissenschaft ist heute immer auch anwendungsbezogen. Als praktische Jurisprudenz unterbreitet sie Lösungsvorschläge in Rechtsanwendungs- und Regelungsfragen. Sie stellt eine angewandte »Theorie« bzw. Lehre dar227. Schon deshalb ist die vorgenommene Trennung zwischen Wissenschaft und fallbezogener Anwendung künstlich. Außerdem vernachlässigt sie, dass die Anwendung der normativen Vorgaben auf diese zurückwirkt. Die Rechtsanwendung, Rechtsfindung oder Rechtsgewinnung erschöpft sich nicht darin, den Sachverhalt anhand vorgegebener, fix bereitstehender und sich nicht verändernder normativer Maßstäbe zu messen und ihn bei Übereinstimmung unter diese zu subsumieren. Die Rechtsanwendung ist immer auch ein produktiver, die Entscheidungsvorgaben konkretisierender und weiterentwickelnder Akt, was die berühmte Formulierung vom Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Lebenssachverhalt und Rechtsnorm bildhaft zum Ausdruck bringt228. bb. Wer die Aufgabe des Richters darin sieht, die Vorgaben des Gesetzgebers schematisch im Einzelfall umzusetzen, der mag die Rechtsanwendung als rein praktische, außerhalb des wissenschaftlichen Interesses stehende Tätigkeit einstufen. Realistisch ist eine solche Sichtweise indes nicht. Sie verleugnet den gerade angesprochenen notwendig kreativen Charakter jeder richterlichen Entschei225 226 227 228
Schapp, JuS 1992, 537. Schapp, JuS 1992, 537, 538. Vorstehend 2.e.aa. und cc. Zum schöpferischen Charakter der Rechtsanwendung § 3 II.1.b.
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dung, der durch den individuellen Sachverhalt und die Konkretisierungsbedürftigkeit der gesetzlichen Begriffe bedingt ist. Außerdem vernachlässigt sie die Rolle von Präjudizien beim Finden des konkreten Entscheidungssatzes: Dass Präjudizien eine faktische Bindungswirkung zukommt, erkennen auch diejenigen Autoren an, welche die Rechtsquelleneigenschaft des Richterrechts immer noch in Abrede stellen229. cc. Es besteht ein meist übersehener Zusammenhang zwischen dem Vordringen des Präjudizienrechts und der Ausgestaltung des Universitätsunterrichts. 1879 traten die Reichsjustizgesetze in Kraft. Sie vereinheitlichten das Verfahren und die Gerichtsorganisation im 1871 gegründeten Deutschen Reich. Mit dem Reichsgericht wurde ein oberstes Gericht mit umfassender Zuständigkeit für alle Zivil- und Strafsachen geschaffen230. Seine Rechtsprechung prägte die weitere Rechtsentwicklung im Zivilrecht des Deutschen Reichs und setzte insbesondere bei der Auslegung und Fortbildung des 1900 in Kraft getretenen Bürgerlichen Gesetzbuches Maßstäbe. Die Präjudizien des Reichsgerichts gewannen kontinuierlich an Bedeutung für das deutsche Rechtsleben, was durch das Aufkommen von breit angelegten (Praktiker-)Kommentaren belegt wird231. Mit einer gewissen Verzögerung scheint diese Entwicklung auch die Universitäten erreicht zu haben232. Rückblickend wirkt es symbolisch und fast programmatisch, dass das Reichsgericht mit einem Festakt in der Aula der Universität Leipzig feierlich eröffnet wurde233. Etwa ab Beginn des 20. Jahrhunderts soll das Studiums kontinuierlich gegenwarts- und realitätsbezogener geworden sein234: Das Schwergewicht der Unterrichtsveranstaltungen verlagerte sich schrittweise von den systematischen Vorlesungen zu kasuistischen Darbietungen. Die Vorbereitung an Einzelfällen entspricht einem Denken, das sich (auch) an Präjudizien orientiert. Von daher kann man sagen, dass Großfeld bei seiner Kritik des Falllösungsunterrichts an den Universitäten die Bedeutung des Systems (besser: der verschiedenen Systeme) in einer praxisbezogenen Rechtswissenschaft überschätzt und den Stellenwert von Präjudizien für die Rechtsfindung vernachlässigt. Selbst neue Rechtsfragen werden weniger »aus der Kenntnis des Rechtssystems und einem Gespür für geschichtlich-kulturell-wirtschaftliche Zusammenhänge«235 als dadurch entschieden, dass sie mit den die Gesetze konkretisierenden und ergänzenden Präjudizien verglichen werden, wobei gesetzgeberischen und richterlichen 229
Einführend hierzu § 4 V.2.b. Zur Gründung des Reichsgerichts Lobe, in: Lobe (Hrsg.), Fünfzig Jahre Reichsgericht, 1929, S. 1, 4 ff.; Mertens, AcP 174 (1974), 333, 334 ff. m.w.N. 231 Vgl. insoweit etwa das Vorwort zur ersten Auflage des RGRK, in der betont wurde, dass besonderes Gewicht auf die möglichst erschöpfende Berücksichtigung der Rechtsprechung des obersten Gerichtshofs gelegt worden sei, während die gesetzgeberischen Vorarbeiten und die ältere Rechtsentwicklung zurücktreten mussten. Das aus dem Jahr 1910 stammende Vorwort zur ersten Auflage ist etwa abgedruckt in RGRK, I. Band, 8. Aufl. 1934, S. III. 232 Ausführlicher hierzu vorstehend 2.d.bb. 233 Diese Information findet sich bei Lobe, in: Lobe (Hrsg.), Fünfzig Jahre Reichsgericht, 1929, S. 1, 4. 234 Vgl. vorstehend 2.d.bb. 235 Großfeld, JZ 1992, 22, 24. 230
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
Interessenbewertungen sowie Folgebetrachtungen ausschlaggebendes Gewicht zukommt. c. Übertreibungen Richtig ist allerdings, dass die ausschließliche Ausbildung an Einzelfällen und Einzelproblemen entgegen § 5a Abs. 2 S. 3 DRiG die philosophischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen des Rechts ausblendet, in ihrer heute praktizierten Form meist die Erkenntnisse der juristischen Methodenlehren vernachlässigt und so zu »Rechtstechnizität«236 erzieht sowie verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts begünstigt. aa. Problematisch ist dabei nicht der Unterricht an, sondern ein isoliertes Denken in Einzelfällen. Es löst die Rechtsfindung vom gesetzlichen – oder auch rechtsgeschäftlichen – Ausgangspunkt. Im Lehrbetrieb erlebt man immer wieder, dass Studierende bei der rechtlichen Bearbeitung von Sachverhalten direkt auf bestimmte Streitstände und (scheinbar) einschlägige Falllösungen zusteuern, also unmittelbar Hilfe und Orientierung in ihnen bekannten Einzelproblemen und Einzelfällen suchen (»Ist das nicht der »Jungbullen«-Fall?« oder »Ist das nicht wie im »Hemden«-Fall?«). Das Operieren mit Einzelfällen ist unbedenklich, wenn der »Herrenreiter«-, »Fleet«- usw.-Fall als Merkformel für bestimmte Interessenlagen und deren Bewertung durch den Gesetzgeber oder die Rechtsprechung dient, welche dann im jeweils zu bearbeitenden Fall herangezogen werden. Man darf Einzelfälle im Prozess der Rechtsfindung aber nicht absolut setzen und damit verbindungslos verwenden. Das Denken in Problemfällen ist analogisch. Sieht man den bereits entschiedenen Fall nicht vor dem Hintergrund der einschlägigen Rechtsnormen und der jeweiligen gesetzgeberischen, rechtsgeschäftlichen und richterlichen Interessenbewertungen, sondern als Maßstab der Rechtsfindung, so sind im zu beurteilenden Fall beliebige Ergebnisse möglich. Zwischen zwei Fällen gibt es immer Parallelen und Unterschiede237. Aus der juristischen Methodenlehre ist bekannt, dass beim Fallvergleich logisch stets sowohl ein Ähnlichkeitsschluss als auch ein Umkehrschluss möglich ist238. Für den Vergleich zweier Objekte bedarf es stets eines externen Maßstabes. Fungiert ein isolierter Fall als Richtschnur einer juristischen Entscheidung, so liegt ein Zirkelschluss vor. Ob das konkret gefundene Ergebnis den maßgebenden Interessenbewertungen entspricht, ist dann vom Zufall abhängig. Beim isolierten Denken in Einzelfällen werden bekannte Fälle und deren Lösungen wie Rechtsnormen verwendet. Das Gesetz und die maßgebenden Interessenbewertungen werden bei der Rechtsfindung vernachlässigt. Eine ausschließli-
236 237 238
Großfeld, NJW 1989, 875, 877. Hierzu § 2 V.4.b. Vgl. etwa Engisch, Einführung in das juristische Denken, 8. Aufl. 1983, S. 148 f.
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che Ausbildung an Einzelfällen fördert dieses Denken und damit verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts. bb. Indes wird der Fallunterricht auch von seinen nachdrücklichen Befürwortern im Universitätsbetrieb nicht als universale Lehrmethode oder als didaktisches Allheilmittel propagiert. Medicus verweist vor allem auf die verschiedenen Übungen, deren Hauptgegenstand eben das Lösen von Fällen sei239. Anders liege es in den Vorlesungen und übrigens auch in den meisten Lehrbüchern240. In Vorlesungen könnten Fälle in drei verschiedenen Formen verwendet werden241, die sich mit den Begriffen Wiederholung, Demonstration und Vertiefung etikettieren lassen242: Erstens könne man wie in der Übung Falle erörtern, damit die Studenten aus dem ihnen schon bekannten Stoff die vom Dozenten zunächst offen gelassene Lösung finden. Zweitens könne ein Fall, dessen Ergebnis evident sei, als Beleg für oder gegen eine Theorie verwendet werden. Schließlich könne man das zuvor abstrakt Gesagte durch Beispielsfälle konkretisieren und durch Grenzfälle die Reichweite einer Regelung deutlich machen; dies sei die wohl häufigste Art der Fallverwendung in Vorlesungen. Diese Ausführungen zeigen, dass dem Lösen von Fällen eine ergänzende, das materielle Recht demonstrierende, wiederholende und vertiefende Funktion zugewiesen wird. Der Einzelfallunterricht setzt die vorherige Vermittlung rechtlicher Grundstrukturen voraus. Übungen und Falllösungsbücher trainieren die Rechtsfindung, also die argumentative Herleitung eines Einzelfallurteils aus rechtlichen Vorgaben. Sie vervollkommnen die Vorlesungen und die Lehrbücher, ersetzen diese aber nicht. Dass es Studierende gibt, die auf Vorlesungen und Lehrbücher verzichten und sich vornehmlich im außeruniversitären Fall- und Meinungsstreitunterricht auf das Staatsexamen vorbereiten, steht auf einem anderen Blatt. Das »blühende Leben« der Repetitorien soll ein Indikator sowohl für Ausbildungsmängel als auch für den ungebrochenen Glauben sein, dass die Fähigkeit, Formeln zu »repetieren«, zum Wesen des Handwerks gehört243. Die seit Generationen beklagte Flucht zu den Repetitorien ist aber sicher nicht darauf zurückzuführen, dass an den Universitäten zuviel Einzelfallunterricht betrieben wird. cc. Bedenken können freilich gegen die konkrete Ausgestaltung des Einzelfallunterrichts erhoben werden. Er hat so gut wie immer feststehende Sachverhalte zum Gegenstand. Gelehrt und gelernt wird allein die Rechtsanwendung auf den unstreitigen, entscheidungsreifen Fall. Praktiker bemängeln zu Recht, dass nur ein kleiner Ausschnitt aus der realen Prozessarbeit behandelt wird, wenn man so tut, als wenn es keine streitigen Prozesse gebe244. Die Rechtswissenschaft be239 240 241 242 243 244
Medicus, AcP 174 (1974), 313, 316. Medicus, AcP 174 (1974), 313, 317. Medicus, AcP 174 (1974), 313, 327 f. Medicus verwendet diese Bezeichnungen nicht. So Böhlk/Unterseher, JuS 1980, 323, 325. Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 12.
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
schäftigt sich nicht mit der Sachverhaltsarbeit245. Auch im »praxisbezogenen« universitären Einzelfallunterricht findet sie nicht statt. Dass die deutsche Juristenausbildung immer noch messerscharf zwischen Rechtsanwendung und Sachverhaltsarbeit trennt, ist gefährlich246. Wer sich lange Jahre vornehmlich damit beschäftigt, Gesetzesbegriffe und gängige Begriffsdefinitionen im Hinblick auf feststehende Sachverhalte zu konkretisieren, die Entscheidungsfindung also als reine Rechtsfindung erlernt, wird dazu neigen, die juristische Konstruktion für weitaus bedeutsamer zu halten als die bloßen Tatsachen. Die Versuchung ist groß, dann auch in der Praxis schnurstracks auf die rechtliche Lösung zuzusteuern und den Sachverhalt solange zurechtzubiegen, bis er in die rechtliche Konstruktion passt247. Das ist freilich kein Einwand gegen die Fallbearbeitung an den Universitäten, sondern gegen deren gegenwärtige Ausgestaltung, welche die Sachverhaltsarbeit außen vor lässt. Prinzipiell ist es im Universitätsunterricht möglich, prozessnah an Einzelfällen die Entscheidungsfindung einschließlich der Sachverhaltsbildung zu demonstrieren und einzuüben. Allerdings kostet ein solches Vorgehen »recht viel Zeit«248, weil vergleichsweise umfangreiche Aufgabentexte oder Aktenauszüge frühzeitig ausgeteilt werden müssen und der zu beurteilende Sachverhalt erst zu erarbeiten ist. Zudem kommen derartige Aufgabenstellungen bislang im ersten Staatsexamen nicht vor. d. Zwischenergebnisse Zusammenfassend ist festzuhalten, dass verdeckte Rechtsfortbildungen nicht bereits dadurch gefördert werden, dass man Einzelfälle und Einzelprobleme bespricht. Die Kritik am »unwissenschaftlichen« Einzelfallunterricht an den Universitäten vernachlässigt, dass die Rechtswissenschaft eine praktische Wissenschaft ist, die konkrete Lösungsvorschläge in Rechtsauslegungs- und Regelungsfragen unterbreitet. Rechtswissenschaft muss anwendungsbezogen sein, weil die Rechtsfindung immer ein produktives, die Entscheidungsvorgaben konkretisierendes und weiterentwickelndes Verfahren ist. Dass die Bearbeitung von Einzelfällen in den letzten hundert Jahren stark an Bedeutung gewonnen hat, hängt außerdem mit dem Vordringen des Präjudizienrechts zusammen. Der Vorwurf, die Falllösungstechnik dominiere die Universitätsausbildung vollständig, die Rechtsausbildung sei praktisch vom ersten Semester an eine Schule zum Fällelösen249, trifft tatsächlich nicht zu. Auch ist nicht ersichtlich, dass an den Universitäten der Fallunterricht als universelle Lehrmethode propagiert würde. Richtig
245
S. bereits § 1 I.3. So Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 60. 247 So Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 64. 248 Medicus, AcP 174 (1974), 313, 328, der die prozessförmige Trennung in Angriff und Verteidigung, mit Argumenten pro und contra als wirklichkeitsnah, spannend und auch mnemotechnisch wirkungsvoll bezeichnet. 249 Großfeld, NJW 1989, 875, 877. 246
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ist allerdings, dass bei einer Konzentration auf das Lösen von Fällen und auf die dabei anzuwendende »Technik« die Werturteile, die den Entscheidungsnormen zugrunde liegen, aus dem Blick geraten können. Wer sich ausschließlich mit Einzelfällen und Falllösungstechniken beschäftigt, wird meist nur einen vordergründig-oberflächlichen Zugang zum Recht finden und seine Einzelfallurteile formal, klischee- bzw. leerformelhaft und damit im schlechten Sinne »topisch« begründen250. Geht die Fixierung auf das Technische der Rechtsfindung, auf vielfältig verwendbare Überleitungen, Standardargumente, Begründungsversatzstücke sowie abspulbare Schemata und Streitstände mit einem isolierten Denken in Einzelfällen einher, das nicht nach den zugrunde liegenden Wertentscheidungen fragt, dann sind verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts zwangsläufig vorprogrammiert. Diese werden außerdem dadurch unterstützt, dass die Sachverhaltsarbeit an den Universitäten nicht stattfindet und die Rechtsanwendung im Einzelfallunterricht anders als im wirklichen Leben feststehende Sachverhalte zum Gegenstand hat, wodurch das Bilden des konkreten Entscheidungssatzes fälschlicherweise als reine Rechtskonstruktion, als von der Herstellung des Sachverhalts unabhängige Rechtsfrage erscheint. Es besteht die Gefahr, dass der so Geschulte auch in der Praxis schnurstracks auf die rechtliche Lösung zusteuert251 und den Sachverhalt solange zurechtbiegt, bis er in die rechtliche Konstruktion passt. Einzelne Aspekte des universitären Einzelfallunterrichts, die im außeruniversitären Fall- und Meinungsstreitunterricht noch ausgeprägter zu finden sind, begünstigen also verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts. Freilich handelt es sich bei ihnen vornehmlich um Übertreibungen und Auswüchse einer »an sich« vom juristischen Berufsbild gebotenen Lehrmethode. Allein die vollständige Vernachlässigung der Sachverhaltsarbeit ist ein grundsätzlicher Strukturfehler des auf Einzelfallentscheidungen ausgerichteten Teils der Universitätsausbildung.
4. Das Anspruchsdenken im Zivilrecht Neben der Konzentration auf das Lösen von Einzelfällen wird die zivilrechtliche Anspruchsmethode für die »Misere … des Jurastudiums«252 verantwortlich gemacht. Die zivilistische Schulung der Studierenden, die den Schwerpunkt der ersten Studiensemester bildet und nach verbreiteter Auffassung das Rückgrat der deutschen Juristenausbildung darstellt, hat vor allem die ersten drei Bücher des Bürgerlichen Gesetzbuchs zum Gegenstand und wird durch das Denken in Anspruchs- und Gegennormen geprägt253.
250
Zum Verständnis von Topos als Klischee bzw. formelhafte Wendung § 2 VI.2. Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 64. 252 Großfeld, JZ 1992, 22, 23. 253 Statt vieler Stürner, JZ 1996, 741, 752. – Für den Vorlesungsbetrieb gilt dies freilich uneingeschränkt nur im Bereich des Besonderen Schuldrechts; insbesondere im Familien- und Erbrecht sowie in den sog. zivilrechtlichen Nebengebieten treten die Ansprüche im Vergleich zur Darstellung der funktionierenden Rechtseinrichtungen deutlich zurück, so bereits Medicus, AcP 174 (1974), 313, 318 f. 251
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
a. Großfelds Plädoyer In den letzten Jahrzehnten hat vor allem Großfeld immer wieder gegen das Denken in Anspruchsgrundlagen Stellung bezogen254. Im Zivilrecht sei in epigonenhafter Übersteigerung die sog. Anspruchsmethode herrschend, welche die Anspruchsgrundlagen als die strukturbildenden Elemente der Rechtsordnung erscheinen lasse, obwohl das Recht in erster Linie eine Ordnung des Miteinander, nicht des Gegeneinander sei; die Rechtsordnung zerfalle so vor den Augen ihrer Jünger zu einem Anspruchsarsenal, während sie doch in erster Linie Werte zur Gestaltung der Zukunft vermittle255. Die heutige Fixierung auf Anspruchsgrundlagen und das an ihnen orientierte Aufbauschema reduziere die Jurisprudenz auf modellhafte Ansätze, auf das Praktisch-Technische256: Die Anspruchsmethode verselbständige sich, werde zum Grundpfeiler des Rechtsverständnisses mit faktischer Ausschließlichkeit, zur Schablone, die einzwängt. Zu viel Abstraktes töte die Motivation des jungen Menschen und diskriminiere Studierende, die in einer stärker bildhaft geformten Welt leben257. Selbst wenn man annehme, dass die juristische Ausbildung auf die Falllösung im Prozess vorbereite, was Großfeld bezweifelt, müsse man sich das Lebensverhältnis bildhaft vorstellen und dann die Ansprüche darin einordnen; so ströme das Lebensverhältnis, ohne dessen Anschauung es nicht gehe, in die Auslegung hinein258. Die Zerlegung der Lebensverhältnisse erst in Zweierverhältnisse, dann scheibchenweise in Grundlagen des Anspruchs sei nicht allein seligmachend; auch die Methode des bildhaft-gesamtheitlich schauenden Juristen müsse ihr Recht behalten259. b. Ältere Kritik Grundsätzliche Kritik am zivilrechtlichen Anspruchsdenken gibt es schon seit langem. Früher sprach man vom sog. aktionenrechtlichen Denken260, das nach verbreiteter Auffassung falsche Schwerpunkte im Recht setzte. aa. Schon Savigny betrachtete das einzelne Recht bzw. die einzelne Befugnis, welche von manchen das Recht im subjektiven Sinne genannt werde, nur als eine besondere, durch Abstraktion ausgeschiedene Seite des Rechtsverhältnisses; »so daß selbst das Urtheil über das einzelne Recht nur insofern wahr und überzeugend seyn kann, als es von der Gesammtanschauung des Rechtsverhältnisses aus254 Großfeld, NJW 1985, 1577, 1578; ders., NJW 1989, 875, 877; ders., JZ 1992, 22, 25 und passim; kritisch zu dem »bis heute auf der Universität als alleinseligmachend angepriesene(n) Aufbauschema« nach Anspruchsgrundlagen bereits Grunsky, JuS 1972, 29, 30; eingehende Darstellung der Einwände des noch älteren Schrifttums mit zahlreichen Nachweisen bei Medicus, AcP 174 (1974), 313, 320 ff. 255 So Großfeld, NJW 1985, 1577, 1578. 256 Großfeld, JZ 1992, 22, 25. 257 Großfeld, JZ 1992, 22, 27. 258 Großfeld, JZ 1992, 22, 25. 259 Großfeld, JZ 1992, 22, 25. 260 Zu diesem Begriff Medicus, AcP 174 (1974), 313, 314 f.
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geht«261. Die lebendige Konstruktion des organischen, sich fortschreitend entwickelnden Rechtsverhältnisses in jedem gegebenen Fall sei »das geistige Element der juristischen Praxis, und unterscheidet ihren edlen Beruf von dem bloßen Mechanismus, den so viele Unkundige darin sehen«262. Auch im 20. Jahrhundert wurde verschiedentlich die zentrale Rolle der absoluten Rechte und der Rechts- und Schuldverhältnisse betont und dem Anspruch als Einzelbefugnis nur eine Hilfsfunktion zugewiesen263. So trennte etwa Ludwig Raiser zwischen den einzelnen Rechten und den ihnen zugrunde liegenden Strukturelementen der Rechtsordnung, welche durch die einer Person zugewiesenen selbständigen Rechtsstellungen und die mehrere Personen verbindenden Rechtsverhältnisse gebildet würden264: Absolute Rechte und Rechtsverhältnisse bezeichnete er als primäre Rechte; demgegenüber seien Ansprüche und Gestaltungsrechte bloß instrumentale, sekundäre Rechte, denen lediglich eine Hilfsfunktion zukomme. Es handle sich um Produkte einer Rechtstechnik, die sich im Laufe der Rechtsentwicklung verfeinert habe, um Werkzeuge, die dem Schutz und der Verwirklichung der primären Rechtsstellungen und Rechtsverhältnisse dienten, vorzugsweise im Verfahren vor den ordentlichen Gerichten. bb. In der nationalsozialistischen Zeit erklärte man dem aktionenrechtlichen Denken ausdrücklich den Kampf265, welcher vor dem Hintergrund der kritischen Betrachtung und Umdeutung des subjektiven Rechts266 zu sehen ist. Der Berliner Universitätsprofessor und bekennende Nationalsozialist267 Eckhardt klagte darüber, dass mit dem Anspruch die Berechtigung gegenüber der Pflicht zu stark betont werde und propagierte eine echte Pflichtenordnung des Rechts268. 261
v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 7. v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 8. 263 L. Raiser, JZ 1961, 465, 466; w. N. aus der Nachkriegszeit bei Medicus, AcP 174 (1974), 313, 321; aus neuerer Zeit R. Gmür, Rechtswirkungsdenken in der Privatrechtsgeschichte, 1981, der in seiner »Theorie und Geschichte der Denkformen des Entstehens und Erlöschens von subjektiven Rechten und anderen Rechtsgebilden« juristisches Denken zunächst einmal als Denken in am Schicksal von Rechtsgebilden ausgerichteten Rechtswirkungssätzen sieht, welches für das geltende Recht immer noch grundlegend, seit etwa 1900 in der Zivilrechtswissenschaft aber zunehmend durch das an sich nachrangige Anspruchsdenken ersetzt worden sei, s. a.a.O., S. 225 f. und passim; hierzu auch Schapp, JuS 1992, 537. 264 L. Raiser, JZ 1961, 465, 466. 265 Hierzu Medicus, AcP 174 (1974), 313, 322 ff., wo sich auch der Hinweis auf den damaligen Slogan »Kampf gegen das aktionenrechtliche Denken« findet. 266 Hierzu Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 339 ff.; s. auch Rüthers, Entartetes Recht, 2. Aufl. 1989, S. 42 ff. zum sog. Kitzeberger Lager, in dem – so Eckhardt, DRW I (1936), 3, 5 – die Frage behandelt wurde, ob in einer nationalsozialistischen Rechtsordnung noch Raum für den Begriff subjektiver Rechte bleibe. 267 Vgl. etwa Eckhardt, DRW I (1936), 3, 4: »Der sicherste Weg zu uns führt durch SA und SS«, und passim; zu Eckhardt etwa Rüthers, Entartetes Recht, 2. Aufl. 1989, S. 127. 268 Eckhardt, DRW I (1936), 7 ff., insb. 10, 11 und 14. – Diese »Pflichtenordnung« blieb freilich abstrakt und schemenhaft, weil sie vornehmlich mythisch und legendenhaft-idealisierend begründet wurde, vgl. etwa a.a.O., S. 11: »Dem germanischen Recht ist der Begriff des subjektiven Rechts völlig unbekannt. Der Germane steht in lebendigen Gemeinschaften. Aus ihnen erwächst seine Rechtsstellung; ihnen fühlt er sich verpflichtet. In Familie und Sippe, Stamm und Volk ist kein Raum für eigennützige Berechtigung«. Der Schluss des Beitrags von Eckhardt, der sich a.a.O. auf S. 15 findet, lautet auszugsweise: »Der »Durchbruch der sozialen Ehre« erobert 262
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Heinrich Lange bemängelte269: »Wer in Aktionen denkt, sieht den Streit, nicht den Frieden. Für ihn ist darum die Rechtsordnung Streitordnung, nicht Friedensordnung. Er übersieht, daß sich das Rechtsleben in aller Regel friedlich nach Gesetzen abspielt, die er nicht kennt und auch nicht kennenlernen will. … Für ihn setzt das Recht erst dort ein, wo für die Beteiligten das Unrecht beginnt. Seine Rechtsordnung ist damit Streitentscheidungsordnung … Für denjenigen, der in Aktionen denkt, löst sich so das Recht in ein Nützlichkeitssystem von einander überlagernden und kreuzenden Zwangsmitteln auf. … Recht und Sittlichkeit fallen völlig auseinander. … Die Pflicht gegenüber der Allgemeinheit ist für das bürgerliche Recht bedeutungslos, denn der Anspruch kann nur zwischen bestimmten, durch das Rechtsband verknüpften Personen bestehen«. Andere zeitgenössische Autoren kritisierten das Aktionendenken als »überholtes Trennungsdenken«, weil es Zweipersonenverhältnisse voraussetze und unfähig sei, Mehrpersonenbeziehungen zu erfassen270. c. Stürners Einschätzung Moderater als alle bislang genannten Autoren äußert sich Stürner. Das Denken in Anspruchs- und Einwendungsnormen, das die Prozesssituation simuliere und der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Juristen zugute komme, sei auch in Zukunft unverzichtbar271. Die gleichmäßige Dichte strenger Handwerklichkeit und vertieften BGB-Wissens, welche unsere gegenwärtige Ausbildungskultur kennzeichne, werde aber nicht zu halten sein; sie überfrachte die deutsche akademische Ausbildung auf Dauer mit falscher Last272. Der Konstruktivismus der Falllösungstechnik habe sich vielfach verselbständigt und oft weit vom lebendigen prozessualen Anspruch entfernt273. d. Würdigung der Kritik Will man die vorgebrachte Kritik an der sog. Anspruchsmethode angemessen würdigen, muss man zwischen Äußerungen trennen, die sich grundsätzlich gegen immer größere Anwendungsbereiche. So wird von der Bewegung her eine Erziehung des Volkes zu neuer Rechtsgesinnung energisch in Angriff genommen. Wir Rechtswahrer dürfen nicht abseits stehen, sondern gehören in diesem Kampf an die Front. Werfen wir die verstaubten Requisiten der Begriffsjurisprudenz zum alten Eisen! Gewöhnen wir uns endlich ab, die Verpflichtung des Schuldners aus der Vollstreckbarkeit des Anspruchs, die Verbindlichkeit der Rechtsordnung aus dem hinter ihr stehenden Zwange abzuleiten! Der Führer selbst ist uns auf diesem Wege vorangegangen. … Der Führer aber hat erklärt: Wir geben unser Wort, und unser Wort halten wir. Das ist deutsche Rechtsauffassung! … Treue zum Wort und zur Gemeinschaft, das sind die Pfeiler, auf denen sich der Neubau unseres Rechtes errichten läßt. Wortbruch und Gemeinschaftsverrat greifen an die Ehre. In leichten Fällen mag die Ehrenminderung durch erhöhten Einsatz für die Gemeinschaft gesühnt werden; in schweren führt sie zur Ehrlosigkeit und zur Ausstoßung aus dem Volk. So dachten unsere nordischen Ahnen. So wollen auch wir wieder denken!«. 269 H. Lange, Vom alten zum neuen Schuldrecht, 1934, S. 13 f. 270 Nachweise bei Medicus, AcP 174 (1974), 313, 324. 271 Stürner, JZ 1996, 741, 752. 272 Stürner, JZ 1996, 741, 752. 273 Stürner, JZ 1996, 741, 752.
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IX. Die Juristenausbildung
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das Anspruchsdenken richten und solchen, denen es um die Dominanz und bestimmte Aspekte dieser Ausbildungsform geht. aa. Die Gründe gegen das Anspruchsdenken als solches sind schon vor Jahrzehnten weitgehend widerlegt worden. Teils sind sie bereits im Streit um das subjektive Recht im Nationalsozialismus, teils dann von Medicus vor nunmehr 30 Jahren entkräftet worden. Zum Vorschlag, das Denken in subjektiven Rechten und Ansprüchen durch eine Pflichtenordnung zu ersetzen, hat Heck unter Hinweis auf die praktische, prozessuale Bedeutung des Aktionendenkens spitz angemerkt: Zurzeit würden noch die Gläubiger die Gerichte anrufen, damit über die Begründetheit ihrer Ansprüche entschieden werde. Die Systemrolle der subjektiven Rechte, die einen Katalog von Ansprüchen lieferten, werde erst überflüssig, »wenn nicht mehr die Gläubiger, sondern die Schuldner die Gerichte anrufen oder nicht mehr die Menschen nach den Gütern fragen, sondern die Güter sich ihre Herren suchen«274. Die absolute, totale Bindung an Gemeinschaftszwecke, die im Übrigen ähnlich auch im sozialistischen Zivilrecht vertreten wurde275, lässt sich in streitigen Zivilverfahren nicht realisieren. Das zeigen die für junge Rechtswahrer bestimmten Ausgaben des klassischen zivilrechtlichen Referendaranleitungsbuches besonders anschaulich. Die zentralen Ausführungen zur Aufgabe der Parteien im Zivilprozess blieben von den an anderer Stelle zu findenden (Lippen-)Bekenntnissen zur nationalsozialistischen Weltanschauung276 und von der auf Stammlers »Gemeinschaftsbindung der Gliedpersönlichkeiten« gestützten Unterordnung der Interessen des einzelnen gegenüber denen der Volksgesamtheit277 bemerkenswert unberührt278. Die Praxis der streitigen Zivilgerichtsbarkeit wird durch den Antrag des Klägers bestimmt, dessen Begehren dann zwangsläufig Ausgangspunkt der Betrachtungen sein muss279. Das bei H. Lange und Großfeld zu findende Argument, das Denken in Ansprüchen bzw. Aktionen betone den Streit bzw. das Gegeneinander und übersehe das friedliche Miteinander, überzeugt als grundsätzlicher Einwand gegen die Anspruchsmethode nicht. Auch wenn man der Ansicht ist, dass die Streitvermeidung im Zivilrecht zu kurz kommt, ist die Streitentscheidung doch niemals entbehrlich280. Im Übrigen setzen reelle Strategien zur Streitvermeidung in Rechtsfragen regelmäßig eine Entscheidungsprognose voraus. 274
Heck, Rechtserneuerung und juristische Methodenlehre, 1936, S. 38. Vgl. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 342. 276 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 15. Aufl. 1937, S. 44; ders., Bericht, Gutachten und Urteil, 18. Aufl. 1944, S. 35. 277 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 15. Aufl. 1937, S. 43 f.; ders., Bericht, Gutachten und Urteil, 18. Aufl. 1944, S. 35 f. 278 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 15. Aufl. 1937, S. 18 ff.; ders., Bericht, Gutachten und Urteil, 18. Aufl. 1944, S. 10 ff., mit gewissen Modifikationen am Anfang, die vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskussion über die Einführung der Inquisitionsmaxime gesehen werden müssen, vgl. insoweit Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 18. Aufl. 1944, S. 6 f. 279 Hierzu Medicus, AcP 174 (1974), 313, 322; Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 344. 280 Medicus, AcP 174 (1974), 313, 323. 275
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Schließlich trifft auch der Vorwurf, das Anspruchsdenken sei unfähig, Rechtsverhältnisse mit mehr als zwei Beteiligten zu erfassen, nicht zu. Dass solche Fälle281 oft besondere Schwierigkeiten bereiten, beruht nicht auf dem Anspruchsdenken, sondern auf der größeren Zahl der beteiligten Interessen282. Freilich muss man bei der Beurteilung von Mehrpersonenverhältnissen besonders darauf achten, die Verbindung zwischen den einzelnen Teilen nicht zu vernachlässigen283. Ein praktizierbares »ganzheitliches« Lösungsmodell ist aber bislang nicht einmal in Ansätzen erkennbar. Mehrpersonenverhältnisse kann man rechtlich meist nur bewerten, wenn man sie in Zweipersonenverhältnisse zerlegt, weil dies der bipolaren Struktur der fundamentalen bzw. primären Entscheidungsnormen entspricht, die als Anspruchsgrundlagen einen Anspruchsteller und einen Anspruchsgegner voraussetzen. Auch im Prozess müssen umfassendere Rechtsverhältnisse zur sachgerechten Beurteilung der Ansprüche in Zweipersonen- bzw. Zweiparteienbeziehungen aufgelöst werden. Das Zweipersonenverhältnis entspricht dem Prozessrechtsverhältnis284 zwischen Kläger und Beklagtem. Ein Trennen von Mehrpersonenverhältnissen in einzelne Zweipersonenbeziehungen ist allein dann ausnahmsweise nicht geboten, wenn die tatsächlichen Beiträge mehrerer Beteiligter zum Geschehen objektiv und subjektiv identisch sind oder die Personen von Rechts wegen eine Einheit bilden. Auch dann erfolgt die Prüfung von Ansprüchen der oder gegen die Personenmehrheit aber nach dem zwei Personen bzw. Parteien voraussetzenden Anspruchsschema. Die Gründe, mit denen die Anspruchsmethode als solche abgelehnt wird, sind mithin nicht stichhaltig. bb. Das heißt noch nicht, dass die heute praktizierte Form des Anspruchsdenkens und dessen Umfang unbedenklich wären. Der Vorwurf der falschen Akzentsetzung durch Vernachlässigung der Schuldverhältnisse und der absoluten Rechte, der sich von Savigny über L. Raiser und andere bis zu Großfeld zieht, träfe indes allenfalls zu, wenn das Anspruchsdenken die einzige zivilistische Lehrmethode wäre285. Das ist im Universitätsbetrieb jedoch nicht der Fall286. Kritisiert wird des Weiteren, dass das aktionenrechtliche Denken bzw. die Anspruchsmethode nur den Streit und nicht den Frieden sehe, das geordnete 281 Zu denken ist etwa an den Vertrag mit Schutzwirkungen für Dritte, die Drittschadensliquidation, das Verhältnis Produzent-Verkäufer-Käufer beim Sachmangelfolgeschaden, den finanzierten Abzahlungskauf oder den Bereicherungsausgleich im Mehrpersonenverhältnis, vgl. Medicus, AcP 174 (1974), 313, 324. 282 Medicus, AcP 174 (1974), 313, 325. 283 Vgl. auch Medicus, AcP 1974 (174), 313, 324 f. 284 Medicus, AcP 174 (1974), 313, 314. – Es ist allerdings umstritten, ob das Prozessrechtsverhältnis zwischen den Parteien, zwischen ihnen und dem Gericht oder nur zwischen dem Gericht und den Parteien besteht, vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl. 2004, § 2 Rn. 5 f. 285 In diesem Sinne bereits Medicus, AcP 174 (1974), 313, 322; demgegenüber wird die Zivilrechtswissenschaft vereinzelt tatsächlich allein als Lehre von der Entscheidung über Ansprüche verstanden, was für die ersten drei Bücher des Bürgerlichen Gesetzbuchs näher ausgeführt wird, s. Schapp, JuS 1992, 537, 538 ff. 286 Vorstehend 3.c.bb.
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IX. Die Juristenausbildung
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menschliche Miteinander nicht berücksichtige, nicht »bildhaft-gesamtheitlich« schaue, nur Teile der »bildhaft geformten Welt« erfasse und die Lebensverhältnisse zerlege287. Es ist richtig, dass der Blickwinkel durch das Anspruchsdenken, das sich um die Rechte, von einem anderen etwas zu verlangen (§ 194 Abs. 1 BGB) dreht, eingeschränkt wird. Dass zahlreiche Lebensumstände bei der rechtlichen Würdigung außen vor bleiben, ist aber unvermeidbar und gewollt. Juristen sollen eben nicht »ganzheitlich«, sondern aufgrund der Gesetzesbindung zunächst einmal nach rechtlichen Maßstäben urteilen. Die zu berücksichtigenden Lebensausschnitte ergeben sich aus dem Zusammenspiel von materiellen Entscheidungsnormen und prozessrechtlichen Vorgaben. Beim juristischen Entscheiden geht es nie um die »unendlich mannigfaltige Wirklichkeit« in ihrer »volle(n) Anschaulichkeit«288. Wenn man allerdings die heute existierenden, äußerst detaillierten Anspruchsschemata betrachtet289, ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass sich der Konstruktivismus der Falllösungstechnik nach der Anspruchsmethode vielfach verselbständigt hat290, dass die Methode zur Schablone geworden ist291. Schemata reduzieren Komplexität, indem sie eine vereinfachende, anschauliche Darstellung geben, ein grobes Gerüst, eine Übersicht liefern. Haben sich Schemata erst einmal durchgesetzt, tendieren sie292 zur weiteren Ausdifferenzierung und zu formaler, doktrinärer Erstarrung. Das Schema wird zum Katalog, die zugrunde liegende Materie tritt in den Hintergrund, die ausgefeilte Schablone übernimmt die Herrschaft293. Im Recht vermitteln detaillierte Schemata die Illusion, die »richtige« Rechtsfindung sei durch einen bloßen Abgleich von Sachverhalt und feiner Schablone möglich. Ausführliche, aus sich heraus handhabbare Schemata lösen die Rechtsfindung von ihren maßgeblichen Eckdaten. Sie lassen die entscheidenden Interessenbewertungen und den Prozess der sachverhaltsbezogenen Konkretisierung gesetzlicher und sonstiger rechtlicher Begriffe außer Acht. Wer einen Lebenssachverhalt in ein Schema presst, nimmt zudem keine Rücksicht auf dessen Eigenart und verkürzt ihn auf diejenigen tatsächlichen Angaben, die den in der Vorlage verarbeiteten rechtlichen Informationen entsprechen. Neue und komplexe Fallkonstellationen lassen sich so nur vordergründig »lösen«. »Vollständige« Anspruchsschemata fördern daher eine formale, gedankenlose, gesetzes- und sachverhaltsferne Entscheidungsfindung. Die Gesetzesferne einer so zustande gekommenen Entscheidung ist freilich auf den ersten Blick oft nicht erkennbar wegen des gesetzlichen Ausgangspunkts der Erörterungen; die 287
S. a. und b.bb. Hierzu bereits 2.f. 289 Vgl. beispielsweise Möllers, Juristische Arbeitstechnik und wissenschaftliches Arbeiten, 3. Aufl. 2005, S. 40 f. Repetitorskripten und die sie kopierenden Teile der »universitären« Ausbildungsliteratur enthalten teilweise noch weitaus ausführlichere Auflistungen von Prüfungspunkten. 290 Stürner, JZ 1996, 741, 752; ähnlich bereits Großfeld, JZ 1992, 22, 25: Anspruchsmethode verselbständigt sich. – Freilich war die Anspruchsmethode nicht selbst aktiv. Sie ist verselbständigt worden. 291 Großfeld, JZ 1992, 22, 25. 292 Genauer: ihre Hersteller. 293 Entsprechendes wurde bereits in § 2 für Topoikataloge festgestellt. 288
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Anspruchsmethode und ihre Schemata führen den Rechtsanwender im Zivilrecht zunächst sicher zu Anspruchsgrundlagen und sonstigen Entscheidungsnormen, die im Gesetz geregelt, anerkannt oder doch zumindest vorausgesetzt sind294. e. Zwischenergebnisse Es ergibt sich: Die Anspruchsmethode ist ein unverzichtbarer Teil der deutschen Zivilrechtsausbildung. Dass das Anspruchsdenken die Streitvermeidung und das friedliche Miteinander außen vor lässt, ist im hier interessierenden Zusammenhang bedeutungslos, weil verdeckte Rechtsfortbildungen nur in Entscheidungssituationen Verwendung finden. Die besondere Eignung der Anspruchsmethode, Entscheidungen vorzubereiten, ist offensichtlich. Das Denken in gesetzlichen oder zumindest gesetzlich abgefederten Anspruchsgrundlagen führt den Zivilrechtler und den Zivilrichter schnell zu den ihn bindenden Rechtsquellen Gesetz und Vertrag. Die Anspruchsmethode zielt zudem auf eine prozessförmige Gliederung des Stoffes, arbeitet also bereits im materiellen Recht dem Prozessrecht vor295. Das Wechselspiel von Anspruchs-, Einwendungs- und Repliknormen simuliert die Prozesssituation296. Wird im Zivilrecht eine Leistung begehrt, so helfen die Anspruchsmethode und die sie wiedergebenden Prüfungsübersichten also dabei, die entscheidenden Rechtsfragen zu finden. Sie leiten zu den Sachproblemen über. Lösen können sie diese aber nicht297. Vorlagen und Muster müssen im Hinblick auf die jeweiligen Rechtsfragen und Sachverhalte stets flexibel gehandhabt werden. Die im Gefolge der Anspruchsmethode entstandenen detaillierten Anspruchsschemata, Voraussetzungssammlungen und Aufbaukataloge vermitteln demgegenüber den unzutreffenden Eindruck, alle für die Fallbearbeitung erforderlichen Angaben in prüfungsgeeigneter Form bereit zu halten, so dass nichts Wesentliches übersehen werden kann und die Rechtsfindung fast zwangsläufig gelingen muss, sofern die Schemata bzw. die in ihnen enthaltenen Prüfungsversatzstücke nur ordnungsgemäß angewendet werden. Schemata werden so von bloßen Hilfsmitteln einer Methode, die nach den Interessenbewertungen der Parteien und des Gesetzgebers fragt, zu isoliert verwendeten und absolut verstandenen Lösungsinstrumenten. Damit sind schematische, interessen- und gesetzesferne Ergebnisse vorgezeichnet. Deshalb und wegen der Fixierung auf gesetzliche Anspruchsgrundlagen und Beurteilungsnormen begünstigen detaillierte Aufbauschemata verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts. Reduziert man das zivilrechtliche Anspruchsdenken auf das schlichte Vollziehen der detaillierten zivilrechtlichen Anspruchschemata, dann ist es also tatsächlich geeignet, zu verdeckten Rechtsfortbildungen zu führen. Dem Anspruchsdenken als solchem wird diese Betrachtungsweise freilich nicht gerecht.
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Hierzu bereits § 4 V.3.a.bb. Medicus, AcP 174 (1974), 313, 314 und 326; vgl. auch Schapp, JuS 1992, 537, 538 f., nach dem die Theorie des Anspruchs (auch) eine Einheit von materiellem Recht und Prozessrecht stiftet. 296 Stürner, JZ 1996, 741, 752. 297 Für das Denken in Anspruch und Einrede betont von Medicus, AcP 174 (1974), 313, 331. 295
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5. Die Relationstechnik Die Kritik an der juristischen Ausbildung richtet sich nicht allein gegen deren traditionelle Zweiteilung und die Ausgestaltung des Universitätsunterrichts. Sie wendet sich auch gegen die Schulung der Referendare, insbesondere in der sog. Relationstechnik298. Das Relationsschema, das auf dem aktionenrechtlichen Denken beruhe299, unterdrücke das Rechtsgefühl und verursache vorgeschobene, scheinbar gesetzesvollziehende Begründungen, indem es dazu zwinge, »so zu tun als ob«300. a. Frühe Kritik Anfang der fünfziger Jahre fand die traditionelle, mit den Namen Daubenspeck, Sattelmacher und Berg verbundene Form der Relationstechnik keine ungeteilte Zustimmung mehr, weil sie in der Referendarausbildung überschätzt werde und einseitig die schematische Methode und zu wenig das Rechtsgefühl schule301. b. Der sog. Relationsstreit In der ersten Hälfte der siebziger Jahre stritt man dann auf breiter Front und teilweise sehr emotional über »Wert und Unwert der Relationstechnik«302. Später sprach man vom sog. Relationsstreit303. Diese Kontroverse beschäftigt die Autoren der Referendarausbildungsliteratur und von Praktikeranleitungsbüchern immer noch nachhaltig304. 298 Diese hat in der Referendarausbildung der einzelnen Bundesländer seit jeher einen unterschiedlichen Stellenwert. Auch gibt es heute zunehmend Ausbildungsliteratur, die nicht die Relation, sondern das Urteil in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellt, etwa Knöringer, Die Assessorklausur im Zivilprozess, 11. Aufl. 2005; M. Huber, Das Zivilurteil, 2. Aufl. 2003. Es scheint sich ein Bedeutungsverlust – vielleicht aber auch nur ein Imageproblem – der traditionellen Relationsliteratur abzuzeichnen, was sich selbst in Buchtiteln andeutet, vgl. etwa Siegburg, Einführung in die Urteils- und Relationstechnik, 4. Aufl. 1989; ders., Einführung in die Urteilstechnik, 5. Aufl. 2003. Trotzdem ist es heute noch unbestritten, dass nur derjenige eine prozessordnungsgemäße Entscheidung treffen kann, der die Grundzüge der Relationstechnik beherrscht, vgl. etwa die Kurzdarstellung zur Relationstechnik bei Knöringer, Die Assessorklausur im Zivilprozess, 11. Aufl. 2005, S. 350 ff. Insgesamt ist die traditionelle Relationsliteratur auch im zivilrechtlichen Ausbildungsschrifttum für Referendare in der Sache immer noch vorherrschend. 299 J. Schmidt, JuS 1974, 441, 444; s. auch Schapp, JuS 1992, 537, 539, wo es heißt, die Lehre vom Anspruch erhalte ihre letzte Verfeinerung in methodischer Hinsicht in der Referendarausbildung bei der Befassung mit der Relationstechnik. 300 J. Schmidt, JuS 1974, 441, 443; Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 20. 301 Vgl. Arbeitskreis für Fragen der Juristenausbildung e. V., Die Ausbildung der deutschen Juristen, 1960, S. 192, mit zahlreichen Nachweisen aus den Jahren 1951 und 1952. 302 So lautet der Titel des Aufsatzes von Grunsky, JuS 1972, 29 ff., 137 ff. 303 Vgl. etwa Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 15; Lashöfer, Zum Stilwandel in richterlichen Entscheidungen, 1992, S. 90. 304 Vgl. beispielsweise Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 46 ff.; Anders/Gehle, Das Assessorexamen im Zivilrecht, 8. Aufl. 2005, Rn. 2; Sattelmacher/ Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 1 ff.; aus wissenschaftlicher Perspektive zum sog. Relationsstreit Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 13 ff.
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aa. Grundsätzliche Bedenken gegen die Relationstechnik machte 1970 der Richter Rasehorn geltend. Die Relationstechnik, die aus der Blütezeit des Obrigkeitsstaates stamme305, besitze einen ausgesprochen undemokratischen Erziehungswert und diene der Einübung in autoritäre Strukturen, der »Erziehung zum Establishment«306: Wie das Exerzierreglement den Rekruten anpassen solle, damit er unter Ausschaltung des individuell Persönlichen ein Teilchen der Militärmaschine werde, so solle die Relationstechnik dem Referendar einbläuen, dass es in der Justiz darauf ankomme, Sachverhalte mit Hilfe der technischen Vernunft nach vorgegebenen Maßstäben zu erfassen. In den Relationen, besonders im Gutachtenteil, erscheine der Richter als derjenige, der nur abzuleiten habe, als Subsumtionsmaschine, welche die gesetzlichen Machtsprüche durchzusetzen und nicht kritisch nach ihrem Gerechtigkeitswert zu fragen habe307. bb. Grunsky unterzog die Relationstechnik einer eingehenden Detailkritik308, sprach von inhaltsleeren Technizismen, einem recht widerstandsfähigen Ableger der Begriffsjurisprudenz309 sowie von dogmatischer Ersatzbefriedigung310 und löste damit eine Flut von Stellungnahmen aus311. Als Kernpunkte der Relationstechnik bezeichnete er die Unterscheidung in Gutachten und Urteil mit ihren grundverschiedenen Stilen, die Trennung des Sachverhalts von den Rechtsgründen und den Aufbau des Tatbestandes312. Die von den Relationstechnikern aufgestellten Vorschriften für den Aufbau von Gutachten und Urteilen ließen sich nicht aus dem Gesetz begründen313, seien in der Sache nicht zwingend geboten314, würden in der Praxis zumindest von den höheren Gerichten nicht sonderlich ernst genommen315 und könnten, so lautet sein Ergebnis, als absolute Gebote nicht gerechtfertigt werden316. Nebenbei bemängelte Grunsky noch einige »offenkundige Randschwächen« der Relationstechnik, und zwar ihre grammatikalischen Regeln, das Überbewerten nebensächlicher Aufbaufragen sowie die unumstößliche Anordnung, vor einer Beweiserhebung stets die Schlüssigkeit abschließend zu beurteilen317.
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So unter Berufung auf Rasehorn J. Schmidt, JuS 1974, 441, 442. Rasehorn, NJW 1970, 1166, 1167; ebenso J. Schmidt, JuS 1974, 441, 443: »ausgeprägt undemokratischer Erziehungswert« der Gutachtensform; eingehend widersprochen hat den Ausführungen Rasehorns K. Müller, NJW 1970, 1450, 1451. 307 Rasehorn, NJW 1970, 1166, 1167. 308 Grunsky, JuS 1972, 29 ff. und 137 ff. 309 Grunsky, JuS 1972, 29, 30. 310 Grunsky, JuS 1972, 137, 141. 311 Vgl. etwa – in grober zeitlicher Reihenfolge – Steines, JuS 1972, 520 ff.; H. Arndt, JuS 1972, 522 f.; Berg, JuS 1972, 523 f; Grunsky, JuS 1972, 524 ff.; E. Schneider, MDR 1973, 100 ff.; C. Seibert, NJW 1973, 607; K. W. Müller, JuS 1974, 313 ff.; J. Schmidt, JuS 1974, 441 ff.; Martens, JuS 1974, 785; Berg, JA 1975, ZR S. 49 ff. 312 Grunsky, JuS 1972, 29, 30 f. 313 Hierzu Grunsky, JuS 1972, 29, 33 ff. 314 Grunsky, JuS 1972, 137 ff. 315 Grunsky, JuS 1972, 137, 139 f. 316 Grunsky, JuS 1972, 137, 141. 317 Grunsky, JuS 1972, 29, 31 ff. 306
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IX. Die Juristenausbildung
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cc. Die Verteidiger der Relationstechnik stellten die Methode des zivilprozessualen Gutachtens als eine Summe notwendiger Schlussfolgerungen aus dem Recht der ZPO dar318, mokierten sich über die Praxisferne von Professoren, die nur einige wenige selbst gebildete Fälle im Semester bearbeiten müssten 319, betonten den hohen erzieherischen Wert der zu verwendenden unterschiedlichen Termini bzw. Zeitformen320 und bemerkten zu einem von Grunsky gebildeten Tatbestandsbeispiel, es zeige erschreckend, welche Konfusion ein Jurist anrichte, wenn man ihn ungeschult lasse 321. Die Kritik an der Relationstechnik sei, so hieß es, wohl nur aus einer grundsätzlichen Antipathie der jüngeren Generation gegen überlieferte Regeln zu erklären 322. Den umfangreichsten Versuch zur Ehrenrettung der Relationstechnik unternahm Egon Schneider in einem – vorsichtig ausgedrückt – ungewöhnlich personalen323, durchgängig von Angriffen auf den Kritiker durchzogenen Beitrag. Die Fülle unrichtiger Voraussetzungen in Grunskys Aufsatz sei so groß, dass nur die vordergründigsten Fehlargumente erwähnt werden sollten324. Schneider listete sieben »falsche Voraussetzungen« auf, die er als indiskutabel, unwahr und damit wertlos, falsch, irrig, unbrauchbar und vollends niveaulos einstufte. Anschließend bemühte sich Schneider, die Relationstechnik wissenschaftstheoretisch325 und pragmatisch zu legitimieren. Nach einem Universitätsstudium mit, im Ganzen gesehen, unzulänglicher Schulung biete die Relationstechnik die einzige Chance im Vorbereitungsdienst, die auf die Gerichte anstürmenden Mittelmäßigen an methodische Fallbearbeitung heranzuführen (»fachliche Denkzucht«)326. Schneiders Ausführungen gipfelten in persönlichen Attacken, wie man sie in dieser Form im juristischen Meinungskampf nur selten liest327. 318 So Steines, JuS 1972, 520 f.: Bei der Gutachtensmethodik gehe es überwiegend um die Frage richtig oder unrichtig. Demgegenüber gehe es bei den Anleitungen für die Abfassung des Zivilurteils überwiegend um die Frage zweckmäßig oder unzweckmäßig; ähnlich bereits Collasius, DRiZ 1971, 73 ff., der zwischen einem unerlässlichen (gedanklichen) arbeitsmethodischen Teil der Relationstechnik und teilweise entbehrlichen Kunst- und Stilregeln für die schriftliche Darstellung unterschied. Zusammenfassend rechtfertigt die Relationstechnik aus zivilprozessualen Grundprinzipien, prozessökonomischen Gesichtspunkten und den Gesetzen der Logik etwa Berg, Gutachten und Urteil, 10. Aufl. 1977, S. 10. 319 H. Arndt, JuS 1972, 522, 523. 320 Berg, JuS 1972, 523, 524. 321 Berg, JuS 1972, 523, 524. 322 Berg, Gutachten und Urteil, 1977, 10. Aufl., S. 10. 323 Hierzu auch J. Schmidt, JuS 1974, 441; Weyers, in: Dogmatik und Methode, FS Esser, 1975, S. 193, 199. 324 E. Schneider, MDR 1973, 100. 325 Vgl. E. Schneider, MDR 1973, 100, 101 f.; hiergegen treffend J. Schmidt, JuS 1974, 441, 443; K. W. Müller, JuS 1974, 313, 314. 326 E. Schneider, MDR 1973, 100, 101. 327 E. Schneider, MDR 1973, 100, 104: »Ich habe die Erfahrung gemacht, daß Juristen, denen die Prüfungsrelation mißlungen ist, fortan nur noch bitterböse Worte für die Relationstechnik finden. … und ich habe den Verdacht, daß Grunskys Feder unter dem Diktat einer nicht verarbeiteten Frustration gestanden hat. … Seine Entdeckungsreise ging in ein bekanntes Land ... . Es gibt Wahrheiten, durch deren Entdeckung man beweisen kann, daß man keinen Geist hat.« – Vgl. aus der Vielzahl auffallender Formulierungen beispielsweise noch a.a.O., S. 101: »Diese These ist schlicht falsch und hört sich aus dem Munde eines Hochschullehrers erschreckend an«; a.a.O., S. 102: »Man kann das in jeder deutschen Grammatik nachlesen. Offenbar gehört aber deren Beherrschung nicht zum Repertoire eines deutschen Hochschullehrers«.
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
dd. Aus heutiger Sicht handelte es sich bei dem sog. Relationsstreit um eine übertriebene »Grundsatzdebatte«, welche diesen Titel freilich nur zum Teil verdiente, weil sie sich vornehmlich um Randfragen328 der Urteilsvorbereitung und -abfassung drehte. Grundsätzliche Aspekte der Relationstechnik sind, wenn man von der geschilderten Fundamentalkritik Rasehorns absieht, erst gegen Ende des Relationsstreits in zwei Aufsätzen thematisiert worden. (1) Joachim Schmidt bemängelte, die Relationsmethode beruhe auf einer formalen Prozessauffassung, die nicht mehr die unsere sei329. Im ausgehenden 19. Jahrhundert habe die Beweislast wegen der Einrichtung des zugeschobenen Parteieides in der Tat das Rückgrat des vom Prinzip der formellen Wahrheit beherrschten liberal-individualistischen Zivilprozesses gebildet330. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts befinde sich die Idee vom Prozess als Zweikampf im gesamten kontinental-europäischen Zivilprozess im Niedergang. In Deutschland habe sich diese Tendenz am deutlichsten manifestiert in der Novelle von 1933, die den durch eine »Meineidseuche« kompromittierten Parteieid nach jahrzehntelangen Diskussionen durch die Parteivernehmung ablöste und die Wahrheitspflicht der Parteien einführte331. Die freie Würdigung der Beweiskraft von Parteiaussagen habe die Lehre von der subjektiven Beweislast nach zeitgenössischen Äußerungen »in die Luft gesprengt«332. Die mit der Wahrheitspflicht der Parteien korrespondierende Prüfungsaufgabe des Richters schwäche, unterstützt durch den stufenweisen Ausbau des richterlichen Fragerechts und die Befugnis zur amtswegigen Beweiserhebung, die Verhandlungsmaxime ab und reduziere die Bedeutung von Behauptungs- und (subjektiver) Beweislast333. Das Relationsschema sei von diesen Entwicklungen völlig unberührt geblieben; es biete ein Zerrbild des heutigen Zivilprozesses334. (2) Martens forderte zunächst, die Relationstechnik an die richterliche Arbeitsweise anzupassen335: Der Richter habe nach § 139 ZPO Hilfestellungen bei der Präzisierung des Klagebegehrens zu geben, was er nur könne, wenn er den Fall vorher methodisch durchdacht habe. Die derzeitige Relationstechnik mit ihrer Schlüssigkeitsprüfung spiegle die richterliche Arbeitsweise in diesem Punkt nur unzureichend wieder. In zeitlicher Hinsicht stelle die Lehre vom Gutachten auf die Arbeitsweise des Richters nach Schluss der mündlichen Verhandlung ab336 und lege dabei in aller Regel den in der Klageschrift gestellten Antrag unbesehen zugrunde. In der Praxis müsse der Richter die Klageschrift schon möglichst bald nach Eingang auf die sachgemäße Bezeichnung des Klagebegehrens überprüfen‚
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In diesem Sinne bereits Martens, JuS 1974, 785. J. Schmidt, JuS 1974, 441, 443, der Grunskys unter bb. dargestellte Bewertung der Relationstechnik dahingehend präzisierte, dass sie auf einer Prozessauffassung beruhe, die aus der Zeit der Begriffsjurisprudenz stamme. 330 J. Schmidt, JuS 1974, 441, 445. 331 J. Schmidt, JuS 1974, 441, 445. 332 J. Schmidt, JuS 1974, 441, 445, unter Berufung auf Bähr und Wach. 333 J. Schmidt, JuS 1974, 441, 445. 334 J. Schmidt, JuS 1974, 441, 445. 335 Martens, JuS 1974, 785, 786 f. 336 Martens, JuS 1974, 785, 786 m.w.N. 329
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IX. Die Juristenausbildung
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um möglichst frühzeitig Hinweise geben zu können337. Es sei nicht ausgeschlossen, dass die bisherige Ausrichtung der Schlüssigkeitsprüfung auf die (abschließende) Gerichtsentscheidung auch Auswirkungen auf die richterliche Praxis habe. Wer als Referendar diesen Bereich der Relationstechnik unter einer solchen Schwerpunktverschiebung erlernt habe, werde später als Richter geneigt sein, die Notwendigkeit einer Hilfestellung für die Parteien zu unterschätzen338. Die eigentliche Krux der Relationstechnik sei jedoch das System der Sachverhaltsermittlung339. Sie beruhe auf dem Beibringungsgrundsatz in Reinform, trenne streng zwischen dem Vorbringen des Klägers und des Beklagten und operiere mit einem möglichst starren Schema der Verteilung der Behauptungslast, in welchem der wahrheitsgemäße und vollständige Vortrag als überflüssig empfunden werde340. Damit trage die Relationstechnik dazu bei, die meist nur allgemein formulierten Thesen der Lehre über den Beibringungsgrundsatz in einer Weise zu präzisieren, die zu einer Vervollständigung und Verfestigung dieses Prinzips führe341. Der Beibringungs- oder Verhandlungsgrundsatz sei dem geschriebenen Recht der Zivilprozessordnung indes als reine Maxime nicht zu entnehmen und werde durch die Wahrheitspflicht der Parteien nach § 138 Abs. 1 ZPO, richterliche Hinweispflichten und die Möglichkeit, von Amts wegen Beweis zu erheben, eingeschränkt342. Eine Polemik gegen die Relationstechnik bringe wenig Gewinn, wenn man sich nicht auf die Ursache besinne, nämlich den Beibringungsgrundsatz in der heute üblichen Form343. (3) Die beiden Aufsätze fanden in dem vornehmlich um Stilfragen und Formalien geführten Relationsstreit nur eine geringe Resonanz. Die bereits abebbende Auseinandersetzung haben sie nicht mehr geprägt. Berg hat die erhobenen Einwände unter Berufung auf den Beibringungsgrundsatz kurz »weggefegt«344: Die in § 138 Abs. 1 ZPO statuierte (subjektive) Wahrheitspflicht sei nur ein speziell geregelter Fall eines allgemeinen prozessualen Arglistverbots. Die Aufklärungspflicht nach § 139 ZPO gestatte dem Richter nicht, »auf völlig neue Anträge, Ansprüche und Einwendungen hinzuwirken«. Die Grenze der Aufklärungspflicht und der amtswegigen Beweiserhebung sei der Beibringungsgrundsatz. Die durch die ZPO-Novellen verstärkte Mitwirkung des Gerichts diene also lediglich dazu, gewisse Auswüchse des nach wie vor geltenden Beibringungsgrundsatzes zu beseitigen, habe aber an dem Grundsatz selbst nichts geändert.
337 Martens, JuS 1974, 785, 787. – Die Verpflichtung, gebotene richterliche Hinweise so früh wie möglich zu erteilen, ist mittlerweile in § 139 Abs. 4 S. 1 ZPO ausdrücklich vorgeschrieben. 338 Martens, JuS 1974, 785, 787. 339 Martens, JuS 1974, 785, 787. 340 Martens, JuS 1974, 785, 790 f., mit einem bemerkenswerten Zitat von H. Arndt: »Die Parteien tragen bisweilen mehr vor, als sie für die Schlüssigkeit vortragen müssen. Sie verkennen oft die Rechtslage oder entsprechen ihrer Wahrheitspflicht und tragen von vornherein alles vor. Auch dieser überflüssige Vortrag ist bei der Schlüssigkeit mit zu berücksichtigen«. 341 Martens, JuS 1974, 785, 791. 342 Martens, JuS 1974, 785, 787 ff. 343 Martens, JuS 1974, 785, 792. 344 Berg, JA 1975, ZR S. 49, 50.
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ee. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre gingen die Verteidiger der Relationstechnik davon aus, dass die untauglichen Angriffe auf deren Grundfesten endgültig abgewehrt seien345. Der Wert der Relationstechnik stehe heute wohl wieder außer Zweifel346. Die erhobenen Vorwürfe seien unbegründet347. Auch Kritiker sahen die wiedererstarkte Relationstechnik erneut im Aufwind348: »Schon wird das Glasperlenspiel wieder geübt«. Auf spätere, Anfang der achtziger Jahre gemachte konkrete Vorschläge zur Reform der Relationstechnik349 wurde im herkömmlichen Relationsschrifttum – anders als im sog. Relationsstreit – nicht einmal mehr erwidert. c. Der Begriff »Relationstechnik« Außer zeitgeistbedingten Übersteigerungen fällt bei den geschilderten Äußerungen zunächst auf, dass nicht einmal über den behandelten Gegenstand Einigkeit besteht. Der Begriff Relationstechnik, der sich in den beiden bekanntesten deutschen Rechtswörterbüchern nicht findet350, bezeichnet bei den hier genannten Autoren wie allgemein im Fachsprachgebrauch durchaus unterschiedliche Aspekte der traditionellen Referendarausbildung. Das Spektrum reicht von Stilfragen bei der Vorbereitung und Abfassung des Urteils über die Stoffsammlung in tabellarischer Gegenüberstellung351 und die Schlüssigkeits- und Erheblichkeitsprüfung bzw. die Methode der praktischen richterlichen Sachprüfung352, letztere häufig weiter aufgegliedert in Verfahrens-, Kläger-, Beklagtenund Beweisstation, sowie über die Lehre von Gutachten und Urteil353 bis hin zur gesamten Arbeitsmethode des Zivilrichters354 oder gar des praktisch tätigen Zivilrechtlers355. Traditionell besteht eine Relation – nach heutigen Erläuterungen – aus (Sach-) Bericht, Gutachten und Entscheidungsvorschlag oder Entscheidungsent345
Hierzu auch Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 16. So G. Otto, NJW 1975, 2256; vgl. auch Berg, JA 1975, ZR S. 49, 52. 347 Statt vieler Berg, Bericht und Urteil, 10. Aufl. 1977, S. 10. 348 Rasehorn, ZRP 1978, 1 und 3. 349 So ist insbesondere gefordert worden, das Relationsschema um eine Normtatbestands-, Aufklärungs- und Vergleichsstation zu ergänzen, s. E. Schmidt, RuP 1980, 106 ff.; ders., in: Alternativkommentar zur Zivilprozessordnung, 1987, Einl. Rn. 113 ff. m.w.N. Außerdem haben Hartwieg und H. A. Hesse versucht, dem Rechtsgefühl einen eigenen und wichtigen Platz im Arbeitsmodell der Relation zu schaffen, s. Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981. 350 Das Stichwort ist weder enthalten in Creifelds/Weber (Hrsg.), Rechtswörterbuch, 18. Aufl. 2004, noch in Tilch/Arloth (Hrsg.), Deutsches Rechts-Lexikon, Band 3, 3. Aufl. 2001. 351 J. Schmidt, JuS 1974, 441, 444. 352 Alpmann Brockhaus, Fachlexikon Recht, 2. Aufl. 2005, Stichwort »Relationstechnik«, mit der gebräuchlichen Unterscheidung zwischen Kläger-, Beklagten- und Beweisstation. 353 Sattelmacher/Sirp, Bericht, Gutachten und Urteil, 29. Aufl. 1983, S. 46. 354 Ausdrücklich gleichgesetzt werden Relationstechnik und Arbeitsmethode des Zivilrichters etwa von Collasius, DRiZ 1971, 73, 75; Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, S. VI, VII und Rn. 13. 355 Schuschke bezeichnet die Relation als die ziviljuristische Arbeitstechnik des Richters und des Rechtsanwalts, s. Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 1. Andere beziehen ausdrücklich noch Juristen in Wirtschaftsunternehmen ein, s. Anders/Gehle, Das Assessorexamen im Zivilrecht, 8. Aufl. 2005, Rn. 2. 346
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IX. Die Juristenausbildung
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wurf356. Da die Rechtsanwendung an der Universität erlernt und deshalb357 in den Anleitungsbüchern für (angehende) Praktiker nicht behandelt wird358, besteht die Technik der Relation aus Regeln für den Aufbau und die Abfassung der einzelnen Relationsteile. Sieht man von den zahlreichen Formalien wie der strikten Trennung von Gutachtensstil und Urteilsstil sowie weiteren Sprachvorschriften ab359, so geht es bei der Relationstechnik vor allem um die Arbeit am Sachverhalt mit dem Sachbericht und um das rechtliche Gutachten mit der doppelten Schlüssigkeitsprüfung360. Der Schwerpunkt der Relationsbücher liegt dabei seit langem361 und heute ganz eindeutig362 beim Gutachten363. Die Relationsmethode beruhe, so heißt es, auf dem Grundprinzip, dass bei zwei verschiedenen Sachverhalten grundsätzlich auch zwei Rechtsgutachten zu erstellen sind364.
356 Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 46; Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 1. 357 Ausdrücklich betont etwa bei Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, S. VI und Rn. 2. 358 Vgl. hierzu bereits oben I.3. und 5.b. sowie Anders/Gehle, Das Assessorexamen im Zivilrecht, 8. Aufl. 2005; Furtner, Das Urteil im Zivilprozess, 5. Aufl. 1985; U. Gottwald, Das Zivilurteil, 1999; M. Huber, Das Zivilurteil, 2. Aufl. 2003; Knöringer, Die Assessorklausur im Zivilprozess, 11. Aufl. 2005; Nordhues/Trinczek, Technik der Rechtsfindung, 6. Aufl. 1994; Siegburg, Einführung in die Urteilstechnik, 5. Aufl. 2003; W. Zimmermann, Klage, Gutachten und Urteil, 18. Aufl. 2003. Einen Überblick über »die allgemeinen Regeln der Rechtsfindung« gibt lediglich Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 137 ff. 359 Die Frage, ob die Regeln für die Abfassung der Urteile ein Grund für verdeckte Rechtsfortbildungen sind, wird nicht hier, sondern als eigenständiger Aspekt »Urteilsbegründungsstil« sogleich unter f. behandelt. 360 Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 13; erkennbar auch bei Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 3 f., wo zunächst die Feststellung des zugrunde zu legenden Sachverhalts als Schwerpunkt der praktischen Arbeit eingestuft und später die Lehren über den Aufbau eines zivilprozessual-zivilrechtlichen Gutachtens als die eigentliche Relationstechnik bezeichnet werden. – Inwieweit diese aktuellen Charakterisierungen der Relationstechnik als Methode der Sachverhaltsarbeit und zweigeteilter gutachterlicher Entscheidungsvorbereitung, die sich als Rückbesinnung auf das traditionelle Arbeitsmodell der Relation klassifizieren lassen, ihrerseits durch die im sog. Relationsstreit erhobenen Einwände bedingt sind, kann und muss hier nicht geklärt werden. Erwähnenswert ist, dass Schellhammer in seinem relativ »jungen« Anleitungsbuch seit jeher ausdrücklich vor einer Dogmatisierung der Relationstechnik warnt, etwa im Vorwort zur ersten Auflage aus dem Jahr 1975, abgedruckt bei Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 2. Aufl. 1977, S. VIII. 361 Ursprünglich war der Abschnitt über das Referat (Bericht) im traditionellen Anleitungsbuch sogar etwas umfangreicher als der über das Votum (Gutachten), s. Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. VII f.; ders., Referat, Votum und Urtheil, 5. Aufl. 1894, S. VII f.; anders dann etwa Daubenspeck, Referat, Votum und Urteil, 11. Aufl. 1911, S. V f. Mit der Übernahme der Bearbeitung durch Sattelmacher bekam der Abschnitt über das Gutachten dann ein deutlich höheres Gewicht, s. Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 13. Aufl. 1930, S. X f. und S. 6, wo sich der Hinweis findet, dass der Bericht in der großen Staatsprüfung in Preußen 1913 als Prüfungsleistung fortgefallen war. 362 Vgl. Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, S. VII ff., wo 77 Seiten auf den Bericht und 217 Seiten auf das Gutachten entfallen; vgl. auch Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, S. IX f. 363 Die Abschnitte über das Urteil gewinnen in der Ausbildungsliteratur gleichfalls immer mehr an Gewicht. Die Regeln über das Abfassen der Urteilsentwürfe werden indes traditionell nicht zur Relationstechnik gerechnet. 364 So Anders/Gehle, Das Assessorexamen im Zivilrecht, 8. Aufl. 2005, Rn. 3.
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
Schon frühzeitig ist auch in der Praktikerliteratur zwischen zwei Teilen – besser Formen – der Relationstechnik unterschieden worden, und zwar zwischen der für jede richterliche Entscheidung und jeden Entscheidungsvorschlag unverzichtbaren (gedanklichen) Arbeit am Fall365 sowie der Reinschrift der Relation, mit der nur der Referendar etwas zu tun habe366, nach bestimmten strengen, teilweise entbehrlichen Kunst- und Stilregeln für die schriftliche Darstellung367. d. Rechtswissenschaftliche Stellungnahmen Die akademische Methodenlehre und die Zivilprozessrechtswissenschaft beschäftigen sich nicht mit den »technischen« Fragen der richterlichen Sachverhaltsbildung368. Den Urteilsstil behandeln sie allenfalls am Rande. Die eigentliche Relationstechnik wird in der universitären Rechtswissenschaft kaum thematisiert369. aa. Weyers definiert sie als »die fast ausschließlich von Praktikern entwickelte und gelehrte, normativ verstandene Kunst des Umgangs mit Informationsmaterial im Zivilprozeß, nicht weniger aber auch der Darstellung von Streitstand und Entscheidungsmotiven«370. Die Relationstechnik sei nicht einfach zu bewerten: In der Ausbildungs- und Berufspraxis finde sich eine erhebliche Variationsbreite zwischen souveräner, flexibel und bewusst auf die Prozessziele ausgerichteter Kunst rationeller Entscheidungsfindung, durchsichtig-folgerichtig-überzeugender Entscheidungsdarstellung einerseits und sturem Befolgen überkommener, eingepaukter Aufbauschemata und beckmesserndem Herumkritteln an Terminologie andererseits371. Weyers vermutet, dass der konkrete Inhalt der Relationstechnik stark durch das Fortwirken von Kategorien des gemeinen Prozesses beeinflusst sei372: In ihrer heute gegebenen Form könnte sie auf gemeinprozessualen Vorbildern und einer Vorstellung vom Richterverhalten beruhen, die dem heutigen gesetzlichen Zustand nicht mehr entspreche. bb. Konkreter äußert sich Brehm. Er verweist auf das System der Beweistrennung, welches der gemeine Prozess vom sächsischen Prozess übernommen hatte373. Die ZPO habe dieses System zwar aufgegeben, aber den methodischen Ansatz, der dem Arbeitsstil der Juristen entsprach, beibehalten. Die Trennung zwischen Behauptung 365
Collasius, DRiZ 1971, 73, 74 und 75. Collasius, DRiZ 1971, 73, 74. 367 Collasius, DRiZ 1971, 73. 368 Hierzu bereits § 1 I.3.; § 6 V.1.; vorstehend 3.c.cc.; statt vieler Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 59: »Die Arbeit am Sachverhalt ist noch unerforscht«. 369 Weyers, in: Dogmatik und Methode, FS Esser, 1975, S. 193, 197 und 199; weitergehend E. Schneider, MDR 1973, 100, 101: »ignoriert«. 370 Weyers, in: Dogmatik und Methode, FS Esser, 1975, S. 193, 197. 371 Weyers, in: Dogmatik und Methode, FS Esser, 1975, S. 193, 198. 372 Weyers, in: Dogmatik und Methode, FS Esser, 1975, S. 193, 198 und 219 Fn. 28. 373 Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag und Grenzen freier Verhandlungswürdigung, 1982, S. 65; Überblick zu Beweistrennung und –interlokut im sächsischen und im gemeinen Prozess bei Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl. 2004, § 4 Rn. 22 ff.; Hellwig, System des Deutschen Zivilprozessrechts, Erster Teil, 1912, S. 16 m.w.N. aus der Literatur des 19. Jahrhunderts. 366
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und Beweis liege auch dem Arbeitsprogramm der traditionellen Relationstechnik zugrunde374: Zunächst sei das Vorbringen beider Parteien auf seine Schlüssigkeit hin zu überprüfen. Anschließend werde festgestellt, welche entscheidungserheblichen Tatsachen bestritten sind. Diese Arbeitsmethode setze voraus, dass die Parteien schon vor der Beweisaufnahme hinreichend substantiiert vortragen. Durch eine extensive Interpretation und Handhabung der in den §§ 138, 139, 141 und 273 ZPO normierten richterlicher Befugnisse habe der Substantiierungsgrundsatz indes an Bedeutung verloren375. Die durch eine umfassende richterliche Aufklärung des Sachverhalts gekennzeichnete Abkehr vom passiven Richterbild gehe meist mit einer bestimmten Prozesspolitik einher376. Der Richter entfalte seine Aufklärungstätigkeit erst in der mündlichen Verhandlung, in der durch Anhörung der Parteien der maßgebende Streitstoff erarbeitet werde, über welchen dann durch Vernehmung der vorsorglich geladenen Zeugen Beweis erhoben werden könne377. Eine sorgfältige Schlüssigkeits- und Erheblichkeitsprüfung anhand der vorbereitenden Schriftsätze unterbleibe, weil der Richter nicht davon ausgehen könne, dass das Ergebnis seiner Ermittlungen in der mündlichen Verhandlung mit dem Inhalt der Schriftsätze identisch ist378. Auf diese Art der Prozessführung sei die hergebrachte Relationstechnik, die eher an einem schriftlichen Verfahren orientiert gewesen sei, nicht zugeschnitten379. Eine ordentliche Schlüssigkeitsprüfung mit Hilfe der einschlägigen Rechtsprechung und Literatur sei kaum möglich, wenn die wesentlichen Behauptungen erstmals in der mündlichen Verhandlung aufgestellt werden und das Gericht sofort entscheiden muss, ob ein geladener Zeuge zu vernehmen ist. Da liege es nahe, auch keine strenge Erheblichkeitsprüfung durchzuführen und die Beweisaufnahme auf Punkte zu erstrecken, auf die es vielleicht bei genauer rechtlicher Prüfung später gar nicht ankommen werde380. cc. Hartwieg und H. A. Hesse haben – soweit ersichtlich – die einzige zugleich monographische und im engeren Sinne rechtswissenschaftliche Untersuchung
374 Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag und Grenzen freier Verhandlungswürdigung, 1982, S. 66. 375 Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag und Grenzen freier Verhandlungswürdigung, 1982, S. 69 ff., mit einem Überblick zu den gesetzgeberischen Reformen, die den Verzicht auf die Schlüssigkeits- und Erheblichkeitsprüfung begünstigten, auf den S. 72 ff. 376 Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag und Grenzen freier Verhandlungswürdigung, 1982, S. 71. 377 Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag und Grenzen freier Verhandlungswürdigung, 1982, S. 72 f. 378 Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag und die Grenzen freier Verhandlungswürdigung, 1982, S. 72, unter Hinweis auf einen Versuch beim Landgericht Stuttgart, wonach sich bei einer obligatorischen einleitenden Anhörung der Parteien in etwa der Hälfte aller Fälle Veränderungen gegenüber dem schriftsätzlich vorgetragenen Sachverhalt ergaben. Nicht selten seien jene Veränderungen so einschneidend, dass der neu vorgetragene Sachverhalt völlig neue Anspruchsgrundlagen oder Einreden hergebe, so Bender, DRiZ 1968, 163, 164. 379 Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag und Grenzen freier Verhandlungswürdigung, 1982, S. 73. 380 Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag und Grenzen freier Verhandlungswürdigung, 1982, S. 73.
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zur heutigen Relationstechnik vorgelegt381. Ihre »Entscheidung im Zivilprozess« ist das erste und bislang letzte von ordentlichen Universitätsprofessoren verfasste Buch, das die Sachverhaltsarbeit und die Entscheidungssituation des streitigen Vorbringens zum Thema hat. Erklärtes Ziel war es, jungen Juristen im Rahmen ihrer Ausbildung »eine theorie-orientierte praktische Hilfe für den Umgang mit streitigen Sachverhalten (zu) geben«382. Insbesondere wegen der Betonung des Rechtsgefühls weicht die von Hartwieg und Hesse propagierte und an streitigen Fällen veranschaulichte Form der Relation, die sich bislang in der (Ausbildungs-) Praxis nicht durchgesetzt hat, deutlich von den herkömmlichen Anleitungen ab. Die genannten Autoren unterscheiden ausdrücklich zwischen Relation und Relationstechnik383. Unter Relation verstehen sie das Grundmuster zivilrechtlicher, ja juristischer Arbeitsweise schlechthin. Als Relationstechnik bezeichnen sie demgegenüber das durch die Anleitungsliteratur aufgebaute detaillierte Regelungswerk, dessen Gebote vielfach überzogen und überholt seien. Als Arbeitsmodell könne die Relation Arbeitsersparnis, rechtliche Korrektheit und Durchblick durch die zivilprozessuale Entscheidungssituation bewirken384. Als notwendiges Vereinfachungsprogramm habe sie einen hohen praktischen Wert, garantiere aber keine korrekten Ergebnisse, zumal die propagierte saubere Trennung zwischen der zuerst zu erledigenden Sachverhaltsarbeit und der anschließenden Normanwendung tatsächlich in schwierigen Fällen nicht durchgeführt werden könne385. Die Relation müsse »als Hilfsmittel mit korrekturfähiger Methodensicht begriffen und praktiziert werden«. Sie sei wieder auf ihren pragmatischen Kern zurückzuführen und dürfe nicht als Prüfungsinstrument für Stilübungen missbraucht werden386. dd. Hartwiegs spätere Polemik gegen den Urteilsstil387 betrifft teilweise weniger die Entscheidungsbegründung als die Sachverhaltsermittlung und zielt daher tatsächlich auch auf die Relationstechnik. Die hier interessierenden Passagen lauten388: »Der Urteilsstil … zielt auf vorauseilenden Richtergehorsam und erleichtert die Durchsicht, das Erfassen und Verstehen des Parteivortrags. … Die Missstände sind alt und offensichtlich. Die so genannte Sachverhaltsarbeit darf ernster genommen werden«. ee. Nach Eike Schmidt wird die Relationstechnik ihrem Anspruch, einen umfassenden Leitfaden für die technische Bewältigung des Verfahrensganges zu liefern, nicht gerecht389, weil sie noch deutlich dem Dogma der konditionalen Program381 Die Arbeit von H. L. Berger über »Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnisch-methodischen Argumentationsformen« aus dem Jahre 1975 wählt den Relationsstreit als Aufhänger, untersucht das 20. Jahrhundert aber nicht, s. a.a.O., S. 3 ff. 382 Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 1 (Hervorhebungen im Original). 383 Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 12, 21. 384 Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 11. 385 Vgl. Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 72 und 92. 386 Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 93. 387 Dazu sogleich unter 6.a.dd. 388 Hartwieg, ZVglRWiss 101 (2002), 434, 467 und 470. 389 E. Schmidt, in: Alternativkommentar zur Zivilprozessordnung, 1987, Einl. Rn. 111.
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mierung verhaftet sei, ihre Ausprägung vom zu kurz greifenden Subsumtionsmodell erfahren habe und schließlich noch weithin der Verhandlungsmaxime verpflichtet sei390. Die Erkenntnis oft unzureichender Gesetzeskoordinierung, das weiterreichende soziologische Entscheidungsmodell sowie die mit der Kooperationsmaxime verknüpften Implikationen erforderten eine Ausweitung des zu engen Relationsrahmens391. Vorgeschlagen wird, das Relationsschema, welches üblicherweise aus Verfahrensstation (auch Zulässigkeits- oder Prozessstation genannt), Darlegungsstation (Kläger- und Beklagtenstation) und Beweisstation besteht392, um weitere Stationen zu ergänzen. Zunächst sei eine sich an die Zulässigkeitsstation anschließende Normtatbestands-Station erforderlich, die in den Fällen offener Rechtsprogrammierung Überlegungen dahin ermögliche, in welche Richtung und auf welche Weise die jeweilige Regelungslücke aufzufüllen ist393. Noch wichtiger sei eine eigenständige Aufklärungsstation, in der die »sich zu den Parteidarlegungen aufdrängenden Aufklärungsmonita« zusammenzufassen und Aufklärungs- und Beweisbeschlüsse zu erlassen seien394. Schließlich sei noch eine gesonderte Beilegungs- oder Vergleichsstation zu fordern395. Mit diesen Reformvorschlägen endet bereits die Bestandsaufnahme zu den raren rechtswissenschaftlichen Äußerungen über die Relationstechnik. e. Zwischenbilanz Es kann eine Zwischenbilanz gezogen werden. Die Auswertung der Äußerungen zur Relationstechnik ergibt neben grundsätzlicher Ablehnung und uneingeschränkter Zustimmung auch differenzierende Bewertungen, welche die Rolle der Relationstechnik im Hinblick auf Wandlungen des Richterbildes und/oder der Prozessauffassungen neu bestimmen wollen. Der eigentliche Relationsstreit, der die Autoren der Referendarausbildungsliteratur nach wie vor beschäftigt, kann im Folgenden weitgehend vernachlässigt werden, weil er sich primär um Äußerlichkeiten und Darstellungsfragen dreht. Ob Gutachtens- und Urteilsstil scharf voneinander zu scheiden sind396, ob der Sachverhalt von den Rechtsgründen getrennt werden muss und wie der Urteilstatbestand aufzubauen ist, spielt für die hier interessierende Frage, ob verdeckte Rechtsfortbildungen durch die Relationstechnik verursacht werden, keine Rolle. Offen ist indes noch, ob die herkömmliche Relationstechnik ein (prozess-)rechtsgemäßes Instrument der Entscheidungsfindung bzw. Entscheidungsvorbereitung darstellt, oder ob sie ein 390
E. Schmidt, in: Alternativkommentar zur Zivilprozessordnung, 1987, Einl. Rn. 112. E. Schmidt, in: Alternativkommentar zur Zivilprozessordnung, 1987, Einl. Rn. 113. 392 Vgl. beispielsweise Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, S. X; Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, S. IX f. 393 E. Schmidt, in: Alternativkommentar zur Zivilprozessordnung, 1987, Einl. Rn. 113 m.w.N. 394 E. Schmidt, in: Alternativkommentar zur Zivilprozessordnung, 1987, Einl. Rn. 114, wo auch darauf hingewiesen wird, dass die Praxis in diesem Punkt längst »relationswidrig« agiere. 395 E. Schmidt, in: Alternativkommentar zur Zivilprozessordnung, 1987, Einl. Rn. 115 m.w.N. 396 Eine andere Frage ist, ob die Regeln für die Abfassung der Urteile ein Grund für verdeckte Rechtsfortbildungen sind. Sie wird sogleich unter 6. behandelt. 391
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Relikt aus einer lange vergangenen Zeit ist, das den heutigen normativen Vorgaben juristischen Entscheidens nicht gerecht wird und deshalb zu verdeckten Fortbildungen des Gesetzesrechts führt. Diesen Fragen wird im Folgenden nachgegangen. Zunächst wird ein Überblick zur Geschichte der Relation gegeben (f.). Danach lässt sich sagen, ob die Relationstechnik auf einem überholten Richterbild beruht (g.), ob sie trotz zwischenzeitlicher Veränderungen des Zivilprozessrechts noch dem heutigen Prozessverständnis entspricht (h.) und ob sie verdeckte Rechtsfortbildungen fördert (i.). f. Zur Geschichte der Relation Die Geschichte der Relation gilt als Forschungsdesiderat397. Eine umfassende historische Untersuchung der Relation und der Relationstechniken, möglichst unter Berücksichtigung ihrer politisch-sozialen und wissenschaftsgeschichtlichen Bezüge398, steht noch aus. aa. Im sog. Relationsstreit ist die Relationstechnik mit der Begriffsjurisprudenz verbunden399 und weiterhin vorgebracht worden, die (heutige) Relationstechnik sei mit dem Erscheinen der Erstauflage des Sattelmacher (damals noch Daubenspeck) im Jahr 1884 institutionalisiert worden400. Nach Hartwieg und H. A. Hesse sind diese Behauptungen zurzeit nicht weiter überprüfbar, weil die Forschungslage allzu dürftig sei401. Andere verweisen darauf, dass es schon deutlich früher Relationen gegeben habe402, gehen davon aus, dass neuere Auffassungen, die in der Relationstechnik ausschließlich den wilhelminischen Schnürstiefel zu erkennen glauben, nach einer auf die Quellen zurückgehenden historischen Überprüfung wohl wesentlich differenzierter ausfallen müssten403 oder sprechen wegen Kants Überlegungen zur regressiven Methode des Zivilrichters und einer Proberelation E. T. A. Hoffmanns aus dem Jahr 1798 gar von einem »historisch krasse(n) Fehlurteil« der Kritiker der Relationstechnik404. Letztere Schlussfolgerung wäre indes nur dann zulässig, wenn die damaligen Relationsregeln bereits mit den heutigen übereingestimmt hätten, was aber von den genannten Autoren nicht erörtert wird. bb. Die einzige tiefer gehende rechtsgeschichtliche Untersuchung zur »Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnisch-methodischen 397
Vgl. Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 17. Vgl. Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 18. 399 Vgl. nochmals Grunsky, JuS 1972, 29, 30; J. Schmidt, JuS 1974, 441, 443; gegen Grunsky E. Schneider, MDR 1973, 100; hierzu Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 17: Schneiders Argumentation ziele am Kern von Grunskys Behauptung vorbei, da Schneider Begriffsjurisprudenz methodisch verstehe, während Grunsky sie offensichtlich politik- und wissenschaftsgeschichtlich einordnen wollte. 400 Rasehorn, NJW 1970, 1166, 1167; vgl. auch J. Schmidt, JuS 1974, 441, 443 f. 401 Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 17. Auch sie gehen freilich davon aus, dass die Relationstechnik in ihrer heute geltenden Form in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden sei, s. a.a.O., S. 18. 402 E. Schneider, MDR 1973, 100, 101. 403 H. Weber, JuS 1975, 270. 404 Kiefner, FS Schelsky, 1978, S. 287, 318 Fn. 147. 398
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Argumentationsformen« von Heinz Ludwig Berger kommt zu dem Ergebnis, dass sich das »heute praktizierte, konservativ-abstrakte Relationsmodell … in seiner Form und Systematik spätestens mit dem Verfahrensvorschlag des Appellationsgerichtes Naumburg im Jahre 1852, also vor dem Erscheinen des ersten »Sattelmacher« herausgebildet« habe405. Was das »heute praktizierte konservativabstrakte Relationsmodell« ausmacht, wird hingegen nicht gesagt. Es scheint Berger bei seiner Bewertung allein um den äußeren Aufbau der Relationen und den Aspekt der Kürze zu gehen406. Sein frühzeitig gegebenes Versprechen, es werde sich zeigen, dass man seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert prüfe, ob ein klägerisches Vorbringen schlüssig und das Beklagtenvorbringen erheblich sei407, löst Berger im weiteren Verlauf seiner Arbeit nicht ein. Er nennt keine inhaltlichen Relationsregeln des späten 19. und des 20. Jahrhunderts. Seine Untersuchung der im 17. Jahrhundert aufkommenden Relationsliteratur408 endet zeitlich mit einem Buch aus dem Jahre 1861409 und wählt den Relationsstreit nur als Aufhänger, ohne die Sachargumente zu erwähnen410. Auch sein Ergebnis, es treffe nicht zu, »daß das Zivilprozessrecht der CPO von 1877 die Denk- und Arbeitsform der heutigen Relationen beeinflußt habe«411, hat nur einen begrenzten Wert, weil nicht mitgeteilt wird, was »die heute ausgeübte Relationsmethode«412 ausmacht413. Fest steht aufgrund der Untersuchung von Berger allein, dass die äußere Einteilung der Relation in Referat (Sachbericht) und Votum (Gutachten) bereits vor Inkrafttreten der Civilprozeßordnung und vor dem Erscheinen des Anleitungsbuches von Daubenspeck gebräuchlich war.
405 H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnischmethodischen Argumentationsformen, 1975, S. 152; vgl. aber auch a.a.O., S. 150, wo es heißt, dass sich die Relationsmethode des Appellationsgerichts Naumburg besonders durch die Anleitungen Daubenspecks, die in immer zahlreicheren Auflagen von Paul Sattelmacher fortgeführt worden seien, institutionalisiert habe. 406 Vgl. H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnisch-methodischen Argumentationsformen, 1975, S. 148. Dass Berger auf die Trennung von unstreitigen und streitigen Tatsachen im heutigen Sachbericht abstellen wollte, ist unwahrscheinlich, weil er diese bereits in der Relationsanleitung von Moser aus dem Jahre 1734 nachgewiesen hatte, s. H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnisch-methodischen Argumentationsformen, 1975, S. 66. 407 H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnischmethodischen Argumentationsformen, 1975, S. 26. 408 Vgl. H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnisch-methodischen Argumentationsformen, 1975, S. 36 ff. 409 Vgl. H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnisch-methodischen Argumentationsformen, 1975, S. 137 ff. 410 H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnischmethodischen Argumentationsformen, 1975, S. 3 f. 411 H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnischmethodischen Argumentationsformen, 1975, S. 152; s. auch a.a.O., S. 150, wo kritisiert wird, dass dieser Umstand »in der heutigen Literatur, die Argumente für und gegen die heutige Relationsmethode aus Normen der ZPO entwickelt, nicht berücksichtigt« ist. 412 H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnischmethodischen Argumentationsformen, 1975, S. 150. 413 Damit entfällt auch die Grundlage seiner Kritik an der Argumentation mit der Zivilprozessordnung im sog. Relationsstreit.
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cc. Aufgrund der unklaren Terminologie und in Ermangelung einer auf inhaltliche Aspekte zielenden, umfassenden historischen Untersuchung fehlt allen Einschätzungen zur Geschichte der Relation und der Relationstechniken zwangsläufig das sichere Fundament. Schon einige bekannte Eckdaten und grobe Entwicklungslinien sowie der Blick in frühe Auflagen des klassischen Referendaranleitungsbuches von Daubenspeck bzw. Sattelmacher lassen aber Zweifel an den beiden im sog. Relationsstreit vertretenen Ansichten zur Herkunft der heutigen Relationstechnik aufkommen. (1) Relationen gibt es in Deutschland seit dem 16. Jahrhundert414: Nachdem am Reichskammergericht und dann auch am Reichshofrat das schriftliche Verfahren eingeführt worden war, ging man dazu über, die Akten von einem oder zwei Mitgliedern des Gerichtskollegiums – dem Referenten und Korreferenten – erarbeiten zu lassen, welche ihren Sachbericht und ihr Votum dem vollständigen Gremium vorzutragen hatten, damit dieses aufgrund der Vorträge seine – nicht zu begründende – Entscheidung treffen konnte. Die Erkenntnisteile dieser Relationen sollen (zumindest) bis in das 18. Jahrhundert hinein wie die spätmittelalterlich-scholastischen Disputationen aufgebaut worden sein415 und durch Abwägen zwischen den voneinander getrennten »rationes dubitandi« und den »rationes decidendi« den Entscheidungsvorschlag gewonnen haben416. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde in Relationsanleitungen vorgeschrieben, dass die Relationen schriftlich auszuarbeiten und nach dem Vortrag vor der Kammer mit den Akten zur Aufbewahrung abzulegen seien417. Nach dem Vorbild des Ka-
414 H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnischmethodischen Argumentationsformen, 1975, S. 17 ff., 151. 415 H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnischmethodischen Argumentationsformen, 1975, S. 25: bis Mitte des 18. Jahrhunderts. Auf der folgenden Seite heißt es demgegenüber, erst im ausgehenden 19. Jahrhundert habe sich (mit der Schlüssigkeits- und Erheblichkeitsprüfung) »eine Erkenntnismethode gebildet, die von der Disputation losgelöst war und es verdiente, als vollkommen eigenständige Relationsmethode oder -technik bezeichnet zu werden«. Noch anders ist in der Zusammenfassung die Rede davon, die methodische Verselbständigung der Relation von der Disputation sei zu Anfang des 18. Jahrhunderts erfolgt, s. a.a.O., S. 151. – Diese einander widersprechenden Bewertungen sind nur dadurch zu erklären, dass Berger den für seine Untersuchung maßgeblichen Relationsbegriff nicht festgelegt und – wohl ohne es zu bemerken – bei seinen Schlussfolgerungen zwischen verschiedenen Relationsverständnissen wechselt. 416 Selbst Urteilsgründe scheinen um 1826 noch verbreitet nach diesem Schema unterteilt worden zu sein, s. Brinkmann, Ueber die richterlichen Urtheilsgründe, 1826, S. 101, 108, 118 ff. Brinkmann unterteilte die Urteilsgründe in die Zweifelsgründe und die Entscheidungsgründe, forderte, »daß alle Zweifels- und Entscheidungsgründe in ihrer ganzen Schwäche und Stärke lichtvoll dargestellt werden« und schilderte drei gewöhnliche Arten, die Zweifelsgründe und Entscheidungsgründe anzuordnen. 417 H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnischmethodischen Argumentationsformen, 1975, S. 62. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts sollen die Relationen an den deutschen Reichsgerichten allerdings immer weniger schriftlich abgefasst worden sein, s. a.a.O., S. 99 f. und 116. Möglicherweise hing das mit dem allmählichen Vordringen von Entscheidungsbegründungen zusammen, vgl. hierzu am Rande die Nachweise aus den Relationsanleitungen bei H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnisch-methodischen Argumentationsformen, 1975, S. 98 f. und 111.
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meralprozesses418 bediente man sich der Relationen auch vor Kollegialgerichten in den schriftlichen Verfahren des gemeinen Prozesses419 und nach den Territorialgerichtsordnungen420. Am Rande ist noch darauf hinzuweisen, dass Relationen zudem schon frühzeitig zur Eignungsprüfung und als Ausbildungsinstrument eingesetzt wurden421. Festzuhalten ist, dass an den beiden höchsten Reichsgerichten seit dem 16. Jahrhundert Relationen üblich waren, die aus einer Schilderung des Sachverhalts mit Prozessgeschichte und einem Votum bestanden und dazu dienten, Mitgliedern eines richterlichen Kollegiums Rechtsfälle mit einem gutachtlich erarbeiteten Lösungsvorschlag durch einen Vortrag nahe zu bringen422. Die Relation war ein Instrument der Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungsfindung in einem Kollegialgericht am Schluss eines schriftlichen Verfahrens. (2) Das Ende des Heiligen Römischen Reichs im Jahre 1806 markierte eine Zäsur. Das Reichskammergericht und den Reichshofrat gab es nicht mehr. Napoleon hatte gesiegt; der moderne französische Zivilprozess beeinflusste die Prozessrechtsreformen in den deutschen Einzelstaaten. 1833 wurde eine mündliche (Schluss-)Verhandlung nach Beendigung des Schriftenwechsels in das schriftliche Verfahren nach der Allgemeinen Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten aufgenommen, deren Anwendungsbereich 1846 ausgedehnt wurde423. 418 Hierzu H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnisch-methodischen Argumentationsformen, 1975, S. 24. 419 Einführend zum gemeinen Prozess Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl. 2004, § 4 Rn. 24 f.; Hellwig, System des Deutschen Zivilprozessrechts, Erster Teil, 1912, S. 15 ff. 420 Vgl. hierzu Hellwig, System des Deutschen Zivilprozessrechts, Erster Teil, 1912, S. 16. – Über die Praxis des Oberappellationsgerichts zu Kassel hat berichtet Bähr, Urteile des Reichsgerichts mit Besprechungen, 1883, S. VI f. 421 Die Kandidaten für ein Richteramt beim Reichskammergericht mussten schon im 16. Jahrhundert eine Proberelation anfertigen, s. H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnisch-methodischen Argumentationsformen, 1975, S. 33 f. m.w.N.; Döhring, Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, 1953, S. 58, der außerdem eine entsprechende, 1654 eingeführte Prüfung beim Reichshofrat erwähnt. In Brandenburg wurde 1710 und 1713 verordnet, dass alle Mitglieder der Justizkollegien Übungen und Erfahrungen in den Rechten durch die Abfassung einer relatio pro statu cum voto (Sachbericht und Gutachten) nachzuweisen hätten. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren dann zwei bzw. – für die höheren Kollegialgerichte – drei Staatsprüfungen vorgeschrieben; in den beiden höheren Prüfungen mussten auch Proberelationen gefertigt werden. Hierzu und zur Rolle der Relationen in der weiteren Geschichte der Deutschen Juristenausbildung Arbeitskreis für Fragen der Juristenausbildung e. V., Die Ausbildung der deutschen Juristen, 1960, S. 52 ff. (Preußen), 61 ff. (Baden, Bayern, Hessen und Württemberg), insb. S. 64 f. zur Praxis in Bayern entsprechend der Kgl. Verordnung betreffend die »Conkurs-Prüfung der zum Staatsdienst adspirierenden Rechts-Candidaten«. 422 So wird eine Funktionsbeschreibung aus dem 18. Jahrhundert charakterisiert bei H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnisch-methodischen Argumentationsformen, 1975, S. 77. 423 Laut Gottwald durften in dieser mündlichen Verhandlung freilich keine anderen als die in den Schriftsätzen enthaltenen Behauptungen und Beweismittel vorgebracht werden, s. Rosenberg/ Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl. 2004, § 4 Rn. 26. Hellwig sprach von einer mündlichen Schlussverhandlung, die nur zur Aufklärung und Vervollständigung des in Schriftsätzen oder zum Protokoll Erklärten bestimmt gewesen sei, s. Hellwig, System des Deutschen Zivilprozessrechts, Erster Teil, 1912, S. 17. Daubenspeck klassifizierte den preußischen Prozess auch nach Einführung dieser mündlichen Verhandlung als schriftliches Verfahren, s. Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 1; a. A. Präsidium des Königlichen Appellationsgerichts in Naum-
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
(a) Die Einführung dieser mündlichen Verhandlung in den preußischen Zivilprozess hatte zur Folge, dass anstelle einer Relation nunmehr zwei Schriftstücke zu liefern waren424. Die Verordnung von 1833 bestimmte, dass ein Mitglied des Gerichts in öffentlicher Sitzung den Inhalt der Akten zu referieren hatte, der dann die Grundlage der Plädoyers bildete, während die Vorschläge zur Entscheidung weiterhin in geheimer Beratung zu machen waren425. Die Relation bisherigen Stils zerfiel daher in zwei selbständig vorzutragende Teile426. Das Referat, also der Sachbericht über das Tatsachenmaterial, fand am Anfang der öffentlichen Sitzung statt, während das Votum mit Rechtsausführungen und Entscheidungsvorschlag dem Kollegium zu Beginn der Beratung unterbreitet wurde427. (b) Unter der Geltung der Allgemeinen Preußischen Gerichtsordnung erließ das Präsidium des Königlichen Appellationsgerichts in Naumburg 1852 die allgemeine Anweisung über »die Regeln, welche bei Anfertigung eines Referats nebst schriftlichem Votum zu beobachten sind«428, auf die Heinz Ludwig Berger sein Untersuchungsergebnis stützt, dass sich das »heute praktizierte, konservativ-abstrakte Relationsmodell … spätestens im Jahre 1852 … herausgebildet« habe429. Bergers These kann man nicht überprüfen, weil er offen lässt, was nach seinem Verständnis die Charakteristika des heutigen Relationsmodells sind430. Die genannte Anweisung für die »Arbeiten der Auskultatoren und Referendarien in Civilspruchsachen« aus dem Jahr 1852 enthält auf sieben eng bedruckten Seiten ebenso präzise wie detaillierte Regeln für »Civil-Relationen«431 und trennt bei ihren mustergültigen Ausführungen zwischen der Darstellung des Sachverhältnisses im Referat und der Begründung der in der Sache zu treffenden Entscheidung, die im Votum durch erschöpfende Erörterung sämtlicher Fragen zu geben sei432. Sie wirkt insofern recht »modern«433. burg, in: Justiz-Ministerialblatt für die Preußische Gesetzgebung und Rechtspflege, 15. Jahrgang 1853, S. 72, 73, allerdings ohne Ausführungen zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung. 424 Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 2; H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnisch-methodischen Argumentationsformen, 1975, S. 123 ff. 425 Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 2. 426 H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnischmethodischen Argumentationsformen, 1975, S. 123. Daubenspeck sprach gar von einer Trennung beider Funktionen, s. Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 2. 427 Hierzu Präsidium des Königlichen Appellationsgerichts in Naumburg, in: Justiz-Ministerialblatt für die Preußische Gesetzgebung und Rechtspflege, 15. Jahrgang 1853, S. 72 f. 428 Präsidium des Königlichen Appellationsgerichts in Naumburg, in: Justiz-Ministerialblatt für die Preußische Gesetzgebung und Rechtspflege, 15. Jahrgang 1853, S. 72. 429 H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnischmethodischen Argumentationsformen, 1975, S. 152. 430 Vgl. bereits vorstehend bb. 431 Die Aspekte der Prägnanz, Kürze und Vollständigkeit betont auch H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnisch-methodischen Argumentationsformen, 1975, S. 148. 432 Präsidium des Königlichen Appellationsgerichts in Naumburg, in: Justiz-Ministerialblatt für die Preußische Gesetzgebung und Rechtspflege, 15. Jahrgang 1853, S. 72, 73 und 77. 433 Auch wird im Referat zwischen streitigen und unstreitigen Tatsachen differenziert und für das Votum gefordert, dass die Prüfung der Förmlichkeiten der Beurteilung der Sache vorangehen müsse, s. Präsidium des Königlichen Appellationsgerichts in Naumburg, in: Justiz-Ministerialblatt für die Preußische Gesetzgebung und Rechtspflege, 15. Jahrgang 1853, S. 72, 74 und 77.
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IX. Die Juristenausbildung
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Andererseits war die Unterscheidung zwischen Referat und Votum – wie bereits dargelegt – schon lange vorher geläufig. Heute ist es üblich, das Gutachten in Stationen zu unterteilen und dabei in der Darlegungsstation für den Klägerund Beklagtenvortrag jeweils getrennt die Schlüssigkeit zu prüfen434. Eine entsprechende Ordnung des Votums ist in der Anweisung von 1852 noch nicht vorgesehen435: Die einzelnen der Entscheidung bedürfenden Punkte seien, so hieß es, scharf – etwa nach Nummern – hervorzuheben. Die Untersuchung des Klagegrundes müsse in der Regel der Prüfung der Einwendungen vorangehen. Sei eine Frage teils in facto, teils in jure streitig, so sei in der Regel zunächst das Tatsächliche festzustellen. Die Feststellung des Tatsächlichen geschehe durch Erörterung der Beweislast und sodann durch Prüfung des vorhandenen Beweises und Gegenbeweises und ggfs. auch der Möglichkeit eines Erfüllungs- oder Reinigungseides. Bei der anschließenden Erörterung der Frage, was aus den solchergestalt ermittelten Tatsachen den Gesetzen nach folge, sei das Gesetz in seine Bestandteile zu zerlegen und sorgfältig auf deren Vorhandensein im streitigen Falle zu untersuchen, wobei »auch das Ergebnis wissenschaftlicher Erörterung und etwaige436 Präjudikate unter genauer Allegirung der betreffenden Schriften und Sammlungen berücksichtigt werden«. Endlich sei es nicht genug, die eigene Meinung gründlich und geschickt zu verteidigen, sondern es müssten auch die entgegenstehenden Gründe, die rationes dubitandi, in ihrer vollen Stärke hervorgehoben und auseinandergesetzt werden. Die in der Anweisung von 1852 gegebenen Aufbauregeln für das Votum bzw. Gutachten erschöpfen sich – in heutiger Terminologie ausgedrückt – darin, dass die Zulässigkeit stets vor der Begründetheit, der Entstehungstatbestand eines Anspruchs regelmäßig vor den Einwendungen und die Beweisfrage immer vor der Rechtsfrage zu erörtern ist. Die einzelnen der Entscheidung bedürftigen Punkte werden lediglich aneinander gereiht, wobei die für und gegen eine Lösung sprechenden Argumente abgewogen werden. Diese Vorgehensweise ist topisch und entspricht der bis ins 19. Jahrhundert weit verbreiteten Schulrhetorik437. Eine Unterscheidung zwischen Kläger- und Beklagtenstation ist in der Anweisung von 1852 nicht einmal in Ansätzen erkennbar. Sieht man die doppelte Schlüssigkeitsprüfung im Gutachten mit einer heute vorherrschenden Auffassung als den
434 Vgl. beispielsweise Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, S. X, Rn. 134 ff.; Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, S. IX f. 435 Vgl. Präsidium des Königlichen Appellationsgerichts in Naumburg, in: Justiz-Ministerialblatt für die Preußische Gesetzgebung und Rechtspflege, 15. Jahrgang 1853, S. 72, 77 f. Einführend heißt es a.a.O., S. 77: »Für die nun folgende Beurtheilung der Sache, welche zugleich die Begründung des Votums enthält, lassen sich die allerwenigsten, auch nur allgemeinen Andeutungen geben, da die eigenthümliche Beschaffenheit jeder Sache hier Alles bestimmt.« 436 Im Originaltext: »etwanige«. 437 Eingehend § 2; vgl. insoweit – im Zusammenhang mit dem Kameralprozess – auch H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnisch-methodischen Argumentationsformen, 1975, S. 25: »wesentliche(s) Kennzeichen der spätmittelalterlich-scholastischen Disputation«.
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Kern der Relationstechnik an438, so ist 1852 nicht das Geburtsjahr der »modernen« Relationstechnik. (c) Die Einführung der mündlichen Schlussverhandlung in das schriftliche Verfahren nach der Preußischen Allgemeinen Gerichtsordnung führte also dazu, dass die traditionelle Relation in zwei selbständig vorzutragende Teile zerfiel. Die für die heutige Relationstechnik charakteristische doppelte Schlüssigkeitsprüfung im Gutachten war damals noch unbekannt. (3) Die am 1.10.1879 in Kraft getretene Civilprozeßordnung für das Deutsche Reich beseitigte das schriftliche Verfahren439. Dadurch veränderten sich die Aufgabe und die Funktion der Relation grundlegend, was im Anleitungsbuch von Daubenspeck zu Referat, Votum und Urteil deutlich zum Ausdruck kommt. (a) Solange der Prozess von der Schriftlichkeit beherrscht wurde, sei es das Ziel des Referats gewesen, die an der Urteilsfällung Beteiligten über den Sach- und Streitstand zu informieren und ihnen ein aktenmäßiges Bild von der gegenwärtigen Prozesslage zu liefern. Dieser praktische Zweck sei mit der Beseitigung des schriftlichen Verfahrens weggefallen440. Zwar sei die Schriftlichkeit, so heißt es unter Hinweis auf die Möglichkeit vorbereitender Schriftsätze441, nicht gänzlich aus dem Prozesse verbannt worden442. Den üblichen vorbereitenden anwaltlichen Schriftsätzen maß Daubenspeck aber keinen besonderen Wert zu, da sie häufig schwülstig, weitschweifig und ungeordnet seien: Es sei »nun auch nicht gerade nöthig, daß dieses vorbereitende Material in einem besonderen Schriftstück geordnet und gesammelt dem Richterkollegium vorgeführt wird, und kann darum einem Richter nicht wohl zugemuthet werden, sich solcher überflüssigen und zeitraubenden Arbeit zu unterziehen«443. Anders liege die Sache jedoch bei dem jungen Juristen, welcher dem Gericht zur Ausbildung überwiesen sei. Ihm müsse eine Gelegenheit geschaffen werden, sich auch in dem schriftlichen Referieren auszubilden, wodurch der weitere Vorteil erreicht werde, dass der Referendar völlig vorbereitet der mündlichen Verhandlung beiwohne444. Das Referat sei der Hauptsache nach ein Übungsstück des Referendars445.
438 Hierzu bereits c.; s. etwa Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 13; Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 4. 439 § 119 CPO bestimmte: »Die Verhandlung der Parteien über den Rechtsstreit vor dem erkennenden Gericht ist eine mündliche«. 440 Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 5. 441 Aus heutiger Sicht ist bemerkenswert, dass das Unterlassen vorbereitender Schriftsätze nach damaliger Rechtslage selbst in Anwaltsprozessen keine sachlichen Nachteile hatte. § 120 CPO lautete: (1) In Anwaltsprozessen wird die mündliche Verhandlung durch Schriftsätze vorbereitet; die Nichtbeachtung dieser Vorschrift hat Rechtsnachtheile in der Sache selbst nicht zur Folge. (2) In anderen Prozessen können vorbereitende Schriftsätze gewechselt werden. 442 Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 2. Zeitgenössische Nachweise zur »Mündlichkeit im Lichte der Praxis« bei Kip, Das sogenannte Mündlichkeitsprinzip, 1952, S. 70 ff. 443 Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 3. – Die linksrheinische Praxis sah sogar ursprünglich ihr Ideal darin, vor dem Termin keine Notiz von etwaigen Schriften zu nehmen, s. Kip, Das sogenannte Mündlichkeitsprinzip, 1952, S. 66 f. und 70. 444 Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 3. 445 Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 5 f.
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Zum Votum hieß es: Da die Entscheidung des Gerichts aufgrund der mündlichen Verhandlung ergehe, könne der Vorschlag, der nur nach Lage der Akten geschehe, auf praktische Bedeutung keinen erheblichen Anspruch machen446. Das als »Urtheilsfasser« bestellte Mitglied des Kollegiums habe nicht einmal die Garantie, dass das in vorbereitenden Schriftsätzen enthaltene Streitmaterial später wirklich Gegenstand der Verhandlung werde, weshalb er sich auf mehr oder weniger vollständige Notizen beschränke447 und weitläufige schriftliche Ausarbeitungen als überflüssig und zeitraubend zu vermeiden suche448. Bei den Gerichten erster Instanz sei daher jetzt wohl überall das (praktisch bedeutungslose) schriftliche Votum gefallen449. Das Votum des Referendars dagegen diene in erster Linie seiner Ausbildung450. »Seine Kräfte sind vorzugsweise seiner Vorbereitung gewidmet, und kommt es in zweiter Linie erst darauf an, daß seine Arbeiten einen praktischen Nutzen haben«451. Er solle in der selbständigen Urteilsfindung, in der Begründung und Entwicklung seiner Ansichten und in der schriftlichen Ausführung derselben geübt werden452. So bereite er sich auf die mündliche Verhandlung vor und sei in der Lage, im Anschluss an diese in freier Rede seine definitive Ansicht zu entwickeln und Vorschläge zur Entscheidung zu machen. Dann könne er dem Beschlusse des Gerichts gemäß das Urteil absetzen und damit eine wirklich praktische Arbeit verrichten453. Es ergibt sich: Daubenspeck ging davon aus, dass der ursprüngliche praktische Zweck der Relation mit dem schriftlichen Zivilverfahren weggefallen sei, weil man nie wissen konnte, was die jetzt maßgebliche mündliche Verhandlung bringen würde. Referat und Votum stellten aufgrund des in der Civilprozeßordnung verwirklichten Mündlichkeitsgrundsatzes keine geeigneten richterlichen Arbeitsmittel mehr dar. Stattdessen sollte das in den Schriftsätzen enthaltene Streitmaterial zur Vorbereitung auf die Verhandlung vom Richter »nach der rechtlichen wie thatsächlichen Seite hin« gründlich durchdacht werden, nötigenfalls unterstützt durch Notizen454. Allein der Referendar hatte zum Zwecke der Übung noch »schulmäßige« Referate und Voten zu fertigen, um eine im späteren Berufsleben nur noch gedanklich ablaufende Prüfung gründlich zu erlernen. Dabei sollte er unterstellen, der Inhalt der Akten werde das Ergebnis der noch durchzuführenden mündlichen Verhandlung sein.
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Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 46. Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 46. 448 Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 4, mit einer spöttischen Bemerkung zu den altpreußischen Gerichten zweiter Instanz, bei denen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, alles beim Alten geblieben sei: Es werde votiert, als wenn eine mündliche Verhandlung nicht vorhanden wäre, und der Referent gerate in helle Aufregung, wenn die Sachlage in der mündlichen Verhandlung eine ganz andere werde, als er sich gedacht habe, und er nur schätzbares Material für die Stockakten geliefert habe. – Der spätere Reichsgerichtsrat Daubenspeck war zu dieser Zeit Oberlandesgerichtsrat in Hamm. 449 Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 5 und 46. 450 Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 46. 451 Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 4. 452 Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 46. 453 Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 4 und 79. 454 Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 4. 447
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(b) Die Relation ist hier von einem Instrument der Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungsfindung im Kollegialgericht zu einem reinen, auf einer Fiktion beruhenden und insoweit theoretischen Ausbildungsmittel für Referendare geworden, dem im Unterschied zum Urteilsentwurf kein wirklicher praktischer Wert zuerkannt wurde. Erwähnenswert ist noch, dass sich der Zeitpunkt der Relation bzw. des an ihre Stelle getretenen Kurzberichts des referierenden Richters durch den Mündlichkeitsgrundsatz verändert hatte. Während die Relation im Kameralprozess am Ende des schriftlichen Verfahrens und im preußischen Prozess ab 1833 teils in und teils nach der das schriftliche Verfahren abschließenden mündlichen Verhandlung erfolgte, fanden der richterliche Kurzbericht und die Relation des Referendars nunmehr vor der mündlichen Verhandlung statt. (c) Wichtiger erscheint freilich die getroffene Feststellung, dass der angebliche »Institutionalisierer« der Relationstechnik455 bzw. ihrer heute geltenden Form456 diese – anders als ihre gegenwärtigen Protagonisten457 – nicht als die Arbeitsmethode des Zivilrichters ansah, sondern ausdrücklich zwischen der gedanklichen Prozessvorbereitung durch den Richter und der vom Referendar zu Übungszwecken zu erstellenden Relation unterschied, welche wegen der Mündlichkeit des Verfahrens keinen praktischen Nutzen für den Prozess habe. Daubenspeck hat seine skeptischen Äußerungen zum prozesspraktischen Wert der Relationen auch in Folgeauflagen beibehalten458. Er betrachtete Bericht und Votum nicht als die Arbeitsmittel des Praktikers, sondern als »Geistesgymnastik« für Referendare459. (d) Die getrennte Prüfung von Schlüssigkeit des Klägervortrags und Erheblichkeit des Beklagtenvorbringens, welche den Kern des Gutachtens und der heutigen Relationstechnik ausmachen soll460, findet sich bei Daubenspeck noch nicht461. Selbst den Begriff »Schlüssigkeit« sucht man dort vergeblich. Seine Ausführungen zum Votum haben ihren Schwerpunkt bei der Beweislast und Beweisführung462. Die von ihm aufgestellten konkreten Regeln über die Abfassung des Votums gehen in der Sache nicht über die des Präsidiums des Königlichen Appellationsgerichts in Naumburg463 hinaus. Von jenen unterscheiden sich Daubenspecks Grundsätze vor-
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Rasehorn, NJW 1970, 1166, 1167; vgl. auch J. Schmidt, JuS 1974, 441, 443 f. Vgl. Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 18. 457 Z. B. Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, S. VI, VII und Rn. 13; Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 1. 458 Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 5. Aufl. 1894, S. 3 f., 8, 64. 459 Vgl. die Vorrede zur dritten Auflage, abgedruckt bei Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 5. Aufl. 1894, S. III. 460 Vgl. nochmals c. sowie Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 13; Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 4. 461 Vgl. Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 52 f., 54 f.; ders., Referat, Votum und Urtheil, 5. Aufl. 1894, S. 72 f., 75 f.; ders., Referat, Votum und Urteil, 11. Aufl. 1911, S. 93 f., 98 f. 462 Vgl. Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 46 ff., insb. S. 56 ff. Der auf Beweisfragen entfallende Teil des Abschnitts nahm in den Folgeauflagen noch deutlich und überproportional zu, vgl. nur Daubenspeck, Referat, Votum und Urteil, 11. Aufl. 1911, S. 74 ff., insb. S. 99 ff. 463 Präsidium des Königlichen Appellationsgerichts in Naumburg, in: Justiz-Ministerialblatt für die Preußische Gesetzgebung und Rechtspflege, 15. Jahrgang 1853, S. 72 ff.; hierzu vorstehend (2)(b). 456
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nehmlich dadurch, dass die Rechtsfragen nun erörtert werden sollen, bevor die entscheidungserheblichen Tatsachen festgestellt werden464. Wie in der Anweisung von 1852 empfahl Daubenspeck, die materielle Beurteilung nach Nummern zu ordnen465. Ebenso wie das Präsidium des Königlichen Appellationsgerichts in Naumburg forderte er für die rechtlichen Erörterungen eine Berücksichtigung »aller Zweifelsgründe (rationes dubitandi)«466. Die genannten Vorgaben für die Abfassung des Votums finden sich unverändert in der letzten von Daubenspeck bearbeiteten Auflage des Anleitungsbuches467. Die Struktur der Abschnitte über Referat und Votum ist erhalten geblieben468. Auch bei Daubenspeck ist eine Unterscheidung zwischen Kläger- und Beklagtenstation nicht einmal in Ansätzen erkennbar469. (e) Mit der Einführung des Mündlichkeitsgrundsatzes entfiel der ursprüngliche praktische Zweck der Relation, welche dazu gedient hatte, die mit dem Akteninhalt nicht vertrauten Mitglieder eines Kollegialgerichts am Ende eines schriftlichen Verfahrens umfassend über die Sach- und Rechtslage zu informieren, um ihnen eine eigene Entscheidung zu ermöglichen. Nun war nicht mehr nach Lage der Akten, sondern aufgrund der mündlichen Verhandlung zu entscheiden. Der berichterstattende Richter erstellte keine ausführlichen Referate und Voten mehr, sondern führte lediglich noch eine vergleichsweise flüchtige, durch Notizen unterstützte gedankliche Prüfung des gegenwärtigen Akteninhalts in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durch, um sich und das Kollegium auf die maßgebende mündliche Verhandlung vorzubereiten. Die Relation wandelte sich in der Gerichtspraxis von einem abschließenden Instrument der Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungsfindung am Schluss eines schriftlichen Verfahrens zu einem stets nur vorläufige Erkenntnisse liefernden Mittel der Verhandlungsvorbereitung. Die klassische detaillierte Relation wurde zu einem reinen Ausbildungsobjekt für Referendare degradiert. Daubenspeck war der Ansicht, Referat und Votum hätten wegen der Mündlichkeit des Verfahrens keinen praktischen Nutzen für den Prozess mehr, sondern dienten nur der Ausbildung des Referendars. Er sah die Relation also nicht als Arbeitsmethode des Zivilrichters an. Die doppelte Schlüssigkeitsprüfung im Gutachten, welche für die heutige Relationstechnik konstitutiv sein soll, kannte Daubenspeck noch nicht. Diese Feststellungen überraschen, da Daubenspeck verbreitet als Schöpfer der modernen Relationstechnik betrachtet wird. 464
Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 54 f. Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 50. 466 Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 54. 467 Daubenspeck, Referat, Votum und Urteil, 11. Aufl. 1911, S. 90 und 96. Diese Auflage war, wie bereits die 10. Auflage, von Friedrich Daubenspeck, dem Sohn von Hermann Daubenspeck herausgegeben worden. F. Daubenspeck hatte den weitgehend unveränderten Text seines Vaters lediglich mit einigen durch die neuere Rechtsprechung veranlassten Zusätzen versehen, s. a.a.O., S. III f. 468 Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. VII f.; ders., Bericht, Votum und Urteil, 11. Aufl. 1911, S. V f. – Demgegenüber sind die Grundsätze für die Abfassung der Entscheidungsgründe nicht nur ganz erheblich ausgeweitet, sondern auch inhaltlich modifiziert worden, vgl. Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 90 bis 92; ders., Referat, Votum und Urteil, 11. Aufl. 1911, S. 203 bis 234. 469 Entsprechendes wurde bereits festgestellt für die allgemeine Anweisung des Königlichen Appellationsgerichts in Naumburg aus dem Jahre 1852, s. vorstehend (2)(b). 465
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
(4) Grundlegende Veränderungen des deutschen Zivilprozesses brachten die Novellen von 1909 (»Amtsgerichtsnovelle«), von 1924 (»Emmingernovelle«) und von 1933470. Sie erweiterten die richterliche Prozessleitung und drängten den Mündlichkeitsgrundsatz zurück471. Die Prüfung der Sach- und Rechtlage anhand der Akten bekam wieder eine größere praktische Bedeutung. Der Trend zur stärkeren schriftsätzlichen Vorbereitung der mündlichen Verhandlung ging mit einem Ausbau der Relationstechnik einher. (a) Das letztmalig 1911 aufgelegte Anleitungsbuch von Daubenspeck472 erschien erst wieder 1929 nach einer Neubearbeitung durch Sattelmacher in 12. Auflage und ab der 13. Auflage dann auch unter neuem Titel473. Zwischenzeitlich war insbesondere die bedeutende, »mit dem bis dahin rein liberalen Prozessverständnis« brechende, grundlegende Änderungen enthaltende474 Novelle von 1924 ergangen. Sattelmacher betonte in seiner Einleitung475 im Unterschied zu Daubenspeck476 die Gemeinsamkeiten zwischen der Relation und dem aktuellen Verfahren nach der Zivilprozessordnung477: Der Tatbestand des Urteils entspreche in vieler Hinsicht der alten Relation, und bei den Landgerichten komme kaum ein Prozess vor, der nicht durch Schriftsätze vorbereitet werde. Vor allem aber sei neuerdings das Prinzip der Mündlichkeit des Verfahrens durch die Einführung einer Reihe von Verfahrensmöglichkeiten durchbrochen worden478. In diesen 470 Einen Überblick der Veränderungen gibt Brehm, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 22. Aufl. 2003, vor § 1 Rn. 150 ff., 160 ff., 172 f. 471 Die »allzu strenge Durchführung der Mündlichkeit in der CPO von 1877« wurde durch die Novellen von 1909 und insbesondere von 1924 »auf ein bescheideneres Maß zurückgeführt«, s. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl. 2004, § 79 Rn. 5; eingehende Darstellung des Abbaus des Mündlichkeitsgrundsatzes bei Kip, Das sogenannte Mündlichkeitsprinzip, 1952, S. 74 ff. 472 Daubenspeck, Referat, Votum und Urteil, 11. Aufl. 1911. 473 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 13. Aufl. 1930, S. II, VI f. 474 So wird die sog. Emmingernovelle charakterisiert bei Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl. 2004, § 5 Rn. 7; vgl. aus dem zeitgenössischen Schrifttum etwa Stein/ Jonas, Die Zivilprozessordnung für das Deutsche Reich, Erster Band, 14. Aufl. 1928, S. XXIX ff., insb. S. XXXI. 475 Hier und im Folgenden wird die 13. Auflage von 1930 zu Grunde gelegt. 476 Daubenspeck ging davon aus, das der praktische Zweck der Relation mit der Einführung des mündlichen Verfahrens durch die CPO entfallen war und ihre Teile Referat und Votum keine geeigneten richterlichen Arbeitsmittel mehr darstellten, s. im Einzelnen (3)(a). 477 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 13. Aufl. 1930, S. 2 f. 478 Sattelmacher verwies vor allem auf die (Vorläufer-)Bestimmungen der heutigen §§ 251 a, 283 und § 331 a ZPO und auf § 7 EntlVO, s. Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 13. Aufl. 1930, S. 3 Fn. 3. Weitere Durchbrechungen des Grundsatzes der Mündlichkeit seien enthalten in den (Vorgänger-)Regelungen der heutigen §§ 137 Abs. 3, 273, 360, 373 Abs. 3, 410 Abs. 2, 411 ZPO sowie in § 297 Abs. 4 ZPO a. F., der für das Verfahren vor den Landgerichten bestimmte, dass Anträge, die nicht aus Schriftsätzen verlesen wurden, nicht zu berücksichtigen waren. – Die von Sattelmacher genannten Vorschriften waren überwiegend durch die Novelle 1924 eingefügt worden. Teils handelte es sich um Vorschriften, die bereits durch die Novelle 1909 für das amtsgerichtliche Verfahren geschaffen und dann durch die Novelle 1924 verallgemeinert worden waren, vgl. die Einzelnachweise am Anfang der §§ 251 a, 331 a, 272 a, 137 Abs. 3, 272 b, 297 Abs. 4, 360, 377 Abs. 3 und 4, 410 Abs. 2, 411 ZPO bei Stein/Jonas, Die Zivilprozessordnung für das Deutsche Reich, Erster Band, 14. Aufl. 1928. § 7 der EntlVO, nach dessen S. 1 das Gericht mit Einverständnis der Parteien eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung treffen konnte, war durch die BeschleunigungsVO vom 22.12.1923 geschaffen worden, s. hierzu und zu der seit 1915 bestehen-
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IX. Die Juristenausbildung
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schriftlichen oder gemischt mündlich-schriftlichen Verfahren habe der Vortrag des Berichterstatters über die Sach- und Rechtslage offensichtlich große Bedeutung für die Urteilsfindung im Kollegium, was im Übrigen auch bei rein mündlichen Verfahren sehr oft so sei479. Sattelmacher änderte nicht nur die einführende Funktionsbeschreibung480, sondern nahm bei erhalten gebliebener Grobgliederung eine Vielzahl weiterer Veränderungen im Text vor. Die lediglich zwei Seiten abdeckende Passage über die Feststellung der Tatsachen im Votum bzw. Gutachten bei Daubenspeck481 ersetzte Sattelmacher durch einen 13 Seiten umfassenden Abschnitt über die Untersuchung des Tatbestandes482, der mit Ausführungen zur Schlüssigkeitsprüfung begann, welche durch breite Darlegungen zu deren Aufbau im Abschnitt »Einteilung der Erörterungen« vorbereitet wurden483. Mit »Schlüssigkeitsprüfung« verwendete Sattelmacher einen Begriff, der in den entsprechenden Passagen des Buches von Daubenspeck noch nicht zu finden ist484. Neu war auch, dass nun zwischen der zunächst vorzunehmenden Prüfung des Klägervorbringens und der anschließenden Untersuchung des Verteidigungsvortrags des Beklagten geschieden wurde485. Die Zweiteilung der heutigen Relationstechnik, verstanden als die zwischen Kläger- und Beklagtenvorbringen differenzierende Sachverhalts- und Rechtsanalyse, war damit vollzogen. (b) Die Tendenz zu einem stärker schriftlich geprägten Verfahren zeigte sich auch in der Novelle von 1933, die § 129 Abs. 1 S. 2 ZPO aufhob, der angeordnet hatte, die Nichteinreichung vorbereitender Schriftsätze habe auch im Anwaltsprozess keine Rechtsnachteile in der Sache selbst zur Folge486. In der nach der Novelle 1933 erschienenen Auflage des Anleitungsbuches ergänzte Sattelmacher seine einleitenden Bemerkungen zur Schriftlichkeit des Prozesses dementsprechend durch einen Hinweis auf die erheblichen Nachteile, die einer Partei drohten, welche die rechtzeitige (schriftsätzliche) Vorbereitung der mündlichen Verhandlung versäume487. Außerdem verwies er nun zusätzlich auf einen Erlass des Preußischen Justizministers aus dem Dezember 1933, der den Richtern allgemein die regelmäßige Anfertigung »kurzer … Gutachten …, die bei aller Kürze doch die wesentlichsten Punkte (des Prozeßstoffs) klar und übersichtlich erkennen lasden Gesetzeslage Stein/Jonas, Die Zivilprozessordnung für das Deutsche Reich, Erster Band, 14. Aufl. 1928, nach § 128 Anm. I. 479 Zu Letzterem Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 13. Aufl. 1930, S. 3 Fn. 4. 480 In einer Fußnote wies er kurz noch darauf hin, dass Richter bei den Oberlandesgerichten durchaus schriftliche Rechtsgutachten ausarbeiten, s. Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 13. Aufl. 1930, S. 6 Fn. 1. 481 Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 54 f.; fast vollständig wortgleich Daubenspeck, Referat, Votum und Urteil, 11. Aufl. 1911, S. 98 f. 482 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 13. Aufl. 1930, S. 136 ff. 483 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 13. Aufl. 1930, S. 114 bis 119. 484 Vorstehend (3)(d) mit Nachweisen. 485 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 13. Aufl. 1930, S. 114 und 117 sowie 136 f. 486 Die Vorschrift hatte den unter (3)(a) bereits erwähnten § 120 Abs. 1 S. 2 CPO ersetzt. § 129 Abs. 1 S. 2 ZPO musste gestrichen werden, weil die Novelle von 1933 in § 279 Abs. 2 ZPO a. F. eine dem heutigen § 296 Abs. 2 ZPO entsprechende Regelung einfügte, nach der Angriffsund Verteidigungsmittel zurückgewiesen werden konnten, die nicht rechtzeitig durch vorbereitende Schriftsätze mitgeteilt worden waren. 487 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 14. Aufl. 1934, S. 2.
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
sen«, anempfohlen hatte488. Dieses »Kurz-Gutachten« übernehme die Funktion des Referats alten Stils489 und des Gutachtens alter Art490, von denen es sich nur in der Form unterscheide (»Telegrammstil«)491. Die zu leistende Gedankenarbeit sei gleich492. Im Anschluss an die von Daubenspeck übernommene Passage493, dass der »Urteilsfasser« sich mit der Ausarbeitung eines schriftlichen Rechtsgutachtens nicht befassen494, sondern sich darauf beschränken werde, die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gründlich zu durchdenken und seinem Gedächtnis nötigenfalls durch kurze Aufzeichnungen nachzuhelfen, hieß es nun495: »Eine Änderung dieses Zustandes führt der Erlass des Preußischen Justizministers herbei«. Sattelmacher unterschied ausdrücklich zwischen den bisher üblichen »Terminzettel-Voten« und den jetzt angezeigten »Kurz-Gutachten«496. Die Änderungen in der Einleitung machen ebenso wie die bereits aus der Vorauflage bekannten Ausführungen zur Schriftlichkeit des Zivilverfahrens deutlich, dass Sattelmacher bemüht war, die berufspraktische Bedeutung der Relationstechnik soweit wie eben möglich herauszustellen. Bei der weitgehenden Gleichsetzung von klassischer Relation und »Kurz-Gutachten« vernachlässigte er freilich den Zweck des »Kurz-Gutachtens«. Dieses diente nicht einer abschließenden Entscheidungsfindung im Kollegium, sondern – wie Sattelmacher beiläufig erwähnt – dazu, die Verhandlung vorzubereiten497. (c) Für die 1937 erschienene 15. Auflage nahm Sattelmacher eine »durchgreifende Umarbeitung« des Buches vor498. Die Einleitung versah er mit der Überschrift »Die Bedeutung von Bericht und Gutachten im heutigen Prozeß« und straffte sie entsprechend diesem Leitmotiv. Dadurch wurden die Ausführungen über die Schriftlichkeit des Verfahrens und vor allem die vorher durch einen Einschub unterbrochenen Passagen über den Erlass des Preußischen Justizministers zu den richterlichen »Kurz-Gutachten« vom Dezember 1933, der durch Erlass des Reichsjustizministeriums vom November 1935 für das ganze Reichsgebiet ausgedehnt worden war499,
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DJ 1933, 800. Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 14. Aufl. 1934, S. 3 f. 490 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 14. Aufl. 1934, S. 6. 491 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 14. Aufl. 1934, S. 4 (zum Referat), S. 6 (zum Gutachten). 492 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 14. Aufl. 1934, S. 3 f., 6. 493 Vgl. etwa Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 5. Aufl. 1894, S. 3, wegen des möglicherweise von den Schriftsätzen abweichenden Gegenstandes der mündlichen Verhandlung; s. auch bereits (3)(a) zu den entsprechenden Ausführungen in der ersten Auflage. 494 Von Sattelmacher frühzeitig eingeschränkt durch den Zusatz »in der Regel« und einen Verweis auf die abweichende Praxis bei den Oberlandesgerichten, s. Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 13. Aufl. 1930, S. 6. 495 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 14. Aufl. 1934, S. 6. 496 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 14. Aufl. 1934, S. 4. 497 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 14. Aufl. 1934, S. 3; s. im Einzelnen DJ 1933, 800. 498 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 15. Aufl. 1937, S. 3. 499 So Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 15. Aufl. 1937, S. 12; s. DJ 1935, 1654: »Der Richter selbst muß mit voller und sicherer Beherrschung des Prozeßstoffs in tatsächlicher und rechtlicher Beziehung in die Verhandlung eintreten. Das wird am ehesten gewährleistet durch die regelmäßige Anfertigung kurzer schriftlicher Gutachten, die die wesentlichsten Punkte klar und übersichtlich hervortreten lassen. Das gilt auch für den Alleinrichter, der entspre489
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IX. Die Juristenausbildung
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stärker betont500. Insgesamt war die Einleitung jetzt noch eindeutiger auf die richterliche Tätigkeit ausgerichtet. Sattelmacher änderte auch die Einteilung des Buches. Er schickte »der Besprechung der einzelnen Arbeiten – Bericht, Gutachten und Urteil – einen neuen, selbständigen Abschnitt« voran, »der die vorbereitende Gedankenarbeit des Berichterstatters im Zusammenhang darstellt, die jeder Richter heute wie früher zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung und der Entscheidung des Rechtstreites zu leisten hat«501. In diesem Abschnitt fasste er »all diejenigen Hinweise und Ratschläge für die Behandlung des Streitstoffes zusammen«, die für alle Relationsarbeiten gleichermaßen zu beachten seien502, also den Allgemeinen Teil der nun prinzipiell auch für den Richter geltenden Relationstechnik bildeten. In dem neuen, mit »Die vorbereitende Tätigkeit des Berichterstatters« überschriebenen Ersten Abschnitt wurde zunächst nochmals betont, dass es um die gesamte vorbereitende Gedankenarbeit gehe, die jeder Richter zur Vorbereitung der Verhandlung und Entscheidung zu leisten habe, und eingehend begründet, weshalb diese die unerlässliche Voraussetzung einer gewissenhaften und zuverlässigen Rechtsprechung sei503. Anschließend wurden »Allgemeine Grundsätze« über den Prozess aufgestellt. Der heutige Zivilprozess sei von der Verhandlungsmaxime beherrscht504. So als hätte es weder die jahrzehntelange Diskussion über eine grundlegende Reform der Zivilprozessordnung durch eine straffere Konzentration des Verfahrens und eine Stärkung der Richtermacht505, häufig umschrieben mit den Schlagworten vom liberalen oder sozialen Zivilprozess506, noch die Novellen von 1909, 1924 und 1933, welche die richterliche Prozessleitung erweitert hatten507, gegeben, hieß es dann zur Aufgabe der Parteien martialisch508: Jeder Prozess ist ein Kampf, den die Parteien vor dem Richter nach den in der ZPO dafür aufgestellten Regeln austragen. Mit dem Angriff des Klägers, der Erhebung der Klage, beginnt der Kampf. Anschließend ging es dann – friedlicher – mit dem Inhalt der »Klagebitte« und der Verteidigung des Beklagten weiter, bevor Sattelmacher die Aufgabe des Richters umschrieb: Die geschilderte Betrachtungsweise von Angriff und Verteidigung als dem Ringen der Parteien um die richterliche Anerkennung des Eintritts von Rechtswirkungen müsse für den Richter der Ausgangspunkt seiner Arbeit sein509. Aus dieser Erkenntnis folge als
chende Aufzeichnungen zur Vorbereitung der Verhandlung, vor allem in umfangreichen und verwickelten Sachen, nicht versäumen sollte«. 500 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 15. Aufl. 1937, S. 10 f., 12 f. 501 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 15. Aufl. 1937, S. 3; inhaltsgleich S. 17. 502 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 15. Aufl. 1937, S. 3. 503 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 15. Aufl. 1937, S. 17. 504 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 15. Aufl. 1937, S. 17. 505 Überblick bei Brehm, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 22. Aufl. 2003, vor § 1 Rn. 150, 159 ff., 167 ff. 506 Vgl. aus dem zeitgenössischen Schrifttum etwa Stein/Jonas, Die Zivilprozessordnung für das Deutsche Reich, Erster Band, 14. Aufl. 1928, S. XXIX ff. 507 Hierzu Brehm, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 22. Aufl. 2003, vor § 1 Rn. 150 f., 160 f., 172 f. 508 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 15. Aufl. 1937, S. 18. 509 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 15. Aufl. 1937, S. 28.
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
»oberster Grundsatz der Rechtsfindung: Die Verteidigung des Beklagten kann nur dann Bedeutung für die Entscheidung der Rechtsstreites gewinnen, wenn der Vortrag des Klägers, für sich betrachtet, das Klagebegehren rechtfertigt, die Replik des Klägers nur dann, wenn die Verteidigung des Beklagten geeignet ist, die an sich schlüssige Klage zu Falle zu bringen«510. Diese Erwägungen bestimmten den Gang der anzustellenden Überlegungen, so dass sich die Aufgabe des Richters in fünf Schritten darstellen lasse511: Stoffsammlung, Bestimmung des für das Klagebegehren maßgebenden Rechtssatzes, Untersuchung des Klagevortrags auf seine Schlüssigkeit, Untersuchung der Schlüssigkeit des Verteidigungsvortrags des Beklagten, Prüfung der Beweisbedürftigkeit der streitentscheidenden Tatsachen. Diese Tätigkeitsabschnitte der vorbereitenden Gedankenarbeit des Richters512 wurden in den folgenden Unterabschnitten des Ersten Abschnitts des Näheren besprochen, wobei die beiden Schlüssigkeitsprüfungen zu einem Unterabschnitt zusammengefasst wurden513. Aufgrund der durchgreifenden Umarbeitung des Buches kam der doppelten Schlüssigkeitsprüfung nunmehr eine zentrale Stellung für die Relation und für die Aufgabe des Richters im Prozess zu. Sie war aus dem vergleichsweise peripheren Abschnitt über die Untersuchung des Tatbestandes beim Rechtsgutachten in den neuen, die allgemeinen Lehren der Relation vermittelnden Abschnitt über die vorbereitende Tätigkeit des Richters verlagert worden und wurde unter der Überschrift »Die Aufgabe des Richters« vorgestellt. Die doppelte Schlüssigkeitsprüfung war jetzt für den Richter »oberster Grundsatz der Rechtsfindung«514. Die Relation, ursprünglich ein Hilfsmittel der Entscheidungsfindung im Kollegium, war zu einer allgemeinen, auch für Einzelrichter geltenden Erkenntnismethode »gereift«. So vollendete Sattelmacher die von ihm in den Vorauflagen vorbereitete Einheit von richterlicher Tätigkeit und Relationstechnik. Damit war die Relationstechnik, bei Daubenspeck noch ein Instrument für Referendare zum Erlernen richterlicher Gedankengänge, endgültig zur Arbeitsmethode des Richters gewandelt worden. (d) Die neue Grundstruktur des Buches blieb bis zu dessen Überarbeitung durch Sirp im Jahre 1972 unverändert erhalten515. Die doppelte Schlüssigkeitsprüfung scheint sich im Gefolge der Reichsjustizausbildungsordnung von 1934516 allgemein durchgesetzt zu haben. Ein süddeutscher Referendarausbilder hat für die Jahre 1923 bis 1932 versichert, dass damals weder die Prüfenden noch die Geprüften etwas von Schlüssigkeitsprüfung, Stationen und dergleichen ge510 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 15. Aufl. 1937, S. 28 f. Die gesamte wörtlich zitierte Passage ist im Original gesperrt gesetzt. 511 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 15. Aufl. 1937, S. 29 f. 512 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 15. Aufl. 1937, S. 30. 513 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 15. Aufl. 1937, S. 52 ff. 514 Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 15. Aufl. 1937, S. 28. 515 Vgl. Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 15. Aufl. 1937, S. 5 bis 7 einerseits und Sattelmacher/Lüttig/Beyer, Bericht, Gutachten und Urteil, 25. Aufl. 1968, S. VI bis IX andererseits. Der einzige erwähnenswerte Unterschied besteht darin, dass ab der 1941 erschienenen 17. Auflage ein fünfter Abschnitt »Der mündliche Vortrag« aufgenommen wurde, vgl. Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 18. Aufl. 1944, S. VI (Vorwort zur 17. Aufl.) 516 Hierzu Arbeitskreis für Fragen der Juristenausbildung e. V., Die Ausbildung der deutschen Juristen, 1960, S. 70.
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IX. Die Juristenausbildung
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wusst hätten; der regelmäßige Gebrauch des »Daubenspeck« und seiner Fortsetzer sei erst mit der Verreichlichung der Justiz und des Prüfungswesens im Jahr 1935 nach Süddeutschland gedrungen517. (e) Festzuhalten ist, dass die doppelte Schlüssigkeitsprüfung im klassischen Relationsanleitungsbuch erst enthalten ist, nachdem Sattelmacher die Bearbeitung übernommen hatte. Sattelmacher versuchte, die berufspraktische Bedeutung der Relationstechnik möglichst herauszustellen. Bei der auf die richterliche Tätigkeit zielenden Umarbeitung des Buches im Jahre 1937 kam der doppelten Schlüssigkeitsprüfung, die als oberster Grundsatz der richterlichen Rechtsfindung bezeichnet wurde, eine zentrale Rolle zu. Sattelmacher erklärte die Relationstechnik zur Arbeitsmethode des Richters. Begünstigt wurde dieser Perspektivenwechsel durch den Abbau des Mündlichkeitsgrundsatzes infolge der Novellen von 1909, 1924 und 1933, von denen die sog. Emmingernovelle von 1924 besonderes Gewicht hatte. Die neuen schriftlichen Verfahren(steile) steigerten die prozesspraktische Bedeutung des Relationsdenkens. Entsprechendes gilt für den Erlass des Preußischen Justizministers über richterliche Kurzgutachten aus dem Jahr 1933, der 1935 auf das ganze Reichsgebiet ausgedehnt wurde. Vernachlässigt wurde bei der Renaissance der richterlichen Relation die zweite grundlegende Veränderung des ursprünglichen Zivilprozesses. Die genannten Novellen hatten nicht nur den Mündlichkeitsgrundsatz eingeschränkt, sondern auch die richterliche Prozessleitung erweitert. Die Stärkung der Richtermacht durch Zurückdrängen der Parteiherrschaft über den Prozess518 hat in Sattelmachers Prozessbild nicht stattgefunden. Wenn er den »heutigen« Zivilprozess beschreibt, welcher die Grundlage der »Tätigkeit des Zivilprozeßrichters« und des gesamten Relationsmodells bilde, erscheinen der Verhandlungsgrundsatz in Reinform und die überkommene Idee des freien Spiels der Kräfte vor dem passiv bleibenden Gericht (»Kampf der Parteien«). (5) Der Überblick zur Geschichte der Relation führt zu folgenden Ergebnissen: Relationen gibt es in Deutschland seit dem 16. Jahrhundert. Am Ende eines schriftlichen Verfahrens wurden nach Schluss der Akten ein Sachbericht und ein Votum erstellt, um die nicht mit dem Akteninhalt vertrauten Mitglieder des Gerichtskollegiums umfassend über die Sach- und Rechtslage zu informieren und ihnen aufgrund der Relation eine eigene Entscheidung in der Sache zu ermöglichen. Der Entscheidungsvorschlag des Referenten im Votum soll in topischer bzw. scholastischer Manier durch ein Abwägen zwischen den voneinander getrennten »rationes dubitandi« und »rationes decidendi« gewonnen worden sein. Die Funktion der Relation veränderte sich, als 1833 eine 1846 verallgemeinerte mündliche (Schluss-)Verhandlung nach Beendigung des Schriftenwechsels in das schriftliche Verfahren nach der Allgemeinen Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten eingeführt wurde. Die Relation zerfiel in zwei selbständig vorzutragende Teile. Das Referat, also der Sachbericht über das Tatsachenmaterial, fand 517
So K. Jordan, JZ 1952, 555. So Brehm, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 22. Aufl. 2003, vor § 1 Rn. 160. 518
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
am Anfang der öffentlichen Sitzung statt, während das Votum mit Rechtsausführungen und Entscheidungsvorschlag dem Kollegium zu Beginn der abschließenden Beratung vorgetragen wurde. Die für die heutige Relationstechnik als charakteristisch angesehene doppelte Schlüssigkeitsprüfung im Gutachten findet sich in der allgemeinen Anweisung des Präsidiums des Königlichen Appellationsgerichts in Naumburg aus dem Jahre 1852 noch nicht. Die Struktur der empfohlenen rechtlichen Argumentation im Votum ist topisch. Der ursprüngliche praktische Zweck der Relation entfiel 1879, als die Civilprozeßordnung für das Deutsche Reich in Kraft trat. Es war nicht mehr nach Lage der Akten, sondern aufgrund der mündlichen Verhandlung zu entscheiden. Die berichterstattenden Richter erstellten wegen des nun geltenden Mündlichkeitsgrundsatzes keine ausführlichen Referate oder Voten mehr, sondern prüften den gegenwärtigen Akteninhalt nur noch gedanklich in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht, unterstützt durch »Terminzettel«. In der Gerichtspraxis wurde die Relation von einem verfahrensabschließenden Instrument der Entscheidungsfindung im Kollegium zu einem auf die Grundstrukturen reduzierten und stets nur vorläufige Erkenntnisse liefernden Mittel der Verhandlungsvorbereitung. Die klassische detaillierte Relation war jetzt ein reines Schulungsinstrument. Daubenspeck vertrat in seinem Anleitungsbuch die Ansicht, Bericht und Votum hätten keinen praktischen Nutzen für den Prozess mehr, sondern dienten allein der Ausbildung der Referendare (»Geistesgymnastik«). Er unterschied ausdrücklich zwischen der gedanklichen Prozessvorbereitung durch den Richter und der vom Referendar zu Übungszwecken zu erstellenden Relation, die das Thema seines Buches bildete. In den Hinweisen zur Prüfung im Votum sucht man den Begriff »Schlüssigkeit« bei Daubenspeck noch vergeblich. Seine konkreten Regeln über die Abfassung des Votums sind nicht nennenswert »moderner« als diejenigen, die das Präsidium des Königlichen Appellationsgerichts in Naumburg aufgestellt hatte. Die Novellen von 1909, 1924 und 1933 veränderten den deutschen Zivilprozess grundlegend, indem sie die richterliche Prozessleitung erweiterten und den Mündlichkeitsgrundsatz zurückdrängten. Der Trend zu stärkeren schriftlichen Elementen im Zivilverfahren ging mit einem Ausbau der Relationstechnik einher. Sattelmacher legte 1929 eine Neubearbeitung des Anleitungsbuches von Daubenspeck vor, welche dann für die 1937 erschienene 15. Auflage nochmals durchgreifend umgearbeitet wurde. Sattelmacher bemühte sich von Anfang an, die prozesspraktische Bedeutung der Relationstechnik in jeder erdenklichen Weise herauszustellen und verwies auf zahlreiche angebliche Gemeinsamkeiten zwischen der Relation und dem Verfahren nach der Zivilprozessordnung. Im Rechtsgutachten führte er den Terminus »Schlüssigkeitsprüfung« in das Buch ein und trennte zwischen der zunächst vorzunehmenden Prüfung des Klägervorbringens und der anschließenden Untersuchung des Verteidigungsvortrags des Beklagten. Seit Sattelmacher die Bearbeitung des klassischen Anleitungsbuches übernahm, enthält dieses die doppelte Schlüssigkeitsprüfung im Rechtsgutachten, die den Kern der heutigen Relationstechnik ausmachen soll. 1937 vollendete Sattelmacher die von ihm in den Vorauflagen vorbereitete Einheit von richterlicher Arbeitsmethode und Relationstechnik. Er versah die Einleitung mit der Überschrift »Die Bedeutung von Bericht und Gutachten im heutigen Prozeß«
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und richtete sie noch eindeutiger auf die zivilrichterliche Tätigkeit aus. Der Besprechung der einzelnen Relationsteile stellte er einen neuen, mit »Die vorbereitende Tätigkeit des Berichterstatters« überschriebenen allgemeinen Abschnitt voran, der – so Sattelmacher – die gesamte Gedankenarbeit im Zusammenhang darstellte, die jeder Richter heute wie früher zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung und der Entscheidung des Rechtsstreits zu leisten habe. Die doppelte Schlüssigkeitsprüfung wurde unter der Überschrift »Die Aufgabe des Richters« vorgestellt und als »oberster Grundsatz der Rechtsfindung« bezeichnet. Ihr kam jetzt in Sattelmachers Konzept die zentrale Rolle für die Relation und damit für die Aufgabe des Richters im Prozess zu. Die Relationstechnik war endgültig zu der Erkenntnis- und Arbeitsmethode des Richters gewandelt worden. Ermöglicht wurde dieser Rollenwechsel der Relation durch ein Prozessbild, das die Verhandlungsmaxime absolut setzte und die ursprüngliche richterliche Fragepflicht nach § 130 CPO sowie die zwischenzeitlichen Erweiterungen der richterlichen Prozessleitung ausblendete. Begünstigt wurde die Wiedergeburt der Relation als richterlicher Arbeitsmethode und ihr Ausbau zu einem allgemeinen richterlichen Erkenntnisschema vor allem durch den Abbau der Mündlichkeit des Zivilverfahrens in den Novellen von 1909, 1924 und 1933, daneben aber auch durch die Ministererlasse über richterliche Kurzgutachten aus den Jahren 1933 und 1935. dd. Für die bisherigen Einschätzungen im Schrifttum zu Herkunft und Entstehungszeit der »modernen« Relationstechnik folgt hieraus vorbehaltlich einer zu abweichenden Ergebnissen führenden eingehenden rechtsgeschichtlichen Untersuchung519: Die gängige These, die Relationstechnik, die zur Zeit des sog. Relationsstreits vertreten wurde und auch heute mit geringfügigen Modifikationen noch vertreten wird, sei in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entstanden520, hat sich bei der hier vorgenommenen Überprüfung ebenso wenig bestätigt wie die Gegenthese, sie existiere bereits seit Jahrhunderten. Die äußere Form der Relation und die Regeln für den Aufbau des Sachberichts gab es schon lange vor dem Deutschen Kaiserreich. Die heute als inhaltliches Kernstück der Relation angesehene doppelte Schlüssigkeitsprüfung im Gutachten scheint sich erst viel später durchgesetzt zu haben. Die nicht belegte Behauptung von Berger, man prüfe seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, ob ein klägerisches Vorbringen schlüssig und das Beklagtenvorbringen erheblich sei521, wird durch die Auswertung einzelner Auflagen des traditionellen Relationsanleitungsbuches nicht bestätigt. Im »Klassiker« der deutschen Relationsliteratur findet sich die doppelte Schlüssigkeitsprüfung erst, seitdem Sat519 Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass in Ermangelung einer auf inhaltliche Aspekte zielenden, umfassenden historischen Untersuchung allen Einschätzungen zur Geschichte der Relation und der Relationstechniken zurzeit das sichere Fundament fehlt, s. cc. 520 H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnischmethodischen Argumentationsformen, 1975, S. 26; zusammenfassend Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 17 f. m.w.N. 521 H. L. Berger, Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnischmethodischen Argumentationsformen, 1975, S. 26, wo er dies als ein Ergebnis seiner Untersuchung ankündigt, dann aber nicht mehr auf diesen Aspekt eingeht.
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telmacher 1929 die Bearbeitung übernommen hat. 1937 galt sie dann als oberster Grundsatz der praktischen richterlichen Rechtsfindung. Die Relation war endgültig zu der Arbeitsmethode des Richters geworden, die sie noch heute darstellen soll. Entgegen der bisherigen Bewertungen wird hier aufgrund der Ausführungen in den einzelnen Auflagen des klassischen Relationsbuches die These vertreten, dass die gegenwärtige Relationstechnik nicht im 19. Jahrhundert oder gar früher, sondern erst im 20. Jahrhundert im Anschluss an den Abbau des früher sog. Mündlichkeitsprinzips522 durch die Novellen von 1909 und insbesondere von 1924 entstanden und sich dann, unterstützt durch die Novelle 1933 und die Ministererlasse über richterliche Kurzgutachten von 1933 und 1935 im Gefolge der Reichsjustizausbildungsordnung von 1934 in Deutschland allgemein durchgesetzt hat. g. Ausdruck eines überholten Richterbildes? Vor dem geschilderten geschichtlichen Hintergrund kann die Frage beantwortet werden, ob die Relationstechnik auf einem überholten Richterbild beruht. Im Schrifttum ist geltend gemacht worden, die aus der Blütezeit des Obrigkeitsstaates stammende Relationstechnik besitze einen ausgesprochen undemokratischen Erziehungswert523 und sehe den Richter als Subsumtionsmaschine, welche nur abzuleiten und die gesetzlichen Machtsprüche ohne Nachzudenken durchzusetzen habe524. Auch wegen der gezogenen Parallele zum Exerzierreglement der Militärmaschine, das den Rekruten eingebläut wurde, ist treffend formuliert worden, hier glaube man, in der Relationstechnik ausschließlich den wilhelminischen Schnürstiefel zu erkennen525. Die Verknüpfung von wilhelminischem Obrigkeitsstaat und heutiger Relationstechnik ist nach der vorstehend begründeten These historisch nicht richtig, weil die für die moderne Relationstechnik charakteristische Zweiteilung der Sach- und Rechtsprüfung entgegen den bisherigen Einschätzungen nicht aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert, sondern aus der nachwilhelminischen Ära stammt. Sie ist darüber hinaus in der Sache falsch. Die Relationstechnik ist weder »undemokratisch« noch zwangsläufig mit einem bestimmten Rechtsfindungsbild verbunden. aa. Zunächst zur Rechtsfindung: Die elementaren Regeln für den Aufbau der rechtlichen Prüfung im Gutachten526 sind durch das zivilrechtliche Anspruchsdenken bedingt und daher kein spezifisches Problem der Relationstechnik. All522
Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl. 2004, § 79 Rn. 5. Rasehorn, NJW 1970, 1166, 1167; J. Schmidt, JuS 1974, 441, 443; s. auch Hartwieg, ZVglRWiss 101 (2002), 434, 467: vorauseilender Richtergehorsam. 524 Rasehorn, NJW 1970, 1166, 1167; ausführlichere Darstellung dieser Ansicht unter b.aa. – Die unter d.ee. geschilderte Kritik von Eike Schmidt, die Relationstechnik habe ihre Ausprägung vom zu kurz greifenden Subsumtionsmodell erfahren, hat eine andere Zielrichtung. Sie wendet sich nicht gegen das Subsumieren, sondern will den Entscheidungsvorgang entsprechend einem soziologischen Entscheidungsmodell in mehrere Phasen zerlegen, s. E. Schmidt, in: Alternativkommentar zur Zivilprozessordnung, 1987, Einl. Rn. 98, 112 f. 525 H. Weber, JuS 1975, 270; s. bereits f.aa. 526 Reihenfolge der Angriffs- und Verteidigungsmittel usw.; vgl. bereits Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 52 f. 523
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gemeine Fragen der Rechtsfindung werden in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Anleitungsbücher nicht behandelt527. Diese sind »rechtsfindungsneutral«. Allein im Sattelmacher bzw. Daubenspeck findet sich seit langem ein über die Jahrzehnte erheblich ausgebauter, häufig umbenannter Abschnitt über Methoden bzw. Einzelregeln der Rechtsfindung528. Anleitungsbücher bemühen sich stets um Vereinfachung. Atzler sprach noch in den fünfziger Jahren von den Schwierigkeiten der Referendare, durch den Wirrwar eines tatsächlich und rechtlich schwierigen Falles den einzig richtigen Weg zur Entscheidung zu finden, und von der richtigen Entscheidung als dem Ziel des Richters529. Zwar wird auch im Daubenspeck und in den frühen Auflagen des Sattelmacher betont, dass das richterliche Urteil auf einem logischen Schluss beruhe530. Zudem scheint die Bedeutung der Gesetzestexte und des Subsumierens für die Rechtsfindung selbst in der aktuellen Auflage des Anleitungsbuches immer noch etwas überschätzt zu werden531. Dass man bei der Rechtsfindung auch im Rahmen einer Relation erforderlichenfalls das Gesetzesrecht fortzubilden hat, ist aber unstreitig532. Die zitierten Äußerungen aus dem klassischen Anleitungsbuch für Referendare, die mit heute weithin verbreiteten vereinfachenden Ansichten übereinstimmen533, sind kein Ausdruck eines subsumtionspositivistischen Rechtsfindungsverständnisses534. Der wertende Charakter der Rechtsfindung wird im Sattelmacher seit jeher 527 Vgl. etwa Anders/Gehle, Das Assessorexamen im Zivilrecht, 8. Aufl. 2005; Furtner, Das Urteil im Zivilprozess, 5. Aufl. 1985; U. Gottwald, Das Zivilurteil, 1999; M. Huber, Das Zivilurteil, 2. Aufl. 2003; Knöringer, Die Assessorklausur im Zivilprozess, 11. Aufl. 2005; Nordhues/ Trinczek, Technik der Rechtsfindung, 6. Aufl. 1994; Siegburg, Einführung in die Urteilstechnik, 5. Aufl. 2003; W. Zimmermann, Klage, Gutachten und Urteil, 18. Aufl. 2003. 528 Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 151 ff. (Arbeit an der Norm); s. zum Vergleich auch Sattelmacher/Sirp, Bericht, Gutachten und Urteil, 29. Aufl. 1983, S. 9 ff. (Methode der Rechtsfindung), 32 ff. (Arbeit an der Norm); Sattelmacher/Lüttig/ Beyer, Bericht, Gutachten und Urteil, 19. Aufl. 1950, S. 27 ff. (Auffindung des Rechtssatzes); Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 15. Aufl. 1937, S. 38 ff. (Bestimmung des Rechtssatzes); Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 14. Aufl. 1934, S. 119 ff. (Prüfung der Rechtsgrundlagen des Anspruchs), wie in allen Vorauflagen noch im Abschnitt über das Rechtsgutachten bzw. Votum; Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 13. Aufl. 1930, S. 119 ff. (Prüfung der Rechtsgrundlagen des Anspruchs); Daubenspeck, Referat, Votum und Urteil, 11. Aufl. 1911, S. 95 ff. (Rechtliche Erörterungen); Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 5. Aufl. 1894, S. 73 f. (Rechtliche Erörterungen); Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 54 (Rechtliche Erörterungen). 529 Aztler, MDR 1952, 464, 465. 530 Vgl. im Einzelnen § 6 II. mit zahlreichen Nachweisen; s. auch bereits Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 1 und 90. 531 Hierzu § 6 III. 532 Vgl. Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 164 ff., 172 ff., wo bestimmte Rechtsfortbildungsfragen (Ausfüllung unbestimmter Normen, Ergänzung unvollständiger Normen durch Analogieschluss) recht ausführlich geschildert werden, freilich ohne konkrete Lösungsvorschläge zu unterbreiten. 533 Die Gesetzesauslegung wird als Normal- und Regelfall der auf die Rechtsfindung reduzierten Entscheidungsfindung angesehen, s. § 7 IV. und V.6.f. Auch der sog. Justizsyllogismus (Gesetz als Obersatz, Sachverhalt als Untersatz, Urteil als Folgerung) wird heute noch verwendet, um die Grundstruktur richterlichen Entscheidens zu veranschaulichen, s. etwa Gummer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 546 Rn. 6. 534 Vgl. etwa Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 178: »Natürlich erschöpft sich Rechtsfindung nicht allein in der kühlen und logischen Subsumtion eines nach emotionsfreien Regeln ermittelten Lebenssachverhalts unter die Tatbestandselemente einer Norm«.
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betont. Bemerkenswert frühzeitig finden sich Äußerungen zu Fragen der Fortbildung des Gesetzesrechts535. Die Beurteilung streitiger Rechtsverhältnisse im Gutachten, dem angeblichen Zentrum des nur ableitenden Subsumierens536, charakterisierte schon Daubenspeck ab der ersten Auflage wie folgt537: »Hier müssen sich Rechtskenntnisse und praktische Erfahrungen mit Takt und Geschick vereinigen, um auf möglichst einfache Art ein gerechtes Urtheil herbeizuführen und dadurch den Rechtsstreit zu Ende zu bringen«. Seine Ratschläge zu den rechtlichen Erörterungen im Votum lauteten538: »Ist der Rechtssatz streitig, so ist dieser zunächst eingehend zu erörtern; es sind dazu die einschlagenden Gesetze, die Judikatur und Literatur zu studiren und unter Berücksichtigung aller Zweifelsgründe (rationes dubitandi) eine bestimmte Meinung abzugeben. … Aber der Referent darf sich nicht verleiten lassen, lediglich auf Ansichten von Rechtslehrern und Präjudikate der Gerichtshöfe seine Ansicht zu gründen, sondern hat zunächst seine Meinung aus dem Gesetz selbst zu entwickeln«. Die empfohlene Vorgehensweise weist topische Elemente (»rationes dubitandi«) auf und ist nicht ableitend-syllogistisch, sondern problembezogen und wertend. Später meinte Daubenspeck ergänzend, der Berichterstatter solle sich, ehe er die gesetzlichen Gründe zu seiner Entscheidung aufsuche, zunächst klar machen, wie er den Rechtsstreit nach seinem gesunden Menschenverstand entscheiden würde539. Auch müsse das Streben des Juristen dahin gehen, den gegebenen Rechtsstoff mit derselben Freiheit zu behandeln, die man an den Werken der Römer heute noch bewundere. Die lebendige Konstruktion des Rechtsverhältnisses in jedem gegebenen Fall sei, so hieß es540 unter Berufung auf Savigny541, das geistige Element der juristischen Praxis und unterscheide ihren edlen Beruf von dem bloßen Mechanismus, den so viele Unkundige darin sehen. Daubenspeck warnte sogar nachdrücklich – mit einem bemerkenswerten Sprachbild – vor der gedankenlosen Durchsetzung der Gesetze: »Der preußische Jurist hüte sich überdies vor jener Unteroffizier-Jurisprudenz, die das Gesetzbuch wie ein Reglement behandelt und sich niemals zu einer freien Auffassung aufraffen kann«542. Die metaphorische Übereinstimmung mit der späteren Kritik an der Re-
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Vgl. Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 13. Aufl. 1930, S. 126 f. Vgl. Rasehorn, NJW 1970, 1166, 1167. 537 Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 50; ders., Referat, Votum und Urteil, 11. Aufl. 1911, S. 88, mit der Ergänzung, dass der Rechtsstreit »schnell und sachgemäß« zu Ende zu bringen sei. 538 Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 54; inhaltlich übereinstimmend ders., Referat, Votum und Urteil, 11. Aufl. 1911, S. 96. 539 Daubenspeck, Referat, Votum und Urteil, 11. Aufl. 1911, S. 88 Fn. 2. 540 Daubenspeck, Referat, Votum und Urteil, 11. Aufl. 1911, S. 88 f. 541 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 8; hierzu bereits 4.b.aa. 542 Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 5. Aufl. 1894, S. 69, wo es weiter heißt: »So kasuistisch das A.L.R. auch gefaßt sein mag, ein Kochbuch, das für jeden Fall ein Rezept enthielte, ist es darum immer noch nicht; von eigener Konstruktion des Rechtssatzes wird der Richter dadurch nicht entbunden …«; ebenso Daubenspeck, Referat, Votum und Urteil, 11. Aufl. 1911, S. 89; s. dort auch S. 90, wo einerseits die viel freiere Stellung nach dem BGB und die mit den §§ 157, 242, 826 BGB sowie einer richtigen Anwendung der freien Beweislehre verbundene weitgehende Macht des Richters (ähnlich der des römischen Prätors) betont und andererseits die bürokratische Erziehung der jungen Juristen beklagt wird. 536
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lationstechnik ist bezeichnend und widerlegt die These vom »wilhelminischen Schnürstiefel« endgültig. Aus Daubenspecks Relationsbuch blickt uns weder Heinrich Manns Untertan noch eine Subsumtionsmaschine entgegen. bb. Die Relationstechnik ist ein systemneutrales Instrument, das bei der Umsetzung der jeweiligen bindenden Entscheidungsvorgaben helfen soll. Der Vorwurf, sie sei »undemokratisch«, trifft in einem demokratischen Rechtsstaat nicht zu543. Demokratie setzt als Mehrheitsherrschaft voraus, dass der Richter an die in dem dafür vorgesehenen Verfahren zustande gekommenen und verbindlichen Mehrheitsbeschlüsse gebunden ist. Deshalb muss sich der Richter bei seiner Entscheidung grundsätzlich innerhalb der normativen Vorgaben bewegen und in den Entscheidungsgründen stets darlegen, dass er die Gesetze beachtet hat. Die gutachtliche Relationsprüfung dient dazu, eine rechts- und sachverhaltsadäquate, unter Beachtung der Gesetze begründbare Entscheidung zu finden. Auf diese Weise trägt sie zu der Verwirklichung der demokratietheoretisch bedeutsamen Gesetzesbindung bei544. Daher ist die Relationstechnik nicht »undemokratisch«. cc. Sie beruht auch nicht deshalb auf einem antiquierten Richterbild, weil sie zwischen der zuerst zu erledigenden Sachverhaltsarbeit und der anschließenden Normanwendung trennt545. Zwar können Tatsachenermittlung und rechtliche Prüfung in schwierigen Fällen in der Tat nicht strikt voneinander geschieden werden. Hinzu kommt, dass Juristen einen Wirklichkeitssausschnitt, den sie rechtlich beurteilen sollen, zwangsläufig aus juristischer Perspektive betrachten und betrachten müssen. Rechtliche Vorverständnisse können nicht vermieden werden, sondern sind bewusst zu machen. Auch das Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Lebenssachverhalt und Rechtsnorm (Engisch) muss bei einem der beiden Bezugspunkte beginnen. Der Rat, die tatsächlichen Angaben zunächst möglichst unvoreingenommen zu betrachten, birgt angesichts der Dominanz des (materiellen) Rechts in der juristischen Ausbildung nicht die Gefahr in sich, dass rechtliche Beurteilungsvorgaben übersehen werden. Die Maxime, zwischen der zunächst durchzuführenden Tatsachenermittlung und der anschließenden rechtlichen Prüfung zu trennen, kann verhindern, dass der Sachverhalt sofort solange verbogen wird, bis er in die rechtliche Konstruktion passt. dd. Schließlich kann das Richterbild der Relationstechnik noch deshalb überholt sein, weil sie beim Sachbericht einen passiven Richter zugrunde legt und die Verantwortung für den zu beurteilenden Sachverhalt ausschließlich bei den Parteien sieht. Die Frage- und Hinweispflichten des Richters haben im Relationsschema keinen Platz gefunden. Die Bedeutung der richterlichen Prozessleitung wird jedoch traditionell als Problem der Prozessauffassungen angesehen und daher auch hier nicht als Thema des Richterbildes, sondern unter der Fragestellung 543 Er wird angesichts der gesellschaftspolitischen Funktion des Richters als »schwer verständlich« bezeichnet von K. Müller, NJW 1970, 1450, 1451. 544 Vgl. insoweit auch Collasius, DRiZ 1971, 73. 545 Vgl. Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 72 und 99.
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behandelt, ob die Relationstechnik auf einem nicht mehr zeitgemäßen Prozessverständnis beruht. h. Die prozessrechtsadäquate Arbeitsmethode? Die Vermutung, dass die Relationstechnik die richterliche Prozessleitung vernachlässigt und daher auf einem rückschrittlichen Prozessverständnis beruht, liegt nach dem bereits Gesagten nahe. aa. Auffallend ist zunächst, dass die gelehrte Relationstechnik nicht die tatsächliche Methode der Praxis ist. Zwar wird im heutigen Relationsschrifttum immer wieder betont, die Relationstechnik sei die Arbeitsmethode des Zivilrichters. Dabei geht es aber mehr um eine gedankliche Grundstruktur, als um die gelehrten detaillierten Regeln für den schriftlichen Sachbericht und das schriftliche Gutachten546. Zudem muss der Richter, der einen Prozess sachgerecht vorbereiten und leiten will, zwingend bestimmte Überlegungen anstellen und Handlungen vornehmen, die im Relationsmodell nicht vorgesehen sind. Das Auseinanderfallen der propagierten Relationstechnik und der selbst praktizierten Arbeitsmethode wird besonders deutlich durch Schellhammers ungewöhnlich offenen und interessanten »Versuch, die eigene Methode zu beschreiben«547. Seine insgesamt aufschlussreichen Ausführungen können hier nur auszugsweise wiedergegeben werden548: »Wenn ich eine Akte zum ersten Male lese, … bemühe ich mich, den Sachverhalt unbefangen aufzunehmen und meinen juristischen Verstand im Zaume zu halten, denn ich weiß, wie wichtig der Sachverhalt ist, und dass ich ihn nicht von vorneherein in eine juristische Konstruktion pressen darf. Ich weiß aber auch, dass ich mein Gehirn nicht einfach abstellen kann. Nur als Jurist bin ich überhaupt im Stande, Anwaltsschriftsätze zu lesen…. Beim zweiten Lesen schreibe ich den Aktenauszug. Ich versuche, das Parteivorbringen in Stichworten und doch vollständig zu erfassen, lieber zu viel als zu wenig festzuhalten. … Schon der Aktenauszug ist ein Kompromiss: nötig und fehlerhaft zugleich. Aber es gibt ja noch den Haupttermin; dort werde ich den Sachverhalt mit den Parteien durchsprechen. … . Einen Sachbericht schreibe ich nicht … . Ein Gutachten schreibe ich auch nicht, löse den Fall aber nicht nur im Kopf, sondern skizziere die Lösung. Die Schlüssigkeitsprüfung teile ich nur dann in die Kläger- und Beklagtenstation auf, wenn der Sachverhalt umfangreich und kompliziert ist. … Ich versuche ernsthaft, die Arbeit am Sachverhalt zu beenden, bevor ich mit der rechtlichen Prüfung beginne, weil ich ungern beides nebeneinan546 Vgl. etwa Anders/Gehle, Das Assessorexamen in Zivilrecht, 8. Aufl. 2005, Rn. 2, wo es heißt, dass der Richter selbst keine Relationen mehr schreiben und sich sicherlich auch nicht mehr mit speziellen Fragen der Relationsmethode auseinandersetzen werde. 547 Vgl. die Kapitelüberschrift bei Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, vor Rn. 52. 548 Vgl. im Einzelnen Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 14. Aufl. 2002, Rn. 52 ff. (Hervorhebungen im Original); in der Folgeauflage hat Schellhammer die Verben in die Vergangenheitsform gesetzt und den Text außerdem an zwei Stellen leicht modifiziert, vgl. Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 52 ff.
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IX. Die Juristenausbildung
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der erledige. Sobald jedoch der Fall undurchsichtig und kompliziert wird, lassen sich Sachverhaltsarbeit und Subsumtion nicht mehr scharf trennen. … Auch wenn ich den guten Willen habe, den Sachverhalt vorurteilsfrei aufzunehmen und zu verarbeiten, ist es mir nicht möglich, das Gefühl aus dem Spiel zu lassen. … Früher hätte ich bestritten, dass meine Gefühle meine Entscheidungen beeinflussen können. Heute versuche ich, Gefühl und Erkenntnis in Einklang zu bringen.« Ein Vergleich mit den traditionellen Relationsregeln ergibt: Die beiden Relationsbestandteile Sachbericht und Gutachten werden von Schellhammer nicht erstellt, sondern durch zwei »Terminzettel«, einen Aktenauszug und eine Lösungsskizze, ersetzt. Die doppelte Schlüssigkeitsprüfung, die den Kern des Relationsgutachtens und ein Kernstück der Arbeitsmethode des Zivilrichters ausmacht549, wird nur bei besonders schwierigen Sachverhalten vorgenommen. Ein oberstes Relationsgebot, die strikte Trennung von Tatsachen und Rechtsfragen, von Arbeit am Sachverhalt und Rechtsprüfung, ist bei Schellhammer aufgrund der Rolle des rechtlichen Vorverständnisses beim Erarbeiten des Sachverhalts relativiert und wird in schwierigen Fällen für nicht praktizierbar erklärt. Außer dem rechtlichen Vorverständnis kommen bei Schellhammer noch zwei weitere zentrale Faktoren der Entscheidungsfindung hinzu, die dem klassischen Relationsschema unbekannt sind: Das »Gefühl«, welches in besonderen Fällen dazu führen kann, »die Beweisanforderungen zu reduzieren, um dem »Opfer« zu seinem »Recht« zu verhelfen«550, und das in jedem Haupttermin geführte Gespräch mit den Parteien über den Sachverhalt. Dass diese Arbeitsmethode den »offiziellen« Relationsregeln und auch den »abgespeckten« Empfehlungen Schellhammers zur Arbeitsmethode des Zivilrichters nicht entspricht, ist offensichtlich. Schellhammer verweist deshalb darauf, dass sich seine »Arbeitsmethode des Zivilrichters« weniger an den Richter als an den Referendar wende, dem sie beibringen will, wie man »richtig« prozessiere. In diesem Zusammenhang heißt es: »Eine Arbeitsmethode lehrt nicht, wie gearbeitet wird, sondern wie gearbeitet werden soll. Sie ist nicht deshalb falsch, weil niemand sie anwendet«. Diese Ausführungen legen die an das gesamte heutige Relationsschrifttum zu richtende Frage nahe, ob eine Literaturgattung, die den Anspruch erhebt, die Arbeitsmethode des Richters zu vermitteln, ihre technischen Regeln nicht doch überprüfen und vielleicht sogar verändern muss, wenn die Richter in der Praxis nicht nach ihnen arbeiten. Es spricht vieles dafür, dass die Unterschiede zwischen der vom Relationsschrifttum propagierten und den von Richtern wirklich praktizierten Arbeitsmethoden darauf zurückzuführen sind, dass die überkommenen Regeln der Relationstechnik dem heutigen Zivilprozessrecht nicht bzw. nicht in vollem Umfang entsprechen. 549
So Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, S. VI, Rn. 13 und
135. 550 Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 14. Aufl. 2002, Rn. 55, der aber auch betont, dass er von sozialpolitischen Urteilen gar nichts halte, sondern die juristische Konstruktion schätze und das Gesetz ernst nehme; ebenso, allerdings in Vergangenheitsform Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 55.
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bb. Die Novellen, von 1909, 1924 und 1933 haben nicht nur den Mündlichkeitsgrundsatz abgebaut, sondern auch die Verhandlungsmaxime eingeschränkt551. Während die Verstärkung der schriftlichen Verfahrensteile zur Renaissance der Relation als richterlicher Arbeitsmethode führte, blieben die erweiterten Hinweis- und Fragepflichten552 im Relationsschema unberücksichtigt. Der Relationstechnik liegt ein Prozessverständnis zugrunde, dass die Verantwortung für die tatsächliche Grundlage des Urteils allein bei den Parteien sieht. Begutachtet werden ein fixer Klageantrag und ein feststehendes Parteivorbringen. Die Aufgaben der materiellen Prozessleitung des Gerichts, deren Bedeutung im Zivilprozessreformgesetz 2001 nochmals betont wurde553, werden in allen Relationsteilen vernachlässigt. (1) Ursprünglich erfolgte die Relation am Ende eines schriftlichen Verfahrens, nachdem die Parteien abschließend vorgetragen hatten. Da die Akten geschlossen waren, konnten sich die Anträge der Parteien und ihr Vorbringen nicht mehr ändern. Heute dient die Relation als richterliche Arbeitsmethode im gesetzlichen Regelfall des Verfahrens mit mündlicher Verhandlung zunächst und vor allem dazu, diese Verhandlung vorzubereiten. Bei seiner gedanklichen Relationsprüfung legt der Richter die Informationen aus den eingereichten Schriftsätzen zugrunde, die den Vortrag der Parteien für die kommende Verhandlung ankündigen554. Prozessuale Wirkung erlangt das in den vorbereitenden Schriftsätzen angekündigte Vorbringen grundsätzlich erst, wenn die Parteien es in der mündlichen Verhandlung vortragen oder nach § 137 Abs. 3 ZPO auf den Schriftsatz Bezug nehmen555. Die in den Schriftsätzen enthaltenen Tatsachenangaben sind daher immer nur vorläufig und können sich in der mündlichen Verhandlung anders darstellen. Der Richter darf sich freilich auch nicht damit begnügen, den angekündigten Vortrag zur Kenntnis zu nehmen und die mündliche Verhandlung abzuwarten. Aufgrund seiner sog. Aufklärungspflicht muss er frühzeitig bei der Begutachtung der Sachund Rechtslage überprüfen, ob der bisherige Antrag und das bisherige Vorbringen das jeweilige Begehren tragen, um gegebenenfalls Fragen stellen und Hinwei551
S. f.cc.(4). Es ist daran zu erinnern, dass die Zivilprozessordnung seit jeher in § 130 CPO bzw. § 139 ZPO eine Regelung enthielt, welche den Vorsitzenden verpflichtete, »durch Fragen darauf hinzuwirken, daß unklare Anträge erläutert, ungenügende Angaben der geltend gemachten Tatsachen ergänzt und die Beweismittel bezeichnet, überhaupt alle für die Feststellung des Sachverhältnisses erheblichen Erklärungen abgegeben werden«, und dem Gericht »die Mitverantwortung für die Feststellung des Sachverhaltes« auferlegte, so Stein/Jonas, Die Zivilprozessordnung für das Deutsche Reich, Erster Band, 10. Aufl. 1911, § 139 Anm. I. 553 BT-Drucks. 14/4722, S. 61 und 77. Ob die Reform die Pflicht zur materiellen Prozessleitung in der Sache nennenswert verstärkt hat, wird unterschiedlich beantwortet; einführend hierzu Greger, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 138 Rn. 1; Stadler, in: Musielak (Hrsg.), Kommentar zur Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 139 Rn. 2; Rosenberg/Schwab/ Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl. 2004, § 77 Rn. 15. 554 Peters, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 2000, § 129 Rn. 1; Stadler, in: Musielak (Hrsg.), Kommentar zur Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 129 Rn. 1. 555 Peters, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 2000, § 129 Rn. 2; Reichold, in: Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 27. Aufl. 2005, § 129 Rn. 1; Stadler, in: Musielak (Hrsg.), Kommentar zur Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 129 Rn. 1. 552
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se geben zu können. Diese wichtigen vorbereitenden Tätigkeiten waren für die traditionelle, am Ende eines schriftlichen Verfahrens durchgeführte Relation noch ohne Bedeutung. Diese war ein Instrument, um in der Beratung des Gerichts, die das Verfahren abschloss, eine Entscheidung zu finden. Seit vielen Jahrzehnten wird das Relationsschema nun aber schon am Anfang eines auch durch richterliche Hinweis- und Fragepflichten geprägten Prozesses durchlaufen, um das weitere Verfahren vorzubereiten556. Auf diese veränderte Prüfungssituation ist die Relationstechnik nicht ausgerichtet557. Zwar betonen die Anleitungsbücher, die Relation sei die Arbeitsmethode des Zivilrichters und Zivilrechtlers schlechthin558 und deshalb in jedem Verfahrensstadium einsetzbar559. Die Lehre vom Gutachten stellt aber auf die Arbeitsweise des Richters im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung ab560. Das zeigen auch die in den Anleitungsbüchern aufgelisteten ausformulierten Entscheidungsvorschläge für das Gutachten561. Das Gericht hat die gebotenen Hinweise gegeben und die erforderlichen Fragen gestellt. Der Tatsachenvortrag ist abgeschlossen. Die Anträge sind gestellt. Das Vorhandene ist abschließend zu begutachten. Der Schwerpunkt der richterlichen Prüfung ist in dieser Situation ein ganz anderer als im Vorfeld der mündlichen Verhandlung, wenn der Richter noch darauf hinwirken kann, dass Anträge geändert, Klagen zulässig gemacht und der Sachverhaltsvortrag ergänzt wird. Diese richterlichen Hinweis- und Fragepflichten kommen im Gutachtensschema nicht vor. Unter den Bedingungen des heutigen Zivilverfahrens legt die überkommene Relationsprüfung daher vorschnell auf einen bestimmten Klageantrag562 und vor allem auf einen bestimmten Tatsachenvortrag fest. 556 Im Standardkommentar für die Praxis wird dem Vorsitzenden dringend dazu geraten, sogleich nach dem Klageingang ein »Kopfgutachten« zu erstellen, s. P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 272 Rn. 2; vgl. auch Greger, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 272 Rn. 1: Rechtspflicht zur »frühzeitige(n) Einarbeitung in den Streitstoff« wegen § 139 Abs. 1 S. 2 ZPO, konkret zum schriftlichen Vorverfahren; Reichold, in: Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 27. Aufl. 2005, § 272 Rn. 7: Erarbeitung der entscheidungserheblichen Fragen und Punkte zu Beginn des Prozesses. 557 Martens, JuS 1974, 785, 786 f. 558 Anders/Gehle, Das Assessorexamen im Zivilrecht, 8. Aufl. 2005, Rn. 2; Sattelmacher/ Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 1; Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, S. VI, VII und Rn. 13. 559 Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 179, zum Gutachten; Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 11. 560 So ausdrücklich Mühl, JuS 1963, 351, 351; Martens, JuS 1974, 785, 786. 561 Vgl. etwa Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 186: Sämtliche Vorschläge zielen auf eine zu tenorierende (End-)Entscheidung. Einen Entscheidungsvorschlag, den Kläger auf fehlende Substantiierung hinzuweisen oder Ähnliches findet man dort nicht. 562 Die Auswirkungen des falschen Schwerpunktes zeigen sich etwa bei Sattelmacher/Sirp/ Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 20 a. E., wo es heißt, die Hinweispflicht nach § 139 Abs. 1 ZPO gelte nur im Rahmen der gestellten Anträge. Tatsächlich hat das Gericht nach § 139 Abs. 1 ZPO auch darauf hinzuwirken, dass die Parteien sachdienliche Anträge stellen, sofern sich die Änderungen im Rahmen des Prozessbegehrens der Parteien bzw. innerhalb des von ihnen unterbreiteten streitigen Interesses halten, vgl. Reichold, in: Thomas/ Putzo, Zivilprozessordnung, 27. Aufl. 2005, § 139 Rn. 10; Greger, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 139 Rn. 15; Leipold, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 3, 22. Aufl. 2005, § 139 Rn. 47 ff.
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Obwohl sich mit dem Zivilprozess auch die Aufgabe der Relation grundlegend gewandelt hat, ist ihre Zweiteilung in Sachbericht und Gutachten unverändert beibehalten und nicht um weitere Teile ergänzt worden. Modifiziert wurde lediglich die Prüfungsfolge im Gutachten, die heute konsequent auf die Verhandlungsmaxime abgestimmt ist. Die erweiterte richterliche Prozessleitung findet im gegenwärtigen Relationsschema keine Berücksichtigung. Als vom geltenden Zivilprozessrecht verselbständigtes Instrument der Prozessvorbereitung bereitet die Relationstechnik auf die im Anschluss an die Relationsprüfung anstehenden richterlichen Aufgaben nicht vor. Dass eine Klage nach der ersten Relationsprüfung noch unschlüssig oder der Beklagtenvortrag zurzeit unerheblich ist, besagt in der Praxis wenig über den Ausgang des Verfahrens. Die Anleitungsbücher lehren indes weder, wann welche Hinweise zu geben und Fragen zu stellen sind, noch wie ein Verfahren oder eine Verhandlung563 zu führen ist. Weiterhin erschöpfen sich etwaige Anweisungen zur Beweiswürdigung regelmäßig in Formeln564. Die Arbeitsmethode des Zivilrichters vermittelt die Relationsliteratur daher entgegen aller Behauptungen nicht. (2) Das heißt nicht, dass die Relationstechniken überflüssig sind. Im Gegenteil: Nur wer den Streitstoff in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beherrscht, kann die angemessene Verfahrensweise bestimmen und die Verhandlung prozessordungsgemäß führen, also gezielte Fragen stellen und seinen Hinweispflichten genügen. Schon Otto Bähr hat spitz angemerkt: »Geht aber das Gericht ununterrichtet in die mündliche Verhandlung hinein, so wird es oft auch ebenso ununterrichtet wieder herauskommen«565. Wer erlebt hat, wie Richter reichlich »unbefangen« in die Verhandlung getreten sind, wird die Forderung nach einer vorhergehenden Schlüssigkeits- und Erheblichkeitsprüfung nicht als obsolete Kunstregel einer überholten Relationstechnik abtun566. Die Schlüssigkeits- und Erheblichkeitsprüfung beruht auf dem materiellrechtlichen Denken in Anspruchs- und Gegennormen im Zivilrecht und spiegelt die grundsätzliche Verteilung der Darlegungs- und Beweislast wider567. Sie sollte daher vor jeder richterlichen Entscheidung zumindest gedanklich durchlaufen werden. Die Relationstechnik ist also nicht etwa falsch oder verzichtbar. Sie leistet nur nicht das, was sie als angebliche Arbeitsmethode des Zivilrichters verspricht. Um zu prozessrechtsgemäßem richterlichem Verhalten anzuleiten, bietet sie in einem 563 Vgl. insoweit aber Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 491 ff. 564 Hierzu auch Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 134. 565 Bähr, Gesammelte Aufsätze, Band I, 1895, S. 398, 413. 566 Brehm, Die Bindung des Richters an den Parteivortrag und Grenzen freier Verhandlungswürdigung, 1982, S. 80. 567 Welche Tatsachen von welcher Partei zu behaupten und zu beweisen sind, ergibt sich entgegen den unter b.dd.(1) und (2) geschilderten Ausführungen von J. Schmidt und Martens nicht aus der Verhandlungsmaxime bzw. dem Beibringungsgrundsatz, sondern aus den Bestimmungen und Interessenbewertungen vor allem des materiellen Rechts; einführend zur »Rechtsnatur« der Beweislast Foerste, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 286 Rn. 33 ff.; P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, Anh § 286 Rn. 2 f.; Prütting, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 2000, § 286 Rn. 106 ff.
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aus mehreren Abschnitten bestehenden, regelmäßig mit mündlichen Verhandlungsterminen durchgeführten Verfahren unter richterlicher Prozessleitung zu wenig. Die Relationstechnik ist ein effektives Mittel, um aus den Akten einen Sachverhalt zu gewinnen, der sich rechtlich beurteilen lässt. Die ebenso wichtige wie gegenständlich begrenzte Funktion der Tatsachenauswahl durch die Relation kommt bei Schellhammer deutlich zum Ausdruck. Die Arbeit am Sachverhalt bestehe darin, aus Prozessakten einen subsumierbaren Sachverhalt herauszufiltern568. Bevor der Zivilrichter Recht sprechen kann, so heißt es an anderer Stelle, »muss er den Sachverhalt aus den Akten herausziehen«569. Das trifft zu, beschreibt die entscheidungsvorbereitenden richterlichen Aufgaben aber nur unvollkommen. Dabei geht es weniger um die Prüfung, ob die Parteien ihrer Wahrheitspflicht nach § 138 Abs. 1 ZPO gerecht geworden sind570, weil diese heute allgemein als Pflicht zur Wahrhaftigkeit verstanden wird (»Verbot bewusster Lügen«)571 und daher für die richterliche Sachverhaltsfeststellung weitgehend bedeutungslos ist. Das Gericht hat aber die Parteien zu vollständiger Erklärung über alle erheblichen materiellen und prozessualen Tatsachen zu veranlassen, auf sachdienliche Anträge hinzuwirken und auf solche Gesichtspunkte rechtlicher oder tatsächlicher Art hinzuweisen, die die Parteien erkennbar übersehen haben oder die das Gericht anders beurteilt als die Parteien572. Die Neukonzeption des § 139 Abs. 1 ZPO hebt insgesamt hervor, dass das Gericht – in jeder Lage des Verfahrens – im offenen Gespräch mit den Parteien die entscheidungserheblichen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkte erörtern und auf eine allseits sachdienliche Verfahrensführung hinwirken soll573. Der Richter kann nicht davon ausgehen, dass das Ergebnis seiner ersten aktenmäßigen Prüfung auch im weiteren Verlauf des Verfahrens bzw. nach der mündlichen Verhandlung noch Bestand hat. Sein provisorisches Relationsgutachten steht stets unter dem doppelten Vorbehalt, dass das Begehren im Antrag treffend wiedergegeben ist und dass – ggfs. nach richterlichen Hinweisen – kein neuer Sachvortrag erfolgt. Die Relationsprüfung ist also ein wichtiges richterliches Arbeitsmittel. Die deutlich komplexere und anspruchsvollere heutige Arbeitsmethode des Zivilrichters spiegelt sie nur bruchstückhaft wider. Große Teile des Re568
Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 59. Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 14. Aufl. 2002, Rn. 62, im Original fett gedruckt; in der Folgeauflage ist »herausziehen« durch »herauslesen« ersetzt, s. Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 62. 570 Besonders betont von J. Schmidt, JuS 1974, 441, 445; vgl. auch Martens, JuS 1974, 785, 788 f. m.w.N.; s. bereits b.dd.(1) und (2). 571 Greger, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 138 Rn. 2 f.; Stadler, in: Musielak (Hrsg.); Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 138 Rn. 2 f., 6 ff.; Peters, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 2000, § 138 Rn. 2 ff. und 8 ff. zu Behauptungen »ins Blaue hinein«. 572 Reichold, in: Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 27. Aufl. 2005, § 139 Rn. 3, 8, 11 und 18. 573 So BT-Drucks. 14/4722, S. 77; s. auch a.a.O., S. 61: »Der Entwurf betont die materielle Prozessleitungs- und Hinweispflicht des Gerichts (§ 139 ZPO). Der Richter soll die Sach- und Rechtslage mit den Parteien deutlich erörtern und darlegen, wenn seine Beurteilung von dem Vortrag beider Parteien abweicht«. Richtig hätte es angesichts des § 139 Abs. 2 ZPO heißen müssen: »der Parteien«. 569
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lationsschrifttums vermitteln den Eindruck, dass ihre verabsolutierte Relationstechnik die Arbeitsmethode des Zivilrichters sei. Diese Betrachtungsweise wird dem geltenden Zivilprozessrecht jedenfalls schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr gerecht574 und beruht auf einem überholten, die richterliche Prozessleitung ausblendenden Prozessverständnis. cc. In einer bezeichnenden Anspielung auf den Kehrreim aus der »LederhosenSaga« von Börries von Münchhausen575 heißt es ganz am Anfang des Buches zur Arbeitsmethode des Zivilrichters von Schellhammer: »Gesetze kommen und gehen, die Methode juristischen Denkens und Arbeitens aber bleibt bestehen«576. Gelegentlich sind indes selbst am lange Bewährten gewisse Feinanpassungen und Umgestaltungen vorzunehmen577. Auch wenn die Arbeitsmethode des Zivilrichters »keiner Mode unterworfen ist«578, bleibt sie von Veränderungen der rechtlichen Vorgaben nicht unberührt. Die traditionelle Relationstechnik, die Sattelmacher auf den Verhandlungsgrundsatz ausgerichtet hat, ist immer noch ein wichtiges richterliches Arbeitsmittel und – als durch Notizen gestütztes gedankliches Ablaufschema – in jedem Stadium des Prozesses unverzichtbar. Das Relationsschema differenziert aber nicht nach unterschiedlichen Verfahrenssituationen und vernachlässigt die in der Zivilprozessordnung normierten richterlichen Hinweis- und Fragepflichten. Die Relationstechnik muss, wenn sie die Grundzüge der Arbeitsmethode des Zivilrichters vermitteln soll, inhaltlich auf die veränderten Aufgaben von Relationen in einem durch die Verhandlungsmaxime, den Mündlichkeitsgrundsatz und die materielle Prozessleitung des Gerichts geprägten Prozess abgestimmt werden. Ob die Lösung in einer Ergänzung des üblichen Relationsschemas um weitere Stationen oder in mehreren, nach Prozesslagen differenzierenden Schemata liegt, muss an dieser Stelle nicht entschieden werden. In ihrer jetzigen Form beruht die als Arbeitsmethode des Zivilrichters verstandene Relationstechnik jedenfalls auf einem überholten Prozessverständnis. i. Relationstechnik und verdeckte Rechtsfortbildungen Das Relationsschema soll zu verdeckten Rechtsfortbildungen führen, weil es das Rechtsgefühl unterdrücke und vorgeschobene, scheinbar gesetzesvollziehende Begründungen verursache, indem es dazu zwinge, »so zu tun als ob«579. Auch 574 Ob sie trotz des § 130 CPO, der Vorläuferbestimmung des § 138 ZPO, jemals dem geltenden Prozessrecht entsprach, kann hier dahinstehen. 575 Dieser lautet: »Geschlechter kommen, Geschlechter gehen, hirschlederne Reithosen bleiben bestehen«. Die »Lederhosen-Saga« ist vollständig abgedruckt etwa in Echtermeyer/v. Wiese (Hrsg.), Deutsche Gedichte, 18. Aufl. 1993, S. 546 f. 576 Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, S. V. Es handelt sich um die ersten Sätze des Buches. 577 Vgl. nochmals Börries von Münchhausen, Lederhosen-Saga, 3. Strophe: »Und als mein Vater an die Sechzig kam, Einen Umbau der Hose er vor sich nahm«. 578 Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, S. V. 579 J. Schmidt, JuS 1974, 441, 443; Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 20.
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wird vermutet, die bisherige Ausrichtung der Schlüssigkeitsprüfung auf die Arbeitsweise des Richters nach Schluss der mündlichen Verhandlung habe »Rückwirkung auf die richterliche Praxis«. Wer als Referendar diesen Bereich der Relationstechnik unter einer solchen Schwerpunktverschiebung erlernt habe, werde später als Richter geneigt sein, die Notwendigkeit einer Hilfestellung für die Parteien zu unterschätzen580. Die Frage, ob und wie die Relationstechnik tatsächlich verdeckte Rechtsfortbildungen fördert, bedarf einer eingehenderen Erörterung. aa. Dass man Stilfragen und Formalien häufig überbewertete und teilweise noch überbewertet, wird auch im gegenwärtigen Relationsschrifttum anerkannt. Die Relationstechnik bestehe aus einer Handvoll verbindlicher Regeln und einer Vielzahl unverbindlicher Anregungen581. Soweit die Gebote der Relationstechnik auf Konvention beruhen, sind sie ständig in Gefahr, zum bloßen Ritual zu werden582. Wie jedes detaillierte Schema tendiert das Relationsschema zu formalistischer Verselbständigung und zu doktrinärer Erstarrung583. Die zugrundeliegende Materie tritt in den Hintergrund. Das aus sich heraus handhabbare Schema wird zur Methode. Dann sind schematische, problem-, interessen- und gesetzesferne Lösungen vorprogrammiert. bb. Ob man die Relationstechnik generell für verdeckte Rechtsfortbildungen verantwortlich machen kann, erscheint dennoch zweifelhaft. Sie ist mit keinem bestimmten Rechtsfindungsbild verbunden584. Die Relationstechnik ist offen für unterschiedliche Methodenlehren und auch für Rechtsfortbildungen. Wie der konkrete Entscheidungssatz bestimmt werden soll, sagt das »rechtsfindungsneutrale« Relationsschema nicht. Die Regeln für die Stoffsammlung und die Technik der schrittweisen Begutachtung regen für sich betrachtet nicht dazu an, die gesetzlichen materiellrechtlichen Beurteilungsmaßstäbe verdeckt fortzubilden585. cc. Allerdings berücksichtigt das Relationsschema, das die Arbeitsweise des Richters nach Schluss der mündlichen Verhandlung widerspiegelt, die sog. richterlichen Aufklärungspflichten nicht, obwohl die Relationsprüfung in der Praxis zunächst einmal zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung bzw. des weiteren Verfahrens durchgeführt werden muss. Die Vermutung, dass der an diesem Schema geschulte Jurist die Bedeutung richterlicher Hinweise an die Parteien in der Praxis unterschätzen wird, liegt in der Tat nahe. Sie wird nicht dadurch widerlegt, dass Richter in der Praxis nicht (mehr) nach den detaillierten Regeln der Relationstechnik arbeiten586. Derjenige Richter, der das Relationsschema als die 580
Martens, JuS 1974, 785, 787. Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, S. VI und Rn. 47. 582 Weyers, in: Dogmatik und Methode, FS Esser, 1975, S. 193, 198. 583 Vgl. bereits 4.d.bb. zum Anspruchsschema. 584 S. g.aa. 585 Ob verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts durch den von der Anleitungsliteratur vorgeschriebenen Urteilsbegründungsstil verursacht werden, wird sogleich unter 6. behandelt. 586 Vgl. h.aa. 581
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richterliche Arbeitsmethode missversteht und seine Aufgabe der Prozessleitung vernachlässigt, trifft Entscheidungen, bei denen nie ausgeschlossen werden kann, dass sie bei prozessgesetzmäßigem Verhalten anders ausgefallen wären. Unterlässt etwa eine Partei einen ergänzenden Tatsachenvortrag, weil das Gericht ihr keinen entsprechenden Hinweis gegeben hat, so kommen in der Sache möglicherweise einschlägige materiellrechtliche Beurteilungsmaßstäbe nicht zur Anwendung. Fortgebildet werden diese Gesetze aber ebenso wenig wie die tatsächlich angewandten Entscheidungsnormen. Unterbliebene Hinweise wirken sich auf der tatsächlichen Ebene aus, betreffen den zugrunde zu legenden Sachverhalt und entscheiden so über die anzuwendende Rechtsnorm, deren Inhalt sie aber nicht verändern. Das, was in einem solchen Fall wirklich verdeckt fortgebildet wird, sind die prozessgesetzlichen Regeln über die Sachverhaltsermittlung. Soweit die Relationstechnik dem geltenden Zivilprozessrecht nicht entspricht, bildet sie als verselbständigtes Instrument der Prozessvorbereitung die für die richterliche Sachverhaltsbildung einschlägigen Prozessrechtsnormen verdeckt fort. Die überkommene Relationstechnik vernachlässigt mithin wichtige Bereiche der gebotenen richterlichen Arbeitsweise und erzieht dazu, die Notwendigkeit richterlicher Hinweise für die Parteien zu unterschätzen. In ihrer heutigen Form ist sie geeignet, die prozessgesetzlichen Regeln über die Sachverhaltsherstellung verdeckt fortzubilden.
6. Der deutsche Urteilsbegründungsstil Verdeckte Rechtsfortbildungen und Scheinbegründungen sollen durch den deduktiven deutschen Urteilsstil, durch die Darstellung der Entscheidung als Ablauf eines zwingenden Wenn-Dann-Programms587 verursacht werden. Zivilrechtliche Entscheidungen werden in Deutschland regelmäßig so abgefasst, dass der Eindruck entsteht, die getroffene Entscheidung habe sich zwingend aus dem Gesetz ergeben588. Die Sprache ist meist apodiktisch, sachlich, schmucklos, frei von Zweifeln und unpersönlich589, was auf das traditionelle, zur Gesichtslosigkeit verpflichtende Beamtenleitbild deutscher Richter zurückgeführt wird590. a. Kritische Stimmen Der deduktive, keine Zweifel aufkommen lassende deutsche Urteilsbegründungsstil ist vor allem seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit unterschiedlichen Begründungen kritisiert worden. 587
So die Umschreibung von Böhlk/Unterseher, JuS 1980, 323, 325. Hierzu in § 8 III.2.b., c. und 6. – Dazu trägt auch das zivilrechtliche Anspruchsdenken bei, das den Rechtsanwender sicher zu Anspruchsgrundlagen und sonstigen Entscheidungsnormen führt, die im Gesetz geregelt, anerkannt oder doch zumindest vorausgesetzt sind, hierzu § 4 V.3.a.bb. und vorstehend 4. 589 Lashöfer, Zum Stilwandel juristischer Entscheidungen, 1992, S. 87 f., 95 ff.; Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 201 f. 590 Hattenhauer, Die Kritik des Zivilurteils, 1970, S. 121; Lashöfer, Zum Stilwandel juristischer Entscheidungen, 1992, S. 87. 588
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aa. Das Auseinanderklaffen der Motive und der Argumentation, der wahren und der vorgegebenen Gründe wird nach Adomeit durch das Deduktionserfordernis erzwungen oder doch begünstigt591. Außerdem bezweifelt er, dass die Funktion der Entscheidungsgründe, einem für gerecht befundenen Ergebnis ein Höchstmaß an Plausibilität zu verleihen, heute noch durch den scheindeduktiven und künstlich die eigenen Zweifel unterdrückenden sog. Urteilsstil erfüllt werden könne; Adomeit überlegt, ob nicht der aufgeklärte Bürger viel eher durch ein Tonbandprotokoll der Beratungen zu überzeugen wäre, in denen die tragenden sozialpolitischen Gründe zumeist offener und intensiver diskutiert würden592. bb. Hattenhauer fragt, ob der Urteilsstil in der modernen Gesellschaft nicht immer mehr auf das Apodiktische des Hoheitsspruchs werde verzichten müssen593. Grunsky formuliert diese Frage dahingehend um, ob der Urteilsstil nicht auf überholten Vorstellungen vom Urteil als Hoheitsakt beruhe (»das Gericht diskutiert nicht mit den Parteien«)594. cc. Hartwieg und Hans Albrecht Hesse bemängeln, die von Praktikern verfasste Anleitungsliteratur verlange, eine Darstellung der Herstellung einer Entscheidung zu geben nach Darstellungsregeln, die die Herstellung nicht erfassen, ja zur Verfälschung in der Darstellung der Herstellung geradezu auffordern595. Sie treten für einen Wandel im Urteilsstil ein und fordern »Offenheit« in der Darstellung der Faktoren, die bei der Suche nach der Entscheidung (wirklich) bestimmend waren596: Die Regeln der Anleitungsliteratur zur Abfassung der Entscheidungen, die auf dem Rechtsverständnis deduktiver Ergebnisableitung aus dem Gesetz beruhten597, sollten aufgegeben werden zugunsten der drei Ziele »Selbstkontrolle«, »Einsichtigkeit« und »Überprüfbarkeit von Urteilen«. dd. Später hat sich Hartwieg sogar dafür ausgesprochen, den deutschen Entscheidungsbegründungsstil ganz abzuschaffen598. Hartwieg beginnt mit einer Fundamentalkritik599: »Der Urteilsstil unterbindet viel: Prozessgeschichte, Vorgeschichte und für Dritte verständige Sachschilderungen. Er zielt auf vorauseilenden Richtergehorsam und erleichtert die Durchsicht, das Erfassen und Verstehen des Parteivortrags. Er erlaubt sogar, dass sich Richter sparsam auf abstrakte 591
Adomeit, Rechtsquellenfragen im Arbeitsrecht, 1969, S. 34. Adomeit, Rechtsquellenfragen im Arbeitsrecht, 1969, S. 32. 593 Hattenhauer, Die Kritik des Zivilurteils, 1970, S. 136, unter Hinweis auf die Praxis des Bundesverfassungsgerichts, die darauf hindeute, dass der Richter seinen Spruch mit den Parteien und der Öffentlichkeit diskutieren, ihn erklären und sich dabei als ein Mensch wie jeder andere Mensch erweisen müsse; hierzu Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 18 f. 594 Grunsky, JuS 1972, 29, 30 Fn. 6, wo gesagt wird, diese Frage habe Hattenhauer zu Recht aufgeworfen. 595 So wörtlich Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 20. 596 Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 158 f. 597 Hartwieg/Hesse, Die Entscheidung im Zivilprozess, 1981, S. 156. 598 Freilich dürfte seine Polemik gegen den Urteilsstil zum Teil tatsächlich auf die Relationstechnik zielen, hierzu 5.d.dd. 599 Hartwieg, ZVglRWiss 101 (2002), 434, 467. 592
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
Rechtsfragen konzentrieren, ohne den dafür relevanten Parteivortrag, seine prozessuale Gestalt (streitig oder nicht) aufarbeiten zu müssen, etc.« Sein Ergebnis lautet auszugsweise600: »Die Missstände sind alt und offensichtlich. Die so genannte Sachverhaltsarbeit darf ernster genommen werden. … Ohne Aufhebung des Zwangs zum so genannten Urteilsstil gibt es keine Perspektiven für Problembewusstsein und demokratische Entscheidungskultur«. Auch das Verbot, im Zivilurteil individuelle Auffassungen mit eigenem Namen darzulegen und zu veröffentlichen, müsse fallen601. ee. Gottwald bezeichnet manche der in den Anleitungsbüchern für die Praxis gegebenen Anweisungen für den äußeren Aufbau und den typisch deutschen Stil eines Zivilurteils als »Anleitung zum Bau von Pappkameraden«602. Selbst in Teilen der Referendarausbildungsliteratur wird heute überlegt, ob es vielleicht tatsächlich besser wäre, wenn der Richter seine Zweifel nicht unterdrücken, sondern im Urteil offen legen würde603. ff. Andere bescheinigen deduktiven Urteilsbegründungen demgegenüber eine wichtige »public-relations«-Wirkung604. Das formale Modell der Deduktion, vor allem die Darstellung einer Entscheidung als Ablauf eines zwingenden WennDann-Programms, bewirke immerhin, dass die Diskussion mit den Betroffenen der Rechtsfindung abgeschnitten werde605. Die eindeutige Form der Entscheidung zeige dem Unterlegenen, dass das Ergebnis endgültig sei und halte ihn davon ab, Rechtsmittel einzulegen. gg. Auch Kriele meint, dass das Verschweigen der entscheidenden Erwägungen unter Umständen die Befriedungswirkung der Rechtsprechung erhöhe606. Sei die Entscheidung einerseits unparteilich-vernünftig, andererseits aber scheinbar rein 600
Hartwieg, ZVglRWiss 101 (2002), 434, 470. Hartwieg, ZVglRWiss 101 (2002), 434, 470. 602 Gottwald, ZZP 98 (1985), 113, 114; vgl. auch bereits Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 170. 603 So Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 380, der dann fortfährt, § 313 Abs. 3 ZPO lasse »nicht viel Raum für die breite Darstellung aller Zweifel und Skrupel, die den Richter hoffentlich geplagt haben«; schon im Ausgangspunkt abweichend etwa Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 550: »Die Sprache der Entscheidung muss bestimmt sein und erkennen lassen, dass das Gericht selbst von seiner Entscheidung überzeugt ist. Alle Zweifelssätze, alle Möglichkeitsformen (möchte, dürfte, sollte, könnte usw.) sind im Urteil zu vermeiden«; noch deutlicher das ältere Relationsschrifttum, vgl. etwa Berg, Gutachten und Urteil, 10. Aufl. 1977, S. 147: »Die Sprache der Entscheidungsgründe muß dagegen so bestimmt sein wie die des Gesetzgebers. Hier spricht nicht ein Jurist zu Juristen, sondern das Gericht zu den Parteien kraft staatlicher Autorität. … Zweifel an der eigenen Ansicht dürfen nicht ersichtlich werden«; ähnlich bereits Bähr, Urteile des Reichsgerichts mit Besprechungen, 1883, S. IV f.; bemerkenswert vereinfachend auch M. Huber, Das Zivilurteil, 2. Aufl. 2003, Rn. 391: »Weil aber der Jurist das Gesetz anwendet, ist es im Zweifel immer besser, sich dessen klarer und nüchterner Sprache zu bedienen«. 604 Böhlk/Unterseher, JuS 1980, 323, 325; s. auch Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 170 f. 605 So Böhlk/Unterseher, JuS 1980, 323, 325. 606 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 171. 601
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deduktiv aus dem Gesetz gewonnen, so habe das Gericht es allen recht gemacht: Sowohl denen, die die gerechte, als auch denen, die die gesetzmäßige Entscheidung wollen. In der Praxis werde ganz bewusst so getan, als hätten sich die juristischen Folgerungen aus rein deduktiver Logik oder aus logischer, systematischer Auslegung usw. ergeben607. hh. Nach Horak erwarten die Parteien in Unkenntnis der Schwierigkeiten der »Rechtsanwendung« vom Richter eine Entscheidung ohne »vielleicht«, »möglicherweise« und »wahrscheinlich«; solche ehrlichen Eingeständnisse der Unsicherheit würden zur Beeinträchtigung des richterlichen und überhaupt des juristischen Prestiges führen, die Neigung zur Appellation steigern und die Gefahr oberinstanzlicher Abänderung des Urteils vergrößern608. ii. Ambivalent äußert sich Herzog über den Urteilsbegründungsstil609: Die juristische Auslegungs- und Konstruktionsarbeit könne zum reinen Glasperlenspiel entarten, das dem Bürger – gerade auch dem, der bereit wäre, eine ihm ungünstige Entscheidung bei halbwegs plausibler Begründung hinzunehmen – de facto Steine statt Brot biete. Zwar dürfe niemand einem Richter eine juristischkonstruktive Argumentation vorwerfen; denn immerhin beweise er mit ihr, dass er für seine Entscheidung andere als subjektive, gar eigennützige Motive vorzuweisen habe. Wenn dann aber nicht wenigstens auch die innere Berechtigung der Entscheidung oder zumindest des ihr zugrundeliegenden Gesetzes zu Worte komme, liegt es nach Herzog nahe, dass der Richter entweder sachlichen Argumentationen ausweichen will oder dass er bei seiner Begründung eher das Revisionsgericht als seinen unmittelbaren Kunden im Auge hat. b. Die beiden Zielrichtungen der Kritik Die zusammenfassend geschilderte Kritik am Urteilsbegründungsstil betrifft zwei voneinander zu trennende Aspekte. Sie zielt zum einen auf die apodiktische, Zweifel und Emotionen unterdrückende, betont sachlich-neutrale Sprache der Gerichtsentscheidungen. Zum anderen wendet sie sich gegen das Darstellungsmittel der sog. Deduktion, welche das gefundene Ergebnis an die Spitze der Entscheidungsgründe stellt und mit einer Abfolge von Sätzen begründet, die sich, so das Stilideal, gedanklich jeweils mit einem »denn« verbinden lassen610. Diese 607 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 170, unter Hinweis auf die Referendarausbildungsliteratur, in welcher zu einer ständigen Kontrolle des rechtlichen Ergebnisses geraten werde, die in der schriftliche Ausarbeitung aber in der Regel nicht mehr in Erscheinung treten dürfe. 608 Horak, Rationes decidendi, I. Band, 1969, S. 38. 609 Herzog, FS Sendler, 1991, S. 17, 24. 610 Statt vieler Anders/Gehle, Das Assessorexamen im Zivilrecht, 8. Aufl. 2005, Rn. 230; Knöringer, Die Assessorklausur im Zivilprozess, 11. Aufl. 2005, S. 83; Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 547 (S. 342), zu angeblich (fast) immer überflüssigen »zwar-aber«-Konstruktionen Rn. 548; Siegburg, Einführung in die Urteilstechnik, 5. Aufl. 2003, Rn. 596, Rn. 579 zu »zwar-aber«-Begründungen, die gegen § 313 Abs. 3 ZPO verstoßen sollen; Nordhues/Trinczek, Technik der Rechtsfindung, 6. Aufl. 1994, S. 81; W. Zimmermann, Klage, Gutachten und Urteil, 18. Aufl. 2003, Rn. 474 und 481.
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
Darstellungsform, die als sog. Urteilsstil vom sog. Gutachtensstil abgegrenzt wird, betrifft vornehmlich die Satzfolge und damit den Aufbau der Entscheidungsgründe. Die unterschiedlichen Stoßrichtungen der Kritik spiegeln sich auch in den Verbesserungsvorschlägen wider. Teilweise fordern die Kritiker lediglich einen weniger apodiktischen bzw. verordnenden Sprachstil, der vorhandene Zweifel erkennen lässt und nicht nur die für, sondern auch die gegen eine Entscheidung sprechenden Rechtsgründe anführt und diskutiert. Überwiegend treten sie aber dafür ein, die tragenden sozialpolitischen und sonstigen Gründe oder die bei der Suche nach der Entscheidung bestimmenden Faktoren offen zu legen, was durch den traditionellen deduktiven Urteilsstil verhindert werde, der deshalb zumindest modifiziert werden müsse. c. Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit Festzuhalten ist zunächst, dass das Gesetz weitgehend den Richtern überlässt, wie diese die Begründungen ihrer Entscheidungen abfassen. Die Zivilprozessordnung enthält in den §§ 286 Abs. 1 S. 2, 313 Abs. 3, 313 a Abs. 1 S. 2, 540 ZPO lediglich gewisse Rahmenvorgaben. aa. Aus diesen ergibt sich weder eine Rechtspflicht zur deduktiven Entscheidungsbegründung noch ein Rechtsgebot »zweifelsfreier Entscheidungen«. Dass Form und Anordnung der Entscheidungsgründe im Ermessen des Gerichts stehen, scheint nicht in Abrede gestellt zu werden611. Indessen heißt es in der Anleitungsliteratur gelegentlich, aus dem Tatbestandsmerkmal »beruht« in § 313 Abs. 3 ZPO folge zwingend, dass in den Entscheidungsgründen ausschließlich die das Urteil tragenden Erwägungen wiedergegeben werden dürfen. Alle Ausführungen, die weggelassen werden können, ohne dass sich am Ergebnis etwas ändert, würden gegen § 313 Abs. 3 ZPO verstoßen612 und seien »verboten«613. Abwägende Begründungen, die das Für und Wider erörtern und bestehende Zweifel sorgfältig ausräumen, wären hiernach von Rechts wegen untersagt. Die geschilderte Auffassung steht jedoch im Bereich der Beweis- und Verhandlungswürdigung im Widerspruch zu der nach § 286 Abs. 1 S. 2 ZPO bestehenden Verpflichtung, die für die richterliche Überzeugung leitenden Gründe anzugeben. Sie vernachlässigt zudem den verfassungsrechtlich fundierten Anspruch der Parteien darauf, über die den Spruch des Richters tragenden Gründe in einer Weise unterrichtet zu werden, die es ihnen ermöglicht, die maßgebenden Erwägungen zu verstehen und nachvollziehen zu können614. Außerdem verlangt 611 Statt vieler Leipold, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 4, Teilband 1, 21. Aufl. 1998, § 313 Rn. 60; Siegburg, Einführung in die Urteilstechnik, 5. Aufl. 2003, Rn. 577. 612 Siegburg, Einführung in die Urteilstechnik, 5. Aufl. 2003, Rn. 578. 613 So Balzer, NJW 1995, 2448, 2452. 614 Zu diesem Aspekt Musielak, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 2000, § 313 Rn. 14 m.w.N.
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das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf den Anspruch auf rechtliches Gehör, dass in den Entscheidungsgründen grundsätzlich stets auf einen zentralen Vortrag der Parteien einzugehen ist615. Mit diesen Vorgaben ist es unvereinbar, die Begründungspflicht zwingend auf das denklogisch Unverzichtbare zu beschränken. Im Übrigen ist die Frage nach einer aus § 313 Abs. 3 ZPO folgenden Rechtspflicht zu apodiktischen und zweifelsfreien Kurzbegründungen rein theoretischer Natur, weil der Bestand einer Entscheidung nicht dadurch gefährdet würde, dass sie ausführlicher begründet worden ist, als dies nach § 313 Abs. 3 ZPO angezeigt gewesen wäre. Selbst wenn eine Pflicht des Richters zur Kurzbegründung bestünde, könnte sie von den Parteien nicht mit Rechtsmitteln durchgesetzt werden. bb. Andererseits zwingt das Gesetz aber auch nicht dazu, in den Entscheidungsgründen alle Zweifel, die der Richter gehabt hat, anzugeben oder die bei der Suche nach der Entscheidung bestimmenden sozialpolitischen und sonstigen Faktoren aufzuzeigen. Verbreitet wird die Funktion der Entscheidungsgründe dergestalt umrissen, dass es erkennbar sein müsse, wie das Gericht zu der von ihm getroffenen Entscheidung gelangt ist616. Diese Umschreibung trifft die Aufgabe der Begründung nicht ganz. In den Entscheidungsgründen ist stattdessen darzulegen, weshalb das Gericht die konkrete Entscheidung getroffen hat. Die Entscheidungsgründe müssen die Erwägungen enthalten, auf denen die – letztlich getroffene – Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht (vgl. § 313 Abs. 3 ZPO). Von Rechts wegen ist der Richter nicht gehalten, die gelegentlich holprigen und oft verschlungenen Wege zu schildern, die ihn zu seiner Entscheidungshypothese617 geführt haben618. cc. Bei dem Streit über die Sprache und den Aufbau von Gerichtsentscheidungen geht es also vornehmlich um Zweckmäßigkeitsfragen. Das ist zu berücksichtigen, wenn man der Kritik am Urteilsbegründungsstil nachgeht und fragt, ob diese beiden im Schrifttum angeführten Gesichtspunkte für verdeckte Rechtsfortbildungen verantwortlich gemacht werden können.
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BVerfGE 47, 182, 189 f.; 86, 133, 146 f.; BVerfG, NJW-RR 1995, 1033, 1034. So beispielsweise Musielak, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 2000, § 313 Rn. 4. 617 Es ist bereits betont worden, dass eine richterliche »Entscheidung« den Prozess der Meinungsbildung bis zum Erlass des Urteils immer nur vorläufig abschließt, s. § 5 II.5. Solange eine Entscheidung noch nicht mit Gründen versehen oder verkündet worden ist, handelt es sich bei ihr tatsächlich um eine Entscheidungshypothese. 618 Vgl. auch Kischel, Die Begründung, 2003, S. 13, der dieses Ergebnis allerdings nicht normativ, sondern funktional begründet: Es sei nicht Aufgabe einer Begründung, die möglicherweise verschlungenen, etwa auch psychologischen Pfade zu erläutern, auf denen der Richter oder Verwaltungsbeamte zu seiner Erkenntnis gelangt ist. Gegen eine »juristische Psycho-Analyse« in den Entscheidungsgründen bereits Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 339 ff. 616
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
d. Das Gebot zweifelsfreier Entscheidungsgründe Die in vielen Praktikerbüchern ausgegebene Parole, die Entscheidungsgründe dürften keinerlei Zweifel erkennen lassen619 und müssten stets eindeutig sein620, leitet dazu an, bestehende Zweifel zu unterdrücken und zu kaschieren. Zwar ist niemandem mit einer Entscheidungsbegründung gedient, die den Eindruck hinterlässt, der Urteilsverfasser sei sich seiner Sache nicht sicher gewesen, habe hin- und hergeschwankt und sei dann zufällig beim konkreten Ergebnis stehen geblieben. Gerade Anfänger reagieren auf die für sie neuen Herausforderungen oft mit Unsicherheit. Das ist zu berücksichtigen, wenn man die in der Referendaranleitungsliteratur enthaltenen Anweisungen beurteilt, auf Zweifelssätze und Möglichkeitsformen621 und allgemein auf »Ausdrücke mangelnder Überzeugung«622 zu verzichten, die Gründe möglichst überzeugungskräftig zu gestalten623 und nur solche Ausführungen zu machen, die die getroffene Entscheidung stützen624. Als Empfehlungen für Referendare, die an rechtlich und tatsächlich weitgehend unproblematischen Standardfällen geschult werden, mögen die genannten Anordnungen akzeptabel sein. Die Ausbildungsliteratur beschränkt ihre auch in Praktikerkommentaren zu findenden Anleitungen625 indes nicht auf Anfänger, sondern stellt generelle Leitsätze für die Rechtspraxis auf. Als allgemeine richterliche Maxime ist das Gebot, in den Entscheidungsgründen keine Zweifel erkennen zu lassen und diese stets eindeutig abzufassen, schlechterdings untragbar. Wenn die Entscheidungsgründe die (primäre) Aufgabe haben, den Parteien die für die konkrete Entscheidung maßgebenden Erwägungen des Gerichts einsichtig und nachvollziehbar zu machen626, dann dürfen vorhandene Zweifel nicht frühzeitig unterdrückt oder in den Entscheidungsgründen verdeckt werden. Vielmehr müssen in wirklich zweifelhaften Fällen auch die Zweifel und die sie letztlich beseitigenden Gesichtspunkte genannt werden, wenn die Parteien 619 Vgl. etwa Anders/Gehle, Das Assessorexamen im Zivilrecht, 8. Aufl. 2005, Rn. 232; aus dem älteren Relationsschrifttum etwa Berg, Gutachten und Urteil, 10. Aufl. 1977, S. 147: »Zweifel an der eigenen Ansicht dürfen nicht ersichtlich werden.« 620 Statt vieler W. Zimmermann, Klage, Gutachten und Urteil, 18. Aufl. 2003, Rn. 474: Die Sprache der Entscheidungsgründe muss bestimmt sein. Früher lautete diese Passage: Die Sprache der Entscheidungsgründe muss so bestimmt sein wie die des Gesetzgebers. Hier spricht nicht ein Jurist zu Juristen, sondern das Gericht zu den Parteien kraft staatlicher Autorität, s. Berg, Gutachten und Urteil, 10. Aufl. 1977, S. 147. 621 So Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 550. 622 Der anschauliche Begriff findet sich bei P. Schulin, Der Aufbau von Tatbestand, Gutachten und Entscheidungsgründen, 4. Aufl. 1972, S. 240. 623 Z. B. Furtner, Das Urteil im Zivilprozess, 5. Aufl. 1985, S. 445. 624 Etwa U. Gottwald, Das Zivilurteil, 1999, S. 62; Knöringer, Die Assessorklausur im Zivilprozess, 11. Aufl. 2005, S. 80; Reichold, in: Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 27. Aufl. 2005, § 313 Rn. 27; Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 547 (S. 341). 625 Vgl. neben dem in der vorstehenden Fußnote zu findenden Zitat im Thomas/Putzo noch P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 313 Rn. 32 und 34 mit einem vier Zeilen umfassenden Beispiel für Entscheidungsgründe in Rn. 49. 626 So Musielak, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 2000, § 313 Rn. 4 und 14; P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 313 Rn. 33.
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die Entscheidung verstehen sollen. Wenn in problematischen Rechtsfragen oder bei der Beweis- und Verhandlungswürdigung generell keine Zweifel erkennbar sein dürfen, wird Selbst- und Fremdbetrug durch Scheinbegründungen gefördert. Bewusst vorgeschobene Begründungen verstoßen gegen § 313 Abs. 3 ZPO, weil sie nicht die Erwägungen nennen, auf denen die Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht. Unabhängig davon gilt: Wenn sich die Scheinbegründungen auf die gesetzlichen Vorgaben der Entscheidungsfindung beziehen, was meist der Fall sein wird627, bilden sie regelmäßig das Gesetzesrecht verdeckt fort. Anders ist das allein dann, wenn das konkrete Ergebnis der jeweiligen Entscheidung einmal rein zufällig mit der gesetzgeberischen Interessenbewertung übereinstimmen sollte. Mithin sind die Sprachgebote der Anleitungsliteratur für verdeckte Rechtsfortbildungen mitverantwortlich. e. Der deduktive Urteilsstil Schwieriger ist es, den sog. deduktiven Urteilsstil zu bewerten. aa. Ein gängiger Vorwurf lautet, hier werde nicht erwogen und diskutiert, sondern »abgeleitet«. Eine echte Ableitung im logischen Sinne aus dem Gesetz wird heute indes für gerichtliche Entscheidungen – soweit ersichtlich – von niemandem gefordert. Es geht vielmehr um die überzeugende Herleitung eines Einzelfallurteils aus den normativen Vorgaben. bb. Der deutsche Urteilsstil, der das gefundene Ergebnis an die Spitze der Ausführungen stellt und durch eine Reihe aufeinander folgender »Denn«-Sätze begründet, wirkt ungemein folgerichtig. Der konsequente Aufbau ist in der Tat nicht dazu angetan, Zweifel aufkommen zu lassen. Der Vorwurf, der Urteilsstil unterdrücke künstlich die eigenen Zweifel und verdecke die wahren Entscheidungsgründe, trifft dennoch nicht zu. Der Urteilsstil lässt ohne weiteres Raum für eine eingehende Abwägung aller Sachargumente, da er lediglich den Argumentationsgang strukturiert. Der in Deutschland übliche Aufbau der Entscheidungsbegründungen nötigt nicht zu Verschleierungen, im Gegenteil: Der Urteilsstil führt dazu, dass der Begründende sich auf die tragenden Argumente konzentriert628. Konsequent und methodengerecht angewendet zwingen die Subsumtion im Gutachten und der Urteilsstil bei der Begründung gerichtlicher Entscheidungen zu diszipliniertem Denken und dazu, die maßgebenden gesetzlichen und auch die entscheidenden eigenen Interessenbewertungen zu erkennen und zu nennen629. 627 Dass Rechtfortbildungen auch im Zivilrecht vornehmlich die Gesetze zum Gegenstand haben, ist bereits dargelegt worden, s. § 4 V.3.a.bb. und 4.f. 628 Zu Recht betont von Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 380. 629 In diesem Sinne auch Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, S. 281: »Die Forderung nach Deduktion führt gerade zu dem Gegenteil der Verschleierung des schöpferischen Teils der Rechtsfindung: Die nicht dem positiven Recht entnommenen Prämissen werden in vollem Ausmaß deutlich«.
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
Dass diese häufig nicht offen gelegt werden, beruht nicht auf Subsumtion und Urteilsbegründungsstil, sondern auf Auslegungszielen, welche die relevanten Interessenbewertungen vernachlässigen, und auf einem überholten Urteils- und Richterbild. Nach Schellhammer gilt es weithin noch immer als unschicklich, die juristischen Zauberformeln aufzulösen und die Dinge beim Namen zu nennen630. Große Teile der Praktikeranleitungsliteratur fördern diese Einstellung durch die von ihnen aufgestellten Sprachgebote einer zweifelsfreien und eindeutigen Entscheidung631. Es ergibt sich: Von Rechts wegen ist der deduktive Urteilsstil zwar nicht zwingend geboten. Er ist aber keinesfalls per se abzulehnen. Im Anschluss an eine methodengerechte Rechtsfindung kann er verdeckte Rechtsfortbildungen sogar verhindern. cc. Die Kritiker des deduktiven Urteilsstils scheinen demgegenüber zu vermuten, dass durch ihn die »wahren« Entscheidungsgründe verdeckt werden und verlangen deren Offenlegung. Die verbreiteten Appelle, die wahren, wirklichen oder echten Entscheidungsgründe offen zu legen, leiden meist daran, dass nicht deutlich wird, was eigentlich mitgeteilt werden soll. Die Forderung nach Offenlegung kann auf die rechtlich maßgebenden Kriterien oder auf die tatsächlichen Motive bzw. inneren Beweggründe zielen632. Insoweit ist nochmals zu betonen, dass die zivilprozessualen Begründungsvorschriften keine Darstellung der Motive verlangen, die zur Entscheidungshypothese geführt haben, sondern die Angabe der rechtlich tragenden Erwägungen gebieten633. Diese dürfen auch nicht dadurch überspielt werden, dass »wirkliche« Entscheidungsgründe genannt werden. Überspitzt gesagt: Die Mitteilung des Richters, er habe heute schlecht gefrühstückt, wird rechtsstaatlichen Begründungsanforderungen nicht gerecht634. Der Richter ist zunächst einmal verpflichtet, unter Beachtung der Gesetze zu urteilen und seine Einzelfallentscheidung aus den gesetzgeberischen Interessenbewertungen zu entwickeln. Nur wenn und soweit er sich nicht auf eine solche Interessenbewertung stützen kann und die widerstreitenden Interessen eigenständig bewerten muss, hat er seine »wahren« Entscheidungsgründe offen zu legen635. Im Bereich der gesetzesbzw. normkonkretisierenden Rechtsfindung ist für eigene sozialpolitische Erwägungen kaum Raum636. Offenlegungsforderungen ändern daran nichts. Begnügt man sich hier vorschnell mit einer Offenlegung der »wirklichen« Entscheidungsgründe, wird die Gesetzesbindung des Richters ausgehebelt. 630 Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 381 (S. 228); hierzu bereits VI. 631 Hierzu vorstehend d. 632 Am Rande bereits VIII.1.c.bb.(5). 633 Vorstehend c. 634 Vgl. Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1958, S. 9. 635 Hierzu C. Fischer, ZfA 2002, 215, 223 f., 227. 636 C. Fischer, ZfA 2002, 215, 234. Dort werden auf S. 234 ff. nach dem Gegenstand der Rechtsfindung und dem Kriterium der gesetzlichen Regelungsdichte vier Bereiche der Rechtsfindung unterschieden, um die unterschiedlichen Spielräume des Rechtsanwenders zu verdeutlichen.
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Allerdings kann ein ausschließlich deduktiver Urteilsbegründungsstil dazu führen, dass der Richter die Notwendigkeit einer eigenständigen Interessenbewertung verkennt und seine »wahren« Entscheidungsgründe, die er nach § 313 Abs. 3 ZPO mitteilen müsste, hinter einer verdeckten Fortbildung des Gesetzesrechts verbirgt. Das liegt dann aber nicht am Aufbau der Gründe, sondern an meist methodisch bedingten Fehlern der Rechtsfindung. f. Zwischenergebnis Versteht man unter dem deduktiven Urteilsstil den Aufbau der Entscheidungsgründe nach dem »denn«-Schema, dann begünstigt dieser entgegen anders lautender Bewertungen im Schrifttum verdeckte Rechtsfortbildungen nicht. Der Urteilsstil gibt lediglich die äußere Struktur der Begründung vor und steht einer ausführlichen inhaltlichen Erörterung problematischer Rechtsfragen nicht entgegen, was etwa ein Blick in beliebige obergerichtliche Entscheidungen beweist. Demgegenüber führt das Gebot, die Entscheidung immer zweifelsfrei und eindeutig herzuleiten, zu vorgeschobenen (Schein-)Gründen und – wegen der zentralen Rolle der Gesetze im Rahmen der Begründung – auch zu verdeckten Fortbildungen des Gesetzesrechts. Dieser Aspekt des Urteilsbegründungsstils ist für verdeckte Rechtsfortbildungen mitverantwortlich.
7. Die Grundlagenkrise Möglicherweise ist eine Grundlagenkrise die tiefere Ursache für verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts. Das Ausbildungskonzept einer Wissenschaft wird durch ihr jeweiliges Selbstverständnis bestimmt. Unsicherheiten in theoretischen Grundsatzfragen kehren als Ausbildungsprobleme wieder637. a. Erscheinungsformen und Ursachen Dass die Ausbildung der Juristen in den Rechtsfakultäten der deutschen Universitäten seit Generationen kritisiert wird, wurde bereits erwähnt638 und insbesondere im Zusammenhang mit der traditionellen Zweiteilung der deutschen Juristenausbildung eingehend geschildert639. Man kann daher von einer »permanenten Ausbildungskrise« reden640. Sie deutet auf tief verwurzelte Grundlagenprobleme einer Disziplin hin, deren Wissenschaftscharakter von manchen bezweifelt641, die jedoch von anderen als lebens- und praxisferne Theorie gescholten wird. 637
Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 36. Oben 1.; Zusammenstellung der Reformliteratur ab 1860 in: Arbeitskreis für Fragen der Juristenausbildung e. V., Die Ausbildung der deutschen Juristen, 1960, S. 166 bis 194. 639 Oben 2. 640 Freilich sollte man dabei auch berücksichtigen, dass die praktische Verwendbarkeit deutscher Juristen und die fachliche Qualität deutscher Urteile im internationalen Vergleich verbreitet als deutlich überdurchschnittlich gelten. 641 Einführend zum Streit über die Jurisprudenz als Wissenschaft Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 280 ff. 638
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
Rüthers spricht von der »Ausbildungskrise als Grundlagenkrise«642. Die dauerhafte Unzufriedenheit mit der universitären Juristenausbildung führt er darauf zurück, dass im Studium die Grundlagenprobleme der Disziplingeschichte verdrängt und die rechtstheoretischen Grundsatzfragen weitgehend ausgeklammert würden. Was Recht genau sei, warum es gelte, wie die Gerichte es angewendet haben und wie es sachgerecht angewendet werden sollte, würden die Juristen in der Ausbildung nicht erfahren, weshalb die Rechtsanwender irrig glaubten, den Begriff, den Geltungsgrund des Rechts und die Methoden seiner Anwendung frei wählen zu können643. Obwohl die Literatur zu Methodenfragen inzwischen ganze Bibliotheken fülle, sei das Methodenproblem der Rechtsgewinnung eine der vernachlässigten Grundsatzfragen der deutschen Gerichtspraxis und Rechtswissenschaft644. Die Ausbildungs- und Grundlagenkrise der Rechtswissenschaft hat zwei Ursachen. Sie beruht zum einen darauf, dass die Grundfragen nicht gestellt und die Grundlagenfächer, insbesondere die Methodenlehre, vernachlässigt werden. Zum anderen wirkt sich die unbewältigte Methodengeschichte der Disziplin aus. b. Die vernachlässigten Grundfragen Die Grundfragen der Rechtswissenschaft645 werden im Studium kaum behandelt. Die klassischen Grundlagenfächer Rechtsphilosophie, Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie existieren vornehmlich in Nischen. Sie gelten außerhalb der Wahlfachgruppen als nicht »examensrelevant«. Ihr Bezug zur juristischen Berufstätigkeit wird von den meisten Studierenden nicht gesehen. Anwendungsbezogene Veranstaltungen zur juristischen Methodenlehre, welche die elementaren Zusammenhänge zwischen Rechtstheorie und alltäglicher Rechtsfindung aufzeigen und konkrete Argumentationshilfen bieten, gibt es nur an wenigen Universitäten646. 642
Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, vor Rn. 36. Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 36. Die von Rüthers gerügte Sichtweise findet sich nicht nur bei Praktikern, die des Öfteren nach der Maxime »bei uns hat jeder Fall seine eigene Methode« verfahren, sondern sogar in Habilitationsschriften, vgl. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 14: »Das ist wiederum die Frage nach den guten Gründen, die Frage nach der richtigen Methode. Jeder Jurist wird und muß für sich entscheiden, ob und wieweit er bestimmte Argumente wie etwa die Folgenbetrachtung für rechtlich tragbar hält.« Dass Methodenfragen keine Fragen der persönlichen Vorlieben, sondern wegen der richterlichen Gesetzesbindung immer Rechts- und Verfassungsfragen sind, wird vernachlässigt. 644 Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 640. 645 Diese lauten, wie in § 1 bereits gesagt wurde: Was ist Recht? Warum gilt Recht? Wie wird Recht zutreffend gefunden, angewendet und fortgebildet? – Vgl. hierzu Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 3 und 26; Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 1 bis 3 m.w.N. 646 Bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts sollen juristische Methodenfragen im Rechtsunterricht in Deutschland generell kaum vorgekommen sein, s. Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 640. Methodendiskussionen waren nach den Angaben von Zeitzeugen auf Habilitandenrunden und andere elitäre Zirkel beschränkt, waren etwas für Eingeweihte und Erleuchtete. So erzählt man sich von einem Hochschul- und Methodenlehrer, der mit seinen Schülern bei Kerzenlicht Hegel studiert haben soll. Das, was der »Normaljurist« wissen musste, wurde im Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Rechts mitbehandelt und als Annex der Dogmatik vermittelt, vgl. etwa die umfangreiche und recht detaillierte Darstellung zu Auslegung und Rechtsfindung im großen Standardlehrbuch von Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halbband, 15. Aufl. 1959, S. 323 bis 349. 643
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Rechtswissenschaft ist heute in Deutschland vor allem die Dogmatik der sachlichrechtlichen Einzeldisziplinen und deren Demonstration an Einzelfällen647. Die Konzentration des Studiums auf die Teildisziplinen verstellt den Blick auf die Grundlagen und Funktionsweisen der Rechtsordnung; in der juristischen Lehre und auch in der Praxis der Teilbereiche des Rechts werden Grundlagenund Methodenprobleme oft nur am Rande ausweichend oder gar abwertend behandelt648. Methodenskeptische Dogmatiker können sich auf Radbruch berufen, der zur Methodenlehre einmal angemerkt hat649: »Wie Menschen, die sich durch Selbstbeobachtung quälen, meist kranke Menschen sind, so pflegen aber Wissenschaften die sich mit ihrer eigenen Methodenlehre zu beschäftigen Anlaß haben, kranke Wissenschaften zu sein; der gesunde Mensch und die gesunde Wissenschaft pflegt nicht viel von sich selbst zu wissen«. In der Rechtswissenschaft und der Justizpraxis herrscht so etwas wie ein »horror principorum«, eine Angst vor dem Grundsätzlichen: Die kunstvolle juristisch-dogmatische Konstruktionstechnik – das juristische »Handwerk« – gilt den meisten als schwierig genug650. Gelernt werden dementsprechend nicht Methoden der Rechtsfindung, sondern sachlich-rechtliche Detailfragen. In methodischer Hinsicht begnügt man sich regelmäßig mit einer Handvoll vielfältig verwendbarer Standardargumente. Nach Adomeit wird in der Ausbildung immer noch naiv die Möglichkeit vorausgesetzt, »das« richtige Ergebnis deduktiv zu gewinnen; die Fähigkeit, individuelle und soziale Bedenken oder Entscheidungsmomente durch deduktive Schein-Objektivität sprachlich zum Verschwinden zu bringen, werde geradezu antrainiert651. Das »blühende Leben der Repetitorien« ist gleichfalls ein Zeichen für Mängel der universitären Ausbildung und für den ungebrochenen Glauben, dass die Fähigkeit, Formeln zu repetieren, zum Wesen des Handwerks gehöre652. Viele Studierende meinen, es gehe primär darum, der »h. M.« entsprechende Ergebnisse mit standardisierten Rechtfertigungsformeln zu legitimieren. In wichtigen Teilen des Universitätsunterrichts orientiert man sich zunehmend an der Vorgehensweise der Repetitorien. Die weitgehende Methodenabstinenz der Universitätsausbildung führt insbesondere dazu, dass lieber ausgelegt als fortgebildet wird. Bei der Auslegung, die auf wenige – meist vier – Elemente reduziert wird, die schlagwortartig gehandhabt werden, bewegt man sich auf (scheinbar) sicherem Boden653. c. Die verdrängte Disziplin- und Methodengeschichte Das Arsenal der heute gebräuchlichen juristischen Argumente sähe vermutlich anders aus, wenn die jüngere Disziplin- und Methodengeschichte im Universi647
S. bereits § 1 I.3. Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 36. 649 Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 5. und 6. Aufl. 1925, S. 194; s. bereits § 6 I.3, dort auch zur Methodenskepsis und Methodikaversion vieler Praktiker. 650 So Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 36. 651 Adomeit, ZRP 1970, 176, 177 und 180. 652 So Böhlk/Unterseher, JuS 1980, 323, 325. 653 Vgl. zum verbreiteten »horror vacui« bereits V. 648
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tätsunterricht nicht weitgehend verdrängt würde. Bestimmte gebräuchliche Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen würden wahrscheinlich vorsichtiger oder sogar gar nicht mehr eingesetzt, wenn ihre wechselvolle Vergangenheit und ihre unterschiedlichen Inhalte in den verschiedenen Rechtsordnungen insbesondere des 20. Jahrhunderts geläufig wären. aa. Viele Juristen werden eher unbewusst oder aus Gewohnheit zu »anerkannten«, tatsächlich aber wenig bis nichts sagenden Beschwörungsformeln wie der Natur der Sache, dem Wesen der Dinge oder dem Willen des Gesetzes greifen, deren inhaltliche Beliebigkeit spätestens seit der wissenschaftlichen Untersuchung der unbegrenzten Auslegung der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus654 bekannt sein sollte655. Es mag insofern auch eine Rolle spielen, dass Generationen von Juristen herangewachsen sind, die das Risiko ideologischer Umdeutungen des Rechts unter dem Mantel einer wissenschaftlich klingenden Terminologie nicht zu erkennen, solche Strategien nicht zu durchschauen gelernt haben656. Otte erwähnt das völlige Übergehen des Themas »Nationalsozialismus« in der Methodenlehre von Larenz, das die Frage an eine ganze Juristengeneration aufwerfe, warum sie dem Lehrer einer Methode, deren besondere Eignung zur Umsetzung nationalsozialistischen Gedankenguts in die Rechtswirklichkeit erwiesen sei, den Rang einer ersten Autorität in Methodenfragen eingeräumt habe657. Zwar haben neuere Rechtsgeschichte, Rechtstheorie und Methodenlehre in den von ihnen untersuchten Bereichen der Problematik in den letzten vierzig Jahren ganz erhebliche Erkenntnisfortschritte erzielt. Wer sich über bestimmte einzelne juristische Scheinbegründungen informieren will, kann das heute tun. Er muss allerdings ein großes Maß an Eigeninitiative aufbringen. Wie viele Studierende oder Praktiker beschäftigen sich aber schon ernsthaft mit sog. Grundlagenfächern? Trotz der ständig beklagten Ausbildungskrise spielen diese in dem von der sog. Dogmatik dominierten Universitätsstudium allenfalls eine untergeordnete Rolle. Im außeruniversitären Rechtsprechungs- und Meinungsstreitunterricht sind sie schlichtweg bedeutungslos. Außerdem behandeln die Grundlagenfächer jeweils nur Einzelfragen aus dem hier angesprochenen Bereich, und diese dann häufig dergestalt »spezialwissenschaftlich«, dass der »gemeine, philosophisch nicht spezialisierte Jurist«658 damit wenig anfangen kann. Methodische 654
Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005 (1. Aufl. 1968). Der Hinweis auf die Funktion einer Argumentationsfigur im Dritten Reich wird auch heute noch häufig missverstanden. Sie macht die Figur nicht zwangsläufig zu einer nationalsozialistischen. Ihr Verwender soll nicht in ein bestimmtes Lager gestellt werden. Vielmehr geht es regelmäßig allein darum, dass mit solchen Figuren beliebige Inhalte als geltendes Recht ausgegeben werden können. 656 So Rüthers, Wir denken die Rechtsbegriffe um …, 1987, S. 12 f., 25, unter Hinweis auf die »Schweigespirale« und die juristische Schulenbildung; s. zu methodischen Kontinuitäten noch Rüthers, NJW 1996, 1249 ff. 657 Otte, NJW 1998, 1918. Im anschließenden Satz fragt er: »War das ein stillschweigendes Einverständnis mit seinem Stillschweigen?«. 658 Hattenhauer, Die Kritik des Zivilurteils, 1970, S. 10, zur Methodenlehre, die in den Händen der Rechtsphilosophen zu deren Spezialwissenschaft geworden sei. 655
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Untersuchungen, die Rechtsfortbildungsfiguren in einer Gesamtschau betrachten, und das dann noch möglichst allgemeinverständlich, existieren nicht. Hier dürfte ein maßgeblicher Grund dafür liegen, dass scheinbar bewährte, inhaltsarme und deshalb vielfältig verwendbare Leerformeln auch von sog. Spitzenjuristen heute häufig, gerne und letztlich weitgehend risikolos benutzt werden. bb. Hinzu kommt ein spezifischer Aspekt der deutschen (Rechts-)Geschichte des 20. Jahrhunderts, den vor allem Rüthers seit Jahren betont. Gemeint sind die zahlreichen Umbrüche der politischen Systeme, der Verfassungen und der sie tragenden Weltanschauungen659. Möglicherweise liegt hier ein tieferer Grund für den verbreiteten Einsatz von Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen. Wir Deutschen sind nach Rüthers so etwas wie Weltmeister in der sonderbaren Disziplin schneller politischer Systemwechsel geworden, nach denen die Rechtsordnung in der Regel von Grund auf umgestaltet und mit neuen materialen Inhalten gefüllt wird, wobei die Hauptlast der jeweils fälligen umfassenden Rechtserneuerungen zunächst von den Gerichten und der diese mit Entscheidungsvorschlägen versorgenden schreibenden Jurisprudenz zu übernehmen ist660. Ob diese Beschreibung tatsächlich für alle Systemwechsel des 20. Jahrhunderts in Deutschland zutrifft, muss hier nicht entschieden werden. Sicher ist, dass die deutschen Gerichte in den letzten hundert Jahren ein differenziertes Know-how für die Umdeutung von Gesetzen und Rechtssystemen ohne oder mit wenigen Eingriffen der Gesetzgebung entwickelt haben661. Angeleitet durch eine zeitweise ausgesprochen kreative praxisbezogene Methodenlehre662 haben die deutschen Richter ein reichhaltiges Arsenal von Figuren geschaffen, mit denen sich die Gesetze im Gewand ihrer Auslegung und Anwendung fort- und umbilden lassen. Wenngleich sich diese Argumentationsmuster letztlich auf die beiden Grundformen neue außergesetzliche Rechtsquellen und neue Auslegungslehren zurückführen lassen, verfügt die deutsche Rechtswissenschaft und -praxis aufgrund ihrer großen Erfahrungen über ein vielfältiges Repertoire einschlägiger Topoi, das weltweit seines Gleichen sucht. Es stehen also zahlreiche, scheinbar bewährte Instrumente zur Verfügung, um überkommene, nach Auffassung des Interpreten nicht mehr zeitgemäße Gesetze im Prozess der Rechtsanwendung verdeckt an den jeweiligen Zeitgeist anzupassen. Unausweichlich sind Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen trotz ihrer langen Geschichte allerdings selbst in Deutschland nicht. Niemand muss diese Figuren verwenden, die auch und gerade durch ihre historischen Anwendungsbeispiele diskreditiert sind.
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Aus neuerer Zeit etwa Rüthers, JZ 2002, 365, 366. Rüthers, JZ 2002, 365, 366; eingehend zur Umdeutung der Zivilrechtsordnung im Nationalsozialismus Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Aufl. 2005, S. 183 ff., 322 ff. und passim. 661 So Rüthers, JZ 2002, 365, 369. 662 Zu nennen sind beispielsweise das sog. konkrete Ordnungsdenken von Carl Schmitt oder der »konkret allgemeine Begriff« von Karl Larenz, einführend zu diesen Lehren Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 558 ff., 563 ff. 660
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d. Zwischenergebnisse Die Grundlagenkrise der deutschen Rechtswissenschaft lässt sich mit den Schlagworten »vernachlässigte Grundsatzfragen bzw. Grundlagenfächer« und »verdrängte Disziplin- und Methodengeschichte« charakterisieren. Sie schafft »gute« Rahmenbedingungen für verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts. Da die Grundfragen der Rechtsfindung in der vom dogmatischen Rechtsunterricht dominierten Universitätsausbildung nicht beantwortet werden, suchen die Studierenden Orientierung in Einzelfällen und Vorentscheidungen. Im Lehrbetrieb werden die Präjudizien als Anwendungsfälle der Gesetze und als Konkretisierungen der Gesetzes- und Rechtsbegriffe vermittelt. Rechtsfindung erscheint daher als Auslegung der Gesetze, die mit vier Auslegungselementen unschwer zu bewältigen ist, wenn man denn die Präjudizien kennt. Im Verlauf der Ausbildung wird dieses bescheidene methodische Instrumentarium durch eine überschaubare Zahl vielfältig verwendbarer und verwendeter juristischer Standardargumente ergänzt, die man fast zwangsläufig kennen lernt, wenn man sich eingehender mit Fällen und Präjudizien beschäftigt. Zu diesen Standardargumenten zählen auch und insbesondere Topoi, mit denen sich das Gesetzesrecht im Gewand seiner Auslegung fortbilden lässt. Würde die neuere Rechtsmethodengeschichte im Universitätsunterricht behandelt, wären viele dieser leerformelhaften Begründungen längst durch ihre historischen Anwendungsbeispiele bloßgestellt und entmythologisiert. Methodenabstinenz und Geschichtslosigkeit des Studiums ermöglichen also verdeckte Rechtsfortbildungen.
8. Defizite der Grundlagenfächer und der Ausbildung Dass die Grundlagenkrise allein durch mehr Veranstaltungen zu Juristischer Methodenlehre und zu Privatgeschichte der Neuzeit beseitigt werden könnte, ist freilich zu bezweifeln. Zusätzlich müssten Inhalte verändert werden. Die Grundlagenkrise der deutschen Rechtswissenschaft ist auch eine Krise der Grundlagenfächer. Zudem handelt es sich bei ihr entgegen dem Eindruck, den die gerade gemachten Ausführungen entstehen lassen, nicht nur um eine Krise des Universitätsstudiums, sondern der juristischen Ausbildung als Ganzer. Verbesserungsvorschläge sollten daher auch den Vorbereitungsdienst erfassen. Vor diesem Hintergrund ist abschließend auf einige Defizite der heutigen akademischen und praktischen juristischen Ausbildung hinzuweisen, die in der Diskussion über verdeckte Rechtsfortbildungen nicht thematisiert werden, im Vorstehenden allerdings teils bereits am Rande angesprochen worden sind. a. Die Geschichte der Praxis Um die geschilderten methodengeschichtlichen Defizite abzubauen, dürften sich Lehrveranstaltungen zur neueren Privatrechtsgeschichte nicht ausschließlich mit der Geschichte der Rechtswissenschaft, der Rechtsinstitute und der Kodifikationen beschäftigen. Sie müssten stärker die Rechtspraxis, deren Entscheidungen und Methoden in den Blick nehmen. Dieter Simon hat 1984 festgestellt, die
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Rechtsgeschichte habe sich dem »Phänomen Rechtsprechung« bislang nur marginal zugewendet663; entsprechende historische Forschungen seien nur in sehr geringem Umfang vorhanden664. Ein Trend hin zu rechtspraktischen methodischen Fragestellungen scheint sich in jüngeren rechtsgeschichtlichen Untersuchungen abzuzeichnen665. Die Lehrbücher und den Lehrbetrieb hat er aber wohl noch nicht erreicht. Ob »die Rechtsgeschichte« die methodengeschichtlichen Mängel des Universitätsstudiums ausgleichen will und kann, bleibt abzuwarten. Zu wünschen wäre, dass sich Rechtsgeschichte und Methodenlehre gemeinsam dem Thema »praktische Rechtsmethodengeschichte« annehmen666. Grundsätzlich ist es auch möglich, Grundzüge der »Geschichte der Rechtsmethoden in Theorie und Praxis« in Veranstaltungen zur Rechtstheorie bzw. zur Juristischen Methodenlehre zu vermitteln. Der Anwendungsbezug lässt sich hier durch den Vergleich praktischer Fälle leichter darstellen als in reinen rechtsgeschichtlichen Vorlesungen. b. Der Zustand der juristischen Methodenlehre Dass die gegenwärtige juristische Methodenlehre in Deutschland bereit und in der Lage ist, die Grundlagenprobleme der Disziplingeschichte zu lösen und die Grundfragen der praktischen Rechts- und Entscheidungsfindung angemessen zu beantworten, muss bezweifelt werden. Zum einen gibt es keine einheitliche Methodenlehre. Es existiert eine Vielzahl mehr oder weniger detaillierter und ausgereifter Lehren, die mit unterschiedlichen Ansätzen oder Modellen um die »richtige« Methode konkurrieren. Juristische Methodenlehre ist eine Sammelbezeichnung. Der Begriff steht für einen Untersuchungsgegenstand und nicht für eine bestimmte theoretische Position. Zum anderen soll die Methodenlehre gegenwärtig insgesamt in keiner guten Verfassung sein. aa. Die Klagen über den Zustand der Rechtsmethodik sind altbekannt667. Die konventionelle, auf Rechtsanwendungsprobleme verengte und auf bloße Auslegungstechnik reduzierte juristische Methodenlehre sei im Grunde eine Lehre ohne Methode668: Ihren Anspruch, das Entscheidungsverhalten anzuleiten, löse 663 D. Simon, in: Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre, 1986, S. 229, wo es weiter heißt, das erforschte Material sei dementsprechend dürftig. 664 D. Simon, in: Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre, 1986, S. 229, 236. 665 Vgl. beispielsweise Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, m.w.N. auf S. 22, der eingehend die Auslegungspraxis der deutschen, französischen und der englischen Gerichte sowie des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften untersucht; zum Begründungsverhalten des Reichsgerichts im Dritten Reich in Zivilsachen und des Obersten Gerichts der DDR Haferkamp, in: R. Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur in der DDR, Band 2, 2000, S. 15 ff. Nach wie vor behandeln methodengeschichtliche Untersuchungen aber regelmäßig allein die Geschichte der Methodenlehren, vgl. etwa J. Schröder, Recht als Wissenschaft, 2001, S. 1. 666 In diesem Zusammenhang allgemein über historische Beiträge zu der sich konstituierenden Disziplin Rechtsprechungslehre D. Simon, in: Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre, 1986, S. 229 ff. 667 Vgl. bereits § 6 I.3. 668 Krawietz, JuS 1970, 425, 430 f.
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sie tatsächlich gar nicht ein. Es handle sich bei ihr um eine auf unreflektierten Routineleistungen beruhende Rechtsanwendungstechnik, die von einer dogmatischen Rechtswissenschaft als juristische Methodenlehre stilisiert werde. Was sie lehre, seien aus der Praxis der Rechtsanwendung erwachsene, nur oberflächlich und partiell rationalisierte Auslegungstechniken und Subroutinen der Entscheidungsfindung, deren Verhältnis zueinander sie nicht hinreichend bestimmen könne. Sie entmündige den Jungjuristen dadurch, dass sie ihn auf handwerkliche Subsumtions- und Interpretationstechniken abrichte, ohne ihn in den Stand zu setzen, den hochkomplexen Vorgang rechtlichen Entscheidens kritisch zu reflektieren669. Untersuchungen über die juristische Methode der Praxis kamen zu dem Ergebnis, dass »unsere akademische Methodenlehre dem Richter weder Hilfe noch Kontrolle bedeutet«670: Juristische »Methoden« würden von der Praxis nur benutzt, um die nach ihrem Rechts- und Sachverständnis angemessenste Entscheidung lege artis zu begründen671; den gleichen Dienst könne aber auch die Berufung auf Präjudizien leisten. Grasnick resümiert: Die überkommene juristische Methodenlehre hat versagt672. »Moderne« rechtstheoretische Strömungen versprechen Abhilfe. Sie werden außerhalb reiner Fachzirkel aber nur sehr eingeschränkt zur Kenntnis genommen und finden kaum Eingang in die zivilrechtliche Standardliteratur und die Rechtsprechung673. Die akademische Rechtstheorie hat nach Röhl mittlerweile »in Regionen der Abstraktion und Praxisferne abgehoben«, in denen sie für Studenten nicht mehr zu vermitteln sei674. Auch vielen dogmatisch tätigen Juristen und Praktikern ist sie zu esoterisch. Die Methodenlehre sei, so heißt es bei Hattenhauer, in den Händen der Rechtphilosophen zu deren Spezialwissenschaft geworden, und der »gemeine«, philosophisch nicht spezialisierte Jurist wage es nur noch selten, in Methodenfragen seine Meinung zu äußern, obwohl juristische Denktechnik und Methode doch dasselbe seien675. Die juristischen Methodenlehren gelten also teils als selbstverständlich und banal, teils als abgehoben-unverständlich und praxisfern. Außerdem ist die juristische Methodenlehre schwerpunktmäßig eine »Methodenlehre der Rechtswissenschaft«676 und keine Methodenlehre der Rechtspraxis. Die Rechtsanwendung auf unklare und streitige Sachverhalte lehrt sie nicht. Hinzu kommt das »Tohuwabohu der gängigen Auslegungsmethoden«677. bb. Ohne Veränderungen der Ansätze vieler juristischer Methodenlehren wird sich die Grundlagenkrise der deutschen Rechtswissenschaft daher voraussicht-
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Krawietz, JuS 1970, 425, 431. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1972, S. 7. 671 In diesem Sinne auch Berkemann, FS Zeidler, 1987, S. 523, 532. 672 Grasnick, JR 1998, 179. 673 § 1 I.6. 674 Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 3. 675 Hattenhauer, Die Kritik des Zivilurteils, 1970, S. 10. 676 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Studienausgabe), 3. Aufl. 1995. 677 Grasnick, Jura 2003, 663, 666. 670
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IX. Die Juristenausbildung
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lich nicht überwinden lassen. Dabei geht es weniger um das Fehlen entscheidungstheoretisch formulierter Herangehensweisen678. Die Methodenlehren müssen sich aber wieder stärker konkreten Problemen der richterlichen Entscheidungsfindung zuwenden. Drei Defizite der heutigen Ansichten sind besonders zu betonen: (1) Die juristische Methodenlehre bietet keine praktizierbare, ausgearbeitete Rechtsfortbildungslehre. Modelle für die Fortbildung des Gesetzesrechts existieren nur in Ansätzen. Die juristische Methodenlehre ist offiziell immer noch primär eine Lehre von der Auslegung und Anwendung der Gesetze679. Ihr lässt sie ihre Hauptaufmerksamkeit zukommen. Nicht einmal der Begriff »Rechtsfortbildung« ist im einschlägigen Schrifttum geklärt. Faktisch ist die Gesetzesanwendung aufgrund der propagierten »Auslegungs«-Lehren freilich längst durch eine Rechtsanwendung ersetzt worden680, bei der das Gesetzesrecht oft fortgebildet wird. Die fremde Wertungen nachvollziehende Auslegung der Gesetze wird dennoch als Normalfall, die eigene Interessenbewertungen erfordernde Rechtsfortbildung als atypischer Sonderfall der Rechtsfindung angesehen681. Die Dominanz der Gesetzesauslegung zeigt sich auch beim Umgang mit Rechtsfortbildungen. Lange Zeit ging es fast nur um den Lückenbegriff, als wenn die Gesetzesordnung grundsätzlich vollständig wäre und vollziehbare gesetzliche Regelungen nur ausnahmsweise einmal fehlen würden. Übersehen wurden dabei die zahlreichen sog. Delegationsnormen an den Richter682, also die (besonders) unbestimmten Rechtsbegriffe und die Generalklauseln, die eine eigene Interessenbewertung ihres Anwenders voraussetzen, und die deshalb auch Stücke »offengelassener Gesetzgebung«683 genannt werden. Im Zivilrecht ist die Fortbildung des Gesetzesrechts im Grundsatz etwas ganz Normales, das nicht als pathologischer Fall der Rechtsfindung isoliert werden darf684. Bis die Fortbildung des Gesetzesrechts endlich enttabuisiert ist, werden Rechtsfortbildungen verdeckt werden. Fortbildungen des Gesetzesrechts sollten auch nicht länger primär unter dem Aspekt der Grenzen der Rechtsfindung problematisiert werden. Der Frage nach dem »Wie« der zulässigen Fortbildung des Gesetzesrechts ist mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Die juristische Methodenlehre muss von einer reinen Interpretationslehre (auch) zu einer Rechtsfortbildungslehre werden. (2) Die Sachverhaltsarbeit wird in der Methodenlehre und allgemein im Studium ignoriert685. Der Universitätsunterricht hat so gut wie immer feststehende 678 Ihr Fehlen bemängelt Berkemann, FS Zeidler, 1987, S. 523, 531; s. auch E. Schmidt, in: Alternativkommentar zur Zivilprozessordnung, 1987, Einl. Rn. 98. Dass die ausgeprägt modellhaften entscheidungstheoretischen Konzeptionen das richterliche Entscheidungsverhalten auf einer Abstraktionshöhe erfassen, die keinen konkreten Erkenntnisgewinn verspricht, ist bereits erwähnt worden, s. § 1 II. 679 Vgl. hierzu etwa Adomeit, Rechtstheorie für Studenten, 4. Aufl. 1998, S. 61; Berkemann, FS Zeidler, 1987, S. 523 und 531, zur juristischen Hermeneutik. 680 § 7 IV.2. und 3. 681 Hierzu bereits § 7 IV.1. 682 Heck, Grundriß des Schuldrechts, 1929, S. 11. 683 Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln, 1933, S. 58. 684 § 1 I.6. a. E. 685 Hierzu § 1 I.3.; § 6 V.1.; vorstehend 3.c.cc. und 5.d.
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
Sachverhalte zum Gegenstand. Gelehrt und gelernt wird allein die Rechtsanwendung auf den unstreitigen, entscheidungsreifen Fall. Die traditionellen Methodenlehren, die sich als Theorien der Rechtsfindung verstehen, sind auf die konkretisierende Anwendung des materiellen Rechts fixiert, bei welcher der Blick zwar zwischen Lebenssachverhalt und Rechtsnorm hin- und herwandern soll, in tatsächlicher Hinsicht aber anders als im realen Prozess auf einen bereits fertigen und unveränderbaren papiernen »Lebenssachverhalt« trifft686. Der sog. Pendelblick verfeinert nur die Rechtsanwendung; für die Sachverhaltsarbeit, vor der die Methodenlehre die Augen schließe687, falle nichts ab688. Praktiker kritisieren, die juristische Methodenlehre verliere kein Wort darüber, wie man aus Prozessakten einen subsumierbaren Sachverhalt herausfiltere und den Gesetzesbefehl in die Tat umsetze689. Mit den »technischen« Fragen der richterlichen Sachverhaltsbildung beschäftigt sich die akademische Methodenlehre ebenso wenig wie die Zivilprozessrechtswissenschaft690. Auch nach Grasnick kommt die Arbeit am Sachverhalt, das Herstellen des Falles durch den Richter, in allen Arbeiten zu Methodenfragen für Juristen, sofern sie denn überhaupt vorkommt, viel zu kurz691. Eine juristische Methodenlehre, die zur praktischen Entscheidungsfindung anleiten will, darf indes nicht so tun, als wenn es keine streitigen Prozesse gebe. Mit der Rechtsanwendung auf den unstreitigen, entscheidungsreifen Fall behandelt sie nur einen kleinen Ausschnitt aus der praktischen Prozessarbeit692. (3) Die Begründung juristischer Entscheidungen wird im Methodenunterricht meist nicht thematisiert. Juristische Methodenlehre ist traditionell und auch heute noch primär eine Lehre der Entscheidungsfindung, in der Begründungsfragen keine besondere Rolle spielen. Erst in den letzten Jahrzehnten haben juristische Argumentations- und Begründungstheorien bestimmte methodische Regeln für das Begründen juristischer Entscheidungen aufgestellt. Die Argumentationstheorien beschäftigen sich ausdrücklich nicht mehr mit der Herstellung, sondern nur noch mit der richtigen Darstellung der richterlichen Entscheidung. Allgemeine, von der Entscheidungsfindung unabhängige methodische Regeln für die richtige Begründung von Entscheidungen sind freilich nur auf hohem Abstraktionsniveau möglich, weshalb der konkrete Nutzen der modernen Argumentationstheorien für das »Alltagsgeschäft« des Rechtsanwenders zweifelhaft ist. Eine praxisbezogene, konkrete juristische Begründungslehre, welche die Vorgaben der Entscheidungsfindung einbezieht, steht noch aus.
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§ 1.I.3. Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, S. VI. 688 So Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 59. 689 Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 59. 690 Statt vieler Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 59: »Die Arbeit am Sachverhalt ist noch unerforscht«. 691 Grasnick, JR 1998, 179, 180; ders., Jura 2003, 663, 664. 692 Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 12. 687
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c. Allgemeine Defizite des Universitätsunterrichts Die geschilderten Defizite fallen zum Teil nicht allein in den Verantwortungsbereich der juristischen Methodenlehre und stellen deshalb auch allgemeine Mängel der universitären Rechtsausbildung dar. Dass die Sachverhaltsarbeit ignoriert wird, ist ein grundsätzlicher Strukturfehler des universitären Einzelfallunterrichts693. Die vollständige Vernachlässigung der richterlichen Sachverhaltsbildung ist zunächst einmal der Methodenlehre und der Prozessrechtswissenschaft anzulasten. Abhilfe könnte nur ein Zusammenwirken beider Teildisziplinen schaffen, welches jedoch dadurch erschwert wird, dass Zivilprozessrechtswissenschaft und Methodenlehre gegenwärtig sachlich und personell wenige Verbindungen aufweisen. Auch eine Begründungslehre muss nicht zwangsläufig als Unterdisziplin bei der juristischen Methodik angesiedelt sein. Das gegenwärtige »Modefach« Rhetorik zeigt, dass derartige Veranstaltung durchaus verselbständigt werden können. Bislang ist die juristische Argumentation in den meisten Studienordnungen allerdings nicht vertreten. Die Dogmatik behandelt die Frage der »richtigen« Begründung beim jeweiligen Streitstand – also immer nur konkret und nicht grundsätzlich – mit. Die besondere Bedeutung von Autoritätsargumenten in der Jurisprudenz überrascht vor diesem Hintergrund nicht. Weitere einzeldisziplinübergreifende Ausbildungsdefizite, die verdeckte Rechtsfortbildungen begünstigen, sind das Fehlen von Veranstaltungen zum »praktischen Prozessrecht«, mit denen möglichst frühzeitig in die anwaltliche und richterliche Arbeitsweise eingeführt wird694, sowie zur Urteilskritik. Der Universitätsunterricht ist heute zu einem guten Teil Rechtsprechungskunde695. Dennoch gibt es so gut wie keine allgemeinen Anleitungen zur Methode der Urteilskritik für Studierende696. Derartige Veranstaltungen könnten auch die Grundzüge einer Urteilsbegründungslehre behandeln und als Ausgangspunkt für eine selbständige Urteilstheorie dienen, deren Fehlen Hattenhauer schon vor Jahrzehnten bemängelt hat697. Auch zur Herausbildung einer eigenständigen praxisbezogenen (zivilverfahrensrechtlichen) Rechtsprechungslehre ist es trotz wichtiger (teilrechts-)disziplin-
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S. 3.c.cc. Vgl. zum »Vorweggreifen der Arbeitsweise des Richters« auch Atzler, MDR 1952, 464,
465. 695 Hattenhauer verweist in diesem Zusammenhang auf das »böse Wort«, wonach sich die Studierenden heute im unkritischen »Apportieren von BGH-Entscheidungen« übten, das gewiss nicht auf alle Studenten zutreffe, s. Hattenhauer, in: Hof/Schulte (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht III, 2001, S. 25, 30. 696 Eine Ausnahme stellt dar Hattenhauer, Die Kritik des Zivilurteils, 1970, S. 69 ff.; zur Entstehung dieses Buches Hattenhauer, in: Hof/Schulte (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht III, 2001, S. 25, 30; Hattenhauer berichtet a.a.O. auf S. 26 auch davon, dass er sich mit seinem Buch die heftige Kritik von Bundesrichtern eingehandelt habe. 697 Hattenhauer, Die Kritik des Zivilurteils, 1970, S. 27.
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§ 10 Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen
übergreifender Vorarbeiten698 bislang nicht gekommen699. Im Übrigen ist grundsätzlich zu überlegen, ob Rechtswissenschaft und Studium heute nicht stärker realwissenschaftlich ausgerichtet werden müssten700. d. Zum Vorbereitungsdienst Vorbereitungsdienst und Studium, die inhaltlich aufeinander abzustimmen sind, sollen die Befähigung zum Richteramt vermitteln (vgl. § 5 DRiG). Der juristische Vorbereitungsdienst dient insbesondere dazu, die Methoden und Arbeitweisen der Praxis zu erlernen. aa. Über die in der Praxis tatsächlich angewendeten Methoden der Entscheidungsfindung weiß man nicht viel. In den Äußerungen von Praktikern klingen sehr unterschiedliche methodische Vorstellungen von Rechtsfindung an, die sich auf zwei Grundformen zurückführen lassen701. Außenstehende haben freilich häufig den Eindruck, jeder Richter und jeder Fall habe seine eigene Methode. Die aufs Ganze gesehen relativ einheitlichen Ergebnisse der deutschen Rechtsprechung scheinen nicht durch eine bestimmte, allgemein anerkannte Rechtsfindungsmethode, sondern durch die faktische Präjudizienbindung bedingt zu sein. bb. Die Theorie der Praxis sollte sich in den Anleitungsbüchern für junge Praktiker finden. In dieser breitenwirksamen und kontinuierlich anschwellenden Literaturgattung ist die Methode der Rechtsfindung aber kein Thema702. Eine Ausnahme stellt seit jeher der Sattelmacher dar, dessen aktuelle Auflage im Übrigen auch zeigt, wie bereitwillig verständliche methodische Neuerscheinungen von angeblich methodenfernen bis methodenfeindlichen Praktikern703 aufgenommen werden können704. Auch im Sattelmacher wird freilich bei der Rechtsfindung nur die »Arbeit 698 Vgl. insb. die Sammelbände der beiden Internationalen Symposien, die 1984 und 1988 in Münster stattfanden: Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre, 1988; Hoppe/Krawietz/Schulte (Hrsg.), Rechtsprechungslehre, 1992; einführend zu dieser »neuartigen Wissenschaftsdisziplin« Achterberg, Rechtsprechungslehre, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 2/470, S. 1 ff.; s. aus neuerer Zeit die Einzelbeiträge zu »Folgen von Gerichtsentscheidungen« in Hof/Schulte (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht III, 2001. 699 So im Hinblick auf die von Achterberg erhoffte Etablierung der Rechtsprechungslehre als übergreifender neuer Wissenschaftsdisziplin auch M. Schulte, in: Hof/Schulte (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht III, 2001, S. 19. 700 Zu den Möglichkeiten, Rechtswissenschaft realwissenschaftlich zu betreiben Eidenmüller, JZ 1999, 53 ff.; s. auch Albert, Rechtswissenschaft als Realwissenschaft, 1993, S. 7 ff.; ders., Ars interpretandi 2. 1997 (1998), S. 237 ff. 701 Hierzu VIII.2. 702 Vgl. Anders/Gehle, Das Assessorexamen im Zivilrecht, 8. Aufl. 2005; Furtner, Das Urteil im Zivilprozess, 5. Aufl. 1985; U. Gottwald, Das Zivilurteil, 1999; M. Huber, Das Zivilurteil, 2. Aufl. 2003; Knöringer, Die Assessorklausur im Zivilprozess, 11. Aufl. 2005; Nordhues/Trinczek, Technik der Rechtsfindung, 6. Aufl. 1994; Siegburg, Einführung in die Urteilstechnik, 5. Aufl. 2003; W. Zimmermann, Klage, Gutachten und Urteil, 18. Aufl. 2003. 703 § 6 I.3. 704 Vgl. Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 137 ff., insbesondere Fn. 2, 26, 33, 36, 38, 39, 42, 44, 48, 50, 58, 59, 73, 74, 83, 86, 90, 92, 93 und 94.
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IX. Die Juristenausbildung
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an der Norm« behandelt705, bei welcher sich auch der jetzige Bearbeiter Schuschke auf die Auslegung unklarer Normen konzentriert, für die vollziehbare Regeln genannt werden706. Rechtsfortbildungsfragen werden als Probleme der Ausfüllung unbestimmter Normen und der Ergänzung unvollständiger Normen durch Analogieschluss recht ausführlich geschildert, ohne dass konkrete Lösungsvorschläge unterbreitet würden707. Die mitgeteilten Auslegungsgrundsätze stammen aus dem Repertoire der traditionellen juristischen Methodenlehre. Die Praktikerausbildungsliteratur übernimmt also die an der Universität eingeübte Technik der Rechtsanwendung708 mit ihren vorstehend geschilderten Defiziten oder setzt sie unausgesprochen voraus. Auch im Referendariat wird keine spezifische, an der Praxis ausgerichtete oder aus ihr entwickelte Theorie der Rechtsfindung gelehrt. Dass der Vorbereitungsdienst und die Anleitungsliteratur nicht die Defizite der Universitätsausbildung ausgleichen können, sollte sich freilich von selbst verstehen. Die weitgehende Methodenabstinenz in Rechtsfindungsfragen kann der Anleitungsliteratur deshalb allenfalls mit Einschränkungen vorgeworfen werden. cc. Ihre zentralen Aufgaben sieht die aktuelle zivilrechtliche Praktikeranleitungsliteratur – wenn man die zahlreichen Form- und Sprachvorschriften unberücksichtigt lässt – in der Arbeit am Sachverhalt mit dem Sachbericht und in der doppelten Schlüssigkeitsprüfung im Gutachten709. Bei der Sachverhaltsarbeit i. w. S., zu der nicht nur die Stoffsammlung, sondern auch die Technik der Lösung streitiger Prozessfälle gezählt wird, fühlen sich die Relationstheoretiker, die immer auch Praktiker sind, von der Rechtswissenschaft allein gelassen710. Die Klagen sind deutlich und bitter. Es gebe keine wissenschaftlich erprobte Methode der Sachverhaltsarbeit; die Rechtswissenschaft mache hier Pause711. Die Sachverhaltsarbeit gelte auf der Universität als unwissenschaftlich712, als unjuristisch und kunstlos713. (Prozess-)Rechtswissenschaft und Methodenlehre seien sich zu schade, die Arbeit am Sachverhalt mit der gleichen Leidenschaft zu durchleuchten 705
Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, vor Rn. 151. Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 152 ff., insb. Rn. 155 ff. 707 Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 164 ff., 172 ff. 708 Vgl. Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 4, wo es heißt, dass in Anknüpfung an das in der Universitätsausbildung Gelernte die allgemeinen Regeln der Rechtsfindung wiederholt würden. 709 Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 13; Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 3 f.; s. hierzu 5.c. 710 So wird zum sog. Relationsstreit angemerkt, die Rechtswissenschaft sei an der unbefriedigenden Situation nicht unschuldig: Hätte sie der Praxis eine brauchbare Methode für die Lösung streitiger Prozessfälle entwickelt, müsste sie über die Relationstechnik nicht die Nase rümpfen, s. Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 47; vgl. auch E. Schneider, MDR 1973, 100, 101, der das Ignorieren der Relationstechnik durch Methodenlehre und Prozessrechtswissenschaft auf mangelnde Einsicht in die Zusammenhänge und auf Überheblichkeit zurückführt. 711 So Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, S. VI, ähnlich Rn. 62. 712 Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 9. 713 Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 62. 706
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wie die Rechtsanwendung, obwohl erst beides zusammen juristische Praxis ausmache714. Die täglich praktizierten Kunstregeln der Fallbearbeitung würden in der akademischen Methodenlehre und im (wissenschaftlichen) Zivilprozesslehrbuch unwissenschaftlich übergangen715. Auch Hochschullehrer bezeichnen die Relationsregeln als einen legitimen und bislang weitgehend vernachlässigten Gegenstand akademischer Zivilprozesswissenschaft716 und bemängeln, dass die Sachverhaltsarbeit nicht wissenschaftlich erforscht werde717. Die akademische juristische Methodenlehre beschäftige sich weder mit dem Sachverhalt überhaupt noch mit der Rechtsanwendung auf streitige Sachverhalte718. Die Praxis sieht sich gezwungen, die Arbeit am Sachverhalt aus eigener Kraft zu bewältigen719. Deshalb gebe es bei der Sachverhaltsarbeit »nur biederes juristisches Handwerk«720. Was die Sachverhaltsarbeit betrifft, so ist vorab festzuhalten, dass die Praktikerausbildungsliteratur ohne Unterstützung der Wissenschaft praktizierbare und prozess– ökonomische Schemata geschaffen hat, mit denen die im Parteivorbringen enthaltenen relevanten Tatsachen ermittelt sowie in streitigen Prozessfällen rechtsanwendungsgeeignete Sachverhalte und die in tatsächlicher Hinsicht streitentscheidenden Fragen festgestellt werden können. Diese Relationsschemata erleichtern die Arbeit des Richters ganz erheblich und führen bei vollständigem Vortrag der Parteien und zutreffenden Anträgen sicher zu einer prozessrechtsadäquaten Tatsachengrundlage für die gerichtliche Entscheidung. Die in allen Verfahrenslagen gebotene Arbeitsmethode des Zivilrichters spiegeln diese Schemata hingegen nicht bzw. nicht in vollem Umfang wider, weil sie die richterlichen Hinweis- und Fragepflichten vollständig ausblenden721. Die Ausbildung nach der Relationstechnik leistet einen wichtigen, aber nicht ausreichenden Beitrag zur richterlichen Sachverhaltsbildung. dd. Die Vernachlässigung der Sachverhaltsarbeit durch die Methodenlehre und die Prozessrechtswissenschaft sowie das Fehlen einer selbständigen Urteilstheorie können freilich den Schematismus und Formalismus, der manches Relationsbuch prägt, nicht legitimieren. Die Relationsliteratur und die Ausbildung nach der Relationsmethode konzentrieren sich teilweise auf Äußerlichkeiten und Nebensächliches. Die Grundzüge der Relationstechnik sind »schnell zu verstehen, so dass der Unterricht hierüber keinen großen Raum einzunehmen braucht«722. Entsprechendes gilt für die Relationsliteratur, deren teilweise ausgesprochen voluminöse Werke erheblich »entschlackt« werden könnten. Das, was man von der gegenwärtigen Relationstechnik unbedingt braucht, lässt sich ohne weiteres auch 714
Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 62. E. Schneider, MDR 1973, 100, 101; s. auch Weyers, in: Dogmatik und Methode, FS Esser, 1975, S. 193, 199. 716 Weyers, in: Dogmatik und Methode, FS Esser, 1975, S. 193, 199. 717 Etwa Grasnick, JR 1998, 179, 180; Hartwieg, ZVglRWiss 101 (2002), 434, 470. 718 Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 12; s. auch Rn. 47, wo bemängelt wird, dass die Rechtswissenschaft keine brauchbare Methode der Lösung streitiger Prozessfälle für die Praxis entwickelt habe. 719 Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, Rn. 63. 720 So Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005, S. VI. 721 Eingehend hierzu 5. 722 So selbst der Verfasser eines klassischen Relationsbuches, s. Berg, JA 1975, ZR S. 49, 52. 715
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in einem ausführlichen Aufsatz723 oder doch zumindest wesentlich knapper darstellen. Der so in den Relationsbüchern gewonnene Raum könnte für kurze Abschnitte zur richterlichen Verfahrensführung, zur Beweiswürdigung, zu Entscheidungs- und Begründungslehren bzw. -hilfen und insbesondere auch für Relationsschemata genutzt werden, welche der materiellen Prozessleitung des Gerichts hinreichend Rechnung tragen. Ein Trend zu einem die realen Methoden und Arbeitsweisen der Praxis vermittelnden Ausbildungskonzept scheint sich zumindest in Teilen des Anleitungsschrifttums bereits seit einigen Jahrzehnten abzuzeichnen724. Insgesamt wäre ein noch stärker auf die berufspraktischen Erfordernisse ausgerichteter Vorbereitungsdienst wünschenswert. Wer wirklich darauf vorbereitet wird, wie Prozesse zu führen und zu entscheiden sind, wird vor den späteren beruflichen Herausforderungen nicht bewusst oder unbewusst in die verdeckte Fortbildung des Gesetzesrechts flüchten. e. Zwischenergebnisse Die verbreitet beklagte Grundlagenkrise ist auch eine Krise der Grundlagenfächer. Sie wirkt in der gegenwärtigen Ausbildung weiter. Viele Topoi, mit denen das Gesetzesrecht im Gewand seiner Auslegung fortgebildet wird, wären längst entmythologisiert, wenn ihre unterschiedlichen bis gegensätzlichen historischen Anwendungsbeispiele im Universitätsunterricht behandelt würden. Solange die frühere Rechtspraxis und ihre überkommenen Argumente weder in Lehrveranstaltungen zur Rechtsgeschichte noch in solchen zur Methodenlehre erörtert werden, können leerformelhafte Begründungen in der Rechtswissenschaft und Praxis weitgehend risikolos verwendet werden. Hinzu kommen verschiedene Defizite der gegenwärtigen Ausbildung, durch die verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts gefördert werden. Die juristischen Methodenlehren, die vielen entweder als banal und beliebig oder als abgehoben und praktisch unbrauchbar gelten, bieten weder eine praktizierbare ausgearbeitete Rechtsfortbildungslehre noch eine konkrete, die Entscheidungsvorgaben einbeziehende Begründungstheorie und verstehen Entscheidungsfindung nur als Rechtsfindung, sind also ganz auf die konkretisierende Anwendung des materiellen Rechts auf unstreitige Sachverhalte fixiert. Auch in den anderen Bereichen der universitären Rechtsausbildung wird die Sachverhaltsarbeit ignoriert. Zudem sind Veranstaltungen zur juristischen Begründung bzw. Argumentation, zum »praktischen Prozessrecht« und zur Urteilskritik in den Studienordnungen kaum vorgesehen. Eine eigenständige wissenschaftliche Urteilstheorie und eine praktische (Zivil-)Rechtsprechungslehre stehen trotz wertvoller Vorarbeiten immer noch aus. Diese Defizite können im Referendariat nicht ausgeglichen werden, obwohl es aufgrund des zunehmenden Gewichts theoretischer Schulungen mittlerweile gelegentlich eher einem Aufbaustudium als ei723 Grunsky ist der Meinung, es würde für die Ausbildungsbedürfnisse ausreichen, den Referendaren das Wichtigste aus der Relationstechnik auf maximal zehn Druckseiten darzubieten, s. Grunsky, JuS 1972, 137, 141. 724 Vgl. etwa Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 15. Aufl. 2005.
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ner berufspraktischen Ausbildung ähnelt725. Der Beitrag der Referendarausbildung zum zivilrechtlichen Entscheidungsmodell besteht neben formalen Geboten für die Abfassung gerichtlicher Entscheidungen vor allem in der sog. Relationstechnik, die effektive Schemata zur Sachverhaltsherstellung und zu deren prozessökonomischer Begutachtung bietet, sofern die Parteien vollständig vorgetragen und die rechtlich angezeigten Anträge gestellt haben. Um die zivilprozessgesetzmäßige Arbeitsmethode des Zivilrichters darzustellen, müsste die Relationstechnik freilich die richterliche Prozessleitung berücksichtigen und den berufspraktischen Erfordernissen insgesamt mehr Rechnung tragen.
9. Resümee Bestimmte Aspekte der deutschen Juristenausbildung fördern verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts. Die im Schrifttum angeführten Gründe sind freilich weder alle einschlägig, noch erschöpfen sie die Problematik. Die traditionelle, seit etwa 150 Jahren kritisierte Zweiteilung der deutschen Juristenausbildung in Universitätsstudium und anschließenden Vorbereitungsdienst ist entgegen anders lautender Bewertungen nicht für die Verwendung von Leerund Verschleierungsformeln verantwortlich. Zum einen sind die Unterschiede zwischen »Theorie« und »Praxis« in der heutigen juristischen Zivilrechtsausbildung nicht so grundlegend, wie es meist unterstellt wird. Zum anderen ist die Aufteilung der Ausbildungsabschnitte für den Umgang mit Rechtsfortbildungen nicht ausschlaggebend. Entscheidend sind vielmehr die in den jeweiligen Ausbildungsabschnitten vermittelten Inhalte und die ihnen zugrunde liegenden Rechtsund Entscheidungsfindungskonzepte einschließlich der Begründungsvorgaben. Auch gegen den Einzelfallunterricht an den Universitäten ist »an sich« nichts einzuwenden, solange er nicht als universale oder beherrschende Lehrmethode eingesetzt wird. Als praktische Jurisprudenz muss die Rechtswissenschaft Lösungsvorschläge in einzelnen Regelungs- und Rechtsanwendungsfragen unterbreiten, wobei die konkretisierende Anwendung von Rechtsnormen auf bestimmte Lebenssachverhalte bekanntlich auch wieder den Anwendungsbereich der rechtlichen Vorgaben verändert. Außerdem besteht ein meist übersehener Zusammenhang zwischen dem Vordringen des Präjudizienrechts und der zunehmend kasuistischeren Ausgestaltung des Universitätsunterrichts. Einzelne Aspekte dieses Einzelfallunterrichts begünstigen freilich verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts. Wer sich auf das Lösen von Fällen und die dabei anzuwendende Technik konzentriert, verliert leicht die Werturteile, die den Entscheidungsnormen zugrunde liegen, aus dem Blick. Bekannte Fälle und deren Lösungen dürfen nicht wie Rechtsnormen verwendet werden. Das isolierte Denken in Einzelfällen vernachlässigt die jeweiligen gesetzgeberischen, rechtsgeschäftlichen und richterlichen Interessenbewertungen und fördert so verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts. Zudem begünstigt die vollständige Vernachlässigung der Sachverhaltsarbeit im universitären Einzelfallunterricht verdeckte Fortbildungen
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Hierzu IX.2.d.
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IX. Die Juristenausbildung
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der prozessgesetzlichen Regeln über die Sachverhaltsbildung. Weil die Entscheidungsfindung ausschließlich an feststehenden Sachverhalten als reine Rechtsfindung erlernt wird, besteht die Gefahr, dass auch in der Praxis sofort auf die rechtliche Lösung zugesteuert wird und der Sachverhalt solange zurechtgebogen wird, bis er in die alles dominierende rechtliche Konstruktion passt. Das zivilrechtliche Anspruchsdenken, das gelegentlich für die »Misere des Jurastudiums« verantwortlich gemacht und seit jeher grundsätzlich kritisiert wird, kann zu verdeckten Rechtsfortbildungen führen, muss dies aber nicht. Die Gründe, mit denen die Anspruchsmethode als solche abgelehnt wird, sind nicht stichhaltig. Sie ist ein unverzichtbarer Teil der deutschen Zivilrechtsausbildung und besonders geeignet, Entscheidungen im streitigen Verfahren nach der Zivilprozessordnung vorzubereiten. Der Vorwurf der falschen Akzentsetzung in der Universitätsausbildung ist unzutreffend, solange das Anspruchsdenken nicht den Anspruch erhebt und verwirklicht, die einzige zivilrechtliche Lehrmethode zu sein. Allerdings hat sich der Konstruktivismus der Falllösungstechnik nach der Anspruchsmethode in den heute üblichen detaillierten Anspruchsschemata verselbständigt. Schemata reduzieren Komplexität, indem sie eine vereinfachende, anschauliche Darstellung geben. Haben sich Schemata erst einmal durchgesetzt, erfolgt eine weitere Ausdifferenzierung und eine formale, doktrinäre Erstarrung. Die zugrunde liegende Materie tritt in den Hintergrund, die ausgefeilte Schablone übernimmt die Führung. Ausführliche, aus sich heraus handhabbare Anspruchsschemata lösen die Rechtsfindung von ihren maßgeblichen Eckdaten. Sie sind von bloßen Hilfsmitteln einer Methode, die nach den Interessenbewertungen der Parteien und des Gesetzgebers fragt, zu isoliert verwendeten und absolut verstandenen Lösungsinstrumenten geworden. Damit sind schematische, interessen- und gesetzesferne Entscheidungen sowie verdeckte Rechtsfortbildungen des Gesetzesrechts vorgezeichnet. Das Anspruchsdenken als solches ist dafür freilich nicht verantwortlich. Die äußerst kontrovers beurteilte sog. Relationstechnik, verstanden als aus Sachbericht und Gutachten bestehender Technik der Bearbeitung streitiger Zivilrechtsfälle, ist ein wichtiges und unverzichtbares richterliches Arbeitsmittel. Wird sie aber als die – umfassende und stets ausreichende – Arbeitsmethode des Zivilrichters missverstanden, dann bildet sie als vom Prozessrecht verselbständigtes Instrument der Prozessvorbereitung aufgrund ihrer Regeln für die Begutachtung die für die richterliche Sachverhaltsbildung einschlägigen Prozessrechtsnormen verdeckt fort. Die Relation war ursprünglich ein Instrument der Entscheidungsfindung im Kollegialorgan am Ende eines schriftlichen Verfahrens. Mit Inkrafttreten der CPO wurde sie aufgrund des Mündlichkeitsgrundsatzes praktisch bedeutungslos und zu einem reinen Ausbildungsinstrument für Referendare degradiert. Der Berichterstatter prüfte die Sach- und Rechtslage nun im Vorfeld der alles entscheidenden mündlichen Verhandlung lediglich gedanklich. Nach dem Abbau des Mündlichkeitsgrundsatzes in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, insbesondere durch die Novelle von 1924, kam es zu einer Renaissance der Relationstechnik, die aber inhaltlich nicht bzw. nicht ausreichend auf die veränderte Aufgabe der Relation in einem durch Verhandlungsgrundsatz und materielle Prozessleitung des Gerichts geprägten Prozess abgestimmt war. Bei Sattelmacher wurde die Relation in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts zur allgemeinen richterlichen Arbeitsme-
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thode, die insbesondere bereits zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung diente. Der damit verbundene Perspektivenwechsel ist im traditionellen Relationsschrifttum bis heute nicht angemessen verarbeitet worden. Die richterlichen Hinweis- und Fragepflichten, die in einem schriftlichen Verfahren nach Schluss der Akten keine Rolle spielen konnten, werden im gegenwärtigen Relationsmodell nach wie vor nicht berücksichtigt. Wird die gelehrte hergebrachte Relationstechnik ohne Modifikationen zur Prozessvorbereitung eingesetzt, werden die zivilprozessgesetzlichen Regeln über die richterlichen Beiträge zur Sachverhaltsbildung verdeckt fortgebildet. Entgegen einer undifferenzierten Betrachtung werden durch die Relationstechnik aber nicht generell verdeckte Rechtsfortbildungen verursacht. Wie der konkrete Entscheidungssatz zu bestimmen ist, sagt das von keinem bestimmten Rechtsfindungsbild geprägte Relationsschema nicht. Es betrifft allein den zugrunde zu legenden Sachverhalt. Wenn die Partei wegen eines fehlenden Hinweises des Gerichts einen ergänzenden Tatsachenvortrag unterlässt, kommen zwar in der Sache möglicherweise einschlägige materiellrechtliche Beurteilungsmaßstäbe nicht zur Anwendung. Fortgebildet werden diese Gesetze aber ebenso wenig wie die stattdessen angewendeten Entscheidungsnormen. Unterbliebene Hinweise und Fragen wirken sich auf der tatsächlichen Ebene aus und lassen die materiellrechtlichen Beurteilungsnormen unberührt. Der deutsche Urteilsbegründungsstil ist zum Teil für verdeckte Rechtsfortbildungen verantwortlich. Entgegen abweichender Ansichten im Schrifttum begünstigt der sog. deduktive Urteilsstil, also der Aufbau der Entscheidungsgründe nach dem »denn«-Schema, verdeckte Rechtsfortbildungen nicht. Der Urteilsstil gibt lediglich die äußere Struktur der Begründung vor und steht einer ausführlichen inhaltlichen Erörterung problematischer Rechtsfragen nicht entgegen. Es liegen Missverständnisse über die rechtliche Aufgabe von Entscheidungsbegründungen vor, wenn verbreitet beklagt wird, die wahren und die vorgegebenen Gründe würden wegen des Deduktionserfordernisses auseinanderfallen, die wirklichen bzw. echten Entscheidungsgründe müssten offen gelegt werden und es müsse erkennbar sein, wie das Gericht zu seiner Entscheidung gelangt sei. Von Rechts wegen ist der Richter nicht gehalten, die gelegentlich holprigen und oft verschlungenen Wege zu schildern, die ihn zu seiner Entscheidung gelenkt haben. Von ihm wird auch keine Darstellung der (tatsächlichen) Motive bzw. inneren Beweggründe verlangt, die zu seiner Entscheidungshypothese geführt haben, sondern die Angabe der rechtlich tragenden Überlegungen. Die Entscheidungsgründe müssen die Erwägungen enthalten, auf denen die – letztlich getroffene – Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht (vgl. § 313 Abs. 3 ZPO). Anders als der sog. Urteilsstil führt das Gebot, die Entscheidung immer zweifelsfrei und eindeutig herzuleiten, zu vorgeschobenen (Schein-)Gründen und wegen der zentralen Rolle der Gesetze im Rahmen der Begründung auch zu verdeckten Fortbildungen des Gesetzesrechts. Die Entscheidungsgründe können ihre Aufgabe, den Parteien die für die konkrete Entscheidung maßgebenden Erwägungen des Gerichts einsichtig und nachvollziehbar zu machen, in wirklich zweifelhaften Fällen nur erfüllen, sofern auch die Zweifel und die sie ausräumenden Gesichtspunkte genannt werden. Wenn in problematischen Rechtsfragen oder bei der Beweis- und Verhandlungswürdigung generell keine Zweifel er-
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IX. Die Juristenausbildung
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kennbar sein dürfen, müssen vorhandene Zweifel frühzeitig unterdrückt oder in den Entscheidungsgründen verdeckt werden. Die Anweisung, in den Entscheidungsgründen keine Zweifel erkennen zu lassen und diese stets eindeutig abzufassen, führt daher zu Selbst- und Fremdbetrug durch Scheinbegründungen. Die Grundlagenkrise der deutschen Rechtswissenschaft, die sich mit den Schlagworten »vernachlässigte Grundsatzfragen und Grundlagenfächer« sowie »verdrängte Methodengeschichte« etikettieren lässt, schafft das Klima, in dem verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts gedeihen. Gelehrt und gelernt werden nicht Methoden, sondern sachlich-rechtliche Detailfragen. Die weitgehende Methodenabstinenz führt dazu, dass die Studierenden lieber auslegen statt fortbilden. Bei der auf wenige, schlagwortartig gehandhabte Elemente verkürzten Auslegung bewegt man sich auf vergleichsweise sicherem Boden. Da die Grundfragen der Rechtsfindung in der vom dogmatischen Rechtsunterricht dominierten Universitätsausbildung nicht beantwortet werden, suchen die Studierenden Orientierung in Einzelfällen und Vorentscheidungen. Im Lehrbetrieb werden die Präjudizien als Anwendungsfälle der Gesetze und als Konkretisierungen der Gesetzes- und Rechtsbegriffe vermittelt. Rechtsfindung erscheint daher als Auslegung der Gesetze, die mit wenigen Auslegungselementen unschwer zu bewältigen ist, wenn man denn die Präjudizien kennt. Im Verlauf der Ausbildung wird dieses bescheidene methodische Instrumentarium durch eine Handvoll vielfältig verwendbarer und verwendeter Standardargumente ergänzt, die man fast automatisch kennen lernt, wenn man sich eingehender mit Fällen und Präjudizien beschäftigt. Zu diesem überschaubaren Repertoire gehören bestimmte Topoi, mit denen sich das Gesetzesrecht im Gewand seiner Auslegung fortbilden lässt. Das Arsenal der heute gebräuchlichen Argumente sähe vermutlich anders aus, wenn die neuere Disziplin- und Methodengeschichte im Universitätsunterricht nicht weitgehend verdrängt würde. Die Rechtswissenschaft und -praxis hat in der wechselvollen jüngeren deutschen (Disziplin-)Geschichte ein ungewöhnlich differenziertes Know-how für die Umdeutung von Gesetzen im Gewand ihrer Auslegung und Anwendung entwickelt (Rüthers). Sie verfügt über eine Vielzahl von Topoi, um das Gesetzesrecht verdeckt fortzubilden. Würde die neuere Rechtsmethodengeschichte im Universitätsunterricht behandelt, wären viele dieser scheinbar bewährten, tatsächlich aber leerformelhaften Begründungen längst durch ihre historischen Anwendungsbeispiele bloßgestellt und entmythologisiert. Verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts werden schließlich durch einige in der einschlägigen Diskussion nicht thematisierte Defizite der Grundlagenfächer und der Ausbildung unterstützt. Die Grundlagenkrise ist auch eine Krise der Grundlagenfächer, die sich stärker mit der Rechtspraxis und ihren Methoden beschäftigen müssen. Die juristischen Methodenlehren, die teils als selbstverständlich-banal, teils als abgehoben-unverständlich gelten, sind vor allem »Methodenlehren der Rechtswissenschaft« und sollen der Praxis auch aufgrund ihrer Vielzahl keine Entscheidungshilfen bieten. Sie stellen weder ein praktizierbares ausgearbeitetes Rechtsfortbildungsmodell noch eine konkrete, die Entscheidungsvorgaben einbeziehende Entscheidungsbegründungslehre zur Verfügung. Sie sind ganz auf die konkretisierende Anwendung des materiellen Rechts auf unstreitige Sachverhalte fixiert, verstehen Entscheidungsfindung also nur als Rechtsfindung. Entspre-
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chendes gilt für die anderen Bereiche des Universitätsunterrichts, in denen Einzelfallentscheidungen behandelt werden. Die Sachverhaltsarbeit wird in der gesamten Universitätsausbildung ignoriert. Zudem fehlen Veranstaltungen zur juristischen Argumentation, zum »praktischen Prozessrecht« und zur Urteilskritik sowie eine eigenständige wissenschaftliche Urteilstheorie. Die theoretische Ausbildung im Referendariat muss stärker auf die berufspraktischen Erfordernisse ausgerichtet werden und die Probleme der richterlichen Verfahrens- und Verhandlungsführung, der Verhandlungs- und Beweiswürdigung, der Entscheidungsfindung und der Entscheidungsbegründung diskutieren. Die überkommene Relationstechnik ist endlich auf ihre Aufgaben in einem von der Verhandlungsmaxime und der richterlichen Prozessleitung geprägten Verfahren abzustimmen. Wer durch seine Ausbildung auf die realen beruflichen Herausforderungen vorbereitet ist, muss vor ihnen nicht in verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts flüchten.
X. § 310 ZPO Ein weiterer, im Schrifttum – soweit ersichtlich – nicht genannter Grund für verdeckte Rechtsfortbildungen besteht in der durch das Zivilprozessrecht eröffneten Möglichkeit, Urteile zu verkünden, deren schriftliche Entscheidungsgründe noch gar nicht existieren. Bei sog. Stuhlurteilen, die sogleich in dem Termin, in welchem die mündliche Verhandlung geschlossen wird (§ 310 Abs. 2 ZPO) oder geschlossen worden ist (vgl. § 540 Abs. 1 S. 2 ZPO)726, verkündet werden, muss lediglich schon die Urteilsformel niedergeschrieben sein727. Das in einem besonderen Termin verkündete Urteil hat zwar nach § 310 Abs. 2 ZPO bei der Verkündung in vollständiger Form abgefasst zu sein und daher auch Entscheidungsgründe aufzuweisen. Ein Verstoß soll die Wirksamkeit der Urteilsverkündung und des Urteils aber nicht beeinträchtigen728. § 310 Abs. 2 ZPO wird vom Bundesgerichtshof ebenso wie § 310 Abs. 1 S. 2 ZPO729 als bloße Ordnungsvorschrift qualifiziert730. Faktisch können Urteile also stets verkündet werden, ohne dass die Entscheidungsgründe vorliegen müssen. Diese Möglichkeit birgt, wie auch Praktiker immer wieder betonen, erhebliche Risiken für die Qualität des Urteils, und zwar auch bei scheinbar eindeutiger Sach- und Rechtslage731. Die Fragwürdigkeit mancher Lösungsvorstellungen, die 726 S. zu der verbreiteten Praxis, am Schluss der (gesamten) Sitzung eine Entscheidung zu verkünden, BGHZ 158, 37, 39 f. = NJW 2004, 1666; P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 310 Rn. 6; Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 310 Rn. 3 m.w.N. 727 Vgl. zu diesem Erfordernis BGH, NJW 1999, 794; Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 310 Rn. 2. 728 BGH, NJW 1988, 2046; NJW 1989, 1156, 1157; NJW 1999, 143, 144. 729 BGH, NJW 1989, 1156, 1157; NJW 1999, 143, 144. 730 Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 310 Rn. 3 und 5. 731 Deutliche Warnungen etwa bei P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 310 Rn. 6 sowie Rn. 8 und 2; s. auch Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 310 Rn. 3; vgl. bereits Bähr, Gesammelte Aufsätze, Band I, 1895, S. 398, 415: »Erst wenn man die Gedanken schriftlich niederlegt, gelangt man zur vollen Klarheit«.
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X. § 310 ZPO
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bei bloßem Durchdenken (»im Kopf«) zunächst unproblematisch erschienen, zeigt sich häufig erst bei dem Versuch, sie schriftlich zu rechtfertigen732. Die Probleme kommen beim Schreiben733. Schon oft, so heißt es in einem Kommentar für die Rechtspraxis, habe die spätere Begründung eines Stuhlurteils unüberwindbare Probleme gemacht734. Indes muss der unter Begründungszwang stehende Richter diese Probleme überwinden, weil die verkündete Urteilsformel wegen des aus der Innenbindung des Gerichts (§ 318 ZPO) folgenden Abänderungsverbots grundsätzlich weder aufgehoben noch geändert werden darf735 und ihre Berichtigung nach § 319 Abs. 1 ZPO nur ausnahmsweise bei Schreib- und Rechnungsfehlern und ähnlichen offenbaren Unrichtigkeiten des Urteils erlaubt ist. Nach deutlich überwiegender Auffassung werden Irrtümer des Gerichts bei der Willensbildung von § 319 ZPO generell nicht erfasst736. Rechtsfindungsfehler des Gerichts eröffnen Rechtsmittel737. Ein Gericht darf eine verkündete Entscheidung aber nicht deshalb (selbst) ändern, weil es seine Willensbildung nachträglich aus materiellen Gründen als falsch erkannt hat738. Aus dieser Zwangslage kann sich der Richter, sieht man vom funktionswidrigen Gebrauch der Urteilsberichtigung ab739, allein durch eine vorgeschobene, konstruierte Begründung befreien. Diese kann er zwar theoretisch so abfassen, dass ihre Angreifbarkeit deutlich wird. Tatsächlich wird dazu aber kaum ein Richter bereit sein. Im Übrigen erscheint es zweifelhaft, ob eine solche Vorgehensweise mit § 313 Abs. 3 ZPO zu vereinbaren wäre, der die Darlegung derjenigen Erwägungen gebietet, auf denen die Entscheidung (im Zeitpunkt der Verkündung) beruht. Der Ausweg einer vorgeschobenen Begründung wird in Praktikerkommentaren durchaus thematisiert740. Sofern der Richter nach Verkündung des Urteils erkennt, dass seine Entscheidung von der gesetzgeberischen Interessenbewertung nicht gedeckt wird, ist er also zur verdeckten Fortbildung des Gesetzesrechts in den Entscheidungsgründen »gezwungen«. Wird ein Urteil verkündet, bevor es vollständig abgefasst ist, so werden verdeckte Rechtsfortbildungen mithin tendenziell begünstigt. 732
So Schlüter, Das obiter dictum, 1973, S. 97. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 44. 734 So Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 310 Rn. 3. 735 Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 318 Rn. 10; Leipold, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 4, Teilband 1, 21. Aufl. 1998, § 318 Rn. 6. 736 RGZ 23, 399, 402, 411; BGH, NJW 1985, 742; BGHZ 106, 370, 373; offen gelassen in BGHZ 127, 74, 79; Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 319 Rn. 1, 4; Leipold, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 4, Teilband 1, 21. Aufl. 1998, § 319 Rn. 5; Nachweise zur Gegenansicht und zur uneinheitlichen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte bei BGHZ 127, 74, 78 und bei Vollkommer und Leipold, jeweils a.a.O.; eingehend zur Problematik Proske, Die Urteilsberichtigung gem. § 319 ZPO, 2002, S. 69 ff., mit einer ausführlichen Auslegung des § 319 ZPO auf S. 48 ff. 737 Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 319 Rn. 19. 738 BGH, NJW 1985, 742. 739 Rechtsprechungsbeispiele bei Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 318 Rn. 4. 740 Deutlich warnt vor den Risiken einer verfrühten Verkündung P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 310 Rn. 6: »Wenn der Richter nämlich das Urteil schriftlich erst nach der Verkündung absetzen kann, können sich Bedenken ergeben, die zu mangelhafter Begründung oder unkorrekter »Berichtigung« führen«. 733
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XI. Ergebnisse Verdeckte Rechtsfortbildungen haben verschiedene Ursachen. Den verstreuten Äußerungen im Schrifttum sind insgesamt neun Gesichtspunkte zu entnehmen, die zur Veranschaulichung drei unterschiedlichen Gruppen zugeordnet worden sind. Objektiv-funktionale Gründe sind das Abwälzen der Verantwortung, die Immunisierung der Entscheidung gegen Kritik, ferner die mit verdeckten Rechtsfortbildungen verbundene Arbeitserleichterung, daneben aber auch das finale Erschleichen der Autorität des Gesetzes durch eine vorgeschobene Begründung. Aus dem Kreis der subjektiven Beweggründe für verdeckte Rechtsfortbildungen sind der verbreitete »horror vacui«, der profane Aspekt der Bequemlichkeit und ein gelegentlich feststellbares elitäres richterliches Selbstverständnis hervorzuheben. Die tieferen Ursachen für verdeckte Rechtsfortbildungen liegen in bestimmten methodischen Vorstellungen und in der Ausgestaltung unserer deutschen Juristenausbildung. Hinzu kommt noch ein im Schrifttum nicht angesprochener zivilprozessgesetzlicher Grund für verdeckte Rechtsfortbildungen. Die vertiefende Untersuchung dieser insgesamt zehn Aspekte hat zu folgenden Ergebnissen geführt: Vordergründig geht es bei verdeckten Fortbildungen des Gesetzesrechts zunächst darum, dem Fortbildenden die Begründung seiner Entscheidung zu erleichtern. Man kann von einer Entlastungswirkung verdeckter Rechtsfortbildungen sprechen, die das gemeinsame Merkmal der ersten drei, miteinander zusammenhängenden Gründe für verdeckte Rechtsfortbildungen ist. Mit der als Auslegung gewandeten Rechtsfortbildung kann der Rechtsanwender seine Rechtsfindung als gesetzlich determiniert und legitimiert ausgeben. Statt der gebotenen sachlich-inhaltlichen Begründung wird ein schlichter Autoritätsgrund gegeben und die Verantwortung für eine eigene Interessenbewertung auf den Gesetzgeber abgewälzt. Die »fremde Verantwortlichkeit«, ein im Schrifttum seit langem genannter Aspekt, beseitigt die bei Rechtsfortbildungen bestehenden Begründungsschwierigkeiten und versieht die getroffene Entscheidung zusätzlich mit dem Schein der gesetzgeberischen Billigung. Zugleich feien verdeckte Rechtsfortbildungen gegen Kritik. Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen dienen dem richterlichen Selbstschutz, weil sie die Illusion einer rechtlich determinierten Entscheidung hervorrufen. Solange die Irreführung nicht erkannt oder zumindest nicht thematisiert wird, sichern verdeckte Rechtsfortbildungen die Entscheidung und die Entscheider vor der Kritik der Parteien, der Obergerichte und der Öffentlichkeit. Einige richterliche Einschätzungen, die dazu führen können, dass auf eine »schriftliche Akzentuierung« der Rechtsfortbildung verzichtet wird, sind besonders hervorzuheben. Offene Rechtsfortbildungen sollen Rechtsmittel provozieren, werden von den Obergerichten kritischer gelesen und sind bei letztinstanzlichen Entscheidungen mit dem Risiko der verfassungsgerichtlichen Kassation behaftet. Auch soll die unsachliche, persönlich herabsetzende Kritik an Urteilen und Richtern in den Medien zunehmen. Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen erleichtern die richterliche Arbeit, indem sie die Rechtsprechung mit Leerformeln flexibel halten und die mit Rechtsfortbil-
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XI. Ergebnisse
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dungen verbundene zusätzliche Begründungslast umgehen. Statt der gebotenen sachlich-inhaltliche Argumentation mit grundsätzlichen Erwägungen juristischer und vor allem außerjuristischer Art werden fertige und wiederverwertbare Begründungsversatzstücke eingesetzt. Die bislang genannten Aspekte müssen dem oder den Begründenden nicht zwingend bewusst sein. Das unterscheidet sie vom vierten Grund für verdeckte Rechtsfortbildungen: Gelegentlich wird die Autorität des Gesetzes durch eine vorgeschobene Begründung gezielt erschlichen. Dass sich Richter und Wissenschaftler heute öffentlich in Schriftform zu derartigen gesetzesderogierenden Verdeckungsstrategien bekennen, ist nicht zu erwarten. Ein Jurist, der offen erklärt, er nehme die normativen Entscheidungsvorgaben nicht ernst, untergräbt das materielle Fundament seiner Autorität und macht seine Entscheidungen und sich angreifbar. Immerhin finden sich im Schrifttum einschlägige Andeutungen. Es wird verbreitet in Abrede gestellt, dass »die Politik« berufen und in der Lage sei, »wirkliches«, »wahres« bzw. »richtiges« Recht zu setzen. Bei vielen Richtern soll eine ausgesprochene Gesetzes- und Parlamentsskepsis herrschen. Das Prinzip der Gewaltenteilung verändere sich, so ein früherer Präsident des Bundesverfassungsgerichts, in einem schleichenden Prozess von innen her: Er verwies auf die qualitativen Probleme moderner Gesetzgebung und die Entkoppelung von Sachwissen und politischem Willen bei politischen Entscheidungsprozessen. Es liege auf der Hand, dass die Auslegung und Anwendung dergestalt geschaffenen Rechts für die Angehörigen der dritten Gewalt kategorial andere Fragen aufwerfe als die Auslegung des Bürgerlichen Gesetzbuches vor 60 Jahren741. Von dem deutlichen Misstrauen in die Fähigkeiten des parlamentarischen Gesetzgebers ist es kein weiter Weg zur gut gemeinten, gesetzgeberische »Versehen« korrigierenden Umdeutung der Gesetze. Vereinzelt wird die autoritätserschleichende, gesetzesrechtsfortbildende Auslegung sogar ausdrücklich empfohlen oder als unausweichlich dargestellt. Nach Walter Wilburg ist es das »Schicksal der Rechtswissenschaft, daß sie Geist und Mühe zum größten Teil auf die Kunst verschwenden muß, das Gesetz mit allen Mitteln auszulegen und, zur Vermeidung untragbarer Folgen bona mente zu »überlisten««742. Der wichtigste subjektive Beweggrund für verdeckte Rechtsfortbildungen scheint der »horror vacui«, also die Furcht bzw. das Grauen vor dem gesetzlich nicht geregelten Raum zu sein. Hierfür sprechen soziologische Erhebungen, die vereinzelten veröffentlichten Berichte über das Verhalten von Richtern bei Rechtsfortbildungen und zahlreiche tabuisierende und warnende Umschreibungen der Aufgabe der richterlichen Rechtsfortbildung aus dem Mund von Bundesrichtern. Richter sollen aufgrund ihrer Ausbildung und beruflichen Sozialisation und des Stands ihrer methodischen Kenntnisse stets nach normbestimmter Determination suchen. Die richterliche Rechtsfortbildung gelte deshalb als Ausnahme, als »abweichendes Verhalten«, als »gefährliches Gewässer«, als »verminte Grenzzone«, als »dunkler Wald« usw. 741 Zeidler, in: Richterliche Rechtsfortbildung, FS 600 Jahre Universität Heidelberg, 1986, S. 645, 648; eingehendere Darstellung unter IV.3.a., mit Zweifeln an dieser Bewertung. 742 Vgl. nochmals Wilburg, FS Larenz, 1973, S. 661, 670.
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Bequemlichkeit ist ein weiteres Motiv dafür, die mit zusätzlicher Arbeit verbundenen Rechtsfortbildungen zu verdecken. Außerdem gibt es keine Muster für Rechtsfortbildungen. Wer sich der annehmlichen Schablonen und Vorlagen bedienen will, muss daher das Recht im Einzelfall durch (scheinbare) Interpretation der gesetzlichen Begriffe und der diese konkretisierenden Präjudizien finden. Ein elitäres richterliches Selbstverständnis kann als weiterer subjektiver Beweggrund zu verdeckten Rechtsfortbildungen führen. Als Fachleute wissen die Richter manchmal eher als der Gesetzgeber, was die „richtige“ gesetzliche Regelung wäre. Im Konflikt zwischen der allgemeinen Norm und der individuellen Billigkeit fühlen sie sich oft mehr der Einzelfallgerechtigkeit verpflichtet. Als Spezialisten wissen sie besser als die Parteien, was für diese aus rechtlicher Perspektive gut ist oder gut gewesen wäre. Die faktische Herrschaft über den Sachverhalt und die Vieldeutigkeit von Parteierklärungen und Parteiverhalten eröffnen zahlreiche Möglichkeiten, den unwissenden Parteien durch eine wohlmeinende »Auslegung« oder andere Instrumente einer richterlichen Vertragskorrektur helfend beizuspringen. Weiterhin werden Rechtsfortbildungen deshalb nicht als solche bezeichnet, weil das die Parteien verunsichere und die Fachgemeinde den rechtsfortbildenden Charakter einer Entscheidung doch ohnehin erkenne. Hier klingt eine archaische und mythische Vorstellung von Rechtsfindung an: Rechtsprechung als Mysterium, als Geheimkult für Erleuchtete, Rechtsfortbildungen als durch esoterische Scheingründe verdeckte Geheimnisse der Eingeweihten. Eine tiefere Ursache für verdeckte Rechtsfortbildungen stellen bestimmte methodische Vorstellungen der Richter dar. Im Schrifttum finden sich verschiedene methodische und rechtstheoretische Erklärungsansätze für die Scheu vor offenen Rechtsfortbildungen. Man kann zwischen psychologisch-methodischen, rechtssoziologischen, rechtsphilosophischen und im engeren Sinne rechtsmethodischen Entstehungsfaktoren für verdeckte Rechtsfortbildungen differenzieren. Dass einzelne Rechtsphilosophien verdeckte Rechtsfortbildungen stärker fördern als andere, ist zu vermuten. Ausgeschlossen werden kann, dass eine bestimmte rechtsphilosophische Strömung – im Schrifttum werden die Reine Rechtslehre und die Freirechtslehre genannt – für verdeckte Rechtsfortbildungen verantwortlich ist. In pluralistischen Gesellschaften gibt es eine einheitliche Rechtsphilosophie unter den Juristen genauso wenig wie eine einheitliche Philosophie oder Weltanschauung unter den Bürgern. Verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts sind weiter verbreitet als die jeweiligen unterschiedlichen, zahlreichen miteinander konkurrierenden Rechtsphilosophien. Wichtiger sind die im engeren Sinne rechtsmethodischen Vorstellungen. Nach richterlichen Mitteilungen soll das methodische Allgemeinwissen in der Justiz nicht über die traditionelle, auf den Normtext fixierte Interpretatorik hinausgehen und Rechtsfindung als Auslegung der Gesetze begriffen werden. Im älteren Schrifttum wird zudem noch auf die Inversionsmethode der Begriffsjurisprudenz hingewiesen. Beide Erklärungsversuche betonen wichtige Aspekte, greifen jedoch insgesamt zu kurz. Gesetze werden durch begriffliche Operationen verdeckt fortgebildet, weil die Auslegung der Gesetze seit jeher durch Interpretation ihrer Begriffe erfolgt, und nicht nur infolge von Nachwirkungen der Begriffsjurisprudenz. Das gesetzestextfixierte Rechtsfindungsverständnis ist zudem nur eine von mehreren methodischen Sichtweisen, die ver-
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XI. Ergebnisse
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deckte Rechtsfortbildungen hervorbringen. Die unterschiedlichen Methodenvorstellungen in der Praxis lassen sich vielmehr auf zwei gegensätzliche, idealtypische Grundpositionen zurückführen. Neben das gesetzestextfixierte Rechtsfindungsverständnis, das von Richtern ausdrücklich als Grund für die Angst vor und für das Verdecken von Rechtsfortbildungen angeführt wird, ist das von anderen Richtern in anderen Kontexten artikulierte fallbezogene Entscheidungsmodell zu setzen. Im normtextbezogenen Rechtsfindungsbild ist der Richter Gesetzesausleger und Gesetzesanwender; auf die dem Gesetzgeber obliegende Aufgabe der Fortbildung des Gesetzesrechts reagiert er mit dem »horror vacui« und verdrängten, nicht reflektierten verdeckten Rechtsfortbildungen. Nach dem fallbezogenen Rechtsfindungsverständnis schafft der Richter demgegenüber in der Fallentscheidung stets neues Recht. Die Fortbildung des Rechts ist kein Problem, sondern notwendiges Element jedes Urteils. Diese Sicht ist meist mit einem elitären Richterbild verbunden, nach dem der Richter berechtigt und berufen ist, im wohlverstandenen Interesse der Normunterworfenen die Autorität des Gesetzes durch verdeckte Rechtsfortbildungen bewusst und gezielt zu erschleichen. Die zweite tiefere Ursache für verdeckte Rechtsfortbildungen liegt in bestimmten Aspekten der deutschen Juristenausbildung743. Ihre traditionelle Zweiteilung, seit langem ein Hauptgegenstand der Kritik, kann im hier interessierenden Zusammenhang vernachlässigt werden; für den Umgang mit Rechtsfortbildungen ist nicht entscheidend, wie die dem gemeinsamen Ziel der Entscheidungsfindung dienende Ausbildung aufgeteilt wird, sondern welche Inhalte und Entscheidungsbilder in den jeweiligen Ausbildungsabschnitten vermittelt werden. Auch der Einzelfallunterricht und das zivilrechtliche Anspruchsdenken sind als solche nicht für verdeckte Rechtsfortbildungen verantwortlich. Freilich begünstigen gewisse Übertreibungen und Auswüchse dieser vom juristischen Berufsbild gebotenen Lehrmethoden die verdeckte Fortbildung des Gesetzesrechts. Bei einem isolierten Denken in Einzelfällen geraten die jeweiligen gesetzgeberischen und richterlichen Interessenbewertungen schnell aus dem Blick. Durch die heute üblichen detaillierten und aus sich heraus handhabbaren Anspruchsschemata, in denen die gesetzgeberischen Interessenbewertungen keinen Platz finden, wird die Rechtsfindung ebenfalls von ihren maßgebenden Eckdaten gelöst. Grundsätzliche Bedenken bestehen gegen die vollständige Vernachlässigung der Sachverhaltsarbeit im universitären Einzelfallunterricht, welche verdeckte Fortbildungen der prozessgesetzlichen Regeln über die Sachverhaltsbildung im späteren Berufsleben fördert. Mit der sog. Relationstechnik, die ein unverzichtbares Arbeitsmittel des Richters ist, werden die zivilprozessgesetzlichen Regeln über die richterlichen Beiträge zur Sachverhaltsbildung verdeckt fortgebildet, wenn sie als die Arbeitsmethode des Richters missverstanden und ohne Ergänzungen auch zur Prozessvorbereitung eingesetzt wird. Der deutsche Urteilsbegründungsstil ist zum Teil für verdeckte Rechtsfortbildungen verantwortlich. Der deduktive Aufbau der Entscheidungsgründe nach dem »denn«-Schema ist entgegen verbreiteter Kritik unbedenklich, weil er lediglich die grobe äußere Struktur der Begründung vorgibt
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Eingehendere Zusammenfassung unter IX.9.
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und der eingehenden Erörterung problematischer Rechtsfragen nicht entgegensteht. Demgegenüber führt das Gebot, die Entscheidung immer zweifelsfrei und eindeutig herzuleiten, zu vorgeschobenen (Schein-)Gründen und wegen der zentralen Rolle der Gesetze im Rahmen zivilrechtlicher Entscheidungsbegründungen auch zu verdeckten Fortbildungen des Gesetzesrechts. Der Nährboden verdeckter Rechtsfortbildungen ist die seit Generationen beklagte Grundlagen- und Ausbildungskrise der Rechtswissenschaft. Da die Grundsatzfragen und die Grundlagenfächer im Studium vernachlässigt werden, konzentrieren sich die Studierenden auf sachlich-rechtliche Detailfragen, Einzelfälle und Präjudizien. Da die Präjudizien im Lehrbetrieb als Konkretisierungen der Gesetzesbegriffe vermittelt werden, erscheint ihnen die Rechtsfindung als Auslegung der Gesetze, die mit wenigen Auslegungselementen problemlos bewältigt werden kann, wenn man nur die Präjudizien kennt. Dieses bescheidene methodische Auslegungsinstrumentarium wird im Laufe des Studiums durch eine überschaubare Zahl vielfältig verwendbarer und verwendeter Standardargumente ergänzt, zu denen bestimmte Topoi zählen, mit denen sich das Gesetzesrecht im Gewand der Auslegung fortbilden lässt. Würde die jüngere Rechtsmethodengeschichte im Studium behandelt, wären viele dieser scheinbar bewährten, tatsächlich aber leerformelhaften Begründungen längst durch ihre historischen Anwendungsbeispiele bloßgestellt und entmythologisiert. Die Grundlagenkrise ist auch eine Krise der Grundlagenfächer, die sich stärker mit der Rechtspraxis und ihren Methoden beschäftigen müssen. Die juristischen Methodenlehren sind vor allem »Methodenlehren der Rechtswissenschaft« und stellen weder ein praktizierbares ausgearbeitetes Rechtsfortbildungsmodell noch eine konkrete, die Entscheidungsvorgaben einbeziehende Entscheidungsbegründungslehre zur Verfügung. Sie sind ganz auf die konkretisierende Anwendung des materiellen Rechts auf unstreitige Sachverhalte fixiert, verstehen Entscheidungsfindung also nur als Rechtsfindung. Verschiedene weitere Ausbildungsdefizite ermöglichen verdeckte Rechtsfortbildungen. Die Sachverhaltsarbeit wird in der gesamten Universitätsausbildung ignoriert. Veranstaltungen zur juristischen Argumentation, zum »praktischen Prozessrecht« und zur Urteilskritik sowie eine eigenständige wissenschaftliche Urteilstheorie fehlen. Die theoretische Ausbildung im Referendariat muss stärker auf die berufspraktischen Erfordernisse ausgerichtet werden. Die überkommene Relationstechnik ist endlich auf ihre Aufgaben in einem von der Verhandlungsmaxime und der richterlichen Prozessleitung geprägten Verfahren abzustimmen. Schließlich werden verdeckte Rechtsfortbildungen dadurch gefördert, dass das Zivilprozessrecht die Möglichkeit eröffnet, Urteile zu verkünden, deren schriftliche Entscheidungsgründe noch nicht vorliegen. Praktiker betonen, dass sich bei der Absetzung von Urteilen nach erfolgter Verkündung immer wieder Probleme ergeben, die zu vorgeschobenen Begründungen führen. Wird das Urteil verkündet, bevor es vollständig abgefasst ist, so werden Scheinbegründungen und damit auch verdeckte Rechtsfortbildungen tendenziell begünstigt.
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§ 11 Verdeckte Rechtsfortbildungen – Für und Wider Mag die Abneigung gegenüber offenen Rechtsfortbildungen im Einzelfall nun auf Gewohnheit, Unwissenheit, Selbsttäuschung1, Bequemlichkeit, Flucht vor der (Folgen-)Verantwortung oder einem elitären Selbstverständnis beruhen – der »horror judicandi contra legem«2, abgeschwächt auch praeter legem ist jedenfalls ein Faktum. Verdeckte Rechtsfortbildungen haben eine psychologisch-mystische Komponente: Wie der Feenzauber im Märchen feien nicht durchschaute verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts die Entscheidung gegen Kritik. In unserem heutigen argumentativen Entscheidungs- und Wissenschaftsbetrieb könnten verschleierte Rechtsfortbildungen freilich einen Anachronismus darstellen. Damit ist die Frage angesprochen, wie verdeckte Rechtsfortbildungen zu bewerten sind, was von ihnen zu halten ist. Es ist bereits erwähnt worden, dass sich die Stellungnahmen zu verdeckten Rechtsfortbildungen meist am Rande von Publikationen finden, deren Schwerpunkt bei anderen Fragestellungen liegt3. Der Streitstand ist bislang noch nicht aufbereitet. Eine echte Diskussion, also ein Meinungsaustausch, in dem die Argumente der Gegenansicht zur Kenntnis genommen und erörtert werden, findet zurzeit nicht statt. Erste Ansätze einer inhaltlichen Auseinandersetzung sind lediglich in einer Aussprache dokumentiert, die im Jahr 1968 im Anschluss an zwei von Bundesrichtern gehaltene Vorträge zur richterlichen Rechtsfortbildung zwischen Professoren der Universität Freiburg, mehreren Bundesrichtern, einem Rechtsanwalt am Bundesgerichtshof und einem Justitiar geführt wurde4. Dabei ist es dann im Wesentlichen geblieben. Allein Haverkate hat auch mögliche Einwände gegen die eigene Position behandelt5. Ansonsten gilt: Es gibt keinen Diskurs, sondern nur zwei parallel vertretene, miteinander unvereinbare Bewertungen verdeckter Rechtsfortbildungen. Die Protagonisten beider Auffassungen nehmen regelmäßig nicht auf andere Autoren Bezug und stützen selbst übereinstimmende Ansichten auf unterschiedliche Erwägungen. Auffallend ist, dass die jeweiligen Positionen nicht mit rechtlichen, sondern mit ethischen oder pragmatisch-tatsächlichen Argumenten begründet werden.
1
Rüthers, Wir denken die Rechtsbegriffe um …, 1987, S. 85. Scheuerle, ZZP 78 (1965), 32, 62, der ihn als häufige Erscheinung bezeichnet. 3 § 10 vor I. 4 Pehle/Stimpel, Richterliche Rechtsfortbildung, 1969, mit einschlägigen Äußerungen von Pehle, Hauß, v. Caemmerer, Nirk und Rittner. – Es handelte sich um eine Veranstaltung der Juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe. 5 Vgl. Haverkate, ZRP 1973, 281, 284 ff. 2
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§ 11 Verdeckte Rechtsfortbildungen – Für und Wider
I. Bestandsaufnahme 1. Befürwortende Stimmen a. Erträge der Ursachensuche Im Rahmen der Untersuchung von möglichen Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen im vorstehenden Paragraphen wurden bereits mehrere Äußerungen zitiert, in denen verdeckte Rechtsfortbildungen ausdrücklich befürwortet oder doch zumindest gebilligt worden sind. aa. Das deutlichste Plädoyer für autoritätserschleichende gesetzesrechtsfortbildende Interpretationen hat Walter Wilburg abgelegt6: »Es ist das Schicksal der Rechtswissenschaft, daß sie Geist und Mühe zum größten Teil auf die Kunst verschwenden muß, das Gesetz mit allen Mitteln auszulegen und, zur Vermeidung untragbarer Folgen bona mente zu »überlisten«.« Ähnlich heißt es beim »frühen« Kriele, heute könne der kritische Wissenschaftler zur Rechtsfortbildung oft nur in der Weise beitragen, dass er eine konstruierte Scheindeduktion (aus dem Gesetz) mit einer noch schlaueren anderen schlage7. In dem Bereich, der der eigentlich rechtlichen Diskussion offen stehe8, handele der Jurist richtig, wenn er die Dezision des Gesetzgebers mit List überspiele9. bb. Nach Seiter haben die Gerichte in manchen Bereichen eine Ordnung entwickelt, wie sie dem Gesetzgeber angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse nicht möglich gewesen wäre10. Dabei sei es ihnen zustatten gekommen, dass sie ihre Rechtsneubildung von Fall zu Fall, gleichsam auf leisen Sohlen, entwickeln konnten und damit dem Druck und Widerstand der Interessenverbände weitgehend entzogen waren. Auch Kriele hat sein Plädoyer für (Schein-)Deduktionen aus dem Gesetz schon in den sechziger Jahren darauf gestützt, dass der Richter bei dem von der Freirechtsschule geforderten Verzicht auf Scheindeduktionen einem Trommelfeuer ideologischer Beeinflussungsversuche vor dem Urteil und heftiger Urteilsschelte nachher preisgegeben würde11. Später hat er deutlich distanzierter angemerkt, das Verschweigen der entscheidenden Erwägungen lasse sich unter Umständen pragmatisch rechtfertigen, weil es die Befriedungswirkung der Rechtsprechung erhöhen könne12. Sei die Entscheidung einerseits unparteilich-vernünftig, andererseits aber scheinbar rein
6
Wilburg, FS Larenz, 1973, S. 661, 670. So Kriele, FS Ritter, 1965, S. 99, 114 f. 8 Hierzu Kriele, FS Ritter, 1965, S. 99, 117. Nicht der eigentlich rechtlichen Diskussion offen stehen soll nach Kriele (allein, Anm. des Verf.) der eigentliche Bereich des Politischen, in dem ein Konsens weder bestehe noch erzielt werden könne und in dem das Gesetz entscheiden müsse: Ein solches Gesetz, das eine Diskussion abschneiden wolle, könne unbedingte Geltung beanspruchen und finde sie auch heute; kritisch zu Krieles Äußerungen bereits § 10 IV.3.b. 9 Kriele, FS Ritter, 1965, S. 99, 117. 10 Seiter, FS Baur, 1981, S. 573, 576. 11 Kriele, FS Ritter, 1965, S. 99, 113. 12 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 171. 7
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I. Bestandsaufnahme
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deduktiv aus dem Gesetz gewonnen, so habe das Gericht es allen recht gemacht: Sowohl denen, die die gerechte, als auch denen, die die gesetzmäßige Entscheidung wollen13. cc. Mehrere Autoren betonen, dass die Parteien durch offene Rechtsfortbildungen verunsichert und Rechtsmittel »provoziert« würden. Rechtsfortbildende Entscheidungen der Instanzgerichte würden von ihnen nicht akzeptiert14. Es gebe eine gesellschaftliche Erwartung, wonach die Justiz normgebunden entscheiden soll15. Die Autorität der Entscheidung werde gefährdet, wenn der Richter den angestammten Bereich spezifisch juristischer Begründung verlasse und offen pro und contra argumentiere16. Vom Bürger sei ein seinen Gerechtigkeitsvorstellungen widersprechendes Urteil schwerer hinzunehmen, wenn er »statt der eher voraussehbaren Positivität des Gesetzes nun die seinem Handeln nachfolgende Positivität des Richterspruchs (§§ 322 ff. ZPO) erdulden muß«17. Demgegenüber soll der Unterlegene bereit sein, ein Urteil zu akzeptieren, das durch den Ableitungszusammenhang zum Gesetz an dessen Würde und Autorität teilhabe18. Die schlichte Gesetzesanwendung sei das Begründungsverfahren, welches die größte Aussicht auf breite Zustimmung der Bürger habe, weil die Anwendung eines allgemeinen Gesetzes »ohne Ansehn der Person« das am allgemeinsten anerkannte Element der Gerechtigkeit sei19. Horak stellt ein Verbot problematischer und ein Gebot eindeutiger Entscheidungen auf, weil ein weniger apodiktischer Urteilsstil die Parteien frustriere und die Neigung zu Appellationen gewaltig vergrößere20. Auch von Caemmerer hat sich ausdrücklich dagegen ausgesprochen, Rechtsfortbildungen offen zu legen: »Schon um der Prozeßparteien willen sollte die einzelne Entscheidung sich daher nicht als rechtsfortbildend bezeichnen … . Die »kluge Fiktion«, daß es sich immer um Rechtsanwendung handele, enthält sicher viel psychologische Weisheit und zwar sowohl vom Richter wie von den Betroffenen aus gesehen« 21.
13 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 171. Kritisch äußert sich Kriele demgegenüber zu den von Vico bevorzugten Rechtsfortbildungen durch Sachverhaltsmanipulationen, s. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 132. 14 Vgl. etwa Böhlk/Unterseher, JuS 1980, 323, 325, die für die Folgendiskussion in den Entscheidungsgründen fragen, ob der Unterlegene die Mitteilung der persönlichen Ansicht des oder der Entscheidenden nicht gerade als Aufforderung dazu verstehen müsse, in der nächsten Instanz nach jemandem zu suchen, der ihm und seinen Problemen gewogen sei. 15 Lautmann, Justiz – Die stille Gewalt, 1972, S. 87. 16 Kritische Darstellung bei Haverkate, ZRP 1973, 281, 286. 17 Adomeit, Rechtsquellenfragen im Arbeitsrecht, 1969, S. 30. 18 Vgl. Haverkate, ZRP 1973, 281, 286, mit Kritik dieser Ansicht. 19 So Wieacker, FS W. Weber, 1974, S. 421, 437; anders C. Schmitt, Gesetz und Urteil, 1912, S. 84, der den gebildeten Juristen als Adressaten des Urteils sieht: Auf den Laien mache die Herbeiziehung irgendeiner beiläufigen Gesetzesstelle überhaupt keinen Eindruck. 20 Horak, in: Sprung/König (Hrsg.), Die Entscheidungsbegründung in europäischen Verfahrensrechten und im Verfahren vor internationalen Gerichten, 1974, S. 1, 21. 21 v. Caemmerer, in: Pehle/Stimpel, Richterliche Rechtsfortbildung, 1969, S. 36, 38.
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b. Weitere Bekenntnisse Neben den bereits bei der Ursachensuche genannten Äußerungen gibt es noch weitere zustimmende Bemerkungen über verdeckte Rechtsfortbildungen. aa. Horak hat sich in den »Wissenschaftstheoretischen Prolegomena” zu seiner Untersuchung der Entscheidungsbegründungen bei den älteren römischen Juristen, welche allgemein die methodologische Bedeutung von Begründungen behandeln22, ausführlich über verdeckte Rechtsfortbildungen bzw. Scheinbegründungen aus dem Gesetz geäußert. Der Jurist, der nur Rechtserkenntnis treiben wolle, müsse innerhalb des Rahmens, den das Gesetz biete, seinen Spruch fällen; daher könne »der Richter nicht anders, als nach eigenen Wertgesichtspunkten zu entscheiden und sein arbitrium mit dem Mantel der »Gesetzesanwendung« zu bekleiden …«23. Der Richter, der eine Entscheidung treffen müsse, werde stets versuchen, diese abzusichern, indem er sie als die einzig mögliche darstelle; ehrliche Eingeständnisse der Unsicherheit würden zur Beeinträchtigung des richterlichen und überhaupt des juristischen Prestiges führen, die Neigung zur Appellation steigern und die Gefahr oberinstanzlicher Abänderung des Urteils vergrößern24. Der psychologische Druck, unter dem die Richter stünden, wirke weiter auf die Lehre, die gleichfalls dazu neige, aus einem problematischen Urteil ein apodiktisches zu machen; eine Jurisprudenz, die bewusst Rechtserkenntnis und Rechtspolitik trenne, würde von der Praxis weithin abgelehnt werden, so wie es der Interpretationslehre Kelsens ergangen sei25. Es sei eine Wertungsfrage, ob man reine Erkenntnis oder eine gut funktionierende Rechtspflege höher schätze; und wenn letztere das Arbeiten mit pseudowissenschaftlichen Methoden, Scheindeduktionen usw. wünschenswert mache, so könne der Wissenschaftstheoretiker nicht den (vielleicht) durchaus legitimen Anspruch der Rechtspolitik auf solche Verschleierungen bestreiten, ohne seine Kompetenz als Wissenschaftstheoretiker zu überschreiten26. Die durch geänderte Wertungen bedingte geschichtliche Dynamik des Rechts selbst führe zwangsweise nicht nur zu ständiger Abänderung des Gesetzesrechts, sondern auch zu Umwertungen, die sich in der Rechtsfortbildung als Neuinterpretationen oder meist verschleierte Neueinführung von Grundsätzen manifestierten27. Man begnüge sich mit dem Schein der Rationalität, weil man aus rechtspolitischen, vor allem psychologischen Erwägungen das Eingeständnis der rationalen Unbegründbarkeit scheue; Horak spricht von »einer Jurisprudenz des Als-ob«28.
22
Horak, Rationes decidendi, I. Band, 1969, S. 9 ff. Horak, Rationes decidendi, I. Band, 1969, S. 36, konkret zu analogen Begründungen. 24 Horak, Rationes decidendi, I. Band, 1969, S. 38. 25 Horak, Rationes decidendi, I. Band, 1969, S. 38 f. 26 Horak, Rationes decidendi, I. Band, 1969, S. 39. 27 So Horak, Rationes decidendi, I. Band, 1969, S. 41. 28 Horak, Rationes decidendi, I. Band, 1969, S. 54, wohl in Anlehnung an Vaihingers »Philosophie des Als-Ob«, die als idealistisch-positivistischer Fiktionalismus charakterisiert werden kann. 23
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bb. Rittner differenzierte in der bereits erwähnten Aussprache über (verdeckte) richterliche Rechtsfortbildungen zwischen dem Gedankengang des Richters und der schriftlichen Begründung, die häufig deshalb widerspruchsvoll oder unklar wäre, weil nicht alle Mitglieder des Senats derselben Auffassung seien29: Von dem Gedankengang des Richters, der sich so rational wie nur möglich vollziehen sollte, sei die schriftliche Begründung durchaus zu trennen. cc. Bundesrichter Hauß befürwortete verdeckende Argumente im Frühstadium von Rechtsfortbildungen und insbesondere dann, wenn das Revisionsgericht ohne wissenschaftliche Vorarbeiten in rechtliches Neuland vorstößt30: »Es gibt Rechtsentwicklungen, die zunächst unter der schützenden Hülle bewährter Rechtsinstitute besser reifen als durch vorschnelle Bekenntnisse und rechtssatzmäßige Festlegungen«. Hauß betonte die herausragende praktische Bedeutung dieser langsamen und verdeckten Rechtsfortbildungen, die er indes nur vorübergehend für vertretbar hielt31: »Natürlich hat jede verdeckte Rechtsfortbildung ihre Grenzen. Leerlaufende oder inadäquate Begründungsschablonen können auf die Dauer nicht beibehalten werden. Vielmehr muß eine in Neuland vorstoßende Rechtsprechung, will sie Anerkennung und Beachtung im Rechtsleben erreichen, die für die Entscheidung leitenden Gründe auch aussprechen und Rechtsregeln präzisieren, die sichern, daß gleichgelagerte Fälle gleich entschieden werden«. Die ambivalente Stellungnahme von Hauß leitet bereits zu denjenigen Autoren über, die sich ausdrücklich gegen verdeckte Rechtsfortbildungen aussprechen.
2. Ablehnende Äußerungen Die Begründungen variieren. a. »Überzeugungskraft« und »Praxisbedürfnisse« Bundesrichter Pehle plädierte in seinem Vortrag auf der schon mehrfach angesprochenen Veranstaltung der Juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe dafür, die Entscheidungsgründe möglichst offen darzustellen32, was Duden in der Aussprache mit der Begründung unterstützte, die freiere Haltung des Bundesgerichtshofs zur Rechtsfortbildung komme der Überzeugungskraft seiner Entscheidungsgründe zugute33: »Die gezwungene Gesetzesauslegung des Reichsgerichts in manchen Fällen ist nicht sehr zu beobachten.« Der Rechtsanwalt am Bundesgerichtshof Nirk forderte im Interesse der Praxis, »stille Rechtsfortbildungen offenzulegen«34. Stille, unter der schützenden Hülle vorsichtiger Andeutungen in Einzelentscheidungen wachsende und heranreifende Rechtsfortbildungen würden – angewandt auf andere Fälle – »uns mit Unbe29 30 31 32 33 34
Rittner, in: Pehle/Stimpel, Richterliche Rechtsfortbildung, 1969, S. 47, 48. Hauß, in: Pehle/Stimpel, Richterliche Rechtsfortbildung, 1969, S. 35, 36. Hauß, in: Pehle/Stimpel, Richterliche Rechtsfortbildung, 1969, S. 35, 36. Pehle, in: Pehle/Stimpel, Richterliche Rechtsfortbildung, 1969, S. 1, 6. Duden, in: Pehle/Stimpel, Richterliche Rechtsfortbildung, 1969, S. 32. Nirk, in: Pehle/Stimpel, Richterliche Rechtsfortbildung, 1969, S. 43, 44.
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§ 11 Verdeckte Rechtsfortbildungen – Für und Wider
hagen erfüllen«35. Gerade bei den verdeckten und deshalb unerkannt gebliebenen rechtsfortbildenden Entscheidungen ergäben sich aus dem schrittweisen Vorantasten in den Entscheidungsgründen Dunkelheiten und Missverständnisse; der Praxis wäre in einer solchen Situation dadurch gedient, dass der erkennende Senat den Versuch unternehmen würde, die bislang stille Rechtsfortbildung offen zu legen, zu überprüfen, zu konkretisieren und die bislang still gewachsenen neuen Rechtssätze zu präzisieren36. Zugleich könnte man mit dem Aufdecken erkannter stiller Rechtsfortbildungen der Forderung der Rechtsstaatlichkeit hinreichend Rechnung tragen37. b. Haverkates Argumentation Es ist bereits einige Male erwähnt worden, dass Haverkate im Anschluss an die »Soraya«-Entscheidung einen freieren und zugleich rationaleren Argumentationsstil verlangt hat, der die richterliche Rechtsschöpfung nicht mehr in das graue Gewand »bloßer Gesetzesauslegung« hülle38. Haverkate hat sich zugleich recht eingehend mit denkbaren Einwänden gegen seine »Forderung nach Aufdeckung der wahren Urteilsgründe, nach offener Argumentation«39 auseinandergesetzt40. Er behandelt fünf Punkte, und zwar die Angreifbarkeit rechtsfortbildender Entscheidungen, den größeren Begründungsaufwand, das Risiko vorschneller Rechtsfortbildungen, die Schwierigkeiten rechtsfortbildender Kollegialentscheidungen und die Gefährdung der Autorität eines Gerichtsurteils, welches nicht durch das Gesetz legitimiert ist. aa. Zwar biete das offen begründete Urteil zusätzliche Angriffsflächen; wenn es die wirklich ausschlaggebenden Überlegungen nenne, werde es aber auch eher überzeugen können. bb. Freilich werde die Begründungsarbeit des Richters erschwert; der Zwang zur genauen Formulierung könne die Sachgerechtigkeit der Begründung indes nur fördern. cc. Das Bedenken, hierbei werde der Prozesscharakter der Regelbildung, das allmähliche Herausbilden des Rechtssatzes von Entscheidung zu Entscheidung verkannt, berücksichtige nicht hinreichend den Unterschied zwischen der allgemeinen Regel, die mitunter sicherlich erst am Schluss einer langen Entwicklung stehe, und der aus der Wertung im einzelnen Fall zu entnehmenden Maxime; gerade die Offenlegung der Wertung, das Aufdecken des Gesichtspunktes, warum im vorliegenden Fall so und nicht anders entschieden worden sei, könne verhin-
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Nirk, in: Pehle/Stimpel, Richterliche Rechtsfortbildung, 1969, S. 43, 44. Nirk, in: Pehle/Stimpel, Richterliche Rechtsfortbildung, 1969, S. 43, 45. Nirk, in: Pehle/Stimpel, Richterliche Rechtsfortbildung, 1969, S. 43, 44. Haverkate, ZRP 1973, 281. Haverkate, ZRP 1973, 281, 281 f. und 284. Zum Folgenden Haverkate, ZRP 1973, 281, 284.
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dern, dass die in der Entscheidung enthaltene Maxime vorschnell auf andere Fälle angewendet werde, auf die sie nicht passe. dd. Dass die gerichtliche Entscheidung eine Kollegialentscheidung sei, stehe einer offenen Argumentation gleichfalls nicht entgegen: Es sei nicht einzusehen, warum bei einer ehrlicheren und offenherzigeren Begründungspraxis eine Einigung schwieriger sein solle als bei verdeckter Argumentation; diese Annahme spiegele nur die irrige Einschätzung des Wertungselements als des schlechthin Irrationalen in der richterlichen Tätigkeit wider41. ee. Abschließend stellt Haverkate die Frage, ob eine offene Argumentation nicht unnötigerweise die Autorität der Entscheidung gefährde, weil man mit ihr den angestammten Bereich spezifisch juristischer Begründung, durch welche die Entscheidung Teil an der Autorität und Würde des Gesetzes habe, verlasse und die Entscheidung in den Zusammenhang eines sozusagen »politischen« Für und Wider stelle42. Haverkate verneint die Frage. Nach der Erkenntnis des notwendigen rechtspolitischen Elements jeder Rechtsgewinnung, jeder Entscheidung von Kontroversfragen könne es nur noch darum gehen, ob der Richter seine Wertungen offen legen oder hinter dem Gesetz verstecken solle43. Wolle man die Ableitungslogik als Fiktion aufrechterhalten, so läge darin ein bewusster Verzicht auf Methodenehrlichkeit, der das Selbstverständnis des Richters, den von ihm intendierten Wahrheits- und Gerechtigkeitswert des Urteilsspruchs in Frage stellen müsste. Eine »formaljuristische«, die Wertungen versteckende Argumentation erwecke in der Öffentlichkeit den Eindruck, dass mit dem Richterspruch Zwecke verfolgt und Interessen begünstigt werden, die eine Offenlegung scheuen müssen. Eine Darlegung der eigenständigen Wertung des Richters führe daher nicht zu einer künstlichen »Politisierung«; sie allein vermöge im Gegenteil zu verhindern, dass die richterliche Unabhängigkeit in den Strudel des politischen Vorurteils gerate44. c. Das »Wahrheitsprinzip« H.-P. Schneider leitet aus einem »Prinzip der Entscheidungswahrheit« die Pflicht ab, Rechtsfortbildungen nicht etwa aus Prestigegründen zu verheimlichen, sondern deutlich hervorzuheben und eingehend zu erörtern45. Im gleichen Sinne äußert sich Adomeit, dessen allgemeingültige Ausführungen sich freilich konkret auf die Dogmatik beziehen. Das Wahrheitsprinzip, das das Grundprinzip der Wissenschaft sei, fordere vom Dogmatiker, dass er seinen Vorschlag zur Rechts41 Das zeigt sich beispielsweise bei Horak, der fälschlicherweise Werturteil und »rationale Unbegründbarkeit« gleichsetzt, wenn er verdeckte Rechtsfortbildungen damit rechtfertigt, dass man aus psychologischen Gründen das Eingeständnis der rationalen Unbegründbarkeit scheue, s. Horak, Rationes decidendi, I. Band, 1969, S. 54; hierzu bereits 1.b.aa. 42 Haverkate, ZRP 1973, 281, 286. 43 Haverkate, ZRP 1973, 281, 287. 44 Haverkate, ZRP 1973, 281, 287. 45 H.-P. Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, 1969, S. 40.
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fortbildung offen und nicht unter dem falschen Anspruch einer bloßen Interpretation einführe46. Auf dem Boden einer Methodenlehre, die Rechtsfortbildung als legitime Verfahrensweise anerkenne, sei der Dogmatiker nicht mehr genötigt, einen von ihm für gerecht gehaltenen neuen Rechtssatz unter Widerspruch zu erkenntnistheoretischen Gesetzen als aus dem bisher geltenden Recht abgeleitet auszugeben; der Grenzverlauf zwischen Rechtserkenntnis und –gestaltung dürfe nicht im Dunkel gelassen werden47 d. Ein »Gebot der Rationalität« Nach Rüthers sind Gesetzesanwendung und richterliche Rechtsfortbildung so strikt wie möglich zu unterscheiden, weil es um zwei grundlegend unterschiedliche Funktionen der Justiz gehe48: Wo der Richter das Recht fortbilde, werde er vom zu denkendem Gehorsam verpflichteten Diener des Gesetzes als Ersatzgesetzgeber partiell zum Herrn der Rechtsordnung. Eine rational ausgerichtete juristische Methodenlehre habe eine Hauptaufgabe darin, den Rechtsanwendern genau dies bewusst zu machen, nämlich, wann sie Gesetze anwenden, wann sie Gesetze im Dienste der Gesetzgebung fortbilden, und wann sie die Gesetzgebung im Sinne eigener Regelungsabsichten korrigieren, also den Gesetzesgehorsam verweigern wollen. Selbst Kriele, der Scheindeduktionen aus dem Gesetz pragmatisch rechtfertigt49, bezeichnet die von Vico bevorzugte verdeckte Rechtsfortbildung, welche sich hinter Fiktionen und gewaltsamen Sachverhaltsinterpretationen verbirgt50, als ein scheinrationales Verfahren primitiver Frühstufen des Rechts51. e. »Ehrlichkeit« und »Wahrhaftigkeit« Der auch von Haverkate angeführte Aspekt der Methodenehrlichkeit52 ist in den zu Beginn des 20. Jahrhunderts geführten Diskussionen über die »richtige« Begründung gerichtlicher Entscheidungen mehrfach betont worden. aa. Fuchs forderte vom freirechtlichen Juristen, beim Auslegen und Fortbilden der Gesetze nach deren gesellschaftlich-wirtschaftlichem Sinn zu graben und seine nachprüfbaren Erwägungen in der Begründung ehrlich und offen darzulegen53.
46
Adomeit, Rechtsquellenfragen im Arbeitsrecht, 1969, S. 34. Adomeit, Rechtsquellenfragen im Arbeitsrecht, 1969, S. 34. 48 Rüthers, JZ 2002, 365, 366. 49 Vorstehend 1.a.aa. und bb. 50 Zu Vicos Sehweise § 9 III.1. 51 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 132. 52 Haverkate, ZRP 1973, 281, 287; s. bereits b.ee. 53 Fuchs, Was will die Freirechtsschule, 1929, S. 14 f. = Fuchs, in: Foulkes/Kaufmann (Hrsg.), Gerechtigkeitswissenschaft, 1965, S. 21, 26 f.; ders., Die Justiz, 1927/28, 7, 24 = Fuchs, in: Foulkes/Kaufmann (Hrsg.), Gerechtigkeitswissenschaft, 1965, S. 193, 203; hierzu bereits § 10 VIII.1.c.bb.(3). 47
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I. Bestandsaufnahme
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bb. Heck hat sich nachdrücklich gegen Scheinbegründungen gewandt, mit denen durch Interessenabwägung gewonnene Gebote als bereits vorhandener Gesetzesinhalt ausgegeben54 und gesetzliche Lücken durch Konstruktion von Ordnungsbegriffen und Formelverwertung verdeckt ergänzt werden55. In Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Autoren, die sich explizit für verschleiernde, die Illusion rein logischer Gesetzesanwendung vermittelnde Begründungen ausgesprochen hatten56, heißt es, dass bei bewussten Scheinbegründungen eine subjektive Unwahrheit vorliege, die unbedingt verwerflich sei57 und der Würde und der hohen Aufgabe des Richterstandes nicht entspreche58. Nur die höchste und strengste Wahrhaftigkeit garantiere die Schlüssigkeit derjenigen Gründe, die tatsächlich entscheidend gewesen seien: »Erwägungen, welche ein Urteil wirklich bestimmen, müssen auch hinreichen, um es zu begründen«59. Zudem sei diese Wahrhaftigkeit für die Generalwirkung des Urteils bedeutsam, weil unrichtige, vorgeschobene Gründe die Rechtsfindung anderer Gerichte in die Irre führten60. Schließlich könne durch eine wahrheitsgemäße Begründung weder die Autorität des Gesetzes noch die der Gerichte gefährdet werden61. Später wies Heck noch ergänzend darauf hin, dass die (begriffsjuristische) Scheinbegründung den Fortschritt in der Methodenfrage verhindere62 und die erwünschte Fortbildung des Rechts verschleiere und dadurch erschwere63: »Ihre Berechtigung konnte nur zu einer Zeit in Frage kommen, in der dem Richter jede Ergänzung von Lücken durch Würdigung von Lebensinteressen versagt wurde«. cc. Schon in einem Beschluss, den der zweite Deutsche Richtertag 1911 fasste, hieß es im Anschluss an eine Passage, in der die Gesetzesbindung des Richters in Abgrenzung zur Freirechtslehre besonders betont worden war64: »Ist ein Gesetz verschiedener Auslegung fähig, so ist der Richter ermächtigt, derjenigen Auslegung, welche dem Rechtsbewusstsein und dem Verkehrsbedürfnis am besten entspricht, den Vorzug zu geben. Eine Entscheidung dieser Art soll der Richter offen mit der Bevorzugung begründen. Er soll vermeiden, die wahren Gründe durch künstliche Argumentation zu verdecken«. 54
Heck, AcP 112 (1914), 1, 234 ff. Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 98 ff. 56 Wurzel, Das juristische Denken, 2. Aufl. 1924, (1. Aufl. 1904), S. 95, unter Berufung auf die Autorität der Gesetze und die Bedürfnisse der Parteien; Wüstendörfer, AcP 110 (1913), 219, 353: Durch »Pseudoauslegung« und Analogie würde »die Achtung vor dem aufrechterhaltenen Buchstaben des Gesetzes versöhnt mit der Achtung vor der Justiz, die sich der Aufgabe sozialer Kulturpflege nicht entzieht«; hierzu Heck, AcP 112 (1914), 1, 234 f. 57 Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 99. 58 Heck, AcP 112 (1914), 1, 235 f. 59 Heck, AcP 112 (1914), 1, 235 f. 60 Heck, AcP 112 (1914), 1, 236. 61 Heck, AcP 112 (1914), 1, 237, mit näherer Begründung und dem Hinweis, dass das Gericht seinen Gedankengang nicht in eingehender methodischer Kennzeichnung darzulegen habe; allgemeine Verständlichkeit müsse genügen. 62 Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 99. 63 Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 100. 64 Abgedruckt bei Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1932, S. 21 Fn. 1; ders., Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 98 Fn. 1. 55
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Rumpf verwies bereits 1906 zustimmend auf eine Passage in den Erläuterungen zu Art. 1 Abs. 2 des schweizerischen Zivilgesetzbuches65: Der Richter werde »freier sein, als er heute dort es ist, wo man ihm zumutet, alles und jedes, und wäre es auch mit den bedenklichsten Interpretationskünsten, aus dem Gesetze abzuleiten. Würdiger aber waltet er des Amtes, wenn solche Kunststücke ihm nicht zugemutet werden«.
3. »Aufklärung« versus »Pragmatik« Versucht man die unterschiedlichen Erwägungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, so ergibt sich das Folgende. Die Befürworter der Offenlegung von Fortbildungen des Gesetzesrechts argumentieren ethisch und »aufklärerisch«. Sie fordern einen vorurteilsfreien, auf Vernunft gegründeten Umgang mit lückenhaften und überholten Gesetzen. »Wahrhaftigkeit« und »Ehrlichkeit« garantieren die Würde des Richters bei fehlender gesetzlicher Normierung. Die Entscheidungsbegründung wird ganz von der Rationalität beherrscht: Das Wahrheitsprinzip gebietet es, die Rechtsfortbildung als solche offen zu legen und die wirklich ausschlaggebenden Überlegungen zu nennen. Sonst kann die Entscheidung vor dem Forum der Wissenschaft, welche der Wahrheit und der Vernunft verpflichtet ist, nicht diskutiert werden. Auch die Parteien können nur durch mitgeteilte vernünftige Gründe überzeugt werden. Freilich leiden die Ausführungen der Vertreter offener Rechtsfortbildungen daran, dass nicht immer deutlich wird, was außer der Rechtsfortbildung noch offen gelegt werden soll, was also grundsätzlich bei Rechtsfortbildungen in den Gründen mitzuteilen ist. Demgegenüber fällt es den Befürwortern verdeckter Rechtsfortbildungen erkennbar schwer, ihre Position als Gebot der reinen Vernunft zu legitimieren. Sie argumentieren pragmatisch und psychologisch-emotional: Untragbare Folgen der Gesetze sollen durch listiges Verhalten des Richters verhindert werden. Der Richter werde durch verdeckte Rechtsfortbildungen vor ideologischer Kritik, insbesondere durch Interessenverbände, geschützt. Die Rechtsprechung bleibe durch unterschiedlich füllbare Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen flexibel. Rechtsmittel sollen im »wohlverstandenen Interesse« der Parteien verhindert werden, damit die Rechtspflege gut funktioniert. Die Würde und Autorität des Gerichts, die auf dem Ableitungszusammenhang zum Gesetz beruhe, werde durch eine – scheinbar – gesetzesdeterminierte Entscheidung gewahrt und bekräftigt.
II. Parallelen zum historischen Streit über Entscheidungsgründe Der (prozess-)rechtsgeschichtlich Interessierte kennt mehrere der genannten Gesichtspunkte möglicherweise aus einem anderen Kontext. Mit ihnen ist im 18.
65
Rumpf, Gesetz und Richter, 1906, S. 19; zu Art. 1 Abs. 2 ZGB bereits § 9 II.
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II. Parallelen zum historischen Streit über Entscheidungsgründe
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und frühen 19. Jahrhundert der Streit darüber geführt worden, ob gerichtliche Entscheidungen den Parteien gegenüber begründet werden sollten.
1. »Würde« und »Überlastung« Die Würde des Richters und die drohende Überlastung der Gerichte durch Rechtsmittel waren zentrale Argumente, mit denen man den Parteien des jeweiligen Rechtsstreits mitzuteilende Entscheidungsgründe ablehnte66.
2. Widerlegung durch Brinkmann Demgegenüber trat beispielsweise Brinkmann aus Gründen der Vernunft umfassend für öffentliche und offene Urteilsgründe ein: »In einem nackten Richterspruche steckt, wenn überall ein Geist, doch nur ein unsichtbarer Geist, den die Parteien hervorzurufen außer Stande sind, der aber nach Gefallen des Richters seinen Spuk treiben kann«67. Richtersprüche ohne Begleitung von Gründen erschienen als willkürliche Sätze; ihr Ansehen reiche nicht weiter, als die richterliche Gewalt, wodurch sie geltend gemacht werden68. Wo aber die Gerechtigkeit ihr Haupt frei erheben dürfe, da scheine es von selbst geboten zu sein, dass sie sich über die Art und Weise, wie sie ihr Amt verwalte, offen ausspreche und so auch den leisesten Argwohn entferne, als werde sie durch geheimnisvolle Maximen geleitet69. Nur durch offene Vorlegung der Gründe könne der Richter die öffentliche Meinung gewinnen70. Die Rechtspflege »nach unserer Art« habe gar nichts mit einer geheimen Politik gemein; was sich ein Richter scheue, den Parteien selbst gerade heraus zu sagen, das verdiene gar keine Beachtung71. Urteile ohne Gründe waren nach Brinkmann nicht geeignet, die Parteien zu überzeugen und Rechtsmittel zu verhindern: Der verlierende Teil werde in einem »unbegründeten Urtheile« stets ein »ungegründetes zu erkennen geneigt seyn«72. Von Gründen verlassene Entscheidungen förderten den Glauben an die Willkürlichkeit der Gerichte73. Schließlich
66 Vgl. hierzu etwa Kischel, Die Begründung, 2003, S. 22 f.; Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 232; jeweils mit Nachweisen aus der zeitgenössischen Literatur. – Einführend zur Geschichte der schriftlichen Urteilsbegründung und der sich seit dem 18. Jahrhundert durchsetzenden Pflicht, den Parteien die Entscheidungsgründe mitzuteilen Sprung, in: Sprung/König (Hrsg.), Die Entscheidungsbegründung in europäischen Verfahrensrechten und im Verfahren vor internationalen Gerichten, 1974, S. 43 ff. mit Nennung der Prozessordnungen der deutschen Territorien; Sellert, in: Dilcher/Diestelkamp (Hrsg.), Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey, 1986, S. 97 ff.; ergänzende Angaben bei Hocks, Gerichtsgeheimnis und Begründungszwang, 2002, S. 1 f. mit einem Überblick über den Forschungsstand auf S. 8 ff. und einer Zusammenfassung seiner Ergebnisse auf S. 189 ff.; informative Gesamtschau bei Kischel, Die Begründung, 2003, S. 16 ff., insbesondere S. 25 ff.; Hattenhauer, Die Kritik des Zivilurteils, 1970, S. 14 ff.; Schlüter, Das obiter dictum, 1973, S. 7 ff. 67 Brinkmann, Ueber die richterlichen Urtheilsgründe, 1826, S. 61. 68 Brinkmann, Ueber die richterlichen Urtheilsgründe, 1826, S. 56. 69 Brinkmann, Ueber die richterlichen Urtheilsgründe, 1826, Vorwort. 70 Brinkmann, Ueber die richterlichen Urtheilsgründe, 1826, S. 51. 71 Brinkmann, Ueber die richterlichen Urtheilsgründe, 1826, S. 70. 72 Brinkmann, Ueber die richterlichen Urtheilsgründe, 1826, S. 56. 73 Brinkmann, Ueber die richterlichen Urtheilsgründe, 1826, S. 54.
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könne die richterliche Würde durch Vorenthaltung der Gründe weder erworben noch erhöhet werden; die Ansicht, der Richter lasse sich durch Mitteilung der Entscheidungsgründe weiter herunter als nötig, sei Ausdruck eines unzeitgemäßen Amtsdünkels74. Die Verheimlichung der Entscheidungsgründe bedecke »Bequemlichkeit, Trägkeit, Unkenntnis, Laune, Willkür und Parteilichkeit«75. Gegen schlechte Entscheidungsquellen sichere nur die Öffentlichkeit derselben76.
3. Aufklärung und Publizität Brinkmanns Ausführungen beruhen offensichtlich auf dem Gedankengut der Aufklärung77. Für das aufgeklärte Denken konnte nur Geltung beanspruchen, was einer Prüfung durch die reine Vernunft standhielt. Das galt auch und gerade für staatliches Handeln. Nach Kant muss jeder Rechtsanspruch die Fähigkeit der Publizität haben, weil »ohne jene es keine Gerechtigkeit (die nur als öffentlich kundbar gedacht werden kann), mithin auch kein Recht, das nur von ihr erteilt wird, geben würde«78. Die von Kant aufgestellte »transzendentale Formel des öffentlichen Rechts« lautet79: »Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht«. Zur Begründung heißt es80: »Dieses Prinzip ist nicht bloß als ethisch (zur Tugendlehre gehörig), sondern auch als juridisch (das Recht der Menschen angehend) zu betrachten. Denn eine Maxime, die ich nicht darf laut werden lassen, ohne dadurch meine eigene Absicht zugleich zu vereiteln, die durchaus verheimlicht werden muß, wenn sie gelingen soll, und zu der ich mich nicht öffentlich bekennen kann, ohne daß dadurch unausbleiblich der Widerstand aller gegen meinen Vorsatz gereizt werde, kann diese notwendige und allgemeine, mithin a priori einzusehende, Gegenbearbeitung aller gegen mich nirgend wovon anders, als von der Ungerechtigkeit her haben, womit sie jedermann bedroht«.
4. Konsequenzen »Würde des Richters« und »Überlastung der Gerichte« lassen sich als die beiden traditionellen Argumente für richterliche Verdeckungen klassifizieren. Diese Begründungsmuster sind viel älter als die Diskussion über verdeckte Rechtsfortbildungen. Mit ihnen sind bereits im 18. Jahrhundert Urteilsbegründungspflichten gegenüber den Parteien abgelehnt worden. Seit langem herrscht kein Streit mehr darüber, dass weder die Würde des Richters noch eine angeblich drohende Überlastung der Gerichte Entscheidungsgründe generell überflüssig machen. Die 74 Brinkmann, Ueber die richterlichen Urtheilsgründe, 1826, S. 92; s. ergänzend noch a.a.O., S. 115 f.: Niemals ist es »mit der Würde der Gerechtigkeit vereinbar, schlechte verwerfliche Gründe zu gebrauchen«. 75 Brinkmann, Ueber die richterlichen Urtheilsgründe, 1826, S. 52. 76 Brinkmann, Ueber die richterlichen Urtheilsgründe, 1826, S. 34. 77 Hierzu Kischel, Die Begründung, 2003, S. 25. 78 Kant, Zum ewigen Frieden (1795), Anhang II, 1976, S. 68. 79 Kant, Zum ewigen Frieden (1795), Anhang II, 1976, S. 69. 80 Kant, Zum ewigen Frieden (1795), Anhang II, 1976, S. 69.
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III. Bewertung der weiteren Argumente
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maßgebenden Erwägungen sind von Brinkmann bereits 1826 zusammengestellt worden. Sie gelten gleichermaßen für verdeckte Rechtsfortbildungen, was von Heck und Haverkate überzeugend dargelegt wurde. Seit der Aufklärung müssen staatliche Entscheidungen rational gerechtfertigt werden. Mit den beiden traditionellen Begründungen für Verdeckungsstrategien, der Würde des Richters und der drohenden Überlastung der Gerichte, lassen sich verdeckte Rechtsfortbildungen nicht legitimieren.
III. Bewertung der weiteren Argumente Außerdem werden verdeckte Rechtsfortbildungen heute mit zwei zusätzlichen Gesichtspunkten gerechtfertigt, die in der historischen Diskussion um Entscheidungsbegründungspflichten noch keine Rolle spielten. Verdeckte Rechtsfortbildungen sollen die Gerichte vor ideologischer Einflussnahme und Kritik seitens mächtiger Interessenverbände schützen und zudem unverzichtbar sein, um untragbare gesetzliche Folgen zu vermeiden. Beide Argumentationen können nicht überzeugen.
1. Schutz vor Lobbyisten a. Im Kreuzfeuer der Kritik Zwar trifft es zu, dass die Gerichte teilweise Versuchen massiver Einflussnahme und drastischer Kritik durch Interessenverbände und deren Rechtsvertreter ausgesetzt sind81. Manche Lobbyisten und Verbandsanwälte machen bei ihrer Urteils- und Richterschelte selbst vor persönlichen Diffamierungen der beteiligten Richter nicht halt82. Offene Rechtsfortbildungen bieten den Kritikern zusätzliche Angriffsflächen, die mit den Schlagworten Vernachlässigung der Gesetzesbindung, Kompetenzüberschreitung und »politisch gestaltungswillig« angedeutet werden können. Gerade in Rechtsbereichen, in denen gegnerische Interessenverbände agieren, gibt es kaum Rechtsfortbildungen, welche die Zustimmung aller Lobbyisten finden. Die fast immer widerstreitenden Reaktionen auf Grundsatzentscheidungen des Bundesarbeitsgerichts belegen dies beispielhaft. Indes sind die Gerichte bei rechts-, sozial- und wirtschaftspolitisch bedeutsamen Entscheidungen stets der Kritik durch Interessenverbände ausgesetzt. Das gilt auch dann, wenn sie das Gesetzesrecht verdeckt fortbilden. Interessenverbände interessieren sich vor allem für die Ergebnisse und die Leitsätze gerichtlicher Entscheidungen. Die methodische Begründung beschäftigt Lobbyisten weniger. Offen gelegte Rechtsfortbildungen geben den Kritikern daher »nur« ein zusätzliches Argument. Dass man für den Bereich des Zivilrechts heute noch vom »Aufschrei, der einer Rechtsfortbildung auch durch höchste Gerichte regelmäßig folgt«83, sprechen kann, ist zu bezweifeln.
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Zur Urteilskritik im Einzelnen § 10 II.2.c.aa. S. § 10 II.2.c.bb. Herzog, FS Sendler, 1991, S. 17, 18.; s. bereits § 10 II.2.b.
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b. Spezifische Risiken verdeckter Rechtsfortbildungen Hinzu kommt, dass auch verdeckte Rechtsfortbildungen ihre Risiken haben. Diese sind bereits von Heck thematisiert worden. Er äußerte Verständnis, wenn Gerichte versuchten, namentlich auf Gebieten erbitterter Kämpfe den Parteien gegenüber den Schein einer größeren Objektivität zu wahren, glaubte aber, dass auch in solchen Lagen die Nachteile überwiegen würden84: »Wenn die Täuschung der beteiligten Lebenskreise wirklich gelingt, das ist der günstigere Fall, dann sehen sie zugleich in dem Urteile ein Zeugnis für Formalismus und Lebensfremdheit der Gerichte. In der Regel werden sie aber die Verkleidung durchschauen. Dann werden sie nicht nur ein Unrecht empfinden, sondern sie werden in der Verkleidung einen Beweis dafür sehen, daß das Gericht mit Bewußtsein ungerecht entschieden und deshalb unrichtige Gründe vorgespiegelt hat«. Erkannte verdeckte Rechtsfortbildungen eines Gerichts werden in der Praxis als unwürdiger Taschenspielertrick, als charakterlose Unredlichkeit und als Sakrileg empfunden85. Derartige Rechtsfortbildungen können zu einem weitreichenden Akzeptanzverlust und zu offener Opposition bei den Interessenverbänden führen. Auf Dauer können sie grundlegende Legitimationskrisen der sie verwendenden Gerichte bewirken. c. Zum »Ideologieschutz« Erforderlich sind verdeckte Rechtsfortbildungen der Gerichte nie, um ideologischer Einflussnahme und Kritik zu begegnen. Die Gerichte sind institutionell unabhängig. Selbst grob unangemessene Anfeindungen müssen Richter »aushalten«, solange sich diese noch im Rahmen des rechtlich Zulässigen bewegen. Wo Gerichte eigene Interessenbewertungen vornehmen, haben sie die Verantwortung für ihre rechtspolitischen Entscheidungen zu übernehmen. Gesetzesvertretende Rechtsfortbildungen dürfen entgegen Seiter selbst dann nicht »auf leisen Sohlen« entwickelt werden86, wenn deutliche Schritte die Interessenverbände aufwecken würden. Auch als Instrument des richterlichen Selbstschutzes gegen Lobbyisten sind verdeckte Rechtsfortbildungen nicht zu rechtfertigen.
2. Vermeidung untragbarer gesetzlicher Folgen Das Argument, der Richter müsse das Gesetz »überlisten«, um untragbare Folgen zu vermeiden, trifft ebenfalls nicht zu. Heute sieht man die Rechtsfortbildung grundsätzlich als legitime Aufgabe der Zivilgerichte. Inakzeptable Konsequenzen der Gesetze lassen sich daher gleichermaßen durch offene Fortbildungen des Gesetzesrechts verhindern. Im Übrigen sind gesetzliche Folgen allein dann »untragbar«, wenn die Voraussetzungen für eine Rechtsfortbildung tatsächlich vorliegen, wenn diese also mit Gründen gerechtfertigt werden kann. Freilich
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Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 99 f. Hierzu bereits § 1 I.5. Seiter, FS Baur, 1981, S. 573, 576; s. oben I.1.a.bb.
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IV. Resümee
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erfordern Rechtsfortbildungen einen größeren Begründungsaufwand als bloße Scheindeduktionen. Das dürfte der eigentliche, nicht offen gelegte Grund dafür sein, »listiges« Verhalten des Richters zu befürworten.
IV. Resümee Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen ermöglichen eigenständige Interessenbewertungen des Rechtsanwenders im Gewand einer Anwendung der Gesetze. Sie versehen gesetzesfremde gerichtliche Entscheidungen mit dem Schein der gesetzgeberischen Billigung. Solange die Fortbildung des Gesetzesrechts dem Richter offiziell verboten war, sind verdeckte Rechtsfortbildungen praktisch unverzichtbar gewesen. Täuschungen und Tricks waren wegen der in früheren Jahrhunderten verbreiteten gesetzlichen Interpretations- und Fortbildungsverbote notwendig, um überkommene Gesetze an neue Gegebenheiten anzupassen. Mittlerweile ist die Befugnis des Richters, das zivile Gesetzesrecht fortzubilden, seit vielen Jahrzehnten im Grundsatz allgemein anerkannt. Dass Rechtsfortbildungen besonderen Begründungsanforderungen unterliegen, entschuldigt keine pragmatischen Ausflüchte und Verdeckungsstrategien. Seit offene Rechtsfortbildungen möglich sind, können verdeckte Rechtsfortbildungen nicht mehr gerechtfertigt werden. Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen sind Relikte einer Zeit, die nicht mehr die unsere ist. Sie erscheinen – um mit Topitsch zu sprechen – als Reste eines archaischen, mythischen, symbolhaften und vorwissenschaftlichen Denkens, welches sich pathetischer Kult- und Prestigeformeln und willkürlich manipulierbarer Leerformeln bediente87, oder auch als Metaphysik im abwertenden neuzeitlichen Verständnis88, wie es sich etwa bei Walch, Zedler, Nietzsche, Carnap und Wittgenstein findet89. Verdeckte Rechtsfortbildungen sind mithin abzulehnen. 87 Topitsch, in: Probleme der Wissenschaftstheorie, FS Kraft, 1960, S. 233 ff., 244, 264; ders., Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, 1958, S. 5 ff., 291 ff.; hierzu bereits § 9 V.6. 88 Überblick zum pejorativen Gebrauch des Begriffes Metaphysik in der deutschen Aufklärung sowie im 19. und 20. Jahrhundert bei Rentsch, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5, 1980, Stichwort »Metaphysikkritik«, I., Sp. 1285 ff. 89 Walch definiert Metaphysik um 1721 als ein »philosophisches Lexikon dunkler Kunstwörter, das nicht den geringsten Nutzen schafft«, s. Redaktion für Philosophie des Bibliographischen Instituts (Hrsg.), Schülerduden Philosophie, 1985, Stichwort »Metaphysik«, S. 263, 264. Ähnlich heißt es bei Zedler, Grosses vollständiges Universal Lexicon, Zwanzigster Band, 1739, Sp. 1259 zum Stichwort »Metaphysick«: » … ein elendes Wörterbuch …. Diese scholastische Metaphysick ist ein philosophisches Lexikon dunckler Kunst-Wörter, vor diejenigen, die lieber dunckel als deutlich reden wollen«. Nietzsche spricht vom »Unsinn aller Metaphysik«, welche »in der Sprache und den grammatischen Kategorien sich einverleibt und dermaaßen unentbehrlich gemacht hat, daß es scheinen möchte, wir würden aufhören, denken zu können, wenn wir auf diese Metaphysik Verzicht leisteten«, s. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Sommer 1886 – Frühjahr 1887, 6 (13), in: Colli/Montinari (Hrsg.), Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Band 12, 1980, S. 237. Carnaps Aphorismus »Metaphysiker sind Musiker ohne musikalische Fähigkeiten« ist zu einem philosophischen Gemeinplatz geworden. Wittgenstein nimmt die Metaphysik gar ganz vom Tableau der Philosophie: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen«, s. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Logisch-philosophische Abhandlung (1921), Satz 7, in: Ludwig Wittgenstein, Schriften 1, 1969, S. 83; s. auch Sätze 6.522 und 6.53, a.a.O., S. 82.
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§ 11 Verdeckte Rechtsfortbildungen – Für und Wider
V. Eine reine Frage der Ethik? Die Beschäftigung mit dem Für und Wider verdeckter Rechtsfortbildungen hat noch zu einer weiteren, bemerkenswerten Erkenntnis geführt: Weder die Gegner noch die Befürworter verdeckter Rechtsfortbildungen im Schrifttum argumentieren mit Rechtsnormen. Sie begründen ihre jeweiligen Positionen allein mit ethischen oder pragmatisch-tatsächlichen Erwägungen. Dass verdeckte Rechtsfortbildungen als Frage der Ethik diskutiert werden, ist hervorzuheben, weil Juristen sich regelmäßig erst dann auf sittlich-moralische Gebote berufen, wenn sie über keine entsprechenden rechtlichen Vorgaben verfügen. Verdeckte Rechtsfortbildungen sind indessen nicht nur eine tatsächliche, sondern gleichermaßen eine rechtliche Problematik. Sie werfen zahlreiche Rechtsfragen auf90, die bislang noch nicht im Zusammenhang betrachtet und erörtert worden sind.
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S. bereits 2. Teil vor § 6.
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3. Teil
Rechtsfragen verdeckter Rechtsfortbildungen
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§ 12 Überblick zur rechtlichen Problematik I. Zum Diskussionsstand Die Auseinandersetzung über verdeckte Rechtsfortbildungen wird nicht durch gesetzliche Regelungen und spezifisch juristische Argumente geprägt.
1. Tatsächliche und rechtliche Fragen Es hat sich gezeigt, dass verdeckte Rechtsfortbildungen im Schrifttum allein mit »außerrechtlichen«, ethischen bzw. tatsächlich-pragmatischen Erwägungen beurteilt werden1. Verdeckte Rechtsfortbildungen stellen sich gegenwärtig in der Fachliteratur als eine rein tatsächliche Problematik dar. Will man Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen normativ untersuchen und die für sie geltenden rechtlichen Maßstäbe aufzeigen2, dann muss man freilich auch die konkreten materiellrechtlichen, rechtstheoretischen und zivilprozessualen Rechtsfragen in den Blick nehmen, die verdeckte Rechtsfortbildungen aufwerfen. Diese Rechtsfragen sind bislang im hier interessierenden Zusammenhang nicht gestellt worden. Manche der zu behandelnden Fragen haben in anderen Kontexten schon Antworten gefunden, die möglicherweise trotz eines abweichenden Anlasses und Hintergrundes auch für verdeckte Rechtsfortbildungen Geltung beanspruchen können. In einer Gesamtschau sind die für verdeckte Rechtsfortbildungen einschlägigen Rechtsfragen bisher nicht untersucht worden. Der konkreten Untersuchungsperspektive konnte in der bisherigen Diskussion noch keine Rechnung getragen werden.
2. Verdeckte Rechtsfortbildungen als »Grenzthema« Verdeckte Rechtsfortbildungen bilden das Gesetzesrecht im Gewand seiner scheinbaren Auslegung und Anwendung fort. Sie sind durch rechtliche Begründungen gekennzeichnet, die den normativen Vorgaben der Entscheidungsfindung entgegen dem vermittelten Eindruck nicht zu entnehmen sind3. Gesetze sind keine bloßen Legitimationsmittel für beliebige Ergebnisse, sondern inhaltlich bindende Entscheidungsvorgaben, so dass der Richter begründen muss, weshalb sein jeweiliges Einzelfallurteil in der Sache mit den Gesetzen vereinbar ist. Verdeckte Rechtsfortbildungen betreffen also die Entscheidungsfindung und die Entscheidungsbegründung4. 1 2 3 4
§ 11. Zu diesen Untersuchungszielen § 1 II. Vgl. bereits § 1 I.2.; 2. Teil vor § 6. § 1 I.2.; 2. Teil vor § 6.
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II. Begründetes Entscheiden in Rechtswissenschaft und Praxis
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Dementsprechend drehen sich die Rechtsfragen verdeckter Rechtsfortbildungen sowohl um das Finden als auch um das Begründen gerichtlicher Entscheidungen.
II. Begründetes Entscheiden in Rechtswissenschaft und Praxis Das Zusammenspiel von Entscheidung und Begründung hat bisher in der Rechtswissenschaft keine große Aufmerksamkeit gefunden. Die Frage, wie zivilrechtliche Entscheidungen zu finden und zu begründen sind, beantworten unterschiedliche juristische Disziplinen jeweils nur in Teilbereichen5.
1. Die herkömmliche Aufteilung des Stoffes Herkömmlicherweise werden die Rechtsfindung einerseits und sonstige Fragen der Entscheidungsfindung sowie der Begründung andererseits von verschiedenen juristischen Fächern behandelt. Den Weg zur Entscheidung zeigen die juristischen Methodenlehren auf6, deren Schwerpunkt seit jeher bei den Regeln für die Rechtsfindung, also bei der Ermittlung der normativen Vorgaben der Entscheidung liegt. Wie der Sachverhalt zu bilden ist und was beim Begründen der gefundenen Entscheidung zu beachten ist, beantwortet das Prozessrecht. Dementsprechend beschäftigt sich das zivilprozessuale Schrifttum nicht näher mit der Rechtsfindung und verweist insoweit auf die juristische Methodenlehre7. Aber auch die Entscheidungsbegründung wird in der Prozessrechtswissenschaft nicht umfassend thematisiert. Lediglich einige Auslegungsfragen der §§ 313 Abs. 1 Nr. 6 i. V. m. Abs. 3, 313 a Abs. 1 S. 2, 286 Abs. 1 S. 2, 540, 547 Nr. 6 ZPO werden vertiefend erörtert. Konkrete Empfehlungen zur Abfassung der schriftlichen Entscheidungsgründe und zu einzelnen Formulierungsfragen finden sich in der Referendarausbildungsliteratur und in den Anleitungsbüchern für Praktiker, die man zum prozessualen Schrifttum im weiteren Sinne rechnen kann. Die aktuellen Auflagen der Anleitungsbücher enthalten ebenfalls fast durchgängig Nichts zur Rechtsfindung8. Eine Sonderstellung nimmt insoweit der Sattelmacher bzw. Daubenspeck 5
Hierzu schon § 1 I.3. Die praktische Jurisprudenz, die von Vielen Dogmatik genannt wird, bietet demgegenüber konkrete Entscheidungsvorschläge bzw. fertige Ergebnisse an, weist aber keinen (allgemeinen) Weg, der zu Entscheidungen führt. 7 Vgl. statt vieler Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl. 2004, § 131 Rn. 25 bis 33 sowie die Literaturnachweise vor Rn. 25. 8 Zur Entscheidungsfindung tragen sie ebenso maßgeblich wie ausschließlich durch die Hinweise zur Ordnung des Prozessstoffes im Wege der Relation bei, s. hierzu eingehend § 10 IX.5. Im Übrigen beschränken sich die Autoren im hier interessierenden Zusammenhang auf Ratschläge und Anweisungen zum Abfassen der Entscheidungsgründe, s. Anders/Gehle, Das Assessorexamen im Zivilrecht, 8. Aufl. 2005, Rn. 218 ff.; Furtner, Das Urteil im Zivilprozess, 5. Aufl. 1985, S. 414 ff., insb. S. 445 f.; U. Gottwald, Das Zivilurteil, 1999, S. 62; M. Huber, Das Zivilurteil, 2. Aufl. 2003, Rn. 373 ff.; Knöringer, Die Assessorklausur im Zivilprozess, 11. Aufl. 2005, S. 80 ff.; Nordhues/Trinczek, Technik der Rechtsfindung, 6. Aufl. 1994, S. 80 f.; Siegburg, Einführung in die Urteilstechnik, 5. Aufl. 2003, Rn. 574 ff.; W. Zimmermann, Klage, Gutachten und Urteil, 18. Aufl. 2003, Rn. 473 ff. 6
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§ 12 Überblick zur rechtlichen Problematik
ein, in dem sich seit langem ein über die Jahrzehnte erheblich ausgebauter, häufig umbenannter Abschnitt über Methoden bzw. Einzelregeln der Rechtsfindung findet9. Ansonsten hat die Unterweisungsliteratur für die Rechtspraxis heute aber ausschließlich die Darstellung einer bereits gefundenen Entscheidung zum Gegenstand. Sie setzt bei ihren Ausführungen zur Begründung einer Entscheidung – wie das prozessrechtliche Schrifttum – ein feststehendes Ergebnis voraus. Zuständig für die Regeln zur Ermittlung dieses Ergebnisses ist auch hiernach die juristische Methodenlehre als »Theorie der praktischen Rechtsfindung«10. Die traditionelle Methodenlehre und die Dogmatik sind demgegenüber ganz auf die als Rechtsfindung verstandene Entscheidungsfindung fixiert. Begründungsfragen sind im Universitätsunterricht Fragen der Subsumtion und des Gutachtenstils. Die Begründung gerichtlicher Entscheidungen spielt im gegenwärtigen akademischen Ausbildungskonzept keine erwähnenswerte Rolle. Es ergibt sich: Das prozessrechtliche Schrifttum verweist für die Entscheidungsfindung auf die juristische Methodenlehre und behandelt die Entscheidungsbegründung nur am Rande. Das Aufstellen konkreter Entscheidungsbegründungsregeln überlässt die deutsche Prozessrechtswissenschaft der Praktikerausbildungs- und Anleitungsliteratur, welche bei ihren teils pragmatischen, teils doktrinären Empfehlungen zur Abfassung von Entscheidungen wie das prozessrechtliche Schrifttum ein bereits gefundenes Ergebnis voraussetzt. Das prozessrechtliche Schrifttum behandelt mithin am Rande ausgesuchte Rechtsfragen der Entscheidungsbegründung, während die traditionellen Methodenlehren eingehend die Rechtsfindung diskutieren, die Begründung von Entscheidungen aber nicht berücksichtigen.
2. Urteilen als begründetes Entscheiden Das überrascht, weil Urteilen in Deutschland spätestens seit dem 19. Jahrhundert11 grundsätzlich begründetes Entscheiden ist. »Unsre Zeit … will für jedes 9 Sattelmacher/Sirp/Schuschke, Bericht, Gutachten und Urteil, 33. Aufl. 2003, Rn. 151 ff. (Arbeit an der Norm); s. zum Vergleich auch Sattelmacher/Sirp, Bericht, Gutachten und Urteil, 29. Aufl. 1983, S. 9 ff. (Methode der Rechtsfindung), 32 ff. (Arbeit an der Norm); Sattelmacher/ Lüttig/Beyer, Bericht, Gutachten und Urteil, 19. Aufl. 1950, S. 27 ff. (Auffindung des Rechtssatzes); Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 15. Aufl. 1937, S. 38 ff. (Bestimmung des Rechtssatzes); Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 14. Aufl. 1934, S. 119 ff. (Prüfung der Rechtsgrundlagen des Anspruchs), wie in allen Vorauflagen noch im Abschnitt über das Rechtsgutachten bzw. Votum; Sattelmacher, Bericht, Gutachten und Urteil, 13. Aufl. 1930, S. 119 ff. (Prüfung der Rechtsgrundlagen des Anspruchs); Daubenspeck, Referat, Votum und Urteil, 11. Aufl. 1911, S. 95 ff. (Rechtliche Erörterungen); Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 5. Aufl. 1894, S. 73 f. (Rechtliche Erörterungen); Daubenspeck, Referat, Votum und Urtheil, 1884, S. 54 (Rechtliche Erörterungen). 10 So etwa Sattelmacher/Sirp, Bericht, Gutachten und Urteil, 31. Aufl. 1989, S. 9. 11 Einführend zur Geschichte der schriftlichen Urteilsbegründung und der sich seit dem 18. Jahrhundert durchsetzenden Pflicht, den Parteien die Entscheidungsgründe mitzuteilen Werkmüller, in: Erler/Kaufmann/Werkmüller (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, V. Band, 1998, Stichwort »Urteilsbegründung«; Sprung, in: Sprung/König (Hrsg.), Die Entscheidungsbegründung in europäischen Verfahrensrechten und im Verfahren vor internationalen Gerichten, 1974, S. 43 ff. mit Nennung der Prozessordnungen der deutschen Territorien; Sellert, in: Dilcher/Diestelkamp (Hrsg.), Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey, 1986, S. 97 ff.;
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II. Begründetes Entscheiden in Rechtswissenschaft und Praxis
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Urtheil, sei es in bloß fingirten, sei es in wirklichen Fällen, Entscheidungsgründe«, so heißt es etwa beim jungen Lorenz (von) Stein: »Sie … will, daß man nicht bloß das Richtige treffen, sondern auch wissen soll, dass man es getroffen habe; … jeder Jurist soll … ein zugleich richtiges und begründetes Urtheil haben«12. Heute spricht man lieber von vertretbarer Begründung als von richtiger Entscheidung13. Das ist Ausdruck gewandelter methodologischer Grundüberzeugungen, die den praktizierenden Juristen nicht zwangsläufig voll bewusst sein müssen und folgendermaßen umschrieben werden können: Juristisches Urteilen wird nicht (mehr) als reines Erkenntnisproblem begriffen, sondern auch als Auswahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten. Sind aber mehrere Lösungen von Rechts wegen zulässig14, dann kommt der Begründung ein ganz anderer Stellenwert für die Entscheidungsfindung und für die Entscheidungsbewertung zu. Anhand des Ergebnisses lässt sich allenfalls in evidenten Fällen feststellen, dass eine Entscheidung die »richtige« ist, wobei diese Feststellung zusätzlich voraussetzt, dass allein das konkret gewählte Ergebnis rechtlich begründbar ist. In allen anderen Konstellationen geht es demgegenüber darum, ob die Entscheidung unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben methodisch »richtig« hergeleitet, ob sie also vertretbar begründet wurde. Dass ein Ergebnis rechtlich begründet werden könnte, dass es zu mehreren rechtlich richtigen Lösungen zählt, genügt noch nicht, um die getroffene zu der richtigen Entscheidung zu machen. Die Begründung – und nicht das Ergebnis oder dessen Begründbarkeit – entscheidet darüber, ob die Entscheidung vertretbar und damit »richtig« ist. Die Entwicklung ist von dem allein richtigen Ergebnis zur vertretbaren Begründung gegangen. Deshalb sind die zitierten Sätze des Lorenz Stein von 1841 aus heutiger Sicht wie folgt zu ergänzen: Kennen die Adressaten einer Entscheidung deren Begründung nicht, so können sie nicht einmal überprüfen, ob die Entscheidung (methodisch) »richtig« ist. Eine Methodenlehre, die sich allein mit der Entscheidungsfindung beschäftigt und die Entscheidungsbegründung als rein prozessrechtliches oder praktischhandwerkliches Thema sieht, erscheint heute so wenig zeitgemäß wie eine Urergänzende Angaben bei Hocks, Gerichtsgeheimnis und Begründungszwang, 2002, S. 1 f. mit einem Überblick über den Forschungsstand auf S. 8 ff. und einer Zusammenfassung seiner Ergebnisse auf S. 189 ff.; Kirchner, FS Rammos, Band I, 1979, S. 399 ff.; informative Gesamtschau bei Kischel, Die Begründung, 2003, S. 16 ff., insbesondere S. 25 ff.; Hattenhauer, Die Kritik des Zivilurteils, 1970, S. 14 ff.; ders., in: Hof/Schulte (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht III, 2001, S. 25; Schlüter, Das obiter dictum, 1973, S. 7 ff. 12 L. Stein, Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst 1841, 397, 398, im Rahmen seines wohl in Vergessenheit geratenen Besprechungsaufsatzes zu Savignys System des heutigen römischen Rechts, a.a.O. ab S. 365 ff. mit zahlreichen Fortsetzungen und immer noch lesenswerter grundsätzlicher Kritik der Position Savignys. 13 Der Begriff »vertretbar« wird allerdings uneinheitlich verwendet und nicht nur auf die Begründung (»lässt sich hören«), sondern teilweise auf das Ergebnis einer rechtlichen Prüfung bezogen. Dann besagt er lediglich, dass es rechtliche Gründe für eine bestimmte Lösung gibt, dass diese rechtlich begründbar ist. 14 Die rechtstheoretische These, das geltende Recht gebe für jeden denkbaren Fall stets eine einzige richtige Antwort vor (»one right answer thesis«), ist offensichtlich ein »unrealistisches Dogma juristischer Metaphysik«; eingehend zu verschiedenen Spielarten dieser These C. Fischer, ZfA 2002, 215, 225 ff.
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§ 12 Überblick zur rechtlichen Problematik
teilskritik, die allein auf den Tenor blickt und die Entscheidungsgründe unberücksichtigt lässt. Freilich gilt gleichermaßen: Wer nur auf die Begründung schaut, ohne ergebnisleitende normative Entscheidungsvorgaben in den Blick zu nehmen, verfügt über keinen konkreten inhaltlichen Maßstab, um die Begründung zu bewerten. Seine Beurteilung bleibt zwangsläufig formal. Da Urteilen begründetes Entscheiden ist, erscheint es lohnend, gängige methodische Vorstellungen über das Urteilen kurz und schlaglichtartig auf das ihnen zugrunde liegende Verhältnis von Entscheidung und Begründung zu untersuchen. Es besteht eine bislang kaum thematisierte Verknüpfung zwischen bestimmten Entscheidungsfindungs- bzw. Rechtsfindungstheorien und den mit ihnen verbundenen Begründungskonzepten15.
3. Die traditionelle »Entscheidungsfindungsmethodik« Die herkömmlichen Methodenlehren sind – wie bereits gesagt – ganz der Rechtsfindung gewidmet. Sie gehen traditionell der Frage nach, wie das Recht gefunden und zutreffend angewendet wird. Fragen der Begründung der Entscheidung werden von der klassischen »Entscheidungsfindungsmethodik«16 allenfalls am Rande behandelt17. a. Einzelne Entscheidungsfindungslehren Freilich verbergen sich hinter der Bezeichnung »Entscheidungsfindungsmethodik« sehr unterschiedliche rechtstheoretische Positionen18, die sich mit den Schlagworten Justizsyllogismus, »juristischer Naturalismus«19 (Teile der Freirechtslehre, Interessenjurisprudenz, soziologische Jurisprudenz), institutionelles Rechtsdenken, Naturrechtsdenken, Wertungsjurisprudenz, Topik, Hermeneutik, 15 S. aber Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 16 f., 81 ff., allerdings mit deutlichem Schwerpunkt auf den Theorien zur richterlichen Entscheidungsfindung. Er unterscheidet auf gut 180 Seiten und in über 60 Paragraphen wenig übersichtlich etwa 20 Positionen, die er teils als der Entscheidungsfindungsmethodik und teils als der von ihm so genannten Entscheidungsbegründungsmethodik zugehörig klassifiziert. Brink selbst will die Entscheidungsbegründung von der Entscheidungsfindung entkoppeln, a.a.O., S. 212 ff. Hinweise zur unterschiedlichen Funktion der Begründung in drei Grundtypen von Entscheidungsfindungsmodellen finden sich auch bereits bei U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 2 ff. 16 Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 17, 81. 17 Etwa von Wieacker, FS W. Weber, 1974, S. 421, 424 und 442, der davon spricht, dass Rechtsfindungsverfahren notwendig auch Begründungsverfahren seien, weil sich die rechtliche Entscheidung als ein Entscheiden aus Gründen darstelle (Hervorhebungen im Original). In der Sache erschöpfen sich seine Ausführungen zur Entscheidungsbegründung in dem Hinweis auf die §§ 549, 550 ZPO a. F., aus denen sich ergebe, dass die jeweilige Begründung als Bestimmungsgrund der Entscheidung eine allgemeine Regel erkennen lassen müsse; vgl. insoweit auch bereits Wieacker, in: Bubner/Cramer/Wiehl (Hrsg.), Hermeneutik und Dialektik, 1970, S. 311, 333 f. 18 Dass im Rahmen dieser Untersuchung das Hauptaugenmerk auf Methodenlehren gelegt wird, die Eingang in die zivilrechtliche Standardliteratur und in die Rechtspraxis gefunden haben, ist bereits dargelegt worden; s. zur Begründung hierfür § 1 I.6. 19 Zu diesem Begriff Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 562 f.
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II. Begründetes Entscheiden in Rechtswissenschaft und Praxis
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Folgenbetrachtung usw. andeuten lassen20. Diese im Laufe der Zeit vertretenen juristischen Entscheidungsmodelle sind durch unterschiedliche Vorstellungen zu Gesetzesbindung, Richterfreiheit und Rechtsquellenfrage geprägt. Es lassen sich deterministische, dezisionistische und gemischte Entscheidungsfindungslehren bzw. Richterbilder unterscheiden21. Diesen verschiedenen Lehren ist gemeinsam, dass sie Theorien der Rechtsfindung sind. Ihr Gegenstand sind die Faktoren, welche die richterliche Entscheidung bestimmen. b. Die verbundenen Begründungskonzepte Je nach dem Umfang, in dem rechtliche Vorgaben die Entscheidung des Rechtsanwenders prädestinieren, variieren die Funktionen der Begründung und mit ihnen die jeweiligen Begründungsgrundsätze. In deterministischen Entscheidungsfindungslehren ist für eigenständige Werturteile des Richters kein Raum; die Begründung hat allein die Aufgabe, die konkret einschlägigen Entscheidungsvorgaben zu nennen. Das positive Recht determiniert die Entscheidungsfindung und die Entscheidungsbegründung. In dezisionistischen Entscheidungsfindungsmodellen finden sich drei unterschiedliche Betrachtungen der Begründung: Sie ist aufgrund der Irrationalität der richterlichen Entscheidung überflüssig, verschleiert eine als willkürlich angesehene Entscheidung oder dient dazu, die tatsächlich bestimmenden, »wahren« Entscheidungsgründe anzuführen bzw. offen zu legen. Eine Zwischenstellung nehmen die gemischt deterministisch-dezisionistischen Entscheidungsfindungslehren ein. Sofern sie mit dem Anspruch auf eine rationale Begründung antreten, muss der 20 Überblick zu juristischen Methodenlehren und Methodenverständnissen im 20. Jahrhundert in Deutschland bei Kaufmann, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl. 2004, S. 26, 78 ff.; ders., Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1997, S. 28 ff.; Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, 10. Aufl. 2005, S. 275 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 49 ff., 84 ff., 119 ff.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 514 ff.; s. ergänzend zu einzelnen Epochen Pawlowski, Einführung in die juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2000, Rn. 156 ff., 176 ff.; Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 518 ff., 546 ff., 610 ff.; Rückert, in: Nörr/Schefold/Tenbruck (Hrsg.), Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik, 1994, S. 267 ff.; ders., in: Acham/Nörr/Schefold (Hrsg.), Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste, 1998, S. 113 ff.; U. Neumann, in: D. Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, 1994, S. 145 ff. 21 Frei nach U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 2 f.; s. zum Begriff des juristischen Determinismus auch Adomeit, ZRP 1970, 176; vgl. zum Dezisionismus und der angeblichen Verbindung von Dezisionismus und Normativismus im Positivismus auch C. Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, S. 24 ff., 29 ff., dessen Klassifizierung aber nicht auf die Entscheidung des Richters, sondern auf die Vorstellung vom Recht und seinem Geltungsgrund zielt, was bei den Ausführungen zum »dezisionistischen Typus« unter den Juristen die Frage nach dem Bezug zu seinem Thema aufwirft. – Für die hier verfolgten Zwecke ungeeignet ist demgegenüber die Differenzierung zwischen ableitenden und induktiven Rechtsfindungsverfahren bzw. zwischen deduktiv-axiomatischen und induktiv-pragmatischen Begründungsweisen, vgl. bei Wieacker, FS W. Weber, 1974, S. 421, 424 ff.; ders., in: Bubner/Cramer/Wiehl (Hrsg.), Hermeneutik und Dialektik, 1970, S. 311, 323 ff. Streng deduktive, axiomatische Rechtsfindungsmodelle gibt es praktisch nicht. Hinzu kommt, dass ein deduktiver Begründungsstil nicht zwangsläufig ein axiomatisches System voraussetzt und auch von den Vertretern verschiedener induktiver Rechtsfindungsmodelle propagiert wird.
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Richter nach ihnen sowohl die ihm vorgegebenen als auch die selbst gesetzten Wertentscheidungen in den Gründen mitteilen. In den einzelnen Varianten der traditionellen »Entscheidungsfindungsmethodik« kommt der Entscheidungsbegründung regelmäßig eine – meist nicht ausdrücklich artikulierte – dienende Aufgabe zu. Die Entscheidungsbegründung dokumentiert die für die gefundene Entscheidung rechtlich und tatsächlich maßgebenden Gründe. Da die Entscheidungsfindungsmodelle tatsächlich Rechtsfindungsmodelle sind, geht es faktisch vornehmlich um die rechtlichen und in der Abfolge der gängigen Lehren zunehmend auch um die außerrechtlichen Rechtsfindungsvorgaben. Die Entscheidungsbegründung folgt hier der Entscheidungsfindung22 bzw. – genauer – der Rechtsfindung. Die jeweils maßgebenden Rechtsfindungsfaktoren determinieren die Entscheidungsbegründung.
4. Stimmen aus der Praxis Demgegenüber wird in Praktikeräußerungen seit langem und verstärkt ab Beginn des 20. Jahrhunderts eine von der Entscheidungsfindung losgelöste, konstruierte Begründung propagiert: Die Entscheidung werde intuitiv gefunden und dann nachträglich in den Entscheidungsgründen aus dem Gesetz gerechtfertigt. a. »Zeugnisse praktischer Juristen« Eine beeindruckende, lesenswerte Sammlung entsprechender »Zeugnisse anderer praktischer Juristen« aus den Jahrzehnten um 1900 findet sich bei Isay, der Bekenntnisse von Otto Bähr, Josef Kohler, Ernst Fuchs, Max Gmür, Reichel, Mügel, Düringer, Gmelin, Wildhagen, des Präsidenten des Österreichischen Reichsgerichts Unger, der amerikanischen Richter Dillon und Cardozo sowie einer Vielzahl heute nicht mehr bekannter Reichsgerichts- und Oberlandesgerichtsräte zusammengetragen hat23. Als persönliches Erweckungserlebnis schildert Isay einen nachdenkenswerten Fall, der ihm zu Beginn seiner praktischen Tätigkeit als Referendar an der Zivilkammer eines Landgerichts einen unauslöschbaren Eindruck gemacht habe, und der die Tatsache hell beleuchte, dass die Entscheidung nicht aus der Norm, sondern aus ganz anderen Quellen hervorgehe24. 22
Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 17. Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 62 bis 65. 24 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 60 f.: Ein Volksschüler hatte beim Spielen auf dem Pausenhof mit einem Stein einen anderen Schüler so verletzt, dass dieser ein Auge verlor. Der Vater des Verletzten klagte aufgrund des damals geltenden Code civil gegen den Vater des Täters. Das Kollegium kam zu dem Ergebnis, dass der Junge während der Schulpause der Aufsicht des Lehrers unterstehe und den Vater daher für diese Zeit keine Aufsichtspflicht und somit auch keine Verantwortlichkeit treffen könne. Dementsprechend wurde die Urteilsformel niedergeschrieben, dass die Klage abgewiesen werde. Weiter heißt es wörtlich in dem Bericht von Isay: »Bevor das Kollegium das Beratungszimmer verließ, um das Urteil zu verkünden, erkundigte sich der Vorsitzende, Landgerichtspräsident P., der fast alle Eingesessenen seines Gerichtssprengels kannte, und den deshalb der Fall auch menschlich interessierte, nach der Person des Vaters. Als ihm mitgeteilt wurde, der Vater sei schon 65 Jahre alt und habe erst vor 8 Jahren geheiratet, erklärte er entrüstet, wenn ein so alter Mann noch ein Kind in die Welt setze, dann müsse er auch dafür bezahlen, nahm das Blatt mit dem Urteilstenor, zerriß es und eröffnete die 23
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Die Zitatenliste von Isay lässt sich fast beliebig verlängern25. Einige weitere ausgewählte Aussprüche genügen, um die in der Praxis verbreitete Vorstellung über das Verhältnis von Entscheidung und Begründung zu veranschaulichen. Nach Kantorowicz ist es der Wille, zu einer vorher gewissen Entscheidung zu gelangen, welcher die Auswahl der jene Entscheidung begründenden Gesetzesstellen in Wahrheit leite; das klassische Beispiel sei »Bartolus, der berühmteste aller Juristen, … von dem die Geschichte berichtet, er habe erst die Entscheidungen gemacht und dann von seinem Freunde Tigrinius die zu ihnen passenden Corpus-Juris-Stellen aufweisen lassen, »weil er wenig Gedächtnis besessen habe«26. Ihering wird nachgesagt, er habe, wenn ihm ein Fall zur Begutachtung oder Entscheidung vorgelegt worden sei, intuitiv das Ergebnis parat gehabt und anschließend zur Zigarre gegriffen, um sich die Begründung zu überlegen27. Nach Wüstendörfer, der eine soziologische Rechtswissenschaft forderte und Rechtsfindung als Politik bezeichnete28, hatten »geniale Juristen … wie Otto Bähr« selbst im späten 19. Jahrhundert, in dem das Zivilrecht theoretisch von den positivistischen Schulen dominiert wurde29, intuitiv die Entscheidung nach ihrem Rechtsgefühl gefunden und erst dann, mit innerlich gebundener Marschroute, den Weg der Konstruktion beschritten30. Bei Adolf Merkl heißt es, man habe sich von vornherein nur selten auf eine bestimmte Methode eingestellt: »Diese Methode wird – so denkt man wohl, wenn man dabei überhaupt etwas denkt – diese Methode wird die Arbeit mit sich bringen. Es wird jene Interpretationsmethode eingeschlagen, welche sozusagen »der einzelne Fall erfordert« … Der Theoretiker macht es oftmals nicht anders als der Praktiker, von dem – für die Mehrzahl der Fälle wohl zutreffend – gesagt wurde, daß er zuerst die Entscheidung bei der Hand habe und dann die Gründe dafür suche«31. Max Hachenburg schwärmte in seinen Lebenserinnerungen vom »herzerfreuenden« Mannheimer Landgerichtsdirektor Ulrich32: »Er suchte, wenn Beratung von neuem, mit dem Ergebnis, daß nunmehr der Beklagte verurteilt werde«. Isay resümierte aufgrund von Selbstbeobachtungen: »Der Weg, auf dem hier die Entscheidung entstand, ist nicht etwa ein ungewöhnlicher gewesen. Nur die explosive Art, in der sich die Entstehung kundgab, mag ungewöhnlich gewesen sein«. – Aus heutiger Sicht wird man das geschilderte Vorgehen und die getroffene Entscheidung wohl nur als willkürlich bezeichnen können; ähnlich Sendler, FS Kriele, 1997, S. 457, 465 Fn. 24: »Zu denken geben muß freilich der an Willkür gemahnende Fall, von dem Isay – offenbar bewundernd-zustimmend – S. 61 berichtet«. 25 Nach Brink quillt die Literatur geradezu über »von Zeugnissen jener altgedienten Gerichtspräsidenten, die – mit dem Abstand des in den Ruhestands getretenen Connaisseurs – über die »wahren Bedingungen der Rechtsfindung« bei deutschen Gerichten »plaudern««, s. Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 197. 26 Gnaeus Flavius (Kantorowicz), Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906, S. 20 f. 27 Sendler, FS Kriele, 1997, S. 457, 465. 28 Wüstendörfer, AcP 110 (1913), 219, 378 und passim. 29 So jedenfalls die gängige Betrachtungsweise, s. etwa Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, §§ 23, 24. 30 Wüstendörfer, AcP 110 (1913), 219, 225; freilich seien sie in der Begründung oft über oberflächliche Schlagworte von naturrechtlichem oder formalistischem Gepräge nicht hinaus gekommen, weil dem Rechtsgefühl ein fester, legitimer Platz innerhalb der Methode der Rechtsfindung gefehlt habe, s. a.a.O., S. 226 und 224. 31 Merkl, GrünhutsZ 42 (1916), 535, 542 f. 32 Hachenburg, Lebenserinnerungen eines Rechtsanwalts und Briefe aus der Emigration, 1978, S. 89 f.
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nötig, im Einzelfall das Rüstzeug. Dagegen war er mit einem untrüglichen Gefühl für das Rechte ausgestattet. Er sagte mir mehrfach: »Ich frage mich immer erst, wohin meine Empfindung geht, das ist mein bester Kompaß. Die Gründe such ich mir nachher. Machen Sie´s auch nur so««. Hachenburg befolgte den Ratschlag: »Ich habe danach gehandelt und tue es heute noch. Bei jedem Gutachten suche ich das gerechte Ergebnis zuerst und dann die juristischen Argumente und denke an die Lehre des alten Ulrich«33. Ähnliche, verklärt wirkende Erlebnisberichte finden sich im Schrifttum der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zuhauf34. So heißt es beispielsweise bei Wildhagen35: »›Wenn Sie die Entscheidung nur erst haben, Gründe sind nachher wohlfeil wie Brombeeren‹ pflegte der Präsident des Oberlandesgerichts zu sagen, unter dem ich im Vorbereitungsdienst arbeitete. Er hatte recht«. Um 1960 teilte der Präsident des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften Donner mit, die strenge Logik spiele im Beratungszimmer nur eine untergeordnete Rolle36: »Die Erfahrung lehrt, daß eine logische Schlußfolgerung stets genau das ergibt, was bereits als Ausgangspunkt der Beweisführung gewählt worden ist«. Egon Schneider betont, dass das Finden der Entscheidung und ihre anschließende Begründung in der Praxis oft recht verschiedene Vorgänge seien37: »Denn wir argumentieren vom Ergebnis her«38. Rechtssystematische Erwägungen spielten bei der Entscheidung keine Rolle, wohl allerdings bei der schriftlichen Begründung im Urteil39. Man richte sich für das Ergebnis nach den sachlichen Umständen des Falles, gebe sich aber den Anschein, als ziehe man eine systematische Konsequenz40. Der ehemalige Präsident des Bundesgerichtshofs Heusinger charakterisiert Rechtsprechung als »finales Verhalten, ausgerichtet auf ein vernünftiges Ergebnis«41. Wenn ein Senat »vom Ergebnis her … ganz und gar nicht anders entscheiden mochte«, nehme er »auch etwas verquälte Sätze in Kauf, die den Einklang der Entscheidung mit überkommenem Gesetz und Recht leidlich herzustellen geeignet erschienen«42. Auch Verfassungsrichter Mahrenholz merkt an: »Das Gericht ist in Wahrheit auf das ihm richtig erscheinende Ergebnis aus«43. Der ehemalige Vizepräsident des
33 Hachenburg, Lebenserinnerungen eines Rechtsanwalts und Briefe aus der Emigration, 1978, S. 90. 34 Vgl. Isay, Rechtnorm und Entscheidung, 1929, S. 62 ff., der vergleichbare Schilderungen aus der eigenen Ausbildungszeit von Vierhaus, K. Schneider, Hallbauer, Ernst Fuchs und Wildhagen anführt. 35 Wildhagen, Der Bürgerliche Rechtsstreit, 1912, S. 66. 36 Donner, in: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Feierliche öffentliche Sitzungen 1959–1963, S. 50, 51. 37 E. Schneider, MDR 1967, 6, 10. 38 E. Schneider, MDR 1967, 6, 7. 39 E. Schneider, MDR 1967, 6, 10. 40 E. Schneider, MDR 1967, 6, 7. 41 Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung, 1975, S. 5. 42 Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung, 1975, S. 9 (Hervorhebungen im Original). 43 Mahrenholz, in: Schneider/Steinberg (Hrsg.), Verfassungsrecht zwischen Wissenschaft und Richterkunst, 1990, S. 53, 60 (Hervorhebungen im Original).
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Bundesarbeitsgerichts Dirk Neumann hat das häufig thematisierte Auseinanderfallen von Entscheidung und Begründung unter dem Titel »Urteilskünste«, gestützt auf Heinrich Lehmann, sogar öffentlich als anzustrebendes Ideal gepriesen: Der »wirkliche Richter« sehe den Fall, überlege die Lösung und suche dann im Gesetz die passende Begründung44. Manchen der genannten Praktiker mag es nur darum gegangen sein, die zentrale Rolle des richterlichen Vorverständnisses, des entwickelten Judizes, mit kräftigen Worten herauszustellen. Auch ihre nicht näher ausgeführten Äußerungen wirken aber wie eine Anweisung zu bewussten Scheinbegründungen, zur Camouflage der Entscheidungsgründe durch eine vorgeschobene Begründung. b. Theoretische Rechtfertigungen Eingehender ist die Trennung von Entscheidung und Begründung insbesondere durch einige Praktiker behandelt worden, die der sog. Freirechtslehre zugerechnet werden45; wenngleich eine kritische Analyse der – durchaus unterschiedlichen – (rechts-)philosophischen Prämissen dieser Bewegung noch aussteht46, sind jedenfalls Bezüge zum Voluntarismus47 und zum Emotionalismus bzw. Irrationalismus48 unübersehbar. Am ausführlichsten mit der Thematik beschäftigt hat sich Isay49, der in »Rechtsnorm und Entscheidung« ausdrücklich die moderne Phänomenolo-
44 D. Neumann, FS Dieterich, 1999, S. 415, 427; kritisch hierzu § 10 IV.2.b.aa. und VIII.2.b. und c. Zöllner spricht von »jene(r) seltsamen(n) Erscheinung, daß immer mehr Richter überzeugt davon sind, das Recht aus dem Fall finden zu können, nicht aus dem Gesetz«, s. Zöllner, AcP 188 (1988), 85, 88 Fn. 9 (Hervorhebungen im Original). Unter dem Einfluss des Existenzialismus ist sogar vertreten worden, die richtige, alle Besonderheiten des Falles berücksichtigende Entscheidung könne nie in einer generellen Norm, sondern stets nur in der sorgfältig analysierten Wirklichkeit des konkreten Falles selbst gefunden werden, s. Cohn, Existenzialismus und Rechtswissenschaft, 1955; dagegen treffend Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 258 f.: »… nur eine Spielart der Naturrechtslehre und wie diese der aussichtslose Versuch eines logisch unmöglichen Schlusses von dem Sein auf das Sollen«. 45 Vgl. etwa Wildhagen, Der bürgerliche Rechtsstreit, 1912, S. 63 ff. 46 Krawietz, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, 1972, Stichwort »Freirechtslehre«, Sp. 1102. 47 Eine Verknüpfung von Voluntarismus und Freirechtslehre wird etwa festgestellt bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 59 ff. 48 Der häufig zur Charakterisierung der Freirechtslehren verwendete Terminus »Irrationalismus« ist aufgrund seines heutigen polemischen Gebrauchs nur noch mit einschränkenden Hinweisen zur Kennzeichnung geeignet; zur wechselvollen Geschichte des Begriffs und zum ursprünglichen, selbst Vernunftansprüche erhebenden Verständnis von Irrationalismus Mittelstraß, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 2, 1984, Stichwort »irrational/Irrationalismus«. 49 Isay wird überwiegend der Freirechtsschule zugerechnet, worüber man freilich trefflich streiten kann, vgl. etwa Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 61; Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 610; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 581 Rn. 58; ablehnend Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 112; differenzierend Roßmanith, Rechtsgefühl und Entscheidungsfindung, 1975, S. 54 f., 77, 90, 118 ff., m.w.N. aus dem Schrifttum auf S. 116 f.
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gie50 und dabei insbesondere das »Wertfühlen« Max Schelers51 zugrunde legte52. Die Entscheidung, deren Wesen sich nicht rational erfassen lasse53, sei »ein Akt des Wollens auf der Grundlage eines Wertfühlens«54. Sie könne auf zwei Wegen geschaffen werden: Entweder werde zunächst durch die konstruktive Phantasie die Ordnung des Falles gefunden und diese alsdann von dem Wertfühlen auf die Werte der Gerechtigkeit und Nützlichkeit hin geprüft55; oder es werde in einem einheitlichen Akt sofort die aufgrund des Rechtsgefühls und des Nützlichkeitsgefühls evident richtige Ordnung »erschaut«56. Dieses »schöpferische Erschauen« bezeichnete Isay auch als Intuition57, worunter er »eine geistige Kraft, die selbständig neben der des Verstandes steht« verstand, die »einem Kraftüberschuss der Persönlichkeit« entspringe58. Das »schöpferische Erschauen«, das sich auch in den zahlreichen Zeugnissen hervorragender Juristen zeige, erzeuge die Entscheidungen59. Die Frage nach der »anzuwendenden« Norm komme erst hinterher60. Die Rechtsnorm wirke ausschließlich bei der Begründung61, welche die Normativität der auf »irrationalem« Wege aus dem Rechtsgefühl entstandenen Entscheidung darzulegen habe62. Dabei verstand Isay unter »Normativität der Entscheidung« ihre Fähigkeit, »von einer Norm abgeleitet und als durch Ableitung von einer Norm entstanden gedacht zu werden«63. Dass diese Begründbarkeitsprüfung in Isays Konzept eine wirksame rationale Kontrolle gegenüber »der durch das Rechtsgefühl gefundenen Entscheidung« darstellt64, erscheint angesichts der Dominanz der »irrationalen Gründe der Entscheidung«65 zweifelhaft: »In der »Aus50 Überblick zur Philosophie von E. Husserl bei Landgrebe, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 7, 1989, Stichwort »Phänomenologie«, II., Rn. 490 ff.; zu weiteren Vertretern eines phänomenologischen Denkens Janssen, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 7, 1989, Stichwort »Phänomenologie«, III., Sp. 498 ff. 51 Hierzu einführend Janssen, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 7, 1989, Stichwort »Phänomenologie«, III., Sp. 500 f.; Nierwetberg, ARSP 69 (1983), 529, 542 ff. 52 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 40 ff., 50 f., 56 ff.; Roßmanith sieht die Grundlage dieser Theorie in der Überzeugung von der Existenz absoluter Werte und bezeichnet Isays Rechtstheorie als den Versuch einer irrationalistischen Naturrechtslehre, s. Roßmanith, Rechtsgefühl und Entscheidungsfindung, 1975, S. 60; zur politischen Funktion dieser Theorie Roßmanith, a.a.O., S. 70 ff., 93. 53 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 40. 54 Zusammenfassend Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 82, im Einzelnen S. 56 ff. 55 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 67. 56 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 68. 57 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 68. 58 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 77, wo es auch heißt, dass die Herrschaft des Verstandes die Intuition töte, wie die zunehmende Rationalisierung die Persönlichkeit ertöte. 59 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 68 f. 60 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 62. 61 Zusammenfassend Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 338 f. 62 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 40, 60 ff., 164, 174, 177, 335 und passim. 63 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 165. 64 In diesem Sinne in der Auseinandersetzung mit Gegenstimmen Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 94 f.; s. auch a.a.O., S. 174, wo die in dem Zwang zum logischen Durchdenken der gefundenen Entscheidung liegende Selbstzucht betont wird. 65 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 339.
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legung« der Gesetze ist der Richter frei, und diese »Auslegung« dient dazu, gesetzliche Normen, die dem Rechtsgefühl des entscheidenden Richters für die »Anwendung« auf den individuellen Fall nicht entsprechen, auszuschalten«66. Zudem ist zu berücksichtigen, dass sich Isay eine Äußerung von Mügel zur Begründung zu Eigen macht, die er als »sehr zutreffend« sogar wörtlich zitiert67: »Ein Richter, der das ganze Rüstzeug der Rechtswissenschaft mitbringt, wird nicht leicht in die Lage kommen, zu erklären, daß er die Entscheidung, die sein Rechtsgefühl fordert, nicht wissenschaftlich begründen könne«68. An anderer Stelle heißt es bei Isay: Die »Begründung« sei eine Fiktion, die den Anschein vermittle, als ob die Entscheidung aus der Norm abgeleitet sei, während in Wirklichkeit die Norm aus der Entscheidung abgeleitet werde69. c. Zwischenbilanz Festzuhalten ist, dass erfahrene Praktiker seit langem zwischen der Entscheidungsfindung und der von ihr losgelösten, konstruierten Begründung unterscheiden: Die intuitiv gefundene Entscheidung wird nachträglich in den Entscheidungsgründen irgendwie aus dem Gesetz gerechtfertigt. Eine theoretische Begründung für diese Trennung von Entscheidung und Begründung findet sich bei Isay. Ob sein Verständnis der Intuition als irrational zutrifft70, muss hier nicht entschieden werden.
5. Moderne Argumentationstheorien In der auf die Rechtsfindung fixierten Methodenlehre spielten Begründungsfragen lange Zeit keine große Rolle. Noch 1970 wurde die Begründung der Entscheidung von Adomeit als ganz vernachlässigter Forschungsbereich bezeichnet71. Die zunehmend verbreitete Erkenntnis, dass es in interessanten Rechtsfragen selten nur eine einzige richtige Lösung gibt, hat das wissenschaftliche Interesse seitdem auf die Entscheidungsbegründung gelenkt. Juristische Argu-
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Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 223. Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 354. 68 Exakt hat Isay indes nicht zitiert, s. Mügel, DRiZ 1924, 216, 217. Wörtlich lautet die sich auf den Richter beziehende Passage: »Wer aber das ganze Rüstzeug der Rechtswissenschaft mitbringt und die vielen Handhaben zu gebrauchen weiß, die Gesetz und Wissenschaft geben, um den Geist des Rechts mit seinem Buchstaben in Einklang zu bringen, wird nicht leicht in die Lage kommen, zu erklären, daß er die Entscheidung, die sein Rechtsgefühl fordert, nicht wissenschaftlich begründen könne.« 69 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 177. 70 Dagegen schon Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 111 und 118, wo es heißt, das intuitive Urteil selbst sei nicht irrational, sondern ein Niederschlag der Rechtskunde und Lebenserfahrung; ablehnend auch H. Westermann, Wesen und Grenzen der richterlichen Streitentscheidung im Zivilrecht, 1955, S. 13 f.; w. N. bei Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 117 f. – Zu berücksichtigen ist, dass die Begriffe »irrrational« und »Irrationalismus« im Laufe der Zeit mit unterschiedlichen Bedeutungen benutzt worden sind, was unter 4.b. bereits erwähnt wurde; s. hierzu nochmals Mittelstraß, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 2, 1984, Stichwort »irrational/Irrationalismus«. 71 Adomeit, ZRP 1970, 176, 180. 67
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mentations- und Begründungstheorien haben mittlerweile gewisse methodische Regeln für das Begründen juristischer Entscheidungen aufgestellt72. Die Argumentationstheorien beschäftigen sich ausdrücklich nicht mehr mit der Herstellung, sondern nur noch mit der richtigen Darstellung der richterlichen Entscheidung. Allgemeine, von der Entscheidungsfindung unabhängige methodische Regeln für die richtige Begründung von Entscheidungen sind freilich nur auf hohem Abstraktionsniveau möglich, was etwa die gängigen Offenlegungs- und Aufrichtigkeitspostulate oder die verbreitete Forderung nach Sättigung der Argumentation belegen. Der konkrete Nutzen der »modernen« Argumentationstheorien und juristischen Begründungslehren für das »Alltagsgeschäft« des Rechtsanwenders wird daher verbreitet bezweifelt73.
6. Neuere Untersuchungen zur Begründung Dennoch ist vor kurzem in einer der wenigen bislang erschienenen Monographien über die Entscheidungsbegründung gefordert worden, diese von der Entscheidungsfindung zu entkoppeln74. Weiterhin hat Kischel eine – formelle – Begründungslehre entworfen75. a. Eine verselbständigte Begründungsmethodik Brink hält eine verselbständigte Begründungsmethodik für wissenschaftstheoretisch geboten76. Infolge Poppers Unterscheidung zwischen dem Entdeckungszusammenhang und dem Rechtfertigungszusammenhang77 sei »der bislang die Gedankenführung leitende, präsumtive Konnex von Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung durchtrennt«78. Weiter heißt es: Zwar »schließt die hier vertretene Ansicht eine Korrespondenz von Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung nicht aus; aber – und dies ist der entscheidende Punkt – sie verlangt eine solche Korrespondenz auch nicht, weder aus methodischen noch aus rechtlichen Gründen«79. Brink bezeichnet den »Wandel der Entscheidungsfindungs- zur Entscheidungsbegründungsmethodik« als zweiten Paradigmenwechsel der Rechtsmethodik80 und fordert eine Neubestimmung der Funktion der richterlichen Entscheidungsbegründung und der rechtsmethodischen Mit72 Vgl. zunächst nur Alexy, Argumentation, Argumentationstheorie, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 2/30, S. 1 ff.; ders., Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, S. 221 ff, insb. S. 361 ff.; U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986; Struck, Zur Theorie juristischer Argumentation, 1977. 73 Besonders deutlich Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 345, 348; s. auch Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1997, S. VII f. und 179 f. zu den »formalen« Argumentationstheorien. 74 Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 215 ff., 271. 75 Kischel, Die Begründung, 2003. 76 Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 271. 77 Hierzu Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 215 f. 78 Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 217 (Hervorhebungen im Original). 79 Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 219. 80 Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 220.
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tel81: Die Entscheidungsbegründung habe die Aufgabe, die intuitiv getroffene Entscheidung zu rationalisieren. Auslegungsregeln könnten niemals ergebnisbestimmend sein; sie seien Angebote, gewünschte oder anders gefundene Ergebnisse zu legitimieren, seien Mittel der Darstellung, nicht der Herstellung der Gesetzesauslegung und dienten »dem Ausscheiden von Entscheidungsergebnissen, die sich unter keinem methodischen Gesichtspunkt als haltbar erweisen (Falsifikation)«82. Am Ende seiner Untersuchung stellt Brink drei Regeln für eine korrekte Entscheidungsbegründung auf, und zwar die konsequente Loslösung vom tatsächlichen Gang der Entscheidungsfindung, die Beschränkung auf rechtliche Argumentation sowie die Sättigung dieser rechtlichen Argumentation (vollständige Entscheidungsbegründung)83. b. Eine formelle Begründungslehre Zudem hat Kischel kürzlich eine detaillierte Untersuchung über »Die Begründung« vorgelegt84, in der er sich auf der Grundlage eines formalen Begründungsbegriffs eingehend mit der Begründungspflicht85 und anschließend mit vier allgemeinen Begründungsgrundsätzen86 befasst87. Die Frage der Qualität einer Begründung will Kischel ausdrücklich nicht behandeln; was gute Gründe für eine Entscheidung sind, sei nicht Thema (s)einer Begründungslehre, sondern der juristischen Methodenlehre88. Bemerkenswert ist, dass seine Charakterisierung der
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Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 222. Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 222. 83 Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 260 ff., 272. Eine Sättigung der rechtlichen Argumentation glaubt Brink durch »die argumentative Einbeziehung der Verfassung und ihrer grundsätzlichen Wertsetzungen (Werteordnung des GG)« erreichen zu können, welche als Wertungsklausel der traditionellen Entscheidungsbegründung voran gestellt werden könne, s. a.a.O., S. 268 f., 272. In dieser Wertungsklausel soll der Versuch einer Differenzierung zwischen den (einfach-)rechtlich vertretbaren Entscheidungen mittels Rekurs auf verfassungsrechtliche Grundwerte (sic!) unternommen werden. So werde das rechtliche Begründungspotential des Grundgesetzes erschlossen und die Heranziehung außerrechtlicher Entscheidungskriterien weiter zurückgedrängt. – Jedenfalls im Bereich des Zivilrechts, in dem verfassungsrechtliche Positionen des einen Bürgers stets mit den widerstreitenden des anderen Bürgers abgewogen werden müssen, dürften so vor allem außergesetzliche Wertungen im Gewand verfassungsrechtlicher Betrachtungen in das einfache Recht eingeschleust werden. Außerrechtliche Entscheidungskriterien werden auf diese Weise nicht zurückgedrängt, sondern gefördert; vgl. zu angeblich rechtlichen und tatsächlich außerrechtlichen Argumenten aus rechtstheoretischer Perspektive C. Fischer, ZfA 2002, 215, 224 ff. 84 Kischel, Die Begründung, Tübingen 2003; Untertitel: Zur Erläuterung staatlicher Entscheidungen gegenüber dem Bürger. 85 Kischel, Die Begründung, 2003, S. 63 bis 334. 86 Kischel, Die Begründung, 2003, S. 334 bis 392. Unter der Überschrift »Begründungsgrundsätze: Das Wie der Begründung« werden die Begründungsklarheit, die Begründungswahrheit, die Begründungsrechtzeitigkeit und die Begründungsvollständigkeit erörtert. 87 Hinzu kommen jeweils ein Kapitel über »Begriffliche und historische Aspekte« und über »Funktionen der Begründung«, s. Kischel, Die Begründung, 2003, a.a.O., S. 1 ff., 39 ff. 88 Kischel, Die Begründung, 2003, S. 1 f., 5 f. sowie S. 393: »Die Begründungslehre im hier verstandenen Sinne hingegen betrifft allein das Ob und Wie der Darstellung dieser Gründe«. – Tatsächlich hält Kischel diesen Ansatz nicht durch. Der von ihm erörterte Grundsatz der Begrün82
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juristischen Methodenlehre auf einer Formulierung von Koch/Rüßmann89 beruht und auf weitere Autoren gestützt wird90, die den Argumentationstheorien zugerechnet werden können, deren Ansatz sich von dem der Methodenlehre doch grundlegend unterscheiden soll91: Die Methodenlehre befasse sich damit, wie man die richterliche Entscheidung findet, während es den Argumentationstheorien um die Darstellung bzw. Rechtfertigung der wie auch immer gefundenen Entscheidung gehe. Demgegenüber trennt Kischel zwischen der Methodenlehre, welche die Qualität einer Begründung beurteilt, und seiner Begründungslehre. Die gängige Unterscheidung zwischen klassischen Methodenlehren und Argumentations- bzw. Begründungstheorien scheint hier noch um die Trennung zwischen einer materiellen und einer formellen Begründungslehre sowie zwischen guten und anderen – neutralen? – Gründen bereichert zu werden. Sicher ist jedenfalls, dass Kischel sich in der Sache nicht mit der Entscheidungsfindung befasst. Er grenzt lediglich die (Entscheidungs-)Begründung, das Thema seiner Untersuchung, von der Entscheidungsfindung ab92: Entscheidungsbegründung und Entscheidungsfindung könnten gerade in schwierigen Fällen voneinander abweichen93. Die jeweiligen Lösungen würden außer in ganz einfachen Fällen nicht durch die Herleitung aus Gesetzen, sondern durch Intuition bzw. Rechtsgefühl gefunden und dann anhand des Subsumtionsmodells auf ihre Haltbarkeit überprüft94. Lösungen, die der Richter aufgrund seiner persönlichen Vorgehensweise, etwa anhand von Präjudizien, aufgrund bestimmter Topoi oder aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit finde, müssten sich in der Begründung aus dem Gesetz herleiten lassen95. Das Phänomen, dass eine Entscheidung schon vorhanden sei, die Begründung aber noch fehle, sei jedem Wissenschaftler bekannt; wissenschaftstheoretisch habe Popper dies mit der Unterscheidung zwi-
dungswahrheit betrifft nicht (bzw. zumindest nicht allein) das »Wie« der Darstellung, sondern (wenigstens auch) die Qualität der Begründung, m.a.W. die Frage nach »guten Gründen«. Dass diese Frage nicht inhaltlich-konkret, sondern allgemein gestellt wird (»Sollen/müssen Begründungen wahr sein?«), macht sie gerade zu einer methodischen. Nach den Grundsätzen des jeweiligen Rechtsbereichs (der »Dogmatik«) beurteilt sich demgegenüber, ob eine Begründung inhaltlich trägt. Bei dem Versuch, sein Thema abzugrenzen, trennt Kischel also nicht hinreichend zwischen Methodenlehre und Rechtsdogmatik, vgl. a.a.O., S. 6. Im Übrigen ist auch die Rechtzeitigkeit einer Begründung wohl kein Darstellungsgrundsatz, so dass zwei der von ihm aufgestellten vier Begründungsgrundsätze von seinem Konzept allenfalls lose gedeckt sein dürften. Dass es überhaupt möglich ist, Begründungsgrundsätze aufzustellen, ohne zur Qualität von Begründungen (»gute Gründe«) Stellung zu nehmen, erscheint zweifelhaft, muss hier aber nicht geklärt werden. 89 Juristische Begründungslehre, 1982, S. 1: Es geht darum, » … zu beschreiben, was gute Gründe für juristische Entscheidungen sein könnten«. 90 Vgl. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 2. 91 Hierzu U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 4. 92 Kischel, Die Begründung, 2003, S. 9 ff. 93 Kischel, Die Begründung, 2003, S. 12. 94 Kischel, Die Begründung, 2003, S. 11 f. Die Entscheidungsfindung sei, so heißt es, kein gänzlich beschreibbarer Vorgang. Insoweit bestehen gewisse Parallelen zu Isay. Indes betont Kischel, dass »im besten Fall« Rechtsgefühl und Intuition »durch Ausbildung und Praxis gewachsen und geformt, also wiederum juristisch determiniert« sind. 95 Kischel, Die Begründung, 2003, S. 13.
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II. Begründetes Entscheiden in Rechtswissenschaft und Praxis
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schen Entdeckungszusammenhang (context of discovery) und Begründungszusammenhang (context of justification) beschrieben96.
7. Fazit Die Frage, nach welchen Regeln zivilrechtliche Entscheidungen zu finden und zu begründen sind, wird in Deutschland traditionell von drei unterschiedlichen juristischen Teildisziplinen jeweils nur in Teilbereichen beantwortet. Obwohl Urteilen spätestens seit dem 19. Jahrhundert stets begründetes Entscheiden ist, teilen sich Methodenlehre, Zivilprozessrechtswissenschaft und Referendarausbildungstheorie den Stoff auf, ohne dass dies sachlich gerechtfertigt würde. Herkömmlicherweise wird begründetes Entscheiden vor allem als Problem der Rechtsfindung behandelt; Begründungsfragen sind nachgeordnet und zweitrangig. Die Zuständigkeit für die Regeln über das Urteilen liegt deshalb primär bei der juristischen Methodenlehre als »Theorie der praktischen Rechtsfindung«. Die traditionelle »Entscheidungsfindungsmethodik« geht der Frage nach, wie das Recht zutreffend gefunden und angewendet wird. Die einzelnen Varianten der herkömmlichen Methodenlehren lassen sich nach dem Umfang unterscheiden, in dem rechtliche Vorgaben die Entscheidung des Rechtsanwenders vorherbestimmen. Dementsprechend variieren die konkreten Funktionen der Begründung. In allen Entscheidungsfindungslehren, die einen Anspruch auf rationale Begründung erheben, kommt der Begründung eine dienende Aufgabe zu: Sie hat die für die gefundene Entscheidung maßgeblichen rechtlichen und außerrechtlichen Gründe zu dokumentieren. Die jeweils maßgebenden Rechtsfindungsfaktoren determinieren also die Entscheidungsbegründung. Demgegenüber trennen erfahrene Praktiker seit langem zwischen der Entscheidungsfindung und der von ihr losgelösten, konstruierten Begründung. Die Entscheidung des Falles werde intuitiv gefunden und dann nachträglich in den Entscheidungsgründen auf das Gesetz zurückgeführt. Eine theoretische, phänomenologische Begründung für diese Spaltung von Entscheidung und Begründung hat Isay geliefert. Seit etwa 1970 widmen sich juristische Argumentations- und Begründungstheorien zunehmend dem davor von Rechtswissenschaftlern weitgehend vernachlässigten Forschungsgebiet des Begründens juristischer Entscheidungen. Die Argumentationstheorien beschäftigen sich ausdrücklich nicht mehr mit der Herstellung, sondern nur noch mit der richtigen Darstellung der richterlichen Entscheidung. Da allgemeine, von der Entscheidungsfindung unabhängige methodische Regeln für die richtige Begründung von Entscheidungen nur auf hohem Abstraktionsniveau möglich sind, wird der konkrete Nutzen der »modernen« Argumentationstheorien und juristischen Begründungslehren für das »Alltagsgeschäft« des Rechtsanwenders verbreitet bezweifelt. In einer neueren Untersuchung zur Entscheidungsbegründung propagiert Brink eine verselbständigte, von der (einfachgesetzlichen) Entscheidungsfindung
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So Kischel, Die Begründung, 2003, S. 12.
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losgelöste Begründungsmethodik. Außerdem ist die Unterscheidung zwischen den die Entscheidungsfindung erörternden klassischen Methodenlehren und den sich allein mit der Begründung beschäftigenden Argumentations- bzw. Begründungstheorien kürzlich von Kischel noch um die Trennung zwischen einer formellen und einer materiellen Begründungslehre ergänzt worden. Die in rechtswissenschaftlichen Publikationen verlangte bzw. in rechtswissenschaftlichen Untersuchungen praktizierte Scheidung von Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung (kurz: »Entscheidung« und »Begründung«) wird heute meist wissenschaftstheoretisch legitimiert.
III. Die Entzweiung von Entscheidung und Begründung – ein wissenschaftstheoretisches Gebot? Seit etwa 1970 wird im rechtswissenschaftlichen Schrifttum im Anschluss an Reichenbach oder Popper (»context of discovery« und »context of justification«) verbreitet die Spaltung von »Entscheidung« und »Begründung« postuliert97. Zur Erklärung heißt es: »Die den meisten Juristen wohlvertraute Lage: Daß man die Entscheidung schon hat, aber noch nicht recht weiß, wie man sie begründen soll, ist allen Wissenschaften eigentümlich«98. Man verweist darauf, dass der Beweis für bestimmte Entdeckungen in Naturwissenschaft und Mathematik manchmal erst Jahrzehnte oder Jahrhunderte später gelinge99. Hier zeige sich, dass die Intuition im Entdeckungszusammenhang unverzichtbar sei; im Begründungszusammenhang, in dem die logische Ableitung das Feld beherrsche, habe sie aber nichts zu suchen100.
97 Freilich mit unterschiedlichen Intentionen und Folgerungen, vgl. aus dem reichhaltigen Schrifttum etwa Horak, Rationes decidendi, I. Band, 1969, S. 17 ff.; ders., in: Sprung/König (Hrsg.), Die Entscheidungsbegründung in europäischen Verfahrensrechten und im Verfahren vor internationalen Gerichten, 1974, S. 1, 16; Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 215 ff.; Kischel, Die Begründung, 2003, S. 12; Scherzberg, ZZP 117 (2004), 163, 170 f.; s. auch Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, S. 282, allerdings unter Hinweis auf Wasserstrom, The Judicial Decision, 1961, S. 27, der zwischen dem »process of discovery« und dem »process of justification« trennt; Schlink, Der Staat 19 (1980), 73, 87 ff., der indes einen »falsifikationistischen Ansatz« vertritt, der auf der Unterscheidung zwischen der Findung und der Rechtfertigung eines »Ergebnisses« beruht; Gottwald, ZZP 98 (1985), 113, 116 einerseits und 118 andererseits; C. Meier, Zur Diskussion über das Rechtsgefühl, 1986, S. 117 f.; stärkere Betonung der »Verflochtenheit zwischen Entscheidungen und ihren Begründungen« bei Garrn, Zur Rationalität rechtlicher Entscheidungen, 1986, S. 21 f.; U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 4 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 118; in der Sache auch schon Schlüter, Das obiter dictum, 1973, S. 98 ff.; die im Schrifttum als Beleg für die gebotene Trennung von Entscheidung und Begründung zitierte Passage von Kriele betrifft demgegenüber tatsächlich die Frage der Bestätigung von Normhypothesen, s. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 162 f. 98 Horak, in: Sprung/König (Hrsg.), Die Entscheidungsbegründung in europäischen Verfahrensrechten und im Verfahren vor internationalen Gerichten, 1974, S. 1, 16; ähnlich Kischel, Die Begründung, 2003, S. 12. 99 Etwa Horak, Rationes decidendi, I. Band, 1969, S. 19, der insbesondere auf Newton verweist; Kischel, Die Begründung, 2003, S. 12. 100 Horak, Rationes decidendi, I. Band, 1969, S. 19 f.
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III. Die Entzweiung von Entscheidung und Begründung
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1. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang a. Frühformen Schon Cicero unterschied zwischen der ars inveniendi und der ars iudicandi101. Die Differenzierung zwischen der Kunst des Erfindens und der Kunst des Urteilens oder derjenigen des Beweisens (ars demonstrandi) ist insbesondere von Leibniz weiter ausgebaut und zur Grundlage eines Wissenschaftsbildes gemacht worden102. b. Reichenbachs Differenzierung Das Begriffspaar »context of discovery« und »context of justification« ist von Reichenbach in die Wissenschaftstheorie des logischen Empirismus eingeführt worden103, um den von Carnap verwendeten Begriff der »rationalen Nachkonstruktion«104 zu verdeutlichen. Die Differenzierung greift die Unterscheidung von Genese und Geltung in der traditionellen Erkenntnistheorie auf105. Reichenbach wandte sich gegen die Vorstellung, die Erkenntnistheorie sei eine Beschreibung von Denkprozessen106. Man müsse sorgfältig die Aufgabe der Erkenntnistheorie von derjenigen der Psychologie unterscheiden. Erkenntnistheorie betrachte nicht die recht unbestimmten und schwankenden, sich fast nie an die Logik haltenden Vorgänge des Denkens in ihrem tatsächlichen Vorkommen; diese Aufgabe sei vollständig der Psychologie überlassen. Die Erkenntnistheorie beabsichtige, Denkprozesse in einer Art und Weise zu konstruieren, in welcher sie vorkommen sollten, wenn sie in einem folgerichtigen System angeordnet werden müssen. Erkenntnistheorie betrachte also eher einen logischen Ersatz als wirkliche Prozesse. Für diesen logischen Ersatz sei der Ausdruck »rationale Nachkonstruktion« eingeführt worden. Falls eine passendere Bestimmung dieses Konzepts der »rationalen Nachkonstruktion« gewünscht werde, könne man sagen, dass es übereinstimme mit der Form, in welcher Denkprozesse anderen Personen mitgeteilt werden, anstatt der Form, in welcher sie sich subjektiv vollziehen. »Ich führe die Begriffe Entdeckungszusammenhang und Rechtsfertigungszusammenhang ein, um diesen Unterschied zu kennzeichnen. Dann müssen wir
101
Vgl. etwa Cicero, Topica II 7. Vgl. Lorenz, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 1, 1980, Stichworte »ars inveniendi«, »ars iudicandi«. 103 Reichenbach, Experience and Prediction, 1938, S. 5 ff., insb. S. 6 f. Hans Reichenbach schrieb das Buch, wie sich aus dem Vorwort ergibt, in englischer Sprache während seiner Tätigkeit an der Universität von Istanbul, wo er nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland eine erste Zufluchtsstätte gefunden hatte. Eine teilweise recht freie Übersetzung der hier interessierenden Passagen findet sich bei Reichenbach, Erfahrung und Prognose, in: Kamlah/M. Reichenbach (Hrsg.), Hans Reichenbach, Gesammelte Werke, Band 4, 1983, S. 2 f. 104 Carnap, Der logische Aufbau der Welt (1928)/Scheinprobleme in der Philosophie (1928), 2. Aufl. 1961, Rn. 100 ff. (S. 139 ff.), S. 301 ff. 105 Gethmann, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 1, 1980, Stichwort »Entdeckungszusammenhang/Begründungszusammenhang«. 106 Vgl. hierzu und zum Folgenden Reichenbach, Experience and Prediction, 1938, S. 5 ff. 102
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sagen, dass die Erkenntnistheorie sich nur damit beschäftigt, den Rechtfertigungszusammenhang zu konstruieren«107. c. Poppers Ausführungen Ähnliche Gedanken finden sich nicht nur bei dem von Reichenbach zitierten Carnap108, sondern auch bei Popper. In seinem Hauptwerk »Logik der Forschung«, das in der Erstauflage von 1934 den Untertitel »Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft« trug109, stellt Popper bekanntlich das Falsifikationsprinzip als Grundlage aller wissenschaftlichen Theoriebildung dar: Kein wissenschaftliches System und keine wissenschaftliche Aussage kann danach absolute Gültigkeit beanspruchen; sie haben als Arbeitshypothesen lediglich vorläufigen Charakter. Die Passagen aus »Logik der Forschung«, auf die Juristen ihre Trennung von Entscheidung und Begründung stützen110, finden sich auf den Seiten 6 f. im ersten, mit »Grundprobleme der Erkenntnislogik« betitelten Kapitel. Dieses einleitende Kapitel beginnt mit einer Beschreibung der »Tätigkeit des wissenschaftlichen Forschers«111: Sie bestehe darin, Sätze oder Systeme von Sätzen aufzustellen und systematisch zu überprüfen; in den empirischen Wissenschaften seien es insbesondere Hypothesen, Theoriensysteme, die aufgestellt und an der Erfahrung durch Beobachtung und Experiment überprüft werden. Schon diese einleitenden Sätze wecken Zweifel, ob sich die späteren Ausführungen ohne weiteres auf die Rechtspraxis übertragen lassen. Anschließend heißt es: »Wir wollen festsetzen, daß die Aufgabe der Forschungslogik oder Erkenntnislogik darin bestehen soll, diese Verfahren, die empirisch-wissenschaftliche Forschungsmethode, einer logischen Analyse zu unterziehen«112. Auf den Seiten 6 f. stellt Popper dann »den Gegensatz zwischen der empirischen Erkenntnispsychologie und der nur an logischen Zusammenhängen interessierten Erkenntnislogik« klar. Als Anknüpfungspunkt wählt er die eingangs vorgenommene Charakterisierung des wissenschaftlichen Forschers, der Theorien aufstelle und (empirisch) überprüfe. An der Frage, wie es vor sich gehe, dass jemandem etwas Neues einfalle, habe wohl die empirische Psychologie Interesse, nicht aber die Erkenntnislogik: »Wir wollen also scharf zwischen dem Zustandekommen des Einfalls und den Methoden und Ergebnissen seiner logischen Diskussion unterscheiden und daran festhalten, daß wir die Aufgabe der Erkenntnistheorie oder Erkenntnislogik (im Gegensatz zur Erkenntnispsychologie) derart 107 Reichenbach, Experience and Prediction, 1938, S. 6: »I shall introduce the terms context of discovery and context of justification to mark this distinction” (Hervorhebungen im Original). 108 Besonders anschaulich im Anfangsabschnitt über den Sinn der erkenntnistheoretischen Analyse in »Scheinprobleme in der Philosophie«, s. Carnap, Der logische Aufbau der Welt (1928)/Scheinprobleme in der Philosophie (1928), 2. Aufl. 1961, S. 296 ff. 109 Dieser Untertitel fehlte in allen späteren Ausgaben, s. Keuth, in: Keuth (Hrsg.), Karl Popper, Logik der Forschung, 1998, S. 2. 110 Etwa Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 215; Kischel, Die Begründung, 2003, S. 12. 111 Popper, Logik der Forschung, 10. Aufl. 1994, S. 3. 112 Popper, Logik der Forschung, 10. Aufl. 1994, S. 3.
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bestimmen, daß sie lediglich die Methoden der systematischen Überprüfung zu untersuchen hat, der jeder Einfall, soll er ernst genommen werden, zu unterwerfen ist«113. Abschließend setzt sich Popper mit dem Einwand auseinander, es wäre zweckmäßiger, wenn die Erkenntnistheorie versuchte, den Vorgang des Entdeckens, des Auffindens einer Erkenntnis, »rational nachzukonstruieren«. Es komme darauf an, was man nachkonstruieren wolle: »Will man die Vorgänge bei der Auslösung des Einfalls nachkonstruieren, dann würden wir den Vorschlag ablehnen, darin die Aufgabe der Erkenntnislogik zu sehen. Wir glauben, daß diese Vorgänge nur empirisch-psychologisch untersucht werden können und mit Logik wenig zu tun haben. Anders, wenn der Vorgang der nachträglichen Prüfung eines Einfalls, durch die ja der Einfall erst als Entdeckung entdeckt, als Erkenntnis erkannt wird, rational nachkonstruiert werden soll: Sofern der Forscher seinen Einfall kritisch beurteilt, abändert oder verwirft, könnte man unsere methodologische Analyse auch als eine rationale Nachkonstruktion der betreffenden denkpsychologischen Vorgänge auffassen. Nicht, daß sie diese Vorgänge so beschreibt, wie sie sich tatsächlich abspielen: sie gibt nur ein logisches Gerippe des Prüfungsverfahrens. Gerade das aber dürfte man wohl unter der rationalen Nachkonstruktion eines Erkenntnisvorganges verstehen«114. Poppers Ausführungen zielen offensichtlich vor allem auf empirisch überprüfbare Entdeckungen. Wie der Forscher zu seinem Einfall gekommen ist, soll für die Erkenntnislogik ohne Bedeutung sein, weil sie lediglich die Methoden der systematischen Überprüfung einer Theorie zu untersuchen hat. d. Kritische Stimmen Am Rande ist noch darauf hinzuweisen, dass die strikte Trennung zwischen dem Entdeckungs- und dem Begründungszusammenhang in der jüngeren Wissenschaftstheorie im Anschluss an Hanson durchaus auch skeptisch betrachtet wird115. Obwohl an der Unterscheidung einsichtig sei, dass die Berechtigung eines Geltungsanspruchs niemals durch die Beschreibung der psycho-sozialen Umstände seiner Entstehung begründet und widerlegt werden könne, verleite sie doch andererseits zu einer platonisierenden Interpretation von kognitiven Geltungsansprüchen; eine Begründung bzw. Rechtfertigung könne in methodisch verteidigbarer Weise nur durch den Nachvollzug derjenigen Schritte ausgeführt werden, die zu dem Geltungsanspruch hingeführt haben116. Feyerabend erklärt die Unterscheidung gar für erledigt117: Man habe es mit einem einzigen einheitli-
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Popper, Logik der Forschung, 10. Aufl. 1994, S. 6. Popper, Logik der Forschung, 10. Aufl. 1994, S. 6 f. 115 Vgl. etwa Feyerabend, Wider den Methodenzwang, 1976, S. 230 ff.; Gethmann, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 1, 1980, Stichwort »Entdeckungszusammenhang/Begründungszusammenhang«. 116 Gethmann, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 1, 1980, Stichwort »Entdeckungszusammenhang/Begründungszusammenhang«. 117 Feyerabend, Wider den Methodenzwang, 1976, S. 233. 114
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chen Bereich von Verfahrensweisen zu tun, die für den Fortschritt der Wissenschaft alle gleich wichtig seien.
2. »Juristische Entdeckungen«? Die Entzweiung von Entscheidung und Begründung im Prozess des juristischen Urteilens durch Teile der Rechtswissenschaft beruht auf einer unzutreffenden Gleichsetzung primär naturwissenschaftlicher und juristischer »Entdeckungsvorgänge«. Die »wie auch immer gefundene juristische Entscheidung« ist tatsächlich nur eine Entscheidungshypothese, die unter dem Vorbehalt ihrer überzeugenden rechtlichen Begründbarkeit steht. Juristische Entscheidungen werden erst mit den sie tragenden Gründen gefunden118. Die vorgenommenen Werturteile stehen und fallen mit ihrer Begründung. Das unterscheidet sie von naturwissenschaftlichen Entdeckungen, bei denen das neue Faktum überprüft werden kann, ohne dass eine Begründung für die tatsächlichen Abläufe geliefert werden muss (»es funktioniert«). Wie es jeweils zu den ersten rechtlichen Entscheidungshypothesen gekommen ist, welche psychologischen oder soziologischen Faktoren (mit-)wirkten, ist juristisch ohne Bedeutung. Die Begründung soll nicht die persönliche Motivation oder die Findigkeit der Entscheider demonstrieren, sondern (Rechts-)Gründe für die in der Entscheidung enthaltene Urteilsformel nennen. Der Entscheid muss mit sachlichen Argumenten als im Rahmen des geltenden Rechts vertretbare Lösungsmöglichkeit dargestellt und durch Gründe einsehbar, diskutierbar und kontrollierbar gemacht werden119.
3. Missverständnisse Es liegt ein doppeltes Missverständnis vor, wenn die Entscheidungsfindung als der geistige Prozess auf dem Weg zur Entscheidung umschrieben120 und danach gefragt wird, ob diese »Entscheidungsfindung« in der Begründung zu dokumentieren ist121. Zum einen wird die ursprüngliche Entscheidungshypothese irrtümlich als die endgültige Entscheidung klassifiziert, obwohl ein intuitiver Einfall beim juristischen Entscheiden nur dann Bestand hat, wenn die Prüfung ergibt, dass er von Rechts wegen überzeugend begründet werden kann. Die skizzierte Betrachtungsweise vernachlässigt also die Steuerungs- und Filterfunktionen der Begründung für die Entscheidungsfindung122. Zum anderen verkennt sie die Funktion von Entscheidungsbegründungen. Diese haben nicht die Aufgabe, das Zustandekommen der ursprünglichen Entscheidungshypothese nachzuzeichnen. 118 Vgl. insoweit auch C. Meier, Zur Diskussion über das Rechtsgefühl, 1986, S. 117: Da neuzeitliche Rechtspflege auf rationaler Argumentation beruht, ist die juristische Arbeit erst mit der Ausformulierung der Urteilsgründe beendet. 119 So treffend C. Meier, Zur Diskussion über das Rechtsgefühl, 1986, S. 117. 120 Etwa von Kischel, Die Begründung, 2003, S. 10; ähnlich Scherzberg, ZZP 117 (2004), 163, 170. 121 Diese (falsche) Frage kann praktisch nur verneint werden. 122 Die Steuerungs- und Filterfunktion der Begründung betont auch Kischel, Die Begründung, 2003, S. 12 f., allerdings im Hinblick auf die Kontrolle gefundener (»fertiger«) Lösungen.
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III. Die Entzweiung von Entscheidung und Begründung
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Vielmehr soll die rechtlich überprüfte Entscheidung erläutert werden. Die gefundene Entscheidung steht nicht am Anfang, sondern am Ende des Prozesses begründeten Entscheidens123. Die Entscheidungsgründe müssen deshalb die Erwägungen enthalten, auf denen die – letztlich getroffene – Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht (vgl. § 313 Abs. 3 ZPO)124.
4. Begründung als Teil der juristischen Entscheidung Die Begründung ist folglich Teil der juristischen Entscheidung, die nicht mit der ursprünglichen Entscheidungshypothese verwechselt werden darf. »Entscheidung« und »Begründung« sind im Prozess des juristischen Entscheidens stets miteinander verwoben. Juristische Urteile sind begründete Entscheidungen.
5. Resümee Selbstverständlich kann man zwischen Regeln der Entscheidungsfindung und bestimmten Begründungsgeboten unterscheiden und ohne weiteres nur die einen oder die anderen näher untersuchen. Trotz der fundamentalen Verknüpfung von Entscheidung und Begründung sind juristische Begründungslehren nicht etwa überflüssig, im Gegenteil. Sie sind ein unverzichtbarer Bestandteil moderner juristischer Entscheidungsmodelle. Begründungsfragen werden von der traditionellen »Entscheidungsfindungsmethodik« seit langem vernachlässigt. Auch für die Begründungslehren gilt aber, dass man die künstliche Trennung zusammengehöriger Bereiche nicht kultivieren sollte. Reine Begründungslehren setzen ein bereits gefundenes Ergebnis voraus. Ihre Regeln sind abstrakt und von der konkreten Entscheidungsfindung unabhängig. Tendenziell sind reine Begründungslehren deshalb geeignet, die Ergebnisrelevanz normativer Vorgaben für das konkrete Ergebnis zu vernachlässigen. Die Isolation der Begründung darf nicht zum Prinzip erhoben werden. Sonst besteht die Gefahr, dass die gesetzlich determinierten Teile der Entscheidungsfindung und des begründeten Entscheidens aus dem Blick geraten. Für eine Untersuchung über Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen verbietet es sich jedenfalls, die (Rahmen-)Regeln für die Ermittlung des jeweiligen maßgebenden Entscheidungssatzes auszublenden. Verdeckte Rechtsfortbildungen betreffen die Entscheidungsfindung und die Entscheidungsbegründung125. Dementsprechend drehen sich die Rechtsfragen verdeckter Rechtsfortbildungen ei-
123 Vgl. auch C. Meier, Zur Diskussion über das Rechtsgefühl, 1986, S. 117: »Ein Urteil darf nicht auf den präreflexiven, intuitiven Vorstufen stehen bleiben«. Bei seiner strikten Trennung von »Entscheidfindung« und »Entscheidbegründung« trägt Meier dem lediglich hypothesenhaften Charakter der (ersten) intuitiven Entscheidungsidee allerdings keine Rechnung. 124 Ähnlich Schlüter, Das obiter dictum, 1973, S. 101: »Die Begründung muß … die wesentlichen für das endgültige Ergebnis tatsächlich bestimmenden Gründe wiedergeben (vgl. auch § 286 Abs. 1 S. 2 ZPO)«. – § 313 Abs. 3 ZPO wurde bekanntlich erst durch die Vereinfachungsnovelle 1976 eingeführt. 125 Vgl. bereits § 1 I.2.; 2. Teil vor § 6; vorstehend I.2.
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§ 12 Überblick zur rechtlichen Problematik
nerseits um das Finden und andererseits um das Begründen gerichtlicher Entscheidungen.
IV. Rechtsfragen der Entscheidungsfindung 1. Rechts- und Entscheidungsfindung Es ist bereits mehrfach erwähnt worden, dass die richterliche Sachverhaltsarbeit im dogmatischen Zivil- und Zivilprozessrechtsunterricht und in der universitären Methodenlehre nicht behandelt wird. Die verfahrensmäßige Seite des zivilrechtlichen Entscheidens spielt an den Universitäten keine nennenswerte Rolle. Entscheidungsfindung wird allein als Rechtsfindung gelehrt und gelernt126. Rechtsfindung wird heute theoretisch als Auslegung und Fortbildung der Gesetze verstanden127. Freilich bestimmt selbst im Zivilrecht die Auslegung das Rechtsfindungsbild fast vollständig. Obwohl die Gesetzesanwendung faktisch längst durch eine Rechtsanwendung ersetzt worden ist128, gilt die Auslegung als Normalfall und die Rechtsfortbildung als seltene Ausnahme der Rechtsfindung129. Die Rechtsfortbildung kann praktisch weitgehend vernachlässigt werden, weil die Präjudizien der Gerichte, welche seit langem die Funktion der Gesetze und der Gesetzesbegriffe übernommen haben, als Konkretisierungen und Ausführungsakte der Gesetze klassifiziert werden130. Außerdem lässt sich das Gesetzesrecht durch »auslegende« Erläuterung der gesetzlichen Begriffe nahezu unbegrenzt fortbilden, weil die »Grenze des möglichen Wortsinns« eine Fiktion ist, wenn man den historischen Kontext ausblendet131. Die Entscheidungsfindung tritt daher in der Rechtswirklichkeit immer noch vor allem als Auslegung der Gesetze auf.
2. Das Fehlen einer ausgearbeiteten Rechtsfortbildungsmethode Es gibt keine einfachgesetzlichen Vorschriften darüber, wann und wie Gesetze fortzubilden sind. Im Schrifttum wird vor allem über die Grenzen und Voraussetzungen zulässiger Rechtsfortbildungen diskutiert. Nur selten fragt man in dieser Grundlagendiskussion nach der Art und Weise, wie das Gesetzesrecht fortzubilden ist. Konkrete Grundsätze für Rechtsfortbildungen werden kaum genannt. Betont wird, dass relevante rechtliche Vorgaben zu berücksichtigen seien und die Rechtsfortbildung nicht im Widerspruch zu den Wertungen der Rechtsordnung stehen dürfe. Die gebräuchlichen Verweise auf Verfassungsprinzipien und allge-
126 S. insbesondere § 1 I.3., § 6 V.1., § 10 IX.3.c.cc., 8.b.cc.(2) und c.; die wenigen rechtswissenschaftlichen Stimmen zur Sachverhaltsarbeit durch die Relationstechnik sind zusammengestellt unter § 10 IX.5.d. 127 § 6 V.2., § 7 III., IV.4. 128 § 7 IV.2. 129 § 7 IV.1. 130 § 7 V.6.f. 131 Nochmals § 3 II.1.a.bb. und § 4 V.4.f.aa.
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IV. Rechtsfragen der Entscheidungsfindung
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meine Rechtsgrundsätze132 sowie auf fernwirkende gesetzgeberische Interessenbewertungen133 geben angesichts der offensichtlichen Antinomien der Verfassung und der Gesamtrechtsordnung keine inhaltlichen Hilfestellungen im Spannungsfeld von (Einzelfall-)Gerechtigkeit und Gesetzesbindung. Im Übrigen sind die genannten Aspekte mehr Grenzen als Regeln für Rechtsfortbildungen. Letztere erschöpfen sich, abgesehen von der in ihrer Reichweite unklaren sog. Vorwirkung anstehender Gesetze134, weitgehend im Gebot der Verallgemeinerungsfähigkeit des jeweiligen Ergebnisses135, welches im methodischen Schrifttum gerne mit dem Hinweis auf Art. 1 Abs. 2 und Abs. 3 des schweizerischen Zivilgesetzbuchs garniert wird136. Eine praktizierbare ausgearbeitete Methode für Rechtsfortbildungen, die immer noch verbreitet als seltene Ausnahmefälle der Rechtsfindung begriffen werden, existiert trotz zahlreicher wertvoller Vorarbeiten nicht.
3. Gesetzesbindung und Rechtsfortbildung Bei der Rechtsfindung wird normalerweise, sofern nicht direkt nach dem richtigen (»gerechten«) Ergebnis gesucht wird137, die Gesetzesbindung des Rechtsanwenders betont. Sie scheint für Fortbildungen des Gesetzesrechts bei vordergründiger Betrachtung regelmäßig nicht einschlägig zu sein, da die Rechtsfortbildung nach herkömmlicher Auffassung doch gerade eine planwidrige Gesetzeslücke voraussetzt.
132 Statt vieler Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 421 ff.; Kramer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2005, S. 225 ff.; jeweils m.w.N. 133 Etwa Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 887, 910, im Anschluss an Heck. 134 Hierzu Kloepfer, Vorwirkung von Gesetzen, 1974, insbes. S. 94 ff., 161 ff.; Konzen, Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, 1984, S. 349, 351 ff.; Neuner, in: Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, 2002, S. 83, 89 ff.; H. Schneider, Gesetzgebung, 3. Aufl., 2002, Rn. 529; stellvertretend für das schweizerische Schrifttum mit Literaturund Rechtsprechungsnachweisen Kramer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2005, S. 190 f.; grundsätzlich ablehnend Wank, der bei bevorstehenden Gesetzen eine Rechtsfortbildungssperre vertritt, s. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 229 ff.; ders., JuS 1980, 545, 551 f.; aus der Rechtsprechung BGHZ 115, 268, 272 f.; 134, 116, 125 f.; s. zur Berücksichtigung des Inhalts einer EG-Richtlinie, deren Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen war, im Wege der richtlinienkonformen »Auslegung« des § 1 UWG BGHZ 138, 55, 61 ff.; hierzu in der Sache § 8 III.5.f.bb. 135 Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halbband, 15. Aufl. 1959, S. 342 Fn. 32 a. E., wo es heißt, dass der Richter im Interesse der Rechtsgleichheit eine Regel aufstellen müsse, also nicht allein den zu entscheidenden konkreten Fall im Auge haben dürfe; s. auch a.a.O., S. 344: »Kurz, wir urteilen nach der Regel, die wir als Gesetzgeber aufstellen würden«; Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, S. 13: »Es muß eine Regel aufgestellt werden, die auf typische Fälle gleichmäßig angewandt werden kann«; ebenso Wieacker, FS W. Weber, 1974, S. 421, 442, unter Berufung auf §§ 549, 550 ZPO a. F.; C. Fischer, ZfA 2002, 215, 227; Haverkate, ZRP 1973, 281, 282 spricht vom »kategorischen Imperativ der richterlichen Rechtsschöpfung«, den er folgendermaßen fasst: »Entscheide den Einzelfall so, daß die daraus abzuleitende Maxime zur allgemeinen Regel erstarken kann«. 136 Statt vieler Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halbband, 15. Aufl. 1959, S. 344 Fn. 42; Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 879 ff. 137 Kritik der Herangehensweise, welche die Lösung im Fall sucht, unter § 10 VIII.2.b. und c.bb.; dargestellt ist diese Position in § 10 IV.2.b.aa.; s. auch vorstehend II.4.
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§ 12 Überblick zur rechtlichen Problematik
So heißt es beispielsweise in einem verfassungsrechtlichen Beitrag zum Vorrang des Gesetzes, der zu Beginn als traditionelle Bezeichnung für Gesetzesbindung definiert wurde138: Die Vorschrift des Art. 20 Abs. 3 GG setzt »ein wirksames Gesetz voraus; besteht ein solches nicht, so enthält sie für diesen Fall keine Aussagen«139. Art. 20 Abs. 3 GG sei »für den Fall eines fehlenden Gesetzes überhaupt nicht einschlägig«140. Nur bei der Rechtsfortbildung contra legem werde das Abweichungsverbot des Art. 20 Abs. 3 GG tangiert; unproblematisch sei die Rechtsfortbildung unter dem Aspekt des Art. 20 Abs. 3 GG, sofern dabei Gesetz und Richterspruch nicht in Widerspruch geraten, was stets der Fall sei, wenn die Rechtsprechung sich im Rahmen des geltenden Gesetzes bewege oder der entscheidungserhebliche Sachverhalt von überhaupt keinem Gesetz erfasst sei141. Diese Äußerungen sind Ausdruck einer verbreiteten, selten problematisierten Ansicht142. Die Vorstellung, Art. 20 Abs. 3 GG sei zumindest in den wichtigen Bereichen der (gesetzesrechtsfortbildenden) Rechtsfindung intra legem und contra legem143 oder sogar für alle Formen der Rechtsfortbildung144 ohne Bedeutung, konnte entstehen, weil die verfassungsrechtliche Gesetzesbindung als Kollisionsregelung verstanden auf den Vorrang des Gesetzes reduziert wird145 und das Interesse auf das gesetzmäßige Handeln der Verwaltung fokussiert ist146. Im staatsrechtlichen Schrifttum wird betont, die Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht finde weniger Aufmerksamkeit; für sie könne auf dieselben Elemente zurückgegriffen werden wie bei der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung147. Die Bedeutung der verfassungsrechtlichen Gesetzesbindung für richterliche Rechtsfortbildungen kann bei einer solchen Perspektive schnell aus dem Blick geraten. Der Eindruck, die Gesetzesbindung nach Art. 20 Abs. 3 GG sei für Fortbildungen des Gesetzesrechts regelmäßig oder gar nicht einschlägig, täuscht jedenfalls. Zum einen folgt aus Art. 20 Abs. 3 GG das Gebot möglichst gesetzesnaher
138
Gusy, JuS 1983, 189. Gusy, JuS 1983, 189, 191. 140 Gusy, JuS 1983, 189, 191. 141 So Gusy, JuS 1983, 189, 194. 142 Rechtsfortbildungen werden im Rahmen des Art. 20 Abs. 3 GG meist nur im Hinblick auf die Rechtsbindung thematisiert, welche oftmals als – begrenzter – Auftrag zur Rechtsfortbildung gedeutet wird; hierzu bereits § 3 III.2, § 7 IV.2.; beispielhaft für das staatsrechtliche Schrifttum wiederum Gusy, JuS 1983, 189, 194. 143 Zu den einzelnen Bereichen der Rechtsfortbildung nach den sog. Drei-Ebenen-Modellen § 3 V.2. 144 Auch die Rechtsfortbildung contra legem lässt sich als »bloße« lückenfüllende Rechtsfortbildung ausgeben, wenn man nachträgliche Lücken anerkennt und deren Füllung der Rechtsfindung praeter legem zuordnet, hierzu bereits § 3 V.2. sowie C. Fischer, ZfA 2002, 215, 228 ff. 145 Vgl. nur Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. 3. Aufl. 2003, Art. 20 Rn. 112 mit zahlreichen Nachweisen, auch aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 146 Vgl. etwa Herzog, FS H. Simon, 1987, S. 103, 106; Ossenbühl verweist unter Berufung auf O. Mayer darauf, dass sich der Vorrang des Gesetzes verfassungsgeschichtlich in erster Linie an die Adresse der Exekutive richte, s. Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 1988, § 61 Rn. 1. 147 Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 20 Rn. 119. 139
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V. Rechtsfragen der Entscheidungsbegründung
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Rechtsfortbildungen148. Zum anderen hat die Gesetzesbindung nicht nur eine inhaltliche, sondern auch eine prozedurale Komponente (»Berücksichtigungs- und Darlegungsgebot«), die selbst dann gilt, wenn die Inhaltsbindung im Ergebnis nicht greift. Die Bedeutung der Gesetzesbindung für Rechtsfortbildungen ist daher in dem folgenden Paragraphen über »Normative Vorgaben begründeten Entscheidens« näher zu untersuchen. Möglicherweise ergeben sich aus der Gesetzesbindung rechtliche Sanktionen für verdeckte Rechtsfortbildungen.
4. Die Erkennbarkeit verdeckter Rechtsfortbildungen Gleichwohl besteht ein grundsätzliches Problem: Verstöße gegen wie auch immer ausgestaltete Regeln der (rechtsfortbildenden) Rechtsfindung bleiben bei verdeckten Fortbildungen des Gesetzesrechts oft ohne Sanktionen, weil die Erwägungen, auf denen die jeweilige rechtsfortbildende Entscheidung in rechtlicher Hinsicht wirklich beruht, nicht genannt werden. Die Fortbildung des Gesetzes vollzieht sich im Gewand seiner auslegenden Anwendung. Den Gründen ist die Rechtsfortbildung wegen der verwendeten verdeckenden Topoi gerade nicht zu entnehmen. Ob Rechtsfindungs- und Rechtsfortbildungsregeln eingehalten wurden, können die Adressaten einer gerichtlichen Entscheidung aber nur anhand der jeweils gegebenen Begründung beurteilen. Rechtsfindungs- und Rechtsfortbildungsregeln laufen leer, wenn der rechtsfortbildende Charakter einer Entscheidung in ihrer Begründung erfolgreich verschleiert wird. Dass ist aber kein Grund, auf die Beschäftigung mit Rechtsfindungsregeln zu verzichten und sich ganz und ausschließlich der Entscheidungsbegründung zuzuwenden, wie es im jüngeren Schrifttum gelegentlich gefordert wird149. Im Gegenteil: Nur die normativen Entscheidungsvorgaben liefern inhaltliche Maßstäbe, um Entscheidungsergebnisse und –begründungen zu bewerten. Nur sie lassen letztlich erkennen, ob im konkreten Fall ein juristisches Argument als Topos eingesetzt wurde, um eine Rechtsfortbildung zu verdecken. Daneben gibt es noch gebräuchliche juristische Argumente, die als echte Leer- bzw. Beschwörungsformeln schlechthin aussagelos sind und entmythologisiert werden müssen. Gerade weil man verdeckte Rechtsfortbildungen schwer erkennen kann, bedürfen die sie verschleiernden Topoi einer näheren Untersuchung, die sie »entzaubert«, ihren rechtsfortbildenden Charakter unübersehbar macht und ihre rechtlichen Folgen aufzeigt.
V. Rechtsfragen der Entscheidungsbegründung Die Diskussion über verdeckte Rechtsfortbildungen hat vornehmlich die Entscheidungsbegründung zum Gegenstand. Sie wird freilich allein mit ethischen
148 C. Fischer, ZfA 2002, 215, 223 f., im Anschluss an BVerfGE 34, 269, 292; 37, 67, 81; 96, 375, 394. 149 Etwa von Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 271, 215 ff.; eingehend zu der verbreitet geforderten Trennung von Entscheidung und Begründung oben II.4. bis 6. und III.
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§ 12 Überblick zur rechtlichen Problematik
bzw. tatsächlich-pragmatischen Begründungen geführt150. Aus normativer Perspektive werden Entscheidungsbegründungen demgegenüber am Rande im Prozessrecht und seit einiger Zeit vor allem im Verfassungsrecht erörtert.
1. Offenlegungsforderungen Regelmäßig wird bei Rechtsfortbildungen und allgemein bei Entscheidungen, die eigene Interessenbewertungen voraussetzen, an das Ethos des Rechtsanwenders appelliert151: Es sei ein Gebot der Methodenehrlichkeit, Rechtsfortbildungen und Eigenwertungen offen zu legen. Rechtliche Sanktionen für die Verletzung dieser sittlichen Werte werden nicht genannt. Man kann von folgenlosen Geboten sprechen.
2. Verfassungsrechtliche Diskussion und verdeckte Rechtsfortbildungen Als Rechtsproblem diskutiert man Entscheidungsbegründungen – ohne Bezug zum hiesigen Untersuchungsgegenstand – in den letzten Jahren und Jahrzehnten zunehmend auf der verfassungsrechtlichen Ebene152. Es ist denkbar, dass sich aus der Auseinandersetzung über verfassungsrechtliche Entscheidungsbegründungspflichten Ansatzpunkte für rechtliche Sanktionen gegen verdeckte Rechtsfortbildungen ergeben. Besonderes Gewicht kommt für eine praxisbezogene Untersuchung insofern den einschlägigen Judikaten des Bundesverfassungsgerichts zu. Sie sind eingehend zu untersuchen. Sollten verdeckte Rechtsfortbildungen auf der Grundlage der Verfassungsrechtsprechung gegen rechtliche Vorgaben verstoßen, deren Verletzung mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann, hätten verdeckte Rechtsfortbildungen in der Praxis rechtliche Konsequenzen. Sie müssten nicht länger als reine Frage der Ethik behandelt werden. a. Überblick zur Begründungsdiskussion im Verfassungsrecht Die Debatte dreht sich um die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen staatliches Handeln im Allgemeinen und gerichtliche Entscheidungen im Besonderen von Verfassungs wegen begründet werden müssen153. Im Schrifttum besteht weitestgehend Einigkeit über die verfassungsrechtliche Verankerung der richterlichen Begründungspflicht, nicht aber über deren Ort154: Als verfassungsrechtliche Grundlagen der richterlichen Begründungspflicht werden angeführt der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), das Willkürverbot des 150
§ 11. § 11 I.2. und 3. 152 Auch hier wird man die Zäsur – wie bei der Begründungsmethodik – um 1970 setzen können. 153 S. insb. Brüggemann, Die richterliche Begründungspflicht, 1971, S. 109 ff., Lücke, Begründungszwang und Verfassung, 1987, S. 37 ff.; Kischel, Die Begründung, 2003, S. 63 ff. 154 Eingehende Darstellung der vertretenen verfassungsrechtlichen Grundlagen einer Begründungspflicht bei Kischel, Die Begründung, 2003, S. 63 ff.; Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 46 ff. 151
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V. Rechtsfragen der Entscheidungsbegründung
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Art. 3 Abs. 1 GG, die Bindung an Recht und Gesetz in Art. 20 Abs. 3 GG, das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), die richterliche Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG), die Menschenwürdegarantie des Art. 2 Abs. 1 GG, der Aspekt des Grundrechtsschutzes durch Verfahren, die Garantie effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG, der Gewaltenteilungsgrundsatz nach Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG und das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 i. V. m. Art. 28 Abs. 1 GG), hinter dem sich ein weiteres Bündel von Einzelgesichtspunkten verbirgt, wie das Prinzip der Rechtssicherheit, der Grundsatz eines fairen Verfahrens, die Gebote der Rationalität und Kontrollierbarkeit von Entscheidungen, das Verhältnismäßigkeitsprinzip usw. Das Bundesverfassungsgericht stützt verfassungsrechtliche Begründungspflichten im Zusammenhang mit Gerichtsentscheidungen vor allem auf das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) und den allgemeinen Gleichheitssatz in seiner Ausprägung als Willkürverbot155. Die verfassungsrechtliche Gesetzesbindung, deren Verletzung als solche nicht mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann, spielt in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Bestehen einer verfassungsrechtlichen Begründungspflicht keine eigenständige Rolle156. b. Unterschiedliche Fragestellungen Die Auseinandersetzung über die Existenz und die Verortung verfassungsrechtlicher Begründungspflichten weist gewisse Überschneidungen mit dem Gegenstand dieser Untersuchung auf, ist mit ihr aber nicht deckungsgleich. Verdeckte Rechtsfortbildungen setzen voraus, dass eine Begründungspflicht besteht und dass tatsächlich eine Begründung gegeben wird. Es geht nicht um die Frage, ob rechtsfortbildende Entscheidungen einer Begründung bedürfen oder gar um einen eigenständigen verfassungsrechtlichen Begründungszwang, sondern um inhaltliche Begründungsgebote. Die für verdeckte Rechtsfortbildungen maßgebenden Fragen lauten: In welcher Weise müssen rechtsfortbildende Entscheidungen begründet werden? Verstoßen Begründungen, in denen Rechtsfortbildungen verdeckt werden, gegen verfassungsrechtliche und/oder einfachgesetzliche Vorgaben? Verdeckte Rechtsfortbildungen betreffen also das »Wie« und nicht das »Ob« der Begründung. Die verfassungsrechtliche Kontroverse dreht sich demgegenüber fast ausschließlich um das Bestehen einer Begründungspflicht und nicht um das »Wie« der verfassungsrechtlich gebotenen Begründung. Inhaltliche Begründungsregeln sind der verfassungsrechtlichen Diskussion kaum zu entnehmen. 155 Zu diesen beiden Anknüpfungspunkten sogleich unter c. und d. – Bei den hier nicht interessierenden (belastenden) Verwaltungsakten beruft sich das Bundesverfassungsgericht für die Begründungspflicht traditionell auf rechtsstaatliche Grundsätze, s. BVerfGE 6, 32, 44 (»Elfes«); 40, 276, 286; Kischel, Die Begründung, 2003, S. 64. 156 Sie wird in diesem Zusammenhang nur als Zusatzargument herangezogen, s. etwa BVerfGE 71, 122, 136: »Dieser aus Art. 3 Abs. 1 GG gewonnene Maßstab (BVerfGE 58, 163 [167 f.]) verlangt mit Rücksicht auf die verfassungsrechtliche Gebundenheit des Richters an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) eine Begründung auch der letztinstanzlichen Entscheidung jedenfalls dann und insoweit, als von dem eindeutigen Wortlaut einer Rechtsnorm abgewichen werden soll und der Grund hierfür sich nicht schon eindeutig aus den den Beteiligten bekannten oder für sie ohne weiteres erkennbaren Besonderheiten des Falles ergibt«.
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§ 12 Überblick zur rechtlichen Problematik
Immerhin finden sich gewisse Berührungspunkte mit der hier zu behandelnden Thematik in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 103 Abs. 1 GG und zum Willkürverbot. Außerdem sind die in der verfassungsrechtlichen Begründungsdiskussion gemachten Äußerungen zur Gesetzesbindung nach Art. 20 Abs. 3 GG näher zu betrachten. c. Art. 103 Abs. 1 GG Der in Art. 103 Abs. 1 GG festgeschriebene Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht, der »für ein rechtsstaatliches Verfahren im Sinne des Grundgesetzes schlechthin konstitutiv ist«157, soll sicherstellen, dass der Einzelne nicht zum bloßen Objekt des gerichtlichen Verfahrens wird158. aa. Jeder muss die Möglichkeit haben, vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort zu kommen, um Einfluss auf das Verfahren und dessen Ergebnis nehmen zu können159. Deshalb darf das Gericht seiner Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweismittel zugrunde legen, zu denen die Verfahrensbeteiligten Stellung beziehen konnten160. Das Gericht muss die Äußerungen der Betroffenen zur Kenntnis nehmen und »in Erwägung ziehen«161. Äußern kann sich nur, wer Kenntnis von verfahrensrelevanten Vorgängen hat, weshalb sich aus Art. 103 Abs. 1 GG unter Umständen gewisse Informationspflichten des Gerichts ergeben162. Um die mögliche Reichweite des Art. 103 Abs. 1 GG zu verdeutlichen, kann man zwischen verschiedenen Stufen bzw. Phasen163 oder Anwendungsberei157
BVerfGE 55, 1, 6; 107, 395, 408. BVerfGE 9, 89, 95; 84, 188, 190; 107, 395, 409. 159 BVerfGE 7, 53, 57; 9, 89, 95; 84, 188, 190; 86, 133, 144; 107, 395, 408. 160 BVerfGE 6, 12, 14; 7, 275, 278; 12, 110, 113; 24, 56, 61; 57, 250, 274; 65, 135, 144; 84, 188, 190; 89, 381, 392; 101, 106, 129. – Zu beachten ist, dass sich das durch diese Rechtsprechung geschaffene Berücksichtigungs- bzw. Verwertungsverbot nicht auf Rechtsauffassungen bezieht. 161 BVerfGE 11, 218, 220; 34, 344, 347; 42, 364, 367 f.; 47, 182, 187; 59, 330, 333; 64, 135, 144; 70, 215, 218; 81, 97, 107; 86, 133, 145; 96, 205, 216; BVerfG, NVwZ-RR 2002, 802, 803. 162 Zu Informationspflichten des Gerichts »in besonderen Fällen« BVerfGE 84, 188, 190 (tatsächliche Gesichtspunkte); 86, 133, 144 f. (rechtliche Gesichtspunkte). – In beiden Fällen ging es um sog. Überraschungsentscheidungen, in denen ein Gericht ohne vorherigen Hinweis aufgrund eines neuen rechtlichen Gesichtspunktes entschieden hatte. Im Übrigen betont das Bundesverfassungsrecht stets, dass aus Art. 103 Abs. 1 GG keine Frage- und Aufklärungspflicht in Bezug auf die Rechtsansicht des Gerichts folge, so BVerfGE 74, 1, 5 m.w.N.; als Grundsatz bekräftigt in BVerfGE 84, 188, 190; 86, 133, 144: Das Gericht sei grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet. Ob das Bundesverfassungsgericht für den hier interessierenden Bereich des streitigen Zivilverfahrens trotz der veränderten Fassung des § 139 ZPO in Zukunft an dieser Position festhalten wird, bleibt abzuwarten. »An sich« zwingt die in ihrer Bedeutung umstrittene Änderung der einfachgesetzlichen Prozessnorm zu keiner Veränderung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Weitergehende Informationspflichten bejaht schon jetzt allgemein und damit auch für das Zivilverfahren Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 103 Rn. 9, 15 ff. 163 Vgl. zu gebräuchlichen Differenzierungen zunächst Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 103 Rn. 9 f.: Mitteilungs- und Informationspflichten des Gerichts, Äußerungsrecht, Anspruch auf hinreichende Begründung; ders., in: Isensee/Kirchhof, (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 1988, § 76 Rn. 19: Äußerungsrecht, Erwägungspflicht, Mitteilungs- und Informationspflichten, Begründungspflichten. Meist wird im Schrifttum im Anschluss 158
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V. Rechtsfragen der Entscheidungsbegründung
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chen164 des Rechts auf Gehör unterscheiden, und zwar zwischen dem Äußerungsrecht der Betroffenen, der Berücksichtigungspflicht und der Hinweispflicht des Gerichts und etwaigen gerichtlichen Begründungs- bzw. Bescheidungspflichten. Der Schwerpunkt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 103 Abs. 1 GG liegt in den ersten beiden der genannten Bereiche165. Über die Voraussetzungen und den Umfang gerichtlicher Begründungspflichten nach Art. 103 Abs. 1 GG besteht noch verbreitet Unsicherheit. Mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbare letztinstanzliche Entscheidungen bedürfen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 3 Abs. 1 GG von Verfassungs wegen grundsätzlich keiner Begründung166; aus Art. 103 Abs. 1 GG soll sich nach einem neueren Beschluss des Ersten Senats gleichfalls kein Anspruch auf eine mit Gründen versehene letztinstanzliche Entscheidung ergeben167. Schon frühzeitig hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, das die Gerichte nicht verpflichtet sind, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden168. Auch sei im Hinblick auf mögliche Gehörsverstöße davon auszugehen, dass die Gerichte das entgegengenommene Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben169; aus den besonderen Umständen des Einzelfalles kann sich nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts aber etwas anderes ergeben170. Die Gerichte sollen verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht verpflichtet sein, auf ihre Rechtsauffassungen hinzuweisen171; andererseits sind sog. Überraschungsentscheidungen, in denen ein
an Rüping zwischen dem Recht auf Information, dem Recht auf Stellungnahme und dem Recht auf Berücksichtigung unterschieden, vgl. Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 292; Knemeyer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VI, 1989, § 155 Rn. 28; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band III, 2000, Art. 103 I Rn. 19; jeweils m.w.N.; leicht abgewandelt bei Kischel, Die Begründung, 2003, S. 100: Aufklärungspflicht des Gerichts, Äußerungsrecht der Beteiligten, gerichtliche Pflicht zum Zuhören; s. noch Waldner, Der Anspruch auf rechtliches Gehör, 2. Aufl. 2000, S. XI ff., Rn. 10: Recht auf Orientierung, Recht auf Äußerung, Pflicht zur Berücksichtigung. 164 In dem Beschluss des Plenums des Bundesverfassungsgerichts vom 30.4.2003 wird rechtliches Gehör als Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung beschrieben, s. BVerfGE 107, 395, 409. 165 Entsprechende Bewertung schon bei Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 50; Kischel, Die Begründung, 2003, S. 100. 166 BVerfGE 71, 122, 135; ebenso im Ergebnis bereits BVerfGE 50, 287, 289 f., wo es ohne Bezug zu einer konkreten Verfassungsnorm heißt, dem Grundgesetz sei nicht zu entnehmen, dass jede – auch eine letztinstanzliche – gerichtliche Entscheidung mit einer Begründung zu versehen sei; zustimmend BVerfGE 81, 97, 106; zum Ganzen Waldner, Der Anspruch auf rechtliches Gehör, 2. Aufl. 2000, Rn. 198, der davon ausgeht, dass sich in dieser Frage ein Umdenken beim Bundesverfassungsgericht abzeichne; zu BVerfGE 71, 122, 135 sogleich unter d. 167 BVerfGE 104, 1, 7 f. Apodiktisch heißt es: »Der Schutzbereich des Art. 103 Abs. 1 GG umfasst nicht einen Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf eine mit Gründen versehene letztinstanzliche Entscheidung«. 168 BVerfGE 5, 22, 24; 13, 132, 149; 22, 267, 274. 169 BVerfGE 22, 267, 274; 27, 248, 251 f.; 40, 101, 104; 47, 182, 187; 51, 126, 129; 54, 43, 46; 86, 133, 146; 88, 366, 375; Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 103 Rn. 31. 170 BVerfGE 22, 267, 274; 27, 248, 252; 42, 364, 368; 47, 182, 188; 65, 293, 295; 70, 288, 293; 86, 113, 146. 171 BVerfGE 74, 1, 5 m.w.N.; aus jüngerer Zeit BVerfGE 84, 188, 190; 86, 133, 144; 98, 218, 263; 108, 282, 339 (Sondervotum).
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§ 12 Überblick zur rechtlichen Problematik
Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretener Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 103 Abs. 1 GG unzulässig172, weil sie im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags zur Rechtslage gleichkommen können173. Besonders unklar ist, ob und wann die Gerichte in den Entscheidungsgründen auf Rechtsansichten eingehen müssen174. bb. Art. 103 Abs. 1 GG betrifft nicht den Zusammenhang von Urteil und Gesetz, sondern von Urteil und Parteivortrag175 bzw. Parteivorbringen176. Das Verfahrensgrundrecht wirkt vor der Entscheidung177. Es garantiert die gerichtliche Berücksichtigung des Vorbringens der Parteien178. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Rechtsfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben179. Das rechtliche Gehör verpflichtet das Gericht dazu, die Parteien vor der Entscheidung zu hören und ihr Vorbringen zu erwägen, gebietet aber nicht unmittelbar, eine Begründung abzugeben180. 172 BVerfGE 84, 188, 190; 86, 133, 144 f.; 96, 189, 204; 98, 218, 263; 107, 395, 410; 108, 282, 338 f. (Sondervotum); 108, 341, 345 f.; BVerfG, NJW-RR 1996, 253, 254; NJW 2002, 1334, 1335; NJW 2003, 2524. 173 BVerfGE 98, 218, 263; 108, 282, 338 f. (Sondervotum); 108, 341, 346. 174 Vgl. zunächst nur Brüggemann, Die richterliche Begründungspflicht, 1971, S. 153 ff.; Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 50 ff.; Waldner, Der Anspruch auf rechtliches Gehör, 2. Aufl. 2000, Rn. 198 a. E. und Rn 204 f., der die Kammerrechtsprechung als »völlig uneinheitlich« bezeichnet und auch darauf hinweist, dass er Verfassungsbeschwerden wegen übergangener Rechtsausführungen in der Vorauflage noch als aussichtslos bezeichnet hatte. 175 Kischel, Die Begründung, 2003, S. 99 f. 176 Der Begriff passt im hier diskutierten Zusammenhang besser, weil Juristen mit Parteivortrag regelmäßig Tatsachenbehauptungen und nicht Rechtsansichten der Parteien assoziieren. 177 Vgl. insoweit auch Ule, DVBl. 1959, 537, 542; Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 54 f. m.w.N. 178 So BVerfG, NJW 2005, 1768, 1769, unter Hinweis auf BVerfGE 107, 395, 409, wo es heißt, das rechtliche Gehör sichere insbesondere, dass die Parteien mit Ausführungen und Anträgen gehört werden. 179 So zusammenfassend BVerfG, NVwZ-RR 2002, 802, 803; fast wortgleich BVerfGE 69, 141, 143; 70, 215, 218, wo statt von Rechtsfehlern von Verfahrensfehlern die Rede ist; in der Sache auch bereits BVerfGE 50, 32, 35. 180 Vgl. Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 54 f. m.w.N.; Grunsky, in: Sprung/König (Hrsg.), Die Entscheidungsbegründung in europäischen Verfahrensrechten und im Verfahren vor internationalen Gerichten, 1974, S. 63, 80; Kischel. Die Begründung, 2003, S. 105. – Allerdings wird in Teilen des staatsrechtlichen Schrifttums zunehmend versucht, aus Art. 103 Abs. 1 GG eine grundsätzlich bestehende Begründungspflicht für gerichtliche Entscheidungen herzuleiten, vgl. etwa Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 103 Rn. 10: grundsätzlicher Anspruch auf hinreichende Begründung der gerichtlichen Entscheidung; deutlich zurückhaltender bei den konkreten Ausführungen zur »Berücksichtigungs- und Begründungspflicht«, a.a.O. Rn. 42 a; s. auch Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band III, 2000, Art. 103 I Rn. 74 m.w.N.: »grundsätzliche verfassungsrechtliche Begründungspflicht«; mit Einschränkungen beispielsweise Knemeyer, in: Isensee/Kirchof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VI, 1989, § 155 Rn. 32: Das Gericht müsse sich »in bestimmten Grenzen« zur Verwirklichung des rechtlichen Gehörs mit dem Vorbringen in den Gründen auseinandersetzen.
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V. Rechtsfragen der Entscheidungsbegründung
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Zwar hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts zeitweise formuliert, die wesentlichen, der Rechtsverfolgung und Verteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen müssten in den Entscheidungsgründen verarbeitet werden181. Der Satz fiel jedoch jeweils im Hinblick auf die vom Bundesverfassungsgericht dem Art. 103 Abs. 1 GG entnommene Pflicht der Fachgerichte, das von ihnen entgegengenommene Parteivorbringen auch zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Aufgrund der Würdigung der Entscheidungsgründe und des Gesamtzusammenhangs des Urteils182 verneinte der Erste Senat in den genannten Entscheidungen ausnahmsweise die grundsätzlich vom Bundesverfassungsgericht unterstellte Einhaltung der Pflicht, den Tatsachenvortrag zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen. Bejaht wurde also ein Verstoß gegen die Berücksichtigungspflicht und nicht etwa eine eigenständige Bescheidungspflicht. Den Entscheidungsgründen kam lediglich eine Vermutungswirkung für die unterbliebene Berücksichtigung zu. Dementsprechend formuliert der Erste Senat mittlerweile in ausdrücklicher »Fortführung« seiner früheren Rechtsprechung: »Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so läßt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war (Fortführung von BVerfGE 47, 182 [189])«183. Dass sich aus Art. 103 Abs. 1 GG kein Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf eine mit Gründen versehene Entscheidung ergibt, hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts kürzlich für letztinstanzliche Judikate ausdrücklich ausgesprochen184. Freilich kann eine fehlende Begründung zu Kernpunkten des Parteivorbringens ein Indiz für den in der Nichtbeachtung des Vortrags liegenden Gehörsverstoß sein185; der Akteninhalt oder die übrigen Umstände des Falles können diese Vermutung aber nach dem Bundesverfassungsgericht entkräften186. cc. Die für verdeckte Rechtsfortbildungen wichtige Frage, was sich aus Art. 103 Abs. 1 GG nach dem Bundesverfassungsgericht für den Umgang mit Rechtsauffassungen und rechtlichen Vorgaben ergibt, wird im Schrifttum unterschiedlich 181 BVerfGE 47, 182, 189; 54, 43, 46; 58, 353, 358; s. auch BVerfG, NJW 1996, 2785, 2786 (2. Kammer des Zweiten Senats). 182 So ausdrücklich BVerfGE 47, 182, 189. 183 BVerfGE 86, 122, 133 (2. Leitsatz). 184 BVerfGE 104, 1, 7 f. 185 BVerfGE 86, 133, 145; 47, 182, 189; BVerfG, NVwZ-RR 2002, 802, 803; Kischel, Die Begründung, 2003, S. 103 ff.; Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 53; s. für eine Rechtsfindung, die ohne ordnungsgemäße Begründung von einer Rechtsnorm abwich, auch BVerfGE 81, 97, 106: Wenn sich weder aus den Entscheidungsgründen noch aus den übrigen Umständen des Falles entnehmen lasse, ob die Rechtsfindung vor Art. 103 Abs. 1 GG standhält, führe dies zur Annahme eines Verfassungsverstoßes. 186 BVerfGE 86, 133, 146; 47, 182, 189 f.; Kischel, Die Begründung, 2003, S. 105; s. außerdem nochmals BVerfGE 81, 97, 106: »Läßt sich also weder aus den Entscheidungsgründen noch aus den übrigen Umständen des Falles entnehmen, ob die von der Norm abweichende Rechtsfindung vor Art. 103 Abs. 1 GG standhält, führt dies zur Annahme eines Verfassungsverstoßes« (keine Hervorhebung im Original).
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beantwortet187. Die verbreitete Unsicherheit hängt damit zusammen, dass oft nicht hinreichend zwischen den einzelnen Bereichen des Rechts auf Gehör unterschieden wird. (1) Gegenstand des Äußerungsrechts des Betroffenen sind Tatsachen und Rechtsfragen. »Art. 103 Abs. 1 GG gibt dem an einem Rechtsstreit Beteiligten ein Recht darauf, daß er Gelegenheit erhält, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern … (vgl. BVerfGE 1, 418 [429]; 19, 32 [36]; ständige Rechtsprechung)«188. Der Betroffene ist also nach Art. 103 Abs. 1 GG berechtigt, Rechtsausführungen vorzutragen189. Das versteht sich trotz der gerne zitierten Sätze »iura novit curia«190 und »da mihi factum, dabo tibi ius« auch für das Zivilverfahren fast von selbst und wird vom Bundesverfassungsgericht seit jeher anerkannt. (2) Ebenfalls unproblematisch ist, dass Gerichte nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung verpflichtet sind, die vorgebrachten Rechtsansichten im Rahmen ihrer Entscheidungsfindung zu bedenken. Äußerungsrecht und Berücksichtigungspflicht stimmen in gegenständlicher Hinsicht überein. Dem Äußerungsrecht entspricht – so das Bundesverfassungsgericht – die grundsätzliche Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen191; in diesem Zusammenspiel von Äußern und Gehörtwerden verwirkliche sich die für ein rechtsstaatliches Verfahren zentrale prozessuale Befugnis, die Art. 103 Abs. 1 GG gewährleiste192. Allerdings ist diese anerkannte Pflicht, die Rechtsansichten der Parteien erwägend zu berücksichtigen, als solche nicht justitiabel, weil die Betroffenen und die Kontrollinstanz regelmäßig nicht beurteilen können, was das Gericht tatsächlich registriert hat. Vor diesem Hintergrund ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu sehen, nach der im Hinblick auf mögliche Gehörsverstöße grundsätzlich davon auszugehen ist, dass die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben193. Eine Dokumentation des zur Kenntnis Genommenen in den Akten ist nur in seltenen Fällen ausdrücklich vorgeschrieben194. Was die Berücksichtigungspflicht des Art. 103 Abs. 1 GG wert ist, hängt daher entscheidend davon ab, welche Bedeutung man der tatsächlich gegebenen Begründung zumisst. Dass
187 Vgl. bereits aa.; unterschiedliche Auffassungen über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schildert insbesondere Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 50 ff. 188 BVerfGE 60, 175, 210; ebenso etwa BVerfGE 64, 135, 143; 65, 227, 234; 86, 133, 144; 98, 218, 263; 108, 282, 338 (Sondervotum); BVerfG, NJW-RR 1996, 253; NJW 2002, 1334. 189 So ausdrücklich Knemeyer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VI, 1989, § 155 Rn. 31, der im Anschluss an Wassermann auf die enge Verbindung zwischen Tat- und Rechtsfragen verweist. 190 Hierzu im Zusammenhang mit Art. 103 Abs. 1 GG BVerfG, NJW-RR 1993, 383. 191 Vgl. etwa BVerfGE 64, 135, 144 m.w.N. und dem Hinweis »st. Rspr.«. 192 So BVerfGE 64, 135, 144. 193 BVerfGE 22, 267, 274; 27, 248, 251 f.; 40, 101, 104; 47, 182, 187; 51, 126, 129; 54, 43, 46; 86, 133, 146; 88, 366, 375; Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 103 Rn. 31. 194 Vgl. für erteilte Hinweise des Gerichts jetzt § 139 Abs. 4 ZPO.
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V. Rechtsfragen der Entscheidungsbegründung
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Gerichte nach Art. 103 Abs. 1 GG auch Rechtsansichten der Parteien erwägen müssen, ist indes unstreitig. (3) Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob und wann ein Gericht nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet ist, auf seine (voraussichtliche) Rechtsauffassung hinzuweisen. Ursprünglich hat das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen, dass ein Gericht nach Art. 103 Abs. 1 GG weder zu einem Rechtsgespräch195 noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet sei: Denn »aus diesem Prozeßgrundrecht folgt keine Frage- und Aufklärungspflicht in bezug auf die Rechtsansicht des Gerichts«196. Formal hält das Bundesverfassungsgericht bis heute an dieser Rechtsprechung fest197. Tatsächlich ist sie durch die seit Anfang der neunziger Jahre praktizierte Rechtsprechung zur sog. Überraschungsentscheidung198 (partiell) überholt, nach der es gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör verstößt, wenn ein Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem die Betroffenen nicht zu rechnen brauchten. Wann konkret nicht mit einem rechtlichen Gesichtspunkt gerechnet werden muss, ist indessen nur schwer vorherzusehen. In der grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Hinweis auf rechtliche Aspekte heißt es199: »Dabei kann es in besonderen Fällen auch geboten sein, den Verfahrensbeteiligten auf eine Rechtsauffassung hinzuweisen, die das Gericht der Entscheidung zugrunde legen will. Eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt voraus, daß der Verfahrensbeteiligte bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welche Gesichtspunkte es für die Entscheidung ankommen kann (vgl. …). Es kann im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags zur Rechtslage gleich kommen, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozeßbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretener Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte. Allerdings ist dabei zu beachten, daß das Gericht grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch (vgl. …) noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet ist (vgl. …). Auch wenn die Rechtslage umstritten und problematisch ist, muß daher ein Verfahrensbeteiligter grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen«. Schon die Vielzahl der wertausfüllungsbedürftigen bis leerformelhaften und teilweise gegensätzlichen Begriffe lässt eine sichere Prognose, wann im Einzelfall ein rechtlicher Hinweis geboten ist, nicht zu. Hin-
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BVerfGE 31, 364, 370. BVerfGE 74, 1, 5; ebenso in der Sache bereits BVerfGE 66, 116, 147 (obiter dictum); 67,
90, 96. 197 BVerfGE 84, 188, 190; 86, 133, 144; zu dieser Rechtsprechung bereits vorstehend aa.; nochmals bestätigt durch BVerfGE 96, 189, 204; 98, 218, 263; 108, 282, 339 (Sondervotum). 198 BVerfGE 84, 188, 190; 86, 133, 144 f.; 96, 189, 204; 98, 218, 263; 107, 395, 410; 108, 282, 338 f. (Sondervotum); 108, 341, 345 f.; BVerfG, NJW-RR 1996, 253, 254; NJW 2002, 1334, 1335; NJW 2003, 2524. 199 BVerfGE 86, 133, 144 f.; nahezu wortgleich BVerfGE 98, 218, 263; ähnlich BVerfGE 108, 282, 338 f. (Sondervotum).
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zu kommt: Wenn ein Verfahrensbeteiligter von sich aus grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte in Betracht ziehen muss, ist es – abgesehen von willkürlichen gerichtlichen Entscheidungen – kaum denkbar, dass er bei Anwendung dieser von ihm zu verlangenden Sorgfalt nicht zu erkennen vermag, auf welche Gesichtspunkte es für die Entscheidung ankommen kann. Einfacher ausgedrückt: Wer mit allem rechnen muss, kann nicht überrascht werden. Klare Maßstäbe liefert die »Überraschungsrechtsprechung« des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf rechtliche Gesichtspunkte nicht. Nach seiner gegenwärtigen Rechtsprechung ist ein Gericht dann nach Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet, auf seine (voraussichtliche) Rechtsauffassung hinzuweisen, wenn das Bundesverfassungsgericht auf eine Verfassungsbeschwerde des Betroffenen im Nachhinein eine entsprechende Verpflichtung im Einzelfall feststellt. (4) Die umstrittene Frage, ob aus Art. 103 Abs. 1 GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Bescheidungspflicht für Rechtsansichten der Parteien folgt, ist differenzierend zu beantworten. (a) Unmittelbar verpflichtet Art. 103 Abs. 1 GG, wie bereits ausgeführt, die Gerichte generell nicht zur Abgabe einer Begründung, da die Verfahrensgarantie des rechtlichen Gehörs vor der Entscheidung wirkt. Eine eigenständige Begründungs- oder Bescheidungspflicht, die neben dem Äußerungsrecht des Betroffenen und den Berücksichtigungs- und Hinweispflichten des Gerichts einen vierten Schutzbereich des rechtlichen Gehörs bilden würde, ergibt sich weder aus Art. 103 Abs. 1 GG noch aus der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Das gilt auch für von den Parteien angeführte rechtliche Gesichtspunkte. Die Entscheidungen, die im Schrifttum als Beleg für eine vom Bundesverfassungsgericht wegen des rechtlichen Gehörs angeblich bejahte Begründungs- bzw. Bescheidungspflicht im Hinblick auf Rechtsausführungen angeführt werden, tragen diese Folgerungen nicht. Zum Teil betreffen sie Art. 3 Abs. 1 GG200. Soweit sie zu Art. 103 Abs. 1 GG ergangen sind, haben sie tatsächlich die Indizwirkung fehlender bzw. unvollständiger Begründungen für die fehlende Berücksichtigung von Tatsachenvortrag und Rechtsansichten oder aber sog. Überraschungsentscheidungen zum Gegenstand. Diese Entscheidungsreihen sind bereits geschildert worden. Betroffen sind einerseits der Bereich der Berücksichtigungspflicht und anderer derjenige der gerichtlichen Hinweispflicht. Um eine eigenständige Begründungs- oder Bescheidungspflicht geht es in den genannten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 103 Abs. 1 GG nicht. Am ehesten lässt sich eine Bescheidungspflicht für Rechtsansichten der Parteien noch auf zwei bislang nicht erörterte Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts stützen201: In beiden Fällen war das Landgericht in den Entscheidungsgründen auf Rechtsausführungen der Parteien, die für den Ausgang des Verfahrens entscheidend waren, nicht eingegangen. Die Kammern des Bundesverfassungsgerichts hätten, so heißt es im Schrifttum, »Verfassungsbeschwerden gegen Berufungsurteile des LG wegen gegen das Recht auf Gehör verstoßen200 201
Dazu sogleich unter d. BVerfG, NJW-RR 1993, 383; NJW-RR 1995, 1033 f.
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der Begründung stattgegeben – das ist aber nur denkbar, wenn eine Begründungspflicht überhaupt besteht«202. Der Schluss von der Stattgabe der Verfassungsbeschwerde auf eine nach Art. 103 Abs. 1 GG bestehende Begründungspflicht wäre indes nur möglich, wenn die Kammern den Verfassungsbeschwerden gerade wegen des in der fehlenden Begründung bzw. Bescheidung liegenden Verfassungsverstoßes stattgegeben hätten. Das ist jedoch nicht der Fall. Beide Beschlüsse wählen als Ausgangspunkt die nach Art. 103 Abs. 1 GG bestehende Pflicht des Gerichts, Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen203. Im ersten Beschluss wurde der Verfassungsbeschwerde stattgegeben, weil die rechtlichen Ausführungen, wie der Vorsitzende der entscheidenden Kammer mitgeteilt hatte, schlicht übersehen und damit »nicht berücksichtigt« worden waren204. Ausschlaggebend für den Erfolg der Verfassungsbeschwerde war also nicht die fehlende Bescheidung bzw. Begründung, sondern die unterbliebene Berücksichtigung, das »Nicht-Erwägen« der Rechtsausführungen. Im zweiten Beschluss stützte sich die Kammer ausdrücklich auf die neuere »Berücksichtigungsrechtsprechung« des Bundesverfassungsgerichts205, die sie freilich verkürzt wiedergab206: Es müssten, damit das Bundesverfassungsgericht einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG – wegen unterbliebener Berücksichtigung – feststellen könne, im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen oder Rechtsausführungen eines Beteiligten entweder gar nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden sind; ein solcher Umstand sei gegeben, wenn das Gericht zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung sei, in den Entscheidungsgründen nicht Stellung nimmt. Später heißt es noch am Rande, dass das Landgericht sich gemäß Art. 103 Abs. 1 GG mit dieser für die Entscheidung erheblichen und in der fachgerichtlichen Rechtsprechung höchst umstrittenen Rechtsfrage in den Urteilsgründen auseinander zu setzen hatte207. Dass die Kammer mit diesen Sätzen in der Sache von der ausdrücklich in Bezug genommenen »Berücksichtigungsrechtsprechung« des Bundesverfassungsgerichts abweichen wollte, nach der das unterbliebene Eingehen auf das zentrale Parteivorbringen in den Entscheidungsgründen »nur« eine widerlegbare Vermutung für die Nichtberücksichtigung dieses Vortrags begründet, kann nicht unterstellt werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass auf eine vollständige Wiedergabe der Rechtsprechungsgrundsätze allein deshalb verzichtet wurde, weil konkret keine Anhaltspunkte ersichtlich waren, welche die Indizwirkung der fehlenden Erörterung für die Nichtberücksichtigung hätten ausschließen können. Der maßgebliche Verfassungsverstoß lag also auch hier in der fehlenden Berücksichtigung der Rechtsansichten und nicht in der diese lediglich indizierenden Nichtbescheidung. 202
Waldner, Der Anspruch auf rechtliches Gehör, 2. Aufl. 2000, Rn. 198. Ausdrücklich in BVerfG, NJW-RR 1995, 1033, 1034; hinreichend deutlich BVerfG, NJW-RR 1993, 383, wo die Pflicht, die vorgebrachten Argumente zu erwägen, allerdings auf den Kern des Parteivorbringens beschränkt wird. 204 BVerfG, NJW-RR 1993, 383. 205 BVerfGE 86, 133, 145 f.; hierzu bb. 206 BVerfG, NJW-RR 1995, 1033, 1034. 207 BVerfG, NJW-RR 1995, 1033, 1034. 203
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Eine eigenständige Begründungspflicht ist in den beiden Kammerentscheidungen somit nicht aufgestellt worden. Festzuhalten ist, dass sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 103 Abs. 1 GG keine »echte« Bescheidungspflicht für Rechtsansichten ergibt. (b) Wird der Kern des Parteivorbringens in den Entscheidungsgründen nicht erörtert, so kann allerdings vermutet werden, dass das Vorbringen vom Gericht nicht berücksichtigt (»erwogen«) worden ist. Schon wegen dieser sonst eintretenden Vermutungswirkung ist ein Gericht gehalten, in den Gründen auf das zentrale tatsächliche und rechtliche Vorbringen der Parteien einzugehen. Man mag daher von einer Begründungsobliegenheit oder auch von einer mittelbaren Begründungspflicht sprechen, die aber nicht mit einer »echten« Bescheidungs- bzw. Begründungspflicht gleichgesetzt werden darf. Es handelt sich um eine bloße Ausprägung des verfassungsrechtlichen Berücksichtigungsgebots. Wird die Begründungsobliegenheit verletzt, so liegt nicht zwangsläufig ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG vor. Entscheidend ist stets, ob das Parteivorbringen vom Gericht zur Kenntnis genommen und erwogen worden ist. Die tatsächliche Berücksichtigung des zentralen Vorbringens kann sich ungeachtet fehlender Bescheidung in den Entscheidungsgründen aus den sonstigen Umständen ergeben. Dann ist die Vermutungswirkung widerlegt und Art. 103 Abs. 1 GG nicht verletzt. (c) Es ergibt sich: Das Berücksichtigungsgebot des Art. 103 Abs. 1 GG gilt auch für Rechtsansichten. Eine fehlende Begründung zu Kernpunkten des Parteivorbringens kann ein Indiz für den in der Nichtbeachtung des Vortrags liegenden Gehörsverstoß sein. Eine darüber hinaus gehende Bescheidungs- oder Begründungspflicht gibt es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 103 Abs. 1 GG nicht. dd. Nachdem die Anwendungsbereiche des Art. 103 Abs. 1 GG auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Einzelnen betrachtet worden sind, lässt sich beurteilen, welche Bedeutung das Prozessgrundrecht für verdeckte Rechtsfortbildungen der Gerichte hat. Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen können im Zivilrecht die materiellrechtliche Beurteilungsnorm oder die für die Bildung des Sachverhalts geltenden Prozessrechtsgesetze zum Gegenstand haben. Dementsprechend ist auch im Hinblick auf Art. 103 Abs. 1 GG zu unterscheiden. (1) Theoretisch ist es zunächst möglich, dass aufgrund einer verdeckten Fortbildung des (materiellen) Gesetzesrechts an sich einschlägige Rechtsansichten der Parteien übergangen werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann das rechtliche Gehör auch verletzt sein, wenn Rechtsansichten in den Entscheidungsgründen übergangen werden; die fehlende Begründung kann ein Indiz für den in der Nichtbeachtung liegenden Gehörsverstoß sein208. Art. 103 Abs. 1 GG greift in-
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Vorstehend bb. und cc.(4).
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des generell nur dann ein, wenn ein zentrales Vorbringen der Parteien nicht berücksichtigt wurde209. In dieser Situation können Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen aus tatsächlichen Gründen kaum eingesetzt werden. Hat die Partei ihre Rechtsansichten zu dem konkreten Rechtsproblem vorgebracht, das mit dem jeweiligen Topos schlagwortartig umschrieben wird, so ist dieser Topos nicht mehr geeignet, eine Rechtsfortbildung zu verdecken, weil die Wertungsfrage offen liegt. Das Gericht kann allenfalls zu einem »neuen« Topos greifen, um das Recht verdeckt fortzubilden. Geschieht das ohne vorherigen rechtlichen Hinweis, so kann deshalb das rechtliche Gehör verletzt sein210. Derartige Überraschungsentscheidungen stellen allerdings kein spezifisches Problem verdeckter Rechtsfortbildungen dar. Im Übrigen soll Art. 103 Abs. 1 GG nicht (generell) vor tatsächlichen oder rechtlichen Fehlern des Gerichts bei der Rechtsanwendung schützen211. Für dieses Verfahrensgrundrecht komme es nicht auf die Qualität einer gegebenen Begründung an, solange sie nur irgendein Erwägen des Parteivorbringens erkennen lasse; selbst bei einer unsinnigen, inhaltlich nicht mehr nachvollziehbaren Bewertung des Vorbringens habe das Gericht die Partei angehört und ihren Vortrag erwogen212. »Erwogen« in diesem Sinne wird ein Vorbringen selbst dann, wenn die in ihm enthaltenen Rechtsansichten mit Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen »überspielt« werden. (2) Näher liegt die Möglichkeit einer Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG durch Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen, welche die für die Bildung des Sachverhalts maßgebenden Prozessrechtsnormen zum Gegenstand haben: Tatsachenvortrag bleibt von vornherein unberücksichtigt, weil aufgrund generalisierender Regeln Vorbringen zu Unrecht als präkludiert zurückgewiesen wird oder übertrieben hohe Anforderungen an den Sachvortrag gestellt werden, insbesondere an die Schlüssigkeit der Klage. Auch können Beweisangebote aufgrund verdeckter Rechtsfortbildungen als verspätet oder ungeeignet eingestuft oder als sog. Beweisermittlungsanträge (»Ausforschungsbeweis«) zurückgewiesen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in einer Vielzahl von Entscheidungen mit Gehörsverletzungen im Zivilverfahren beschäftigt213. Sieht man von den be-
209 BVerfGE 47, 182, 189; 86, 133, 146; BVerfG, NJW-RR 1993, 383; NJW 1994, 2279; NJWRR 1995, 1033, 1034; Waldner, Der Anspruch auf rechtliches Gehör, 2. Aufl. 2000, Rn. 204. 210 Zur Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG durch sog. Überraschungsentscheidungen BVerfGE 84, 188, 190; 86, 133, 144 f.; 96, 189, 204; 98, 218, 263; 107, 395, 410; 108, 282, 338 f. (Sondervotum); 108, 341, 345 f.; BVerfG, NJW-RR 1996, 253, 254; NJW 2002, 1334, 1335; NJW 2003, 2524; zur »Rechtsfortbildung als »Überraschung« der Parteien« Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 298 ff., 305 f. 211 So Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band III, 2000, Art. 103 I Rn. 62. 212 Kischel, Die Begründung, 2003, S. 105 f.; zu Recht gewisse Einschränkung bei Waldner, Der Anspruch auf rechtliches Gehör, 2. Aufl. 2000, Rn. 203 für den (Ausnahme-)Fall, dass das Vorbringen in den Gründen »so offensichtlich unhaltbar gewürdigt ist, daß man daraus ersehen kann, daß es der Richter überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hat«. 213 Kurzer Überblick aus zivilprozessrechtlicher Perspektive bei Reichold, in: Thomas/ Putzo, Zivilprozessordnung, 27. Aufl. 2005, Einl I Rn. 19 (»Typische Verstöße«); Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 321a Rn. 8 ff. (»Fallgruppen typischer Verstöße«); Zuck, NJW 2005, 3753, 3755 f.
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reits erwähnten Überraschungsentscheidungen214 und den hier nicht interessierenden sog. Pannenfällen, in denen Parteivortrag, Beweisangebote oder Klageanträge schlicht übersehen werden215, ab, so lassen sich fünf Fallgruppen unterscheiden, in denen die Bildung des Sachverhalts betroffen ist. Im Einzelnen geht es um die fehlerhafte Zurückweisung eines Vorbringens als präkludiert216, um die fälschliche Nichtberücksichtigung von Parteivortrag als unsubstantiiert217, um die unzutreffende Behandlung von bloßem Nichtbestreiten nach § 138 Abs. 3 ZPO als bindendes Geständnis gemäß §§ 288, 290 ZPO218, um das prozessrechtlich unzulässige Übergehen entscheidungserheblicher Beweisanträge219 sowie um die Berücksichtigung von Tatsachen und Beweisen, die nicht ordnungsgemäß in den Prozess eingeführt worden sind und nicht hätten verwertet werden dürfen220. In all diesen Fallgruppen können die für die Bildung des Sachverhalts maßgebenden Prozessnormen auch durch Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen fortgebildet werden, deren Einsatz dann gegen das Gebot rechtlichen Gehörs verstößt. (3) Festzuhalten ist: Art. 103 Abs. 1 GG ist verletzt, wenn aufgrund einer fortgebildeten Prozessrechtsnorm entscheidungserheblicher Tatsachenvortrag nicht zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wird, erhebliche Beweisangebote übergangen oder umgekehrt Tatsachen und Beweise verwertet werden, die nicht Gegenstand des Verfahrens waren. Es geht also vor allem um Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen, welche die für die Bildung des Sachverhalts maßgebenden Prozessrechtsnormen betreffen. Im Hinblick auf die jeweilige materiellrechtliche Beurteilungsnorm kommt eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG durch Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen demgegenüber, abgesehen vom Sonderfall sog. Überraschungsentscheidungen, schon aus tatsächlichen Gründen nicht in Betracht. Im Übrigen soll das Gericht die Partei selbst dann angehört und ihren Vortrag erwogen haben, wenn die Bewertung des Vorbringens unsinnig und inhaltlich nicht mehr nachvollziehbar ist221. Gegen solche groben inhaltlichen Fehler schütze nicht Art. 103 Abs. 1 GG, sondern allenfalls das Willkürverbot222. 214 Diese können nicht nur rechtliche, sondern auch tatsächliche Gesichtspunkte betreffen, s. nur den grundlegenden Beschluss zur sog. Überraschungsentscheidung BVerfGE 84, 188, 190 (fehlende Substantiierung). Der unterlassene Hinweis verstößt in solchen Fällen auch gegen § 139 ZPO. Fortgebildet wird diese Norm durch ein bloßes Unterlassen aber nicht. Ob die Annahme fehlender Substantiierung aufgrund neuer außergesetzlicher Regeln die für die Sachverhaltsbildung geltenden Prozessrechtsnormen fortbildet, ist eine andere Frage, die im Einzelfall zu beantworten ist. 215 Zu den sog. Pannenfällen Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 321a Rn. 8; s. auch Waldner, Der Anspruch auf rechtliches Gehör, 2. Aufl. 2000, Rn. 183. 216 BVerfGE 60, 1, 5; 67, 39, 41 ff.; 81, 97, 105 f. 217 Etwa BVerfGE 84, 188, 190; NJW 1994, 1274. 218 BVerfG, NJW 2001, 1565. 219 BVerfGE 69, 141, 144; NJW-RR 1996, 183, 184; jeweils m.w.N. 220 BVerfGE 6, 12, 14; 29, 345, 347 f.; 55, 95, 98 f.; 67, 96, 99; BVerfG, NJW 1994, 1210; NJW-RR 2004, 1150, 1151; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band III, 2000, Art. 103 I Rn. 61, 74. 221 Kischel, Die Begründung, 2003, S. 105 f. 222 Kischel, Die Begründung, 2003, S. 106 unter Berufung auf BVerfGE 57, 39, 42.
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d. Das Willkürverbot Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts soll eine Gerichtsentscheidung (objektiv) willkürlich sein, wenn eine fehlerhafte Rechtsanwendung nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht223. So verlange Art. 3 Abs. 1 GG mit Rücksicht auf Art. 20 Abs. 3 GG eine Begründung für solche (auch letztinstanzliche) Entscheidungen, die ohne erkennbaren Grund vom eindeutigen Wortlaut oder von der höchstrichterlichen Auslegung einer Norm abweichen224. Ein verfassungsgerichtliches Eingreifen gegenüber Entscheidungen der Fachgerichte unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Gleichheitssatzes in seiner Bedeutung als Willkürverbot kommt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts indes nur in seltenen Ausnahmefällen, nicht aber schon bei jedem Fehler in der Rechtsanwendung in Betracht225. Willkürlich ist hiernach nur diejenige mangelhaft begründete Entscheidung, die sich als krasses Fehlurteil darstellt226 und inhaltlich nicht zu rechtfertigen227, also in der Sache bzw. im Ergebnis nicht zu begründen ist. »Die Grenze zur Willkür ist … erst überschritten, wenn die Auslegung und die Anwendung einfachen Rechts unter keinem denkbaren Gesichtspunkt mehr verständlich ist, es sich also um eine krasse Fehlentscheidung handelt«228. Der Richterspruch darf, wie es in neueren Judikaten des Bundesverfassungsgerichts heißt, unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar sein229. Auch im Schrifttum wird eine nicht mehr nachvollziehbare, schlechterdings unvertretbare Anwendung einfachen Rechts gefordert230. Es darf sich kein vernünftiger Grund für die
223 BVerfGE 4, 1, 7; 42, 64, 74; 54, 117, 125; 62, 189, 192; 67, 90, 94; 80, 48, 51; 81, 132, 137; 87, 273, 278 f.; 96, 189, 203; BVerfG, NJW 1994, 2279; NJW 2000, 2494; NJW 2001, 1125 f., NJW 2001, 1200; s. auch BVerfGE 57, 39, 42: Würdigung »schlechthin unhaltbar«. – Allerdings ist die Formel im Laufe der Zeit leicht abgewandelt worden. Ursprünglich hieß es, eine Gerichtsentscheidung sei (objektiv) willkürlich, wenn eine fehlerhafte Rechtsanwendung nicht mehr verständlich sei und sich daher der Verdacht aufdränge, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruhe. Mittlerweile stellt das Bundesverfassungsgericht nicht mehr direkt auf die fehlerhafte Rechtsanwendung, sondern stärker auf das Ergebnis ab: Willkürlich sei ein Richterspruch, wenn er unter keinem denkbaren rechtlichen Aspekt rechtlich vertretbar sei und sich daher der Schluss aufdränge, dass er auf sachfremden Erwägungen beruhe. 224 BVerfGE 71, 122, 136; BVerfG, NJW 1993, 1909; NJW 1995, 2911; NJW 1997, 1693; NJW 1998, 3484, 3485; im Übrigen sollen mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbare letztinstanzliche Entscheidungen von Verfassungs wegen keiner Begründung bedürfen, s. nur BVerfGE 50, 287, 289 f.; 71, 122, 135; 81, 97, 106; 104, 1, 7 f. 225 BVerfG, NJW 1994, 2279 m.w.N.; s. auch BVerfGE 96, 189, 203: »Fehlerhafte Rechtsanwendung allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich«. 226 BVerfGE 89, 1, 14: »Rechtslage in krasser Weise verkannt«; ebenso BVerfG, NJW 2005, 1999, 2003 m.w.N.; s. auch BVerfGE 96, 189, 203: »offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder … Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet«. 227 Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, S. 57 unter Hinweis auf BVerfGE 70, 93, 97; 86, 59, 62 f. 228 BVerfGE 89, 1, 14; zum Ganzen Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 3 Rn. 125 ff. 229 BVerfGE 86, 59, 63; 87, 273, 278; 96, 189, 203; BVerfG, NJW 2000, 2494; NJW 2001, 1125 f.; NJW 2001, 1200; NJW 2005, 1999, 2003; s. auch bereits BVerfGE 59, 98, 101: »unter keinem Gesichtspunkt rechtlich vertretbar«; BVerfGE 66, 199, 206. 230 Kischel, Die Begründung, 2003, S. 93 f.
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konkrete Entscheidung finden. Willkür setzt mithin voraus, dass die jeweilige Gerichtsentscheidung nicht plausibel zu begründen ist231. Fehler in der realen Begründung können freilich eine Vermutungswirkung für Willkür haben232: Ist das Ergebnis einer Entscheidung weder evident gesetzeskonform noch vergleichsweise problemlos zu rechtfertigen, so ist bei einer fehlenden oder unvollständigen Begründung nicht auszuschließen, dass sachfremde Gesichtspunkte ausschlaggebend waren. Entscheidend für Willkür ist aber stets die fehlende Begründbarkeit des Richterspruchs. Es geht um den Inhalt der Entscheidung, nicht um die Darstellung233. Selbst bei einer lückenhaften Begründung, die auf das zentrale Vorbringen des Betroffenen nicht einging, verneinte das Bundesverfassungsgericht eine Verletzung des Willkürverbots234. Der Einsatz von Scheinargumenten und von Topoi, die eine Rechtsfortbildung verschleiern, macht eine Entscheidung nach den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts also nicht willkürlich, solange das Ergebnis plausibel begründbar ist. Das gilt allerdings nur für verdeckte Fortbildungen der materiellrechtlichen Beurteilungsnormen auf prozessordnungsgemäß festgestellter Tatsachengrundlage. Anders ist es, wenn entscheidungserheblicher Tatsachenvortrag gesetzeswidrig nicht zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wird oder erhebliche Beweisangebote übergangen werden. Dann kann auch ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vorliegen235. Soweit es um Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen bei der Bildung des Sachverhalts geht, sind das Willkürverbot und das Recht als Gehör als verfassungsrechtlicher Kontrollmaßstab weitgehend austauschbar236. So ist die fehlerhafte Zurückweisung eines Vorbringens als präkludiert in mehreren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts als Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG angesehen worden237; das Bundesverfassungsgericht hat eine zu Unrecht erfolgte Zurückweisung verspäteten Vorbringens aber auch als willkürliche, gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßende Handhabung des § 296 ZPO angesehen238. Außerdem be231 Kischel, Die Begründung, 2003, S. 98: Die gerichtliche Entscheidung werde aufgehoben, weil sie nicht nachvollziehbar sei und deshalb gegen das Willkürverbot verstoße. Sie sei nicht nachvollziehbar, weil das Bundesverfassungsgericht trotz seiner Bemühungen keinen Gesichtspunkt finden könne, unter dem sie zu rechtfertigen wäre. – Auf S. 97 spricht Kischel im Anschluss an Gusy von einem »Begründbarkeitsgebot«. 232 Vgl. auch Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 57: Eine mangelhafte oder gar fehlende Begründung sei nur Anlass, nicht Gegenstand der Kontrolle und schon gar nicht Grund einer Kassation nach dem Willkürverbot; zu der Vermutungswirkung von Begründungsmängeln auch Kischel, Die Begründung, 2003, S. 95 f., 98. 233 Kischel, Die Begründung, 2003, S. 96. 234 BVerfGE 86, 133, 141 und 143: Insoweit bilde der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab. 235 Vgl. etwa BVerfGE 54, 117, 125, wo eine zu Unrecht erfolgte Zurückweisung verspäteten Vorbringens als willkürliche Anwendung des § 296 ZPO bewertet wurde; s. auch BVerfGE 42, 64, 72 ff., zu § 139 ZPO; BVerfG, NJW 1994, 1210 f.: Verwertung beigezogener Akten ohne Beweisantritt als Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot. 236 Zur Austauschbarkeit von Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 103 Abs. 1 GG in bestimmten Konstellationen Degenhart, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 1988, § 76 Rn. 25; E. Schumann, ZZP 96 (1983), 137, 159 f. 237 BVerfGE 60, 5; 67, 41 ff.; 81, 97; hierzu c.dd.(2). 238 BVerfGE 54, 117, 125.
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V. Rechtsfragen der Entscheidungsbegründung
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jahte es etwa bei der Verwertung beigezogener Akten ohne Beweisantritt einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG und gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG239. Werden die für die Bildung des Sachverhalts maßgebenden Prozessnormen durch Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen fortgebildet, kommt auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts also stets sowohl eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG als auch des Art. 3 Abs. 1 GG in Betracht. e. Art. 20 Abs. 3 GG und das »Ob« der Begründung Ob sich aus Art. 20 Abs. 3 GG eine verfassungsrechtliche Begründungspflicht ergibt, ist im Schrifttum äußerst umstritten240. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Bestehen einer verfassungsrechtlichen Begründungspflicht spielt Art. 20 Abs. 3 GG keine eigenständige Rolle241. Das Bundesverfassungsgericht zieht die verfassungsrechtliche Gesetzesbindung insoweit nur als bestätigendes (Zusatz-)Argument heran242. Im Zusammenhang mit verdeckten Rechtsfortbildungen interessiert nicht, »ob« eine Begründungspflicht besteht, sondern »wie« – bei Bestehen einer Begründungspflicht – zu begründen ist243. Inwiefern sich aus Art. 20 Abs. 3 GG bestimmte Begründungsgebote ergeben, wird im Rahmen der geschilderten verfassungsrechtlichen Begründungsdiskussion nicht erörtert. f. Eine neue Frage? Herzog hat gar gemeint, die Frage, was Art. 20 Abs. 3 GG für das Verhältnis von Legislative und Judikative im Bereich der Rechtsschöpfung besage, sei, soweit ersichtlich, so noch nicht gestellt worden244. Bezieht man diese Bewertung allgemein auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dann trifft sie angesichts der vielen auf Art. 20 Abs. 3 GG abstellenden Judikate zur Rechtsfortbildung nicht zu245. Auch ist die grundsätzliche verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Fortbildung des Rechts und der Rechts-
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BVerfG, NJW 1994, 1210 f. Bejahend etwa Ule, DVBl. 1959, 537, 542; Brüggemann, Die richterliche Begründungspflicht, 1971, S. 129; Lücke, Begründungszwang und Verfassung, 1987, S. 40 ff.; dagegen Kischel, Die Begründung, 2003, S. 77 ff.; Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 61 f.; jeweils m.w.N. 241 S. bereits a. 242 S. etwa BVerfGE 71, 122, 136: »Dieser aus Art. 3 Abs. 1 GG gewonnene Maßstab (BVerfGE 58, 163 [167 f.]) verlangt mit Rücksicht auf die verfassungsrechtliche Gebundenheit des Richters an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) eine Begründung auch der letztinstanzlichen Entscheidung jedenfalls dann und insoweit, als von dem eindeutigen Wortlaut einer Rechtsnorm abgewichen werden soll und der Grund hierfür sich nicht schon eindeutig aus den den Beteiligten bekannten oder für sie ohne weiteres erkennbaren Besonderheiten des Falles ergibt«. 243 Eingehend zu den unterschiedlichen Fragestellungen oben b. 244 Herzog, FS H. Simon, 1987, S. 103, 106. 245 Vgl. etwa BVerfGE 34, 269, 286 ff.; 35, 363, 279; 56, 99, 107 ff.; 61, 68, 72 f.; 65, 182, 190 ff.; 82, 6, 11 ff.; 87, 273, 279 f.; 96, 375, 394 f. 240
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fortbildung vom Bundesgerichtshof246 und im Schrifttum247 schon frühzeitig auf Art. 20 Abs. 3 GG gestützt worden. Es stimmt aber, dass sich das wissenschaftliche Schrifttum bislang kaum mit der Bedeutung der verfassungsrechtlichen Gesetzesbindung für durchzuführende Rechtsfortbildungen und deren Begründungen beschäftigt hat248. Selbst Hillgruber, der »Richterliche Rechtsfortbildung als Verfassungsproblem« behandelt, nimmt keine eingehende Analyse des Art. 20 Abs. 3 GG vor249. Neuner, der die Bindung des Richters an das Recht in den Vordergrund seiner Betrachtungen zur Rechtsfindung contra legem stellt250, erörtert in dem folgenden ausführlichen Kapitel über die Bindung des Richters an die Gesetze vornehmlich hermeneutisch-methodische Grundsatzfragen251; in welcher Weise rechtsfortbildende Entscheidungen aufgrund der verfassungsrechtlichen Gesetzesbindung begründet werden müssen, untersucht auch er nicht.
3. Art. 20 Abs. 3 GG als Grundlage konkreter Begründungsregeln Die Norm unterscheidet nicht nach bestimmten Aufgaben oder Verrichtungen, sondern bindet die Rechtsprechung als solche umfassend an die normativen Vorgaben. a. Generelle Gesetzesbindung der Rechtsprechung Art. 20 Abs. 3 GG bestimmt: Die »vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden«. Es trifft nicht zu, dass Art. 20 Abs. 3 GG zur Frage der Begründung nichts enthalte, weil es »zwei verschiedene Dinge [sind], ob das Gericht gehalten ist, sein Urteil unter Beachtung der geltenden Rechtsvorschriften zu finden oder ob es darum geht offenzulegen, inwieweit das Urteil mit dem geltenden Recht übereinstimmt«252. Die Vorschrift differenziert nicht zwischen dem Finden und dem Begründen einer Entscheidung. Schon vom Wortlaut her bezieht sich Art. 20 Abs. 3 GG also nicht allein auf die im Zentrum
246 BGHZ 3, 308, 315, wo die Aufgabe der Gerichte, »das Recht im Sinne seiner Weiterentwicklung durch Auslegung des gesetzten Rechts fortzubilden«, auf Art. 20 Abs. 3 GG gestützt wird. 247 Gitter, Die Methode der richterlichen Gesetzesauslegung als staatsrechtliches Problem, 1960, S. 145 ff., der sich für »die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der richterlichen Rechtsfortbildung und Rechtsschöpfung« auf die Nennung der beiden Einzelbegriffe »Gesetz und Recht« in Art. 20 Abs. 3 GG beruft und dabei bereits betont, dass aus staatsrechtlicher Sicht zunächst die Auffassungen des historischen Gesetzgebers zu erforschen seien. Rückert merkt zu diesem Buch an, dass eindringliche Arbeiten über »Die Methode der richterlichen Gesetzesauslegung als staatsrechtliches Problem« erstaunlich wenig Resonanz gefunden hätten, s. Rückert, in: Rückert (Hrsg.), Fälle und Fallen in der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny, 1997, S. 9, 19. 248 Hierzu bereits IV.3. 249 Hillgruber, JZ 1996, 118 ff. Seine These, bei Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben sei für richterliche Rechtsfortbildung kaum mehr Platz, stützt er auf das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG und den Vorbehalt des Gesetzes, s. a.a.O., S. 119 ff., 125; ebenso Hillgruber, Journal für Rechtspolitik 9 (2001), 281 ff. 250 Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 1992, S. 5 ff. 251 Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 1992, S. 88 ff. 252 Grunsky, in: Sprung/König (Hrsg.), Die Entscheidungsbegründung in europäischen Verfahrensrechten und im Verfahren vor internationalen Gerichten, 1974, S. 63, 81, im Zusammenhang mit der Frage, ob sich aus Art. 20 Abs. 3 GG eine Begründungspflicht ergibt.
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V. Rechtsfragen der Entscheidungsbegründung
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des Interesses stehende Rechts- und Entscheidungsfindung253, sondern postuliert – wie auch Art. 97 Abs. 1 GG – eine generelle Gesetzesbindung. Die Rechtsprechung ist mithin bei all ihren Rechtsprechungstätigkeiten und daher auch bei der Begründung von Entscheidungen an die Gesetze gebunden254. Im hier interessierenden Zusammenhang gilt: Aus Art. 20 Abs. 3 GG ergibt sich nicht, ob eine Begründungspflicht besteht, sondern wie – bei Bestehen einer Begründungspflicht – von Verfassungs wegen zu begründen ist, nämlich unter Bindung an die Gesetze. Das klingt am Rande auch bei Kischel an, der es ablehnt, Art. 20 Abs. 3 GG eine Pflicht zur Entscheidungsbegründung zu entnehmen, und in diesem Kontext ausführt: »Nach Art. 20 Abs. 3 GG muß jede Staatsgewalt sich bei ihren Entscheidungen an das übergeordnete Recht halten. Soweit spezielle Rechtsnormen also eine Begründung fordern, muß die Staatsgewalt diese abgeben«255. An anderer Stelle heißt es beiläufig zur inhaltlichen Abgrenzung von Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung: »Begründungen für exekutive oder judikative Entscheidungen müssen ihren Ausgangspunkt in dem Normtext der einschlägigen Gesetze nehmen. Unabhängig von allen methodischen Erwägungen ist die Anbindung an das Gesetz nach Art. 20 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich geboten. Dem Bürger muß erläutert werden, daß die Entscheidung entsprechend den grundgesetzlichen Anforderungen auf Gesetz und Recht beruht; sie ist daher aus diesen herzuleiten. … Eine freie, nicht dem Gesetz unterworfenen Entscheidung wäre verfassungswidrig«256. b. Einfachgesetzliche Begründungspflicht und Gesetzesbindung Soweit eine – meist einfachgesetzliche – Begründungspflicht besteht, ist ein Gericht also nach Art. 20 Abs. 3 GG von Verfassungs wegen bei seiner Begründung an die Gesetze gebunden. Aus Art. 20 Abs. 3 GG ergeben sich gewisse Vorgaben, wie begründungsbedürftige gerichtliche Entscheidungen unter Beachtung der Gesetze abzufassen sind. Welche konkreten Begründungsregeln aus der Gesetzesbindung des Richters folgen und was sie für Topoi bedeuten, mit denen die Gesetze verdeckt fortgebildet werden, bedarf der näheren Untersuchung. c. Begründungsfehler und Verfassungsbeschwerde Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die Verletzung des Art. 20 Abs. 3 GG als solche mit der Verfassungsbeschwerde nicht geltend gemacht werden kann257. 253 Vgl. statt vieler Grunsky, in: Sprung/König (Hrsg.), Die Entscheidungsbegründung in europäischen Verfahrensrechten und im Verfahren vor internationalen Gerichten, 1974, S. 63, 81. 254 Vgl. bereits Schlüter, Das Obiter dictum, 1973, S. 94: Der in den verschiedenen Verfahrensgesetzen angeordnete Begründungszwang müsse auf dem Hintergrund des Art. 20 Abs. 3 GG gesehen werden, der die Rechtsprechung an Gesetz und Recht binde und die Gerichte dazu verpflichte, den beteiligten Parteien, der höheren Instanz, der Öffentlichkeit und nicht zuletzt sich selbst darüber Rechenschaft abzulegen, dass ihre Entscheidungen auf Gesetz und Recht und nicht auf Willkür beruhen. 255 Kischel, Die Begründung, 2003, S. 78. 256 Kischel, Die Begründung, 2003, S. 10 f. 257 Das betont etwa Grunsky, in: Sprung/König (Hrsg.), Die Entscheidungsbegründung in europäischen Verfahrensrechten und im Verfahren vor internationalen Gerichten, 1974, S. 63, 82 Fn. 32.
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Eine eigenständige Sanktion für verdeckte Rechtsfortbildungen ergibt sich also unmittelbar aus dieser Verfassungsnorm nicht. Jedoch kann seit dem Elfes-Urteil des Bundesverfassungsgerichts258 auch der Verstoß gegen sog. objektive Normen des Grundgesetzes mit einer Verfassungsbeschwerde gerügt werden, wenn er mit dem zulässigen Vortrag, in einem speziellen Freiheitsrecht oder der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG verletzt zu sein, verbunden wird259. Es ist indes nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren darüber zu entscheiden, ob das einfache Recht von den Gerichten richtig ausgelegt und angewendet worden ist260. Eine falsche Gerichtsentscheidung genügt nicht, um eine Verfassungsbeschwerde zu begründen. Insoweit bedarf es einer sog. spezifischen Verfassungsverletzung261. Diese kann beim Einsatz von Topoi, die eine Rechtsfortbildung verdecken und fälschlicherweise als Anwendung der ausgelegten Gesetze ausgeben, möglicherweise darin liegen, dass gegen die aus der Gesetzesbindung des Art. 20 Abs. 3 GG folgende Pflicht, gesetzgeberischen Interessenbewertungen in Entscheidungsbegründungen Rechnung zu tragen, verstoßen wird. Ob und gegebenenfalls unter welchen weiteren Voraussetzungen ein Verstoß gegen die Gesetzesbindung nach Art. 20 Abs. 3 GG durch Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen über die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann, ist daher im Folgenden zu untersuchen. Freilich wären einfachgesetzliche Konsequenzen verdeckter Rechtsfortbildungen ungleich breitenwirksamere Sanktionsmittel.
4. Zivilprozessgesetzliche Begründungsvorschriften Gewisse einfachgesetzliche Rahmenregeln über die Art und Weise, wie Gerichtsentscheidungen zu begründen sind, finden sich in den einzelnen Verfahrensordnungen. a. Ein vernachlässigtes Forschungsgebiet Die Zivilprozessrechtswissenschaft beschäftigt sich bislang meist nicht näher mit konkreten Begründungsfragen und überlässt dieses Feld weitgehend der Anleitungsliteratur für junge Praktiker262. 258 BVerfGE 6, 32, 41. Dort heißt es: »Jedermann kann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen, ein seine Handlungsfreiheit beschränkendes Gesetz gehöre nicht zur verfassungsgemäßen Ordnung, weil es (formell oder inhaltlich) gegen einzelne Verfassungsbestimmungen oder allgemeine Verfassungsgrundsätze verstoße; deshalb werde sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt«. 259 Hierzu statt vieler zunächst nur Sturm, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 93 Rn. 78. 260 BVerfGE 1, 4, 5; 1, 7, 8; 1, 418, 428 f.; 3, 213, 219 f.; 4, 1, 7; ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts; aus dem Schrifttum zunächst nur H. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 10. Aufl. 2004, Art. 20 Rn. 93 f. 261 BVerfGE 1, 418, 429; 4, 1, 7; 18, 85, 92 f.; ständige Rechtsprechung. 262 Hierzu oben II.1.; s. auch bereits § 1 I.3.
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VI. Verdeckte Rechtsfortbildungen als justitiable Rechtsfragen
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In der Diskussion über verdeckte Rechtsfortbildungen und Scheinbegründungen werden die zivilprozessrechtlichen Vorgaben der Entscheidungsbegründung vollständig vernachlässigt. Das ist nur durch das weitgehend unverbundene Nebeneinander von juristischer Methodenlehre und Prozessrechtswissenschaft zu erklären und dennoch schwer zu verstehen, weil die zivilprozessualen Begründungspflichten für Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen augenscheinlich relevant sind. b. Überblick zu den einschlägigen ZPO-Vorschriften Nach der Grundsatznorm des § 313 Abs. 1 Nr. 6 ZPO muss das Urteil Entscheidungsgründe aufweisen, welche gemäß § 313 Abs. 3 ZPO eine kurze Zusammenfassung der Erwägungen enthalten, auf denen die Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht. Ergänzend ordnet § 286 Abs. 1 S. 2 ZPO für die freie Verhandlungs- und Beweiswürdigung an, dass in dem Urteil die Gründe anzugeben sind, die für die richterliche Überzeugung von der Wahrheit oder Unwahrheit einer tatsächlichen Behauptung leitend gewesen sind. Der neue, in seiner Reichweite noch unklare § 540 ZPO bestimmt in Abs. 1 S. 1, dass das Berufungsurteil anstelle von Tatbestand und Entscheidungsgründen erstens die Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil mit Darstellung etwaiger Änderungen oder Ergänzungen und zweitens eine kurze Begründung für die Abänderung, Aufhebung oder Bestätigung der angefochtenen Entscheidung enthält. Nach § 547 Nr. 6 ZPO liegt ein absoluter Revisionsgrund vor, wenn die Entscheidung entgegen den Bestimmungen der ZPO nicht mit Gründen versehen ist, wobei man seit jeher davon ausgeht, dass nichtssagende Floskeln, inhaltsleere Redensarten und bloße Leerformeln den fehlenden Urteilsgründen gleichstehen263.
VI. Verdeckte Rechtsfortbildungen als justitiable Rechtsfragen Welche genauen rechtlichen Konsequenzen die genannten Prozessrechtsnormen für Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen haben, ist im Einzelnen in den beiden folgenden Paragraphen zu untersuchen, welche die normativen Vorgaben begründeten Entscheidens und deren Rechtsfolgen für verdeckte Rechtsfortbildungen zum Gegenstand haben. Sofern und soweit die Topoi gegen die prozessrechtlichen Begründungsgebote verstoßen, können die zivilprozessrechtlichen Rechtsmittel durchgreifen. Ergänzend sind unter bestimmten Voraussetzungen Verfassungsbeschwerden wegen einer Verletzung von Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG, von Art. 3 Abs. 1 GG und nach erfolgter Anhörungsrüge gemäß § 321 a ZPO auch wegen Art. 103 Abs. 1 GG denkbar. Wenn gegen Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen mit Rechtsmitteln vorgegangen werden kann, wären verdeckte Rechtsfortbildungen nicht länger nur eine Frage der Ethik, sondern justitiable Rechtsfragen. Sie unterlägen rechtlichen Sanktionen. 263 Vgl. zunächst nur BGHZ 39, 333, 337 m.w.N. aus der Rechtsprechung des Reichsgerichts; Ball, in: Musielak (Hrsg.), Kommentar zur Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 547 Rn. 16; Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 5, Teilband 1, 21. Aufl. 1994, § 551 Rn. 30.
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§ 13 Normative Vorgaben des begründeten Entscheidens Beim juristischen Entscheiden sind neben den bereits erwähnten rechts- und erkenntnistheoretischen Eckdaten1 vor allem rechtliche Vorgaben zu beachten. Sie betreffen zum einen die Ermittlung des maßgebenden Entscheidungssatzes, also das Zustandekommen des jeweiligen Einzelfallurteils. Die materiellrechtlichen Beurteilungsnormen, deren Begriffe durch Präjudizien und fallbezogene Entscheidungsvorschläge des Schrifttums konkretisiert werden, setzen gemeinsam mit den für die Bildung des Sachverhalts maßgebenden Prozessnormen einen Rahmen für die richterliche Entscheidung. Zum anderen sind bei der rechtlichen Würdigung auch konkrete Begründungsgrundsätze einzuhalten. In beiden Bereichen kann zwischen allgemeinen Geboten, welche für die Auslegung und die Fortbildung des Gesetzesrechts gleichermaßen gelten, und speziellen Rechtsfortbildungsregeln unterschieden werden. Sachlich-rechtlich geht es um die einfachgesetzlich und verfassungsrechtlich vorgeschriebene Gesetzesbindung, welche sich in allen angesprochenen Teilbereichen auswirkt. Hinzu kommen bei der Entscheidungsbegründung die für die hier behandelte Problematik bislang stets vernachlässigten prozessrechtlichen Begründungsnormen.
I. Zur Gesetzesbindung 1. Normative Ausgangspunkte Die Bindung des Richters an das Gesetz ist in Art. 20 Abs. 3 GG und in Art. 97 Abs. 1 GG, §§ 1 GVG, 25 DRiG ausdrücklich normiert. Sie lässt sich freilich auch unmittelbar aus den einzelnen Gesetzen entnehmen, die als Sollensanordnungen an die Bürger und an die staatlichen Organe adressiert sind und als Entscheidungsnormen verbindliche Bewertungsmaßstäbe für den Richter bilden. Man kann daher zwischen der immanenten, den einzelnen Gesetzen innewohnenden und der ausdrücklich angeordneten Gesetzesbindung unterscheiden. Die Gesetzesbindung gilt für jeden Rechtsanwender und damit auch für den Wissenschaftler, soweit er keine Gesetzgebungsvorschläge macht, sondern praktische Jurisprudenz betreibt, also der Rechtsprechung konkrete rechtlich begründete Entscheidungsvorschläge unterbreitet.
1 Zu erinnern ist vor allem an die auch für juristische Interpretationen geltenden hermeneutischen Grunderkenntnisse sowie an die rechtstheoretischen Ausgangspunkte der »Münsteraner Schule der Wertungsjurisprudenz«; hierzu insbesondere § 4 V.4.f.aa. m.w.N.
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I. Zur Gesetzesbindung
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2. Gängige Umschreibungen des Regelungsgehalts Über die Kernbedeutung der ausdrücklich festgeschriebenen Gesetzesbindung herrscht trotz des unterschiedlichen Wortlauts der genannten Vorschriften weitgehende Einigkeit. Gesetz steht für jede Rechtsnorm2, wobei zu Art. 20 Abs. 3 GG auch vertreten wird, dass nur eine geschriebene Rechtsnorm Gesetz im Sinne des Artikels sei3. Bindung bedeutet, dass der Richter das Gesetz, soweit er es nicht für ungültig hält, anzuwenden hat. Im Verfassungsrecht verweist man auf den Vorrang des Gesetzes4 und spricht von einer Anwendungsverpflichtung5: Die Gerichte seien kraft der Gesetzesbindung nach Art. 20 Abs. 3 GG zur Anwendung der einschlägigen Vorschriften verpflichtet und dürften sich über Gesetze nicht hinwegsetzen6. Andere unterscheiden bei Art. 20 Abs. 3 GG ausdrücklich zwischen einem Anwendungsgebot und einem Abweichungsverbot7.
3. Die bedingte Inhaltsbindung Dieser Ausgangspunkt ist in zweifacher Hinsicht zu präzisieren: Die Gesetzesbindung ist eine Inhaltsbindung; sie gilt als solche nicht absolut. a. Bindung an die gesetzgeberische Interessenbewertung Gesetzesbindung meint nicht Bindung an den Wortlaut, an den Text als Zeichenfolge8, sondern Bindung an den Sinn des Gesetzes, an die Bedeutung des Textes9. Die Bindung des Richters »an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG) be-
2 Albers, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 1 GVG Rn. 2 und § 25 DRiG Rn. 1; Gummer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 1 GVG Rn. 10; Wolf, in: Lüke/Wachs (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 3, 2. Aufl. 2001, § 1 GVG Rn. 31 f.; Kissel/Mayer, Gerichtsverfassungsgesetz, 4. Aufl. 2005, § 1 Rn. 110 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl. 2006, Art. 20 Rn. 38; Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand 2006, Art. 20 VI. Rn. 32, 50 ff.; Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 97 Rn. 11; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 93. 3 H. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 10. Aufl. 2004, Art. 20 Rn. 91, der »ungeschrieben geltende Rechtsnormen« nicht dem »Gesetz«, sondern dem »Recht« zuordnet; Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 20 Rn. 107, der das Gewohnheitsrecht ebenfalls unter »Recht« fasst, das zudem grundlegende Prinzipien der Rechtsordnung abdecken soll, s. a.a.O., Rn. 106. 4 Gusy, JuS 1983, 189; Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand 2006, Art. 20 VI. Rn. 34 ff.; Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 20 Rn. 112; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 92. 5 Beispielsweise Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 20 Rn. 119. 6 BVerfGE 87, 273, 280; 96, 56, 63; 96, 375, 394; zusammenfassend Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 20 Rn. 119 m.w.N. 7 Gusy, JuS 1983, 189, 191; Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 1988, § 61 Rn. 4 ff.; ähnlich Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 83: Befolgungsgebot und Abweichungsverbot. 8 § 4 V.4.f.aa.(1). m.w.N. 9 Eingehend Ebsen, Gesetzesbindung und »Richtigkeit« der Entscheidung, 1974, S. 31 ff.; zusammenfassend C. Fischer, ZfA 2002, 215, 221.
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§ 13 Normative Vorgaben des begründeten Entscheidens
deutet nicht Bindung an dessen Buchstaben mit dem Zwang zu wörtlicher Auslegung, sondern Gebundensein an Sinn und Zweck des Gesetzes«10. Bezugspunkt der Bindung ist also der Inhalt des Gesetzes, m. a. W. die in der jeweiligen Norm getroffene gesetzgeberische Wertentscheidung (»Interessenbewertung«)11. Die Gesetzesbindung lässt sich als Anwendungsgebot und als Derogationsverbot umschreiben12. Das vom Gesetzgeber inhaltlich Vorentschiedene muss vom Rechtsanwender in seiner Entscheidung zugrunde gelegt werden. b. Keine Ergebnisgarantie Die Gesetzesbindung garantiert nicht zwangsläufig ein bestimmtes Ergebnis der Rechtsfindung13. Inhaltlich reicht die Gesetzesbindung so weit, wie der Gesetzgeber etwas in der Sache für den Rechtsanwender verbindlich vorentschieden hat14. Nahezu jede gesetzliche Anordnung ist konkretisierungs- und ergänzungsbedürftig. Rechtsprechung ist gestaltendes Entscheiden in Schranken. c. Wegfall der Inhaltsbindung Darüber hinaus kann die inhaltliche Bindung an das vom Gesetzgeber Vorentschiedene durch zulässige Fortbildungen des Gesetzesrechts beseitigt werden. Freilich verpflichtet die Gesetzesbindung, wie bereits erwähnt15, zunächst zu einer möglichst gesetzesnahen Rechtsfindung und Rechtsfortbildung16. d. Konsequenz Die Rechtsprechung hat die Akte der Legislative also bei ihren Entscheidungen anzuwenden, soweit die Gesetzesbindung reicht und soweit sie nicht befugt ist, die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zu kontrollieren und ihre Vereinbarkeit mit europarechtlichen Vorgaben zu überprüfen17. Die Bindung an den Inhalt der Gesetze ist ein Grundsatz, der bei überwiegenden Rechtsfortbildungsgründen außer Kraft gesetzt werden kann (»bedingte Inhaltsbindung«).
10
BVerfGE 35, 263, 279. Zusammenfassend C. Fischer, ZfA 2002, 215, 221; zum Gesetz als Ausdruck gesetzgeberischer Interessenbewertungen § 4 V.4.f.aa.(2). m.w.N. 12 C. Fischer, ZfA 2002, 215, 222. – Im staatsrechtlichen Schrifttum wird teilweise, wie bereits gesagt, von einem Anwendungsgebot und einem Abweichungsverbot gesprochen, s. Gusy, JuS 1983, 189, 191; Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 1988, § 61 Rn. 4 ff. 13 C. Fischer, ZfA 2002, 215, 221. 14 C. Fischer, ZfA 2002, 215, 223. 15 § 12 IV.3. 16 Eingehend C. Fischer, ZfA 2002, 215, 223 f. 17 So C. Fischer, ZfA 2002, 215, 219, in enger Anlehnung an die Formulierung von Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halbband, 15. Aufl. 1959, S. 316. 11
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I. Zur Gesetzesbindung
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4. Prozedurale Berücksichtigungsgebote Die Gesetzesbindung erschöpft sich nicht in der sachlich-rechtlichen Bindung an die gesetzgeberische Interessenbewertung. Sie hat außer dieser inhaltlichen noch eine prozedurale oder verfahrensmäßige Komponente, die als Berücksichtigungsgebot bezeichnet werden kann18. Als Berücksichtigungsgebot gilt die Gesetzesbindung ausnahmslos und selbst dann, wenn der Richter die inhaltliche Bindung an das Gesetz letztlich durch dessen zulässige Fortbildung beseitigt. Das Berücksichtigungsgebot zeigt sich in zwei Ausprägungen, und zwar in einem Kenntnisnahme- und einem Darlegungsgebot. a. Die Pflicht zur Kenntnisnahme Zum einen verpflichtet die Gesetzesbindung den Richter stets, das vom Gesetzgeber Vorentschiedene bei der Entscheidungsfindung zur Kenntnis zu nehmen. Die Kenntnisnahme ist notwendige Voraussetzung der inhaltlichen Gesetzesbindung. Der Rechtsanwender kann der Inhaltsbindung und der aus ihr grundsätzlich folgenden Anwendungsverpflichtung nur Rechnung tragen, wenn er die ihm vorgegebenen Norminhalte ermittelt bzw. zu ermitteln sucht. Die Gesetzesbindung zwingt also zu bestimmten Auslegungs- bzw. Rechtsfindungsmethoden19, die gewährleisten, dass das vom Gesetzgeber Vorentschiedene überhaupt zur Kenntnis genommen wird20. Gesetzesbindung bezeichnet insoweit eine Haltung, eine geforderte Einstellung der Rechtsanwender zu den Gesetzen21. b. Das Darlegungsgebot Zum anderen ist der Richter aufgrund der Gesetzesbindung verpflichtet, die jeweils zugrunde gelegte Interessenbewertung in den Entscheidungsgründen zu nennen, sofern er denn überhaupt eine Begründung für seine Entscheidung abgeben muss und die maßgebende Interessenbewertung nicht evident ist. aa. Art. 20 Abs. 3 GG bindet die Rechtsprechung generell und umfassend an die Gesetze22: Von der Gesetzesbindung werden nicht allein die Rechts- und Entscheidungsfindung, sondern alle Rechtsprechungstätigkeiten erfasst. Soweit eine – meist einfachgesetzliche – Begründungspflicht besteht, ist der Richter von Verfassungs wegen bei seiner Begründung an die Gesetze gebunden. Aus der Gesetzesbindung folgen gewisse Vorgaben, wie begründungsbedürftige gerichtliche Entscheidungen unter Beachtung der Gesetze abzufassen sind.
18
Hierzu bereits C. Fischer, ZfA 2002, 215, 222 f. So auch Hillgruber, Journal für Rechtspolitik 9 (2001), 281, 283, nach dem die subjektivteleologische Auslegungsmethode in den Grenzen von Wortlaut und Systematik die einzig verfassungsgemäße Auslegungsmethode sein soll. Auslegungsziel müsse die vom Gesetzgeber seinerzeit nachweislich verfolgte Regelungsabsicht sein. 20 C. Fischer, ZfA 2002, 215, 222. 21 Ebsen, Gesetzesbindung und »Richtigkeit« der Entscheidung, 1974, S. 29 f., 47. 22 § 12 III.3. 19
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§ 13 Normative Vorgaben des begründeten Entscheidens
bb. Unter den vorstehend genannten Voraussetzungen wird das Kenntnisnahmegebot durch ein Darlegungsgebot ergänzt. Dieses Darlegungsgebot setzt voraus, dass eine Begründung rechtlich vorgeschrieben und die maßgebende Interessenbewertung nicht evident ist. Es verpflichtet den Richter, das Ergebnis seiner Bemühungen, die gesetzgeberische Interessenbewertung zu ermitteln, in den Entscheidungsgründen zu dokumentieren23: Wo er eigene, nicht von einer gesetzgeberischen Interessenbewertung gedeckte Wertungen setzt, hat das Gesetz keine Legitimationswirkung. Deshalb muss der Rechtsanwender darlegen, wo er das vom Gesetzgeber Vorentschiedene findet, welche gesetzgeberische Interessenbewertung er zugrunde legt und wo er mangels oder anstelle einer solchen eine eigene Interessenbewertung vornimmt und wie er zu dieser kommt. cc. Das aus der Gesetzesbindung folgende Darlegungsgebot lässt sich auch als Offenlegungsgebot bezeichnen. Die Forderung nach Offenlegung wird in Verbindung mit Rechtsfortbildungen häufig erhoben24. Meist wird nicht deutlich, ob das Verlangen auf die Nennung der tatsächlichen Motivation oder auf die rechtlichen Gründe zielt. Deshalb wird hier der unbelastete Begriff der Darlegung bevorzugt. Im Übrigen kann die Fortbildung des Gesetzesrechts nur offen gelegt werden, wenn die historische Interessenbewertung dargelegt wird. Zudem ist die vom Gericht jeweils zugrunde gelegte Interessenbewertung mitzuteilen. dd. Eine verfassungsrechtliche Pflicht, die gesetzgeberische Interessenbewertung darzulegen, wird auch vom Bundesverfassungsgericht vorausgesetzt. So heißt es in einer jüngeren Grundsatzentscheidung über die Rechtsfortbildung (»Arzthaftung bei fehlgeschlagener Sterilisation«) zur verfassungsrechtlichen Kontrolle rechtsfortbildender fachgerichtlicher Entscheidungen unter dem Gesichtspunkt von Art. 20 Abs. 2 und Abs. 3 GG, sie beschränke sich darauf, ob das Fachgericht bei der Rechtsfortbildung die gesetzgeberische Grundentscheidung respektiert habe und den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung gefolgt sei25.
5. Elemente der Gesetzesbindung Die Gesetzesbindung des Richters zwingt diesen mithin, die gesetzgeberischen Interessenbewertungen zu beachten. Sie hat drei Elemente: Neben der grundsätzlichen Bindung an den Inhalt der Gesetze (»bedingte Inhaltsbindung«) bestehen ein die Entscheidungsfindung stets beherrschendes Kenntnisnahme- bzw. Ermittlungsgebot sowie ein bei fehlender Evidenz für vorgeschriebene Begründungen geltendes Darlegungsgebot. Alle drei Elemente der Gesetzesbindung beziehen sich auf die erkennbaren historischen Regelungszwecke der Gesetze26.
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Zum folgenden bereits C. Fischer, ZfA 2002, 215, 222 f. Vgl. etwa § 11 I.2. BVerfGE 96, 375, 395. Hierzu nochmals § 4 V.4.f.aa. m.N.
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II. Die Entscheidungsfindung
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Aus den angestellten grundsätzlichen Betrachtungen ergeben sich konkrete normative Vorgaben des begründeten Entscheidens. Sie werden im Folgenden erläutert, wobei aus Gründen der Darstellung die zusammengehörenden Bereiche Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung27 getrennt werden. Bei der Entscheidungsbegründung wird des Weiteren zwischen verfassungsrechtlichen und zivilprozessrechtlichen Begründungsgeboten unterschieden.
II. Die Entscheidungsfindung Es ist schon gesagt worden, dass die Entscheidungsfindung ganz vom Gebot der Gesetzesbindung beherrscht wird. Materiell verpflichtet die Gesetzesbindung als bedingte Inhaltsbindung grundsätzlich dazu, die Gesetze anzuwenden, also die gesetzgeberischen Interessenbewertungen fallbezogen zu verwirklichen. Die prozedurale Komponente der Gesetzesbindung gibt außerdem von Rechts wegen gewisse Regeln vor, wie bei der Ermittlung des konkret maßgebenden Entscheidungssatzes zu verfahren ist (»Berücksichtigungsgebot«). Zu unterscheiden ist zwischen der Rechtsfindung im Allgemeinen und der Rechtsfortbildung im Besonderen.
1. Allgemeine Rechtsfindungsregeln Erstes Ziel der Rechtsfindung muss es stets sein, das vom Gesetzgeber Vorentschiedene durch Auslegung möglichst exakt zu ermitteln28. a. Inhaltsbindung Der Rechtsanwender ist an das Gesetz gebunden, mit welchem der Gesetzgeber seine rechtspolitischen Ziele und Wertungen verwirklichen will29. Grundsätzlich besteht die Verpflichtung, die Gesetze anzuwenden und die gesetzgeberischen Interessenbewertungen fallbezogen zu realisieren. Als bedingte Inhaltsbindung garantiert die Gesetzesbindung indes nicht zwangsläufig ein gesetzeskonformes Ergebnis der Rechtsfindung. Fest steht nur, dass eine von der gesetzgeberischen Interessenbewertung abweichende Beurteilung nicht mehr im Rahmen der Bindung an dasselbe Gesetz erfolgen kann und anders gerechtfertigt werden muss30. 27
§ 12 III. C. Fischer, ZfA 2002, 215, 231, in Anlehnung an Rüthers, der diese Forderung im Hinblick auf das Auslegungsziel und das Auslegungselement der historischen Auslegung erhoben hat, s. Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 720, 730, 786 ff.; s. auch Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 98. – Eine staatsrechtlich begründete, auf die verfassungsrechtliche Gesetzesbindung gestützte Verpflichtung des Richters, zunächst die Auffassungen des historischen Gesetzgebers zu erforschen, hat Gitter bereits vor Jahrzehnten befürwortet, s. Gitter, Die Methode der richterlichen Gesetzesauslegung als staatsrechtliches Problem, 1960, S. 147. 29 C. Fischer, ZfA 2002, 215, 232; in der Sache schon Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 160. 30 Ebsen, Gesetzesbindung und »Richtigkeit« der Entscheidung, 1974, S. 33; C. Fischer, ZfA 2002, 215, 221. 28
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§ 13 Normative Vorgaben des begründeten Entscheidens
b. Berücksichtigungsgebot Ausnahmslos gilt die Gesetzesbindung in ihrer Ausprägung als Berücksichtigungsgebot. Die Gesetzesbindung zwingt dazu, Gesetze so auszulegen, dass die Bewertung der einbezogenen Interessen durch den Gesetzgeber überhaupt zur Kenntnis genommen wird. Der erkennbare historische Regelungszweck bestimmt die Auslegung der gesetzlichen Begriffe, die im Hinblick auf den zu beurteilenden Sachverhalt konkretisiert werden31. Die gesetzgeberische Interessenbewertung ist daher bei der Rechtsfindung stets zu ermitteln. Ob die gesetzgeberische Interessenbewertung im konkreten Fall verwirklicht werden muss, ist eine andere Frage. Sie betrifft die Gesetzesbindung als Inhaltsbindung und nicht das Berücksichtigungsgebot, das bei der Rechtsfindung als reine Kenntnisnahmebzw. Ermittlungspflicht wirkt. c. Zur Entscheidungsfindung Es ist mehrfach erwähnt und kritisiert worden, dass die Entscheidungsfindung im Universitätsunterricht und in der Rechtswissenschaft auf die Rechtsfindung reduziert wird. Die praktisch überaus bedeutsame Arbeit am Sachverhalt findet kaum Berücksichtigung. Vor diesem Hintergrund ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass die vorstehenden Ausführungen zur Rechtsfindung für die Bildung des Sachverhalts entsprechend gelten. Auch hier wirkt die Gesetzesbindung als bedingte Inhaltsbindung und als Berücksichtigungsgebot, und zwar im Hinblick auf die für die Bildung des Sachverhalts maßgebenden Prozessnormen.
2. Rechtsfortbildungsgebote Aufgrund der Gesetzesbindung kommt die Rechtsfortbildung immer erst als zweiter Schritt der Rechtsfindung in Betracht, der nur unter besonderen Voraussetzungen zulässig ist32. a. Vorherige Ermittlung des historischen Regelungszwecks Das Berücksichtigungsgebot, das zur Kenntnisnahme der gesetzgeberischen Interessenbewertung verpflichtet, gilt als allgemeine Rechtsfindungsregel auch für Rechtsfortbildungen. Wenn der Rechtsanwender nicht zunächst den historischen Regelungszweck einer Norm zu ermitteln sucht, ist es ihm nicht einmal möglich, zu beurteilen, ob seine Entscheidung das Gesetzesrecht fortbildet oder nicht. Ohne Kenntnis der jeweils maßgebenden Interessenbewertung laufen die Gesetze als inhaltliche Entscheidungsvorgaben faktisch leer. Es trifft daher nicht zu, dass der vor neue Fragen gestellte Richter nicht zu wissen brauche, ob das Problem durch Auslegung oder durch Rechtsfortbildung zu
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C. Fischer, ZfA 2002, 215, 232. C. Fischer, ZfA 2002, 215, 231; insoweit ist nach Bereichen der Rechtsfindung zu differenzieren, s. a.a.O., S. 234 ff. 32
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II. Die Entscheidungsfindung
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lösen ist33. Diese Betrachtungsweise, die auf einer zu weiten »teleologischen Auslegung« beruht, welche die jeweilige ratio legis auch durch allgemeine Zweckmäßigkeits- und Gerechtigkeitserwägungen und den Gesamtzusammenhang der Rechtsordnung bestimmt34 und so die Unterschiede zwischen Auslegung und Fortbildung der Gesetze nivelliert35, ist mit der Bindung der Gerichte an die Gesetze nicht zu vereinbaren. Wegen der inhaltlichen Gesetzesbindung muss in einem ersten Schritt der Rechtsfindung stets die Wertentscheidung des Gesetzgebers durch Auslegung (re-)konstruiert werden. Das gilt auch und gerade im Hinblick auf etwaige Rechtsfortbildungen. b. Die möglichst gesetzesnahe Rechtsfortbildung Zudem wirkt die Gesetzesbindung bei der Rechtsfortbildung durch das Gebot der möglichst gesetzesnahen Rechtsfindung bzw. Rechtsfortbildung36. Ob man diese Facette der Gesetzesbindung als spezielles Berücksichtigungsgebot oder noch als (mittelbare) Inhaltsbindung einstuft, ist eine rein konstruktive, ergebnisneutrale Frage, die hier vernachlässigt werden kann. Entscheidend ist, dass die Gerichte nach Art. 20 Abs. 3 GG zu einer möglichst gesetzesnahen Rechtsfortbildung verpflichtet sind. aa. Der Richter darf sich, wie es das Bundesverfassungsgericht in der »Soraya«Entscheidung ausgedrückt hat, vom geschriebenen Gesetz nur in dem zur Rechtsverwirklichung unerlässlichen Maße entfernen37, muss die geforderte Streitentscheidung möglichst aus dem einfachen Recht und den dort erkennbaren Interessenbewertungen des Gesetzgebers ableiten. bb. In der 1997 ergangenen Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsfortbildung im Zivilrecht38 heißt es, der Richter dürfe sich bei der Anpassung des geltenden Rechts an geänderte Verhältnisse »nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Seine Aufgabe beschränkt sich darauf, diesen unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen. Handelt es sich bei den veränderten Bedingungen um neuartige … Handlungs- oder Einwirkungsmöglichkeiten, so wird die Rechtsfindung in der Regel in einer Ausweitung des Anwendungsfeldes einer bereits geläufigen Auslegung bestehen. Die Zwecksetzungsprärogative des Gesetz-
33 So aber Heinrichs, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 65. Aufl. 2006, Einleitung Rn. 56: »Der vor neue Fragen gestellte Richter weiß idR nicht u braucht auch nicht zu wissen, ob das Problem dch Auslegg od dch RFortbldg zu lösen ist«. 34 So Heinrichs, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 65. Aufl. 2006, Einleitung Rn. 46. 35 Vgl. insoweit auch Heinrichs, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 65. Aufl. 2006, Einleitung Rn. 56: »Lückenausfüllg u teleolog Auslegg ähneln einand u gehen ineinand über«. 36 C. Fischer, ZfA 2002, 215, 223; bereits erwähnt in § 12 unter IV.3. 37 BVerfGE 34, 269, 292. 38 BVerfGE 96, 375 ff., über die Rechtsprechung der Zivilgerichte zur Arzthaftung bei fehlgeschlagener Sterilisation und bei fehlerhafter genetischer Beratung vor Zeugung eines Kindes; hierzu bereits § 3 III.2.c.
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§ 13 Normative Vorgaben des begründeten Entscheidens
gebers wird dadurch regelmäßig nicht berührt«39. Nach Art. 20 GG müsse das Fachgericht bei der Rechtsfortbildung die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung folgen40. cc. Auch das Bundesverfassungsgericht geht also davon aus, dass Rechtsfortbildungen möglichst gesetzesnah erfolgen müssen. So gelten im Lückenbereich das Analogiegebot41 und der Vorrang der Einzelanalogie gegenüber der Gesamtanalogie. Schon früh hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich ausgesprochen, Gesetzeslücken seien »in möglichst enger Anlehnung an das geltende Recht zu schließen«42. Zudem muss das Ergebnis der Rechtsfortbildung verallgemeinerungsfähig sein43 und sich als abstrakter Rechtssatz wie ein Gesetz formulieren lassen44.
3. Die zwei Schritte der gesetzesgebundenen Rechtsfindung Die Gesetzesbindung verpflichtet mithin bei der Rechtsfindung generell dazu, in einem ersten Schritt durch Auslegung den »historischen« Normzweck der einschlägigen Gesetze, die ihnen zugrunde liegende gesetzgeberische Interessenbewertung zu ermitteln45. Wird das ausgelegte Gesetzesrecht in einem zweiten, an besondere Voraussetzungen gebundenen Schritt der Rechtsfindung fortgebildet, so wirkt die Gesetzbindung außerdem als Grundsatz möglichst gesetzesnaher Rechtsfortbildung. Ob der Richter gegen diese Aspekte der Gesetzesbindung verstoßen hat, können die Adressaten einer Entscheidung allerdings einzig anhand der jeweils gegebenen Begründung erkennen. Sanktioniert werden Verstöße gegen das Berücksichtigungsgebot daher regelmäßig nur, weil und wenn die Entscheidungsgründe rechtlichen Begründungsvorgaben keine Rechnung tragen. Insoweit ist zwischen verfassungsrechtlichen Begründungsgeboten und zivilprozessrechtlichen Begründungsvorschriften zu unterscheiden.
39 BVerfGE 96, 375, 394 f.; die ersten beiden Sätze finden sich auch in BVerfG, NJW 2000, 3635, 3636. 40 BVerfGE 96, 375, 395; BVerfG, NJW 2000, 3635, 3636. 41 Vgl. auch Heinrichs; in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 65. Aufl. 2006, Einleitung Rn. 56: »idR dch Analogie«. 42 BVerfGE 37, 67, 81; explizit zustimmend Heinrichs, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 65. Aufl. 2006, Einleitung Rn. 56, dessen vorstehend geschilderte Ausführungen, nach denen der Richter nicht zu wissen brauche, ob es um Auslegung oder Rechtsfortbildung gehe, diesen Ansatz aber konterkarieren. 43 Eine rein einzelfallbezogenen Billigkeitsentscheidung wird dem Gebot möglichst gesetzesnaher Rechtsfindung nicht gerecht, s. C. Fischer, ZfA 2002, 215, 227. 44 Gefordert wird die Aufstellung einer Regel, s. Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Erster Halbband, 15. Aufl. 1959, S. 342 Fn. 32 a. E. und S. 344; Haverkate, ZRP 1973, 281, 282; Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, S. 13; Wieacker, FS W. Weber, 1974, S. 421, 442; C. Fischer, ZfA 2002, 215, 227; zum für Rechtsfortbildungen geltenden Gebot der Verallgemeinerungsfähigkeit des jeweiligen Ergebnisses bereits § 12 IV.2. 45 Zu den zwei Schritten bzw. Stufen der Rechtsfindung bereits C. Fischer, ZfA 2002, 215, 231.
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III. Verfassungsrechtliche Begründungsgebote
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III. Verfassungsrechtliche Begründungsgebote Es gilt das aus der Gesetzesbindung folgende Darlegungsgebot, welches bei begründungsbedürftigen Entscheidungen zur Nennung der zugrunde gelegten Interessenbewertung verpflichtet, sofern diese nicht evident ist.
1. Allgemeine Vorgaben Die Gerichte sind bei allen Rechtsprechungstätigkeiten und daher auch bei der Begründung ihrer Entscheidungen an die Gesetze gebunden. Greift Art. 20 Abs. 3 GG für die Entscheidungsbegründung ein, so muss der Richter bei seinen Rechtsausführungen den »historischen« Normzweck der einschlägigen Gesetze darlegen46. Wenn eine Begründungspflicht besteht, hat er aufgrund des Darlegungsgebots die gesetzgeberische Interessenbewertung anzuführen, sofern diese nicht offensichtlich ist, was beim Streit über konkrete Rechtsfragen selten der Fall sein wird. Die gesetzgeberische Interessenbewertung muss selbstverständlich nicht ausdrücklich genannt werden, solange der maßgebende Normzweck in den Entscheidungsgründen oder über diese47 nur deutlich wird. Das Gemeinte lässt sich anhand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts veranschaulichen und präzisieren. Das Bundesverfassungsgericht bejaht eine verfassungsrechtlich relevante Verletzung des Art. 20 Abs. 3 GG, wenn die vom Fachgericht zur Begründung seiner Entscheidung angestellten Erwägungen erkennen lassen, dass es objektiv nicht bereit war, sich Recht und Gesetz zu unterwerfen48. Dabei prüft das Bundesverfassungsgericht, ob sich das Fachgericht erkennbar um eine zutreffende Auslegung des Gesetzes bemüht und die Entstehungsgeschichte der Vorschrift sowie eine eventuell entgegenstehende höchstrichterliche Rechtsprechung bei seinen Betrachtungen berücksichtigt hat49.
2. Spezielle Anforderungen für Rechtsfortbildungen Die Verpflichtung, die gesetzgeberische Interessenbewertung darzulegen50, besteht auch in den Fällen der (Gesetzes-)Rechtsfortbildung. Nur wenn der historische Normzweck eines Gesetzes ermittelt und mitgeteilt wird, ist überhaupt zu erkennen, ob ein Einzelfallurteil von der gesetzgeberischen Interessenbewertung gedeckt ist und damit das Gesetzesrecht noch anwendet oder dieses schon fort46
I.4.b. Zu denken ist an die Nennung von Präjudizien und von anderen zugänglichen Erkenntnisquellen. 48 BVerfGE 87, 273, 280; 96, 56, 63; 96, 375, 394; in der Sache auch BVerfGE 65, 182, 191; 82, 6, 12. 49 BVerfGE 87, 273, 280; 96, 56, 62 f.; s. bereits BVerfGE 65, 182, 191, wo eine Rechtsfortbildung als mit Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbar angesehen wurde, weil die gesetzliche Regelung »nach Wortlaut, Systematik und Sinn abschließend« sei; BVerfGE 82, 6, 12 f., wo eine Rechtsfortbildung als zulässig eingestuft wurde, weil durch sie nicht der erkennbare Wille des Gesetzgebers beiseite geschoben worden sei; vgl. außerdem BVerfGE 96, 375, 394 f., wo die Bedeutung der Zwecksetzungsprärogative des Gesetzgebers besonders betont wurde. 50 I.4.b. 47
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§ 13 Normative Vorgaben des begründeten Entscheidens
bildet. Die aus der Gesetzesbindung folgende grundsätzliche Pflicht, gesetzgeberische Interessenbewertungen darzulegen, lässt sich, soweit es Rechtsfortbildungen betrifft, auch auf die »Soraya«-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stützen51: Eine rechtsfortbildende Entscheidung »muß auf rationaler Argumentation beruhen. Es muß einsichtig gemacht werden können, daß das geschriebene Recht seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt«. Außerdem sind bei einer Rechtsfortbildung die Gründe für die Abweichung vom historischen Normzweck und die vom Gericht tatsächlich zugrunde gelegte Interessenbewertung in den Entscheidungsgründen darzulegen, sofern sie nicht evident sind52. Allein dann ist feststellbar, ob das aus der Gesetzesbindung folgende Gebot möglichst gesetzesnaher Rechtsfortbildung eingehalten wurde53. In der »Soraya«-Entscheidung heißt es, der Richter dürfe sich bei der Rechtsfortbildung vom geschriebenen Gesetz nur in dem zur Rechtsverwirklichung im konkreten Fall unerlässlichen Maße entfernen54. In seiner neueren Grundsatzentscheidung zur Rechtsfortbildung im Zivilrecht hebt das Bundesverfassungsgericht nochmals die Zwecksetzungsprärogative des Gesetzgebers hervor: Der Richter dürfe sich bei der Fortentwicklung des Rechts aufgrund veränderter Verhältnisse nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen, sondern müsse diesen auch unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung bringen55. Das Bundesverfassungsgericht kontrolliert im Hinblick auf Art. 20 Abs. 3 GG, ob das Fachgericht bei der Rechtsfortbildung die gesetzgeberische Grundentscheidung respektiert hat56.
3. Fazit Das aus der einfachgesetzlich und verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Gesetzesbindung folgende Darlegungsgebot verpflichtet die Gerichte bei begründungsbedürftigen Entscheidungen mithin grundsätzlich dazu, die gesetzgeberische Interessenbewertung der einschlägigen Gesetze darzulegen. Bei einer Rechtsfortbildung müssen zusätzlich die Gründe für das Abweichen vom historischen Normzweck und die vom Gericht zugrunde gelegte Interessenbewertung genannt werden, sofern sie nicht ausnahmsweise evident sind.
IV. Zivilprozessrechtliche Begründungsvorschriften Die Zivilprozessordnung enthält in den §§ 286 Abs. 1 S. 2, 313 Abs. 3, 313 a Abs. 1 S. 2, 540 ZPO Angaben darüber, wie die Entscheidungsgründe i.w.S.57 abzufassen sind. 51 52 53 54 55 56 57
BVerfGE 34, 269, 287. I.4.b. Hierzu II.2.b.; s. auch bereits § 12 IV.3. BVerfGE 34, 269, 292. BVerfGE 96, 375, 394; BVerfG, NJW 2000, 3635, 3636. BVerfGE 96, 375, 395; BVerfG, NJW 2000, 3635, 3636. Zur Begrifflichkeit und zum Streit über die »richtige« Terminologie § 5 III.
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IV. Zivilprozessrechtliche Begründungsvorschriften
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1. Zu den einschlägigen Normen § 286 Abs. 1 S. 2 ZPO kann zunächst vernachlässigt werden, da hier vor allem die Regeln über den Umgang mit den normativen Entscheidungsvorgaben interessieren. Die Vorschriften über die bei Stuhlurteilen möglichen Protokollgründe sollen das grundsätzliche Begründungsniveau bei der rechtlichen Würdigung nach vorherrschender Sichtweise nicht absenken58 und stellen im Übrigen Sonderbestimmungen dar. Es geht daher insbesondere um §§ 313 Abs. 3, 540 Abs. 1 S. 1 ZPO.
2. § 313 ZPO Die Ausführungen zu den aus § 313 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 3 ZPO folgenden inhaltlichen Begründungsanforderungen sind durchgängig vergleichsweise knapp59. Hierfür gibt es zwei Ursachen. Die Prozessrechtswissenschaft befasst sich traditionell kaum mit konkreten Begründungsfragen60. Die höchstrichterliche Zivilrechtsprechung behandelt grundlegende Begründungsmängel seit jeher als Problem des § 547 Nr. 6 ZPO und seiner Vorgängerbestimmungen61. a. Die revisionsrechtliche Perspektive der Prozessrechtspraxis und -wissenschaft aa. Der im ersten Urteil des Reichsgerichts noch hergestellte Bezug zu den die Entscheidungsgründe vorschreibenden gesetzlichen Normen62 ging in der Folge58 So für § 540 Abs. 1 S. 2 ZPO BGHZ 158, 37, 42; 158, 60, 62; BGH, NJW 2005, 830, 831; Albers, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 540 Rn. 3; Ball, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 540 Rn. 8; Gummer/Heßler, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 540 Rn. 28; s. BT-Drucks. 14/ 6036, S. 124, wo es zu § 540 Abs. 1 S. 2 ZPO heißt: »Satz 2 ermöglicht es, die nach Satz 1 erforderlichen Darlegungen … in das Protokoll aufzunehmen«; für § 313 a Abs. 1 S. 2 ZPO Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 313 a Rn. 4, unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien, denen sich für eine gewollte sachliche Absenkung des Begründungszwangs nichts entnehmen lasse; vgl. BT-Drucks. 14/4722, S. 84 f., 93; insoweit a. A. ohne nähere Begründung P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 313 a Rn. 12: »Die Kurzgründe im Protokoll … dürfen natürlich noch kürzer sein als ohnehin nach § 313 III«. 59 Vgl. stellvertretend für viele Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl. 2004, § 60 Rn. 24 ff. (insgesamt eine halbe Seite); Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 313 Rn. 19; Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 4, Teilband 1, 21. Aufl. 1998, § 313 Rn. 59 ff; vergleichsweise ausführliche Empfehlungen demgegenüber in der Praktikerkommentierung von P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 313 Rn. 31 ff., der die Entscheidungsgründe als justitiable Rechtsfrage indes auch nur – aus revisionsrechtlicher Perspektive – streift, vgl. a.a.O., Rn. 50. 60 Hierzu § 12 II.1.; am Rande auch bereits § 1 I.3. 61 Vgl. etwa RGZ 3, 388, 389 f.; 6, 134, 138; 7, 77, 78; 8, 260, 262; 8, 341, 341 f.; 9, 237, 240; 10, 86, 88; 10, 122, 124; Überblick zur Entstehungsgeschichte des § 513 Nr. 7 CPO und zu der zu ihm ergangenen frühen Rechtsprechung des Reichsgerichts bei E. Schumann, Anm. zu AP Nr. 9 zu § 551 ZPO, zu 1. und 3. 62 RGZ 3, 388, 389. – Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang daran, dass § 313 Abs. 3 ZPO erst durch die Vereinfachungsnovelle von 1976 in die Zivilprozessordnung eingefügt worden ist. Der Wortlaut des § 313 ZPO gab also für Begründungsmängel ursprünglich auch nicht mehr her als § 513 Nr. 7 CPO und § 551 Nr. 7 ZPO a. F.
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§ 13 Normative Vorgaben des begründeten Entscheidens
zeit weitestgehend verloren und findet sich nur noch in einer der genannten Entscheidungen63. Nach zeitgenössischer Einschätzung stellte das Reichsgericht ursprünglich jede Unvollständigkeit der Urteilsgründe unter den damaligen § 513 Nr. 7 CPO und späteren § 551 Nr. 7 ZPO64, der durch den heutigen § 547 Nr. 6 ZPO abgelöst wurde. Das vornehmlich kommentierende Schrifttum hat die revisionsrechtliche Perspektive der Praxis übernommen65. bb. Hiernach ist eine Entscheidung »nicht mit Gründen versehen«, wenn aus ihr nicht zu erkennen ist, welche tatsächlichen Feststellungen und welche rechtlichen Erwägungen für die getroffene Entscheidung maßgebend waren66. Einer ganz fehlenden Begründung gleichzusetzen sind unverständliche und verworrene Gründe, die »in Wirklichkeit nicht erkennen lassen, welche Überlegungen für die Entscheidung maßgebend waren«67. Das sei auch dann der Fall, wenn die Gründe sachlich inhaltslos sind und sich auf leere Redensarten beschränken68. Im Anschluss an die Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs geht man im zivilprozessualen Schrifttum gleichfalls seit langem davon aus, dass nichtssagende Floskeln, inhaltsleere Redensarten und bloße Leerformeln den fehlenden Urteilsgründen gleichstehen69. Erheblich ausgeweitet wurde die Bedeutung des absoluten Revisionsgrundes der fehlenden Entscheidungsgründe dadurch, dass die Vorschrift vom Reichsgericht nicht nur auf die gesamte Begründung, sondern auch auf einzelne Ansprüche im Sinne der §§ 145, 322 ZPO sowie auf einzelne selbständige Angriffs- und Verteidigungsmittel im Sinne der §§ 146, 303 ZPO bezogen wurde70. Diese dürf63
RGZ 8, 341. F. Stein, Die Zivilprozessordnung für das Deutsche Reich, Zweiter Band, 10. Aufl. 1913, § 551 Anm. 7 Fn. 24, nach dem die Abkehr mit RGZ 65, 93 begann. 65 Deutlich erkennbar etwa bei P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 313 Rn. 50, und bei Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 4, Teilband 1, 21. Aufl. 1998, § 313 Rn. 64. 66 BGHZ 39, 333, 337, wo die Grundsätze, welche die Rechtsprechung insbesondere des Reichsgerichts entwickelt habe, geradezu schulmäßig aufbereitet und für künftige Fälle zusammengefasst worden sind; der zitierte Satz findet sich etwa auch in BGH, NJW 1999, 3192, wo von einer gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Rede ist; s. auch BAG, 4.9.1972, AP Nr. 9 zu § 551 ZPO, zu 2. der Gründe; ebenso schon Wernz, Commentar zur Prozeßordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für das Königreich Bayern, Zweite Abtheilung, 1872, S. 656 f., zu Art. 788 der Prozessordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für das Königreich Bayern, a.a.O., S. 652. 67 BGHZ 39, 333, 337, unter Berufung auf die Leitentscheidung RG, JW 1906, 721; so auch BGH LM Nr. 33 zu § 41 p PatG, zu 3.b. der Gründe; BGH, NJW 1999, 3192. 68 So BGHZ 39, 333, 337; vgl. aus der Rechtsprechung des Reichsgerichts etwa RGZ 8, 260, 262; RG, JW 1898, 221 (r. Sp.); RGZ 169, 65, 75; 170, 328, 332. 69 Vgl. etwa Ball, in: Musielak (Hrsg.), Kommentar zur Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 547 Rn. 16; Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 5, Teilband 1, 21. Aufl. 1994, § 551 Rn. 30; s. auch OLG Köln, ZIP 2001, 1018, 1020. – Auch außerhalb der Zivilgerichtsbarkeit behandelt man leerformelhafte Ausführungen wie fehlende Entscheidungsgründe, s. beispielsweise BVerwGE 61, 365, 369; BVerwG, NJW 1998, 3290; BSG, NJW 1966, 566, 567; NJW 1989, 1758; teilweise unter ausdrücklicher Bezugnahme auf BGHZ 39, 333 ff. 70 RGZ 3, 388, 390; 8, 341, 342; 120, 398, 400 f.; 120, 402, 404; merklich distanziert demgegenüber RGZ 156, 113, 119; in der Folgezeit aber wieder ohne weiteres bejaht, s. etwa RG, DR 1941, 637, 638 (»Bongossi-Holz«); ständige Rechtsprechung auch des Bundesgerichtshofs, s. 64
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IV. Zivilprozessrechtliche Begründungsvorschriften
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ten in den Gründen nicht übergangen werden; man müsse die für das Gericht bei der Entscheidung über die einzelnen Angriffs- und Verteidigungsmittel maßgebenden rechtlichen Gesichtspunkte erkennen können71. Im Gegenzug ist die Anwendung des absoluten Revisionsgrundes, bei dem die Ursächlichkeit des Verstoßes für die Entscheidung nach den Eingangsworten der Norm72 an sich unwiderleglich als bestehend angenommen wird73, aus Gründen der Prozessökonomie dadurch wieder eingeengt worden, dass die Revision als unbegründet angesehen wird, wenn das in den Gründen übergangene Angriffs- oder Verteidigungsmittel zur Begründung oder Abwehr der Klage ungeeignet ist74. cc. Der geschilderte revisionsrechtliche Ansatz führt zu perspektivischen Verzerrungen bei der Darstellung der Begründungsgebote. Die Art und Weise, wie Entscheidungsgründe zu gestalten sind, sollte nach § 313 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 3 ZPO und im Hinblick auf die Funktion einer rechtlichen Begründung75 bestimmt werden. Ob eine Entscheidung so mangelhaft begründet ist, dass sie einer nicht mit Gründen versehenen nach § 547 Nr. 6 ZPO gleichgesetzt werden muss, ist eine davon zu unterscheidende Frage. b. Rudimentäre Erläuterungen Immerhin wird im Schrifttum zu § 313 Abs. 3 ZPO darauf hingewiesen, dass die Gründe nachvollziehbar sein und eine Überprüfung der Entscheidung durch die beispielsweise BGHZ 39, 333, 337; BGH, NJW 1999, 1110, 1113; NJW 1999, 3192. – Diese Rechtsprechung wird durch die Entwurfsbegründungen und Vorbilder aus den Partikularprozessordnungen legitimiert, s. E. Schumann, Anm. zu AP Nr. 9 zu § 551 ZPO, zu 1.; Wernz, Commentar zur Prozeßordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für das Königreich Bayern, Zweite Abtheilung, 1872, S. 656, zu Art. 788 der Prozessordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für das Königreich Bayern, a.a.O., S. 652. 71 BGHZ 39, 333, 337; s. auch a.a.O., S. 338: Für die Frage, ob ein die Anwendung des absoluten Revisionsgrundes rechtfertigender »grober Formfehler« vorliege, komme es letztlich entscheidend immer darauf an, ob es erkennbar sei, welcher Grund für die Entscheidung über die einzelnen Ansprüche und Verteidigungsmittel maßgebend gewesen ist; ebenso BGH LM Nr. 31 zu § 41 p PatG, zu 3. der Gründe. 72 Vgl. § 547 ZPO: »Eine Entscheidung ist stets auf der Verletzung des Rechts beruhend anzusehen …«. 73 So die bemerkenswert gewundene Formulierung in BGHZ 39, 333, 339. 74 BGHZ 39, 333, 339, mit ausführlichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des Reichsgerichts; aus neuerer Zeit etwa BGH, FamRZ 1991, 322, 323; NJW 2000, 3421. – Wenn einzelne Angriffs- oder Verteidigungsmittel in den Entscheidungsgründen übergangen worden sind, wird also entgegen § 547 Eingangssatz ZPO eine Kausalitätsprüfung vorgenommen, so ausdrücklich BGHZ 39, 333, 338; diese »Relativierung eines absoluten Revisionsgrundes« wird nur noch vereinzelt kritisiert, s. Sangmeister, ZIP 1994, 230 f.; Prütting, in: Wieczorek/Schütze, Zivilprozessordnung und Nebengesetze, Dritter Band, 1. Teilband, 3. Aufl. 2005, § 547 Rn. 53. 75 Ausführlich zu einzelnen Funktionen von Begründungen Kischel, Die Begründung, 2003, S. 39 ff.; zu Funktionen richterlicher Entscheidungsbegründungen Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 26 ff.; eine straffe Darstellung findet sich bei Schlüter, Das obiter dictum, 1973, S. 94 ff. – Schlagwortartig verkürzt dient die sachliche Erläuterung von Einzelfallentscheidungen vor allem der richterlichen Selbstkontrolle (»überzeugende rationale Begründbarkeit der Entscheidungshypothese«) sowie der Fremdkontrolle; die Begründung soll den Adressaten einer Entscheidung, also den Parteien bzw. Beteiligten, den Rechtsmittelgerichten und der (Fach-)Öffentlichkeit, ermöglichen, die Einzelfallentscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit und Vertretbarkeit zu überprüfen.
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§ 13 Normative Vorgaben des begründeten Entscheidens
höhere Instanz ermöglichen müssten, sowie nicht floskelhaft sein dürften76. Dem Fehlen stehe eine »Begründung« gleich, die infolge grober inhaltlicher Unvollständigkeit nicht ausreichend erkennen lasse, welche tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen das Gericht angestellt habe77. Die zitierten, aus einer revisionsrechtlichen Perspektive erfolgenden Äußerungen bringen keinen nennenswerten Konkretisierungsgewinn. Es lässt sich heute bereits unmittelbar dem Wortlaut des 1976 durch die Vereinfachungsnovelle eingefügten § 313 Abs. 3 ZPO entnehmen, dass die Entscheidungsgründe eine kurze Zusammenfassung der Erwägungen enthalten müssen, auf denen die Entscheidung in rechtlicher Hinsicht beruht. Dementsprechend heißt es bei Grunsky, die tragenden Gründe der Entscheidung müssten für die Parteien nachvollziehbar dargestellt werden78. c. Kernsätze Für die Zwecke dieser Untersuchung genügt es, festzuhalten, dass § 313 Abs. 3 ZPO dazu verpflichtet, die entscheidenden, das jeweilige Ergebnis nach der Überzeugung des Gerichts tragenden Rechtsgründe zu nennen79. Am Rande ist wegen abweichender Formulierungen darauf hinzuweisen, dass das Gericht nicht alle »angestellten«, sondern die letztlich entscheidenden rechtlichen Erwägungen mitteilen muss80. Bis zur Urteilsverkündung nach § 310 ZPO ist selbst ein gefälltes und in vollständiger Form abgefasstes »Urteil« noch ein Internum, ein bloßer Entwurf, der jederzeit geändert werden kann. Erst das erlassene Urteil erzeugt rechtliche Wirkungen und bindet das Gericht nach § 318 ZPO. Deshalb müssen die Entscheidungsgründe diejenigen Erwägungen zusammenfassen, auf denen die Entscheidung im Zeitpunkt ihrer Verkündung nach Auffassung des Gerichts beruht. Ob die Begründung in der Sache mit den normativen Vorgaben vereinbar oder aber inhaltlich falsch ist, spielt für § 313 Abs. 3 ZPO keine Rolle, solange nur die wirklich maßgebenden Rechtsgründe genannt werden. Die Begründung darf sich nicht in Leerformeln und Floskeln erschöpfen81. 76
Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 313 Rn. 19. P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 313 Rn. 50 unter Berufung auf OLG Frankfurt, MDR 1984, 322. Die in dieser Entscheidung ansonsten genannten Gesichtspunkte betreffen tatsächlich nicht § 313 ZPO, sondern § 286 ZPO usw., s. OLG Frankfurt, MDR 1984, 322, 323. 78 Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 4, Teilband 1, 21. Aufl. 1998, § 313 Rn. 61. 79 Vgl. auch Leipold, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 4, Teilband 1, 21. Aufl. 1998, § 313 Rn. 59 a; Musielak, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 2000, § 313 Rn. 14 f. 80 § 10 IX.6.c.bb. 81 Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 313 Rn. 319; Wassermann, in: Alternativkommentar zur Zivilprozessordnung, 1987, § 313 Rn. 34; im Hinblick auf § 547 Nr. 6 ZPO etwa auch BGHZ 39, 333, 337; Ball, in: Musielak (Hrsg.), Kommentar zur Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 547 Rn. 16; Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 5, Teilband 1, 21. Aufl. 1994, § 551 Rn. 30; zu der revisionsrechtlichen Perspektive der Prozessrechtspraxis und –wissenschaft vorstehend a. 77
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IV. Zivilprozessrechtliche Begründungsvorschriften
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3. § 540 ZPO Durch das Gesetz zur Reform des Zivilprozesses ist die Bestimmung über die Abfassung von Berufungsurteilen aufgrund einer Empfehlung des Rechtsausschusses82 abweichend vom Regierungsentwurf83 kurzfristig geändert worden. a. Neuerungen Nach § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 ZPO enthalten zivilrechtliche Berufungsurteile – abgesehen vom arbeitsgerichtlichen Verfahren84 – keine Entscheidungsgründe mehr, sondern nur noch »eine kurze Begründung für die Abänderung, Aufhebung oder Bestätigung der angefochtenen Entscheidung«. Angesichts dieser Regelung, die zur Schlagwortrechtsprechung verführen kann, dürften Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen noch an Bedeutung gewinnen. Generell wird durch § 540 Abs. 1 ZPO eine Tendenz zu floskelhaften Begründungen gefördert85. b. Offene Rechtsfragen Über den grundsätzlich erforderlichen Inhalt von Berufungsurteilen und über das Verhältnis von § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO zu § 313 Abs. 3 ZPO besteht noch verbreitet Unsicherheit86. aa. Ob die inhaltlichen Anforderungen an Berufungsurteile durch § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO im Vergleich zur alten Rechtslage tatsächlich herabgesetzt worden sind, wird unterschiedlich beantwortet. Im Rechtsausschuss hat man gemeint, die Änderung führe dazu, dass »viele Berufungsurteile sehr kurz abgefasst werden können«87. Mehrere Richter an Oberlandesgerichten und am Bundesgerichtshof haben kürzlich die Einschätzung geäußert, nach diversen, den § 540 ZPO »erläuternden« Entscheidungen des Bundesgerichtshofs sei im Wesentlichen wieder der frühere Rechtszustand erreicht88. 82
BT-Drucks. 14/6036, S. 29, 124. BT-Drucks. 14/2722, S. 15 f., 103. 84 § 69 ArbGG; hierzu BT-Drucks. 14/6036, S. 126. 85 Für eine beherzte Inanspruchnahme der Möglichkeiten der neuen Vorschrift und für eine Verwirklichung der vom Gesetzgeber gewollten Knappheit des neuen Berufungsurteils haben sich etwa ausgesprochen Gummer/Heßler, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 540 Rn. 1. 86 Die Umsetzung der Anforderungen des § 540 ZPO soll in der Praxis auf unterschiedliche Weise erfolgen, so Fellner, MDR 2004, 981. 87 BT-Drucks. 14/6036, S. 124; in diesem Sinne etwa auch Burgermeister, ZZP 116 (2003), 165, 172; Gummer/Heßler, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, Rn. 1, die in Rn. 6 besonders betonen, dass die revisionsgerichtliche Auslegung von § 540 ZPO nicht zu Anforderungen führen dürfe, die der Gesetzgeber bewusst abgeschafft habe; hierzu auch Seitz, NJW 2003, 566, 567. 88 So Gehrlein, MDR 2004, 661, 665; Lechner, NJW 2004, 1593, 3598; im Grundsatz auch Fellner, MDR 2004, 181, 183. – Schnauder geht gar von einer »unkontrollierten Mehrbelastung der Berufungsgerichte« aus, die »künftig in vielen Fällen ein vollständiges und gründliches (»revisionssicheres«) Urteil zu schreiben haben werden, wo bisher ein abgekürztes Urteil nach § 543 I ZPO a. F. genügte«, s. Schnauder, JuS 2002, 162, 165. 83
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§ 13 Normative Vorgaben des begründeten Entscheidens
bb. Das Verhältnis des § 540 ZPO zu § 313 Abs. 3 ZPO ist ungeklärt. Im Schrifttum wird verbreitet betont, die Regelung des § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO sehe im Gegensatz zu § 543 ZPO a. F. keine Entscheidungsgründe mehr vor89. Eine eingehendere Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 ZPO bringe abgesehen von der Festlegung des Berufungsgerichts auf eine kurze Begründung nicht Neues; die Niederlegung der Erwägungen für eine Abänderung, Aufhebung oder Bestätigung des angefochtenen Urteils in Auseinandersetzung mit diesem werde schon durch § 313 Abs. 3 ZPO gefordert90. § 540 ZPO beschränke sich darauf, den Richter anzuweisen, das Berufungsurteil nicht mit einem Tatbestand zu versehen und in den Entscheidungsgründen auf die angefochtene Entscheidung zu verweisen, soweit keine Änderungen eingetreten seien, die dann nur kurz zu begründen sind; damit durchbreche die Neuregelung die herkömmlichen in § 313 ZPO niedergelegten Grundsätze für die inhaltliche Darstellung einer gerichtlichen Entscheidung nicht91. cc. Zudem streitet man über die inhaltlichen Anforderungen an Berufungsurteile, beispielsweise über die Möglichkeit einer schlichten Bezugnahme auf die Begründung des angefochtenen Urteils92 oder auch über die Fragen, ob § 540 ZPO einen rudimentären Tatbestand voraussetzt93 oder ausführlichere Begründungen verbietet94.
89 So Fellner, MDR 2004, 981, 982, der in der Fußnote darauf hinweist, dass die Entscheidungsgründe nach dem altem Recht gem. § 543 ZPO a. F. i.V.m. § 313 Abs. 3 ZPO eine Zusammenfassung derjenigen Erwägungen zu enthalten hatten, auf denen die Entscheidung in rechtlicher Hinsicht beruht; s. auch Seitz, NJW 2003, 566, 567: »keine Entscheidungsgründe mehr«; freilich kann es sich bei derartigen Formulierungen auch um bloße Umschreibungen der Eingangspassage von § 540 Abs. 1 ZPO »anstelle von … Entscheidungsgründen enthält das Urteil« handeln. 90 Burgermeister, ZZP 116 (2003), 165, 172. 91 Burgermeister, ZZP 116 (2003), 165, 172. 92 Gaier, NJW 2004, 2041, 2046 m.w.N., auch über die Anforderungen an Protokollurteile; s. zu den hier nicht zu erörternden Protokollurteilen die Rechtsprechungsnachweise unter 1. 93 Bejahend etwa Gummer/Heßler, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 540 Rn. 3 und 5; Reichold, in: Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 27. Aufl. 2005, § 540 Rn. 2; verneinend Burgermeister, ZZP 116 (2003), 165, 169 f., der für § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO darauf hinweist, dass tatsächliche Feststellungen Bestandteile der rechtlichen Würdigung und damit der Entscheidungsgründe und nicht des Tatbestandes sind. »Tatsächliche Feststellungen« kann sich indes auch auf die Tatsachenfeststellungen der ersten Instanz im Sinne von § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO beziehen, zu denen nach bestrittener Auffassung die sog. tatbestandlichen Feststellungen zählen sollen, s. Ball, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 529 Rn. 2 m.w.N.; aus der Rechsprechung BGH, NJW 2004, 2152, 2153; NJW 2005, 983, 984. Zu beachten ist außerdem, dass in den Gesetzesmaterialien zwischen tatsächlichen Feststellungen und Entscheidungsgründen geschieden wird, s. BT-Drucks. 14/6036, S. 124. 94 Bejahend Burgermeister, ZZP 116 (2003), 165, 168: »kein Gestaltungsermessen des Gerichts mehr«, 171: »zwingend«, 172: »zwingende Anweisung«, s. aber auch a.a.O., S. 173: Verstoß »folgenlos«; »nach Seitz heißt »enthält«: darf nur enthalten, s. Seitz, NJW 2003, 566, 567, der auf die »indirekten« Folgen von Verstößen für dienstliche Beurteilungen verweist; verneinend Reichold, in: Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung; 27. Aufl. 2005, § 540 Rn. 1, mit dem des näheren Nachdenkens werten Hinweis, die Abfassung eines Berufungsurteils nach § 313 ZPO empfehle sich vor allem, wenn eine Veröffentlichung vorgesehen sei.
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IV. Zivilprozessrechtliche Begründungsvorschriften
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c. Antworten aa. Soweit es die hier interessierenden rechtlichen Ausführungen betrifft, liegt es klar auf der Hand, dass die Anforderungen an Berufungsurteile durch § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO herabgesetzt und die Begründungen erleichtert worden sind95. In den Gründen sind lediglich rechtliche Ausführungen zu machen, warum das Ersturteil bestätigt oder abgeändert wird96. Die Änderung erlaubt, wie es im Bericht des Rechtsausschusses heißt, die weitgehende Bezugnahme auf die Ausführungen des angefochtenen Urteils, soweit das Berufungsgericht den Entscheidungsgründen im angefochtenen Urteil folgt97. bb. Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob § 313 Abs. 3 ZPO für Berufungsurteile gilt. (1) Zum alten Recht ging man davon aus, dass gemäß § 523 ZPO a. F. grundsätzlich die §§ 313 ff. ZPO für Form und Inhalt des Berufungsurteils entsprechend anzuwenden waren, und zwar auch § 313 Abs. 3 ZPO, soweit § 543 ZPO a. F. keine Besonderheiten für die Entscheidungsgründe vorsah98. (2) Der mit § 523 ZPO a. F. wortgleiche § 525 S. 1 ZPO99 bestimmt, dass auf das weitere Verfahren (vor den Berufungsgerichten) die für das Verfahren im ersten Rechtszuge vor den Landgerichten geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden sind, soweit sich nicht Abweichungen aus den Vorschriften über die Berufung ergeben. Dementsprechend werden auch im aktuellen Schrifttum einzelne Bestimmungen aus dem Bereich der §§ 313 ff. ZPO gemäß § 525 S. 1 ZPO auf die Berufung angewendet100. (3) Die Geltung des § 313 Abs. 3 ZPO für Berufungsurteile hängt nach § 525 S. 1 ZPO also davon ab, ob und gegebenenfalls wieweit sich aus § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO Abweichungen ergeben. Soweit § 540 ZPO eine eigenständige Regelung des Inhalts der Entscheidungsgründe enthält, gilt § 313 Abs. 3 ZPO nicht. Fraglich ist, ob § 540 ZPO überhaupt das erforderliche Begründungsniveau für Berufungsurteile festlegt und gegebenenfalls ob dies abweichend von § 313 Abs. 3 ZPO geschieht. Auszulegen ist daher das in § 540 ZPO enthaltene Tatbestandsmerkmal »kurze Begründung«. (a) Der Wortlaut, verstanden als allgemeiner oder fachlicher Sprachgebrauch, lässt nie einen zwingenden Schluss auf die Bedeutung eines gesetzlichen Begriffs 95
Vgl. etwa Fellner, MDR 2003, 69, 70; Gehrlein, MDR 2004, 661, 665. Fellner, MDR 2004, 981, 982. 97 BT-Drucks. 14/6036, S. 124. 98 Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 5, Teilband 1, 21. Aufl. 1994, § 543 Rn. 1; Rimmelspacher, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 2, 2. Aufl. 2000, § 543 Rn. 1 und 7. 99 Hierzu BT-Drucks. 14/4722, S. 99: »Die Vorschrift entspricht in Satz 1 dem bisherigen § 523«. 100 Albers, in: Baumbach/ Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 540 Rn. 5: § 313 Abs. 1 ZPO; Gummer/Heßler, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 540 Rn. 9: § 313 Abs. 2 ZPO; Rimmelspacher, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 540 Rn. 4, wo es heißt, dass § 540 Abs. 1 S. 1 die auch für das Berufungsurteil gem. § 525 S. 1 geltende Regelung des § 313 modifiziere; a.a.O., Rn. 7: §§ 313 Abs. 2, 314; grundsätzlich Burgermeister, ZZP 116 (2003), 165, 167 f. 96
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zu, weil es keinen vom Kontext und von der Sprechabsicht unabhängigen Wortsinn gibt101. »Begründung« wird in der Sprache sowohl formal als auch materiellinhaltlich verwendet, kann also für die Angabe von (irgendwelchen) Gründen, mit anderen Worten für die Begründung als solche, oder für die Nennung der eine Entscheidung tragenden, maßgeblichen Erwägungen stehen. Ob ein bestimmtes und gegebenenfalls welches Begriffsverständnis von Begründung im Gesetzgebungsverfahren zugrunde gelegt wurde, ist nicht erkennbar. (b) Die Eingangsformulierung des § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO »anstelle von … Entscheidungsgründen« sperrt den § 313 Abs. 3 ZPO, der den Inhalt von Entscheidungsgründen regelt, nicht. Diese Benennung ändert nichts daran, dass es sich bei der »kurze(n) Begründung« der Sache nach um Entscheidungsgründe handelt102. (c) § 540 ZPO trägt die Überschrift »Inhalt des Berufungsurteils«. Das spricht – isoliert betrachtet – für eine abschließende Regelung gegenüber dem mit »Form und Inhalt des Urteils« betitelten § 313 ZPO. Dagegen wird vorgebracht, § 540 ZPO befasse sich nur mit zwei Aspekten des Berufungsurteils und sei deshalb notwendig lückenhaft, so dass es der Ergänzung durch § 313 ZPO bedürfe103. Diese Argumentation trifft im Hinblick auf § 313 Abs. 1 ZPO zu. Ob sie auch für § 313 Abs. 3 ZPO gilt, hängt demgegenüber von der bislang noch offenen Frage ab, ob § 540 ZPO mit »kurze Begründung für« das inhaltliche Niveau von Berufungsbegründungen regelt. (d) Dass der Gesetzgeber die entsprechende Geltung der §§ 313 a, 313 b ZPO in § 540 Abs. 2 ZPO ausdrücklich angeordnet hat, lässt keine Rückschlüsse auf die Anwendbarkeit von § 313 Abs. 3 ZPO zu. Ausweislich der Begründung des Rechtsausschusses hat § 540 Abs. 2 ZPO lediglich eine klarstellende Funktion104. (e) Auch aufgrund des erkennbaren Regelungsziels des Gesetzgebers lässt sich die Frage, ob § 540 Abs. 1 ZPO das inhaltliche Begründungsniveau von Berufungsurteilen selbst regelt, nicht beantworten. § 540 ZPO soll der Neukonzeption des Rechtsmittelrechts durch eine Erleichterung der Abfassung von Berufungsurteilen Rechnung tragen105: »Die Umgestaltung der Berufungsinstanz als Instrument der Fehlerkontrolle und Fehlerbeseitigung ermöglicht es, vom bisherigen Gleichklang der Regelungen zum erstinstanzlichen Urteil und zum Berufungsurteil abzuweichen und das Berufungsurteil in seinen inhaltlichen Anforderungen auf die neue Funktion der Berufung abzustimmen. … Die Änderung in Absatz 1 Satz 1 bewirkt, dass im Berufungsurteil an die Stelle von Tatbestand und Entscheidungsgründen die Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil und den Berufungsgründen tritt. Sie erlaubt, soweit das Berufungsgericht den tatsächlichen Feststellungen und den Entscheidungsgründen im angefochtenen Urteil folgt, die weitgehende Bezugnahme auf die Ausführungen des angefochtenen Urteils. … Die Gründe für die Aufhebung, Abänderung oder Bestätigung der angefochtenen Entscheidung sind
101 102 103 104 105
Hierzu § 3 II.1.a.bb. und § 4 V.4.f.aa.(1). Vgl. auch Burgermeister, ZZP 116 (2003), 165, 172 f. Burgermeister, ZZP 116 (2003), 165, 168. BT-Drucks. 14/6036, S. 124: »Absatz 2 stellt klar ….«. BT-Drucks. 14/6036, S. 124.
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IV. Zivilprozessrechtliche Begründungsvorschriften
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kurz darzulegen. Das führt dazu, dass viele Berufungsurteile sehr kurz abgefasst werden können, ohne dass die sich aus der Zusammenschau mit dem erstinstanzlichen Urteil ergebende Verständlichkeit des Urteils beeinträchtigt wird«. Es ergibt sich: Die inhaltlichen Anforderungen für Berufungsurteile sollten abgesenkt werden, ohne deren Verständlichkeit zu beeinträchtigen. Das Berufungsgericht muss eine kurze Begründung liefern, die zusammen mit den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Urteils die Erwägungen enthält, auf denen die Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht. Insgesamt (»Zusammenschau«) wird das Begründungsniveau gerichtlicher Entscheidungen also durch § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO nicht herabgesetzt. Nicht die »Höhe«, sondern die »Breite« der erforderlichen Gründe des Berufungsurteils ist reduziert worden. Die rein konstruktive Frage, ob sich die Pflicht zur Mitteilung der tragenden Erwägungen aufgrund des Tatbestandsmerkmals »kurze Begründung« (§ 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 ZPO) oder aufgrund der über § 525 Abs. 1 ZPO anwendbaren allgemeinen Bestimmung des § 313 Abs. 3 ZPO ergibt, hat im Gesetzgebungsverfahren keine Antwort gefunden. (f) Die Auslegung führt zu folgendem Ergebnis: Es kann nicht festgestellt werden, dass mit der Formulierung »kurze Begründung« eine eigenständige inhaltliche Regelung über die Begründungshöhe getroffen werden sollte. Aus den Gesetzesmaterialien folgt jedenfalls, dass das Begründungsniveau nicht abgesenkt, sondern die unveränderte Begründungslast nur anders verteilt werden sollte (»Zusammenschau mit dem erstinstanzlichen Urteil«). Damit ergibt sich aus § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO im Hinblick auf § 313 Abs. 3 ZPO »nicht Abweichendes«, so dass gemäß § 525 S. 1 ZPO für das Begründungsniveau des Berufungsurteils § 313 Abs. 3 ZPO gilt. Allerdings wird § 313 Abs. 3 ZPO insofern durch § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO modifiziert, als die tragenden Erwägungen für die Entscheidung des Berufungsgerichts nicht aus den Gründen des Berufungsurteils ablesbar sein müssen, sondern sich aus dem Zusammenspiel der Gründe des Berufungsurteils und des erstinstanzlichen Urteils ergeben dürfen. Daher erscheint es angezeigt, § 313 Abs. 3 ZPO in Verbindung mit § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO als maßgebliche Grundlagen für die gebotenen rechtlichen Erwägungen von Berufungsurteilen anzusehen. (4) Da man über Auslegungsfragen stets trefflich streiten kann, ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass sich am Ergebnis nichts ändert, wenn man »kurze Begründung« als Regelung des Begründungsniveaus von Rechtsausführungen in Berufungsurteilen (miss)versteht. Weniger als eine kurze Zusammenfassung der Erwägungen, auf denen die Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht (§ 313 Abs. 3 ZPO), kann auch eine »kurze Begründung« nicht enthalten106. Soweit weicht § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO dann nicht von § 313 Abs. 3 ZPO ab, so dass diese Norm gemäß § 525 S. 1 ZPO entsprechend anzuwenden ist. 106 Am Rande ist darauf hinzuweisen, dass Bezugnahmen in den Entscheidungsgründen auf die Gründe anderer Entscheidungen zwischen denselben Parteien im Hinblick auf § 313 Abs. 3 ZPO schon früher als zulässig angesehen worden sind, s. nur Leipold, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 4, Teilband 1, 21. Aufl. 1998, § 313 Rn. 65; Musielak, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 2000, § 313 Rn. 15.
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(5) Festzuhalten ist, dass § 313 Abs. 3 ZPO auch für Berufungsurteile gilt. § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO senkt das allgemeine Begründungsniveau nicht ab, verteilt die Begründungslast aber neu. Die tragenden Erwägungen für die vom Berufungsgericht getroffene Entscheidung müssen nicht zwangsläufig im Berufungsurteil enthalten sein, sondern dürfen sich auch aus der Verknüpfung der Gründe des Berufungsurteils und des erstinstanzlichen Urteils ergeben. cc. Ob § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO ausführlichere Begründungen verbietet, muss hier nicht geklärt werden, da eine an § 313 ZPO ausgerichtete, »zu weitschweifige« Begründung jedenfalls den Bestand des Berufungsurteils nicht berührt und kein Rechtsmittel begründet107. Von Interesse sind demgegenüber die allgemeinen Anforderungen an die Rechtsgründe von Berufungsurteilen. Im Hinblick auf § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO und die Funktion von Entscheidungsgründen ist folgendermaßen zu differenzieren: (1) Wird die angefochtene Entscheidung geändert, so muss das Berufungsgericht selbst die tragenden rechtlichen Gründe für seine Änderung nennen. Unterlässt es das, so ist seine Entscheidung nicht prozessordnungsgemäß begründet. Wenn das Berufungsgericht nur teilweise von den Gründen des angefochtenen Urteils abweicht, genügt es, die Abweichung darzustellen und zu begründen. (2) Bestätigt das Berufungsgericht die angefochtene Entscheidung, so kann es sich wie bisher damit begnügen, auf die überzeugenden Rechtsausführungen des erstinstanzlichen Gerichts zu verweisen108. Eine eigene rechtliche Begründung dafür, dass man die Rechtsausführungen des erstinstanzlichen Urteils in vollem Umfang für rechtlich zutreffend hält, ist nicht möglich. Eine schlichte Bezugnahme auf die überzeugenden Ausführungen des angefochtenen Urteils ist freilich nur ausreichend, wenn zwischenzeitlich kein neues rechtliches Vorbringen erfolgt ist. Durch die Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils muss das Berufungsvorbringen erschöpft werden109. (3) Stets muss zumindest die Zusammenschau110 mit den Entscheidungsgründen der ersten Instanz ergeben, auf welchen Erwägungen die Entscheidung des Berufungsgerichts in rechtlicher Hinsicht beruht111. Begründungsmängel des
107 Burgermeister, ZZP 116 (2003), 165, 172 verneint ausdrücklich die Voraussetzungen der §§ 543 Abs. 2 S. 1, 562 ZPO. 108 Rimmelspacher, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 540 Rn. 8; Ball, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 540 Rn. 7; eingehender Gummer/Heßler, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 540 Rn. 13. 109 So Gummer/Heßler, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 540 Rn. 13. Eine einfache Bezugnahme genügt nie, wenn der Sachverhalt ergänzt oder eine weitere Beweisaufnahme durchgeführt worden ist, s. BGH, NJW 2004, 293, 294; Gaier, NJW 2004, 2041, 2046; Fellner, MDR 2004, 981, 982. 110 BT-Drucks. 14/6036, S. 124. 111 In diesem Sinne auch Albers, in: Baumbach/ Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 540 Rn. 2: Stets müssen die Ausführungen (nach § 540 ZPO) in Verbindung mit den in Bezug genommenen Angaben im erstinstanzlichen Urteil die Verständlichkeit der Feststellungen und Rechtsausführungen des Berufungsgerichts sicherstellen; vgl. zudem Fellner, MDR 2004, 981, 982.
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IV. Zivilprozessrechtliche Begründungsvorschriften
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erstinstanzlichen Urteils schlagen auf das Berufungsurteil durch, wenn und soweit dieses lediglich auf die Vorentscheidung Bezug nimmt.
4. Beschlussbegründungen Es existiert kein Gesetz, in dem ausdrücklich geregelt ist, wie die Begründung von Beschlüssen in streitigen Zivilverfahren abzufassen ist. Nach § 329 Abs. 1 S. 2 ZPO sind für Beschlüsse aufgrund mündlicher Verhandlung bestimmte Vorschriften über Urteile entsprechend anwendbar. Die §§ 313, 313 a ZPO werden dort nicht genannt. Die Rechtslage stellt sich wie folgt dar: Soweit Beschlüsse überhaupt einer Begründung bedürfen112, entsprechen die inhaltlichen Anforderungen an die Entscheidungsgründe im Ergebnis denen für Urteile nach § 313 Abs. 3 ZPO. Zwar wird häufig betont, § 313 ZPO gelte für Beschlüsse nicht113; die §§ 313 ff. ZPO seien grundsätzlich unanwendbar114, wenngleich sich die Praxis mit Recht weitgehend an § 313 ZPO orientiere115. Eine Trennung zwischen Tatbestand und Entscheidungsgründen scheint allgemein nicht für notwendig gehalten zu werden116. § 313 a ZPO wird verbreitet ausdrücklich für anwendbar erklärt117. Nur vereinzelt geschieht das gleichermaßen im Hinblick auf § 313 ZPO118. Aber auch diejenigen Autoren, die offiziell an der Unanwendbarkeit des § 313 ZPO für Beschlüsse festhalten, richten ihre Ausführungen an dieser Norm aus119:
112 Hier liegt das eigentliche Problem der Auseinandersetzung über die Begründung von Beschlüssen; s. zu den Voraussetzungen, unter denen Beschlüsse begründet werden müssen, insbesondere Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 329 Rn. 24; H. Roth, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 4, Teilband 1, 21. Aufl. 1998, § 329 Rn. 7 f.; ergänzend P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 329 Rn. 4; Musielak, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 2000, § 329 Rn. 4; ders., in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 329 Rn. 5; Reichold, in: Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 27. Aufl. 2005, § 329 Rn. 10; zum Begründungszwang nach Art. 6 Abs. 1 EMRK als »Bestandteil einer geordneten Rechtspflege« EGMR, NJW 1999, 2429. 113 Reichold, in: Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 27. Aufl. 2005, § 329 Rn. 10. 114 P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 329 Rn. 15. 115 So H. Roth, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 4, Teilband 1, 21. Aufl. 1998, § 329 Rn. 6, wo es indes auch heißt, eine andere Handhabung begründe als solche keinen Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften. 116 Stellvertretend Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 329 Rn. 34. 117 OLG Frankfurt, NJW 1989, 841; OLG Brandenburg, NJW-RR 1995, 1212, 1213; P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 329 Rn. 15, für Abs. 1; Reichold, in: Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 27. Aufl. 2005, § 329 Rn. 10. 118 So Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 329 Rn. 34. 119 P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 329 Rn. 15: Keineswegs dürfe man höhere Anforderungen als bei § 313 Abs. 3 ZPO stellen; Musielak, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 2000, § 329 Rn. 2 und 13: Eine Orientierung an dem – für Beschlüsse nicht geltenden – § 313 ZPO sei empfehlenswert; ebenso Musielak, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 329 Rn. 2 und 19.
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§ 13 Normative Vorgaben des begründeten Entscheidens
So heißt es, die Begründung müsse erkennen lassen, welche Überlegungen für die Entscheidung maßgebend waren120. Andererseits müsse die Begründung eines Beschlusses ebenso wenig wie die Entscheidungsgründe eines Urteils ausdrücklich zu allem Stellung nehmen, was von den Parteien vorgebracht wurde121. Einer fehlenden Entscheidungsbegründung stehe es gleich, wenn die Entscheidung nur mit einer auf das Vorbringen des Rechtssuchenden nicht eingehenden formelhaften Begründung versehen wurde122. Eine nur floskelhafte Begründung, die eine umfassende Überprüfung der Anwendung von Gesetz und Recht nicht zulasse, sei verfahrensrechtlich wie das jegliche Fehlen einer Begründung zu behandeln123. Aufgrund dieser Ausführungen ergibt sich ein klares Bild. Die Frage, wie die erforderlichen Begründungen von Beschlüssen auszusehen haben, wird faktisch mit den Grundsätzen beantwortet, die zu § 313 ZPO bzw. – genauer – im Revisionsrecht zu Begründungen entwickelt worden sind, die fehlenden Gründen (§ 547 Nr. 6 ZPO) gleichstehen. Eine gesonderte Untersuchung der für Beschlüsse geltenden Begründungsregeln erübrigt sich daher.
V. Zusammenfassung Die für verdeckte Rechtsfortbildungen einschlägigen rechtlichen Vorgaben betreffen einerseits die Entscheidungsfindung und andererseits die Entscheidungsbegründung. Die Gesetzesbindung, die in beiden Bereichen wirkt, hat drei Elemente, die sich alle auf die erkennbaren historischen Regelungszwecke der Gesetze beziehen: Neben der grundsätzlichen Bindung an den Inhalt der Gesetze (»bedingte Inhaltsbindung«) bestehen zwei Ausprägungen eines verfahrensmäßigen Berücksichtigungsgebotes, und zwar ein ausnahmsloses Kenntnisnahmebzw. Ermittlungsgebot sowie ein unter bestimmten Voraussetzungen geltendes Darlegungsgebot. Hinzu kommen bei der Entscheidungsbegründung die für die hier behandelte Problematik bislang stets vernachlässigten prozessrechtlichen Begründungsnormen. Die Entscheidungsfindung wird von der Gesetzesbindung beherrscht, die hier als bedingte Inhaltsbindung und als Pflicht wirkt, gesetzgeberische Interessenbewertungen zur Kenntnis zu nehmen. Erstes Ziel der Rechtsfindung muss es daher stets sein, das vom Gesetzgeber Vorentschiedene möglichst exakt zu ermitteln. 120 H. Roth, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 4, Teilband 1, 21. Aufl. 1998, § 329 Rn. 10. 121 Musielak, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 2000, § 329 Rn. 4; ebenso mit leicht abweichender Formulierung Musielak, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 329 Rn. 6. 122 OLG Hamm, MDR 1991, 452; H. Roth, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 4, Teilband 1, 21. Aufl. 1998, § 329 Rn. 10; kritisch zu formelhaften Wendungen auch Musielak, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 2000, § 329 Rn. 4; ders., in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 329 Rn. 6. 123 OLG Hamm, MDR 2000, 174, 175; vor Begründungsfloskeln warnt auch P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 329 Rn. 4.
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V. Zusammenfassung
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Wegen der Pflicht, den historischen Regelungszweck der Gesetze zu (re-)konstruieren, kommt die Rechtsfortbildung immer erst als zweiter Schritt der Rechtsfindung in Betracht, der nur unter besonderen Voraussetzungen zulässig ist. Zudem wirkt die Gesetzesbindung bei der Rechtsfortbildung durch das Gebot der möglichst gesetzesnahen Rechtsfindung bzw. Rechtsfortbildung. Für die Abfassung von Entscheidungen gilt zunächst das aus der Gesetzesbindung folgende Darlegungsgebot. Es verpflichtet bei begründungsbedürftigen Entscheidungen generell dazu, die zugrunde gelegte Interessenbewertung zu nennen, sofern diese nicht evident ist. Bei einer Rechtsfortbildung müssen zusätzlich die Gründe für das Abweichen vom historischen Normzweck und die vom Gericht zugrunde gelegte Interessenbewertung genannt werden, soweit sie nicht ausnahmsweise offensichtlich sind. Außerdem sind bei der Abfassung der Entscheidungsgründe neben dem zunächst zu vernachlässigenden § 286 Abs. 1 S. 2 ZPO vor allem die §§ 313 Abs. 3, 540 Abs. 1 S. 1 ZPO zu beachten. Die Ausführungen im Schrifttum zu den aus § 313 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 3 ZPO folgenden inhaltlichen Begründungsanforderungen sind durchgängig knapp, weil sich die Prozessrechtswissenschaft traditionell kaum mit konkreten Begründungsfragen befasst und die höchstrichterliche Zivilrechtsprechung grundlegende Begründungsmängel seit jeher als Problem des § 547 Nr. 6 ZPO und seiner Vorgängerbestimmungen behandelt. Nach dem durch die Vereinfachungsnovelle von 1976 eingefügten § 313 Abs. 3 ZPO enthalten die Entscheidungsgründe eine kurze Zusammenfassung der Erwägungen, auf denen die Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht. Die Norm verpflichtet dazu, die entscheidenden, das jeweilige Ergebnis nach der Überzeugung des Gerichts tragenden Rechtsgründe zu nennen. Die Begründung darf insoweit nicht aus nichtssagenden Floskeln, inhaltslosen Redensarten und bloßen Leerformeln bestehen. Ob § 313 Abs. 3 ZPO auch auf Berufungsurteile und auf begründungsbedürftige Beschlüsse anzuwenden ist, wird im Schrifttum unterschiedlich beantwortet. Diese konstruktive, für Berufungsurteile zu bejahende Frage kann für begründungsbedürftige Beschlüsse dahinstehen, da die inhaltlichen Mindestanforderungen für die genannten Entscheidungen grundsätzlich denen des § 313 Abs. 3 ZPO entsprechen. Die Besonderheit der »neuen« Berufungsurteile nach § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO besteht allein darin, dass sich bei ihnen die rechtlichen Erwägungen, auf denen die Entscheidung beruht, nicht zwangsläufig aus den vom Berufungsgericht angeführten Gründen ergeben müssen. Das Berufungsgericht kann auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung Bezug nehmen. Stets muss aber zumindest die Zusammenschau mit den Entscheidungsgründen der ersten Instanz ergeben, auf welchen Erwägungen die Entscheidung des Berufungsgerichts in rechtlicher Hinsicht beruht.
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§ 14 Rechtliche Konsequenzen verdeckter Rechtsfortbildungen Zu untersuchen ist, welche konkreten Rechtsfolgen sich aus den geschilderten normativen Vorgaben des begründeten Entscheidens für Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen bzw. für die sie enthaltenden gerichtlichen Entscheidungen ergeben.
I. Klassifizierung der Entscheidungen Verdeckte Rechtsfortbildungen widersprechen den normativen Vorgaben des begründeten Entscheidens.
1. Rechtswidrigkeit Sie berücksichtigen die maßgebliche gesetzgeberische Interessenbewertung nicht. Der historische Normzweck wird überspielt, indem seine Fortbildung durch gewisse Topoi verdeckt wird. Verdeckte Rechtsfortbildungen verstoßen außerdem gegen die wegen der Gesetzesbindung regelmäßig bestehende Verpflichtung, die gesetzgeberische Interessenbewertung in den Entscheidungsgründen darzulegen. Zugleich nennen verdeckte Rechtsfortbildungen, die nur mit bestimmten leerformelartigen und floskelhaften Topoi »begründet« werden, entgegen den Begründungsvorschriften der Zivilprozessordnung nicht die Gründe, auf denen die Entscheidung in rechtlicher Hinsicht beruht. Verdeckte Rechtsfortbildungen sind also rechtswidrig.
2. Fehlerhaftigkeit und Unrichtigkeit Entscheidungen, die Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen verwenden, verletzen Verfahrensvorschriften und sind daher fehlerhaft. Ob sie stets auch als unrichtig einzustufen sind1, hängt davon ab, ob man dieses Adjektiv auf die Begründung oder das Ergebnis der Entscheidung bezieht.
1 Herkömmlicherweise wird zwischen der das Zustandekommen einer Entscheidung betreffenden Fehlerhaftigkeit und der inhaltsbezogenen Unrichtigkeit unterschieden, s. Rosenberg/ Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl. 2004, § 62 Rn. 1: Die Handlung eines Gerichtsorgans ist fehlerhaft, wenn sie unter Verletzung von Verfahrensvorschriften zustande gekommen ist. Eine Entscheidung ist unrichtig, wenn die darin ausgesprochene oder angeordnete Rechtsfolge der im Prozess unterbreiteten Sachlage nicht entspricht. Die Fehlerhaftigkeit beruht darauf, dass eine prozessuale Vorschrift über das Verfahren, die Unrichtigkeit darauf, dass eine für den Inhalt der Entscheidung maßgebende materiell- oder prozessrechtliche Norm nicht angewendet ist, obwohl ihre Merkmale gegeben sind, oder angewendet ist, obwohl ihre Merkmale fehlen.
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II. Zivilprozessuale und verfassungsrechtliche Folgen
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Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen bilden die gesetzgeberische Interessenbewertung fort und geben etwas als Auslegungsergebnis aus, was sich der Norm nicht entnehmen lässt. Sie stellen als solche einen Rechtsanwendungsfehler dar. Die verdeckt fortgebildete Rechtsnorm wird nicht richtig angewendet. Mit diesen Topoi kann die jeweils gefällte Entscheidung von Rechts wegen nicht begründet werden. Insofern ist die Entscheidung unrichtig. Ob die getroffene Entscheidung mit anderer Begründung zu rechtfertigen und damit im Ergebnis »richtig« ist, hängt davon ab, ob die (Zulässigkeits-)Voraussetzungen für die tatsächlich vorgenommene Rechtsfortbildung gegeben sind. Ist das nicht der Fall, so ist die Entscheidung in Begründung und Ergebnis unrichtig.
3. Wirksamkeit und Vernichtbarkeit Fehlerhafte oder unrichtige Urteile sind als staatliche Hoheitsakte regelmäßig wirksam2. Wie die Regelung über die Wiederaufnahme des Verfahrens in den §§ 578 ff. ZPO zeigt, werden selbst unter schwersten Verfahrensmängeln zustande gekommene Entscheidungen im Allgemeinen als wirkend betrachtet und müssen gegebenenfalls mit der Nichtigkeitsklage beseitigt werden; die Zivilprozessordnung geht also von der grundsätzlichen Wirksamkeit mangelhafter Urteile bis zur Aufhebung auf einen Rechtsbehelf hin aus3. Fehlerhafte und unrichtige Gerichtsentscheidungen müssen daher mit Rechtsmitteln oder anderen Rechtsbehelfen angefochten werden. Das gilt auch für Urteile, die Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen enthalten.
II. Zivilprozessuale und verfassungsrechtliche Folgen Werden Topoi verdeckter Fortbildungen des Gesetzesrechts eingesetzt, so ist zwischen den bei unanfechtbaren Entscheidungen möglichen verfassungsrechtlichen Konsequenzen, zu denen im weiteren Sinne auch die Rüge nach § 321 a ZPO gerechnet werden kann4, und den vor allem interessierenden stets eintretenden einfachrechtlichen zivilprozessualen Folgen zu unterscheiden. Im Hinblick auf die verfahrensgesetzlichen Wirkungen verdeckter Rechtsfortbildungen ist ihre Ver2 P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, Übers § 300 Rn. 10; zu nur ausnahmsweise vorliegenden Nicht- bzw. Scheinurteilen sowie nichtigen bzw. wirkungslosen Urteilen Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl. 2004, § 62 Rn. 12 ff., 20 ff.; Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, Vor § 300 Rn. 13 ff.; P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, Übers § 300 Rn. 11 ff. 3 Jauernig, Zivilprozessrecht, 28. Aufl. 2003, § 60 IV.; Musielak, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 1, 2. Aufl. 2000, Vor § 300 Rn. 4; P. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, Übers § 300 Rn. 20 mit Rechtsprechungsnachweisen; Reichold, in: Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 27. Aufl. 2005, Vorbem § 300 Rn. 10. 4 Sie ermöglicht im Fall einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) durch unanfechtbare instanzabschließende Entscheidungen im Verfahren nach der Zivilprozessordnung eine Selbstkorrektur durch den iudex a quo, um das Bundesverfassungsgericht zu entlasten, s. BT-Drucks. 14/4722, S. 63 und 85.
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§ 14 Rechtliche Konsequenzen verdeckter Rechtsfortbildungen
wendung in erstinstanzlichen Urteilen von der in Berufungsurteilen zu trennen. Bei den prozessrechtlichen Sanktionen für verdeckte Rechtsfortbildungen ist zwischen den Rechtsmitteln der Berufung und der Revision zu differenzieren.
III. Rechtsfragen des Rechtsmittelrechts Die Problematik dieser prozessrechtlichen Folgen verdeckter Rechtsfortbildungen betrifft neue Rechtsfragen aus dem Berufungsrecht und alte Grundsatzfragen aus dem Revisionsrecht.
1. Berufungsrecht Die Umgestaltung der Berufung durch das Gesetz zur Reform des Zivilprozesses hat zu bislang nicht bekannten Problemen, Unklarheiten und auch zu deutlichen Gegenbewegungen in Rechtsprechung und Schrifttum geführt5. An Neuerungen sind beispielsweise die Zurückweisung der Berufung durch Beschluss (§ 522 ZPO) und die veränderte Systematik der Fehlerkontrolle (§ 513 Abs. 1 ZPO) zu nennen.
2. Revisionsrecht Im Revisionsrecht geht es bei den Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen unter anderem um den Anwendungsbereich des absoluten Revisionsgrundes gemäß § 547 Nr. 6 ZPO, um die Abgrenzung der unbegründeten von der schlicht fehlerhaften, falsch begründeten Entscheidung, um die Voraussetzungen des »Beruhens« und der Kausalität der Rechtsverletzung für die Entscheidung und ihr Verhältnis zur trotz Rechtsverletzung aus anderen Gründen richtigen Entscheidung, um die von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensmängel im Sinne des § 557 Abs. 3 ZPO, um die Anwendbarkeit des § 561 ZPO bei Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes und um das Verhältnis der §§ 561, 563 Abs. 3 ZPO.
IV. Ein Grundproblem der Rechtsfehlerkontrolle Außerdem besteht ein grundsätzliches, von der Prozessrechtswissenschaft noch nicht gelöstes Problem: Die revisionsrechtliche Ausgestaltung der Rechtsfehlerkontrolle, die jetzt im Berufungsrecht entsprechend gilt (vgl. § 513 Abs. 1 ZPO), kennt die Rechtsfortbildung nicht.
1. Die unbeachtete Rechtsfortbildung Dass die zivilprozessuale Rechtsfehlerkontrolle die Rechtsfortbildung nicht vorsieht, ist heute nicht mehr offensichtlich, weil der Gesetzgeber vor kurzem den
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Das ist im Hinblick auf § 540 ZPO bereits festgestellt worden, s. § 13 IV.3.b.aa.
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IV. Ein Grundproblem der Rechtsfehlerkontrolle
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Begriff der Gesetzesverletzung (§ 550 ZPO a. F.) durch denjenigen der Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) ersetzt hat. Statt »Das Gesetz ist verletzt, wenn …« heißt es jetzt »Das Recht ist verletzt, wenn … «. In der Sache hat sich hierdurch freilich ausweislich der Gesetzesbegründung6 gegenüber der bisherigen Vorschrift, die bereits in § 512 der CPO von 1871 sowie deren Vorgängerbestimmungen enthalten war, nichts geändert. Eine Rechtsverletzung liegt nach § 546 ZPO vor, wenn eine Rechtsnorm – traditionell verstanden als Gesetz oder Gewohnheitsrecht7 – nicht oder nicht richtig angewendet worden ist. Die Entscheidungsfindung erscheint hiernach als Gesetzesanwendung. Nach gängiger prozessualer Betrachtung beruht § 546 ZPO auf dem sog. Justizsyllogismus; der Norm liege die Vorstellung zugrunde, dass das Gesetz den Obersatz, der Sachverhalt den Untersatz und das Urteil die Schlussfolgerung bilde8. Die Rechtsfortbildung existiert in § 546 ZPO nicht, was angesichts des Alters der zivilprozessgesetzlichen Konzeption der revisionsrechtlichen Rechtsfehlerkontrolle nicht überrascht. Im 19. Jahrhundert war nicht einmal der Begriff der Rechtsfortbildung geläufig9, welche selbst heute noch verbreitet als atypischer Ausnahmefall der Rechtsfindung betrachtet wird10. In der aus dem vorvorigen Jahrhundert stammenden zivilprozessualen Rechtsfehlerkontrolle hatte und brauchte die Rechtsfortbildung noch keinen Platz. Bei der Neuausrichtung der Rechtsmittel durch das Zivilprozessreformgesetz 2002 hat man die überkommene revisionsgerichtliche Fehlerprüfung, die im Revisionsrecht unverändert beibehalten wurde, für die Berufung übernommen; Überlegungen zur Stellung der Rechtsfortbildung hat man dabei nicht angestellt11. Daher ist die Rechtsfortbildung in der zivilprozessualen Rechtsfehlerkontrolle immer noch nicht vorgesehen.
2. Anpassungs- und Fortbildungsmöglichkeiten a. Fallgruppen Relativ unproblematisch lässt sich die unzulässige Rechtsfortbildung in das gesetzliche Modell integrieren. Sie kann als Nichtanwendung des zu Unrecht fortgebildeten Gesetzes und damit als Rechtsverletzung qualifiziert werden. Wird eine Fortbildung des Gesetzesrechts erst durch das Revisionsgericht vorgenommen, kann dieses die gesetzesanwendende Nichtvornahme der Rechtsfortbildung durch das Instanzgericht begrifflich noch als fehlerhafte Anwendung des
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BT-Drucks. 14/4722, S. 107: »Die Vorschrift entspricht sachlich dem bisherigen § 550«. Vgl. Begründung des Entwurfs einer Civilprozeßordnung und des Einführungsgesetzes, S. 318 f., in: Hahn, Materialien zur CPO, 1880, S. 365 f.; aus dem heutigen Schrifttum etwa Jauernig, Zivilprozessrecht, 28. Aufl. 2003, § 74 VII.2.a.; Ball, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 545 Rn. 2. 8 Vgl. etwa Gummer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 546 Rn. 6. 9 § 3 V.1. 10 § 7 IV.1. und 3. 11 BT-Drucks. 14/4722, S. 94 zu § 513 ZPO, S. 107 zu § 546 ZPO. 7
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§ 14 Rechtliche Konsequenzen verdeckter Rechtsfortbildungen
Gesetzes einstufen, wenngleich der Rechtsfehler tatsächlich in der Nichtvornahme der gebotenen Rechtsfortbildung liegt. Noch größere Schwierigkeiten bereitet es, die Nichtanwendung gesetzesrechtsfortbildenden Richterrechts und die zulässige Fortbildung des Gesetzesrechts durch die Instanzgerichte in § 546 ZPO zu verorten. Wendet ein Instanzgericht ein nicht gewohnheitsrechtlich geltendes12 gesetzesrechtsfortbildendes Richterrecht der obersten Instanzen nicht an, so lässt sich die für sich betrachtet zutreffende Anwendung des Gesetzes nur mit erheblichen Verrenkungen als nicht richtige Anwendung des Gesetzesrechts qualifizieren. Auch stellt eine nach Auffassung des Revisionsgerichts zulässige Fortbildung des Gesetzesrechts durch das Instanzgericht als (zumindest partielle) Nichtanwendung des Gesetzes nach § 546 ZPO »eigentlich« eine Rechtsverletzung dar. Insgesamt zeigt sich, dass die Rechtsfortbildung in das überkommene, sie nicht berücksichtigende Konzept der zivilprozessualen Rechtsfehlerkontrolle nicht ohne weiteres eingefügt werden kann. b. Ansatzpunkte für die Rechtsfortbildung Die notwendige Korrektur des § 546 ZPO kann entweder beim Begriff der Rechtsnorm ansetzen, indem man gesetzesrechtsfortbildendes Richterrecht dem Gesetzes- und Gewohnheitsrecht gleichstellt. Bekanntlich ist der Begriff der Rechtsnorm in § 546 ZPO schon bislang auf zivilrechtliche Gestaltungsfaktoren ausgeweitet worden, die nach klassischem Rechtsquellenverständnis nicht erfasst werden13. Oder man muss, um den traditionellen Rechtsquellendualismus14 zu retten, das tatbestandliche Verhalten (»nicht oder nicht richtig angewendet«) um die Variante der wegen einer zulässigen Rechtsfortbildung »nicht fehlerhaften Nichtanwendung des Gesetzes« erweitern. So könnte etwa § 546 ZPO rechtsfortbildend mit folgendem Zusatz versehen werden: » …, es sei denn, dass die Fortbildung des Rechts eine von der Rechtsnorm abweichende Rechtsfindung verlangt«.
3. Verdeckte Rechtsfortbildungen und die §§ 546, 513 Abs. 1 ZPO Für die verdeckten Rechtsfortbildungen muss dieses offene Grundlagenproblem nicht abschließend geklärt werden, weil die verdeckte Fortbildung der Gesetze deren Inhalt falsch bestimmt und deshalb regelmäßig das Gesetzesrecht nicht 12 Auch insoweit ist zu berücksichtigen, dass das Gewohnheitsrecht nach verbreiteter Auffassung eine Fiktion und in Wahrheit stets verkapptes Richter- bzw. Juristenrecht ist, hierzu § 4 V.2.b.aa. 13 Zu nennen sind die allgemeinen Geschäftsbedingungen und andere sog. typische Erklärungssachverhalte wie Satzungen von Kapitalgesellschaften oder Vereinen, s. Gummer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 546 Rn. 5; Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 5, Teilband 1, 21. Aufl. 1994, §§ 549, 550 Rn. 40, 42; jeweils m.w.N. aus Rechtsprechung und Literatur. 14 Die herkömmliche Betrachtungsweise kennt als Rechtsquellen nur das staatlich gesetzte Gesetzesrecht und das auf einer tatsächlichen Übung beruhende Gewohnheitsrechts, hierzu § 4 V.2.b.aa.
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V. Die Berufung
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»richtig anwendet«, so dass eine Verletzung des Rechts im Sinne von § 546 ZPO (gegebenenfalls i.V.m. § 513 Abs. 1 ZPO) vorliegt. Für die Verletzung der verfahrensrechtlichen Begründungsvorschriften gilt Entsprechendes. Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen lassen sich somit grundsätzlich aufgrund der geltenden gesetzlichen Ausgestaltung der Rechtsfehlerkontrolle im zivilprozessualen Rechtsmittelrecht erfassen. Zu ermitteln ist daher, unter welchen konkreten Voraussetzungen sich welche prozessrechtlichen Sanktionen aus den Rechtsmitteln der Berufung und der Revision für Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen bzw. für die sie enthaltenden gerichtlichen Entscheidungen ergeben.
V. Die Berufung 1. Ausgangssituation Lässt das erstinstanzliche Urteil aufgrund der Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen die tragenden rechtlichen Erwägungen nicht erkennen, so werden sowohl § 313 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 3 ZPO als auch die verdeckt fortgebildete Norm verletzt15. Den Bestand der Entscheidung berühren diese Fehler nicht16. Sie können jedoch das Rechtsmittel der Berufung eröffnen.
2. Zulässigkeitsfragen a. Erreichen der Berufungssumme oder Zulassung Nach § 511 Abs. 2 ZPO ist die Berufung nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes17 600 Euro übersteigt (Nr. 1) oder das Gericht des ersten Rechtszuges die Berufung im Urteil zugelassen hat (Nr. 2). In den sog. Kleinverfahren, in denen die Partei durch das Urteil mit nicht mehr als 600 Euro beschwert ist (§ 511 Abs. 4 S. 1 Nr. 4 ZPO), lässt das Gericht des ersten Rechtszuges die Berufung nach § 511 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 ZPO zu, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert. Zwar setzt die Zulassung der Berufung nicht voraus, dass es um eine Rechtsfortbildung geht. Selbst der Zulassungsgrund der Fortbildung des Rechts kann erfüllt sein, wenn eine »schlichte« Auslegung betroffen ist: Er erfordert lediglich eine offene Rechtsfrage, die der Klärung durch das jeweilige Obergericht bedarf; ob sie durch Auslegung oder Rechtsfortbildung zu beantworten ist, spielt keine
15 § 13 IV.2. zu § 313 ZPO; § 13 I.1. und II.1.a. zur Verletzung der verdeckt fortgebildeten Norm. 16 I.3. 17 Hierzu C. Fischer, NJW 2002, 1551 ff.; Rimmelspacher, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 511 Rn. 44; Albers, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 511 Rn. 13 m.w.N.
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§ 14 Rechtliche Konsequenzen verdeckter Rechtsfortbildungen
Rolle18. Werden Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen in den Entscheidungsgründen sog. Kleinverfahren verwendet, so wird das tendenziell dennoch gegen die Zulassung der Revision wirken. Eine Rechtsfrage, die sich – wenn auch nur scheinbar – aus dem Gesetz beantworten lässt, verlangt regelmäßig nicht nach einer klärenden obergerichtlichen Entscheidung. Unterbleibt die Zulassung der Revision in sog. Kleinverfahren, in denen Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen eingesetzt werden, so ist die Berufung unzulässig. Denkbar ist in solchen Fällen eine Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung von Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG19, bei einer Verletzung des rechtlichen Gehörs außer einer Verfassungsbeschwerde und vor dieser zusätzlich die Rüge nach § 321 a ZPO20. b. Berufungsbegründung Für eine ordnungsgemäße Berufungsbegründung nach § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 ZPO reicht es aus, dass der Berufungskläger die verdeckte Fortbildung des – scheinbar nur ausgelegten und angewendeten – Gesetzesrechts rügt. Damit ist die Rechtsverletzung, die zur inhaltlichen Unrichtigkeit des angefochtenen Urteils führt, bereits hinreichend bezeichnet. Zu empfehlen ist freilich stets ein möglichst vollständiger Vortrag.
3. Möglichkeit der Zurückweisung? Das neue Berufungsrecht sieht in § 522 Abs. 2 S. 1 ZPO vor, dass das Berufungsgericht die Berufung durch einstimmigen Beschluss unverzüglich zurückweist, wenn es davon überzeugt ist, dass die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat (Nr. 1), die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat (Nr. 2) und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordert (Nr. 3). Dass die erste Instanz die Berufung nach § 511 Abs. 4 ZPO zugelassen hat, schließt eine Beschlusszurückweisung nach § 522 Abs. 2 S. 1 ZPO nicht aus, wenn das Berufungsgericht die Zulassungsvoraussetzungen anders beurteilt21. An der Erfolgsaussicht der Berufung soll es auch dann fehlen, wenn sich das Ergebnis des angefochtenen Urteils mit anderer Begründung aufrechterhalten lässt22. 18
Eingehend hierzu § 3 IV.2. Dazu sogleich unter VIII.2.; s. auch bereits § 12 V.3.c. 20 Zu Konsequenzen der Verletzung des rechtlichen Gehörs gleich VIII.1.; s. schon § 12 V.2.c. 21 BT-Drucks. 14/4722, S. 97. 22 OLG Rostock, NJW 2003, 1676, 1677; MDR 2003, 828, 829; Albers, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 522 Rn. 16; Ball, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 522 Rn. 21; Gerken, in: Wieczorek/Schütze, Zivilprozessordnung und Nebengesetze, Zweiter Band, 4. Teilband, 3. Aufl. 2004, § 522 Rn. 64; Reichold, in: Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 27. Aufl. 2005, § 522 Rn. 14; Rimmelspacher, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 522 Rn. 20; demgegenüber wird teilweise gefordert, die Berufung müsse offensichtlich unbegründet bzw. substanzlos sein, s. etwa Piekenbrock, JZ 2002, 540, 545 ff.; verfassungsrechtlich nicht geboten nach BVerfG, NJW 2003, 281; s. zum Ganzen auch Gummer/Heßler, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. 19
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V. Die Berufung
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Fraglich ist daher, ob eine Zurückweisung der Berufung nach § 522 Abs. 2 S. 1 ZPO auch dann in Betracht kommt, wenn tragende Teile der Begründung des erstinstanzlichen Urteils aus Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen bestehen. Die Frage ist unproblematisch zu verneinen, falls das Berufungsgericht die Rechtsausführungen bzw. die Entscheidung auch im Ergebnis für falsch hält, da die Berufung dann in der Sache begründet ist und deshalb Aussicht auf Erfolg hat23. Das Berufungsgericht darf die Berufung jedoch selbst dann nicht gemäß § 522 Abs. 2 S. 1 ZPO durch Beschluss zurückweisen, wenn es die erstinstanzliche Entscheidung im Ergebnis für richtig hält, also eine entsprechende Rechtsfortbildung für geboten erachtet. Entgegen zumindest missverständlicher Äußerungen im Schrifttum24 genügt die fehlende Erfolgsaussicht nicht für die Zurückweisung, weil hierfür sämtliche Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 S. 1 ZPO vorliegen müssen25. Das wird in der Gesetzesbegründung mehrfach betont26 und ist im Übrigen auch der Gesetzesfassung zu entnehmen. Hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung oder ist eine Entscheidung des Berufungsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich, so scheidet eine Beschlusszurückweisung auch bei fehlender Erfolgssaussicht aus, weil in diesem Fall eine mündliche Verhandlung und eine Entscheidung in Urteilsform auch im öffentlichen Interesse geboten erscheint27. Wird das Gesetzesrecht vom Eingangsgericht verdeckt fortgebildet, so erfordert, wenn die Rechtsfortbildung neu ist, die Fortbildung des Rechts28 und ansonsten die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung29 eine Entscheidung des Berufungsgerichts. Eine Zurückweisung der Berufung nach § 522 Abs. 2 S. 1 ZPO ist daher generell nicht möglich, wenn tragende Teile des erstinstanzlichen Urteils aus Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen bestehen. Aufl. 2005, § 522 Rn. 36; zur Handhabung der Vorschrift in der Praxis Fellner, MDR 2003, 69 f.; Siegel, MDR 2003, 481 f. 23 Zu den Voraussetzungen dieses Tatbestandsmerkmals BT-Drucks. 17/4722, S. 97. 24 Vgl. etwa Gummer/Heßler, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 522 Rn. 29 und 31; s. aber auch a.a.O., Rn. 37: »zusätzl«. 25 Albers, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 522 Rn. 17; Ball, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 522 Rn. 20 und 22; erkennbar auch bei Rimmelspacher, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 522 Rn. 23 und 27. 26 BT-Drucks. 14/4722, S. 96 f. 27 So BT-Drucks. 14/4722, S. 97. 28 Sie lässt sich als Regelbeispiel der grundsätzlichen Bedeutung verstehen, s. zu dem Tatbestandsmerkmal »Fortbildung des Rechts« Rimmelspacher, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 522 Rn. 21, § 511 Rn. 72; Gummer/Heßler, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 522 Rn. 37, § 543 Rn. 12; Ball, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 522 Rn. 22, § 543 Rn. 7. 29 Rimmelspacher, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 522 Rn. 21, § 511 Rn. 73 ff.; Gummer/Heßler, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 522 Rn. 37, § 543 Rn. 13; Ball, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 522 Rn. 22, § 543 Rn. 8. – Zu beachten ist, dass die Entscheidungserheblichkeit »nur« für das Urteil des Eingangsgerichts gegeben sein muss, s. Rimmelspacher, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 511 Rn. 71 und 76, § 543 Rn. 10; vgl. hierzu aber auch BGH, NJW 2003, 831; NJW 2003, 1125, 1126; bei Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen, die keine obiter dicta sind, ist die Entscheidungserheblichkeit stets gegeben.
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§ 14 Rechtliche Konsequenzen verdeckter Rechtsfortbildungen
4. Möglichkeit der Zurückverweisung? Die Zurückverweisung an das erstinstanzliche Gericht nach § 538 Abs. 2 ZPO setzt neben einem wesentlichen Verfahrensmangel30 noch eine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme voraus. Sie ist bei Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen grundsätzlich nicht notwendig, weil diese meist die rechtliche Beurteilung betreffen. Das Berufungsgericht hat also nach § 538 Abs. 1 ZPO in der Sache selbst zu entscheiden. Anders kann das freilich bei verdeckten Rechtsfortbildungen sein, welche die für die Bildung des Sachverhalts maßgebenden Prozessnormen zum Gegenstand haben31.
5. Begründetheit der Berufung Nach der neuen Systematik des Berufungsrechts32 ist die Berufung in den hier interessierenden Konstellationen begründet, wenn die Entscheidung auf einer Rechtsverletzung beruht (vgl. § 513 Abs. 1 1. Alt ZPO). Setzt das erstinstanzliche Gericht Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen ein, so kann sowohl die Verletzung der Verfahrensvorschrift des § 313 ZPO als auch die Verletzung der verdeckt fortgebildete Gesetzesvorschrift die Berufung begründen. a. Grundsätzliche Voraussetzungen Nach der in § 513 Abs. 1 ZPO in Bezug genommenen Legaldefinition des § 546 ZPO ist eine Rechtsverletzung gegeben, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist. Als Fehler kommen Subsumtions- und Interpretationsfehler sowie das gänzliche Übersehen von Rechtsvorschriften in Betracht33. Zu den sog. Anwendungsfehlern zählen insbesondere Interpretationsmängel, bei denen im Wege der Auslegung Inhalt und Grenzen einer Norm unzutreffend ermittelt werden34.
30 Hierzu Gummer/Heßler, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 538 Rn. 9 ff. mit Bildung von Fallgruppen; zu beachten ist insbesondere, dass unter § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO nur ein Verfahrensmangel (error in procedendo) und nicht die unrichtige materiellrechtliche Beurteilung (error in iudicando) fallen soll, s. a.a.O., Rn. 10 m.w.N. Ob zwischen den wesentlichen Verfahrensmängeln des § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO und den absoluten Revisionsgründen eine Beziehung besteht, ist umstritten, s. Rimmelspacher, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 538 Rn. 25 m.w.N., Rn. 43 zu Begründungsmängeln; Albers, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 538 Rn. 4 ff. 31 Zur Voraussetzung einer umfangreichen oder aufwändigen Beweisaufnahme Albers, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 538 Rn. 9; Rimmelspacher, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 538 Rn. 45 f. 32 Hierzu Rimmelspacher, NJW 2002, 1897 ff. 33 Gummer/Heßler, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 513 Rn. 2; Rimmelspacher, NJW 2002, 1897. 34 Rimmelspacher, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 513 Rn. 11; Reichold, in: Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 27. Aufl. 2005, § 546 Rn. 1.
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V. Die Berufung
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Auf der Rechtsverletzung muss die Entscheidung nach der aus dem Revisionsrecht übernommenen Formulierung des § 513 Abs. 1 ZPO »beruhen«. Die Voraussetzungen des Beruhens sind im Revisionsrecht insbesondere wegen des ungeklärten Verhältnisses dieses Tatbestandsmerkmals zur aus anderen Gründen richtigen Entscheidung (§ 561 ZPO) traditionell umstritten35. Zu § 513 Abs. 1 ZPO geht das Schrifttum mit der auch im Revisionsrecht vorherrschenden Betrachtungsweise davon aus, dass eine Entscheidung nur dann auf einer Rechtsverletzung beruht, wenn diese für das Entscheidungsergebnis kausal ist36. Dabei wird wie im Revisionsrecht zwischen der Verletzung materiellrechtlicher und verfahrensrechtlicher Normen unterschieden37. Wird materielles Recht verletzt, soll die Entscheidung des Erstgerichts nur dann auf dem Rechtsfehler beruhen, wenn die richtige Anwendung des Rechts zu einem dem Berufungsführer günstigeren Ergebnis führt38. Bei verfahrensrechtlichen Normen beruhe die Entscheidung auf der Rechtsverletzung, wenn die Möglichkeit einer anderen Entscheidung nicht ausgeschlossen werden kann39. Daher ist im Folgenden getrennt zu untersuchen, ob die Verletzung der zivilprozessualen Begründungsvorschrift oder der verdeckt fortgebildeten Gesetzes35 Häufig geht man davon aus, dass das Urteil im Anwendungsbereich des § 561 ZPO nicht auf der Verletzung der Rechtsnorm beruhe, weil diese nicht für das Ergebnis der angefochtenen Entscheidung ursächlich sei, so etwa Jauernig, Zivilprozessrecht, 28. Aufl. 2003, § 74 VII.2.c. und VIII.1.; s. auch Reichold, in: Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 27. Aufl. 2005, § 546 Rn. 12. Andere beziehen das Beruhen stärker auf den Entscheidungsinhalt bzw. die tragenden Teile der Begründung und meinen, im Fall des § 561 ZPO beruhe das Berufungsurteil zwar auf der Gesetzesverletzung, erweise sich aber im Ergebnis aus anderen als den vom Berufungsgericht angenommenen Gründen als richtig, so etwa Ball, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 561 Rn. 1. Außerdem wird § 561 ZPO noch als selbständiger Anwendungsfall des § 563 Abs. 3 ZPO verstanden, so Wenzel, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 561 Rn. 1; Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 5, Teilband 1, 21. Aufl. 1994, § 563 Rn. 3. Das überrascht, weil § 563 Abs. 3 ZPO doch die Aufhebung des Urteils voraussetzt; s. zum Ganzen bereits Bettermann, ZZP 88 (1975), 365, 372 ff. 36 Ball, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 513 Rn. 5; Rimmelspacher, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 513 Rn. 13; Reichold, in: Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 27. Aufl. 2005, § 513 Rn. 2; die beiden letztgenannten Autoren verwenden den Begriff des Beruhens bei ihren Ausführungen indes nicht. 37 Rimmelspacher, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 513 Rn. 13; Gummer/Heßler, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 513 Rn. 5. 38 Gummer/Heßler, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 513 Rn. 5 unter Berufung auf Schellhammer, bei dem es indessen zum »Berufungsgrund Rechtsverletzung« heißt: »Erheblich ist ein Rechtsfehler nur, wenn er das erstinstanzliche Urteil verfälscht, das Urteil ohne den Fehler also von Rechts wegen günstiger ausgefallen wäre, denn es kommt nicht darauf an, wie die erste Instanz ohne den Fehler tatsächlich entschieden hätte, sondern darauf, wie sie ohne den Fehler nach Gesetz und Recht hätte entscheiden sollen«, s. Schellhammer; MDR 2001, 1141, 1143; ähnlich wie Gummer/Heßler auch Ball, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 513 Rn. 5. 39 Ball, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 513 Rn. 5; Gummer/ Heßler, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 513 Rn. 5; Gerken, in: Wieczorek/ Schütze, Zivilprozessordnung und Nebengesetze, Zweiter Band, 4. Teilband, 3. Aufl. 2004, § 513 Rn. 10, nach dem bei absoluten Revisionsgründen auch im Berufungsverfahren die Kausalität unwiderleglich vermutet werden soll.
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§ 14 Rechtliche Konsequenzen verdeckter Rechtsfortbildungen
vorschrift die Berufung begründet. Vorab kann aufgrund des Gesagten bereits festgehalten werden, dass die Berufung gegen eine mit Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen begründete Entscheidung keinen Erfolg verspricht, wenn die Topoi sich nur in einer von mehreren tragenden Begründungen finden. Ebenso ist es bei obiter dicta, die aber schon begrifflich nicht zu den hier untersuchten Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen zählen, da es dann nicht um Erwägungen geht, auf denen die Entscheidung in rechtlicher Hinsicht beruht (§ 313 Abs. 3 ZPO). b. Verletzung der verfahrensrechtlichen Begründungsvorschrift aa. Wird das Gesetzesrecht verdeckt fortgebildet, so sind die Erwägungen, auf denen die Entscheidung in rechtlicher Hinsicht wirklich beruht (vgl. § 313 Abs. 3 ZPO), wegen der verwendeten Topoi nicht erkennbar. Statt der tragenden Rechtsgründe gibt das Gericht den Adressaten der Entscheidung leerformel- und floskelhafte Scheinbegründungen und verletzt die Verfahrensvorschrift des § 313 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 3 ZPO40. Eine Rechtsverletzung ist damit gegeben. bb. Auf dieser Verfahrensrechtsverletzung muss die Entscheidung nach § 513 Abs. 1 ZPO »beruhen«. Die Voraussetzungen des Beruhens sind im Revisionsrecht – wie bereits gesagt – umstritten. Hinzu kommt, dass die Feststellung des Beruhens bei Begründungsmängeln besondere Schwierigkeiten bereitet. Bei Verfahrensfehlern wird in der Revisionsinstanz üblicherweise gefragt, ob die Entscheidung ohne die Rechtsverletzung möglicherweise anders ausgefallen wäre. Die Frage lässt sich bei Begründungsmängeln nicht deshalb verneinen, weil die Begründung häufig später als die Entscheidung (genauer: als die verkündete Urteilsformel) niedergeschrieben wird41. Dass die Entscheidung nicht auf einem Fehler der Begründung beruhen könne, weil diese (oft) erst nachträglich erstellt werde, ist schon deshalb nicht richtig, weil das Entscheidungsergebnis im Hinblick auf seine überzeugende rechtliche Begründbarkeit getroffen wird, und weil die Entscheidungsbegründung die Gründe dokumentieren muss, die das Gericht im Zeitpunkt der endgültigen Festlegung (Erlass bzw. Verkündung) für tragend angesehen hat42. Nach § 313 Abs. 3 ZPO enthalten die Entscheidungsgründe eine kurze Zusammenfassung der Erwägungen, auf denen die Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht. Von Rechts wegen ist deshalb für die Frage des Beruhens zu unterstellen, dass die angeführten tragenden Gründe die wirklich bestimmenden waren. Dass diese Identität von angeführten und tatsächlich maßgebenden rechtlichen Gründen bei leerformelhaften Floskeln, die gesetzgeberische Interessenbewertungen verdeckt fortbilden und das Gesetzesrecht verletzen, tatsächlich nicht besteht, ändert nichts. Es geht um eine rechtliche Fiktion, 40 § 13 IV.2. – Möglicherweise wird die neue Rechtsfehlerkontrolle im Berufungsrecht dazu führen, dass die herrschende Meinung ihre unter § 13 IV.2.a. geschilderte revisionsrechtliche Perspektive modifiziert und wieder stärker auf die Normen abstellt, die die Entscheidungsbegründungen vorschreiben, zumal § 313 Abs. 3 ZPO seit 1976 inhaltliche Maßstäbe bereitstellt. 41 Hierzu Habscheid, NJW 1964, 629, 633. 42 § 12 III.3.; s. auch § 10 IX.6.c.bb. und X.
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V. Die Berufung
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die das Beruhen einer Entscheidung auf Begründungsmängeln betrifft. Erforderlich ist somit allein, dass das Entscheidungsergebnis von der verfahrensfehlerhaften Begründung bzw. von ihren verfahrensfehlerhaften Teilen getragen wird, der Begründungsfehler also nicht in einem obiter dictum oder in einer von mehreren tragenden Begründungen erfolgt. Für verdeckte Rechtsfortbildungen bedeutet das: An Stelle der gebotenen sachlichen Begründung werden lediglich floskelhafte Topoi gegeben. Die Frage, ob eine Fortbildung der gesetzgeberischen Interessenbewertung zulässig ist, wird verdrängt. Es kann daher nie ausgeschlossen werden, dass das Gericht ein anderes Ergebnis erzielt hätte, wenn es den entscheidenden Wertungsfragen nicht ausgewichen wäre, sondern sie behandelt und beantwortet hätte. Wenn das Gericht nicht zu Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen gegriffen, sondern die Frage gestellt hätte, ob die Voraussetzungen für eine Rechtsfortbildung vorliegen, so wäre möglicherweise anders entschieden worden. cc. Die mögliche Ursächlichkeit der Verfahrensverletzung genügt im Berufungsverfahren im Unterschied zum Revisionsverfahren freilich nur dann zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils, wenn das Berufungsgericht gemäß § 538 Abs. 2 ZPO an das Eingangsgericht zurückverweist43. Hat es nach § 538 Abs. 1 ZPO in der Sache zu entscheiden, so muss es, soweit im ersten Rechtszug ein Verfahrensfehler unterlaufen ist, selbst das Verfahren fehlerfrei wiederholen44. Erst danach lässt sich feststellen, ob das erstinstanzliche Urteil im Ergebnis zutreffend oder unzutreffend ist45. Weil das Berufungsgericht wegen Verfahrensfehlern nur unter den bei Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen regelmäßig nicht gegebenen Voraussetzungen des § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO46 an das Ausgangsgericht zurückverweisen darf, muss es also unter Vermeidung des Verfahrensfehlers in der Sache selbst entscheiden. Das bedeutet, dass die Berufung wegen der Verletzung des § 313 Abs. 3 ZPO durch Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen dann Erfolg hat, wenn die von der ersten Instanz verdeckt vorgenommene Fortbildung des Gesetzesrechts nach Auffassung des Berufungsgerichts nicht begründbar ist, weil die Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Rechtsfortbildung nicht vorliegen. Dabei kann man den Einsatz verdeckender Topoi als Indiz für die fehlende Begründbarkeit einer offenen Rechtsfortbildung ansehen47. Sollte das Berufungsgericht dennoch der Ansicht sein, dass die 43 Rimmelspacher, NJW 2002, 1897, 1898; ders., in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 513 Rn. 13. 44 Rimmelspacher, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 513 Rn. 13; Gummer/Heßler, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 513 Rn. 5. 45 Rimmelspacher, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 513 Rn. 13, wo es heißt, dass dies auch bei den Verfahrenverstößen gelte, die § 547 Nr. 1 bis 3, 5 und 6 ZPO als absolute Revisionsgründe bezeichne. 46 Hierzu vorstehend 4. 47 Es lässt sich folgendermaßen argumentieren: Wenn die Rechtsfortbildungsvoraussetzungen vorgelegen hätten, wäre das Gesetz vom Gericht doch fortgebildet worden. Stellt man demgegenüber den in § 10 V. dokumentierten »horror vacui« in den Vordergrund, kann man die Begründbarkeit einer Rechtsfortbildung auch als offen einstufen. Entscheidend ist freilich, dass der
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§ 14 Rechtliche Konsequenzen verdeckter Rechtsfortbildungen
Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Rechtsfortbildung, welche das erstinstanzliche Gericht verdeckt vorgenommen hat, gegeben sind, so weist es die Berufung (als unbegründet) zurück und nennt in der kurzen Begründung nach § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 ZPO die maßgebenden Rechtsgründe für die Fortbildung des Gesetzesrechts. c. Verletzung des verdeckt fortgebildeten Gesetzes Entsprechende Folgen hat die Verletzung der verdeckt fortgebildeten Gesetzesvorschrift. Werden Inhalt und Grenzen einer Norm im Wege der Auslegung unzutreffend ermittelt, so wird diese Rechtsnorm nicht richtig angewendet (»Rechtsverletzung wegen Interpretationsmangels«). Ist eine Verfahrensvorschrift betroffen, so gelten die unter b. gemachten allgemeinen Ausführungen. Häufig wird es sich bei der verletzten Rechtsnorm jedoch um eine materiellrechtliche Vorschrift handeln. Bei einer Verletzung materiellen Rechts soll die Entscheidung nur dann auf dem Rechtsfehler beruhen bzw. für das Ergebnis kausal sein, wenn die richtige Anwendung des Rechts zu einem für den Berufungsführer günstigeren Ergebnis führt48. Die Berufung hat wegen der Verletzung der fortgebildeten Gesetzesvorschrift also Erfolg, wenn die von der ersten Instanz vorgenommene Fortbildung des Gesetzesrechts nach Auffassung des Berufungsgerichts nicht begründbar ist, weil die Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Rechtsfortbildung nicht vorliegen. Auch hier kann der Einsatz verdeckender Topoi die Unzulässigkeit einer Rechtsfortbildung indizieren. Sollte das Berufungsgericht das Ergebnis der ersten Instanz trotzdem für richtig halten, so muss es die Berufung zurückweisen und nach § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 ZPO begründen, weshalb die vom erstinstanzlichen Gericht verdeckte Fortbildung des Gesetzesrechts zulässig ist.
VI. Die Revision 1. Ausgangssituation Auch bei Berufungsurteilen kommt es vor, dass die tragenden rechtlichen Erwägungen – trotz der gebotenen Zusammenschau mit dem erstinstanzlichen Urteil49 – aufgrund Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen nicht zu erkennen sind. Zwei Fallkonstellationen sind möglich: Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen finden sich in den Gründen des Berufungsurteils. Oder das Berufungsgericht bestätigt eine erstinstanzliche Entscheidung, die Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen enthält, ohne insoweit eine eigene inhaltliche Begründung abzugeben, etwa indem es auf »die überzeugenden Rechtsausführungen« des erstinstanzli-
Verfahrensfehler zwangsläufig zu der Frage führt, ob die Voraussetzungen für eine Rechtsfortbildung konkret vorliegen. 48 Gummer/Heßler, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 513 Rn. 5; Ball, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 513 Rn. 5; s. auch Schellhammer; MDR 2001, 1141, 1143. 49 Hierzu § 13 IV.3.c.bb.(3).(e). und cc.
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VI. Die Revision
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chen Gerichts Bezug nimmt50. In beiden Fällen werden sowohl die einschlägigen Begründungsvorschriften51 als auch die verdeckt fortgebildete Rechtsnorm verletzt. Als Rechtsmittel kommen die Revision oder die dieser unter Umständen vorgeschaltete Nichtzulassungsbeschwerde52 in Betracht.
2. Zulässigkeitsfragen a. Die Revisionszulassung Die Revision ist nur zulässig, wenn das Berufungsgericht sie zugelassen hat oder sie vom Revisionsgericht auf die Nichtzulassungsbeschwerde hin zugelassen wird (§ 543 Abs. 1 ZPO). Die Nichtzulassungsbeschwerde, die (zunächst) bis Ende 2006 (jetzt 2011) nur zulässig ist, wenn der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer 20.000 Euro übersteigt (§ 26 Nr. 8 EGZPO), ist erfolgreich, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert, was vom Beschwerdeführer in der Beschwerdeschrift ordnungsgemäß dargelegt werden muss53. Hat das Berufungsgericht selbst Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen verwendet oder sich eine Begründung des erstinstanzlichen Gerichts zu Eigen gemacht, die derartige Topoi enthält, so erfordert entweder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts54. b. Die Revisionsbegründung Die Zulässigkeit der Revision setzt weiter voraus, dass die Revisionsgründe in der Revisionsbegründung konkret angegeben werden (§ 551 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 ZPO). Die Umstände, aus denen sich die Rechtsverletzung ergibt, sind bestimmt zu benennen55. Werden Verfahrensmängel gerügt, so müssen zudem die Tatsachen bezeichnet werden, die den Mangel ergeben, weil sich etwaige Verfahrensverstöße anders als sachlich-rechtliche Fehler dem Berufungsurteil regelmäßig nicht entneh-
50 Dass Begründungsmängel der ersten Instanz auf das Berufungsurteil durchschlagen, wenn und soweit dieses lediglich auf die Vorentscheidung Bezug nimmt, ist bereits ausgeführt worden, s. § 13 IV.3.c.cc. 51 Nach der in § 13 IV.3.c.bb. eingehend begründeten Ansicht handelt es sich um § 313 Abs. 3 ZPO i.V.m. § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 ZPO. 52 Diese wird hier, obwohl eigenständiger Rechtsbehelf, im Rahmen der Zulässigkeit der Revision mitbehandelt. 53 Zur Darlegungspflicht des Beschwerdeführers Gummer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 544 Rn. 10 a, 10 b und 12 b; Wenzel, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 544 Rn. 9. 54 Die unter V.3. gegebene Begründung gilt insoweit entsprechend. 55 Hierzu BAG, 6.1.2004, AP Nr. 11 zu § 74 ArbGG 1979, zu II.2. und 3. der Gründe = NJW 2004, 1683, 1684 f.; Gummer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 551 Rn. 10 f.; Ball, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 551 Rn. 9 f.; Albers, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 551 Rn. 10.
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men lassen56. Diese Verpflichtung besteht auch bei absoluten Revisionsgründen57. Ausnahmen gelten für von Amts wegen zu beachtende Punkte58 (vgl. § 557 Abs. 3 S. 2 ZPO). Die Revision ist schon dann ordnungsgemäß begründet, wenn die verdeckte Fortbildung eines Gesetzes gerügt wird, und zwar auch im Hinblick auf den geltend gemachten Verfahrensfehler, weil ein Begründungsmangel sich im Unterschied zu anderen Verfahrensfehlern ohne weiteres aus dem Urteil selbst ergibt59. Zu empfehlen ist freilich auch hier ein möglichst vollständiges Vorbringen.
3. Zurückweisungsmöglichkeit? Im Jahr 2004 ist die Möglichkeit eingeführt worden, eine vom Berufungsgericht zugelassene und zulässige Revision durch einstimmigen Beschluss des Revisionsgerichts zurückzuweisen (§ 552 a ZPO). Der Zurückweisungsbeschluss darf gemäß § 552 a ZPO indessen nur ergehen, wenn die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nicht vorliegen und die Revision keine Aussicht auf Erfolg hat60. Hält das Revisionsgericht die verdeckte Rechtsfortbildung des Berufungsgerichts auch im Ergebnis für falsch, so hat die Revision jedenfalls Aussicht auf Erfolg. Ist das Revisionsgericht der Ansicht, das Berufungsurteil sei immerhin im Ergebnis richtig, kann es dennoch nicht zurückweisen, sondern muss in der Sache eine offene Fortbildung des Gesetzesrechts vornehmen. Weil obergerichtliche Präjudizien in den unteren Instanzen faktisch regelmäßig beachtet werden, wird diese Fortbildung häufig neu sein, so dass die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des Revisionsgerichts notwendig macht. Sollte die vom Revisionsgericht beabsichtigte Rechtsfortbildung in der Rechtsprechung bereits anerkannt sein, ist seine Entscheidung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten61. Da § 552 a S. 1 ZPO außer der fehlenden Erfolgsaussicht stets erfordert, dass die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nicht vorliegen, ist eine Zurückweisung nach dieser Vorschrift in der geschilderten Situation nicht möglich. Bei Berufungsurteilen, die verdeckte Rechtsfortbildungen enthalten oder sich zu Eigen machen, kommt die Zurückweisungsmöglichkeit nach § 552 a ZPO mithin nicht in Betracht.
56 Gummer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 551 Rn. 14; Ball, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 551 Rn. 10. 57 Albers, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 551 Rn. 13; Wenzel, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 551 Rn. 21. 58 Albers, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 551 Rn. 14; Wenzel, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 551 Rn. 21, § 557 Rn. 22 ff. 59 Vgl. zu evidenten Verfahrensverstößen BGH, MDR 1961, 142; Wenzel, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 551 Rn. 21. 60 Hierzu auch BT-Drucks. 15/3482, S. 18 f. 61 Hierzu bereits V.3. mit Nachweisen zu den Voraussetzungen der »Fortbildung des Rechts« und der »Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung«.
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VI. Die Revision
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4. Begründetheit der Revision a. Grundsätzliche Voraussetzungen Eine Revision ist im Allgemeinen begründet, wenn die Entscheidung auf einer Rechtsverletzung beruht (vgl. § 545 ZPO) und sich ihr Ergebnis nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 561 ZPO). Überwiegend wird allerdings davon ausgegangen, dass § 561 ZPO, dessen Verhältnis zu § 563 Abs. 3 ZPO unklar ist62, auf absolute Revisionsgründe nicht anzuwenden ist63. Wenn Revisionsgerichte die Rechtsverletzung im Sinne des § 546 ZPO prüfen, beschäftigen sie sich herkömmlicherweise zunächst mit den von Amts wegen zu berücksichtigenden sog. absoluten Verfahrensmängeln, dann mit denjenigen Verfahrensrügen, die absolute Revisionsgründe betreffen, anschließend mit sonstigen Verfahrensrügen und schließlich mit den Sachrügen64. Die allgemeinen Verfahrensvorschriften und die materiellrechtlichen Gesetze werden dabei nach den bereits dargelegten Grundsätzen erörtert65. Für Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen ergibt sich hierbei Folgendes: b. § 557 Abs. 3 S. 2 ZPO § 557 Abs. 3 S. 2 ZPO ist zu entnehmen, dass es von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrensmängel gibt, die auch ohne eine entsprechende Verfahrensrüge zu beachten sind. Offen bleibt dabei freilich, um welche Verfahrensmängel es sich im Einzelnen handelt66. Im Schrifttum heißt es, das Problem, welche Umstände von Amts wegen zu berücksichtigen sind, sei noch nicht hinreichend geklärt67. Man spricht von Fehlern, die eine Verhandlung und Entscheidung zur Sache in der Revisionsinstanz unzulässig oder unmöglich machen68, verweist auf ein öf62 Obwohl § 563 Abs. 3 ZPO die Aufhebung des Urteils voraussetzt, wird § 561 ZPO – wie bereits erwähnt – teilweise als selbständiger Anwendungsfall des § 563 Abs. 3 ZPO verstanden, so Wenzel, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 561 Rn. 1; Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 5, Teilband 1, 21. Aufl. 1994, § 563 Rn. 3; s. auch bereits Bettermann, ZZP 88 (1975), 365, 372 f., 376 ff. 63 Hierzu sogleich unter c.cc. 64 Vgl. Gummer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 557 Rn. 7, 10, 15; Reichold, in: Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 27. Aufl. 2005, § 557 Rn. 1, 8 f.; Walchshöfer, in: Lüke/ Walchshöfer (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 2, 1992, § 559 Rn. 12, 18, 27; in der Sache auch Wenzel, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 557 Rn. 22, 28, 37; Grunsky betont, dass keine Verpflichtung des Revisionsgerichts zu dieser Prüfungsfolge besteht, s. Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 5, Teilband 1, 21. Aufl. 1994, § 559 Rn. 6. 65 V.5.a.; eingehend zur Begründetheitsprüfung bei der Revision May, Die Revision, 2. Aufl. 1997, VI. Rn. 1 ff., 309 ff. 66 So Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 5, Teilband 1, 21. Aufl. 1994, § 559 Rn. 13. 67 Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 5, Teilband 1, 21. Aufl. 1994, § 559 Rn. 13. 68 Reichold, in: Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 27. Aufl. 2005, § 557 Rn. 3; ähnlich Gummer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 557 Rn. 7: »Absolute Verfahrensmängel sind solche, von denen das Verf der Revisionsinstanz in seiner Gültigkeit und Rechtswirksamkeit abhängt«.
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fentliches Interesse69 oder behilft sich allein mit Beispielen70 und einer groben Fallgruppenbildung71. Eine dieser anerkannten Fallgruppen lässt sich treffend mit »Inhaltliche Mängel des Berufungsurteils« überschreiben72. Bei näherer Beschäftigung mit dieser Fallgruppe ergibt sich, dass es um grundlegende Tatbestandsmängel und Widersprüche zwischen Tatbestand und Entscheidungsgründen geht. Diese Urteilsmängel führen dazu, dass das Berufungsurteil in tatsächlicher Hinsicht keine taugliche Grundlage für die Revisionsprüfung bildet. Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen betreffen demgegenüber die rechtliche Würdigung und beeinträchtigen die Revisionsprüfung daher, anders als Tatbestandsmängel, grundsätzlich nicht. Ein absoluter, von Amts wegen zu berücksichtigender Verfahrensmangel liegt bei der Verwendung von Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen daher regelmäßig nicht vor.73 c. § 547 Nr. 6 ZPO Nach § 547 Nr. 6 ZPO ist eine Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen, wenn die Entscheidung entgegen den Bestimmungen dieses Gesetzes nicht mit Gründen versehen ist. aa. Das Reichsgericht hat grundlegende Begründungsmängel von Anfang an als Problem der fehlenden Gründe im Sinne des § 547 Nr. 6 ZPO und seiner Vorläuferbestimmungen behandelt. Schrifttum und Bundesgerichtshof sind dieser Weichenstellung gefolgt74. Das gilt auch für leerformelhafte Begründungen. Die Rechtsprechung und das ihr folgende Schrifttum gehen seit den Zeiten des Reichsgerichts davon aus, dass nichtssagende Floskeln, inhaltsleere Redensarten und bloße Leerformeln den fehlenden Urteilsgründen gleichstehen75. Freilich stellt sich seit jeher das Problem,
69 So Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 5, Teilband 1, 21. Aufl. 1994, § 559 Rn. 13. 70 So etwa Albers, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 557 Rn. 10; vgl. insoweit noch Gummer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 557 Rn. 8. 71 Ball, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 557 Rn. 14 ff; Wenzel, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 557 Rn. 22 ff.; s. ergänzend noch Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 5, Teilband 1, 21. Aufl. 1994, § 559 Rn. 14 ff.; Reichold, in: Thomas/ Putzo, Zivilprozessordnung, 27. Aufl. 2005, § 557 Rn. 4 ff. 72 So Wenzel, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 557 Rn. 27. 73 Anders ist das freilich, wenn nicht die materiellrechtlichen Entscheidungsnormen, sondern die für die Sachverhaltsbildung geltenden Prozessrechtsnormen verdeckt fortgebildet worden sind. 74 Eingehend hierzu § 13 IV.2.a. 75 BGHZ 39, 333, 337; RGZ 8, 260, 262; RG, JW 1898, 221 (r. Sp.); RGZ 169, 65, 75; 170, 328, 332; Ball, in: Musielak (Hrsg.), Kommentar zur Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 547 Rn. 16; Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 5, Teilband 1, 21. Aufl. 1994, § 551 Rn. 30; s. auch OLG Köln, ZIP 2001, 1018, 1020.
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VI. Die Revision
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derartige Begründungen von bloß unvollständigen oder schlicht falschen Entscheidungsgründen abzugrenzen, welche nicht unter § 547 Nr. 6 ZPO fallen76. Der Bundesgerichtshof stellt in seiner Grundsatzentscheidung zum Thema auf die Erkennbarkeit der für die Entscheidung maßgebenden Gründe ab. Eine Entscheidung sei nicht mit Rechtsgründen versehen, wenn aus ihr nicht zu erkennen ist, welche tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Erwägungen für die Entscheidung maßgebend waren77. Abgrenzungskriterium ist hiernach also die Rechtspflicht, die Erwägungen zusammenzufassen, auf denen die Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht (vgl. heute § 313 Abs. 3 ZPO). Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen lassen die Erwägungen, auf denen die Entscheidung in rechtlicher Hinsicht beruht, nicht erkennen. Besteht die gebotene Begründung einer Entscheidung oder eines Entscheidungsteils nur aus derartigen Topoi, so ist die Entscheidung nach der gängigen zivilprozessualen Betrachtungsweise nicht mit Gründen versehen und verletzt § 547 Nr. 6 ZPO. Auf die Frage, ob die Entscheidung auf dieser Rechtsverletzung beruht, kommt es nach den Eingangsworten des § 547 ZPO dann nicht mehr an78. bb. Das verwendete, dem § 313 Abs. 3 ZPO entsprechende Abgrenzungskriterium legt freilich die Frage nahe, ob es geboten ist, die Problematik leerformelhafter und floskelartiger Begründungen statt im Rahmen des § 547 Nr. 6 ZPO allein als Verletzung der zivilprozessualen Begründungsvorschriften zu behandeln. Sie ist m. E. zu bejahen. Ausschlaggebend für den absoluten Revisionsgrund war ausweislich der Motive, dass das Fehlen der Gründe das Urteil jeder Kontrolle entziehe79. Die Ausdehnung des Anwendungsbereichs des § 547 Nr. 6 ZPO auf unverständliche und leerformelhafte Begründungen und Begründungsteile hat dazu geführt, dass diese Grundannahme hinsichtlich der Revisionskontrolle nicht mehr zwingend zutrifft, etwa wenn die rechtliche Begründung fehlt oder – wie bei Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen – floskelhaft ist, die mitgeteilten Sachverhaltsangaben aber eine eigene Rechtsentscheidung des Revisionsgerichts zulassen. Vor diesem Hintergrund erscheint es angezeigt, Begründungsmängel als Problem der die Begründungsvorgaben regelnden Verfahrensvorschriften zu er-
76 BGHZ 39, 333, 338 mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des Reichsgerichts; Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 5, Teilband 1, 21. Aufl. 1994, § 551 Rn. 27 f.; Wenzel, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 547 Rn. 19; Albers, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 547 Rn. 14; Ball, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 547 Rn. 14; Gummer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 547 Rn. 8. 77 BGHZ 39, 333, 337; hierzu m.w.N. § 13 IV.2.a.bb. 78 Die Relativierung des nach § 547 Nr. 6 ZPO absoluten Revisionsgrundes durch eine Kausalitätsprüfung betrifft nur in den Gründen übergangene selbständige Angriffs- und Verteidigungsmittel, s. hierzu § 13 IV.2.a.bb. 79 Begründung des Entwurfs einer Civilprozeßordnung und des Einführungsgesetzes, S. 323, in: Hahn, Materialien zur CPO, 1880, S. 370: »Der Mangel von Entscheidungsgründen (Nr. 7) entzieht das Urtheil jeder Kontrole«.
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örtern80 und die Auslegung des § 547 Nr. 6 ZPO (wieder) an der gesetzgeberischen Interessenbewertung auszurichten81. cc. Fraglich ist zudem, wie das Revisionsgericht wegen der nach der gängigen zivilprozessualen Sicht vorliegenden Verletzung des § 547 Nr. 6 ZPO zu entscheiden hat. Im Schrifttum herrscht deutlich die Auffassung vor, dass § 561 ZPO bei absoluten Revisionsgründen nicht gilt82. Der Bundesgerichtshof hat die Frage, ob § 561 ZPO in den Fällen des § 547 ZPO anwendbar ist, zunächst ausdrücklich offen gelassen83. Später hat er sie in einigen Entscheidungen, die in der Literatur regelmäßig nicht registriert wurden, eher beiläufig verneint84. Gleiches muss hiernach für § 563 Abs. 3 ZPO gelten. Die absoluten Revisionsgründe werden nach einer Formulierung des Bundesgerichtshofs als absolute Aufhebungsgründe85 verstanden, welche die Zurückweisung der Sache in jedem Fall erforderlich machen86.
80 Mit § 313 Abs. 3 ZPO steht seit der Vereinfachungsnovelle 1976 ein handhabbarer inhaltlicher Maßstab für Entscheidungsbegründungen bereit. 81 Es ist bereits ausgeführt worden (§ 13 IV.3.a.cc.), dass die revisionsrechtliche Sehweise der Prozessrechtspraxis und –wissenschaft zu perspektivischen Verzerrungen bei der Darstellung der Begründungsgebote führt: Die Art und Weise, wie Entscheidungsgründe zu gestalten sind, sollte nach § 313 Abs. 3 ZPO und im Hinblick auf die Funktionen einer rechtlichen Begründung bestimmt werden. Ob eine Entscheidung so mangelhaft begründet ist, dass sie einer nicht mit Gründen versehenen nach § 547 Nr. 6 ZPO gleichgestellt werden muss, ist eine andere, nach der ratio des § 547 Nr. 6 ZPO zu beantwortende Frage. 82 Albers, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 561 Rn. 4; Ball, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 561 Rn. 5, § 547 Rn. 2; Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 5, Teilband 1, 21. Aufl. 1994, § 563 Rn. 6, § 551 Rn. 1; Gummer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 25. Aufl. 2005, § 561 Rn. 1; Prütting, in: Wieczorek/Schütze, Zivilprozessordnung und Nebengesetze, Dritter Band, 1. Teilband, 3. Aufl. 2005, § 561 Rn. 8; Reichold, in: Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 27. Aufl. 2005, § 547 Rn. 1; Wenzel, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 561 Rn. 6, § 547 Rn. 23; nach den einzelnen Revisionsgründen differenzierend Bettermann, ZZP 88 (1975), 365, 378 ff. – Freilich wird diese Regel teilweise im Hinblick auf § 547 Nr. 6 ZPO für unvollständige Entscheidungsgründe eingeschränkt, s. Ball, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 547 Rn. 2; Wenzel, in: Lüke/Wax (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Aktualisierungsband, 2. Aufl. 2002, § 561 Rn. 6, § 547 Rn. 23; Albers, in: Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 64. Aufl. 2006, § 547 Rn. 15; im Ergebnis bereits Bettermann, ZZP 88 (1975), 365, 380 f.; a. A. im Ausgangspunkt Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 5, Teilband 1, 21. Aufl. 1994, § 563 Rn. 6; s. aber auch a.a.O., § 551 Rn. 38. Diese Modifikation ist jedoch nur eine selbständige Ausprägung der bereits dargestellten Auffassung, welche die Revision dann als unbegründet ansieht, wenn ein in den Gründen übergangenes Angriffs- oder Verteidigungsmittel zur Begründung oder Abwehr der Klage ungeeignet ist; diese ausnahmsweise vorzunehmende Kausalitätsprüfung ist ein Ausgleich dafür, dass § 547 Nr. 6 ZPO auf selbständige Angriffs- und Verteidigungsmittel erstreckt wurde; hierzu § 12 IV.2.a.bb. 83 BGH, NJW 1981, 1045, 1046 (für § 551 Nr. 7 ZPO a. F. = § 547 Nr. 6 ZPO). 84 BGH, NJW 1984, 494; NJW 1992, 2636, 2637; NJW 2002, 2109, 2110; NJW 2003, 585. 85 So BGH, NJW 1984, 494; NJW 1992, 2636, 2637. 86 BGH, NJW 1984, 494, 495; NJW 1992, 2636; 2637; NJW 2002, 2109, 2110; NJW 2003, 585.
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VI. Die Revision
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dd. Auf der Grundlage der obergerichtlichen Rechtsprechung und der herrschenden Lehre sind begründungsbedürftige Entscheidungen, deren »Begründungen« sich in Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen erschöpfen, nicht mit Gründen versehen und verstoßen daher gegen § 547 Nr. 6 ZPO. Das angefochtene Berufungsurteil ist hiernach gemäß § 562 Abs. 1 ZPO aufzuheben und die Sache gemäß § 563 Abs. 1 S. 1 ZPO zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Freilich bestehen nach der hier entwickelten Ansicht grundsätzliche Bedenken, rechtliche Leerformeln unter § 547 Nr. 6 ZPO zu subsumieren87. d. Verletzung der verfahrensrechtlichen Begründungsvorschrift Verwendet das Berufungsgericht selbst Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen oder macht es sich derartige Topoi des erstinstanzlichen Gerichts durch eine Bezugnahme zu Eigen, so verletzt es verfahrensrechtliche Begründungsvorschriften. aa. Ob das Berufungsgericht gegen § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 ZPO oder gegen § 313 Abs. 3 ZPO oder gegen § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 i. V. m. § 313 Abs. 3 ZPO verstößt, hängt davon ab, wie man das Verhältnis der beiden Vorschriften bestimmt88. Manche scheinen § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO als eigenständige, von § 313 ZPO unabhängige Begründungsvorschrift zu begreifen. Andere sehen § 313 ZPO als die Grundnorm für die Urteilsabfassung, welche durch § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO nur in einzelnen Punkten modifiziert wird. Diese rein konstruktive Streitfrage muss an dieser Stelle nicht beantwortet werden89. Für die Revisionsprüfung ist entscheidend und ausreichend, dass ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen verwendet werden. bb. Nach den bereits bei der Berufung dargestellten Grundsätzen beruht das Urteil auf diesem Begründungsfehler, weil das Gericht möglicherweise anders entschieden hätte, wenn es der Frage nach der Zulässigkeit einer Rechtsfortbildung nicht durch den Einsatz verdeckender Topoi ausgewichen wäre90. cc. Wie das Revisionsgericht wegen eines einfachen Verfahrensfehlers letztlich entscheidet, hängt davon ab, ob es das Ergebnis des Berufungsurteils für richtig hält (vgl. § 561 ZPO). Das Revisionsgericht hebt das angefochtene Urteil auf, wenn die vom Berufungsgericht vorgenommene oder übernommene Fortbildung des Gesetzesrechts nach seiner Auffassung nicht begründbar ist, weil die Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Rechtsfortbildung nicht vorliegen. Auch hier kann der Einsatz verdeckender Topoi die Unzulässigkeit einer Rechtsfortbildung indizieren.
87 Vorstehend bb.; zum dogmen- bzw. entstehungsgeschichtlichen Hintergrund dieser aus einer Zeit weit vor Inkrafttreten des § 313 Abs. 3 ZPO stammenden Auffassung § 13 IV.2.a. 88 Zu verschiedenen Auffassungen im Schrifttum § 13 IV.3.b.bb. 89 Hierzu eingehend § 13 IV.3.c.bb. 90 V.5.b.bb.
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§ 14 Rechtliche Konsequenzen verdeckter Rechtsfortbildungen
Sollte das Revisionsgericht dennoch der Ansicht sein, dass die Zulässigkeitsvoraussetzungen für die vom Berufungsgericht verdeckte Rechtsfortbildung gegeben sind, so stellt die Entscheidung des Berufungsgerichts »aus anderen Gründen sich als richtig dar«, und die Revision ist nach § 561 ZPO (als unbegründet) zurückzuweisen. In seiner Entscheidungsbegründung muss das Revisionsgericht dann erläutern, weshalb die Fortbildung des Gesetzesrechts, die von der Vorinstanz verdeckt wurde, dennoch im Ergebnis richtig ist. dd. Ungeklärt ist, ob das Revisionsgericht, wenn es das angefochtene Urteil wegen Begründungsmängeln aufhebt, gemäß § 563 Abs. 3 ZPO in der Sache selbst zu entscheiden hat. Die Frage ist ohne praktische Bedeutung, solange mit der gängigen Betrachtungsweise grundlegende Begründungsmängel als Problem des § 547 Nr. 6 ZPO behandelt und die absoluten Revisionsgründe als absolute Aufhebungsgründe verstanden werden, bei denen in jedem Fall an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist. Unterstellt man auf der Grundlage der hier vertretenen, auf die zivilprozessualen Begründungsvorgaben abstellenden Betrachtungsweise einmal einen nicht unter § 547 Nr. 6 ZPO fallenden Begründungsmangel, so erscheint es geboten, das Revisionsgericht bei solch einem Verfahrensfehler in direkter oder analoger Anwendung des § 563 Abs. 3 ZPO in der Sache selbst entscheiden zu lassen, sofern Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen nur die rechtliche Seite der Entscheidung betreffen und die Sache nach dem festgestellten Sachverhältnis zur Endentscheidung reif ist. e. Verletzung der verdeckt fortgebildeten Gesetzesvorschrift aa. Verdeckte Rechtsfortbildungen verletzen die fortgebildete gesetzliche Vorschrift, deren Inhalt durch »Auslegung« unzutreffend ermittelt wird91. bb. Bei der Frage des Beruhens unterscheidet man zwischen Verfahrensvorschriften und Normen des materiellen Rechts92. (1) Ist bei einer solchen »Rechtsverletzung wegen eines Interpretationsmangels« eine Verfahrensvorschrift betroffen, soll die Entscheidung auf deren Verletzung beruhen, wenn sie ohne die Rechtsverletzung möglicherweise anders ausgefallen wäre, was sich regelmäßig nicht ausschließen lässt. Dann kommt es für den Erfolg der Revision darauf an, ob das Berufungsurteil nach Ansicht des Revisionsgerichts im Ergebnis falsch ist, was wegen der verdeckten Rechtsfortbildung vermutet werden kann. (2) Bei einer Verletzung materiellen Rechts soll die Entscheidung nur dann auf dem Rechtsfehler beruhen bzw. für das Ergebnis kausal sein, wenn die richtige Anwendung des Rechts zu einem für den Revisionsführer günstigeren Ergebnis führt. Die Revision hat wegen der Verletzung der fortgebildeten Gesetzesvorschrift also Erfolg, wenn das Revisionsgericht die vom Berufungsgericht vorgenommene oder übernommene Fortbildung des Gesetzesrechts für nicht be91 92
Die Ausführungen unter V.5.c. gelten entsprechend. V.5.a.
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VII. Zwischenbilanz zu den zivilprozessualen Rechtsmitteln
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gründbar hält, wobei auch hier der Einsatz verdeckender Topoi die Unzulässigkeit einer Rechtsfortbildung indizieren kann. Sollte das Revisionsgericht das Ergebnis des Berufungsurteils trotzdem für richtig halten, muss es die Revision nach § 561 ZPO zurückweisen und hierbei begründen, weshalb die von der Vorinstanz verdeckte Fortbildung des Gesetzesrechts zulässig ist. cc. Ob das Revisionsgericht im Fall der Aufhebung des Berufungsurteils in der Sache selbst zu entscheiden hat, hängt davon ab, ob die Aufhebung des Urteils nur wegen Rechtsverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf das festgestellte Sachverhältnis erfolgt und nach letzterem die Sache zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 3 ZPO). Dass die Aufhebung bei verdeckten Rechtsfortbildungen auch wegen des in der Verletzung der §§ 313 Abs. 3, 540 Abs. 1 S. 1 ZPO liegenden Verfahrensmangels erfolgt, steht nach der hier vertretenen Ansicht nicht entgegen93. Die Frage ist freilich rein theoretischer Natur, solange man mit der abweichenden gängigen Betrachtungsweise grundlegende Begründungsmängel als Problem des § 547 Nr. 6 ZPO behandelt und die absoluten Revisionsgründe als absolute Aufhebungsgründe versteht, bei denen immer an das Berufungsgericht zurückverwiesen wird.
VII. Zwischenbilanz zu den zivilprozessualen Rechtsmitteln Zusammenfassend ergibt sich: Auf der Grundlage der obergerichtlichen Rechtsprechung und der herrschenden Lehre sind begründungsbedürftige Entscheidungen der Berufungsgerichte, deren »Begründungen« sich in Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen erschöpfen, nicht mit Gründen versehen und verstoßen daher gegen § 547 Nr. 6 ZPO. Das angefochtene Berufungsurteil ist hiernach gemäß § 562 Abs. 1 ZPO aufzuheben und die Sache gemäß § 563 Abs. 1 S. 1 ZPO zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Freilich bestehen nach der hier entwickelten Ansicht grundsätzliche Bedenken, rechtliche Leerformeln stets unter § 547 Nr. 6 ZPO zu fassen. Begründungsmängel sind zunächst und vor allem ein Problem derjenigen Verfahrensvorschriften, welche die Begründungsvorgaben regeln. Bei Verstößen gegen die §§ 313 Abs. 3, 540 ZPO hat das Revisionsgericht nach der hier entwickelten Ansicht grundsätzlich selbst in der Sache zu entscheiden.94 Auch ohne eine verkürzte revisionsrechtliche Perspektive95 eröffnet das zivilprozessuale Rechtsmittelrecht wirksame und abgestufte Möglichkeiten, verdeckten Fortbildungen des Gesetzesrechts und den sie verschleiernden Topoi zu begegnen.96 Dieser einfachrechtliche Schutz des Gesetzes wird durch die bei unanfechtbaren Entscheidungen denkbaren verfassungsrechtlichen Konsequenzen des Einsatzes verdeckter Rechtsfortbildungen abgerundet. 93
Vgl. vorstehend d.dd. Ausnahme: Die für die Sachverhaltsbildung geltenden Prozessrechtsnormen sind verdeckt fortgebildet worden, s. VI.4.c. 95 S. nochmals § 13 IV.2.a. 96 Zu den Sanktionen durch die Berufungsgerichte im Einzelnen V.5.b. und c. 94
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§ 14 Rechtliche Konsequenzen verdeckter Rechtsfortbildungen
VIII. Verfassungsrechtliche Folgen 1. Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Willkürverbots Verdeckte Rechtsfortbildungen verletzen den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht generell, sondern nur in einigen Fallgruppen im Zusammenhang mit der Bildung des Sachverhalts97. In diesen speziellen Fällen kann gegen verdeckte Rechtsfortbildungen mit § 321 a ZPO und u. U. auch mit einer Verfassungsbeschwerde vorgegangen werden98. Diese lässt sich außerdem auf das Willkürverbot stützen, weil nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in den genannten Fallgruppen auch ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vorliegen kann99. Soweit es um Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen bei der Bildung des Sachverhalts geht, sind das Willkürverbot und das Recht auf Gehör als verfassungrechtlicher Kontrollmaßstab weitgehend austauschbar.
2. Verletzung von Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG Häufiger kommt bei begründungsbedürftigen verfahrensabschließenden Entscheidungen, die Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen enthalten oder bestätigen, eine Verfassungsbeschwerde wegen der Verletzung von Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG in Betracht. Freilich setzt diese einen qualifizierten Verstoß des Fachgerichts gegen die Gesetzesbindung voraus, weil das Bundesverfassungsgericht sonst zur umfassenden Kontrolle der Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts verpflichtet wäre100. Bei Rechtsfortbildungen beschränkt sich die verfassungsrechtliche Kontrolle fachgerichtlicher Entscheidungen unter dem Gesichtspunkt der Gesetzesbindung gemäß Art. 20 Abs. 3 GG nach dem Bundesverfassungsgericht darauf, ob das Fachgericht bei der Rechtsfortbildung die gesetzgeberische Grundentscheidung respektiert hat und den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung gefolgt ist101. Aus der Gesetzesbindung, die bei allen Rechtsprechungstätigkeiten und deshalb auch für Begründungen der Gerichte gilt, folgt bei begründungsbedürftigen Entscheidungen die Pflicht, gesetzgeberische Interessenbewertungen darzulegen, sofern diese nicht offensichtlich sind102. Das Bundesverfassungsgericht bejaht eine verfassungsrechtlich relevante Verletzung des Art. 20 Abs. 3 GG, wenn die vom Fachgericht zur Begründung seiner Entscheidung angestellten Erwägungen erkennen lassen, dass es objektiv nicht bereit war, sich Recht und Gesetz zu unterwerfen. Dabei prüft das Bundesverfassungsgericht insbesondere, ob sich das Fachgericht erkennbar um eine zutreffende Auslegung des Gesetzes bemüht hat. Nach 97
Hierzu § 12 V.2.c.dd.(2). § 12 V.2.; zum Verhältnis von Anhörungsrüge und Verfassungsbeschwerde BVerfG, NJW 2002, 3388; NJW 2005, 3059; s. auch BVerfGE 107, 395 = NJW 2003, 1924, 1927 f. 99 § 12 V.2.d. 100 § 12 V.3.c. 101 BVerfGE 87, 273, 280; 96, 56, 62 f.; 96, 375, 394; in der Sache auch BVerfGE 65, 182, 191; 82, 6, 12. 102 Hierzu und zum Folgenden bereits § 13 III. 98
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IX. Resümee zu den Rechtsfolgen verdeckter Rechtsfortbildungen
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den geschilderten Maßstäben stellt die eine Entscheidung tragende Fortbildung des Gesetzesrechts mittels verdeckender Topoi einen Verstoß gegen die Gesetzesbindung der Gerichte dar. Dieser verletzt Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG und kann von dem durch die verfahrensabschließende Gerichtsentscheidung Beeinträchtigten im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden.
IX. Resümee zu den Rechtsfolgen verdeckter Rechtsfortbildungen Verdeckte Rechtsfortbildungen verstoßen gegen die Begründungsvorschriften der §§ 313 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 3, 540 Abs. 1 S. 1 ZPO. Entscheidungsgründe müssen die rechtlichen Erwägungen erkennen lassen, auf denen das Urteil beruht. Wird eine Entscheidung nur von leerformelartigen Floskeln »getragen«, ist sie nicht prozessordnungsgemäß begründet. Zudem verletzt eine verdeckte Rechtsfortbildung diejenige gesetzliche Vorschrift, welche im Gewand der Auslegung umgedeutet wird. Das einfache Recht stellt mit dem zivilprozessualen Rechtsmittelrecht ein differenziertes und effektives Instrumentarium bereit, um gegen verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts und die sie verschleiernden Topoi vorzugehen. Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung und der herrschenden Lehre sind begründungsbedürftige Entscheidungen der Berufungsgerichte, deren »Begründungen« sich in Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen erschöpfen, sogar nicht mit Gründen versehen und verstoßen daher gegen § 547 Nr. 6 ZPO. Das angefochtene Berufungsurteil ist hiernach gemäß § 562 Abs. 1 ZPO aufzuheben und die Sache gemäß § 563 Abs. 1 S. 1 ZPO zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Demgegenüber hat nach der hier entwickelten Auffassung nicht nur das Berufungsgericht, sondern auch das Revisionsgericht bei verdeckten Rechtsfortbildungen der Vorinstanz grundsätzlich selbst in der Sache zu entscheiden. Anders ist das allein dann, wenn das Instanzurteil in tatsächlicher Hinsicht keine taugliche Grundlage für die Revisionsprüfung bietet, etwa weil die für die Sachverhaltsbildung im Zivilverfahren geltenden Prozessnormen verdeckt fortgebildet worden sind. Das Instrumentarium des zivilprozessualen Rechtsmittelrechts wird bei begründungspflichtigen verfahrensabschließenden Entscheidungen durch § 321 a ZPO und die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde insbesondere wegen einer Verletzung von Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG ergänzt. Verdeckte Rechtsfortbildungen müssen und sollten daher nicht ausschließlich als ethisches Problem diskutiert werden. Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen verstoßen gegen normative Vorgaben und betreffen konkrete Rechtsfragen.
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4. Teil
Einzelne Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen In einem Überblick ist darzustellen, mit welchen Instrumenten gesetzgeberische Interessenbewertungen in den unterschiedlichen Fallgruppen überspielt werden und wann Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen die tragenden rechtlichen Erwägungen nicht erkennen lassen. Es geht um ein grobes Topoiverzeichnis, in dem Argumente, mit denen das Gesetzesrecht verdeckt fortgebildet wird, geordnet gelistet sind. Zwar heißt es im rechtswissenschaftlichen Schrifttum, »uns« würden Topoikataloge, ebenso wie gewisse Methodenkataloge, heute »eher skurril« erscheinen1. Die erheblichen Bedenken gegen den Sinn von positiven inhaltlichen Topoikatalogen2 gelten aber nicht für negative Topoiverzeichnisse, in denen Begründungsmuster aufgewiesen werden, die entweder stets oder wegen der konkreten Art ihrer Verwendung abzulehnen sind3.
1 So Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1972, S. 172; vgl. § 2 V.4. 2 Ausführlich zum Wert von Topoikatalogen § 2 V. 3 Hierzu eingehend § 2 V.5.
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§ 15 Arten juristischer Argumente Um einen strukturierten Katalog von Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen aufzustellen, muss zunächst zwischen einzelnen Arten juristischer Argumente unterschieden werden. Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen bilden das Gesetzesrecht im Gewand seiner scheinbaren Auslegung und Anwendung fort. Dabei bedienen sich die Fortbilder des Rechts bestimmter juristischer Auslegungs- und Anwendungsbegründungen. Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen knüpfen an diese überkommenen juristischen Begründungsfiguren an. Die Instrumente der deutenden Gesetzesanwendung sind daher die hier interessierenden juristischen Argumente4.
I. Gebräuchliche Differenzierungen Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Typen rechtlicher Argumente hat in der Jurisprudenz eine lange Tradition.
1. Positive Verzeichnisse a. Frühe Formen Es ist bereits ausgeführt worden, dass die Topik mit ihren eher ungeordneten Verzeichnissen von Suchformeln und Argumenten im 16. Jahrhundert die methodische Grundlage der Jurisprudenz gebildet haben soll5, und dass detaillierte Topoikataloge bis ins 19. Jahrhundert gebräuchlich waren6. Auch in der jüngeren Neuzeit ist immer wieder versucht worden, juristische Argumente zu strukturieren und nach Arten zu unterscheiden. b. Der Auslegungskanon Als klassisches Beispiel ist außer dem zivilrechtlichen Anspruchssystem mit seinen verschiedenen Anspruchsschemata vor allem der Kanon der Auslegungselemente7 4 Zu den Argumenten des auslegenden Gesetzesvollzugs kann auch die analoge Anwendung von Gesetzesvorschriften gerechnet werden. Vervollständigt wird der »bunte Strauss« juristischer Argumente noch durch vergleichsweise neue spezielle Figuren der offenen Gesetzesrechtsfortbildung (contra legem), die im Rahmen einer Untersuchung über Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen vernachlässigt werden können. Viele Rechtsfortbildungen erfolgen aber intra legem im Wege der erläuternden Begriffsanwendung, s. hierzu § 7 V.6.f. 5 § 2 I.2.a. 6 § 2 IV. 7 § 2 V.4.c. am Ende.
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I. Gebräuchliche Differenzierungen
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zu nennen, der freilich im Laufe der Zeit sehr unterschiedlich aufgebaut und ausgestaltet worden ist8. aa. Nach dem schon bei Christian Thomasius zu findenden9 Grammatik-LogikSchema der alten Hermeneutik, das die Interpretationslehre des 19. und frühen 20. Jahrhunderts beherrschte, war die Auslegung zweigeteilt in grammatische und logische. »Logische Auslegung« stand dabei für jede Auslegung mit Hilfsmitteln, die über die bloße Deutung der Worte hinausgingen. Honsell spricht von einem Sammeltopos für alle möglichen verwertbaren Argumente, Ogorek von einem bunten Argumentereservoir. Zur Erforschung des Gesetzessinns mittels logischer Auslegung dienten unter anderem die Regelungsabsichten und Beweggründe des Gesetzgebers, »objektive« Gesetzeszwecke und die Gebote der jeweiligen Anwendungssituation sowie folgenorientierte und naturrechtliche Interpretationsansätze10. bb. Savigny zerlegte die Auslegung der Gesetze in vier Bestandteile und unterschied ein grammatisches, ein logisches, ein historisches und ein systematisches Element der Auslegung11. Savignys Trennung zwischen vier Elementen der Auslegung setzte sich – ebenso wie seine Differenzierung zwischen der Auslegung und der Fortbildung des Rechts12 – im 19. Jahrhundert nicht durch. Man hielt am Grammatik-Logik-Schema fest. cc. Die Pandektenwissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts schenkte der Anwendung des Rechts, die vornehmlich als Frage der Auslegung der Rechtsnormen behandelten wurde, keine besondere Aufmerksamkeit. Das »seiner Zeit gebrauchteste Pandektenlehrbuch«13 von Arndts erörtert die Auslegung des Inhalts der einzelnen Rechtsquellen in insgesamt zehn Sätzen14 und die Analogie als Mittel zum Füllen von Lücken in einem15. Andere schrieben (etwas) mehr16. Zu den 8 Hierzu auch Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 438 ff. 9 J. Schröder, Recht als Wissenschaft, 2001, S. 134 f. m.w.N., auch zur Gegenauffassung, die Justus Henning Böhmer als Begründer der Zweiteilung bezeichnet. 10 S. zur logischen Auslegung und zum Grammatik-Logik-Schema im 19. Jahrhundert Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 31 ff.; Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 1986, S. 108 ff., insb. S. 147 f.; vgl. auch Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, 1981, S. 24, 27 ff., 104; zeitgenössische Kritik mit Kategorienbildung bei v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 320 ff.; zum Grammatik-LogikSchema bei Thomasius und im 18. Jahrhundert J. Schröder, Recht als Wissenschaft, 2001, S. 141 ff. 11 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 213 ff. Schon in seinen Methodenvorlesungen hatte Savigny zwischen zunächst drei (1802/03) und dann vier (1809) Auslegungselementen unterschieden, hierzu Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 440 f. 12 Hierzu ausführlich § 3 V.1.b. 13 Enneccerus, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Allgemeiner Teil, 4. u. 5. Aufl. 1909, S. 47. 14 Arndts v. Arnesberg, Lehrbuch der Pandekten, 14. Aufl. 1889, S. 9 bis 11 (§§ 6, 7). Der Fußnotentext ist hierbei allerdings nicht mitgezählt. 15 Arndts v. Arnesberg, Lehrbuch der Pandekten, 14. Aufl. 1889, S. 16. 16 Brinz, Lehrbuch der Pandekten, Erster Band, 2. Aufl. 1873, S. 117 ff., insb. S. 123 bis 129; Dernburg, Pandekten, Erster Band, 1884, S. 73 bis 77, 84 bis 86; Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Erster Band, 7. Aufl. 1891, S. 50 bis 60.
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§ 15 Arten juristischer Argumente
uns heute problematisch erscheinenden praktischen Fragen der Entscheidungsfindung (Sachverhaltsfeststellung, Rechtsfortbildung, Konkretisierung usw.) findet sich auch bei ihnen kaum etwas. Windscheid hielt die Auslegung nur für eingeschränkt lehrbar und bezeichnete sie als eine Kunst, die gelernt werden müsse17, sah die Auslegung also primär als ein Thema der Praxis18. Noch deutlicher wurde Regelsberger: »Es giebt wenige Kapitel in der Rechtslehre, wo die Theorie so weit hinter der Praxis, das Wissen hinter dem Können zurückbleibt als in der Auslegung«19. Feststellbar ist also eine gewisse Methodenabstinenz20. Man praktizierte aber grundsätzlich weiterhin die alte Unterteilung in grammatische und logische Interpretation21, welche man mit Unterregeln anreicherte22. dd. Savignys vier Elemente der Auslegung traten erst nach der Savigny-Rezeption durch Forsthoff23, Larenz24 und andere um die Mitte des 20. Jahrhunderts ihren späten Siegeszug in der deutschen Rechtspraxis und Rechtsdogmatik an25, freilich in veränderter Gestalt. Sie wurden von der Gesamtkonzeption Savignys losgelöst26 und verfremdet. An die Stelle der Logik setzte man eine »objektive« Teleologie27. Die Auslegungselemente Savignys, die dem gemeinsamen Ziel der »Reconstruction des dem Gesetze inwohnenden Gedankens« dienten28, werden verbreitet als eigenständige Auslegungsmethoden verstanden29 und als solche je nach Bedarf verwendet oder auch nicht30. Heute spricht man vom deutschen Viererkanon der grammatikalischen, historischen, systematischen und teleologischen Methode31. Von diesen Auslegungsmethoden würden die Gerichte trotz 17
Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Erster Band, 7. Aufl. 1891, S. 51. Vgl. insoweit auch Heck, AcP 112 (1914), 1, 3, wo die Rede ist von der alten Formel, dass die Rechtsanwendung eine »Kunst« und deshalb der wissenschaftlichen Untersuchung entzogen sei. 19 Regelsberger, Pandekten, Erster Band, 1893, S. 140. 20 Zu möglichen Gründen der »weitgehenden Demontage« der juristischen Hermeneutik um die Mitte des 19. Jahrhunderts Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 30 m.w.N. 21 Arndts v. Arnesberg, Lehrbuch der Pandekten, 14. Aufl. 1889, S. 10 f.; Dernburg, Pandekten, Erster Band, 1884, S. 75 ff.; Regelsberger, Pandekten, Erster Band, 1893, S. 145 ff.; Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Erster Band, 7. Aufl. 1891, S. 51 ff.; leicht kritisch Brinz, Lehrbuch der Pandekten, Erster Band, 2. Aufl. 1873, S. 119. 22 So Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 34. 23 Forsthoff, Recht und Sprache, 1940, insb. S. 21 f. Der Untertitel dieser Schrift lautete: Prolegomena zu einer richterlichen Hermeneutik. 24 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960, S. 1 ff.; 233 ff., insb. etwa S. 241. 25 Honsell, Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 33; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 441. 26 Rückert, in: Rückert (Hrsg.), Fälle und Fallen in der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny, 1997, S. 23, 47 ff., 66; Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 701. 27 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960, S. 237 ff., 250 ff. 28 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 213. 29 Zur wichtigen Unterscheidung von Auslegungsziel und Auslegungselementen Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 725 ff. 30 Hiergegen bereits v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 215: »Mit diesen vier Elementen ist die Einsicht in den Inhalt des Gesetzes vollendet. Es sind also nicht vier Arten der Auslegung, unter denen man nach Geschmack oder Belieben wählen könnte, sondern es sind verschiedene Thätigkeiten, die vereinigt wirken müssen, wenn die Auslegung gelingen soll.« 31 Beispielsweise Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 430 18
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I. Gebräuchliche Differenzierungen
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zwischenzeitlicher Differenzierungs- und Ergänzungsbestrebungen der Rechtswissenschaft in ständiger Rechtsprechung ausgehen32. c. Topikrenaissance Insbesondere infolge der Topikdiskussion der fünfziger und sechziger Jahre33 ist im rechtstheoretischen Schrifttum dann zunehmend zwischen bestimmten Grundformen juristischer Begründungen unterschieden worden34. Horak trennte im Rahmen seiner Analyse der »Entscheidungsbegründungen bei den älteren römischen Juristen bis Labeo«35 zwischen folgenden Begründungsarten: Autoritätsbegründungen, Konstruktionen und Ableitungen aus Rechtsbegriffen, Ermittlung des Sprachgebrauchs und des Willens, philosophische Argumente, Analogien und Beispiele sowie Begründungen aus Naturgegebenheiten36. Hattenhauer bezeichnete Sprache, Geschichte, Logik, Rechtspolitik und Verfassung als »die Quellen, aus denen die Argumente geschöpft werden«37. d. Argumentationstheorien In den letzten Jahrzehnten haben sich insbesondere Vertreter der Argumentationsund Begründungstheorien damit beschäftigt, einzelne Gruppen von Argumentformen38 und Begründungsarten zu unterscheiden. Rottleuthner hat verschiedene Argumentationstypen in vier grobe Kategorien eingeteilt, nämlich semantische, rechtspolitische, empirische und Maßnahmenargumentationen39. Alexy trennt zwischen Regeln der Auslegung, dogmatischer Argumentation, Präjudizienverwertung, allgemein-praktischer Argumentation, empirischer Argumentation und sog. speziellen Argumentformen, worunter er bestimmte Regeln der juristischen Logik versteht; schlagwortartig umschreibt er diese sechs Gruppen mit Gesetz, Dogmatik, Präjudiz, Vernunft, Empirie und spezielle juristische Argumentform40. Die einzelnen Argumentformen werden dann weiter untergliedert, etwa die Auslegungsregeln in semantische, genetische, historische, komparative, systematische und teleologische Argumente41. Andere Autoren unterscheiden beispielsweise zwischen Wortlautargumenten, genetischen Argumenten, historischen Argumenten, Interessenargumenten, Prinzipienargumenten, teleologischen Argumenten, Argumenten der Verfassungswidrigkeit einer Regel, Rechtssicherheitsargumenten, Gerechtigkeitsargumenten, Folgenargumenten, Argumenten der Gesetzessystematik, Prakti-
32 So Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 30 mit Rechtsprechungsnachweisen. 33 Hierzu § 2 I.2.b., II. 34 Vgl. auch § 2 V.1. und 3. 35 So lautet der Untertitel seiner Untersuchung. 36 Horak, Rationes decidendi, I. Band, 1969, S. 292 ff. 37 Hattenhauer, Die Kritik des Zivilurteils, 1970, S. 83. 38 Begriff von Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, S. 123. 39 Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, 1973, S. 190 ff. 40 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, S. 285. 41 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, S. 289 ff.
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§ 15 Arten juristischer Argumente
kabilitätsargumenten und paralogischen Argumenten42. Gast trennt unter anderem formale Argumente und Sachargumente, zu denen er Argumente aus dem Fall, der Erfahrung, dem Begriff, dem Interesse und der Funktion sowie teleologische und pragmatische Argumente zählt43. Im weiteren Verlauf seiner »Juristischen Rhetorik« behandelt er dann insbesondere den Vierer-Kanon der Auslegung, spezielle juristische Schlussformen und den Autoritätsbeweis, bevor er sich den ontologischen Fehlschlüssen zuwendet44. e. Zwischenbilanz Die Liste von vorgenommenen Unterscheidungen juristischer Argumente ließe sich um zahlreiche weitere Differenzierungen erweitern. Gemeinsam ist den vorgestellten Sammlungen, dass die in ihnen angeführten Begründungsfiguren grundsätzlich positiv bewertet werden.
2. Fehlerhafte Argumente Selbstverständlich sind einzelne juristische Argumente und Methodenkonzepte seit jeher auch kritisch beleuchtet worden. a. Beispiele So hat Savigny es abgelehnt, unrichtige Ausdrücke wegen des generellen Grundes eines Gesetzes45 oder des »innere(n) Werth(s) des Resultats«46 zu berichtigen und nachdrücklich vor den Gefahren der logischen Auslegung nach dem seinerzeit herrschenden Grammatik-Logik-Schema47 gewarnt, mit welcher sich der Ausleger über den Gesetzgeber stelle und »die Gränzen des eigenen Berufs« verkenne; »es ist nicht mehr Auslegung, die er übt, sondern wirkliche Fortbildung des Rechts«48. Auch haben sich, um ein weiteres Beispiel zu nennen, Freirechtslehren und Interessenjurisprudenz gegen die Inversionsmethode der sog. Begriffsjurisprudenz und deren Kryptosoziologie gewandt49.
42 Vgl. U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 116; Schroth, ARSP Beiheft 14 (1980), 119, 122 f. 43 Gast, Juristische Rhetorik, 3. Aufl. 1997, Rn. 95 ff.; teilweise andere Klassifizierung dann bei Gast, Juristische Rhetorik, 4. Aufl. 2006, Rn. 310 ff. 44 Gast, Juristische Rhetorik, 3. Aufl. 1997, Rn. 134 ff., 323 ff., 246 ff., 410 ff.; s. auch noch Gast, Juristische Rhetorik, 4. Aufl. 2006, Rn. 640 ff., 1040 ff., 1178 ff. 45 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 238. 46 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 240. 47 Hierzu § 3 V.1.b.aa. und vorstehend 1. 48 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 321 f.; eingehender zu Savignys Kritik § 3 V.1.b.aa. 49 Stellvertretend für viele Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 91 ff. m.w.N.
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I. Gebräuchliche Differenzierungen
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b. Breitenuntersuchungen Eine Gesamtschau fehlerhafter juristischer Argumente ist indessen nur selten versucht worden. Es waren, aus der Perspektive der dogmatischen Zivilrechtswissenschaft betrachtet, lange Zeit meist Außenseiter und Grenzgänger, die sich eingehend mit zweifelhaften juristischen Begründungen beschäftigt und bedenkliche Topoi zusammengestellt haben. Besondere Erwähnung verdienen die materialreichen Untersuchungen von Scheuerle über »Das Wesen des Wesens«50, »Die Logik der Logik«51, »Finale Subsumtionen«52, »Juristische Evidenzen«53 und über »Formalismusargumente«54. Selbst im umfangreichen Schrifttum zur Argumentationstheorie aus den siebziger Jahren finden sich Ausführungen zu konkreten Argumentationsmängeln nach Achterberg nur vereinzelt55. Struck hat vier Arten fehlerhafter juristischer Argumente unterschieden56: verkürzte Argumentationen; Formeln, die eine Begründung nur vortäuschen, indem sie nicht entscheidungserhebliche extreme Beispiele verwenden; paraphrasierende Nicht-Begründungen; Formeln, die die Art der Begründung offen lassen, etwa indem sie auf die Gesamtheit der Umstände des Einzelfalles, die Interessen oder allgemeine Regeln verweisen. In die Fallgruppe der »verkürzten Argumentation« ordnet Struck ein den Ersatz von Faktenforschung durch Alltagstheorien, dogmatische Redefiguren wie das Sprechen vom Wesen oder vom »Rechtsfolgewillen«, die Belege mit »herrschenden Meinungen«, den Einsatz von Metaphern wie »absolutes Recht« und den Rückgriff auf sog. Werte wie Rechtssicherheit57. Achterberg teilt Argumentationsmängel auf hohem Abstraktionsniveau in 22 Typen ein58. Gast beschäftigt sich im vierten Teil seiner juristischen Rhetorik mit sog. ontologischen Fehlschlüssen, zu denen er Argumente aus dem Naturrecht, der Natur der Sache, aus Werten und aus Begriffen zählt59. Ott hat, in der Tradition der 50 Scheuerle, AcP 163 (1963), 429 ff., der in der ersten Fußnote eine umfassendere juristische Argumentatorik fordert, die sich mit allen Argumenten zu befassen hätte, welche die derzeitige Praxis kennt. 51 Scheuerle, ZZP 78 (1965), 32 ff. 52 Scheuerle, AcP 167 (1967), 305 ff. 53 Scheuerle, ZZP 84 (1971), 241 ff. 54 Scheuerle, AcP 172 (1972), 396 ff. 55 Achterberg, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), 43, 44 und 56. 56 Struck, Zur Theorie juristischer Argumentation, 1977, S. 146 ff. 57 Struck, Zur Theorie juristischer Argumentation, 1977, S. 146 bis 149. 58 Achterberg, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), 43, 45 ff.: Argumentationsinkompetenz, Argumentationsübermaß, Argumentationsuntermaß, Argumentationswillkür, Argumentationsinadäquanz, Argumentationswiderspruch, Argumentationsinversion, Argumentationszirkel, Argumentationsirrweg, Argumentationsabstraktion, Argumentationsirrealität, Argumentationsverkürzung, Argumentationsduplizierung, Argumentationsinkohärenz, Argumentationsakkuranz, Argumentationsinhomogenität, Argumentationsinvarianz, Argumentationsinflexibilität, Argumentationsintransigenz, Argumentationsinsuffizienz, Argumentationssurrogat und Argumentationsinvalidität. 59 Gast, Juristische Rhetorik, 3. Aufl. 1997, Rn. 410 ff.; in der 4. Auflage findet sich ein inhaltlich teilweise abweichender, mit »Die ontologische Scheinbegründung« betitelter Abschnitt im fünften Teil über »Instrumente des rhetorischen Pathos«, s. Gast, Juristische Rhetorik, 4. Aufl. 2006, Rn. 1178 ff.
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§ 15 Arten juristischer Argumente
Eristischen Dialektik60 von Schopenhauer, in sechs Gruppen insgesamt »50 dialektische Argumentationsweisen und Kunstgriffe, um bei rechtlichen Auseinandersetzungen Recht zu behalten«61, zusammengestellt, von denen im hier interessierenden Zusammenhang fünf sog. eigentliche Scheinargumente Erwähnung verdienen: Es handelt sich um das Abstellen auf eine scheinbar passende Autorität, den Missbrauch und die Verabsolutierung von Auslegungselementen, das Unterstellen von Gesetzeszwecken, einseitige Zweckbetrachtungen sowie begriffsjuristische Erwägungen und ähnliche Konstruktionen62.
3. Verwendbarkeit der Unterscheidungen Es wird zutreffend darauf hingewiesen, dass die Angemessenheit der Klassifikation stets eine Funktion der Fragestellung ist63. Je nach Untersuchungszweck können daher unterschiedliche Differenzierungen angezeigt sein. Zwar enthalten fast alle angeführten Kataloge einzelne Begründungen oder auch weiterführende Differenzierungskriterien, die für ein Topoiverzeichnis verdeckter Rechtsfortbildungen von Bedeutung sind. Eine positive oder negative Argumentesammlung, die für die hier verfolgten Zwecke schlicht übernommen werden könnte, existiert indessen nicht. Gemessen an der vielfältigen Begründungspraxis sind die gebräuchlichen Differenzierungen zwischen verschiedenen Typen rechtlicher Argumente zum Teil zu knapp bzw. zu grob. Die ausführlichen Unterscheidungen tendieren demgegenüber infolge ihrer Unüberschaubarkeit, wie praktisch alle detaillierten Topoikataloge64, dazu, sich unstrukturierten Sammelsurien anzunähern. Das gilt insbesondere für die wenigen umfangreichen Auflistungen fehlerhafter Argumente. Hinzu kommt, dass nicht jedes fehlerhafte juristische Argument die jeweilige gesetzgeberische Interessenbewertung verdeckt fortbildet. Für die Zwecke dieser Untersuchung muss ein Katalog erstellt werden, der einerseits überschaubar und praktikabel ist und andererseits der mannigfaltigen juristischen Begründungspraxis gerecht werden kann. Es empfiehlt sich eine Orientierung an den verschiedenen Arten positiver juristischer Argumente. Verdeckte Rechtsfortbildungen erfolgen unter dem Deckmantel der scheinbaren Anwendung 60 Schopenhauer, Eristische Dialektik, in: Hübscher (Hrsg.), Arthur Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß, Dritter Band, 1970, S. 666 ff. – Unter Eristischer Dialektik verstand Schopenhauer die »Lehre vom Verfahren der dem Menschen natürlichen Rechthaberei«, s. a.a.O., S. 667. Es ging ihm um »Schleichwege und Kniffe, deren die gemeine Menschennatur sich bedient, um ihre Mängel zu verstecken«, s. a.a.O., S. 699. Insgesamt führte Schopenhauer 38 Kunstgriffe an, die in schriftlichen juristischen Begründungen freilich nur vereinzelt verwendet werden können. Zu nennen sind insoweit die Kunstgriffe 24, 30, 33: Konsequenzmacherei, Autoritäten statt Gründe, Leugnen der Folgen. 61 So lautet der Titel des Buches von Ott; »Kleine faule Tricks« und »Techniken der Schäbigkeit« schildert unter der Überschrift »Rhetorischer Giftschrank« auch Gast, Juristische Rhetorik, 3. Aufl. 1997, Rn. 395 ff.; s. jetzt Gast, Juristische Rhetorik, 4. Aufl. 2006, Rn. 1260 ff.: »V. Eristik: Aus einem Brevier der Rechthaberei«. 62 Ott, 50 dialektische Argumentationsweisen und Kunstgriffe, um bei rechtlichen Auseinandersetzungen Recht zu behalten, 1990, S. 73 ff.; ders., SJZ 1989, 293, 298 ff. 63 U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 116. 64 Hierzu § 2 V.
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II. Ein Begründungskatalog
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der ausgelegten Gesetze. Verfügt man über einen klaren (positiven) Topoikatalog, der die Orte angibt, an denen die juristischen Argumente für die Gesetzesauslegung gefunden werden können, ist es weitgehend problemlos möglich, die einzelnen Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen entsprechend zu ordnen und ein ausführliches negatives Topoiverzeichnis zu entwerfen.
II. Ein Begründungskatalog Nimmt man gängige juristische Begründungen bei der Gesetzesinterpretation in den Blick, so lassen sich autoritative, ontologische, begriffliche, dogmatische, logische, methodische und folgenorientierte Argumente unterscheiden.
1. Autoritätsargumente Autoritätsargumente haben in der Rechtswissenschaft und Rechtspraxis einen besonderen Stellenwert65. In Entscheidungsbegründungen treten sie in zwei Formen in Erscheinung, und zwar als Autorität des Gesetzes und als Autorität der gängigen Gesetzesinterpretation (»Präjudizien«, »herrschende Meinungen«). Die Autorität des Gesetzes ist in gerichtlichen Entscheidungen und wissenschaftlichen Entscheidungsvorschlägen das stärkste Sachargument. Der Grund liegt in der Gesetzesbindung des Richters. Je enger und ergiebiger die Gesetzesbindung, desto geringer ist der Begründungsbedarf66. Wird die vertretene gesetzliche Folge in Abrede gestellt, entfällt indes die Autorität des Gesetzes, die dann durch Interpretation des Gesetzes erst ermittelt und dargelegt werden muss. Es bedarf einer inhaltlich-sachlichen Begründung. Nur in Fällen unstreitiger Evidenz trägt die unangefochtene Autorität des Gesetzes die Entscheidung sachlich. Nur in diesem Sonderfall kann sie auch als materielles Argument67 angesehen werden. Demgegenüber ist die Autorität der gängigen Gesetzesinterpretation nie ein materielles Argument. Der Wert der gängigen Gesetzesinterpretation hängt ab von der Qualität ihrer Begründung. Das gilt nicht nur für sog. herrschende Meinungen, sondern auch für die Rechtsprechung. Von Sonderfällen abgesehen68 gibt es keine formelle Bindung an Präjudizien. Die gängige Gesetzesinterpretation verteilt lediglich die Argumentationslast. Weil Entscheidungen und Entscheidungsvorschläge in unserer Rechtskultur sachlich zu begründen sind, besteht die Vermutung, dass es für die gängige Gesetzesinterpretation gute Gründe gibt. Wer abweichen will, muss sich mit diesen Gründen auseinandersetzen und bessere Gründe anführen. Das mag man beschränkte Bindungswirkung herrschender Auffassungen nennen. Eine sachliche Bindung besteht jedoch nicht. Das Autori65
Zur Autorität als Argument bereits § 2 V.4.c. Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 177 m.w.N. Die Pflicht zu einer besonders sorgfältigen Begründung von Rechtsfortbildungen hat schon frühzeitig betont Larenz, NJW 1965, 1, 10. 67 Vgl. § 2 V.4.c. 68 Etwa § 31 BVerfGG, § 563 Abs. 2 ZPO. 66
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§ 15 Arten juristischer Argumente
tätsargument der herrschenden Betrachtungsweise ist ein formales Argument, das von den nun folgenden verschiedenen Sachargumenten bzw. materiellen Begründungen zu unterscheiden ist.
2. Ontologische Argumente Der Ausdruck wird hier als Sammelbezeichnung für juristische Argumente verwendet, die sich auf das »Sein« bzw. das »wirklich Seiende« stützen69. Ontologische Argumente können auf empirischen Erhebungen beruhen. In der Jurisprudenz haben sie freilich meist metaphysische Seinserkenntnisse zum Gegenstand. Praktisch und dogmatisch tätige Juristen führen regelmäßig keine rechtssoziologischen Untersuchungen durch. Es geht ihnen nicht um empirisch festgestellte oder auch nur feststellbare reale Verhaltensmuster, sondern um das richtig verstandene Sein70. Nur das richtig verstandene, also weltanschaulich gedeutete Sein trägt sein Sollen in sich. So wird die jeweilige Weltsicht zur »Wirklichkeit«. Individuelle und kollektive Anschauungen der Welt können über ontologische Argumente in die Gesetze und ihre Begriffe transportiert werden.
3. Begriffliche Argumente Gesetze werden angewendet, indem ihre Begriffe erläutert und fallbezogen konkretisiert werden. Begriffliche Argumente haben daher in der Jurisprudenz auch heute noch einen hohen Stellenwert.
4. Dogmatische Argumente Dogmatische Argumente sind die Sachargumente einer »Theorie«, wobei dieser Begriff im juristischen Sprachgebrauch nicht nur für detaillierte ausgearbeitete Erklärungssysteme und Lehren, sondern praktisch für jeden mehr oder weniger begründeten Lösungs- bzw. Entscheidungsvorschlag in einer Rechtsanwendungsoder Regelungsfrage verwendet wird. Der Begriff der Dogmatik71 ist nicht trennscharf und wird in seiner positiven Bedeutungsvariante verbreitet als Synonym für die Wissenschaft der Teilrechtsgebiete oder sogar für qualitätsvolles juristisches Arbeiten schlechthin verwendet. Damit nähert sich das dogmatische dem juristischen Argument an. Hier wird dogmatisches Argument enger verstanden. Zur Verdeutlichung werden die dogmatischen Argumente weiter unterteilt in theoriekonforme Auslegungen, rechtsgebietsspezifische Auslegungsgrundsätze, freie wissenschaftliche Erfindungen bzw. Kunstgriffe und spezielle dogmatische Topoi.
69 Zur Ontologie Schwemmer, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 2, 1984, Stichwort »Ontologie«; Redaktion für Philosophie des Bibliographischen Instituts (Hrsg.), Schülerduden Philosophie, 1985, Stichworte »ontisch« und »Ontologie«. 70 Hierzu im Hinblick auf das institutionelle Rechtsdenken bereits C. Fischer, Europäisierung der nationalen Zivilrechte – Renaissance des institutionellen Rechtsdenkens?, 2002, S. 13. 71 Hierzu etwa Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 309 ff.
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II. Ein Begründungskatalog
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5. Logische Argumente Als logische Argumente werden entsprechend einem verbreiteten juristischen Sprachgebrauch zunächst spezielle Schlussformen wie der Umkehr-, Erst-Rechtund Analogieschluss sowie die Sätze vom Widerspruch angesehen. Hinzu kommen Grundsätze der Gesetzeskonkurrenz wie beispielsweise der Spezialitätsgrundsatz.
6. Methodische Argumente Methodische Argumente sind dadurch gekennzeichnet, dass sie den Anspruch auf allgemeine, teilrechtsgebietsübergreifende Gültigkeit erheben. Sie lassen sich in Auslegungs- und Rechtsfortbildungsargumente unterteilen, wobei die Zuordnung einzelner Begründungen mit der Antwort auf methodische Grundfragen steht und fällt. Das ist etwa für die nur scheinbar stets Rechtsfortbildungen darstellenden Figuren der Analogie und der teleologischen Reduktion im Einzelnen ausgeführt worden72. Hier geht es um Rechtsfortbildungen, die im Gewand der auslegenden Gesetzesanwendung vorgenommen werden. Deshalb interessieren an methodischen Argumenten allein die Auslegungsargumente, die aufgrund des auslegungsfixierten Rechtsfindungsverständnisses73 im Übrigen auch den ganz überwiegenden Teil der methodischen Argumente ausmachen. Die Auslegungsargumente beziehen sich einerseits auf die einzelnen Auslegungselemente. Andererseits geht es um Regeln, die bestimmten Auslegungselementen den Vorrang einräumen.
7. Folgenorientierte Argumente Diese Argumente betreffen die von der konkret zu beurteilenden Rechtsfrage unabhängigen weiteren rechtlichen und außerrechtlichen Folgen einer Entscheidung. Gebräuchlich sind insbesondere Entscheidungsfolgebetrachtungen sozialwissenschaftlicher und wirtschaftlicher Art. Folgenargumente zählen meist zu den übergreifenden methodischen Argumenten, können aber auch als konkrete dogmatische rechtsgebietsspezifische Auslegungsgrundsätze zu klassifizieren sein. Wegen der besonderen Bedeutung der Folgenanalyse und Folgenabwägung werden sie aber hier als eigenständige Art von Argumenten behandelt.
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Hierzu § 3 II.2.m. § 6 II.4.
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§ 16 Ein Verzeichnis von Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen In einem groben Überblick werden beispielhaft gebräuchliche Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen angeführt. Die Zusammenstellung ist ein erster Entwurf und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit1.
I. Zu Autoritätsargumenten Autoritätsargumente sind kein taugliches Objekt für Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen. Das folgt für die Autorität des Gesetzes daraus, dass sie in streitigen Fragen das Ziel der Gesetzesinterpretation ist. Die Autorität der gängigen Gesetzesinterpretation bindet nicht in der Sache, sondern verteilt lediglich die Argumentationslast2. Dass »herrschende Meinungen« inszeniert werden können, steht auf einem anderen Blatt. Als rein formales Argument berührt die Autorität der gängigen Gesetzesinterpretation die gesetzgeberische Interessenbewertung aber nicht.
II. Ontologische Topoi Das traditionelle ontologische, auf das »wirkliche Sein« gestützte Argument zur Fortbildung der Gesetze ist das Naturrecht. Die offene Berufung auf das Naturrecht im Rahmen einer Gesetzesinterpretation stellt freilich keine verdeckte Fortbildung des Gesetzesrechts dar, sondern dessen Geltungsanspruch in Frage und ist damit eine »kleine Revolution«. Ein solcher Aufstand gegen die Gesetze wird in der Rechtspraxis und Rechtswissenschaft allenfalls während grundlegender Systemwechsel akzeptiert; auch während dieser bedienen sich traditionell ausgebildete Juristen im Zweifel lieber scheinbar gesetzeskonformer Anpassungsinstrumente3. Naturrechtliche und andere weltanschauliche »Wirklichkeiten« finden daher regelmäßig über Leerformeln wie die Natur der Sache, das Wesen der Dinge, den Geist von Rechtsverhältnissen, »natürliche« Betrachtungsweisen oder eine betont »objektive« Auslegung Eingang in das geschriebene Gesetzesrecht4. Ein wichtiges Einfallstor stellen übergeordnete Rechtsprinzipien dar. Ontologi-
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§ 1 I.6. § 15 II.1. 3 Vgl. im einzelnen § 9 I.2. 4 Zusammenfassend C. Fischer, Europäisierung der nationalen Zivilrechte – Renaissance des institutionellen Rechtdenkens, 2002, S. 19. 2
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III. Begriffliche Topoi
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sche Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen sind auch die beiden klassischen Hilfsfiguren des institutionellen Rechtsdenkens, also das konkrete Ordnungsdenken von Carl Schmitt und der konkret-allgemeine Begriff von Karl Larenz, aus dem seine spätere Lehre von Typus und Typenreihen hervorgegangen ist5. Die typologische Rechtsfindung ist immer noch sehr verbreitet. Heute seltener verwendete ontologische Topoi zur verdeckten Fortbildung gesetzgeberischer Interessenbewertungen sind die Rechtsidee, die sog. Rechtsvernunft und die Gerechtigkeit. Häufig eingesetzt wird die sog. Einzelfallgerechtigkeit (»Billigkeit«)6, die aber grundsätzlich eher der Nichtanwendung der Gesetze ähnelt und wegen ihrer Einzelfallbezogenheit die gesetzgeberischen Interessenbewertungen unangetastet lässt. Ein eigenständiger ontologischer Topos ist die sog. gewohnheitsrechtliche Derogation, mit welcher einer Norm wegen angeblicher Nichtbefolgung die rechtliche Geltung abgesprochen wird7.
III. Begriffliche Topoi Es existieren Mechanismen der Begriffsveränderung, mit denen die Bedeutung eines Begriffs – gemessen an der gesetzgeberischen Interessenbewertung – verengt oder erweitert wird8. Außerdem kann der »Rechtsanwender« mit verselbständigten Schlagworten operieren, welche die Funktion der gesetzlichen Begriffe oder sogar der Gesetze übernehmen können9. Begrifflich-ontologische Topoi sind die verbreiteten Deduktionen aus dem Wesen eines Rechtsbegriffs.
IV. Dogmatische Topoi Kantorowicz hat die Dogmatik bezeichnet als »eine Kunst, die unter dem Anschein biederer Gesetzestreue die Autorität des Gesetzes untergräbt«10. Es handelt sich um eine polemische Übertreibung, die auf einem zu engen Gesetzesbegriff beruht. Freilich gibt es eine Vielzahl dogmatischer Topoi, mit denen gesetzgeberische Interessenbewertungen verdeckt fortgebildet werden.
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Einführend zu diesen Lehren Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 558 ff., 563 ff. Hierzu Hattenhauer, Die Kritik des Zivilurteils, 1970, S. 110 ff. 7 Hierzu aus methodisch-rechtstheoretischer Perspektive C. Fischer, Die tarifwidrigen Betriebsvereinbarungen, 1998, S. 18 f. 8 Eingehend zur Begriffstechnik richterlicher Rechtsfortbildungen im Zivilrecht Diederichsen, FS Wieacker, 1978, S. 325 ff. 9 Ein anschauliches Beispiel aus dem kollektiven Arbeitsrecht findet sich bei C. Fischer, Die tarifwidrigen Betriebsvereinbarungen, 1998, S. 72 f. 10 Kantorowicz, Tat und Schuld, 1933, S. 27, wo es in Wiedergabe älterer Formulierungen auch heißt, die Dogmatik bestehe in der Kunst, nur subjektiv gültigen Deutungen ein objektives Mäntelchen umzuhängen – indem diese bald als »Wille des Gesetzgebers« (des empirischen oder des »vernünftigen«), bald als »Wille des Gesetzes« und bald als »Richtiges Recht« ausgegeben werden. 6
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§ 16 Ein Verzeichnis von Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen
Die hier sog. theoriekonformen »Auslegungen« bestimmen den Normzweck der Gesetze und den Inhalt der gesetzlichen Begriffe nach einer Idee von der richtigen rechtlichen Lösung, die oft auf der Vorstellung des Rechts als einem inneren System oder dem Glauben an übergeordnete Rechtsprinzipien beruht. Die sog. Prinzipienjurisprudenz sieht die Aufgabe des Rechtsanwenders darin, die hinter den Normen stehenden beherrschenden Prinzipien zu ermitteln und zu bewerten. Sie vernachlässigt die Gesetzesbindung. Man kann jede Vorschrift aushebeln, indem man sie auf ein Prinzip zurückführt, das dann wichtiger ist als seine konkrete Gestalt (= Norm), die nur das Mittel zum Zweck bildet11. Die Umdeutung der Gesetze im Gewand ihrer prinzipiendeterminierten »Auslegung« ist ein geradezu klassischer Topos verdeckter Rechtsfortbildungen12. Die theoriebzw. prinzipienkonforme verdeckte Rechtsfortbildung kann auch im Gewand der verfassungskonformen oder gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung auftreten, die auch dann die gesetzgeberische Interessenbewertung fortbildet, wenn kein Wille des Gesetzgebers zu ermitteln ist. Als dogmatisches Argument aus einem inneren System lässt sich auch die sog. Einheit der Rechtsordnung13 klassifizieren, die nie vorgefunden, sondern stets hergestellt wird, indem einer der widerstreitenden Normen der Anwendungsvorrang eingeräumt und die andere derogiert wird. Eine besondere Ausprägung theoriekonformer Auslegungen sind rechtsgebietsspezifische Auslegungsmethoden, die meist dazu dienen, allgemeine normative Vorgaben und deren Zwecke an die »Sachgesetzlichkeiten« spezieller, nicht gesondert gesetzlich geregelter wirklicher oder vermeintlicher Interessenlagen anzupassen. Außerdem gibt es spezifische Auslegungsgrundsätze für bestimmte Normenarten und Typen von Rechtsgeschäften. Als Beispiele für freie wissenschaftliche Erfindungen und dogmatische Kunstgriffe sind die »Juristische Sekunde« und sonstige Fiktionen wie das (verdeckte) »Geschäft für den, den es angeht« zu nennen. Spezielle dogmatische Topoi stellen etwa das Strohmanngeschäft oder das sog. Umgehungsgeschäft dar, bei dem es tatsächlich immer darum geht, ob die »umgangene« Vorschrift auf den konkret zu beurteilenden Tatbestand direkt oder analog angewendet werden darf. Auch bei der Einordnung einer Norm als »bloße Ordnungsvorschrift«, bei Veränderungen der Beweislast14 und des Beweismaßes sowie bei der Kreation von Verwertungsverboten handelt es sich um dogmatische Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen.
11
Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 256. Das wurde unter § 4 V.4.c. bereits festgestellt. 13 Hierzu Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 774 ff. 14 Diederichsen weist zu Recht darauf hin, dass sich durch eine richterrechtliche Änderung der Beweislastregelung ganze Tatbestandsmerkmale unterdrücken lassen; in der Rechtspraxis könne die Zuschiebung der Beweislast über die Anwendung oder Nichtanwendung einer Norm entscheiden, s. Diederichsen, FS Wieacker, 1978, S. 325, 333 f., 335. 12
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VI. Methodische Topoi
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V. Logik als Topos Logische Argumente haben in der heutigen Rechtspraxis und Rechtswissenschaft nicht mehr die Bedeutung, die ihnen früher häufig zugemessen wurde. Beim juristischen Schließen geht es um auf Normzwecke gegründete Werturteile15. Logische Fehlschlüsse können dazu führen, dass einschlägige Normen im Einzelfall zu Unrecht nicht angewendet werden. Die gesetzgeberische Interessenbewertung verändern sie nicht. Anders ist das bei den Grundsätzen der Gesetzeskonkurrenz. Sie können zur Folge haben, dass Normen vollständig leer laufen und gesetzgeberische Interessenbewertungen generell vereitelt werden. Entgegen verbreiteter Auffassung sind Konkurrenzfragen im Zivilrecht freilich nie eine reine Frage der Logik, sondern stets Auslegungsfragen16. Die scheinlogische Klassifizierung einer Norm als speziellere Regelung löst tatsächlich verdeckt einen Wertungswiderspruch einseitig auf.
VI. Methodische Topoi Die methodischen Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen betreffen einerseits die einzelnen Auslegungselemente. Andererseits geht es um Regeln, die bestimmten Auslegungskriterien den Vorrang einräumen.
1. Die einzelnen Auslegungselemente Herkömmlicherweise werden vier Auslegungselemente unterschieden, die verbreitet auch als selbständige Auslegungsmethoden verstanden werden17, und zwar der Wortsinn, die Systematik, die Entstehungsgeschichte und der Normzweck. Teilweise wird diesen als fünftes Auslegungskriterium noch die Rechtsvergleichung zur Seite gestellt. Jedes dieser Auslegungselemente kann verwendet werden, um die gesetzgeberische Interessenbewertung verdeckt fortzubilden. Das gilt insbesondere dann, wenn die zur Ermittlung des Normzwecks dienenden einzelnen Elemente isoliert eingesetzt werden. Hinzu kommen spezielle methodische Topoi. Ein gängiger Topos zur verdeckten Rechtsfortbildung mittels des Wortsinns bzw. Wortlauts ist die sog. Eindeutigkeitsregel, nach der ein eindeutiger Wortlaut der Auslegung nicht zugänglich sein soll18. Entsprechendes gilt für die sog. Andeutungstheorie, die eine Berücksichtigung des gesetzgeberischen Willens untersagt, wenn er im Gesetzeswortlaut nicht angedeutet ist19. Außerdem kann die gesetzgeberische Interessenbewertung durch die Annahme eines speziellen Sprach15 16 17 18 19
Vgl. Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 893, konkret zum Analogieschluss. Hierzu C. Fischer, Die tarifwidrigen Betriebsvereinbarungen, 1998, S. 242 ff. § 15 I.1.b.dd. Hierzu Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 732. Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 734 ff.
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§ 16 Ein Verzeichnis von Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen
gebrauchs fortgebildet werden, etwa durch das Abstellen auf einen technischen Wortsinn20, oder auch indem ein umgangssprachliches statt des fachsprachlichen Verständnisses zugrunde gelegt wird21. Einzelaspekte der Entstehungsgeschichte können instrumentalisiert und ein Wille des Gesetzgebers inszeniert werden. Sehr allgemeine Normzweckbeschreibungen erlauben dem Rechtsanwender die von ihm für angemessen gehaltenen Konkretisierungen der gesetzlichen Begriffe. Das gebräuchlichste und effektivste Instrument, um das Gesetz im Gewand seiner Auslegung fortzubilden, ist die sog. objektive Auslegung22. Aber auch mit der rechtsvergleichenden Gesetzesauslegung lässt sich die Bindung an die geschriebenen deutschen Rechtsnormen abstreifen23.
2. Vorrangregeln Neben den bereits angesprochenen Eindeutigkeits- und Andeutungstheorien ist etwa noch die Subsidiaritätsthese von Bydlinski zu nennen, wonach der Rechtsanwender von einer einfacheren Methode (Wortlaut, Systematik) zu der schwierigeren (Entstehungsgeschichte) erst übergehen muss, wenn mit Hilfe der ersteren das Problem nicht zu lösen war24. Man kann jedoch niemals wissen, ob ein Problem wirklich gelöst ist, solange man nicht alle Auslegungselemente ausgewertet hat. Eine Vorrangregel ist auch das angebliche Auslegungsgebot, Ausnahmevorschriften stets eng auszulegen25.
3. Rechtsgeschäftsauslegung Der Bereich der verdeckten Fortbildung des Gesetzesrechts ist auch betroffen, wenn und soweit die §§ 133, 157 BGH durch spezielle Auslegungsregeln für (bestimmte) Rechtsgeschäfte modifiziert werden26.
VII. Folgenorientierte Topoi Sozialwissenschaftliche oder ökonomische Folgenbewertungen bilden das Gesetzesrecht fort, soweit sie Folgen für ausschlaggebend erklären, die von der gesetzgeberischen Interessenbewertung nicht erfasst bzw. nicht bedacht worden sind. Gehen die Folgenbetrachtungen mit einer Analyse der gesetzgeberischen Interessenbewertung einher, stellen sie freilich keine verdeckte Rechtsfortbildung dar. Anders ist das, wenn Argumente wirtschaftlicher und sozialpolitischer Art 20
Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 222. Vgl. Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung, 1996, S. 93 f. 22 Hierzu § 4 IV. 23 C. Fischer, Europäisierung der nationalen Zivilrechte – Renaissance des institutionellen Rechtsdenkens, 2002, S. 4. 24 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 556 f. 25 Zur engen Auslegung von Sondervorschriften etwa BGH, ZIP 2001, 1463, 1465. 26 Vgl. § 4 V.4.e. 21
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VIII. Zwischenbilanz
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schlagwortartig verwendet werden. Beispielsweise ist der Ausdruck »wirtschaftliche Betrachtungsweise« – ehedem eine Kampfformel gegen die Begriffsjurisprudenz – heute zu einer Leerformel erstarrt, in der oft kein konkreter Inhalt oder aber ein Inhalt verborgen ist, der dem Gegenstand des Urteils nicht angemessen ist27. Entsprechendes kann für sozialpolitische und sozialwissenschaftliche Betrachtungsweisen gelten.
VIII. Zwischenbilanz Anknüpfend an die gängigen Arten juristischer Argumente bei der Gesetzesinterpretation ist versucht worden, der Masse der einzelnen Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen eine grobe Struktur zu geben, um die Stellen zu lokalisieren, an und über die Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen in juristische Argumentationen einfließen. Die gebräuchlichsten Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen finden über das »Sein« bzw. »die richtig verstandene Wirklichkeit«, über gesetzliche und außergesetzliche »Begriffe«, über die »Dogmatik« bzw. »das innere System« und über die »Methodik« Eingang in juristische Begründungen. Um dies stärker bewusst zu machen, kann man zwischen ontologischen, begrifflichen, dogmatischen und methodischen Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen unterscheiden. In den verschiedenen Fallgruppen sollte in Zukunft noch weiter differenziert werden, um die einzelnen verschleiernden Rechtsfortbildungsfiguren kenntlich zu machen und zu entmythologisieren. Auch ist über eine Trennung zwischen verschiedenen Arten von Leerformeln nachzudenken. Gegenstand verdeckter Rechtsfortbildungen sind sowohl die bisher ganz im Vordergrund des Interesses stehenden materiellrechtlichen Beurteilungsnormen als auch die für die Bildung des Sachverhalts maßgebenden Verfahrensvorschriften.
27 So Hattenhauer, Die Kritik des Zivilurteils, 1970, S. 101, der auch darauf verweist, dass es »wirtschaftliche Betrachtungsweisen« heute sehr viele gebe, die sich in ihren Voraussetzungen und Konsequenzen erheblich voneinander unterscheiden. »Die« wirtschaftliche Betrachtungsweise sei eine Fiktion und beruhe faktisch meist auf einer nicht dargelegten juristischen Alltagstheorie.
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§ 17 Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen als Leerformeln I. Zum Begriff der Leerformel Die Bezeichnung Leerformel wurde zum Erfolgsbegriff durch Ernst Topitsch1. Der Ausdruck wird heute, so heißt es bei Odo Marquard, »über das positivistische Lager hinaus« verwendet und hat Eingang in die Umgangssprache2 und in die allgemeine Wissenschaftssprache gefunden.
1. Topitsch Ernst Topitsch hat darauf hingewiesen, »daß bestimmte sprachliche Formeln durch die Jahrhunderte als belangvolle Ansichten oder sogar als fundamentale Prinzipien des Seins, Erkennens und Wertens angesehen wurden und es heute noch werden – nicht obwohl, sondern gerade weil und insofern sie keinen näher angebbaren Sach- oder Normgehalt besitzen«3. Derartige Worthülsen und Beschwörungsphrasen seien deshalb so außerordentlich erfolgreich, weil sie »gerade infolge ihrer Inhaltslosigkeit psychologisch-politisch eine schlechthin universelle Verwendbarkeit besitzen« und jedem geben, was er wünscht4. Es handele sich um Überbleibsel eines archaischen, mystischen, symbolhaften und vorwissenschaftlichen Denkens5. Topitsch spricht von »Restbeständen des Mythos«6 und der Metaphysik7. Topitsch unterscheidet zwischen pseudo-empirischen, pseudo-normativen und essentialistischen Leerformeln8. Unter pseudo-empirischen Leerformeln werden solche verstanden, die scheinbar über die empirische Realität berichten, tatsäch1 So Marquard, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5, 1980, Stichwort »Leerformel«. 2 Marquard, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5, 1980, Stichwort »Leerformel«. 3 Topitsch, in: Probleme der Wissenschaftstheorie, FS Kraft, 1960, S. 233 f.; zu Leerformeln und Mythos bereits § 9 V.6. 4 Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, 1958, S. 293; s. auch S. 291 f., konkret zu naturrechtlichen Denkformen. 5 Topitsch, in: Probleme der Wissenschaftstheorie, FS Kraft, 1960, S. 233, 234 ff. 6 Topitsch, in: Probleme der Wissenschaftstheorie, FS Kraft, 1960, S. 233, 264; zu Grundformen des Denkens im Mythos Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, 1958, S. 5 ff.; zum Mythos der Gesetze bereits § 9 V. 7 Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, 1958. 8 Hierzu und zum Folgenden Topitsch, in: Probleme der Wissenschaftstheorie, FS Kraft, 1960, S. 233 ff.; ders., in: Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, 12. Aufl. 1993, S. 15, 25 ff.; Degenkolbe, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 17 (1965), 327, 329 ff.; Lieber, Ideologie, 1985, S. 165 ff.
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I. Zum Begriff der Leerformel
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lich aber keinen Informationsgehalt besitzen und deshalb mit fast jedem Sachverhalt vereinbar und prinzipiell nicht falsifizierbar sind. Pseudonormative Leerformeln enthalten Gebote mit einem totalen oder sehr weiten Spielraum, mit denen fast alle konkreten Verhaltensformen und Verhaltensgebote übereinstimmen. Essentialistische Leerformeln sollen solche sein, die statt einer Erklärung und Prognose des tatsächlichen Verhaltens von Dingen und Menschen eine Erkenntnis des »Sinnes« oder »Wesens« von physischen oder sozialen Gegebenheiten versprechen und daher illusorisch sind.
2. Rechtswissenschaftliche Begriffsverwendungen In der Rechtstheorie bedient man sich des Begriffs der Leerformel, um bestimmte juristische Argumente als inhaltsleer und beliebig zu klassifizieren9. So werden die Ausdrücke »standardisierte Rechtfertigungsformeln«, »Leerformeln« und »essentialistische Verschleierungsformeln« weitgehend synonym gebraucht10. Auch in der Zivilprozessrechtspraxis und -wissenschaft verwendet man, wie bereits dargelegt, den Begriff der Leerformel, um Begründungen zu charakterisieren, die sachlich inhaltslos und deshalb den fehlenden Gründen im Sinne von § 547 Nr. 6 ZPO gleichzustellen sind11. Die Gründe dürften sich nicht auf leere Redensarten beschränken12. Nichtssagende Floskeln, inhaltsleere Redensarten und bloße Leerformeln stünden den fehlenden Urteilsgründen gleich13. Erläutert wird der Begriff Leerformel in der Rechtswissenschaft, soweit ersichtlich, nicht. Das entspricht einem allgemeinen Befund: Die Bezeichnung dient heute auch als Angriffswort gegen die Begriffswelt beliebiger Positionen, um beliebige Positionen zu verteidigen; der Begriff Leerformel wird selber zur Leerformel14.
3. Leerformel und Funktion der Begründung Eine Untersuchung, die verdeckte Rechtsfortbildungen zum Gegenstand hat, kann, soweit sie sich mit den zivilprozessrechtlichen Begründungsvorschriften beschäftigt, nicht einfach das Begriffsverständnis von Topitsch oder einen nicht näher erläuterten rechtstheoretischen Sprachgebrauch zugrunde legen. Über die 9 Beispielweise Rüthers, »Institutionelles Rechtsdenken« im Wandel der Verfassungsepochen, 1970, S. 47; Esser, Juristisches Argumentieren im Wandel des Rechtsfindungskonzepts unseres Jahrhunderts, 1979, S. 30. 10 Böhlk/Unterseher, JuS 1980, 323, 325. 11 § 13 IV.2.a. 12 So BGHZ 39, 333, 337; vgl. aus der Rechtsprechung des Reichsgerichts etwa RGZ 8, 260, 262; RG, JW 1898, 221 (r. Sp.); RGZ 169, 65, 75; 170, 328, 332. 13 Vgl. etwa Ball, in: Musielak (Hrsg.), Kommentar zur Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2005, § 547 Rn. 16; Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, Band 5, Teilband 1, 21. Aufl. 1994, § 551 Rn. 30; s. auch OLG Köln, ZIP 2001, 1018, 1020. – Auch außerhalb der Zivilgerichtsbarkeit behandelt man leerformelhafte Ausführungen wie fehlende Entscheidungsgründe, s. beispielsweise BVerwGE 61, 365, 369; BVerwG, NJW 1998, 3290; BSG, NJW 1966, 566, 567; NJW 1989, 1758; teilweise unter ausdrücklicher Bezugnahme auf BGHZ 39, 333 ff. 14 Marquard, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5, 1980, Stichwort »Leerformel«.
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§ 17 Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen als Leerformeln
Frage, ob eine leerformelhafte »Begründung« im rechtlichen Sinne vorliegt, muss anhand der normativen Begründungsvorgaben und der Funktionen von Begründungen15 entschieden werden16. Leerformeln sind hiernach juristische Argumente, welche die Erwägungen, auf denen die Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht (§ 313 Abs. 3 ZPO), nicht erkennen lassen. Zu diesen Leerformeln zählen auch Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen, wenn und soweit sie die vorgenommene Fortbildung der gesetzgeberischen Interessenbewertung nicht erkennen lassen. Die Toipoi verdecken die Gründe, auf denen die Entscheidung in rechtlicher Hinsicht beruht.
II. Arten von Leerformeln Man kann zwischen abstrakten und konkreten bzw. zwischen allgemeinen und speziellen Leerformeln oder auch zwischen echten Leerformeln und der leerformelartigen Verwendung juristischer Argumente trennen.
1. Echte Leerformeln Es gibt gebräuchliche juristische Argumente, die als echte Leerformeln schlechthin aussagelos sind. Mit ihnen lässt sich entweder stets auch das Gegenteil ihres Ergebnisses rechtfertigen (»kontradiktorische Topoi«) oder sie können im Einzelfallurteil mit beliebigen Inhalten gefüllt werden (»Werthülsen«). Derartige Topoi sind objektiv-funktional stets Scheinbegründungen, weil sie die in der Sache wirklich maßgebenden Gründe verdecken. Praktisch besonders bedeutsame echte Leerformeln sind die sog. objektive Auslegung, ontologische Argumente wie die Natur oder das Wesen sowie alle Vorrangregeln, die ein Auslegungselement bei der gebotenen Ermittlung des Normzwecks absolut setzen. Auch echte Leerformeln führen nach der hier vertretenen Ansicht nicht zwangsläufig dazu, dass die Entscheidungsgründe mit zivilprozessualen Rechtsmitteln bekämpft werden können, und zwar dann nicht, wenn sie als Überleitungsbegriff für Sachargumente verwendet werden. Anders als bei sonstigen juristischen Argumenten stellen aber auch eine Mehrzahl von echten Leerformeln keine ordnungsgemäßen Entscheidungsgründe dar, da sie die Erwägungen nicht
15 Ausführlich zu einzelnen Funktionen von Begründungen Kischel, Die Begründung, 2003, S. 39 ff.; zu Funktionen richterlicher Entscheidungsbegründungen Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 26 ff.; eine straffe Darstellung findet sich bei Schlüter, Das obiter dictum, 1973, S. 94 ff. – Schlagwortartig verkürzt dient die sachliche Erläuterung von Einzelfallentscheidungen vor allem der richterlichen Selbstkontrolle (»überzeugende rationale Begründbarkeit der Entscheidungshypothese«) sowie der Fremdkontrolle; die Begründung soll den Adressaten einer Entscheidung, also den Parteien bzw. Beteiligten, den Rechtsmittelgerichten und der (Fach-)Öffentlichkeit, ermöglichen, die Einzelfallentscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit und Vertretbarkeit zu überprüfen. 16 Hierzu bereits § 13 IV.2.a.cc., im Hinblick auf die Art und Weise, wie Entscheidungsgründe zu gestalten sind.
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IV. Resümee zu den Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen
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erkennen lassen, auf denen die Entscheidung in rechtlicher Hinsicht beruht (§ 313 Abs. 3 ZPO).
2. Leerformelhafte Verwendung juristischer Argumente Außerdem können juristische Argumente, die »an sich« unbedenklich sind, leerformelartig verwendet werden. Fast jedes juristische Begründungsmittel stellt einen leerformelhaften Topos verdeckter Rechtsfortbildungen dar, wenn es isoliert gebraucht und damit absolut gesetzt wird. Ausnahmen gelten nur für die gesetzgeberische Interessenbewertung sowie für die Verweisung auf Präjudizien und sonstige Autoritätsnachweise. Die gesetzgeberische Interessenbewertung, die häufig mit »Normzweck« schlagwortartig umschrieben wird, ist das Ziel der Gesetzesauslegung sowie das entscheidende Element bei der Interpretation gesetzlicher Begriffe und daher keine Leerformel. Entsprechendes gilt für die Verweisung auf Präjudizien und sonstige Nachweise, sofern denn die in Bezug genommene fremde Autorität sachliche, nicht nur aus Leerformeln oder leerformelhaft eingesetzten Argumenten bestehende Gründe liefert. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass sowohl die gesetzgeberische Interessenbewertung als auch die fremde Autorität inszeniert und mit »falschen« Inhalten gefüllt werden können. Die Begründung mit der gesetzgeberischen Interessenbewertung (»Normzweck«) und die Bezugnahme auf eine fremde sachliche Begründung (»Präjudiz«, »Schrifttumsnachweis«) sind die einzigen Fälle, in denen ein einzelnes juristisches Argument verwendet werden darf, ohne dass die Gründe als leerformelhaft zu klassifizieren sind. Ansonsten ist der singuläre Einsatz eines Auslegungsbzw. Begründungselements stets eine Leerformel im Sinne der hier interessierenden Begründungsvorgaben.
III. Konsequenzen von Leerformeln Sowohl der Einsatz echter Leerformeln als auch die leerformelartige Verwendung juristischer Argumente hat Konsequenzen für die jeweilige gerichtliche Entscheidung, weil und sofern diese nicht inhaltlich begründet wird. Die Verwendung solcher Leerformeln stellt einen Begründungfehler und – für sich betrachtet – auch einen Rechtsanwendungsfehler dar. Handelt es sich bei den leerformelhaften »Gründen« um die tragenden Teile einer rechtlich vorgeschriebenen Begründung, dann ist die jeweilige gerichtliche Entscheidung mit den zivilprozessualen Rechtsmitteln angreifbar.
IV. Resümee zu den Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen Es ist an der Zeit, dass sich die Jurisprudenz von den erkennbaren Rückständen eines überkommenen mystischen Denkens befreit, ihre Leerformeln entmythologisiert und juristische Argumente nicht mehr leerformelhaft einsetzt. Das gilt
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§ 17 Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen als Leerformeln
auch und gerade für die lange Zeit tabuisierte und nur verdeckt praktizierte Fortbildung des Gesetzesrechts. Seit vielen Jahrzehnten ist die grundsätzliche Befugnis des Richters, das zivile Gesetzesrecht fortzubilden, allgemein anerkannt. Damit ist die Möglichkeit, verdeckte Rechtsfortbildungen pragmatisch zu rechtfertigen, endgültig entfallen17. Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen sind Relikte einer Zeit, die nicht mehr die unsere ist. Sie erscheinen – um noch einmal mit Topitsch zu sprechen – als Reste eines mythischen, symbolhaften und vorwissenschaftlichen Denkens, welches sich pathetischer Kult- und Prestigeformeln und willkürlich manipulierbarer Leerformeln bediente, oder auch als Metaphysik im abwertenden neuzeitlichen Verständnis, das in dem dieser Untersuchung als Motto vorangestellten Zitat dokumentiert wird. Man sollte sich von den bequemen Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen verabschieden. Stattdessen sind die hinter ihnen verborgenen realen Wertungsgesichtspunkte zu reflektieren und anhand der normativen Vorgaben auf ihre Berechtigung zu überprüfen. Halten sie der rationalen Kontrolle, die immer auch eine Begründbarkeitsprobe ist, stand, müssen sie in der Begründung dargelegt werden. Andernfalls sind sie bei der Entscheidungsfindung außen vor zu lassen.
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§ 11 IV.
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5. Teil
Ausblick zum juristischen Entscheiden und Fazit Die Untersuchung über Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen legt gewisse weitergehende Folgerungen für ein rationaleres Modell begründeten Entscheidens nahe.
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§ 18 Folgerungen für ein rationaleres Modell begründeten Entscheidens I. Entscheidung und Begründung Die in der Praktikerliteratur und von Teilen des jüngeren rechtstheoretischen Schrifttums propagierte vollständige Entkopplung der Entscheidungsbegründung von der sog. Entscheidungsfindung verbietet sich. Sie beruht auf einer unzutreffenden Gleichsetzung primär naturwissenschaftlicher und juristischer Entdeckungsvorgänge, verwechselt die Entscheidungshypothese mit der Entscheidung, verkennt die Bedeutung der Begründung im Prozess des juristischen Entscheidens und fördert einen praktizierten Gesetzesnihilismus.
II. Auslegung und Rechtsfortbildung Angezeigt ist eine möglichst klare Trennung von Auslegung und Rechtsfortbildung. Dies setzt zunächst voraus, dass man sich näher mit dem facettenreichen Rechtsfortbildungsbegriff beschäftigt, dessen unterschiedliche Bedeutungsvarianten bislang in der Rechtswissenschaft noch nicht thematisiert worden waren. Die Erkenntnis des notwendig wertenden Charakters jeder Rechtsfindung hat zu der verbreiteten Fehlvorstellung geführt, Auslegung und Rechtsfortbildung ließen sich »eigentlich« nicht voneinander scheiden. Hilfe wird dann in der weitgehend beliebigen und fiktiven Wortlautgrenze gesucht. Eine plausible Begründung für diese zufällige und sich mit dem jeweiligen Sprachgebrauch wandelnde »Grenze« ist bislang nicht geliefert worden. Der Texthermeneutik verdanken wir die Erkenntnis, dass kein Text – und damit auch kein Gesetz – eine »objektive«, vom historischen Regelungszweck losgelöste, überzeitliche Bedeutung hat. Gesetze sind Produkte ihrer Zeit, sind Ausdruck konkreter gesetzgeberischer Interessenbewertungen. Daher ist eine Fortbildung des Gesetzesrechts gegeben, wenn der Gesetzessinn, m. a. W. der erkennbare historische Regelungszweck, fortgebildet wird, wenn also der Rechtsanwender eine Interessenbewertung vornimmt, die von der Bewertung der berücksichtigten Interessen durch die gesetzgebenden Instanzen abweicht.
III. Auslegung von Gesetzen und Begriffen Bei der Rechtsfindung ist zwischen der Auslegung eines Tatbestandsmerkmals und der Ermittlung des Normzwecks zu unterscheiden. Die Meinungsverschie-
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IV. Zwei Stufen der Rechtsfindung
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denheiten und Missverständnisse über die Rolle des Normzwecks im Rahmen der Auslegung (»Auslegungsziel oder Auslegungsmittel?«) beruhen auch darauf, dass diese notwendige Differenzierung nicht vorgenommen wird. Man spricht verbreitet von der sog. Gesetzesauslegung, obwohl Juristen bei der Rechtsfindung regelmäßig nicht die (ganzen) Gesetze, sondern einzelne in ihnen enthaltene (»problematische«) Begriffe näher interpretieren. Die Auslegung der Gesetze erfolgt durch die fallbezogene Auslegung und Konkretisierung ihrer Tatbestandsmerkmale. Fragt man abstrakt nach dem Sinn und Zweck einer gesetzlichen Vorschrift, dann kann der Normzweck nicht Auslegungsmittel sein (»Zirkelschluss«), sondern nur Auslegungsziel. Der Zweck eines Gesetzes, also die jeweilige, das konkrete historische Regelungsanliegen verwirklichende gesetzgeberische Interessenbewertung, ist anhand des Wortlauts der Norm, der Systematik und insbesondere der Entstehungsgeschichte i.w.S. zu ermitteln. Im Prozess der Entscheidungsfindung, in dem geprüft wird, ob Sachverhaltsausschnitte bestimmten Tatbestandsmerkmalen zugeordnet werden können, ist der Normzweck demgegenüber eines der Auslegungsmittel. Die Rechtsfindung erfolgt durch konkretisierende Begriffserläuterung. Der Sinn eines Begriffes wird ermittelt, indem der Wortlaut (der Entstehungszeit), die Systematik des Gesetzes, die Entstehungsgeschichte i.e.S. und der Zweck der Norm, in welcher der Begriff enthalten ist, untersucht werden. Bei der Auslegung eines Tatbestandsmerkmals kommt dem Normzweck, also der jeweiligen gesetzgeberischen Interessenbewertung, ausschlaggebendes Gewicht zu. Ihm widersprechende entstehungszeitliche Begriffsverständnisse können ohne weiteres korrigiert werden.
IV. Zwei Stufen der Rechtsfindung Bei der Rechtsfindung sind – stark vereinfacht – zwei Stufen bzw. Schritte zu unterscheiden. Ausgangspunkt der Rechtsfindung ist stets die Auslegung der Gesetze. Zunächst muss versucht werden, die gesetzgeberische Interessenbewertung zu ermitteln. Gelingt das nicht oder bestehen Zweifel an der Gültigkeit der historischen Interessenbewertung, dann ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob die gesetzgeberische Interessenbewertung und damit das Gesetzesrecht fortzubilden ist. Die Rechtsfortbildung hat besondere, nach Bereichen verschiedene Voraussetzungen. Auch deshalb muss die Auslegung von rechtsfortbildenden Elementen möglichst frei gehalten werden. Diese Unterscheidung in zwei Stufen der Rechtsfindung ist nicht neu. Sie lag dem traditionellen, schon bei Christian Thomasius zu findenden Grammatik-Logik-Schema der Rechtsinterpretation zugrunde, das bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in Deutschland vorherrschend war und in Frankreich noch heute allgemein praktiziert werden soll. Erst die Savigny-Rezeption durch Larenz und Forsthoff hat zur Folge gehabt, dass die vier Elemente der Auslegung ihren späten Siegeszug antraten. Heute ermöglichen vor allem zu weit verstandene systematische und teleologische Auslegungen die Fortbildung des Gesetzesrechts im Gewand seiner Anwendung. Die Rückkehr zu einem Zwei-Stufen-Modell der Rechtsfindung, das
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§ 18 Folgerungen für ein rationaleres Modell begründeten Entscheidens
möglichst klar zwischen Auslegung und Fortbildung des Gesetzesrechts unterscheidet, könnte zu einer rationaleren juristischen Argumentation beitragen.
V. Die vernachlässigten Präjudizien und der Fall Die in vielen Rechtsfindungsmodellen vernachlässigten Faktoren »Präjudiz« und »Fall« lassen sich ohne größere Probleme in ein Zwei-Stufen-Modell der Rechtsfindung integrieren. Präjudizien entfalten ihre Entlastungswirkung auf beiden Stufen der Rechtsfindung. Der Fall findet durch das Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Lebenssachverhalt und Gesetzesbegriff bei der konkretisierenden Begriffserläuterung Eingang in das Rechtsfindungsmodell. Die in der Praxis zentrale Arbeit am Sachverhalt, mit der sich die akademische Methodenlehre und Prozessrechtswissenschaft bislang kaum beschäftigt haben, lässt sich mit dem traditionellen Relationsschema bewältigen, sofern dieses endlich auf den durch Verhandlungsmaxime und materielle Prozessleitung des Gerichts gekennzeichneten Zivilprozess abgestimmt wird.
VI. Begründetes Entscheiden als Aufgabe Hattenhauer hat schon vor gut 35 Jahren in seiner »Kritik des Zivilurteils« eine eigenständige Urteilstheorie gefordert. Diese steht trotz wertvoller Vorarbeiten immer noch aus. Eine der wichtigsten Aufgaben im Überschneidungsbereich von Methodenlehre und Prozessrecht ist eine konkrete und praxisbezogene, die normativen Entscheidungs-, Sachverhaltsbildungs- und Begründungsvorgaben berücksichtigende juristische Argumentations- und Entscheidungslehre. Gewisse Vorstudien zu einem rationaleren Modell begründeten juristischen Entscheidens sind mit der Untersuchung über Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht durchgeführt worden.
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§ 19 Ergebnisse Heute herrscht im Grundsatz Einigkeit darüber, dass die Rechtsfortbildung zu den legitimen Aufgaben der Zivilrechtsprechung zählt. Man kann von einem Paradigmenwechsel in der Theorie der Rechtsfindung sprechen1, der sich mit der zunehmenden Verbreitung des äußerst facettenreichen Begriffs »Rechtsfortbildung«2 in der Nachkriegszeit abzeichnete3 und mit der »Soraya«-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1973 abgeschlossen wurde4. Dieser Paradigmenwechsel findet keine Entsprechung in der Begründungspraxis der Gerichte. Dass die schöpferische Rechtsfortbildung als legitime Aufgabe der Zivilgerichte anerkannt wurde, hat nicht zu der für eine rationale Argumentation geforderten Offenlegung von Rechtsfortbildungen geführt. Die »Theorie der Rechtsfortbildung« und die »Praxis der Auslegung« klaffen auseinander. Zwar bilden die Zivilgerichte auf breiter Front das Gesetzesrecht fort. Hierzu bedienen sie sich aber gewisser überkommener Begründungsfiguren, mit denen die Gesetze im Gewand ihrer scheinbaren Auslegung und Anwendung fortgebildet werden. Diese Argumente sind die hier untersuchten Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen. Zugleich geht es um die Orte, an denen und über die derartige Topoi zu finden sind. Topos bezeichnet in der klassischen Rhetorik eine Suchformel für Begründungen und das Argument selbst, steht heute indes auch für ein festes Klischee, für eine begründungsersetzende Phrase5. Erstes Anliegen der vorgelegten Untersuchung ist es, verdeckte Rechtsfortbildungen als Rechtsproblem im bislang vernachlässigten Überschneidungsbereich von Entscheidungsvorgaben und Begründungsgeboten deutlich hervortreten zu lassen. Zugleich soll durch die »Entmythologisierung« (Bultmann) von Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen zu einer rationaleren juristischen Argumentation beigetragen werden. Durchgeführt wurden Vorstudien zu einem Entscheidungsmodell, welches die Entscheidungsfindung und die Entscheidungsbegründung behandelt und dabei die Fragen der richterlichen Sachverhaltsbildung einbezieht. Der vorstehende Befund über die Begründungspraxis der Zivilgerichte, der im Widerspruch zu gängigen Bewertungen im rechtswissenschaftlichen Schrifttum6 steht, ergibt sich aus einer eingehenden Auswertung der rechtsfortbildenden 1 2
§ 7. Zu den einzelnen Facetten des bislang nicht näher untersuchten Rechtsfortbildungsbegriffs
§ 3. 3 4 5 6
Zur Herkunft des Wortes »Rechtsfortbildung« § 3 V.1. § 7 VI. Zu Topik und Topoikatalogen § 2. § 8 III.1. bis 4.
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§ 19 Ergebnisse
Rechtsprechung des Reichsgerichts, des Bundesgerichtshofs und des Bundesarbeitsgerichts im Bürgerlichen Recht, im Gesellschaftsrecht und im Arbeitsrecht seit etwa 19007. Er wird zusätzlich gestützt durch eine Analyse des Sprachgebrauchs des Bundesgerichtshofs in den ersten 154 Bänden seiner amtlichen Entscheidungssammlung8. Obwohl die Fortbildung des Rechts und die Rechtsfortbildung9 allgemein anerkannte Aufgaben des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen sind, enthalten von 7813 Entscheidungen lediglich 104 den Begriff Rechtsfortbildung. In ganzen 20 Entscheidungen wird die gerade vorgenommene Rechtsfolgenbestimmung Rechtsfortbildung genannt. Das lässt erahnen, wie effektiv die Topoi sind, mit denen Rechtsfortbildungen verdeckt werden. Streiflichter der Geschichte verdeckter Rechtsfortbildungen haben gezeigt, dass es verdeckte Fortbildungen des Gesetzesrechts innerhalb und außerhalb Deutschlands seit langem gibt10. Solange die Fortbildung des Gesetzesrechts dem Richter offiziell verboten war, sind verdeckte Rechtsfortbildungen praktisch unverzichtbar gewesen. Seit offene Rechtsfortbildungen von Rechts wegen möglich sind, können verdeckte Rechtsfortbildungen nicht mehr gerechtfertigt werden11. Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen sind Relikte einer Zeit, die nicht mehr die unsere ist. Sie erscheinen – um mit Topitsch zu sprechen – als Überbleibsel eines archaischen, mystisch-vorwissenschaftlichen Denkens, welches sich pathetischer Kult- und Prestigeformeln und willkürlich manipulierbarer Leerformeln bediente, oder auch als Metaphysik im abwertenden, im Motto dieser Arbeit dokumentierten neuzeitlichen Verständnis. Verdeckte Rechtsfortbildungen, deren vielfältige Ursachen ausführlich erörtert worden sind12, werden im rechtswissenschaftlichen Schrifttum durchaus unterschiedlich bewertet, wobei die widerstreitenden Positionen allein mit ethischen oder pragmatisch-tatsächlichen Erwägungen begründet werden13. Dass man verdeckte Rechtsfortbildungen als reine Frage der Ethik diskutiert, ist bemerkenswert, weil Juristen sich regelmäßig erst dann auf sittlich-moralische Gebote berufen, wenn sie über keine entsprechenden rechtlichen Vorgaben verfügen. Verdeckte Rechtsfortbildungen werfen indessen auch zahlreiche Rechtsfragen auf, die bislang noch nicht im Zusammenhang betrachtet und erörtert worden sind. Ursächlich für dieses zunächst unverständliche Forschungsdesiderat dürften das weitgehend unverbundene Nebeneinander von juristischer Methodenlehre und Prozessrechtswissenschaft, die zunehmende Verselbständigung von Entscheidung und Begründung14 sowie die generelle Vernachlässigung von Begründungs-
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§ 7 V. § 8 III.5. 9 Zum Unterschied zwischen diesen fälschlicherweise oft gleich gesetzten Begriffen § 3 IV. und § 3 II., § 4 IX. 10 § 9. 11 § 11 IV. 12 § 10. 13 § 11. 14 Gegen die in den letzten Jahren unter Berufung auf Reichenbach und Popper verstärkt geforderte Trennung von Entscheidung und Begründung § 12 III.; zu entsprechenden traditionellen Strategien in Teilen der Praxis § 12 II.4. 8
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§ 19 Ergebnisse
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fragen in der traditionellen Methodenlehre und in der Wissenschaft vom Zivilprozess sein. Die hier im Hinblick auf Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen erstmals durchgeführte Untersuchung der normativen Vorgaben begründeten Entscheidens hat gezeigt, dass verdeckte Rechtsfortbildungen geltende Gesetze verletzen15 und rechtliche Folgen haben16. Sie verstoßen gegen die – in Art. 20 Abs. 3 GG auch verfassungsrechtlich vorgeschriebene – Gesetzesbindung des Richters und zudem gegen die zivilprozessgesetzlichen Vorschriften über die Begründung gerichtlicher Entscheidungen, weil sie nicht die Erwägungen erkennen lassen, auf denen die Entscheidung in rechtlicher Hinsicht beruht (§ 313 Abs. 3 ZPO). Außerdem verletzen bestimmte Topoi bei der Bildung des Sachverhalts nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) und das Willkürverbot der Art. 3 Abs. 1 GG17. Das zivilprozessuale Rechtsmittelrecht eröffnet wirksame und abgestufte Möglichkeiten, verdeckten Fortbildungen des Gesetzesrechts und den sie verschleiernden Topoi zu begegnen. Auf der Grundlage der obergerichtlichen Rechtsprechung und der herrschenden Lehre sind begründungsbedürftige Entscheidungen der Berufungsgerichte, deren »Begründungen« sich in Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen erschöpfen, nicht einmal mit Gründen versehen und verstoßen daher gegen § 547 Nr. 6 ZPO18. Folge ist, dass das angefochtene Berufungsurteil gemäß § 562 Abs. 1 ZPO aufzuheben und die Sache stets gemäß § 563 Abs. 1 S. 1 ZPO zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist19. Demgegenüber hat das Rechtsmittelgericht nach der hier entwickelten Ansicht, die maßgeblich auf die zivilprozessualen Begründungsvorschriften abstellt, bei derartigen Begründungsmängeln sowohl im Berufungs- als auch im Revisionsverfahren grundsätzlich selbst in der Sache zu entscheiden20. Abgerundet wird der verfahrensrechtliche Schutz der Gesetze gegen Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen bei unanfechtbaren Entscheidungen durch die Möglichkeit von Verfassungsbeschwerden insbesondere wegen einer Verletzung von Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG aufgrund eines Verstoßes gegen die Gesetzesbindung21. Es ist daher weder nötig noch sachgerecht, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen als eine rein ethische Frage zu behandeln. Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen stellen auch und vor allem eine rechtliche Problematik dar. Abschließend ist versucht worden, der Masse der Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen anknüpfend an gängige Typen juristischer Argumente22 eine grobe 15
§ 13. § 14. 17 § 12 V.2.c. und d. 18 Gegen diese rein revisionsrechtliche Perspektive und für eine an den §§ 313, 540 Abs. 1 S. 1 ZPO ausgerichtete Betrachtungsweise § 13 IV. 19 § 13 IV.2.a. und § 14 VI.4.c. 20 § 14 V. bis VII., IX. 21 Außerdem sind bei einer verdeckten Fortbildung der für die Sachverhaltsbildung geltenden Prozessnormen noch die Rüge nach § 321 a ZPO und Verfassungsbeschwerden wegen einer Beeinträchtigung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und des Willkürverbots des Art. 3 Abs. 1 GG in Betracht zu ziehen. 16
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§ 19 Ergebnisse
Struktur zu geben. In einem Topoikatalog werden gebräuchliche Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen aufgelistet und die Stellen lokalisiert, an und über die diese Topoi in juristische Argumentationen einfließen23. So werden die Einfallstore verdeckter Rechtsfortbildungen deutlich. Es ist an der Zeit, dass die Jurisprudenz ihre Leerformeln entmythologisiert und juristische Argumente nicht mehr leerformelhaft einsetzt24. Die in den Leerformeln verborgenen realen Wertungsgesichtspunkte sind zu ermitteln und anhand der normativen Vorgaben auf ihre Berechtigung zu überprüfen. Halten sie der rationalen Kontrolle, die immer auch eine Begründbarkeitsprobe ist, stand, müssen sie in der Begründung dargelegt werden. Andernfalls sind sie bei der Entscheidungsfindung außen vor zu lassen.
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§ 15. § 16. Zu dieser Differenzierung § 17.
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Sachregister Abänderungsklage, Voraussetzungen der 209, 239 f. Abtretungsausschluss bei unpfändbaren Forderungen 173, 255 ff. Aktienrechtliche Abfindung bei der Eingliederung in eine bereits eingegliederte Hauptgesellschaft 183, 252 ff. Allgemeine Geschäftsbedingungen 154, 167, 177 Analogie – Auslegung oder Rechtsfortbildung? 52, 57, 76, 89, 121, 243, 537 – Begriff 52 – Einzelfälle 52, 163, 165 f., 170, 171, 174, 175, 177, 181, 191, 208, 234, 243, 250 f., 252 ff., 260, 268, 287, 530 Analogiegebot 166, 494 Anfechtbarkeit sog. arisch-jüdischer Mischehen 274 f. Anfechtung von Gläubigerhandlungen nach der Gesamtvollstreckungsordnung 263 ff. Anleitungs- und Ausbildungsliteratur für die Praxis 130 ff., 347 ff. Anscheinsvollmacht 153, 162 f. Anspruchsdenken im Zivilrecht – Kritik, ältere 340 ff. – Großfelds Plädoyer 340 – Stürners Einschätzung 342 – Würdigung der Kritik 342 ff. Anspruchsschemata 29, 106 f., 146, 345 f., 413, 421, 536 Anwartschaftsrecht, Anerkennung des 238 »Anweisungsfälle« 175 Anwendbarkeit des § 128 HGB in der DDR 280 Anwendung der Gesetze siehe Gesetzesanwendung Anwendungsgebot 488 Arbeitnehmerhaftung 164 f., 190 f. Arbeit am Sachverhalt siehe Sachverhaltsarbeit Arbeitserleichterung 303 f.
Arbeitskampfrecht, Grundsatzbeschlüsse zum 197 f. Argument(e) – Arten juristischer 536 ff. – Autoritätsargumente 28 f., 543 f., 546 – Begriff 2 – begriffliche 320, 544, 547 – dogmatische 544, 547 f. – fehlerhafte 540 ff., 546 ff. – folgenorientierte 545, 550 f. – juristische 536 – leerformelartige Verwendung 555 – logische 545, 549 – methodische 545, 549 f. – naturrechtliche 102 – ontologische 544, 546 f. – positive 536 ff., 543 ff. Argumentation, rationale 4 f., 10 f., 221 f., 291 ff., 445, 455, 496, 558, 560, 561 Argumentationstheorie(n) 7, 18, 406, 451 ff., 455, 539 f., 541 Aristoteles Topik 18, 19 f., 22, 25, 30 f., 33 Arten juristischer Argumente – bisherige Differenzierungen 536 ff. – – Frühe Formen 536 – – Auslegungskanon 536 ff. – – Topikrenaissance 539 – – Argumentationstheorien 539 f., 541 – ein Begründungskatalog 543 ff. – – Autoritätsargumente 543 f. – – Begriffliche Argumente 544 – – Dogmatische Argumente 544 – – Folgenorientierte Argumente 545 – – Logische Argumente 545 – – Methodische Argumente 545 – – Ontologische Argumente 544 – fehlerhafte 540 ff., 546 ff. – positive 536 ff., 543 ff. Art. 3 Abs. 1 GG siehe Willkürverbot Art. 20 Abs. 3 GG – als Grundlage konkreter Begründungsregeln 482 ff.
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Sachregister
– Ausprägungen, einzelne 487 ff. – »Ob« und »Wie« der Begründung 481 f. – siehe auch Gesetzesbindung Art. 103 Abs. 1 GG siehe Rechtliches Gehör »Arzthaftung bei fehlgeschlagener Sterilisation« (BVerfG) 60 Arzthaftungsrecht 173 Aufopferungsanspruch bei Impfschäden 177 Aufwendungs- und Schadensersatzansprüche von Arbeitnehmern 191 Aufwertungsfrage 156 ff. Aufwertungsurteil 157, 210 Augenbinde der Justitia 292 Ausbildungskrise der Jurisprudenz 7, 324 ff., 397 f., 400, 415 f., 421 f. Ausdehnung des § 817 S. 2 BGB 154, 162 Ausgleichsanspruch des Scheinvaters 238 Ausgleichsverpflichtung gleichrangiger Sicherungsgeber 174, 249 f. Aushöhlungsnichtigkeit 177 Auslegung – als Gegenbegriff zur Rechtsfortbildung 38 ff., 558 – als »Normalfall der Rechtsfindung« 142 ff. – Definition 125 – im engeren Sinne 123, 125 – im weiteren Sinne 123, 125 – Mythos der Gesetzesanwendung 291 f. – »objektive« siehe Objektive Auslegung – parteiliche 278 – »politische Tat« 278, siehe auch Recht und Politik – Steuergesetze (§ 4 ReichsAO) 215 – Trennung von der Rechtsfortbildung 558 – unbegrenzte 45, 82 f., 210 f., 273 ff. – von Gesetzen und von Begriffen 558 f. Auslegungselemente 29, 71, 536 f., 538, 549 f. Auslegungskanon 536 ff. Auslegungsverständnis, klassisches – Abschied vom 140 ff. – Beharrungstendenzen 142 ff., 212 f. Auslegungsziel und Auslegungsmittel 559 Aussperrungsquoten 199 Automatenaufstellungsvertrag 173 Autorität – als Argument 28 f., 108, 136, 288, 407, 539, 540, 542, 543 f., 546, 555
– der Begriffe 288 – der gängigen Gesetzesinterpretation 543 – des Gesetzes 291, 296 ff., 425, 429, 432, 543 – Erschleichen von 305 ff., 424 Befristung von Arbeitsverhältnissen 186, 208 Begriffliche Argumente 320, 544, 547 Begriffliche Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen 143, 170 ff., 296, 320, 547 Begriffsjurisprudenz – bereicherungsrechtlicher Leistungsbegriff 171 – Formelverwertung 296, 320 – und Relationstechnik 348, 358 – und Sachenrecht 224 Begriffsverzeichnis 125 Begründetes Entscheiden in Rechtswissenschaft und Praxis – Argumentationstheorien 451 ff. – Aufteilung des Stoffes, herkömmliche 441 f. – »Entscheidungsfindungsmethodik«, traditionelle 444 ff. – Stimmen der Praxis 446 ff. – Untersuchungen zur Begründung, neuere 452 ff. – Urteilen als begründetes Entscheiden 442 ff. Begründung – als Teil der Entscheidung 123 f., 441 ff., 461 – als Voraussetzung verdeckter Rechtsfortbildungen 288 – Berufungsurteil 501 ff. – Beschlüsse 507 f. – Dokumentation der Entscheidungsgründe 445 f. – Funktionen einer 132, 460 f., 554 – kurze siehe »kurze Begründung« – nachträglich konstruierte 446 ff. – und persönliche Motivation 10, 460, 490 – Urteilen als zu begründende Auswahl 442 ff. – vernachlässigter Forschungsbereich 451 – Zivilurteil 499 ff. Begründungsfehler siehe Folgen von Begründungsfehlern Begründungslehre – Fehlen einer konkreten 4, 8, 406, 411, 415 f., 451
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Sachregister
– formelle 453 ff. Begründungspflichten 4, 466 ff. Begründungspraxis der Zivilgerichte heute 222 ff., 561 f. Begründungsregeln, konkrete – verfassungsrechtliche 482 ff., 486 ff., 495 f. – zivilprozessrechtliche 496 ff. Begründungstheorien – neuere 452 ff. – siehe auch Argumentationstheorien Begründungsvorschriften siehe Zivilprozessrechtliche Begründungsvorschriften Bequemlichkeit 311 f. Berücksichtigungsgebote, prozedurale 489 ff. – Darlegungsgebot 490, 495 – Kenntnisnahmepflicht 489, 492 Berufung bei Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen – Begründetheit 518 ff. – Möglichkeit der Zurückverweisung? 518 – Möglichkeit der Zurückweisung? 516 f. – Zulässigkeitsfragen 515 f. Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers 187 Beteiligungsrechte des Betriebsrats im Arbeitskampf 204 Betrachtungsweise(n) – »natürliche« 546 – wirtschaftliche 551 Betrieb mehrerer Unternehmen, gemeinsamer 208 »Betriebliche Normen« des Tarifvertrages 194 f. »Betriebsautonomie« und Tarifautonomie 195 ff., 201 f. Betriebsrisiko im Arbeitskampf 160, 165 Beweislast – »Rechtsnatur« 384 – Umkehr der 167, 208 f., 548 Bildung des Sachverhalts siehe Sachverhaltsbildung Bindung des Berufungsgerichts bei Zurückverweisung 209 Bindungswirkung sog. Patientenverfügungen siehe »Sterbehilfe«-Beschluss »Bongossi-Holz« 163, 498 Bultmanns Entmythologisierungskonzept 4 f., 561 »Burda II«-Beschluss des Bundesarbeitsgerichts 105, 193, 196 f., 303
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Bürgschaften sog. Nahbereichspersonen 175 Canaris – Gesetz und Prinzip 145 f. – Recht am Gewerbebetrieb 178 – Rechtsfortbildung und System 40 – und die Rolle des Dogmatikers 147 f. Christliches Naturrecht, »Renaissance«102 Ciceros Topik 2, 18 f., 20, 30 f., 33, 457 Civilprozeßordnung von 1871 364 context of discovery and context of justification siehe Entdeckungs- und Begründungszusammenhang Darlegungsgebot 490, 495 Defizite der Ausbildung – Universitätsunterricht 407 f. – Vorbereitungsdienst 408 ff. – siehe auch Ausbildungskrise der Jurisprudenz Defizite der Grundlagenfächer 402 ff. – Geschichte der Praxis 402 f. – Juristische Methodenlehre 403 ff. Derogation (von Gesetzesrecht) – gewohnheitsrechtliche 109, 547 – »materielle« 242, 271 – richterrechtliche 172 f. Derogationsverbot 488 Dialektik, eristische siehe Eristische Dialektik Dogmatik – Begriff 544 – Kantorowicz 547 – Praktische Jurisprudenz 441 – Rechtsfindung, politikfreie 146, 213 – Rechtsquelle? 103 f., 107 f., 114, 118, 147 – Rechtswissenschaft heute 3, 135, 399 f. – und Begründung 407 – und Entscheidungsfindung 135, 146, 147, 213, 442, 544, 547 f., 551 – Wahrheitsprinzip 429 f. Dogmatische Argumente – Arten 544 – Begriff 544 Dogmatische Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen 547 f., 551 Drei-Ebenen-Modelle 35 f., 47, 54, 55, 87 ff. – klassisches Modell 87 f. – moderne Abwandlungen 44, 54, 55 f., 88
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Sachregister
Duldungsvollmacht 153 Durchbrechung der Rechtskraft gem. § 826 BGB 169, 208 »Durchbruchsschlacht im Kampf um die Methode der Rechtsfindung« 276 Ehe, Wesen der 102, 279 f. Eheanbahnungs- und Partnerschaftsvermittlungsverträge 174 Eheschließung, postmortale 166 »Eigengrenzüberbau« 163 Eigenhaftung des Vertreters 161 Eigenkapitalersatz, Gebrauchsüberlassung als 245 Eigentümergrunddienstbarkeit 161 Eingliederungstheorie 164 Einheit der Rechtsordnung 144, 180, 548 Eintragung einer Verschmelzung trotz Anfechtungsklage 236 f. Einzelfallunterricht 332 ff., 412 f. Elitäres Selbstverständnis 312 ff. Engisch siehe Pendelblick Entdeckungs- und Begründungszusammenhang 11 f., 452 f., 455, 456 ff., 558 – Frühformen 457 – Reichenbachs Differenzierung 457 f. – Poppers Ausführungen 458 f. – Kritik 459 ff. Entgelt »mitarbeitender Ehefrauen« 150, 169 Entlastungsbeweis, dezentralisierter 154 Entmythologisierung – Bultmanns Programm 4 f., 561 – der magischen Rechtsoffenbarung 290 f. – der Rechtsfortbildung 8, 209, 405, 555 f. – der Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen 4 f., 10, 293 f., 402, 411, 465, 551, 555 f., 561, 564 Entscheidung, gerichtliche – Begriff 123 f., 460 f. – Fehlerhaftigkeit und Unrichtigkeit 510 f. – Rechtswidrigkeit 510 – Wirksamkeit und Vernichtbarkeit 511 Entscheidung des Obersten Gerichts zum Wesen der Ehe 279 f. Entscheidung und Begründung – Ausgangspunkt verdeckter Rechtsfortbildungen 3 f., 127, 440 ff. – »Entscheidungsfindungsmethodik«, traditionelle 444 f. – Entzweiung 452 f., 456 ff., 558
– Stimmen aus der Praxis 446 ff. – Urteilen als begründetes Entscheiden 442 ff. – Verhältnis von 123 f., 441 ff., 460 f. Entscheidungsbegründung – Rechtsfragen der 465 ff., 495 ff. – vernachlässigte zivilprozessuale Vorgaben 4, 11 f., 441 f., 484, 486, 508 Entscheidungsbegründungspflichten – verfassungsrechtliche 466 ff., 495 f. – zivilprozessrechtliche 484 f., 496 ff. Entscheidungsfindung – Definition 123 f., 125 – Hypothese und Entscheidung 460 f. – Rechtsfragen der 462 ff., 491 ff. – Rolle der Intuition 450 f. – Wandel des Bildes von 131 ff. – zur heutigen Vorstellung von 133 ff. Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung siehe Entscheidung und Begründung »Entscheidungsfindungsmethodik«, traditionelle 444 ff. – Determinismus und Dezisionismus 445 – einzelne Entscheidungsfindungslehren 444 f. – verbundene Begründungskonzepte 445 f. Entscheidungsgewalt des Ehemannes und des Vaters 102, 150 Entscheidungsgründe – Begriff 124 f. – normative Vorgaben siehe Entscheidungsbegründungspflichten Entzweiung von Entscheidung und Begründung – Bestandsaufnahme 446 ff., 451 f., 452 ff., 457 ff. – Kritik 460 ff., 558 Erbfälle in Gesellschaftsunternehmen 180, 243 f. Erbscheinerteilung nach Erblassern in der DDR 170, 242 f. Ergebnisse 561 ff. Eristische Dialektik 541 f. Erledigungserklärung, einseitige 208 Ertragswert eines Landguts bei Bauerwartungsland 174, 232 Esser – Begründung und Kritik 299 – Begründungspraxis der Instanzgerichte 224
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Sachregister
– Grundsatz und Norm 18, 83, 211, 217 f. – Hermeneutik 7 Factoring 173 Faktische Vertragsverhältnisse, sog. 177 f.; siehe auch Fehlerhafte Gesellschaftsund Arbeitsverhältnisse Falsifikationsprinzip 458 Fehlerhafte Gesellschafts- und Arbeitsverhältnisse 164, 173, 180, 186 Ferienunterkünfte und Reisevertragsrecht 174 Fiktion der einen rechtlich richtigen Lösung 145 f., 443, 451 »Finanzierter Kauf« 168 Flumes Richterbild 146 ff. Folgen von Begründungsfehlern – Rechtsmittel, zivilprozessuale 515 ff., 522 ff. – Verfassungsbeschwerde 483 f., 532 f. Folgenbetrachtung 144, 148, 222 f., 398, 445, 550 f. Folgenorientierte Argumente 545 Folgenorientierte Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen 550 f. Folgerungen für ein rationaleres Modell begründeten Entscheidens – Auslegung und Rechtsfortbildung 558 – Auslegung von Gesetzen und Begriffen 558 f. – Begründetes Entscheiden als Aufgabe 560 – Die vernachlässigten Präjudizien und der Fall 560 – Entscheidung und Begründung 558 – Zwei Stufen der Rechtsfindung 559 f. Formbedürftigkeit der Vollmacht 156 Formelverwertung 296, 304, 312, 320, 431, 547, 550 f. Formmängel, Unbeachtlichkeit von 167, 169 Fortbildung des Rechts – Abgrenzung zur Rechtsfortbildung 65 ff. – als Gesetzesbegriff 62 ff. – bei Savigny 68 ff. – justizpolitische Diskussionen des 19. Jahrhunderts 75 – Materialien zum BGB 75 ff. – Terminologie im frühen 20. Jahrhundert 78 f. – § 137 GVG von 1935 79 f. Franchising 173
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Freirechtslehre(n) 7, 18, 316 ff., 444, 449, 540 Funktionen von Begründungen, einzelne 132, 460 f., 554 Für und Wider verdeckter Rechtsfortbildungen – Ablehnende Äußerungen 427 ff. – »Aufklärung« versus »Pragmatik« 432 – Befürwortende Stimmen 424 ff. – Parallelen zum historischen Streit über Entscheidungsgründe 432 ff. – reine Frage der Ethik? 438 – Stellungnahme, abschließende 437 Garantieversprechen und Form 153, 173 Gebot möglichst gesetzesnaher Rechtsfortbildung 206, 251 f., 464 f., 493 f., 496 Gehör, rechtliches siehe Rechtliches Gehör Gemeinschaftsverhältnis – nachbarschaftliches 164 – personenrechtliches 164 »Gemüseblatt«-Fall 168 Gerechtigkeit – als Argument 59, 249, 265, 433, 434, 493, 547 – Mythos (gerechter Richter) 6, 289, 290 f. – sozialistische 278, 282 Gesamtvollstreckungsordnung 263 ff. Gesamtvollstreckungsverordnung 263 »Geschäft für den, den es angeht« 156, 548 Geschäftsführung ohne Auftrag, Funktionswandel der 172 Geschäftsgrundlagenlehre 160 Geschichte des Rechtsfortbildungsbegriffs – Rechtsgeschichtliche Äußerungen 68 – Savigny 69 – Terminologie im frühen 20. Jahrhundert 78 f. – »Volksgesetzbuch« 81 ff. – Wandel des Fachsprachgebrauchs in der Nachkriegszeit 83 ff. Geschichte der Relation 358 ff. – Daubenspecks Rolle 364 ff. – Einführung mündlicher Schlussverhandlungen 361 ff. – Einführung des Mündlichkeitsgrundsatzes 364 ff. – Ergebnisse zur 373 ff. – Forschungsdesiderat 358 f. – Frühphase schriftlicher Verfahren 360 f., 364 – Inkrafttreten der CPO 364 ff.
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Sachregister
– Relation und Begriffsjurisprudenz 348, 358 – Sattelmachers zentrale Bedeutung 368 ff. – Zurückdrängung des Mündlichkeitsgrundsatzes 368 ff. Geschlechtsumwandlung und Personenstand 174, 244 Gesellschaft Bürgerlichen Rechts, Recht der 176, 180 Gesellschafterdarlehen 182, 207 Gesellschafterklage 164, 180, 182 Gesetz(e) – Begriff 112 ff. – Heiligkeit der 285, 289, 293 – »Kinderschreck« 314 – Mythos der 289 ff. – und Recht 144 Gesetzesanwendung – als Rechtsanwendung 145 ff., 149, 405, 462 – Mythos der 291 ff. – Rechtsfortbildung im Gewand der 149, 273, 292, 426, 545, 549 f. – Voraussetzung der zivilprozessualen Rechtsfehlerkontrolle 512 ff. Gesetzesbindung – als Grundlage konkreter Begründungsregeln 482 ff. – Ausgangspunkte, normative 486 – Ausprägungen, einzelne 487 ff., 490 – Berücksichtigungsgebote, prozedurale 489 ff. – generelle 482 f. – Inhaltsbindung, bedingte 487 ff. – »Ob« und »Wie« der Begründung 481 f. – und einfachgesetzliche Begründungspflicht 483 – und Rechtsfortbildung 463 ff. »Gesetzesdämmerung« 159 f., 210, 220 Gesetzeskonkurrenz 549 Gesetzesrecht – Rechtsquelleneigenschaft 103, 104, 111 – und Rechtsfortbildung 106 f., 111 f., 114 f., 117 ff. Gesetzessinngrenze 40, 45, 51, 52, 88, 112 f., 115, 212, 253 f., 259, 261 f., 266, 268, 269, 271 Gesetzesumgehung, »objektive« 186, 187, 548 Gewerkschaften siehe Gewerkschaftsbegriff, Parteifähigkeit von Gewerkschaf-
ten, Vereine, nicht rechtfähige, Unterlassungsanspruch der Gewerkschaften Gewerkschaftsbegriff 193 Gewohnheitsrecht – als Rechtsquelle 77, 103, 108 f. – Topos verdeckter Rechtfortbildungen 109, 114 f., 144, 547 Globalsicherungen, revolvierende 175 GmbH, Recht der 182 GmbH & Co. KG – Finanzierungsgrundsätze 181 – Offenlegung der Rechtsform 181, 207 – Zulassung der 181 Goethe zum Aus- und Unterlegen 127 Grammatik-Logik-Schema 70, 71, 74, 537, 540, 559 Grundlagenfächer – Defizite der 402 ff., 415 f., 422 – Vernachlässigung 397 ff. Grundlagenkrise der Jurisprudenz 7, 397 ff., 415 f., 422 – Erscheinungsformen und Ursachen 397 f. – vernachlässigte Grundfragen 398 f. – verdrängte Disziplin- und Methodengeschichte 399 ff. Grundsatzvorlage 62 ff., 79 f. Günstigkeitsvergleich – »Burda II« 196 – »kollektiver« 204 Haftung ausscheidender Gesellschafter 180, 236 Haftung von Gesellschaftern wegen existenzgefährdenden Eingriffs 183 Heck – Anspruchsdenken und Pflichtenordnung 343 – Begriffsjurisprudenz, Kritik der 296, 320 – Formelverwertung 296, 304, 312, 320 – Gesetzessinngrenze 45, 112 f. – Scheinbegründungen 431, 436 – Sherlock-Holmes-Methode der Interpretation 311 – Terminus Rechtsfortbildung 78, 83, 90 Hermeneutik – allgemeine (Texthermeneutik) 9, 112 f., 558 – juristische 7, 9, 319, 444, 537 »Herrenreiter«-Entscheidung 147, 167, 177
Mohr-Siebeck, Fr. Trispel »Fischer:Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht«
Sachregister
Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Lebenssachverhalt und Rechtsnorm siehe Pendelblick h. M., sog. – als formales Argument 28, 544, 546 – beschränkte Bindungswirkung 108, 543, 546 – Rechtsfindung 108, 135, 216, 399, 543 »Holzmann«-Urteil 183 »Holzmüller«-Urteil 183, 248 f. »horror vacui« 310 f., 315, 320, 322 f., 324 »Hühnerpest«- Entscheidung 167 f., 238 Informationshaftung 175 Initiativrechte des Betriebsrats 203 Innentheorie (beim Rechtsmissbrauch) 164 »Innerdeutsche Privatrechtsbeziehungen« 170 Insichgeschäft, lediglich rechtlich vorteilhaftes 52, 212 Institutionelles Rechtsdenken 444, 547 Interessenbewertung, gesetzgeberische – Abgrenzungsmerkmal zur Rechtsfortbildung siehe Gesetzessinngrenze – Auslegungsziel oder Auslegungsmittel? 559 – Bindung an siehe Gesetzesbindung – Erkennbarkeit 315, 320 – Fehlen einer 199, 548 – fernwirkende? 463 – Gesetzesbegriff 112 f., 125 – Leerformel? 555 – neue Rechtsfragen 335 f. – objektive Auslegung, sog. 99, 558 – Rechtsfortbildungsbegriff 112 f., 115, 119 – teleologische Reduktion 50, 51 f., 57 – Topos verdeckter Rechtsfortbildung? 40, 555 – und Anspruchsmethode 345, 346 – und Einzelfalldenken 336 – und logische Fehlschlüsse 549 – und Urteilsstil 395 f. – Zwei-Stufen-Modell der Rechtsfindung 559 f. Interessenbewertung, richterliche 199, 211, 235, 237, 254, 167 f., 271, 292, 335 f., 395 f., 405, 436, 466, 490, 491, 492 f., 496 Interessenjurisprudenz 7, 18, 112 f., 329, 444, 540 Intuition 450 f., 454, 456 Irrationalismus 449 ff.
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Irrtum über die Eigenschaft eines Rechts 154 Jahrhundert der Rechtsfortbildungen 209 f. Jurisprudenz, praktische siehe Rechtswissenschaft, praktische Juristenausbildung und verdeckte Rechtsfortbildungen – Anspruchsdenken im Zivilrecht 339 ff. – Defizite der Grundlagenfächer und der Ausbildung 402 ff. – Einzelfallunterricht 332 ff. – Grundlagenkrise 397 ff. – Relationstechnik 347 ff. – Urteilsbegründungsstil, deutscher 388 ff. – Zweiteilung der Juristenausbildung 325 ff. Juristische Kommentare siehe Topoikataloge »Juristische Sekunde« 548 Juristische Weltbilder, bedrohte 144 ff., 212 f. Justizsoziologie 10 Justizsyllogismus 140, 377, 444, 513 Kant – Publizität und (Un-)Recht 434 – Topik 21 Kaufhausentscheidung des Bundesarbeitsgerichts 202 »Kieler-Straßenbahn«-Urteil 160 f., 200, 210 »Kindheitsmuster« 5 Klage auf Herausgabe eines Kindes 240 f. Koalitionsrecht 193 Kodifikation als Fortbildungssperre? 151 ff. Konkursvorrecht eines Versicherungsnehmers 165 f. »Kuckuckseier« 277 Kuhn – Paradigma 137, 139 – Paradigmawechsel 137 f., 139 – wissenschaftliche Revolutionen 137 ff. – Bewertung 138 ff. Kündigungsschutz, arbeitsrechtlicher 191 f. »kurze Begründung« des Berufungsurteils 501 ff. Kurzgutachten, richterliche 369 ff., 376
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Lagerdenken im Arbeitsrecht 206 Larenz – »Autorität in Methodenfragen« 319, 400 – »Bildung des Sachverhalts« 4, 123 – Drei-Ebenen-Modell 88 f. – Freirechtsbewegung 317, 318 – Hermeneutik 7 – konkret-allgemeine Begriffe 547 – »objektive Auslegung« 99, 538 – Politikfreie Rechtsfindung 146 – »Rechtsfortbildung« als Terminus 84 f. – Rechtsfortbildungsverständnis 42, 99 f., 121 – Savigny-Rezeption 538 – teleologische Reduktion 50 f., 57 – typologische Rechtsfindung 547 – »Verdeckte« Rechtsfortbildungen 120 f. – »Wesensidentität von Auslegung und Rechtsfortbildung« 39 – Wortsinngrenze 39 Leasing 173 Lederhosen-Saga 386 Leerformel(n) – als Leerformel 553 – Arten 552 f., 554 ff. – Begriffe 552 ff. – Definition 554 – echte 554 – Entmythologisierung 5, 437, 551, 555 f., 561, 564 – Gerichtspraxis 6, 223, 304 – kontradiktorische Topoi 554 – leerformelhafte Verwendung juristischer Argumente 555 – prozessrechtliche Folgen 485, 497 ff., 499 f., 509, 515 ff., 522 ff., 531, 533 – Topitsch 292 f., 552 f. – Topos als 22, 29 f., 32 – Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen als 552 ff. – und Funktion der Begründung 553 f. – und Mythos 292 f. – und Normzweck 555 – und Präjudiz 555 – Werthülsen 554 Leerformeln, echte siehe Objektive Auslegung, Ontologische Argumente, Vorrangregeln »Leichentrauung für Kriegerbräute« 166 Leistungsbegriff, bereicherungsrechtlicher 170 f.
Leistungshindernisse, unvorhersehbare 156 »LKW«-Fall 247 f. Logik – als Topos verdeckter Rechtsfortbildungen 549 – Argument 539, 545, 549 – Auslegungselement 537, 538 – der Logik 541 – Erkenntnislogik 458 f. – und Entscheidungsbegründung 391, 429 – und Rechtsfindung 135, 221, 448, 549 – siehe auch Grammatik-Logik-Schema Logische Argumente 545, 549 Lücke(nbegriff) 34, 35, 37, 42, 44 f., 53, 54, 59, 87 ff., 216, 291 f., 405, 431 Massen- und Publikumspersonengesellschaften, Sonderrecht der 181 Metaphysik 293, 437, 552, 556, 562 Methode der Untersuchung 8 ff. Methodenaversion 129 f., 218, 315, 404 Methodenlehre – Begriff 6 – Defizite 403 ff. – traditionelle 3, 403 f., 444 f. – und Praxis 129 f. – Vernachlässigung der Sachverhaltsarbeit 404 f. Methodische Argumente – Arten 545 – Begriff 545 Methodische Vorstellungen und verdeckte Rechtsfortbildungen – Bestandsaufnahme 315 ff. – zwei Grundformen 321 ff. Methodische Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen 549, 551 – die einzelnen Auslegungselemente 549 f. – spezielle Auslegungsregeln für bestimmte Rechtsgeschäfte 550 – Vorrangregeln 550 Mitbestimmung des Betriebsrats 201 ff. Miteigentum an Giebelmauer 242 »Mitwohnrecht« unverheirateter Partner 174, 175, 234 f. Monopolstellung, Pflicht zum Vertragsschluss bei 153 Mündlichkeitsgrundsatz – Einführung 364 ff.
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– Zurückdrängung 368 ff., 373, 376 Münsteraner Schule der Wertungsjurisprudenz 112 f., 486 Mythos – der Gesetze 289 ff. – der Gesetzesanwendung 291 ff. – des gerechten Richters 6, 289, 290 f.
Ontologische Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen 546 f., 551 Ordnung des Betriebes, konkrete 164 Organhaftung nach § 31 BGB 168 »Organisationsverschulden« 154, 167 f. »Orientierungssätze der Richterinnen und Richter des BAG« 207
Nachabfindungsanspruch, höferechtlicher 259 ff. Nachfolgeklauseln, erbrechtliche und rechtsgeschäftliche 180, 243 »Nachhaftung« siehe Haftung des ausscheidenden Gesellschafters Nachkonstruktion, rationale 457, 459 Nachwirkung der Tarifnormen 195 Nachwirkungen beendeter Arbeitsverhältnisse 189 Natur der Sache – Leerformel 89, 144, 298, 299, 312, 400, 539, 541, 546, 554 – LPG-Mitgliedschaft 281 – Motive zum BGB 76 – teleologische Reduktion wegen einer 50 f. Naturalismus, juristischer 444 Naturrecht 101 f., 290, 537, 541, 546; siehe auch Christliches Naturrecht Naturrechtliche Argumente 102 Naturrechtsdenken 102, 444, 449 Nebenpflichten, arbeitsvertragliche 186 f. Nichtanwendung von Schutzgesetzen auf Juden 276 Normalfall Rechtsfortbildung 8, 209, 405 Normzweck – Auslegungsmittel? 559 – Auslegungsziel 555, 559 – Bedeutung 99, 112 f., 125, 494, 495 f., 548, 549, 550, 555 – keine Leerformel 555 – teleologische Reduktion 50 Nutzungsausfall 168
Pandektenwissenschaft 121, 328, 537 f. Paradigmenwechsel – Begriff 137 ff. – bei der Rechtsfindung 139 ff., 561 – partieller 140 – und Begründungspraxis 221 ff. Parteiänderung 208 Parteifähigkeit von Gewerkschaften 147, 182, 209, 241 Patentanmeldungen, Ausscheidung und Teilung von 245 Patientenverfügungen siehe »Sterbehilfe«Beschluss Pendelblick 3, 41, 123, 133, 321, 334, 379, 406, 560 Persönlichkeitsrechtsschutz 153, 167, 175, 238 Pflicht zu Schutzmaßnahmen beim Kaufvertrag 165 Pflichtteilsanspruch, Verjährung des 174, 275 ff. Phänomenologie 449 f. Politik siehe Recht und Politik »Politikfreie Rechtsfindung« 146 f., 149, 219, 396 Popper 11 f., 452 f., 454, 456, 458 ff. »Positive Vertragsverletzung« 152, 163 Positivismus – als Sündenbock 210, 217 – 19. Jahrhundert 76, 325 – und BGB 151 f. – und Naturrecht 101 – und Praxis 319 Postmortale Eheschließung 166 Präjudiz(ien) – Autoritätsargument 543 – Bindung? 28, 54, 335, 408, 524, 543 – im Prozess der Rechtsfindung 41, 58, 133, 143, 146, 148, 213, 215, 216, 222, 225 f., 293, 315, 335, 402, 404, 415, 462 – im Zwei-Stufen-Modell der Rechtsfindung 560 – keine Leerformel 555 – und Gewohnheitsrecht 103
Objektive Auslegung, sog. – Bedeutung 40, 74 f., 89, 144, 148, 311, 315, 537, 538, 546, 550, 554 – Kritik 99, 100, 112 f., 148, 311, 558 – Leerformel 554 – Topos verdeckter Rechtsfortbildungen 40, 89, 546, 550, 554 Ontologische Argumente – Begriff 554 – Leerformeln 554
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Sachregister
– und Rechtsfortbildungsbegriff 47 – Universitätsunterricht 331 f., 335, 402, 415 Präjudizienkult 216, 225 Praktikerstimmen – Auslegung und Rechtsfortbildung 492 f. – Entscheidung und Begründung 446 ff. Praktische Jurisprudenz siehe Rechtswissenschaft, praktische Primat der Politik 278 Prinzipienjurisprudenz 55, 145 f., 222, 548 Produkthaftung, deliktische 167, 177, 238 Prospekthaftung 173, 175 Prozessleitung, richterliche 368, 371, 373, 375, 379 ff., 388, 411 ff., 416, 422, 560 Prozessstandschaft, gewillkürte 208 Publikums-KG, Recht der 181, 207, 239 Recht – Ergebnis der Rechtsfortbildung 116 – Objekt der Rechtsfortbildung 100 ff. – Mittel der Rechtsfortbildung 115 f. – Naturrecht und Positivismus 101 f. – und Politik 89, 146 ff., 182, 219, 256, 274 ff., 278 ff., 298, 301 ff., 307 f., 310, 314 f., 389, 392, 393, 396, 401, 419, 426, 429, 433, 435 f., 447, 539, 550 f. »Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb« 153, 168, 178 Rechtliche Konsequenzen verdeckter Rechtsfortbildungen 510 ff. – Berufung 515 ff. – Klassifizierung der Entscheidungen 510 f. – Revision 522 ff. – verfassungsrechtliche 532 f. – Zusammenfassung 531, 533 Rechtliches Gehör 468 ff. – Anwendungsbereiche, einzelne 468 ff. – Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen 476 ff. Rechtsanwendung – als Gegenbegriff zur Rechtsfortbildung 41 – im Gewand der Gesetzesanwendung 145 ff., 149, 405, 462 »Rechtsbindung« statt Gesetzesbindung 144, 148, 219, 293 Rechtsdenken, institutionelles siehe Institutionelles Rechtsdenken Rechtsfähigkeit, Beschränkungen der 164
Rechtsfehlerkontrolle und Rechtsfortbildung 512 ff. Rechtsfindung – »als Politik« 447 – Definition 125 – »Normalfall Auslegung« 142 ff., 293 – magische Rechtsoffenbarung 289 f. – Mythos der Gesetzesanwendung 291 f. – Paradigmenwechsel bei der 137 ff. – politikfreie 145 ff., 149, 219, 396 – Prinzipienjurisprudenz 105 f., 145 f. – Relationsschrifttum 131, 377 f. – Rolle der Präjudizien 41, 58, 133, 143, 146, 148, 213, 215, 216, 222, 225 f., 293, 315, 335, 402, 404, 415, 462 – Wertungen, außerrechtliche 145 f., 223, 446, 453, 545 – und Begründung 444 ff. – zur heutigen Vorstellung von 134 ff., 293 – zwei Schritte bzw. Stufen der 494, 559 f. Rechtsfindungsregeln – allgemeine 491 f., 494 – spezielle arbeitsrechtliche? 184 Rechtsfortbildung(en) – als etwas Normales 8, 209, 405 – Arbeitsrecht 160 f., 164 f., 184 ff. – Begriff und Zulässigkeit 43, 56, 116 f. – Bürgerliches Recht 151 ff., 238 f., 240 f., 242, 244, 246, 249 f., 250 ff., 255 ff., 257 ff., 275 f., 279 f., 281 – Definition 125, 558 – durch »Begriffsanwendung« 170 ff. – durch Rechtsanwendung siehe Gesetzesanwendung als Rechtsanwendung – einzelne Facetten des Begriffs 97 ff. – Entmythologisierung 8, 209, 405, 555 f. – Gesellschaftsrecht 164, 179 ff., 236 f., 239, 243 f., 245, 248 f., 252 ff., 280, 281 – »gesunde« 241 – Grundproblem der Rechtsfehlerkontrolle 512 ff. – Herkunft des Wortes 68 ff. – im Gewand der Gesetzesanwendung 149, 273, 292, 426, 545, 549 f. – im heutigen Sprachgebrauch 34 ff., 38 ff., 57 ff., 83 ff., 222 ff. – im (rechtsmethodischen) Schrifttum – – negative Umschreibungen 38 ff. – – positive Erläuterungsansätze 41 ff. – in BGHZ 1–154 227 ff.
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Sachregister
– in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 58 ff. – in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 61, 284 – in der Zivilrechtsprechung des 20. Jahrhunderts 149 ff., 227 ff., 273 ff. – objektiver und subjektiver Begriff 99 f. – Schlagwort 97 – überholte 177 f., 179, 180, 189, 207 f. – Urheberrecht 178 f. – verdeckte siehe Verdeckte Rechtsfortbildungen – Wettbewerbsrecht 178 – Zivilprozessrecht 208 f., 237, 239, 241 f., 242 f., 263 ff., 281 Rechtsfortbildungsgebote – Bestandsaufnahme 462 f. – Ermittlung historischer Regelungszwecke 492 f. – möglichst gesetzesnahe Rechtsfortbildung 493 f. Rechtsfortbildungslehre, Fehlen einer 37, 405, 411, 462 f. Rechtsfortbildungsverständnisse, unterschiedliche 1, 34 ff. Rechtsfragen der Entscheidungsfindung 462 ff., 491 ff. – Allgemeine Rechtsfindungsregeln 491 f. – Rechtsfortbildungsgebote 462 f., 492 ff. – Zwei Schritte der gesetzesgebundenen Rechtsfindung 494 Rechtsfragen verdeckter Rechtsfortbildungen 439 ff. – Berufung 515 ff. – Entscheidungsbegründung 465 ff., 495 f., 496 ff. – Entscheidungsfindung 462 ff., 491 ff. – Normative Vorgaben des begründeten Entscheidens 486 ff. – Rechtliche Konsequenzen verdeckter Rechtsfortbildungen 510 ff. – Revision 522 ff. – Überblick zur rechtlichen Problematik 440 ff. Rechtsgebietslücken(n) 36, 169, 184, 197 ff. Rechtsgeschäft – als Objekt verdeckter Rechtsfortbildungen 106, 110 f. – als Rechtsquelle 104, 107, 110 – i.S.v. Verkehrsgeschäft 212 Rechtsgrundlose Verfügung 169 Rechtsmittelzulassung 65 f., 216 f.
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Rechtsoffenbarung, magische 289 ff. Rechtsprechungslehre 403, 407 f., 411 Rechtsprinzipien – als Rechtsquelle 103, 105 f., 109 – Rechtsfindung und 105 f., 145 f. – Topoi verdeckter Rechtsfortbildung 105 f., 109, 114, 144, 453, 548 Rechtsquelle(n), diskutierte – Gesetzesrecht 103, 104, 111 – Gewohnheitsrecht 77, 103, 108 f. – Rechtsgeschäft 104, 107, 110 – Rechtsprinzipien 103, 109 – Rechtswissenschaft 103, 107 f. – Richterrecht 103, 109 f. – siehe auch Tatsachenvortrag als Rechtsquelle Rechtsquellenverständnisse, unterschiedliche 104 Rechtsscheinvollmacht 153, 162 f. Rechtstheorie(n) – Begriff der 6 – Rezeption von 7 – und Rechtspraxis 130, 218 – Universitätsunterricht 398 f. – Zustand der 404 Rechtswissenschaft – als Rechtsquelle 103, 107 f. – praktische 6, 7, 148, 329 f. 334, 441, 486 Reduktion, teleologische siehe Teleologische Reduktion Reichenbachs Differenzierung 457 f., siehe auch Entdeckungs- und Begründungszusammenhang Reisevertragsrecht 174, 177 Relation – Begriff 352 f. – Bericht und Gutachten 352 ff. – doppelte Schlüssigkeitsprüfung 353, 364, 366 f., 372 f., 375 f., 384 – Geschichte der 358 ff. – Referat und Votum 362 ff. – Stationen, verschiedene 352, 357, 363, 367, 372 f., 380 f., 384 – Zeitpunkt der 366, 382 f. »Relationsstreit« 4, 347 ff., 357, 358, 360, 375 Relationstechnik – Begriff 352 f. – Herkunft 358 ff. – Kritik 347 ff. – Methode der Praxis? 380 ff.
Mohr-Siebeck, Fr. Trispel »Fischer:Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht«
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Sachregister
– prozessrechtsadäquate Arbeitsmethode? 380 ff. – Richterbild 376 ff. – Stimmen der Wissenschaft 354 ff. – und verdeckte Rechtsfortbildungen 386 ff. Revision bei Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen – Begründetheit der Revision 525 ff. – Zulässigkeit 523 f. – Zurückweisungsmöglichkeit? 524 Revisionsgrund fehlender Entscheidungsgründe 497 ff., 526 ff. Revolution, wissenschaftliche – Begriff bei Kuhn 137 ff. – in der Rechtswissenschaft? 43, 139 ff., 546 Richterbild(er) – deterministische, dezisionistische 321 ff., 445 f. – »Bruder des Gesetzgebers« 276 – Flumes 146 ff. – Relationsschrifttum 377 f. – Stimmen aus der Praxis 446 ff. Richterpsychologie 10, 460, 490 Richterrecht – Begriff 90 ff. – Rechtsquelleneigenschaft 103, 109 f. Rückgriff für erbrachte Versorgungsleistungen trotz § 400 BGB 173, 255 ff. Rückgriffsanspruch des Geschäftsherrn 173 Rückzahlungsklauseln bei Fortbildungskosten 189 Rückzahlungsklauseln bei Gratifikationen 187 ff. Ruhestandsverhältnisse, Recht der 192 f. Sachverhaltsarbeit – Relationsschema 379, 385 f., 410, 412, 414, 560 – Vernachlässigung (in der Universitätsausbildung) 3 f., 113, 134, 135, 337 f., 339, 354, 355 f., 404, 405 f., 407, 410 f., 462, 560 Sachverhaltsbildung 4 f., 106, 113, 123, 125, 134, 291, 332 f., 351, 353, 380 f., 385, 477 ff., 480, 492, 518, 531, 533 Sachwalterhaftung 175 Salomos Urteil als verdeckte Rechtsfortbildung 286 f. Savigny – Auslegungselemente 319, 537, 538 f.
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fehlerhafte Argumente 540 Fortbildung des Rechts 68 ff. Kritik der römischen Juristen 285 Recht und Rechtsverhältnis 340 f., 378 »schriftgebundenes Erkenntnismodell der juristischen Hermeneutik« 319 Schäden, unmittelbare und mittelbare 163 Scheinargument(e) 5, 292, 480, 542, siehe auch Scheinbegründung Scheinbegründung(en) 3, 11, 30, 287, 303, 311, 316, 388, 395, 400, 415, 417, 422, 426 Schellhammers praktizierte Arbeitsmethode 380 f. Scheuerles Untersuchungen 541 Schiller zum Naturrecht 102 Schlagwortrechtsprechung 501, siehe auch Formelverwertung Schlagwort »Rechtsfortbildung« 97 »Schnappschusstheorie« 201 Schopenhauer siehe Eristische Dialektik Schuhparabel 19 f. Sein und Sollen 10, 321, 544 Selbstaufopferung im Straßenverkehr 168, 246 f. Selbstschutz, richterlicher 298 ff. Selbstverständnis, elitäres siehe Elitäres Selbstverständnis Sicherungsgeber, mehrere gleichrangige 174, 249 f. Sicherungsgrundschulden, Verjährung von Zinsansprüchen aus 178 Sicherungsübereignung, publizitätslose 152 Sicherungszession, stille 152 »Soraya«-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts – als Epochenschnitt 214 ff., 561 – Äußerungen zur Rechtsfortbildung 59 f., 101, 147, 219 f., 221, 283, 493, 496 Sozialplanansprüche im Konkurs 204 ff. Sphärentheorie 160, 200 Stationen, verschiedene siehe Relation Stationsausbildung 135, 328 Stellungnahme des Bundesgerichtshofs, gutachterliche 102, 230 »Sterbehilfe«-Beschluss 176 f., 250 ff. Stilllegungsrecht des Arbeitgebers im Arbeitskampf 200 f. Strafanzeige gegen Arbeitgeber 189 Streiflichter der Geschichte verdeckter Rechtsfortbildungen
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Sachregister
– Bundesrepublik Deutschland 167 ff., 227 ff., 283 – DDR 278 ff. – Europäischer Rechtskreis 283 f. – hijal-Literatur 286 – König Salomos Urteil 286 f. – NS-Zeit 161 ff., 273 ff. – Römisches Recht 284 f. »Stuhlurteil« 124, 416 ff. Subsidiaritätsthese 550 Subsumtion 41, 109, 132 f., 140 f., 145, 216, 272, 334, 348, 357, 376, 377, 379, 381, 395 f., 404, 442, 454, 518, 541 Syllogismus 30, 131, 378, siehe auch Justizsyllogismus System(denken) 16 f., 22 ff., 40, 73, 145 f., 191, 197, 219, 248, 265, 290, 329, 335, 458, 548, 551 Tarifverdrängung bei Tarifpluralität 193 f. Tatsachenvortrag als Rechtsquelle 106 Teleologische Reduktion 49 ff., 57, 212, 247 f., 257, 259, 545 Theorie und Praxis – in der heutigen Jurisprudenz 329 f. – Kritik und Reformvorschläge 325 f., 397 ff., 402 ff. Tierhalterhaftung 151, 153 Topik – Begriff 2, 14 ff. – Philosophie 14 f. – Rechtswissenschaft 7, 15 ff., 444, 539 – siehe auch Aristoteles Topik, Ciceros Topik, Viehwegs Topik Topitsch – Leerformel 292 f., 552 f. – Mythos 293, 552, 555, 562 Topoi siehe Topos Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen – Begriff 2, 561 – Berufung 515 ff. – einzelne siehe Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen, einzelne – Funktion 292 f. – Leerformeln 552 ff. – Restbestände des Mythos 292, 562 – Revision 522 ff. – und rechtliches Gehör 476 ff. – Verzeichnis von Arten 546 ff. Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen, einzelne 535, 546 ff. – Andeutungstheorie 549
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– »Ausnahmevorschriften eng auslegen« 550 – Deduktion aus Begriffen 547, siehe auch Begriffliche Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen – Dogmatik 544, 547 f., 551 – Eindeutigkeitsregel 549 – Einheit der Rechtsordnung 144, 548 – Entstehungsgeschichte, Einzelaspekte der 549 f. – Geist 546 – gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung 548 – Gerechtigkeit 547 – »Geschäft für den, den es angeht« 548 – gewohnheitsrechtliche Derogation 109, 547 – institutionelles Rechtsdenken 547 – »Juristische Sekunde« 548 – Klassifikation als »bloße Ordnungsvorschrift« 548 – konkret-allgemeine Begriffe 547 – »konkrete Ordnungen« 547 – Konkurrenzregeln 549 – Natur der Sache 546 – »natürliche Betrachtungsweise« 546 – Naturrecht 546 – Normzweck, objektiver 546, 549 f. – Normzweckbeschreibungen, allgemeine 550 – »objektive Auslegung« 546, 550 – ökonomische Folgenbetrachtungen 550 – Prinzipien 548 – rechtsgebietsspezifische Auslegungsregeln 548 – Rechtsidee 547 – Rechtsvergleichung 550 – Rechtsvernunft 547 – Schlagwortrechtsfindung 547 – sozialwissenschaftliche Betrachtungsweisen 551 – sozialwissenschaftliche Folgenbewertungen 550 – spezielle Auslegungsregeln für bestimmte Rechtsgeschäfte 550 – spezieller Sprachgebrauch 549 f. – »Strohmanngeschäft« 548 – Subsidiaritätsthese 550 – System 548, 549 – Theorien 548 – typologische Rechtsfindung 547 – verfassungskonforme Auslegung 548
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Sachregister
– Umgehungsgeschäft 186, 187, 548 – »unsubstantiierter Vortrag« 304, 478 – Veränderungen der Beweislast 548 – Verwertungsverbote 478, 548 – Wesen 546 – wirtschaftliche Betrachtungsweisen 551 – wissenschaftliche Erfindungen 548 – Wortsinn 549 f. Topoikatalog(e) – allgemeine – ausführliche bzw. ausufernde 22, 25, 542 – Begriff 19 – Erscheinungsformen 19 ff. – fachspezifische 24 ff. – formale und inhaltliche 24 – juristische Kommentare als 26 ff. – negative 29 f., 535, 540 ff., 546 ff. – positive Begründungen 536 ff., 543 ff. – systematische 22 ff. – Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen 2, 535, 546 ff. – Wert 21 ff. Topoiverzeichnis(se) siehe Topoikatalog(e) Topos – als Klischee 32 – Begriff 1 f., 11, 22, 25, 27, 32 f. – Definition 125 – kontradiktorischer 554 – Suchanweisung und Argument 30 ff. – Wandel des Begriffs 30 ff. Treuepflichten 160, 164, 165, 180, 182, 186 ff., 190 Treuhand 152 Übergangsmandat des Betriebsrats 203, 208 Überholte Rechtsfortbildungen 177 f., 179, 180, 189, 207 f. Überraschungsentscheidungen 469 f., 473, 474, 477, 478 Übertragung von Personengesellschaftsanteilen 180 Umgehungsgeschäft 186, 187, 548 Umkehr der Beweislast 167, 208 f., 548 Universitätsunterricht – Analyse 324 ff., 332 ff., 339 ff. – Defizite 397 ff., 407 f. Unkörperliche Gegenstände und § 119 Abs. 2 BGB 161 f., siehe auch Irrtum über die Eigenschaften eines Rechts Unterhalt, Anrechnungsmethoden für nachehelichen 176
Unterlassungsanspruch der Gewerkschaften bei tarifwidrigen betrieblichen Regelungen 105 f., 193, 196 f., 303 Unterlassungsanspruch des Betriebsrats, allgemeiner betriebsverfassungsrechtlicher 203 Unterlassungsklage, vorbeugende deliktische 152 »Unteroffiziers-Jurisprudenz« 378 Untersuchungsgrundsatz im Zivilprozess der DDR 281 Unzumutbarkeit und Unmöglichkeit 152, 200 Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen 295 ff., 423 – Abwälzen von Verantwortung 296 ff. – Arbeitserleichterung 303 f. – Bequemlichkeit 311 f. – Elitäres Selbstverständnis 312 ff. – Erschleichen von Autorität 305 ff. – »horror vacui« 310 f. – Juristenausbildung 324 ff. – Methodische Vorstellungen 315 ff. – Richterlicher Selbstschutz 298 ff. – § 310 ZPO 416 f. – § 540 ZPO 501 Urteilen als begründetes Entscheiden – Auswahl und Begründung 443 – Vertretbarkeit und Richtigkeit 443 Urteilsbegründungsstil, deutscher – deduktiver 397 ff. – Gebot zweifelsfreier Entscheidungsgründe? 394 f. – Kritik 388 ff. – Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit 392 f. – Zielrichtungen der Kritik 391 f. Urteilsberichtigung 417 Urteilskritik – fehlende Anleitungen zur 407, 411 – Methode der 407 – und Richterschelte 303 Urteilstheorie, Fehlen einer 407, 411, 416, 560 Verantwortung, Abwälzen von 296 ff. Verdeckte Rechtsfortbildungen – als justitiable Rechtsfragen 485, 562 – als rechtliche Problematik 3, 8, 10, 439 ff., 561 – als reine Frage der Ethik? 438 f., 562 – als Sakrileg 6, 289, 290 ff., 436
Mohr-Siebeck, Fr. Trispel »Fischer:Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht«
Sachregister
– als tatsächliche Problematik 8, 126 ff., 439 – Begriff 3, 120 f., 439 – Berufung 515 ff. – Beispiele 149 ff., 227 ff., 273 ff. – Definition 125 – der die Sachverhaltsbildung regelnden Prozessrechtsnormen 387 f., 477 f. – Erkennbarkeit 465 – Für und Wider 423 ff. – rechtliche Konsequenzen 510 ff. – Rechtsfragen 439 ff. – Revision 522 ff. – Salomos Urteil 286 f. – Streiflichter der Geschichte 273 ff. – Ursachen 295 ff., 501 – Voraussetzungen 287 f. Verdrängung des Zivilprozessrechts 3 Vereine, nicht rechtsfähige 182 Vergütung des Konkursverwalters im massearmen Konkurs 237 Verhandlungsmaxime 134, 281, 350 f., 357, 371, 373, 375, 382, 384, 386, 413, 416, 422, 560 Verhinderung des Austritts eines LPGMitglieds 281 Verkehrssicherungspflichten 152, 167 Verlustausgleich im qualifizierten faktischen GmbH-Konzern 183 Vernachlässigung der Sachverhaltsarbeit siehe Sachverhaltsarbeit Vernichtung konservierten Spermas 176 Vernunftrecht 290 ff. Verschulden bei Vertragsschluss 152, 168, 173 Verschulden bei Vertragsschluss mit Schutzwirkung für Dritte 168 Versorgungsanwartschaften, Unverfallbarkeit von 208 Vertragliche Schutzwirkungen für Dritte 155 f., 162, 168, 175, 239 Vertragstreue des Gläubigers, eigene 155 Verwirkung 160, 165 Verzeichnis von Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen – Begriffliche Topoi 547 – Dogmatische Topoi 548 – Folgenorientierte Topoi 550 f. – Logische Topoi 549 – Methodische Topoi 549 f. – Ontologische Topoi 546 f.
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– siehe auch Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen, einzelne Vico 284 f., 289, 430 Viehwegs Topik 16 ff., 22 ff., 25, 32, 211, 217 f., 284 Volkseigentum, gutgläubiger Erwerb von 281 Volksgesetzbuch 79 ff., 86, 90, 277 Voluntarismus 317, 449 Voraussetzungen verdeckter Rechtsfortbildungen 287 f. Vorbereitungsdienst – Analyse 324 ff., 347 ff., 388 ff. – Defizite 408 ff. »Vorgesellschaften« 182 Vorgründungsgesellschaften 182 Vorrang der Einzel- gegenüber der Gesamtanalogie 494 Vorrangregeln (bei der Auslegung i.w.S.) – Begriff 550 – Leerformeln 554 Vorspiegeln einer nicht vorhandenen Eigenschaft, arglistiges 52, 154 Vorteilsanrechnung 168 Vorwirkung anstehender Gesetze 463 Wahrheitspflicht, prozessuale 350 f., 385 Wandel des Entscheidungs(findungs)bildes 131 ff. »Warnstreik«-Rechtsprechung 198 f. »Weglegung des Gesetzes« 51 Weiterbeschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers 187 »Wellenstreik«-Rechtsprechung 201 Werbung, vergleichende 232 f. Werthülsen 554 Wertungsjurisprudenz 7, 112 f., 444, 486, siehe auch Interessenjurisprudenz Wesen – der Ehe 102, 279 f. – der (Gerichts-)Entscheidung 450 – des Wesens 541 – eines Rechtsbegriffs 547 – fehlerhafte Argumente 541 – Leerformel 299, 312, 400, 553, 554 – Topos verdeckter Rechtsfortbildungen 541, 546 Wesensidentität von Auslegung und Rechtsfortbildung, angebliche – Larenz 39, 84 – Kritik 39 f., 112 f., 494, 559 f.
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Sachregister
Wettbewerbsverbote der Arbeitnehmer 189 Wiedereinstellungsanspruch – bei betriebsbedingter Kündigung 190 – bei Verdachtskündigung 189 f. Willkürverbot 479 ff. Wortlautgrenze siehe Wortsinngrenze Wortsinngrenze – Inhalt 39, 84, 88 – Kritik 39 f., 94, 112 ff., 213, 254, 558 – teleologische Reduktion und Analogie 51 f., 57, 257, 259 – Verwendungsbeispiele, einzelne 36, 39, 43 f., 46, 47, 49, 84, 88, 94, 213, 253 f., 256, 262, 266, 268, 271, 503 f. »Zeugnisse praktischer Juristen« 446 ff. Zirkularitätsgebot 42 Zivilprozessrecht, Verdrängung des 3 Zivilprozessrechtliche Begründungsvorschriften – einschlägige Normen 496 f. – gängige revisionsrechtliche Perspektive 497 ff. – § 313 ZPO 392, 497 ff. – § 540 ZPO 501 ff. Zivilprozessrechtswissenschaft und Methodenlehre 4, 407, 442, 485, 562 Zivilrechtsfortbildungen im 20. Jahrhundert 149 ff. – Auswahlkriterien 149 ff. – Bundesrepublik Deutschland 167 ff. – in den sog. Nebengebieten 160 f., 164 f., 178 ff. – Kaiserreich und Weimar 151 ff. – Nachkriegsjahre 166 f. – NS-Zeit 161 ff. – siehe auch Begründungspraxis der Zivilgerichte, Streiflichter der Geschichte verdeckter Rechtsfortbildungen Zusammenfassung(en) – Topik und Topoikataloge 33 – Der schillernde Rechtsfortbildungsbegriff 93 ff. – – »Rechtsfortbildung« im Schrifttum 56 f. – – Die Rechtsprechung 61 f. – – Fortbildung des Rechts als Gesetzesbegriff 67 – – Begriffsgeschichtlicher Exkurs 89 f. – – Zusammenfassende Betrachtung 93 ff.
– Die Facetten von »Rechtsfortbildung« und der Untersuchungsgegenstand 117 ff. – Terminologische Ergänzungen 125 – Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung heute 133 ff. – Paradigmenwechsel bei der Rechtsfindung – – Abschied vom klassischen Auslegungsverständnis 140 ff. – – Beharrungstendenzen 148 f. – – Richterliche Zivilrechtsfortbildungen im 20. Jahrhundert 209 ff. – – Der »Soraya«-Beschluss als Epochenschnitt 220 – Paradigmenwechsel und Begründungspraxis – – »Rechtsfortbildung« in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen 269 ff. – – Verdeckte Rechtsfortbildungen – ein Kontinuum 272 – Streiflichter der Geschichte verdeckter Rechtsfortbildungen 294 – Mögliche Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen 418 ff. – – Richterlicher Selbstschutz 303 – – Erschleichen von Autorität 309 f. – – Methodische Vorstellungen 323 f. – – Die Zweiteilung der Ausbildung 332 – – Der Einzelfallunterricht 338 f. – – Das Anspruchsdenken im Zivilrecht 346 – – Die Relationstechnik 357 f., 373 ff., 382 ff. – – Der deutsche Urteilsbegründungsstil 397 – – Die Grundlagenkrise 402 – – Defizite der Grundlagenfächer und der Ausbildung 411 ff. – – Resümee zur Juristenausbildung 412 ff. – – Ergebnisse 418 ff. – Verdeckte Rechtsfortbildungen – Für und Wider 437 – Überblick zur rechtlichen Problematik – – Begründetes Entscheiden in Rechtswissenschaft und Praxis 455 f. – – Die Entzweiung von Entscheidung und Begründung 461 f.
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Sachregister
– – Art. 103 Abs. 1 GG 478 – Normative Vorgaben des begründeten Entscheidens 508 ff. – Rechtliche Konsequenzen verdeckter Rechtsfortbildungen 531, 532 f. – Arten juristischer Argumente 540, 542, 543 – Ein Verzeichnis von Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen 551
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– Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen als Leerformeln 555 f. – Folgerungen für ein rationaleres Modell begründeten Entscheidens 558 ff. – Ergebnisse 561 ff. Zwei Stufen der Rechtsfindung 494, 559 f. Zweiteilung der Juristenausbildung 325 ff.
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